Philosophische Literatur-Interpretationen von Dante bis le Carré 9783495995174, 9783495995167


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Vorwort
Philosophie und Literatur
Ein Panorama der Beziehungen
Wie kann Sprache malen?
Formen der Sprachmalerei in der Dichtung
1
2
3
4
5
6
Erkenntnistheoretische Überlegungen im dreizehnten Gesang des Paradiso und der Zusammenhang der drei geometrischen Beispiele der Commedia Dantes
I.
II.
III.
Warum erscheinen Purgatorio XXX 17–18 »hundert ... Diener und Boten ewigen Lebens«?
Vorschlag für eine metapoetische Lesart
I.
II.
III.
Gespräch über den ästhetischen Wert von Der Abenteuerliche Simplicissimus
Prästabilierte Harmonie zwischen elterlicher und persönlicher Partnerwahl
Maskierte Begegnungen in Ludvig Holbergs Mascarade, Carlo Goldonis I rusteghi und Georg Büchners Leonce und Lena
I.
II.
III.
Psychologie des Spielers und Ethik des Va-banque-Spiels
Zu Friedrich Schillers Die Verschwörung des Fiesco zu Genua
I.
II.
III.
Scheitern angesichts der Umweltvergiftung
Ein Vergleich von Henrik Ibsens En Folkefiende und Wilhelm Raabes Pfisters Mühle
I.
II.
Ethik des Erwählten und Metaphysik des Geistes und des Lebens
Zu Thomas Manns Philosophie
Der Geist als Nostalgiker des Lebens
Was verbindet und was unterscheidet Grillparzers Sappho und Manns Tonio Kröger?
I.
II.
Berufsethik der Geheimdienste und Krise der hohen Politik
Philosophische Betrachtungen zum literarischen Universum von John le Carrés Spionageromanen im Allgemeinen und zu Absolute Friends im Besonderen
I.
II.
Religion, Religionsverlust und Erzählstrategien in einer neueren Autobiographie
Zu Johannes Hösles Vor aller Zeit. Geschichte einer Kindheit sowie Und was wird jetzt? Geschichte einer Jugend
Die Altersfrucht des Frühreifen
Albert von Schirndings Jugend, gestern
Una poesia metafisica
Zu Ludwig Steinherrs neuem Lyrikband Nachtgeschichte für die Teetasse
1. Aufbau des Buches: eine Bewegung des Aufstiegs
2. Belebung des Unbelebten und der Toten
3. Menschliche Grausamkeit und Theodizee
4. Einsamkeit des Lyrikers
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Philosophische Literatur-Interpretationen von Dante bis le Carré
 9783495995174, 9783495995167

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Literatur und Philosophie

Vittorio Hösle

Philosophische Literatur-Interpretationen von Dante bis le Carré

https://doi.org/10.5771/9783495995174 .

https://doi.org/10.5771/9783495995174 .

Literatur und Philosophie Herausgegeben von Jennifer Pavlik und René Torkler Band 5

https://doi.org/10.5771/9783495995174 .

Vittorio Hösle

Philosophische Literatur-Interpretationen von Dante bis le Carré

https://doi.org/10.5771/9783495995174 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99516-7 (Print) ISBN 978-3-495-99517-4 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495995174 .

Für Birgit Albrecht in dankbarer Erinnerung an viele Dramenlektüren und -aufführungen in ihrem gastlichen Haus in den 1970er Jahren und in Bewunderung ihres heiteren Katholizismus und ihrer Liebe zur Kultur und den Menschen

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https://doi.org/10.5771/9783495995174 .

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philosophie und Literatur

Ein Panorama der Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . .

Wie kann Sprache malen?

9 19

Formen der Sprachmalerei in der Dichtung . . . . . . . . . . .

47

Erkenntnistheoretische Überlegungen im dreizehnten Gesang des Paradiso und der Zusammenhang der drei geometrischen Beispiele der Commedia Dantes . . . . .

81

Warum erscheinen Purgatorio XXX 17–18 »hundert ... Diener und Boten ewigen Lebens«?

Vorschlag für eine metapoetische Lesart . . . . . . . . . . . .

111

Gespräch über den ästhetischen Wert von Der Abenteuerliche Simplicissimus . . . . . . . . . . . . . . .

131

Prästabilierte Harmonie zwischen elterlicher und persönlicher Partnerwahl

Maskierte Begegnungen in Ludvig Holbergs Mascarade, Carlo Goldonis I rusteghi und Georg Büchners Leonce und Lena . . . .

Psychologie des Spielers und Ethik des Va-banque-Spiels

Zu Friedrich Schillers Die Verschwörung des Fiesco zu Genua . . .

141

175

Scheitern angesichts der Umweltvergiftung

Ein Vergleich von Henrik Ibsens En Folkefiende und Wilhelm Raabes Pfisters Mühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207

7 https://doi.org/10.5771/9783495995174 .

Inhaltsverzeichnis

Ethik des Erwählten und Metaphysik des Geistes und des Lebens

Zu Thomas Manns Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . .

243

Der Geist als Nostalgiker des Lebens

Was verbindet und was unterscheidet Grillparzers Sappho und Manns Tonio Kröger? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

265

Berufsethik der Geheimdienste und Krise der hohen Politik

Philosophische Betrachtungen zum literarischen Universum von John le Carrés Spionageromanen im Allgemeinen und zu Absolute Friends im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295

Religion, Religionsverlust und Erzählstrategien in einer neueren Autobiographie

Zu Johannes Hösles Vor aller Zeit. Geschichte einer Kindheit sowie Und was wird jetzt? Geschichte einer Jugend . . . . . . . . . . .

Die Altersfrucht des Frühreifen

Albert von Schirndings Jugend, gestern . . . . . . . . . . . . .

329 341

Una poesia metafisica

Zu Ludwig Steinherrs neuem Lyrikband Nachtgeschichte für die Teetasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495995174 .

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Vorwort

Die Beziehung von Literatur und Philosophie ist seit der Geburt der jüngeren Schwester spannungsgeladen. Schon Xenophanes und Heraklit kritisieren Homer und Hesiod, und dass Platon die Dichter aus seinem Idealstaat verbannen wollte (Politeia 606e ff.), ist wohl­ bekannt. Allerdings ist nicht weniger offensichtlich, dass Platons Werk, einschließlich der Politeia, eine der größten Leistungen nicht nur der Philosophie, sondern auch und gerade der Literatur darstellt. Philosophen schreiben, mit wenigen Ausnahmen wie Sokrates, nun einmal Texte, und damit brauchen sie unweigerlich, neben dem eigentlich philosophischen, auch einen literarischen Sinn. Dieser Sinn ist einer der Gründe, warum sie sich oft auch für Schriften interessie­ ren, die literarisch im engeren Sinne sind, also nicht gleichzeitig eine philosophische Zielsetzung verfolgen. Die Poetik als Teilgebiet der Ästhetik ist seit Platon und Aristoteles ein wichtiges Themengebiet der Philosophie,1 und seit dem Entstehen einer zünftigen Literatur­ wissenschaft um 1800 haben auch Philosophen wie etwa Martin Heidegger, Theodor W. Adorno, Jean-Paul Sartre oder Hans-Georg Gadamer Interpretationen einzelner literarischer Werke vorgelegt. Ihre Interpretationen weichen von denjenigen der Literaturwissen­ schaftler in Methode und Fragestellung oft ab, aber es wäre verfehlt, wenn die Literaturwissenschaft sich den Anregungen verschlösse, die sie immer wieder auch für sie enthalten. Denn Philosophen sehen manchmal Dinge, die Literaturwissenschaftlern auch und gerade an literarischen Texten leichter entgehen. Insofern mag es legitim sein, wenn jemand, der sich primär als Philosoph versteht, wenn auch mit gewissen politik- und literaturwis­ senschaftlichen Kompetenzen, hier eigene literarische Interpretatio­ nen vorlegt. Die Vielfältigkeit ihrer Themen, was Nationalliteraturen, Epochen, Genres und nicht zuletzt den Rang der behandelten Werke 1 Siehe dazu mein Buch Zur Geschichte der Ästhetik und Poetik, Basel 2013. Ein Schwerpunkt liegt auf poetischen Poetiken, d.h. auf Poetiken, die ihre eigenen norma­ tiven Prinzipien selber instantiieren.

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Vorwort

betrifft, das Alternieren von Detailinterpretationen und der Analyse langfristiger literaturgeschichtlicher Enwicklungen, schließlich die unterschiedlichen Adressaten (machmal Fachwissenschaftler, manch­ mal ein breiteres Publikum) sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie alle bestimmten philosophischen Neigungen entsprungen sind, die meine Arbeit als ganze charakterisieren. Die Aufsätze sind fast alle erst seit Mitte der 2000er Jahre verfasst worden, als meine philosophischen Interessen und Grundüberzeugungen schon seit langem feststanden; denn auch wenn ich seit meinen Jugendjahren viel Literatur las, hat mich ihre detaillierte Analyse, wenigstens im Bereich der Moderne,2 erst viel später zu fesseln begonnen. Sie sind hier chronologisch geordnet – und zwar nicht nach dem Zeitpunkt ihres Entstehens,3 sondern nach der zeitlichen Folge der behandelten Autoren. Ich habe sie formal nur wenig angeglichen und material kaum überarbeitet (am meisten den Komödienaufsatz). Kurz seien die zentralen Themen genannt, um die es im Folgenden geht, und warum sie mich aus philosophischen Gründen interessiert haben. Der erste, eigens für diesen Band geschriebene Text unterschei­ det und diskutiert die komplexen wechselseitigen Beziehungen, die im Dreieck Literatur, Literaturwissenschaft und Philosophie beste­ hen. Es handelt sich um eine Skizze, die aber vielleicht zur begriffli­ 2 Mein Buch Die Vollendung der Tragödie im Spätwerk des Sophokles (StuttgartBad Cannstatt 1984) war zwar ein Jugendwerk. Doch war der Schwerpunkt eher geschichtsphilosophisch-ästhetischer als eigentlich interpretatorischer Natur. (Eine ausgearbeitetere ästhetische Fundierung reichte ich ein Vierteljahrhundert später nach: Die Rangordnung der drei griechischen Tragiker. Ein Problem aus der Geschichte der Ästhetik als Lackmustest ästhetischer Theorien, Basel 2009.) Analoges gilt für meinen Aufsatz »Woher rührt der außerordentliche literarische Wert der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts?« von 1998, der in meinem Band Russland 1917–2017 (Basel 2017) wiederabgedruckt wurde. Ohne Zweifel sind Fragen nach der Logik einer literarischen Gesamtentwicklung oder den spezifischen Eigenarten einer Nationallite­ ratur von großer Bedeutung; aber die heutige Literaturwissenschaft der Alt- und Neuphilologen geht ihnen aus dem Wege, nicht etwa weil sich die Themen als unsinnig herausgestellt hätten, sondern weil sie dem Zeitgeist nicht mehr affin sind. Interpretationen von Einzelwerken kommen ihrer heutigen Gestalt eher entgegen, selbst wenn sie philosophisch inspiriert sind. 3 Was die Entwicklung meiner eigenen Interessen angeht, so strebte ich zunächst danach, aus literarischen Texten Sacheinsichten zu gewinnen (man denke an die vielen Literaturzitate in Moral und Politik, München 1997); die formale Analyse trat erst später hinzu. Man wird bei den Aufsätzen zu Schiller und le Carré die Verwurzelung in den Fragestellungen eines politischen Philosophen, bei demjenigen zu Ibsen und Raabe den umweltphilosophischen Ursprung, bei demjenigen zu Mann die Nähe zu meiner Hegelinterpretation (Hegels System, Hamburg 1987) erkennen.

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Vorwort

chen Klärung der Aufgaben beiträgt, die sich bei der Begegnung der drei geistigen Gebiete stellen. Der zweite Aufsatz4 erörtert eine theoretische Frage, die im Schnittpunkt von Literaturwissenschaft und Linguistik liegt: Wie kann Sprache malen? Es geht mir hier nicht um die intentionale Gerichtetheit der meisten Bewusstseinsakte, die auch in ihrem sprachlichen Ausdruck fortbesteht, sondern um die spezifischen Mit­ tel, die das sprachliche Material als solches besitzt, um gedankliche Inhalte gleichsam zu symbolisieren. Wenn Horaz im zweiten Brief des ersten Buches der Epistulae (Briefe) schreibt »Iliacos intra muros pec­ catur et extra« (V. 16), was soviel bedeutet wie »Man sündigt innerhalb der trojanischen Mauern ebenso wie außerhalb«, so erlaubt ihm die lateinische Syntax, anders als die deutsche, die Proposition »intra«, die »innerhalb« bedeutet, innerhalb von »Iliacos ... muros« anzusie­ deln, »extra«, »außerhalb«, dagegen außerhalb. Die syntaktische Position entspricht also der Bedeutung der Wörter. Das Phänomen ist zwar seit langem unter verschiedenen Namen bekannt, aber die logische Differenzierung und Systematisierung, die ich biete, und die Exemplifizierung anhand poetischer Texte aus Antike5 und Neuzeit scheinen mir die Diskussion zur Natur poetischer Sprache um ein Stück voranzubringen. Es folgen darauf zwei Aufsätze zu Dante, dem größten philoso­ phischen Dichter aller Zeiten, die ich ursprünglich auf Italienisch verfasste. Der erste Aufsatz behandelt, nach grundsätzlichen Über­ legungen zu den hermeneutischen Herausforderungen, vor die die Commedia den Leser stellt, die im dreizehnten Gesang des Paradiso entwickelte Epistemologie, die anders als Dantes Metaphysik auch von philosophie- und theologiehistorisch gebildeten Interpreten bis­ her meist vernachlässigt wurde, sowie den inneren Zusammenhang der drei im Paradiso behandelten geometrischen Theoreme bzw. Pro­ bleme.6 Es liegt in der Natur der Sache, dass Literaturwissenschaftler derartigen Fragestellungen aus dem Wege gehen, denn ohne Kompe­ tenz in den entsprechenden Sachgebieten können sie sich gar nicht 4 Wie kann Sprache malen? Formen der Sprachmalerei in der Dichtung, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 50 (2020), 673–699. 5 Mein wichtigstes Werk zur lateinischen Dichtung ist die Monographie Ovids Enzyklopädie der Liebe. Formen des Eros, Reihenfolge der Liebesgeschichten, Geschichts­ philosophie und metapoetische Dichtung in den Metamorphosen, Heidelberg 2020. 6 Riflessioni epistemologiche nel canto XIII del Paradiso e il nesso tra i tre esempi geometrici della Commedia, in: Dante Studies 140 (2022), 70–94.

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Vorwort

ergeben. Das freilich beweist, dass zumindest bei der Interpretation eines enzyklopädischen Dichters wie Dante7 eine ausschließlich phi­ lologische und literaturwissenschaftliche Ausbildung an bestimmte Bedeutungsschichten des Werkes gar nicht heranreicht. Im zweiten Aufsatz geht es um ein Thema, das einem Philosophen naheliegt, für den der Gedanke der Selbsteinholung besonders wichtig ist.8 Hat Dante in der Commedia auf ihre Gestalt aus hundert Gesängen angespielt? Ich glaube, er hat es getan, aber auf so versteckte Weise, dass es bisher noch nicht gesehen wurde. Das ist deswegen paradox, weil es an höchst prominenter Stelle der Erzählung geschieht, nämlich beim ersten Auftritt Beatrices. Man hat das bisher übersehen, weil, wenn das einmal zugestanden wird, der Kontext klar macht, dass Dante die Commedia als die legitime Fortsetzerin des Alten und des Neuen Testamentes gedeutet hat. Das wird verständlicher, wenn man an den gleichzeitigen Joachimismus denkt. Wichtig scheint mir an dem Aufsatz die methodisch strenge Zurückweisung alternativer Interpretationen. Denn es ist ein Irrtum, dass es bei hermeneutischen Tätigkeiten keine Präzision geben könne. Die ästhetische Wertung, die gewiss eigener Prinzipien bedarf, setzt zunächst einmal eine kor­ rekte Interpretation voraus, und es ist abwegig, eine Verbindlichkeit bei der ästhetischen Beurteilung in Anspruch nehmen zu wollen, wenn man einem hermeneutischen Skeptizismus huldigt. Grimmelshausens Hauptwerk gilt der fünfte Text,9 der sich deswegen der bei Philosophen seit alters beliebten Dialogform10 bedient, weil sie mir eher erlaubte, die Widersprüchlichkeit meiner Einstellungen gegenüber der formalen Barbarei und der eminenten Welthaftigkeit, ja dem frühaufklärerischen moralischen Ernst dieses schrecklichen und großen Romans auszudrücken. Im sechsten Text, der hier ebenfalls erstmals auf Deutsch erscheint, geht es um die neuzeitliche Komödie, und zwar um die auffallende Übereinstimmung zwischen drei Dramen Holbergs, Gol­ 7 Dazu darf ich auf mein Büchlein verweisen: Dantes Commedia und Goethes Faust. Ein Vergleich der beiden wichtigsten philosophischen Dichtungen Europas, Basel 2014. 8 Perché in Purgatorio XXX 17 s. appaiono »cento … ministri e messaggier di vita etterna«? Proposta di una lettura metapoetica, erscheint in: Studi danteschi 88 (2023). 9 Gespräch über den ästhetischen Wert von Der abenteuerliche Simplicissimus, in: Grimmelshausen 400. Forschungen, Fiktionen, Erinnerungen und Reflexionen um den Autor und sein Werk 400 Jahre nach seiner Geburt, hg. von I. M. Battafarano, Bern, Bern/Berlin 2022, 153–161. 10 Siehe dazu meine Monographie: Der philosophische Dialog, München 2006.

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Vorwort

donis und Büchners.11 Diese Übereinstimmung reicht zwar nicht, um eine Abhängigkeit nachzuweisen, aber darum muss es bei legitimen Vergleichen keineswegs gehen.12 Was mich am Spannungsverhältnis zwischen diesen Komödien fasziniert hat, ist, wie in Leonce und Lena dasjenige, was früheren Komikern ein Hinweis war auf eine wohlwol­ lende Gesamtordnung der Welt, nämlich die unerwartete Harmonie des Willens eines jugendlichen Paares mit dem elterlichen, nun als zutiefst tragisch empfunden wird. Das Genre der Komödie saugt bei Büchner eine tragische Stimmung auf, die sich einerseits aus dem Freiheitspathos der Fichteschen Philosophie speist (denn ohne dieses Pathos gäbe es das romantische Leiden nicht), andererseits nicht mehr an diese Philosophie glaubt. Der Vergleich der drei Texte macht deutlich, inwiefern die romantische Sensibilität ein wichtiger Faktor beim Niedergang des aufklärerischen Lebensgefühls war. Man möge es dem Sohn eines Molière- und Goldoni-Kenners und -Liebhabers nachsehen, dass er für die rationalistische Komödie wesentlich mehr Bewunderung fühlt, als ihr heute in der Regel gezollt wird. Der Aufsatz zu Schillers m. E. stark unterschätztem Fiesco13 – einem Werk, das zu Unrecht darunter leidet, dass es zwischen den genialen, aber pathetischen Räubern und dem schlicht und einfach missratenen Rührstück Kabale und Liebe abgefasst wurde – geht auf die Psychologie des Spielers und die Faszination ein, die der brillante Manipulator nicht nur auf seine Mitmenschen, sondern auch auf 11 Pre-established harmony between parental and free choice of the partners. Masked encounters in Ludvig Holberg’s Mascarade, Carlo Goldoni’s I Rusteghi, and Georg Büchner’s Leonce und Lena, in: Komparatistik 2007, 145–163. – Ich will erwähnen, dass mir die Idee zu diesem Aufsatz erstmals 1991 kam, als ich auf der Durchfahrt nach Norwegen in Kopenhagen Holbergs Stück sah. Die Ähnlichkeiten mit und die Diffe­ renzen zu Büchners Komödie überwältigten mich noch während der Aufführung, aber ich verfügte damals noch nicht über die literaturwissenschaftlichen Kategorien, einen derartigen Vergleich zu wagen. Als ich jedoch 2004 in Venedig Goldonis Rusteghi sah, war die Entscheidung, über die drei Stücke zu schreiben, gefällt. Inzwischen hatte ich mich gründlich mit der Theorie des Komischen befasst: Woody Allen. Versuch über das Komische, München 2001. Meine spätere Monographie Eric Rohmer. Einführung in seine Filme und Filmästhetik, Paderborn 2018 verfolgt das Thema der künstlerischen Gestaltung der Paarbildung in die Gegenwart. 12 Zur komparatistischen Grundoperation vgl. meinen Aufsatz »Über den Vergleich von Texten« von 2008, der wiederabgedruckt ist in: Goethe und Dickens, Baden-Baden 2022, 211–232. 13 Psychologie des Spielers und Ethik des Va-banque-Spiels. Zu Friedrich Schillers Die Verschwörung des Fiesko zu Genua, in: Wege zur Politischen Philosophie. Festschrift für Martin Sattler, hg. von G. von Sivers und U.Diehl, Würzburg 2005, 41–64.

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Vorwort

Autor und Zuschauer ausübt, selbst wenn er Va-banque spielt. Fiesco ist ein Regiedrama, d.h. der Held versucht ebenso zum Regisseur der sozialen Wirklichkeit zu werden, wie es der Theatermann auf der Bühne tun muss – auch hier folgt Schiller, wie in den Räubern, dem Vorbild Shakespeares. Doch nun ist es nicht Richard III, son­ dern eher The Tempest (Der Sturm) und vielleicht Hamlet, denen er nacheifert. In letzterem wird gerade die Inszenierung des Stücks vor König und Königin zum erfolgreichen Mittel, menschliche Reaktionen auszulösen und die Handlung voranzutreiben. Die Reflexivität ist im Hamlet eine doppelte – es geht um Theater im Theater und um geniale Manipulation, wie sie jedes Regiedrama charakterisiert. Beide Formen dramatischer Reflexivität können allerdings auch unabhängig voneinander auftreten. Der Fiesco hat eine merkwürdige Zwischen­ stellung zwischen einfacher und doppelter Reflexivität, weil kein wirkliches Stück aufgeführt wird, sondern nur so getan wird, als werde eine Komödie gegeben – aber gerade dieser Schein der Fiktionalität erweist sich als wirksames Mittel, um Menschen für den Staatsstreich zu gewinnen. Das Verbot des Va-banque-Spiels, das im Fiesco beredt ausge­ sprochen wird, nimmt in der Ethik Hans Jonas’ einen zentralen Platz ein; und es war die Wahrnehmung dieser Beziehung zwischen Schiller und Jonas, die meinen Aufsatz inspirierte, der sich allerdings bald von diesem Thema löst. Aber natürlich geht es bei Schiller noch nicht um Umweltfragen. Umweltfragen spielen jedoch eine entscheidende Rolle in zwei Werken aus den frühen 1880er Jahren, Ibsens En Folkefiende (Ein Volksfeind) und Raabes Pfisters Mühle, die der achte Aufsatz vergleicht.14 Auch hier kann ich den Nachweis eines Einflusses nicht führen, aber unabhängig davon sind die satiri­ sche Darstellung des kollektiven Nicht-Wahrnehmen-Wollens einer akuten Gefährdung der menschlichen Gesundheit durch einen Indus­ triebetrieb bei Ibsen und die elegische Beschwörung einer ebenfalls der Industrialisierung zum Opfer fallenden Wassermühle bei Raabe zwei paradigmatische und komplementäre literarische Gestaltungen menschlicher Reaktionen auf die Ambivalenz dieses weltgeschichtli­ chen Prozesses, denen auch das 20. Jahrhundert nur wenig ästhetisch Gleichrangiges an die Seite zu setzen hat. Ibsens Kritik an dem penetranten Moralismus Dr. Stockmanns, der zwar als einziger das 14 Scheitern angesichts der Umweltvergiftung. Ein Vergleich von Henrik Ibsens En Folkefiende und Wilhelm Raabes Pfisters Mühle, in: Wirkendes Wort 58 (2008), 27–51.

14 https://doi.org/10.5771/9783495995174 .

Vorwort

Problem objektiv erfasst, aber nicht die geringste Fähigkeit hat, mit den voraussehbaren Widerständen gegen seine Entdeckung umzu­ gehen, und die melancholischen Erinnerungen des jungen Pfister an seinen Vater, den verstorbenen Wassermüller, führen geradezu entgegengesetzte Formen des moralischen Bewusstseins vor. Ging es im zweiten Aufsatz um Formalästhetisches, behandelt dieser achte die inhaltliche Kraft der Literatur beim manchmal geradezu propheti­ schen Erschließen von Wirklichkeit. Sehr viel mehr über die Natur menschlicher Reaktionen auf Umweltzerstörungen können wir auch 140 Jahre später kaum sagen.15 Thomas Mann ist mir auch deswegen der liebste deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, weil ihn nicht nur die Intuitio­ nen des deutschen Idealismus inspirieren, sondern er sie zumal in seinen »Lehrromanen«, wie man Der Zauberberg und Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull bezeichnen kann, explizit ausbreitet. Das wird deswegen oft übersehen, weil er sich zum »Dreigestirn« Schopenhauer, Wagner und Nietzsche bekennt. Aber Schopenhauer gehört selbst zur Tradition des objektiven idealismus, und Manns Anerkennung von Nietzsches erregenden psychologischen Einsichten sollte einen nicht übersehen lassen, dass er sie auf höchst kunstvolle Weise in eine Metaphysik integriert, die den Geist zwar in Spannung zum Leben setzt, ihm aber eine eigene Autonomie zubilligt, und dass er nicht nur in seinen politischen Schriften, sondern auch in seinen Romanen sich zu einem ethischen Universalismus bekennt. Dieser hindert ihn allerdings nicht daran, den »erwählten« Boten des Geistes eine Sonderrolle zuzubilligen, die sie allerdings dann verraten, wenn sie sich den berechtigten Forderungen der Gemeinschaft verschließen. Auf eine knappe Darstellung seiner metaphysischen und ethischen Prinzipien16 (für umfassendere Studien sei auf die zwei klugen Mono­ graphien Reinhard Mehrings verwiesen) folgt eine Einzelinterpreta­ tion. Diese setzt die Novelle Tonio Kröger (die einen Leser meines Namens und meiner Herkunft schon früh fesseln musste; ihr galt mein Abituraufsatz) in Beziehung zur Sappho-Tragödie Grillparzers, 15 Zur Umweltphilosophie siehe meine Studie Philosophie der ökologischen Krise, München 1991. 16 Ethik des Erwählten und Metaphysik des Geistes und des Lebens. Zu Thomas Manns Philosophie, in: System der Philosophie? Festgabe für H.-D.Klein, hg. von L. Nagl/R. Langthaler, Frankfurt a.M. u.a. 2000, 51–68. Eine portugiesische Überset­ zung erschien in: Nós e o absoluto. Festschrift em homenagem a Manfredo Araújo de Oliveira, hg. von C. Cirne-Lima und C. Almeida, São Paulo 2001, 133–151.

15 https://doi.org/10.5771/9783495995174 .

Vorwort

des größten österreichischen Dramatikers.17 In diesem Fall ist uns bekannt, dass Mann Grillparzers Drama erst lange nach der Abfas­ sung seiner Künstlernovelle kennengelernt hat – was bei ihm das Gefühl verursachte, »Fortsetzer« zu sein. Denn in der Tat sind die zwei Dreiecksgeschichten, die mit dem Bund der zwei Nicht-Erwählten gegen die bzw. den Erwählte(n) enden, strukturanalog, auch wenn in der konkreten Ausführung viele Detaildifferenzen sich zeigen, die Licht werfen auf die zugrundeliegenden persönlichen, historischen und literarischen Unterschiede. Thematisch mit dem Fiesko-Aufsatz wesensverwandt ist auch die etwa gleichzeitig entstandene Auseinandersetzung mit John le Carré im elften Text.18 Der Spionageroman ist ein Genre, das sich erst im späten 19. Jahrhundert bildet (und zwar im britischen Empire), und natürlich bedient es das Bedürfnis nach Spannung und Verherrlichung der geistigen Schlagkraft der eigenen Nation. Aber le Carré schafft es in seinen besten Romanen, erstens die Desolatheit vieler Aspekte der geheimdienstlichen Tätigkeit ins Licht zu stellen, zweitens mit der Figur Smileys einen genialen und zugleich moralisch unbedingt integren Meister des Faches einzuführen und drittens die komplexe Dialektik von strategischer und kommunikativer Rationalität deutlich zu machen. Da mich das letztere Thema seit einem Aufsatz der frühen 1990er Jahre fasziniert,19 habe ich seit 1992 zahlreiche seiner Romane gelesen; und auch wenn Absolute Friends gewiss nicht le Carrés bestes Werk ist, gab mir doch die in ihm vorgelegte schonungs­ lose und leider nur zu berechtigte Kritik an der US-amerikanischen Invasion Iraks 2003 den Anlass zur Abfassung meines Aufsatzes.20 Das grundsätzliche Problem, dass mit der Krise der hohen Politik die geheimdienstliche Arbeit ihren Sinn verliert, hat le Carré bis zu seinem Tode beschäftigt: Ich erinnere an den letzten von ihm publizierten Roman Agents Running in the Field (Federball). 17 Der Geist als Nostalgiker des Lebens. Was verbindet und was unterscheidet Grill­ parzers »Sappho« und Manns »Tonio Kröger«?, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 127 (2008), 177–198. 18 Berufsethik der Geheimdienste und Krise der hohen Politik. Philosophische Betrachtungen zum literarischen Universum von John Le Carrés Spionageromanen im allgemeinen und zu Absolute Friends im besonderen, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 79 (2005), 131–159. 19 Er ist enthalten in meinem Buch: Praktische Philosophie in der modernen Welt, München 1992. 20 Zum Irakkrieg von 2003 vgl. meinen Aufsatz: Kritische Anmerkungen zur Theorie des gerechten Krieges, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 6/2003, 9–13.

16 https://doi.org/10.5771/9783495995174 .

Vorwort

Drei kürzere Texte zu Autoren der Gegenwart bzw. der jüngsten Vergangenheit beschließen den Band als ein Art Anhang – einer war mein Vater, zwei sind Freunde. An Johannes Hösles21 und Albert von Schirndings22 autobiographischen Schriften interessieren mich die unterschiedlichen Gestaltungen des philosophisch hoch faszinie­ renden Genres der Autobiographie – einerseits der Kontrast zwischen »zyklischer« und »linearer« Zeit (wie er besonders von Mircea Eliade hervorgehoben wurde) in den beiden Bänden Hösles, andererseits die kunstvolle Verflechtung von Erinnerungen und damaligen Tagebuch­ einträgen sowie von dokumentarischer und fiktionaler Erzählung bei von Schirnding. In Ludwig Steinherrs metaphysischer Lyrik schließ­ lich erkenne ich eine der originellsten, zartesten und durchdachtesten Formen deutschsprachiger Dichtung der Gegenwart.23

21 Religion, Religionsverlust und Erzählstrategien in einer neueren Autobiographie. Zu Johannes Hösles »Vor aller Zeit. Geschichte einer Kindheit« sowie »Und was wird jetzt? Geschichte einer Jugend«, in: Zur Sprache gebracht. Philosophische Facetten. ... Festschrift für Peter Novak, hg. von N. Leißner und R. Breuninger, Ulm 2005, 91– 103. Der dritte Band der Autobiographie erschien bisher leider nur in italienischer Übersetzung mit einem Vorwort meinerseits: Johannes Hösle, Al bivio. Gli anni milanesi, Milano 2009. 22 Die Altersfrucht des Frühreifen. Albert von Schirndings Jugend, gestern, in: Studi Germanici 22 (2022), 111–126. 23 Una poesia metafisica. Ludwig Steinherrs Lyrikband »Nachtgeschichte für die Teetasse«, in: Stimmen der Zeit 233 (2015), 313–322. Ein Vorwort bzw. ein Nachwort habe ich auch zu Steinherrs Das Mädchen Der Maler Ich, München 2012 sowie zu Flüstergalerie, München 2013 verfasst. Zur Geburt einer Ming-Vase bespreche ich in: andererseits – Yearbook of Transatlantic German Studies 9/10 (2023).

17 https://doi.org/10.5771/9783495995174 .

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Philosophie und Literatur Ein Panorama der Beziehungen

Die Beziehungen zwischen Literatur und Philosophie gehen offenbar in beide Richtungen – die Literatur reagiert auf die Philosophie nicht weniger als die Philosophie auf die Literatur. Aber sind Philoso­ phie und Literatur überhaupt scharf unterscheidbar? Schreiben denn die meisten Philosophen nicht Texte? Produzieren sie damit nicht ebenfalls Literatur? Und wenn Philosophie, die notorisch schwer zu definieren ist, als diejenige Disziplin angesehen wird, die sich mit den grundlegenden Prinzipien der Wirklichkeit befasst, gilt das nicht auch für große Literatur? Hegel hat bekanntlich die Kunst mit der Religion und der Philosophie unter den »absoluten Geist« subsumiert, also jene Tätigkeiten des Geistes, die sich mit dem letzten Grund der Wirklichkeit befassen. Das weist auf die Notwendigkeit einer Abgrenzung und damit einer Definition beider Begriffe, aber diese ist nicht einfach und selbst erst das Resultat philosophischer Bemühungen.1 Ich will mich hier vorläufig mit folgenden Hinweisen begnügen. Gewiss kann man jedes Schriftwerk unter »Literatur« subsumieren, also auch mathema­ tische, naturwissenschaftliche oder philosophische Abhandlungen. Aber der Literaturbegriff, um den es hier geht, derjenige der ästhetisch wertvollen Literatur,2 ist viel enger – er ist ein Unterbegriff jenes 1 In der Tatsache, dass die Philosophie unter das Genus »Literatur« subsumiert wird, aber selbst das Privileg besitzt, Literatur zu definieren, sieht Richard Shusterman »a disconcerting circularity« (Philosophy as literature and more than literature, in: A Companion to the Philosophy of Literature, hg. von Garry L. Hagberg, Walter Jost, Chichester 2010, 7–21). Aber mit Zirkularität im logischen Sinne hat das ebenso wenig zu tun wie das Faktum, dass der Mensch, der ein Teil der Natur ist, diese erkennt und definiert. Das bedeutet keineswegs, dass Shusterman unrecht mit seiner These hat, Philosophie müsse mehr sein als das Verfassen von Literatur, nämlich eine Lebensform; doch ist diese Behauptung nicht auf die Weise zu begründen, die er vorschlägt. 2 Diese nannte man früher oft »schöne Literatur«; aber seit der Entdeckung der ästhetischen Fruchtbarkeit des Hässlichen, und zwar sowohl als Gegenstand der Kunst

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allgemeineren. (Ja, in einem gewissen Sinne ist er nicht einmal ein Unterbegriff, da es auch bedeutende Literatur im engeren Sinne gibt, die lange Zeit nur mündlich existierte3 – auch wenn man bei dieser Aussage von der Etymologie des Wortes »Literatur« absieht, die ja auf Buchstaben und damit auf Schrifttum verweist.) Was genau die ästhetischen Qualitäten von Literatur im engeren Sinne hervorbringt, ist keineswegs einfach zu bestimmen, und die verschiedenen Krite­ rien, die einem unmittelbar in den Sinn kommen – die künstlerische Gestaltung des Sprachmaterials, die Fiktionalität, die emotionale Inanspruchnahme, die Indirektheit der Mitteilung, die besondere hermeneutische Anstrengungen erfordert, die Fülle an Beziehungen innerhalb des Kunstwerks – gehen keineswegs begriffsnotwendig Hand in Hand. So ist das erste Kriterium auch wissenschaftlichen Prosawerken außerhalb der Mathematik und weitgehend mathema­ tisierten Disziplinen zugänglich, historischen Werken zudem das dritte. Aber das zweite Kriterium ist inkompatibel mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Aber wenn keines dieser Kriterien vorliegt, wie etwa bei Aristo­ teles‘ Ersten Analytiken, ist es unsinnig, von Literatur im engeren Sinne (die im folgenden stets gemeint ist, wenn von »Literatur« schlechthin die Rede ist) zu sprechen. Umgekehrt reicht das bloße Ansprechen philosophischer Grundfragen keineswegs aus, um einen Text zu einem philosophischen zu machen. Was dazu erforderlich ist, ist vielmehr eine durchgehende argumentative Behandlung der entsprechenden Fragen. Auch diese rudimentäre Abgrenzung macht sofort deutlich, dass es eine Überschneidung beider Gebiete geben kann. Platons philoso­ phische Dialoge sind oft auch durch ihre Sprache, die Fiktionalität der Dialogsituation, die emotionale Inanspruchnahme, die hermeneuti­ sche Herausforderung und ihren organischen Charakter literarisch höchst wertvoll, und es wäre müßig, etwa beim Symposion darüber zu streiten, ob es eher in die Literatur oder in die Philosophie gehört. als auch als Darstellungsmittel, ist der Terminus weitgehend obsolet geworden. Zur Ästhetik des Hässlichen ist grundlegend das neue Buch von Mark Roche, Beautiful Ugliness. Christianity, Modernity and the Arts, Notre Dame 2023. 3 Zum Verhältnis mündlicher und schriftlicher Literatur siehe die klugen Ausführun­ gen bei Christopher New, Philosophy of Literature. An Introduction, London/New York 1999, 5 ff. Er nennt zwei Argumente für den Vorrang schriftlicher Literatur – erstens sei heute auch das, was ursprünglich mündlich war, in schriftlicher Form zugänglich, zweitens gebe es schriftliche Literatur, die nicht in mündlicher Form existieren könnte.

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Umgekehrt ist die argumentative Erörterung in den lehrgedichtarti­ gen Teilen des Purgatorio und des Paradiso Dantes so detailliert, und stellenweise gedanklich so innovativ, dass man die Commedia aus der Geschichte der mittelalterlichen Philosophie schwerlich aus­ schließen kann. Aber das ändert nichts daran, dass Grimmelshausens Der abenteuerliche Simplicissimus nicht zur Philosophie und Kants Prolegomena nicht zur Literatur gehören. Doch auch zwischen verschiedenen Sphären gibt es Bezugnah­ men, und sie gehen oft in beide Richtungen. Um mit der ersten Form der Bezugnahme zu beginnen, derjenigen der Literatur auf die Philosophie, so sind auch hier mehrere Unterscheidungen zu machen. Einerseits gibt es literarische Werke, die sich bewusst die Aufgabe setzen, philosophische Gedanken darzustellen. Das Genre des Lehrgedichts kommt einem sofort in den Sinn, zu dem etwa die Werke Parmenides’, Empedokles’ oder Lukrez’ gehören. Allerdings waren die philosophischen Gedanken der beiden ersteren in ihrer Zeit zweifelsohne originell, im Fall des Parmenides sogar bahnbrechend, und da es ihnen vermutlich eher um die Mitteilung dieser Gedanken als um deren literarische Gestaltung ging, wird man sie primär als Philosophen einordnen. Bei Lukrez ist die philosophische Origina­ lität dagegen gering; aber auch hier ist der Wunsch, die als wahr empfundene Lehre Epikurs zu verbreiten, sicher noch stärker als die Freude an der exquisiten sprachlichen Gestaltung. Fiktional will das Werk gewiss nicht sein (und bei der Bezeichnung als »Lehrgedicht« geht es selbstredend nur um die Intention des Autors, nicht um den objektiven Wahrheitsgehalt; sonst müssten ja auch überholte wissen­ schaftliche Texte als fiktional gelten). Es ist daher nicht einfach die Tatsache, dass De rerum natura (Das Wesen der Dinge) zufälligerweise das längste erhaltene Werk des antiken Epikureismus ist, das also jeder Historiker der hellenistischen Philosophie gründlich studieren muss, die die meisten dazu führt, Lukrez eher in die Philosophieals in die Literaturgeschichte einzuordnen. Lukrez hat außer diesem Buche nichts verfasst; ein von der Vermittlung des Epikureismus unabhängiges literarisches Interesse ist wenigstens nicht überliefert. Ganz anders beim Verfasser des wohl bedeutendsten Lehrgedichts der Neuzeit, dem Essay on Man (Vom Menschen). Alexander Pope ist als Schriftsteller äußerst vielseitig, das Lehrgedicht keineswegs sein Hauptgenre – man wird ihn daher, anders als Lukrez, eher als philosophisch begabten Schriftsteller denn als literarisch versierten Philosophen einstufen.

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Man beachte in diesem Zusammenhang, dass ich keineswegs der Ansicht Benedetto Croces zustimme, das eigentümlich Ästhetische oder Poetische sei letztlich inkompatibel mit denkerischer Reflexion und dem Wunsch, Erkenntnisse mitzuteilen. Croce ist mit seiner Entgegensetzung des Schönen und des Wahren, des Ästhetischen und des Logischen, letztlich ein Erbe der Romantik, die etwa Pope zu Unrecht verdammte, so wie Croce z. B. Schiller als einen klugen und ehrenhaften Schriftsteller, aber zweitrangigen Dichter einstuft, wie es jene seien, die sich der Reflexion befleißigen, psychologische, soziologische und naturwissenschaftliche Beobachtungen einfügen und erhabene, instruktive oder angenehme Werke verfassen.4 Gewiss ist das kognitive Interesse anderer Natur als das ästhetische; aber das bedeutet keineswegs, dass es nicht ästhetisch erstrangige Gestaltun­ gen einer klaren und durchdachten Weltanschauung geben könne. Das Lehrgedicht ist ein ebenso legitimes Genre der Poesie wie die Lyrik, und in beiden Genres kann man ästhetischen Erfolg haben oder scheitern. Die formale Gestaltung, ohne die es in der Tat keine Literatur geben kann, mag an fast allen Gegenständen ansetzen, an philosophischen Gedanken ebenso wie an den eigenen Emotionen. Ja, es mag sogar metaphysische Lyrik geben – obgleich der Ter­ minus »metaphysical poets« nicht von jenen englischen Dichtern des 17. Jahrhunderts selbst verwendet wurde, die wir der Bewegung heute zurechnen, sondern vielmehr in kritisch-herabsetzender Absicht erst 1779 von Samuel Johnson im Life of Cowley (Das Leben Cowleys) für sie geprägt wurde.5 Man mag allgemein Dichter so bezeichnen, die um metaphysische Fragen ringen, die sie keineswegs als gelöst ansehen, sondern die sie existenziell beunruhigen. Der Grund, warum derartige Dichtung heute eher fasziniert als das Lehrgedicht, ist die weitgehende Skepsis gegenüber geschlossenen Weltanschauungen, die ein Charakteristikum unserer Zeit ist – und im nächsten Jahrhun­ dert wieder obsolet werden mag. Aber die Vorbehalte gegenüber der literarischen Mitteilung eines geschlossenen Weltbildes haben nicht nur in der heutigen Skepsis, die ja selber eine Weltanschauung ist, eine Stütze, sondern auch ein davon unabhängiges ästhetisches Fundament. Denn zweifelsohne ist die Indirektheit der Mitteilung ein wichtiger Zug des großen Kunstwerks, und wenig ist ästhetisch 4 Benedetto Croce, Poesia e non poesia. Note sulla letteratura europea del secolo decimonono, Bari 1923, 32. 5 Samuel Johnson, The lives of the most eminent English poets; with critical observations on their works, 2 Bde., Vol. I, Charleston 1810, 13.

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unbefriedigender als die propagandistische »Übersetzung« philoso­ phischer oder gar politischer Programme in Kunstwerke. Allerdings erliegt diese durchaus berechtigte Kritik einem Fehl­ schluss, wenn sie aus der Notwendigkeit mehrstufiger, hintergründi­ ger und ambivalenter Darstellung in der Kunst folgert, der Autor dürfe über kein geschlossenes Weltbild verfügen. Dass es sich dabei um einen Fehlschluss handelt, belegt am eindrücklichsten Dantes Com­ media: Trotz einer sieben Jahrhunderte währenden Interpretations­ geschichte entdecken Literaturwissenschaftler in ihr ständig Neues, weil der Dichter in ihr so viel so klug versteckt hat. Und doch ist an der systematischen Geschlossenheit von Dantes Weltbild nicht zu rütteln, auch wenn er nicht einfach ein Schüler eines der großen Scholastiker seiner Zeit war, sondern eine komplexe eigene Synthese vorlegte. Umgekehrt ist der poetische Wert von Jean-Paul Sartres Les mouches (Die Fliegen) gering, weil es sich dabei um eine Eins-zu-einsUmsetzung der Philosophie von L’être et le néant (Das Sein und das Nichts) handelt. Sicher sind die Fliegen ein kraftvolles Symbol der den Menschen quälenden Gewissensbisse, aber Orestes Deklamationen im letzten Akt wären auch dann literarisch wenig anziehend, wenn die metaphysischen und metaethischen Ideen Sartres weniger haltlos wären, als sie sind; denn sie bergen kein Geheimnis. Es ist zwar kein immanentes, sondern nur ein rezeptionsästhetisches, aber es ist trotzdem keineswegs ein nutzloses Kriterium literarischer Qualität, ob man beim Wiederlesen eines Werkes Neues entdeckt; und welcher intelligente Leser entdeckt nicht stets etwas Neues, wenn er sich erneut der Commedia zuwendet, und liest sie insofern nicht mit einem neuen Blick?6 Wer dagegen langweilt sich nicht beim zweiten Lesen selbst eines gut gemachten und mit einzelnen brillanten Szenen wie der (der »Garten«-Szene des Faust nachgebildeten) dreizehnten in Givolas Blumenladen ausgestatteten, aber durch und durch ideologi­ schen Werkes wie Bertolt Brechts Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui? Das Drama krankt nicht einfach daran, dass es die lange nicht nur unter Marxisten verbreitete, aber von Henry Ashby Turner defi­ nitiv widerlegte Theorie, Hitlers Aufstieg verdanke sich primär dem

6 Vgl. Italo Calvino, Perché leggere i classici?, Milano 1991, 11–19, 13. Auch die Umkehrung gilt nach Calvino, da selbst das erste Lesen geprägt sei von Erwartungen, die der Ruhm der Klassiker geprägt habe, also eine Art Wiederlesen sei.

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Großkapital,7 in eine Parabel umsetzt; man lernt aus ihm viel weniger über die wirklichen Mechanismen von Machtgewinnung als etwa aus Shakespeares Tragödien und Historien. Noch irritierender ist das Schablonenartige der Charaktere – weder Dogsborough noch Dullfeet weisen die moralische Komplexität ihrer historischen Vorbilder, Paul von Hindenburgs und Engelbert Dollfuß‘, auf. Wie gesagt, muss man zwischen dem Wunsch, eine schon beste­ hende philosophische Weltanschauung literarisch auszudrücken, und dem literarischen Ringen mit philosophischen Fragestellungen unter­ scheiden, die noch keineswegs zu begrifflicher Klarheit gelangt sind. Der Entstehung einer abstrakten Philosophie geht in fast allen Kultu­ ren eine komplexe Dichtung voraus, die, wenn auch in mythischer Form, weltanschauliche Fragen umkreist – ich erinnere an Rigveda X 129, an Hesiods Theogonie oder die Vǫluspá. Aber auch sehr lange nach dem Entstehen einer zünftigen Philosophie und dem Aufstieg eines wissenschaftlichen Weltbildes lassen sich in literarischen Tex­ ten geistige Einsichten finden, die erst viel später von Philosophen argumentativ abgestützt wurden. Hier ist die Literatur durchaus Vorläuferin der Philosophie – sie richtet den Blick auf Phänomene, die bisher nicht ausreichend durchdacht wurden und deren Durchden­ ken manchmal weitgehende Folgen für die ganze Philosophie hat. Menschliches Verhalten angesichts industrieller Umweltzerstörung etwa ist schon im 19. Jahrhundert von Henrik Ibsen und Wilhelm Raabe mit einer überwältigenden moralischen Differenziertheit ana­ lysiert worden, auch wenn eine eigene Umweltphilosophie erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entsteht. Ja, selbst das von Hans Jonas artikulierte precautionary principle lässt sich, wenn auch nicht mit spezifisch umweltethischer Wendung, schon bei Schiller finden. Um ein weiteres Beispiel zu geben: Unser Ausweichen vor unserer eigenen Sterblichkeit ist ein zentrales Thema von Heideggers Sein und Zeit von 1927 – doch viele seiner detaillierten Analysen finden sich proleptisch schon in Lew Tolstois Смерть Ивана Ильича (Der Tod des Iwan Iljitsch) von 1886 literarisch veranschaulicht.8 Man 7 Henry Ashby Turner, German Big Business and the Rise of Hitler, New York 1985. Turners Buch zeigte, dass sehr viel mehr (weil wesentlich weniger reiche) Menschen den Aufstieg Hitlers finanziert hatten, als der Marxismus annahm. Selbst Nicht-Marxisten hatten in dieser Frage oft nichts gegen die marxistische Theorie einzuwenden, weil sie die große Mehrzahl der Deutschen exkulpierte. 8 Martin Heidegger erkennt seine Abhängigkeit nur kurz in einer Fußnote in § 51 an (Sein und Zeit, Tübingen 151979, 254).

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kann daher schwerlich umhin, dieser Erzählung eine philosophische Dimension zuzuschreiben, da sie, wenn auch im Medium der konkre­ ten Veranschaulichung, mit dem menschlichen Verhältnis zum Tode ein zentrales Existenzial behandelt. In einem anderen Sinne kann man von philosophischer Literatur reden, wenn diese explizite philosophische Gespräche vorführt – wobei es ihr, insofern sie Literatur ist, um die Darstellung der per­ formativen Dimension dieser Gespräche nicht weniger gehen muss als um deren Inhalte. Die literarische Veranschaulichung der großen Sinnfragen ist auch ohne die Darstellung expliziten Philosophierens denkbar: Herman Melvilles Moby Dick; or, The Whale (Moby-Dick; oder: Der Wal) ist ein gutes Beispiel, da unter der Hülle eines Lehrromans über den Walfang das Verhältnis eines pathologischen menschlichen Willens zur Amoralität der Natur dargestellt wird. Die Umkehrung, also die Darstellung philosophischen Debatten nachgehender Menschen ohne ein eigenes Abzielen des Autors auf eine philosophische Dimension, ist zwar ebenfalls denkbar, aber viel seltener, da in diesem Fall die Integration philosophischer Argumente meist pointenlos wäre. Thomas Manns Der Zauberberg ist das klas­ sische Beispiel eines im doppelten Sinne philosophischen Romans – es kreist um Zeitlichkeit, Sterblichkeit und Liebe, und zu seiner Handlung gehören weltanschauliche Diskussionen wesentlich dazu.9 Wenn eine Kultur eine Einheit ist, die sich in ihren verschiede­ nen Ausdrucksformen als solche manifestiert, kann es schwerlich überraschen, dass Philosophie und Literatur derselben Epoche immer wieder den gleichen Geist atmen. Damit meine ich nicht einfach, dass Dichter und Philosophen einander rezipieren und aufeinander reagieren, also eine Wechselwirkung zwischen ihnen besteht – der Dichter hat bestimmte philosophische Texte gelesen, diese gestatten ihm, Phänomene zu entdecken, die den Philosophen bisher entgangen waren, aber spätere Denker zu genaueren Analysen inspirieren.10 Selbst wo eine konkrete Wechselwirkung nicht vorliegt, wird in den unterschiedlichen Medien der Einbildungskraft und des abstrakten 9 Vgl. Michael H. Mitias, The Philosophical Novel as a Literary Genre, Cham 2022, der zu Recht schreibt: »Thus, a philosophical novel may or may not contain discursively given philosophical content.« (47) Allerdings fehlt jede weitere Differenzierung des Begriffs. 10 Vgl. Adam Zachary Newton, Narrative Ethics, Cambridge, Mass./ London 1995, 67: »The literary text can extend and develop a philosophical problem by placing it into a new light.«

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Denkens eine analoge geistige Richtung ausgedrückt. So kann es kein Zufall sein, dass die Darstellung des Bewusstseinsstroms bzw., etwas vorher, der durchgehende innere Monolog in der Literatur (man denke an den Schlussteil von James Joyce Ulysses bzw. an Arthur Schnitzler Lieutenant Gustl) in etwa zeitgleich sind mit der Entwicklung der phänomenologischen Methode Edmund Husserls. Offenbar sind beide Entwicklungen Kinder desselben Geistes – eines neuen Interesses an der Subjektivität, die allerdings nun, anders als in früheren Epochen, nicht idealisiert, sondern in ihrem eigen­ tümlichen Wesen präzise erfasst werden soll. Ja, selbst wenn ein Schriftsteller die Philosophie verachtet bzw. umgekehrt eine philoso­ phische Richtung auf die Künste herabblickt, selbst diejenigen ihrer eigenen Zeit, bedeutet das keineswegs, dass Literatur und Philosophie nicht unbewusst dieselben geistigen Stimmungen ausdrücken. Die frühe analytische Philosophie orientierte sich an Mathematik und Naturwissenschaft und interessierte sich nicht für Ästhetik. Aber Kristin Boyce hat recht, wenn sie dennoch auf gemeinsame Motive verweist, insbesondere die Sprachskepsis: »The connections between modernist literature and philosophy come most sharply into focus if we compare the minute and anxious scrutiny that both direct toward ordinary language. Within both literature and philosophy, the felt danger of degeneration takes the form of a deep and abiding worry about ordinary forms of expression.«11 Es wäre ein sehr ehrgeiziges Projekt, die den verschiedenen Epochen zugrunde liegenden, sich in allen Kulturformen, also auch, aber nicht nur in Literatur und Philosophie manifestierenden geisti­ gen Prinzipien und Stimmungen in einen zeitlichen Ordnungszusam­ menhang zu bringen und der Frage nachzugehen, warum sie gerade diese zeitliche Reihenfolge einnehmen. Es wäre ein selber philosophi­ sches, genauer ein geschichtsphilosophisches Projekt, wie es zum Teil Hegels Phänomenologie des Geistes verfolgt, und darum kann es hier selbstverständlich nicht gehen. Aber dass die Kunst der Philosophie vorausgeht, ist nicht nur ein unstrittiges historisches Faktum (es gibt Kristin Boyce, Analytic philosophy of literature, in: The Routledge Companion to Philosophy of Literature, hg. von Noël Carroll, John Gibson, New York 2016, 53–63, 58. Zur Sprachkrise als zentralem Moment der klassischen Moderne siehe Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, München 2004, 177–231 sowie Martina King, Sprachkrise, in: Handbuch Literatur und Philosophie, hg. von Hans Feger, Stuttgart/Weimar 2012, 159–177. 11

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menschliche Hochkulturen ohne Philosophie, aber keine ohne Kunst und Literatur), sondern verlangt auch nach einer philosophischen Erklärung. Die Antwort ist einfach: In der Evolution des menschlichen Geistes, der sich mühsam der Naturgeschichte entwindet, ist die abstrakte Reflexion später als die Wahrnehmung. Seit Giambattista Vico wissen wir, dass der Mythos nicht eine bewusste Übersetzung philosophischer Gedanken in eine abstrakte Form war – er war vielmehr die einzige Weise, in der die vorphilosophische Menschheit philosophische Fragestellungen wie die nach dem Ursprung der Dinge umkreisen konnte. Ein narratives Element gehört zu jedem Mythos und macht ihn der Literatur besonders affin, auch wenn diese zusätz­ liche Qualitäten hat, die zwar keineswegs verhindern, dass sie auf den Mythos zurückgreifen kann, sie aber doch von diesem unterscheiden. Die mythische Weise der Weltdeutung vibrierte mit viel stärkeren emotionalen Schwingungen, als der abstrakten Weltbetrachtung der Wissenschaft und der Philosophie vergönnt sind, die ihren Weg nur gehen konnten, indem sie die Gewalt der Emotionen der Kontrolle des Verstandes unterwarfen. Das hat Ästhetiker wie Vico, Johann Gottfried Herder, Carl Gustav Jochmann und Friedrich Nietzsche dazu verführt, in der Kunst des Ursprungs, die dem Mythos noch am nächsten stehe, die ästhetische Spitzenleistung anzusetzen – bei Nietzsche auch noch in der Erneuerung des Mythos, die er im Wagnerschen Musikdrama am Werk sah. Während die Renaissance von der Überlegenheit Vergils gegenüber Homer überzeugt war,12 sieht Vico gerade in der Barbarei Homers, die er keineswegs bestreitet, ein Zeichen seiner Größe. Dies weist auf eine wesentliche Beziehung von Ästhetik und Geschichtsphilosophie, die in der heutigen analytischen Philosophie fast immer ignoriert wird. Das ist auch dann als ein Fehler zu bedau­ ern, wenn man zugibt, dass es keine einfache Antwort auf die Frage gibt, ob die frühere oder die spätere Dichtung die bessere ist. Aber es gibt auf jeden Fall Wesensunterschiede zwischen ihnen, die mit dem Grad der begrifflichen Durchdringung unseres Wirklichkeitsbezugs zu tun haben. Man kann schwerlich bestreiten, dass die Ilias oder das Nibelungenlied von Leidenschaften einer Heftigkeit beseelt sind, die wir in Vergils Aeneis oder in Wolframs Willehalm nicht finden – und muss doch gleichzeitig anerkennen, dass die kunstvolle Sprach­ 12 Vgl. Gregor Vogt-Spira, Warum Vergil statt Homer?, in: Poetica 34 (2002), 323–344.

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bearbeitung und die Subtilität der moralischen Empfindung in der Aeneis oder im Willehalm das von den beiden anderen Epen Erreichte deutlich überragen. Achills Stolz, seine Liebe zu Patroklos und sein bis zu kannibalistischen Drohungen gehender Hass gegenüber Hektor, Brünhilds archaische Reduktion der Geschlechterrollen auf physische Überlegenheit und Kriemhilds hochreflektierter, nichtdestoweniger barbarischer und pathologischer Racheplan enthüllen den Urgrund menschlicher Triebe, aber Aeneas‘ Selbstunterordnung unter eine religiös begründete geschichtliche Aufgabe sowie Gyburgs subtile theologische Argumente und ihre humanitäre Zähmung des Krie­ ges drücken einen langsamen moralischen Fortschritt aus, zu dem beizutragen einer der Ehrentitel der Dichtung ist. Auffallend ist, dass zwar die Ilias und die Aeneis durch viele Jahrhunderte und den Wechsel von einer Sprache und Kultur in die andere getrennt sind, das Nibelungenlied und der Willehalm dagegen in derselben Sprache verfasst und zeitlich eng benachbart sind. Gewiss, Wolframs Werk lässt sich ohne das französische Vorbild und die in Frankreich erfolgte Entstehung des höfischen Romans nicht erklären, aber es bleibt in hohem Maße erstaunlich, wie »ungleichzeitig« die mittelhochdeut­ sche Literatur der Stauferzeit ist (der Eindruck vertieft sich noch, wenn man auch Gottfrieds Tristan mitberücksichtigt). Und das heißt, dass sich die Nähe zum Mythos nicht einfach am Zeitpunkt der Abfassung bemessen lässt – die Heldenepik bliebe auch dann archaischer als der höfische Roman, wenn sie diesen überlebt hätte. Wie man unterschiedliche Bewertungskriterien gegeneinander aufwiegen soll, ist allgemein nicht leicht zu beantworten, und in der Ästhetik vielleicht besonders schwer zu entscheiden. Skepsis ist immer angebracht, wenn jemand nur ein einziges Kriterium aner­ kennt, um seinen Lieblingsdichter an die Spitze zu katapultieren. Derartige Urteile sagen oft mehr über den Urteilenden als über den Beurteilten, weil sie immer wieder eine Kompensation eigener Schwächen sind: Die Faszination durch kraftvolle Rohheit findet sich bekanntlich eher bei Schwächlingen als bei robusten Persönlichkeiten, und die Sehnsucht nach dem Archaischen und dem noch dem Mythos Nahestehenden ist in der Regel ein Symptom kultureller Spätzeiten, die an sich selber leiden: Man denke an Richard Wagners Der Ring des Nibelungen. Zudem unterscheidet sich die Wiederaufnahme des Archaischen in Spätzeiten unweigerlich vom Original, und zwar selten zu deren Vorteil.

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Die geschichtsphilosophische Durchdringung der Entwicklung von Literatur erstreckt sich auch auf die zeitliche Ordnung der Genese der literarischen Genres, die sich in der klassischen abendländischen Literatur im wesentlichen in der Reihenfolge Epos – Lehrgedicht – Lyrik – Tragödie – Komödie – Idyll – Satire – Roman – Autobiogra­ phie konstituiert haben.13 Gewiss existieren Zwischenformen und Kreuzungen, auch weil die Genres Sichtweisen auf die Wirklichkeit ausdrücken, die von anderen Genres aufgenommen werden können; so gibt es komische und satirische Romane. Neben der Rechtfertigung der Genres als unverzichtbarer Idealtypen gibt es seit Friedrich Schil­ ler und Friedrich Schlegel die Suche nach einer plausiblen Erklärung der Reihenfolge ihrer Entstehung. Aber Fragen zur Geschichtsphilo­ sophie der Kunst sind hier nicht Thema. Ich will vielmehr kurz auf jene Fragen der Philosophie der Literatur eingehen, die von der historischen Dimension abstrahie­ ren, weil bei ihnen noch deutlicher wird, warum die Philosophie eine die Literaturwissenschaft transzendierende Aufgabe behält. Im Wesentlichen gibt es zwei Dimensionen der Literaturphilosophie, die nicht einfach an die Literaturwissenschaft abgegeben werden können. Welche sind das? Die Literaturwissenschaft ist, neben zahlreichen anderen, eine Geistes-, d.h. eine verstehende Wissenschaft. Ihre differentia specifica ist ihr Gegenstandsbereich – Sprachkunstwerke. Diese wollte sie in der Vergangenheit erstens verstehen, zweitens bewerten. Ich will mit dem letzteren beginnen, da hier die Notwen­ digkeit einer philosophischen Grundlegung besonders deutlich ist. Bewerten ist eine Tätigkeit, die von bloßer Beschreibung abweicht und auf diese nicht reduziert werden kann: Bekanntlich lassen sich alleine aus deskriptiven Propositionen keine evaluativen oder normativen Propositionen ableiten. Die evaluativen Sätze, um die es bei der Bewertung der Literatur geht, sind teils spezifisch ästhetischer, teils ethischer Natur. Das erste liegt auf der Hand – die Poetik ist ein Teil der Ästhetik und setzt sowohl allgemeine ästhetische als auch spezi­ fische, nur für die Literatur geltende Normen voraus. Aber behandelt die Literaturwissenschaft nicht ständig solche Normen? Wozu bedarf sie dazu philosophischer Hilfe? Nun, dass jeder Mensch implizit wertet, bedeutet nicht, dass er über eine Theorie verfügt, die ihn dazu Im ersten, den Genres gewidmeten Teil von The Oxford Handbook of Philosophy and Literature, hg. von Richard Eldridge, Oxford 2009 werden die literarischen Genres in dieser Reihenfolge aufgelistet – doch fehlt bezeichnenderwise das Lehrgedicht. 13

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berechtigt; und es ist nicht klar, wie ohne explizite philosophische Grundlegung die Literaturwissenschaft heute zu normativen Urteilen in der Lage sein soll. Denn sie teilt das allgemeine Schicksal der Geisteswissenschaften, die sich im Laufe des 19. und verstärkt des 20. Jahrhunderts als wertfrei herauskristallisiert haben. Das wurde zunehmend als der Preis angesehen, den man eben zahlen müsse, wenn man sich verstehend der ganzen Fülle geschichtlich verwirklich­ ter Werte öffnen wolle.14 Die so verstandene Wertfreiheit schließt natürlich nicht aus, dass die Geisteswissenschaften, einschließlich der Literaturwissenschaft, die Werte zu verstehen suchen, die eine Kultur oder ein einzelner Autor als gültig ansah, und in diesem Sinne kann natürlich auch der wertfreie Literaturwissenschaftler die Texte, die er interpretiert, in Bezug setzen zu dem Wertsystem, das in ihrer Zeit anerkannt wurde. Denn Werte zu verstehen bedeutet nicht, Werte zu bejahen, ja nicht einmal, zu ihnen Stellung zu beziehen. Der geisteswissenschaftlich gebildete Germanist begreift bald, dass Kantkenntnisse bei der Interpretation Schillers nützlich sind, aber sofern seine Kompetenzen ausschließlich geisteswissenschaftlicher Natur sind, wird er sich einer Bewertung der Kantischen Ethik und Ästhetik enthalten und die Frage als unbeantwortbar zurückweisen, ob sie einen Fortschritt darstellen gegenüber früheren Theorien. Konsequent zu Ende gedacht, kann sich die wertfreie Literatur­ wissenschaft nur mit Produktions- und Rezeptionsprozessen von Literatur befassen, die deskriptiver hermeneutischer Untersuchung zugänglich sind. Sie wird daher Rangordnungen vermeiden, ihre Untersuchungen auf das ausdehnen, was früher abschätzig »Trivial­ literatur« hieß, und den Klassikerbegriff, sofern sie noch an ihm festhält, von seinem normativen Anspruch entkoppeln, d.h. als Klas­ siker jene Werke definieren, die besonders erfolgreich waren.15 Zwar besteht nicht begriffsnotwendig, aber in der realen Geschichte eine gewisse Korrelation zwischen Qualität und langfristigem Erfolg; aber da der zeitliche Horizont beliebig eingegrenzt werden kann, ja, da es durchaus denkbar ist, dass aufgrund der demographischen und der 14 Siehe Vittorio Hösle, Was sind und zu welchem Ende studiert man Geisteswissen­ schaften?, in: Geisteswissenschaft: Was bleibt? Zwischen Theorie, Tradition und Trans­ formation, hg. von Hans Joas und Jörg Noller, Freiburg/München 2020, 104–134. Dort begründe ich, warum die Philosophie keineswegs eine Geisteswissenschaft ist. 15 Zum Unterschied zwischen normativem und soziologischem Klassikerbegriff siehe Vittorio Hösle, »Great Books Programs«. Die Rolle der Klassiker im Bildungsprozeß, in: Kultur, Bildung oder Geist?, hg. von Roland Benedikter, Innsbruck 2004, 117–133.

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Marktentwicklung Schundwerke der Gegenwart de facto mehr Leser gefunden haben als komplexe Meisterwerke selbst der entfernten Vergangenheit, ist der soziologische Klassikerbegriff nie ein Äquiva­ lent des normativen. Dies alles tritt, wohlgemerkt, nur ein, sofern es der Literaturwissenschaft nicht gelingt, Anschluss an eine normative ästhetische Theorie zu finden, die nicht allein auf geisteswissenschaft­ liche, sondern auf spezifisch philosophische Methoden zu stützen ist. Eine derartige Mitwirkung der Philosophie ist erst recht erforder­ lich, wenn es um ethische Werte geht. Aber warum sollte sich die Lite­ raturwissenschaft für sie interessieren? Dies hat damit zu tun, dass große Literatur erstens einen kognitiven Anspruch hat und dass dieser zweitens sich auch und gerade auf moralische Sachverhalte richtet. Ich werde auf den Wahrheitsanspruch der Literatur noch zurückkommen, der keineswegs auf moralische Sachverhalte beschränkt ist. Aber diese nehmen deswegen einen privilegierten Platz ein, weil die emotionale Intensität der ästhetischen Erfahrung von Literatur an ihnen hängt. Gelungene Naturschilderungen bewegen den Leser, aber sie ergreifen nicht in gleichem Maße wie die Darstellung moralischer Konflikte, weil wir uns mit moralischen Akteuren leichter identifizieren können als mit einem Wasserfall. Ohne eine ethische Schulung (die anders als moralische Sensibilität der Philosophie bedarf) vermag der Lite­ raturwissenschaftler in der Regel nicht, die moralischen Probleme präzise zu kategorisieren, um die es in den meisten literarischen Werken geht. Aber ist nicht Poesie von Rhetorik zu unterscheiden, Moralpredigen also dem ästhetischen Wert eines Werkes abträglich? Ohne jeden Zweifel – von Agitprop-Literatur war schon die Rede. Rhetorische Aktivitäten können zwar Gegenstand einer erstrangigen literarischen Darstellung sein (man denke an die Rede Mark Antonys in Shakespeares Julius Caesar), aber sie sind nicht die Weise, in der ein literarisches Kunstwerk wirkt. Doch bedeutet das keineswegs, dass dem ästhetischen Kunstwerk moralische Botschaften fremd sind. Es bedeutet nur, dass diese auf indirekte Weise ausgedrückt werden, die dem Rezipienten teils geistige Anstrengung abverlangen, teils diese mit dem Gefühl belohnen, seine Autonomie sei, anders als im Fall selbst guter Reden, nie bedroht. Und diese moralische Dimension kann eine kompetente Interpretation nicht ignorieren. Eine gelungene Kategorisierung des moralischen Kraftfeldes eines literarischen Universums bedeutet allerdings keineswegs, dass der Interpret den Werturteilen des Autors zustimmen muss. Aber er hat nur dann eine Chance, diesen kompetent zu kritisieren, wenn er

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dessen am anschaulichen Material vorgeführte Kategorisierungsleis­ tung in der eigenen begrifflichen Rekonstruktion nicht unterbietet. Das tut er nicht nur dann, wenn er die moralischen Fragen ganz ausblendet, sondern vielleicht in noch störenderer Weise, wenn er den literarischen Text dazu missbraucht, die eigenen, aus dem Zeitgeist geschöpften Wertvorstellungen entweder in ihn hineinzuprojizieren oder, im Gegenteil, sich darüber zu echauffieren, dass der Text sich noch nicht zu dem von den Zeitgenossen des Interpreten inzwischen erreichten moralischen Niveau erhoben habe. Denn leider ist dieses demjenigen großer Literatur oft auch dann unterlegen, wenn in der Zwischenzeit einzelne neue Einsichten errungen wurden, da es deren moralische Differenziertheit meist unterbietet. Aber auch wenn es schwer ist, beim Thema der Bewertung von Literatur die Einschlägigkeit der philosophischen Disziplinen von Ästhetik und Ethik zu bestreiten, scheint bei der ersten Aufgabe der Literaturwissenschaft, derjenigen des Verstehens, die Philosophie nicht erforderlich; und vielleicht sollte sich eine zeitgenössische Lite­ raturwissenschaft auf diese Aufgabe beschränken und auf Wertungen verzichten, wie schon suggeriert wurde. Aber auch das kann nicht funktionieren. Erstens ist die Beziehung zwischen Verstehen und Bewerten nicht so einseitig, wie es auf den ersten Blick erscheint. Gewiss, wir können ein literarisches Werk kompetent nur bewerten, wenn wir es interpretiert und damit auch verstanden haben. Aber Interpretieren ist gerade bei einem Kunstwek schwieriger als bei einem Zeitungsartikel; und literaturwissenschaftliche Kontroversen gibt es deswegen, weil verschiedene Interpretationshypothesen mit­ einander konkurrieren und zusammenprallen. Um ihre Gültigkeit zu bewerten, gibt es verschiedene Kriterien, die hier nicht aufzulisten und zu diskutieren sind; aber eines dieser Kriterien ist, zumal bei Werken bedeutender Künsterpersönlichkeiten, ob die vorgeschlagene Interpretation den ästhetischen Wert des Werkes hebt. Dies ist selbst­ redend nicht das einzige Kriterium; und es muss immer Möglichkei­ ten geben, eine Interpretationshypothese zu widerlegen, selbst wenn sie einem Text einen maximalen ästhetischen Wert zuschreibt – sonst könnte man ja in jeden Text all das hineinlesen, was man ästhetisch wertschätzt. Im Grunde ist das Verhältnis zwischen Verstehen und Bewerten eines Kunstwerks analog demjenigen zwischen Textkritik und Verstehen. Auch hier setzt natürlich die Interpretation den Text voraus – sonst könnte sich der Interpret seinen Text nach seinen Wünschen zurechtzimmern. Aber in Fällen, wo z.B. der Text nicht

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vollständig erhalten oder eine Stelle kaum lesbar ist, ist es legitim, ja oft geradezu unabdingbar, jene Textherstellung vorzuziehen, die die Verständlichkeit des Textes erhöht und Sinn gibt. Das gilt ohnehin, wenn das erhaltene Manuskript nicht vom Autor selber niederge­ schrieben wurde. Aber selbst wenn letzteres der Fall ist, werden wir manchmal lieber einen Schreibfehler als einen dummen oder gar absurden Gedanken annehmen und die Schuld eher bei der Hand als beim Geist suchen. Damit ist schon angedeutet, dass selbst das Verstehen nicht ganz so im wertfreien Raum abläuft, wie sich das manche vorstellen. Aber das ist bei weitem nicht alles. Nicht nur ist die Epistemologie des Verstehens, die Hermeneutik, eine normative Diziplin; sie unter­ scheidet ja zwischen gültigem und ungültigem Verstehen, und das ist eine Form von Normierung, auch wenn sie anderer Natur ist als die ästhetische oder ethische. Auch wer naiv versteht, ohne sich auf die spezifischen Reflexionen der Hermeneutik einzulassen, muss instinktiv annehmen, dass die Interpretanda Sinn geben – ich erinnere an das gerade zur Textkritik Gesagte. Donald Davidson hat sehr überzeugend gezeigt, dass ohne das »principle of charity«, also die Unterstellung von soviel Wahrheit und Kohärenz wie nur möglich, das Verstehen eines anderen Geistwesens gar nicht in Gang kommen könnte.16 Denn nur so bestehe eine Chance, den Zirkel aufzubrechen, der in der Tatsache besteht, dass wir an propositionale Einstellungen anderer Menschen nur über deren Äußerungen herankommen kön­ nen, ein Verstehen dieser aber nur denkbar ist, wenn wir sie mit propositionalen Einstellungen korrelieren. Die Logik ist somit in die Hermeneutik eingebaut, und wer jene nicht wenigstens instinktiv beherrscht, kann schwerlich verstehen oder interpretieren. Damit erweist sich die Philosophie als für alle Geisteswissenschaften unum­ gänglich. Das Problem des Zugangs zum Fremdseelischen, das nicht umgangen werden kann, wenn wir physische Gegenstände oder Pro­ zesse als Ausdruck von etwas Mentalem deuten wollen, ist nicht nur ein epistemologisches. Es ist zugleich ein ontologisches, denn es hat zu tun mit zwei unterschiedlichen Seinsbereichen, dem Physischen und dem Mentalen, und ihrer Verknüpfung. Ja, Sprachverstehen lässt sich nur begreifen, wenn wir Sprachzeichen einerseits auf Bewusst­ Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford 1984. Für eine Weiterführung der Theorie siehe mein Werk: Kritik der verstehenden Vernunft, München 2018.

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seinsakte gründen, diese Akte aber als intentional fassen, d.h. auf ein intentionales Objekt bezogen, das nicht immer ein realer Gegenstand oder eine Tatsache ist – denn es gibt auch Wahnvorstellungen. Die Beziehung zwischen bestimmten Zeichen und bestimmten intentio­ nalen Objekten kann zudem nicht zu stark individuell variieren, wenn eine Sprache von mehreren geteilt werden soll. Obgleich sie nur in individuellen Akten entsteht, gewinnt Sprache ein soziales Eigendasein, das dem einzelnen gegenüber eine normative Kraft ausübt, wenn auch stets nur dank des Verhaltens anderer Individuen. Ja, selbst in der Dichtung ist es am Anfang ihrer Entwicklung nicht einfach, zwischen dem Werk eines Kollektivs, das sich manch­ mal sogar über viele Generationen erstreckt, und dem konketen Beitrag eines einzelnen zu unterscheiden. Zwar ist in unserer Per­ spektive die Abgrenzung unterschiedlicher Personen unabweisbar, die jeweils für ein Zwischenstadium die volle künstlerische Verant­ wortung haben, da sie dafür als ganzes einstehen. Aber in vorindi­ vidualistischer Zeit hat zumal der mündliche epische Dichter keine Hemmung, Eigenes in Früheres zu integrieren bzw. dieses um jenes zu ergänzen, da er vom Bewusstsein getragen ist, organischer Teil einer Tradition zu sein. Das ändert nichts an der literaturwissenschaftlichen Aufgabe, die einzelnen Stufen der Entwicklung zu isolieren und sie zwar gleichermaßen anonym bleibenden, aber doch unterschiedlichen Individuen zuzuordnen; doch selten wird es so gelingen wie im Falle des Nibelungenlieds, wo die nordische Parallelüberlieferung der zwei in der Dichtung zusammengeflossenen Sagen eine Rekonstruktion der Zwischenstufen vergleichsweise leichter macht.17 17 Andreas Heusler etwa hat plausibel gemacht, dass um 1160 eine Vorstufe des zweiten Teils unseres Nibelungenliedes existiert haben muss (Nibelungensage und Nibelungenlied: die Stoffgeschichte des deutschen Heldenepos, Dortmund 1921, 60 ff.). Dem österreichischen Autor dieses verlorenen Epos schreibt er u.a. die Einführung der doppelten Rolle Rüdigers von Bechelaren zu – »sein Freibrief auf Unsterblichkeit« (71). Es könnte sein, dass, wäre diese Vorstufe erhalten geblieben, wir ihr größere Originalität zubilligen müssten als dem Nibelungenlied (auch wenn dessen Verschmelzung der Brünhild- und der Nibelungesage dies unwahrscheinlich macht). Analog wird man nicht dem Verfasser der heute vorliegenden Ilias, was immer sein Name gewesen sein mag, den höchsten Dichterkranz zusprechen, denn u.a. das zehnte Buch der Ilias, die Dolonie, wurde später hinzugefügt, stammt also nicht von jenem sicher einzelnen Dichter, der eine völlig neue, viel organischere und psychologisch schlüssigere Form der Erzählung einer alten Heldensage konzipierte, auch wenn er auf den Schultern einer jahrhundertealten Tradition mündlicher epischer Dichtung aufbaute.

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All das sauber und klar zu analysieren, bedarf an sich schon filigraner Begriffsarbeit. Aber die ontologischen Probleme der Litera­ turwissenschaft übersteigen die der normalen Geisteswissenschaften wie etwa der Linguistik oder der Soziologie deswegen, weil sich ihr ein weiteres ontologisches Problem stellt – das der Fiktionalität. Zwar muss jede Theorie menschlichen Bewusstseins, wie schon gesagt, mit intentionalen Objekten rechnen, denen nichts Reales entspricht. Aber dies ist zunächst nur im Auge des Betrachters so – der antike Grieche glaubt keineswegs, Zeus nur zu imaginieren. Allerdings ist Phanta­ sieren ein allgemein verbreitetes menschliches Vermögen, zu dessen phänomenologischer Eigenart es durchaus gehört, um den Mangel an Wirklichkeit der phantasierten Objekte zu wissen. Das, was frei­ lich das literarische Kunstwerk von dem gewöhnlichen Phantasieren unterscheidet, ist, dass sein intentionales Objekt eine innere Kohä­ renz hat, die nicht nur diejenige des normalen phantasierten Objektes bei weitem übertrifft, sondern sogar diejenige großer Teile der realen Welt zu transzendieren scheint.18 Es konstituiert eine eigene, fiktive Welt, und deren Attraktivität kann dazu führen, dass (evidenterweise nicht die fiktive Welt, sondern) das sprachliche Gebilde, das diese Welt darstellt, innerhalb der sozialen Wirklichkeit außerordentlich einflussreich wird. Die Fiktionalität des Menschen, ohne die es keine Kunst gäbe, hat viel mit seiner exzentrischen Positionalität zu tun, um Helmuth Plessners anthropologischen Begriff anzuführen,19 also der menschlichen Fähigkeit, sich aus der Welt, dem eigenen Leib, ja, der eigenen Seele herauszureflektieren, einer Fähigkeit, in der wohl die meisten spezifisch menschlichen Eigenarten gründen, etwa auch der Humor. In der Tat ist das ontologische Problem des Kunstwerks dies, dass das Kunstwerk selber, also die schriftlichen sprachlichen Äußerungen, Die klare Unterscheidung von Noesis und Noema geht auf Edmund Husserl zurück. Es war sein Schüler Roman Ingarden, der als erster diese Einsicht für die Ontologie des Kunstwerks (auch, aber nicht nur des literarischen) in vorbildlichem Maße fruchtbar gemacht hat, freilich noch ohne eine Theorie möglicher Welten und unter weitgehender Abblendung spezifisch ästhetischer Fragen. (Das letztere ist am Anfang der Theoriebildung nicht nur legitim, sondern weitgehend erforderlich.) – Ingardens Verdacht, René Welleks und Robert Warrens bedeutendes und außeror­ dentlich einflussreiches Werk Theory of Literature (New York 1948) mit der klassischen Unterscheidung von extrinsischem und intrinsischem Studium der Literatur verdanke seinem Hauptwerk mehr, als dem Leser mitgeteilt werde, ist berechtigt (Das literarische Kunstwerk, Tübingen 41972, XX ff.). 19 Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/New York 31975, 288 ff. 18

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die die propositionalen Akte des Autors in einer allgemeinverständ­ lichen Sprache ausdrücken, ein Teil des raumzeitlichen Kontinuums der wirklichen Welt ist, dass aber der Gegenstand dieser Akte eine mögliche Welt ist, die nicht Teil unserer Wirklichkeit und also mit ihr kausal nicht verknüpft ist. Der in seiner Welt dominante Don Quijote ist weder Ursache noch Wirkung irgendeines Ereignisses unserer Welt, weil er nicht zu ihr gehört – das Werk El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha und die Hauptfigur dieses Romans als Romanfigur sind dagegen durch Cervantes verursacht worden und haben eine unabsehbare Wirkung auf die neuzeitliche europäische Literaturgeschichte ausgeübt. Das bedeutet, dass die Literaturtheorie zweier sehr unterschied­ licher Methoden bedarf. Produktions- und Rezeptionsästhetik sind klassische Geisteswissenschaften, die kausale Beziehungen zwischen verschiedenen Faktoren und Produkten des menschlichen Geistes untersuchen.20 In der Produktionsästhetik geht es darum, die Bedin­ gungen zu verstehen, die die Hervorbringung eines Kunstwerkes (im weitesten Sinne, also einschließlich des literarischen) ermöglichen. Diese sind teils individueller, teils sozialer Art. Zu jenen gehören etwa charakterliche Eigenarten des Autors, seine Lebenserfahrungen und seine künstlerische Ausbildung, zu diesen der historisch errungene Stand der Kultur, der der Autor entstammt, die inzwischen erreichte Form der Sprache, die allgemein anerkannten literarischen Genres, die sozialen Institutionen, in denen Literatur diskutiert wird, und der Büchermarkt. Zwar ist es, vermutlich nicht nur beim jetzigen Stand der Wissenschaft, hoffnungslos, hinreichende Bedingungen für die Konzeption eines bestimmten literarischen Kunstwerks anzugeben; aber die Suche nach notwendigen Bedingungen, ohne die es nicht dazu gekommen wäre, ist die wichtige Aufgabe von Literaturpsychologie und -soziologie. Da ein Autor unweigerlich rezipiert werden will, wird er fast immer den Leser wenigstens implizit im Auge haben; aber auch das gehört noch zu den produktionsästhetischen Bedingungen, denn es geht um die subjektive Antizipation der Rezeption. Die wirkliche Rezeption ist dagegen Thema der Rezeptionsforschung. 20 Die Termini »Produktions-« bzw. »Rezeptionsästhetik« sind insofern irreführend, als das Interesse an Produktion und Rezeption eines Kunstwerkes auch unter Absehung von dessen ästhetischem Wert erfolgen kann und es mir in diesem Zusammenhang genau um diese Absehung geht. Aber »an Produktion interessierte Literaturwissenschaft« bzw. »an Rezeption interessierte Literaturwissenschaft« sind mir als Termini, obgleich angemessener, zu umständlich.

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Selbstverständlich sind die beiden Disziplinen verbunden; denn die Rezeption früherer Werke ist fast immer eine der Ursachen der Produktion eines neuen Werks. Produktions- und Rezeptionsästhetik sind historische Geistes­ wissenschaften, ja, sie können sogar zum Thema und zum Hilfsmittel der Geschichtswissenschaften werden. Denn einerseits sind das Ver­ fassen und die Rezeption eines Werkes historische Ereignisse, und der Historiker als Historiker kann an ihnen das gleiche Interesse nehmen wie an Schlachten und Wirtschaftskrisen, ohne das spezifisch Ästhe­ tische in den Blick zu bekommen (so wie ein Linguist die homerischen Epen als Steinbruch für seine Rekonstruktion der Entwicklung der Morphologie und der Syntax des Griechischen benutzt, ohne auf den Inhalt zu achten). Andererseits sind literarische Werke aus der ent­ fernteren Vergangenheit manchmal die einzige Quelle für bestimmte historische Tatsachen, teils dank expliziter Mitteilung, wie etwa in Dantes Commedia, teils aufgrund dessen, was sich aus ihnen, ohne die Absicht, manchmal sogar gegen den Willen des Autors, erschließen lässt. Der Rückzug auf Produktions- und Rezeptionsästhetik liegt nahe, wenn eine empiristische Grundeinstellung vorherrscht, wie sie nach Zusammenbruch des deutschen Idealismus den Positivismus beherrschte, und normative Fragen nur noch Achselzucken auslösen. Biographische Analysen, Quellenstudien und Rezeptionsforschung setzen freilich viele Kompetenzen voraus und haben die Literaturwis­ senschaft seit dem 19. Jahrhundert sehr bereichert. Sie sind ohne jeden Zweifel inkonsistenter postmoderner Theoriebildung vorzuziehen, die oft das Streben nach objektiver Gültigkeit, die den Positivismus charakterisierte, aufgibt, ja verachtet. Ganz andere Methoden sind dagegen erforderlich, um ein litera­ risches Werk an sich zu analysieren: Die Kunstwerkästhetik analysiert die mögliche Welt in ihrer eigenen Logik und blendet dasjenige am Produktionsprozess oder gar an der Künstlerbiographie aus, was darauf kein Licht wirft. Sie konzentriert sich auf die Geltung des Kunstwerks, nicht seine Genese. Auch an dem Rezeptionsprozess ist sie nur interessiert, sofern die spätere Reaktion auf einer kunst­ werkästhetisch gültigen Einsicht in das frühere Werk basiert. Denn ein guter Interpret muss nicht nur frühere literaturwissenschaftliche Interpretationen studieren, um das schon Erreichte nicht zu unterbie­ ten; da, wie gesagt, fast jedes Kunstwerk auf frühere reagiert (und zwar meist implizit), lohnt es, die in der Absetzung eines späteren Kunstwerkes oft enthaltene Kritik an dem Werk, das man gerade

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interpretiert, zur Kenntnis zu nehmen. Dies geschieht in der gut begründeten Annahme, Dichter seien keineswegs schlechtere Litera­ turinterpreten als Literaturwissenschaftler. Natürlich können auch jene ebenso irren wie diese; ja, sie haben in der Einflussangst ein zusätzliches Motiv. Aber dieses wird durch ihre literarische Kreativität oft genug kompensiert. Das Werk schafft ein literarisches Universum, das nicht an die Tatsachen der Wirklichkeit gebunden ist. Das ist ein Akt der Freiheit, der aber keineswegs der Regellosigkeit Tür und Tor öffnet. Im Falle der Dichtung in Versen unterwirft es sich strengen Regeln, und im Falle der Sprachmalerei hebt es sogar ansatzweise die sonst allgemein herrschende Willkürlichkeit der Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem wieder auf, freilich auf höchst originelle Weise. Selbst bei Prosawerken unterscheidet sich der Sprachduktus meist stark von dem der Alltagssprache. Gewiss sind die Regeln vom menschlichen Geist geschaffen, und immer wieder ist die kunstvolle Abwandlung der bisher geltenden Regeln das Privileg des Schöpfers von Literatur. Aber die Abwandlung der Form muss in sachlichem Zusammenhang mit dem Inhalt des Werkes stehen; denn die Forderung nach inne­ rer Kohärenz des Werkes ist unabdingbar. Ästhetische Kohärenz bedeutet nicht nur, dass das literarische Werk in sich stimmig sein muss (allerdings kann es dann unstimmig sein, wenn das der para­ doxerweise stimmige Ausdruck für die Darstellung von Chaos ist). Es soll – wie ein Organismus, mit dem es seit der Antike immer wieder verglichen worden ist – durch eine besondere Fülle interner Beziehungen gekennzeichnet sein. Die Teile weisen aufeinander und auf das Ganze und sind nur scheinbar selbständig. Das erklärt die enorme intratextuelle Dichte des literarischen Werkes, die erst erfasst wird, wenn dem Leser das Ganze gegenwärtig ist – dann versteht er, ganz wie der Hörer eines Musikstücks, dass am Anfang schon die Themen anklangen, die erst im Verlauf des Werkes zur Entfaltung gelangen. Das setzt das Kunstwerk von der nicht-ästhetischen Wirk­ lichkeit ab, verknüpft es aber gleichzeitig mit anderen Kunstwerken. In ihnen sieht es Geistesverwandte, und daher gehört explizite oder diskrete Bezugnahme auf sie, also Intertextualität, zum literarischen Kunstwerk wesentlich dazu. Anders als Einfluss, der eine produkti­ onsästhetische Kategorie ist, ist Intertextualität eine kunstwerkästhe­ tische. Natürlich setzt Intertextualität einen vorausgehenden Einfluss voraus, aber sie transzendiert diesen, indem sie eine Eigenschaft der Bedeutung des Kunstwerkes wird.

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All das erklärt den Reiz des Formalismus in der Literaturtheorie, der sich auf Sprache, innere Strukturen, Benutzung und Variation eines Genres, intertextuelle Bezugnahmen und die Ereignise in der fiktiven Welt konzentriert. Gegen den biographischen, an der Produk­ tion ausgerichteten Ansatz beharrt der Formalismus zu Recht darauf, dass das Kunstwerk eine in sich geschlossene Welt schafft und auto­ nom ist. So beziehe sich etwa das lyrische Ich eines Gedichtes gerade nicht auf den Verfasser. In Goethes Gedicht Um Mitternacht von 1818 z. B. geht das lyrische Ich »zu Vaters Haus, des Pfarrers« – Goethes Vater war aber bekanntlich kein Pfarrer. Während die positivistische Literaturwissenschaft dazu tendierte, das spezifisch Literarische zu übersehen und das Kunstwerk in den allgemeinen Fluss des geschicht­ lichen Werdens oder wenigstens der individuellen Biographie zu versenken, besteht bei dem Formalismus die umgekehrte Gefahr, das Kunstwerk von der Wirklichkeit vollständig loszulösen, und zwar in einem doppelten Sinne. Da Analogien zum Rechtspositivismus Hans Kelsens bestehen, dessen Reine Rechtslehre21 die Jurisprudenz sowohl von der Ethik als auch von der Soziologie abkoppelte, mag man die formalistische Literaturtheorie »reine Literaturwissenschaft« nen­ nen. Denn Kelsens Bruch mit der Soziologie entspricht die Zurück­ weisung des Studiums der Produktion, obgleich das Kunstwerk ihr immerhin seine Existenz verdankt, Kelsens Ablehnung der Ethik die Konzentration auf die formalen Züge des Kunstwerkes unter völligem Absehen von seinem kognitiven Anspruch. Der Formalismus, dessen Entdeckungen nicht weniger bewundernswert sind als diejenigen des Positivismus, war in vielem das wissenschaftliche Pendant des »l’art pour l’art« genannten ästhetischen Programms des 19. Jahrhunderts, das zumal in Frankreich ausgearbeitet wurde. Es hat in Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft einen wichtigen Vorläufer gehabt, da schon bei ihm die Kunst von Metaphysik und Ethik weitgehend entkoppelt und damit autonom wird. Dass Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie trotz ihrer Inge­ niosität und enormen Wirkung nicht zu den größten Klassikern der Ästhetik gehört, erkennt man u.a. daran, wie schnell sie gealtert ist – der Mangel an logischer Präzision etwa in der Verwendung des Widerspruchsbegriffs und die höchst vagen politischen Hoffnungs­ bekundungen ärgern den heutigen Leser nicht einmal mehr, sie amüsieren ihn. Aber das darf nicht die Anerkennung dessen mindern, 21

Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Leipzig/Wien 11934, Wien 21960.

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dass Adorno wie nur wenige den Doppelcharakter des Kunstwerkes »als autonom und als fait social«, »als einem freilich noch in seiner Autonomie sozial determinierten Autonomen und einem Sozialen« gesehen und herausgearbeitet hat.22 Die Kunstwerke sind sowohl »Produkte gesellschaftlicher Arbeit« als auch »ihrem Formgesetz untertan oder eines erzeugend« (337). Deswegen lassen sie die Kri­ terien oszillieren: »Autonome Werke reizen zum Verdikt des gesell­ schaftlich Gleichgültigen, schließlich des frevlerisch Reaktionären; umgekehrt, solche, die gesellschaftlich eindeutig, diskursiv urteilen, negieren dadurch die Kunst und mit ihr sich selbst.« (368) Dass Autarkie das Kunstwerk mit Sterilität bedrohe, scheint Adorno Frank Wedekind zuzugeben (459); deswegen bedürfe Kunst des Blickes von außen, »um vor der Fetischisierung ihrer Autonomie beschützt zu werden.« Aber nicht weniger sei die Kunst in ihrem Wesen bedroht, wenn sie zum Teil der Unterhaltungsindustrie werde und etwa die Musik, mit der man in einem Café berieselt wird, nun die Unaufmerk­ samkeit der Hörer kaum weniger erwartet »als im Stand ihrer Autono­ mie deren Aufmerksamkeit« (375). Was Adorno zur Musik schreibt – »Daß einer Beethovensymphonie so wenig jemand gewachsen ist, der nicht die sogenannten rein-musikalischen Vorgänge in ihr versteht, wie einer, der nicht das Echo der Französischen Revolution darin wahrnimmt« (519) –, gilt analog auch für die Aeneis: Nur der begreift sie, der sowohl die metrische und sprachliche Kunst als auch die komplexe Stellungnahme zum römischen Imperialismus in ihr bemerkt – ja, der am Sprachmaterial die Stellungnahme des Dichters nachzeichnen kann. Was die reine Literaturwissenschaft in der Regel ignoriert, ist, neben der Genese des Werks, dass die vom Dichter geschaffene fiktive Welt keineswegs im luftleeren Raum hängt – mit ihr will der Dichter etwas ausdrücken. Sicher sind Dramen in dem Sinne »anonym«, dass der Dichter nicht direkt spricht; und auch der Erzähler eines Romans, besonders deutlich, aber keineswegs nur wenn er ein Ich-Erzähler ist, oder das lyrische Ich gehören zum fiktiven Universum. Aber es ist absurd, daraus zu schließen, der Autor habe deswegen keine Stellungnahme beabsichtigt. Dass der Autor von King Lear Cordelia mehr schätzt als Goneril und Regan, dass der Verfasser von Great Expectations (Große Erwartungen), und keineswegs nur der Ich-Erzäh­ ler, in Pips Entwicklung etwas sieht, was, nach einer Zeit der Wirren, 22

Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt 21974, 16.

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zu moralischer Reifung fühlt, ist zwar hermeneutisch nicht so einfach zu erschließen, wie es im Falle einer entsprechenden direkten Aussage wäre, aber es ist nicht weniger plausibel, ja, vielleicht sogar noch plausibler. Denn auch direkte, sich nicht als fiktional ausgebende Äußerungen sind nicht selten Gedankenlosigkeiten oder gar Lügen. Aber keiner macht sich die Mühe, Werke von der Komplexität jener Tragödie oder jenes Bildungsromans zu verfassen, dem es nicht ernst ist mit dem, was er sagen will, und er wäre kein bedeutender Künstler, wenn er nicht wüsste, wie der normale Leser auf die Sympathielen­ kungen des Autors reagiert. Ja, selbst Um Mitternacht sagt uns, zumal in der zweiten und dritten Strophe, einiges über Goethe selber; und auch wenn er kein Pfarrerssohn war, wirft die Abweichung von der eigenen Lebensgeschichte in der ersten Strophe immer noch Licht auf seine reale subjektive Imagination. Da er lutherisch erzogen worden war und viele deutsche Dichter seiner Generation tatsächlich Pfarrhäusern entstammten, hätte auch er in einem Pfarrhaus aufge­ wachsen sein können, ohne dass sein späteres Leben grundsätzlich anders verlaufen wäre. Das Gedicht stellt zwar nur eine Phantasie des Dichters dar; aber diese Phantasie ist als solche ein subjektives Faktum seines Lebens und kann daher in ganz anderer Weise auf Wirklichkeit Anspruch erheben als die offenbar fiktiven Aussagen eines Romans oder Dramas.23 Aber kann nicht ein literarisches Kunst­ werk eine Stellungnahme zu einer Frage gerade verweigern wollen? Sicher! Aber gerade das ist dann eben die Pointe. Am Ende von Luigi Pirandellos Così è (se vi pare (So ist es (wenn es Ihnen so scheint)) wissen wir nicht, ob Frau Frola oder Herr Ponza verrückt ist – aber wir haben keinen Zweifel daran, dass der Autor die Skepsis Lamberto Laudisis teilt, was die Lösbarkeit dieser Frage angeht. Ja, Pirandellos eigene Ansicht ist so überaus deutlich, dass sie – ganz unabhängig von ihrer Plausibilität – die hermeneutische Komplexität und damit den ästhetischen Wert des Stückes beträchtlich schmälert. Dass jedoch Akira Kurosawas Rashomon relativistische Deutungen gefunden hat, beweist einerseits die Komplexität des Filmes, andererseits die Flach­ heit jener Interpreten. Der Verfasser eines literarischen Kunstwerkes will etwas sagen. Er will es sicher auf ästhetisch ansprechende Weise sagen, also nicht 23 So zu Recht Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, Stuttgart 21968, 227. Siehe allgemein 217–232 zur »Beschaffenheit des lyrischen Ich«, wo ein Mittelweg zwschen Biographismus und Fiktionalisierung des lyrischen Ich gesucht wird.

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direkt, sondern durch die Erschaffung eines eigenen Gesetzen gehor­ chenden fiktiven Universums. Aber das ändert nichts daran, dass er etwas sagen will und dass es die Aufgabe des Literaturwissenschaftlers ist, zu bestimmen zu suchen, was es ist, das er sagen will. Gewiss würde die Literatur ebenso wie die Literaturwissenschaft ihre Aufgabe verfehlen, wenn sie nicht ihre Aufmerksamkeit ebenso auf das Wie des Sagens wie auf das Was des Gesagten richtete; und man kann, wenn man will, nach Art Croces das Ästhetische so definieren, dass man es auf die Form statt auf die Aussage bezieht. (Ich ziehe es vor, in diesem Fall von Formalästhetischem zu reden.) Aber dann muss die Aufgabe der Literaturwissenschaft eben darin bestehen, neben dem ästhetischen auch den kognitiven Gehalt zu analysieren – so wie die Aufgabe einer substantiellen Jurisprudenz sich nicht darin erschöpfen kann, zu untersuchen, ob ein Gesetz selbst gesetzmäßig zustande gekommen ist, sondern sich auch der Frage nach seiner materialen Gerechtigkeit stellen muss. Man kann, ja, soll die expressive Kraft und formale Meisterschaft eines Kunstwerks anerkennen, das eine absurde oder unmoralische Ideologie vermittelt, aber das bedeutet nicht, dass es mit jenen Kunstwerken gleichrangig ist, die ebenso expressiv etwas sagen, was auf Wahrheit Anspruch erheben kann. Und vermutlich ist es kein Zufall, dass es nicht viele auch nur formalästhetisch herausragende Werke aus totalitären Kulturen gibt.24 Aber wie kann Kunst einen kognitiven Gehalt haben? Dagegen richten sich zwei Einwände. Einerseits wird die emotionale Wirkung des Kunstwerks hervorgehoben, die gegen eine rationalistische Deu­ tung spreche, andererseits wird auf die Fiktionalität der Kunst verwie­ sen, die das gerade Gegenteil von Wahrheit sei. Was den ersten Punkt angeht, so haben emotivistische Theorien der Kunst sicher recht damit, dass es ein spezifisch ästhetisches Gefühl gibt, das über einen kognitiven Akt hinausgeht. Ein Werk, das bei keinem Rezipienten Emotionen auslöst, mag blitzgescheit sein, aber es ist kein gutes Kunstwerk. Aber liefert dieses Zugeständnis die Ästhetik nicht dem Subjektivismus aus, da emotionale Reaktionen bei unterschiedlichen 24 Ein formalästhetisch unterlegenes Werk kann einem anderen in seiner moralischen Aussage deutlich überlegen sein, und es ist nicht einfach, beide Qualitäten miteinan­ der zu verrechnen. Die zutreffende Darstellung der horrenden Unsinnigkeit des Ersten Weltkriegs in Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues ist ein großer Vorzug gegenüber Ernst Jüngers In Stahlgewittern – aber das ändert nichts daran, dass die Präzision von Jüngers Beschreibungen und die Klarheit seiner Sprache Remarques Oszillieren zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit übertreffen.

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Menschen verschieden ausfallen, ja, verrät es nicht die Kunstwerkäs­ thetik an die Faktizität der Rezeption? Das wäre nur dann der Fall, wenn Emotionen als bruta facta genommen würden. Aber das ist keineswegs notwendig. Die meisten Menschen erkennen vielmehr an, dass Emotionen situationsangemessen sein können – oder eben nicht. Auf eine bedeutende Leistung mit Bewunderung zu reagieren ist moralisch besser als mit Neid; und am Ende einer guten Auffüh­ rung von King Lear ist es ästhetisch ebenso wie moralisch besser, erschüttert zu sein als zu lachen. (Trotz der Analogie ist keineswegs gesagt, dass emotionale Reaktionen auf Tragödien im Leben und Tragödien auf der Bühne die gleichen sind – die Fiktionalität der Situation etwa eliminiert den Impuls zu helfen.) Um diese normativ geregelten Emotionen geht es also; und auf diese darf der Schriftsteller nicht nur, er soll auf sie abzielen. Aufgabe der Literaturtheorie bleibt es freilich, durch eine immanente Kunstwerkanalyse die ästhetische Qualität der Tragödie und dadurch ihre Wirkung zu erklären. Dass Literatur emotional stärker wirkt als Philosophie, hat sicher damit zu tun, dass sie zu einer Identifikation des Lesers einlädt, die nur durch die Veranschaulichung allgemeiner Prinzipien an konkreten Figuren ermöglicht wird. Mit Kants kategorischem Imperativ kann sich niemand direkt identifizieren, mit Schillers Max Piccolomini durchaus. Anders als in der Geschichtsschreibung sind es allerdings in der Literatur fiktive Figuren, die diese Identifikation auslösen – ebenso wie ihre fiktiven Geschichten kognitive Erlebnisse, also Wahr­ heitserfahrungen. Wie ist das möglich? Dies ist das schwierigste epis­ temologische Problem der Philosophie der Literatur, und mehr als ein paar Andeutungen sind im Rahmen dieser Einführung nicht möglich. Offenbar gibt es drei Ebenen, auf denen man von Wahrheit in der Literatur sprechen kann. Erstens gibt es die dem literarischen Uni­ versum eigene Wahrheit, also um Wahrheit-in-der-Fiktion f.25 Das ist keineswegs immer das, was in dem Werke ausdrücklich gesagt wird, und zwar aus zwei Gründen. Erstens mag selbst ein auktorialer Erzähler es vorziehen, bestimmte Dinge nur anzudeuten und ihre Erschließung dem Scharfsinn des Lesers zu überlassen. Und zweitens gibt es unzuverlässige Erzähler, spätestens seit der Odyssee innerhalb des erzählten Universums, aber bei Icherzählern auch mit Bezug auf die Erzählung als ganze. (Ich habe Unzuverlässigkeit beim Berichten 25 Dazu bleibt grundlegend David Lewis, Truth in Fiction, in: American Philosophical Quarterly 15 (1978), 37–46.

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von Fakten im Sinne, keineswegs nur bei Bewertungen.) Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass in dem fiktiven Universum bestimmte Propositionen als wahr gelten müssen, auch wenn der Leser nicht immer herausfinden kann, um welche es sich handelt. Doch Literatur belehrt uns nicht nur über Wahrheiten in der jeweiligen fiktiven, sondern auch in unserer Welt. Das tut sie zweitens dadurch, dass sie, etwa in einem historischen Roman, zahlreiche Tat­ sachenbehauptungen aufstellt, die auch in unserer Welt wahr sind.26 Dass Napoleon Russland mit Krieg überzogen hat, dass er die Schlacht bei Borodino trotz großer Verluste gewonnen hat, dass während der französischen Besetzung Moskau abgebrannt ist, das alles ist sowohl in unserer Welt als auch im literarischen Universum von Lew Tolstois Война и мир (Krieg und Frieden) wahr. Zwar spricht der Roman nicht direkt über unsere, sondern eine fiktive Welt, da einige der von ihm berichteten Ereignisse in unserer Welt nicht stattgefunden haben; aber oft erlauben formale Kennzeichen bestimmter Aussagen, z.B. Beschreibungen von Plätzen, kulturellen Eigenarten usw., die nicht wirklich erforderlich sind für den Fortgang der Handlung, den Schluss, der Autor habe mit ihnen Tatsachenwahrheiten im Sinne, die auch für unsere Welt gelten. Aber die eigentliche Wahrheitsleistung der Literatur betrifft gerade nicht diese Tatsachenwahrheiten, die man auch in nicht-fiktio­ nalen Werken etwa historischer oder geographischer Art nachschla­ gen kann. Sie betrifft drittens Wesenswahrheiten, und diese werden paradoxerweise durch Fiktionen vermittelt, also durch Aussagen, die sich nicht auf unsere Welt beziehen. Anders als Napoleon sind Pierre Besuchow, Nikolai Rostow und Andrej Bolkonski in Krieg und Frieden keine Figuren, die in unserer Welt eine konkrete Entsprechung haben; aber in ihnen sind so viele Wesenszüge des russischen Adels in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts komprimiert, dass uns das Buch oft besser über diese Zeit informiert, als ein historisches Werk es könnte. Natürlich muss auch ein historisches Werk aus der unermesslichen Fülle von Ereignissen die relevantesten auswählen; aber es darf nichts als Tatsache ausgeben, was sich nicht ereignet hat. Drei unterschiedliche Charaktere, deren Züge kompatibel sind, ja, die sogar in einer Person vereint deren inneren Zusammenhang beson­ Vgl. Maria E. Reicher, Knowledge from Fiction, in: Understanding Fiction. Knowledge and Meaning in Literature, hg. von Jürgen Daiber, Eva-Maria Konrad und Thomas Petraschka, Münster 2012, 114–132. 26

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ders deutlich machen würden, müssen in der Geschichtsschreibung als drei verschiedene Individuen erscheinen. Der Dichter dagegen kann sie zu einer einzigen Person verschmelzen. Ihr wird er dann eine andere entgegensetzen, die noch stärker von ihr abweicht, als es Menschen in der Realität gewöhnlich tun, um durch diesen Kontrast die verschiedenen Menschentypen besonders deutlich werden zu lassen. Aber steht damit nicht der große Schriftsteller dem Psycho­ logen und Soziologen, der mit Idealtypen arbeitet, näher als dem Historiker? In einem gewissen Sinne ja, da es ihm wie jenem um das Allgemeine geht. Aber anders als jene stellt er das Allgemeine anhand von etwas Individuellem und Konkretem dar, das, anders als die sozi­ alwissenschaftlichen Typen, ähnliche Sympathien zu wecken mag wie reale Menschen. Das wird gerade nicht durch Abstraktion, sondern durch Konzentration erreicht. Große literarische Figuren erscheinen uns oft geradezu realer als selbst unsere Nachbarn, weil sie fast nur aus Wesenseigenschaften bestehen – kontingente Eigenschaften werden weitgehend abgeblendet, weil sie von dem Eigentlichen nur ablenken. Dadurch lehrt uns große Literatur, auch in der empirischen Wirklichkeit das Wesentliche zu erfassen, so wie das Studium von Portraits Menschenkenntnis auch dann vermittelt, wenn die Portraits weitgehende Idealisierungen darstellen. Und dass sie zudem unseren moralischen Sinn schult, wurde schon gesagt: Die besten Tragödien etwa lehren uns, die Natur moralischer Dilemmata sowohl zu begrei­ fen als auch zu erleben, die besten Komödien, die Selbstaufhebung von Lastern zu beobachten und zu verlachen. Ich ging von historischen Romanen aus, die zwar den Geschichts­ verlauf leicht variieren, aber doch nicht an den Naturgesetzen unserer Welt (einschließlich der Gesetze des Seelischen und des Sozialen) rütteln. Aber gibt es nicht auch phantastische Literatur, die eine zwar logisch mögliche, aber doch nomologisch unmögliche, also mit den Naturgesetzen der unseren inkompatible Welt darstellt? Ich meine damit nicht Sciencefiction, die ja meist nur zukünftige technische Entwicklungen aufgrund der in unserer Welt bestehenden, aber noch nicht ausgeschöpften Naturgesetze zu antizipieren glaubt. (Auch wenn sie darin manchmal irrt, bleibt ihre Intention doch realistisch, und auf diese kommt es ebenso an wie bei der Klassifikation eines Werkes als Lehrgedicht.) Und wie kann man bei phantastischer Literatur im eigentlichen Sinne von kognitivem Element sprechen? Nun, auch hier ist ein kognitiver Anspruch unverkennbar; denn in nomologisch unmöglicher Literatur werden ja nur einige Gesetze

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unserer Welt verletzt, und zwar fast immer nur um dadurch umso deutlicher Wesenszüge dieser unseren Welt hervortreten zu lassen. Lebewesen verwandeln sich nicht in solche anderer Art; also schildern Ovids Metamorphoses (Metamorphosen), Franz Kafkas Die Verwand­ lung und Eugène Ionescos Rhinocéros (Die Nashörner) nomologisch unmögliche Welten. Aber wenn Ovids mörderischer Lycaon ein Wolf wird, so tritt er nur in sein eigentliches Wesen; wenn Gregor Samsa in einen Käfer transformiert wird, so expliziert das nur seine immer schon existierende Entfremdung von seiner Umgebung, die sich im übrigen in ihrem Verhalten zu ihm als weitaus unmenschlicher erweist als der riesige Käfer; und wenn Bérengers vorher menschliche Umgebung sich vollständig in Nashörner verwandelt, stellt das nicht nur Bérengers abgrundtiefe Einsamkeit, sondern auch die dem ein­ zelnen verbleibende Möglichkeit menschlicher Würde heraus. Kurz, an dem kognitiven Kern jeder Literatur, auch und gerade an dem Wahrheitsanspruch ihrer Wertungen, ist nicht zu rütteln, und bei dessen Herausschälen kann Philosophie der Literatur nützlich sein. Aber nicht nur gibt es eine Philosophie der Literatur und Literaturwissenschaft, sondern auch eine Literaturwissenschaft der Philosophie. Diese leistet eine literarische Analyse philosophischer Texte, die in verschiedenen Dimensionen erfolgen kann – ich nenne insbesondere Stil und Genre. Eine Formenlehre der von der Philoso­ phie benutzten literarischen Genres ist eine eminente literaturwissen­ schaftliche Aufgabe. Doch mag auch die Philosophie selbst die von der Literaturwissenschaft klassifizierte Formenfülle auf ein allgemeineres Prinzip zurückzuführen suchen.27 Die Fülle und Komplexität der Beziehungen zwischen Philoso­ phie und Literatur habe ich sehr vereinfacht und nur theoretisch darzustellen versucht, und zwar als literaturwissenschaftlich interes­ sierter Philosoph. Eine andere und viel noblere Aufgabe wäre es freilich, den alten Streit zwischen Literatur und Philosophie selbst literarisch zu gestalten. Aber diese Aufgabe geht weit über meine Kräfte – sosehr ich mir wünsche, dass jemand anderer sie angeht.

Siehe Vittorio Hösle, Die Philosophie und ihre literarischen Formen – Versuch einer Taxonomie, in: Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst, hg. von Dieter Wandschneider, Würzburg 2005, 41–55. 27

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Wie kann Sprache malen? Formen der Sprachmalerei in der Dichtung1

Der Begriff ›Sprachmalerei‹ geht auf den großen Indologen und Kyoto-Preisträger Paul Thieme zurück, der ihn 1972 in seinem poetologisch wichtigsten Aufsatz ausarbeitete.2 Normalerweise, so beginnt er, denke man beim Malen in der Sprache an Lautmalerei, also an »die Möglichkeit, Geräusche, Töne, Tierstimmen der Wirk­ lichkeit mit den Mitteln menschlicher Lautsprache anzudeuten oder stilisiert wiederzugeben«.3 Die Sprache könne aber auch Vorgänge und Situationen wiedergeben, und zwar stets durch Stilisierung: »Sie besteht im wesentlichen (wenn auch nicht ausschließlich) in einer vom Gewohnten abweichenden kunstvoll-spielerischen Anordnung der Elemente einer Aussage: der Worte, gelegentlich der Silben, der Morpheme, der metrischen Einheiten, der Tonhöhen.«4 Neben einem deutschen und vier lateinischen Beispielen (aus Ennius, Catull, Vergil und Horaz) gibt Thieme zahlreiche Beispiele aus dem Vedischen, dem Sanskrit (und zwar hauptsächlich aus der Prosa, unter anderem aus dem Grammatiker Pāṇini) sowie dem Pali. Das ist vermutlich der Grund, warum sein Aufsatz außerhalb von indologischen Fachkreisen kaum rezipiert wurde.5 Das ist angesichts seiner begrifflichen Klarheit 1 Ich danke meinem Sohne Paul Hösle für die kritische Lektüre des Textes und zahlreiche entscheidende Anregungen. 2 Vgl. Thieme, Paul: »›Sprachmalerei‹«. In: Zeitschrift für vergleichende Sprachfor­ schung 86 (1972), 64–81. Ich bin mir dessen bewusst, dass der Terminus schon bei dem Philosophen Conrad Hermann (dem Sohne des großen Philologen Gottfried Hermann) auftaucht (Die ästhetischen Prinzipien des Versmaasses im Zusammenhang mit den allgemeinen Prinzipien der Kunst und des Schönen. Dresden 1865, 66–70). Aber seine Ausführungen sind sehr generisch und kommen nicht an die Präzision Thiemes heran. 3 Thieme, 64. 4 Ebd., 65. 5 Mit dem Begriff arbeitet etwa die bekannte russische Indologin Tatyana J. Elizaren­ kova (Язык и стиль ведийских риши. Moskau 1993; englische Übersetzung: Language and Style of the Vedic Ṛṣis. Ed. with an introduction by Wendy Doniger. Albany,

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auch dann bedauerlich, wenn man zugibt, dass das Phänomen unter anderen Namen immer wieder beschrieben worden ist. Natürlich war etwa die poetische Wirkung der Wortstellung seit langem bekannt. Schon 1933 hatte Arthur M. Young in einem kurzen Aufsatz zu Vergil von »pictorial arrangement of words«6 gesprochen. Donald Lateiner hat 1990 in einem grundlegenden Auf­ satz zu Ovid, dem ich viel verdanke, das behandelt, was er ›mimetic syntax‹ nennt und was ein wichtiger Sonderfall dessen ist, was bei Thieme ›Sprachmalerei‹ heißt, aber nicht damit zusammenfällt.7 Kürzlich hat Paolo Dainotti den Ausdruck ›visual iconicity‹ verwendet und eine Fülle weiterer Beispiele zumal aus der lateinischen Dichtung zusammengetragen.8 Allerdings verführt ihn sein Begriff der ›visual iconicity‹ dazu, der optischen Dimension, also der geschriebenen statt der gesprochenen Sprache, eine zu starke Bedeutung zuzuweisen, wie etwa seine Erörterung der pseudotheokritischen Σύριγξ (Panflöte) beweist,9 eines der ›Technopaignia‹, also der Figurengedichte, aus der Anthologia Palatina, die, wenn sie niedergeschrieben werden, die opti­ sche Gestalt des Gegenstandes haben, den sie explizit behandeln oder New York 1995). Es ist kein Zufall, dass gerade russische Gelehrte diesen Begriff aufgegriffen haben, da er den Fragestellungen des russischen Formalismus und der Semiotischen Schule von Tartu und Moskau entgegenkommt. 6 Young, Arthur M.: »Pictorial Arrangements of Words in Vergil«. In: Transactions of the American Philological Association 64 (1933), LI–LII. Sein früherer Aufsatz »Schematized word order in Vergil«. In: The Classical Journal 27 (1932), 515–522 analysiert die Wortstellung im allgemeinen. 7 Vgl. Lateiner, Donald: »Mimetic Syntax: Metaphor from Word Order, especially in Ovid«. In: American Journal of Philology 111 (1990), 204–237. In meinem eigenen Buch Hösle, Vittorio: Ovids Enzyklopädie der Liebe. Formen des Eros, Reihenfolge der Liebesgeschichten, Geschichtsphilosophie und metapoetische Dichtung in den ›Metamor­ phosen‹. Heidelberg 2020 bin ich en passant auf zahlreiche sprachmalerische Stellen eingegangen, von denen ich einige auch hier zitiere. 8 Vgl. Dainotti, Paolo: »Visual iconicity in Latin poetry«. In: Lars Elleström/Olga Fischer/Christina Ljungberg (Hg.): Iconic Investigations. Amsterdam/Philadelphia 2013, 173–190. In seiner Monographie Word Order and Expressiveness in the Aeneid. Berlin/Boston 2015, 8–14) unterscheidet er dagegen klar zwischen akustischer und visueller Ebene. Der Terminus ›icona‹ zur Erfassung der Beziehung zwischen Eigen­ schaften sprachlicher Gebilde und Eigenschaften des von diesen Gebilden Beschriebe­ nen findet sich etwa in Mariella Bonvicinis vorzüglichen Anmerkungen, denen ich zahlreiche Stellen verdanke, zur zweisprachigen Ausgabe von: Ovid: Tristia. Testo latino a fronte. Hg. von Mariella Bonvicini. Milano 52016, z. B. 237. Ovids Text zitiere ich allerdings nach der Ausgabe: Ovid: Tristium libri quinque, Ibis, Ex Ponto libri quattuor, Halieutica, Fragmenta. Hg. von Sidney G. Owen. Oxford 1915. 9 Vgl. Dainotti: »Visual iconicity in Latin poetry«, 174f.

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auf den sie anspielen.10 Da Thieme von den lange Zeit nur mündlich überlieferten Hymnen des Veda ausgeht, bezieht sich sein Begriff der Sprachmalerei keineswegs auf optische, sondern nur auf akustische Eigenschaften eines Gedichts. Seine These ist, dass auch durch diese akustischen Eigenschaften hindurch eine malerische Darstellung von nicht akustischen Eigenschaften und Sachverhalten erfolgen kann. Wie ist das möglich? Ziel meines poetologischen Aufsatzes ist es, dieser Frage nach­ zugehen. Dabei werde ich mich auf Eigenschaften der Lautsprache beschränken. Von ihnen werden natürlich viele auch von der ver­ schrifteten Sprache abgebildet, aber das gilt erstens nicht für alle; und zweitens gibt es Eigenschaften des Schriftbildes, die in der Lautgestalt kaum vorkommen11 oder wenigstens als solche kaum zu erkennen sind, wie eben bei den Figurengedichten. Ich werde ferner ausschließlich poetische Texte behandeln, obgleich manche Texte in Prosa, zumal in Kunstprosa, einige der hier unterschiedenen Formen von Sprachmalerei verwenden. Doch die sprachmalerischen Möglich­ keiten von Poesie sind größer – ja, vermutlich ist die Ausdehnung dieser Möglichkeiten einer der Gründe für die Entwicklung von Poesie gewesen. Denn Poesie ist zum Teil der Versuch, die Willkürlichkeit der Zeichen, die menschliche Sprachen weitgehend kennzeichnet, rückgängig zu machen.12 Erst recht werde ich die Frage ignorieren, die Thieme am Ende seines Aufsatzes behandelt, ob sprachmalerische Symbolismen »usuell werden, also ins Sprachsystem eingegliedert werden können«,13 d. h. ob bei der Wortbildung Sprachmalerei vor­ 10 In der Musik ist das Kreuzmotiv analog eine optische Eigenschaft – man denke an die von Bach gerne verwendete Folge B-A-C-H –, da beim zeichnerischen Verbinden der Außen- und der Innentöne ein Kreuz entsteht. Aber musikalische Sinnbilder wie die Urentsprechung sind nicht Thema dieses Aufsatzes. 11 Ein witziges Beispiel aus einem Prosawerk für die Irreduzibilität von Graphemen findet sich am Ende des 27. Kapitels des zweiten Teils von Charles Dickens’ Little Dorrit (vgl. Dickens, Charles: Little Dorrit. London 2009, 767) in John Chiverys imaginiertem Epitaph auf sich selbst. Das ganze Epitaph ist in Großbuchstaben; aber das letzte Wort, »MAGNANIMOUS«, ist in größerer Schriftgröße gedruckt als die vorangehenden – in witziger Entsprechung zur Bedeutung des Wortes. Sicher kann man das Wort besonders laut aussprechen, aber eine laute Stimme ist nur über Umwege als groß zu bezeichnen. 12 Vgl. Lotman, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt a. M. 1973, 94 sowie meine Überlegungen in Hösle, Vittorio: Kritik der verstehenden Vernunft. Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften. München 2018, 144–154. 13 Thieme, 79.

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gekommen ist, die über den offenkundigen Fall der Lautmalerei hinausgegangen ist.14 Statt empirisch-induktiv von Einzelfällen auszugehen, will ich versuchen, gewissermaßen vom Begriff der Sprache beginnend, die wichtigsten Formen von Sprachmalerei zu diskutieren – und zwar nur die wichtigsten, denn eine erschöpfende Einteilung überstiege meine Kompetenzen. Freilich scheinen gerade zwei Grundeigenschaften, die Ferdinand de Saussure der menschlichen Sprache zuschreibt,15 den Begriff der Sprachmalerei zu einer contradictio in adjecto zu machen. Die große Mehrzahl sprachlicher Zeichen ist erstens beliebig, wie die Tatsache zeigt, dass dieselbe Lautfolge in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Bedeutungen haben kann; und stimmliche Zeichen sind zweitens, anders als Skulpturen und Bilder, eindimensional – wie sollen sie die Fülle einer dreidimensionalen Welt malen können? Man kann drittens hinzufügen, dass sich Laute ausschließlich an einen Sinn, das Gehör, wenden, während uns die Wirklichkeit durch verschiedene Sinne zugänglich wird. Natürlich ist eine bloße Repräsentation, sei es der Wirklichkeit, sei es fiktiver Welten, durch Sprache, die beliebige Zeichen verwen­ det, unproblematisch. Es genüge, an Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus zu erinnern, der auf die logische Form als dasje­ nige verweist, das Wirklichkeit und Sprache gemeinsam ist (4.12) und durchaus ausreicht, um Repräsentation zu ermöglichen. Aber Sprach­ malerei ist mehr als bloße Repräsentation – der Wortbestandteil ›malerei‹ soll gerade darauf hinweisen, dass es zwischen sprachlichem Ausdruck und dessen Referenten Ähnlichkeiten gibt, die zwar meist schwächer sind als diejenigen, die etwa zwischen den Farben eines Gegenstandes und denen auf der Leinwand bestehen, doch die Belie­ bigkeit der normalen Zeichenrelation transzendieren. Aber wie kann die normale menschliche Sprache, also ein eindimensionales phone­ matisch-prosodisches System, der Malerei (oder vielleicht besser: der Zeichnung) Analoges leisten? Eine Typologie von Sprachmalerei könnte sich nach zwei Krite­ rien richten. Einerseits mag man sich nach dem richten, was von der Sprache malerisch ausgedrückt werden kann; andererseits kann danach eingeteilt werden, mit welchen Mitteln diese Malerei erzielt 14 Ingeniös ist etwa Thiemes Vorschlag, die Sanskrit-Wurzel kṛt ›drehen‹ als ›Umdre­ hung‹ eines ererbten *tṛk zu verstehen, das sich in tarku- ›Spindel‹ und etwa im lateinischen torquēre zeigt (vgl. Thieme, 79f.). 15 Vgl. de Saussure, Ferdinand:Cours de linguistique générale. Paris 1995, 100–103.

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wird. Allerdings laufen diese beiden Einteilungen weitgehend parallel, da es ja auf reale Ähnlichkeiten zwischen sprachlichen Strukturen und Teilbereichen der Wirklichkeit ankommt. Für einen Philosophen ist eine Einteilung naheliegend, die von Wesensmerkmalen der Spra­ che als solcher ausgeht, die der Darstellung von außersprachlichen Gegenständen, Ereignissen, Prozessen und Zuständen dienen kön­ nen. Die einzelnen Glieder der Einteilung veranschauliche ich durch einige Beispiele aus vertrauten Kultursprachen, zumal dem Griechi­ schen, Lateinischen und Deutschen. Da es unzählige solche Beispiele gibt, ist meine Auswahl unweigerlich subjektiv und erhebt keines­ wegs den Anspruch, die besten Veranschaulichungen herauszupicken. Welche Wesensmerkmale habe ich im Blick? Jede Sprache ist ein phonematisch-prosodisches System, das einen Wortschatz und eine Grammatik hat, zu der morphologische und syntaktische Regeln gehören. Dichterische Sprache folgt zudem bestimmten poetischen Regeln und ästhetischen Prinzipien, und sie tut dies in einem kreati­ ven Akt besonderer Art, der sich von anderen sprachlichen Verlautba­ rungen unterscheidet. Auf diesen unterschiedlichen Schichten kann Verschiedenes abgemalt werden. Dabei mag manchmal der abzuma­ lende Gegenstand bestimmen, welche Schicht für die Sprachmalerei eingesetzt wird; manchmal mag jedoch die Erfahrung bestimmter Behandlungsmöglichkeiten des sprachlichen Materials dazu führen, dass man entsprechende fiktive Gegenstände konstruiert. Die nicht abgeschlossene Auseinandersetzung zwischen formalen und materia­ len Ästhetiken in der Poetik hat viel damit zu tun, dass stets beide Ausgangspunkte eine Rolle spielen, wenn auch je nach Dichter und Epoche in unterschiedlichem Mischungsverhältnis. Ich beginne mit sinnlichen Eigenschaften. Erstens kann die Ähn­ lichkeit, wie im Falle der Farben eines Gemäldes, zwischen dem phonematischen Material der Sprache und akustischen Eigenschaften des Referenten bestehen. In diesem Fall spricht man von Lautmalerei (1). Zweitens mag eine Ähnlichkeit zwischen phonematischen und anderen sinnlichen, etwa optischen, aber gerade nicht akustischen Eigenschaften des Referenten vorliegen. Dann handelt es sich um Lautsymbolismus (2). Drittens können prosodische Eigenschaften der Sprache, besonders Hebung/Senkung, Rhythmus, Pausen, Eigen­ schaften von Bewegungen und Ruhe nachahmen. Ich will von proso­ discher Malerei reden (3). Aber die Nachahmung kann sich auch auf nicht-sinnliche Strukturen richten und durch solche erfolgen. So mag sie sich viertens auf Relationen der Ähnlichkeit und der

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Anordnung beziehen, die ein eindimensionales System mit Gebilden der Wirklichkeit teilt. Hier will ich von Anordnungsmalerei reden. Sie ist es, die Thieme im Auge hat, wenn er von ›Sprachmalerei‹ redet (4). Jede poetische Gestaltung ist ferner durch bestimmte Regeln gekennzeichnet, und die positive oder negative Bezugnahme auf diese Regeln kann fünftens als Akt des Dichters Eigenschaften zweiter Ordnung des Gegenstandes seiner Dichtung abbilden. Man mag von Malerei durch sprachliche Eigenschaften zweiter Ordnung sprechen (5). Die Dichtung kann schließlich etwas abbilden, das dem analog ist, was er selber als Dichter tut – dann liegt reflexive Sprachmalerei vor (6). Auch wenn die meisten Phänomene vereinzelt schon behandelt worden sind, ist ihre Einordnung in einen Gesamtzusammenhang – eben den der Sprachmalerei – und ihre Gliederung nach zunehmender Abstraktheit, soweit ich sehen kann, neu. Mein Ziel ist, kategoriale Klarheit und terminologische Präzision in einem Feld zu gewinnen, das seit langem bekannt ist, aber begrifflich nicht ausreichend ausdif­ ferenziert worden ist.

1 Der einfachste Fall von Sprachmalerei ist die Lautmalerei, also die sprachliche Nachahmung außersprachlicher Schallereignisse, sei es der Geräusche der unbelebten Natur (einschließlich von Artefakten), sei es der Stimmen von Tieren, ggf. auch sprachlicher Mitteilung in nicht verstandenen menschlichen Sprachen.16 Man könnte den Begriff der Sprachmalerei zwar so fassen, dass er die Lautmalerei ausschließt, aber da Laute ganz entscheidend zur Sprache gehören, schiene mir das nicht klug. Zwar ist es sicher richtig, dass die Wörter onomatopoetischen Ursprungs in jeder Sprache eine (oft kleine) Minderzahl sind; und es versteht sich, dass die Nachahmung der Schallereignisse mithilfe der in der jeweiligen Sprache existierenden Phoneme geschieht – das erklärt, warum unterschiedliche Sprachen selbst bei den onomatopoetischen Wörtern für denselben Schalltypus voneinander abweichen. Aber onomatopoetische Wörter kommen Zur Lautmalerei vgl. etwa die klassische Monographie von Wissemann, Heinz: Untersuchungen zur Onomatopoiie. 1. Teil: Die sprachpsychologischen Versuche. Hei­ delberg 1954, die die Erzeugung neuer Wörter aufgrund von Schalleindrücken unter­ sucht, sowie Anderson, Earl R.: A Grammar of Iconism. Madison/Teaneck/London 1998. 16

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in sehr vielen Sprachen vor und haben für Dichter eine besondere Anziehungskraft. Ein ausgezeichnetes Beispiel ist Edgar Allan Poes Gedicht »The Bells«. Ich zitiere die erste Strophe. Hear the sledges with the bells, Silver bells! What a world of merriment their melody foretells! How they tinkle, tinkle, tinkle, In the icy air of night! While the stars that oversprinkle All the heavens, seem to twinkle With a crystalline delight; Keeping time, time, time, In a sort of Runic rhyme, To the tintinnabulation that so musically wells From the bells, bells, bells, bells, Bells, bells, bells— From the jingling and the tinkling of the bells.17

Sowohl ›tinkle‹ as auch ›tintinnabulation‹ sind Wörter onomatopoe­ tischen Ursprungs, und sie passen sehr gut zu dem Gedicht, das offenbar das Geräusch von Glocken nachahmen will. Man beachte dabei, dass ›tinkle‹ ein Alltagswort, ›tintinnabulation‹ dagegen ein sehr gesuchtes hard word ist, das aus dem Lateinischen übernommen wurde. Allerdings haben beide Wörter in derselben Lauterfahrung ihren Ursprung; ja, ›tintinnabulation‹ wiederholt den ›tin‹-Laut zweimal in einem einzigen Wort. Das wird aufgegriffen durch die vielen Wiederholungen – das dreimalige, direkt aufeinander folgende ›tinkle‹ (zu dem sich ›tinkling‹ in der letzten Zeile gesellt), das drei­ malige direkt aufeinander folgende ›time‹ und das zehnfache ›bells‹, wobei es siebenmal direkt hintereinander erschallt. Wir werden auf die Iteration noch gesondert zu sprechen kommen; sie kann unter­ schiedliche Funktionen haben und auch sehr abstrakte Relationen sprachmalerisch ausdrücken. Hier aber ist die Wiederholung Teil des Schalls der Glocken. Es geht also nicht so sehr darum, dass die sprachliche Wiederholung auf eine Wiederholung in einem Referen­ ten aufmerksam werden lässt, der selbst kein akustisches Ereignis ist, sondern vielmehr darum, dass ein einheitlicher akustischer Eindruck nachgeahmt wird, der wesentlich durch Wiederholung bestimmt 17 Poe, Edgar Allan: The Complete Works. Vol. 1: Poems. Essays on the poet’s art. Ed. by Charles F. Richardson. New York/London 1902, 136.

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ist. Dieser sprachmalerische Effekt bestimmt, bei aller inhaltlichen Variation, auch die folgenden Strophen des Gedichts. Subtiler noch ist, wie Vergil in der ersten Ekloge mit dem Namen der Turteltaube umgeht.18 Auch ›turtur‹ ist im Lateinischen offenbar lautmalerischen Ursprungs, und wie in ›tintinnabulation‹ ist die Iteration des vom Vogel hervorgebrachten Lautes ›tur‹ deswegen entscheidend, weil sie zu dessen Lautverhalten selber gehört. Aber die Iteration des Dichters beschränkt sich keineswegs auf dieses Wort. Man lese aufmerksam die zwei Verse 1.57f.: nec tamen interea raucae, tua cura, palumbes,/ nec gemere aëria cessabit turtur ab ulmo (›doch werden indes weder die Waldtauben, die dir so lieb sind, aufhören, schrill zu gurren, noch die Turteltaube von luftiger Ulme‹).19 Dann bemerkt man nicht nur, dass beide mit dem gleichen Worte beginnen, sondern auch, dass Lautfolgen des eines Verses im zwei­ ten fast anagrammatisch bzw. fast assonanzartig wiederholt werden (interea/aëria, tua cura/turtur, palumbes/ab ulmo). Diese unscharfen Echoeffekte werden in der präzisen Wiederholung im Worte ›turtur‹, die sie vorbereiten, konzentriert; von ihm breitet sich das Prinzip der Iteration in lockerer Form auf beide Verse aus. Auch wenn dies die Kategorien dieses Abschnitts transzendiert, sei erwähnt, dass ›gemere‹, volksetymologisch verbunden mit ›geminare‹, ›ver­ doppeln‹, die Echoeffekte wohl semantisch andeuten soll. Damit ein Gedicht onomatopoetisch sei, ist der Einsatz onoma­ topoetischer Wörter nicht erforderlich, auch wenn solche sich hier finden. Aber ›bell‹ ist nicht onomatopoetischen Ursprungs, doch das siebenfache direkte Wiederholen des Worts erzeugt einen dem Schlagen von Glocken verwandten akustischen Eindruck. Ein anderes berühmtes Beispiel ist aus Ovid vertraut. Von den in Frösche verwan­ delten lykischen Bauern heißt es Metamorphoses 6.376: quamvis sint sub aqua, sub aqua maledicere temptant (›obgleich sie unter dem Wasser sind, versuchen sie, unter dem Wasser zu schmähen‹).20 Ovid vermeidet ganz bewusst das sprachmalerische lateinische Wort für ›quaken‹, ›coaxare‹ (die Nebenform ›quaxare‹ findet sich nur bei dem Lexikographen Sextus Pompeius Festus), bringt aber die Silbe ›qua‹ dreimal unter, was das Quaken indirekt, aber noch stärker nachahmt. 18 Ich folge dem ausgezeichneten Aufsatz von Adkin, Neil: »›Acoustic‹ Etymologizing in Vergil, Eclogue 1, 57–58«. In: Bollettino di studi latini 40 (2010), 523–526. 19 Vergil zitiere ich nach: Vergil: Opera. Hg. von Marius Geymonat. Turin u. a. 1973. 20 Ich zitiere das Werk nach der Ausgabe: Ovid: Metamorphoses. Hg. von William S. Anderson. 2. Aufl. Leipzig 1982.

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Vermutlich greift Ovid hier eine Anregung Vergils auf, der in den Georgica 3.431 von ranisque loquacibus (›geschwätzigen Fröschen‹) spricht. Auch Vergil vermeidet das onomatopoetische Wort, bringt aber den ›qua‹-Laut in einem Adjektiv unter. Doch Ovid verdreifacht diesen Laut, übertrifft also die Innovation Vergils, der sich ebenfalls nicht mit der Benutzung des verbrauchten onomatopoetischen Wor­ tes zufriedengeben wollte, das im Lateinischen keineswegs die gleiche Gesuchtheit hatte wie ›tintinnabulation‹ im Englischen.

2 Die Eigenschaften eines sprachlichen Gebildes können auch nichtakustische Eigenschaften nachahmen – mit den Worten Alexander Popes in dem berühmten Vers 365 des Essay on Criticism ausgedrückt: »The Sound must seem an Echo to the Sense.«21 Wie kann so etwas erzielt werden? Man muss dabei die phonematischen Eigenschaften eines Gedichtes von seinen prosodischen unterscheiden. Um mit den ersten zu beginnen, so verknüpfen die meisten Menschen (also auch solche, die keine Synästheten im eigentlichen Sinne sind, d. h. Personen, bei denen im Gehirn das Verarbeitungszentrum eines wei­ teren Sinnesorgans angeregt wird, wenn ein bestimmtes Sinnesorgan gereizt wird, die also z. B. Farben wahrnehmen, wenn sie bestimmte Töne hören) nicht-akustische Eigenschaften, die in anderen Sinnes­ empfindungen ihren Ursprung haben, mit Eigenschaften von Lauten. Zwar ist eine Phonosemantik, wie sie Kratylos im gleichnamigen Pla­ tonischen Dialog vertritt, von der modernen Sprachwissenschaft seit dem 19. Jahrhundert aus sehr guten Gründen diskreditiert worden; aber das heißt keineswegs, dass die These, einige Laute seien bei den meisten Menschen mit bestimmten nicht-akustischen Begriffen assoziiert, falsch ist. Hilke Elsen hat 2014 »ein Plädoyer […] für eine Wiederbelebung der sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema«22 der Lautsymbolik vorgebracht und kurz darauf selber eine reiche Monographie zu dem Thema vorgelegt, die von 21 Ich zitiere das Werk nach der Ausgabe: Poems of Alexander Pope. Vol. I. Pastoral Poetry and An Essay on Criticism. Ed. by Émile Audra and Aubrey Williams. Lon­ don/New Haven 1961. 22 Elsen, Hilke: »Lautsymbolik – ein vernachlässigter Forschungsgegenstand der Sprachwissenschaft«. In: Glottotheory 5,2 (2014), 185–218, hier 186.

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Gedichten zu Produktnamen eine Fülle einschlägiger Phänomene abdeckt.23 Schon 1929 zeigte Edward Sapir experimentell, dass eine deutliche Mehrheit von Menschen bei zwei alternativen erfundenen Wörtern, die sich nur im Vokalismus unterscheiden, dasjenige mit i mit einem kleinen, dasjenige mit a mit einem großen Gegenstand in Verbindung bringt.24 Im selben Jahr wies Wolfgang Köhler in seinem Buch Gestalt psychology auf eine analoge Verknüpfung zwischen dem Wort ›baluba‹ und einer Figur mit Rundungen bzw. zwischen ›takete‹ und einer zackigen Figur hin.25 Benjamin Whorf schreibt: »In the psychological experiments human subjects seem to associate the experiences of bright, cold, sharp, hard, high, light (in weight), quick, high-pitched, narrow, and so on in a long series, with each other; and conversely the experiences of dark, warm, yielding, soft, blunt, low, heavy, slow, low-pitched, wide, etc., in another long series.«26 Vokale, deren Formant F 2 eine tiefere Frequenz hat, also u und o, werden allgemein als ›dunkler‹ wahrgenommen als solche mit einer höheren, also die ›hellen‹ e und i. Warum das so ist, braucht hier nicht diskutiert zu werden. Einige der Korrelationen, die Sapir nennt, mögen von physikalischen Naturgesetzen abstrahiert sein (etwa dass man eine größere Kraft braucht, um einen schwereren Gegenstand zu bewegen, als einen leichteren); bei anderen mögen kinästhetische Erfahrungen eine Rolle spielen – bei a wird der Mund mehr geöffnet als bei i. Erinnerungen an Wörter der eigenen Sprache, also an faktisch schon bestehende Korrelationen, mögen mitschwingen. Von derartigen Korrelationen ist freilich noch ein langer Weg zu der viel weitergehenden These, es gebe Wörter, deren Lautgestalt gleichsam ihren Inhalt suggeriere, auch wenn sie nicht onomatopoe­ tischer Natur sind. Walter Porzig spricht bei Wörtern wie ›flirren‹ von »Lautübertragung (aus einem nicht-akustischen in einen akustischen

Vgl. Elsen, Hilke: Einführung in die Lautsymbolik. Berlin 2016. Vgl. Sapir, Edward: »A study in phonetic symbolism«. In: Journal of Experimental Psychology 12 (1929), 225–239. 25 In der mir allein zugänglichen Ausgabe Köhler, Wolfgang: Gestalt psychology. An introduction to new concepts in modern psychology. New York 1947 lauten die Worte »maluma« und »takete« (224f.). 26 Whorf, Benjamin Lee: »Language, Mind, and Reality (1941)«. In: Language, Thought, and Reality. Selected Writings of Benjamin Lee Whorf. Ed. by John B. Carroll/ Stephen C. Levinson/Penny Lee. 2. Aufl. Cambridge 2012, 341. 23

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Bereich)«,27 die englischsprachige Diskussion von ›cross-modal iconi­ city‹. Heute hat sich dafür der Terminus ›Ideophon‹ eingebürgert.28 Sicher hat die Phonosemantik oder Phonästhetik de Saussures These von der Willkürlichkeit der Zeichen nur modifiziert, nicht grundsätz­ lich widerlegt.29 In einer methodisch vorbildlichen Studie haben Mark Dingemanse, Will Schuerman, Eva Reinisch, Sylvia Tufvesson und Holger Mitterer Wörter aus unbekannten realen Sprachen – also nicht wie in früheren Experimenten erfundene – Zuhörern vorgelegt, die ihre Bedeutung einer von zwei Kategoriengruppen zuweisen sollten. However, while the overall success rate is statistically distinguishable from chance performance, it is lower than many previous experiments that used pseudowords, and also lower than certain claims about the iconicity of ideophones would lead one to believe. Our findings disprove the strong iconicity assumption: the idea that ideophone forms are direct phonetic representations of meaning [...] Instead, they support a more moderate view of ideophones as words that combine a significant degree of arbitrariness with weak iconicity.30

Es liegt auf der Hand, warum bei realen Wörtern der Ikonizitätsgrad geringer ist: Die sprachliche Entwicklung ist ein Resultat vieler Fakto­ ren, unter denen Freude an Lautsymbolik nur einer ist; der Erfinder von Wörtern wird dagegen, wenn auch vermutlich unbewusst, in stärkerem Maße von dieser Freude bestimmt. Dazu passt, dass inner­ halb von literarischen Werken erfundene Sprachen, wie etwa Quenya und Sindarin in J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings, eine starke Ikonizität aufweisen. Und das wiederum legt die Annahme nahe, Lyrik in natürlichen Sprachen bemühe sich durch die Kombination realer Worte viel mehr um Lautsymbolik als die normale Rede in Prosa. Dies ist keineswegs notwendig eine bewusste Entscheidung des Dichters. Dominiert eine düstere Stimmung, fallen ihm auch ohne eigenen Willensakt mehr Wörter mit dunklen Vokalen ein. 27 Porzig, Walter: Das Wunder der Sprache. Probleme, Methoden und Ergebnisse der Sprachwissenschaft. 7. Aufl. München 1982, 23. 28 Einen guten Überblick über Ideophone in verschiedenen Sprachen gibt der Sam­ melband: Hinton, Leanne/ Nichols, Johanna/Ohala, John J. (Ed.): Sound Symbolism. Cambridge 1994. 29 Vgl. den klassischen Aufsatz von Bolinger, Dwight L.: »The sign is not arbitrary«. In: Boletin del Instituto Caro y Cuervo 5 (1949), 52–62. 30 Dingemanse, Mark u. a.: »What sound symbolim can and cannot do: Testing the iconicity of ideophones from five languages«. In: Language 92/2 (2016), 117–133, hier 127.

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Ein gutes Beispiel ist der Gegensatz zwischen der zweiten und der dritten jeweils achtzeiligen Strophe von Goethes »Willkommen und Abschied« (in der Erstfassung von 1771, gedruckt 1775), Strophen, die der Dunkelheit der Nacht die Freude des Wiedersehens mit der Geliebten entgegenstellen. Der Mond von einem Wolkenhügel Sah schläfrig aus dem Duft hervor, Die Winde schwangen leise Flügel, Umsausten schauerlich mein Ohr. Die Nacht schuf tausend Ungeheuer, Doch tausendfacher war mein Mut, Mein Geist war ein verzehrend Feuer, Mein ganzes Herz zerfloß in Glut. Ich sah dich, und die milde Freude Floß aus dem süßen Blick auf mich. Ganz war mein Herz an deiner Seite, Und jeder Atemzug für dich. Ein rosenfarbnes Frühlingswetter Lag auf dem lieblichen Gesicht Und Zärtlichkeit für mich, ihr Götter, Ich hofft’ es, ich verdient’ es nicht.31

Um die bloße Subjektivität des Gefühls, dass der emotionale Kontrast zwischen den beiden Strophen auch und gerade am unterschiedlichen Vokalismus hängt, zu transzendieren, gibt es ein einfaches Mittel: Man muss die Vokale zählen. In der zweiten Strophe gibt es zwan­ zig u- und o-Laute (einschließlich derjenigen in Diphthongen), in der dritten nur elf. Dafür nimmt die Zahl der i-Laute (wiederum einschließlich derjenigen in Diphthongen) von vierzehn auf vierund­ zwanzig zu. Bemerkenswert ist, dass sich in der zweiten Strophe sieben der i-Laute in den ersten fünf Versen, sieben in den letzten drei, und zwar sechs in deren beiden letzten finden. Der i-Laut, der am Ende der sechsten Zeile in ›mein Mut‹ erscheint, jene Kraft benennend, die die bedrohliche Düsternis der Nacht zurückdrängt, vermehrt sich in den nächsten zwei Zeilen mit der feurigen Wärme des Geistes. Die erste Zeile der dritten Strophe, die den Anblick der Geliebten beschreibt, der die Dunkelheit vollends überwindet, hat die meisten Ich zitiere Goethe nach: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 1: Gedichte und Epen I. Hg. von Erich Trunz. München 1981, 27.

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i-Laute des ganzen Gedichtes, nämlich fünf. Die beiden letzten Zeilen der Strophe haben jeweils vier i-Laute, was deren Konzentration in den entsprechenden Zeilen der vorangehenden Strophe aufgreift. Es ist unmöglich, hier die Lautsymbolik zu übersehen – auch wenn es richtig ist, dass das Gedicht deswegen so stimmig ist, weil im Deutschen kontingenterweise die Personal- und Possessivpronomina der ersten und zweiten Person durch i-Laute gekennzeichnet sind. Die Verknüpfung dieser Tatsache mit der im weiteren Sinne des Wortes synästhetischen Wahrnehmung von Dunkelheit bzw. Helligkeit beim Hören bestimmter Vokale macht den Zauber des Gedichts aus. Es versteht sich, dass diese Form synästhetischer Lautmalerei streng zu unterscheiden ist von der Benennung synästhetischer Phä­ nomene, wie sie in zahlreichen Gedichten erfolgt. Synästhetische Gedichte sind nicht dasselbe wie Gedichte über Synästhesie. Goethe spricht in dem gerade behandelten Gedicht nicht über Synästhesie; er erzeugt sie. Clemens Brentanos »Abendständchen« (ursprünglich in seinem Singspiel Die lustigen Musikanten) dagegen endet mit dem Vers »Blickt zu mir der Töne Licht«, nachdem es im dritten Vers geheißen hatte: »Golden weh’n die Töne nieder.«32 Das ist explizite Bezugnahme auf Synästhesie. Immerhin kann man zugeben, dass das Schlusswort ›Licht‹ lautsymbolisch, unabhängig von seiner Bedeutung, den Eindruck der Hellen und Lichten erzeugt, also synäs­ thetisch wirkt.

3 Ein wichtiges neues Ergebnis der Experimente von Dingemanse u. a. ist, dass die Lautsymbolik nicht alleine durch die Segmente eines Wortes, sondern auch durch die Prosodie erzeugt wird. »On this view, trying to pinpoint the iconic meaning of single segments is like taking single dots from a pointillist painting and asking what they represent.«33 A fortiori gilt das für poetische Sprachmalerei, die sich nicht minder als auf die phonematischen Eigenschaften auch auf die prosodischen stützt, also diejenigen, die z. B. mit Wortund Satzakzent, Intonation, Tempo und Rhythmus zu tun haben. 32 Brentano, Clemens: Gesammelte Werke. Bd. 1: Gedichte und Erzählungen. Hg. von Heinz Amelung und Karl Viëtor. Frankfurt a. M. 1923, 51f. 33 Dingemanse u. a., 128.

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Zur Poesie gehört wesentlich, dass dem sprachlichen Material ein gemeinsames Muster aufgeprägt wird. In Roman Jakobsons bekann­ ten Worten: »Equivalence is promoted to the constitutive device of the sequence.«34 Dabei haben die einzelnen Sprachen, und auch die einzelnen Epochen innerhalb derselben Nationalliteratur, sehr unter­ schiedliche Kriterien dafür, was als Vers gilt. Beim akzentuierenden Versprinzip kommt es auf den regelmäßigen Wechsel von Hebungen und Senkungen, beim quantitierenden auf denjenigen von langen und kurzen Silben, bei Sprachen ohne Akzente und quantitative Differenzen auf die Silbenzahl an. Der Reim, der die Wiederholung von Lautfolgen verlangt, mag als Anfangs- oder Endreim auftreten. Die sprachmalerischen Möglichkeiten nicht so sehr der verschiedenen Versprinzipien als der unterschiedlichen Versmaße sind enorm, und es kann evidenterweise nicht darum gehen, sie hier im Einzelnen zu behandeln.35 Einige Veranschaulichungen anhand von Grundprinzi­ pien des Versbaus müssen genügen. Hebung und Senkung malen eine Aufwärts- bzw. Abwärtsbewe­ gung. Im fünften Vers der vierten Fassung von 1864 oder 1865 von Conrad Ferdinand Meyers »Der Brunnen« lesen wir: »Er steigt in schlankem Strahle«.36 Das Steigen der Stimme entspricht dabei der Steigung des Strahles. Da freilich aufgrund des jambischen Versmaßes die Hebung nach dem einsilbigen Pronomen jedem einsibigen Verb zukommen muss – etwa auch einem ›fällt‹ –, ist sie nicht ausdrucks­ stark. Meyer war aus guten Gründen damit nicht zufrieden; und in der siebten Version von 1882 mit dem Titel »Der römische Brunnen« lautet das Gedicht: Aufsteigt der Strahl und fallend gießt Er voll der Marmorschale Rund, Die, sich verschleiernd, überfließt In einer zweiten Schale Grund; 34 Jakobson, Roman: »Linguistics and Poetics«. In: Ders.: Language in Literature. Ed. by Krystyna Pomorska/Stephen Rudy. Cambridge/London 1987, 62–94, hier 71. 35 Zwei grundlegende Bücher eines Anglisten bzw. eines Latinisten zu dem Thema sind Fussell, Paul: Poetic Meter and Poetic Form. New York 1965 und Morgan, Llewelyn: Musa Pedestris. Metre and Meaning in Roman Verse. Oxford 2010. 36 Alle sieben Fassungen (von 1860 bis 1882) finden sich in: Meyer, Conrad F.: Gedichte Conrad Ferdinand Meyers. Wege ihrer Vollendung. Hg. von Heinrich Henel. Tübingen 1962, 20–22. Einen Vergleich einiger Fassungen bietet Gelfert, Hans-Dieter: Was ist gute Literatur? Wie man gute Bücher von schlechten unterscheidet. 2. Aufl. München 2006, 30–34.

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Die zweite gibt, sie wird zu reich, Der dritten wallend ihre Flut, Und jede nimmt und gibt zugleich Und strömt und ruht.37

›Fallend‹ im ersten Vers ist auf der ersten Silbe genauso betont wie ›steigt‹, aber dass auch die erste Silbe des ersten Wortes, ›auf‹, gegen das Versmaß betont wird und das erste Wort einen Doppelakzent bekommt, lässt die Hebung besonders auffallen. Der Effekt wird dadurch verstärkt, dass die Anfangsstellung des Verbes in einem deutschen Hauptsatz, der zugleich ein Aussagesatz ist, nicht korrekt ist. Man sieht hieran, dass zum Wesen poetischer Sprache Regeln auch dann gehören, wenn sie verletzt werden – denn die Verletzung ist nur dann als solche wahrnehmbar, wenn die Regel die Erwartung bestimmt. In Abwandlung von Heinrich Heines bekannten Versen in »Stoßseufzer« kann man sagen: Wenn sie uns die Regeln rauben, hat die in der Regelverletzung bestehende Ausdrucksmöglichkeit auch ein Ende. Aber um die Abweichung vom Versmaß und die darin bestehende Botschaft geht es hier noch gar nicht, denn es handelt sich dabei um eine komplexere Form von Sprachmalerei, auf die noch einzugehen sein wird. Mir geht es hier nur darum, dass die Hebung eine Steigung prosodisch malt. Neben der Hebung an unerwarteter Stellung sind prosodisch malerisch an der letzten Fassung des Gedichts, die aus einem einzigen Satz besteht, die beiden Enjambements am Ende der ersten und der dritten Zeile. In den zwei Zeilensprüngen ›ergießt sich‹ (in einem metaphorischen Sinne) die Sprache in die nächste Zeile und ›fließt‹ in sie ›über‹; sie instantiiert also das, wovon sie redet. Meyer mag dabei von Joseph von Eichendorffs Gedicht »Die Nachtblume«38 inspiriert sein, in dessen drei Strophen sich drei Enjambements finden – zwei in der ersten und eines in der dritten, aber keines in der zweiten. Warum? Nun, die beiden Sätze mit Enjambements enden mit »Wellenschlagen«, und Wellen bilden für unsere Sinne keine klaren Zäsuren, sondern gehen ineinander über, wie das Wasser der Schalen des Brunnens Meyers.39 Meyer, 22. Eichendorffs Werke. Auswahl in vier Teilen. Hg. und mit einem Lebensbild vers. von Ludwig Krähe. Bd. 1: Gedichte. Berlin u. a. 1908, 188. 39 Ein sprachmalerisches Enjambement kommt in Ovids Metamorphoses analog mit Formen des Verbes ›desilire‹ (›herabspringen‹) – z. B. 1.674, 7.378, 10.722, 12.129 37

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Die beiden Enjambements bei Meyer finden sich schon in der sechsten Fassung von 1870, die allerdings regelmäßiger ist als die siebte. Nicht nur fehlt die jambuswidrige Hebung zu Beginn; der letzte Vers lautet: »und alles strömt und alles ruht.« Warum hat Meyer den letzten Vers von vier Jamben auf zwei gekürzt? Nun, das doppelte ›alles‹ ist überflüssig, und ein großes Gedicht strebt nach Konzentration und Verdichtung. Aber wichtiger noch ist, dass das Fehlen der zwei Jamben eine Pause darstellt, die die Ruhe gleichsam hörbar werden lässt, sie gleichsam per absentiam repräsentiert.40 Man wundert sich angesichts der Vollkommenheit der letzten Fas­ sung nicht, dass Meyer 22 Jahre lang an diesem Gedicht gearbeitet hat. – Mit der Kürzung der letzten Verszeile mag man folgenden hypermetrischen Vers aus Vergils Georgica (1.295) kontrastieren, der nur bei Synaphie zu einem Hexameter wird: »aut dulcis musti Volcano decoquit umorem« (›oder durch das Feuer die Feuchtigkeit des süßen Mosts auskocht‹). Es liegt nahe, die bei Vergil sehr seltene Überlänge als Ausdruck des Überkochens des Mostes zu deuten,41 also jenes Fließens, das in der letzten Zeile Meyers als überwunden ausgeblendet wird. Auch ein Vergleich mit Emily Dickinsons Gedicht »Hope is the thing with feathers«42 ist erhellend. Das ganze Gedicht ist in Jamben abgefasst (wobei Verse mit jeweils vier und jeweils drei Jamben alternieren), doch der erste Vers scheint beim ersten Lesen aus einem Daktylus und zwei Trochäen zu bestehen. Wenn man ihn aber mit dem jambischen Rhythmus des Ganzen im Ohr wiederliest, erinnert – oder des Verbs ›excidere‹ (›herabfallen‹) – z.B. 2.602 – am Anfang des zweiten Verses vor. Ähnlich Statius: Achilleis 1.621 zu ›defluere‹ (›herunterfließen‹). (Ich zitiere Statius nach: Statius: Thebais et Achilleis. Hg. von H. W. Garrod. Oxford 1906.) Auch die große Ausdehnung des Römischen Reiches bzw. einer Zeitstrecke drückt Ovid, Tristia 2.231f. bzw. 3.3.11f. so aus. Siehe Lateiner, 231f., der allerdings zu Unrecht diese prosodische Sprachmalerei unter die syntaktische subsumiert. – Um zwei kanonische Gedichte des 19. Jahrhundertes zu zitieren: In Giacomo Leopardis »L’infinito« sind die zahlreichen Enjambements (zehn in fünfzehn Versen) ein Ausdruck der Erfahrung des Unendlichen als des Grenzenlosen, in Arthur Rimbauds »Le Bateau ivre« Ausdruck der »betrunkenen« Fahrt auf dem Meer. 40 Anordnungsmalerischer Natur ist die Darstellung einer Pause durch Unterbre­ chung einer direkten Rede mittels einer eingefügten Erwähnung der Pause durch den Erzähler (z. B. Ovid, Metamorphoses 9.569f.). 41 So zu Recht Richard Thomas in: Virgil: Georgics. Vol. 1: Books 1–2. Ed. by Richard Thomas. Cambridge 1988, 119. 42 Dickinson, Emily: The Collected Poems of Emily Dickinson. With an introduction and notes by Rachel Wetzsteon. New York 2003, 22f.

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er erstens an »Aufsteigt der Strahl« bei Meyer; auch hier wird eine Aufwärtsbewegung dargestellt, die allerdings nicht physisch, sondern nun metaphorisch zu verstehen ist. Und die im Gedicht alleinstehende weibliche Kadenz deutet zweitens ebenfalls wie der Vergilvers ein Wachsen über die Grenzen des Verses an, das dem durch die Federn ermöglichten Höhenflug entspricht (auch wenn der Vers eine Hebung weniger hat als die anderen zu Beginn der Strophen, ist er länger als der folgende). Beim quantitierenden Vers der Antike werden nicht nur in den verschiedenen Versmaßen unterschiedliche Bewegungstypen abge­ malt. Anapäste etwa sind in der Parodos oder Exodos der griechischen Tragödie und in der Parabase der Alten Komödie angemessen. Sie passen zu Marschliedern, weil die Länge, ein natürlicher Ruhepunkt, erst nach zwei Kürzen erreicht wird; man bewegt sich also auf sie zu. Aber auch innerhalb desselben Versmaßes bestehen Variations­ möglichkeiten: Einer der Gründe für die Beliebtheit des Hexameters ist, dass in diesem Versmaß jeder Daktylus durch einen Spondeus ersetzt werden kann (obgleich selten an fünfter Stelle). Da die zweite Silbe des Spondeus ebenso viel Zeit in Anspruch nimmt wie die zweite und dritte des Daktylus zusammen, lassen sich Vorgänge unterschiedlicher Geschwindigkeit sehr gut durch den Hexameter abmalen. Homer benutzt diese Möglichkeit zwar selten; doch sind sicher sprachmalerisch folgende Verse aus der Odyssee (11.595 – 598), die Sisyphos’ mühsames Rollen des schweren Steines bergaufwärts und dann dessen rasches Herunterfallen beschreiben und die Johann Heinrich Voß’ Übersetzung gut wiedergibt. ἦ τοι ὁ μὲν σκηριπτόμενος χερσίν τε ποσίν τε λᾶαν ἄνω ὤθεσκε ποτὶ λόφον: ἀλλ᾽ ὅτε μέλλοι ἄκρον ὑπερβαλέειν, τότ᾽ ἀποστρέψασκε κραταιΐς: αὖτις ἔπειτα πέδονδε κυλίνδετο λᾶας ἀναιδής. (›Angestemmt, arbeitet‹ er stark mit Händen und Füßen, Ihn von der Au aufwälzend zum Berge. Doch glaubt’ er ihn jetzo Auf den Gipfel zu drehn: da mit einmal stürzte die Last um; Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor.‹)43

Ich zitiere nach: Homer: Opera. Hg. von Thomas W. Allen. Bd. 3. 2. Aufl. Oxford 1917 sowie Voß, Johann Heinrich: Homers Odyssee. I – XII Gesang. Zweite verbesserte Auflage. Königsberg 1802, 250. 43

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Der erste Vers hat zwei Spondeen, der zweite und dritte jeweils einen, aber der vierte ist ein holodaktylischer Vers.44 Nicht weniger wichtig als die Länge bzw. die Kürze der Silben ist die Häufung von Konsonanten, die das Sprechen verlangsamen, in den ersten drei Versen: eine Gruppe von drei und fünf von zwei Konsonanten im ersten Vers, drei Gruppen von zwei im zweiten, eine Gruppe von drei und sechs von zwei im dritten (das ψ wird natürlich doppelt gezählt), jedoch nur zwei Gruppen von zwei Konsonanten im letzten Vers. Auch die Zahl der Wörter verlangsamt die Vortragsweise, da nach jedem Wort eine kurze Pause erfolgt: Es finden sich neun im ersten, acht im zweiten, aber nur sechs im letzten Vers.45 Nur in diesem folgt zudem auf einen Konsonanten bzw. Vokal am Ende eines Wortes stets ein Vokal bzw. Konsonant zu Beginn des nächsten. Es versteht sich, dass die Wahrnehmung des Tempos relativ zum Kontext erfolgt – der vierte Vers würde nicht so schnell wirken, wenn er auf weitere holodaktylische statt auf die genannten folgen würde. Schon in der Antike ist der sprachmalerische Aspekt dieser Verse deutlich erkannt worden. Lukrez ahmt sie nach;46 und Dionysios von Halikarnassos erklärt ihn in einer langen Interpretation, die zum Besten an erhaltener griechischer Literaturkritik gehört und in der sich vieles des eben Gesagten findet,47 gleichsam kinästhetisch: Die größere Anstrengung beim Vortrag der ersten drei Verse entspreche den Mühen des Sisyphos. Zu Recht beweist Dionysios die Tatsache, dass es sich um keinen Zufall handeln könne, durch den Kontrast zum vierten Vers. Hier würde die Anordnung der Worte mit dem Gewicht des Steines zusammen herunterrollen (συγκατακεκύλισται), die Zeile werde heruntergerissen (κατασπᾶσθαι). Sprache und Stein erleiden nach ihm also denselben Vorgang, was eine Umschreibung dessen ist, was hier als prosodische Sprachmalerei bezeichnet wird.

Solche Hexameter sind im Griechischen wie im Lateinischen selten. Bei Ovid werden etwa ein langer Fußmarsch oder das Fortschreiten der Zeit so beschrieben (Ovid, Tristia, 1.10.23, 4.6.17). 45 Das enklitische ›que‹ beschleunigt daher, anders als ›et‹, einen Vers. Siehe Lateiner, 233f. zu Ovid, Metamorphoses 1.286f., 4.9–12 und anderen Stellen. 46 Vgl. Lukrez: De rerum natura. Hg. von Cyrillus Bailey. Oxford 1922, 3.1000–1002. 47 Dionysios von Halikarnassos: Περὶ συνθέσεως ὀνομάτων (Über die Anordnung der Wörter), 20.139 – 144 (90–93 der Ausgabe: Dionysii Halicarnasei: Opuscula. Bd. 2. Hg. von Hermannus Usener/Ludovicus Radermacher. Stuttgart 1965). 44

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4 Sprache ist nicht nur ein phonematisch-prosodisches System; sie ist auch durch bestimmte abstrakte Eigenschaften gekennzeichnet. Derartige Eigenschaften zumal quantitativer und relationaler Art gibt es auch in der Wirklichkeit, und sie sind als formale Strukturmomente von den materialen sinnlichen Daten, an denen sie erscheinen, wohl­ unterschieden. In der Anordnungsmalerei bestehen Entsprechungen zwischen der Anordnung der sprachlichen Mittel und derjenigen der realen oder fiktiven Welt. Eine Kategorisierung der Formen von Anordnungsmalerei kann sich einerseits nach dem sprachlichen Material richten, an dem sie erfolgt – den einzelnen Wörtern, den Morphemen, der Syntax –, andererseits nach den Operationen, die vollzogen werden. Denn manche Operationen, wie Spaltung, können sowohl an Einzelwörtern als auch an grammatisch zugehörigen For­ men wie Nomen und Attribut erfolgen. Vor einem Ordnungsversuch will ich an einigen besonders deutlichen Beispielen klarmachen, was unter Anordnungsmalerei fällt. Im siebten Kapitel von Wilhelm Buschs Die fromme Helene finden wir folgende schon von Thieme behandelten Verse: »Ach! – Die Venus ist perdü –/ Klickeradoms! – von Medici!«48 Das durch den Kater Munzel verursachte Zerbrechen der Nippes-Figur wird einerseits onomatopoetisch durch ›Klickeradoms‹ wiedergege­ ben (so wie einige Zeilen später ›Klingelingelings‹ das Abreißen des Lüsters charakterisiert). Gleichzeitig aber ist die Trennung des Wortes ›Venus‹ von dem zugehörigen ›von Medici‹ selber ein Zerbrechen der normalen Wortverbindung (und der unreine Reim eine Verletzung der normalen Reimregeln, die überzählige Silbe eine solche des Versmaßes). Diese Form der Sprachmalerei ist offenbar komplexer als die onomatopoetische, weil sie nicht sinnliche Qualitäten nachahmt, sondern voraussetzt, dass man über einen allgemeinen, physische Gegenstände ebenso wie sprachliche Gebilde umfassenden Begriff des Zerbrechens – als des Trennens zugehöriger Teile – verfügt. Ein kleines Kind, das Lautmalereien bezaubern, wird sich daran noch nicht ergötzen können. Schon Ennius verwendet vielleicht, um eine Zersplitterung anzu­ deuten, eine dem Beispiel aus Busch verwandte Tmesis, die aber 48

Busch, Wilhelm: Humoristischer Hausschatz. 20. Aufl. München 1909, 22.

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deswegen viel gewagter ist, weil sie ein einziges Wort, ›cerebrum‹, nicht bloß eine Wortfügung, spaltet: saxo cere comminuit brum. (›Mit einem Stein zertrümmerte er den Schädel.‹)49 Zwar hat Otto Skutsch in seiner Ausgabe der Annales das Fragment, das Ennius nur in der Spätantike zugeschrieben wird, zu den Spuria gerechnet; aber ich erachte die Argumente J. E. G. Zetzels für plausibel, der römische Dichter folge hier verlorener alexandrinischer Experimen­ tierfreudigkeit.50 Ein zugegebenermaßen harmloseres Beispiel von Tmesis – harmloser deswegen, weil die Trennung von Präverb und Verb bei Homer weitverbreitet ist – findet sich in der Aeneis (12.794), wenn es vom verwundeten Mezentius heißt: inque ligatus (›und gehemmt‹).Die Abtrennung des Präverbs von ›illigare‹ malt die Ver­ letzung des Etruskers. Eine andere Funktion hat freilich die Tmesis in V. 13 des vierten Hymnos (an Delos) des Kallimachos. Da lesen wir über das Meer: ὁ δ’ ἀμφί ἑ πουλὺς ἑλίσσων – ›es (sc. Delos) stark umrollend‹.51 Boris Kayachev deutet das Verb als transitiv und sieht hier somit eine sprachmalerische Tmesis am Werk: »This will produce a vividly mimetic word-order: the tiny island (ἑ: just one letter!) is literally enclosed by the two parts of the verb with that meaning (ἀμφί and ἑλίσσων), as well as by two words referring to the vast sea that actually surrounds it (ὁ and πουλύς: note the lengthening).«52 Man bemerke etwas Entscheidendes: Die Funktion der Tmesis bei Kallimachos und Vergil ist verschieden. Bei Kallimachos soll sie ein Umfassen, bei Vergil ein Verwundetsein abbilden. Gewiss, auch das Umarmen ist nur möglich, weil das Verb vorher zerbrochen wurde – das ist das Wesen von Tmesis. Aber das ist nur ein Mittel, auf das es nicht eigentlich ankommt – was zählt, ist das Endresultat, die Umarmung. Natürlich sind das Zerbrechen und das Umarmen eines Wortes Metaphern, weil die entsprechenden Verben von physischen Objek­ ten auf Sinnträger übertragen werden. Metaphern sind ein weiteres wichtiges Mittel poetischer Sprache; aber ihre Leistung ist eine 49 Quintus Ennius: The Annals of Q. Ennius. Ed. with introd. and commentary by Otto Skutsch. Oxford 1985, 138. 50 Vgl. Zetzel, J. E. G.: »Ennian experiments«. In: The American Journal of Philology 95 (1974), 137–140. 51 Ich zitiere Kallimachos nach der Ausgabe: Callimachus. Vol. 2: Hymni et Epigram­ mata. Hg. von Rudolfus Pfeiffer. Oxford 1953. 52 Kayachev, Boris: »Oceanus and Orphic allusion in Callimachus and Catullus«. In: Classical Philology 114 (2019), 498–506, hier 499.

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andere als die der Sprachmalerei. Diese will eine Verbindung schlagen zwischen Laut und Bedeutung. Metaphern dagegen bewegen sich in einem rein semantischen Raum. Allerdings schlagen auch sie Brücken – zwischen unterschiedlichen physischen Vorgängen, zwischen etwas Physischem und etwas Mentalem (z. B. ›begreifen‹) oder zwischen etwas Physischem und etwas Idealem (z. B. ›Ring‹ in der Algebra oder ›Schluss‹ in der Logik). Der sprachmalende Dichter denkt metapho­ risch, wenn er etwa die Tmesis benutzt; aber das bedeutet nicht, dass er an den entsprechenden Stellen explizit Metaphern verwendet. Er führt seinen metaphorischen Gedanken mit sprachmalerischen und nicht mit metaphorischen Mitteln aus. Die Metapher ist in seinem Kopf und in dem des intelligenten Lesers, aber nicht im Text. Es wird nicht überraschen, dass die in diesem Abschnitt themati­ sche Form der Sprachmalerei bei dem philosophischen Dichter Lukrez eine wichtige Rolle spielt, konzipiert er doch die Zusammensetzung der Welt aus Atomen in Analogie zur Zusammensetzung eines Textes aus Buchstaben.53 Wenn er Anaxagoras’ Homoiomerienlehre kriti­ siert, wirft er ein, nach ihr müssten, was offenbar nicht der Fall sei, etwa im gespaltenen Holz Asche-, Rauch- und Feuerteile zu finden sein, da ja Holz verbrennen und zu Asche werden kann. Postremo in lignis cinerem fumumque videri,/ cum praefracta forent, ignisque latere minutos.54 (›Schließlich sollten im Holz, wenn es gebrochen ist, Asche und Rauch erscheinen und winzige Feuer verborgen sein.‹) Es versteht sich, dass der Satz das Verhältnis des Enthaltenseins des Feuers im Holz abmalt; denn ›ignis‹ ist ein Wortbestandteil von ›lignis‹. Sowohl das möglicherweise ennianische als auch das lukrezische Beispiel können nicht als ›mimetic syntax‹ bezeichnet werden, weil es in ihnen um das Spalten eines Wortes bzw. um das Enthaltensein eines Wortes in einem anderen geht. Sie nutzen Eigenschaften des Wortschatzes aus (bzw. schaffen sie auf gewagte Weise im Falle des Ennius). Zu den nicht zahlreichen sprachmalerischen Möglichkeiten durch morphologische Mittel gehört sicher das Polyptoton. Indem lautlich Lukrez, 1.196 – 198 und 814–826. Siehe dazu Dalzell, Alexander: »Language and atomic theory in Lucretius«. In: Hermathena 143 (1987), 19–28. Eine gründliche neuere Untersuchung der Buchstabenanalogie bei Lukrez bietet Noller, Eva Marie: Die Ordnung der Welt. Darstellungsformen von Dynamik, Statik und Emergenz in Lukrez’ ›De rerum natura‹. Heidelberg 2019, 55–106. 54 Lukrez, I 891f. Siehe dazu Friedländer, Paul: »Pattern of sound and atomistic theory in Lucretius«. In: The American Journal of Philology 62 (1941), 16–34, hier 17. Bei weitem nicht alles, was Friedländer diskutiert, hat mit Sprachmalerei zu tun. 53

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nur minimal voneinander abweichende Formen mit sehr unterschied­ licher morphologischer Funktion einander nahegerückt werden, wird oft suggeriert, dass diese Funktionen innerhalb der durch das Gedicht konstituierten Welt miteinander verschränkt sind. Zwei Beispiele mögen genügen. Alcyone versucht bei Ovid Ceyx vergeblich dazu zu bewegen, sie auf seine gefährliche Seereise mitzunehmen: »pariterque feremus,/ quidquid erit, pariter super aequora lata feremur.«55 (›Wir werden gemeinsam ertragen, was immer es sein wird; wir werden gemeinsam über das breite Meer getragen werden.‹) Der Wechsel im Genus verbi wird durch den Austausch eines einzigen Lautes erreicht, aber da die Bedeutung des Verbums sich verschiebt, von der metaphorischen ›ertragen‹ zu der wörtlichen ›tragen‹, deutet die Ähnlichkeit der Formen im Polyptoton, ebenso wie das Enjambement, an, auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt wird, das gemeinsame Ertragen beziehe sich auf die Fährnisse der gemeinsamen Reise. Im gemeinsamen Leiden werde man aktiv zueinander stehen: Die gemeinsame erste Person Plural wird durch den Genuswechsel nicht in Frage gestellt. Verwandt, aber noch raffinierter ist die morpholo­ gische Sprachmalerei in V. 29 von Goethes Ganymed: »Umfangend umfangen!«56 Einerseits geht es auch hier darum, durch den raschen Genuswechsel (allerdings nun bei einer infiniten Verbform) die Symmetrie der Liebe, diesmal zwischen lyrischem Ich und Gott, hervorzuheben – der winzige lautliche Unterschied weist darauf hin, dass es nicht wirklich darauf ankommt, von wem sie zuerst ausgeht. Ja, das Umfangen wird nicht nur ausgesprochen, sondern, anders als bei Ovid, selbst instantiiert: Denn das Wort ›umfangend‹ enthält (und umfasst damit in einem bestimmten Sinne des Wortes) ›umfangen‹. Wir sehen hier, dass Selbstinstantiierung nur in einigen Fällen von Sprachmalerei auftritt. Aber ist jede Selbstinstantiierung sprachmale­ risch? Nicht notwendig; denn das Wort ›kurz‹ ist kurz, instantiiert also seine Bedeutung, aber die isolierte Verwendung dieses Worts reicht nicht aus, um Sprachmalerei hervorzubringen. Denn in einem normalen Kontext wird keine Aufmerksamkeit auf diese Eigenschaft vom ›kurz‹ gelenkt. In besonderen Zusammenhängen jedoch kann die unterschiedliche Länge von Wörtern durchaus sprachmalerisch einge­ setzt werden: Lange Wörter können etwas Langes oder Großes, kurze etwas Kurzes oder Kleines abbilden. Horaz’ berühmter Vers 139 der 55 56

Ovid, Metamorphoses 11.442f. Goethe, 47.

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Ars Poetica Parturient montes, nascetur ridiculus mus57 (›Berge werden kreißen, geboren werden wird eine lächerliche Maus‹) ist deswegen witzig, weil die Maus, die metaphorisch für ein winziges Werk steht, durch ein einsilbiges, also sehr kurzes Wort bezeichnet wird, das mit den vier anderen oft viel längeren Wörtern des Verses kontrastiert. Die Berücksichtigung der Syntax bietet viel mehr Beispiele von Anordnungsmalerei, und das erklärt, warum etwa Lateiner bei Anord­ nungsmalerei nur an mimetische Syntax denkt. Dabei ist besonders das Lateinische ausgezeichnet, weil es zumal in der Dichtung über eine besonders flexible Syntax verfügt, die es gestattet, Nomen und Attribut weit auseinanderzureißen. Das hat nicht nur damit zu tun, dass das Lateinische eine flektierende Sprache ist, sondern auch damit, dass es, anders als das Griechische, keinen Artikel hat. Welche Bezie­ hungen kann die Sprache als eindimensionales System abbilden? Wir haben gerade von der Länge und Kürze von Wörtern gespro­ chen. Doch Wörter haben nicht nur monadische, sie haben auch polya­ dische Eigenschaften. So sind Wörter einander ähnlich, im Extremfall – als type, nicht als token – miteinander identisch; oder sie unterschei­ den sich stark voneinander. Reime, und analog Alliterationen, sind dann besonders gelungen, wenn die Wortähnlichkeit eine sachliche Verbindung (eventuell auch einen polaren Gegensatz) wiedergibt, vielleicht sogar erst aufdeckt. Ein Beispiel unter Legionen: Wenn das letzte Wort des ersten Terzetts von Francesco Petrarcas Sonett »O cameretta che già fosti un porto« (»O Kämmerlein, ein Port mir sonst nach Tagen«) »volo« (›Flug‹), das des zweiten Terzetts »solo« (›einsam‹) ist,58 dann wird durch die Lautähnlichkeit die Botschaft konzentriert ausgedrückt, der geistige Höhenflug des Dichters sei der eigentliche Grund seiner Einsamkeit. Aber die mannigfachen Funktionen des Reimes sind nicht Thema dieses Aufsatzes. Auch in reimloser Sprache spielen Paronomasien eine analoge Rolle. Caelum undique et undique pontus (›Himmel überall und überall Meer‹) in Vergils Aeneis 3.193 bereitet unda (›Welle‹) zwei Verse später vor, und die Iteration des ›undique‹ veranschaulicht die Wellenbewegung.59

57 Ich zitiere Horaz nach: Opera. Hg. von Eduardus C. Wickham/Heathcote W. Gar­ rod. 2. Aufl. Oxford 1912. 58 Petrarca, Francesco: Canzoniere. Torino 1964, 286 (=Ne. 234). 59 Ovid ahmt dies Tristia 1.2.49 nach, indem er ›fluctus‹ (›Flut‹) auf ›fluctus‹ sto­ ßen lässt.

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Auch in der zuletzt zitierten Ovidstelle erscheint »pariter« zwei­ mal. Einerseits intensiviert die Iteration des Wortes die Bindung des Paares; andererseits liegt ein sprachmalerischer Effekt darin, dass ein Wort, das Paarigkeit ausdrückt, zweimal, also paarig, auftritt. Die Bedeutung des Wortes bestimmt hier seine Verwendung, die umgekehrt seine Bedeutung malt. Ovid benutzt diesen Effekt öfter.60 Analog operiert er mit Ordinalzahlen. Um einige Beispiele zu geben, die Lateiner analysiert hat: »primus« erscheint gerne an erster Stelle im Vers,61 »summus«/»imus«/»supremus« an letzter Stelle.62 Die Position der Wörter entspricht also deren Bedeutung. Doch auch ohne Selbstinstantiierung ist eine Anfangsposition eines Wortes in einem Vers oft ein Zeichen des Vorrangs des entsprechenden Begriffes. Kürze und Länge können auch von Sätzen ausgesagt werden, unabhängig von deren interner Gliederung. Die Beschreibung der Donau in der langen Periode Ovids Tristia 3.10.27–30 malt die Länge des Flusses, die sich über zehn Verse erstreckende Apostrophe in demselben Werk 4.3.1–10 die Unermesslichkeit des Firmaments. Doch ist Sprachmalerei durch innere Anordnung viel reichhaltiger. Man denke etwa an die Darstellung von Nähe und Trennung. Wenn wir in den Tristia (1.2.85) lesen: nescioquo videam positos ut in orbe Tomitas (›damit ich die Einwohner von Tomis sehe, die ich weiß nicht in welcher Gegend gelegen sind‹), weist die Trennung der zugehörigen ›nescioquo‹ von ›orbe‹ durch vier bzw. von ›positos‹ und ›Tomitas‹ durch drei Wörter auf Tomis’ Entfernung von Rom und vielleicht noch mehr auf den geistigen Abstand, ja, Widerwillen hin, den Ovid gegenüber dem ihm zugewiesenen Verbannungsort spürt. Wenn Tristia 1.5.14 »longa« vom zugehörigen »die« durch drei Wörter getrennt wird, wird die zeitliche Ausdehnung des langen Tages spürbar. Wenn Ovid das eigene Schicksal mit demjenigen des Ulixes vergleicht und ein Distichon mit »ego« (›ich‹) beginnt und mit »ille« (›jener‹) beschließt (1.5.65f.), wird der Gegensatz zwischen beiden anordungsmalerisch hervorgehoben.

Vgl. Ovid, Metamorphoses 1.237 (zweimal ambo), 4.379 (»nec utrumque et utrumque«), 6.484f. (zweimal duabus). Tristia 3.11.54 wird der Effekt durch Paronoma­ sie erreicht: Exhibuit geminos ore gemente sonos (›Er brachte aus stöhnendem Munde einen doppelten Schrei hervor‹). Doch haben nicht alle Handschriften »gemente«. 61 Vgl. Ovid, Metamorphoses, 1.452 und 8.247. 62 Vgl. ebd., 1.608, 8.193 und 521. 60

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Gleich zu Beginn seines Hauptwerkes kontrastiert Ovid das ursprüngliche Chaos mit der entstehenden Ordnung. Jenes wird mit folgenden Worten beschrieben: congestaque eodem/ non bene iunctarum discordia semina rerum (›an denselben Platz zusammenge­ worfene, uneinige Keime nicht gut verbundener Dinge‹); zu dieser lesen wir: dissociata locis concordi pace ligavit (›er verband in einträch­ tigem Frieden das räumlich Getrennte‹).63 Es liegt auf der Hand, dass die doppelte Trennung von Nomen und Attribut (›congesta … semina‹, ›iunctarum … rerum‹) eine sprachliche Instantiierung ›nicht gut verbundener Dinge‹ ist, während ›concordi pace‹ die Eintracht sprachlich vorführt, von der die Rede ist. Beachtlich ist, dass die beiden Stellen nicht nur jeweils für sich sprachmalerisch wirken, sondern dass dies auch für den Übergang von der einen zur anderen gilt. Der Wechsel in der Syntax malt den Prozess der Entwicklung vom Chaos zum Kosmos nach. Wenn man will, kann man darin eine keimzellenartige Antizipation der berühmten vierzehnten Episode von Joyce’ Ulysses sehen, in der die Veränderung der englischen Sprache von den Anfängen bis zur Gegenwart vorgeführt wird, um die Ontogenese eines Embryos zu veranschaulichen. Ich sage ›keim­ zellenartige‹, weil selbstredend nur ein moderner Autor, der mit den Methoden der modernen Sprach- und Literaturwissenschaft vertraut war, jene Episode verfassen konnte. Aber in beiden Fällen erfüllt der Wechsel in der Syntax eine sprachmalerische Funktion. Bei Vorliegen von wenigstens drei Gliedern kann ferner durch die Syntax eine Umfassung dargestellt werden. Speluncam Dido dux et Troianus eandem/ devenient (›Dido und der trojanische Führer werden zu derselben Höhle gelangen‹) ist ein bekanntes Beispiel, das Vergil selbst so gut gefiel, dass er den Vers kurz später, nun im Präsens statt im Futur, wiederholte.64 So wie dieselbe Höhle Dido und Aeneas umfängt, umfangen auch die Wörter ›speluncam […] eandem‹ ›Dido‹ und ›dux … Troianus‹. Man beachte ferner, dass das ›et‹ ›dux‹ und dessen Attribut ›Troianus‹ trennt (was ungewöhnlich, aber nicht einzigartig ist) und damit ›dux‹ unmittelbar auf ›Dido‹ folgen lässt, wobei die Zugehörigkeit beider durch die Alliteration erhöht wird. Eben dadurch wird freilich ›dux‹ von ›Troianus‹ getrennt – ein Abbild der Tatsache, dass die Liebe Aeneas’ zur karthagischen Königin ihn seinem Volke entfremdet. Wie man sieht, kann man durch die bloße 63 64

Ebd., 1.8f. und 25. Vgl. Vergil, Aeneis, 4.124f., 165f.

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Reihenfolge von nur sechs Wörtern gewichtige und komplexe Inhalte malen. Vermutlich hat Ovid diesen Vers im Hinterkopf, wenn er die Remedia amoris mit folgendem Pentameter (814) beschließt: Carmine sanati femina virque meo (›Mann und Frau, die ihr durch mein Lied geheilt worden seid‹).65 Auch hier werden die Wörter für ›Mann‹ und ›Frau‹ umfangen, allerdings nicht von den Wörtern für ›dieselbe Höhle‹, sondern von denen für ›durch mein Lied‹; doch anders als bei Vergil findet innerhalb der umfangenen Glieder keine Trennung von Zugehörigem durch ein ›et‹ statt, durch die allein die Annäherung des Eigennamens ›Dido‹ und des Appellativs ›dux‹ möglich wird, sondern die Wörter für ›Mann‹ und ›Frau‹ werden durch das enklitische ›que‹ auf die natürlichste Weise verbunden.66 Tristia 2.284 umfasst dagegen die Bezeichnung des Mannes selber diejenige der Frau: hic sedet ignoto iuncta puella viro (›hier sitzt ein Mädchen, verbunden mit einem unbekannten Mann‹). Das Wort ›iuncta‹ bedeutet nicht nur ›verbunden‹, sondern es instantiiert seine Bedeutung, denn es verbindet ›puella‹ und ›ignoto‹.67 In den beiden gerade zitierten Versen aus Vergil und Ovid werden die Wörter für die umfangenen Gegenstände von den Wörtern für das umfangende Objekt umfangen. Anderer Art sind folgende zwei Beispiele aus Statius’ Achilleis. Die Arme des Minotaurus werden mit Bezug auf das Labyrinth »quanto circumdata nexu« (›von welch großer Verschlingung umgeben‹) bezeichnet (1.191). ›quanto … nexu‹ umgibt hier nicht das Wort für ›Arme‹, das erst im nächsten Vers folgt, sondern das Wort für ›umgeben‹. Das Wort instantiiert also das, wovon es redet. Ganz analog funktioniert 1.491 mixta vallati plebe (›wie von einem Wall umgeben von der vermischten Menge‹), anders dagegen 1.514 trepido circumfert lumina motu (›er lässt die Augen mit unruhiger Bewegung umherschweifen‹), da es sich nun Ich zitiere das Werk nach folgender Ausgabe: Ovid: Amores, Medicamina faciei femineae, Ars amatoria, Remedia amoris. Hg. von Edward J. Kennedy. 2. Aufl. Oxford 1995. 66 Beispiele für die Wortstellung ›abBA‹ oder allgemeiner ›a…A‹ (wobei Klein- und Großbuchstabe für zugehöriges Attribut und Substantiv stehen) sind im Lateinischen zahllos. Sie weisen nicht immer, aber immer wieder auf die umfassendere Natur des einrahmenden Paares. Man denke etwa an Aeneis 12.272, Ovid, Metamorphoses, 13.495 und Statius, Achilleis, 1.25f., 27f., 42. 67 Ein doppeltes, ineinander geschachteltes Umfassen bietet Ovid, Metamorphoses 8.731. Weniger gelungen ist Tristia 5.12.20, weil ›cinctus …locus‹ (›der Ort ist umgeben‹) im Vers nicht selbst umgeben ist, sondern die anderen Wörter umgibt, von deren Referenten der Ort selber umgeben ist. 65

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um einen ablativus modi und nicht einen ablativus causae handelt. Hier umgeben die Wörter für die Bewegung, die den Gesichtskreis konstituiert, das Wort für die Augen, die im Zentrum stehen und deren kreisende Bewegung sich auf die Umgebung richtet. Um Verschränkung handelt es sich dagegen, wenn das Attribut zweimal vom Nomen getrennt wird, und zwar jeweils durch ein Ele­ ment des anderen Paares. Von Arachnes Leinwand heißt es: »nexilibus flores hederis habet intertextos« (›sie hat Blumen eingeflochten in zusammengeknüpftes Efeu‹).68 Hier sind offenbar nicht nur Blumen und Efeu, sondern auch die zugehörigen Wörter ineinander verfloch­ ten. Dieselbe Wortstellung wird Tristia 3.1.61 benutzt, um das Alter­ nieren von Statuen und Säulen darzustellen: signa peregrinis ubi sunt alterna columnis (›wo Statuen mit exotischen Säulen alternieren‹). Spiegelung wird am leichtesten durch die rhetorische Figur des Chiasmus erreicht, also abba (allerdings, anders als bei der Umfas­ sung, ohne Trennung von Attribut und Nomen). Metaphorisch steht sie für eine symmetrische Beziehung, also eine solche, die umgekehrt werden kann: Wenn a zu b in der Relation R steht, dann steht auch b zu a in derselben Relation. Der Chiasmus kann einhergehen mit einem Polyptoton, das den Wechsel des Genus verbi wiedergibt, wie zum Beispiel Metamorphoses 3.98: serpentem spectas? et tu spectabere serpens (›eine Schlange siehst du? Auch du wirst gesehen werden als Schlange‹). Im Idealfall gibt die Spiegelung der Worte eine Spiegelung im wörtlichen Sinne wieder, wie in der Narcissus-Echo-Episode der Metamorphosen. Schon auf der semantischen Ebene entspricht das Spiegelbild des Narcissus den Echoeffekten der Nymphe (wenn auch mit dem wichtigen Unterschied, dass Narcissus sich selber spiegelt, während Echo nur die Laute anderer wiedergibt). Ovid schafft es (3.446f.), diese gemeinsame Struktur sprachmalerisch in Narcissus’ Klage über die Unerreichbarkeit seines Spiegelbildes wiederzugeben. Et placet et video, sed, quod video placetque,/ non tamen invenio (›es gefällt, und ich sehe es, aber dennoch finde ich nicht, was ich sehe und was gefällt‹). Die rhetorische Figur des Parallelismus (abab, allerdings ohne Trennung von Attribut und Nomen, wie sie in der Verschrän­ kung vorliegt) kann dagegen benutzt werden, um analoge Ereignisse oder Handlungen hervorzuheben. Wenn Thisbe Pyramus’ Tod durch eigene Hand und aufgrund seiner Liebe beklagt und den eigenen, ebenfalls durch eigene Hand und aufgrund ihrer Liebe erfolgenden 68

Ovid, Metamorphoses 6.128.

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ankündigt,69 weist der Parallelismus auf zwei entsprechende, aber nacheinander aufeinander folgende und gerade nicht wechselseitige Taten. Man tötet nicht einander, sondern jeder sich selbst. Chiasmus und Parallelismus sind Beispiele für rhetorische Figu­ ren, die anordnungsmalerisch eingesetzt werden können. Das gilt keineswegs für alle rhetorischen Figuren. Die Figur der Syllepse etwa ist nur durch Bezug auf die semantische Ebene zu erklären, und auch wenn die Vermengung der konkreten und der abstrakten Ebene sprachmalerisch zur Wiedergabe etwa von leib-seelischer Verwirrung eingesetzt werden kann,70 erfolgt hier die Sprachmalerei auf einer höheren Abstraktionsstufe.

5 Wir haben schon gesehen, dass das Aufsteigen des Wasserstrahls durch die doppelte Hebung zu Beginn von Meyers »Der römische Brunnen« abgebildet wird. Aber die Wirkung ist viel größer, als sie einträte, wenn das Versmaß an dieser Stelle eine doppelte Hebung vorschriebe. Erst das Abweichen von dem Rhythmus der anderen Zeilen bildet sprachmalerisch die Tatsache ab, dass in unserer Welt, in der das Gravitationsgesetz herrscht, eine Bewegung nach oben eigentlich regelwidrig ist und einer besonderen Kraft bedarf. Man sieht, dass dies keine Form von prosodischer Malerei ist. Denn auch wer keinen expliziten Begriff von Versmaß hat, kann letztere genie­ ßen. Bei dieser Form von Sprachmalerei ist dies jedoch nicht möglich. Es bedarf eines Begriffs der Regel, denn nur die Wahrnehmung der Regelverletzung kann mehr als die bloße Aufstiegsbewegung, nämlich deren Unnatürlichkeit abbilden. Es geht bei dieser Form von Malerei um Eigenschaften zweiter Ordnung, die auf anderen aufbauen, wie z. B. die Unnatürlichkeit von Aufwärtsbewegungen, und dazu sind Eigenschaften zweiter Ordnung der poetischen Sprache erforder­ lich, also nicht prosodische oder syntaktische, sondern die explizite Entsprechung oder Abweichung von Regeln – oder eventuell auch kanonischen Vorbildern. Zwar mag es im Einzelnen nicht einfach sein, festzustellen, ob die Eigenschaften zweiter Ordnung im Geiste des Dichters präsent waren, aber wenn diese Annahme eine zusätzliche 69 70

Vgl. ebd., 4.148–150. Vgl. ebd., 2.601f.

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Bedeutungsschicht aufscheinen lässt, die in sich plausibel ist, gibt es keinen Grund, auf sie zu verzichten. Ich will mich mit wenigen Beispielen begnügen. Ein weiteres berühmtes Abweichen vom Versmaß des Gedichts findet sich in Hugo von Hofmannsthal Sonett »Die Beiden«. Das zweite Quartett lautet: So leicht und fest war seine Hand: Er ritt auf einem jungen Pferde, Und mit nachlässiger Gebärde Erzwang er, daß es zitternd stand.71

Einerseits wird, wie im ersten Quartett die Sicherheit der Frau, solange sie noch alleine ist, nun diejenige des Mannes beschrieben, bevor in den Terzetten die Begegnung beide aus ihrer Fassung wirft. Und doch enthält das zweite Quartett, anders als das erste, schon Anzeichen der Verunsicherung. Zwar ist es nur das Pferd, das zittert; aber man könnte vermuten, dass es die Nervosität des Reiters wiedergibt. Spricht nicht dagegen die Tatsache, dass es der Reiter ohne jede Anstrengung, eben ›mit nachlässiger Gebärde‹, zum Stehen bringt? Semantisch ist das Argument korrekt, und isoliert betrachtet strahlt die Wendung ›mit nachlässiger Gebärde‹ in der Tat eine gewisse Lässigkeit aus. Doch ändert sich der Eindruck in dem Augenblick, indem wir auf das Versmaß achten. Das Sonett ist, wie in der Regel deutsche Sonette, in Jamben abgefasst, allerdings in Vierhebern statt den häufigeren Fünfhebern (mit vier von vierzehn Versen in hyper­ katalektischer Form). ›Und mit nachlässiger Gebärde‹ passt nicht in den Jambentakt, da die ersten Silben mit schwebender Betonung ausgesprochen werden müssen. Es ist diese alleine an dieser Stelle des Sonetts vorliegende Regelwidrigkeit, die auf die innere Spannung des Reiters, unter der Oberfläche nachlässiger Gebärde, verweist und das Verschütten des Weines am Ende sprachmalerisch vorwegnimmt. Das äußere Verhalten des Reiters entspricht nicht seiner inneren Wirklichkeit – dieses Missverhältnis, eine Eigenschaft zweiter Stufe, wird durch die abweichende Betonung zum Ausdruck gebracht. Im Kapitel »Ein frohes Ereignis« von Wilhelm Buschs Abenteuer eines Junggesellen trifft der Held, Tobias Knopp, auf seinen Bekann­ ten Sauerbrot. Seine Frau ist für tot erklärt worden und liegt im Nebenraum aufgebahrt. Sauerbrot kann sich vor Freude kaum fassen 71 Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke. Bd. 1: Die Gedichte, lyrische Dramen. Berlin 1924, 7.

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und feiert seine Befreiung vom Joch der Ehe ausgelassen mit dem Besucher. Plötzlich aber knarrt die Tür: Madam Sauerbrot, die scheinTodt gewesen, tritt herein.72

Sauerbrots Freude wird durch diese Erscheinung so empfindlich gedämpft, dass er selber stirbt, und zwar wirklich. Was ist an Buschs Vers sprachmalerisch? Was die zwei Zeilen kennzeichnet, ist nicht ein Enjambement – es soll gerade nicht ohne Pause über das Versende hinweggelesen werden. Nein, nach ›schein-‹ soll pausiert werden. ›Schein‹ und ›tot‹ müssen getrennt ausgesprochen, als zu zwei unter­ schiedlichen Versen gehörig wahrgenommen werden. Nur wenn ›tot‹ für sich wirkt, ist die Hinzufügung von ›schein‹ eine sprachmalerische Wiedergabe des Vorgangs, dass jemand zuerst tot erscheint und sich dann als scheintot herausstellt. Dem Leser, der von den Zeichnungen abstrahiert, soll es gehen wie Sauerbrot – er soll überrascht werden (freilich nicht mit tödlichen Folgen). Nicht der Tod, sondern seine irrige Wahrnehmung ist das, was abgebildet werden soll, also eine Eigenschaft zweiter Stufe. Zudem ist ein Vers, der mitten im Wort endet, ebenso sehr ein Schein-Vers, wie der Tod Madam Sauerbrots ein Schein-Tod ist. Polyphemus wird von Vergil als monstrum horrendum, informe, ingens, cui lumen ademptum (›scheußliches, unförmiges, ungeheures Monster, dem das Augenlicht entrissen wurde‹) bezeichnet.73 Offen­ bar ist das Eigenwillige an diesem Hexameter, dass bei den ersten drei Wörtern eine Elision erforderlich ist, um ihn korrekt zu lesen. Etwas muss weggenommen werden, damit der Vers erträglich wird – ganz so, wie der Kyklop seines Auges beraubt werden musste. Warum handelt es sich auch hier nicht einfach um prosodische Sprachmalerei? Nun, weil die Elision, die in der Alltagssprache normal ist, im Vers nur ausnahmsweise zugelassen wird, und sicher nicht an drei aufein­ anderfolgenden Wörtern. Die Elision mag vielleicht noch als Malen der Wegnahme eines Organs gedeutet werden, aber als monströs und unförmig kann nur die Regelverletzung, nicht die Elision selbst gelten. Malerisch ist also hier auch und gerade die Abweichung von metrischen Regeln. Busch, 111. Aeneis 3.658. Vergil gefiel der Vers so sehr, dass er ihn 4.181 bei der Beschreibung der Fama partiell wiederholt. 72

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Paul K. Hosle hat kürzlich ein Akrostichon in der Aeneis ent­ deckt.74 Am Ende des elften Buches, dort, wo Turnus seinen Hinterhalt gegen Aeneas vorbereitet hat, ergeben die Anfangsbuchstaben von fünf aufeinanderfolgenden Versen »DVCES«. Was ist daran sprach­ malerisch? Sicher nicht das Wort ›DVCES‹ an sich, und nur mögli­ cherweise die Tatsache, dass für die Führer gerade die ersten Versbuch­ staben verwendet werden. Sprachmalerisch ist aber die Metaebene: Das Akrostichon ist nicht leicht zu erkennen, also verborgen; und es wird eingesetzt im Kontext der Beschreibung eines Hinterhaltes. Das erinnert an ein anderes Akrostichon Vergils, »VNDIS« (Bucolica 9.34 – 38).75 Dass dieses Absicht ist, ergibt sich aus der Wendung im nächsten Vers: ludus in undis. Vergil malt das Spiel der Wellen nach, indem er ein sprachmalerisches Spiel vorführt, das in Form einer Welle über den Beginn verschiedener Verse hingleitet. Wie nicht die Hebung, sondern die Abweichung der Hebung vom Vers­ maß das war, worum es früher ging, kommt es jetzt nicht auf das Akrostichon, sondern auf seine Verstecktheit bzw. Verspieltheit an; diese, die dem ästhetischen Prinzip der Indirektheit entsprechen, vollziehen die sprachmalerische Leistung des Hinweisens auf die Heimlichkeit von Kriegsvorbereitungen bzw. die flüchtige Eleganz von Wellenbewegungen.

6 Die höchste Form von Sprachmalerei erfolgt in reflexiver Dichtung, also in Dichtung, die über Dichtung redet, ggf. über die eigene. Aber warum kann man auch hier von Sprachmalerei reden? Fehlen nicht in den meisten metapoetischen Aussagen, die oft abstrakt und theo­ retisch sind, lautmalerische oder lautsymbolische, prosodische oder anordnungsmalerische Elemente? Gewiss; aber es sollen ja auch nicht Laute von Glocken, sondern Gedichte abgebildet werden; und dies leistet auch ein Gedicht, das jene früheren Formen von Sprachmalerei nicht einsetzt. Was auch immer die sonstigen sprachmalerischen Vorzüge des letzten Verses (4.566) der Georgica sein mögen – Tityre, Vgl. Hösle, Paul K.: »An Acrostic in Aeneid 11.902–6«, in: Classical Quarterly 2020, 908-910. 75 Vgl. dazu Grishin, Alexei A.: »Ludus in undis. An acrostic in Eclogue 9. In: Harvard Studies in Classical Philology 104 (2008), 237–240. 74

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te patulae cecini sub tegmine fagi (›Tityrus, ich habe dich unter dem Dach der breiten Buche besungen‹) –, er malt den ersten Vers der Bucolica (1.1) treu nach, allerdings aus der zweiten in die erste Person transponiert. Jede direkte Intertextualität ist in diesem speziellen Sinne des Wortes sprachmalerisch; aber ich muss diese Form hier übergehen. Die Reflexivität metapoetischer Dichtung, wie sie sich etwa in den poetischen Poetiken Horaz’, Boileau-Despréaux’ und Popes,76 aber auch in den zahlreichen metapoetischen Exkursen vieler großer Dichter manifestiert, ist an einigen Stellen zur Selbstinstanti­ ierung fähig, auch wenn es sich dabei natürlich um zwei verschiedene Kategorien handelt. Denn Reflexivität ist eine Eigenschaft der Bedeu­ tung, Selbstinstantiierung dagegen eine Eigenschaft der sprachlichen Zeichen von Bedeutung, wenn sie eben dieser Bedeutung entsprechen.77 Ein Beispiel für eine Verbindung von Reflexivität und Selbstin­ stantiierung findet sich etwa in Horaz’ Ars poetica (86f.): Descriptas servare vices operumque colores/ cur ego si nequeo ignoroque poeta salutor? (›Wenn ich die beschriebenen Unterschiede und das Kolorit der Werke zu bewahren weder vermag noch weiß, warum werde ich als Dichter begrüßt?‹) Die Sprachmalerei besteht darin, dass der zweite Vers keine Zäsur hat – er ahmt also durch einen formalen Fehler die materialen Mängel jener Dichter nach, die er kritisiert. Auch hier liegt Selbstinstantiierung vor, wenn auch nur von dichterischer Schwäche im allgemeinen; denn der vorgeführte Fehler ist anderer Natur als der thematisierte. Analoges gilt für V. 377f.: sic animis natum inventumque poema iuvandis,/ si paulum summo decessit, vergit ad imum (›so sinkt Dichtung, die entstanden und erfunden worden ist, um Seelen zu fördern, wenn sie auch nur wenig vom Gipfel abweicht, auf den Tiefpunkt‹). Zwar ist der zäsurlose, also fehlerhafte Vers der erste, aber er macht das vor, was im zweiten beschrieben wird – jenes Abweichen von der Norm, das ästhetisches Scheitern bedeutet. Wenn Ovid in den Tristia (3.14.46) klagt dedicique loqui (›ich habe verlernt zu sprechen‹), will er mit der unschönen Häufung der i-Laute sicher den Sprachverlust vorführen, den er erlitten hat. Er spricht über sich selbst und instantiiert, was ihn bekümmert – freilich so geschickt, dass man ihm das nicht wirklich abnimmt. Denn so wenig euphonisch die Worte auch klingen, ist doch ihre sprachmaleri­ Siehe meine genaueren Analyse in Hösle, Vittorio: Zur Geschichte der Ästhetik und Poetik. Basel 2013. 77 Natürlich können auch Begriffe sich selbst instantiieren. Der Begriff ›Etwas‹ ist etwas, der Begriff ›Hund‹ dagegen kein Hund.

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sche Leistung Zeichen eines großen Künstlers. Darin liegt freilich ein gewisser performativer Widerspruch. Er wird vermieden in einer der vollkommensten sprachmalerischen und zugleich reflexiven Passagen des Hauptwerkes, die das Layrinth des Daedalus beschreibt und übrigens intertextuell die oben zitierte Vergilstelle aus der neunten Ekloge aufgreift (8.159 – 168). Daedalus ingenio fabrae celeberrimus artis ponit opus turbatque notas et lumina flexum ducit in errorem variarum ambage viarum. non secus ac liquidis Phrygius Maeandrus in undis ludit et ambiguo lapsu refluitque fluitque occurrensque sibi venturas adspicit undas et nunc ad fontes, nunc ad mare versus apertum incertas exercet aquas, ita Daedalus inplet innumeras errore vias vixque ipse reverti ad limen potuit: tanta est fallacia tecti.

In Johann Heinrich Voß’ Übertragung (die freilich »arvis« statt »undis« liest) lautet die Stelle: Dädalus, hochgepriesen in schaffender Kunst und Erfindung, Gründet das Werk, und verwirret die Merkmal’, und in des Irrtums Windungen führt er die Schwelle durch vielfach schlängeln­ den Umschweif So wie in phrygischen Auen der lautere Strom des Mäandros Scherzt, und in zweifelndem Laufe gekrümmt abfleußt und zurück­ fleußt; Selbst begegnend sich selbst, erblickt er die kommenden Wasser; Und nun gegen den Quell, nun gegen das offene Meer hin, Treibt er die unentschiedene Flut: so drehet der Künstler Zahllos irrender Gänge Gemisch. Kaum findet er selber Sich zu der Schwelle zurück; so täuschet der Trug des Verschlosses.78

Sprachmalerisch an dem Text ist erstens die lange Periode, die die Größe des Labyrinths vorführt. Dass ›refluit‹ sinnwidrig vor ›fluit‹ erscheint, entspricht zweitens ebenfalls der Natur des Labyrinths bzw. des Flusses Mäander. Neben dieser Anordnungsmalerei findet sich drittens auch eine Malerei von Eigenschaften zweiter Ordnung. Die durch ›ambage‹ (›Umschweife‹) verbundenen Wörter ›variarum‹ und ›viarum‹ kann man beim Lesen leicht verwechseln, wie inner­ 78 Voß, Johann Heinrich: Verwandlungen nach Publius Ovidius Naso. Zweiter Theil. Berlin 1798, 60f.

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halb eines Labyrinths verschiedene Ausgänge. ›Ambages‹ heißt auch ›Zweideutigkeit‹, und da das zugehörige Adjektiv ›ambiguus‹ zwei Verse später erscheint, ist offenbar dieser Begriff wichtig – ganz davon abgesehen, dass die zweifache Verwendung eines zu ›ambo‹ gehöri­ gen Worts eine Selbstinstantiierung ist. Aber was ist zweideutig an Ovids Beschreibung? Der Vergleich mit dem Fluss? Dieser wird doch explizit vorgeführt. Sollte vielleicht dieser Vergleich einen impliziten Vergleich malen, zu dem der Dichter den Leser einladen will und der eine weitere Bedeutungsebene darstellt? Nun, es ist nicht schwer, die Beschreibung des Labyrinthes und des Mäanders reflexiv zu lesen. Ovid spricht auch über sich selbst, genauer über die Metamorphoses, in denen sich diese Verse finden. ›Refluitque fluitque‹ bezieht sich etwa auf die zahlreichen Analepsen in diesem labyrinthisch-mäan­ drierenden Werke, und zwar keineswegs nur semantisch, sondern, wie gesagt, auch anordnungsmalerisch. Das Beispiel zeigt, dass die hier unterschiedenen Formen der Sprachmalerei miteinander verknüpft werden können. Die Fülle der Farben ist auch der poetischen Sprache als einem eindimensionalen phonematisch-prosodischen System unweigerlich versagt, aber sie hat es geschafft, durch Erfindungsreichtum auf verschiedenen Ebenen eine Nähe zum Referenten zu gewinnen, die wesentlich tiefer geht als die Beliebigkeit der Zeichenrelation. Allerdings ist eine Schlussre­ flexion unabdingbar: Erstens erlaubt gerade die Fülle an sprachmale­ rischen Möglichkeiten je nach Stil des Dichters ganz unterschiedliche Mischungsverhältnisse; und wenn ein bestimmtes Ausdrucksmittel dominiert, können andere Formen der Sprachmalerei ihm so unter­ geordnet werden, dass natürlichere Korrelationen zwischen sprach­ lichem Ausdruck und Referenten nicht mehr gelten. Und zweitens führen Traditionsbrüche, die im Bedürfnis des menschlichen Geistes nach Neuerung begründet sind und alle Künste charakterisieren, immer wieder dazu, dass man bewusst gegen solche Korrelationen revoltiert. Allerdings kann die Ablehnung der tradierten Mittel selbst ein Akt der Sprachmalerei sein, wenn auch noch höherer Stufe; denn er kann sprachmalerischer Ausdruck der ästhetischen Revolte sein. Aber dies ist nicht mehr Thema meines Essays.

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Erkenntnistheoretische Überlegungen im dreizehnten Gesang des Paradiso und der Zusammenhang der drei geometrischen Beispiele der Commedia Dantes1

Der dreizehnte Gesang des Paradiso gehört wahrscheinlich nicht zu den beliebtesten in der Commedia. Anna Maria Chiavacci Leonardi beschreibt ihn folgendermaßen: »Gäbe es nicht... die kurze, aber großartige theologische Einleitung zum Thema... der Schöpfung..., bliebe der Canto vielleicht der schwächste der ganzen Cantica, was den Erfindungsreichtum und die dramatische Qualität betrifft.«2 Selbst wenn dieses Urteil nicht falsch ist, ist der philosophische Inhalt dieses stark vernachlässigten Cantos einer der komplexesten und subtilsten in der gesamten Komödie.3 Es ist nicht so sehr die Darstellung der Schöpfungstheorie, die auch an zahlreichen anderen Stellen des Werks dargelegt wird, die diesen Canto philosophisch so wichtig macht, sondern vielmehr die Diskussion der zur Metaphysik komplementären Disziplin, der Erkenntnistheorie, die hier tatsächlich ihre präziseste Artikulation findet. Giancarlo Rati schreibt in seiner 1979 in der »Casa di Dante« in Rom gehaltenen Lectura zu diesem Canto zu Recht: »Dante erweist sich als ein wahrer Meister der (göttlichen und menschlichen) Wissenschaft und der Methodologie Ich danke meiner Frau Jieon Kim und meinem Schwager Antonello Borra herzlich für ihre kritische Lektüre dieses Aufsatzes, der bei einer Online-Tagung »Dante e i filo­ sofi« am Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento vorgetragen wurde. Siegmund Probst danke ich dafür, dass er mich auf den Artikel von Raynaud hingewiesen hat. Die Vorschläge der beiden anonymen Leser der Dante Studies haben mir geholfen, meine Analyse zu präzisieren. 2 Dante Alighieri, La Divina Commedia. Paradiso, commento di Anna Maria Chia­ vacci Leonardi, Milano 2005, 357: »Se non ci fosse... la breve ma grande apertura teologica sul tema... della creazione..., il canto resterebbe forse il più povero, come qualità inventiva e drammatica, di tutta la cantica.« 3 Nach Manfred Hardt ist Canto 13 »der eigentliche Weisheitsgesang des Paradiso.« (Die Zahl in der Divina Commedia, Frankfurt 1973, 49) 1

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der Wissenschaft«.4 Aber selbst wenn Rati mit der Betonung des »wissenschaftlichen« Charakters dieses Cantos im Großen und Gan­ zen Recht hat – und seine Lektüre stellt in diesem Sinne einen beträchtlichen Fortschritt gegenüber der von Giuseppe Toffanin dar, der sich stattdessen auf die politischen Anspielungen von Paradiso 13 konzentriert5 –, ist seine Interpretation bei weitem nicht konkret genug und lässt vieles von dem außer Acht, was ich im Laufe dieses Aufsatzes diskutieren werde. Im Folgenden werde ich nach drei thematischen Schwerpunkten vorgehen. Ich beginne mit einigen methodologischen Überlegungen über die Art und Weise der Dante-Interpretation (I.). In der Tat kann man nicht daran zweifeln, dass die Divergenzen zwischen den verschiedenen Interpreten – nicht immer, aber sehr oft – mit Unterschieden in der hermeneutischen Theorie zu tun haben, die von jedem der einzelnen Literaturkritiker vorausgesetzt (und nur selten artikuliert) wird. In diesem Zusammenhang werde ich auch die Unverzichtbarkeit und zugleich die Grenzen der literaturkritischen Gattung der »Lectura Dantis« diskutieren. Zweitens werde ich eine Interpretation von Canto 13 anbieten, die versucht, einerseits den Zusammenhang zwischen den vielfältigen Themen dieses Cantos zu klären und andererseits das Vorhandensein einer komplexen Theo­ rie der Wissenschaften aufzuzeigen, die teilweise explizit gemacht, teilweise nur durch verschiedene Anspielungen hervorgehoben wird (II.). Da das angeführte geometrische Beispiel jedoch eng mit der Diskussion der beiden anderen geometrischen Passagen der Komödie verknüpft ist, werde ich im letzten Abschnitt die mathematische Kohärenz der drei Passagen hervorheben und ihre Verbindung zu verschiedenen philosophischen und theologischen Anspielungen in Canto 13 erklären (III.).

I. Es gibt mindestens vier Gründe, warum die Commedia so schwer zu verstehen ist (und das war schon für die Zeitgenossen so, wie die ab 4 Giancarlo Rati, Dal cerchio al centro (Il canto XIII del Paradiso), in: Critica letteraria 8 (1980), 762–786, 762: »Dante si erge a vero e proprio maestro di scienza (divina ed umana) e di metodologia della scienza.« 5 Giuseppe Toffanin, Il Canto XIII del »Paradiso«, Firenze 1968.

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dem 14. Jahrhundert entstandenen Kommentare zeigen; ich spreche also nicht einfach von einer Schwierigkeit, die sich aus der zeitli­ chen Distanz ergibt, die den modernen Leser vom Gedicht trennt). Zunächst einmal ahmt Dante das nach, was er für den besonderen Stil der Bibel hält – die nach einer in der Spätantike entstandenen Tradition vier Bedeutungsebenen hat. Über die Commedia schreibt Dante im Brief 13 an Cangrande, dessen Echtheit wir wohl mit Fug und Recht annehmen dürfen: »Die Bedeutung in diesem Werk ist nicht eine einzige, sondern kann polysemisch genannt werden, das heißt, sie besteht aus mehreren Bedeutungen; denn die erste Bedeutung ist die, die man durch den Buchstaben hat, die andere die, die man durch die Dinge hat, die der Buchstabe bedeutet. Und die erste Bedeutung wird die ›wörtliche‹ genannt, die andere die ›allegorische‹ oder ›moralische‹ oder ›anagogische‹.«6 Gewiss, der Dichter erkennt in der analogen Passage des Convivio (Das Gastmahl) den Unterschied zwischen »Allegorie der Dichter« (»allegoria dei poeti«) und »Allegorie der Theologen« (»allegoria dei teologi«) an.7 Aber es bleibt wahr, was Aleramo Lanapoppi schon vor Jahrzehnten geschrieben hat, nämlich dass, auch wenn Dante nicht voraussetzen konnte, der Leser werde an die geschichtliche Realität seiner Reise glauben, seine Allegorie, wie die der Theologen, die das Alte Testa­ ment mit einem typologischen Schlüssel interpretieren, indem sie es mit den Ereignissen des Neuen Testaments verbinden, sich sowohl auf metaphysische als auch auf reale Wirklichkeiten bezieht und dass aus diesem Grund die Commedia in ihrer Selbstdeutung der Genesis näher steht als den Metamorphosen.8 Die Commedia soll also sowohl für einen normalen, nicht besonders gelehrten Leser zugänglich sein als auch auf komplexe und abstrakte, verborgene Bedeutungen anspielen, 6 »istius operis non est simplex sensus, ymo dici potest polisemos, hoc est plurium sensuum; nam primus sensus est qui habetur per litteram, alius est qui habetur per significata per litteram. Et primus dicitur litteralis, secundus vero allegoricus sive moralis sive anagogicus.« (Epistola 13.7, in: Dante Alighieri, Opere, Bd. 2, a cura di Marco Santagata et al., Milano 2014, 1500) Alle Zitate aus Dantes »kleineren« Werken sind diesem Band entnommen. Sofern nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen aus ihnen sowie aus der Sekundärliteratur von mir. 7 Convivio 2.1.2-15; Opere, Bd. 2, 212-220. 8 Aleramo P. Lanapoppi, La Divina Commedia: allegoria ›dei poeti‹ o allegoria ›dei teologi‹?, in: Dante Studies 86 (1968), 17–39, 33. Zu der schwierigen Frage, inwieweit die Figur des Geryon das Verhältnis der Commedia zur Wahrheit klärt, siehe Paul Hosles kürzlich erschienenen Aufsatz: New Light on Dante’s Construction of Geryon, in: Bibliotheca Dantesca 4 (2021), 67–86.

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die der Dichter bewusst mit einem hermetischen Verfahren verbirgt.9 Oft jedoch, vor allem in der zweiten und der dritten Cantica, ist selbst die erste und wörtliche Ebene des Textes nicht unmittelbar zugänglich; und so »ist die Commedia vielleicht das einzige große abendländische literarische Werk, das nicht ohne Kommentar oder ohne ein gutes Lexikon daneben liegen zu haben, gelesen werden kann«.10 Damit kommen wir zum zweiten Faktor, dem enzyklopädischen Charakter des Werks, d. h. eines Textes, der das gesamte Wissen seiner Zeit behandelt, von der Naturlehre über die Geographie, die Geschichte, das Recht zur Philosophie und Theologie.11 Trotz des enormen intellektuellen Fortschritts in den letzten Jahrhunderten gibt es in einer Kultur wie der unseren, die den Preis für den Fortschritt mit einer immer engeren Spezialisierung des Wissens bezahlt, immer weniger Menschen, die den zahlreichen und viel­ schichtigen Überlegungen Dantes folgen können, der, um nur ein Beispiel zu nennen, über astronomische Kenntnisse verfügte, die heute oft veraltet, aber dennoch präziser und technischer sind als die eines normalen Literaturprofessors von heute. Die philologische Gelehrsamkeit, die erforderlich ist, um den Zugang zu den noetischen Prozessen Dantes zu gewährleisten, wird selten von Fachkenntnissen in den von ihm behandelten Themenbereichen begleitet, ohne die es unmöglich ist, seine Noemata zu verstehen. Die Ausbildung eines Philologen ist nicht die eines Philosophen oder eines Theologen, und es bedarf aller drei Fähigkeiten (und vieler anderer), um die spezifische Bedeutung zumal der dritten Cantica zu verstehen.12 Dass Benedetto Croce spricht sogar von »Kryptographie« (La poesia di Dante, Bari 1922, 13). 10 Claudio Giunta, Perché continuiamo a leggere la Commedia?, in: Dante Studies 137 (2019), 151–170, 156. 11 Wahrscheinlich erreicht nur Goethes Faust einen vergleichbaren Grad an Enzyklo­ pädizität unter den abendländischen poetischen Werken. Siehe meinen Vergleich der beiden in Dantes Commedia und Goethes Faust: Ein Vergleich der beiden wichtigsten philosophischen Dichtungen Europas, Basel 2014. 12 Benvenuto da Imola schreibt in seiner Dante-Vorlesung in Bologna zu Recht: »Dieses Buch ist mit der gesamten Philosophie verknüpft: also der Ethik, der Meta­ physik (d.h. der Theologie) und der Physik (insofern es bestimmte Naturerscheinun­ gen einfügt).« (»Iste liber supponitur toti philosophiae: unde supponitur ethice, met­ haphisice (scilicet theologiae) et phisice (quoniam inserit aliqua naturalia)«; Lectura Dantis Ferrariensis, a cura di Paolo Pasquino, Ravenna 2017, 107). Benvenuto erklärt sogar, dass die Poesie gerade deshalb universeller sei als alle anderen Wissenschaften und Künste: »Denn sie schließt alle anderen Wissenschaften ein: deshalb wird die 9

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dann all dieses Wissen durch ein besonderes danteskes Ethos und Pathos, durch eine religiöse und moralische Vision der Welt vereint wird, hat Croce gut verdeutlicht: »Die intellektuelle und ethische Umrahmung umschließt und beherrscht diese chaotische Materie, die von ihr völlig unterjocht wird, aber wie man einen mächtigen Gegner unterjocht und fesselt, der ... seine starken Muskeln spannt und sich in grandiosen Linien darstellt.«13 Aber es gibt noch einen dritten wichtigen Faktor, der die her­ meneutischen Schwierigkeiten der Commedia erklärt. Zum enzyklo­ pädischen Charakter des Werkes gehört nicht nur der Versuch, das gesamte bekannte Universum zu erfassen und wiederzugeben – die Commedia will dies so leisten, dass auch in der Form der künstleri­ schen Wiedergabe alle großen Dichter der Vergangenheit präsent sind. Damit meine ich nicht so sehr, dass Dante auf seiner Reise Figuren wie Vergil, Statius, Arnaut Daniel oder Guido Guinizzelli begegnet, und auch nicht, dass die Commedia selbst in äußerst zahlreichen Passagen die Texte der Dichter evoziert, die Dante inspi­ riert haben, was die extreme intertextuelle Dichte der Commedia erklärt. Vielmehr geht es mir um die Frage, welcher literarischen

Poesie nicht zu den freien Künsten gezählt, weil sie alle anderen übertrifft, wie die Fürsten die Diener und Untertanen.« (»Nam ista comprehendit omnes alias scientias: ideo poesis non numeratur inter artes liberales, quoniam excedit omnes alias sicut principes famulos et subditos«; 101) Hierin ist er eindeutig von Francesco Petrarca beeinflusst, der ihm in einem persönlichen Brief vom 9. Februar, wahrscheinlich 1373 (15.11 der Seniles), erklärte, dass die Poesie »keineswegs zu den freien Künsten gezählt wird, sondern allen freien Künsten überlegen ist und sie alle umfasst« (»inter liberales minime numeratam, sed super omnes liberales esse omnesque complexam«; Rerum Senilium libri, Bd. 3, a cura di Elvira Nota, Ugo Dotti, Felicita Audisio, Torino 2010, 1984). Doch ist es entscheidend anzuerkennen, dass weder für Petrarca und erst recht nicht für Dante die Fähigkeit der Poesie, alle Disziplinen zu integrieren, bedeutet, dass sie epistemische Ansprüche erhebt, die über die einzelnen Wissenschaften hinausge­ hen, deren Argumente Dantes Poesie auf neue Weise darlegt, ohne anzunehmen, dass die poetische Erfahrung die Ideen der Wissenschaften rechtfertige. Letzteres ist eine Idee der Romantik, nicht des Mittelalters. 13 Croce, La poesia, 162: »L’inquadratura intellettiva ed etica chiude e domina questa materia tumultuante, che ne è interamente soggiogata, ma come si soggioga e incatena un avversario poderoso, il quale... tende i suoi muscoli forti e si compone in linee grandiose.« Dieses Urteil von Croce zu teilen, bedeutet nicht, seinen spezifischen Interpretationsansatz zu akzeptieren, der von einem Begriff der Dichtung abhängt, der diese Lehrinhalten und formalen Strukturen entgegensetzt, während der ästhetische Wert der Commedia gerade in der perfekten Balance zwischen Inhalt, Struktur und dem, was Croce »Poesie« nennt, besteht.

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Gattung die Commedia zuzuordnen ist. In der Tat ist das Werk in dieser Hinsicht eher einzigartig als selten. Das liegt nicht daran, dass es mit der abendländischen Literaturtradition bricht, sondern im Gegenteil daran, dass seine Gattung gerade deshalb so innovativ ist, weil es verschiedene frühere Literaturgattungen vereint und zu einer Synthese bringt.14 Ich ignoriere hier, dass auch die Lyrik, wenn auch in abgeschwächter Form, in die Commedia integriert ist, und konzentriere mich auf die vier großen Gattungen, die die Vorlagen für das Gedicht bilden. Die Anwesenheit Vergils erinnert an das Epos, und in der Tat haben wir in der Reise ins Jenseits im sechsten Buch der Aeneis, das das elfte Buch der Odyssee in einem ganz anderen kulturellen und politischen Kontext gleichsam neu auflegt, das offensichtlichste Modell der Commedia. Aber die Commedia ist nicht nur ein Epos, sondern auch ein Lehrgedicht. Die Kombination dieser beiden Gattungen ist keine originäre Schöpfung Dantes; Ovids Metamorphosen, die für Alighieri sehr wichtig waren, lieferten in gewissem Sinne bereits den Prototyp für diese Kombination, da sie ihrerseits von Hesiods Theogonie beeinflusst wurden. Bei Ovid über­ wiegen jedoch die erzählerischen Aspekte, während Dante, der ein möglichst umfassendes Weltbild bieten will, vor allem in der zweiten und der dritten Cantica der theoretischen Erörterung von Problemen der Philosophie, der Theologie und der Naturwissenschaften breiten Raum einräumt. Obwohl es ihm nicht bewusst gewesen sein kann, steht Dante in diesem Punkt Lukrez näher als Ovid. Ein weiteres wichtiges Merkmal der Commedia ist, dass Homer, Hesiod und Vergil von anderen Personen – Odysseus, den griechi­ schen Göttern, Aeneas – und nicht von sich selbst sprechen, während Dante ein episch-didaktisches Gedicht in der ersten Person schafft. Dies wäre nicht möglich gewesen ohne Augustins Confessiones (Bekennt­ nisse) und Boethius’ Consolatio philosophiae (Trost der Philosophie), zwei nicht nur für die Philosophie und Theologie, sondern auch für die europäische Literatur entscheidende Werke. Aber von den beiden Werken ist eines in Prosa, das andere prosimetrisch, und das didaktische Gedicht in der ersten Person von Parmenides, einem der Das hatte schon Schelling verstanden, der in seiner Philosophie der Kunst schrieb: »Es ist nicht Epos, es ist nicht Lehrgedicht, es ist nicht Roman im eigentlichen Sinn, es ist selbst nicht Komödie oder Drama...; es ist die unauflöslichste Mischung, die vollkommenste Durchdringung von allem.« (Philosophie der Kunst, Darmstadt 1976, 330–331) Zur Dante-Rezeption in der deutschen Romantik siehe Daniel DiMassa, Dante in Deutschland. An Itinerary of Romantic Myth, Lewisburg, PA 2022. 14

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gerade im dreizehnten Gesang des Paradiso genannten Philosophen, war Dante noch nicht bekannt, und selbst wenn es ihm bekannt gewesen wäre, hätte ihn das Fehlen einer echten epischen Dimension (da die Reise des Dichters-Philosophen in nur 24 Versen erzählt wird) weit weniger inspiriert als Vergil oder Ovid. Aber nicht nur dieses Fehlen hätte ihn enttäuscht. Die erhaltenen Textfragmente machen deutlich, dass die Lehre nach einem von Parmenides selbst vorgetragenen Proömium aus einem langen Mono­ log der Göttin bestand (die ungenannt bleibt, wahrscheinlich nicht wegen des sehr fragmentarischen Zustands des erhaltenen Textes, sondern aufgrund einer bewussten Entscheidung des Dichters, der die Stimme der Vernunft nicht mit einer konkreten Figur aus der religiösen Tradition identifizieren wollte). Welch ein Unterschied zur Commedia! In ihr erhält Dante als Pilger nicht nur Belehrungen von verschiedenen Personen, von denen einige ihn begleiten (Vergil, Statius, Beatrice) und von denen er auf seiner Reise anderen begegnet (der letzte, Bernhard, ersetzt Beatrice am Ende des Werks) und die sich alle voneinander unterscheiden und ihre eigene Individualität haben. Außerdem zögert Dante nicht, seine Gesprächspartner zu unterbrechen, um Fragen zu stellen und Zweifel zu klären, wo es nötig ist. Hier setzt Dante offensichtlich die Tradition der literarischen Gattung des philosophischen Dialogs fort, die in Platon ihren ersten großen Meister hatte und sich im Mittelalter großer Beliebtheit erfreute. Diese Überlegungen zur Gattung implizieren, dass die Interpretation eines Cantos in der Regel versuchen muss, mindestens vier Dimen­ sionen des Textes zu erforschen: Sie muss den Ort der Handlung inner­ halb der gesamten Reise beschreiben (epischer Aspekt), den Lehrinhalt behandeln (didaktischer Aspekt), das Kräftefeld zwischen den verschie­ denen Gesprächspartnern erörtern (dialogischer Aspekt) und erklären, in welchem Sinne sich Dante als Pilger auf das vom Dichter erreichte Bewusstsein zubewegt, d.h. sowohl emotional als auch intellektuell reift (autobiographischer Aspekt). Es ist zum Beispiel offensichtlich, dass die metaphysischen Lehren des Paradiso dem Pilger helfen sollen, die entscheidenden Gründe für die Struktur der Welt zu verstehen, die im Inferno nur beschrieben, aber noch nicht erklärt wird – oder, um genauer zu sein, auch wenn Dante eine Erklärung der Architektur der Hölle anbietet (Inf. 11.16–90), legt er in der ersten Cantica weder den Grund für die Existenz des Bösen dar, noch unterrichtet er über die Natur der menschlichen Freiheit, die nur im Purgatorio (16.52–93, 18.64–75) und im Paradiso (17.13–42) diskutiert wird.

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Aber die intellektuelle Souveränität, mit der der Dichter Dante die Hölle schildert, lässt vermuten, dass er bereits zu Beginn der Arbeit an seinem Werk die Klarheit besaß, die der Pilger erst am Ende seiner Reise erlangt. Sicherlich spielen diese vier Aspekte im gesamten Werk Rollen unterschiedlicher Bedeutung. Der zweiundzwanzigste Gesang des Inferno ist überwiegend erzählerischer Natur, während im dreizehnten Gesang des Paradiso der lehrhafte Inhalt auf Kosten der epischen, dialogischen und autobiographischen Momente überwiegt. Der vierte Faktor, der – neben dem enzyklopädischen Charakter des Textes, der bewussten Verwendung von Anspielungen und der Komplexität der literarischen Gattung – Dante so rätselhaft macht, ist die Tatsache, dass die Commedia nicht nur eine außergewöhnli­ che Intertextualität, sondern auch eine außerordentliche intratextuelle Dichte aufweist. Man muss die Commedia in ihrer Gesamtheit (und oft auch Dantes kleinere Werke) kennen, um eine bestimmte Anspie­ lung verstehen zu können. Gleichzeitig ist die Commedia aber auch kein kontinuierliches Werk, wie es die homerischen Epen in gewisser Weise waren (deren Unterteilung in Bücher wahrscheinlich erst nach ihrer Entstehung erfolgte). Sie ist bewusst in drei Cantiche und hun­ dert Canti unterteilt, die alle eine gewisse Eigenständigkeit besitzen. Dies erklärt, warum wir stets sowohl Interpretationen von Dante brauchen werden, die Themen der gesamten Commedia erörtern und die Makrostruktur des Werks betrachten, als auch detaillierte Analysen der offensichtlich begrenzteren Einheiten, die die einzelnen Canti bilden. Man kann einen einzelnen Canto oft nur verstehen, indem man ihn mit anderen Canti in Verbindung bringt, aber das kann uns nicht davon entbinden, zu versuchen zu verstehen, wie die verschiedenen und oft scheinbar disparaten Themen eines einzelnen Cantos in ihm eine Einheit bilden. (Man könnte von Intertextualität und Intratextualität der einzelnen Canti in Bezug auf die Gesamtheit der Komödie sprechen.) In der Tat ist eines der wichtigsten Kriterien bei der ästhetischen Bewertung eines Kunstwerkes der Grad seiner Organizität. Diese Organizität, d.h. diese Dichte an intratextuellen Beziehungen, nähert das Kunstwerk einem Organismus an, in dem die einzelnen Organe nur im Verhältnis zu den anderen Teilen und zum Ganzen verstanden werden können, und sie ist um so schwieriger zu erreichen, je größer und enzyklopädischer das Werk ist und je unabhängiger die einzelnen Teile sind. Die Schwierigkeiten, die viele Leser mit dem dreizehnten Gesang des Paradiso haben, rühren sicher auch daher, dass dieser Gesang als besonders heterogen empfunden

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wird, und deshalb werde ich in meiner Interpretation versuchen, nicht nur seine vielfältigen Verbindungen zu den anderen Gesängen der Komödie, sondern auch die Komplementarität der verschiedenen Themen aufzuzeigen, die im Gesang selbst angesprochen werden.

II. Was ist der Kontext des dreizehnten Gesangs? Er besteht zunächst aus einer Einleitung (1–33), in der der Dichter mit einem der längsten Gleichnisse des Werks, auf das ich gleich zurückkommen werde, den Tanz zweier Kränze mit je zwölf Seelen um Dante und Beatrice beschreibt (1–24) und ihre Lieder erwähnt, die nicht Bacchus und Apollo, sondern der Dreifaltigkeit gewidmet sind (25–27); darauf folgt eine lange Rede von Thomas von Aquin an Dante, die sich bis zum Ende des Gesangs erstreckt. Wir befinden uns im Sonnenhim­ mel, dem Ort, der für die Seelen der Weisen bestimmt ist, in dem sich Dante, geführt von Beatrice, zu Beginn von Canto 10 plötzlich vorfindet – »doch ich hab das Steigen/ gar nicht bemerkt, nur so wie ein Gedanke,/ der, neu gekommen, plötzlich uns bewusst wird«/ »ma del salire / non m’accors’io, se non com’uom s’accorge, / anzi ’l primo pensier, del suo venire« (10.34–36)15 – und den er in Canto 14 verlassen wird. Unter den zwölf Seelen, die sie umkreisen – hier zuerst mit dem Hof des Mondes (64–69), dann mit tanzenden Frauen (76–81) verglichen – spricht als erster gerade Thomas, der Dante diese Seelen vorstellt. Er nennt auch sich selbst, aber man beachte, dass Thomas erst von sich selbst spricht, nachdem er zunächst auf den Orden, dem er selbst im Leben angehörte (den der Dominikaner), und dann auf seinen eigenen Meister, Albert (10.94–99), Bezug genom­ men hat; jeglicher Egozentrismus ist ihm fremd. Das fünfte Licht, das Thomas vorstellt, ist Salomo, von dem alle Welt »gerne Neues wissen möchte« (»gola di saper novella«, 111), d.h. darüber informiert werden will, ob er gerettet oder verdammt wurde, eine Frage, die im Mittelalter wegen der Sinnlichkeit und des Rückfalls des greisen 15 Ich zitiere die Commedia nach der Ausgabe: Dante Alighieri, La Commedia secondo l’antica vulgata, a cura di Giorgio Petrocchi, Firenze 1994. Für die deutsche Übersetzung benutze ich: Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, übs. von Hermann Gmelin, Stuttgart 1980, die ich aber immer wieder korrigiere, und zwar nicht nur in der Angleichung der Orthographie, auch auf Kosten der Silbenzahl der Verse.

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Monarchen ins Heidentum, der in 1. Könige 11,1–10 beschrieben wird, oft diskutiert wurde.16 Dante gibt als Dichter nicht nur eine Antwort auf diese Frage, indem er Salomos Seele an dem eschatologischen Ort ansiedelt, an dem Dante als Pilger ihm begegnet, sondern er geht noch viel weiter, indem er Thomas sagen lässt, sein Licht sei das »schönste unter uns«/ »tra noi più bella« (109): »Drin ist der hohe Geist, in dem so tiefe/ Weisheit gewohnt hat, dass, wenn Wahres wahr ist,/ Gleich viel zu sehen keiner je erstanden«/ »entro v’è l’alta mente u’ sì profondo / saver fu messo, che se ’l vero è vero, / a veder tanto non surse il secondo« (112–114). Man beachte, dass der im vorletzten Vers formulierte Konditionalsatz eine Tautologie, also immer wahr ist (außerdem ist auch der verwendete Begriff »wahr«, was die notwendige Wahrheit der Tautologie noch mehr unterstreicht, als wenn Dante eine andere Tautologie verwendet hätte, z. B. »wenn eine Katze eine Katze ist«). Dies bedeutet, dass der Hauptatz des Konditionalgefüges einen kategorischen, d.h. unbedingten Wert hat. Warum aber wird der Konditionalsatz hinzugefügt, obwohl er logisch überflüssig ist? Eben um den unbedingten Charakter des Hauptsatzes zu betonen (so wie die Litotes oft den Charakter einer Hervorhebung hat; und der tautologische Konditionalsatz ist analog zur Litotes, weil das »wenn« eine Einschränkung anzeigt, die aber durch die Tautologie sogleich beseitigt wird). In der Tat ist das »keiner erstanden« von dem biblischen Text 1. Könige 3,12 inspiriert: »Und ich habe dir ein weises und kluges Herz gegeben, so dass es vor dir keinen solchen gab und nach dir keiner erstehen wird.«17 Durch dieses tautologische Verfahren unterstreicht Dante seinen Glauben an die Unfehlbarkeit der Bibel, die als ultimativer Garant der Wahrheit dargestellt wird. So scheint es zumindest auf den ersten Blick, denn Dante ist als Pilger über die Aussage von Thomas erstaunt. Er braucht dieses Erstaunen nicht einmal in Worten auszudrücken, da im Paradies, anders als in der Hölle und auf dem Läuterungsberg, die erwählten Seelen aufgrund ihrer privilegierten Beziehung zu Gott in die Gedan­ ken des Pilgers eindringen, noch bevor er sie ausgesprochen hat: Robert Hollander schreibt in seinem Kommentar zu Recht: »It is clear that Dante is willing to risk considerable intellectual capital in the presentation of his case for Solomon.« (Dante Alighieri, Paradiso. A Verse Translation by Robert and Jean Hollander. Introduction and Notes by Robert Hollander, New York 2007, 366) 17 »et dedi tibi cor sapiens et intelligens in tantum ut nullus ante te similis tui fuerit nec post te surrecturus sit.« Ich benutze die Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, hg. von Robert Weber und Roger Gryson, Stuttgart 52007. 16

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»Du zweifelst und du möchtest gerne erkennen/ In solcher offenen und klaren Rede/ Mein Wort, dass es sich deinem Sinne öffne«/ »Tu dubbi, e hai voler che si ricerna / in sì aperta e ̓n sì distesa lingua/ lo dicer mio, ch’ al tuo sentir si sterna« (11.22–24; ähnlich 13.88–90).18 In diesem Sinne gibt es im Paradies keinen wirklichen Gegensatz mehr zwischen Dialog und Monolog, denn der Monolog ist in der Lage, alle Fragen und Einwände des Jüngers vorwegzuneh­ men, was neben anderen Faktoren erklärt, warum die dramatischen Qualitäten der dritten Cantica denen der ersten beiden unterlegen sind. Thomas erkennt zwei Zweifel Dantes – einer bezieht sich auf seine Behauptung über die Herde des heiligen Dominikus, »in der man gut gedeiht, wenn man nicht abschweift«/ »u’ ben s’impingua se non si vaneggia« (10.96), der andere auf seine Bemerkung über Salomo »Gleich viel zu sehen ist keiner je erstanden«/ »a veder tanto non surse il secondo« (10.114) – und löst sie mit »Und hier ist nötig, gut zu unterscheiden«/ »è uopo che ben si distingua« (11.27) auf, d.h. durch die Anwendung der charakteristischen scholastischen Methode, die Thomas selbst in seinen Werken so meisterhaft benutzt. Die Rechtfertigung seiner ersten Bemerkung bietet Thomas die Gelegen­ heit, seine Position in einer langen Rede zu artikulieren, die mit einem Proömium über die providentielle Rolle des heiligen Franziskus und des heiligen Dominikus (11.28–42) eingeleitet wird, in der das Leben des heiligen Franziskus (11.43–117) gepriesen und der Niedergang seines eigenen Dominikanerordens (11.118–139) erörtert wird, ein Niedergang, der die frühere Anspielung auf das Abschweifen (10.96) erklärt. Es gehört offenbar zu den guten Sitten im Paradies, die Verdienste des Konkurrenten zu loben und die eigenen Schwächen zu beklagen.19 Thomas hat jedoch keine Gelegenheit, sofort eine Antwort auf Dantes zweiten Zweifel hinzuzufügen, denn zu der Gruppe, zu der er selbst gehört, gesellt sich zu Beginn von Canto 12 eine weitere Gruppe von zwölf Seelen, deren Sprecher, Bonaventura von Bagnoregio, eine zu der von Thomas symmetrische Rede hält. Nicht anders als Thomas beginnt Bonaventura seine Rede mit einem Vorspiel über die Gründer der beiden Orden (12.31–45), fährt dann 18 In Par. 7.11 spricht Dante wenigstens noch »zu mir selber«/ »fra me«, wenn Beatrice ihn unterbricht, weil sie weiß, was ihn quält; jetzt wird nicht einmal mehr dieser innere Dialog abgerufen. 19 Siehe dazu Cyril O’Regan, The Paradiso and the Overcoming of Rivalry, in: Dante, Mercy, and the Beauty of the Human Person, ed. by Leonardo J. De Lorenzo/Vittorio Montemaggi, Eugene, Oregon 2017, 179–196, bes. 186–189.

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fort, das Leben des heiligen Dominikus zu erzählen und zu preisen (12.46–111), und endet schließlich mit der Klage über den Verfall seines eigenen Franziskanerordens (12.112–126). Im Gegensatz zu Thomas stellt Bonaventura sich und seine Gefährten jedoch nach und nicht vor dieser Rede vor; Parallelismus und Chiasmus werden so auf originelle Weise kombiniert, da die beiden Reden die Struktur A(BCD) und (B’C’D’)A’ haben. Wie Thomas im elften Gesang, so kommt auch Bonaventura im zwölften Gesang als einziger zu Wort, obwohl die Rede keines der beiden seligen Geister den gesamten Raum des Gesangs ausfüllt – dies geschieht nur im sechsten Gesang des Paradiso mit Justinian. Trotz der Symmetrie zwischen den beiden großen Scholastikern hat Dante zweifellos bewusst Thomas und nicht Bonaventura als Gesprächspartner für die Diskussion des Problems des salomonischen Wissens gewählt. Schließlich ist Thomas, und nicht Bonaventura, der Autor des ersten Teils von De regimine prin­ cipum (Über die Herrschaft der Fürsten) und der großen Teile der Summa theologiae, die den von Bonaventura vernachlässigten Fragen der praktischen Philosophie gewidmet sind. Die Ankunft der neuen Gruppe und der komplizierte Tanz, den die beiden Kreise miteinander vollführen, lenken weder Thomas noch Dante von dem zweiten ungelösten Zweifel des Florentiners ab, und wahrscheinlich ist einer der Gründe für die poetische Erfindung der Unterbrechung gerade der Wunsch, die Stärke »des Pfeiles meiner Absicht«/ »lo stral di mia intenzion« (Par. 13.105) zu demonstrieren, die trotz der Abfolge neuer Themen, neuer Erfahrungen und neuer Begegnungen auf dasselbe Problem ausgerichtet bleibt. Der größte Teil des dreizehnten Gesanges besteht aus der Lösung der folgenden Frage, die Thomas für Dante formuliert: Wie ist es möglich, dass das Wissen Salomos nicht einmal von Adam und Christus übertroffen wurde? (Par. 13.37–48) Um die Einzelheiten der Antwort zu verstehen, muss man zunächst das bereits erwähnte lange einleitende Gleichnis betrachten. Im Grunde vergleicht es die beiden Kränze der insgesamt vierund­ zwanzig Seelen mit drei Gruppen von Sternen – den fünfzehn, die die anderen an Klarheit übertreffen, den sieben (hellsten) Sternen der Ursa Major und den beiden der »Mündung« (»bocca«) der Ursa Minor, deren Polarstern als Beginn jener Achse erwähnt wird, »um die das erste Himmelsrad bewegt wird«/ »a cui la prima rota va dintorno« (Par. 13.12). Die Auswahl der fünfzehn hellsten Sterne ist nicht willkürlich, da Ptolemaios in seiner Astronomie ein dis­

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kretes System für die verschiedenen scheinbaren Helligkeiten, d. h. Leuchtkraftgrade, der Himmelskörper vorsieht und fünfzehn der 1022 Sterne, die er in seinem Katalog aufzählt, ausdrücklich den ersten Rang zuschreibt.20 Aber zwei der sieben Sterne von Ursa Minor zu nehmen, ist überhaupt nicht plausibel – warum nicht drei oder vier? Sicher, Dante will auf die Zahl 24 kommen, aber aus welchem Grund über die Zahlenreihe 15 + 7 + 2? Rati wollte die Zwei mit den zwei Naturen Christi und die Sieben mit den sieben Gaben des Heiligen Geistes in Verbindung bringen.21 Um jedoch die Fünfehn als Symbol für Gott den Vater zu interpretieren, musste Rati auf die hebräische Gematrie zurückgreifen, bei der der Buchstabe Jod den Wert 10 und der Buchstabe He den Wert 5 hat. Ich habe keine Kenntnisse des Hebräischen und weiß nicht, wie verbreitet diese Interpretation der Zahl 15 unter den Juden zur Zeit Dantes war (Rati zitiert keine Primärquellen), aber selbst wenn man davon ausgeht, dass sie es war, haben wir einen Beweis dafür, dass sie Dante bekannt war? Rati verweist auf keinen christlichen Text aus dieser Zeit, in dem dieses Zahlensymbol verwendet wird, und Heinz Meyer erwähnt diese Interpretation in seinem grundlegenden Buch über die Allegorese der Zahlen im Mittelalter beim Besprechen der Zahl 15 nicht.22 In Ermangelung überzeugenderer Lesarten erlaube ich mir, eine alternative Interpretation vorzuschlagen, die, obwohl sie in diesem Stadium der Forschung nur eine Möglichkeit darstellt (ich bin mir bewusst, dass ich sie nicht mit derselben Plausibilität beweisen kann, die meine weiteren Überlegungen beanspruchen können), versucht, die Numerologie von Par. XIII zu erklären. Anstatt zu untersuchen, was die Zahlen vielleicht symbolisieren können, sollten wir uns auf die rein arithmetische Natur der Zahlen konzentrieren. In diesem Sinne möchte ich daran erinnern, dass Dante im Convivio den Son­ Almagest 8.1 (ΚΛΑΥΔΙΟΥ ΠΤΟΛΕΜΑΙΟΥ ΜΑΘΗΜΑΤΙΚΗ ΣΥΝΤΑΞΙΣ. Compo­ sition mathématique de Claude Ptolémée ... par M. L’Abbé Halma, 2 vols., Paris 1813– 1816, 2: 82). Das Werk wurde bereits im 12. Jahrhundert sowohl aus dem Arabischen als auch aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt; die Quelle von Dantes astronomischem Wissen war jedoch Farghanis (Alfraganus’) Liber de aggregationibus scientiae stellarum, zitiert in Convivio 2.5.17; Opere, Bd. 2, 262. 21 Rati, Dal cerchio al centro, 766. 22 Heinz Meyer, Die Zahlenallegorese im Mittelalter. Methode und Gebrauch, Mün­ chen 1975, 150–151. Meyer erklärt stattdessen verschiedene allegorische Verwendun­ gen von 15, das als Summe von 7 und 8 oder 10 und 5 oder als Produkt von 3 und 5 interpretiert wurde. 20

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nenhimmel mit »der Arithmetik aus zwei Gründen in Verbindung bringt: der eine ist, dass von ihrem Licht alle anderen Sterne ihre Form erhalten; der andere ist, dass das Auge sie nicht anvisieren kann. ... Deswegen ... stellte Pythagoras als die Prinzipien der natürlichen Dinge das Gerade und das Ungerade dar, indem er alle Dinge als Zahl betrachtete.«23 Angesichts dieses Zusammenhangs ist es nicht verwunderlich, dass Dante unseren Gesang mit einer arithmetischen Operation, der Addition, beginnt. Und es ist auch leicht zu erklären, dass von den letzten beiden Zahlen eine gerade und die andere unge­ rade ist, wenn dies »die Prinzipien der natürlichen Dinge« sind. Aber warum 15? Wenn wir uns daran erinnern, dass die andere Grund­ operation der Arithmetik die Multiplikation ist, ist Dante vielleicht daran interessiert, neben zwei Primzahlen eine zusammengesetzte Zahl vorzuschlagen – und diese besteht nicht zufälligerweise aus 3 und 5,24 die zusammen mit 2 und 7 die ersten vier Primzahlen bilden. Und es sind die Primzahlen, die mit ihren Kombinationen das Universum der Zahlen bilden. Das Hervorgehen der Zahlen aus der Einheit, die die antike und mittelalterliche Welt noch nicht als Zahl betrachtete, entspricht der in diesem Gesang25 vorgeschlagenen Schöpfungslehre, die sich geradezu mit der Erzeugung der Vielheit aus der göttlichen Einheit bzw., besser, Dreifaltigkeit beschäftigt: »Denn das lebendige Licht, das von der Leuchte/ Ausstrahlt, die niemals sich von ihm entfernte,/ Noch von der Liebe, die im Bund die dritte,/ Vereint durch seine Kraft sein eignes Strahlen,/ Gleichsam gespiegelt, in neun Wesenheiten/ Und dennoch ewig seine Einheit wahrend« / »ché quella viva luce che sì mea / dal suo lucente, che non si disuna / da lui né da l'amor ch’ a lor s’intrea, / per sua bontate il suo raggiare aduna, / quasi specchiato, in nove sussistenze, / etternalmente rima­ 23 Convivio, 2.13.15–18; Opere, Bd. 2, 314–316: »E lo cielo del Sole si può com­ parare l’Arismetrica per due propietadi: l’una si è che del suo lume tutte l’altre stelle s’informano; l’altra si è che l’occhio nol può mirare.... per che Pittagora... poneva i principii delle cose naturali [essere] lo pari e lo dispari, considerando tutte le cose esser numero.« 24 Zu 15 als Produkt von 3 und 5 siehe Honorius Augustodunensis, Speculum Ecclesiae (PL 172.870): »Fünfzehn aber ist dreimal fünf, da wir um des Glaubens an die heilige Dreifaltigkeit willen durch die fünf Sinne die Werke der Liebe ausführen sollen.« (»Quindecim autem sunt ter quinque, quia per fidem sanctae Trinitatis oportet nos quinque sensibus nostris opera caritatis implere.«) 25 Zur Zahl als Vermittler zwischen Einheit und Vielfalt bei Dante siehe Patrick Boyde, Dante Philomythes and Philosopher. Man in the Cosmos, Cambridge 1981, 217–222.

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nendosi una« (Par. 13.55–60). Nicht nur ist »intrearsi« einer der verschiedenen herrlichen Neologismen der Commedia, sondern in den fast identischen Reimen »disuna« – »aduna« – »una« erkennen wir eine sprachmalerische Leistung26 dank der Tatsache, dass das letzte Wort der Terzine (»una«) vom rein phonetischen Standpunkt aus eine größere Einheit besitzt als »disuna« und »aduna« – Dante beseitigt schließlich die Präfixe, von denen das erste, »dis«, sogar die Bedeutung umkehrt, während das zweite, »ad«, nur eine Hinzufügung bedeutet, und hebt auf diese Weise die reine Einheit des göttlichen Prinzips hervor, das durch die Schöpfung unverändert bleibt. Eine weitere Form von Sprachmalerei in diesem Gesang ist der dreifache Gebrauch von »imagini« (»man stelle ich vor«) in den V. 1, 7 und 10, der das Thema der Trinität vorbereitet, das im nächsten Gesang aufgegriffen wird (Par. 14.28–33; auch hier unterstreicht das dreifache »crescer« (»wachsen«) in den V. 49–51 das Thema, aber anders als in Canto 13 folgt es der expliziten trinitarischen Reflexion – eine chiastische Ordnung, die auch die Erwähnung von »eins«, »zwei«, »drei« und »immer« (»uno«, »due«, »tre«, »sempre«) in den V. 28–29 kennzeichnet).27 Der metaphysische Gedanke der Ausstrahlung der göttlichen Einheit in der Welt kommt bereits im ähnlich didaktischen Canto 7 (64–66) zum Ausdruck und wird in Canto 29 (142–145) wiederholt, allerdings nicht mit einer so originellen Sprachmalerei. Aber ich möchte nicht die Details von Dantes Schöpfungstheorie diskutieren, geschweige denn logisch analysieren, die zwischen den ontologischen Ebenen der Engel (Par. 13.59), der Organismen und der anorganischen Wesen (13.61–66) unterscheidet und die Vielfalt der Wesen durch die unterschiedliche Empfänglichkeit der Materie erklärt, die den Formen zugrunde liegt. »Ihr Wachs und ihre Prägung ist nicht immer / von gleicher Art, drum scheint aus ihrem Bilde / das Urbild stärker oder schwächer wider« / »La cera di costoro e chi la duce / non sta d’un modo; e però sotto ̓l segno / ideale poi più e men traluce« (Par. 13.67–69; ähnlich Par. 1.127–129). Dort, wo Gott direkt eingreift, wie bei der Erschaffung Adams und der Empfängnis Christi, erreicht er das größte Ergebnis: »Denn niemals war ja die Zu den verschiedenen Formen, in denen Sprache Strukturen der Wirklichkeit nachahmen kann, siehe Vittorio Hösle, Wie kann Sprache malen? Formen der Sprach­ malerei in der Dichtung, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Lingusitik 50 (2020), 673–699 (siehe oben in diesem Band 49-82). 27 Siehe die aufschlussreichen Analysen von Sergio Bozzola, Lettura stilistica di Paradiso XIV, in: Rivista di studi danteschi 20 (2020), 73–96, 75. 26

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Natur der Menschen / Und wird nie sein wie einst in jenen beiden« / »che l’umana natura mai non fue/ né fia qual fu in quelle due persone« (Par. 13.86–87). Aber das macht die Frage noch dringlicher: Warum erklärt Thomas dann den Primat Salomos? Giuseppe Toffanin hat in seiner Lectura Dantis Scaligera zu die­ sem Gesang darauf bestanden, dass die hohe Rolle, die Dante Salomo zuschreibt, seinem Ghibellinismus entspricht: Salomos Weisheit demonstriert die Möglichkeit einer direkt von Gott legitimierten weltlichen Macht – im Gegensatz zu den ekklesiozentrischen Ideen seines Zeitgenossen (und Thomas-Schülers) Aegidius Romanus in De potestate ecclesiastica (Von der kirchlichen Macht), Ideen, die die päpstliche Bulle Unam sanctam ecclesiam von Bonifatius VIII. beeinflussten, deren Autor Aegidius sogar gewesen sein könnte.28 Sicherlich ist dieses Motiv nicht zu vernachlässigen, aber es erscheint nicht in Dantes Argumentation, und auf diese müssen wir uns konzentrieren. Kurz gesagt, schlägt Thomas eine Differenzierung innerhalb des Begriffs der Erkenntnis vor. Das Wissen, in dem sich Salomo auszeichnet, ist nicht identisch mit demjenigen Adams und Christi; der Widerspruch wird also durch eine Unterscheidung der verschiedenen Formen des Wissens vermieden. Man müsse das Gebet Salomos, als Gott ihn aufforderte, um das zu bitten, was er sich am meisten wünsche (1. Könige 3,5–14), kontextualisieren (wenn es denn erlaubt ist, einen modernen Begriff zu verwenden): »Doch damit, was noch dunkel, klar erscheine, / Bedenke, wer er war und was ihn antrieb / Zu bitten, als man: ›Bitte!‹, zu ihm sagte« / »Ma perché paia ben ciò che non pare, / pensa chi era, e la cagion che ̓l mosse, / quando fu detto ›Chiedi‹, a dimandare« (Par. 13.91–93). Salomo wollte der Erste in »königlicher Klugheit« (»regal prudenza«) sein und war es auch (Par. 13.104); und das Wort »erstand« (»surse«) bezog sich nur »auf Könige, die viel und selten gut sind« / »ai regi, che son molti, e ’ buon son rari« (Par. 13.108). Diejenigen, die mit der modernen Hermeneutik vertraut sind, werden von Dante nicht leicht zu überzeugen sein und es vorziehen zu glauben, dass der Autor von 1. Könige nicht an Adam dachte und Christus nicht voraussah. Aber die Notwendigkeit, die Bibel mit späteren theologischen Entwicklungen in Einklang zu bringen, zwingt Dante zu kreativen hermeneutischen Lösungen, die sowohl die Bedeutung von Weisheit, die im spezifischen Kontext relevant ist 28

Toffanin, Canto XIII, besonders 9–16.

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(»königliche Klugheit«), als auch die Extension ihrer möglichen Trä­ ger (»Könige«) einschränken.29 Daher werden philosophisch wichtige Differenzierungen des Wissensbegriffs eingeführt, die eindeutig auf Aristoteles zurückgehen.30 Der Begriff »königliche Klugheit« ist eine Qualifizierung der Klugheit, nämlich der φρόνησις, die im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik von Kunstfertigkeit, Wissenschaft, Vernunft und Weisheit unterschieden wird. Die drei letztgenannten dianoetischen Tugenden sind mit der theoretischen Philosophie ver­ bunden, die Aristoteles in der Metaphysik in die drei Bereiche Physik, Mathematik und Erste Philosophie (oder Theologie) unterteilt, je nach deren Grad der Entfernung von der Materie.31 Dante muss diese aristotelisch-thomistische Konzeption im Sinn haben, wenn er 29 Paola Nasti stellt richtig fest, dass es Dante auf diese Weise gelingt, »den wörtlichen Sinn der Schrift zu verteidigen... Der florentinische Dichter, im Gewande des richtigen Exegeten, gibt Salomo und seiner Geschichte ihre irdische und historische Bedeutung zurück...« (»ristabilisce il senso letterale della Scrittura ... Il poeta fiorentino, nei panni del giusto esegeta, restituisce a Salomone e alla sua storia il loro significato terreno e storico...«; Favole d’amore e »saver profondo«. La tradizione salomonica in Dante, Ravenna 2007, 172). 30 Das bedeutet nicht, dass Dantes Philosophie blindlings der von Aristoteles oder Thomas folgt. Es handelt sich bei ihm um ein brillantes eklektisches Denken, in dem sich Momente des Neuplatonismus, des christlichen Aristotelismus und des Averroismus verbinden. Étienne Gilson, Dante et la philosophie, Paris 1939 bleibt nützlich. Einen wichtigen Fortschritt stellt Bruno Nardis Beitrag »Dante e la filosofia« in seinem Band Nel mondo di Dante, Roma 1944), 207–245 dar. Aufschlussreich ist die Darstellung von Cesare Vasoli, Filosofia e teologia in Dante, in: Dante nella critica d’oggi, a cura di Umberto Bosco, Firenze 1965, 47–71. Zwei neuere Studien sind Ruedi Imbach, Dante, la philosophie et les laïcs, Paris/Fribourg 1996 und Ernest Leonard Fortin, Dissent and Philosophy in the Middle Ages: Dante and His Precursors, Lanham 2002. 31 Metaphysik 1064a28-b14. Thomas kommentiert diese Unterteilung in der Senten­ tia libri Metaphysicae, 11.7.18: »Und daraus schließt er weiter, dass es drei Gattungen von spekulativen Wissenschaften gibt, nämlich die Naturwissenschaft, die jene beweglichen Dinge betrachtet, die in ihrer Definition die sinnliche Materie einschlie­ ßen; die Mathematik, die die unbeweglichen Dinge betrachtet, die in ihrer Definition die sinnliche Materie nicht einschließen, obwohl sie ihr Dasein in der sinnlichen Materie haben; und die Theologie, die sich mit völlig getrennten Entitäten beschäf­ tigt.« (»Et ex hoc ulterius concludit, quod tria sunt genera speculativarum scientiarum: scilicet naturalis quae considerat ea mobilia, quae in sui definitione materiam sensi­ bilem recipiunt; et mathematica quae considerat immobilia, quae non recipiunt mate­ riam sensibilem in sui definitione, licet habeant esse in materia sensibili; et theologia quae est circa entia penitus separata.«) Thomas wird zitiert nach: Opera omnia, curante Roberto Busa, 7 Bände, Stuttgart-Bad Cannstatt 1980; hier 4:491. Robert Kilwardby gibt Kap. V in ähnlicher Weise den Titel: »Divisio philosophiae speculativae per natu­

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schreibt, dass es, um »ein vollkommener König« (»re sufficiente«) zu sein, nicht notwendig ist, »um die Zahl der himmlischen Beweger / zu wissen, ob Notwendigkeit zusammen / Mit Zufall auch Notwen­ digkeit ergebe; / Nicht, ob es eine erste Bewegung gebe, / Noch, ob im Halbkreis sich ein Dreieck finde, / Das keinen rechten Winkel in sich berge« (»sapere il numero in che enno / li motor di qua sù, o se necesse / con contingente mai necesse fenno; / non si est dare primum motum esse, / o se del mezzo cerchio far si puote / triangol sì ch’ un retto non avesse« (Par. 13.97–102). Es ist nicht schwer zu erkennen, dass das erste Problem, das die Anzahl der bewegenden Geister betrifft, letztlich ein naturphilosophisches Problem ist (wenn auch eines mit metaphysischen Auswirkungen, da es von separaten Substanzen handelt), weil es von der Anzahl der zu bewegenden natürlichen Objekte abhängt. Das dritte Problem, das sich auf die erste Bewegung und damit auf den ersten Beweger bezieht, ist hingegen ein metaphysisches Problem. Aus diesem Grund ist es auf Latein formu­ liert, was sprachmalerisch über die normale Sprache der Commedia hinausweist, so wie dieses Problem die Welt der Natur transzendiert und zu einer letzten Ebene der Realität vordringt, indem es sich auf den berühmten »Beweis« eines ersten Bewegers bei Aristoteles32 und Thomas33 bezieht.34 ralem, mathematicam et divinam« (De ortu scientiarum, ed. by Albert Judy, Toronto 1976, 13–14 (§§ 15–16)). Ich bin nicht in der Lage zu beweisen, ob Dante diese Passagen gelesen hat, aber das ist auch nicht notwendig, da Dante wahrscheinlich einen beträchtlichen Teil seiner umfangreichen Kultur mündlich erhielt, indem er sich mit Experten der verschiedenen Disziplinen unterhielt. Die oben erwähnte Einteilung der theoretischen Wissenschaf­ ten war die opinio communis der Wissenschaftstheorie seiner Zeit. 32 Siehe Metaphysik 1073a3–13. 33 Siehe den ersten Weg in Summa theologiae I, qu. 2 a. 3 (Opera omnia, 2:187). 34 Benvenuto da Imola erklärt in seiner Lectura Dantis in Ferrara ganz richtig, dass Salomo »keine Kenntnisse in Metaphysik, Logik oder Naturphilosophie erbat... er erbat keine Kentnisse der Geometrie« (»non petivit scire methaphisicam, non loicam, non fisicam... non petivit scire geometriam«; Lectura Dantis Ferrarensis, edizione critica a cura di C. Paolazzi, P. Pasquino, F. Sartorio, Ravenna 2021, 751). Er scheint also das erste Problem der Metaphysik und das dritte der Naturphilosophie zuzuordnen – während Iacomo della Lana das erste Problem der »Astronomie«, das dritte der »Naturphilosophie« zuschreibt (Commento alla Commedia, 4 Bde, hg. von Mirko Volpi, Roma 2009, 3:2112). Es ist nicht auszuschließen, dass Dante das erste Problem als metaphysisch und damit das dritte als naturphilosophisch betrachtete, indem er nur an die Bewegung und nicht an den Beweger dachte; aber es scheint weitaus plausibler, die erste Bewegung mit dem ersten Beweger zu verbinden und die vielen

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Das letzte Problem ist mathematischer Natur, und ich glaube nicht, dass es ein Zufall ist, dass Dante ein geometrisches Theo­ rem wählt. Tatsächlich wurde die Arithmetik, die andere Disziplin der reinen Mathematik innerhalb des Quadriviums, bereits in dem Gleichnis zu Beginn des Gesangs angesprochen. Dies bestärkt mich in meiner »arithmetischen« Interpretation der Zahl 15; denn auf diese Weise sind alle Disziplinen des mittelalterlichen Quadriviums in diesen Gesang integriert. In der Tat stehen die Sterne für die Astronomie, Tanz (Par. 13.20) und Gesang (25 und 28) für die Musik. Der Vers »Als Lied und Tänze dann ihr Maß vollendet« / »Compié ’l cantare e ’l volger sua misura« (28) benennt mit dem »Maß« die gemeinsame mathematische Kategorie, die auch den bei­ den angewandten mathematischen Disziplinen, der Astronomie und der Musik, zugrunde liegt. Man beachte, dass die Unterteilung der theoretischen Philosophie, die auf Aristoteles zurückgeht, in diesem Canto mehr oder weniger explizit ist, während die Disziplinen des Quadriviums, das bereits im fünften Jahrhundert v. Chr. bekannt war,35 in einer viel hermetischeren Weise dargestellt werden. Aber es besteht kein Zweifel, dass der Gesang auch auf sie anspielt. Das zweite Problem, das logischer Natur ist, habe ich noch nicht erwähnt, weil die Logik, deren Begründer Aristoteles ist, in seinem System der Erkenntnis keinen ausdrücklichen Platz hat, wahrschein­ lich weil sie als propädeutische Disziplin betrachtet wurde. Aber die Logik wurde bereits von Hugo von St. Viktor in der Eruditio didascalica (Erziehung zum Studium)36 neben der theoretischen Phi­ getrennten Intelligenzen Gott unterzuordnen. Das Hauptargument zu Benvenutos Gunsten ist, dass Dante zuerst von Bewegern und dann von Bewegung spricht; für meine Interpretation spricht dagegen, dass »erste« der Zahl vorausgeht. (Die Verwendung des Lateins, die vom Wort »necesse«, aber nicht von »contingente« wiederaufgenommen wird, spricht ebenfalls für meine Interpretation). Natürlich ist es möglich, dass Dante absichtlich zweideutig ist. 35 Siehe Platon, Protagoras 318e. Zur Geschichte der Unterteilung der Wissenschaf­ ten von der Antike bis zum 19. Jahrhundert verweise ich auf meinen Aufsatz: Wie hat die westliche Kultur ihre verschiedenen Formen von Wissen gegliedert und gerechtfertigt? Historische Überlegungen zu den Metamorphosen des Baums des Wissens, in: Objektiver und absoluter Geist nach Hegel, hg. von T. Oehl and A.Kok, Leiden/Boston 2018, 743–783. 36 1.6 und 1.12 (PL 176, 745 und 749–750). In der jüngsten Ausgabe der Fontes Christiani (Hugo von Sankt Viktor, Didascalicon. De studio legendi. Studienbuch, übersetzt und eingeleitet von Thilo Offergeld, Freiburg 1997) sind es die Kapitel 1.5 (128–130) und 1.11 (146–152).

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losophie, der praktischen Philosophie und den mechanischen Künsten in das System der Disziplinen aufgenommen, und Bonaventura folgt dem in De reductione artium ad theologiam (Die Zurückführung der Künste auf die Theologie), indem er die rationale Philosophie der Naturphilosophie (die wie die theoretische Philosophie des Aristote­ les in Physik, Mathematik und Metaphysik unterteilt ist)37 und der Moralphilosophie hinzufügt (Kap. 4). Man beachte jedoch, dass die rationale Philosophie bei Bonaventura das gesamte Trivium umfasst, also Grammatik, Logik und Rhetorik, während Dante in Canto 13 nur auf die Logik eingeht. Das Problem der Sprache wird erst viel später erörtert (Par. 26.124–138), und mit dieser Trennung beweist Dante einen ausgezeichneten erkenntnistheoretischen Instinkt: Die Sprache setzt eine menschliche empirische Realität voraus, die über die Logik hinausgeht, und so wird es Adam sein, der Fragen in Bezug auf die Sprache untersucht. Darüber hinaus sind Grammatik und Rhetorik notwendige Disziplinen für einen König, denn seine Klugheit muss seinen Untertanen korrekt und überzeugend vermittelt werden. Diese Überlegungen erklären meines Erachtens die Wahl der Bereiche, zu denen die Probleme gehören, die der ideale König nicht zu kennen braucht (während Dante behauptet, dass sowohl Adam vor dem Sündenfall als auch Christus die Lösungen kennen). Aber aus welchen Gründen wählt Dante die vier spezifischen Probleme? Für das erste und das dritte Problem ist die Antwort nicht schwer: Bei einer Reise ins Paradies, die in einer Begegnung mit dem ersten Beweger enden wird, sind diese Fragen mehr als natürlich. Auch das zweite Problem ist nicht überraschend, obwohl es zur Modallogik des Aristoteles gehört, die immer noch nicht vollständig rekonstruiert worden ist, weil sie auf ganz anderen Prinzipien beruht als die heutige. Aristoteles’ Antwort auf das gestellte Problem ist negativ; eine notwendige Schlussfolgerung setzt voraus, dass alle Prämissen notwendig sind, also keine kontingent ist.38 Aber von »Zufallswesen« (»contingenze«) ist zweimal in V. 63–64 im Zusammenhang mit der Erzeugung endlicher Wesen durch ein notwendiges Wesen die Rede: »Und diese Zufallswesen, möcht ich sagen, / Sind die erschaffnen 37 »Die Naturphilosophie gliedert sich also in drei Teile, in die Physik im engeren Sinne, die Mathematik und die Metaphysik.« (»Ideo naturalis philosophia triplicatur in physicam proprie dictam, in mathematicam et in metaphysicam.«; Tria opuscula seraphici doctoris S. Bonaventurae Breviloquium Itinerarium mentis in Deum et De reductione artium ad theologiam, Firenze 1925, 371) 38 Siehe, z.B., Analytica priora 35b23–36.

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Dinge, die der Himmel / Durch Drehn hervorbringt mit und ohne Samen«/ »e queste contingenze essere intendo / le cose generate, che produce / con seme e sanza seme il ciel movendo« (Par. 13.64–66). Offensichtlich war dieses Prinzip der Kontingenz für Dante mit der Möglichkeit des freien Willens verbunden, die für ihn zentral war, wie wir später sehen werden.

III. Es bleibt noch das geometrische Problem, das sich auf das berühmte Theorem bezieht, das traditionell Thales zugeschrieben wird. Es ist grundsätzlich möglich, dass Dante von der Zuschreibung an den Philosophen, dem er in der Vorhölle begegnet (Inf. 4.137), wusste, da Diogenes Laertius, dem wir die Zuschreibung verdanken (I 24), vermutlich schon im 12. Jahrhundert von Henricus Aristippus ins Lateinische übersetzt wurde, obwohl die Übersetzung nicht erhalten ist und wir nicht wissen, wie bekannt sie war.39 Wahrscheinlicher scheint mir jedoch, dass Dante von den inneren Qualitäten des Theorems angezogen wurde. Das Dreieck erinnert an die zu Beginn des Gesangs besungene Dreifaltigkeit, und Dante kannte vermutlich die Besonderheit des rechtwinkligen Dreiecks, das durch seine Höhe in zwei Dreiecke geteilt wird, die einander und dem ganzen Dreieck ähnlich sind; diese Ähnlichkeit der drei Figuren könnte ihm als Symbol der Dreifaltigkeit erschienen sein, und der Kreis gilt als die »vollkommenste Figur ..., die deswegen die Natur des Zieles haben muss«.40 Drittens steht das Theorem im Zusammenhang mit zwei anderen geometrischen Anspielungen, die in der Commedia auftauchen. Dante wendet sich mit folgenden Worten an Cacciaguida, um seine eigene Zukunft zu erfahren: »Mein teurer Ursprung, der so hoch gestiegen, / dass, wie des Menschen Geister sehen können, / Dass nicht zwei Stumpfe in ein Dreieck gehen, / Du ebenso erkennst das Weltgeschehen, / Noch eh es ist, nur nach dem Punkte schau­ end, / In dem die Zeiten alle gegenwärtig« / »O cara piota mia che sì t’insusi, / che, come veggion le terrene menti / non capere in 39 Dies wurde bereits von Valentin Rose, Die Lücke im Diogenes Laërtios und der alte Übersetzer, in: Hermes 1 (1886), 367–397, nachgewiesen. 40 Convivio 2.13.26; Opere, Bd. 2, 320: »perfettissima figura ..., che conviene però avere ragione di fine.«

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trïangol due ottusi, / così vedi le cose contingenti / anzi che sieno in sé, mirando il punto / a cui tutti li tempi son presenti« (Par. 17.13–18). Offensichtlich ist es kein Zufall, dass die Überlegungen zur Kontingenz und zu einem geometrischen Problem hier ebenso zusammengehen wie in Canto 13; Dante schreibt seinem Vorfahren ein Wissen über sein eigenes zukünftiges Leben zu, das so sicher und notwendig ist wie das eines Geometers. »Die Kontingenz... / ... / ist ganz gemalt im ewigen Angesichte« / »La contingenza... /... / tutta è dipinta nel cospetto etterno« (Par. 17.37–39). Es ist nicht möglich, hier zu erörtern, ob das Argument, das Dante, inspiriert von Boethius, vorbringt, um zu erklären, warum das göttliche Vorherwissen mit dem freien Willen vereinbar ist (Par. 17.40–42), gültig ist oder nicht. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass die ruhige Vision der Seelen, die aus der Zeit gefallen sind, eine Vision, die mit dem mathematischen Wissen notwendiger Wahrheiten verglichen wird, auch von der noch lebenden und gefährlichen Widrigkeiten ausgesetzten Person nach­ geahmt werden kann. Wenn Dante erklärt, er sei »vierschrötig den Schicksalsschlägen gegenüber« / »ben tetragono ai colpi di ventura« (Par. 17.24), verwendet er ein Wort griechischen Ursprungs (wörtlich »Viereck«), dessen semantische Nähe zu »trïangol«, also »Dreieck«, ihm nicht entgangen sein kann, obwohl es im spezifischen Kontext des Gesangs eine ganz andere, metaphorische Bedeutung erhält. Aber bei näherer Betrachtung sind die Haltung, die die ewigen Wahrheiten der Geometrie erfasst, und die Haltung, die sich vom Unglück nicht beirren lässt, einander ähnlich, denn beide sind in etwas verwurzelt, das die empirische Welt übersteigt. In welchem Sinne ist das Theorem, wonach die Summe der Winkel in einem Dreieck gleich einem gestreckten Winkel ist41 (und daher nicht gleich zwei stumpfen Winkeln sein kann),42 mit dem Euklid, Elemente, 1.32. Mir ist klar, dass der von Dante formulierte Satz allgemeiner ist und nicht den Schluss zulässt, dass die Summe der Winkel eines Dreiecks gleich einem gestreckten Winkel ist, weil er mit einer Summe, die kleiner als ein gestreckter Winkel ist, vereinbar ist. Dante erwartet jedoch, dass der Leser weiß, dass die Winkelsumme auch nicht kleiner als ein gestreckter Winkel ist, und dass er diese Information selbständig hinzufügt. Thomas von Aquin (Summa contra gentiles, 2.25.14; Opera omnia, 2:30) ist genauer, wenn er feststellt, dass selbst Gott kein Dreieck erschaffen kann, dessen Winkelsumme von einem gestreckten Winkel abweicht, beschränkt seine Behauptung aber ausdrücklich auf geradlinige Dreiecke. Offensichtlich kannte er auch sphärische Dreiecke. (Menelaos von Alexandria war im 12. Jahrhundert von Gerhard von Cremona aus dem Arabischen übersetzt worden.) Vielleicht hatte 41

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Theorem von Thales verbunden? Der Beweis, den uns Euklid gibt,43 der im 12. Jahrhundert zweimal ins Lateinische (aus dem Arabischen) übersetzt wurde und daher den mathematischen Gesprächspartnern Dantes gut bekannt war, lautet wie folgt. Ein Dreieck ABC sei in einen Halbkreis mit dem Mittelpunkt O eingeschrieben; die Seite AB sei der Durchmesser und der Scheitelpunkt C liege an einem beliebigen Punkt des Umfangs. Verbindet man C mit O, so erhält man zwei gleichschenklige Dreiecke, da OA und OC bzw. OC und OB die Radien des Kreises sind; daher OAC=OCA und OBC=OCB. Das bedeutet, dass der Winkel ACB die Summe von OAC und OBC ist. Aber der Außenwinkel von ACB ist nach demselben Satz I 32 der Elemente gleich der Summe der entgegengesetzten Innenwinkel; daher sind ACB und sein Außenwinkel gleich, und das bedeutet, da sie zusammen einen gestreckten Winkel bilden, dass jeder von ihnen ein rechter Winkel sein muss. Der Satz aus Par. 17.15 ist also die Voraussetzung des Satzes aus Par. 13.101–102. Aber dieser letzte Satz ist selbst die Voraussetzung für das dritte geometrische Problem, das in der Commedia auftaucht, nämlich das Problem der Quadratur des Kreises, das am Ende des letzten Gesangs der Commedia, also an einer Stelle größten Nachdrucks, vorgestellt wird.44 »So wie der Geometer, der sich mühet, / Den Kreis zu messen, und mit allem Denken / Doch jene Regel, die er braucht, nicht findet, / So ging es mir bei diesem neuen Bilde: / Ich wollte sehn, wie sich das Bild zum Kreise / Verhält und wie es darin Raum gefunden. / Doch reichten dazu nicht die eignen Flügel:« / »Qual è ’l geomètra che tutto s’affige / per misurar lo cerchio, e non ritrova, / pensando, quel principio ond’ elli indige, / tal era io a quella vista nova: / veder voleva come si convenne / l’imago al cerchio e come vi s’indova; / ma non eran da ciò le proprie penne:« (Par. 33.133– 139) Die Unfähigkeit des menschlichen Geistes, Gott vollständig zu begreifen und sogar die eigene Erfahrung verbal auszudrücken, wird also mit jenem geometrischen Problem verglichen, das die Mathematiker seit dem fünften Jahrhundert v. Chr. quälte und erst Dante davon gehört und wollte diejenige Möglichkeit ausschließen, die eine größere Versuchung darstellt? 43 Elemente, 3.31. 44 Dies ist das einzige Problem, das Michele Rak in seinem Artikel »Geometria« in der Enciclopedia Dantesca, Bd. 2, Roma 1971, 119–121 erörtert. Die beiden anderen Passagen und erst recht ihr Zusammenhang mit der dritten werden völlig ignoriert.

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1882 gelöst wurde, als Ferdinand von Lindemann die Transzendenz von π und damit die Unmöglichkeit bewies, ein Quadrat mit einem Flächeninhalt, der dem eines gegebenen Kreises gleich ist, nur mit Lineal und Zirkel zu konstruieren. Aber schon Dante scheint skeptisch zu sein, was die Lösbarkeit des Problems betrifft.45 Gleichzeitig ist das Vertrauen in eine mögliche Lösung naheliegend, denn es ist einfach, einen Kreis mit einem Quadrat zu umschreiben bzw. ihm ein Quadrat einzuschreiben (im zweiten Fall durch Spiegelung des gleichschenkligen Dreiecks mit dem Durchmesser als Basis an diesem als Achse). Und es ist nicht unmittelbar plausibel, dass sowohl ein Quadrat, das größer als ein gegebener Kreis ist (das umschriebene), als auch ein kleineres (das eingeschriebene) konstruierbar sind, nicht aber ein Quadrat, das dem gegebenen Kreis entspricht. Außerdem gelang es Hippokrates von Chios bereits im fünften Jahrhundert v. Chr., eine krummlinige Figur zu quadrieren.46 Wenn wir in einen Halbkreis mit dem Radius r ein gleichschenkliges (und wegen des Satzes von Thales notwendigerweise rechtwinkliges) Drei­ eck ABC einschreiben (AB sei der Durchmesser des Kreises) und über die Seite AC einen weiteren Halbkreis konstruieren, ist die Fläche, die durch den neuen Halbkreisbogen und die Hälfte des ersten Halbkreis­ bogens begrenzt wird, das sogenannte Möndchen (Lunula), gleich der Hälfte des Dreiecks. Der Beweis lautet im wesentlichen wie folgt (ich vereinfache ihn leicht gegenüber dem Originaltext von Eudemos): Die Fläche des Quadranten des ersten Kreises ist r2 π/4 – aber das Gleiche gilt für den Halbkreis mit Radius p= 2 r /2,   dessen Fläche die Hälfte von 2 r2 π/4 beträgt. (Daraus folgt natürlich nicht, dass der ganze Kreis quadrierbar ist.) Der große arabische Gelehrte Alhazen (965–1039), dessen Schriften zur Optik die Grundlage der Perspectiva Witelos bilden, eines Zeitgenossen Dantes – dessen Interesse an dieser Disziplin in der Commedia verschiedentlich bezeugt ist (Purg. 15.16–21, Par. 2.94–105) –, konnte eine allgemeinere Lösung finden, die nicht auf den gleichschenkligen Fall beschränkt ist. (Auch hier ist der Beweis einfach: Der Satz des Pythagoras reicht aus, um zu verstehen, dass die Summe der beiden Möndchen gleich dem Dreieck Siehe auch Convivio 2.13.27 und De monarchia 3.3.2; Opere, Bd. 2, 320 und 1232. Zu seinen Arbeiten siehe Thomas Heath, A History of Greek Mathematics, New York 1981, 183–200: ›Hippocrates’s quadrature of lunes‹. Eudemos’ Bericht ist uns von Simplikios überliefert worden (Simplicii in Aristotelis Physicorum libros quattuor priores commentaria, hg. von Hermann Diels, Berlin 1882, 54–69). 45

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ABC sein muss.) Aber die Methode der Lunulae war auch im Westen bekannt; wir finden sie zum Beispiel in De quadratura circuli per lunulas (Über die Quadratur des Kreises durch Möndchen), einem Werk, das Robert Grosseteste zugeschrieben wird (und vielleicht von einem seiner Schüler stammt). Auch der florentinische Codex De lunularum quadratura – der traditionell Leon Battista Alberti zuge­ schrieben wurde, in Wahrheit aber aus dem 14. Jahrhundert stammt, wie kürzlich nachgewiesen wurde47 – beweist, dass die Methode im Florenz des 14. Jahrhunderts bekannt war. Im 15. Jahrhundert beschäftigte sich der große Theologe und Philosoph Nicolaus Cusanus auf technische Weise mit dem Problem, zweifellos auch, weil er an einer mathematischen Veranschaulichung metaphysischer und theo­ logischer Strukturen interessiert war, wie das Ende des ersten Buches von De docta ignorantia (Über gelehrte Unwissenheit) zeigt. Und dass Dante die Commedia mit dem Hinweis auf die Schwierigkeiten des Geometers bei der Bewältigung dieses Problems abschließt, geschieht sicherlich, um die Grenzen der menschlichen Vernunft (deren große theoretische Errungenschaften in Canto 13 dargelegt wurden) dort aufzuzeigen, wo es um die Gotteserkenntnis geht.48 Schließlich ist der letzte Führer auf Dantes Reise Bernhard, ein Mystiker mit wenig Sympathie für die aufkommende Scholastik. Dantes intellektuelle Schuld gegenüber der Scholastik ist, wie wir gesehen haben, enorm und wird von ihm anerkannt; aber mit der Einführung des Problems der Quadratur des Kreises wollte Dante ausdrücklich betonen, dass trotz ihrer intellektuellen Triumphe die Vernunft ihre Grenzen hat. Man muss nicht mit Dante übereinstimmen (man könnte z. B. darauf bestehen, dass die Mathematik endgültig die Unmöglichkeit bewiesen hat, ein Quadrat mit einem Flächeninhalt zu konstruieren, der dem eines gegebenen Kreises gleich ist), aber es ist offensichtlich, dass dies die Überzeugung ist, die Dante zum Ausdruck bringt. Ein weiteres Argument, das beweist, dass Dante sich auf das Theorem des Thales bereits im Hinblick auf die Anspielung des letzten Gesangs bezieht, ergibt sich aus seiner Kritik an Parmenides, Melissos und »Brisso« als Philosophen, die nicht genug differenzierten und ohne Methode vorgingen (Par. 13.124–126). Dante erwähnt die bei­ Dominique Raynaud, Le traité sur la quadrature des lunules attribué à Leon Battista Alberti, in : Albertiana 9 (2006): 31–68. 48 Das Thema wurde mit Dantes Reaktion auf das Aufleuchten Christi vorweggenom­ men (Par. 14.103–105). 47

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den Eleaten auch in De monarchia,49 und dass der Monismus von Parmenides und Melissos dem Geist des ›distinguo‹, der unseren Gesang beseelt, fremd ist, ist für den Gebildeten sofort ersichtlich. Aber wahrscheinlich ist selbst dieser von dem dritten Namen über­ rascht und fragt wie Alessandro Manzonis Don Abbondio: »Brisso! Wer war das?« In solchen Fällen muss der Interpret immer bedenken, dass Dante seine Ausführungen nicht einfach zum bloßen Zwecke der Zurschaustellung von Gelehrsamkeit mit hochklingenden Namen anreichern wollte, sondern dass der Name an der Stelle, an der er steht, eine konkrete Funktion hat: Er bildet in der Tat die Brücke zwischen dem geometrischen Problem des dreizehnten und dem des letzten Gesangs. Inwiefern? Bryson von Herakleia wird von Aristoteles auch in der Rhetorik genannt und für seine Lehre kritisiert, dass es keine unanständigen Ausdrücke in der Sprache geben könne (1405b6–33). Obwohl das Werk zu seiner Zeit bereits zweimal ins Lateinische über­ setzt worden war, hat Thomas es nicht kommentiert, und es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Dante diese Passage im Sinn hatte, da sie nicht mit dem Thema des Gesangs zusammenhängt. Stattdessen bezieht er sich sicherlich auf die Stellen im Organon, in denen Aristoteles die Theorien Brysons erörtert. Sie finden sich in den Zweiten Analytiken 75b40–76a3 und in den Sophistischen Widerlegungen 171b11–18, und zwar beide Male mit Bezug auf die Frage der Quadratur des Kreises.50 (In der zweiten Passage werden auch die Lunulae des Hippokrates kritisiert.) Die Stellen deuten vieles nur an, aber es scheint, dass Bryson zu allgemein argumentierte: Er bestand nämlich darauf, dass es ein Quadrat mit dem gleichen Flächeninhalt wie ein gegebener Kreis geben müsse, da es ein größeres und ein kleineres gebe, ohne jedoch eine konkrete Konstruktion der spezifischen Fläche anzubie­ ten.51 Sowohl Thomas in seinem Kommentar zum neunten Kapitel des ersten Buches der Zweiten Analytiken52 als auch Kilwardby53 erörtern diese Stelle.

3.4.4; Opere, Bd. 2, 1258. Die erste aristotelische Stelle wurde bereits im Ottimo Commento zitiert, der sie jedoch nicht mit der Anspielung auf die Quadratur des Kreises am Ende der Commedia in Verbindung bringt (L’Ottimo Commento della Divina Commedia, 3 Bände, a cura di Alessandro Torri, Pisa 1827–1829, 3:323–324). 51 Zu den Einzelheiten siehe Heath, A History of Greek Mathematics, 223–225. 52 1.17. 2, Opera omnia, 4:281. 53 De ortu scientiarum, 174 (§ 512). 49

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Nach den drei Philosophen erwähnt Dante zwei christliche Häre­ tiker, den Modalisten Sabellius und den Subordinationisten Arius, von denen der erste nicht genug zwischen Vater und Sohn unterschie­ den hat, während der zweite dies viel zu stark getan hat. Meines Wissens ist noch nicht erklärt worden, warum der Übergang von den eleatischen Philosophen zu den Häretikern für Dante selbstver­ ständlich war.54 Albertus Magnus und Thomas waren nämlich davon überzeugt, dass der Eleatismus in ihrem Jahrhundert in der Gestalt Davids von Dinant (der von Dante jedoch nie erwähnt wird) wieder aufgetaucht war. Die den Eleaten und David gemeinsame Position ist ein Pantheismus, der Formen und Akzidenzien auf etwas Subjektives reduziert, wie es laut Albert bei Parmenides und Melissus geschehen sei, und wie »immer noch viele behaupten, wobei der Vater von deren Irrtum Alexander und David von Dinant ist«.55 An einer anderen Stelle lesen wir, dass »David Manthensis« (wahrscheinlich David von Dinant) Xenophanes zitierte, der schon in der Antike, wahrscheinlich irrtümlich, mit den Eleaten in Verbindung gebracht wurde;56 und an einer dritten Stelle werden »Xenophanes, et David de Dinant« zusam­ men erwähnt.57 Und auch bei Thomas lesen wir im Kommentar In quattuor libros sententiarum: »Wie Parmenides sagte: und auch einige moderne Philosophen sind diesen alten Denkern gefolgt, wie David von Dinant.«58 Dies ermutigte Dante wahrscheinlich, die Eleaten mit anderen Häretikern in Verbindung zu bringen, die er für theologisch wichtiger hielt. Um auf die drei geometrischen Anspielungen zurückzukommen, scheint es mir daher recht plausibel zu sein, dass Dante sie bewusst ausgewählt hat, weil sie miteinander verbunden sind, wie so viele andere Dinge in der Komödie auch, aber in diesem Fall auf eine 54 Giorgio Stabile erwähnt ihn nicht in dem Artikel »Parmenides« in der Enciclopedia Dantesca, Bd. 4, Roma 1973, 311–314 und zitiert auch keine der Stellen, die in meinem Text im Folgenden erörtert werden. 55 »adhuc multi dicunt, quorum pater erroris est Alexander et David de Dinant.« B. Alberti Magni, Opera omnia, Bd. 3, cura ac labore Augusti Borgnet, Paris 1890, 37 (Physicorum libri VIII, lib. I, tr. II, ch. X). Wir wissen nicht, wer »Alexander« ist – möglicherweise ein arabischer Philosoph. 56 B. Alberti Magni, Opera omnia, Bd. 35, Paris 1896, 25 (Secunda pars Summae de creaturis, qu. 5, art. 2). 57 B. Alberti Magni, Opera omnia, Bd. 33, Paris 1895, 42 (Summae theologiae pars secunda, tr. 12, qu. 72, membr. 4, art. 2). 58 »ut Parmenides dixit: et illos etiam antiquos philosophos secuti sunt quidam moderni; ut david de dinando.« (2, dist. 17, qu. 1, art. 1. Opera omnia, 1:171)

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deduktive Art und Weise: Der Satz des Thales setzt in seinem Beweis den Satz über die Summe der Winkel des Dreiecks voraus und ist die Grundlage der Lunulae, die die trügerische Hoffnung (die, wie mir scheint, von Dante nicht geteilt wurde) auf die Möglichkeit einer Quadratur des Kreises nährten. Indem er uns sowohl eine Voraus­ setzung als auch eine Konsequenz des in Canto 13 besprochenen Theorems vor Augen führt, lässt Dante uns in gewisser Weise die Natur der theoretischen Vernunft in ihrem modus operandi erkennen und appelliert an unser Gedächtnis, das eine ebenso notwendige Bedingung für das Verständnis seines Textes ist, wie es schon eine Bedingung für die Rückkehr des Pilgers zur Diskussion über das Problem von Salomos Weisheit gewesen war. Wir wissen nun, dass wir uns Salomo nicht als Modallogiker oder Geometer vorstellen sollen, obwohl die traditionelle Zuschreibung der Weisheit an Salomo solche Erwartungen geweckt haben könnte. Möglicherweise mit dem Ziel, sie anderswohin zu lenken, lässt Dante Thomas schon bei der Vorstellung Salomos in Par. 10 erklären, dass das fünfte Licht »solche Liebe ausstrahlt« / »spira di tale amor« (110), und verbindet damit den König mit dem Hohelied als seinem charakteristischsten Werk, das ausdrücklich in Purg. 30.11 zitiert wird.59 Wenn Salomo in Canto 14 zu sprechen beginnt – denn obwohl er nicht namentlich genannt wird, kann nur er die Person sein, die als »göttlichstes der Lichter« / »luce più dia« (Par. 14.34) beschrieben wird –, erklärt er Dante die Zunahme der Lichthaftigkeit der Seelen, wenn sie wieder mit ihrem »herrlichen und heiligen Fleisch« / »carne glorïosa e santa« verbunden sein werden (Par. 14.43). Auch dies steht im Einklang mit dem Bild Salomos als Verfasser des Hohelieds, eines Werkes, dessen fleischliche Bedeutung nach der mittelalterlichen Exegese nichts anderes als eine Allegorie der Liebe der Seele zu Gott ist.60 Es ist jedoch möglich, dass Dante bei der Zuschreibung dieser

59 Später sehen wir den ersten Vers der Weisheit »Liebt die Gerechtigkeit, ihr, die ihr auf Erden herrscht« (»Diligite iustitiam qui iudicatis terram«) durch die Figuren dargestellt, die durch den Flug der Seelen am Jupiterhimmel entstehen (Par. 18. 91– 93). Man beachte jedoch, dass dies ohne ausdrücklichen Bezug auf Salomo geschieht, da die Seele des Königs von Israel unter den Seligen am Sonnenhimmel erscheint. 60 Rati (Dal cerchio al centro, 780) betont zu Recht, dass Salomo zwar Christus und Adam an theoretischem Wissen unterlegen ist, dies aber keineswegs bedeutet, dass er in der Theologie unwissend sei.

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Diskussion an Salomo auch an Weisheit 3.7 dachte: »Sie werden aufleuchten, und wie Funken werden sie im Stoppelfeld stieben.«61 Die Lehre dieser großen erkenntnistheoretischen Reflexion, die die Klugheit von der theoretischen Erkenntnis abgrenzt und innerhalb dieser verschiedene Ebenen – die naturphilosophische, die logische, die metaphysische und die mathematische – unterscheidet und die vier Disziplinen des Quadriviums nennt oder darauf anspielt, ist allgemeiner: Es ist eine Ermahnung gegen den Leichtsinn im Urteil, der gerade deshalb gefährlich ist, weil die Leidenschaft, wenn sie sich einmal im menschlichen Geist eingenistet hat, es dem Verstand nicht erlaubt, sich vom Irrtum zu befreien, und die oft durch den Mangel an Differenzierung verursacht wird: »Denn der steht wohl am tiefsten unter Toren / Der Ja und Nein sagt ohne Unterscheidung / Sowohl beim einen wie beim andern Schritte« / »ché quelli è tra gli stolti bene a basso, / che sanza distinzione afferma e nega / ne l’un così come ne l’altro passo« (Par. 13.115–117). Der letzte Vers kann keine überflüssige Wiederholung von Bejahung und Verneinung als zwei Formen des Urteils sein, sondern muss sich auf unterschiedliche Inhalte beziehen, und der indirekte und unmittelbare Kontext macht deutlich, dass Dante sowohl die irdische Welt als auch das Jenseits im Sinn hat. Nachdem er die bereits erwähnten eleatischen Philosophen und die Häretiker wegen ihrer Irrtümer kritisiert hat, warnt Dante vor der Gefahr, voreilige Urteile über das Heil oder die Verdammnis der noch lebenden Menschen zu fällen, indem er die Welt des Ackerbaus, die zuvor im selben Gesang (34–36) als Metapher verwendet wurde, als Beispiel nimmt. »Nicht allzu sicher sollten doch die Menschen / Im Urteil sein, wie der, der das Getreide / im Felde schätzt, noch eh es reif geworden. / Denn ich sah erst den ganzen Winter über / Den Strauch gar rauh und ungezähmt erscheinen, / Der später Rosen trug auf seiner Spitze; / ... Drum sollten Hinz und Kunz doch ja nicht glauben, / Wenn sie den stehlen, jenen opfern sehen, / Auch schon in Gottes Ratschluss ihn zu schauen, / Denn jener kann noch steigen, dieser fallen.« / »Non sien le gente, ancor, troppo sicure / a giudicar, sì come quei che stima / le biade in campo prima che sien mature; / ch’ i’ ho veduto tutto ’l verno prima / lo prun mostrarsi rigido e feroce, / poscia portar la rosa in su la cima; /... Non creda donna Berta e ser Martino, / per vedere un furare, altro offerere, / vederli dentro al consiglio divino; / ché quel può surgere, e quel può cadere« (Par. 61

»Fulgebunt et tamquam scintillae in harundineto discurrent.«

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13.130–135 und 139–142). Das »surgere« des letzten Verses erinnert offensichtlich an das »surse« von V. 106, und das Thema vertieft die in Canto 10 begonnene Diskussion über Salomos eschatologisches Schicksal, während die Ermahnung, nicht vorschnell zu urteilen, ein anderes Werk zitiert, das im Mittelalter Salomo zugeschrieben wurde, nämlich den Prediger (5.1). Sicherlich ist dies auch eine der verschiedenen Strategien, die Dante benutzt, um den enzyklopädischen Charakter seines Werkes zu gewährleisten, der sich auch in seinem Plurilinguismus manifestiert: Nachdem er uns auf hohe Abstraktionsniveaus geführt und uns mit einer rein theoretischen Weisheit konfrontiert hat, die sich mit abstrakten Problemen befasst, bringt Dante uns wieder mit der Erde in Verbindung, auf der wir leben und uns ernähren müssen und auf der das Wichtigste entschieden wird – ob wir gerettet werden oder nicht. Und so wie im theoretischen Bereich auch ein feiner Verstand für Irrtümer anfällig ist, so beanspruchen wir leicht, auch wenn wir uns nicht mit allgemeinen Problemen, sondern mit dem konkreten Problem der Rettung eines einzelnen Menschen befassen, mehr zu wissen, als uns wirklich bekannt ist. Natürlich hat sich jeder moderne Leser der Commedia mehr als einmal gefragt, ob anstelle von »ser Martino« nicht »ser Dante« stehen sollte, aber Dante als Dichter würde wahrscheinlich antworten, dass er nicht über Menschen urteilt, die noch leben (obwohl das nicht immer stimmt; man denke nur an Clemens V. in Inf. 19.82–87), und dass sein Urteil auf jeden Fall weniger voreilig ist, weil es auf einer komplexen metaphysischen und moralischen Schau der Welt beruht, die donna Berta und ser Martino versagt ist.62 Das Bewusstsein der eigenen Irrtumsanfälligkeit war bei Dante wahrscheinlich unterentwickelt, denn er wusste, und darin irrte er nicht, dass er die Weltanschauung des mittelalterlichen Katho­ lizismus in dem größten Kunstwerk dieser Epoche zum Ausdruck gebracht hatte.

62 So zu Recht Teodolinda Barolini, Dante’s Heaven of the Sun as a Meditation on Narrative, Lettere Italiane 40 (1988), 3–36, 34–35: »Although donna Berta and ser Martino err when they attempt to deduce God’s judgment on the basis of what they see…, our poet has been appointed God’s scribe, and thus is capable of seeing at least as far into the divine counsel as is necessary to write his poem.«

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Warum erscheinen Purgatorio XXX 17–18 »hundert ... Diener und Boten ewigen Lebens«? Vorschlag für eine metapoetische Lesart1

Dantes äußerst anspielungsreicher Stil, die außerordentliche Dichte seines Textes, der kein einziges überflüssiges Wort zu enthalten scheint, und seine ausdrückliche Aufforderung zu einer allegorischen Lesart der Commedia führten ab dem 14. Jahrhundert unweigerlich zu Interpretationsvorschlägen, die im Gegensatz zu vielen anderen philologischen Hypothesen weder verifizierbar noch falsifizierbar sind. Natürlich gäbe es für die Validierung vieler dieser Vorschläge (nicht aller) ein definitives Kriterium – wenn der Dichter selbst bestätigen würde, dass der Interpret das erfasst hat, was jener im Sinn gehabt hat.2 Da uns aber ein solcher Zugang zu Dante nicht mehr gewährt ist, ist es nicht immer möglich zu entscheiden, welche von mehreren miteinander unvereinbaren Interpretationen zu bevorzu­ gen ist. Unsere Interpretationen haben oft nur einen bestimmten Grad an Wahrscheinlichkeit, manchmal einen höheren, manchmal einen niedrigeren. Wodurch wird dieser Grad bestimmt? Das entscheidende Kriterium scheint mir die Kohärenz der vorgeschlagenen Interpreta­ tion mit dem Kontext der Passage und mit dem Gesamtwerk, sowohl der Commedia als auch oft der kleineren Werke, zu sein. Diesem Kriterium unterwerfe ich die folgende Interpretation der Tatsache, dass hundert Engel Beatrice im irdischen Paradies willkom­ men heißen:

1 Ich danke Jieon Kim, Paul Hosle und insbesondere Antonello Borra für wert­ volle Anregungen. 2 Benedetto Croce schreibt zu Recht über Dantes Allegorien: »Um sicher zu gehen, braucht man, streng genommen, das ipse dixit. Wenn der Autor in Sachen Poesie oft der schlechteste Kritiker ist, ist er in Sachen Allegorie immer der beste.« (La Poesia di Dante, Bari3 1922, 13: »Per la certezza ci vuole, a rigor di termini, l’ipse dixit. Se, in fatto di poesia, l’autore è sovente il peggiore dei critici, in fatto d’allegoria è sempre il migliore.«)

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»hundert ... Diener und Boten ewigen Lebens«

So stiegen aus dem himmlischen Gefährte empor hundert, ad vocem tanti senis, Von Dienern und von Boten ewigen Lebens cotali in su la divina basterna si levar cento, ad vocem tanti senis, ministri e messagger di vita etterna.3

Meine Frage ist: Warum heißen gerade hundert Engel Beatrice im irdischen Paradies willkommen? Wenn ich richtig sehe, ist diese Frage noch nie eingehend untersucht worden, sicherlich weil sie eine einer weiteren Betrachtung nicht würdige Quisquilie zu sein scheint. Aber ich hoffe, zumindest zeigen zu können, dass die von mir vorge­ schlagene Antwort, falls sie richtig ist, wichtige Konsequenzen für die Lektüre der gesamten Commedia hat. Ich werde zunächst einige Stellen der Sekundärliteratur durchgehen (I), dann meine eigene Interpretation vortragen (II) und schließlich das, was sie für Dantes Selbstinterpretation bedeutet, gegen einen möglichen Einwand ver­ teidigen (III).

I. Die Standardauslegung der Tatsache, dass gerade hundert Engel Beatrice empfangen, ist einfach, dass »hundert« allgemein für eine große Zahl steht. Fälschlicherweise können wir sogar als Paraphrase des Textes lesen: »Sofort steigen auf dem Wagen unzählige Engel im Fluge auf.«4 Vorsichtigere Ausleger sind sich darüber im Klaren, dass dies im Text nicht gesagt wird, glauben aber, dass es impliziert ist. Bereits der Optimus erklärt: »hundert, das heißt, eine große und vollkommene Zahl«.5 Unter den modernen Kritikern genügt es, zwei Purg. XXX 16–18. Ich zitiere das Werk nach der Ausgabe von Giorgio Petrocchi: Dante Alighieri, La Commedia secondo l’antica vulgata, 4 Bände, Florenz 1994. Für die deutsche Übersetzung benutze ich: Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, übs. von Hermann Gmelin, Stuttgart 1980, die ich aber immer wieder korrigiere, und zwar nicht nur in der Angleichung der Orthographie, auch auf Kosten der Silbenzahl der Verse. So heißt es bei Gmelin »wohl Hunderte«, was sachlich falsch ist. 4 Giorgio Cavallini, »Canto XXX«, in: Lectura Dantis Neapolitana: Purgatorio, ed. Pompeo Giannantonio, Neapel 1989, 579–593, 581: »sùbito sul carro si alzano in volo innumerevoli angeli«. 5 L’Ottimo Commento della Divina Commedia, testo inedito d’un contemporaneo di Dante...., 3 Bde., Pisa 1837–1839, II 528: »cento, cioè numero grande e perfetto«. 3

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zu nennen: »Hundert bedeutet eine unbestimmte große Zahl«, erklärt Anna Maria Chiavacci Leonardi;6 und Ronald L. Martinez und Robert M. Durling fügen hinzu, dass es keinen Zweifel gibt: »›a hundred‹ is no doubt to be taken as indicating an indefinitely large number«.7 Ich gestehe, dass bei mir Zweifel verbleiben. Sicher, Dante gibt die genaue Zahl manchmal absichtlich nicht an. Aber wenn er dies bei Personen tut, geschieht es auf eine ganz andere Weise. Da es sich an unserer Stelle um Engel handelt (der Begriff wird in V. 82 des Canto explizit verwendet, während sie in XXXI 77 als »erste Geschöpfe« / »prime creature« bezeichnet werden), lohnt sich ein Blick auf eine andere Stelle, wo von einer großen Zahl von Engeln die Rede ist. In Par. XXXI 131 lesen wir: »Ich sah mehr als tausend feiernde Engel« / »vid’io più di mille angeli festanti«. Hier lesen wir nicht nur anstelle von »hundert« »tausend«, sondern Dante schreibt ausdrücklich, dass es mehr als tausend waren. Und diese Quantifizierung ist nicht auf die Seligen beschränkt; auch im Inferno ist mindestens dreimal von »mehr als tausend« / »più di mille« die Rede (V 67, VIII 82, X 118), ebenso im Purgatorio (XXI 96) und, ohne Bezug auf Engel, im Paradiso (XVIII 103). Man könnte erwidern, dass Dante eine Vorliebe für den Ausdruck »mehr als tausend« hatte, dass er sich aber im Falle von »hundert« mit der genauen Zahl begnügte, um auf eine unbestimmte Zahl anzuspielen. Dies wäre jedoch sehr merkwürdig, da tausend viel größer ist als hundert, und man kann diese Hypothese leicht widerlegen, indem man Inf. XXVIII 52–53 zitiert: »Als sie dies hörten, haben mehr als hundert / Im Graben halt gemacht, mich zu betrachten« / »Più fuor di cento che, quando l’udiro, / s’arrestaron nel fosso a riguardarmi...«. Damit ist meines Erachtens endgültig bewiesen, dass Dante sich nicht auf eine unbestimmte Zahl beziehen kann. Man könnte jedoch mit dem Optimus, der hier einer langen mittelalterlichen Tradition folgt,8 sagen, dass die Zahl nicht so sehr Größe als vielmehr Vollkom­ 6 Dante Alighieri, La Divina Commedia. Purgatorio, commento di Anna Maria Chiavacci Leonardi, Mailand 1994, 883: »cento indica un gran numero imprecisato«. 7 Dante Alighieri, The Divine Comedy. Vol. 2: Purgatorio, edited and translated by Robert M. Durling. Introduction and Notes by Ronald L. Martinez and Robert L. Durling, Oxford 2003, 520. 8 Siehe, um nur ein Beispiel zu nennen, Gregor den Großen: »Wir haben schon oben gesagt, dass die Zahl Hundert vollkommen sei, weil sie aus der Multiplikation von Zehn mit Zehn entsteht« (»Centenarium numerum, quia decies per denarium ducitur, iam superius diximus esse perfectum«; Gregorius Magnus, Homiliae in

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menheit bedeutet. Aber warum kehrt sie, ohne vom Wort »mehr« begleitet zu sein, dann nur einmal (XXII 23) im Paradiso wieder, wo es so viel Vollkommenheit gibt? Mir scheint die Interpretation vorzuziehen, die zwar die Vollkommenheit dessen, was mit dem Ausdruck gemeint ist, nicht leugnet, sich aber auf etwas bezieht, das wirklich mit der Zahl Hundert verbunden ist. Wenn frühere Interpreten nicht versucht haben, der Zahl einen realen Referenten zu geben, dann vielleicht deshalb, weil der allegorische Zug der Ecclesia triumphans im vorhergehenden Gesang sie erschöpft hat. Von Croces Entgegensetzung zwischen Rhetorik und Poesie beflügelt, schreibt Gorizio Viti über den Beginn unseres Gesangs: »Jetzt hat die große allegorische Konstruktion aufgehört: Mit dem Gefühl der Erwartung, das sich über die Szene ausbreitet, gewinnt die Erzählung ihre künstlerische Ebene wieder: Die Poesie kehrt zurück.«9 Erstens glaube ich nicht, dass wir Dantes Werk gerecht werden, wenn wir der Allegorie den künstlerischen Wert absprechen; und wenn es zweitens eine allegorische Bedeutung in unserem Vers gibt, dann ist sie anderer Art als die des neunundzwanzigsten Gesanges: Dort ist die Allegorie explizit und offensichtlich, hier (wenn es eine gibt) ist sie versteckt und indirekt, wie die Tatsache zeigt, dass sie noch nicht entdeckt wurde; und zweifellos ist die indirekte Art der Mitteilung eher der Poesie als der Rhetorik wesensgemäß. In der Tat wurde schon früh eine allegorische Deutung der hundert Engel vorgeschlagen, und zwar von einem besonders qualifi­ zierten Interpreten, nämlich von Pietro Alighieri. Da er seinen Vater in den letzten sechs Jahren seines Lebens zunächst nach Verona und dann nach Ravenna begleitete, ist es plausibel anzunehmen, dass er mit ihm über die Commedia gesprochen hat, auch wenn Dante, wie jeder große Dichter, sich vermutlich mit allgemeinen Andeutungen Hiezechielem prophetam, cura et studio Marcus Adriaen, Turnhout 1971 (=CCL 142), 324 (= II, Homilia VII 11)). In seiner Predigt über Lukas 15,4 über das verlorene Schaf wiederholt Gregor den Gedanken (»die Hundert ist eine vollkommene Zahl«, »centenarius perfectus est numerus«), interpretiert aber auch 100 als die Summe von 99+1 (Gregorius Magnus, Homiliae in Evangelia, Turnhout 1999 (=CCL 141), 301 (=Homilia XXIV 3)). – Zur Zahl Hundert im Mittelalter vgl. die grundlegenden Studien von Heinz Meyer, Die Zahlenallegorese im Mittelalter. Methode und Gebrauch, München 1975, 96–97, 177–178 und Heinz Meyer/Rudolf Suntrup, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, München 1987, 784–797. 9 Guida alla Divina Commedia, II. Il Purgatorio, Florenz8 1984, 81: »Ora la grande costruzione allegorica è cessata: col senso di attesa che si propaga sulla scena, il racconto ritrova il suo piano artistico: torna la poesia.«

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begnügt haben dürfte. An solche Hinweise mag sich der Sohn erinnert haben, als er um 1339 begann, seinen großen Kommentar zur Com­ media zu verfassen, der in drei Redaktionen und siebenundzwanzig Manuskripten erhalten geblieben ist. Ein so hervorragender DanteKenner wie Francesco Mazzoni bezeichnete ihn als »den wichtigsten, den die antike Dante-Exegese der Commedia zu widmen vermochte, und zwar wegen seiner tiefen Kenntnis des gesamten dantischen Denkens, seines engagierten Festhaltens an derjenigen Poetik, die diejenige Alighieris war, seiner philosophischen und scholastischen Gelehrsamkeit, seiner fruchtbaren Kenntnis, nun aus erster Hand, der klassischen Literatur (Ergebnis der Begegnung P.s mit dem veneziani­ schen Prähumanismus – insbesondere mit Guglielmo da Pastrengo –, aber auch mit Petrarca), die nun ausgiebig benutzt wird, um durch Vergleiche von Parallelstellen die Vorstellung von D. selbst als ›klassischem Dichter‹ im Rahmen einer gesuchten und gewollten Nachahmung der großen lateinischen Dichter zu begründen und zu belegen.«10 Das methodologische Prinzip, den Anfang von Canto XXX zu lesen, ohne das Ende von Canto XXIX zu vergessen, ist sicherlich auch nach modernen hermeneutischen Kriterien mehr als vernünftig. Pietro schreibt in der Tat in der zweiten Redaktion, die erst kürzlich vollständig veröffentlicht wurde: »Hundert Engel als Boten ewigen Lebens, anstelle derer eingesetzt werden müssen andere Verfasser der heiligen Schrift und die Kirchenlehrer.«11 In der dritten Redaktion ist Petrus sehr viel ausführlicher und zitiert vollständig eine Passage aus der Monarchia, die seiner Meinung nach den Zusammenhang zwischen den beiden Gesängen des Purgatorio erklärt. (Es sei daran erinnert, dass Pietro Alighieri in dem Gedicht »Morale delle Sette Arti« (»Moral der Sieben Künste«) seinen Vater gegen dessen Verur­ 10 »Alighieri, Pietro«, in: Enciclopedia dantesca, Rom 1970–1976, I 147–149, 148: »il più importante che l’antica esegesi dantesca abbia saputo dedicare alla Commedia: per la profonda conoscenza di tutto il pensiero dantesco, per l’impegnata adesione alla poetica che fu dell’Alighieri, per la dottrina filosofica e scolastica, per una fruttuosa conoscenza, ormai di prima mano, della classicità (frutto dell’incontro di P. col preumanesimo veneto – in particolare con Guglielmo da Pastrengo – ma anche col Petrarca) ora copiosamente assunta a instaurare e a mostrare, per raffronti paralleli, la nozione di D. lui stesso ›poeta classico‹ nell’ambito di una ricercata e voluta imitazione dai grandi poeti latini.« 11 Pietro Alighieri, Comentum. Redazione ashburnhamiano-barberiniana, 2 Bände, Rom 2021, II 836: »Centum angeli nuncii vitae aeternae, pro quibus accipi debent alii scriptores in sacra pagina et doctores Ecclesiae.«

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teilung wegen Ketzerei verteidigte, obwohl es nur wahrscheinlich, aber nicht sicher ist, dass er die Verurteilung der Monarchia durch Kardinal Bertrando del Poggetto im Sinn hatte.12) In Dantes politi­ schem Werk lesen wir, »dass einige heilige Schriften vor, andere mit, weitere nach der Kirche sind« (III 3.11; O II 1244).13 Der Kirche vorhergehend sind das Alte und das Neue Testament. (In diesem Zusammenhang zitiert Dante das Hohelied 1,3: »Zieh mich her hinter dir« / »Trahe me post te« – ähnlich führt in Purg. XXX 11 einer der »vierundzwanzig Greise« / »ventiquattro seniori« (Purg. XXIX 83), die die Bücher des Alten Testaments symbolisieren, in diesem Fall offensichtlich derjenige, der das Hohelied repräsentiert, den Vers 4,8 des Werkes an »Komm, Braut, aus Libanon« / »Veni, sponsa, de Libano«.) Zusammen mit der Kirche sind die wichtigsten Konzilien und die Werke von Kirchenlehrern wie Augustinus, nach ihr die Tradi­ tionen der Dekretalen. Nach Pietro symbolisieren die Blumen, die die Engel werfen, die Schriften und Bände dieser Heiligen, während die Engel die Tugenden der Cherubim darstellen, die die anderen Engel an Weisheit und Wissenschaft übertreffen.14 Trotz des Unterschieds zwischen den beiden Versionen – in der einen sind es die Engel, in der anderen die Blumen, die die heiligen Bücher nach dem Alten und Neuen Testament symbolisieren – besteht Pietro Alighieri darauf, dass die Begleitung Beatrices, »die in diesem gesamten Gedicht die genannte Theologe repräsentiert« (»figurantem in toto hac poemate dictam theologiam«), einen allegorischen Wert haben und sich auf andere Schriften beziehen muss, die für die Bildung der Theologie entscheidend waren.15 Die 12 Giovanni Crocioni, Le rime di Piero Alighieri precedute da cenni biografici, Città di Castello 1903, 67–75. 13 »quod quedam scriptura est ante Ecclesiam, quedam cum Ecclesia, quedam post Ecclesiam«. Ich zitiere die kleineren Werke nach den ersten beiden Bänden der Ausgabe von Marco Santagata: Dante Alighieri, Opere, Mailand 2011 und 2014, unter Verwendung der Abkürzung »O«. 14 Pietro Alighieri, Comentum super poema Comedie Dantis. A critical edition of the third and final draft of Pietro Alighieri’s Commentary on Dante’s The divine comedy, edited by Massimiliano Chiamenti, Tempe, Arizona 2002, 474: »accipiendo hos flores pro scriptis et voluminibus dictorum sanctorum, et dictos angelos proicientes eos flores pro cherubinorum angelorum virtutibus qui precellunt alios in sapientiam et scientiam.« 15 Vittorio Sermonti, Il Purgatorio di Dante, con la supervisione di Gianfranco Contini, Milano 1990, 472, sieht in der Hinwendung des wahren Volkes »zum Wagen … als zu seinem Frieden« / »al carro ... come a sua pace« (XXX 9) bereits eine Vorwegnahme

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These scheint mir recht plausibel, wenn man sowohl die politische Abhandlung als auch den Kontext innerhalb der Commedia berück­ sichtigt. Man bemerke, dass die Prozession in Canto XXIX nicht die Autoren der biblischen Bücher darstellt, die sich im himmlischen Paradies befinden, sondern die Bücher selbst – das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte erscheinen getrennt (92–93 und 136–137), obwohl Dante natürlich weiß, dass sie von demselben Autor stam­ men. Das gleiche gilt für das Evangelium nach Johannes, die drei ihm zugeschriebenen Briefe (die durch eine einzige Figur unter den »vier mit demutsvoller Erscheinung« / »quattro in umile paruta« dargestellt werden, die für die katholischen Briefe stehen), und die Offenbarung (92–93, 142, 143–144), deren Autor Dante fälschlicher­ weise, aber in Übereinstimmung mit seinen Zeitgenossen, mit dem des Evangeliums identifiziert (Inf. XIX 106–108). Johannes erscheint also mittels seiner Werke dreimal. Die Auslegung Pietros führt zwar auf den rechten Weg, ist aber nicht zufriedenstellend, und zwar aus zwei Gründen. Zunächst einmal erklärt Pietro nicht, warum es gerade hundert Engel sind.16 In der dritten Redaktion vermeidet er es sogar, ihre Zahl zu erwäh­ nen, und spricht nur von »so vielen Engeln« (»angelos tot«, 473), wahrscheinlich weil er sich darüber Rechenschaft gibt, dass er sie nicht erklären kann. Obwohl uns die Zuordnung der Zahl 24 zu den Büchern des Alten Testaments sehr künstlich erscheint, beruht sie auf der jüdischen Tradition, die von Hieronymus akzeptiert wurde. Aber inwiefern können die nachbiblischen christlichen Werke als hundert angesehen werden? Was sind die hundert Bücher, die Dante im Sinn hat? Ich spreche von Büchern, weil wir soeben gesehen haben, dass in der Prozession des vorhergehenden Gesanges gerade Bücher und nicht Autoren gemeint sind. des alsdann von Beatrice dargestellten Themas der Theologie, insofern als »die göttliche Wissenschaft.. voll allen Friedens ist« (»la divina scienza ... piena è di tutta pace«; Convivio II.14.19; O II 336). 16 Dasselbe gilt für jene Interpreten, die im Gefolge von Charles Singleton (Dante Studies 1: Commedia. Elements of Structure, Cambridge, Mass. 1954, 57) zweifellos mit gutem Grund die Engel, die Beatrices Abstieg im Purgatorio begleiten, mit der »Vielzahl von Engeln« verbinden, die in der Vita Nova nach Beatrices Tod »wieder aufstiegen und eine höchst weiße Wolke vor sich hatten« (»moltitudine d’angeli li quali tornassero in suso, ed aveano dinanzi loro una nebuletta bianchissima«; XXIII 7; O I 938). In der Tat zitiert Purg. XXX 115 den Titel des Frühwerks. Aber auch das erklärt nicht die konkrete Zahl, denn im Jugendwerk ist nur von »Vielzahl« die Rede.

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Der zweite Faktor, den Pietro ignoriert, ist eine Besonderheit der Engel, die sie dramatisch von den Figuren im neunundzwanzigsten Gesang unterscheidet. Die Prozession der Bücher (und der theologi­ schen und Kardinaltugenden) wird langsam durch Lichter und Töne angekündigt, bevor sie sichtbar wird, während es keine Spur einer Vorbereitung des Erscheinens der Engel gibt – es wird durch nichts vermittelt, obwohl es mit nichts Geringerem als der Auferstehung verglichen wird (13–18). Robert Hollander bemerkt: »We are not told whether they suddenly manifest themselves upon the chariot now just as Beatrice comes, or descended from the Empyrean with her, or with the chariot when it came to show itself to Dante in Eden.«17 Das letzte Mal werden die Engel in Purg. XXXI 77–78 genannt, und ihr Rückzug wird nie ausdrücklich erwähnt. Zu dieser letzten Passage bemerkt Robert Hollander: »Since Beatrice’s hundred angels are not referred to directly again, we can only conclude that, after this last act of theirs, they disappear, either into thin air or else to fly back up to the Empyrean, along with the rest of the Church Triumphant (see Purg. XXXII 89–90). While the text guarantees no solution, the second hypothesis seems the better one, if only because we have no reason to exempt them from the general exodus that occurs at that point, even if their arrival is not clearly accounted for…«.18 Ich gestatte mir, anderer Meinung zu sein. Dante ist ein zu erhabener Künstler, als dass ihm im entscheidenden dreißigsten Gesang ein Fehler unterlaufen sein könnte, und meiner Meinung nach wird dies durch die bewusste Symmetrie zwischen dem Auftritt und dem Abgang der Engel bestätigt.

II. Fassen wir unsere Ergebnisse zusammen: Die Zahl der Engel kann nicht zufällig sein. Der Kontext und die Auslegung Pietros machen es plausibel, dass die Engel für hundert Bücher stehen, die die Werke des Alten und des Neuen Testaments fortsetzen (ich wiederhole: hundert Bücher, die von viel weniger Autoren geschrieben worden sein könnten, im Prinzip sogar von einem einzigen Autor). Gleich­ 17 Dante Alighieri, Purgatorio. A verse translation by Jean Hollander and Robert Hollander. Introduction and notes by Robert Hollander, New York 2003, 629. 18 Op. cit., 653.

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zeitig ist ihr ontologischer Status flüchtiger als der der biblischen Bücher; man könnte fast meinen, dass sie nur in der Vorstellung des Dichters erscheinen, während innerhalb der Fiktion, die die Komödie darstellt, die Prozession im irdischen Paradies von höchster Realität ist. Erinnern wir uns daran, dass Dante schon während des Aufstiegs nicht nur Träume, sondern auch »ein ekstatisches Gesicht« / »una visïone / estatica« (Purg. XV 85–86) hatte und dass er sich zu Beginn des siebzehnten Gesangs in einer großartigen Apostrophe an die »Einbildungskraft« (»imaginativa«) (13) wendet, die ihm Beispiele bestraften Zorns vorführt, die im Gegensatz zu den Beispielen der frü­ heren Terrassen nicht an etwas Physischem, sondern nur im Inneren des Geistes dargestellt werden (22–24). Was könnte Dante im Sinn haben? Sicherlich etwas sehr Wich­ tiges, denn Canto XXX ist der Wendepunkt des gesamten Gedichts. In ihm kommt es zur Trennung von Virgil und zur Begegnung mit Beatrice, und nur in ihm erscheint, als Sphragis, der Name des Dichters (XXX 55) – »Dante« ist das erste Wort, das Beatrice an den Pilger richtet. In diesem Gesang, so kann man sagen, gelangt Dante zu seiner eigenen Selbsterkenntnis, sowohl seiner eigenen Schuld als auch seiner eigenen poetischen Berufung. Die zweite Cantica ist in der Tat nicht nur diejenige, in dem die meisten Prozesse stattfinden: Die Seelen der Toten, die sich läutern, steigen den Berg hinauf, während für die Verdammten und die Seligen jede Veränderung ausgeschlossen ist; und Dante selbst gelingt es in den letzten vier Gesängen, würdig zu werden, ins Paradies aufzusteigen. Das Purgatorio ist auch der metapoetischste Teil des Werkes – in Wahrheit reflektiert in ihm Dante über alle Künste, sowohl über die bildenden Künste, wie die Begegnung mit Oderisi da Gubbio und die zahlreichen Ekphraseis der Reliefs zeigen, die der Dichter auf seinem Aufstieg bewundert, als auch über die Musik, die bereits im zweiten Gesang von Casella vertreten wird. Der Läuterungsberg ist vor allem der Ort der Künstler, während in der Hölle die unvergesslichsten Figuren oft Politiker und im Paradies große Theologen sind. Sordello, Statius, Guido Guinizelli und Arnaut Daniel werden nicht in erster Linie wegen ihrer charakteristischen Laster erwähnt, sondern gerade wegen der Inspiration, die sie Dante gegeben haben, und die Prozession im neun­ undzwanzigsten Gesang fügt die andere Form der Literatur hinzu, ohne die die Commedia undenkbar und unverständlich wäre, nämlich die Bibel. Die Tatsache, dass die Engel, wenn sie zum ersten Mal ihren Mund öffnen (Purg. XXX 19-21), sowohl die Bibel (Matth. 21,9)

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als auch die Aeneis (VI 883) zitieren, drückt aus, dass die Commedia selbst eine Synthese aus antikem, insbesondere vergilischem, Epos und christlicher Tradition sein soll. (Es sollte jedoch hinzugefügt werden, dass, da Canto XXX Vergils schweigsamen Abschied darstellt, die metapoetische Lesart des Canto auch nahelegt, dass das neue Unternehmen des Paradiso – »das Wasser, das mich trägt, ward nie befahren« / »l’acqua ch’io prendo già non si corse« (Par. II 7) – das vergilische Modell transzendieren wird.) Es scheint mir mehr als legitim, Purg. XXX 19–21 metapoetisch zu lesen, da die Zitate sonst keinen Sinn ergeben – warum sollten die Engel die Worte eines heidnischen Dichters verwenden?19 Und nun wird, denke ich, klar, wofür die hundert Engel eine Allegorie sind. Im Gegensatz zu so vielen anderen versteckten Anspielungen, die nur Menschen großer Gelehrsamkeit entziffern können, ist diese Anspielung noch nicht verstanden worden, weil sie im Gegenteil allzu offensichtlich ist (wie in Edgar Allen Poes Kurzgeschichte The Purloined Letter (Der entwendete Brief) der Brief, der nicht entdeckt wird, weil er absichtlich an einem für alle sichtbaren Ort hinterlassen wurde). Die hundert Engel stehen meiner Meinung nach für die hundert Gesänge der Commedia selbst! Für Dante den Pilger existiert die Commedia natürlich noch nicht, aber für Dante den Dichter existiert sie.20 Nur letzterer bezieht sich bewusst auf die Commedia. Aber er kann sich auf sie beziehen, weil er sich an Diese Frage drängt sich auch dann auf, wenn man darauf besteht, dass die Engel, die ihn zitieren, Vergil übertreffen, indem sie seine Verzweiflung in Jubel umwandeln, wie Rachel Jacoff treffend schreibt: »The contrast between the context of the line in the Aeneid and that in Canto XXX could hardly be greater, and that contrast becomes an invitation to meditate on the differences between the two texts and the two world-views that subtend them. While Virgil mourns the defeat of hope and faith (both words are part of the description of Marcellus) by the stark finality of death, Dante transforms Anchises’ gesture into a joyous greeting, a sign of the triumph of hope and faith (and love) over death. Both Marcellus and Beatrice died before their promise was fulfilled, but Beatrice’s promise continues on after death.« (»Canto XXX. At the Summit of Purgatory«, in: Lectura Dantis. Purgatorio, ed. by Allen Mandelbaum, Anthony Oldcorn, Charles Ross, Berkeley/Los Angeles/London 2008, 341–352, 346–347) 20 Dante als Pilger und Dante als Dichter sind zwei verschiedene zeitliche Aus­ prägungen derselben Hauptfigur der Commedia. Natürlich müssen beide von der geschichtlichen Figur Dantes unterschieden werden, auf die sich die Literaturkritik bezieht, wenn sie von der Entstehung des Werks spricht. Aber die werkimmanente Analyse befasst sich nur mit Dante dem Pilger und Dante dem Dichter, der sich an seine Reise ins Jenseits erinnert (während der geschichtliche Dante sie erfunden hat). 19

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die hundert Engel erinnert, die vielleicht nur in der Phantasie des Pilgers erschienen sind und die ihn dazu inspirierten, ein Werk in hundert Gesängen zu schreiben, deren jeder beträchtliche künstleri­ sche Autonomie aufweist, ein Werk, das eine würdige Fortsetzung der früheren poetischen Tradition und der biblischen Bücher sein und das Beatrice und die christliche Theologie feiern wird.21 Da es Dante der Dichter und nicht Dante der Pilger, ist, der von diesen Engeln spricht, ist es für ihn kein Problem, seine Lieder »Diener und Boten ewigen Lebens« / »ministri e messagger di vita etterna« zu nennen (XXX 18). Sie erheben sich »zur Stimme eines so bedeutenden Greises« / »ad vocem tanti senis« – denn die Konzeption der Komödie ist letztlich vom Hohelied und seiner allegorischen Deutung der erotischen Liebe in religiösem Sinne inspiriert. Das »Hochgelobt, der du da kommst« / »Benedictus qui venis!« der Engel bezieht sich in seiner wörtlichen Bedeutung zweifellos auf Beatrice und nicht auf den Pilger Dante, da Beatrice christologische und mariologische Merkmale in sich vereint.22 Aber da die Engel die Idee der Commedia repräsentieren, segnen sie auch den zukünftigen Dichter. Sie werfen Blumen (XX 28–30), wie die Gesänge der Commedia das Gebäude der Theologie verschönern. An der Stelle, an der Beatrice den Pilger demütigt, der aus Scham ihren Blick nicht mehr erträgt und verstummt, »sangen 21 Ich schließe nicht aus, dass Dante die oben in Anm. 8 zitierte Stelle Gregors des Großen kannte, die 100 als die Summe von 99 und 1 interpretiert und die Zahl mit dem Gleichnis vom verlorenen Schaf in Verbindung bringt. In diesem Sinne könnten die hundert Gesänge der Komödie auf folgende Weise interpretiert werden: 1+33+33+33. Das erste Buch, das Proömium des gesamten Werks, handelt in der Tat von einem verlorenen Schaf, Dante, der in den anderen 99 Gesängen in die Ordnung der Welt (die in Wahrheit auch viele Verdammte umfasst) integriert wird. 22 Zu Beatrices marianischen Zügen siehe den kürzlich erschienenen Aufsatz von Jieon Kim, »From Compassio to Transitus: Marian Beatrice and Dante in the Inferno and the Purgatorio«, in: Italica 96 (2019), 400–420. Dass Dante das männliche »benedic­ tus« des Originals beibehält, erklärt sich zum Teil aus der christologischen Dimension Beatrices und nimmt zum Teil die eigentümliche Umkehrung der Geschlechter vorweg, die unseren Gesang charakterisiert: Virgil wird mit einer Mutter verglichen (45), Beatrice mit einem Admiral (58–60) und später mit einem Beichtvater (XXXI 5–6), der nicht nur männlich, sondern auch ein Priester sein zu müssen scheint. Es sei jedoch daran erinnert, dass Thomas von Aquin die Möglichkeit einer quasi-sakra­ mentalen (»quodammodo«) Beichte bei einem Laien anerkennt, wenn kein Priester vorhanden ist (Summa theologica Supplementum q. 8 a. 2, ad 1). Diese Praxis, die seit dem Tridentinischen Konzil aufgegeben wurde, taucht im zweiten Buch des Versepos WIllehalm Wolframs von Eschenbach auf (der mit der Gestalt Giburcs eine bemerkenswerte Vorläuferin Beatrices einführt, da diese Frau ebenfalls subtile theologische Argumente vorbringt).

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die Engel / sofort: ›In te Domine speravi‹«/ »li angeli cantaro / di sùbito ›In te, Domine, speravi‹« (82–83), indem sie anstelle Dantes auf Beatrices Frage »Wie wagtest du, dem Berge dich zu nahen?« / »Come degnasti d’accedere al monte?« (74) antworten. Sie sprechen im Singular (»Auf dich, Herr, habe ich gehofft«), weil sie wissen, dass sie den Dichter repräsentieren. Und es ist ihr Gesang, der die Tränen des Dichters freisetzt, der ihr Mitgefühl spürt (91–99), und der Beatrice, die sich nun direkt an sie wendet (103–105), zu einer konstruktiveren Ansprache an Dante motiviert, in der sie, zu Beginn von Canto XXXI, wieder in zweiter Person den Dichter anredet, nachdem sie lange in dritter Person über ihn gesprochen hatte. Die Engel vermitteln zwischen Dante und Beatrice – so wie die Gesänge der Commedia zwischen dem Dichter und der Theologie vermitteln und ihm helfen, seine sündige Vergangenheit zu überwinden. Dante nennt die Engel diejenigen, »die immer / gemäß dem Ton der ewigen Kreise singen« / »quei che notan sempre / dietro a le note de li etterni giri« (92–93) – aber sind es nicht gerade die Gesänge der Komödie, die in der Musikalität ihrer Sprache die harmonische Struktur des Universums beschreiben? Und trifft das, was Beatrice den Engeln zuschreibt, nicht auch auf den enzyklopädischen Charakter der Komödie zu: »Ihr haltet stets im ewigen Lichte Wache, / So dass Euch Nacht und Schlaf auch nie verbergen / den Schritt der Welt auf ihren eignen Wegen« / »Voi vigilate ne l’etterno dìe, / sì che notte né sonno a voi non fura / passo che faccia il secol per sue vie« (103–105)? Das Substantiv »Wachen« / »vigilie« war auch in der Anrufung der Musen im vorhergehenden Gesang aufgetaucht, da es eine Tätig­ keit des Dichters charakterisiert (XXIX 37–39). Und in demselben Gesang war Argus erwähnt worden, da die Federn der Flügel der vier Tiere, die die Evangelien darstellen, »voll von Augen sind; Argus’ Augen, / wenn sie noch lebend wären, glichen ihnen« / »piene d’occhi; e li occhi d’Argo,/ se fosser vivi, sarebber cotali.« (95–96). Diese Anspielung auf die aus Ovids Metamorphosen (I 623–722) bekannte Geschichte ist für die richtige Interpretation der metapoeti­ schen Dimension unseres Textes sehr wichtig.23 In der Tat wird die Geschichte von Argus in Canto XXXII (64–69) aufgegriffen: 23 In ihrem Aufsatz »The Pilgrim, the Poet, and the Cowgirl: Dante’s Alter-Io in Purgatorio XXX-XXXXI«, in: Dante Studies 114 (1996), 189–208, ignoriert Jessica Levenstein die metapoetische Dimension. Aber ihre Überlegungen zu Dante als einer neuen Io (die ihr zufolge in Inf. XXIV 100 gemeint ist, obwohl sie nicht explizit

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Könnte ich es schildern, wie die gnadenlosen Augen sich schlossen bei der Syrinxfabel, die Augen, die ihr Wachen teuer zahlen, Dann würd ich, so wie sein Modell ein Maler, Jetzt zeichnen, wie ich selbst in Schlaf gesunken, Doch mag sich jeder das Entschlummern malen. S’io potessi ritrar come assonnaro li occhi spietati udendo di Siringa, li occhi a cui pur vegghiar costò sì caro; come pintor che con essempro pinga, disegnerei com’io m’addormentai; ma qual vuol sia che l’assonnar ben finga.

Eine solche Wiederholung desselben Mythos nach weniger als drei Gesängen ist nicht üblich und muss eine besondere Funktion haben. Ich glaube, dass sie durch zwei Faktoren motiviert ist. Erstens erzählt uns Ovid, dass Argus hundert Augen hatte: »Argus hatte sein Haupt von hundert Augen umzäunt« / »Centum luminibus cinctum caput Argus habebat« (I 624; vgl. I 720: »und ein einziges Dunkel hüllt die hundert Augen« / »centumque oculos nox occupat una«) Es ist gewiss wahr, dass Dante diese Tatsache nicht erwähnt; aber es ist nicht weniger wahr, dass er Vertrautheit mit ihr bei den Lesern voraussetzt, für die er schreibt und die nicht schläfrig sein dürfen. Auf diese diskrete Weise unterstreicht er die Bedeutung der Zahl, die in Purg. XXX 17 explizit genannt wird. Während Virgil in der Terzine XXX 49–51 dreimal erwähnt wird und auch in dem Vers, in dem Beatrice sich vorstellt (73), dreimal das Adverb »wohl« / »ben« verwendet wird, erscheint »hundert« nur einmal direkt, aber dank der Augen des Argus noch zweimal indirekt, zwar nicht in unmittelbarer Nähe, aber doch in den Gesängen, die das irdische Paradies behandeln. Diese hundert Augen wurden bereits, wenn auch sehr zaghaft, in einer sehr kurzen Klammerbemerkung von Hollander mit den hundert Gesängen der Komödie in Verbindung gebracht,24 der jedoch die metapoetische Dimension der hundert Engel ignoriert. In Wahrheit sind die hundert Engel und die hundert Augen komplementär: Die Engel stellen das Objekt, also das Noema, der Commedia dar, die

genannt wird) sind intelligent und mit meiner Interpretation, die sich auf Argus konzentriert, vereinbar. 24 Op. cit., 676: »(Dante of the hundred cantos?)«.

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Augen den subjektiven Akt, die Noesis, die sie konzipiert und zum Ausdruck bringt. Zweitens weisen die beiden Terzinen in Canto XXXII eine faszi­ nierende metapoetische Dimension auf. In der ersten Terzine werden die Augen des monströsen Argus als gnadenlos bezeichnet – aber all ihre Mühen haben ihn nicht vor dem Tod bewahrt. Implizit wird die Botschaft vermittelt, dass es tatsächlich die barmherzigen, für die Gnade offenen Augen sind, die die erlösende Vision erlangen. Die zweite Terzine betont die Analogien zwischen Poesie und Malerei – ein wichtiges Thema im Purgatorio, das an das Wort »die Dichtung ist wie Malerei« / »ut pictura poesis« aus Horaz’ Ars poetica (V. 361) anknüpft. Die Überlegung, dass es nicht möglich ist, das Ein­ schlafen zu beschreiben, steht im Gegensatz zu Ovids Beschreibung des Einschlafens von Argus: »Solches zu sagen bereit sah schon der kyllenische Jüngling / Alle die Lider gesenkt und verdeckt vom Schlummer die Augen.« / »Talia dicturus vidit Cyllenius omnes / succubuisse oculos adopertaque lumina somno.« (712–713) Was Dante im Sinn hat, ist die Tatsache, dass das Einschlafen leicht in der dritten Person beschrieben werden kann, aber nicht in der ersten Person, wahrscheinlich weil diejenigen, die beobachten, wie das Wachbewusstsein nachzulassen beginnt, nicht einzuschlafen ver­ mögen. Mit dieser Terzine lenkt Dante also die Aufmerksamkeit des Lesers auf den grundlegenden Unterschied zwischen seinem Werk und früheren Epen und Lehrgedichten: Die Komödie ist ein Gedicht in erster Person. Und mit dieser Abweichung von Ovid leistet Dante nichts anderes, als Ovid selbst fortzuführen, ja, ihn zu übertreffen. Denn es besteht kein Zweifel, dass Ovid uns mit der ersten hetero­ diegetischen Erzählung der Metamorphosen zwei Dinge zu verstehen gibt – dass zu viele Erzählungen von verführten Nymphen langweilig werden können, dass er aber die Langeweile durch den Wechsel der Erzählungsformen überwindet.25 Dante hingegen ändert die Form auf eine viel radikalere Weise. Beatrice bringt Dante nicht nur dazu, seine Missetaten zu beken­ nen und zu bereuen, sondern sie ist es auch, die ihn zum Verfassen der Commedia anregt und damit die Brücke zwischen Dante dem Pilger und Dante dem Dichter schlägt. 25 Vgl. Vittorio Hösle, Ovids Enzyklopädie der Liebe, Heidelberg 2020, 69–70. Meine Monographie zeigt (20–23), dass Ovid selbst im achten Buch (743–750) auf die drei Pentaden seines Werkes anspielt. Die Art und Weise ist ähnlich derjenigen, die Dante in Purg. XXX verwendet, wenn er auf seine hundert Gesänge anspielt.

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Jedoch zum Wohl der Welt in ihrer Sünde Richt deinen Blick zum Wagen und beschreibe, Was du gesehen, wenn du nach drüben heimkehrst. Però, in pro del mondo che mal vive, Al carro tieni or gli occhi, e quel che vedi, Ritornato di là, fa che tu scrive. (XXXII 103-105, siehe auch XXXIII 52-57).

Doch aus der Perspektive Dantes als Dichters folgt er nicht nur der sachlichen Aufforderung Beatrices; indem er beschließt, sein Gedicht in hundert Gesänge zu gliedern, lässt er sich von der konkreten Epiphanie Beatrices inspirieren, die von hundert Engeln begleitet wird. Bei der Produktion des Werkes ging die Entscheidung des geschichtlichen Dante, es in hundert Gesänge zu gliedern, offensicht­ lich der Erfindung der hundert Engel voraus. Aber diese faktischen Zusammenhänge sind hier nicht von Interesse.

III. Wenn die vorgeschlagene Deutung der Terzinen richtig und sogar sehr naheliegend ist, stellt sich die Frage, warum sie noch nicht vorge­ schlagen wurde. Die Antwort auf diese Frage liegt meines Erachtens darin, dass es inakzeptabel zu sein scheint, dass Dante es gewagt haben sollte, seine eigene Commedia als eine würdige Fortsetzung des Alten und Neuen Testaments zu betrachten. Wäre dies nicht ein Akt unzulässigen Hochmutes? Um meine Interpretation zu verteidigen, reicht es nicht aus zu antworten, dass Dante sehr wohl wusste, dass er auf dem Läuterungsberg mehr Zeit mit den Hochmütigen als mit den Neidischen verbringen würde (Purg. XIII 133–138). Es muss gezeigt werden, dass Dantes hier angedeutete Selbstinterpretation der Commedia mit anderen Stellen des Werks vereinbar ist und in einen größeren historischen Kontext gestellt werden kann. Was den ersten Punkt betrifft, sei an den Anfang von Canto XXV des Paradieses erinnert, wo der Dichter sein Werk als »das heilige Gedicht, / an welchem Erd und Himmel Anteil haben« / “’l poema sacro / al quale ha posto mano e cielo e terra« (1–2) nennt. Und auch wenn die Selbstbezeichnung als »Schreiber« / »scriba« (Par. X 27) als Zeichen der Bescheidenheit erscheinen mag, darf man nicht vergessen, wer diesem Schreiber diktiert: »Ich bin ein Mensch, der immer, / Wenn Liebe ihn behaucht, es wohl bemerket, / Und

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wie sie in mir spricht, so muss ich’s sagen.« / »I’ mi son un che, quando / Amor mi spira, noto, e a quel modo / ch’e’ ditta dentro vo significando.« (Purg. XXIV 52–54) In der Tat ist »die Liebe, die beweget Sonn’ und Sterne« / »l’amor che move il sole e l’altre stelle« (Par. XXXIII 145) Gott selbst. Dass die dichterische Phantasie von Gott inspiriert sein kann, wird bereits Purg. XVII 18 als eine von zwei Alternativen erwähnt. Wichtiger sind jedoch zwei Stellen in der Nähe unserer Terzine. In einem sehr langen Satz, der sich über vier Terzinen erstreckt, vergleicht Dante die Wiedererlangung des Bewusstseins nach dem eigenen Ohnmachtsanfall (von der Unmöglichkeit, diesen zu beschreiben, war bereits die Rede) mit nichts Geringerem als dem Wieder-zu-sich-kommen von Petrus, Johannes und Jakobus nach der Verklärung Christi. Aber Petrus, Johannes und Jakobus waren bereits implizit zusammen mit Judas als die Verfasser der katholischen Briefe des Neuen Testaments erschienen, die durch die »vier mit demutsvoller Erscheinung« / »quattro in umile paruta« (XXIX 142) dargestellt werden. Dante scheint nun Judas als vierte Figur ersetzt zu haben – und wäre es wirklich ein Akt des Stolzes, wenn der Dichter der Meinung wäre, dass die Commedia dem Brief des Judas nicht unterlegen sei? Dass Dante die Scholastiker, sogar Thomas, kritisiert, ist allge­ mein bekannt (vgl. Par. XXIX 70 –84, 97–102). Der Dichter hat keine Schwierigkeiten, die Angelologie eines Kirchenvaters wie Gregors des Großen für falsch zu erklären: »weshalb er, als er hier im Himmel oben / Das Aug auftat, sich selbst verlachen musste« / »onde, sì tosto come gli occhi aperse / in questo ciel, di sé medesmo rise« (Par. XXVIII 134–135). Besser als Gregors ist nach Dante die Theorie der Engel von Dionysius Areopagita, »der sie so wie ich benannt’ und unterschied« / »che li nomò e distinse com’io« (132). Man würde erwarten, dass Dante schreibt, er unterscheide die Engel, wie es Dionysius tut, aber in Wahrheit verwendet er seine eigene Vision als letztes Kriterium. Und dasselbe geschieht, nun aber in Bezug auf biblische Autoren, unmittelbar vor unserem Gesang. Indem er darauf besteht, dass die vier Lebewesen, die die Evangelien darstellen, sechs und nicht vier Flügel haben, reflektiert Dante über den Widerspruch zwischen Hesekiel (1,6) und der Offenbarung (4,8). Auch in diesem Fall sagt er nicht: »Ich bin mit ihm« / »io son con lui« (d.h. Johannes), ein Ausdruck, der ihm natürlich vertraut war (siehe Par. X 34). Wir lesen vielmehr: »außer dass bei ihren Federn / Johannes mit mir ist und von ihm abweicht« / »salvo ch’a le penne / Giovanni è meco e da

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lui si diparte« (Purg. XXIX 104–105). Es scheint mir sehr plausibel anzunehmen, dass diese Trias von Hesekiel, Johannes und Dante die Idee vorbereiten soll, dass die Komödie, die in den hundert Engeln allegorisiert wird, dasjenige Werk ist, das das Alte und das Neue Testament fortsetzt.26 Lässt sich ein geschichtlicher Kontext benennen, der diese Selbst­ interpretation weniger erstaunlich macht? Gewiss, und es ist ein Kontext, dessen Protagonist im Paradiso geehrt wird, obwohl Dante wahrscheinlich wusste, dass er sowohl von Thomas als auch von Bonaventura heftig kritisiert worden war,27 den beiden Hauptfiguren der Canti XI und XII. Ich denke dabei an »Joachim, Abt aus Kala­ brien, / Der einst Prophetengabe hat besessen« / »il calavrese abate Giovacchino, / di spirito profetico dotato« (Par. XII 140–141). Dass Joachim von Fiore einen bedeutenden Einfluss auf Dante ausübte, wenn auch sicherlich vermittelt durch den Joachimismus der Spiritua­ len der Franziskaner, der in Wahrheit von den Ideen des Abtes stark abweicht,28 wurde bereits 1932 von Herbert Grundmann hinreichend nachgewiesen.29 Leone Tondelli hat es plausibel gemacht, dass die trinitarische Vision, die die Commedia beschließt (Par. XXXIII 115– 120), von einem Bild im Liber Figurarum30 inspiriert ist, einem Werk, das nun definitiv entweder Joachim selbst oder zumindest einem Schüler, der unter der Aufsicht des Meisters daran gearbeitet hat, zugeschrieben werden muss.31 Das erklärt natürlich nicht die Details 26 Dass die Flügel der Engel »voll von Augen« / »piene d’occhi« sind (Purg. XXIX 95), erinnert nicht nur an Argus, sondern auch an die Fama der Aeneis (IV 181–182). Paul K. Hosle hat kürzlich die Vermutung geäußert, dass die Figur des Geryon als kritische Antwort auf die vergilische Fama konzipiert ist, da Dante (Inf. XVI 127–136) eine ganz andere auktoriale Verantwortung als Virgil übernimmt (»New Light on Dante's Construction of Geryon«, in: Bibliotheca Dantesca 4 (2021), 67–86, 74–78). Indem Dante sich selbst zum Vermittler zwischen Hesekiel und Johannes erklärt, vertieft er diese neue Verantwortlichkeit. 27 Siehe Joseph Ratzinger, Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura, St. Ottilien 1992 (1 1959), 118–120. 28 Zum späteren Joachimismus ist grundlegend Marjorie Reeves, The Influence of Prophecy in Later Middle Ages. A Study in Joachimism, Oxford 1969. 29 »Dante und Joachim von Fiore. Zu Paradiso X-XII«, in: Deutsches Dante-Jahrbuch 14 (1932), 210–256. 30 Da Gioachino a Dante, Turin 1944, 78–84. 31 Siehe Marjorie Reeves/Beatrice Hirsch-Reich, The Figurae of Joachim of Fiore, Oxford 1972, 75–98. Die beiden Verfasserinnen akzeptieren die These Tondellis, vermuten aber eher einen Einfluss der Bilder als der Bedeutungen, die Joachim ihnen zuschreibt (329).

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der Vision Dante, die, wie fast immer, ihre möglichen Quellen hinter sich lässt (neben Joachim auch Hildegard von Bingen).32 Aber es ist mir nicht möglich, die komplexe und schwierige Frage nach dem Grad von Dantes Joachimismus zu erörtern. Joachims originellste Idee ist seine trinitarische Geschichtstheo­ logie, der zufolge auf den Zustand der Welt unter dem Alten Testa­ ment und denjenigen unter dem Neuen Testament ein dritter Zustand folgt, der unter der Vormundschaft des Heiligen Geistes steht.33 Ihm zufolge steht eine neue Epoche bevor, die, inspiriert durch den Heiligen Geist, dem christlichen Volk einen neuen prophetischen Geist bringen wird, wie er sich bereits in Menschen wie Joachim selbst manifestiert. Diese neue Epoche stellt eine größere Gnade dar als die im Neuen Testament gegenwärtige, da in ihr die Fülle des Geistes, der Freiheit und der Liebe herrschen wird. »Die Sakramente der Heiligen Schrift empfehlen uns schließlich … drei Zustände der Welt. Erstens denjenigen, in dem wir unter dem Gesetz waren; zweitens denjenigen, in dem wir nun unter der Gnade sind; drittens denjenigen, den wir bald erwarten, in dem wir unter einer reicheren Gnade sein werden. … Der erste Zustand besteht im Wissen, der zweite in einem Teil der Weisheit, der dritte in der Fülle des Geistes. Der erste bestand in knechtischer Knechtschaft, der zweite in kindlicher Knechtschaft, der dritte in der Fülle des Geistes. … Der erste in der Furcht, der zweite im Glauben, der drittte in der Liebe.«34 Das größte theologische Problem, das mit dieser Theorie verbun­ den ist, ist die Frage, ob der Vorrang Christus oder dem Heiligen Geist gebührt, eine Frage, die in Joachim nicht eindeutig geklärt wird,35 32 Siehe die Kritik an Tondelli von Peter Dronke, »Tradition und Innovation in der mittelalterlichen abendländischen Farbbildnerei«, in: The Realms of Colour – Die Welt der Farben – Le Monde des Couleurs, ed. by Adolf Portmann/Rudolf Ritsema (=Eranos Jahrbuch 1972), Leiden 1974, 51–107, 101–106. 33 Zur »Dreieinigkeit in der Geschichte« siehe Bernard McGinn, The Calabrian Abbot. Gioacchino da Fiore in the History of Western Thought, New York 1985, 161–203. 34 Joachim von Fiore, Concordia Novi ac Veteris Testamenti, hg. von Alexander Patschovsky, 4 Bde., Wiesbaden 2017, III 868–869: »Tres denique mundi status nobis ... Divine nobis Pagine sacramenta commendant. Primum, in quo fuimus, sub lege; secundum, in quo sumus, sub gratia; tertium, quod e vicino expectamus, sub ampliori gratia. ... Primus ergo status in scientia fuit, secundus in parte sapientie, tertius in plenitudine intellectus. Primus in servitute servili, secundus in servitute filiali, tertius in libertate. ... Primus in timore, secundus in fide, tertius in caritate.« 35 Siehe Gian Luca Potestà, Il tempo dell’Apocalisse. Vita di Gioacchino da Fiore, Bari/Roma 2004, 153–156.

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während Dante zweifelsohne nie den traditionellen Christozentris­ mus aufgegeben hat. Das bedeutet jedoch nicht, dass er nicht wie Joachim das Gefühl hatte, dass das traditionelle Christentum dabei war, sich tiefgreifend zu verändern, und dass es seine Berufung war, diese neue Spiritualität in einer Dichtung zum Ausdruck zu bringen, deren Eigenschaften sie zum legitimen Erben der Bücher der Bibel (und der heidnischen Dichtungstradition) machten. Und wer würde es wagen zu sagen, dass er sich geirrt hat?

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Gespräch über den ästhetischen Wert von Der Abenteuerliche Simplicissimus

Valéry: Es gibt Werke, die man mag, auch wenn man genau weiß, dass sie literarisch nicht viel wert sind, und es gibt solche, die man nicht mag, auch wenn man keine Zweifel hinsichtlich ihrer Größe hegt; daneben natürlich auch solche, die man mit dem Herzen und der Vernunft gleichermaßen liebt bzw. gleichermaßen ablehnt. François: Und darf ich dich fragen, welche Werke geringen literari­ schen Wertes du magst? Valéry: Fragen darfst du gewiss; aber die Antwort behalte ich für mich. Peinlichkeiten bleiben am besten privat. François: Und habe ich bessere Chancen, wenn ich wissen will, was du nicht magst, auch wenn du zähneknirschend dessen literarischen Wert anerkennst? Valéry: Ich gestehe, dass mir zuerst Grimmelshausens berühmtes­ tes Buch einfällt. Man sagt allgemein, dass Der Abenteuerliche Sim­ plicissimus wahrscheinlich das bedeutendste erzählende Werk der deutschen Literatur zwischen 1250 und 1750 sei, und ich bestreite das keineswegs. Wenn ich gestehe, dass ich es trotzdem nicht mag, so ist das sicher ein negatives Urteil viel eher über mich als über Grimmelshausen. Aber ich will versuchen zu erklären, warum mir das Werk im eigentlichsten Sinne des Wortes un-heimlich ist. Ich fühle mich nicht zu Hause in seiner barocken Sprache (ganz abgesehen von deren mundartlichen Eigenarten), mir gehen die angereihten Schwänke und der derbe volkstümliche Fäkalhumor, den man auch aus Rabelais kennt, auf die Nerven (man denke an I 27 und I 34), die Darstellung von Sexualität ist mir zu animalisch (schon im Titel von II 1: »Wie sich ein Ganser und eine Gänsin gepaart«), die Schilderung der Schlacht bei Wittstock (II 27) zu blutrünstig, die Reduktion fast aller Frauen auf Objekte sexuellen Begehrens schwer erträglich. Die gewiss eindrucksvolle Stofffülle des Werkes wird nicht durch eine formale Bearbeitung gebändigt, die den höchsten Ansprüchen des

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Geschmacks genügt. Die deutsche Literatur seit ihrer Erneuerung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts empfinde ich dagegen als weitgehend zeitgenössisch, sprachlich wie kulturell (ja, wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich mehr im 19. Jahrhundert zu Hause als im 20.). Mit Wilhelm Meister etwa kann ich mich identifizieren. Grim­ melshausens Held ist mir fremd, manchmal stößt er mich geradezu ab. François: Könnte nicht der größere zeitliche Abstand zwischen dir und Simplicissimus diese Fremdheit erklären? Valéry: Nein, denn zu Sophokles’ Antigone oder Vergils Aeneas schaue ich auf, auch wenn sie viel früher konzipiert wurden. Und wenn ich mich auf die deutsche Literatur beschränke, so kann ich mich mit den Helden der großartigen Werke der mittelhochdeutschen Literatur der Stauferzeit zwar nicht identifizieren, ohnehin nicht mit denen des Epos wie Siegfried oder Hagen, aber auch nicht mit denen des höfischen Romans. Parzival ist kein Zeitgenosse mehr. Und doch ist er eine in sich so kohärente Figur, das ritterliche und christliche Wertsystem, das ihn beseelt, so erhaben und einem Katholiken auch nach Jahrhunderten so vertraut, das Werk, das ihn feiert, stilistisch so geschlossen und auch die Parallelgeschichte um Gawan, trotz Gottfried von Straßburgs Kritik, als Kontrastfolie so klug in das Ganze integriert, die Sprache so reif, bündig und elegant wie erst wieder das Neuhochdeutsche um 1800, dass meine intellektuelle Anerkennung und Liebe des Werkes Hand in Hand gehen. Es steht mir auch emotional viel näher als der Simplicissimus. François: Kennst du denn nicht die These, dass der Beginn des Werkes Grimmelshausens vom Beginn von Wolframs Roman inspiriert ist? Valéry: Gewiss, und da der Parzival neben Albrechts Jüngerem Titu­ rel als einziger mittelhochdeutscher Versroman im 15. Jahrhundert gedruckt wurde, bevor für knapp drei Jahrhunderte das Interesse an der mittelhochdeutschen Dichtung erstarb, kann es gut sein, dass Grimmelshausen die Inkunabel bekannt war, auch wenn das m.E. nicht zwingend bewiesen werden kann. Naiver religiöser Unterricht, das plötzliche Auftreten von Bewaffneten in einer idyllischen Umge­ bung, das Narrenkleid sind beiden Werken gemeinsam, Grimmels­ hausen mag aber auch unabhängig auf sie gekommen sein. Aber um so mehr fallen doch die Unterschiede auf. Parzival wird durch die Begegnungen mit Gurnemanz und mit Trevrizent dauerhaft verwan­ delt; trotz seiner anfänglichen Unbedarftheit erreicht er ein hohes

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Niveau spiritueller Ritterlichkeit. Nach der öffentlichen Demütigung durch Kundry hadert er mit Gott, aber er wird nicht zu einem Gigolo und zu einem Genossen des Mörders Oliver, den er nur halbwegs mäßigt. Bei Simplicius vermag ich, außer vielleicht am Ende, keine Beständigkeit der Konversion zu erkennen. Der Hirte, der Narr, der Busenfreund Hertzbruders, der Jäger von Soest, der Beau Alman, der Söldner, der Wallfahrer, der Weltreisende, der Einsiedler scheinen oft mehr unterschiedliche Masken als Entwicklungsstufen derselben Person zu sein; und deswegen ist dieser Schelmenroman nicht nur vom späteren Bildungsroman so verschieden, sondern eben auch vom höfischen Roman. François: Mir scheint, du moralisierst. Der ästhetische Wert eines literarischen Werkes kann aber nicht von den Tugenden seines Helden abhängen, sonst wäre ja auch Shakespeares Richard III. ein schlechtes Stück. Und ich hoffe, du verwechselst den Erzähler weder mit dem Autor noch auch mit dem Helden der Erzählung, mit dem er zwar personal identisch ist, aber von dem er doch durch einen langen Zeitraum getrennt ist. Zumindest der Autor, wenn nicht sogar der Erzähler selber weiß, dass dieser dem jungen Helden oft eigene Gedanken unterstellt. Valéry: Das alles ist richtig, aber ganz unabhängig vom Charakter des Helden missfällt mir die unklare Stellung des Werkes zur Realität. Einerseits bietet der Roman einige der realistischsten Schilderungen der Schrecknisse des Krieges – und ist doch andererseits toto coelo vom realistischen Roman schon des 18. Jahrhunderts unterschieden (Auer­ bach nennt ihn zu Recht nicht in Mimesis). Es ist nicht so sehr der Flug mit den Hexen (II 17) oder die Begegnung mit der Wahrsagerin (III 17), die ich im Auge habe; denn ein Text sollte auch dann als realistisch klassifiziert werden, wenn er nur Dinge schildert, die für spätere Leser unmöglich sind, aber von den meisten Zeitgenossen geglaubt wurden – ganz abgesehen davon, dass es keineswegs klar ist, ob der Autor, ja nicht einmal, ob der Erzähler den Hexenglauben der Zeit teilt. Ich denke vielmehr an die unterirdische Reise zum Mummelseekönig, an den allegorischen Wettstreit zwischen der Verschwendung und dem Geiz (eine literarische Form, die bekanntlich dem barocken Geschmack entspricht), an die Figur Baldanders’ und an den sich hin­ ter der Abessinerin versteckenden Teufel, das meiste davon zugegebe­ nermaßen in der später angeklatschten Continuatio, also dem sechsten Buch. Was für ein Fortschritt, wenn das alles etwa bei Henry Fielding

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wegfällt! Und was mich am meisten verwirrt, ist die Mischung der Ebenen. Nichts gegen einen kohärenten phantastischen oder allegorischen Roman! Doch nach dem Mummelseeabenteuer folgt die Reise nach Osten, wobei dank Adam Olearius die Beschreibung der Zustände in Moskau durchaus gut informiert ist. Dass dann aber auch noch kurz Korea und Japan angeführt werden (V 22), entspricht dem Wust barocker Gelehrsamkeit; es ist geographisches namedropping ohne konkreten, anschaulichen Gehalt. Grimmelshausen will, ohne von ihm irgend etwas Erzählenswertes zu wissen, auch den Fernen Osten einbeziehen, so wie VI 19 mit dem Kap der Guten Hoffnung auch den südlichsten Punkt der Alten Welt. François: Du könntest noch ergänzen: Das Werk schwankt nicht nur zwischen den Stilen; es schwankt auch zwischen den Genres. Das vierzehnte Kapitel des ersten Buches mit der vielleicht scheußlichsten Schilderung kriegerischer Grausamkeiten hat den Titel »Ist ein selt­ same Comoedia, von fünf Bauern«. Natürlich wird damit bewusst eine Enttäuschung der Lesererwartung vorbereitet. Intratextuell ist die »Komödie«, die die Soldateska mit ihnen spielt, das genaue Gegenteil der ebenfalls »Comoedia« genannten Aufführung der Geschichte von Orpheus und Eurydike im Louvre, bei der der Romanheld die Rolle des thrakischen Sängers übernimmt (IV 3). Sicher ist der Tod Eurydikes tragisch, aber sie stirbt ja nicht wirklich bei der Aufführung, und da Simplicissimus mit seinem Bühnenerfolg den Grundstein seiner Kar­ riere als deutscher Gigolo französischer Aristokratinnen legt, die ihn erst nach einer Weile zu erschöpfen beginnt, ist nicht der dargestellte Mythos, wohl aber seine Darstellung »komisch« zu nennen. Bei den Vorgängen des ersten Buches ist dagegen alles blutiger Ernst; hier wird nicht gespielt, sondern wirklich getötet und gequält. Valéry: Aber das beweist doch nur, was ich sagen will – dem Werk fehlt jede innere Einheit. Natürlich ist mir bekannt, dass manche Meis­ terwerke der Weltliteratur, von den Metamorphosen Ovids bis zur Commedia Dantes, die verschiedensten Genres vereinen. Aber sie tun es auf ordentliche Weise – niedere Komödie und Fäkalsprache finden sich nur im Inferno, in Purgatorio und Paradiso wären sie undenkbar. Bei Grimmelshausen fehlt, wie jede Charakterentwicklung, so auch jede Entwicklung des Stils. Man darf an jeder Stelle des Romans auf alles gefasst sein. François: Ja, aber das ist genau die Absicht des Autors. Im berühmten Frontispiz der Erstausgabe hat Grimmelshausen die Heterogenität

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seines Werkes in Gestalt eines Satyrs mit Flügeln, Fischschwanz und einem Vogelfuß bestens symbolisiert, wohl in bewusster Herausfor­ derung der ersten Verse der Ars poetica Horazens, die den Dichter vor der Schaffung solcher Wesen warnen. Das Grundgenre des Werkes ist also die Satire, die er etymologisch inkorrekt durch einen Satyr sym­ bolisiert; aber dieses Landlebewesen ist bei ihm auch ein Wassertier und strebt danach, sich in die Lüfte zu erheben. Das letztere erinnert in der Tat an die allegorische Tendenz der Barockdichtung. Aber anders als die meisten Allegoriker will Grimmeshausen nicht, dass wir uns von der wörtlichen Bedeutung weg zu der übertragenen hin bewegen; wir sollen sie beide zugleich in ihrer Verschränktheit wahr­ nehmen. Und so sollen wir auch Simplicius in seiner ganzen Wider­ sprüchlichkeit begreifen, die ja nicht nur seinen Charakter, sondern auch seinen sozialen Stand (eines Adligen, der von armen Bauern als deren Kind großgezogen wurde) und selbst sein Geschlecht betrifft: Der als Frau Verkleidete erweckt die Leidenschaft zweier Männer und einer Frau, von der man nicht weiß, ob sie lesbisch ist oder seine Männlichkeit spürt, und entgeht nur mit Mühe der Vergewaltigung durch Reiterjungen (II 25 f.); seine beiden Ehen sind unglücklich, u. a. weil er promisk lebt; zu verantwortlicher Vaterschaft ist er unfähig (V 5, V 9).Die einzige gleichaltrige Person, die er wirklich liebt, ist Hertz­ bruder. Um auf den Titel des vierzehnten Kapitels des ersten Buches zurück­ zukommen: Wahrscheinlich will Grimmelshausen die poetologische Theorie kritisieren, tragödienfähig seien nur Aristokraten, während Bauern in die Komödie gehörten. Nein, auch Bauern sind leidensfähig, auch wenn sich die Soldaten wirklich »einen Spaß daraus machen«, sie zu plündern und sich an ihnen grausamst zu rächen, wenn sie sich wehren. Valéry: Genau das macht den Autor so verwirrend! Der Einbruch brutalster Gewalt erfolgt schon im vierten Kapitel, in dem das Kind Simplicius die Brandschatzung seines Hauses, die Folterung des Pflegevaters und die Vergewaltigungen der Pflegemutter und der Pflegeschwester erlebt. Und gerade dieses Kapitel beginnt mit einer Theodizee! Er wolle bezeugen, dass die Scheußlichkeiten des deut­ schen Krieges von der Güte des Allerhöchsten notwendig hätten verhängt werden müssen, damit er, der Erzähler, zur Erkenntnis Gottes gelangen konnte; denn vorher sei er nur dem Namen nach ein Christenkind, im übrigen aber eine Bestia gewesen. Als ob sich nicht die eigentliche Bestialität erst mit der Grausamkeit der kriegführen­

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den Parteien zeigte! Man hat fast den Eindruck, der Autor mache sich über den Erzähler so wie Voltaire über Pangloss lustig. François: Grimmelshausens Position ist weder diejenige des Vorbildes von Pangloss, also Leibniz’, der den Roman in einem Brief an die Kur­ fürstin Sophie von Hannover vom April 1688 erwähnt. noch diejenige Voltaires. Er glaubt wohl wirklich, dass eine Welt, die nur aus blöken­ den Schafen und flötenden Hirten bestünde, geistlos wäre und nicht zur Erkenntnis gelangen könnte, dass unsere eigentliche Bestimmung nicht in diesem Tal der Zähren liegt. Insofern ist der Theodizeeversuch durchaus ehrlich; auch später betont der Erzähler von der Warte der Altersweisheit aus immer wieder, dass ihm seine Erfolge finanzieller oder erotischer Natur am meisten geschadet haben. »Bestia« bedeutet einfach »Wesen ohne Reflexion«, und das können auch zahme Tiere sein, keineswegs nur wilde (I 15). Aber das heißt nicht, dass Grimmelshausen deswegen die These Leibniz’ eingeleuch­ tet hätte, wir lebten in der besten aller möglichen Welten. Und es heißt auch nicht, dass er nicht die zweite Naivität des Helden – also nicht diejenige des Zöglings des Knans, sondern die des Zöglings des Einsiedlers, seines eigentlichen Vaters – positiv sieht. Denn sie ist christlich inspiriert, und damit ist der Status der »Bestia« schon überschritten (I 9). Sie erlaubt Simplicius, in Hanau die Wahrheit zu sagen (I 12, II 9–12). Und die Wahrheit ist christlich, wenn auch nicht konfessionell gefärbt. Einerseits konvertiert Simplicius wie sein Autor zum Katholizismus, und zwar in Einsiedeln, nach einer Pilgerreise, die er sich durch das Kochen der in den Schuh zu legenden Erbsen viel einfacher macht als Hertzbruder; aber die moralische Bekehrung ist nicht von Dauer, weil sie sich nur der Furcht, verdammt zu werden, nicht der Liebe zu Gott verdankt (V 2). Wahres Christentum erlebt Simplicius dagegen bei den ungarischen Wiedertäufern, deren Leben an Integrität sogar dasjenige in katholischen Klöstern übertrifft (V 19). Auch das Ideal, das er ironisch gebrochen als angebliche Beschreibung des menschlichen Treibens dem Sylphenkönig skizziert (V 15), ist christlicher Natur. Valéry: Aber das ist doch gerade irritierend, dass Simplicius seinen Gastgeber so schamlos belügt! François: Simplicius nennt bezeichnenderweise unter den Lastern, die sich bei den Menschen nicht fänden, die Lügen nur der Handwerker. Das kann man innertextlich so verstehen, dass er den Sylphenkönig diskret darauf aufmerksam machen wolle, andere Lügen kämen bei

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den Menschen durchaus vor, so dass er ihm nicht alles glauben solle – oder aber metapoetisch so, dass, da er ja alle Laster den Menschen abspreche, fiktionales Lügen aber nicht, Grimmelshausen selber ein solches Lügen, etwa ein Vorhalten des Spiegels mittels offenkundiger Ironie, für keine Sünde halte. Valéry: Das ist vielleicht zu subtil gedacht. Auch wenn Simplicius im Religionsgespräch mit dem Pfarrer in Lippstadt im Zeitalter der Konfessionskriege das frühaufklärerische Argument verwendet, jede Konfession behaupte von sich, sie sei die wahre, und deswegen wolle er Christ, aber weder petrisch noch paulisch sein (III 20), will er sich damit nur den Pfarrer vom Leibe halten, um ungehindert seiner Lust zu frönen. François: Das macht sein Argument noch nicht schlecht. Denn auch gute Ideen können fragwürdigen Motiven entspringen, so wie auch Olivers Kritik an den Kirchgängern nicht deswegen schon falsch ist, weil er mit ihr seine Verwendung einer Kirche für seine Raubzüge zu rechtfertigen sucht. Zudem kritisiert der Erzähler selber im Zeiten­ abstand die Absicht des jungen Simplicius. Gleichzeitig ist die Figur Jupiters (III 3 ff.) auch eine Warnung ante litteram vor einer am Reiß­ brett entworfenen Vernunftreligion der Aufklärung. Jupiter ist ja nicht einfach ein kopfloser Phantast, der die politische Wirklichkeit nicht mehr in den Blick bekommt; auch sein Ideal einer um des Friedens willen durch den Teutschen Helden erzwungenen religiösen Konfor­ mität ist schwerlich besser als das cujus regio, eius religio des Augs­ burger Religionsfriedens. Bezeichnenderweise findet er sich später mit dem Krieg ab (V 5). Seine Verrücktheit – und auch das ist für Grimmeshausens Welt kennzeichnend, in der alles und jeder »bald anders« ist – hindert ihn freilich nicht daran, Simplicius den besten Rat des Werkes zu geben, den er leider nicht befolgt, nämlich den gefundenen Schatz zu verschenken (III 13). Valéry: Aber das zeigt doch nur, dass Grimmelshausen keine von ihm selbst ernst genommenen Lösungvorschläge hat! Simplicius ist ein moralischer Schwächling, der sich treiben lässt und dem letztlich nur die Weltflucht bleibt; auch noch im sechsten Buch lehnt der alte Simplicius eine Rückkehr aus seiner afrikanischen Einsiedelei nach Europa ab. Wolfram dagegen bietet das Ideal der Gralsritterschaft, Goethe in Wilhelm Meisters Lehrjahren das der Turmgesellschaft. Das nenne ich konstruktive soziale Ideale!

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François: Beide lebten in glücklicheren Zeiten. Um 1200 hatte das Mittelalter eine kohärente katholische Weltanschauung und ein hohes aristokratisches Ethos, um 1800 die deutsche Kultur eine phi­ losophische Transformation des Christentums fast abgeschlossen, mit der sich die besten Köpfe der neuen Klasse des Bildungsbürgertums identifizierten. Nur unter solchen Bedingungen entstehen Werke wie der Parzival oder der Faust. Die barocke Weltanschauung hat nicht mehr die Stabilität der mittelalterlichen, deren Ausläufer sie ist, und noch nicht diejenige der Sattelzeit, die sie vorbereitet. Und das 17. Jahrhundert ist nicht nur allgemein eine der gewalttätigsten Zeiten der deutschen Geschichte, der erst das 20. Jahrhundert wieder gleichkommt; in ihm sind sowohl der Autor als auch der Held des Romans ihrer Kindheit entrissen und als Kindersoldaten eingesetzt und missbraucht worden. Ihre Grunderfahrung war diejenige allge­ meiner Wandelbarkeit; doch eine prinzipiengeleitete Persönlichkeit kann man sich in der Jugend wohl nur aufbauen, wenn nicht täglich das eigene Überleben auf dem Spiel steht und man die Fronten regel­ mäßig wechseln muss. Gewalt und schnelle sexuelle Befriedigung nehmen unter diesen Bedingungen überhand. Grimmelshausen hat nicht die geistige Klarheit und das geordnete Wissen Dantes oder Goethes, aber wenn man bedenkt, unter wieviel schwierigeren Bedingungen dieser Jugendliche seinen Wissensdurst befriedigen und der geheimnisvolle, seinen Zeitgenosen als Autor unbekannt gebliebene Gastwirt seine Werke schreiben musste, finde ich seine Leistung fast noch erstaunlicher. Sein Humor mag uns manchmal als derb befremden; dass ihm angesichts seiner Erfah­ rungen das Lachen nicht vergangen ist, war vermutlich die einzige Weise, in der er physisch und, mehr noch, geistig überleben konnte. Valéry: Das macht ihn mir menschlich sympathischer, aber die Quali­ tät eines Werkes ist von den subjektiven psychologischen Leistungen des Autors zu unterscheiden. François: Ein großes literarisches Werk soll doch ein Bild seiner Zeit sein, und ich kenne keine bessere literarische Abbildung des deutschen 17.Jahrhunderts. Valéry: Was nicht bedeutet, dass es das faszinierendste Jahrhundert der deutschen Geistesgeschichte ist! François: Gewiss nicht! Aber dass in diesem Jahrhundert der Zerris­ senheit und der allgemeinen Gewalttätigkeit ein Held in vielem ein

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Gespräch über den ästhetischen Wert von Der Abenteuerliche Simplicissimus

Antiheld sein, angesichts des Fehlens einer allgemeinen Sittlichkeit jede Bekehrung kurzlebig sein musste und man nur als Einsiedler hoffen konnte, der Ansteckung durch die allgemeine Verrohung zu entrinnen, verwundert kaum. Und dass Grimmelshausen dem allge­ meinen Chaos nur dadurch gerecht werden zu können glaubte, dass er es gerade nicht kohärent realistisch wiedergab, sondern in einem Potpourri von Stilen und Genres, gibt Sinn. Valéry: Einverstanden – sofern wir uns darin einig sind, dass dieser Mangel an Kohärenz selber dem Wunsch entspricht, auf höherer Ebene eine Kohärenz von dargestelltem Inhalt und Darstellungsform zu erzielen. Denn die klassizistische Ästhetik mag nur eine verschie­ dener legitimer Kunsttheorien sein, aber ein wie auch immer verallge­ meinertes Kohärenzprinzip muss in ihnen allen gelten.

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Prästabilierte Harmonie zwischen elterlicher und persönlicher Partnerwahl Maskierte Begegnungen in Ludvig Holbergs Mascarade, Carlo Goldonis I rusteghi und Georg Büchners Leonce und Lena1

Die Tätigkeit des Vergleichens in der Naturgeschichte sowie in den Sozial- und Geisteswissenschaften besteht darin, sowohl Ähnlich­ keiten als auch Unterschiede zwischen den Vergleichsobjekten zu finden. Derartige Ähnlichkeiten und Unterschiede bestehen stets zwischen zwei beliebigen Gegenständen; denn sie weisen notwendig den gemeinsamen Zug auf, Gegenstände zu sein; und wenn Leibniz’ Prinzip der Identität der Ununterscheidbaren zutrifft, dann muss es zumindest einen Unterschied zwischen beiden geben. Das hat zur Folge, dass das bloße Auffinden von Ähnlichkeiten und Unterschie­ den einen Vergleich noch nicht fruchtbar macht; sonst wäre jeder Vergleich, auch der willkürlichste, interessant. Sicherlich nimmt die Bedeutung eines Vergleichs zu, wenn seine Resultate es uns gestatten, genealogische Beziehungen festzustellen; denn manchmal sind die gefundenen Ähnlichkeiten so stark, dass man die Schlussfolgerung nicht umgehen kann, dass der eine der beiden Gegenstände entweder direkt oder indirekt vom anderen abhängig sei oder dass wenigstens beide auf einen gemeinsamen Grund zurückgehen, sei es ein Vorfahre, sei es eine Quelle. Manchmal jedoch mögen selbst auffallende Ähn­ lichkeiten rein typologisch sein und in nichts anderem gründen als in gemeinsamen Naturgesetzen oder gemeinsamen Tendenzen des menschlichen Geistes. Vergleiche derartiger Gegenstände können unsere Einsicht ebenso gut, wenn nicht sogar mehr fördern als genea­ logische Analysen. Der Vergleich von Elementen einer bestimmten Menge von Gegenständen ist offenkundig dann vielversprechender, wenn die gemeinsamen Eigenschaften nicht trivial, sondern recht 1 Ich danke Nancy D’Antuono und Theodore Cachey für eine Einladung zur Goldonitagung am Saint Mary’s College im Aril 2007, wo ich diesen Vortrag hielt.

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selten sind und sich im Idealfall sogar nur bei den verglichenen Gegenständen finden; denn dann gibt die Auswahl gerade dieser Gegenstände einen ausgezeichneten Sinn und braucht sich nicht mit dem Einwand auseinanderzusetzen, sie sei willkürlich. Erschöpfen die Unterschiede zwischen den Gegenständen zudem einen begrifflichen Raum und (bzw. oder) werfen sie Licht auf eine allgemeine Entwick­ lungstendenz, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass man einem gehaltvollen Vergleich nachgeht. Der folgende komparatistische Aufsatz konzentriert sich auf drei Komödien, die vielleicht die genannten Bedingungen erfüllen, näm­ lich Ludvig Holbergs Mascarade von 1724, Carlo Goldonis I Rusteghi (Die Grobiane) von 1760 und Georg Büchners Leonce und Lena von 1836. Mein Interesse ist typologischer, nicht genealogischer Natur, d.h. ich behaupte nicht, die späteren Autoren hätten die früheren Dramen gekannt; denn die drei Autoren gehören zu unterschiedlichen Kulturen und schreiben ihre Texte in unterschiedlichen Sprachen – auf Dänisch, Venezianisch und Deutsch. Doch auch wenn ich mich für diese Frage nicht interessiere, kann ich derartige Kenntnisse ebenso wenig ausschließen. Denn es gibt Ähnlichkeiten nicht nur in der Hauptstruktur, sondern auch in den Details; und Holberg war als Name vielleicht Goldoni und sicherlich Büchner bekannt. Schon 1746 veröffentlichte Gotthard Fursman in Kopenhagen den ersten (und einzigen) Band seiner geplanten sechsbändigen französischen Über­ tragung aller damals schon existierenden 26 Komödien Holbergs; und der Band enthält Mascarade. Es ist zudem unwahrscheinlich, dass Goldoni die italienischen Übersetzungen ignorierte, die Elisabetta Caminer Turra von Holbergs Den Vægelsindede (Die Wankelmütige) und Den politiske Kandestøber (Der politische Kannengießer) anfer­ tigte (beide Werke sind in Fursmans Band enthalten, der von Turra offenbar benutzt wurde). Diese Übertragungen erschienen in Vene­ dig 1775 bzw. 1776, und Turra war zu ihrer Zeit eine bedeutende Intellektuelle (vgl. Clausen 1994). In Deutschland war Holbergs Einfluss schon im 18. Jahrhundert beträchtlich. Man sollte nicht vergessen, dass die deutsche Literatur nicht nur im 17. Jahrhundert, als Gryphius von Vondel lernte, denjenigen selbst der kleineren germanischen Nachbarländer nachhinkte, sondern dies auch noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts tat, als Gottsched anerkannte,

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Deutschland habe keine wirklich guten Komödien.2 1743 und 1744 übersetzte Johann Georg Laub achtzehn von Holbergs Komödien in drei Bänden ins Deutsche, darunter Mascarade, und 1752–1755 veröffentlichte Gabriel Christian Rothe eine fünfbändige Übertragung aller Komödien Holbergs; 1822/23 wurden schließlich von Adam Oehlenschläger 25 Komödien erneut übersetzt, wiederum einschließ­ lich Mascarade. Holberg war auch auf der Bühne sehr präsent – wir wissen, dass »between 1748 and 1865, more than 2,000 Holberg performances took place in Germany« (Greene-Gantzberg 1994, 83). Nicht nur Gottsched, auch Johann Elias Schlegel empfand eine kritisch Bewun­ derung für Holberg, dessen Den politiske Kandestøber einen starken Einfluss auf Die Aufgeregten (1783) ausübte, Goethes Komödie zur deutschen Reaktion auf die Französische Revolution. Lenz, der Held von Büchners Erzählung, studierte Holberg, und so ist die Annahme zwingend, Büchner müsse von Holberg wenigstens gehört haben. Aber wie viele seiner Komödien er las, ist schwer zu sagen, und daher behaupte ich nicht, wie ich schon erklärt habe, Büchner habe Masca­ rade gelesen, auch wenn ich vermute, er habe wenigstens von dem Plot des Dramas gehört.3 Noch weniger bin ich davon überzeugt, er habe Goldonis I Rusteghi gekannt. Gewiss, das Drama ist in der elf­ bändigen deutschen Übersetzung von 44 seiner Komödien enthalten, die Lessings Freund Justus Heinrich Saal von 1767–1777 anfertigte, und zwar mit dem deutschen Titel Die vier Grobiane (Hösle 1993, 377, Anm. 11); und zudem beherrschte Büchner Italienisch. Doch Goldonis Stern sank im frühen 19. Jahrhundert sowohl in Italien als auch in Deutschland (siehe Petronio 1958), und es ist unwahrscheinlich, dass Büchner viel von ihm gelesen hat, auch wenn er sicher seinen Namen kannte. Das wird durch das Motto von Leonce und Lena bewiesen, das aus Zitaten von Alfieri und Gozzi besteht: »E la fama?« – „ E la fame«? (»Und der Ruhm?« – »Und der Hunger?«) 1976 zeigte Kurt Ringger, dass der Gozzi, auf den Büchners Zitat besser passen würde (auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass er ihn im Sinn hatte), nicht Gol­ donis Rivale Carlo, sondern dessen Bruder Gasparo ist, ein Bewun­ derer Goldonis, dessen sehr positive Besprechung von I Rusteghi in der Gazetta Veneta vom 20. Februar 1760 Giuseppe Ortolani als den 2 Versuch einer critischen Dichtkunst, Anderer besonderer Theil, 11. Capitel (Gottsched 1973; Bd. VI 2, 346 und 359). In diesem Kapitel wird auch Holberg zitiert (352 f.). 3 Majut (1932, 8) und Hinderer (1977,133 f.) sprechen nur generisch von einem möglichen Einfluss Holbergs auf Leonce und Lena.

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Beginn der »critica teatrale in Italia« betrachtet (Goldon VII 1385). Aber sicher kann Büchner diese Besprechung nicht gekannt haben. Warum also sollte man gerade diese drei Texte (die sämtlich Grundlagen von Opern wurden) für einen Vergleich auswählen? Weil sie einen gemeinsamen Zug haben, den wenige andere Komödien aufweisen. Evidenterweise kann ich mich nicht darauf beziehen, dass sie mit einer Hochzeit enden – bekanntlich ist dies seit der hellenisti­ schen Neuen Komödie der klassische Schluss zahlloser europäischer Komödien gewesen. Der Konflikt zwischen der jungen Generation, die erkennt, dass sie verliebt ist, und den Eltern, die die Liebe ihrer Kinder nicht anerkennen und versuchen, sie ihren eigenen Heiratsplä­ nen zu unterwerfen, ist das Lebensblut der Komödie seit Menandros; und der Triumph der Kinder, die gewöhnlich von schlauen Dienern unterstützt werden, ist das, was diesem Dramentyp das Happy End und somit den komischen Zug verleiht. Doch die paradoxe Pointe unserer drei Dramen besteht darin, dass der Konflikt zwischen Kindern und Eltern sich trotz der Tatsache ergibt, dass elterliche und persönliche Wahl zusammenfallen. Aber wie ist in einem solchen Falle ein Konflikt überhaupt möglich? Im Wesentlichen gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder wissen die Kinder nicht, dass die von den Eltern ausgewähl­ ten Partner gerade diejenigen sind, in die sie sich selber verliebt haben oder verlieben werden, und revoltieren deswegen dagegen – das ist, was sowohl bei Holberg als auch bei Büchner passiert, auch wenn sich die beiden Dramen radikal durch abweichende, ja geradezu entgegengesetzte Reaktionen auf die schlussendliche Entdeckung der Übereinstimmung elterlicher und persönlicher Wahl unterscheiden. Oder es sind, wie in Goldonis Plot, die Eltern, die sich nach der Entdeckung einer solchen Übereinstimmung aufbäumen, weil die individuelle Liebe, die ihren Plänen hinzugefügt wird, in einer Weise errungen wird, die in ihren Augen den Anstand verletzt und ihre Autorität herausfordert. Dass bei Goldoni sich die Eltern, bei Büchner dagegen die Braut gegen diese Übereinstimmung auflehnen, unter­ scheidet die beiden Komödien voneinander, setzt sie aber wiederum zusammen von Holbergs Drama ab, in dem sich keine derartige Revolte nach der entsprechenden Entdeckung findet. Aber es gibt einen weiteren Faktor, der die drei Dramen ver­ knüpft, nämlich die Bedeutung von Masken. Holbergs und Goldonis Komödien spielen während des Karnevals, und auch wenn dies bei Büchner nicht der Fall ist, heiraten seine Leonce und Lena, während sie noch maskiert sind, und entdecken ihre wahre Identität erst später.

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Dieser Aspekt ist offenbar mit dem früheren verknüpft, denn es ist wichtig, dass bei Holberg und Büchner die Liebenden einander in einem Kontext begegnen, in dem sie einander noch nicht mit vollem Namen kennen und aufgrund ihrer Persönlichkeit, nicht ihres sozialen Status voneinander angezogen werden. Bei Goldoni dagegen können sich die beiden Liebhaber, die wissen, wer sie sind, vor der Hochzeit nur heimlich treffen; der Bräutigam muss maskiert, ja, sogar als Frau verkleidet kommen.4 Im folgenden will ich jene Züge der drei Komödien behandeln, die von einem komparatistischen Gesichtspunkt aus gesehen am interessantesten sind. Ich werde den Plot des ersten Stücks detailliert Lose mit den drei Komödien verwandt ist Marivaux’ Le jeu de l’amour et du hasard (Das Spiel von Liebe un Zufall) von 1730, in dem zwei junge Menschen, Silvia und Dorante, die von den Eltern füreinander bestimmt worden, aber noch nie einander vorher begegnet sind, sich als ihre eigenen Diener verkleiden und sich in die richtige Person verlieben, die sie freilich zunächst für den Diener bzw. die Dienerin des potentiellen Gatten halten. Auch hier gibt es eine Maskerade und eine prästabilierte Harmonie, aber letztere vereint die Liebhaber, nicht die Liebhaber und ihre Eltern. In Wahrheit weiß der Vater der Braut, Orgon, von Anfang an um beide Verkleidungen Bescheid. Von den erhaltenen antiken Komödien ist dagegen am ehesten Menandros’ Ἐπιτρέποντες (Das Schiedsgericht) als auf vage Weise analog zu betrachten, auch wenn der entscheidende Papyrus erst 1907 entdeckt wurde, das auch heute noch nur zu guten Teilen erhaltene Drama also keinen Einfluss auf die neuzeitliche Entwicklung ausüben konnte. Die anfängliche Entfremdung zwischen einem jungen Ehepaar, die sich ergibt, als die junge Frau, Pamphile, nur wenige Monate nach der Hochzeit während der Abwesenheit ihres Mannes Charisios ein Kind gebärt und es aussetzen läßt, beginnt sich zu lösen, als der Mann, der daraufhin empört ausgezogen ist, einen bei einem ausgesetzten Kind gefundenen Ring als den seinen anerkennen muss. Er muss vor sich selbst zugeben, dass er einige Monate vor seiner Hochzeit bei einer religiösen Feier betrunken eine unbekannte Frau geschwängert hat. Die Wahrnehmung, dass er sich selber keineswegs besser als seine Frau verhalten hat, lässt ihn seine Selbstgerechtigkeit erkennen, und zwar noch bevor sich herausstellt, dass sein Kind identisch ist mit demjenigen, das von seiner Frau ausgesetzt worden war: Sie war es, die er, ohne es zu wissen und ohne dass sie es wusste, geschwängert hatte. Allerdings besteht hier nur eine anfangs noch unerkannte Harmonie zwischen dem Triebleben jener trunken verbrachten Nacht und der späteren Ehe, keineswegs eine solche zwischen eigener und elterlicher Wahl. Im Gegenteil, Pamphiles Vater Smikrines versucht die Tochter vergeblich zu einer Ehescheidung zu überreden; und die tiefe Liebe zu Charisios, die sie dabei an den Tag legt, ist ein weiterer Faktor, der die Entfremdung zwischen dem Paar überwindet. – Eine Systematisierung der strukturell möglichen erotischen Konflikte würde die Geschichte der Komödie sehr erhellen, denn man kann davon ausgehen, dass innovative Dichter sie mit der Zeit alle ausprobiert haben. 4

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zusammenfassen, denn er wird den Lesern am ehesten unbekannt sein in einer Zeit, in der literaturwissenschaftliche Studien sich mehr und mehr nach Nationalsprachen richten und Dänisch nur von weni­ gen gelesen wird.

I. Mascarade beginnt mit dem Erwachen des jungen Helden Leander, der sich die Augen reibt und seinen Diener Henrich nach der Zeit fragt. Die Uhr zeigt vier an, aber Henrich interpretiert dies als vier Uhr vormittags, und als ihm sein Herr sagt, im Januar könne es zu dieser Zeit nicht so viel Licht geben, erwidert Henrich: »Dann kann die Sonne nicht richtig gehen. Es kann unmöglich schon Nachmittag sein; denn wir sind gerade erst aufgestanden.« (»Saa maa Solen ikke gaae rigtig da. Det kan jo umuligt være Eftermiddag; thi nu stod vi først op«, I 399; die Übersetzung stammt von mir) Als Leander antwortet, er sei sich sicher, dass wenigstens seine englische Taschenuhr nicht falsch gehe, schlägt Henrich vor, die Sonne zurückzusetzen; denn da Taschenuhren der Sonne zu folgen haben, würde dann seine Uhr ebenfalls zurücklaufen. Mit wenigen Strichen offenbart dieser brillante Beginn die Beziehung zwischen Herrn und Diener. Auch wenn der Diener die Bedürfnisse des Meisters zu befriedigen, in diesem Fall seine Frage zu beantworten hat, tut er es auf eine Weise, die sofort deutlich macht, dass er geist- und einfallsreicher ist als Leander. Alles, was er tut, dient dem eigenen Bedürfnis, weiterhin zu schlafen, indem er Antworten gibt, die offensichtlich absurd sind, weil sie die normalen Kausalbeziehungen umkehren und bestreiten. Auch wenn Leander glaubt, Henrich sei noch von der Maskerade betrunken, von der sie gegen 4 Uhr morgens zurückkehrten, scheint mir, dass Henrich bewusst und ironisch die Macht des menschlichen Geistes suggeriert, sich von der Wirklichkeit loszulösen – eine Erfin­ dungsgabe, die gleichsam diejenige des Künstlers spiegelt.5 Das ganze Drama über wird sich Leander auf Henrich verlassen, der sich zweimal verkleidet, um seine Zwecke zu erreichen, und sogar seinem Herrn In Akt I Szene 10 (I 407) preist Leander, wenngleich ironisch, Henrichs Kunst und Findigkeit. Wenn Jeronimus damit droht, dessen Kopf in Stücke zu schlagen, empfiehlt Leonard seine Qualität (II 3; I 418). Jeronimus hält Henrich für die treibende Kraft hinter allem, was passiert (III 7; I 440 und III 9; I 442).

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eine kurze Komödie über die wahrscheinlichen Konsequenzen seiner Weigerung, seine Verlobte zu heiraten, vorspielt, wobei er selbst alle verschiedenen Rollen übernimmt. Es wird sogar ausdrücklich gesagt, diese Komödie sei in drei Akten – ganz wie Mascarade selbst (II 4; I 423). Henrich ist im übrigen die einzige Person, die eine andere Sprache redet (als falscher Rabbi äußert er in III 6 nicht nur pseudo­ hebräische Worte, sondern unterhält sich auch in einem anständigen Deutsch) – wiederum wie Holberg selber, der auf bemerkenswerte Weise polyglott und ein wahrer Europäer war. Henrich ist eine von Holbergs witzigsten Schöpfungen. Ein Nachfahre der Sklaven der Neuen Komödie sowie Arlecchinos, ist er eher ein Bruder Truffaldinos aus Goldonis Il servitore di due padroni (Der Diener zweier Herren) – um nur eine seiner Dienerfiguren zu nennen – als von Büchners Valerio, der in seiner Melancholie und Tiefe ein Erbe der Narren Shakespeares ist, zumal des MöchtegernNarren Jaques in As you like it (Wie es euch gefällt). Holberg scheint Shakespeare nicht zu kennen, auch wenn er in Oxford studierte und z. B. mit Ben Jonson und George Farquhar vertraut ist (vgl. Argetsin­ ger 1994, 148). Seine Vorbilder sind Plautus und Terenz, später im Leben auch Aristophanes, unter den Modernen hauptsächlich Molière und die Commedia dell’arte. Der Einfluss der letzteren wird deutlich, wenn man sich die Namen der Mehrzahl von Holbergs Charakteren ansieht: Sie sind dänische Pendants italienischer Vorbilder. In vielen seiner Komödien heißt der amoroso Leander, die amorosa Leonora, ihre jeweiligen Diener Henrich und Pernille (in De unsynlige (Die Unsichtbaren) lauten die Namen noch Harlekvin und Colombine); der strenge Vater heißt nun Jeronimus statt Pantaleone. Doch sind trotz der funktionalen Äquivalenz der gleichnamigen Figuren in verschie­ denen Dramen ihre Charaktere oft recht verschieden (Argetsinger 1983, 69 f.; vgl. auch Campbell 1914, 139–196). Wie Goldoni zielt auch Holberg auf Individualisierung: Der Henrich der Mascarade ist, wie gesagt, faszinierender als viele seiner Namensvettern. Komödien leben von Gegensätzen, und wenn wir die erste und die zweite Szene vergleichen, erkennen wir leicht, dass man in einer Typologie solcher Kontraste unterscheiden muss zwischen Kontrasten zwischen Personen, die in einer asymmetrischen Beziehung zueinan­ der stehen, und solchen zwischen Personen gleichen Ranges. Denn Henrich bildet einen Gegensatz nicht nur zu Leander, sondern auch zum anderen Diener, Arv, der in der nächsten Szene auftritt und die Seite von Leanders strengem Vater Jeronimus vertritt. Nichts offen­

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bart den Wesensunterschied zwischen beiden Dienern deutlicher als die trockene Antwort, die Arv auf Leanders zugegebenermaßen überflüssige Frage gibt, ob Mittag schon vorbei ist: »Nach einer alten Rechnung ist Mittag vorbei, wenn es vier Uhr nachmittags ist.« (»Efter gammel Regning saa er det over Middag, naar Klokken er fire om Eftermiddagen«, I 400). Als Leander erwähnt, sein Vater treffe gerade seinen zukünftigen Schwiegervater, Leonard, fragt ihn Henrich, ob seine Braut, mit der er formal verlobt ist, schön sei. Leander muss antworten, er wisse es nicht, denn er habe sie zum letzten Mal gesehen, als sie sechs Jahre alt war, vor zwölf Jahren. Henrich findet es merkwürdig, eine Person zu heiraten, die man nie gesehen hat, oder zumindest wenn man sich dessen nicht sicher sein kann, dass die Vergoldung nicht abgegangen ist. Man spürt in einer solchen Bemerkung ein subtiles Überlegenheitsgefühl des Dieners, denn auch wenn er einer unterprivilegierten Klasse angehört, deren Los er beredt beschreibt (II 3), ist es ihm wenigstens erspart, eine Person heiraten zu müssen, die er nicht kennt. Aber Leander besteht darauf, dass er sich das Recht vorbehält, »nein« zu seiner Braut zu sagen, sollte sie ihm nicht zusagen wenn er sie morgen besucht. Doch scheint er an dem Treffen nicht sehr interessiert zu sein, denn er plant, diesen Abend zur nächsten Maskerade zu gehen, auch wenn er bedauert, dass viele gewöhnliche Mädchen ebenfalls kommen werden. Aber dies ist gerade, so betont Henrich, das Beste an den Maskeraden – dass nämlich jeder gleich behandelt wird (I 401). Man fühlt, dass der christliche Karneval Züge der römischen Saturnalia hat, und in der Tat äußert Henrich die Hoffnung, er möge unter dem Schutz einer Maske mit der Mutter seines Herrn tanzen. Seine Hoffnung ist nicht grundlos, denn Magdelone erscheint in der nächsten Szene und bekennt, sie würde sich gerne ihrem Sohne bei der Maskerade anschließen. Er versichert ihr, sowohl Junge als auch Alte seien willkommen: Der Karneval überbrückt generationelle nicht weniger als soziale Spaltungen. Aber er schafft auch Spannungen zwischen Personen aus dem gleichen Stand. Der komische Kontrast zwischen Henrich und Arv wird auf einer höheren Ebene wiederholt, als Leanders Vater Jeronimus erscheint und seiner Ablehnung des Karnevals starken Ausdruck verleiht, wobei er die strengen Sitten früherer Zeiten preist. Seine Frau, die gerade begonnen hatte, Folia zu tanzen, stimmt ihm scheinheilig zu: »Oh sicher, ich lebte in meinem Elternhaus wie in einem Kloster. (»Jo vist, jeg levede i mine Forældres Huus ligesom i et Kloster«, I 4; I 404) Aber sie wird gerade in dem

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Augenblick »demaskiert«, in dem ein Mann und eine Frau erscheinen, die ihr die Kleider und die Masken bringen die sie bestellt hatte. (Es ist wichtig, dass zwei Figuren auftreten; denn sie könnte mit der Situation mit der ersten Person durchaus fertig werden, doch die Wiederholung, ein wichtiger Faktor des Komischen, wie wir spätestens seit Henri Bergson wissen, entlarvt sie.) Die einzige Entschuldigung, die sie zu finden vermag, ist, dass sie sich die Maskerade ansehen wollte, um bessere Gründe zu finden, andere Menschen zu verurteilen; d.h. sie beansprucht, eine moralistische Voyeurin zu sein. Doch Jeronimus glaubt ihr nicht und verurteilt alle dazu, zu Hause zu bleiben; Arv muss die Türe hüten. Doch Henrich verkleidet sich als Geist, der sich als erstaunlich vertraut mit des Moralisten Arv Sünden erweist und somit, nach dessen Entlarvung und Erpressung, mit Leander das Haus verlassen kann.Der erste Akt endet mit einer schweigenden Maskerade, während der sich Leander sich in eine andere Maske verliebt. Die beiden nehmen ihre Masken ab und tauschen Ringe. Die Regieanweisung verrät, dass das betreffende Mädchen Leonards Tochter ist, aber weder das Paar noch das Theaterpublikum erhalten diese Information. Der zweite Akt beginnt damit, dass Jeronimus triumphierend berichtet, er habe bis Mitternacht seiner Frau Moral gepredigt. Aber als er entdeckt, dass Leander und Henrich erneut außer Haus gewesen sind, wird er zornig und möchte Henrich prügeln. Doch glücklicher­ weise erscheint Leonard, der erklärt, er selber habe seiner Tochter erlaubt, am gestrigen Tage zur Maskerade zu gehen. Schließlich habe er sich als junger Mann amüsiert, und wenn er nun der zeitgenössi­ schen Jugend das Recht zu einem analogen Verhalten streitig mache, nur weil er selber physisch nicht mehr dazu in der Lage sei, könnte man ihm zu Recht Neid vorwerfen – oder, wie Nietzsche später sagen würde, Ressentiment. Henrich, den zu schonen sich Leonard von Jeronimus versprechen lässt, wird in der nächsten Szene die Idee aufgreifen und darauf beharren, auch Diener müssten sich amüsieren können; dann würden sie ihren Herren auch besser dienen. Henrich will nicht selber moralisieren – im Dänischen steht »moralisere« –, sondern auf den Widerspruch im Verhalten jener trunkenen alten Männer verweisen, die gegen die Laster der Jugend moralisieren. Jeronimus’ Hauptsorge ist, dass Maskeraden unkeusches Verhalten anregen, aber der erfahrene Henrich weist ihn darauf hin, dass junge Dänen nicht auf den Karneval zu warten brauchen, um sich ihm hinzugeben – in Spanien freilich möge es anders sein, wo die Frauen

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eingesperrt in ihren Häusern sitzen. Leonard, der Vertreter des Mit­ telweges, verteidigt die Maskeraden, indem er ihre therapeutische Funktion anspricht und sogar das aufdeckt, was man die metaphysi­ sche Basis der Institution nennen könnte: Sie stellt den Menschen die ursprüngliche Gleichheit vor, in der sie sich zu Beginn befanden, bevor der Hochmut die Oberhand gewann und ein Mensch sich für zu gut hielt, mit einem anderen umzugehen; denn solange die Maskerade andauert, ist der Diener ebenso gut wie der Herr. Ich verdamme daher nicht die Maskeraden, sondern deren Missbrauch. (Thi de forestiller Menneskene den naturlige Lighed, hvorudi de vare i Begyndelsen, førend Hovmod tog Overhaand og et Menneske holdt sig for god at omgaaes med et andet; thi saalænge Mascaraden været, er Tieneren lige saa god som Herren. Jeg fordømmer derfor ikke Mascarader, men deres Misbrug, II 3; I 420)

Henrich fügt hinzu, Maskeraden würden anderen Menschen nicht schaden, und als Jeronimus betont, ihre Teilnehmer schadeten sich selbst, da sie Geld verlören, beharrt Henrich darauf, er lasse sein Geld zirkulieren, was tugendhafter sei als Almosen zu geben wie Jeronimus. Denn, so erklärt er ihm in Übereinstimmung mit frühneu­ zeitlichen Rechtfertigungen des Kapitalismus à la Mandeville, es gebe zwei Typen armer Leute, faule und fleißige. Durch Almosen begüns­ tige man den ersten Typ, doch durch Teilnahme an Partys zwinge man sie, als Schneider, Schuhmacher usw. zu arbeiten. Lebten alle Menschen so zurückgezogen wie Jeronimus, würden alle derartigen Leute verhungern (II 3; I 421). Es ist mir nicht klar, ob Holberg Henrich zustimmt – Jeronimus’ Entgegnung, Kartenspieler seien nicht durch den Wunsch motiviert, Arbeitsstellen für Kartenhersteller zu schaffen, hebt den richtigen Gesichtspunkt hervor, in der Ethik komme es auf Intentionen, nicht auf Konsequenzen an. Aber Holberg beweist sein außerordentliches Talent als Dramatiker, indem er die unterschiedlichen Positionen den ihnen entsprechenden Charakteren zuschreibt. Denn es entspricht der Lebenswirklichkeit, dass Men­ schen, die wie Henrich hart arbeiten müssen, Armen gegenüber, die sie, ob zu Recht oder zu Unrecht, als faul ansehen, gewöhnlich weniger großzügig sind als als Reiche. Nicht weniger lebenswahr ist Henrichs Reaktion, als ihm Lean­ der bekennt, er habe sich zum ersten Mal verliebt. Er verspottet die eigenen früheren Verliebtheiten, die er beim Tanz ausgeschwitzt habe; er behauptet, plötzliche Verliebtheiten könnten nicht dauern; er hebt

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höchst ernsthaft hervor, es sei keine gute Idee, sich am Vorabend einer Hochzeit in jemand anderen zu verlieben. Am meisten beunruhigt ihn jedoch, die von seinem Herrn erwählte unbekannte Frau möge einer unteren Klasse angehören (II 4: I 422). Das ist wiederum ein realistisch geschilderter Zug eines treuen Dieners, der zwar die temporäre Gleichmacherei während des Karnevals genießen mag, aber nicht möchte, dass die Ständeordnung und insbesondere die Lebenschancen seines Herrn gefährdet werden. Leander bleibt jedoch unerschütterlich; er sei sich sicher, die Frau, die er getroffen habe, sei vom Himmel selber für ihn bestimmt, auch wenn Liebe rationaler Analyse wesentlich unzugänglich sei. In der fiktiven Komödie, die er nun vor seinem Herrn spielt, stellt Henrich die Anwälte beider Seiten dar, und als Leanders Anwalt beteuert, sein Mandant könne sein Versprechen nicht halten, weil er von einer stärkeren Liebe übermannt worden sei, bemerkt sein Opponent sarkastisch, jeder könne sich einer solchen Entschuldigung bedienen. Und als sein Gegner versichert, jener verstehe nichts von der Macht der Liebe, entgegnet er, er kenne sich ebenso gut aus wie der andere; und in einer Szene von gewaltiger vis comica auf der Bühne beginnt Henrich, der bisher von der einen Seite zur anderen gerannt war, um die beiden Anwälte besser darzustellen, sich selbst zusammenzuschlagen, um die Hand­ greiflichkeiten der beiden zu veranschaulichen. Aber als Leander ebenso entschlossen bleibt wie vorher – eine Ernsthaftigkeit, die stark mit der Heiterkeit des Publikums kontrastiert –, gibt Henrich nach, erkennt die Absolutheit der Liebe seines Herrn an und verspricht, ihm trotz aller Schwierigkeiten, die er vorhersieht, zu helfen. In der Tat beharrt Jeronimus, nachdem er von der neuen Situation gehört hat, darauf, die Hochzeit mit der Verlobten müsse noch am selben Abend erfolgen, und droht, seinen Sohn der Obrigkeit auszuliefern, wenn er nicht gehorche. Nur Leanders kaum verhüllte Anspielung auf einen Selbstmord vermag den Vater zurückzuhaten. Leanders Drohung ist einer der zwei tragischsten Momente des Dramas, aber er wird sofort durch Henrichs Echo komisch konterkariert. Es überrascht nicht, dass der dritte Akt mit einer Szene beginnt, die II 4 spiegelt. Es ist nun Leonards Tochter Leonora, die ihrer Dienerin Pernille die unsinnige Liebe bekennt, der sie zum Opfer gefallen ist, auch für sie die erste Liebe. Ein Unterschied zu II 4 besteht darin, dass Leonora schon mit ihrem Vater gesprochen hat, den sie nie in in ihrem Leben so zornig erlebt hat, und zwar, wie sie selber anerkennt, aus guten Gründen. Als Pernille vorschlägt,

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wenn dem so sei, solle Leonora vielleicht ihrem Vater gehorchen, erklärt diese, ganz ähnlich wie Ovids Medea (Metamorphosen VII 20): »Oh Pernille, ich sehe und billige, was nützlich für mich ist, aber ich folge dem, was mir schaden wird. Mein Herz hat lange zwischen Vernunft und Liebe geschwankt; aber die Liebe hat gesiegt.« (»Ach Pernille, jeg seer og approberer det som mig tienligt er, men følger det som mig er skadeligt. Mit Hierte har ballanceret længe mellem Fornuft og Kiærlighed; men Kiærlighed har vundet Seir«, I 429) Da Leonora die eigene Liebe verurteilt, drückt sie den Wunsch aus, sie wäre vor der Begegnung mit ihrem Geliebten gestorben, bzw. die Hoffnung, er werde sich nun als untreu erweisen. Aber in eben dem Augenblick erscheint Leander mit Henrich und bekräftigt seine Liebe. Leonora, die sich selber nicht mehr kennt, erklärt, als sie ihre Maske abgenommen habe, habe auch sie empfunden, ein Urteil werde über sie ausgesprochen, sie solle diesen Mann lieben; der Himmel selber habe sie gezwungen, ihn gegen ihren eigenen Willen zu lieben. Warum gegen ihren eigenen Willen? Leonora erkennt an, sie sei formal mit jemand anderem verlobt. Leander ist von der Ähnlichkeit ihrer mit der eigenen Situation fasziniert und verspricht, eher zu sterben als jemand anderen zu heiraten. Da Leonora den Namen seiner Verlobten und ihrer Rivalin wissen will (es ist kennzeichnend, dass die Frau, und nicht der Mann, diese Frage stellt), nähert sich die Komödie auf gefährliche Weise ihrem Dénuoement, aber glücklicher­ weise schafft es Leander nicht zu antworten, da Leonard naht und er somit wegrennen muss. Leonards folgender Wutausbruch gegen die Maskeraden stellt eine komische Rache Jeronimus’ dar, dem er sich so überlegen vorgekommen war. Er ist seiner Tochter gegenüber nicht weniger aggressiv, als Jeronimus es Leander gegenüber gewesen war, und wirft ihr vor, der Typ einer Frau zu sein, die sich jeden Abend in einen anderen Mann verliebt, auch wenn er wissen muss, dass das nicht stimmt. Als Pernille die Wahl ihrer Herrin zu verteidigen und die Verdienste ihres neuen Geliebten zu unterstreichen sucht, macht Leonard den brutalen Witz, dieser neue Liebhaber Leonoras werde auch Pernille ihrer Jungfräulichkeit berauben, wenn sie denn noch Jungfrau sei. Während Jeronimus den Einsatz physischer Gewalt androht, gebraucht Leonard psychische Gewalt – am Ende der Szene

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will er nicht mehr Leonoras Vater sein6 –, und das ist schwerlich besser. Er ist sicherlich zivilisierter und gebildeter als Jeronimus, aber Wutausbrüche sind bei solchen Menschen oft erschreckender, weil sie weniger erwartet werden und weil sich mehr bisher unterdrückter Zunder angesammelt hat. Als Leonora auf das Schicksal verweist, schreit Leonard, wir fänden immer im Schicksal einen Vorwand für unsere Begehrlichkeiten, doch Pernille beharrt darauf, es walte in der Liebe ein Schicksal – obgleich weder ihr Vater noch ihre Mutter Calvinisten gewesen seien. Gewiss ist die Bemerkung witzig, weil die Berufung auf komplexe innerprotestantische Diskussionen über freien Willen und Determinismus im Kontext einer scheinbar einfa­ chen Liebesgeschichte unangemessen ist; aber die tiefere Bedeutung der Bemerkung wird am Ende deutlich, da in der Tat eine prästabilierte Harmonie die Übereinstimmung persönlicher und elterlicher Wahl garantiert zu haben scheint. Leonards Zorn entspringt der Tatsache, dass er seinen Wohlstand ebenso wie seine Ehre gefährdet sieht (III 1; I 433). Er fürchtet besonders Jeronimus’ Reaktion, da er nicht weiß, dass dieser sich in der gleichen Situation befindet; wie oft genug im Leben, ist die antizipierte negative Reaktion des anderen der Grund, warum man sich schlechter verhält. In der vierten Szene des dritten Aktes erschei­ nen beide Männer auf der Bühne, aber sie sehen einander nicht, und abwechselnd drücken sie analoge Empfindungen aus. Inversion ist eine ebenso wohlbekannte komische Struktur wie Wiederholung; und beide sind in dieser Szene brillant verschränkt. Während die beiden Väter, ohne es zu wissen, die Gedanken des jeweils anderen, allerdings mit einem anderen Referenten, wiederholen, findet gleichzeitig im propositionalen Gehalt eine Umkehrung statt; denn wenn der eine sich als den Unterlegenen dargestellt hat, wird er in der nächsten Aussage, die freilich nicht von ihm selber stammt, als der Überlegene herausgestellt. Die vis comica der Szene beruht auf der Tatsache, dass sich diese beiderseitigen Ängste in dem Augenblick auflösen müssen, in dem sie beide erkennen, dass diese Ängste geteilt werden. Als sie einander begegnen, versuchen sie, einander durch Gesten äußerster Demut zu beschwichtigen – sie fallen beide auf ihre Knie –, und sie können das Benehmen der anderen Seite nur jeweils als Spott deuten. Als sich schließlich die Situation klärt, in der sich Zwar äußert auch Jeronimus eine analoge Bemerkung (III 9; I 442), aber wenigstens nicht in der Gegenwart seines Sohnes.

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beide befinden, beschließen sie, ihre Kinder zu zwingen, sich an die Verlobung zu halten. Interessanterweise ist es Leonard, der zuerst diese seine Absicht erklärt, auch wenn er dann einige Bedenken hat, da er fürchtet, seine Tochter könne sich selbst ein Leid zufügen. Doch Jeronimus erklärt ihm, nichts sei absurder, als die eigenen Kinder hoffen zu lassen, man glaube an ihre Drohungen. Die Liebenden beschließen zu fliehen und ohne elterliche Zustimmung zu heiraten. Aber Henrich wird gefangengenommen und muss unter Folter das Versteck nennen, in dem sich sein Herr und dessen (weiterhin unbekannte) Geliebte befinden. Während Jeronimus darauf wartet, dass sie zurückgebracht werden, berichtet er Leonard, den man hat glauben lassen, seine Tochter werde seinen Plänen zustimmen, er würde vor Kummer sterben, sollte sein Sohn nicht zurückkehren. Leonard ermahnt ihn, sich wie ein Christ zu verhalten und sich nicht von Niedergeschlagenheit übermannen zu lassen (denn er begreift immer noch nicht, dass sie sich in der gleichen Situation befinden), als er einen Brief Pernilles mit der Nachricht erhält, seine Tochter habe sich ertränkt; der Brief erklärt ferner, es sei eine Sünde, seine Kinder zur Heirat zu zwingen. Nun ist es an ihm, sich völlig der Verzweiflung zu ergeben, zumal er seine eigene Schuld an dem vermeinten Tod seiner Tochter anerkennt (III 11: I 444). (Man beachte auch hier die Verschränkung von Wiederholung und Inversion – beide Väter sind der Reihe nach verzweifelt, aber der erst später Verzweifelnde war kurz vorher dem anderen gegenüber äußerst herablassend gewesen.) Leonard ist zudem ehrlich genug zuzugeben, dass hinter all der vorgeschützten Sorge um die eigenen Kinder massive wirtschaftliche Interessen standen, und er will seiner Tochter nachfolgen und sich selbst das Leben nehmen. Aber da wird Leander mit seiner Freundin zurückgebracht. Die Liebenden erkennen, dass die selbstgewählten Partner dieselben sind wie diejenigen, vor denen sie geflohen waren, und dass diejenigen, gegen die Ehe mit welchen sie sich aufgelehnt hatten, gerade die Menschen sind, die sie am meisten lieben. »Ich bin gleichzeitig Leonora und Leonoras Rivalin.« (»Ja jeg er Leonora og Leonoras Rival tillage«, III 13; I 446) In einer reflexiven Passage am Ende erklärt Henrich, eine Komödie sei gespielt worden, und er vermehrt die allgemeine Freude, indem er um Pernilles Hand anhält. Er bemerkt, nur die Liebe von Menschen aus höheren Ständen könne das Thema einer Komödie abgeben, und er schließt mit einem Lob der Maskerade, die die Liebe des höher stehenden Paares vertiefte und auch ihm gestattete, eine Frau zu finden.

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Alles löst sich in Wohlgefallen auf, sowohl im Spiel als auch beim Publikum, das die in diesem Fall wirkende Harmonie zwischen persönlicher und elterlicher Wahl von der Qual befreit, entscheiden zu müssen, welche der beiden im Konfliktfall Vorrang genießen sollte. Es wird noch ein Jahrhundert dauern, bis in Westeuropa bei den höheren Ständen die neue Antwort moralisch und rechtlich anerkannt sein würde, und ohne Zweifel hat die neuzeitliche Komödie im allgemeinen, und Holbergs Mascarade im besonderen, den Boden dafür langsam bereitet.

II. Der Hauptunterschied zwischen Goldonis und Holbergs Dramen ist schon erwähnt worden: Lucietta und Felippetto zweifeln keinen Augenblick daran, dass die Person, in die sie sich verlieben, die von den Vätern ausgewählte ist. Ihr Ungehosam richtet sich nicht gegen die elterliche Wahl; sie wünschen nur, die Braut bzw. den Bräutigam vor der Hochzeit zu sehen. Während Felippetto wenigstens vorher informiert worden ist, er werde verheiratet werden, obgleich er seiner Braut nur bei der Hochzeit begegnen werde, plant Lunardo, seine Tochter nur dann zu benachrichtigen, wenn sie den Heiratskontrakt unterzeichnen soll. Denn er ist der Herr, wie er zweimal sagt: »Son paron mi.« (I 3; VII 636) Felippettos Wunsch, seine Braut vor der Eheschließung zu sehen, wird vom Vater abgelehnt, und auch wenn er seiner Tante Marina bekennt, er behalte sich das Recht vor, »nein« zu sagen (I 6; VII 642), scheint Lucietta, die von der Anfangsszene an auf subtile Weise als reif für die Ehe dargestellt wird, die Möglich­ keit gar nicht zu erwägen, sie könnte Felippetto nicht mögen, und schließt ausdrücklich aus, sie könnte ihm vielleicht nicht zusagen – ein Selbstvertrauen, das den Neid ihrer Stiefmutter Margarita weckt (II 7; VII 669). In ihrer langen Rede im letzten Akt wird Felice analog dahinge­ hend argumentieren, Mädchen müssten zwar von ihren Vätern ver­ heiratet werden und sie sollten ihnen gehorchen; aber sie sollten in der Lage sein, ihrem Bräutigam vorher zu begegnen, denn es sei mög­ lich, dass er ihnen missfalle. »Seid Ihr sicher, um jetzt den entschei­ denden Punkt zu nennen, dass er ihr gefallen muss? Und wenn er ihr nicht gefallen sollte?« (»Seu seguro, vegnimo a dir el merito, che el

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gh’abia da piàser? E se nol ghe piasesse?«, III 2; VII 687 f.) Die väter­ liche Autorität wird hier also in viel schwächerer Weise herausgefor­ dert als in der früheren Mascarade – man spürt, dass Frauen im Vene­ dig des 18. Jahrhunderts noch stärker unterdrückt sind als im gleichzeitigen Dänemark. In I Rusteghi sind es die Väter (und ihre zwei Freunde), die die Ehe des einander liebenden Paares verhindern wol­ len, weil sie entdeckt haben, dass die beiden jungen Menschen ein­ ander heimlich getroffen haben, nachdem sie von der bevorstehenden Heirat gehört haben. Die venezianischen Väter sind viel autoritärer als Jeronimus und Leonard, deren Empörung eher verständlich ist, da sie herausgefunden haben, dass ihre Kinder eine Verlobung auflösen (die zwar von den Eltern verabredet wurde, aber doch unter formaler Zustimmung seitens der Kinder), jemand anderen heiraten und ent­ fliehen wollen. Doch sind ihre Motive ähnlich. Leonard sieht seine Ehre auf dem Spiel stehen, wenn er sein Versprechen bricht; und Lunardo (der interessanterweise die venezianische Form desselben Namens trägt, auch wenn dies keinesfalls ausreicht, um einen Einfluss zu beweisen) beginnt den dritten Akt mit folgender Bemerkung: »Es geht um Ehre, es geht, um jetzt den entscheidenden Punkt zu nennen, um das Ansehen meines Hauses. Ein Mann meines Standes.« (»Se trata de onor, se trata, vegnimo a dir el merito, de reputazion de casa mia. Un omo de mia sorte«, III 1; VII 681) Etwas weniger brutal als Leonards Anspielung auf den Verlust von Pernilles Jungfräulichkeit ist Lunardos sarkastische Bemerkung, als ihn seine Frau zögernd fragt, ob es nicht angemessen wäre, zuerst eine Begegnung der Braut­ leute zuzulassen: »Was willst du? Dass sie vorher schmusen?«7 (»Cossa voressi? che i fasse prima l’amor?«, I 3; VII 637) Die wirkliche Begegnung zwischen den Brautleuten ist in Wahr­ heit denkbar keusch. Felippetto erscheint mit weiblicher Maske and ist zu schüchtern, sie abzunehmen; nur mittels des Tricks, dass sie ihm Tabak anbietet, schafft es Marina, ihn dazu zu verleiten. Wie bei Hol­ berg hat das Abnehmen der Maske eine tiefe symbolische Bedeutung; denn die Entkleidung des Leibes ebenso wie das Abschütteln sozialer Rollen gehören zum Wesen der Liebe.8 Felice behauptet, der Besucher »Fare l’amor« kann sich im damaligen Venezianisch auf den Flirt beschränken. Aber es passt besser zu Lunardo, wenn er in seiner groben Antwort auch Physisches im Blick hat. 8 Man denke an Octave im vielleichr größten Film aller Zeiten, Jean Renoirs La Règle du Jeu (Die Spielregel). 7

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sei ihre Schwester, und als Lucietta lacht, ist Felippetto bezaubert von ihrem Lachen: »(Oh wie rein sie lacht!)« (»(Oh co la ride pulito!)«, II 11; VII 676) Goldoni scheint auf die bedeutende psychologische Wahr­ heit anzuspielen, die sich für jemanden gewiss von selbst versteht, dessen Beruf es ist, Menschen zum Lachen zu bringen, dass die Art und Weise unseres Lachens viel darüber sagt, wer wir sind.9 Nach vielen geflüsterten Bemerkungen bringt Felippetto schließlich den Mut auf, seine Braut direkt anzusprechen, die seine Tollpatschigkeit beim Wiederanlegen der Bauta (des Karnevalsumhangs mit Seiden­ kapuze und Maske) verlacht. Die Tollpatschigkeit ist teils Ausdruck seiner mangelnden Bereitschaft aufzubrechen, teils hat sie wiederum symbolische Bedeutung. Nachdem er sie gefragt hat, ob sie ihn verspotte, und sie zwar »nein« geantwortet hat, aber im Widerspruch dazu weiterhin lacht, nennt er sie »Schlaumeierin« (»Furba!«). Das ist alles, was sie einander direkt sagen – nach Goldoni ist offenbar nicht nur ein reines Lachen, sondern auch die Fähigkeit, übereinander zu lachen, ein wichtiger Faktor beim Schließen des Liebesbundes. Nachdem sie von den Vätern entdeckt worden sind, werden sie nicht mehr zueinander sprechen (Filippetto wird Lucietta nur schweigend grüßen, als er weggeführt wird), aber sie werden vor ihren Vätern auf die Knie fallen (II 14; VII 680) – zwei parallele asymmetrische Akte, die einen faszinierenden Kontrast bilden zu Jeronimus’ und Leonards symmetrischem Kniefall voreinander. Lucietta könnte nie daran denken, mit einem von ihr selber erwählten Liebhaber zu fliehen, da sie im Haus ihres Vaters fast wie eine Gefangene lebt (eine Lebensform, die Henrich spanischen Frauen zuschreibt). Wenn ihr Vater erwägt, sie in ein Kloster zu stecken, um sie für ihr Verhalten zu strafen, meint er es absolut ernst, während Magdelone ihren Gatten verspottete, als sie ihm sagte, ihre Eltern hätten sie wie in einem Kloster aufgezogen. (Ihre Erinnerungen an die Lustbarkeiten ihrer Jugend (I 4) entsprechen Margaritas Rückblick (I 1), aber auch das beweist keinen direkten Einfluss, da ein derartiges Verhalten sowohl psychologisch natür­ lich als auch dramatisch plausibel ist.) Weder Lucietta noch ihre Stiefmutter dürfen den Karneval genießen oder Komödien sehen (I 1), während Leonard Leonora ermuntert, zur Maskerade zu gehen (auch wenn er später bereut, so liberal gewesen zu sein). Lunardos 9 Man denke an die verschiedenen Formen des Lachens in John Hustons Film The Treasure of the Soerra Madre (Der Schatz der Sierra Madre).

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Strenge entspricht eher derjenigen Jeronimus’, aber dieser wird von seinem Sohn und zumal Henrich überlistet. Lucietta jedoch hat keine Zofe, und ihre Stiefmutter ist eine zweifelhafte Verbündete. Doch ist es der Karneval, der es Felippetto ermöglicht, sich zu maskieren und in Lunardos Haus einzudringen; in beiden Komödien hat der Karneval die Wirkung, Menschen zusammenzubringen, die sonst einander nicht begegnen würden. Die Unterschiede haben teils mit den abweichenden Nationalkulturen zu tun, aber noch wichtiger ist die Klassenzugehörigkeit; denn Lunardo, Maurizio, Canciano und Simon sind keineswegs Vertreter der durchschnittlichen Venezianer ihrer Zeit. Die Moral des Dramas ist daher überholt, wie Goldoni sel­ ber schon 1787 anerkannte (Mémoires II 34; I 393). Seine Helden sind sich dessen sehr wohl bewusst, dass die eigenen Frauen sie als »wild« (»salvadeghi«) betrachten (I 5; VII 640 und III 1; VII 681). Auch nachdem sie endlich der Eheschließung zugestimmt haben, weigern sie sich immer noch, Felices Cicisbeo, Graf Riccardo, zum Hochzeits­ mahle einzuladen, und Felice wiederholt ihre Klagen über »diese Grobheit, diese Wildheit« (»sta rusteghezza, sto salvadegume«): »Sie wird euch wut- und hasserfüllt, unzufrieden und allgemein verspottet machen.« (»Ve farà esser rabiosi, odiosi, malcontenti, e universalmete burlai.«, III 5; VII 69510) Mit der Ausnahme Cancianos, des einzigen Städters des Dramas, sind die »rusteghi«, trotz des Erwerbs eines gewissen Wohlstandes, provinzieller Herkunft, wie Padoan aufgrund der Analyse ihrer Namen nachgewiesen hat (siehe Padoan 2001, 154). Leonard und Jeronimus dagegen sind erstens Lutheraner, die einige Male ihre reli­ giösen Gefühle ausdrücken, wohingegen in Goldonis Text derartige

10 Das letzte Attribut muss reflexiv gelesen werden, also als Anspielung auf das Ergebnis von Goldonis Komödie, die in der Tat diesen Menschentyp lächerlich werden lässt. Auch der letzte Satz des Dramas gibt Sinn sowohl innerhalb des literarischen Universums als auch in Bezug auf das Publikum der Aufführung. Weitere reflexive Passagen – Anspielungen auf die Komödie, die innerhalb des Dramas gespielt wird, ganz analog zu Henrichs Schlussbemerkungen – finden sich II 11 (VII 676) und II 14 (VII 681). Die Äußerungen stammen von Graf Riccardo bzw. Felice, den beiden aufgeklärtesten Figuren des Stückes. Man kann nicht einwenden, die Kategorie der Reflexivität sei ein späterer Theoriezusatz, der Goldoni fremd sei. In einer Fußnote zur Pasquali-Ausgabe von 1762 schreibt Goldoni zu Felices Bemerkung »Hah, wer es organisiert hat, ist nicht dumm« (»Eh, chi l’ha ordenà, no xe alocco«, III 2, VII 689): »Hier spricht der Autor von sich selbst, da er nicht das vergisst, was er gesagt hat.« (»Qui l’autore parla di se stesso, che non si scorda ciò di cui ha parlato«).

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Gefühle vö llig fehlen.11 Sie gehören zweitens einem höheren sozialen Stand an, obgleich sowohl der dänische als auch der venezianische Vater eine beträchtliche Mitgift bzw. ein entsprechendes Erbe ihren Töchtern zuteilen und daher ein starkes wirtschaftliches Interesse an dem Geschäft haben. Freilich wird in Goldonis Drama das Thema schon ziemlich zu Beginn erwähnt (I 5; VII 638 f.), während es in Holbergs Komödie nur am Ende von Leonard mit Schuldgefühlen eingeräumt wird, da er glaubt, er habe seine Tochter in den Tod getrie­ ben (III 11; I 445). Wir haben schon gesehen, dass Holberg zunächst die beiden Väter einander meisterhaft entgegenstellt, um dann ihre Unterschiede als weniger eindrucksvoll zu erweisen, als sie auf den ersten Blick erschienen; denn wenn seine Ehre hinterfragt wird, ver­ hält sich Leonard nicht besser als Jeronimus, auch wenn am Ende die Angst, seine Tochter verloren zu haben, seine besseren Instinkte wie­ dererweckt. Goldoni ist noch kunstfertiger, indem er vier Charaktere einführt, die, auch wenn sie einander alle ähnlicher sind als die beiden Vaterfiguren Holbergs,12 dennoch unverwechselbar individuelle Schattierungen aufweisen: Lunardo dank seines Wunsches, über andere Menschen Macht auszuüben; der Witwer Maurizio, der eine Begegnung zwischen den Brautleuten vor der Eheschließung vorsich­ tig vorschlägt (I 5; VII 638), durch seinen Stolz auf seine beschränkten Freuden; Simon, der sogar gegen einen Besuch der Verwandten seiner Frau Widerwillen empfindet, durch seine einzelgängerische Rohheit; Canciano, der am wenigsten in die Gruppe hineinpasst, durch ein Bewusstsein von der Überlegenheit seiner Frau, die geschickt mit ihm spielt.13 Goldoni weiß, dass Menschen von ähnlichem sozialem Rang und ähnlichem Charakter sich aufgrund des Einflusses des Ehepart­ ners recht unterschiedlich entwickeln können. In seinen Memoires schreibt er: Es handelt sich um vier Bürger der Stadt Venedig, aus gleichem Stand, mit gleichem Vermögen, und alle vier von gleichem Charakter, schwie­ rige, erbitterte Menschen, die die Bräuche der alten Zeit befolgen und die Moden, die Freuden und die Gesellschaften des Jahrhunderts has­ sen. 11 Das gilt allgemein von Goldonis Œuvre; siehe Dazzi, 1957, 207: »Escluso dal suo teatro ogni riferimento, anche esteriore, alla religione…« 12 Sie alle hassen die moderne Freiheit: »Und von all dem ist Freiheit die Ursache.« (»E tuto xe causa la libertà«, II 5; VII 663) 13 Siehe zumal I 9 (VII 646 ff.), aber auch die Weise, wie sie ihn, zur völigen Über­ raschung seiner Freunde, in III 2 (VII 685 f.) zum Schweigen bringt.

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Diese Einförmigkeit der Charaktere, statt im Stück Monotonie auszu­ breiten, bildet ein völlig neues und sehr angenehmes Bild; denn jeder von ihnen zeigt sich mit besonderen Nuancen, und ich habe dank dieser Erfahrung erlebt, dass die Charaktere unerschöpflich sind. [...] Die Ehefrauen tragen z.B. unendlich viel dazu bei, die Rohheit ihrer Gatten zu mildern oder sie lächerlicher zu machen. (Ce sont quatre Bourgeois de la ville de Venise, du même état, de la même fortune, et tous les quatre du même caractere, hommes difficiles, farouches, qui suivent les usages de l'ancien tems, et détestent les modes, les plaisirs, et les sociétés du siecle. Cette conformité de caractere, au lieu de répandre la monotonie dans la Piece, forme un tableau tout-a-fait nouveau et fort plaisant; car chacun d’eux se montre avec des nuances particulieres, et j’ai prouvé par cette expérience, que les caracteres sont inépuisables. [...] Les femmes, par exemple, contribuent infiniment à radoucir la rudesse de leurs maris, ou à les rendre plus ridicules., II 34; I 392).

Das führt uns in der Tat zum Hauptunterschied zwischen Holbergs und Goldonis Komödie. Während jener in der guten Tradition der Commedia dell’arte den Dienern eine entscheidende Rolle zuschreibt, sind diese in Goldonis Stück auffallend abwesend. (Ich spreche natür­ lich nicht vom Gesamtwerk.) Was er an deren Stelle bietet, sind die Tätigkeiten der drei Ehefrauen (siehe Fido 1977, 41 f.). Wiederum sind deren Unterschiede bemerkenswert. Margarita ist der schwächste Charakter – sie rivalisiert mit ihrer eigenen Stieftochter, ist inkonsis­ tent in ihren Entscheidungen und versucht nie, sich Lunardos Zumu­ tungen zu widersetzen. Marina ist mutiger; sie wünscht aufrichtig, ihrem Neffen Felippetto zu helfen. Aber nachdem er in Lunardos Haus entdeckt worden ist, ist sie völlig hilflos (II 14; VII 681). Man könnte diese zwei Frauen mit Magdelone vergleichen, deren Aufstand gegen den eigenen Mann sich auf kleine Lügen beschränkt; werden diese aufgedeckt, gibt sie sofort nach.14 Die wirkliche Heldin in Goldonis Stück ist Felice, der intelligenteste und selbstsicherste Charakter, deren Emanzipation sich auch darin erweist, dass sie einen Cicisbeo 14 Holberg kennt durchaus auch stärkere Frauen. Lisbeds Mutter Magdelone in Erasmus Montanus z. B. beharrt auf den Rechten einer Mutter, und als ihr autoritärer Ehemann Jeronimus behauptet, ein Vater sei stets mehr als eine Mutter, widerspricht sie ihm: »Denn niemand kann zweifeln, dass ich ihre Mutter bin, aber dass du – ich will nichts mehr sagen, denn ich ereifere mich.« (»Thi at jeg er hendes Moer, derom kand ingen tvile; men om I – ja jeg vil ikke sige meer, thi jeg ivrer mig.«, III 6; III 35) Man fühlt im Hintergrund dieser Bemerkung Strindbergs Fadren (Der Vater) lauern.

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hat. Sie ist es, die Felippettos und Graf Riccardos maskierten Besuch organisiert; und auch sie selbst kommt maskiert zu Lunardos Haus, dadurch eine komplexere Identität nahelegend (II 8; VII 670). Sie hat Züge jenes dramatischen Personentypus, der eine dem Theaterregis­ seur analoge Funktion ausübt, da er oder sie die Handlungen anderer Menschen organisiert; Shakespeares Prospero ist das berühmteste Beispiel. Aber der Unterschied ist, dass Felice bei ihrem Versuch scheitert, da Graf Riccardo aus seinem Versteck herauskommt, als sein Charakter beschimpft wird; denn auch er ist heikel, was seine Ehre betrifft. Felices Größe besteht nun darin, dass sie sich nicht darein fügt, besiegt worden zu sein, sondern, zusammen mit Graf Riccardo (III 2; VII 688), Verantwortung übernimmt für das Unheil, das sie bei den jungen Menschen angerichtet hat. Sie beschließt, frei und offen mit den »rusteghi« zu sprechen. Der Mut, den sie an den Tag legt, als sie in der entscheidenden Szene III 2 die Höhle der zu diesem Zeitpunkt drei Löwen betritt, ist bemerkenswert. Canciano, unter dem Gruppendruck seiner Freunde, droht ihr sogar physisch,15 aber sie besteht auf gegenseitigem Respekt als der Grundlage einer jeden Ehe. »Ich bin Eure Frau; Ihr könnt mir befehlen, aber ich will mich nicht misshandeln lassen. Ich verliere nicht den Respekt Euch gegenüber; und Ihr dürft ihn nicht mir gegenüber verlieren. Und da Ihr mein Mann seid, dürft Ihr nie wieder in dieser Weise mit mir reden.« (»Son vostra muggier; me podè comandar, ma no me vôi lassar strapazzar. Mi no ve perdo el respeto a vu, e vu no me l’avè da perder a mi. E dopo che sè mio mario, no m’avè mai più parlà in sta maniera.«, III 2; VII 685) Nachdem sie ihn zum Schweigen gebracht hat, wendet sie sich an die beiden anderen Männer, wobei sie eine beachtliche Auffassungsgabe bezüglich ihrer charakterlichen Unterschiede an den Tag legt und sie davor warnt, zwischen Canciano und ihr Zwist zu säen. Sie beruft sich auf die Goldene Regel (in der negativen Form), die aber keineswegs auf das Evangelium zurückbezogen wird, sondern als ein Prinzip innerweltlicher Moral zu funktionieren scheint.16 »Was ihr nicht wollt, dass andere euch tun, dürft auch ihr nicht anderen tun.« (»Quel che no voressi che i altri fasse con vu, gnanca vu coi 15 Über häusliche Gewalt bei Goldoni, einschließlich unserer Komödie, siehe Güns­ berg 2001, 86 ff. 16 Zu den Debatten des frühen 18. Jahrhunderts über eine nicht auf Religion gegrün­ dete Moral siehe Israel 2006, 663–696. Israels bahnbrechende Trilogie wird das Standardwerk zur Aufklärung für viele Jahrzehnte sein.

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altri no l’avè da far.«) Sie erkennt darauf ihre Verantwortung an für das, was geschehen ist, obgleich sie geschickt auch die beiden anderen Ehefrauen miteinbezieht, und erklärt, sie werde sich selbst nach dem Kriterium der rechten Vernunft beurteilen. »Wenn ich unrecht habe, werde ich mir unrecht geben; und wenn ich recht habe, werde ich mir recht geben.« (»Se gh’ho torto, me darè torto; e se gh’ho rason, me darè rason.«) Sie verteidigt alsdann das Prinzip, Braut und Bräutigam müssten einander begegnen, bevor sie heirateten, um herauszufinden, ob sie einander mögen oder nicht, und behauptet, auch Margarita habe so empfunden, aber nicht den Mut gehabt, entsprechend zu handeln. Die Frauen hätten sich richtig verhalten, und Felices Absichten seien rein gewesen: »Ich habe aus gutem Herzen gehandelt.« (»Mi ho operà per buon cuore.«) Es ist nicht schwer, in Felices Rede die Grundzüge der modernen Ethik wiederzuerkennen: das Prinzip der Autonomie der Vernunft, der Mut und die Bereitschaft, Verantwor­ tung zu übernehmen, der intentionalistische Gesichtspunkt, die Idee wechselseitigen Respektes als einer Ausformung einer säkularisierten Goldenen Regel – Gedanken, die ihren komplexesten Ausdruck in Kants Ethik finden werden – passen sehr gut zu dem modernen Postulat, dass sich die Ehe auf den Konsens und sogar die Liebe der Ehepartner gründen muss. Die Idee, für die Felice kämpft, entspricht genau den Mitteln, die sie anwendet. Das Pathos der Vernunft in I Rusteghi ist dem dramatischen Charakter abträglich; denn das Publikum einer Komödie zieht erfin­ derische Intrigen in der Regel subtilen Charakterstudien vor, um von Moralpredigten zu schweigen. Holbergs Komödie ist lustiger; in Mark Roches bahnbrechender Typologie17 handelt es sich um eine Komödie des Zusammentreffens (»comedy of coincidence«, wobei der Terminus nicht so gedeutet werden sollte, dass er jede Form göttlicher Lenkung ausschließt), während Goldonis Drama in Roches Termino­ logie eine Komödie der Reduktion wäre. Aber noch wichtiger als die »rusteghi« zu verspotten, ist es für Goldoni hervorzuheben, dass die Menschen nicht vom Zufall regiert werden und an ihm scheitern, wie etwa der Entdeckung von Filippettos verbotenem Besuch. Als Vertreter der Aufklärung glaubt Goldoni, dass Menschen ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen können. Es ist nahezu unumgänglich, Felice mit Goethes zwei Jahrzehnte jüngerer Iphigenie zu vergleichen, 17 Siehe die Analyse von Mascarade (die er mit Leonce und Lena vergleicht) bei Roche, 1998, 14 f.

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die ja ebenfalls die Intrige zurückweist und Thoas ihren Plan mitteilt. Gewiss hat Felice zuerst Ränke geschmiedet und versucht nun, eine Situation zu retten, die anscheinend hoffnungslos ist; das Gefühl lie­ bevoller Verehrung, das Iphigenie für Thoas empfindet, ist ihr fremd. Auch in ihrer redlichen Ansprache bleibt sie irgendwie manipulativ, und sicherlich ironisch, z. B. wenn sie Lunardos Manieriertheiten nachahmt. Schließlich ist Goldonis Stück eine Komödie, keine Tragö­ die oder ein Versöhnungsdrama. Ihre geflüsterte Bemerkung »Ich habe sie in den Sack gesteckt, aber zu Recht« (»I ho messi in sacco, ma con rason«, III 2; VII 688) ist typisch für sie – und wäre bei Iphigenie selbstredend undenkbar. Felice sieht sich in einer Konflikt­ situation und vertraut sich niemals vollständig den Entscheidungen der männlichen Welt an, wie es Iphigenie tut, aber sie glaubt, sie sei in ihrem Verhalten durch die Vernunft gerechtfertigt. Und in der Tat ist Thoas ein Mann ganz anderer Würde als die »rusteghi« – ein Barbar, aber doch ein König. Dennoch sind Felice und Iphigenie zwei der größten Symbole des Glaubens der Aufklärung an die Vernunft und deren Fähigkeit, die Wildheit zu zähmen. Geistig beschränkte Venezianer und barbarische Skythen können durch den Charme der kommunikativen Vernunft überwältigt werden, die mehr erreichen wird als alle Intrigen der strategischen Vernunft. Was Kant nicht begriff, aber was Goldoni wie Goethe in ihren Dramen darstellen, ist, dass eine so bezaubernde Vernunft, die sowohl Gewalt als auch Betrug verwirft, am besten durch einen weiblichen Charakter dargestellt wird. Goldoni spricht in seinen Mémoires von schwierigen Gatten und wünscht ihnen Frauen, die Félicité ähneln (II 34; I 394) – in der französischen Fassung sagt uns der Name noch expliziter, dass es die Vernunft ist, die zum Glück führt.

III. Blickt man auf die besonderen Gestalten, die die Genres in der Literaturgeschichte Europas angenommen haben, findet man, dass der Typus der Komödie, der sich im vierten Jahrhundert vor Chris­ tus durchgesetzt hat, über mehr als zweitausend Jahre erstaunlich konstant geblieben ist. In seiner wichtigen Studie zum Komischen unterscheidet Horn drei Phasen in der Geschichte des Genres: die Alte Komödie, die nur dank Aristophanes’ Dramen über Fragmente hinaus erhalten ist, die Komödie von Menandros bis zum 20. Jahrhundert

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und die moderne absurde Komödie von Autoren wie Ionesco und Beckett. Er behauptet zu Recht, diese moderne Komödie sei dem Aristophanischen Typus ähnlicher als der neuen Komödie (siehe Horn 1988, 265–280). Seine Dreiteilung ist im Wesentlichen richtig. Doch man sollte ergänzen, dass einige Züge der modernen Komödie schon in den wenigen romantischen Komödien des letzten Jahrzehnts des 18. und der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts erscheinen. Tiecks Der gestiefelte Kater z.B. ist mehr ein Drama über die Reaktion des Publi­ kums auf das Theater denn über das, was der Titel suggeriert – nicht sehr viel anders als Pirandellos Ciascuno a suo modo (Jeder auf seine Weise), wenn auch ohne die dramatische Gewalt des letzteren, die sich aus der Verknüpfung beider Ebenen des Stückes, der eigentlichen und der auf das Publikum bezogenen, ergibt. Die Romantik trug zum Niedergang des von der Neuen Komödie inspirierten Dramas nicht nur durch eine Revolte gegen realistische Einschränkungen und durch ihre ständigen Verletzungen der mimeti­ schen Illusion bei; fast ebenso wichtig war die Entdeckung eines neuen Begriffs der Liebe. Diese Entdeckung kann zwar mindestens bis auf Shakespeare zurückgeführt werden, der in der Tat mit mehreren Kon­ ventionen der Neuen Komödie bricht und daher von den Romantikern und von Büchner geliebt wird, während Holberg ihn ignorierte und Goldoni, der nicht Englisch konnte, ihn nur von weitem bewunderte (siehe das Widmungsschreiben von I Malcontenti (Die Unzufriede­ nen) an John Murray V 1018–1020). Trotzdem enden Shakespeares Komödien immer noch mit Hochzeiten, und er teilt offenkundig den Glauben seiner Zeit an die Unauflöslichkeit der Ehe. Die romantische Liebe freilich ist eine viel kompliziertere Angelegenheit, als dass sie durch eine einfache Eheschließung gelöst werden könnte; die Hochzeit ist nicht mehr ein Ende, das eine Spannung überwindet, einen Schlusspunkt setzt und reine Freude auslöst. Je tiefer die Liebe, desto tiefer der Schmerz und desto stärker die Sehnsucht nach dem Tode – diese neue Kennzeichnung macht aus der Liebe etwas für eine Komödie Problematisches. Wagners Tristan und Isolde sind keine Charaktere, die in das Genre passen – selbst wenn Isolde Marke nie geheiratet hätte.18 18 Eine bemerkenswerte Kritik einer Präfiguration romantischer Liebe findet sich in Holbergs De usynlige (Die Unsichtbaren). Während Leander seine unsichtbare Dame zu Recht idealisiert, wird sein Diener Harleqvin, der mit Colombine bricht, um eine maskierte Dame zu lieben, weil er die normale Liebe ohne Geheimnis für zu langweilig

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Von allen deutschen romantischen Komödien ist wahrscheinlich die einzige, die auf der Bühne überlebt hat, Georg Büchners Leonce und Lena. (Wenn man Kleist als Romantiker kategorisiert, wird man Der zerbrochne Krug hinzufügen.) Das ist deswegen überraschend, weil Büchner gewöhnlich als derjenige deutsche Autor angesehen wird, der am meisten dazu beigetragen hat, die Romantik zu über­ winden. Es verwundert nicht, dass, als Büchner postum entdeckt wurde, Leonce und Lena bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend vernachlässigt wurde. Der Naturalismus fühlte sich durch Woyzeck inspiriert, nicht durch unsere Komödie. Wären Woyzeck und Leonce und Lena als anonyme Texte erhalten geblieben, denke ich in der Tat, dass ein Literaturkritiker kaum ernst genommen worden wäre, der behauptet hätte, sie seien beide das Werk desselben Autors, denn die Weltanschauungen, die sie ausdrücken, scheinen einander zu widersprechen. Eine Weise, den Gegensatz zu überbrücken, besteht darin zu sagen, Leonce und Lena sei eine Persiflage der romantischen Komödie. Das ist zweifelsohne richtig, aber das Problem ist, dass Selbstparodie einer der Grundzüge der Romantik selber ist. Tieck, Brentano und natürlich Heine sowie außerhalb Deutschlands Kierke­ gaard und Gogol wissen sehr wohl – wenigstens solange sie große Künstler bleiben und der Versuchung widerstehen, bigott zu werden –, dass ihre neue Form von Sensibilität die Tendenz hat, komisch zu werden, und daher verspotten sie sie selbst. Diese Fähigkeit zur Selbstironie steigert andererseits ihr Bewusstsein, dass sie wirklich außerordentliche Individuen seien, und so mag sie die Neigung ver­ stärken, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Die Oszillation zwischen Depression und Größenwahn ist ein Grundzug der romantischen Subjektivität; und daher weichen die Elemente der Selbstironie in Büchners Komödie nicht stark ab von denen des wichtigsten Vorbilds, Alfred de Mussets Fantasio.19 hält (I 3, II 2), durch eine alte und häßliche Dame grausam hinters Licht geführt und ist dann gezwungen, unter demütigenden Bedingungen seine frühere Verlobte zu heiraten. Holberg lehrt, dass romantische Ideale, die auf Spanien zurückgeführt werden, vielleicht für die höheren, aber sicher nicht für die niederen Stände taugen. Der dänische Ausdruck ist »Romansk« (I 5; III 233) oder »Spansk« (I 1; III 224 und III 6: III 253). – Bei Goldoni mag der Cavaliere di Ripafratta in La locandiera (Die Wirtin) romantische Neigungen haben, Mirandolina sicherlich nicht. Und für sie schlägt Goldonis Herz. 19 Die intertextuellen Anspielungen auf Musset, aber auch Goethe, Jean Paul, Tieck und Brentano sind Legion; die Liebesszene wurde von Dedner treffend ein »Zitat-

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Nicht nur die Tendenz zur Selbstverspottung ist in der Romantik angelegt, auch Büchners Interesse an einem Charakter wie Woyzeck ist von der Romantik beeinflusst, so unterschiedlich auch dessen Behandlung ist. Der Psychopath bescheidenster Herkunft wäre von Goethe, auch in seiner Sturm-und-Drang-Zeit, nicht als legitimer Gegenstand einer Tragödie angesehen worden, während sich die Romantik seelischer und sozialer Abgründe bewusst wurde, die frühere Zeiten zu übersehen vorzogen. Auf diese neue Entdeckung kann man auf verschiedene Weisen reagieren: Sie umfassen sowohl eine neue Form von Religiosität, die nicht mehr primär auf die Vernunft gegründet ist, als auch den Atheismus; Wackenroder und Schopenhauer sind beide Romantiker. Büchners Payne in der ersten Szene des dritten Aktes von Dantons Tod hat nichts mit dem his­ torischen Thomas Paine zu tun, sondern empfindet wie Schopen­ hauer: »Nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefühl empört sich dagegen. Merke dir es, Anaxagoras, warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus.« (I 58) Das Leiden mag sich auf eine kurze Zeit beschränken. Es wird problematischer, wenn es ausgedehnt wird, und noch mehr so, wenn sich jemand, wie es vermutlich nur bei Menschen vorkommt, sich seiner zukünftigen Dauer bewusst ist. Langeweile kann vielleicht am besten definiert werden als ein Gefühl der Qual, das durch das Bewusstsein einer reinen Zeitdauer verursacht wird, die durch nichts intrinsisch Wertvolles gefüllt werden wird.20 Da sie weniger schmerzlich ist als andere Formen des Leidens, kann sie der passende Gegenstand einer Komödie sein, und in der Tat ist Leonce und Lena im Wesentlichen eine Komödie über Langeweile (I 1; I 96).21 Rosettas Frage, ob er sie aus Langeweile liebe, beantwortet Leonce so: »Nein, ich habe Langeweile, weil ich dich liebe. Aber ich liebe meine Langweile wie dich. Ihr seid eins.« (I 3; I 101) Selbst von Gott wird vermutet, er habe die Welt aus Langeweile geschaffen (III 3; I 127) Wie schon erwähnt, ist der unmittelbare Vorläufer von Leonce und Lena Mussets Fantasio. Es gibt sehr guten Sinn, dass das letztere Furioso« genannt (1987; 170). Nicht nur Büchner, auch Lena ist literarisch gebildet (II 1; I 113). 20 Ich kenne keinen altgriechischen Text, der Langeweile beschreibt. Die erste Analyse findet sich m. W. bei Lukrez (III 1053 ff.). 21 Ich finde es plausibel, dass Poschmann in seiner Büchner-Ausgabe sich dafür entscheidet, hauptsächlich Ludwig Büchners und nicht Karl Gutzkows Ausgabe zu folgen (I 586–600).

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Drama das Happy End einer Eheschließung vermeidet: Elsbeth wird aus der Verlegenheit befreit, den verächtlichen Prinzen von Mantua heiraten zu müssen; aber Fantasio, der das erreicht hat und der Züge sowohl von Leonce als auch von Valerio trägt, will nicht einmal der Narr der Prinzessin werden. »Ich liebe diesen Beruf mehr als jeden anderen; aber ich kann keinen Beruf ausüben.« (»J’aime ce métier plus que tout autre; mais je ne puis faire aucun métier.«, II 7; 135) Fantasio ist konstitutionell unfähig zu lieben, weil er nicht mehr religiös ist und weiß, dass Liebe Religion voraussetzt: »Die Liebe existiert nicht mehr, mein Freund. Die Religion, ihre Amme, hat die Brüste hängen wie ein alter Beutel, auf dessen Grund sich ein großer Pfennig befindet.« (»L’amour n’existe plus, mon cher ami. La religion, sa nourrice, a les mamelles pendants comme une vieille bourse au fonde de laquelle il y a un gros sou.«, I 2; 112) Büchners Drama dagegen setzt eine jahrtausendealte Tradition der Komödie fort und endet mit einer Hochzeit. Frelich ist es nur eine, und nicht zwei wie bei Holberg und in vielen anderen Komödien (Clemens Brentanos Ponce de Leon, das andere Vorbild von Leonce und Lena, endet sogar mit fünf); und man kann sich in der Tat nur schwer vorstellen, wie Valerio Lenas Gouvernante heiraten könnte. Was rechtfertigt Büchners Änderung gegenüber Musset? Leonce und Lena sind königliche Personen, und als solche wären sie von früheren Dramatikern nicht als geeignete Gegenstände einer Komödie angesehen worden. Soweit ich sehen kann, hat die klassi­ sche Tragödie sich hauptsächlich mit dem Verzicht eines Fürsten auf Liebe aus Gründen der Staatsräson befasst (man denke an Racines Bérénice). Vor der Entstehung des romantischen Liebesideals wäre die bloße Notwendigkeit, eine ungeliebte Person zu heiraten, von einem Fürsten schwerlich als etwas Unerträgliches empfunden worden, da die politische Bedeutung der Angelegenheit offenkundig war und dem männlichen Fürsten stets gestattet wurde, sich eine Mätresse zu halten. Bei Musset und Büchner wird dies jedoch als untragbar wahrgenommen. Leonce und Lena beschließen, aus ihren jeweiligen Königreichen zu fliehen, um einer Ehe mit dem jeweils anderen zu entgehen, die ihnen oktroyiert wird. Der Unterschied zu Leander und Leonora besteht darin, dass die letzteren sich nur auflehnen, nachdem sie sich in jemand (vermeintlich) anderen verliebt haben; Leonce und Lena haben dagegen niemanden gefunden (Leonce hat Rosetta gerade weggeschickt). Dennoch sträubt sich Lena:

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O Gott, ich könnte lieben, warum nicht? Man geht ja so einsam und tastet nach einer Hand, die einen hielte, bis die Leichenfrau die Hände auseinandernähme und sie Jedem über der Brust faltete. Aber warum schlägt man einen Nagel durch zwei Hände, die sich nicht suchten? (I 4; I 109)

Die religiose Metaphorik wird von der Gouvernante fortgesetzt, die Lena einem Opferlamm vergleicht; aber wenn Lena, durch die »Rede des toten Christus« in Jean Pauls Siebenkäs inspiriert, die Welt als einen gekreuzigten Heiland deutet, verwendet sie die religiöse Sprache, um religiöse Gefühle einer Harmonie mit der Welt zu unterwandern. Doch schon in der nächsten Szene preist sie die Welt als schön – eine Inkonsistenz, die man nicht selten in der Romantik findet, da diese dazu tendiert, allgemeine Assagen über die Welt auf vorübergehende Stimmungen zu gründen. Nicht weniger widerspruchsvoll sind Leonces Äußerungen. Einerseits macht er sich über Ideale lustig, als er Valerio das erste Mal trifft: »Unglücklicher, Sie scheinen auch an Idealen zu laborieren.« (I 1; I 97) Andererseits bekennt er, das Ideal einer Frau zu haben, auch wenn er es gleichzeitig unterminiert, indem er unendliche Schönheit und unendliche Geist­ losigkeit nebeneinanderstellt: »Ich habe das Ideal eines Frauenzim­ mers in mir und muß es suchen. Sie ist unendlich schön und unendlich geistlos.« (II; I 112) Leonce glaubt nicht an Ideale, aber kann nicht ohne sie leben; daher drückt er sie aus und verachtet sie gleichzeitig. Es ist schwierig, Büchners eigene Einstellung zur sozialen Utopie, die am Ende skizziert wird, anders zu interpretieren. Er weiß sowohl, dass sie nicht verwirklicht werden kann, als auch, dass Menschen politischer Einbildungskraft bedürfen. Vielleicht kann man diese Einstellung mit Niels Bohrs berühmter Antwort auf die Frage vergleichen, ob er an die Zauberkraft des Hufeisens glaube, das ein Besucher in seinem Haus aufgehängt fand: »Natürlich nicht, aber das Großartige ist, es hilft, auch wenn nicht daran glaubt.« Beim ersten, zufälligen Treffen von Leonce und Lena auf ihrer Flucht, die einander nicht als die von den Eltern füreinander Be­ stimmten erkennen, ist Lena von Leonces melancholischer Haltung fasziniert. »Es kommt mir ein entsetzlicher Gedanke, ich glaube, es gibt Menschen, die unglücklich sind, unheilbar, bloß weil sie sind.« (II 3; I 117) Das Leiden an einer solchen Existenz scheint irgendwie einen Heiland nötig zu machen. Lena hatte früher die Gouvernante gefragt: »Mein Gott, mein Gott, ist es denn wahr, dass wir uns selbst erlösen müssen mit unserem Schmerz?« (I 4; I 110) Nun scheint sich

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ihr eine dritte Möglichkeit zu eröffnen: Weder Christus noch das eigene Selbst, sondern der Liebhaber ist der erforderliche Heiland. Lenas und Leonces traumartige Begegnung feiert die romantische Verknüpfung von Leben und Tod und erweckt in Leonce den Wunsch, sich zu ertränken. Was bei Holberg nur vorgespielt war, weil es Leonora nicht gestattet wurde, den Mann zu heiraten, den sie liebte, wird bei Büchner fast verwirklicht, weil Leonce die Frau seiner Träume gefunden hat: »Jetzt stirb. Mehr ist unmöglich.« (II 4; I 118) Aber Valerio rettet seinen Herrn vor seiner Leutnantsromantik, und Leonce verliert bald die Stimmung, in der er allein jenen Akt wiederholen könnte. Im Gegenteil, er beschließt, die Frau zu heiraten, deren Name ihm unbekannt ist. Da König Peter die für diesen Tag vorgesehene Hochzeit eigentlich auch dann gerne feiern möchte, wenn die Brautleute abwe­ send sind, ist er willens, dies in effigie zu tun, als Valerio mit zwei maskierten Figuren erscheint, die er als Automaten ausgibt. Die letzte Szene beschreibt verschiedene Bedrohungen stabiler persönlicher Identität. Erstens gibt es Peters leeren Idealismus, der sich weigert, die Wirklichkeit so wahrzunehmen, wie sie ist, sondern sie den eigenen Launen unterwirft. Schon in II 1 hatte er mit philosophischen Begrif­ fen um sich geworfen und in Fichtes »Ich bin Ich« eine Antwort auf seine quälenden Zweifel gefunden, ob es wirklich er sei, der spreche, oder nicht vielmehr jemand anders;22 nun will er seine Ideen um jeden Preis durchgesetzt haben. Aber während die mitgebrachten Figuren für ihn nur Bilder sind, die ihm erlauben müssen, für zwölf Stunden glücklich zu sein, beschreibt sie Valerio mit der entgegengesetzten Begrifflichkeit: Sie sind Maschinen und als solche ebensowenig reale Personen, wie wenn sie Phantasien in Peters Bewusstsein wären.23 Valerio erklärt sogar sich selber zum Automaten. Nichts in seinem Innenleben entspreche dem, was er sage: daß ich vielleicht der dritte und merkwürdigste von beiden bin, wenn ich eigentlich selbst recht wüßte, wer ich wäre, worüber man übrigens sich nicht wundern dürfte, da ich selbst gar nichts von dem weiß, was ich rede, ja auch nicht einmal weiß, daß ich es nicht weiß, so daß es höchst wahrscheinlich ist, daß man mich nur so reden läßt, und es Leonce zweifelt nicht daran, dass er es ist, der spricht; aber er wäre gerne jemand anders (I 1; I 96). 23 Büchners Kokettieren mit dem radikalen Materialismus könnte durch Diderots Dialog Le Rêve de d’Alembert (D’Alemberts Traum) beeinflusst sein, der erst 1830 vollständig veröffentlicht wurde.

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eigentlich nichts als Walzen und Windschläuche sind, die das Alles sagen. (III 3; I 125)

Auch das Liebesleben der Automaten ist durch ihren inneren Mecha­ nismus determiniert; und es gibt kein es begleitendes Bewusstseins­ leben. Doch neben der subjektiv-idealistischen und der materialisti­ schen Bedrohung von Personalität und Liebe gibt es eine dritte, die man die soziale nennen könnte. (Sie wird später mit ermüdendem Detail von Pirandello ausgearbeitet werden.) Die Rollen, die wir zu spielen verpflichtet sind, entfremden uns unserem eigentlichen Selbst (vgl. Reddick 1994, 215). Valerio, der Angst davor hat, wie eine Zwie­ bel geschält zu werden, nimmt zwar auf das Ersuchen Seiner Majestät hin eine Identität an, aber möchte nicht mit verschiedenen Bildern seiner selbst konfrontiert werden. »Aber, meine Herren, hängen Sie alsdann die Spiegel herum und verstecken Sie Ihre blanken Knöpfe etwas, und sehen Sie mich nicht so an, daß ich mich in Ihren Augen spiegeln muß, oder ich weiß wahrhaftig nicht mehr, was ich eigentlich bin.« (I 125) Masken sind geeignete Symbole unserer sozialen Rollen, und wie bei Holberg und Goldoni erkennen die Liebhaber einander, als sie ihre Masken abnehmen. Doch bei Büchner waren die Liebhaber einander erstmals ohne Masken begegnet; damit stellt sich die Frage, welche neuen Informationen sie gewinnen können, wenn sie die Masken nun abnehmen. Nun, sie erhalten neue Informationen dank der Reaktionen der anderen auf sie selber. Leonce wird vom Hof als Prinz anerkannt, und die Gouvernante klärt Lenas Identität. Alles scheint sich in Harmonie aufzulösen, da der König zugunsten Leonces abdankt und dadurch Raum schafft für die spielerische arkadische Utopie am Schluss, die an ähnliche Visionen am Ende einiger Komö­ dien des Aristophanes erinnert. Viëtor schreibt: Die alte Metapher vom Leben als Spiel und den Menschen als Mario­ netten in der Hand eines unbegreiflichen Geschicks, diese Metapher, die Büchner wohlvertraut ist, schimmert auch in seiner Komödie durch. Aber ihr pessimistischer Gehalt löst sich hier auf in den hellen, gläubi­ gen Klängen eines Mozartischen Opern-Finales. (Viëtor 1949; 184)

Man muss starke Zweifel gegenüber dieser Interpretation hegen, die eher zu Holberg passen würde als zu Büchner.24 Denn Leonce und Lena reagieren auf auffallend unterschiedliche Weise auf die Entdeckung, dass sie selbständig genau jenen Ehepartner gefunden 24

Derartige Zweifel finden sich schon bei Fink (1961) und Benn (1976, 169).

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haben, der aus politischen Gründen für sie ausgewählt worden war. Leonce spricht von Flucht in das Paradies, aber Lena entgegnet: »Ich bin betrogen.« Leonce wiederholt zwar den Satz und scheint damit ein ähnliches Gefühl auszudrücken. Aber der Eindruck täuscht. Denn während Lena von Zufall spricht, erwähnt Leonce die Vorse­ hung. Auch die Reaktionen der Diener weichen auf ähnliche Weise voneinander ab: Valerio lacht und hofft, die Liebenden würden den Zufall ehren und einander gefallen, während die Gouvernante gerührt ist, weil sie ihre romantischen Phantasien erfüllt sieht. Aber das wichtigste Merkmal des letzten Wortwechsels ist Lenas Schweigen; nach »Ich bin betrogen« und »O Zufall« sagt sie kein Wort mehr. Die Regieanweisung erklärt, sie reagiere auf Leonces phantastische Fragen, indem sie sich an ihn lehne und den Kopf schüttle. Man kann dieses Schweigen auf verschiedene Weisen lesen. Einerseits spricht Lena allgemein nicht viel – viel weniger als Rosetta; und Büchner bewundert offenbar Frauen, deren Seele keiner Reflexion bedarf, sondern natürliche Grazie und Stärke ausstrahlt.25 Anderer­ seits kann der Interpret nicht ignorieren, was ihre letzten Worte sind: Sie ist überhaupt nicht glücklich über die Entdeckung der Harmonie zwischen elterlicher und persönlicher Wahl. Sicher ist es unangemessen, von Betrug zu sprechen, wie sie es tut, denn niemand hat das Endresultat organisiert. Es liegt freilich nahe, ihr Unbehagen in Verbindung zu setzen mit Valerios Rede über die Automaten. Mit der Abnahme ihrer Masken haben Leonce und Lena bewiesen, dass sie lebendige Menschenwesen sind – doch gleichzeitig hat Lena entdeckt, dass ihre Flucht aus der Heteronomie sie wieder zur Stellung zurückgebracht hat, der sie entrinnen wollten. Freiheit erweist sich als eine Illusion. Die Liebenden mögen nicht mehr Automaten sein, aber sie sind Marionetten in einer Geschichte, die nicht von einem klugen Geist (wie Sarmiento in Brentanos Ponce de Leon, der in I 18 selbst als Automat verkleidet erscheint), nicht einmal von der göttlichen Vorsehung, sondern vom Zufall inszeniert worden ist.26 Lena ist zu liebesbedürftig, um etwas anderes zu tun, als sich an Leonce zu lehnen, aber ihr Kopfschütteln zeigt, dass sie die kindischen politischen Visionen Leonces und Valerios nicht teilt. Denn Leonce Man denke an Lenz’ Beschreibung Friederike Brions in Büchners Lenz (I 240). Vgl. Büchners berühmten Brief an Wilhelmine Jaeglé vom Januar 1834 (II 377): »Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel…« Zu Büchners sozialem Determinismus siehe Glebke 1995, 54 ff. 25

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stellt sich seine gerade errungene Macht als das Recht vor, mit seinen Untertanen wie mit Marionetten zu spielen: »Nun Lena, siehst du jetzt, wie wir die Taschen voll haben, voll Puppen und Spielzeug?« (III 3; I 128) Er träumt davon, die Hochzeit zu wiederholen, offenbar weil er, auch wenn er sie verabscheut, die Langeweile auch braucht und begehrt. Lenas schweigendem »Nein« zu all diesen Vorschlägen eignet eine Traurigkeit, die an Alkmenes berühmtes »Ach« am Ende von Kleists Amphitryon erinnert. Es gibt einen Abstand an Sensibilität zwischen Leonce und Lena, der kein gutes Vorzeichen ist für ihre Ehe. Und das ist umso tragischer, als in Büchners grausamer Welt in der Liebe die einzige Hoffnung besteht, Sinn und eine stabile Identität zu finden. Wenn selbst diese Hoffnung erschüttert wird, wird alles dunkel. Je größer der Erwar­ tungsdruck hinsichtlich der romantischen Liebe, desto grausamer die Enttäuschung, wenn auf sie Entfremdung folgt. In Holbergs Komö­ die werden trotz aller Spannungen die Generationen in die soziale Ordnung reintegriert; die jungen Menschen können heiraten, wen sie lieben, und können gleichzeitig die Eltern bewundern, die, auch wenn sie deren Autonomie verletzt haben, doch weise für sie gewählt haben. Bei Goldoni ist der Akt der Reintegration das Resultat einer bewussten Anstrengung und des Appells an die Vernunft seitens einer intelligenten und mutigen Frau. Bei Büchner hat die Harmonie am Ende einen bitteren Nachgeschmack: Während einer der Ehepartner nun die Rolle des Puppenspielers selbst übernehmen möchte, ist die Braut zutiefst gedemütigt durch die Erfahrung, dass selbst ihre persönlichste Entscheidung Teil eines seelenlosen Mechanismus ist. Sie hat keine andere Wahl, als sich an Leonce zu lehnen, aber sie kann weder eine Weltordnung, die das menschliche Streben nach Freiheit verspottet, noch einen Ehemann nickend bejahen, der sich anschickt, in seinem winzigen Königreich genau dasselbe zu tun.

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Psychologie des Spielers und Ethik des Va-banque-Spiels Zu Friedrich Schillers Die Verschwörung des Fiesco zu Genua

Dass das Recht nicht autonom ist, sondern u.a. in moralischen Über­ zeugungen gründet, wie sie nicht nur von professionellen Ethikern, sondern von Kulturschaffenden verschiedenster Art entwickelt wer­ den, ist eine Überzeugung, die den geistigen Zugang Martin Sattlers wesentlich kennzeichnet – eines Juristen, der als Nachfahre des berühmten Bildhauers Adolf von Hildebrand und als Bruder bzw. Onkel der bekannten Architekten Christoph Sattler bzw. Thomas Albrecht eine beachtliche künstlerische Sensibilität sowie als Schüler Eric Voegelins ein starkes philosophisches und ideengeschichtliches Interesse hat. In der ihm gewidmeten Festschrift, die der Beziehung zwischen Kultur und Politik gilt, mag ein kleiner Beitrag seinen Platz haben, in dem es u.a. um eine, vielleicht verblüffende, Quelle eines wichtigen juristischen Prinzips geht, das in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen hat und das entscheidend auf Hans Jonas zurückgeht, bei dessen Rezeption in Deutschland Martin Sattler und seine Brüder Florian und Stefan sowie besonders seine Schwägerin Rachel Salamander sich große Verdienst erworben haben. Die Rede ist vom Vorsorgeprinzip (precautionary principle), das in den 1980er Jahren im Zusammenhang mit dem Umwelt­ schutz entwickelt wurde und heute in verschiedenen – aber nicht in allen – Rechtsordnungen eine wichtige Rolle spielt. So ist es eine Bestimmung der Charte de l‘environnement von 2005, die denselben Rang wie die französische Verfassung hat. Wegen des mangelnden internationalen Konsenses zu diesem Prinzip, das in den USA auf mehr Widerstände stößt als in der EU, hat die UNESCO 2004 eine Arbeitsgruppe gegründet, die klären soll, was es sinnvollerweise bedeuten kann. Im Kontext dieser Festschrift geht es nicht um dessen Präzisierung. Ein vages Verständnis des Prinzips mag hier ausreichen. Relativ unkontrovers ist der Gedanke, Umweltschäden gar nicht erst auftreten zu lassen, statt sie nachträglich zu reparieren,

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sofern dies – was oft genug der Fall ist – die ökonomischere Lösung ist. Eine solche Kosten-Nutzen-Analyse setzt freilich voraus, dass Umweltschäden antizipiert werden können, was keineswegs immer möglich ist. Die Situation, in der über die möglichen Auswirkungen einer neuartigen Technologie auf die Gesundheit von Menschen, aber auch auf diejenige anderer Lebewesen nur Vermutungen bestehen, ist die eigentlich interessante, und es ist in diesem Fall, dass die Interpretation bzw. der Einsatz des Prinzips strittig werden. Es handelt sich also, entscheidungstheoretisch gesprochen, um Entscheidungen unter Risiko bzw., wenn die Zuschreibung von Wahrscheinlichkeiten gar nicht möglich oder offenbar willkürlich ist, um Entscheidungen unter Unsicherheit. Letzteres ist im Grunde immer dann der Fall, wenn man sich – gesamtgesellschaftlich oder innerhalb einer Exper­ tengruppe – nicht auf Wahrscheinlichkeitszuschreibungen einigen kann, da bekanntlich keine vernünftigen Regeln für eine Aggregation variierender Wahrscheinlichkeitseinschätzungen vorliegen. Bei der ethischen Diskussion von Entscheidungen unter Unsicherheit ist die Unterscheidung sicher relevant, ob man nur eigene oder auch fremde Interessen – zumal von Menschen, die nicht gefragt werden können – aufs Spiel setzt. Im zweiten Fall spricht sehr viel für das Maximinprinzip, also die Wahl jener Alternative, bei der der Schaden am geringsten ist. Sicherlich ist es aber keine vernünftige Interpretation des Vorsor­ geprinzips, dass man immer dann auf die Entwicklung einer neuen Technik verzichten sollte, wenn die vage Möglichkeit besteht, dass sie negative Auswirkungen haben kann. Das wäre ein Totschlagargu­ ment, da derartige Möglichkeiten nie ausgeschlossen werden können. Die Beweislast muss stets eher bei demjenigen sein, der ein Verbre­ chen oder eine Gefahr – um ein aktuelles Beispiel zu geben: etwa die illegale Existenz von Massenvernichtungsmitteln – behauptet, als bei demjenigen, der sie bestreitet; denn die Nicht-Existenz möglicher Zustände lässt sich wesentlich schwerer beweisen als deren Existenz. Allerdings fordert das Prinzip zu Recht, dass vor der Massenproduk­ tion eines neuen Produktes alles getan werden sollte, um nach den üblichen Tests mögliche Gefahren zu entdecken und ihnen vorzubeu­ gen. Auch kann das Prinzip, moralisch richtig verstanden, schon deswegen nicht eine generische Unterlassung von Innovation zur Folge haben, weil manche dieser Innovationen Umweltbelastungen durchaus senken könnten, bei einer Deutung des Prinzips als reinen

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Unterlassungsprinzips die Opportunitätskosten der Unterlassung aber gar nicht in den Blick kommen.

I. Einen entscheidenden Vorläufer hat das Vorsorgeprinzip in Hans Jonas’ Betrachtungen, die auf die Entwicklung der umweltethischen Diskussion eine große Wirkung ausgeübt haben, sicher auch weil Jonas seine Umweltethik mit einer umfassenden Deutung der Moderne verbindet, die in manchem konträr, vielleicht auch komple­ mentär zur Habermasschen Theorie der Moderne ist, weil sie auf das Unheilpotential abhebt, das dem Baconschen Projekt inhärent ist. Angesichts der Fernwirkungen der modernen Technologie, so Jonas,1 bestehe als erstes die Pflicht, sich eine Vorstellung von den Fernwir­ kungen zu beschaffen, als zweites diejenige, ein angemessenes Gefühl dafür aufzubieten. Allerdings bewegten sich Zukunftsprojektionen nur im Rahmen des Möglichen, und deswegen sei es sehr schwierig, sie politisch eindeutig zu verwenden. Angesichts der Enormität groß­ technischer Einsätze und der kumulativen Dynamik technischer Ent­ wicklungen sei ein Vorrang der schlechten vor der guten Prognose sinnvoll. Insbesondere betont Jonas, dass es unter keinen Umständen moralisch statthaft sei, bei der Entscheidung für eine neue Technologie die Existenz oder (bei gentechnologischen Experimenten) das Wesen der Menschheit aufs Spiel zu setzen. Denn dabei handle es sich um »ein Unendliches in dem Flusse« des Werdens (74). »Kein Gewinn ist diesen Preis wert, keine Gewinnaussicht berechtigt zum Risiko des­ selben.« Zwar erkennt Jonas an, dass man immer wieder die Interes­ sen anderer, ja in Extremsituationen der Staatsmann sogar das Ganze der Interessen anderer aufs Spiel setzen kann. »Nur muß man hin­ zufügen, daß dies nicht wegen der Lockung einer herrlichen sondern nur unter der Drohung einer fürchterlichen Zukunft geschehen darf ... Denn man kann ohne das höchste Gut, aber nicht mit dem höchsten Übel leben.« (78 f.) Besonders bedeutsam ist nun Jonas’ Vergleich sei­ ner eigenen Überlegungen mit der Wette Pascals,2 an der er zunächst einmal den eigennützigen, somit unethischen Charakter tadelt. Zwei­ 1 2

Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt 1979, 61–83. Les Pensées de Pascal, éditées par Francis Kaplan, Paris 1982, 139–144.

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tens wirft er ihr vor, sie übersehe, dass verglichen mit dem Nichts auch das Endliche einen unendlichen Wert bekomme – »das Setzen auf die mögliche Ewigkeit mit Opfer der gegebenen Zeitlichkeit« impliziere, so ganz im Sinne der Jonas’ Werk kennzeichnenden Aufwertung der Zeitlichkeit,3 durchaus die Möglichkeit unendlichen Verlustes. Seine eigene Konzeption der Wette sei andersartig: »Unser ethisches Prinzip der Wette unterliegt nicht diesem Einwand. Denn es verbietet gerade, das Nichts zu riskieren, das heißt seine Möglichkeit im Gewählten zuzulassen – es verbietet, kurz, in Sachen der Menschheit das Vabanque-Spiel überhaupt. ... Vor allem aber verpflichtet es und prä­ sentiert nicht eine Vorteilsrechnung an das Interesse; und es ver­ pflichtet aufgrund einer primären Pflicht zum Sein gegen das Nichts.« (82) Jonas’ Ausführungen sind aus verschiedenen Gründen bemer­ kenswert. Auch wenn man ihm vorwerfen kann, dass eine genauere Auseinandersetzung mit der Entscheidungstheorie in seinem Buch nicht stattfindet, hat er doch mit bewundernswertem Instinkt die naheliegende Versuchung vermieden, das Vorsorgeprinzip zu einem reinen Unterlassungsprinzip umzudeuten. Hochriskante Handlun­ gen können nach ihm erlaubt sein – aber nicht um eines verhältnismä­ ßig frivolen Gutes wie der weiteren Steigerung unseres Wohlstandes willen. Auch wenn er nicht ausdrücklich darauf eingeht, ist es mit seinen Aussagen durchaus kompatibel, dass Entwicklungsländer, um ihre Bevölkerung aus der absoluten Armut herauszuführen, eher das Recht zu riskanten Technologien haben als wohlhabende Län­ der. Von besonderem Interesse ist seine Bezugnahme auf Pascal. Die Wahrscheinlichkeits- und Entscheidungstheorie sind bekanntlich Errungenschaften des 17. Jahrhunderts, und sie passen sehr zu dem Versuch jener Zeit, allem, also auch dem Ungefähren und Unsicheren, Rationalitätsstandards aufzupressen. Die Besessenheit mit Glücks­ spielen ist Ausdruck einer für die Moderne typischen Mischung von Leidenschaft und Berechnung, wie Hegel sehr richtig gesehen hat. In Aufzeichnungen aus der Frankfurter Zeit (um 1798) schreibt er: Verstand und Leidenschaft sind die Eigenschaften der Seele, welche dabei tätig sind. ... Daher Leute von tiefer Vernunft und glänzender Einbildungskraft oft schlechte Spieler sind, nicht bloß, weil sie sich 3 Vgl. Vittorio Hösle, Hans Jonas’ Stellung in der Geschichte der deutschen Philoso­ phie, in: Weiterwohnlichkeit der Welt. Zur Aktualität von Hans Jonas, hg. von Ch.Wiese und E.Jacobson, Berlin/Wien 2003, 34–52 und 325–328.

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nicht für das Spiel interessieren könnten, sondern weil oft ihre Urteils­ kraft in beständiger Anwendung von Regeln auf das tägliche Leben nicht so geübt ist.

Weiter charakterisiert Hegel, ganz nach Art Pascals,4 die Mentalität hinter dem Kartenspiel als einen Geist, der unmöglich mit Ruhe des Gemüts, die etwas Erhabenes an sich hat, ... bestehen kann. ... Daher auch bei einem sonst unschuldigen Spiel uns nichts auffallender ist, als den Namen Gott in Bezug darauf nennen zu hören.5

Allerdings zeigt Pascals Wette, dass Gott durchaus mit der Sphäre des Verstandes verbunden werden kann. Doch erweist sich, dass die Einführung des Unendlichen – einer weiteren Kategorie, die in der Mathematik des 17. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielt – in den Entscheidungskalkül zu Überraschungen führt. Analoges gilt für Daniel Bernoullis berühmtes Sankt-Petersburg-Paradox von 1738: Der Erwartungswert eines Spiels, bei dem man 2n Geld-Einheiten bekommt, wenn beim n-ten Wurf einer Münze zum ersten Mal eine willkürlich gewählte der beiden Seiten, etwa Kopf, fällt, ist offenbar ½ × 2 + 1/4 × 4 + 1/8 ×8, also 1 + 1 + 1 ... (minus den Einsatz), also unendlich; man sollte sich also um jeden beliebigen endlichen Preis in das Spiel einkaufen. Das ist extrem kontraintuitiv, und zwar nicht nur, worauf Bernoulli abhebt, weil der Nutzen des Gelds keineswegs proportional zu seinem Betrag ist (das Spiel ließe sich ja entsprechend adjustieren), sondern auch weil das Unendliche im endlichen Leben nicht existiert: Spätestens im Augenblick des Todes würde das Weiterlaufen der Reihe für den Wetter unerheblich, und schon viel früher, bei noch relativ geringem n, müsste jede Lotterie Konkurs anmelden, falls der unwahrscheinliche Wurf wirklich fiele – etwa Kopf erst nach vierzig Würfen. (Analoges gilt für angeblich allgemeine Gewinne durch Kettenbriefe.) Bernoulli musste hier erwähnt werden, weil er anders als Pascal das Unendliche – wenn auch, wie wir gesehen haben, in unzulässiger Weise – in die Immanenz hineinzuholen versucht. In gewissem Sinne folgt ihm Jonas, obgleich es ihm um ein qualitatives, ja – Hegelsch gesprochen – wahrhaft Unendliches geht. Von Pascal weicht Jonas ers­ Op.cit., 192 ff. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 1, Frankfurt 1971, 445.

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tens darin ab, dass er ethisch argumentiert. Dabei teilt er durchaus die Kantische Überzeugung, dass Ethik nicht auf rationalen Eigennutzen zurückzuführen ist; anders als Kant aber lässt er sich auf empirische, ja – wenigstens dem Ansatz nach – wahrscheinlichkeitstheoretische Überlegungen ein. Da in seiner Philosophie, anders als bei Pascal, ein Leben nach dem Tode keine Rolle spielt, sieht er zweitens gerade in der Endlichkeit der menschlichen Existenz – nicht des einzelnen, aber doch der Gattung – ein gleichsam immanentes Absolutes, das unter keinen Umständen aufs Spiel gesetzt werden dürfe. Zwar könnte man gegen seine Kritik an Pascal einwenden, dass auch die als Alternative erwogene asketische Existenz einen endlichen Wert habe, kein Nichts sei, aber es bleibt überzeugend, dass eine Vernichtung der Menschheit als ganzer einen unendlichen negativen Wert hätte. Denn die Existenz von Geistwesen ist jedenfalls das einzige uns sicher bekannte Absolute, das zugleich gefährdet ist und damit Gegenstand von Handlungen sein kann. In seinen postum publizierten Erinnerungen, einer der bedeu­ tendsten Autobiographien aus dem 20. Jahrhundert, erwähnt Jonas die Bedeutung, die Schiller in seiner Jugend für ihn hatte. Seine Großmutter väterlicherseits sei eine hochgebildete Frau gewesen, »die ihren Schiller und ihren Goethe sozusagen bei sich trug«, und er selber habe schon als Junge die Schillerschen Gedichte auswendiggekonnt, wie etwa Die Glocke.6 Von Schillers Dramen ist zwar nicht die Rede, aber es ist naheliegend zu vermuten, dass Jonas, mit seinem frühen Interesse an Geschichte und Ethik, auch sie verschlungen hat. Und in der Tat findet man in Schillers zweitem Drama, Die Verschwörung des Fiesco zu Genua, eine Stelle, die Jonas’ zentralen Gedanken verblüffend präzise vorwegnimmt. Endlich in Fiescos Umsturzpläne eingeweiht ist seine Frau Leonore entsetzt: So zuversichtlich ruft Fiesco den Himmel heraus? Und wäre der tau­ sendmaltausendste Fall nur der mögliche, so könnte der tausendmal­ tausendste wahr werden, und mein Gemahl wäre verloren – denke, du spieltest um den Himmel, Fiesco. Wenn eine Billion Gewinste für einen einzigen Fehler fiel, würdes du dreust genug sein, die Würfel zu schüt­ teln und die freche Wette mit Gott einzugehen? Nein, mein Gemahl!

6 Hans Jonas, Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander, Frank­ furt/Leipzig 2003, 41, 52.

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Wenn auf dem Brett alles liegt, ist jeder Wurf Gotteslästerung. (IV 14; I 730)7

Im folgenden will ich die Funktion dieser Aussage im Rahmen des »Fiesco« diskutieren, vorher allerdings einiges Grundsätzliche zu Schillers Bedeutung für die Geschichte des moralischen Bewusstseins ebenso wie der Ethik anmerken.

II. Schillers Tragödien sind aus verschiedenen Gründen von Bedeutung nicht nur für die deutsche Literatur-, sondern für die Geistesge­ schichte im Allgemeinen. Schillers Ausgangspunkt ist bekanntlich ein starkes Freiheitsstreben, verbunden teils mit der Hoffnung, dass die Geschichte eine freiheitlichere und gerechtere Gesellschaft hervor­ bringen könne, teils mit dem Bewusstsein, dass bei der Verwirk­ lichung dieser Hoffnung, die sich notwendig gegen die bestehende soziale und politische Ordnung wenden muss, ein physisches, aber auch ein moralisches Scheitern derjenigen, die sich auflehnen, nicht unwahrscheinlich sind. Jene Hoffnung teilt Schiller mit Kant, dessen Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht er schon 1787 liest und die seine Jenaer Antrittsvorlesung über Univer­ salgeschichte beeinflusst.8 Ein gründliches, mehrere Jahre in Anspruch nehmendes Studium der Kantischen Philosophie setzt erst 1791 ein; ihm verdanken wir Schillers eigene ästhetische Schriften, die in vielem über die Kritik der Urteilskraft hinausführen, ja mit der Aus­ zeichnung einer möglichen Harmonie von Pflicht und Neigung eine bedeutende Korrektur auch von Kants praktischer Philosophie dar­ stellen. Schillers Wendung zu Kant sollte uns jedoch nicht die großen Unterschiede übersehen lassen, die zwischen beider Visionen vom 7 Ich zitiere nach: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G.Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch, 5 Bde., München 31962, gebe aber vorher auch Aufzugs- und Auftrittsnummer an, um das Nachschlagen in anderen Ausgaben zu erleichtern. (Da in dieser Ausgabe die Orthographie behutsam modernisiert wurde, steht »Fiesco« und nicht wie im Original »Fiesko«.) Ich beziehe mich im folgenden, sofern nicht anders angegeben, stets auf die Erstausgabe von 1783, nicht auf die Version von 1784 mit dem versöhnlichen Schluss, die, trotz des Untertitels, kein Trauerspiel mehr ist. 8 Vgl. Peter-André Alt, Schiller, 2 Bde., München 2000, I 608 ff.

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Menschen und seinen moralischen Pflichten bestehen. In einem Brief an Goethe vom 21. Dezember 1798 äußert Schiller – auf den als Schüler die Psychologievorlesungen Jakob Friedrich Abels, dem der Fiesco gewidmet ist, eine bleibende Wirkung ausgeübt hatten – sich kritisch zu Kant, nachdem Goethe in seinem Brief vom 19. Dezember 1798 die Lektüre von dessen Anthropologie in pragmatischer Hinsicht erwähnt hatte. »Die pathologische Seite, die er [sc. Kant] am Men­ schen immer herauskehrt und die bei einer Anthropologie vielleicht am Platze sein mag, verfolgt einen fast in allem, was er schreibt, und sie ists, die seiner praktischen Philosophie ein so grämliches Ansehen gibt.«9 In der Tat lässt sich trotz der bedeutenden Veränderungen, die die Begegnung mit Kant für Schillers Weltsicht, aber auch für seine dichterische Entwicklung bedeutet – sie fällt nicht zufälligerweise zusammen mit dem Übergang vom Sturm und Drang zur Klassik –, nicht bezweifeln, dass von Die Räuber bis zu Demetrius einige Konstanten Schillers Denken, Empfinden und Werk kennzeichnen. Schiller konnte sich für Kant nur begeistern, weil dieser einige Dinge mit begrifflicher Klarheit aussprach, die er immer schon empfunden hatte, und er konnte tragischer Dichter nur bleiben, ja in Wahrheit ein noch besserer Tragiker nur werden, weil er sich von Kants Wende nicht völlig absorbieren ließ. Schon den jungen Schiller charakterisiert die Auffassung, moralische Pflichten seien nicht auf die gesellschaftlichen Erwartungen zurückzuführen, die durchaus unmoralisch sein können, weil sie das Beste am Menschen knechten,10 sondern gründeten in der Autonomie des Ich. Gleichzeitig verwirft Schiller eine tradi­ tionell-eudämonistische Begründung der Ethik – gut sei, was zum normalen Lebensglück führe – und sieht im heroischen Akt der Selbstaufopferung das Siegel der Moral.11 Was den jungen Schiller Friedrich Schiller, Briefe, hg. von Gerhard Fricke, München 1955, 516. Vgl. etwa die »Erinnerung an das Publikum« zum Fiesco, I 753 f. 11 Ich kann hier der sehr wichtigen Frage nicht nachgehen, wieweit die Tradition des Heroismus – im Abendland seit Homer und den Tragikern präsent – in Spannung steht zu der bis Kant vorherrschenden eudämonistischen Tradition in der Ethik. Schiller selber sieht die Spannung schon in den Philosophischen Briefen – in der »Theosophie des Julius« – und hält die Rationalisierung der Selbstaufopferung durch den Verweis auf die Unsterblichkeit der Seele für etwas, was »die hohe Grazie dieser Erscheinung« entstelle (V 351). Julius’ eigene Auflösung der Antinomie bedient sich, noch vorkantisch, der Kategorie der Identifikation des einzelnen mit dem Menschen­ geschlecht. 9

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von Kant unterscheidet, ist allerdings eine letztlich doch subjektivis­ tische Begründung des heroischen Aktes in dem Selbstgenuss, den das heroische Individuum erfährt. Mehr als den armen Tagelöhner und seine elf lebendigen Kinder interessiert Karl Moor seine eigene noble Geste, ja, er ist sogar noch in sein früheres Selbst verliebt, wenn er in der letzten Zeile des Dramas von dem »großen Räuber« spricht.12 Moralische Größe geht bei Männern – anders als bei den leidenden, sich unterordnenden Frauen13 – mit theatralischer Selbstdarstellung einher, und auch wenn das sicher dem Dramatiker Schiller gelegen kam, leidet doch die moralische Dignität seiner früheren Helden darunter beträchtlich – und, nach starken Wandlungen im sittlichen Empfinden, in einer moralisch deflationären Zeit wie der unseren eben auch die Bühnenwirksamkeit seiner frühen Stücke.14 Daran ändert die Tatsache nur wenig, dass Schiller sich des Problematischen dieses Zuges seiner von Plutarch und Rousseau inspirierten Heroen durchaus bewusst war; von »Großmannsucht« spricht ein Räuber im Zusammenhang mit Moors Entschluss. Selbst die politischen Erfolgsaussichten der Heroen brechen oft deswegen zusammen, weil diese ihre eigene Vortrefflichkeit genießen wollen. Die geniale, hero­ isch mit dem eigenen Leben bezahlte Intrige Posas scheitert an dem Wunsch Don Carlos’, seinem Freund an Edelmut nicht nachzustehen; er verplappert dessen Plan aufs unverantwortlichste (V 4) und macht damit dessen Opfertod letztlich sinnlos. Dabei war angesichts seiner infantilen Persönlichkeitsstruktur von ihm nichts anderes zu erwarten gewesen, und daher erheben sich Zweifel an Posas Intelligenz, auf diesen Narziss als Bundesgenossen gesetzt zu haben. Denn Carlos mag zwar gelernt haben, auf Elisabeth zu verzichten – den demons­ trativen Erweis seiner Freundschaft zu dem toten Posa, einen Erweis, der in Wahrheit das vernichtet, worum es Posa gegangen war, die Freiheit Flanderns, kann er jedoch nicht lassen. Ferdinand von Walter schließlich ist nicht nur ein Mörder – um auf den Brief an Kalb hereinzufallen, muss er nicht nur außerstande sein, um die Ecke zu denken, er muss, zumal nach der Begegnung mit letzterem, positiv dumm sein. Dummheit aber verträgt sich nicht mit Größe. V 2; I 617 f. Eine Ausnahme ist Lady Milford in Kabale und Liebe, die sich nicht weniger in Szene setzt als Ferdinand von Walter. 14 Selbst der wesentlich zurückhaltendere Heroismus in Michael Curtiz’ Casablanca lebt heute künstlerisch nur noch weiter in Woody Allens Parodie Play It Again, Sam. 12

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Kant hat die Gefahr gesehen, die die Betonung der Autonomie für die Alltagsmoral bedeuten kann, und er hat daher immer wieder vor den »Romanschreibern« gewarnt. Deren moralische Schwärmerei sei nicht in – angesichts des Sittengesetzes allein angemessener – Demut begründet, sondern in Arroganz und Philautie (Eigenliebe), so heißt es in der Kritik der praktischen Vernunft kurz vor dem berühm­ ten Hymnus an die Pflicht.15 Und in der das Werk abschließenden »Methodenlehre« lesen wir: Nur wünsche ich sie [sc. die Jugend] mit Beispielen sogenannter edler (überverdienstlicher) Handlungen, mit welchen unsere empfindsamen Schriften so viel um sich werfen, zu verschonen, und alles bloß auf Pflicht und den Wert, den ein Mensch sich in seinen eigenen Augen durch das Bewußtsein, sie nicht übertreten zu haben, geben kann und muß, auszusetzen, weil, was auf leere Wünsche und Sehnsuchten nach unersteiglicher Vollkommenheit hinausläuft, lauter Romanhelden her­ vorbringt, die, indem sie sich auf ihr Gefühl für das ÜberschwenglichGroße viel zu Gute tun, sich dafür von der Beobachtung der gemeinen und gangbaren Schuldigkeit, die alsdann ihnen nur unbedeutend klein scheint, frei sprechen.16

Vermutlich hat Schiller bei der Lektüre dieser Stelle an seine eigenen früheren Heroen gedacht, und in der Tat finden sich in den nach mehr als zehnjähriger Pause neugeschaffenen Dramen keine mora­ listischen Selbstdarsteller wie Karl Moor, Fiesco und Don Carlos mehr. Die Figuren sind, wie ihr Dichter, reifer geworden; wenn Selbstdarstellung vorkommt, ist es die beherrschte, sich verstellende des Machtmenschen (wie etwa Elisabeths in Maria Stuart), nicht mehr die politisch kontraproduktive der frühen Helden. Sicher gibt es noch das heroische Selbstopfer wie bei Max Piccolomini oder der Jungfrau von Orléans, aber es ist nicht mehr theatralisch – Johanna etwa erreicht ihr eigentliches Anliegen, den Sieg der Franzosen. Die Selbstüberschätzung der frühen Helden war, wenigstens am Anfang ihrer Karriere, notwendig mit Selbstbetrug verknüpft; Demetrius dagegen, der subjektiv ehrlich begonnen hatte, erkennt, dass er selber einer Täuschung aufgesessen ist, und beschließt nun bewusst, die anderen zu täuschen. Der Verlust des Glaubens an seine Sendung,

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eines Glaubens, der das Geheimnis seines Erfolgs gewesen war,17 macht ihn zum Tyrannen, aber seine Wandlung ist doch auch Zeichen einer Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, ja einer kalten Intelligenz, die den frühen Helden abgehen. Ich schrieb oben, dass auch nach seinem Kant-Studium Schiller Ideen treu bleibt, die Kant fremd sind. Das gilt, wie der zitierte Brief an Goethe zeigt, einerseits für sein Menschenbild: Schiller sieht in der Fülle an menschlichen Antrieben und Emotionen nicht nur eine Gefährdung der Moral, sondern auch eine Bereicherung. Das Phänomen der Anmut zeigt, dass eine Harmonie zwischen den Forderungen der Moral und unserer sinnlichen Natur denkbar, ja wünschenswert ist; und selbst hässliche Triebe machen die Welt, auch und gerade die moralische Welt, interessanter. Sie sind daher in einem bestimmten Sinne des Wortes gerechtfertigt – denn Schiller hat auch nach der Wendung zu Kants subjektivem Idealismus Momente jener leibnizianisierenden metaphysischen Weltanschauung bewahrt, die die »Theosophie des Julius« repräsentiert und innerhalb deren das Theodizeeproblem eine durchaus legitime Fragestellung ist. »Je furchtbarer die Gegner, desto glorreicher der Sieg; der Widerstand allein kann die Kraft sichtbar machen.«18 Andererseits kennt Schillers Ethik etwas, was Kants Ansatz notwendig ignorieren muss – tragische Dilemmata. Von Anfang an bewegen sich Schillers Dramen im Span­ nungsfeld zwischen der Forderung nach Selbstachtung und der Pflicht, die soziale Ordnung nicht zu zerstören; und auch wenn jene erste Forderung mit der Zeit ihrer expressivsten Momente beraubt wird, bleibt der Konflikt zwischen dem seiner Zeit vorausdenkenden großen Individuum und den beengenden Sitten, in denen er lebt und die auch und gerade diejenigen verunstalten, die sie stützen, zwischen, wenn man die Hegelschen Termini verwenden will, Moralität und Sittlichkeit, ein zentrales Thema der Schillerschen Dichtung. Es gibt nach Schiller keine moralisch einfache Lösung dieser Dilemmata nach Art des absoluten Lügenverbots Kants; es handelt sich vielmehr um Konflikte zwischen Werten, deren Rangordnung nicht leicht zu erkennen ist. Man muss vielmehr Hegels oder Schelers Theorie des

Vgl. aus Schillers Aufzeichnungen zum Drama: »Demetrius hält sich für den Zar, und dadurch wird ers.« (III 98) 18 Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, V 364. 17

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Tragischen bemühen, um manche von Schillers tragischen Konflikten zu rekonstruieren.19 Und doch handelt es sich stets um moralische Konflikte. Die Literatur zum Fiesco hat einen Konsens darüber erzielt, dass die politische Substanz des Stückes dünn ist: Selbst der entschiedenste Republikaner Verrina hat keine präzisen politischen Vorstellungen, und die sexuelle Metaphorik, die er benutzt – auch und gerade in der Abrechnung mit Fiesco –,20 ist nicht nur eine Folge der Schändung seiner Tochter Berta durch den brutalen und dummen Tyrannen21 Gianettino Doria – Berta fungiert somit gleichsam als neue Lucrezia bzw. Verginia –, sondern Zeichen seiner allgemeinen Denkform.22 Sicher kann man Verrina zugeben, dass es ein legitimes politisches Ziel ist, sich um eine Staatsform zu bemühen, in der ungestrafte Ver­ gewaltigungen durch die Herrscher nicht vorkommen, aber Politik ist mehr als die Bewahrung sexueller Ehre, und die Tatsache, dass Verrina seine Tochter zwar nicht wie Verginius tötet, sie jedoch gleichsam als Geisel einsperrt, bis seine Gefährten die Doria stürzen, spricht nicht dafür, in ihm einen Verfechter weiblicher Rechte zu sehen. Auch dass er nach der Tötung des neuen Herzogs Fiesco zu dem als integer dar­ gestellten Andrea Doria, Gianettinos Onkel, überläuft, statt sich um die Errichtung einer alternativen politischen Ordnung zu bemühen, zeigt, dass es ihm mehr um private Moral als um Politik gegangen war. Das allein erlaubt zwar noch keine Rückschlüsse auf den Dichter: Es ist eine auch in Büchners Dantons Tod veranschaulichte und in der Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts oft genug bewährte politische Wahrheit, dass Umstürze von Tyrannen mit neuen Despotien enden oder sogar zu den alten Formen zurückkehren können. Aber es ist wohl richtig, dass es Schiller nicht primär um diese Pointe geht: Er hat zu Verrina nicht die Distanz etwa Hebbels zu Meister Anton. Doch 19 Das heißt nicht, dass Hegels Theorie auf alle tragischen Konflikte, oder auch nur auf alle tragischen Konflikte bei Schiller, passt. Vgl. die vorzüglichen Analysen bei Mark Roche, Tragedy and Comedy, Albany 1998, bes. 118 ff. zum »Don Carlos«. 20 V 16; I 749 f. Siehe auch I 10–12; I 661 ff., wo Berta schließlich zum Symbol für Genua wird. 21 Seine Losung ist: »Gewalt ist die beste Beredsamkeit.« (I 5; I 652); und er vergleicht sich selbst mit Nero (II 12; I 683). 22 Dies ist besonders überzeugend von Rolf-Peter Janz, Die Verschwörung des Fiesco zu Genua, in: Interpretationen. Schillers Dramen, hg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1992, 68–104, bes. 81 f. herausgestellt worden. Das Groteske an der Sexualisierung der Sprache der Ehre ist, dass sie Prüderie und Lust am Aussprechen von Sexuellem zugleich befriedigt.

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die legitime Kritik an der mangelnden Politizität des Fiesco wird dann verfehlt, wenn sie suggeriert, eine plausiblere poetische Behandlung der Politik werde auf deren moralischen Horizont verzichten.23 Die Moral der Politik ist ganz gewiss nicht auf Sexualmoral zu reduzieren, aber eine moralische Analyse ist unverzichtbar, gerade wenn Politik mehr sein soll als ein Spielfeld der Macht. Das gilt in einem doppelten Sinne: Einerseits geht es in der Politik um zwischenmenschliche Beziehungen, und auch wenn nach dem Ende der Erbmonarchien die Logik der Familie von derjenigen des Staates weitgehend abgekop­ pelt ist und Vater-Sohn-Konflikte selten ein Politikum sind, bleibt der Generationenkonflikt natürlich ein solches und spielen etwa Gegnerschaften, enttäuschte Freundschaften, Eifersüchteleien heute noch, und sicher auch in Zukunft, in der Politik eine wesentliche Rolle. Andererseits müssen Institutionen auch dort, wo sie sich von konkreten Personen lösen, moralisch bewertet werden, und ein naheliegendes Kriterium ist etwa zu fragen, ob sie freiheitlichere Beziehungen zwischen Menschen ermöglichen. Bei manchen Linkshegelianern, besonders natürlich im Marxis­ mus, leistet der Gang der Geschichte als solcher die legitimatorische Arbeit, aber es ist unschwer zu sehen, dass eine derartige Begründung nicht funktioniert. Denn Erfolg ist kein Geltungskriterium. Hebbels Verständnis des Tragischen ist zwei Generationen später eloquenter Ausdruck einer solchen Entmoralisierung von Politik und Geschichte. Sein Begriff tragischer Schuld, der nichts mehr mit individuell zure­ chenbarer Verfehlung zu tun hat, scheint mir übrigens einer der wich­ tigsten Vorläufer von Heideggers amoralischem, »ontologischem« Schuldbegriff in Sein und Zeit (§ 58) zu sein. Auch der reife Schiller ist dagegen insofern Kantianer, als er zwar das moralische Universum durch eine abgründigere Psychologie, durch die Berücksichtigung des Konflikts zwischen verschiedenen Kulturen und Epochen, ja durch die Annahme in Spannung zueinander stehender idealer Werte berei­ chert, aber doch dem Gedanken verpflichtet bleibt, das Absolute in der Geschichte sei die Bewahrung der eigenen Integrität. Der einzelne ist nicht nur ein Rad in der Geschichte; ihm wird seine Ehre dadurch zuteil, dass es auf seine Entscheidung ankommt. Moralisch achtens­ werte Entscheidungen erfolgen zwar in weitaus mehr Formen und sind viel komplexer, als Kant sich vorgestellt hatte, aber um sie geht es Schiller recht eigentlich. Es ist die Verteidigung dieser moralischen 23

Dieser Gefahr erliegt Janz am Ende seines Essays (97 ff.).

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Dimension, die – trotz aller ihrer Zeitbedingtheiten besonders im Frühwerk – Schillers zeitlose Größe ausmacht. Und für die philoso­ phische Ethik ist Schiller deswegen so bedeutend, weil er zeigt, dass jene moralische Differenziertheit, zu der die Anerkennung tragischer Konflikte notwendig erzieht, durchaus kompatibel ist mit der Annahme eines unbedingten moralischen Prinzips.

III. Die Figur des Fiesco ist in mancher Hinsicht eine Synthese von Karl und Franz Moor – ein Kraftmensch wie jener, ein Meister der Intrige wie dieser. Schon Karl Moor ist von Machiavellis Helden Cesare Borgia fasziniert, der wie Fiesco zur italienischen Renaissance gehört;24 und der berühmte Monolog Franzens am Ende von I 1 nimmt in seinem Machtpositivismus einige der theoretischen Ideen Fiescos vorweg. Gleichzeitig trifft Fiesco, anders als seinen Mitverschwore­ nen Sacco (I 3) und als Karl Moor in der ursprünglichen Fassung, nicht der Vorwurf, wegen seiner Schulden den Umsturz anzustreben, und ebenso ist er vom Makel befreit, sein Machtwille sei, wie bei Franz Moor (und dessen Vorbild, Shakespeares Richard III.), eine Kompensation physischer Verunstaltung. Da das Feld, in dem Fiesco sich betätigt, ein politisches und kein privates ist, nimmt er ferner Züge von Marquis de Posa vorweg. Aber während dieser ein wirkli­ cher Idealist ist, der sich selbst zu opfern vermag, opfert Fiesco bewußt nur andere.25 Glänzend wird sein Wesen an der Parole sichtbar, die die von ihm rekrutierten Soldaten ausgeben – sie logierten im Gasthof »Zur goldenen Schlange«, d.h. eben bei Fiesco.26 Der Kontrast zwischen seiner formalen Größe und seiner mora­ lischen Fragwürdigkeit ist das, was ihn interessant macht;27 und auch wenn Fiescos Charakteristik in der »Erinnerung an das Publikum« sich auf den Fiesco der Mannheimer Bühnenbearbeitung bezieht, 24 Die Räuber I 2 (in der ursprünglichen Fassung); I 918. Daneben nennt Karl Catilina, auf den das Motto des Fiesco anspielt. 25 Vgl. Ursula Wertheim, Schillers »Fiesko« und »Don Carlos«, Weimar 1958, 183 ff. 26 II 15; I 688. Vgl. auch V 1; I 734, wenn Fiesco Doria vor sich selbst warnt: »Traue der Schlange nicht.« 27 Dies hat schon Thomas Carlyle richtig gesehen: Life of Friedrich Schiller, Facsimile Edition Columbia, SC 1992, 29 f.

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der auf unglaubwürdige Weise der Macht entsagt28 (freilich auch hier mehr zum Zwecke der moralistischen Selbstdarstellung als aus Einsicht), zeigen Schillers bewundernde Worte, dass er für rein formale Größe durchaus empfänglich ist: »Fiesco, der, lange genug mißkannt, endlich einem Gott gleich hervortritt, das reife vollendete Werk vor erstaunende Augen stellt und ein gelassener Zuschauer dasteht, wenn die Räder der großen Maschine dem gewünschten Ziel unfehlbar entgegenlaufen«.29 Allerdings ist die Pointe der ersten Fassung gerade die, dass Fiesco sein Ziel eben nicht erreicht, und in dieser Pointe ist weitaus mehr poetische Gerechtigkeit und Wahrheit als in dem triumphalistischen Ende der Mannheimer Bearbeitung, das eher an Alexandre Dumas’ Le comte de Monte-Cristo als an eine Schillertragödie erinnert und daher von diesem später auch zurückgezogen wurde. Ein Aspekt des Tragischen am ersten Fiesco ist, dass nur jemand wie er die Doria stürzen kann, dass es aber gleichzeitig gerade deswegen nicht wahrscheinlich ist, dass jemand, der sich den anderen als derart überlegen erfährt, etwas anderes wollen kann als seine eigene Herrschaft.30 Man fühlt sich erinnert an Discorsi I 16–18, wo Machiavelli sein Argument dafür entwickelt, dass in geschichtlichen Ausnahmesituationen Autokratien gerecht­ fertigt sein können, auch wenn nicht viel dafür spreche, dass sich diejenigen, die sich bei allgemeinem Verfall zu einer solchen Aufgabe aufschwingen, dies aus den rechten Motiven tun. Der andere Aspekt der Tragödie Fiescos ist freilich, dass an seiner formalen Größe nicht nur die von den Mitverschworenen erträumte Republik, sondern mit ihm selber auch ein zweifellos großer Mensch zugrunde geht,31 und zwar nicht, wie beim geschichtlichen Fiesco, der bekanntlich ertrank, an einem banalen Zufall, sondern an einer Reaktion, die sein Wesen naheliegenderweise auslöst. 28 Dies ist vom Rezensenten der Berliner Aufführung von 1792, Johann Gottfried Lucas Hagemeister, überzeugend nachgewiesen worden; vgl. Christian Grawe, Zu Schillers »Fiesko«. Eine übersehene frühe Rezension, in: Jahrbuch der deutschen Schil­ lergesellschaft 26 (1982), 9–30, bes. 24 ff. 29 I 752 f. Eine ähnliche Faszination vor formaler Größe zeigt die Vorrede zur ersten Auflage der Räuber (I 486 f.). 30 Vgl. Benno von Wiese, Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, München 1983, 183 f.: »Die Idee der Freiheit muß sich dem Machtstreben des Fiesco anver­ trauen, wenn sie überhaupt verwirklicht werden soll. Aber der gleiche Fiesco ist damit auch … für die Republik eine noch viel größere Gefahr.« 31 Selbst Verrina erkennt Fiescos Größe an (II 18; I 693).

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Dass Fiesco einzigartige Führungsqualitäten hat, ist offenkundig. »Ich bin bereit, Sie zu führen,« sagt er selbst zu seinen Gästen, die er für seinen Putsch gewinnen will und deren Autonomie er gleichzeitig respektiert – er rettet diejenigen unter ihnen, die sich an seinem Plan nicht beteiligen wollen, vor dem Zugriff seiner Mitverschwörer und stellt sie nur unter Hausarrest.32 Gleichzeitig versteht es sich, dass er an der Verschwörung nur als deren Souverän mitwirken will – obgleich er unmittelbar vorher Andrea Doria deswegen tadelt, weil er die Macht mit keinem anderen teilen wolle.33 Seine Empörung darüber, dass bei dem Aufstand Mordbrennereien vorkommen, ehrt ihn – jetzt endlich lässt er den Mohren hängen, den er nach seinem persönlichen Verrat hatte großmütig ungeschoren davonkommen lassen (V 10), ähnlich wie Heinrich V. im gleichnamigem Drama Shakespeares seinen ehemaligen Kumpanen Bardolph wegen Plünde­ rungen zum Tode verurteilt (III 6). Nicht nur plant er langfristig; er vermag auch den Zufall (Machiavellis »fortuna«) geschickt am Schopf zu packen.34 Entscheidend ist aber dabei, dass der Zufall in seinen Plan passt: »Narren, die glauben, Fiesco von Lavagna werde fortführen, was Fiesco von Lavagna nicht anfing. Die Empörung kommt wie gerufen. Aber die Verschwörung muss meine sein.«35 Vermutlich ist die Szene, bei der man Fiesco am meisten bewundert, diejenige, in der er mit kalter Gelassenheit auf Calcagnos Nachricht reagiert, der Mohr habe ihn bei Doria verraten. Statt darüber zu verzweifeln, dass sein großer Plan aller Wahrscheinlichkeit nach gescheitert ist, tut er vielmehr so, als ob er als Meisterregisseur Calcagnos Auftreten nur selber angeordnet habe, um seine Mitverschworenen zu testen, und erreicht damit, dass sie sich beruhigen und er die Situation im Griff behält: Indem er so tut, als ob er Regie gespielt habe, spielt er sie wirklich. Schiller hat, wie Kleist im Robert Guiskard, keinen Zweifel daran, dass eine Notlüge in solch einer Situation gerechtfertigt ist. Gerade die Dreistigkeit von Fiescos Lachen macht eine Lüge seinerseits unwahrscheinlich;36 Verrina sagt: »Nun, wenn du lachen kannst? – Ich wills glauben, oder dich nimmer für einen Menschen halten.«37 32 33 34 35 36 37

IV 6; I 719 f. III 5; I 706 f. II 4; I 675. Vgl. Machiavelli, Il Principe, Kap. 25. II 7; I 678. Vgl. Demetrius, II 3; III 51. IV 7; I 721.

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Das zweite Glied der Alternative trifft freilich zu; und aus ihm ergibt sich, dass Fiesco kein (normaler) Mensch ist: Es ist etwas Göttliches oder, wie ihm am Ende Verrina vorwirft,38 etwas Teuflisches in ihm – oder aber beides zugleich.39 In ihrer ganzen Ambivalenz zeigt sich diese unheimliche Überlegenheit Fiescos gegenüber seiner Umwelt in seinen Worten, als die Ordonnanz Dorias plötzlich an seinem Tore pocht und seine adligen Gäste verzweifelt im Hofe herumrennen: »Nein, Kinder! Erschreckt nicht! Erschreckt nicht! Ich bin hier.« Natürlich ist das ein Zitat aus dem Evangelium – es handelt sich um eine leichte Abwandlung der Worte des auf dem Meer wandelnden Jesus,40 und ihre Aneignung durch Fiesco ist sowohl erhaben als auch blasphemisch.41 Allerdings hat es etwas Ergreifendes, dass sich am Ende Fiesco mit der Versicherung, einem Menschen könne so etwas Entsetzliches nicht widerfahren, versucht zu beruhigen, als er zum ersten Mal den Eindruck hat, er habe seine eigene Frau getötet: »Es gibt Schicksale, die der Mensch nicht zu fürchten hat, weil er nur Mensch ist. Wem Götterwollust versagt ist, wird keine Teufelsqual zugemutet.«42 Dabei vergisst Fiesco, dass er in seinem entscheidenden Monolog »vom letzten Seraph zum Unendlichen« selbst vorgedrungen war, sich also selbst mit einer seraphischen Daseinsform nicht zufriedengeben, sondern sowohl das Glück als auch das Gesetz unter sich sehen wollte.43 Während Fiescos ehrliche Enttäuschung über den niedrigen Preis, den Gianettino auf ihn ausgesetzt hat, und das Auszahlen des zehnfachen Wertes an den Mohren, der ihn gerade umzubringen versucht hatte,44 nach antiken Begriffen vielleicht Ausdruck von Megalopsychia sind, nach modernen aber schwerlich etwas anderes V 16; I 749. Das unterscheidet ihn von Karl Moor, wie wir ihn anfangs kennenlernen: »Nenn es Schwäche, daß ich meinen Vater ehre – es ist die Schwäche eines Menschen, und wer sie nicht hat, muß entweder ein Gott oder – ein Vieh sein.« (I 2 der ursprünglichen Fassung; I 919 – man denkt an Aristoteles, Politik, 1253 a 29) Am Ende seiner Räuberkarriere warnt Moor freilich Kosinsky: »Du trittst hier gleichsam aus dem Kreise der Menschheit – entweder mußt du ein höherer Mensch sein, oder du bist ein Teufel.« (III 2; I 566) Analog sagt Ferdinand in Kabale und Liebe über sich selbst: »Das Mädchen ist mein! Ich einst ihr Gott, jetzt ihr Teufel!« (IV 4; I 822) 40 Mt. 14, 27; Mk. 6, 50; Joh. 6, 20. 41 Ihre Aneignung durch Ferdinand in Kabale und Liebe (II 6; I 796) ist nur lächerlich. 42 V 12; I 743. 43 III 2; I 698. 44 I 9; I 658. 38

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als Egomanie, nähert sich dem Bereich moralischer Größe die Tatsa­ che, dass Fiesco gerade in dem Augenblick erwägt, den Umsturz auf­ zugeben, da sich Calcagnos Angst als unbegründet erwiesen hat, weil die Soldaten Dorias, der den Mohren nicht ernst genommen hatte, diesen gebunden an Fiesco ausliefern, mit einer Nachricht Dorias, er werde diese Nacht ohne Leibwache schlafen. »Ein Doria soll mich an Großmut besiegt haben? Eine Tugend fehlte im Stamm der Fiescer? – Nein! – So wahr ich ich selber bin! – Geht auseinander ihr! Ich werde hingehen – – und alles bekennen.«45 Allerdings ist auffällig, dass an der einzigen Stelle, an der Fiesco mit dem Gedanken spielt, seinen Plan aufzugeben, sein entscheidendes Motiv der Wunsch ist, er selbst zu sein. Die Konsequenzen seiner Sinnesänderung für seine Mitver­ schworenen interessieren ihn nicht, und es ist für ihn extrem wichtig, dass seine Rückkehr zum alten Plan – teils aus Machtgier, teils weil ihm vermutlich inzwischen eingefallen ist, er könne die Symmetrie mit Andrea Doria auf einfachere Weise dadurch wiederherstellen, dass er ihn selber warne (V 1) – nicht von den anderen erzwungen worden ist, ja sich nicht einmal deren Appell an seine Pflicht verdankt. (Analoges gilt für seinen Sinneswandel am Schluss der Mannheimer Bühnenfassung.) Dieses Verständnis von Autonomie ist allerdings unkantisch, ja nach Kant äußerst unmoralisch, so wie es auch Fiescos zentraler Satz ist: »Es ist schimpflich, eine Börse zu leeren – es ist frech, eine Million zu veruntreuen, aber es ist namenlos groß, eine Krone zu stehlen. Die Schande nimmt ab mit der wachsenden Sünde.«46 Gianettinos Aussage in III 9 damit zu kontrastieren ist lehr­ reich: »Alltagsverbrechen bringen das Blut des Beleidigten in Wal­ lung, und alles kann der Mensch. Außerordentliche Frevel machen es vor Schrecken gefrieren, und der Mensch ist nichts.«47 Gianettino bewegt sich im Rahmen eines kalten Machtkalküls; man könnte sagen, er ist ein typischer, obzwar nicht sonderlich begabter Vertreter des Renaissancemachiavellismus.48 Was Fiesco von ihm abhebt, ist IV 9; I 723. III 2; I 698. Natürlich denkt man an die berühmte Anekdote bei Augustinus, De civitate Dei, IV 4, deren Pointe freilich genau entgegengesetzt ist. 47 I 711. 48 Gianettino irrt, wenn er glaubt, irgendjemand werde sich von seiner »Heiligen­ maske« täuschen lassen (II 14; I 687), und zu Unrecht ignoriert er Lomellinos War­ nung vor Fiesco, der ihn III 10 f. leicht hereinlegt: Fiescos scheinbar treuherzige Bemerkung, sein Freund Doria kenne ihn nicht (I 712), ist in Wahrheit tückisch. Gia­ nettinos letztes Wort ist ein erkennendes »Fiesco« (V 3; I 736). 45

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nicht primär, dass er bei der Umsetzung seiner Pläne geschickter ist; nein, das eigentlich Neue ist, dass Fiesco die moralische Frage mit großer Intensität stellt und sich mit vollem Bewusstsein von den Alltagsnormen löst. »Ich verletze die Tugend? …der erhabene Kopf hat andre Versuchungen als der gemeine – Sollt er Tugend mit ihm zu teilen haben? – Der Harnisch, der des Pygmäen schmächtigen Körper zwingt, sollte der einem Riesenleib anpassen müssen?«49 Wer so denkt, ist kein Nachfahre Machiavellis, der es mit der virtù ja durchaus hält; er ist ein Vorläufer von Dostojewskis Raskolnikow bzw. von Nietzsche. Ähnlich ambivalent ist Fiescos Stellung zu den Mitteln zu seinem Zwecke. Wie Verrina und Bourgognino lehnt er Meuchelmord als Mittel der Politik ab,50 aber den Mohren ermächtigt er, alles in Morast unterzutauchen.51 Sicher sind die – inhaltlich wie nahezu auch durch ihre Position – zentralen Szenen im Drama diejenigen, in denen sich Fiesco erst­ mals zu erkennen gibt (II 17 f.). Sie haben etwas von einer Theophanie, wie sich u.a. daran zeigt, dass sich ihm alle Besucher zu Füßen werfen – alle außer Verrina, der noch tiefer blickt als die Mitverschworenen und begreift, dass ein solcher Mann sich mit dem Sturz der Doria nicht begnügen kann, sondern selber nach der Dogenwürde greifen wird, und der daher unmittelbar danach beschließt, Fiesco zu töten (III 1; vgl. IV 5). Immerhin überwindet er sich dazu, ihm unmittelbar vor der Ermordung wirklich zu Knien zu fallen, um ihn zur Aufgabe der Dogenwürde zu bewegen (V 16) – man kann sich vorstellen, wieviel ihn diese Geste kostet und wie schwer ihm daher der Entschluss zum Mord gefallen sein muss. Es ist freilich bezeichnend, dass Verrina den Verlobten seiner Tochter Scipio Bourgognino in seinen Gedanken einweiht: »Allein will ich ihn vollführen – allein tragen kann ich ihn nicht. Wenn ich stolz wäre, Scipio, ich könnte sagen, es ist eine Qual, der einzige große Mann zu sein – Größe ist dem Schöpfer zur Last gefallen, und er hat Geister zu Vertrauten gemacht.«52 Die Stelle ist nicht nur deswegen wichtig, weil sie an die letzte Strophe von Die Freundschaft (aus der Anthologie auf das Jahr 1782) erinnert, die Hegel am Ende der Phänomenologie des Geistes (und sonst gerne) zitiert: »Freundlos war der große Weltenmeister,/ Fühlte Mangel – darum 49 50 51 52

III 2; I 698. III 5, I 705 f. II 15; I 689. III 1; I 697.

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schuf er Geister,…«.53 Innerhalb des Dramas ist ihre Funktion eine doppelte: Sie zeigt, wie die Menschen um Fiesco herum zur Aufrecht­ erhaltung ihrer eigenen Selbstachtung seinen nahezu göttlichen Sta­ tus nachzuahmen suchen (schon bei der »Theophanieszene« hatte Bourgognino »unmutig« gefragt »Bin ich denn gar nichts mehr?«54), wie sie aber dabei markant von ihm abweichen. Während Fiesco sogar seine Frau leiden lässt und bei der ersten Konfrontation mit dem (anfangs bezeichnenderweise maskierten) Bourgognino sich mit dem vagen Hinweis begnügt hatte »Einen Mann, der einst meine Ehrfurcht verdiente, würde ich – etwas langsam verachten lernen. Ich dächte doch, das Gewebe eines Meisters sollte künstlicher sein, als dem flüchtigen Anfänger so geradezu in die Augen zu springen«55 – einem Hinweis, den Bourgognino nicht richtig zu deuten weiß, wie seine Bemerkung II 17; I 692 beweist –, kann Verrina sein Geheimnis nicht für sich behalten. Ihm fehlt damit ein Moment formaler Größe – zu einer Machination wie derjenigen Fiescos wäre er psychisch gar nicht in der Lage. Und doch hat er eben damit – trotz seines prätentiösen, immerhin im Irrealis vorgetragenen Versuches, sein Bedürfnis nach Intersubjektivität durch einen Vergleich mit Gott zu begründen – eine Humanität bewiesen, die Fiesco abgeht. Ihre unterschiedliche Per­ sönlichkeit wirkt sich in ihren ordnungspolitischen Optionen aus: Verrina ist wesentlich Republikaner (das heißt natürlich von unserem heutigen Standard aus: Aristokrat), Fiesco strebt essentiell nach Alleinherrschaft, wie erstmals seine berühmte Fabel zeigt.56 An die­ sem grundlegenden Zug seines Charakters ändert auch der Monolog II 19 nichts, da Fiesco den Machtverzicht nur zur Erhöhung der eige­ nen Persönlichkeit, gleichsam ad maiorem propriam gloriam, erwägt. Ästhetische Wirkung verdankt sich bekanntlich wesentlich dem Kontrast. Schiller kontrastiert Fiesco doppelt – einerseits mit seinen Mitmenschen wie Gianettino, den Mitverschwörern oder dem Moh­ ren, andererseits sein eigentliches Selbst mit der Maske, die er lange trägt. Die beiden ersten Akte zeigen uns einen dekadenten, scheinbar in die unsägliche Gräfinwitwe Julia Imperiali, Gianettinos Schwester, verliebten Fiesco, den Lomellino, Dorias Vertrauter, ganz wie von I 93. II 18; I 693. 55 I 8; I 656. Analog ausweichend zu Leonore in III 3; I 699 ff. 56 II 8; I 680. Eine Quelle für diesen knappen Staatsformenvergleich ist vielleicht Herodot III 80 ff. 53

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Fiesco beabsichtigt, als »Epikuräer« bezeichnet.57 (Immerhin hält das Gianettino nicht von einem Mordanschlag auf ihn ab, denn seine Ver­ gangenheit als Gegner der Doria ist allgemein bekannt.58) Doch auch Fiescos Freunde wenden sich angesichts seiner geheuchelten Gleich­ gültigkeit enttäuscht von ihm ab – Verrina will sogar auf die Unsterb­ lichkeit seiner Seele verzichten, wenn die Zeit einen Menschen so wandeln könne. Und doch hat er unmittelbar zuvor eine richtige Ver­ mutung ausgesprochen. Als Fiesco ihn unter seiner Maske erkennt, spricht er: »Fiesco findet seine Freunde geschwinder in ihren Masken, als sie ihn in der seinigen.«59 Damit äußert er klugerweise den Ver­ dacht, dass Fiescos Verhalten eine Maske sein könnte, doch Fiesco hilft ihm nicht auf die Sprünge – ganz im Gegenteil. Er behält seine »Maske« (im übertragenen Sinne des Wortes) an, während die erste Regieanweisung gelautet hatte: »Leonore maskiert … reißt die Maske ab.«60 Leonore kann die Spannung zwischen Sein und Schein nicht ertragen; an ihr wird sie schließlich sterben – bzw. genauer: an ihrer Liebe zu ihrem Mann, die sie in die Umsturznacht hinaustreibt, für deren Erfordernisse sie nicht im Mindesten qualifiziert ist. Ihr Mann dagegen lebt von jener Spannung, die für ihn nicht nur ein notwen­ diges Mittel zur Erringung der Herzogswürde ist, sondern ganz offen­ kundig als Selbstzweck genossen wird und ihm die Möglichkeit gibt, sich schließlich in drei großen, sich gleichsam in konzentrischen Krei­ sen erweiternden Inszenierungen als der zu erweisen, der er ist: erst­ mals vor dem engen Kreis der Verschwörer (II 17 f.), alsdann vor allen geladenen Gästen, unmittelbar bevor der Putsch beginnt, wobei er Julia vor einem großen Publikum, das anfangs vor ihr versteckt ist, furchtbar demütigt (IV 12 f.), schließlich im blutigen Ernst des Put­ sches vor der ganzen Stadt. Schon das erste, noch kleine Publikum antizipiert den ganzen Staat: »Genua kennt mich in euch. Mein unge­ heuerster Wunsch ist befriedigt.«61 Die Demütigung Julias ist, trotz ihrer Mordpläne gegenüber Leonore, überflüssig und deswegen grausam, wie letztere selber

I 6; I 652. Vgl. I 1; I 645 f. und I 7; I 654. 59 I 7; I 653. Durchschaut hat Fiesco ein ungenannt bleibender Jesuit (II 4; I 673) – ein Kompliment an den Orden oder eine Kritik? Vermutlich beides zugleich. 60 I 1; I 644. Vgl. dazu Götz-Lothar Darsow, Friedrich Schiller, Stuttgart/Weimar 2000, 43 ff. 61 II 18; I 693. 57

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zweimal bemerkt;62 und auch wenn keiner Mitleid für Julia hat, weiß jeder Leser von Shakespeares Twelfth Night, or What You Will und Goldonis La locandiera, dass es moralisch im höchsten Maße problematisch ist, jemanden in einen anderen bzw. in sich verliebt zu machen, an dem der andere bzw. man selber nicht im mindesten interessiert ist. Die Nonchalance, mit der sich Fiesco über diese Regel hinwegsetzt, nimmt nicht für ihn ein, auch wenn man die schauspie­ lerischen Fähigkeiten bewundert, dank deren er bei Küssen auf Julias entblößten Arm die Spur seiner Zähne zurückbleiben lässt und »gleich dem gemalten Entzücken« wie betäubt neben ihr sitzt.63 Die arme Leonore freilich begreift nicht, dass sie mit ihrer gerade zitierten Bemerkung die eigentliche Wahrheit ausspricht – dass nämlich Fies­ cos Entzücken artifiziell ist. Walter Hinderer, dem wir eine großartige Neubewertung dieses bedeutenden, meist unterschätzten Stückes, ja dessen beste Gesamtinterpretation verdanken, hat zu Recht die Frage gestellt, ob nicht Fiescos Leidenschaft echt sei.64 Sicher wird man nicht ausschließen wollen, dass Fiesco Julia sexuell begehrt (dass er mit ihr nur spielt, mag ihn sogar erregen)65 – von Liebe aber ist keine Spur zu finden. Und dies nicht nur weil Julias herrschsüchtige Seele sich mit der edlen Leonores nicht messen kann und auch sonst schwerlich zu Fiesco passt, der gerade nicht beherrscht werden möchte, sondern weil Fiesco strukturell liebesunfähig ist. Das, was Fiesco von dem Helden in Shakespeares größtem Regiedrama, The Tempest, unterscheidet, ist dies: Nirgends beugt er sich unter etwas, das größer ist als er selbst,66 nirgends zeigt er altruistische Fürsorge für einen Menschen, die etwa derjenigen Pros­ peros für Miranda vergleichbar wäre. Beides unterscheidet ihn von Andrea Doria, der in naiver und zugleich erhabener Selbstsicherheit die Warnung des von ihm nicht erkannten Fiesco in den Wind schlägt, IV 13; I 728 f. I 1; I 644. In IV 12; I 726 brennt sogar Fiescos Gesicht »fieberisch wie dein Gespräch«. 64 Walter Hinderer, »Ein Augenblick Fürst hat das Mark des ganzen Daseins ver­ schlungen«. Zum Problem der Person und der Existenz in Schillers »Die Verschwö­ rung des Fiesco zu Genua«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 14 (1970), 230–274, 249. Ich verdanke diesem Aufsatz viel, an dem mich nur die gelegentliche Verwendung Heideggerscher Kategorien nicht überzeugt. 65 Schillers Interesse an pathologischen Formen von Sexualität ist auffallend, manch­ mal geschmacklos; man denke an Franz Moors Leidenschaft für Amalia (Die Räuber, III 1). 66 Ganz äußerlich bleibt der Dank an die »himmlische Vorsicht« III 5; I 704. 62

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in der Rebellion eine Art Vatermord sieht und trotz Lomellinos Zynismus auf Gott vertraut.67 Seine traditionelle Herrschaft erweist sich am Ende als der charismatischen Fiescos überlegen, und vielleicht ist selbst seine größte Schwäche, seine »gottlose Liebe« zu seinem Neffen, ein Zeichen des Humanen, weil sie ihn mit dem allgemeinmenschlichen Bedürfnis nach Familie verbindet: Doria will »von Familienhänden zur Grube gebracht sein«.68 Vielleicht auch deswegen läuft Verrina schließlich zu ihm über, weil er ihm wesensverwandter ist als dem Fiesco. Denn auch Verrina unterwirft sich dem Urteil Gottes – er erkennt den Himmel als »Schiedsmann« an69–; Leonores Dienerin Arabella dagegen erklärt Fiesco nicht zum Rebellen, sondern – sicher ganz in seinem Sinne – zum »Schiedsmann«.70 Gerade weil er religiös ist, will Verrina keine Gnade außer von Gott – auch nicht von Fiesco, der ihm wohltätig zu sein verspricht.71 Bezeichnend ist auch der Kontrast zwischen Fiesco und Verrina im letzten Akt noch vor ihrer direkten Konfrontation: Fiesco tötet unwissentlich, aber nicht ohne eine gewisse Logik seine eigene Frau; der »Rabenvater«72 Verrina dagegen rettet seine (wie Leonore als Mann verkleidete) Tochter und seinen Schwiegersohn (V 15), erweist sich also wie Doria durchaus als Familienmensch. Wesensmäßig am nächsten steht Fiesco in seiner Bindungslo­ gikeit paradoxerweise der Mohr. Natürlich ist die Figur, nach Art Shakespearescher Pförtner, ein komisches Ingrediens des Werkes, und man mag in ihr sogar rassistische Untertöne entdecken. Und doch spielt sie eine wichtige Funktion in der Ökonomie des Dramas.73 Damit meine ich keineswegs nur, dass Muley Hassan für die Hand­ lung wichtig ist – kein anderer tut mehr für Fiescos Erfolg als er. Nein, als Karikatur seines Meisters erlaubt er uns, dessen Schwächen schneller zu durchschauen, wie Verrina am Schluss andeutet.74 Auch der Mohr hat eine gewisse formelle Größe – »Genie«.75 Auch er will V1; I 733 f.; V 4; I 736; V 14; I 746 f. II 13; I 685. 69 III 1; I 697. 70 V 5; I 737. 71 V 16; I 749. 72 I 12; I 666. 73 Eine tiefgehende Analyse der Gestalt findet sich bei Joachim Müller, Die Figur des Mohren im Fiesco-Stück, in: Von Schiller bis Heine, Halle 1972, 116–132. 74 V 16; I 749. 75 I 9; I 660. 67

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den Erfolg seiner Handlungen maximieren – was er erstrebt, ist aller­ dings maximaler Schaden für Genua.76 Entscheidend ist freilich, dass Hassan, der nach dem gescheiterten Attentat eine aufrichtige Vereh­ rung für seinen neuen Meister entwickelt, von diesem anerkannt sein will. Er will sich nichts schenken lassen: »Unsereins hat auch Ehre im Leib.«77 Er ist daher besonders stolz, als er durch die Aufdeckung von Gianettinos Mordplan Fiescos Leben rettet – »jetzt, denke ich, wären gnädiger Herr und Hollunke quitt« –, ganz so wie auch Fiesco Dorias Größe wettmachen will.78 Hassan beginnt darauf, mit Fiesco in einem Tone der Gleichheit zu sprechen – er sei zu dem fraglichen Brief gekommen wie Fiesco zur Republik –, beginnt autonom zu agieren – allerdings stets im Interesse Fiescos – und sagt »treuherzig« »wir zwei«. Genau das ist aber der Grund, warum Fiesco ihn zurückstößt: »Bis itzt hab ich den ungeheuren Quader ohne Menschenhülfe gewälzt, hart am Ziel soll mich der schlechteste Kerl in der Rundung beschämen?« Fiesco droht ihm zweimal mit dem Galgen und nennt ihn einen ärgeren Teufel als Julia, vor deren Attentat Hassan gerade Leonore gerettet hat; der Mohr, der seine Arbeit getan hat, kann schließlich gehen – und beschließt, zu den Doria zurückzukehren.79 Wer wollte ihm das verargen? Wenn Karl Moor seine Räuber »elende Werkzeuge meiner größeren Pläne« nennt,80 will er sie nur dazu pro­ vozieren, dem Pater die Bande zu zeigen, die jene an ihn knüpfen; Fiesco aber behandelt seinen Mohren wirklich wie ein Werkzeug, das man wegwirft, wenn man es nicht mehr braucht. Zwar scheitert er nicht am Mohren, weil dessen geringes Sozialprestige Doria ihm nicht Glauben schenken lässt, aber er scheitert an Verrina aus einem ana­ logen Grund: Fiesco vermag Menschen nur zu instrumentalisieren, ist aber zur Freundschaft unfähig, er ist zwar großzügig und großmü­ tig, will sich aber selbst nichts schenken lassen; damit aber kann er niemanden wirklich an sich binden. Hat Schiller an seinen Fiesco gedacht, als er in seinem bekannten Brief an Körner vom 2. Februar 1789 über Goethe schrieb: Er besitzt das Talent, die Menschen zu fesseln und durch kleine sowohl als große Attentionen sich verbindlich zu machen; aber sich selbst weiß 76 77 78 79 80

III 8; I 709. I 9; 659. V 1; I 734. III 4; I 701 ff; III 6 f., I 708 f. II 4; I 554.

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er immer frei zu behalten. Er macht seine Existenz wohltätig kund, aber nur wie ein Gott, ohne sich selbst zu geben, – dies scheint mir eine konsequente und planmäßige Handlungsart, die ganz auf den höchsten Genuss der Eigenliebe kalkuliert ist.«81

Fiescos Einstellung gegenüber seiner Umwelt ist die des Spielers. Dabei verwendet Schiller zwei Varianten von Spiel. Einerseits ist das Drama durchdrungen von Anspielungen auf das Theaterspiel, andererseits scheint Fiesco vom Kartenspiel besessen. Offenbar erfül­ len die beiden Spielformen komplementäre Funktionen. Die Karten­ spielmetapher erlaubt die Bezugnahme auf Wahrscheinlichkeits- und Entscheidungstheorie, die Theatermetapher zeigt, dass Fiesco nicht eigentlich mit Karten, sondern mit Menschen spielt. Gleich zu Anfang sind beide Formen von Spiel miteinander verknüpft: »Morgen ist Spiel bei Doria«, lädt Gianettino Fiesco ein. »Wollen wir uns zum Pharao setzen und die Zeit mit Spielen betrügen?«, fragt Fiesco seine Gäste.82 Das Interesse am Kartenspiel ist hier allerdings nur ein Teil des Regiespiels Fiesco, der sich am Anfang die Rolle des Epikureers zugewiesen hat, um ungestörter seine eigentlichen Intrigen planen zu können. Mehrschichtig ist die folgende Bemerkung, er sei mit der Diktatur der Doria zufrieden, da es keine Wollust sei, »der Fuß des trägen, vielbeinigen Tiers Republik zu sein«.83 Einerseits gehört die Äußerung zu seiner Verstellung, andererseits hat sie die Funktion, die potentiellen Mitverschwörer auf eine neue Monokratie einzustimmen. Analog doppeldeutig äußert er sich zu weiteren von den Doria gekränkten Adligen: :»Genua braucht einen Souverän, also huldigen Sie dem Schwindelkopf Gianettino.« Besonders interessant ist die folgende Auseinandersetzung. Zibo erklärt, er brüte über einem »Possenspiel, das Das Erdbeben heißen soll«. Darauf zeigt Fiesco ihm und seinen Freunden eine Venusstatue und fordert sie auf, dessen reales Modell in der Wirklichkeit zu suchen; denn dann würden sie »gewonnen haben den verjährten Prozess der Natur mit den Künstlern«. Und auf die irritierte Frage »Und dann?« entgegnet Fiesco lachend: »Dann haben Sie vergessen zu sehen, dass Genuas Freiheit zu Trümmern geht!«84

81 82 83 84

Briefe, op.cit., 191. I 6 und 7; I 653. I 7; I 655. II 5; I 677 f.

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Die Funktion der Stelle ist ebenfalls mehrfach. Zunächst scheint sie Fiescos politisches Desinteresse zu belegen. Zweitens beweisen aber seine letzten Worte deutlich ein politisches Anliegen: Denn er hält es offenbar für unverantwortlich, in der gegenwärtigen Situation nach schönen Frauen Ausschau zu halten. Was soll dann seine Auf­ forderung? Fiesco will drittens gegenüber der leeren Rhetorik Zibos darauf hindeuten, dass man aus dem Bereich der Kunst, d.h. der Worte und Statuen, in den der Wirklichkeit vordringen müsse. Und er hält Wort: Wenige Auftritte später befiehlt er seinem Mohren, Zibos Wort aufgreifend, ein »Possenspiel«, nämlich den ersten Mordanschlag auf ihn zu wiederholen, damit Fiesco ihn diesmal öffentlich machen könne. Dass der Mohr als Folge davon gefoltert – »aus lauter Komödie gerädert« – werden wird, nehmen beide in Kauf; mit Galgenhumor betont der treue Mohr, das werde ihn geläufiger machen.85 Als Kon­ sequenz dieses Attentates und seiner Aufdeckung sieht Andrea Doria das politische »Kunstwerk« seiner Verfassung gefährdet,86 Fiesco aber plant den nächsten Akt seines realen Dramas: »Alle Maschinen des großen Wagestücks sind im Gang. Zum schaudernden Konzert alle Instrumente gestimmt. Nichts fehlt, als die Larve herabzureißen und Genuas Patrioten den Fiesco zu zeigen.«87 Diese machen ihm den Gefallen, unmittelbar nach diesem Monolog zu ihm zu kommen, um ihn mit der Enthüllung eines Bildes mit der Geschichte von Verginia und Appius Claudius endlich zu Taten zu bewegen. Das Motiv, dass man jemanden durch Bilder anspricht, ist alt – man denke an Prokne und Philomele. Auch dass im Rahmen eines autoritären Regimes beiläufig erzählte Geschichten die Funktion haben können, auf gegenwärtige Geheimnisse aufmerksam zu machen, ist bekannt – Schiller bedient sich des Kunstgriffs wiederum im Don Carlos (I 4). Neu allerdings an der Gestaltung des Motivs im Fiesco ist, dass die Bildvorführung für deren Initiatoren mit einer Demütigung endigt – eben jener Theophanie, von der oben die Rede war. Schon vor der Enthüllung geht es in der Konversation zwischen Fiesco und dem Maler Romano, der auf »Szenen aus dem nervigten Altertum« spezialisiert ist, darum, dass die Kunst »Diebstahl an der Natur« sei und allein letztere Menschen schaffen könne; auch auf den Kontrast zwischen Leben und Genie wird angespielt. Nachdem Fiesco das 85 86 87

II 9; I 681 f. II 13; I 684. II 16; I 690.

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Bild angesehen hat, scheint er sich, zur Enttäuschung seiner Besu­ cher, zunächst nur für die Reize Verginias zu interessieren – er will vor Romanos »Phantasien knien, und der Natur einen Scheidebrief schreiben«. Aber die Enttäuschung ist in Wahrheit eine Täuschung. Denn allen unerwartet gibt sich Fiesco plötzlich zu erkennen: Er verlacht die »Poetenhitze« und setzt dem Schein die Tat entgegen: »Ich habe getan, was du – nur maltest. … Republikaner! Ihr seid geschickter, Tyrannen zu verfluchen, als sie in die Luft zu sprengen.« Fiesco erklärt, seine Weisheit habe sich hinter Tollheit versteckt, was natürlich an L. Iunius Brutus erinnert,88 und schildert im Detail den Stand seiner Vorbereitungen. »Alle Maschinen sind gerichtet. … Mit dem Glück sind wir fertig.«89 Die Szenen gehören sicher zu den intellektuell faszinierendsten im Stück, ja im ganzen Œuvre Schillers, und es ist schwer, sie nicht reflexiv zu lesen: Schiller wird gehofft haben, dass sein Drama einen zeitgenössischen Fiesco inspiriere oder, noch besser, dass ein solcher sein Drama gar nicht benötige. Da die Kritik an der Defizienz der Kunst gegenüber der Wirklichkeit im Rahmen der Kunst selbst erfolgt, soll der Zuschauer wohl mit einem realen revolutionären Impetus aus dem Theater stürmen: An dem politischen Erfolg von Daniel-François-Esprit Aubers Oper La muette de Portici (Die Stumme von Portici), deren Aufführung 1830 die belgische Revolution auslöste, hätte der Autor des »Fiesco«, später Ehrenbürger der Französischen Republik, sicher seine Freude gehabt. Die Verstrickung des größeren Kreises an potentiellen Verschwö­ rern durch Fiesco erfolgt ebenfalls unter Verwendung der beiden Hauptmetaphern. Fiesco will »die Bank im Pharao sprengen« und lädt seine Gäste zu einer »Komödie« ein, deren »Entrée … Gurgeln kosten« wird, wie der Mohr vermutet.90 Er begibt sich vorher noch persönlich zu Julia, bei der er die Rolle der Kammerfrau spielt, indem er ihren Busen bedeckt – denn die Phantasie errege mehr als die Sinne. Das ist nicht nur eine Wahrheit aus der erotischen Sphäre, sondern durchaus auf Fiesco selbst zu beziehen: Dessen Wert ist höher, weil er nicht augenscheinlich ist. Auch Julia wird von Fiesco eingeladen: Es seien Schauspieler angekommen (Fiescos Soldaten sind inzwischen in der Stadt eingetroffen), und auf Julias besorgte Anfrage, es sei doch hoffentlich kein Trauerspiel, entgegnet dieser: »Es ist zum Totlachen, 88 89 90

Vgl. Livius I 56.7 ff. und die Deutung bei Machiavelli, Discorsi, III 2. II 17 f.; I 690 ff. III 5 f.; I 708.

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Gräfin.«91 Mit der Anspielung auf den Tod gibt Fiesco einen Hinweis auf das, was bevorsteht; und doch bleibt es auffallend, dass Fiesco selber nur Komisches in dem bevorstehenden Putsch sieht – wie Machiavelli, einem begabten Komödiendichter, geht auch Fiesco, anders als seinem Dichter, jeder Sinn für das Tragische ab. Die zur Komödie eintreffenden Gäste – die Wörter »Komödie«, »Komödienwaren«, »Lustspiel« kommen in den kurzen Auftritten IV 2–5 achtmal vor – merken angesichts der Soldaten und Waffen bald, dass hier etwas gespielt wird, nur nicht das Lustspiel, auf das sie sich eingestellt hatten, eher etwas Alptraumartiges. »Mich deucht, es fing schon an, und wir spielten die Narren drin.«92 Genauso ist es – Fiescos erste Worte in seiner langen Begrüßungsrede lauten: »Meine Herren! Ich bin so frei gewesen, Sie zu einem Schauspiel bitten zu lassen – Nicht aber, Sie zu unterhalten, sondern Ihnen Rollen darin aufzutragen.«93 Damit ist erstens auf performativer Ebene schon eine Asymmetrie unterstellt, die zwar auf der Inhaltsebene nicht explizit angesprochen, aber doch in der wiederum ambivalenten Äußerung angedeutet wird, niemand in der Versammlung werde einen Herrn anerkennen, »der nur seinesgleichen ist«. Das ist vordergründig ein Angriff gegen Doria und doch gleichzeitig mit einer Monokratie Fiescos kompatibel – denn er betrachtet sich nicht als, und ist auch wirklich nicht, ihresgleichen. Sein Plan, so fährt Fiesco fort, werde erfolgreich sein, sein Gedanke sei gerecht und werde zur Unsterblich­ keit führen, »denn er ist gefährlich und ungeheuer«.94 Dies deutet zweitens darauf hin, dass es jetzt nicht mehr um ein bloßes Spiel gehe, sondern um lebensgefährlichen Ernst, der freilich selber nach Art eines Theaterspiels strukturiert ist, mit Fiesco als Regisseur. Vorher erfolgt noch die Abrechnung mit Julia, die ihre Leiden­ schaft für Fiesco in einer sie nach den Standards der Zeit entwürdigen­ den Form offenbart, von ihren Trieben als »Rebellen« spricht, während sie von realen Rebellen umgeben ist, zugibt, dass bisher nur ihr Laster, nämlich ihr Stolz, ihre Tugend bewahrte, die Liebeswerbung mit einem Schachspiel vergleicht und nun auch ihr Letztes – ihre Ehre – aufs Spiel setzen will.95 Darin zeigt sie freilich eine Wesensver­ 91 92 93 94 95

III 10 f; I 711 ff. IV 4; I 716. IV 6; I 718. Siehe auch IV 10; I 724. IV 6; I 719. IV 12; I 726 f.

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wandtschaft mit Fiesco, der ebenfalls – zwar nicht erotisch, aber doch politisch – Vabanque spielt, wie ihm bald darauf Leonore vorhalten wird. Eine weitere Wesensverwandtschaft zeigt sich darin, dass Julia liebesunfähig ist und dies bei Fiesco ebenfalls spürt; sie behält ihr Misstrauen bei und droht Fiesco für die gespürte Eventualität eines reinen Spiels seinerseits mit Rache. Ihr Misstrauen ist begründet; Fiesco lässt nun vor einem großen Publikum, keineswegs nur vor seiner Frau, um die es also nicht allein gehen kann, seine Maske fallen, spricht von seiner »Harlekinsleidenschaft« und gibt seinen »Theaterschmuck« ab.96 Indem er einen Diener beauftragt, Julie in sein »Staatsgefängnis« zu begleiten, sieht er sich schon als Staatsober­ haupt, trotz aller Flüche Julias, die schon bald bewahrheitet werden. Auf die Auseinandersetzung mit Julia folgt die einzige Szene, in der Fiesco und seine Frau offen miteinander sprechen, sicher die emo­ tional bewegendste des Dramas. Gleich zu Anfang behauptet Fiesco, dass die Erhebung seiner Frau zur Herzogin das eigentliche Motiv seines Planes war.97 Leonores Verzweiflung zeigt, dass sie ihm nicht glaubt, und auch Leser und Theaterpublikum tun das nicht. Denn einerseits passen derartige Aussagen zu gut zu Fiescos manipulativen Absichten (die schließlich sogar zu Selbstbetrug führen mögen), andererseits erholt er sich nur wenig später zu rasch von der tiefen Verzweiflung darüber, seine Frau getötet zu haben: Statt seine Frau mit allem Prunk als Herzogin den Genuesern vorzustellen plant er nun »eine Totenfeier…, daß das Leben seine Anbeter verlieren … soll«, ja, sieht in dem Schicksalsschlag nur eine Prüfung der Vorsehung, die ihn dadurch zu einem Fürsten machen will, »wie ihn noch kein Europäer sah«.98 Derartige Triumphphantasien am Leichnam seiner Frau zeigen, dass nicht Liebesfähigkeit, die das Wesen Leonores ist, sondern Machtwille ihn bestimmt, den Leonore in ihrer großen Szene idealtypisch der Liebe entgegengesetzt hatte. Zunächst versucht sie, ihn auf die Risiken seines Plans aufmerksam zu machen und spricht jene einleitend zitierte, stark an Jonas erinnernde Stelle. Fiesco lächelt nur: »Das Glück und ich stehen besser.« Der Satz belegt nicht nur eine enorme Selbstüberschätzung, er steht zudem in Widerspruch zu seiner Aussage kurz vorher, er wolle sich nichts schenken lassen und sich nicht beim gaukelnden Zufall bedanken müssen. Leonore 96 97 98

IV 13; I 728 f. IV 14; I 729. Vgl. auch V 13; I 745 f. V 13; I 746.

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erinnert ihn daran, dass oft genug Spieler Erfolg haben, bis sie warm werden, die Bank fordern und alles verlieren – man denkt an Alexander Puschkins Пиковая дама (Pique Dame). Aber Fiesco hat schon vorher erklärt, er wolle die Bank im Pharao sprengen, er ist also in hohem Maße risikowillig. Moralisch gesehen ist freilich nicht dies das eigentliche Problem – riskante Staatsstreichs gegen Unrechtsregimes hat sicher auch Schiller bewundert, wenn und nur wenn es dem Putschisten um eine bessere Staatsform ging. Genau das aber trifft auf Fiesco nicht zu. So wechselt Leonore ihre Strategie. Sie versucht ihm zu zeigen, dass sein Ziel auch dann unverantwortlich ist, wenn er es erreicht. Noch mehr als vor dem Scheitern seines Planes hat sie Angst vor seinem Erfolg, der Fiesco ihr vollends entfremden werde – ja, wie sie als gute Psychologin, um auf ihn wirken zu können, hinzufügt, auch seinem eigentlichen Selbst, um das es ihm ja allererst geht. »Selten stiegen Engel auf den Thron, seltner herunter. … Fürsten, Fiesco? Diese mißratenen Projekte der wollenden und nicht könnenden Natur – sitzen so gern zwischen Menschheit und Gottheit nieder; – heillose Geschöpfe. Schlechtere Schöpfer.«99 In der Liebe zu seiner Frau solle er das Unendliche finden, das sein Herz suche. Fiesco scheint ihr folgen zu wollen, aber es ist zu spät – er wird von den Mitverschworenen zu seinem Unternehmen hinausgerissen. Was Fiesco treibt, lässt sich nicht als bloße Herrschsucht katego­ risieren. Dass Fiesco nicht einmal im Tod seiner Frau eine Warnung des Schicksals zu sehen vermag, sondern ihn umdeutet als Bestäti­ gung seines Planes, lässt sich nur unter einen Begriff subsumieren: Hybris. Sie verblendet Fiesco dahingehend, dass er am Ende Verrinas Absicht nicht durchschaut und den eigenen Untergang somit gar nicht richtig begreift. Zwar keimt im unmittelbaren Schmerz über den Tod Leonores die Einsicht in ihm auf, auch er sei vielleicht nicht der Meisterspieler bzw. -regisseur, sondern nur eine Karte oder Rolle in einem Stück, das von einem Größeren gespielt wird: »Ich das Stichblatt des unendlichen Bubenstücks.«100 Und doch bleibt diese Einsicht ganz isoliert; der Hochmut über die Außerordentlichkeit seines Schmerzes lässt ihn wieder in sein altes Selbstverständnis zurückfallen, und so wird ihm Verrina zur Nemesis, zu jener Karte,

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IV 14; I 731 f. V 13; I 744.

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in der es »der verschlagene Spieler … versehn« hat.101 Darin, in seinem völligen Mangel an Selbstwahrnehmung, ist Fiesco sowohl Karl als auch Franz Moor unterlegen. Der Meisterregisseur ist blind gegenüber seinem eigenen Schicksal, und daher ist er nicht nur, was sich von selbst versteht, ein schlechterer Schöpfer als Gott, mit dem er sich identifiziert, sondern ein heilloses Geschöpf – heillos gerade deswegen, weil er seine Geschöpflichkeit nicht anzuerkennen vermag und seinen Autonomiewillen absolut setzt. Darf man im Renaissancehelden Fiesco ein Symbol für den modernen Baconischen Menschen sehen? Beiden ist der Wunsch nach, ebenso wie die weitgehende Fähigkeit zur, Beherrschung ihrer Umwelt, sei es der sozialen, sei es der natürlichen, gemeinsam, beide erreichen in ihrem Autonomiewillen eine Achtung gebietende formale Größe, beide sind ihren Zeitgenossen bzw. früheren Men­ schentypen turmhoch überlegen, beide lieben das Risiko und das Spiel. Beide sind freilich auch strukturell liebesunfähig, sie denken in besessener Form an den eigenen Erfolg und setzen um seinetwillen ihre eigene Existenz ebenso wie die ihrer Nächsten aufs Spiel. Ist dieser Vergleich statthaft, dann kann man in Schiller einen Vorläufer von Jonas sehen; und man mag hoffen, dass der Baconische Mensch eine Lehre aus Fiescos Scheitern zieht und auf das Vabanquespiel zumindest dann Verzicht leistet, wenn auch nur eine geringe Mög­ lichkeit besteht, dass er ein Absolutes verlieren kann, und wenn gleichzeitig das, was er gewinnen kann, nichts ist als weitere Macht.

101 V 16; I 749. Ähnlich wirft Ferdinand seinem Vater vor, bei seinem Kartenspiel die absolute Liebe seines Sohnes (nun nicht zur Republik, sondern zu Luise) nicht berücksichtigt zu haben: »Die Rechnung hatte ein Meister gemacht, aber schade nur, daß die zürnende Liebe dem Draht nicht so gehorsam blieb wie deine hölzerne Puppe.« (V 8; I 856) Vorher (V 5; I 846) wiederholt Ferdinand im Gespräch mit Miller Leonores Gedanken: »Nur ein verzweifelter Spieler setzt alles auf einen einzigen Wurf.«

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Scheitern angesichts der Umweltvergiftung Ein Vergleich von Henrik Ibsens En Folkefiende und Wilhelm Raabes Pfisters Mühle

Fruchtbare Vergleiche zwischen zwei literarischen Texten setzen keineswegs voraus, dass der eine auf den anderen reagiert. Denn intertextuelle Bezüge gehören zwar zum Wesen fast jeder Literatur; aber Literatur lässt sich nicht darauf reduzieren. Nahezu immer stellt Literatur auch eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit dar; und wie zwei Texte auf dasselbe Problem antworten, wirft, selbst wenn kein konkreter Einfluss des einen auf den anderen besteht, Licht auf die unterschiedlichen literarischen Möglichkeiten, dasselbe Thema zu behandeln, auf die Differenzen zwischen den Schriftstellern und oft auch auf verschiedene sachliche Aspekte desselben Gegenstandes. Sicher ist wenig langweiliger als Thesenkunst, in der die Kunst ein überflüssiger Zusatz zu gutgemeinten, vielleicht auch richtigen Behauptungen ist, wie etwa in Ernest Callenbachs Ecotopia. Denn die Leistung der Kunst ist nie nur kognitiver, sondern stets auch expres­ siver Art: Es geht in ihr um den angemessenen Ausdruck bestimmter Überzeugungen. Aber diese Überzeugungen sind interessanter, wenn sie Einsichten sind, d.h. wenn sie beanspruchen können, Aspekte der Wirklichkeit zutreffend wiederzugeben. Einer der Gründe, warum wir zu großer Literatur greifen, ist, dass wir aus ihr Erkenntnisse zu gewinnen hoffen, und in der Tat ist es ein Topos der Literaturwissen­ schaft, dass Dichter oft ein Sensorium für Dimensionen der Wirklich­ keit haben, die von der Wissenschaft und der Philosophie viel später erschlossen werden. Das gilt sicher auch für das Umweltproblem, das erst spät in das allgemeine wissenschaftliche Bewusstsein getreten ist. Die enormen Schwierigkeiten, die industrielle Gesellschaften und Staaten bei seiner Lösung weiterhin haben, sind bekannt, auch wenn heute kaum ein Kompetenter mehr bezweifelt, dass es die Lebens­ chancen der Menschheit im 21. Jahrhundert in hohem Maße bedroht. Den politischen Schwierigkeiten entspricht die lange Verdrängung des Themas durch Wissenschaft und Philosophie.

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Scheitern angesichts der Umweltvergiftung

Es kann nicht überraschen, dass die jüngere Germanistik sich der Reflexionen zur Umwelt in der früheren deutschen Literatur inzwi­ schen mit Interesse und Sorgfalt angenommen hat.1 Dabei handelt es sich freilich insofern um vermintes Gelände, als mehrere der Autoren, die das Umweltproblem früh in den Blick bekommen haben, politisch reaktionär waren, ja einige von ihnen sogar nationalsozialistischem Gedankengut bis zu einem gewissen Grad nahestanden: Man denke an Ludwig Klages2 und Martin Heidegger.3 Immerhin sollte die Gefährlichkeit ihres politischen Denkens einen nicht davon abhalten, von ihnen das zu lernen, was zu lernen ist. Sowenig es zum politischen Liberalismus nach angloamerikanischem Vorbild eine moralische Alternative gibt, sosehr bleibt es richtig, dass der ihm zugrunde liegende Individualismus eher dazu tendiert, das Umweltproblem abzublenden, als Denkformen, die das Individuum in die Gemein­ schaft oder in die Natur einbetten (was, es sei wiederholt, nicht im mindesten eine Entschuldigung für die Bereitschaft vieler dieser Autoren darstellt, den liberalen Rechtsstaat aufs Spiel zu setzen). In dem folgenden Essay werde ich den komplexen inhaltlichen und formalen Bewertungsproblemen, die wir gegenüber den genann­ ten Autoren haben, dadurch aus dem Wege gehen können, dass ich mich auf zwei Schriftsteller konzentriere, die beide zur liberalen Tra­ dition im weitesten Sinne des Wortes gehören und deren literarische Verdienste unstrittig erstrangig sind: Henrik Ibsen und Wilhelm Raabe. Sie schreiben in verschiedenen Sprachen – Norwegisch (riks­ mål) und Deutsch –, ihr literarischer Stil ist denkbar unterschiedlich – knapp und bündig der eine, humorvoll-verschnörkelt, mit einer

1 Bekannt sind etwa die Arbeiten Jost Hermands: Im Wettlauf mit der Zeit. Anstöße zu einer ökologiebewußten Ästhetik, Berlin 1991; Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des ökologischen Bewußtseins, Frankfurt am Main 1991. 2 Berühmt ist sein als Festschriftaufsatz 1913 erstmals erschienener Essay Mensch und Erde; dazu vgl. die differenzierte Studie von Martin Kagel: Widersacher des Fortschritts. Zu Ludwig Klages’ ökologischem Manifest »Mensch und Erde« (1913). In: Mit den Bäumen sterben die Menschen, hg. von Jost Hermand. Köln/Weimar/ Wien 1993. 3 Zentral sind die Texte »Die Zeit des Weltbildes« (als Vortrag 1938 gehalten) und »Die Frage nach der Technik« (erste Fassung 1949 als Vortrag unter dem Titel »Das Gestell«). Siehe dazu meine Analysen in: Heideggers Philosophie der Technik. Wiener Jahrbuch für Philosophie 23 (1991), 37–53 sowie in: Sein und Subjektivität. Zur Metaphysik der ökologischen Krise, jetzt in: Praktische Philosophie in der modernen Welt, München 1992, 166–197.

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Überfülle gelehrter intertextueller Anspielungen der andere4 –, und die beiden Texte, um die es hier geht, gehören unterschiedlichen Gen­ res an: En Folkefiende (Ein Volksfeind) ist ein Drama, Pfisters Mühle ein erzählerisches Werk, das manchmal als Novelle, manchmal als Roman bezeichnet wird, weil es an der Grenze zwischen beiden steht.5 (Es ist kürzer als ein normaler Roman, aber bedeutend länger als eine Novelle wie Holunderblüte, und Pfisters Mühle spielt in dem Text die Rolle teils eines Symbols, teils einer zeitgeschichtlichen Insti­ tution.) Gemeinsam ist den zwei Werken die äußerliche Tatsache, dass sie fast gleichzeitig entstanden sind: Ibsens Drama wurde am 28. November 1882 publiziert, Raabe arbeitete vom April 1883 bis zum Mai 1884 an seinem »Sommerferienheft«, das 1884 in erster Auflage in Die Grenzboten 43/4 sowie als Buch erschien. Es ist denk­ bar, dass Raabe Ibsens Drama damals schon gelesen hatte; denn es erschien 1883 in deutscher Übertragung durch Wilhelm Lange bei Reclam (im selben Jahr übrigens auch auf Niederländisch; aufgeführt wurde das Stück allerdings 1883 nur in Skandinavien6). Gehört wird er wohl davon haben, denn von 1868–1891 lebte Ibsen, der sehr gut deutsch konnte, mit längeren Unterbrechungen in Deutschland, zuerst in Dresden, dann in München, wo er etwa mit dem späteren Literaturnobelpreisträger Paul Heyse verkehrte, einem Bewunderer und Fürsprecher Raabes, den er 1874 um autobiographische Informa­ tionen bat. (Von 1880–1885 war Ibsen allerdings in Italien.) Sicher hat Raabe den drei Jahre älteren Ibsen, zumal seine späteren Dramen, nicht geschätzt. Doch das heißt keineswegs, dass er ihn nicht gelesen habe. Die Kronprätendenten (Kongs-Emnerne) lobte er nach einem

4 Zu den zahllosen Zitaten und Anspielungen bei Raabe siehe Horst Denkler, Wil­ helm Raabe. Legende – Leben – Literatur, Tübingen 1989, 187 ff: »Literatur aus Lite­ ratur«. 5 Jeffrey Sammons (Wilhelm Raabe. The Fiction of the Alternative Community, Prince­ ton 1987) nennt das Werk auf derselben Seite (280) einmal »novel«, einmal »novella«. Hermann Helmers kategorisiert es als »Novelle« (Wilhelm Raabe, Stuttgart 21978, 50, 61), aber etwa Jörg Kilian spricht – nach dem Vorbild Joachim Worthmanns – von »Zeitroman« (Private Gespräche im 19. Jahrhundert. Am Beispiel von Wilhelm Raabes »Pfisters Mühle«. In: Von Wilhelm Raabe und anderen. Vorträge aus dem Braunschweiger Raabe-Haus, hg. von Herbert Blume. Bielefeld 2001, 171–190, 172). 6 The Cambridge Companion to Ibsen. Edited by James McFarlane. Cambridge 1994, XXII.

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Bericht Edmund Sträters;7 und auch wenn er in einem Brief an diesen vom 21. September 1892 schreibt »So habe ich … Ibsens Gespenster bekopfschüttelt«8 und er nach einem Bericht Fritz Hartmanns 1906 bei einem Besuch seiner Tochter in Rendsburg zwar Ibsens sämtliche Werke kaufte, sie aber dann nicht nach Braunschweig mitnahm – »die Lust zum Wiederlesen war mir gründlich vergangen«9 –, so besagt das doch nur, dass er Ibsen schon vorher gelesen hatte und immerhin noch 1906 eine erneute Lektüre ernsthaft erwog. (Raabe wird dagegen in Ibsens Briefen nie genannt.) Edwin Neruda berichtet von Raabe: »Ibsen … nimmt er nur zur Hälfte ernst; er ist ihm ein ›Tendenzdich­ ter‹, und Tendenzstücke sind ihm ein Greuel.«10 Freilich ist ein halb­ leeres Glas je nach Perspektive auch ein halbvolles Glas; und da Neruda fortfährt, »allen Fragen, die das Gebiet des eigenen Schaffens auch nur leise streifen«, habe Raabe »eisiges, standhaftes Schweigen« entgegengesetzt und »aus Grundsatz« nur wenig bedeutsame Hin­ weise auf Autoren gegeben, die ihn beeinflusst hätten, wäre es mög­ lich, dass Raabe mit Pfisters Mühle bewusst auf Ibsens Stück reagierte und gleichsam zeigen wollte, wie man das Thema alternativ behan­ deln könne. Doch ist das keineswegs notwendig der Fall.11 Denn das Problem der industriell bedingten Umweltzerstörung erfasst in der zweiten Hälfte und zumal im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts große Teile Europas; ja, wir sind genau informiert, welcher Vorgang in der unmittelbaren Umgebung Raabes ihn zu seinem Werk inspi­ rierte.12 (Ibsen dagegen war durch einen Bericht Alfred von Meißners inspiriert, dessen Vater als Arzt in Teplitz einen Choleraausbruch festgestellt hatte, was zu Problemen für den Badeort und zu Angriffen 7 Wilhelm Raabe. Sämtliche Werke, hg. von Karl Hoppe. 20 Bde. und 5 Ergänzungs­ bde, Göttingen 1965–1994. (im folgenden zitiert als SW mit Band- und Seitenzahl, wobei »E« für »Ergänzungsband« steht). E 4, 114. 8 SW E 2, 332. 9 SW E 4, 239. 10 SW E 4, 138. Weitere kritische Äußerungen zu Ibsen finden sich in dem Brief an Gustav Frenssen vom 25. Mai 1900 (E 2, 413) sowie in Berichten von Georg Hermann (E 4, 133) und Küfner (E 4, 283). 11 Raabes unveröffentliches Tagebuch, dessen Vernichtung er gewünscht hatte, habe ich leider nicht einsehen können, auch wenn es »über seine Bücherkäufe und nicht immer, aber oft, auch über seine Lektüre« Auskunft gibt (Karl Hoppe, Wilhelm Raabe. Beiträge zum Verständnis seiner Person und seines Werkes, Göttingen 1967, 132). 12 Dazu grundlegend Ludwig Popp, ›Pfisters Mühle‹: Schlüsselroman zu einem Abwasserprozeß. In: Städtehygiene 10 (1959), 21–25. »Schlüsselroman« ist freilich ein irreführender Terminus, wie Hans Oppermann zu Recht kritisiert (SW 16, 519)..

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gegen den Arzt geführt hatte.13) Raabe und Ibsen waren beide Zeit­ diagnostiker und, wie schon Raabes Freund Fritz Hartmann feststellte, »unermüdlichste Zeitungsleser«.14 Viel wichtiger als die Frage eines möglichen Einflusses ist der gemeinsame Gegenstand: In beiden Werken geht es um die Entde­ ckung einer gefährlichen Umweltzerstörung, den Versuch, sie zu bekämpfen, und das Scheitern dieses Versuches. Ich kenne keinen früheren deutschen Roman von Rang und kein Drama der Weltlite­ ratur, die dies zum Hauptthema haben.15 Sicher sind die moderne Industrialisierung und die Zerstörung der Natur durch diese sowie schon durch vorindustrielle Techniken wie den Bergbau viel früher behandelt worden. Berühmt ist jene Stelle aus dem ersten Buch von Georg Agricolas De re metallica (Vom Bergwerk, das 1556 in erster Auflage erschien), wo unter den Einwänden gegen den Berg­ bau erwähnt wird, er führe zur Abholzung von Wäldern und zur Zerstörung des Lebensraumes von Tieren. Ja, sogar die Vergiftung von Flüssen und die Tötung bzw. Vertreibung der darin lebenden Fische wird ausdrücklich genannt: »Venae metallicae lauantur, quae lotura, quia uenenis inficit riuos & fluuios, pisces aut necat, aut ex eis abigit.«16 (»Die Metalladern werden ausgewaschen, und da dieser Vorgang Bäche und Flüsse mit Giften versetzt, tötet er die Fische oder vertreibt sie aus ihnen.«) Aber etwas ganz anderes ist es, den Kampf gegen negative Folgen der Industrialisierung und dessen Scheitern in das Zentrum eines literarischen Werkes zu rücken – eben dies geschieht, vielleicht erstmalig und wahrscheinlich literarisch bis heute nie besser, in Ibsens und Raabes Schriften. Das macht ihren Vergleich, der m. W. noch nie versucht wurde, sinnvoll für alle, die an der Umweltfrage interessiert sind und glauben, dass große Literatur uns helfen kann, auch dieses Problem besser zu verstehen.

Vgl. Ofelia Machado Bonet, Ibsen, Montevideo 21966, 256. SW E 4, 195. 15 Ein Kenner wie Sammons schreibt: »Whether it is the first German novel to deal significantly with an issue of ecology, I am not able to say.« (271) 16 Georgii Agricola De re metallica libri XII, Basileae 1561, 5. – Zur Geschichte des Verhältnisses des Menschen zur Natur siehe Joachim Radkau: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2000 sowie den ausgezeichneten Überblick bei Paul Leidinger: Der Mensch – ein natürlicher Feind der Natur? Unser Verhältnis zur Umwelt in der Geschichte. In: Nachhaltigkeit in der Ökologie, hg. von Luca Di Blasi, Bernd Goebel und Vittorio Hösle. München 2001, 129–150 und 268–276. 13

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Was den Vergleich besonders lohnend macht, ist, dass dieses Scheitern aus ganz unterschiedlichen Ursachen erfolgt – Tomas Stock­ mann ist Vertreter dessen, was man mit einer Kategorie Hegels »Moralität« nennen könnte; ihm geht es mindestens ebensosehr um den Genuss der eigenen moralischen Überlegenheit wie um den Hin­ weis auf die drohende Gefahr, und letztlich zielt er mit seinem unsin­ nigen Verhalten sogar auf seine eigene Niederlage ab. Bertram Gott­ lieb Pfister dagegen vertritt, um wieder einen Hegelschen Terminus zu benutzen, die Sittlichkeit der vorindustriellen Welt, die angesichts der Übermacht der modernen Industrie und der Zerstörung der eigenen Lebensgrundlage aufgibt und würdevoll resigniert. Die unterschied­ liche Reaktion der beiden Helden verleiht den beiden Werken eine ganz unterschiedliche literarische Wirkungsweise. Ibsens Drama ist satirischer, Raabes Roman elegischer Natur, wobei nach Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung es sich dabei um zwei Grundformen sentimentalischer Dichtung handelt, die bekanntlich nicht Natur ist, sondern Natur sucht.17 Gemeinsam ist dabei beiden unterschiedlichen Stimmungen ein hoher Grad von Ambivalenz: Weder wird des alten Pfister Welt nur positiv gesehen, noch ist Stockmann eine einfach lächerliche oder einfach erhabene Figur. Ob die Verwendung Hegelscher Kategorien hilfreich ist oder nicht, kann nur die konkrete Analyse zeigen; sie kann jedenfalls nicht mit dem Argument abgewehrt werden, sie trage den beiden Autoren fremde Kategorien an die Texte heran. Denn Raabe, obgleich nicht wirklich ein philosophischer Kopf, hörte in Berlin 1854–56 mehrere Vorlesungen bei den Hegelianern Karl Ludwig Michelet und Heinrich Gustav Hotho (über Naturrecht oder Rechtsphilosophie, Logik und Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften sowie Philosophie der neuesten Geschichte ab 1775 bzw. über Ästhetik sowie Albrecht Dürers Leben und Werke).18 Doch ist Raabes Skepsis gegenüber dem Gang der Geschichte von dem triumphalistischen Fortschritts­ glauben der Hegelschule weit entfernt, von der er sich schon früh entfernte, u.a. unter dem Einfluss Schopenhauers. Ibsens explizite Begeisterung für Hegel ist dagegen bekannt; mit Friedrich Hebbel ist er derjenige Dramatiker des 19. Jahrhunderts, der Hegelsche Anre­ gungen am fruchtbarsten aufgegriffen hat. Zumal sein geschichtsphi­ Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20, Weimar 1962, 436 und 441 f. Hermann Pongs. Wilhelm Raabe. Leben und Werk. Heidelberg 1958, 79 ff.; Gerhart Mayer, Die geistige Entwicklung Wilhelm Raabes, Göttingen 1960, 14 ff.

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losophisches Drama zu Julian Apostata Keiser og Galilæer (Kaiser und Galiläer) ist vom Geist der Hegelschen Geschichtsphilosophie durchtränkt.19 Es mag übertrieben sein, wenn Brian Johnston die zwölf »nutidsdaramaer«, also Ibsens letzte zwölf Stücke, die sämtlich in der Gegenwart spielen, punktgenau Bewusstseinsgestalten der Hegelschen Phänomenologie des Geistes korrespondieren lässt,20 aber der Einfluss Hegelscher Denkformen in zahlreichen Werken Ibsens ist für den Kenner mit Händen zu greifen. Im folgenden werde ich zuerst Ibsens, dann Raabes Werk analysieren und dabei der Frage nachgehen, inwiefern sie zwar auffallend unterschiedliche, aber doch geradezu komplementäre Lehrstücke zu unserem Versagen angesichts der Umweltzerstörung sind. Sehr viel mehr Einsichten zum menschlichen Umweltverhalten, als in diesen beiden Werken sich schon finden, haben wir in den 140 Jahren seit deren Erscheinen nicht gewonnen.

I. Das interpretatorische Hauptproblem bei En Folkefiende ist bekannt­ lich, wie man Dr. Tomas Stockmann einschätzen soll. Ohne jeden Zweifel ist seine kleinstädtische Umgebung, mit der einzigen Aus­ nahme des apolitischen, aber unbestechlich integren Kapitäns Hors­ ter, abstoßend – sie erinnert geradezu an die Leute von Güllen in Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame. Angesichts ihrer Korruption und Heuchelei, ja, ihrer Weigerung, Verantwortung zu übernehmen – eigene Entscheidungen werden in der Regel mit dem Druck der anderen begründet21 –, kann man gar nicht umhin, für den Badearzt Stockmann Sympathie zu empfinden. Dieser macht die Ent­ Siehe Norman Rhodes, Ibsen and the Greeks. Lewisburg 1995, 109 ff. Brian Johnston, The Ibsen Cycle. The Design of the Plays from Pillars of Society to When We Dead Awaken. University Park, Pa. 1992 (11975), besonders 27–186. Eine zwar von Hegel losgelöste Gesamtdeutung Ibsens, die aber wie diejenige Johnstons alle Gegenwartsdramen als strukturelle, zu immer höheren Prinzipien aufsteigende Einheit interpretiert, legte der bedeutende norwegische Philosoph Egil A. Wyller vor: Ibsen I: Der Cherub. Von Brand bis Wenn wir Toten erwachen, Würzburg 1999; Ibsen II: Das Schwert. Ein laufender Kommentar zu Kaiser und Galiläer. Ein weltgeschichtliches Schauspiel, Würzburg 2002. 21 Henrik Ibsen, Samlede Verker III: Nutidsdramaer 1877–99, Oslo 61989, 205, 206, 208. 19

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deckung, dass die Wasserleitung durch Abflüsse aus Gewerbeanlagen vergiftet ist, und steht zu seiner Überzeugung, auch wenn die ganze Stadt sie nicht zur Kenntnis nehmen will, weil die erforderliche Repa­ ratur enorme Kosten nach sich ziehen würde. Die Weigerung der Stadt zeigt, dass viel schlimmer noch als die physische die moralische Ver­ giftung ist, die eine Konsequenz von Verlogenheit und kollektiver Verantwortungslosigkeit ist: »Unser ganzes aufblühendes Gesell­ schaftsleben saugt seine Nahrung aus einer Lüge!«22 Stockmann dagegen setzt alles aufs Spiel und verliert alles – seine Stelle und seine Wohnung werden ihm gekündigt, selbst seine Tochter wird entlassen, und seine Familie wird von seinem Schwiegervater enterbt. Der Arzt hat manche Züge eines Helden einer Sophokleischen Tragödie. Ins­ besondere drängt sich die Figur des Oidipus in Οἰδίπους Τύραννος (König Oidipus) auf, denn auch hier forscht ein Mann unbedingt nach der Wahrheit, auch wenn dies sein persönliches Verhängnis bedeutet und auch wenn ihn seine nächste Umgebung davon abhalten will. Frau Stockmann, die ihren Gatten beschwört, sich der Macht zu unterwer­ fen und, statt an die Gesellschaft im Allgemeinen, an seine Familie zu denken (179 f.), erinnert an Iokaste. Stockmanns Tochter Petra, die das letzte Wort des Dramas hat – »Far!« (»Vater!«) –, den Stolz und Starrsinn ihres Vaters teilt und sicher auch wegen ihrer Vaterbindung Hovstads Avancen ablehnt (186), weist dagegen Ähnlichkeit zu Anti­ gone auf, wie sie uns in den beiden anderen erhaltenen Sophoklei­ schen Tragödien zur Labdakidenfamilie entgegentritt. An den König Oidipus erinnert Ibsens Drama auch formal durch die klassische Zahl von fünf Akten, die Peripetie im dritten Akt und die Verblendung des Helden in diesem zentralen Akt, die freilich, ganz anders als Sopho­ kles’ tragische Ironie, äußerst komisch wirkt.23 (Von den Gegenwarts­ dramen haben sonst nur Vildanden (Die Wildente) und Fruen fra havet 22 »Hele vårt oppblomstrende samfunnsliv suger sin næring av en løgn!« (179; vgl. 196) Da Norwegisch nicht allgemein gelesen wird, gebe ich das Original in den Anmerkungen. Die – möglichst wörtliche – deutsche Übertragung stammt stets von mir. 23 In Briefen an Frederik Hegel bzw. Jonas Lie vom 21. bzw. 22. Juni 1882 schreibt Ibsen, er wisse noch nicht, ob er sein Drama Lust- oder Schauspiel nennen solle (Hen­ rik Ibsen, Samlede Verker. Hundreårsutgave. Bd. 17, Oslo 1946, 470 und 472). Dass er trotz aller Ähnlichkeiten nicht mit Stockmann zu identifizieren sei, betont er in einem Brief vom 9. September 1882 an Hegel (ebd., 480) sowie in einem Gespräch mit P.A. Rosenberg vom 3. April 1898 in Kopenhagen (Bd. 19, Oslo 1952, 217): »Jeg er ikke ansvarlig for alt det Tøv, han kommer med.« (»Ich bin nicht für all den Unsinn ver­ antwortlich, mit dem er daherkommt.«)

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(Die Frau vom Meer) soviele Akte, und nur Vildanden ist – ein wenig – länger.) Bekanntlich lässt sich die Sophoklesforschung idealtypisch in zwei Gruppen teilen, diejenigen, die Sophokles auf der Seite seiner Helden, und diejenigen, die ihn auf der Seite des den Helden zur Mäßigung ratenden Chores sehen.24 Das allein ist ein Hinweis darauf, dass Sophokles’ Einstellung zu seinen Heroen und Heroinen komplex ist – er weiß um ihre Größe ebenso wie um den Preis, den ihre Umgebung für diese Größe zu zahlen hat. Analoges gilt für Ibsen. Sein Brand, den Gott selbst am Ende des gleichnamigen Dramas zurechtweist, ist in seiner unbarmherzigen Strenge sich selbst und anderen gegenüber ein deutlicher Erbe des Sophokleischen Heros, und Tomas Stockmann hat viele Züge Brands. Aber das, was Ibsens Meisterschaft, den inneren Zusammenhang seiner Werke und seine ständige geistige Weiterentwicklung aufs eindrucksvollste belegt, ist, dass es ihm gelungen ist, mit Stockmann gleichzeitig eine komi­ sche, ja geradezu lächerliche Figur zu schaffen. Auch wenn Ibsen in Stockmanns Angriffen gegen die kompakte liberale Mehrheit seinen eigenen Widerwillen gegen Zeitgenossen und Landsleute ausspricht, deren scharfe Ablehnung der Gengangere (Gespenster), seines unmit­ telbar vorangehenden Dramas, ihn zutiefst gekränkt hatte, ist er ein viel zu subtiler Künstler, um Stockmann als jemanden zu porträtieren, mit dem der Zuschauer bzw. Leser sich einfach identifizieren kann. Denn die Gründlichkeit der moralischen Selbsterforschung Ibsens geht so weit, dass er das moralisch Bedenkliche und Gefährliche an dem Phänomen des Moralismus selbst in den Blick bekommt. In seinem späten Drama Lille Eyolf (Klein Eyolf) gibt der Literat Alfred Allmers seinen Plan auf, ein großes Werk »Det menneskelige ansvar« (»Die menschliche Verantwortung«) zu schreiben – das im Titel an Hans Jonas’ Das Prinzip Verantwortung erinnert, eine der philosophisch bedeutsamsten Abhandlungen zum Umweltproblem –, weil er darin eine Flucht vor seinen konkreten Pflichten gegenüber seinem ver­ krüppelten Sohne erkennt (492) – Pflichten, die er nach dessen Ertrinken auf die verarmten Nachbarkinder überträgt. In dem auf En Folkefiende unmittelbar folgenden Drama, Vildanden, ist die Figur, die die alte Ibsensche Forderung nach unbedingter Ehrlichkeit sich 24 Reginald Pepys Winnington-Ingram, Sophocles: an interpretation, Cambridge/New York 1980, 13 sowie Vittorio Hösle, Die Vollendung der Tragödie im Spätwerk des Sophokles, Stuttgart-Bad Cannstatt 1984, 89 ff.

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selbst gegenüber vertritt, Gregers Werle, ein unerbittlicher Fanatiker, der den Selbstmord der kleinen Hedvig und die Vernichtung einer Familie bewirkt. Die Konsequenzen von Stockmanns Verhalten sind nicht so entsetzlich; die Fensterscheiben werden ihm eingeworfen, aber niemand stirbt in dem Drama, und deswegen ist En Folkefiende mehr eine Komödie als eine Tragödie (und das letzte der primär gesellschaftskritischen Dramen Ibsens). Dazu trägt auch bei, dass der Held nie gebrochen wirkt, sondern jene unverwüstliche Zufriedenheit mit sich selbst behält, in der Hegel das Siegel der wahren Komödie sieht25 – auch wenn sie, wie wir noch sehen werden, Stockmanns Lächerlichkeit erhöht. Aber diese bedeutet keineswegs einen Freibrief für die anderen. Vielmehr besteht das Deprimierende an der Situation gerade darin, dass eine Gemeinschaft notwendig scheitern muss, in der der die meisten Bürger gewissenlos sind und der Mann mit den reinsten Absichten jedes politischen Instinktes ermangelt, ja durch einen absurden Stolz auf seine eigene Vortrefflichkeit die anderen unwei­ gerlich vor den Kopf stoßen muss. Schon im ersten Akt wird die Anti­ pathie gezeigt, die Tomas’ älterer Bruder Peter, der Stadtvogt, Poli­ zeichef, Vorstandsvorsitzender der Badeanstalt ist und, wie das »osv.« (»usw.«) im Personenverzeichnis andeutet, offenbar noch weitere Ämter gehäuft hat, seinem Bruder gegenüber fühlt. Peter ist ein ide­ altypischer Vertreter der Beamtenklasse, die im Norwegen des 19. Jahrhunderts weitgehend die politische Macht ausübte,26 wobei seit 1837 in der Kommunalverwaltung auch gewählte Vertreter mitwirk­ ten. »Du hast eine angeborene Neigung, auf jeden Fall deine eigenen Wege zu gehen. Und das ist in einer wohlgeordneten Gesellschaft etwa in gleichem Maße unzulässig. Der einzelne muss sich in der Tat damit abfinden, sich dem Ganzen unterzuordnen oder, besser gesagt, den Behörden, die über das Wohl des Ganzen zu wachen haben.«27 Es 25 In den Vorlesungen zur Ästhetik lesen wir: »Zum Komischen dagegen gehört überhaupt die unendliche Wohlgemutheit und Zuversicht, durchaus erhaben über seinen eigenen Widerspruch und nicht etwa bitter und unglücklich darin zu sein.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt 1969–1971, 15.528) 26 Zu den »embetsmenn« im Norwegen des 19. Jahrhunderts vgl. Rolf Danielsen/ Ståle Dyrvik/Tore Grønlie/Knut Helle/Edgar Hovland, Norway: A History from the Vikings to Our Own Times, Oslo 1995, 222 ff. 27 »Du har en inngrod tilbøyelighet til å gå dine egne veie iallfall. Og det er i et vel ordnet samfunn omtrent likså utilstedelig. Den enkelte får sannelig finne seg i å

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wäre verkürzt, wenn man Peter einen puren Machtwillen zuschriebe, der es nicht gerne sieht, dass er hinterfragt wird. Peter ist von dem, was er sagt, durchaus überzeugt, und er wäre es auch als Untergebener. Es ist keineswegs nur seine persönliche Eitelkeit (160), sondern sein Amtssinn, der verletzt wird, wenn Tomas provokativ mit den Macht­ insignien seines Bruders spielt (190). Peter weiß, dass Ideen, deren sein Bruder viele hat, nicht ausreichen, sondern in einem komplexen praktischen Prozess umgesetzt werden müssen, von dem er zu Recht meint mehr zu verstehen als Tomas (160 f.). Sein Konflikt mit dem Bruder ist mindestens ebenso sehr charakterlich bedingt wie durch die unterschiedliche Interessenlage. Er missbilligt den üppigen Lebensstil des Bruders – »fast« hebt er hervor, als Tomas erklärt: »Ich verdiene fast soviel, wie wir brauchen.«28 Umgekehrt bemitleidet Tomas den asketischen Junggesellen, der nur an seine Amtspflichten denkt, und schreibt dessen Unwillen Verdauungsproblemen zu (163). Die libe­ ralen Journalisten vom Folkebudet (Volksbote), die in Tomas’ Hause verkehren, sind Peter zuwider – man wird sehen: nicht ganz zu Unrecht –, auch wenn ihn das im dritten Akt nicht daran hindern wird, sich mit ihnen gegen seinen Bruder zu verbünden. Schon im ersten Akt versucht er als geschickter Politiker, im Gespräch mit ihnen an das gemeinsame Interesse zu appellieren – also an die neulich errich­ tete Badeanstalt, die einen Aufschwung verursache, Geld unter die Leute bringe, zu einer Wertsteigerung des Grundeigentums führe, die Arbeitslosigkeit senke und damit eine Minderung der Armensteuer erlaube (160). Damit nennt Peter Kategorien, die bis heute entscheidend sind bei der Legitimation von Politik in modernen liberalen Demokratien. Und Peters Reaktion nach der Lektüre von Tomas’ Memorandum zu der Umweltvergiftung, die er entdeckt und die bei den Kurgästen zu Fällen von Typhus und Gastritis geführt hat, ist nicht weniger kennzeichnend. Während sich Tomas nie Gedanken gemacht hat über die Folgekosten seiner Entdeckung – er fordert den Bau eines Klär­ werks und die Verlegung der Wasserleitung –, informiert sich Peter sofort bei dem zuständigen Stadtingenieur – »so halb im Scherz«29, da er sich selbstredend nicht festlegen will auf die Wahrheit von innordne seg under det hele, eller rettere sagt, under de myndigheter som har å våke over det heles vel.« (163) 28 »Jeg tjener nesten like så meget som vi bruker.« (162). Vgl. auch 159. 29 »Sånn halvt i spøk« (175).

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Tomas’ Analysen. Die Kosten sind hoch, und das Bad müsste wegen Bauarbeiten für zwei Jahre geschlossen werden, was angesichts der drohenden Konkurrenz der Nachbarstädte die Badeanstalt zu einer enormen Fehlinvestition machen und damit die Stadt in den Bankrott treiben würde. Peter ist daher zu dem Ergebnis gekommen, dass die Wasserverhältnisse am Bad nicht so bedenklich seien, wie von Tomas behauptet (176).30 Natürlich könnte hier eine dekonstruktionistische Interpretation ansetzen: Ibsen habe nie gezeigt, dass Tomas’ Analysen zuverlässig seien, und daher sei Peters Reaktion moralisch statthaft. Aber es versteht sich, dass eine solche Deutung das eigentliche Anliegen Ibsens in sein Gegenteil verkehren würde. Raabe kann in seinem Roman mit viel Detailliebe die genauen Ursachen der Verschmutzung aufspüren lassen; das Genre des Dramas, das an einem Abend aufgeführt werden muss, lässt das nicht zu. Auch wer dem Charakter des Badearztes skeptisch gegenübersteht, kann nicht bestreiten, dass er nicht nur subjekiv ehrlich von der äußersten Gewissenhaftigkeit seiner Untersuchung redet, sondern dass er mit dem Versuch einer Publikation seines Aufsatzes gewartet hat, bis die Analysen eines Universitätschemikers seine Vermutungen bestätigen (167). Peter dagegen tut nichts, um die Thesen seines Bruders zu widerlegen; er behauptet einfach, Tomas liebe starke Ausdrucksfor­ men und Übertreibungen (175, 176), und er kommt zu dem Ergebnis, dass dessen Aussagen nicht zwingend seien, nachdem er eingesehen hat, wieviel es kosten würde, wenn sie zuträfen. Es bedarf keiner besonderen Vertrautheit mit wissenschaftlicher Methodik, um zu begreifen, dass dies nicht die richtige Vorgehens­ weise sein kann – auch wenn die Reaktionen auf die Prognosen zum drohenden Treibhauseffekt nach demselben Muster ablaufen oder wenigstens bis vor kurzem abgelaufen sind. Und ebenso antizi­ piert spätere Verhaltensmuster folgendes nichtssagende Zugeständ­ nis Peters: »Aber wahrscheinlich wird die Direktion im gegebenen Zeitpunkt nicht ungeneigt sein, in Erwägung zu ziehen, wieweit es mit erschwinglichen pekuniären Opfern möglich sein sollte, gewisse

30 Das Problem der Abschätzung von Risiken technischer Investitionen, die Men­ schenleben aufs Spiel setzen und zugleich retten, und des Missbrauchs derartiger Argumente spielt schon eine Rolle am Ende des dritten Aktes von Samfundets støtter (Stützen der Gesellschaft) (48 ff.).

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Verbesserungen einzuführen.«31 Wahrscheinlich, im gegebenen Zeit­ punkt, nicht ungeneigt, in Erwägung ziehen, wieweit möglich, erschwinglich, gewisse – man muss nicht Tomas’ Charaktermängel haben, um sich mit diesen siebenfachen Einschränkungen schwerlich zufrieden geben zu können. Auf Tomas’ Vorwurf gibt Peter wenigstens hypothetisch zu, dass seine Zweifel an dessen Thesen nicht ehrlich sind, sondern dass er nur seine Autorität nicht aufs Spiel gesetzt sehen möchte: »Und selbst wenn dem so wäre? Wenn ich vielleicht mit einer gewissen Ängstlichkeit über mein Ansehen wache, so geschieht das zum Nutzen der Stadt. Ohne moralische Autorität kann ich die Sachen nicht so steuern und leiten, wie ich es für am dienlichsten für das Wohl des Ganzen erachte.«32 Natürlich ist die Bemerkung deswegen objektiv ironisch, weil Peter zur Aufrechterhaltung seiner moralischen Autorität bereit ist, das Problem zu verleugnen und ernste Gesundheitsschäden bei den Kurgästen in Kauf zu nehmen – also etwas zu tun, was zweifelsohne unmoralischer ist als das Zugeständnis, bei der Planung einen Fehler begangen zu haben. Als Peter hört, Tomas habe seinen Aufsatz schon dem Folkebudet zur Publikation weitergeleitet, ist er besonders empört, da er in der Stille vorgehen wollte (176). Tomas sei unruhig, streitbar und aufrüh­ rerisch, und als dieser erklärt, es sei Pflicht des Staatsbürgers, neue Einsichten der Allgemeinheit mitzuteilen, ruft Peter aus: »Ach, die Allgemeinheit braucht ganz und gar nicht neue Gedanken. Der Allge­ meinheit ist am besten mit den alten, guten, anerkannten Gedanken gedient, die sie schon hat.«33 Wenn Tomas behaupte, er werde ver­ folgt, solle er sich angesichts seines querulantischen Charakters nicht darüber wundern. Und da sich die Nachricht offenbar schon verbreitet habe, müsse er nun aufgrund erneuter Untersuchungen erklären, die Gefahr sei nicht so groß, wie er sich anfangs eingebildet habe – ein klassisches Beispiel politischer Auftragsforschung, bei der auch schon das Resultat zum Auftrag gehört. Als Privatmann könne Tomas natürlich meinen, was er wolle – Peter ruft sogar Gott an als Garanten »Men rimeligvis vil direksjonen i sin tid ikke være utilbøyelig til å ta under overveielse hvorvidt det med overkommelige pekuniære offere skulle være mulig å få innført visse forbedringer.« (176) 32 »Og selv om så var? Dersom jeg måskje med en viss engstelighet våker over min anseelse, så skjer det til gavn for byen. Uten moralsk autoritet kan jeg ikke styre og lede sakene således som jeg erakter det tjenligst for det hjeles vel.« (176) 33 »Å, almenheten behøver slett ingen nye tanker. Almenheten er best tjent med de gamle, gode, anerkjente tanker den allerede har.« (177)

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dieser unantastbaren, aber rein privaten Meinungsfreiheit –, aber als einem Angestellten der Badeanstalt sei es ihm nicht gestattet, eine von derjenigen seiner Vorgesetzten abweichende Ansicht zu äußern. Und als sich Tomas auf seine Ehre als Wissenschaftler beruft, erklärt ihm sein Bruder: »Die Angelegenheit, um die es hier geht, ist nicht rein wissenschaftlich; es ist eine kombinierte Angelegenheit; es ist eine sowohl technische als auch ökonomische Angelegenheit.«34 Peter ist nicht der schlimmste Charakter des Stückes. Denn er glaubt wenigstens an etwas – an das wirtschaftliche Wohl seiner Stadt und an die Würde seines Amtes –, und auch bei seinem abschließen­ den Besuch bei Tomas, bei dem er ihm das Kündigungsschreiben überreicht, versucht er anfangs, ihm einen Rückweg offen zu halten (208 ff.). Viel schlimmer als Peter sind Tomas’ ursprüngliche Bun­ desgenossen, die in seiner Entdeckung nur ein Mittel sehen, Peter zu schaden. Der Pflegevater seiner Frau, der Gerbermeister Morten Kiil mit dem Spitznamen »grevlingen« (»der Dachs«), der seine Abwahl aus einem Amte nicht verwunden hat, freut sich von Herzen über Tomas’ Thesen, gerade weil er sie für »Affenspiel« hält, das sein von ihm als verrückt eingestufter Schwiegersohn mit Mortens politischen Gegnern treibe. Gelingt es Tomas, ihnen zu schaden, will er Weih­ nachten den Armen Geld geben – auch wenn er den Betrag halbiert, als er ihn das zweite Mal nennt. Warum kann Morten die Untersu­ chung Stockmanns sachlich nicht ernst nehmen? Er findet die Idee erheiternd, dass sich im Wasser eine Unzahl von Tieren herumtreiben soll, und besonders amüsant ist für ihn, dass sie unsichtbar sein sollen (170). Morten kann nicht wissenschaftlich denken – er verfügt nicht über den Begriff des Bakteriums, ja, die Kategorie ist so weit weg von dem ihm lebensweltlich Vertrauten, dass er sie als ein reines Hirnge­ spinst erachtet. (Später will er das Problem mit Rattenpulver bekämp­ fen: 211.) Das skandinavische Theater hat schon früh den Gegensatz zwischen dem wissenschaftlich Gebildeten und dem Ungebildeten als Quelle des Komischen genutzt: Der Titelheld von Ludvig Holbergs wohl populärstem Werk, Erasmus Montanus, kann am Ende seine Verlobte nur heiraten, weil er feierlich erklärt, er sei nunmehr über­ zeugt, die Erde sei flach wie ein Pfannkuchen.35 Sicher ist dieses letz­ tere Problem heute nur noch selten Anlass zu Konflikten; aber Ibsen »Det anliggende her handles om, er ikke noe rent videnskapelig; det er et kombi­ nert anliggende; det er både et teknisk og et økonomisk anliggende.« (178) 35 Ludvig Holberg, Erasmus Montanus eller Rasmus Berg, Bergen 1991, 87.

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hat mit sicherem Griff die Unanschaulichkeit von Umweltbedrohun­ gen als eine der Ursachen herausgestellt, warum die Kommunikation über sie so schwierig ist. Mortens diebische Freude an der Verrücktheit seines Schwiegersohnes schlägt freilich in Hass um, als er hört, dass der Hauptverschmutzer seine eigene Gerberei sei. »Wäre dies jedoch wahr, so müssten ja mein Großvater und mein Vater vor mir und ich selbst viele Jahre lang hingegangen sein und die Stadt verschmutzt haben, wie drei Mordengel. Glauben Sie, ich lasse diese Schande auf mir sitzen? … Ich will als reinlicher Mensch leben und sterben.«36 Natürlich besteht der Witz dieser Bemerkung auch hier darin, dass Morten nicht wirklich reinlich sein will – er will nur im Rufe stehen, reinlich zu sein. Nach Stockmanns Rede, die zu massivem Kursein­ bruch der Aktien des Bades geführt hat, hat er das Erbteil seiner Toch­ ter und Enkel in die verbilligten Aktien angelegt, und er wird sie einer Stiftung vermachen, wenn ihn nicht Stockmann öffentlich reinwäscht. Ist die Würde seines Amtes Peters Hauptantriebsfeder, so die Familienehre diejenige Mortens; und auch wenn beide Werte Hemm­ schuhe bei der Erkenntnis der Wahrheit sind, haben sie doch auch eine positive Bedeutung. Jemand, der wie Ibsen in der Konsistenz das fundamentale Gebot menschlicher Existenz gesehen hat,37 kann nicht umhin, in dem wetterwendischen Optimismus der fortschrittlichen Zeitungsredakteure das weitaus größere Übel zu sehen. Anfangs sind der Redakteur Hovstadt, sein Mitarbeiter Billing und der Drucker Aslaksen begeisterte Anhänger Tomas Stockmanns, weil sie in sei­ ner Entdeckung ein Mittel sehen, die Autorität seines Bruders zu untergraben und die Fabel von der Unfehlbarkeit der Regierenden zu zerstören (171). Von Verantwortung gegenüber den Badegästen ist nichts zu spüren; das Umweltproblem ist nur ein Vehikel zur Mehrung ihrer Macht. Hovstad lässt tief blicken, wenn er erklärt, er habe anfangs die Kommunalregierung gestützt, da sie für die Errichtung der Badeanstalt benötigt worden sei; jetzt, da sie abge­ schlossen sei, seien die Herrschaften entbehrlich geworden (171). Billing, der sich als Heiden ausgibt (165), hofft sogar, am Beginn »Men hvis om det var sant, så måtte jo min bestefar, og min far før meg, og jeg selv i mangfoldige år ha gått og griset byen til, liksom tre morderengler. Tror De jeg lar den skam sitte på meg? … Jeg vil leve og dø som et renslig menneske.« (211) 37 Man denke an den Gegensatz zwischen »man selbst sein« (»vær deg selv«) und »sich selbst genug sein« (»vær deg selv – nok«) in Peer Gynt (Henrik Ibsen, Samlede Verker II: Fra Brand til Keiser of Galilæer 1866–1873, Oslo 31978, 153). 36

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einer Revolution zu stehen (181) – eine Hoffnung, die Tomas teilt (190), wie ihm später Aslaksen (195) und Hovstad (198) vorwerfen. Allerdings bestehen zu Anfang gewisse Spannungen zwischen den Zeitungsleuten, da Aslaksen an der Bewahrung der bestehenden Ordnung ein starkes Interesse hat: Er ist Vorsitzender der Hausei­ gentümervereinigung und in der Gesellschaft für Mäßigung aktiv – »eine Art kleiner Machtstellung«,38 wie er demütig-bedrohlich zu verstehen gibt. Denn der Mann weiß um seinen Einfluss – zwar nur unter Kleinbürgern, aber diese sind überall die zahlreichste Klasse (187), »und es ist immer gut, die Mehrheit bei sich zu haben«.39 Seine ständigen Hinweise auf die Erfahrungen in der Schule des Lebens (173, 183, 194), seine Aufforderungen, Maß zu halten (172), zeigen den Spießer und parodieren die Stasima Sophokleischer Chöre. Er hat nichts gegen Verbalradikalismus, der sich gegen die große Politik wendet, sofern nur in der Lokalpolitik Ruhe waltet; denn hier darf eine Wertminderung der Immobilien nicht riskiert werden (183; Hovstad stimmt ihm später zu: 195). Es versteht sich, dass es Peter nicht schwer fällt, ihn umzustimmen: Er braucht nur ironisch seine Freude über den Opfergeist der städtischen Kleinbürger zu äußern und dann die Höhe der anfallenden Kosten zu nennen (187), um Aslaksen auf seine Seite zu ziehen, der sich flink davon überzeugen lässt, dass die Untersuchungen des Arztes offenbar auf Einbildung beruhten. Auch Hovstad und Billing wechseln schnell das Lager – Hovstad u.a., weil er durch Petras Zurückweisung gekränkt ist, Billing, weil er an einer Sekretärstelle in der Verwaltung interessiert ist (184). Aber der Gipfel der Niedertracht Aslaksens und Hovstads erweist sich im letzten Akt. Nachdem sie erfahren haben, dass Morten Kiil die Aktien des Bades gekauft hat, schließen sie pfiffigerweise, Tomas habe die Qualität des Bades nur herabreden wollen, um sich über seinen Schwiegervater in dessen Besitz zu setzen, und wollen ihren Anteil für Verschwiegenheit hinsichtlich dieser ihrer Entdeckung: »Das ist nach dem Gesetz der Natur; jedes Tier will sich durch Nahrung am Leben erhalten.«40 Die Szene, in der der rasende Stockmann mit einem Regenschirm die beiden aus seiner Wohnung vertreibt, ist eine der komischsten in Ibsens ganzem Œuvre. Die Annahme, dass er von den Machenschaf­ ten seines Schwiegervaters nichts gewusst haben konnte, hätte ange­ 38 39 40

»En liten slags maktstilling« (173). »Og det er alltid bra å ha majoriteten med seg.« (172) »Det er efter naturens lov; ethvert dyr vil livnære seg.« (213)

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sichts seines Charakters bei auch nur bescheidenen psychologischen Kenntnissen nahegelegen – ja, der gegen ihn geäußerte Verdacht bewegt ihn endgültig dazu, das Erbe Morten Kiils auszuschlagen und damit seine Familie in bittere Armut zu stürzen. Aslaksen und Hov­ stad zeigen, dass sie menschliches Verhalten nur nach den Prinzipien deuten können, nach denen sie selbst funktionieren. Das ist zweifels­ ohne eine intellektuelle Schwäche, aber Stockmann macht sich ihrer genauso schuldig, wenn er am Anfang an die unverbrüchliche Freund­ schaft der Zeitungsleute glaubt und sich als unfähig erweist zu begrei­ fen, dass sie ihn nur instrumentalisieren. Seine Bitte, keinen Fahnen­ zug für ihn zu organisieren (189), und sein triumphalistisches Verhalten gegenüber seinem Bruder (190), der sich versteckt hatte, nachdem er sich gerade mit Tomas’ früheren Bundesgenossen geeinigt hatte, sind ein Ausdruck grotesker Verblendung, zumal Tomas alle warnenden Hinweise geflissentlich übersieht. Während Oidipus im Gespräch mit Teiresias Mitleid erregt, löst Tomas’ Blindheit Lachen aus, weil er viel zu selbstgefällig ist – am Ende sammelt er sogar die Steine, die seine Fenster zerschmettert haben, um sie wie ein Heilig­ tum aufzubewahren (205). Das deutet darauf hin, dass er sich selbst als Heiligen, vermutlich als Märtyrer sieht. Er versteht nicht den Sar­ kasmus, als Morten ihm sagt: »Sie müssen heute ein sehr gutes Gewissen haben, kann ich mir denken.«41 Horster dagegen, der wegen seiner Unterstützung Stockmanns ebenfalls seine Stelle verliert, erwähnt seine Entlassung nur ganz beiläufig, weil die Emigrations­ pläne der Stockmanns davon abhängen, und ohne davon das mindeste Aufheben zu machen (207 f.). Stockmann geht es nicht primär darum, das Problem der Umweltvergiftung zu lösen, sondern die eigene moralische Überlegenheit zu genießen. Hegel hat in der Phänomeno­ logie des Geistes die durch Kants ethische Revolution entstandene Einstellung der Moralität u.a. deswegen kritisiert, weil es ihr viel eher um die eigene Subjektivität als um die Verwirklichung des Richtigen in der Welt gehe: »Oder wenn wieder die Wirklichkeit als Natur, die ihre eigenen Gesetze hat und der reinen Pflicht entgegengesetzt ist, genommen wird, so dass also die Pflicht ihr Gesetz nicht in ihr reali­ sieren kann, so ist es, indem die Pflicht als solche das Wesen ist, in der Tat nicht um die Vollbringung der reinen Pflicht, welche der ganze Zweck ist, zu tun; denn die Vollbringung hätte vielmehr nicht die reine 41

»De må ha en svært fin samvittighet i dag, kan jeg denke.« (210)

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Pflicht, sondern das ihr Entgegengesetzte, die Wirklichkeit, zum Zwe­ cke.« (3.455) In der Tat bemüht sich Tomas nirgends, einen Kompromiss zwischen seinem eigenen Vorschlag und den wirtschaftlichen Bedürf­ nissen der Stadt zu suchen. Als er schließlich durch Horster die Mög­ lichkeit erhält, in dessen Haus zum Volke zu reden, überlässt er nicht nur Aslaksen die Wortführung; man mag es seiner Naivität zugute halten, dass er nicht begriffen hat, dass unter Bedingungen moderner Demokratie die Kontrolle der Prozeduren die entscheidende Macht­ position darstellt. Aber dass er gar nicht zu dem angekündigten Thema redet, sondern statt dessen auf die Metaebene wechselt und aufgrund seiner Erfahrungen die These vertritt, dass die Mehrheit unrecht habe, ist eine völlig überflüssige Publikumsbeschimpfung, die ihn zum Scheitern prädestiniert, ja, seine Niederlage und Ächtung als Volksfeind herbeiredet. Sicher stimmt Ibsen einigen zentralen Aussagen Tomas Stockmanns zu. Einer der Gründe, warum ein so weit weg vom Zentrum Europas liegendes Land wie Norwegen den wohl bedeutendsten Dramatiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorbringen konnte, ist, dass das Land erstaunlich modern war, wirtschaftlich (1878 hatte es die drittgrößte Handelsflotte der Welt) nicht minder als politisch: Das norwegische Parlament hatte seit der Unabhängigkeit von Dänemark Rechte, die weitergingen als die der Parlamente aller anderen europäischen Staaten der Zeit, und eine Aristokratie existierte zu Ibsens Zeit nicht mehr. (Sie war schon im Mittelalter bedeutend schwächer als in Dänemark und Schweden gewesen.) Eine naheliegende Ideologie demokratischer Staaten ist, dass die Mehrheit per definitionem recht habe, und Ibsen lehnt diese Ideologie offenkundig ab.42 Eine Umweltvergiftung etwa verschwin­ det nicht dadurch, dass die Mehrheit sie bestreitet. Aber erstens bedeutet die Wahrheit einer Position keineswegs, dass es sinnvoll sei, diese Wahrheit bei jeder Gelegenheit auszusprechen; wer Mehrheiten braucht – und Stockmann kann ohne Mehrheiten nichts erreichen –, sollte dem Mehrheitsprinzip nicht seine Verachtung zeigen. Im 42 Die Ablehnung dieser Ideologie impliziert keineswegs eine Zurückweisung der Demokratie, da sie auch ohne diese Ideologie gerechtfertigt werden kann. Siehe dazu G. Bernard Shaw, The Quintessence of Ibsenism, New York 1909, 97 ff. Stockmanns Rede bezieht mehrere Argumente aus Platons Politeia, wie Brian Johnston, Text and Supertext in Ibsen’s Drama, University Park/London 1989, 185 f. gezeigt hat. Nicht Stockmann, sondern John Gabriel Borkman ist Ibsens nietzscheanischster Charakter

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Norwegen der 1880er Jahre bedeutet Hovstads höhnische Bemerkung »Doktor Stockmann ist also seit vorgestern Aristokrat geworden«43 ein politisches Todesurteil. Und zweitens ist die bloße Umkehrung des politisch Korrekten nicht automatisch eine Wahrheit: Stockmanns Behauptung, die Minderheit habe immer recht, ist nicht weniger ideo­ logisch und sachlich abwegig als die konträre These. Dass Stockmann sich bei dem geplanten Aufbruch aus seiner Vaterstadt der Sprache des Evangeliums bedient (Mt. 10.14, Lk. 10.11), auch wenn er sich selber die Bereitschaft des sterbenden Jesus zur Verzeihung (Lk. 23.34) nicht zuspricht (203), kann ebenfalls keine Sympathien für ihn wecken; es ist zudem politisch nicht klug, die religiösen Empfindungen der eigenen Zuhörer zu verletzen. Es ist schwer, Stockmann Größe zu attestieren, da diese Eigenschaft mit Dummheit nun einmal nicht kompatibel ist. Seine Frau hat vollkommen recht: »Ich weiß sehr wohl, dass du der klügste Mann in der Stadt bist; aber es ist so sehr leicht, dich zum Narren zu halten.«44 Ibsen gibt uns verschiedene weitere Hinweise auf Tomas’ Schwä­ chen.45 Der Verfasser von Et Dukkehjem (Ein Puppenheim), der die Ehe aus einem »Schicksal…, das getragen werden muss« in »eine überaus verfeinerte heikle Episode, von zwei Menschen, die nie zusammengehören«46 verwandelt hat, kann schwerlich bewundert haben, dass der Arzt seine Entscheidung, das Erbe seiner Frau und Kinder auszuschlagen, ganz alleine trifft, ohne diese zu konsultieren oder auch nur zu informieren. Dabei ist zumal seine Tochter Petra, doch zunehmend auch seine Frau (191), von ergreifender Loyalität. Doch Stockmann scheint gar nicht richtig zu bemerken, wieviel er ihrer Liebe verdankt, wenn er am Ende seiner Familie erklärt, er sei einer der stärksten Männer der Welt, da der Stärkste der Einsamste sei (215 f.).47 Stockmann ist letztlich moralischer Solipsist – er ist unfähig, die moralische Bedeutung von Gemeinschaften theoretisch »Doktor Stockmann er altså blitt aristokrat siden i forgårs.« (198) »Jeg vet nok du er den klokeste mann i byen; men du er så svært lett å narre, Tomas.« (189) 45 Die zeitgenössischen Rezensenten der englischen Aufführungen des Stückes sahen Stockmann freilich fast nur positiv; siehe die Texte in: Ibsen, The Critical Heritage. Edited by Michael Egan, London/Boston 1972, 298 ff. 46 Marianne Thalmann, Henrik Ibsen, ein Erlebnis der Deutschen, Marburg 1928, 31. 47 Zu Recht spricht Joan Templeton, Ibsen’s Women, Cambridge 1997, 166 von Ironie: »For on one side of the lone hero stands the wife who takes care of him and on the other the daughter with whom he will found his new enterprise.« 43

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anzuerkennen. Sein Bewusstsein moralischer Verpflichtungen ist abstrakt; es geht Hand in Hand mit einem fatalen Desinteresse an seiner realen Umgebung. Dass Stockmann die Journalisten so falsch einschätzt, ist ein Hinweis nicht nur auf seine Gutmütigkeit, sondern auch auf seine Weigerung, die Menschen in ihrer Wirklichkeit ernst zu nehmen und zu verstehen zu suchen. Bezeichnend ist, dass er sich nie an den Namen des Dienstmädchens Randine erinnern kann (168, 205, 210, 214) – sein Verantwortungsgefühl gegenüber Menschen, die er kaum kennt, scheint die Kehrseite seiner Gleichgültigkeit gegenüber den Personen seines eigenen Haushaltes. Und nicht min­ der auffällig ist das vollständige Fehlen von Liebe zur Natur in diesem frühen Kämpfer für die Umwelt. Wenn Stockmann in den Urwald oder auf eine Südseeinsel fliehen will (206), geht es ihm keineswegs um unberührte Natur; der Misanthrop will den Menschen aus dem Wege gehen. Ibsen hat immer wieder die Pracht und Gewalt der norwegi­ schen Natur geschildert – Allmers in Lille Eyolf findet in den Bergen zu sich (515 f.); sowohl Brand als auch Professor Rubek und Irene in Når vi døde vågner (Wenn wir Toten erwachen) werden von Schneela­ winen erschlagen; der alte Ekdal in Vildanden empfindet die Tragödie seiner Familie als Rache des Waldes (276); und der Bergmannssohn John Gabriel Borkman wähnt, in seinen wirtschaftlichen Umgestal­ tungsphantasien den Stimmen der Mineralien Folge zu leisten (534, 562). Stockmann, dessen Fortschrittsglauben erstaunlich naiv ist (161), äußert an keiner einzigen Stelle ein Verständnis dafür, dass das Problem, das er entdeckt hat, Teil eines komplexeren geschichtlichen Prozesses ist, eines epochalen Wandels im Verhältnis des Menschen zur Natur. Er ist nur froh, aus dem Norden Norwegens wieder in den wirtlicheren Süden zurückgekehrt zu sein (162), und empfindet halb Mitleid, halb Verachtung für die Menschen oben in der ungebändigten Natur (197). Tiere werden in dem Drama nur als Bedrohungen genannt wie die Bakterien, gegen die Morten Rattengift einsetzen möchte; oder aber sie sind Siglen für verächtliches menschliches Ver­ halten. Morten beklagt sich: »Die Leute nennen mich ›Dachs‹, habe ich sagen hören. Ein Dachs, das ist ja eine Art Schwein.«48 Und nach­ dem die liberalen Journalisten ihren Erpressungsversuch mit der Not­ wendigkeit des Nahrungserwerbs für jedes Tier, sie selbst einge­ schlossen, gerechtfertigt haben, greift Stockmann zur physischen 48 »Folk kaller meg for ›grevlingen‹, har jeg hørt si. En grevling, det er jo en slags gris, det.« (211)

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Gewalt und will, gut darwinistisch, wissen, »wer das stärkste Tier von uns dreien ist«.49 Die Natur ist in dem Drama nur eine Bedrohung des physischen ebenso wie des moralischen Überlebens des Menschen; und daher kann En Folkefiende als das paradigmatische literarische Werk einer rein anthropozentrischen Umweltethik gedeutet werden. Es sind ausschließlich Pflichten der Gerechtigkeit gegenüber Mit­ menschen – und zwar Zeitgenossen, nicht Angehörigen kommender Generationen –, um die es in Ibsens Umweltdrama geht. Und in der Tat ist die Geschichte über Alfred von Meißners Vater, die ihm zugrunde liegt, nicht wirklich umwelt-, sondern medizinethischer Natur.

II. Raabes Pfisters Mühle war bekanntlich kein Erfolg. Es verkaufte sich schleppend; und wohl in kluger Antizipation dieses Resultates lehnten zwei Verlage das Buch 1884 ab.50 Nicht nur das Publikum, das den Autor von Die Chronik der Sperlingsgasse geliebt hatte, war den komplexen Erzähltechniken und ambivalenten Wertungen des späten Raabe nicht gewachsen; auch die Literaturkritik erkannte erst vor einigen Jahrzehnten die Bedeutung des Buches.51 Immerhin hält Sammons, der beste amerikanische Kenner Raabes, den Roman für »one of his most finely wrought works« (271), und es besteht kein Zweifel, dass es das Umweltproblem in einer zwar ganz anderen, doch nicht minder bedeutsamen Weise behandelt als Ibsen. Auch bei Raabe geht es um die Vergiftung von Wasser – die Einleitungen der Zuckerfabrik Krickerode führen zum Umkippen eines Mühlba­ ches; der alte Müller Bertram Gottlieb Pfister muss seine Gaststätte »Hvem der er det sterkeste dyr av oss tre.« (213) Vgl Raabes Briefe an Jensens vom 28. Juli und zumal vom 22. Dezember 1884 (SW E 3, 365 und 370). Horst Denkler, Wilhelm Raabe: Pfisters Mühle (1884). Zur Aktualität eines alten Themas und vom Nutzen offener Strukturen, in: Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen, hg. von Horst Denkler, Stuttgart 1980, 293–309 erwähnt, die 1500 Buchexemplare der Grenzboten-Ausgabe seien in zehn Jahren abgesetzt worden (294). 51 Stopfkuchen von 1889 wurde viel früher in seiner Bedeutung erkannt, und zwar u.a. von Romano Guardini, Über Wilhelm Raabes Stopfkuchen, Mainz o.J. (1932). Unter den neueren Philosophen würdigt es ausführlich Franz von Kutschera, Ästhetik, Berlin/New York 1989, 406–414. 49

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schließen, da seine Kunden und Angestellten durch den Gestank von Schwefelwasserstoff vertrieben werden. Zwar klagt er, im ersten und letzten Prozess seines Lebens, gegen die Fabrik und gewinnt schließlich; aber er stirbt gebrochenen Herzens, die Mühle wird nach seinem Tode niedergerissen und weicht einer weiteren Fabrik. Was bei Ibsen im Mittelpunkt steht – die moralische Verworfenheit derjenigen, die sich gegen die Einsichten des Arztes sträuben –, spielt bei Raabe überhaupt keine Rolle. Einerseits hat das damit zu tun, dass die geschilderte Bedrohung nicht lebensgefährlich ist – der alte Müller stirbt an Melancholie wegen seiner zum Untergang verdammten Lebensform, nicht an Vergiftung. Andererseits erscheint Krickerode ausschließlich als Institution; von den Menschen, die dort wirken, den Entscheidungen, die sie fällen, erfahren wir fast nichts. Nur das Fabrikgebäude, in dem auch über Weihnachten gearbeitet wird (SW 16, 76 und 99), wird als eine Art moderner Gotik geschildert: »das phantastischer als irgendeine Ritterburg der Vergangenheit mit sei­ nen Dächern und Zinnen, seinen Türmen und Schornsteinen im Nebel des Weihnachtstages aufragende große Industriewerk« (100).52 Das einzige, was wir von den »Leuten von Krickerode« hören – sie werden weder namentlich genannt noch in ihrem Charakter geschildert –, ist, dass sie von Asches Gutachten nicht beeindruckt sind: »Diese stellten sich selbstverständlich auf einen anderen Standpunkt dem unberufenen, überstudierten Querulanten gegenüber und ließen es vor allen Dingen erst mal ruhig auf einen Prozess ankommen.« (114) Sie lügen nicht und veranlassen keine Rechtsbeugung. Sie wissen einfach, dass sie am längeren Hebel sitzen und dass die Zeit für sie arbeitet; und obgleich sie auch die letzte Instanz des sich über Jahre hinziehenden, anfangs wechselnd ausfallenden (140) Prozesses end­ gültig verlieren (165), rettet das die Mühle nicht vor ihrem Untergang. Ebenso diffus wie die Verantwortung der Unternehmensleitung für Pfisters Tod ist die nicht justiziable Schuld der Kommis, Buchhalter und Techniker Krickerodes an des Dichters Felix Lippoldes’ Ertrinken: Diese »Lebemänner im kleinen Stil« (147) geben dem Alkoholiker Rum, und er fällt beim Nachhauseweg in den Bach.53

Ähnlich ist die Schilderung von Asches Arbeitsstätte in Berlin, Schmurky und Kompanie (126, 128). 53 Auch die Arbeiter der Fabrik erwecken das Misstrauen von Pfisters Knecht Samse (105). 52

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Die Frage nach den Schuldigen spielt also bei Raabe praktisch gar keine Rolle. Das Buch konzentriert sich ausschließlich auf die Perspektive der Opfer der Umweltzerstörung und lotet sie mit einer nie gekannten Tiefe aus, während Ibsen zwischen Tätern und Opfern alterniert. Das hat sicher damit zu tun, dass Ibsen moralistischer ist als Raabe: Auch wenn seine Bewertung Stockmanns komplex ist, ist sein Abscheu gegenüber Aslaksen und Hovstad ungemischt. Raabe – der sich viel früher und eindeutiger von Hegel gelöst hatte als Ibsen – ist darin viel hegelianischer als der Norweger, dass er seine Geschichte nicht als ein Resultat moralischer Entscheidungen beschreibt, sondern als eine Nebenwirkung eines den einzelnen Menschen übersteigen­ den und ihn treibenden weltgeschichtlichen Prozesses: Es geht um den »Wirbel des Übergangs der deutschen Nation aus einem Bauernvolk in einen Industriestaat« (114) »im letzten Viertel dieses neunzehnten Jahrhunderts« (7). Treibende Kräfte sind das Bevölkerungswachstum (70), das sich in der Ausbreitung der Städte (36, 56) manifestiert und zu dem auch Asche mit seinen vier Kindern beiträgt, sowie die Veränderung der Bedürfnisstruktur, in Krickerodes Fall die Sehnsucht nach Zucker (65, 99). In dieser überpersönlichen Interpretation der Umweltfrage scheint Raabe Heidegger zu antizipieren; ja, ohne Zwei­ fel besteht eine bedeutsame Übereinstimmung auch darin, dass beide Autoren das Umweltproblem nicht als ein bloß technisches sehen. Die moderne Industrialisierung ist teils Wirkung, teils Ursache einer Neudeutung der Welt, die unweigerlich zur Entgötterung der Natur führt. Ausdrücke wie »die geschändete Najade« (98), »verteufelten Provinzialstyx« (148), »seine heimtückischen Nymphen und Nixen« (149) deuten darauf hin, dass die chemische Verunreinigung des Flusses ihn seiner göttlichen Natur beraubt, auch wenn ihm die Möglichkeit der Rache nicht versagt wird – doch fällt ihr Lippoldes zum Opfer, und auch wenn er ein persönlich gescheiterter, halb wahnwitziger Dichter ist,54 ist doch sein Tod ein Symbol für den Untergang der Poesie, die in einem religiösen Verhältnis zur Natur eine ihrer wichtigsten Quellen hat. Das leitmotivisch zitierte Gedicht August Schnezlers Die verlas­ sene Mühle wird am Ende vom Erzähler allegorisch dahingehend gedeutet, das bleiche, schöne Mägdelein, das sich am Ende am Fenster der Mühle zeige, sei 54 Rosemarie Henzler, Krankheit und Medizin im erzählten Text. Eine Untersuchung zu Wilhelm Raabes Spätwerk, Würzburg 1990, 133 spricht treffend vom »Topos vom heiligen Wahnsinn der Dichter in seinem entleerten Gehalt«.

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die Poesie selber, die ihre Mühle im romantischen Walde in die Hand der Tagesspekulanten übergehen sieht; und ich bin Philologe genug, um mich hier darüber auszulassen, aber ich war auch Poet genug, um auch bei grauem Tageshimmel und leisem Regenfall den wundervollen, innersten Herzschlag des Erdenlebens da zu erhorchen, von wo er mir in diesem Augenblicke wirklich herklang. Ich hielt die dürre, harte Hand, ließ das trostlose Greisenhaupt an meiner Schulter lehnen und horchte kaum hin, als hinter uns in Pfisters Mühle sich eines der heute noch ganzen Fenster öffnete und mein junges, rosiges Mägdelein sich vorbeugte und rief: ›Aber Kinder, ihr werdet ja bis auf die Haut naß bei dem Regen. Was sitzt ihr denn da auf der Bank am Wasser und rührt euch seit einer halben Stunde nicht?‹ Ich hatte während dieser halben Stunde das alte Weiblein neben mir zu trösten gesucht, so gut ich konnte, und was das Naßwerden betraf, so boten ja an diesem Abend noch die alten Bäume ihren Schutz der Poesie und dem juridischen Rechtsnachfolger in Pfisters Mühle. – (133 f.)

Es lohnt, diese zentrale Stelle mehrmals zu lesen. Denn sie enttäuscht auf subtile Weise die Erwartung, die Wirklichkeit (innerhalb der Fik­ tion) entspreche der Dichtung, und beweist damit erneut, wie unpoe­ tisch die Wirklichkeit geworden ist. Inwiefern? Nun, da gerade von Schnezlers schönem bleichem Mägdelein am einzigen noch ganzen Fensterlein der Mühle als Allegorie der Poesie die Rede war, erwartet der Leser, in der jungen Frau des Erzählers Emmy, die sich aus der Mühle lehnt, ein analoges Sinnbild zu sehen. Aber nein, nicht das junge, rosige Mägdelein, auf das der Gatte kaum hinhorcht und das er schon vorher als »unpoetisches« bezeichnet hatte (103), steht für den »Herzschlag des Erdenlebens« und die »Poesie«. Dafür steht, wie auch das an die zahlreichen Deminutive des Gedichtes erinnernde Wort »Weiblein« andeutet, die alte Christine Voigt, für die der Abschied von der Mühle nichts weniger als traumatisch ist, da sie in ihr fast ihr ganzes Leben verbracht und den Erzähler Eberhard (Ebert) Pfister nach dem Tode seiner Mutter großgezogen hat. Sie ist mit der Mühle gleichsam verlobt (17). »In meiner Kinderzeit erzählten sie, daß sie immer ein lebendiges Kind mit vermauert hätten, um ein festes Haus zu haben: ich möchte mich nun als ein altes Weib mit vergraben lassen, um ihnen allnächtlich an ihrem Mauerwerk zu rütteln.« (134; vgl. 155) Ebert liebt diese alte Ersatzmutter, die am Ende, in Berlin angekommen, wo sie ihr Altenteil in Eberts und Emmys Haushalt verbringen soll, »betäubt, willenlos in das Gewühl der Großstadt

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starrend« schluchzt (163); und er weiß, dass er selber nur ein juridi­ scher Rechtsnachfolger seines Vaters ist: Er hat die Mühle zwar geerbt, aber nicht durch Arbeit erworben und in Besitz genommen, sondern, wenn auch mit Billigung seines sterbenden Vaters, verkauft. Und ebendeswegen ist der Gymnasiallehrer Pfister zwar immer noch Phi­ lologe, aber Poet war er nur solange, als er die Empfindungen der alten Christine nachfühlen konnte. Die Philologie triumphiert, aber auf Kosten der sterbenden Poesie. Raabe meint offenbar, dass das Poeti­ sche nicht nur eine Eigenschaft literarischer Texte ist; es ist eine Eigenschaft der Wirklichkeit, teils der Natur, teils der Menschen, die auf sie und aufeinander reagieren, und in der vorindustriellen Welt war sie leichter zu finden als in der industriellen. Freilich hat nicht jeder Vertreter der alten Welt poetische Gaben; und wer nicht seinen Schmerz poetisch sublimieren oder wenigstens durch Arbeit ersticken kann (164), ist hochgradig selbstmordgefährdet (27 f.). Innerhalb der industrialisierten Welt ist der Modus, in dem das Poetische zur Geltung gebracht werden kann, der elegische. Das erklärt, warum Eberts »Sommerferienheft« ständig zwischen der unwiderruflich vergangenen Zeit und derjenigen des Beschwörens und Erinnerns hin und her sich bewegt.55 Nur der erste Einschnitt zwischen den beiden Ebenen wird typographisch deutlichst hervor­ gehoben – und zwar durch drei Kreuze (8), die gleichsam ein »Requie­ scat in pace« über die untergegangene Welt aussprechen.56 Die spä­ teren Ebenenwechsel sind oft gleitender, und man merkt manchmal erst nach einigen Sätzen, dass der Erzähler nun über die gegenwärtige Zeit, die des Erzählens selbst, spricht.57 Ein solcher Irrtum ist möglich, weil der Ort des größten Teils des Erzählens die Mühle selbst ist, um die es in der Erzählung geht; denn Pfisters dürfen den letzten Sommer in der ihnen schon nicht mehr gehörenden Mühle verbringen, bevor sie niedergerissen wird. Die Identität des Ortes scheint manchmal, 55 Dazu ist immer noch lesenswert Roy Pascal, Die Erinnerungstechnik bei Raabe (engl. 1954), jetzt in: Raabe in neuer Sicht, hg. von Hermann Helmers, Stuttgart/ Berlin/Köln/Mainz 1968, 130–144 (133 f. zu Pfisters Mühle). 56 Die Kreuze passen zu Eberts melancholischen Spaziergängen auf dem Friedhof mit seinem zukünftigen Schwiegervater (33 ff., 118); all das beleuchtet »Eberhards Schwel­ gen in der Vergangenheit, im Innern der Seele: letztlich ist es ein Liebäugeln mit dem Tod.« (Wolfgang Giegerich, Der Verlorene Sohn. Vom Ursprung des Dichtens Wilhelm Raabes, Essen 1987, 90) 57 Siehe etwa 26 und umgekehrt 87; 63 wird vom erzählten Ort zum Ort der Erzählung übergegangen. Vgl. auch 77, 93, 131, 150.

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aber eben nur für Augenblicke, über den Abgrund zwischen einer Vergangenheit, die einer weltgeschichtlich anderen Epoche angehört, und der Gegenwart hinwegzutäuschen, die in den Sog der Zukunft hineingezogen wird. Paradoxerweise ist freilich gerade der Abstand zwischen der Gegenwart und der zwar nicht zeitlich, aber doch men­ talitätsgeschichtlich fernen Vergangenheit ein Faktor, der Dichtung nach Art eines Schwanengesangs ermöglicht. Man braucht nicht mehr, wie 1780 Wieland im Oberon, mit dem Hippogryphen nach Bagdad und Babylon zu reiten, denn einerseits sind das alte roman­ tische Land und »der ›Vorwelt Wunder‹, die wir in weiter Ferne ver­ geblich suchten, so nahe … zehn Schritte weit von unserer Tür« (8) – Pfisters todgeweihte Mühle ist in der Welt Krickerodes nicht weniger exotisch als der Sultan von Babylon, ja, sie ist ein verlorenes Paradies (64, 72 f., 118). Und andererseits ist auch der Orient entzaubert und dem Modernisierungsdruck unterworfen: »Durch die Wüste, über welcher der Vogel Rock schwebte…, sind Eisenschienen gelegt und Telegraphenstangen aufgepflanzt; der Bach Kidron treibt Papiermüh­ len, und an den vier Hauptwassern, in die sich der Strom teilte, der von Eden ausging, sind noch nützlichere ›Etablissements‹ hingebaut.« (8) Bei der Rückfahrt nach Berlin, während die Kastanienbäume um die Mühle gefällt werden (ganz wie am Ende von Anton Tschechows Вишнёвый сад (Kirschgarten) die Kirschbäume), wird – komposito­ risch symmetrisch zum zweiten (11), im vorletzten »Blatt« des Buches – das Rasseln der Eisenbahnrräder beschrieben, in dem der Erzähler vergeblich das Rauschen des Getriebes der Mühle zu hören versucht (161). Das deutet darauf hin, dass nicht nur Lebensformen vergänglich sind, sondern auch unsere Erinnerungen an die Vergangenheit; erst wenn diese zerfallen, ist das Vergangene wirklich tot. Daher die in dem ganzen Buch leitmotivisch wiederholte Frage »Wo bleiben alle die Bilder?«, die sich im sechsten Blatt auf die realen und unverkauften Bilder einer Ausstellung bezieht, die offenbar irgendwo entsorgt wer­ den müssen (30 ff.), aber dann die geistigen Bilder unseres Erinnerns betrifft. Das Sommerferienheft, für das der Autor keine Verantwor­ tung übernehmen will (177), könnte der Versuch sein, diese Bilder nicht nur in Emmys Träumen (103), sondern auch noch in den Enkeln weiterleben zu lassen, wenn der Erzähler sich nur die Mühe machen wollte, erzähltechnisch disziplinierter zu verfahren: »Nun könnte ich mich selber literarisch zusammennehmen, auf meinen eigenen Stil achten, meine Frau und alle übrigen mit ihren Bemerkungen aus dem Spiel lassen und wenigstens zum Schluß mich recht brav exerzitien­

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haft mit der Feder aufführen. Wenn ich wollte, könnte ich jetzt auch noch das ganze Ding über den Haufen werfen und den Versuch wagen, aus diesen losen Pfisters-Mühlen-Blättern für das nächste Jahrhun­ dert ein wirkliches druck- und kritikgerechtes Schreibekunststück meinen Enkeln im Hausarchive zu hinterlassen.« (163 f.) Dass die Stelle reflexiv zu lesen ist und in ihr der Autor ironisch auf die litera­ rischen Qualitäten seines Werkes verweist (wenn auch mit Wehmut darüber, dass sie von seinen Zeitgenossen nicht goutiert werden), versteht sich.58 Aber es ist nicht minder offenkundig, dass auch der Erzähler Spott treibt (»recht brav exerzitienhaft«); Ebert erweist sich damit als bewusster Sprachkünstler. Der Wechsel zwischen beiden Zeitebenen erlaubt dem Erzähler, die Reaktionen auf die Erzählung darzustellen, und zwar insbesondere diejenigen seiner Frau, der er aus dem Manuskript berichtet, wodurch ein weiterer ständiger Wechsel, nämlich zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Gespräch und Bericht an sich selbst (75, 104, 139), erfolgt.59 Emmy ist in der Literatur unterschiedlich bewertet worden, und das ist deswegen nicht überraschend, weil der Erzähler seine junge schwangere Frau zwar liebt, aber doch ein Gefühl der Fremdheit ihr gegenüber deutlich werden lässt (vgl. schon 10). Allerdings ist das deswegen kein schlechtes Omen für ihre Ehe, weil nicht nur Raabe, sondern auch Ebert reif genug ist, um es als unvermeidlich zu begreifen, dass seine Frau nicht dieselben Empfindungen wie er angesichts des Untergangs der Mühle haben kann, die sie zum ersten und letzten Mal besucht. Es knüpfen sich für sie keine alten persönlichen Erinnerungen an die Stätte, und in der Erzählung sieht sie eine Kompensation für gegenwärtige Unannehmlichkeiten (76). Als Berlinerin kann Emmy gar nicht umhin, sich auf die Rückkehr in die Großstadt zu freuen (124), auch wenn sie dort keinen Fami­ liensitz, sondern »nur eine moderne, unstete Mietswohnung« hat (163). Immerhin ist sich Emmy des Unterschiedes der Empfindungen beider bewusst, und dies ist ausreichend für eine stabile Ehe: »O Herz, 58 Vgl. Barker Fairley, Wilhelm Raabe. An introduction to his novels, Oxford 1961, 50: »We need to know our author at such times. It may be doubted whether he ever wrote more skilfully than here. At any rate he was never more skilful in concealing bis skill.« – Andere reflexive Passagen, in denen also der Autor auf sein eigenes Werk anspielt, finden sich 48 f., 101, 108, 176. 59 Vgl. Wieland Zirbs, Strukturen des Erzählens. Studien zum Spätwerk Wilhelm Raabes, Frankfurt/Bern/New York 1986, 87 ff. – Zum Wechsel zwischen Mündlich­ keit und Schriftlichkeit im Leben des jungen Eberts vgl. SW 16, 38 f.

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liebster, bester Mann, ich kann ja nichts dafür; aber ich freue mich so sehr, so unendlich auf unsere eigenen vier Wände und deine Stube und meinen Platz am Fenster neben deinem Tische! Bist wohl manchmal recht böse auf mich gewesen, aber ich konnte ja wirklich nichts dafür und habe mir gewiß selber Vorwürfe genug gemacht, wenn ich in den letzten Wochen nicht alles gleich so mitsehen und mitwissen und mitfühlen konnte wie du.« (162) Zudem gibt sich Emmy, die sich selbst »dein arm, närrisches Mädchen, deine dumme, kleine Frau in deiner verzauberten Mühle« nennt (162), zwar keine Rechenschaft über die epochalen Veränderungen, die sich in der Welt abspielen; sie hat wenig andere Interessen als ein bürgerliches Familienglück. Aber sie hat eine große Fähigkeit zur Empathie (120); und ihre Herzlichkeit gegenüber der alten Christine ist aufrichtig (14, 17, 150, 163, 164). Das unterscheidet sie von den kalten Vertretern des Fortschritts, die die moderne Welt teils hervorbringt, die sie teils schaffen und erhalten. Der Architekt des neuen Fabrikbaus, so wird ausdrücklich gesagt, ist zwar »kein übler Mann«, aber doch ganz anders als der berühmte Kollege der Goetheschen Wahlverwandtschaften (124). Seine Devise »das Ideale im Praktischen«, »das Schöne, das Groß­ artige im innigen Verein mit dem Nützlichen« zeigt die Banalität des Mannes. Nicht dass er an den Geschäften der Zeit nach den Gründerjahren teilhaben will, ist nach Raabe verwerflich, sondern dass er sich weigert zu begreifen, dass er dadurch etwas verliert, und so tut, als ob das Ideale mit dem Nützlichen ohne weiteres kompatibel sei. Auch Dr. Riechei, der Anwalt des alten Pfister, der dessen Prozess geführt hat, weil er sich damit einen Namen machen konnte, aber den Müller schon bei dem ersten Gespräch erstaunt fragt, warum er Krickerode nicht mitgegründet habe (117), ist einer dieser Konjunkturritter, der den Schmerz der alten Christine gar nicht versteht und sich auf »Neu-Pfisteria«, das Fabrikgebäude anstelle der Mühle, freut (155).60 Ganz anders ist dagegen Adam August Asche, einer der faszinie­ rendsten, weil zugleich humorvollsten und tragischsten Figuren der 60 Zu Recht merkt freilich Joachim Wortmann, Probleme des Zeitromans. Studien zur Geschichte des deutschen Romans im 19. Jahrhundert, Heidelberg 1974, 140 zu diesen beiden Personen an: »Aber gerade in der Gestaltung dieser beiden Figuren bewährt sich das Bewußtsein der Relativität, das der alte Raabe seinen Erzählern mitzugeben pflegte. Sie werden nicht mehr zu Verbrechern gemacht…, sondern sie sind wie alle Figuren des späten Raabe biedere Bürger, die sich in nichts von anderen unterscheiden.«

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deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schon sein stabreimender Name deutet darauf hin, dass er ein exemplari­ scher Mensch ist mit einem Hang zum Erhabenen und einer Tendenz zum Ausgebranntsein. Ursprünglich Eberts Lateinlehrer, wird er spä­ ter Chemiker, lernt also statt der Philologie »die reale Wissenschaft« (75), die die Wertungen der poetischen Sprache verdrängt (100) und daher den anderen unheimlich bleibt (98). Als solcher kann Asche in Krickerode den Ursprung der Verunreinigung des Mühlenbaches nachweisen. Aber er betont, dass er selber Partei ist (89, 91), denn er will und wird selber ein chemisches Unternehmen gründen und in noch viel größerem Maßstab an der Spree Umweltzerstörung treiben (67), wozu ihm paradoxerweise sein kompetentes Gutachten zugunsten Pfisters dienlich sein wird.61 Der Besuch von Vater und Sohn bei dem Freund, der in chemischen Experimenten begriffen ist, zeigt dem hilfesuchenden alten Müller, dass er aus dem Regen in die Traufe geraten ist. Der Gestank von Waschküche und Wohnung ist noch viel schlimmer als der an seinem vergifteten Bach, weil »die Wissenschaft in ihrer Verbindung mit der Industrie nicht zum besten duftet« (60). Die Szene ihrer Begegnung hat, u.a. durch Asches sar­ kastische Abwandlung eines Zitats aus Schillers Das verschleierte Bild zu Sais, etwas von einer Initiation in das Mysterium der modernen Wissenschaft, und auch Raabes Kalauer »er nahm das Ding … an sich« (59) ist insofern tiefsinnig, als er damit darauf hinweist, dass die moderne Naturwissenschaft beansprucht, die eigentliche, noumenale Realität entdeckt zu haben: »Beuge in schaudernder Ehrfurcht dein Knie: so geht man im zweiten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts zur Wahrheit!« (58) Wesensmerkmal dieser neuen Allianz von Wis­ senschaft und Industrie – Arnold Gehlen wird sie »Superstruktur« nennen62 – ist die vollständige Instrumentalisierung der Natur; ihre Vertreter betrachten »das edelste der Elemente als als nur für ihren Zweck, Nutzen und Gebrauch vorhanden« (114). Asche ist entschlossen, aus der bitteren Armut seiner Kindheit aufzubrechen und Erfolg zu haben; und auch wenn er seinem Gönner Vater Pfister hilft, soweit er kann, vertritt er das Prinzip Krickerodes in gesteigerter Form. Gleichzeitig hat er ein völlig klares Bewusstsein davon, dass der Preis, den er für seinen wirtschaftlichen Erfolg zu 61 Dirk Göttsche, Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, Würzburg 2000, 103 spricht diesbezüglich von »Dialektik des industriellen Fortschritts«. 62 Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, Hamburg 1957, 11 ff.

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zahlen hat, horrend ist. Ebert ist dem Aufsteiger in Berlin, der im Zusammenhang mit der Erfindung des Benzins »riesige Errungen­ schaften, stupifizierende Neuerungen« preist (127), ein Bote »aus dem alten, lieben Leben« (129), »aus den alten, besseren Tagen« (130); und die trotz aller Abweisungen unbeirrbare Werbung Asches um Lippoldes’ Tochter Albertine ist einer seiner schönsten Züge. Es ist nicht nur ihr innerer Adel, der Asche für sie einnimmt, sie ist das letzte, wenn auch lose Verbindungsglied zu der Welt seiner Heimat, und er kann seinen Drang zum Reichtum damit rechtfertigen, dass er sie und ihren Vater aus der Armut befreien will. »Ohne dieses Mädchen wird mir das Resultat meines Lebens so stinkend, so widerwärtig, so über alle Maßen abgeschmackt sein … Bei dem reinen Äther über dem rauchverstänkerten Dunstkreis über Pfisters Mühle und Umgegend von Pol zu Pol, ich liebe dieses Frauenzimmer und will es bei mir haben und es so gut als möglich halten in dieser Welt des Benzins und der vergifteten Brunnen, Forellenbäche und schiff­ baren Flüsse.« (144) Die Liebe zu einem poetischen Mädchen, die nach der Heirat unvermeidlich prosaischer wird, ist nicht die einzige Kompensation im Leben des Chemikers. Die andere ist die klassische Bildung. Asches Anführung onomatopoetischer griechischer Worte aus Homer ist die vielleicht witzigste Verspottung, und zwar ante litteram, der auf Joachim Ritter und seine Schüler zurückgehenden Kompensationstheorie der Geisteswissenschaften: »Es ist eben nicht das Ganze des Daseins, alle Abend aus der Wäsche von alten Hosen, Unterröcken, Ballroben, Theatergarderobe und den Monturstücken ganzer Garderegimenter zu der besten Frau und zum Tee nach Hause zu gehen. Da habe ich mir denn das Griechische ein bißchen wieder aufgefärbt…« (178) Aber die tiefste Liebe, die Asche in seinem Leben empfindet, ist nicht die zu Albertine oder zu Homer. Es ist die zu Vater Pfister. »Ich bin … unter den Menschen viel und an vielen Orten gewesen; aber einen zweiten seinesgleichen habe ich nicht unter unsersgleichen gefunden.« (67) Alle mögen diesen Mann, aber Asche empfindet den Wert und die Würde dieses intelligenten, gebildeten, ja weisen (19) und guten (170) Menschen wie kein anderer, vielleicht sogar Ebert eingeschlossen – und zwar wohl deswegen, weil Asche weiß, dass die Karriere, die er eingeschlagen hat, zum Verschwinden des Menschen­ typus führen muss, dessen höchster Repräsentant der alte Pfister ist. Mit demselben Instinkt, mit dem er gespürt hat, dass Lippoldes ertrunken ist (147 ff.), versteht er den Brief des sterbenden Müllers,

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der seinen Sohn gar nicht beunruhigt, weil er mit den Worten endet: »Und sind recht gesund. Aber komm doch lieber auf ein paar Tage.« (167) Doch Asche weiß besser als Ebert, dass dessen Vater ein Mann ist, der aus seinem Sterben kein Aufheben macht, und dass er um einen Besuch nur bittet, wenn es wirklich ans Sterben geht. In man­ chem erinnert sein gelassenes Sterben an das Dubslav von Stechlins in Fontanes letztem Roman von 1899. Auch der alte Stechlin ist früh verwitwet, hat nie wieder geheiratet – »›wir glauben doch alle mehr oder weniger an eine Auferstehung‹ (das heißt, er persönlich glaubte eigentlich nicht daran), ›und wenn ich dann oben ankomme mit einer rechts und einer links, so ist das doch immer eine genierliche Sache‹«63 – und hat seinen einzigen Sohn mit Hilfe eines treuen Die­ ners aufgezogen. Er empfindet durchaus die kreatürliche Angst vor dem Tode – »das Leben ist kurz, aber die Stunde ist lang« –, doch versucht er, sich stoisch zu fassen. »Das ›Ich‹ ist nichts, – damit muß man sich durchdringen. Ein ewig Gesetzliches vollzieht sich, weiter nichts, und dieser Vollzug, auch wenn er ›Tod‹ heißt, darf uns nicht schrecken. In das Gesetzliche sich ruhig schicken, das macht den sitt­ lichen Menschen und hebt ihn.«64 Pfister ist weniger reflektiert als Stechlin, aber heiterer. Freilich scheint die Gelassenheit, ja, Vergnügt­ heit, mit der er sich von der Welt verabschiedet, seinem Sohne die Auflösung der Mühle ans Herz legt – bei bleibenden Fürsorgepflich­ ten gegenüber Christine und Samse –, ja, die Anlage des dadurch gewonnenen Kapitals in das Unternehmen Asches empfiehlt,65 die­ sem seine Mülleraxt vererbt und schließlich die Ehe zwischen ihm und Albertine stiftet, die er nach dem Tode ihres Vaters liebevoll bei sich aufgenommen hatte (170 ff.), angesichts der Verbitterung, in der er seine letzten Jahre verbracht hatte, überraschend. Die Verbitterung hatte damit zu tun, dass der Müller seine Lebenswelt zugrunde gehen sah. Die Mühle und er bilden ein Paar (»bei uns zwei«, 117), denn die Mühle gilt ihm als ein Lebendiges (88).66 Er teilt mit den Tieren des Wassers die Sorge »in betreff ihres beiderseitigen Hauptlebenselementes« (53), und in der Verkehrung der natürlichen Ordnung sieht er etwas, was Gott empören muss. Theodor Fontane, Der Stechlin, Frankfurt 1975, 15. Ebd., 441. 65 Einen analogen Rat gab schon der dem alten Müller wesensverwandte (106 f.) Lippoldes Ebert (100 f.). 66 Ebert vergleicht sie einmal mit einem Nest, das »mit einer dummen, langen Stange« herabgestoßen werden soll (93). 63

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Sieh dir nur das unvernünftige Vieh an, Ebert … Auch es stellt die nämlichen Fragen an unsern Herrgott wie ich. … vergiften sie es, da weiter oben, in nichtsnutziger Halunkenhaftigkeit ihm und mir und uns, na, so müßte er denn wohl am Ende mit seinem Donner drein­ schlagen, wenn nicht meinetwegen, so doch seiner unschuldigen Geschöpfe halben. Guck, da kommen wiederum ein paar Barsche her­ unter, den Bauch nach oben … ich erlebe es noch, daß demnächst noch die Hechte ans Stubenfenster klopfen und verlangen, reingenommen zu werden, wie Rotbrust und Meise zur Winterszeit. Zum Henker, wenn man nun nicht allmählich Lust bekäme, mit dem warmen Ofen jedwedes Mitgefühl mit seiner Mitkreatur und sich selber dazu kalt werden zu lassen! (53 f.)

Die Naturverbundenheit Pfisters ist deswegen so faszinierend, weil sie nicht normal ist – sein Sohn betont, dass die Landjugend mit der Natur viel zu vertraut sei, »um sich viel aus ihr zu machen und sie als etwas anderes denn als ein Selbstverständliches zu nehmen« (11). Und erst recht findet sie sich nicht bei den anderen Figuren des Buches (um von Ibsens Stockmann zu schweigen). Emmy sieht einen Storch zum ersten Male in freier Natur, nicht bloß im Bilderbuch oder Zoo (13 f.),67 und sie meint, nicht nur ihr unbekannte wissenschaftliche Tiernamen, sondern die Tiere selber seien erst kürzlich erfunden worden (93)! Nicht minder großstädtisch ist das Ideal ihres Vaters, der Mensch solle schnurren und dabei wie­ derkäuen (119). Auch Eberts Verhältnis zur Natur weicht von dem seines Vaters ab. Die entscheidende Szene, in der es durchbricht, ist im fünfzehnten Blatt »In versunkenen Kriegesschanzen«.68 Bekannt­ lich zitiert dort Ebert Giacomo Leopardis L’infinito (Das Unendliche) in der Übersetzung von Paul Heyse. Dass Emmy das Gedicht für ein von ihrem Manne gerade improvisiertes hält (112), zeigt nochmals ihre Unbildung. Aber das scheint nicht auszureichen, um zu erklären, »what Leopardi is doing there at all«.69 Soweit ich sehe, hat noch kei­ ner, auch nicht Hans Oppermann in seinen vorzüglichen, durch große Gelehrsamkeit beeindruckenden Anmerkungen zum sechzehnten Band der Sämtlichen Werke Wilhelm Raabes, erkannt, dass der poeta 67 Der witzige Austausch mit ihrem Mann über die symbolische Bedeutung des Stor­ ches erinnert an Platon, Phaidros 275 b f. 68 Zum »Vergangenheitsbewusstsein« Raabes, das sich in dieser Szene zeigt, vgl. Eduard Beaucamp, Literatur als Selbstdarstellung. Wilhelm Raabe und die Möglichkei­ ten eines deutschen Realismus, Bonn 1968, 108 f. 69 Fairley, 51.

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doctus Raabe (vielleicht auch Ebert) hinter dem expliziten Zitat in Wahrheit eine Anspielung auf ein anderes Gedicht Leopardis zu ver­ stecken scheint, nämlich La ginestra (Der Ginster), den letzten und postum publizierten seiner Canti. Von Ginstersträuchen ist nämlich ausdrücklich die Rede (111), und die Stimmung und die Einsichten, die Ebert in den versunkenen Kriegesschanzen aufgehen, entsprechen genau denjenigen jenes großen Gedichtes Leopardis. In ihm geht es um den Ginster auf dem Vesuv, auf den Ruinen der im Ausbruch von 79 zerstörten Städte. Leopardi will den Menschen von jeder Form von Physikotheologie abführen. Die Natur – »che de’ mortali madre è di parto e di voler matrigna« (V. 125), die also der Geburt nach Mutter, aber dem Bestreben nach Stiefmutter der Sterblichen ist – soll als gleichgültig gegenüber dem Leiden ihrer Geschöpfe durchschaut wer­ den; dies möge Platz schaffen für zwischenmenschliche Solidarität. Analog ist die Pointe des Gesprächs bei der Schanze, von der man gar nicht mehr weiß, ob sie im Dreißigjährigen Krieg von den Schweden oder den Kaiserlichen aufgeworfen wurde, die letztliche Überlegen­ heit der Natur gegenüber menschlichem Machtwillen. »Emmy war’s ganz einerlei und mir auch; denn recht behalten hatte heute doch nur der Thymian, wie Emmy meinte. Es sei sehr gleichgültig, sagte sie, wer hier gegraben und geschanzt habe, da er, der Quendel, noch lebendig vorhanden und jener Wirrwarr nur den Gelehrten dunkel gegenwärtig sei.« (111) Allerdings gibt es einen wesentlichen Unter­ schied zu Leopardi. Nach diesem, Erben jener durch das Erdbeben von Lissabon erschütterten Aufklärung, kommt die Zerstörung primär in Gestalt von Naturkatastrophen;70 bei Raabe ist die Vernichtung men­ schenbedingt. An dieser Stelle hatte daher Asche dem jungen Ebert Lektionen in »Philosophie der Geschichte und Geschichte des Aus­ kommens des Menschen mit seinesgleichen und seinen Um- und Zuständen auf dieser Erde« gegeben (111). »Die moderne Industrie« steht nun ganz in der Nachfolge jenes verheerenden Krieges, was ihre Feindseligkeit gegenüber Pfisters Mühle betrifft (110). Wird auch ihr gegenüber in einer späteren Zeit der Thymian wieder recht behalten? Die apokalyptischen Phantasien Lippoldes’, unpassend am Weih­ nachtsabend vorgetragen (85 f.), werden naturpantheistisch neutra­ lisiert. Es ist durchaus nicht so, schreibt Ebert, dass »die Welt aus ihrem Geleise geraten wäre« (107). 70

Man denke auch an seinen Dialogo della natura e di un islandese.

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Eberts letztliches Vertrauen in eine Regeneration der Natur ist die Kehrseite seines Pessimismus hinsichtlich des Menschen, der der Philosophie Schopenhauers entstammen könnte, der Leopardis Dich­ tung so genau entspricht. Vater Pfister dagegen ist ein komplizierter Christ. Zwar hat er sein Gottvertrauen verloren, wie Hiob hadert er mit Gott (48); aber von den »Heiden« Ebert und Adam setzt er sich deutlich ab (87). Und eben sein Gottvertrauen scheint er sterbend wiederzugewinnen.71 In ironischer Anspielung auf Asches Wäscheun­ ternehmen, das in allen Zeitungen stehe, unterwift sich der alte Mann »in seinem hellen Müllerhabit in seiner Urväter altem gepolstertem Eichenstuhl« dem bevorstehenden Ende: »Ich bin ganz zufrieden mit mir und ebenso mit unserm klugen Herrgott, wenn der mal wieder das Beste wissen sollte und den alten Pfister, Jacke wie Hose, in seine wirkliche, gründliche große Wäsche nähme.« (169 f.) Am nächsten Tag im Garten schildert Pfister den Tod als ihn freundlich mahnend und keineswegs Gewalt anwendend: »Na, wenn’s nun beliebt, Herr Pfister!« (171) Der Leser denkt natürlich an die letzte Strophe des Hobellieds in Ferdinand Raimunds Der Verschwender; auch der zarte Plural der göttlichen Stimme in Sophokles’ Οἰδίπους ἐπὶ Κολωνῷ (Oidipus auf Kolonos) (1627 f.) kommt in den Sinn. Aber Pfister akzeptiert nicht nur seinen Tod als Weg »nach Hause« mit Dankbar­ keit, sondern auch den Untergang seiner Lebensform. Er war zu klug, um nicht den Unterhaltungen seiner Gäste zu entnehmen, dass die Mühle vor Krickerode nicht mehr bestehen konnte, und besonders hat ihn Asches Wechsel davon überzeugt, dass die Industrialisierung weder aufzuhalten noch zu verwerfen ist. »Da der Partei genommen hat für die neue Welt und Mode und hergekommen ist und den Kopf nicht nur in die Wissenschaft, sondern auch in die doppelte Buchhal­ tung, das Fabrikwesen gesteckt und Krickerode nicht bloß für mich ausgespüret, sondern es in anderer Art für sich selber an euerm Ber­ liner Mühlenbach aufgepflanzet hat, so gebe ich klein bei und sage: dann wird es wohl der liebe Gott für die nächsten Jahre und Zeiten so fürs beste halten.« (175) In außerordentlicher geistiger Großzügigkeit erkennt der Müller an, dass auch in der verschmutzten Natur »der richtige Mensch« gedeihen kann; und daher hinterlässt er Asche (des­ sen Vitalität der seinen verwandter ist als die elegische Melancholie Darin liegt eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit Emmy, die erklären wird: »Die Vorsehung weiß eben alles doch am besten, wenn ihr Gelehrten das auch manchmal leugnen wollt.« (118)

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des eigenen Sohnes) seine Axt und erfüllt dessen größten Herzens­ wunsch, indem er ihn mit Albertine verbindet. Die Versöhnung des sterbenden Müllers mit der neuen Welt hat etwas Hegelianisches. Nach einer pessimistischen Phase scheint Raabe sich zur Heiterkeit zwingen zu wollen, wie auch das Motto aus Senecas De tranquillitate animi 15.3 andeutet. Raabe und sein Held wollen wie Demokrit zu den lachenden, nicht wie Heraklit zu den weinenden Philosophen gehören und die Laster der Welt als lächerlich, nicht als hassenswert empfinden.72 Raabe weiß um die Schmerzen, die zur Welt gehören (134), aber wie Hegel die Rose im Kreuze der Gegenwart (7.26) zu erkennen sucht, so will auch der ein Sprichwort zitierende Ebert auf die Dornen nur achten, weil sie an den Rosen wachsen (37). In des alten Müllers Versöhnungswillen liegt eine Gefahr, die derjenigen Stockmanns komplementär ist. Während der Badearzt jeden vor den Kopf stößt und sich dadurch aller möglichen Alliierten beraubt, akkomodiert sich der sterbende Müller an die neue Welt. Vermutlich wird nur eine Verbindung zweier Faktoren zu einem hilfreichen Umgang mit dem Umweltproblem führen: einerseits eine tatkräftige Empörung über Ignoranz, Selbsttäuschung, Verletzung elementarer Rechte anderer unter dem Gewand respektabler Bürger­ lichkeit, andererseits ein strukturelles Verständnis der die Umwelt­ krise treibenden Faktoren – ein Verständnis, das von Hass befreien und dem Weisheit und Liebe zur Natur, ja zu den Menschen zugrunde liegen mögen. Vielleicht ist der alte Pfister nicht allzu weit entfernt von dieser Synthese. Denn seine Versöhnung ist auf verschmitzte Weise nur auf Zeit angelegt – »für die nächsten Jahre und Zeiten«. Ein Sterbender braucht nicht über diesen unmittelbaren Zeitraum hinauszudenken, aber wir späten Erben von Pfisters Mühle sind wohlberaten, es zu tun.

72 15.2 heißt es in Senecas Schrift: »In hoc itaque flectendi sumus, ut omnia uulgi uitia non inuisa nobis, sed ridicula uideantur, et Democritum potius imitemur quam Heraclitum.« (»Wir müssen daher dahin gebracht werden, dass uns alle Laster der Menge nicht hassenswert, sondern lächerlich erscheinen und wir Demokrit eher nachahmen als Heraklit.«)

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Ethik des Erwählten und Metaphysik des Geistes und des Lebens Zu Thomas Manns Philosophie

Wie einen Freund in einem Beitrag für seine Festschrift ehren, ein Genre, das den Umfang für die einzelnen Texte unbarmherzig fest­ legt? Eine sinnvolle Lösung ist noch schwieriger, wenn der Freund einer der ganz wenigen zeitgenössischen Philosophen ist, der bean­ spruchen kann, ein System der Philosophie vorgelegt zu haben, das erstens schon als solches viel Raum zur Darlegung beansprucht und dies zweitens um so mehr, als der Systemgedanke dem Zeitgeist nicht gerade affin ist und daher auch noch gegen alle möglichen Einwürfe verteidigt werden muss. Am besten ehrt man einen solchen Freund, in dem man selber an – naturgemäß recht umfangreichen und viele Jahre in Anspruch nehmenden – systematischen Entwürfen arbeitet, und dazu ist eine Festschrift der rechte Ort nicht. Was aber vielleicht hier möglich ist, ist die Zurückweisung eines Teilaspektes eines Einwandes, der sich so gerne gegen das Hans-Dieter Klein und vielen Autoren dieses Bandes gemeinsame Projekt richtet – dass nämlich der Gedanke eines umfassenden Systems der Philosophie, und gar eines zum Typus des objektiven Idealismus gehörigen Systems, hoffnungs­ los durch den Gang der Zeit überholt sei. Nicht nur die philosophische Avantgarde seit Schopenhauer und Nietzsche, auch Kunst, Musik und Literatur seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hätten sich endgültig von jenem Typus des Denkens verabschiedet, den Hegels System zum letzten Mal repräsentiert habe. Nun ist dieses Argument in seiner normativen Prämisse nicht besonders stark – es setzt eine recht primitive Geschichtsphilosophie des Fortschritts voraus, gegen die der hier zu Feiernde in seinem zweibändigen Hauptwerk Vernunft und Wirklichkeit1 bedeutende Einwände erhoben hat. Es ist darüber hinaus auch auf der deskriptiven Ebene deswegen schwach, weil es

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Wien/München 1973–1975.

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keineswegs stimmt, dass die Avantgarde im Ganzen mit dem objekti­ ven Idealismus gebrochen habe. Die wahre Geschichte ist für Kunst wie für Philosophie komplizierter und kann natürlich ebenfalls in diesem Rahmen nicht erzählt werden. Was hier versucht werden soll, ist viel bescheidener: für einen der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts nachzuweisen, dass sein literarisches Universum im wesentlichen den Geist einer objektiv-idealistischen, dialektischen Geistmetaphysik atmet. Ich wähle einen Schriftsteller und nicht einen Philosophen aus, weil einesteils die Dichtung oft genug das Reservoir von Einsichten ist, die der diskursiv argumentierende Zeit­ geist, der Wissenschaft wie der Philosophie, zeitweise verdrängt hat, andernteils weil die Anmut der Dichtung dem festlichen Anlass des Geburtstages des Jubilars besonders angemessen ist. Und ich wähle Thomas Mann aus, weil eine populäre Deutung, die sich sogar auf ihn selbst berufen kann,2 will, dass sein Werk der dichterische Ausdruck der Philosophien Arthur Schopenhauers und Friedrich Nietzsches sei, die neben der Musik Richard Wagners (und selbstredend zahlreichen Schriftstellern und Dichtern) den stärksten intellektuellen Einfluss auf Thomas Mann ausgeübt haben sollen. Nun ist die Aussage des letzten Nebensatzes natürlich richtig. Schon 1893 hat sich Mann für Wagner begeistert, spätestens 1894 sich von Nietzsche faszinieren lassen, vermutlich erst im Winter 1899/1900 Die Welt als Wille und Vorstellung, deren Grundgedanken er bereits aus seiner Nietzschelektüre kannte, im Zusammenhang gelesen.3 Schopenhauer und Nietzsche sind die einzigen Philosophen, denen Mann eigene Essays gewidmet hat (Theodor Lessing und Sig­ mund Freud wird man aus unterschiedlichen Gründen nicht zu den Philosophen im engeren Sinne des Wortes zählen), und wohl auch die einzigen, die der Eklektiker und Autodidakt gründlich studiert hat – von zeitgenössischen Kulturphilosophen wie etwa Adorno einmal

2 Im Kapitel »Einkehr« der Betrachtungen eines Unpolitischen (Frankfurt 1983, 77) findet sich die bekannte Formulierung: »Schopenhauer, Nietzsche und Wagner: ein Dreigestirn ewig verbundener Geister«. 3 Hermann Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, München 1999, 39, 75. Ich verdanke diesem vorzüglich geschriebenen Buch, das Biographie und Werkin­ terpretation so fruchtbar verbindet, dass beide Anliegen auf ungewöhnliche Weise voneinander profitieren, sehr viel.

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abgesehen.4 Schopenhauer und Nietzsche haben Mann nicht nur wegen des Inhalts ihrer Philosophie, sondern nicht minder wegen ihres Stils sowie ihres persönlichen Schicksals und ihrer Rezeptions­ geschichte angezogen, die er literarisch verarbeiten konnte – man denke an das Schopenhauer-Erlebnis Thomas Buddenbrooks in den Buddenbrooks, an die Anspielungen auf ihren Bruder in Adele Scho­ penhauers Rede vor Charlotte Kestner in Lotte in Weimar, an die zahlreichen Momente aus der Nietzschebiographie wie etwa den Bor­ dellbesuch und die letzten Jahre mit progressiver Paralyse, die in die Lebensgeschichte Adrian Leverkühns im Doktor Faustus eingegangen sind. In starkem Kontrast zur vielschichtigen Präsenz Schopenhauers und Nietzsches in Manns Werk steht die weitgehende Abwesenheit aller anderen Philosophen. Selbst dem dritten unter den drei großen Dichterphilosophen des 19. Jahrhunderts, Søren Kierkegaard, hat sich Mann nicht gerade tiefgehend gewidmet – immerhin schreibt er im achten Kapitel von Die Entstehung des Doktor Faustus, er habe sich damals viel über Kierkegaard belehrt (und zwar zunächst indirekt, über die Monographien Adornos und Brandes’), und lobt, trotz ihres schlechten Stils, besonders eine Stelle Kierkegaards, nach der der Humorist die Gottesvorstellung mit etwas anderem zusammen­ bringe, aber sich selbst nicht direkt zu Gott verhalte.5 Im neunten Kapitel (73 f.) ist von einer Lektüre von Entweder – Oder die Rede, die ihn allerdings erst nachträglich eine gewisse Übereinstimmung zwi­ schen Kierkegaards Ideen und dem Gespräch über die Ehe im XXII. Kapitel des Doktor Faustus habe sehen lassen. Explizit wird Kierke­ gaard hingegen im Zusammenhang seiner Rezeption durch die Hal­ lenser Theologiestudenten im XIV. Kapitel des Doktor Faustus sowie im Teufelsgespräch erwähnt, vor dessen Beginn Leverkühn Kierke­ gaards Interpretation des Don Giovanni liest.6 Insgesamt wird man also auch Kierkegaard keine zentrale Bedeutung für Mann einräumen, obwohl er als Schöpfer literarischer Ausdrucksformen Schopenhauer und Nietzsche gewiss nicht nachsteht (sie m.E. sogar deutlich über­ 4 Vgl. Broder Christiansen, Thomas Mann und die Philosophie, in: Thomas-MannHandbuch, hg. von Helmut Koopmann, Stuttgart 1990, 259–283 (mit nützli­ cher Bibliographie). 5 Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans, Frankfurt 1984, 61 f. Ich zitiere Manns Romane und Erzählungen nach den allgemein verbreiteten FischerTaschenbuchausgaben, gebe aber auch Kapitelnummer bzw. -titel an, damit die Stellen auch in anderen Ausgaben leicht gefunden werden können. 6 Doktor Faustus, Frankfurt 1980, 120 f. sowie 223 und 243.

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trifft) und sein Leben nicht weniger romanabel und für die Umbrüche des 19. Jahrhunderts nicht weniger typisch gewesen ist. Aber die lutherische Orthodoxie Kierkegaards wird Mann ebensowenig befrie­ digt haben wie Leverkühn (und erst recht Zeitblom) die subjektivis­ tisch-fideistische Religiosität der Hallenser Kommilitonen und Leh­ rer, auch wenn ihn das lutherisch-kierkegaardsche Problem der göttlichen Gnade im Spätwerk zunehmend gefesselt hat. Doch ist die geniale erzählerische Strategie des Doktor Faustus, das Leben eines protestantischen Antihumanisten von einem katholischen Altphilo­ logen erzählen zu lassen, u.a. Ausdruck einer Bewunderung und Dis­ tanznahme zugleich von der protestantischen Form der Religiosität. Zudem ist zwar, wie wir sehen werden, die Verbindung von Psycho­ logie und Theologie durchaus eines der Anliegen Manns, aber diese fällt bei ihm anders aus als bei Kierkegaard und seinen dialektischtheologischen Nachfahren. Was seine Rezeption weiterer Philosophen betrifft, so hat sich Mann in die erotologische Literatur der Antike eingelesen, aber es scheint fraglich, ob er von Platon viel mehr als das Symposion und den Phaidros, von Plutarch viel mehr als den im Tod in Venedig von Aschenbach zitierten Erotikos gelesen hat – Werke, die ihm erlaubten, die Erfahrung der eigenen Homosexualität und das intellektuelle Erlebnis der Begegnung mit Schopenhauers Metaphysik zu überhö­ hen, die von der brutalen Macht des Geschlechtstriebes ausgehend die Wirklichkeit zu deuten versucht. Sie konnten ihm klarmachen, dass das phänomenologische Interesse am Erotischen auch mit einer Metaphysik mehr traditionellen Typs kompatibel sei. In der Tat ist die Komplexität des sexuellen Triebes (nicht, in Schopenhauers Terminus, der Geschlechterliebe, da für Mann die gegengeschlechtliche Liebe nicht jene Vorrangigkeit besitzt, die sie bei Schopenhauer hat, der mit dem Phänomen der Homosexualität auch nur auf deskriptivem Niveau beträchtliche Mühen hat) Manns philosophisches Urerlebnis. Gewiss ist es nicht das einzige Thema, mit dem Manns Denken sich befasst – aber die Probleme der Kultur, der Moral, der Religion erhalten ihre Dringlichkeit aufgrund des gefährlichen Gegenpols des Sexualtriebes, dessen Gewalt jederzeit in die Sphäre bürgerlicher Ordnung einbrechen und diese zum Einsturz bringen kann. Es ist bezeichnend, dass Mann in Die Ehe im Übergang (später Über die Ehe betitelt) Kants und Hegels Aperçus über die Ehe zitiert, denn er greift sich immer wieder das heraus, was für sein jeweiliges Thema inspirie­ rend sein kann, aber bei systematischer Kant- oder Hegellektüre darf

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man ihn sich nicht vorstellen. Er wäre intellektuell nicht in der Lage gewesen, in die Kritik der reinen Vernunft oder in die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften einzudringen, und er brauchte das glücklicherweise auch nicht, um sein überwältigend schönes und intelligentes Werk zu schaffen. Immerhin hat dies äußerlich mit Hegels Hauptwerk den enzyklopädischen Charakter gemein: Wer Mann liest, erfährt sehr viel über die meisten Wissenschaften seiner Zeit, seien es die Medizin und die Biologie im Zauberberg, die Reli­ gionspsychologie, -soziologie und -geschichte in der Josephs-Tetralo­ gie, die Musikwissenschaft im Doktor Faustus. Manns große Werke sind gleichsam Lehrromane, die in der gefälligen Vermittlung einer wissenschaftlich fundierten Weltanschauung Lukrez’ Lehrgedicht De rerum natura in nichts nachstehen. Aber ist bei diesem Befund nicht die These dieses kleinen Aufsat­ zes hoffnungslos, dass Manns Weltanschauung objektiv-idealistisch sei? Nicht unbedingt. Es geht hier ja keineswegs um die offenkun­ dig falsche Behauptung, Thomas Mann habe viele Vertreter einer objektiv-idealistischen Geistmetaphysik gründlich rezipiert. Was ich zeigen will, ist vielmehr, dass das Weltbild, das Manns Romane artikulieren, eine objektive sittliche Ordnung, eine Metaphysik des Lebens und des Geistes, ja sogar einen nahezu hegelianischen Got­ tesbegriff voraussetzt, ohne dass freilich die frühen Lektionen aus Nietzsche aufgegeben worden wären. Aber sicher auch wegen der nationalsozialistischen Nietzschedeutung bewegt sich der reife Mann mehr und mehr von Nietzsche weg (man denke nur an Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung), und bei der Suche nach einem neuen Grund umkreist er, wenn auch in jener ironischen Distanz, die sein Wahrzeichen ist und bleibt, die Grundgedanken des objektiven Idealismus. Möglicherweise war sich Mann dessen nur zum Teil bewusst, aber die Interpretation eines Kunstwerkes ist bekanntlich nicht reduzibel auf die Ideen, die im Geist seines Urhebers zu finden sind. Das Kunstwerk hat eine gewisse Autonomie gegenüber seinem Autor, und um Manns Werk, nicht um Manns explizite philosophische Bekenntnisse ist es hier zu tun. Beginnen lässt sich die Rechtfertigung meiner These mit der einfachen Überlegung, dass Manns Lieblingsphilosophen Schopen­ hauer und Nietzsche durchaus verschiedener sind, als viele lange meinten – unter ihnen der junge Nietzsche selber. Auch wenn Schopenhauer unter allen Philosophen die bei weitem wichtigste Inspirationsquelle Nietzsches gewesen ist, hat sich dieser von jenem

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immer mehr ablösen müssen, um zu den Spezifika seines eigenes Denkens zu gelangen. Vereinfacht lässt sich sagen, dass Nietzsche aus der von Schopenhauer entworfenen Metaphysik ethische und ästhetische Konsequenzen gezogen hat, die diesem selbst völlig fremd waren. Denn von den vier Teilen des Schopenhauerschen Systems ist nur einer wirklich originell – der zweite über die Metaphysik –, dies freilich in einem ganz exzeptionellen Maße. Der erste, erkennt­ nistheoretische ist, wie Schopenhauer nicht müde wird zu betonen, eine Radikalisierung der Kantischen ersten Kritik, die auf den kon­ struktiven Aspekt in der menschlichen Erkenntnis verweist und die Kantische Lehre um pragmatische Aspekte bereichert. Allerdings teilt Schopenhauer wie sein Lehrer Fichte nicht Kants Lehre von den Dingen an sich – deren Begriff er sinnkritisch zurückweist. Wie die deutschen Idealisten will Schopenhauer das Ding-an-sich erkennen (und auf dieser Grundlage die Erkenntnistheorie dann wieder, merk­ würdig genug, naturalisieren). Freilich besteht sein revolutionärer Bruch mit der ganzen Tradition, die der deutsche Idealismus dage­ gen auf der Basis von Kants transzendentaler Wendung erneuern will, darin, dass er als Grundprinzip der Wirklichkeit nicht einen persönlichen, allgütigen Gott und auch nicht eine objektive Vernunft annimmt, sondern einen blinden Willen, der sich in den Naturkräften offenbart und seine deutlichste Manifestation im Geschlechtstrieb findet. Doch Schopenhauers Ästhetik und Ethik bestehen gerade in der Aufforderung, diesen blinden Willen zu negieren – durch das Überwinden des blinden Interesses und die Kontemplation der in Natur und Kunst verwirklichten Ideen (die Schopenhauer platonisch, also objektiv-idealistisch versteht) bzw. durch Mitleid und Askese. Natürlich stellen sich hier zwei Fragen: erstens woher die Kraft kommen soll, gegen das Prinzip der Welt tätig zu werden, wenn doch alles seine Manifestation ist, und zweitens wie eine Rechtfertigung dieses Aufstandes gegen das Weltprinzip möglich ist. Zwar verwirft Schopenhauer Kants Unterscheidung zwischen Sein und Sollen, weil er zu Recht spürt, dass sie ethikotheologische Konsequenzen hat, aber das Rechtfertigungsproblem kann schlecht umgangen werden, zumal Schopenhauers Ethik extrem kontrafaktisch ist, den Kantischen Universalismus teilt und sogar die höchsten Normen der christlichen Asketik als vorbildlich hinstellt. Nietzsches Schritt über Schopenhauer hinaus besteht in der klaren Einsicht, dass nach der Schopenhauerschen Revolution in der Metaphysik eine traditionelle Ästhetik und Ethik nicht mehr

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möglich sind. Schopenhauers subtile psychologische Untersuchungen weiterführend, die durch die Erfassung des Unbewussten neues Licht auf menschliches Verhalten zu werfen vermochten, ersetzt Nietzsche erstens den Sexualtrieb durch den (auch in der Askese wirksamen) Machttrieb als entscheidendes Grundprinzip der Wirklichkeit, die er als Zusammenprall unterschiedlicher Machtquanten deutet, verwirft zweitens die Rückbindung der Kunst an die platonischen Ideen und die These vom ästhetischen Genuss als interesselos (vermutlich auch aufgrund seiner enttäuschenden Freundschaft mit Richard Wagner, dessen Persönlichkeit schwerlich als desinteressiert gedeutet werden konnte) und lehnt drittens die Mitleidsethik, u.a. weil für den Bemit­ leideten beleidigend, und asketische Ideale, weil lebensfeindlich, ab. Es mag hier offen bleiben, ob Nietzsche des weiteren auch jede universalistische Ethik zurückweist oder ob seine diesbezüglichen Aussagen mit einem sich nur gegen Gleichmacherei wendenden, geistesaristokratischen Universalismus (paradoxerweise nach Art der platonischen Tradition) kompatibel sind. Klar ist auf jeden Fall, dass Mann nur die zweite Deutung moralisch für akzeptabel gehalten, allerdings zunehmend eingesehen hat, dass die erste – die national­ sozialistische – Interpretation in Nietzsche auf gefährliche Weise angelegt ist. Daraus ergibt sich Manns zunehmende Ambivalenz im Verhältnis zu Nietzsche. Einesteils war ihm bis zuletzt bewusst, dass die psychologisch raffinierte Vertiefung der realistischen Erzählkunst, die sein Markenzeichen ist und die den eigentümlichen Genuss mitbegründet, den man beim Lesen seiner scheinbar traditionellen, in Wahrheit höchst innovativen Prosa empfindet, ohne Nietzsche schwerlich möglich gewesen wäre – ohne ihn wäre er wirklich nur ein Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts gewesen, der auf gestelzte Weise klassische Stoffe wiederaufgreift. Andernteils kämpft Mann, wenn auch im Medium ironischer Literatur, um eine Weltanschauung, die die Würde des Geistes und die Gebote sozialer Verantwortung hochhält. Auch wenn zu den unwiderruflichen Lektionen aus Scho­ penhauer, Nietzsche und Freud die Einsicht gehört, dass der Geist im Menschen nur aus komplexen Prozessen am und gegen das Leben erwächst, hat Mann Nietzsches Parteinahme für das Leben immer mehr als gefährlich empfunden, und seine dichterische Phantasie kreist um das Desiderat einer Geistmetaphysik, die er auch bei Schopenhauer nicht finden konnte, sowenig diesem eine Verherrli­ chung des Vitalen nachgesagt werden kann: Denn für ihn ist zwar

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der Wille zum Leben das metaphysische Grundprinzip, aber seine Manifestationen sind brutal und ordinär. Es ist also die ethische Fragestellung, die Mann von Nietzsche weggetrieben hat, und es ist das metaphysische Problem, das ihn hinter Schopenhauer hat zurückgreifen lassen – u.a. auf das Reser­ voir einer hochreflektierten, sich nicht auf eine faktische Offenba­ rung berufenden theologischen Tradition. Freilich ging es ihm stets darum, die mannigfaltigen Abhängigkeitsbeziehungen des Geistes vom Leben anzuerkennen und damit auch die unumgängliche ethi­ sche Bewertung menschlichen Verhaltens komplexer zu gestalten, als es der vornietzscheschen Metaphysik und Ethik gelungen war – denn die moralische Welt ist »eine verwickelte Welt«7. Bei dieser Überwindung Nietzsches spielt die Selbstanwendung der von Nietz­ sche entwickelten psychologischen Kategorien auf ihren Urheber eine wichtige Rolle – nicht nur der Doktor Faustus zeigt das im Detail, auch schon Lottes Psychologisierung der psychologisierenden Tendenzen ihrer Tochter im zweiten Kapitel von Lotte in Weimar8 deutet in diese Richtung. Der Konflikt zwischen Leben und Geist kennzeichnet Manns Frühwerk, und es ist unschwer zu sehen, dass Mann nicht einfach, wie Nietzsche es wenigstens auf den ersten Blick zu tun scheint, für das Leben optiert. Allerdings bleibt der späte ebenso wie der frühe Mann vom Phänomen des Lebendigen zutiefst angezogen, auch wenn es nach ihm nicht den Gipfelpunkt des Seienden darstellt. Aber gegenüber dem Anorganischen in seiner bloß quantitativen Unend­ lichkeit hat das Lebendige erstens eine ungleich höhere Würde. Im Zauberberg, in dem Mann erstmals das Leben im strengen Sinne des Wortes, also nicht als bloße Form geistloser Bürgerlichkeit, sondern als biologisches Prinzip erörtert, wird die Nähe des Lebens zum Tode hervorgehoben, seine Verletzlichkeit und Sterblichkeit: »Leben ist Sterben, da gibt es nicht viel zu beschönigen ... Es riecht auch danach, das Leben. Wenn es uns anders vorkommt, so ist unser Urteil bestochen«, lehrt Hofrat Behrens, und er fügt die weitere, später im Zentrum von Hans Jonas’ mit Manns seltsam verwandter Philosophie des Lebendigen stehende Wesensbestimmung hinzu: »Leben ist, daß

7 Joseph und seine Brüder, 3 Bde., Frankfurt 1975, 1127 (Joseph, der Ernährer, IV, Urim und Tummim). 8 Lotte in Weimar, Frankfurt 1992, 28f.

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im Wechsel der Materie die Form erhalten bleibt.«9 Bei seinen Lektü­ ren erfährt Castorp, dass das Leben eine Zwischenstellung zwischen dem Materiellen und dem Geistigen innehat, es sei »das Sein des eigentlich Nicht-sein-Könnenden, des nur in diesem verschränkten und fiebrigen Prozess von Zerfall und Erneuerung mit süß-schmerz­ lich-genauer Not auf dem Punkte des Seins Balancierenden.«10 Das Leben ist gekennzeichnet durch Triebhaftigkeit; zu ihm gehören sowohl physiologische als auch seelische Phänomene, die Mann, gut Schopenhauerisch, identitätstheoretisch als zwei Seiten desselben Prinzips versteht: Der vitale Trieb vermag, sich in Veränderungen des Körpers zu manifestieren. Gleichzeitig löst das Leben gerade wegen seiner Vergänglichkeit Begierde aus: »Denn weit gefehlt, daß die Vergänglichkeit des Stoffes ein Grund weniger wäre für sie, die Form zu bewundern, ist sie sogar einer mehr, weil sie in unsre Bewunderung eine Rührung mischt, deren diejenige ganz entbehrt, die wir der stofflich beständigen Schönheit widmen aus Erz und Stein.«11 Zweitens ist für Mann klar, dass in dieser Welt das Leben trotz seiner Labilität mehr Substantialität als der Geist besitzt – Geist ohne Leben ist unmöglich, während das Leben lange auch ohne den Geist auskommt, so wie die Materie ohne Leben. Ja, das Hervortreten des Geistes und der Reflexion lähmt und gefährdet das Leben – es hat den Buddenbrooks nicht gut getan, dass sie intellektuell wurden. Und dennoch ist offenkundig, dass Manns Herz für die gefährdete und späte Blüte des Geistes schlägt – auf sie kommt es letztlich an, sie ist der letzte Sinn des Lebens, dessen bloße Selbstreproduktion schwer­ lich etwas zu Bejahendes ist: Bis zum Spätwerk macht sich Mann lustig über jene Männer und Frauen, deren Interessenkreis kaum über Verliebtheiten, Zeugungen und Geburten hinausgeht (man denke an Esau in Die Geschichten Jaakobs, Tabubu in Joseph in Ägypten und Frau Eisengrein in Der Erwählte). Aus Opposition gegen das Leben lassen sich die anomalen Formen der Liebe erklären, die homosexuelle und die inzestuöse, die bei Manns Erwählten eine wichtige Rolle spielen, deren Erwähltheit teils Folge, teils Ursache dessen ist, dass sie dem Der Zauberberg, 2 Bde., Frankfurt 1977, 282 (V, Humaniora). Der Zauberberg, 292 (V, Forschungen). 11 Joseph und seine Brüder, 843 (Joseph in Ägypten; VI, Das zweite Jahr). Ähnliches wird Professor Kuckuck am Ende seiner langen Rede über die Evolution des Seins und des Organischen sagen: »Fern davon nämlich, daß Vergänglichkeit entwerte, sei gerade sie es, die allem Dasein Wert, Würde und Liebenswürdigkeit verleihe.« (Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Frankfurt 1976, 216 (III 5)) 9

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Leben und seinen Imperativen, zumal dem reproduktiven, gegenüber eine teils hilflose, teils hochmütige Distanz wahren. Damit ist freilich auch schon angedeutet, dass Manns Option für den Geist ambivalent und nietzscheanisch gebrochen ist: Der Geist entsteht in der Regel aus Mangel an normaler Vitalität, er macht aus der Not gleichsam eine Tugend – der kleine Herr Friedemann ist ein Epikureer der Bildungsgenüsse, weil ihm andere verschlossen sind; in Fiorenza, wo – untypisch, aber in unbewusster Entsprechung zu Kierkegaard – die Kunst dem Leben nicht entgegengesetzt, sondern ihm zugeschlagen wird und die Religion die Stelle des Geistes ver­ tritt, ist Savonarola dem kultivierten Leben des Medicizirkels feind, weil er einstmals, leidenschaftlich verliebt, von der schönen Fiore, dem Symbol von Florenz, zurückgewiesen wurde. Der Geist isoliert zwangsläufig – er sprengt das vitale Gefühl der Zusammengehörig­ keit zu einem kollektiven Ganzen, eben weil er recht selten aus dem Strom des Lebens aufschäumt. Von Tonio Krögers Gefühl des Aus­ geschlossenseins von der Welt Hans Hansens und Ingeborg Holms bis zu Goethes und Leverkühns persönlicher Kälte, die Ausdruck ihrer Erfahrung ist, nie einem Gleichrangigen begegnet zu sein, ist dies eines von Manns Lieblingsmotiven. Daher liegt dem Geist auch die Verleugnung elementarer Verantwortlichkeiten nahe. Zwar wird man Detlev Spinell in Tristan nicht unbedingt Geist im materiellen Sinne zusprechen, aber ein Streben nach der geistigen Welt, das über Großhändler Klöterjahns geschäftlichen Interessenkreis und die brutale Vitalität des kleinen Anton hinausgeht, ist ihm nicht abzustreiten. Und doch erweist sich ihm Klöterjahn nicht nur in der direkten Auseinandersetzung, sondern auch hinsichtlich echter menschlicher Anteilnahme für Gabriele als haushoch überlegen. Nochmals, Spinell ist anders als Goethe und Leverkühn nicht der Repräsentant hochwertiger Geistigkeit, aber Mann karikiert an ihm Züge, die dem Geist auch höheren Niveaus nicht fremd sind. Freilich sind Kälte und Verantwortungslosigkeit in der Regel Mechanismen des Selbstschutzes des Geistes, der ohne sie seiner Sehnsucht nach der animalischen Wärme des Lebens hilflos ausgelie­ fert wäre – denn der Geist leidet an seiner Sonderstellung innerhalb des Vitalen, das er gleichzeitig verachtet und beneidet. Das eigentliche Telos in der Bildungsnovelle um Tonio Kröger ist, dass dieser lernt, zu der schmerzlichen Ambivalenz seiner Gefühle dem Leben gegenüber zu stehen und diese ambivalenten Gefühle in ihrer Totalität als Liebe zu begreifen und zu bejahen: Hierin steht Mann Nietzsche in der

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Tat näher als Schopenhauer, der das Leben, wenn nicht verabscheut, so doch sicher nicht liebt. Aber anders als Nietzsche verfügt Mann im Geist über eine Instanz, die das Leben relativiert und moralisch zu bändigen erlaubt. Ja, selbst die sexuelle Begierde ist nach Mann deswegen nicht einfach Ausdruck des Vitalen, sondern zugleich Mani­ festation des Geistes, weil das Sehnen nach Schönheit nicht biologisch erklärt werden kann – »sie ist nicht Erzeugnis und Werkzeug ihres Geschlechtes, sondern umgekehrt dieses ihr Stoff und Mittel«.12 Damit deutet Mann an, dass in der Welt des Lebendigen Formen und Ideen prägend am Werke sind, die der Geist wiedererkennt. Auch wenn der Geist seine vielfältige Abhängigkeit vom Leben einräumen muss, weiß er freilich stolz um die Tatsache, dass der Liebende göttlicher ist als der Geliebte, dass das Abhängige wertvoller ist als die Grundlage, die um des Geistes willen da ist. Die Nähe zu Hegels Philosophie liegt auf der Hand – das Leben ist ein sublimes Prinzip, aber eben nicht das höchste; der Geist ist zwar durch die Natur vermittelt und insofern ihrer bedürftig (im Menschen ist der Geist nur am Lebendigen möglich), aber er ist das Telos der Entwicklung des Realen und seinem Prinzip, der Idee, näher. Ich benutzte schon die Kategorie des Erwählten. Kreist Manns implizite Metaphysik von Anfang an um die Pole von Leben und Geist, so ist sein grundlegendes ethisches Problem, welche Normen den Erwählten binden – d.h. denjenigen, der mit dem Kreuz des Geistes gezeichnet (und insofern auch ein Verfluchter) ist und daher zunächst einmal von den üblichen Bindungen des Lebens freigestellt ist. Einerseits ist Manns tiefsitzende Überzeugung, dass die Men­ schen nicht gleich sind und dass – um Tonio Kröger zu zitieren – die Vertreter des Geistes es innerlich schwerer haben und deswegen auch gerechten Anspruch auf ein wenig äußeres Behagen haben,13 von Nietzsches Antiuniversalismus beeinflusst. Manns ethische Welt ist eine Zweiklassengesellschaft, in der die moralischen Probleme der mehr als bloß Vitalen ungleich ernster genommen werden als diejeni­ gen der geistlosen Mehrheit: Die haselnussgroßen Tränen des betro­ genen Esau erwecken kein Mitleid, sondern nur Lachen, denn der Joseph und seine Brüder, 864 (Joseph in Ägypten, VII, Die schmerzliche Zunge (Spiel und Nachspiel)). Vgl. auch das elfte Kapitel von Die vertauschten Köpfe (Thomas Mann, Die Erzählungen, 2 Bde., Frankfurt 1976, 610). Zur Sachfrage siehe Vittorio Hösle/ Christian Illies, Darwin, Freiburg/Basel/Wien 1999, 126 ff. 13 Tonio Kröger, Kap. 6 (Erzählungen, 232). 12

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väterliche Segen ist auf denjenigen übergegangen, der ihn verdient.14 (Immerhin schafft es der »Bericht von Mont-kaws bescheidenem Sterben« im fünften Hauptstück von Joseph in Ägypten auf bewegende Weise, Sympathie für einen Nicht-Erwählten zu wecken, der sich allerdings bezeichnenderweise einem Erwählten willig unterordnet.) Andererseits impliziert Universalismus keineswegs Gleichbe­ handlung aller in allem und jedem; denn man kann auch auf univer­ salistischer Grundlage dafür plädieren, dass Menschen, die sich selbst mehr abverlangen müssen, der Bestimmung des Menschen in höhe­ rem Maße gerecht werden und zu Nutz und Frommen der Mehrheit die brutaleren Aspekte des Vitalen unter Kontrolle bringen, in der Tat mehr Respekt genießen, vielleicht auch mehr Macht besitzen sollten als die anderen. Es liegt daher nahe, Manns Entwicklung dahingehend zu deuten, dass er immer schärfer erkannte, dass die Problematik des Erwählten nur auf universalistischer Grundlage plausibel verteidigt werden kann. Klar ist im übrigen, dass Mann nie moralischer Nihilist war – er geht immer davon aus, dass es für den Erwählten unbedingte Pflichten gibt, die sich freilich von denen der meisten spezifisch unter­ scheiden. Sosehr sich Mann seit den 1920er Jahren für Demokratie und Sozialstaat einsetzt, sowenig hat er je aufgehört, das Phänomen des Erwählten als für jede Ethik entscheidend anzuerkennen; ja, es ist der als letzter begonnene seiner Romane, der den expliziten Titel Der Erwählte trägt. Doch im Grunde handeln alle acht Romane von Erwählten, wenn auch sehr unterschiedlicher Art und Form. In den Buddenbrooks, dem unmittelbarsten, unphilosophischsten, am wenigsten konstruierten und daher wohl (in einem bestimmten Sinne des Wortes) poetischs­ ten Werke Manns, kann Erwähltheit schwerlich der ganzen Familie Buddenbrook zugesprochen werden (man erwiese damit Tony und Christian entschieden zuviel der Ehre), doch in der zunehmenden Vergeistigung der vier Generationen, die die Kehrseite des Verfalls der Familie ist, liegt eine gewisse Auszeichnung – in der Analyse der Entstehung geistiger Sehnsucht besteht ja das Innovative dieses Familienromans. In Königliche Hoheit ist Klaus Heinrich ein liebens­ würdiger, aber in jeder persönlichen Hinsicht recht durchschnittlicher junger Mann (nach Art derer, nach denen sich Manns Erwählte gewöhnlich sehnen); doch sein Prinzen-Rang sichert ihm den Stand des Erwählten. Auch Hans Castorp ist alles andere als besonders 14

Joseph und seine Brüder, 159 (Die Geschichten Jaakobs, IV, Der große Jokus).

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talentiert; aber die Bewohner des Zauberbergs sind durch ihre Nähe zum Tode vom Flachland eigentümlich abgehoben, und Castorp par­ tizipiert an der Steigerung der Geistigkeit, die diese Nähe begünstigt. Joseph, Goethe, Adrian Leverkühn und Gregorius schließlich sind Erwählte aufgrund ihrer Persönlichkeit, und selbst Felix Krull, der göttliche Hochstapler, verfügt über eine exzeptionelle Fähigkeit, sich eine Aura zu verschaffen, die ihm eigentlich nicht zukommt – eine hochpersönliche Fähigkeit, eine Persönlichkeit vorzutäuschen, die er nicht ist. Was die vier Erwählten par excellence angeht, so haben sie, trotz des Abstands der Zeiten sowie des mythischen, legendenhaften, fiktiven und historischen Charakters, der ihnen jeweils zukommt und sie voneinander unterscheidet, sehr viele Züge gemeinsam, die nach Mann mehr oder weniger aus dem Begriff des Erwählten folgen. So wissen sie alle um ihre Erwähltheit, und auch wenn das unvermeidlich ist, eignet dem daraus hervorgehenden Selbstbewusstsein etwas für die Nicht-Erwählten Kränkendes, das zwangsläufig Konflikte schafft. Josephs Brüder, Goethes Entourage, Adrians Bekannte, Flann, sie alle fühlen sich (mit Ausnahme des sich durch seine unbedingte Liebe salvierenden Zeitblom) durch die bloße Existenz des Erwählten herausgefordert, ja in Frage gestellt. Immerhin gibt es bedeutende Unterschiede zwischen der Art und Weise, wie die Erwählten mit dieser Situation umgehen – Joseph provoziert seine Umgebung, während sie Leverkühn, außer in der Schlussszene, im Grunde seines Herzens ignoriert (und deswegen auch viel weniger an seiner Selbst­ darstellung arbeitet als die anderen Erwählten). Es ist im übrigen offenkundig, dass Leverkühns Verhalten das verletzendere ist, denn eine Provokation setzt immerhin noch die Anerkennung des anderen als für einen selbst relevant voraus. In der Tat bleibt Leverkühn, dem bei weitem tragischsten und schuldigsten von Manns Helden (denn die Ermordung Rudi Schwerdtfegers ist, als Strafe dafür, dass er Adrians Liebe ausgelöst hat, im Grunde durch letzteren eingefädelt worden), eine Integration in die Gemeinschaft versagt, während die Josephstetralogie, Manns versöhnlichstes Werk, Joseph und seine Brüder heißt (mit diesen, die Brüder einschließenden Worten endet auch das Gesamtwerk) und einen komplexen, wechselseitigen Erziehungsprozess schildert. Diesem werden nicht nur die Brüder Josephs, sondern auch Jaakob, der um der Gerechtigkeit willen seiner zügellosen Liebe, wie einst zu Rahel, nun zu Joseph entsagen muss (auch wenn er sie sterbend

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noch einmal ergreifend bekennt), sowie auch Joseph selbst unter­ worfen. Dieser lernt, seinen Narzißmus zu überwinden und soziale Verantwortung auszuüben, auch und gerade für die wirtschaftlich Schwächsten, ja, er begreift, dass seine Erwählung durch Gott nicht Selbstzweck war, sondern um der Erfüllung einer volkswirtschaftli­ chen Aufgabe (und nur dieser Aufgabe) willen erfolgte.15 Goethe und Gregorius haben eine Zwischenstellung zwischen beiden – Manns Goethe steht an Selbstbewusstsein Leverkühn nicht nach, aber er hat eine öffentliche Stellung und übt dadurch eine Verantwortung aus, die den moralischen Solipsismus des letzteren unmöglich macht, und zudem eröffnet die Begegnung mit Lotte einen Horizont dualer Intersubjektivität, der Leverkühn versagt ist, auch wenn Manns Goe­ the seine Liebschaften stets seiner Dichtung dienstbar gemacht hat. Gregorius auf der anderen Seite, dessen Hochmut und Spekulation auf die dem Sünder zustehende Gnade ihn Leverkühn ähnlich machen, wird mit seiner Wahl zum Papst zum Garanten der christlichen Gesellschaftsordnung, also sozial mindestens so nützlich wie Joseph. Mann hat von Nietzsche nicht nur die Kritik am nicht-differen­ zierenden Universalismus übernommen, er hat von ihm auch gelernt, die eigenwillige Gemengelage in den menschlichen Motiven, etwa die Tendenz zum Selbstbetrug, zu untersuchen und hinter erhabenen Entschlüssen und Sekundärrationalisierungen das Allzumenschliche zu entlarven. Aber die Anerkenntnis, dass einer guten Sache ein fragwürdiges Motiv zugrunde liegt, ändert nach Mann wie nach Hegel nichts an der Güte der Sache, und eher wird das niedrige Motiv durch die Mischung mit dem höheren geadelt, als dass das Umgekehrte erfolge. Des Fischers Frau bekennt Gregorius nach seiner Ernennung zum Papst, sie habe ihn seinerzeit nicht aus christlicher Caritas, sondern aus erotischer Begierde gastlich aufgenommen. »›Das ist eine Kleinigkeit‹, antwortete Gregorius, ›und nicht der Rede wert. Selten hat der ganz unrecht, der das Sündige nachweist im Guten, Gott aber sieht gnädig die Guttat an, habe sie auch in der Fleischlichkeit ihre Wurzel. Absolvo te.‹«16 Das Großartige an Lotte in Weimar ist analog, dass Mann weder wie die Goetheverherrlicher der 1930er Jahre nur das Erhabene am Dichterfürsten noch auch wie etwa Martin Walser in seinem Drama In Goethes Hand nur dessen menschlich fragwürdige 15 Vgl. Dietmar Mieth, Epik und Ethik. Eine theologisch-ethische Interpretation der Josephsromane Thomas Manns, Tübingen 1976, 148–188. 16 Der Erwählte, Frankfurt 1976, 178 (Die Wandlung).

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Seiten gesehen hat – er erweist beiden Aspekten Gerechtigkeit: Goethe ist ein sublimer Dichter und ein außerordentlicher Mensch, und er instrumentalisiert gleichzeitig seine Umgebung, hält sie in der gebotenen Distanz usw.; ja, Mann lässt durchblicken, dass Goethe seiner Sendung nur dadurch gerecht werden kann, dass er seine Umgebung so behandelt, wie er es nun einmal tut. Die unentwirrbare Verschränkung von egoistischen und idealistischen Motiven zeigt sich auch und gerade im religiösen Bereich: So wie es Hochmut ist, der Leverkühn Theologie studieren lässt,17 so ist es Abrahams Stolz, der ihn zum Monotheismus finden lässt18 – es ist mit seiner Selbstach­ tung nicht kompatibel, etwas anderem als dem Höchsten zu dienen. (Und vermutlich lässt sich auch sagen, dass Manns Bemühung, dem Gedanken des Erwählten eine solide axiologische Basis zu geben, die er in Nietzsches Universum nicht finden kann, seiner Rehabilitation des Theismus zugrunde liegt – also ebenfalls ein gewisser Hochmut, da Mann sich ganz gewiss selber zu den Erwählten gerechnet hat.) In Abweichung vom biblischen Text lässt Mann Jaakobs Vision von der Himmelsleiter auf die Misshandlung durch Eliphas folgen – sie hat also offenkundig eine kompensatorische Funktion. Ferner geht Mann davon aus, dass es Entwicklungsgesetze der menschlichen Kultur gibt – die Normen einer Gesellschaft wandeln sich allmählich, aber doch radikal, und dieser Vorgang ist im Grunde viel merkwürdiger als die einer Spätzeit befremdlich erscheinenden, oft grausamen Normen der archaischen Welt.19 Diese Gesetze prägen sich auch in der Religion aus, wie ja überhaupt die verschiedenen Sphären der Kultur – Religion, Politik, Kunst –, gleichsam als Aus­ druck der Einheit der Welt,20 einander beeinflussen. Wie Rudolf Otto in Das Heilige, nimmt Mann eine allmähliche Moralisierung des Numinosen an – Jahu wird aus einem tückischen Wüstengott21 zu einem heiligen Wesen, an dem freilich die Eifersucht noch den Ursprung aus einer vormoralischen Sphäre verrät; so wie überhaupt in den menschlichen Sitten archaische Reste durchschimmern (man denke an die Schilderung der Hochzeit Josephs mit Asnath).

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Doktor Faustus, 84 (Kap. X). Joseph und seine Brüder, 316 ff. (Der junge Joseph, II, Wie Abraham Gott entdeckte). Joseph und seine Brüder,1018 (Joseph, der Ernährer, II, Neb-nef-nezem). Joseph und seine Brüder, 1029 (Joseph, der Ernährer, II, Von Licht und Schwärze). Joseph und seine Brüder, 96 f. (Die Geschichten Jaakobs, II, Wer Jaakob war).

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Und doch ist die Pointe der Josephsromane diese, dass trotz aller psychologischen, soziologischen, historischen Vermittlung es bei der Erfahrung Gottes durch den Menschen durchaus um etwas objektiv Gültiges geht. Das Faszinierende an der theologischen Konzeption der Josephsromane ist, dass Mann auf Wunder, also auf Durchbrechun­ gen der Kausalordnung, weitestgehend verzichtet (fast die einzige Ausnahme sind die Eingriffe des Engels, die vornehmlich dem Zwecke dienen, Manns sehr kritische Psychologie der englischen Seele zu exemplifizieren, deren Mangel an Vitalität und Fruchtbarkeit sich, gut nietzscheanisch, in Ressentiment gegenüber der Bevorzugung des Menschen durch Gott entlädt); ja, dass er sich, in Übereinstim­ mung mit den religionswissenschaftlichen Forschungen seit dem 19. Jahrhundert, um die Herausarbeitung der Sekundärursachen des religiösen Glaubens ebenso bemüht wie um die Wiedergabe der dem »primitiven« Denken eigentümlichen Kategorien (der sogenannten Mondgrammatik). Die zahllosen Vorwegnahmen des Neuen Testa­ ments, insbesondere der Christusgeschichte, in der Josephstetralogie sind nur scheinbar eine Rehabilitation der typologischen Deutung des Alten Testaments. Mann unterstellt vielmehr, dass Christus Grundmuster der mythischen Selbstdeutung instantiiert, wie dies schon Joseph selbst tut – von der panbabylonischen Schule eines Alfred Jeremias beeinflusst, geht Mann (wie wir heute wissen, viel zu einseitig) davon aus, dass die meisten Mythologeme des Alten Testaments der Welt des Alten Orients entstammen.22 Und doch wäre es völlig verfehlt, daraus den Schluss zu ziehen, Mann vertrete eine rein immanentistische Deutung der Religionsge­ schichte.23 In diesen Ursachenketten zeigt sich etwas Göttliches, ja, die Kulissenschieberei der »Höllenfahrt« will keineswegs nur ein Gefühl für die Dimensionen der Vergangenheit erzeugen, sondern auch die Einsicht fördern, dass die Unendlichkeit der Ursachenkette eine abschließende Erforschung durch die Wissenschaft ohnehin nicht zulässt und die philosophisch-religiöse Annahme eines ersten Prinzips erfordert. Es ist dieses Prinzip, das in der Evolution des 22 Vgl. die eindrucksvolle Studie meines Freundes Friedhelm Marx, dem ich für manches Gespräch und viele Informationen danke: »Ich aber sage Ihnen…« Christus­ figurationen im Werk Thomas Manns, Frankfurt 2002. 23 In Klaus Borchers, Mythos und Gnosis im Werk Thomas Manns. Eine religionswis­ senschaftliche Untersuchung, Freiburg 1980, 32–48 findet sich ein guter Überblick über die christlichen wie die antireligiösen Interpretationen der Josephsromane – die, recht verstanden, miteinander kompatibel sind.

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Kosmos wie in der menschlichen Geschichte waltet. Die Religion entdeckt es, aber sie bringt es insofern auch hervor, als seine Reali­ sierung innerhalb der Welt davon abhängt, dass der endliche Geist es anerkennt: Insofern ist Abraham sowohl Vater des Erhabenen als auch Ausdruck der Erhabenheit des Vaters. Wie in Hegels Religions­ philosophie gibt es eine wechselseitige Durchdringung Gottes und des endlichen Geistes, der nur durch besondere Gaben befähigt wird, Gott hervorzudenken, von dem er diese Gaben auch wieder hat: »Gottes gewaltige Eigenschaften waren zwar etwas sachlich Gegebenes außer Abraham, zugleich aber waren sie auch in ihm und von ihm; die Macht seiner eigenen Seele war in gewissen Augenblicken kaum von ihnen zu unterscheiden, verschränkte sich und verschmolz erkennend in eines mit ihnen...«24 Aber nicht nur der spekulative Religionsbegriff Hegels ist in Manns Mythentheorie eingegangen, nicht nur lehrt der greise Jaakob auf dem Wege nach Ägypten Trinitarisches,25 nicht minder präsent ist Hegels (und Goethes) Integration des Negativen in den Gottesbegriff. Wenn Gott wirklich allmächtig ist, dann kann das Negative nicht von etwas ihm Äußerlichen stammen: Nemo contra Deum nisi Deus ipse. Freilich sind Positives und Negatives keineswegs gleichberechtigte Momente; wie in Hegels Formel von der Identität der Identität und der Nicht-Identität, gibt es einen klaren Vorrang des Positiven. „,Urim und Tummim‘, das wäre etwa zu übersetzen mit,Ja – ja, nein‘, also mit einem Ja-Nein, das noch mit dem Vorzeichen eines zweiten Ja versehen ist. Rein rechnerisch gesehen, bleibt da freilich, da ein Ja und ein Nein einander aufheben, nur das zusätzliche Ja übrig; aber das Rein-Rechnerische hat keine Farbe, und zum mindesten läßt solche Mathematik die dunkle Färbung des resultierenden Ja außer acht, die offenbar eine Nachwirkung des rechnerisch doch aufgehobenen Nein ist.«26 Der Sündenfall der Seele, von dem in den sich gnostischer Vorstellungen bedienenden Kapiteln des Vorspiels zur ganzen Tetralogie »Höllenfahrt« die Rede ist, ist ihr Eingehen in die Welt der Materie, von dem der Geist sie erlösen soll, der 24 Joseph und seine Brüder, 319 (Der junge Joseph, II, Wie Abraham Gott entdeckte). Zum Hervordenken Gottes vgl. Peter Pütz, Verwirklichung durch »lebendige Unge­ nauigkeit«, in: Thomas Mann und seine Quellen. Festschrift für Hans Wysling, hg. von Eckhard Heftrich und Helmut Koopmann, Frankfurt 1991, 173–188, 180. 25 Joseph und seine Brüder, 1295 ff. (Joseph, der Ernährer, VII, Jaakob lehrt und träumt). 26 Joseph und seine Brüder, 1128 (Joseph, der Ernährer, IV, Urim und Tummim).

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in eigenwilliger Dialektik beim Versuch, den Tod aus der Welt zu schaffen, den Tod über die Welt bringt. Aber erstens ist dieser Fall, sofern er jene Rettungsbemühungen auslöst, letztlich (wie in Hegels Konzeption) gottgewollt, eine felix culpa; und zweitens ist das letzte Ziel jener Aktion des Geistes gerade nicht die abstrakte Tilgung des Seelischen, wie es im vorletzten Kapitel jenes Vorspiels heißt: »Das Geheimnis aber und die stille Hoffnung Gottes liegt vielleicht in ihrer Vereinigung, nämlich in dem echten Eingehen des Geistes in die Welt der Seele, in der wechselseitigen Durchdringung der beiden Prinzipien und der Heiligung des einen durch das andere zur Gegenwart eines Menschentums, das gesegnet wäre mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt.«27 Im »Vorspiel in den höheren Rängen« zu Beginn des letzten Romans – mit diesem Titel stellt Mann, und nicht zu Unrecht, sein Werk in dieselbe Kategorie mit Goethes Faust – nimmt sogar der gefallene Engel Semael an Gottes Plänen teil, die um die Biologisierung des Religiösen kreisen, also um die Verbindung mit einem bestimmten Volke. Diese Biologisierung ist zutiefst problematisch, und sie erzeugt bei den Begabten des jüdischen Volkes das Bedürfnis, einen abstrak­ teren, geistigeren, universaleren Gottesbegriff zu fassen – aber dieser Begriff setzt genetisch zunächst einmal sein Anderes, den Gedanken des erwählten Volkes, voraus. Gott – Leben – Geist: Diese Triade wird wiederholt in der Lebensgeschichte Josephs, der erst durch seinen doppelten Fall in die Lage versetzt wird, seiner eigentlichen Bestimmung gerecht zu werden. Joseph ist eine Mittlerfigur, dem Mond verwandt und mit der Bestimmung, die religiösen Ideen des Judentums der weiten Welt zu öffnen – darin eine Antizipation der christlichen Transformation der jüdischen Religion. In dem entschei­ denden Gespräch mit Pharao, das Joseph so lenkt, dass Pharao den Eindruck hat, er sei der Herr des Gesprächs, entdecke einiges über Joseph und deute sich seinen Traum selber, vermag sich Joseph als Mittler darzustellen zwischen Pharaos abstraktem Sonnenkult und dem Sinn seiner Mutter für Realpolitik und gerade dadurch die eigene Erhöhung vorzubereiten. Von Beginn an suggeriert er eine Rolle als Hermes, der zwischen Pharao und den Menschen vermittelt. Offenbar ist ja nicht nur Joseph eine Christusfiguration – auch Pharao ist eine, denn er zitiert aus dem Johannesevangelium nicht minder als aus seinem Sonnengesang. Aber Pharao ist eine lebensuntüchtige 27

Joseph und seine Brüder, 34 f.

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Christusfiguration, vergleichbar dem Jesus von Nietzsches Der Anti­ christ, der mit Dostojewskis Idioten in Verbindung gesetzt wird. Er ist Pazifist, während Joseph zur Beruhigung der königlichen Mutter daran festhält, dass man Gott Verantwortung schuldig dafür ist, »daß es auf Erden halbwegs nach seinem Willen geht und nicht ganz und gar nach den Köpfen der Mordbrenner«28, und Kompromisse mit der gewachsenen religiösen Tradition Ägyptens verteidigt. Joseph katholisiert, könnte man sagen, die Gotteserfahrung Echnatons, wie er diejenige Jaakobs universalisiert hat. Pharaos Naivität zeigt sich auch daran, dass er glaubt, Joseph mit seiner Erhöhung überraschen zu können, auf die dieser doch – um das mindeste zu sagen – äußerst zielstrebig hingearbeitet hat. Dies könnte, bekennt der Erzähler, »erkältend wirken und der Sympathie Abbruch tun, die auch wir dem Rahelskind zu bewahren wünschen, wenn nicht der Hörer bedächte, daß Joseph es als seine Pflicht betrachtete, den Absichten Vorschub zu leisten und Gott bei ihrer Verfolgung nach besten Kräften behilflich zu sein.«29 Aber Joseph ergreift nicht nur die Chance, die die Begegnung mit Pharao ihm bietet. Von Anfang an treibt ihn (wie Gregorius) ein Instinkt nicht nur zu seiner Erhöhung, sondern auch zu seinem Fall, da er vom mythischen Grundmuster her weiß, dass es ohne Fall keine Erhöhung geben kann. Daher provoziert er sowohl den Hass seiner Brüder als auch die Liebe Mut-em-enets. Freuds Lehre vom Unbewussten erlaubt Mann, den eigentümlichen Bewusstseins­ modus zu erfassen, in dem dieses Anzielen erfolgt – es ist kein kaltes Planen, ebensowenig wie es kaltes Planen ist, dass Isaak fast blind wird, um sich von Jaakob betrügen zu lassen (freilich angesichts der sehr gelungenen Täuschung dann kurz kontrolliert, ob es sich wirklich um den Falschen, d.h. den Rechten handelt)30. Es ist ein vitaler Sinn für das eigene Schicksal, der alles Notwendige ins Werk stellt, und da Joseph nichts wirklich Verbrecherisches tut, da er trotz seines Nar­ zissmus echte Anteilnahme am Schicksal derer kennt, die seinetwegen leiden müssen (besonders Jaakobs und sogar Mont-kaws, an dessen Tod Joseph keine Schuld in irgendeinem moralisch zurechenbaren Sinne trifft, weswegen er sogar zum Gedanken an die Inkarnation Gottes angeregt wird, damit dieser einmal umgekehrt die Schuld des 28 29 30

Joseph und seine Brüder, 1086 (Joseph, der Ernährer, III, »Ich glaub’ nicht dran!«). Joseph und seine Brüder, 1121 (Joseph, der Ernährer, IV, Herr über Ägyptenland). Joseph und seine Brüder, 157 (Die Geschichten Jaakobs, IV, Der große Jokus).

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Menschen trage),31 da er einen allgemeingültigen, nicht von ihm geschaffenen Mythos aufführt, kann man ihm nicht böse sein, und die Schnelligkeit, mit der er sich nach jedem Fall wieder aufrichtet, amüsiert eher, als dass sie empört. Von Anfang an weiß Joseph, dass Isaaks Opfer nur Schein ist.32 Wenn er, von den Ismaelitern aus der Grube gezogen und knapp vor dem Tode gerettet, zuerst »Euer Knecht« haucht, gleich danach aber hervorhebt, er könne Steine lesen und Keile schreiben,33 so muss man zugeben, dass er sich rasch wieder gefasst hat – wie Gregorius, der sich zunächst Probus und Liberius als untersten, äußersten Sünder vorstellt, aber, nachdem er begriffen hat, worum es geht, zur Überwindung der angesichts seiner Gestalt naheliegenden Widerstände des Liberius »bescheidentlich« sagt: »Ich habe einst grammaticam, divinitatem und legem studiert.«34 Es ist ziemlich klar, dass Mann sich mit dieser Struktur der Bejahung der Sünde um des Guten willen, das aus ihr hervorwächst, existentiell identifiziert hat: Er weiß, dass Geist und Sünde zusammenhängen, und seine Versuchung ist die des geistlichen Segensträgers Juda: die Geschlechtshölle, die nur der Reine als Hölle empfinden kann.35 Dass Mann Mut-em-enet Worte in den Mund schiebt, die er einst für Paul Ehrenberg gedichtet hatte,36 hängt nicht nur damit zusammen, dass Mann, phantasiearm, wie er eigentlich war, alle Erlebnisse seines Lebens literarisch zu verwerten suchte, ist nicht nur eine Art von Ver­ steckspiel mit seinen Interpreten (bei seinem Narzissmus wird er sich sicher die Frage gestellt haben, wann denn jenes Selbstzitat entdeckt werden würde – heute können wir antworten: dank Kurzke noch im 20. Jahrhundert), sondern drückt eine fundamentale Verwandtschaft seines eigenen Schaffensprozesses mit dem Wechselspiel von Fall und Erhöhung bei seinen Erwählten aus. Die Dreiecksgeschichte von Joseph in Ägypten ist sicher, bei aller Morbidität, auch deswegen so faszinierend, weil Mann allen drei Akteuren Aspekte seiner Persön­ lichkeit verliehen hat – die Begierde nach männlicher Schönheit Mut, die beherrschte Würde und Gerechtigkeit Peteprê, die Gnadengaben des Erwählten Joseph. Aus der Bändigung seiner beunruhigenden 31 Joseph und seine Brüder, 737 f. (Joseph in Ägypten, V, Bericht von Mont-kaws bescheidenem Sterben). 32 Joseph und seine Brüder, 76 ff. (Die Geschichten Jaakobs, I, Die Prüfung). 33 Joseph und seine Brüder, 443 f. (Der junge Joseph, VI, Die Ismaeliter). 34 Der Erwählte, 175 (Die Auffindung). 35 Joseph und seine Brüder, 1157 (Joseph, der Ernährer, V, Astaroth). 36 Kurzke, op.cit., 430.

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homosexuellen Leidenschaft in der kalten Fassade des Bürgertums entsteht sein begnadetes literarisches Werk. Aber lässt sich alles Negative in der Welt so deuten, also als Mittel zur Erreichung eines komplexeren Gutes? Führt diese LeibnizHegelsche Form der Theodizee nicht zu einer letztlichen Rechtferti­ gung des Bösen? Angesichts der Erfahrung des Nationalsozialismus scheinen Theodizeeargumente dieses Typs schwer erträglich. Schon in Das Gesetz ist die Negativität, die Moses zulässt, viel problematischer, doch dient sie immerhin noch der Bändigung des Bösen. Aber im Doktor Faustus ist Leverkühn nicht energischer Gegner des Natio­ nalsozialismus, sondern vielmehr mit diesem magisch verbunden; und auch seine Spekulation darauf, dass seine Sünde eine besondere Herausforderung der göttlichen Gnade sei, wird als besonders sünd­ haft gedeutet (und nach demselben Argument nicht deswegen schon mit besonderem Anspruch auf Gnade).37 Der Teufel ist hier nicht wie Mephistopheles oder Semael vertrauter Gesprächspartner Gottes, der im Doktor Faustus allein als abwesender erfahrbar ist. Während im späteren Erwählten das triumphierende Muster der Josephstetralogie wieder durchgespielt wird, nach dem die Sünde Mittel zur Reue und zur Erhöhung ist, wird im Doktor Faustus diese Lösung, anders als in Goethes Faust, verweigert. Dies hat sicher auch mit der Modernität seiner Welt zu tun, die keine mythisch geborgene mehr ist, sondern in der der Kunst die prekäre und unlösbare Aufgabe zugewachsen ist, eine Integrationsleistung zu vollbringen, die sie – ohne teuflische Hilfe – vollständig überfordert. Und doch ist auch im Doktor Faustus, der trotz oder gerade wegen der Modernität seines Helden eine in manchem düsterere, mittelalterlichere, archaischere Welt darstellt als die Josephsromane und Der Erwählte, das letzte Wort nicht die Verdammnis des Volksbuches. Die Hoffnung auf Gnade, die aber nicht mehr Leverkühn selbst, sondern nur ein Freund für ihn aussprechen darf, schwebt über dem Ende – auch angesichts der entsetzlichsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts ist die Aufhebung des Negativen im Positiven zwar nicht als dogmatische Behauptung, aber als Licht der Hoffnung gegenwärtig. Thomas Mann – eine anima naturaliter hegeliana? Vermutlich geht das zu weit, schon weil der Ironiker und Humorist Mann, um Kierkegaard zu zitieren, kein direktes Verhältnis zu Gott hat. Aber nicht zu weit geht die Aussage, dass der größte deutschsprachige 37

Doktor Faustus 248 (Kap. XXV).

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(und möglicherweise nicht nur deutschsprachige) Romancier des zwanzigsten Jahrhunderts u.a. deswegen so groß ist, weil es ihm gelungen ist, das, was er von Schopenhauer und Nietzsche gelernt hat, in eine Weltanschauung zu integrieren, die trotz aller Komplexitäten der moralpsychologischen Einsichten an einem klaren Unterschied zwischen Gut und Böse festhält und trotz der souveränen Einarbei­ tung der neueren Ergebnisse von Religionsgeschichte und Religions­ soziologie einen Gottesbegriff verteidigt, der mit demjenigen Hegels erstaunliche Verwandtschaft hat. Wer an einem nachnietzscheschen objektiven Idealismus interessiert ist, d.h. wer den Gedanken für unaufgebbar hält, dass die Transzendentalien des Wahren, Guten und Schönen die Welt bestimmen, und trotzdem nicht einfach naiv sein will, sondern die abgründigen Kausalmechanismen, die in der menschlichen Seele und der menschlichen Geschichte am Werk sind, mit vorurteilsloser Neugierde zu studieren bereit ist, der kann von Thomas Mann vermutlich mehr lernen als von den meisten mit ihm zeitgenössischen Philosophen. Manns Weltanschauung begrifflich zu durchdringen und zu rechtfertigen – so lässt sich vielleicht auf den Begriff bringen, was die Philosophie, gewiss neben manchen anderen Aufgaben, im einundzwanzigsten Jahrhundert versuchen sollte.38

Hans Jonas übertreibt nicht, wenn er zum Zauberberg und den Josephs-Romanen schreibt, in ihnen stecke »oft mehr als in der ganzen phänomenologischen Schule, von Husserl selbst einmal abgesehen – eine Seite Thomas Mann enthält tiefere Einsichten als ganze Abhandlungen über die Konstitution der Gegenstandswelt in intentionalen Akten des Bewußtseins« (Erinnerungen, Frankfurt/Leipzig 2003, 101 f.). 38

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Der Geist als Nostalgiker des Lebens Was verbindet und was unterscheidet Grillparzers Sappho und Manns Tonio Kröger?

Zu den Textsorten, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seltener geworden sind, gehören essayistische Würdigungen eines großen Schriftstellers durch einen späteren Kollegen. Das mag damit zusammenhängen, dass es heutzutage weniger allgemein anerkannte Schriftsteller gibt und dass das Bildungsbürgertum, an das sich derar­ tige Essays oder Reden wenden, in westlichen Gesellschaften keine breite Schicht mehr darstellt. Sicher spielt auch eine Rolle, dass die moderne Literaturwissenschaft das Schreiben über Schriftsteller nahezu monopolisiert hat. Die Gelehrsamkeit und die Vertrautheit mit theoretischen Kategorien, die heute erforderlich sind, um etwas zu Goethe vorzulegen, das von Kennern nicht gleich belächelt wird, sind enorm. Das ist an sich begrüßenswert; und doch vermisst vermutlich nicht nur der Autor dieser Zeilen zeitgenössische Äquivalente zu Studien wie Thomas Manns August von Platen, Der alte Fontane, Dostojewski – mit Maßen, Goethe und Tolstoi, Kleists ›Amphitryon‹, Versuch über Schiller oder Versuch über Tschechow. Denn die Literatur ist nicht um der Literaturwissenschaft da, und wir wollen direkt hören, wie bedeutende Literatur andere große Schriftsteller beeinflusst hat. Ein Werk wie Lotte in Weimar hält Goethe schließlich eher lebendig als selbst die umfassendste literaturwissenschaftliche Analyse. Manns Essays zu seinen Lieblingsautoren, meist Deutschen und Russen, sind zu Recht berühmt, und zwar aufgrund ihrer Balance zwischen objektiver Wiedergabe eines anderen und persönlicher Spiegelung, aufgrund ihres Sinns für den Zusammenhang von Lebensform und Art des literarischen Schaffens und aufgrund ihres Wechsels zwischen Konzentration auf entscheidende Wesenszüge eines Autors und gelungener Auswahl bedeutsamer Details. Auch wenn Manns Aufsätze zahlreich und oft umfangreich sind, hat er nicht zu allen Schriftstellern, die ihn beeinflusst haben, sich äußern können, denn das Zentrum seines Schaffens waren seine eigenen Romane.

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Man fragt sich daher manchmal, wie er sich wohl zu diesem oder jenem Autor geäußert hätte, wenn er etwa um einen Jubiläumsvortrag zu ihm gebeten worden wäre. Von den Essays, die Mann erwogen, aber nie verfasst hat, wäre m.E. derjenige über Grillparzer besonders faszinierend geworden. Bekanntlich hat Mann nur einmal einen Text eigens zu Grillparzer verfasst, und zwar improvisierend am 18. Januar 1922 im Wiener Hotel Imperial, als er sich im Januar 1922 zum 50. Todestag des Dichters zufällig in Wien befand und ihn die Neue Freie Presse um eine Würdigung bat, die dann am 22. Januar erschien. Der kurze Text wurde schnell geschrieben, und zur längeren Abhandlung, die Mann dort in Aussicht stellt,1 ist es nie gekommen.2 Und doch spürt man dem Text an, dass Mann Grillparzer aufrichtig liebt und ihm viel verdankt. In der Tat begegnet man auch an anderen Stellen des Mannschen Œuvres Grillparzer – etwa gegen Ende der Betrach­ tungen eines Unpolitischen.3 Mann zitiert Gedichte Grillparzers,4 aber auch Der arme Spielmann5 und natürlich aus den Dramen.6 Es ist nicht 1 Thomas Mann, Huldigung für Grillparzer, in: Ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 15, Essays II 1914–1926, hg. v. Hermann Kurzke, Frankfurt 22002, 478– 480, 478: »Was ist da zu leisten? Nicht das, was eines Tages zu leisten mir vergönnt sein möchte: Mein Aufsatz über ihn, breit, langsam, genau und tiefdringend nach letzter Kraft, von welchem ich wohl weiß, daß er zu meinem Pensum gehört.« – Kurzkes Kommentarband entnehme ich manchen Hinweis. 2 Allerdings diente Grillparzers Darstellung seines Aufenthaltes in Weimar in der Selbstbiographie dem Autor von Lotte in Weimar »nicht nur für charakteristische Züge von Goethe und dessen Umgang mit Besuchern«; Grillparzer, und nicht Charlotte Kestner, war im Gasthof »Zum Elephanten« abgestiegen (Eckhard Heftrich, Lotte in Weimar, in: Thomas-Mann-Handbuch, hg. von Helmut Koopmann, Stuttgart 1990, 423–446, 427). 3 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt 1983. Auf S. 589 wird aus dem Bruderzwist zitiert. 4 In der Huldigung für Grillparzer wird Grillparzers berühmter Vierzeiler »Tadle mich nicht! ich tu es selber./ Lobe mich nicht! denn es beschämt mich./ Nimm es als ein Leben an/ und leb es mit, wie ich getan« aus dem Gedächtnis und daher nicht korrekt zitiert (479). Neben kleineren Abweichungen (so stehen bei Mann die Imperative im Plural) fehlt die letzte Zeile, und die erste und die zweite Zeile sind in der Reihenfolge umgekehrt. All das ist bezeichnend und wirft Licht auf die Wesensunterschiede zwischen den beiden Dichtern: Grillparzer erwartet zunächst Tadel, nicht Lob; er wendet sich an einen einzelnen, nicht an ein großes Publikum; und er lädt die angeredete Person zum Mitleben ein. In Manns Wiedergabe wirkt der Dichter eitler, selbstgefälliger, seiner Einzigartigkeit stärker bewusst. 5 Huldigung, 479; Betrachtungen, 317 ff. 6 In Süßer Schlaf wird die Stelle zur Sammlung aus Des Meeres und der Liebe Wellen (V. 945 ff.) gepriesen (Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd.

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schwer, auf den Begriff zu bringen, warum sich Mann zu Grillparzer hingezogen fühlte. Beide Autoren verbinden auf geistesverwandte Weise formalen Konservatismus mit enormer psychologischer Sen­ sibilität für Abgründiges in der menschlichen Seele und in geschicht­ lichen Umbrüchen. »Einen ähnlichen, man darf sagen: romantischen Zwiespalt und Gegensatz empfand ich in Grillparzers Dichtung von jeher, einen solchen der Form und des Geistes.«7 Die klassizistische Maske kann nur einen oberflächlichen Leser dazu verleiten, die Inno­ vativität von Werken wie der Medea oder Der Tod in Venedig zu über­ sehen. Lange vor Ibsen hat Grillparzer ein modernes Ehedrama geschrieben, das umso erschütternder ist, weil es nicht in zeitgenös­ sischen bürgerlichen Milieus spielt, sondern eine durchaus moderne seelische Entfremdung in der Gewalt des mythischen Resonanzbo­ dens Ausdruck finden lässt.8 Und die Zitate aus Platon und aus Plut­ archs Erotikos steigern die Tragödie Aschenbachs, weil das antike Päderastie-Ideal unter den Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts eben nicht wiederbelebt werden kann. Ein Grillparzer-Drama freilich wird von Mann in seinem veröf­ fentlichten Œuvre nie genannt (ebensowenig von Hofmannsthal in seiner Grillparzer-Rede) – Sappho.9 Hat er es nicht geschätzt? Oder stand es ihm vielleicht zu nahe, um erwähnt zu werden? Mann scheint 14, Essays I 1893–1914, hg. v. Heinrich Detering, Frankfurt 2002, 202–209, 206). Im Versuch über das Theater wird auf Grillparzers Abneigung gegen mehrteilige Dramen verwiesen (ebd., 123–168, 128). 7 Huldigung, 478. Ähnliches hat wohl Joseph Roth im Sinn, wenn ihm Grillparzer als »der einzige konservative Revolutionär, den die Geschichte Österreichs kennt« erscheint (Joseph Roth, Grillparzer. Ein Porträt, in: ders., Werke 3, hg. v. Klaus Westermann, Köln 1991, 742–751, 748). 8 In seiner Rede auf Grillparzer, am 7. Mai 1922 in Hannover gehalten, schreibt Hugo von Hofmannsthal: »Das goldene Vlies sodann knüpft wohl an Euripides und auch an Schillers Stil an, verbindet aber in einer ganz neuen Weise das Mythische mit einer Zergliederung der Seelen, die ganz der neueren Zeit angehört.« (Hugo von Hof­ mannsthal, Gesammelte Werke III, Berlin 1934, 107–123, 121) Änlich Max Kommerell, Dichterische Erfahrung. Essays, Frankfurt 1952, 10. – Zwar ist schon Kleists Penthesilea ein Gegenstück zu Goethes Iphigenie, aber der antiklassische Gewaltausbruch dort ist selbst noch heroisch-archaischer Art, während Grillparzer eine modernespezifische Psychologie entwickelt. 9 Zu diesem Stück schreibt Ernst Alker, es habe einerseits von allen Dramen Grillpar­ zers »die grösste Klassiknähe«, andererseits wirke kein anderes Werk des Dichters »trotz der untadelhaften Oberfläche so problematisch, so verdächtig, so tief morbid wie dieses« (Franz Grillparzer. Ein Kampf um Leben und Kunst, Marburg 1930, 150 und 23).

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es erstmals am 8. Juni 1920, also anderthalb Jahre vor seinem Grill­ parzertext, gesehen zu haben, und zwar im Prinzregententheater in München. Das Tagebuch beklagt »eine äußerst schwache Auffüh­ rung«, und doch erkennt Mann durch sie hindurch Wesensverwandtes im Drama. »Merkwürdig, daß ich die Dinge Grillparzers so spät ken­ nen lerne. Ich bin eine Art Fortsetzer.«10 Um ein Verständnis dieses letzten Satzes geht es mir im folgenden. Und zwar will ich Tonio Kröger als jenes Werk deuten, das – offenbar ohne es zu wissen – die Pro­ blematik der Sappho fortsetzt. Umgekehrt kommt kein früheres Werk der deutschen Literatur Manns Erzählung so nahe wie Sappho.11 Ich will zunächst die Grundproblematik von Sappho diskutieren (I) und dann zeigen, was an Tonio Kröger ihr entspricht und was die Novelle12 von dem Drama unterscheidet (II).

I. Anders als die späten Dramen Grillparzers, an denen er Jahrzehnte gefeilt hat, ist Sappho in weniger als vier Wochen konzipiert und nie­ dergeschrieben worden. Die Anregung dazu ergab sich aus einem zufälligen Gespräch mit Dr. Felix Joel am 29. Juni 1817. Dieser erwähnte, die Sapphogeschichte sei ein ausgezeichneter Opernstoff. Grillparzer entgegnete spontan, er eigne sich für eine Tragödie noch besser, und hatte schon am selben Abend den Plan für sein Trauerspiel fertig. Am 30. Juni las er in Sapphos Gedichten, übersetzte für sein Stück die berühmte Ode an Aphrodite (1 Diehl) – das damals wie auch heute noch, nach den Papyrusfunden, allein vollständig erhaltene Gedicht der Lyrikerin – und begann am nächsten Morgen mit der 10 Thomas Mann, Tagebücher 1918–1921, hg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt 1979, 445. 11 Soweit ich sehe, ist die Analogie zwischen beiden Werken nur gelegentlich ange­ deutet (vgl. etwa Heinz Friedrich Schafroth, Die Entscheidung bei Grillparzer, Bern 1971, 33), aber nie ausgearbeitet worden. 12 Ich bin mir dessen bewusst, dass Tonio Kröger keine klassische Novelle ist wie etwa diejenigen Theodor Storms, denen sie stimmungsmäßig so viel verdankt (Immensee und das Gedicht Hyazinthen sind in Manns Text explizit präsent; vgl. Mark G.Ward, More than ›Stammesverwandtschaft‹? On Tonio Kröger’s reading of Immensee, in: German Life and Letters 36 (1982/83), 301–316). Aber da sie Mann in der ersten Buchveröffentlichung von 1903 als »Novelle« bezeichnet, gibt es keinen Grund, den vagen Terminus grundsätzlich zu vermeiden.

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Arbeit am Drama, das am 25. Juli vollendet und am 21. April 1818 uraufgeführt wurde.13 Die Entstehungsbedingungen zeigen, dass Grillparzer sich praktisch keine Zeit für historische Forschungen nahm. Anders als König Ottokars Glück und Ende, bei dem die Quel­ lenstudien drei Jahre dauerten, oder gar Ein Bruderzwist in Habsburg ist Sappho kein historisches Drama. Die griechische Kostümierung ändert überhaupt nichts an der Tatsache, dass Sappho eine Zeitge­ nössin ist, ja, moderner als fast alle Frauen, die bisher auf einer deutschsprachigen Bühne aufgetreten waren.14 Grillparzer konnte so schnell nur arbeiten, weil sich ihm die Sapphosage unmittelbar als die ideale Veranschaulichung eines geistigen Problems erwies, an dem er selber litt und das nach künstlerischer Gestaltung verlangte: »so dürfte wohl die Sappho ein in eben dem Sinne wahres malheur d’être poète in sich fassen«.15 Es geht im Drama um den Gegensatz von Kunst und Leben, dem auch Grillparzers Gedicht Der Bann von 1819 Aus­ druck verleiht. Das Leben, das sich um seiner Schwester, der Kunst, willen verraten fühlt, ruft dem Helden nach: Zieh hin um all dein Glück betrogen, Und buhl um meiner Schwester Gunst, Sieh, was das Leben dir entzogen, Ob dirs ersetzen kann die Kunst. (I 111; V. 57–60)

Sappho ist keineswegs das erste deutsche Drama, das diesen Gegen­ satz abhandelt. Goethes Torquato Tasso ist natürlich Grillparzers unmittelbares Vorbild, und die Romantik bringt mehrere Künstlerdra­ men hervor, etwa den 1809 zuerst auf deutsch abgefassten und 1811 auf dänisch, 1816 auf deutsch erschienenen Correggio des Dänen 13 Vgl. die entsprechende Schilderung in der Selbstbiographie, die allerdings zu Unrecht die Begegnung mit Joel »gegen Anfang des Herbstes« datiert (Franz Grill­ parzer, Sämtliche Werke, hg. v. Peter Frank, Karl Pörnbacher, 4 Bde., München 1960– 1965, IV 81). Dem ersten Briefentwurf an Adolf Müllner ist jedoch zu entnehmen, dass sich Grillparzer schon früher für Sapphos Ende begeistert hatte, freilich ohne an eine Dramatisierung zu denken (Franz Grillparzer, Werke in sechs Bänden, hg. v. Helmut Bachmaier, Frankfurt 1986, 2.735; die neue Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags besteht bisher nur aus Band 2 und 3; ich benutze sie für die Dramen, während ich Grillparzer sonst nach den Sämtlichen Werken zitiere, auf die ich mich mit römischer statt arabischer Bandzahl beziehe). 14 In der Selbstbiographie heißt es: »Höchstens meinten einige, das Stück sei nicht Griechisch genug, was mir sehr recht war, da ich nicht für Griechen sondern für Deutsche schrieb.« (IV 84) 15 Im Briefentwurf an Müllner; 2.735 f.

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Adam Oehlenschläger, in dem es um das Verhältnis eines bedeuten­ den zu einem absolut überragenden Künstler geht (wobei sich in der Beziehung Correggios zu Michelangelo Oehlenschlägers eigenes Verhältnis zu Goethe spiegelt).16 Aber zweifelsohne hat Grillparzer etwas ganz Neues aus der Thematik gemacht. Auffallend ist zunächst, dass er in doppelter Goethe-Nachfolge steht und ihn damit gleichsam überbietet – denn Grillparzer ahmt nicht nur Goethe, sondern auch seinen Klassizismus nach, indem er eine Dichtergestalt nicht der Renaissance, sondern der Antike ins Zentrum stellt; Sappho ist eine Sythese von Torquato Tasso und Iphigenie auf Tauris, also Klassiker­ nachfolge in zweiter Potenz. Auch wenn Sappho Grillparzers erstes Griechendrama ist, ist freilich schon die romantische Schicksalstragö­ die Die Ahnfrau klassizisticher als auf den ersten Blick ersichtlich – ein Biedermeier-Ödipus, wie treffend gesagt wurde. Bedeutsam ist ferner der äußerliche Unterschied, dass Grillparzer eine Frau und nicht einen Mann als Künstlerfigur einführt17 – offenbar unter dem Einfluss des ihm vertrauten Romans Corinne ou l’Italie Madame de Staëls von 1807, wie schon die Zeitgenossen erkannten.18 Grillparzers Interesse an weiblichen Hauptfiguren und an der weiblichen Psychologie ist eine Konstante seines Werkes, die zu seiner heutigen Hochschätzung 16 Grillparzer lernte Oehlenschläger 1817 in Wien persönlich kennen; siehe Emil Reich, Franz Grillparzers Dramen, Dresden 1909, 60. – Daneben gab es frühere Dramen zu Sappho, etwa von Franz von Kleist. Siehe H. Rüdiger, Sappho. Ihr Ruf und Ruhm bei der Nachwelt, Leipzig 1933. 17 Vgl. Dagmar C.G. Lorenz, Grillparzer, Dichter des sozialen Konflikts, Wien,Köln,Graz 1986, 43: »Sappho ist mehr noch als sensitiver Ausnahmemensch à la Tasso Frau.« 18 Siehe Lord Byrons Tagebuchaufzeichnung vom 12. Januar 1821 nach der Lektüre des Werkes in der italienischen Übertragung Guido Sorellis (Byron konnte nicht deutsch), in der er dem ihm noch völlig unbekannten Grillparzer Ruhm für die Jahr­ hunderte prophezeit, aber zuviel Madame de Staël beklagt. »The tragedy of Sappho is superb and sublime! There is no denying it. The man has done a great thing in writing that play. And who is he? I know him not; but ages will, ›T is a high intellect. […] too Madame de Staël-ish now and then – but altogether a great and goodly writer.« (The Works of Lord Byron, in verse and prose, hg. v. Fitz-Greene Halleck, Hartford 1847, 251) Der zweite englische Schriftsteller, der Sappho zur Kenntnis nimmt, ist Thomas Carlyle in seinem Essay German Playwrights von 1829, und auch wenn sein Gesamt­ urteil über Grillparzer, von dem er nur drei Dramen kennt, negativ ist, wird Sappho positiv hervorgehoben: »Sappho, which we are sorry to learn is not his last piece, but his second, appears to us very considerably the most faultless production of his we are yet acquainted with.« (Thomas Carlyle, Critical and Miscellaneous Essays, New York 1870, 128–141, 132)

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beigetragen hat. Recht traditionell gilt Eifersucht als ein zentraler Charakterzug der Frau, und Sappho ist sicher ebenso Eifersuchtsals Künstlerdrama. Aber während eine auf eine jüngere Rivalin eifer­ süchtige Frau ein beliebtes Komödienthema ist,19 hat es Grillparzer geschafft, durch die Integration der Eifersuchtsproblematik in sein Drama erst eigentlich die Künstlertragödie auf ein neues Niveau zu heben. Darin liegt seine geniale Leistung – die Wahl einer Heldin und die Schilderung ihrer Eifersucht erlauben eine Vertiefung der Spannung zwischen Kunst und Leben, wie sie etwa bei Goethe noch undenkbar gewesen wäre. Denn nur die Eifersucht auf die SklavinFreundin Melitta20 lässt die eigentliche Natur von Sapphos Liebe deutlich werden. Phaon wird nicht einfach erotisch begehrt, sondern die erotische Begierde ist Ausdruck einer existenziellen Sehnsucht nach dem Leben. Was ist das hochgradig Problematische an Sapphos Liebe zu Phaon, und warum wird es zu dem vollkommenen Ausdruck für eine neue Bestimmung des Spannungsverhältnisses von Kunst und Leben, die im Drama durch Lorbeer und Rose symbolisiert werden (vgl. V. 1144 f.)?21 Zwei Kontrastierungen sollen das deutlich machen. Wenn Faust – zwar wenigstens im ersten Teil kein Künstler, aber doch auch er dank seines Intellektes ein Ausnahmemensch – Gretchen liebt, so liegt etwas Herablassendes in dieser Liebe, wie in der des Gottes zur Bajadere; Gretchen selber begreift nicht, »was er an mir find’t« (V. 3216). Faust ist von Beginn bis zum Ende Herr der Beziehung. Er begehrt Gretchen, aber er bleibt dabei aktiv und dominant, während es Gretchen, die geistig Unterlegene, ist, die aufgrund ihrer unbe­ dingten Liebe die Demütigung eines immer weiter greifenden Auto­ nomieverlustes erleidet. Sicher ist die Lage Tassos eine andere als die Fausts. Er ist der unglücklich Liebende, ja Zurückgewiesene, und er muss anerkennen, dass der Praktiker Antonio ihm in entscheidenden Hinsichten überlegen ist. Doch dass die Liebe eines Nicht-Adligen zu 19 Die Geschichte von Sapphos unglücklicher Liebe zu Phaon hat schwerlich eine his­ torische Grundlage (immerhin deutet das Grillparzer noch unbekannte frg. 97 Diehl, V. 11 auf eine Todessehnsucht der Dichterin hin), aber sie hat die antiken Komiker (wohl spätestens seit Platon und bis zur Neuen Komödie) amüsiert. Grillparzer kannte sicher Ovids 15. Heroide. 20 Die Namensform ist attisch, nicht äolisch. Man sieht, dass Grillparzer, der Grie­ chisch konnte, mit den Dialekten nicht vertraut war. 21 Zu den Dingsymbolen in Sappho (etwa auch dem Dolch, der Leier, dem Kahn) siehe Roy C. Cowen, Zur Struktur von Grillparzers »Sappho«, in: Grillparzer-Forum Forchtenstein 1968, Heidelberg 1969, 58–71.

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einer Prinzessin hoffnungslos ist, ist eine eiserne Grundregel der Gesellschaften des Ancien Régime; und so schmerzlich die Erfahrung auch im Einzelfall sein mag, heißt dies eben auch, dass man sich des eigenen Scheiterns nicht zu schämen braucht. Gerade dass Goethes Tasso Hofdichter ist, bindet ihn in eine soziale Ordnung ein, die Grill­ parzers Sappho nicht mehr kennt – erst in ihr als einer nachroman­ tischen Figur ist die Kunst gegenüber dem sozialen Umfeld autonom geworden. Der Hof ist für Tasso Fessel, aber auch Halt. Er wird auf die Kunst zurückgewiesen, weil er nach zu Hohem strebt – und dass in der unerfüllbaren Liebe zu einer überlegenen Sphäre nicht nur Tragik, sondern auch die Chance geistigen Wachstums durch Sublimation impliziert ist, war schon eine der Einsichten der mittelalterlichen Lie­ besphilosophie. Der Geist schäumt aus der Entsagung des normalen Lebens. Doch Phaon ist Sappho weder intellektuell noch sozial überlegen, und anders als Faust ist es Sappho, die, als Frau, in unbedingter Liebe ihre Selbständigkeit und Freiheit preisgibt (vgl. V. 811 ff.). Darin liegt die eigentliche Kränkung – um einer Person willen, die einen geistig nicht wachsen lassen kann, der eigenen Autonomie beraubt zu wer­ den; eine Kränkung, die zu den schwersten Qualen führen kann (V. 447, 776, 778). Wenn gleich zu Beginn Sappho die Wendung »Ihr weinet Liebe« gebraucht (V. 65), bezieht sie sich auf harmlose Tränen, doch sie selbst wird später die bittersten Tränen weinen (V. 1180) und gleichzeitig Melitta das Recht auf Tränen abstreiten (V. 1108 ff.). Der Verrat an ihrer Liebe ist Sapphos Selbstwertgefühl so abträglich und erzeugt einen derartigen Ekel vor dem Leben, dass jene Liebe nur mit dem Tode gesühnt werden kann. Von Anfang an spürt man, dass Sap­ pho in existenziell viel tieferer Weise an dem jüngeren Phaon hängt als dieser an ihr. Schon seine ersten Worte im Drama, nachdem die von der Dichterkrönung nach Hause gekehrte Sappho ihn ihren Mit­ bürgern mit viel Lob vorgestellt hat, deuten die Ambivalenz ihrer Beziehung an: Du spottest Sappho eines armen Jünglings! Wodurch hätt’ ich so reiches Lob verdient? Wer glaubt so hohes von dem Unversuchten? (V. 80 ff.)

Gewiss scheint Phaons Bescheidenheit ihn zu ehren, wie Sappho ent­ gegnet: »Du sicherst dir was du von dir entfernst, / Geschwister sind ja Schweigen und Verdienst.« (V. 85 f.) Aber ein Verdienst, das sich seiner selbst nicht bewusst werden kann, ohne sich zu untergraben,

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ist nicht auf Dauer angelegt – so wenig wie die Schönheit jenes dem Dornauszieher gleichenden Knaben in Kleists Über das Marionetten­ theater. Und es wird sich in der Tat zeigen, dass Phaon ein »Unver­ suchter« ist: Schon die erste Versuchung erweist, dass Sapphos Lob voreilig und Phaons Verlegenheit nur zu begründet war. Auch dass er sich einen »armen Jüngling« nennt, deutet auf den Abstand der beiden Liebhaber, den schon die Regieanweisung zu Beginn von I, 2 hervor­ hob: Sappho ist »köstlich gekleidet«, Phaon dagegen steht »in einfa­ cher Kleidung« ihr zur Seite. Sappho merkt gar nicht, wie sehr sie Phaon objektiv kränkt, wenn sie ihn deswegen preist, weil er sie von der Dichtkunst wolkennahen Gipfeln In dieses Lebens heitre Blüten-Täler Mit sanft bezwingender Gewalt herabgezogen habe (V. 90 ff.; entsprechend Phaon V. 134: »hervorge­ zogen«)

Die Sprache ist im wörtlichen Sinne herablassend, und auch die Verwendung des Wortes »Gewalt« deutet darauf hin, dass Sappho sich zu Phaon durch Kräfte hingezogen fühlt, die sie letztlich als sich fremd empfindet. Was Sappho will, ist zwar eine stark durch Gleichheit gekenn­ zeichnete Beziehung zu ihren Mitmenschen; aber die Sehnsucht nach Symmetrie ist bei ihr deswegen so groß, weil sie aufgrund ihrer Son­ derstellung als begnadete Künstlerin zu einer Beziehung zwischen Gleichen gar nicht in der Lage ist. Paradoxerweise ist gerade die Inten­ sität ihres Verlangens nach Symmetrie ein Signum ihrer Andersheit. Phaon, so hofft sie, soll sie zu einem normalen bürgerlichen Dasein führen und auch die Beziehung zu ihren Mitbürgern transformieren: »Die ihr bisher bewundert und verehrt, / Ihr sollt sie lieben lernen, lieben Freunde.« (V. 98 f.) Aber ihre Mitbürger, die an Sappho auf­ richtig hängen (vgl. V. 1642), weil sie ihre Heimatliebe (V. 45 ff., 68 ff.) spüren, sind völlig damit zufrieden, sie aus der Ferne zu ver­ ehren; sie sind dankbar für das Geschenk vollendeter Kunst und has­ sen den, der es gefährdet (vgl. V. 1877 f.), aber sie wollen nicht in die Schmerzen des dichterischen Schöpfungsprozesses hineingezogen werden. Umgekehrt ist Sappho auch bei einem lauten Fest einsam (V. 725 ff.). Sapphos Wunsch nach Nähe erinnert an Philipp in Schillers Don Carlos (V. 2511 ff.), aber dessen Wunsch nach Freundschaft unter Gleichen geht jede erotische Dimension ab, während Sappho gerade durch eine normale erotische Beziehung ein nicht durch Distanz bestimmtes Verhältnis zu ihren Mitmenschen zu entwickeln hofft.

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Unterscheidet sich der Verehrende vom Liebenden durch das Bewusstsein seiner Unterlegenheit, so der Bemitleidende durch das­ jenige seiner Überlegenheit. In kunstvoller Spiegelung von Sapphos Wunsch, statt verehrt geliebt zu werden, lässt Grillparzer Melitta sich darüber beklagen, sie finde statt Liebe nur Erbarmen (vgl. V. 570). Doch ist es gerade die Tatsache, dass Phaon dieses Gespräch überhört hat, was zu dem Umschlag führt – Melitta wird jemanden finden, der sie liebt, zumindest zu lieben glaubt, während sich Sapphos Wunsch als vergeblich erweisen wird. Das ist deswegen nicht überraschend, weil es für einen traditionellen Mann viel leichter ist, der Gebende als der Nehmende zu sein; eine unterlegene Frau ist für ihn leichter zu akzeptieren als eine überlegene. Phaon übersieht, anders als Sappho (vgl. V. 961 f.), dass die Rose, die er pflückt, auch Dornen hat, und unverantwortlich mit Melitta flirtend, lässt er es, auch für sich selbst, im Unklaren, ob er Freundschaft oder Liebe empfindet (vgl. V. 692 und 698). Natürlich wird Phaons Treuebruch auch durch die Tatsache verursacht, dass Melitta jünger ist (sie weiß selbst nicht, ob sie schon sechzehn ist, vgl. V. 1037 ff.), während Sappho älter ist als er – man darf sie sich aber keineswegs als mehr denn dreißigjährig vorstel­ len.22 Aber das Stück würde zu banal, wenn der Altersunterschied der entscheidende Faktor wäre; und auch wenn die Liebe einer älteren Frau zu einem jüngeren Mann im 19. Jahrhundert sozial verpönt war, zeigt etwa George Eliots Middlemarch, dass intelligente Künstler sich über dieses Tabu hinwegsetzen konnten.23 Sappho hätte vielleicht eine Chance gehabt, Phaon an sich zu binden (vgl. V. 890 ff.), wenn sie ihn nicht nach seinem Traum von Melitta, den er selbst gar nicht richtig in sein Bewusstsein zu heben vermochte (vgl. V. 923), schroff zurück­ gewiesen und schließlich Melitta sogar mit einem Dolche bedroht hätte (vgl. V. 1123), was sie einerseits Phaon völlig entfremdet, ande­ rerseits Phaons männlichen Beschützerinstinkt Melitta gegenüber weckt. Bezeichnend für Sapphos Intellektualität ist, dass sie unfähig ist, über den von dem träumenden Phaon geflüsterten Namen Melitta geschickt hinwegzugehen. Dass sie ihn herausschreit (vgl. V. 921), Grillparzer erklärte im Winter 1866/67, er habe sich Sappho als 25- bis 26jährige gedacht (2.747). 23 Auch für Grillparzer ist zwar »ein Weib das einen jüngern Mann liebt […] in der gewöhnlichen Welt […] ein eckelhafter Gegenstand« (2.737), aber er rechtfertigt die von Müllner getadelte Langatmigkeit seines ersten Aktes mit seiner Absicht, ein positives Bild von Sappho zu geben, bevor die Eifersucht die Oberhand gewinne. – Sappho gehört zudem nicht zur gewöhnlichen Welt. 22

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lässt Phaon sich erst seiner Zuneigung zu Melitta völlig bewusst wer­ den, und dass sie Melitta ausdrücklich auf den Vorgang anspricht, setzt die weitere Entwicklung erst recht in Gang. Ebensowenig ist Sappho fähig, sich wie Lessings Minna zu verstellen und dem geliebten Mann eine Angewiesenheit auf ihn, also eine Unterlegenheit vorzuheu­ cheln. Wenn das Wesen des Weiblichen in der vormodernen Welt teils darin gesehen wurde, in der Sphäre des Halbbewussten sich von Instinkten leiten zu lassen, teils darin, zu raffinierten Intrigen in der Lage zu sein, dann ist Sappho mit ihrem unbedingten Streben nach Bewusstseinshelle und ihrem Hass aller Lüge24 eine sehr untraditio­ nelle Frau – und damit nicht das, was Phaon eigentlich wünscht und braucht. Denn Phaon ist von Sappho mehr oder weniger geistig überwältigt worden, als er die berühmte Lyrikerin, deren Gedichte und deren imaginiertes Bild er seit seiner Kindheit geliebt hat (vgl. V. 162 ff.), in Olympia traf und sie an ihrem Herrschaftsabzeichen erkannte (vgl. V. 235).25 Auf Lesbos hat er sich selbst noch nicht wieder gefunden (vgl. V. 142), er zweifelt, ob er nur geträumt habe (vgl. V. 247 f.), und spürt das Bedürfnis, sein früheres Leben wegzuwerfen (vgl. V. 315 f.), weil er ahnt, dass es mit der Lebensform als Gatte Sapphos nicht kompa­ tibel ist (vgl. auch 462 ff., 478 ff.). Erst Melitta gibt ihn sich selbst wieder (vgl. V. 1173), und nach der Entscheidung für sie scheint es ihm, als habe Sappho ihn früher nur behext (vgl. V. 1164 ff., 1180, 1183, 1617, 1644,1665). Sappho erscheint ihm als das, was Grillpar­ zers Medea sein wird – eine Zauberin, die die normale Welt bedroht und sprengt. Ja, Phaon meint, Sappho sei selbst verzaubert worden (vgl. V. 1702), weil sie anders ist als das schlichte Bild, das er sich vor ihrer Begegnung von ihr und dem Verhältnis von Leben und Dichtung (vgl. V. 1688 ff.) gemacht hatte. Eine freie Entscheidung für Sappho ist nie erfolgt, und von Anfang an fühlt er sich ihr unterlegen (vgl. V. 155 ff.), ja, von ihrer Großzügigkeit (vgl. V. 293) erdrückt (vgl. V. 299 f.). Er schaut zu ihr auf als zu einem göttergleichen Wesen (vgl. V. 189 f., 1717 ff.), nennt sie »erhabne Frau« (V. 130), sich einen »blöde(n) Jüngling« (245). Man geht nicht fehl mit der Annahme, dass nur Sappho ihn sexuell begehrt und dass seine eigene Sexualität erst Vgl. V. 896, 1021, 1035, 1041, 1042, 1045, 1094 ff., 1110 f., 1122, 1129 f. Phaon hingegen glaubt an Melittas Ehrlichkeit (vgl. V. 1609). 25 Die Geschichte vom Tod seiner Pferde (vgl. V. 210) ist ein schlechtes Omen; man denkt an die analoge Episode bei Vronskijs Wettrennen in Lew Tolstojs Anna Karenina. 24

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durch Melitta freigesetzt wird. Die folgenden, auf Melitta bezogenen Verse sollten nicht nur psychologisch, sondern auch physiologisch gelesen werden; hinter der erhabenen Sprache drückt sich, Phaon unbewusst, der Vorgang der Ejakulation aus. Da sah ich sie, und hoch gen Himmel sprangen die tiefen Quellen alle meines Innern, Die stockend vorher weigerten den Strahl. (V. 1743 ff.)26

Sappho dagegen hat er nur geliebt »so wie man Götter wohl / Wie man das Gute liebet und das Schöne« (V. 1724 f.). Denn eigentliche Liebe setze Gleichheit voraus (vgl. V. 1740 ff.). Um so unheimlicher muss Phaon die Tatsache werden, dass Sap­ pho offenbar in ihn die allerhöchsten Erwartungen setzt. Sie, die pri­ mär schwesterliche Empfindungen gegenüber ihren Mitmenschen gehegt hat (vgl. V. 105, 361, 1074), soll nun Gattin werden. Sappho hat eine schwierige Jugend verlebt und früh die Eltern verloren (vgl. V. 113 ff.) – während Phaons Eltern noch leben (vgl. V. 497 ff., 595 f., 1459 ff.). Sie ist voller schmerzlicher Erinnerungen, die sie gerne aus­ löschen würde (vgl. V. 380 ff., 1260 ff.),27 und hat offenbar schon unglücklich geliebt (vgl. V. 770 ff.). Ihr Wesen ist, in Vergangenheit und Zukunft zu leben, während Phaon Gegenwartsmensch ist (vgl. V. 419 ff., 1253 ff.). »In dem Konflikt des Künstlers mit dem Leben, das ist in Sappho jedenfalls angedeutet, erkennt er ein Problem der Zeit. Die Formen, die Zeit zu erleben, in der Zeit zu leben, bilden für Grill­ parzer die letzte Schicht der Deutung menschlichen Verhaltens.«28 Da Sappho aufgrund ihrer erhöhten Sensibilität besonders leidensfähig ist – V. 1525 ff. erinnern an Hans Christian Andersens kleine See­ jungfrau –, will sie gar nicht, dass Melitta sie versteht: »Wohl dir! O lerne nimmer mich verstehen!« (V. 424) Und dennoch soll Phaon all das, was sie bisher entbehrt hat, kompensieren. Schon zu Beginn kün­ digt Sappho an: »Nur Eins verlieren könnt’ ich wahrlich nicht, / Dich Phaon, deine Freundschaft, deine Liebe!« (V. 123 f.) Diese Furcht pei­ nigt sie (vgl. V. 128 ff., 202 f.), und solch eine Furcht wird nur zu leicht zur sich selbst erfüllenden Erwartung. Sie liebt an Phaon das, was ihr 26 Die Metaphorik erinnert an Grillparzers Gedicht (nicht sein bestes) aus der Zeit der Liaison mit Marie von Smolenitz (1825): »der himmel lässt in Tropfen sich hernieder,/ Die Erde wallt in Düften ihm entgegen/ Und, weich ausbreitend ihre matten Glieder,/ Empfängt ihr Schoß den zeugungswarmen Regen.« (I 164) 27 Das wird später in spiegelnder Strafe auch Phaons Los werden (vgl. V. 1874). 28 Walter Naumann, Franz Grillparzer. Das dichterische Werk, Stuttgart 21967, 94.

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selbst abgeht – Schönheit, Lebenslust, Mut (vgl. V. 264 ff.); auch nach der Treulosigkeit erscheint er ihr als »der liebliche Verräter« (V. 843). Phaon soll ihre Sehnsucht nach Vitalität stillen, die sie aufopfern musste, um Künstlerin zu werden. Dass der Geist nach anderen Regeln funktioniert als das normale Leben, ist eine Erfahrung, die so alt ist wie der Geist selber; aber das, was neu ist an Grillparzers Drama, ist, dass die Trägerin des Geistes nicht wie in der traditionellen Geist­ metaphysik stolz ist auf die Leistung, die ihre Geistigkeit darstellt, sondern an ihr leidet und den Geist letztlich als »Fall« aus der Nor­ malität des Lebens empfindet.29 »Und leben ist ja doch des Lebens höchstes Ziel!« (V. 270) Der Lorbeer der Kunst wird als unfruchtbar, »kalt, frucht- und duftlos« erfahren (V. 273), keineswegs als Ersatz für die Opfer, die sie abnötigt. Gar ängstlich steht sich’s auf der Menschheit Höhn Und ewig ist die arme Kunst gezwungen, Mit ausgebreiteten Armen gegen Phaon: Zu betteln von des Lebens Überfluß. (V. 275 ff.; vgl. 398 ff.)

Bezeichenderweise versteht Phaon gar nicht, was sie sagt; und schon hier spricht er sie als »Zauberin« an, wenn auch als »holde« (V. 278). Am Ende wird Sappho sogar ihre Leier verwerfen, da diese sie der Möglichkeit normaler Liebe beraubt (V. 1731 f.). Sapphos Erfahrung setzt die romantische Enttäuschung durch die Vernunftideale der Aufklärung, ein Leiden an der Erkenntnis voraus, die sie als »quälend« bezeichnet (V. 389) – eine Enttäuschung und ein Leiden, die ihren explizitesten philosophischen Ausdruck in Scho­ penhauers Metaphysik des vitalen Willens gefunden haben, dem der Verstand untergeordnet wird.30 Grillparzer hat Schopenhauers Die 29 Treffend schreibt Benno von Wiese, Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, München 1983 [11948], 389: »Tasso will durch die Kunst von den Widersprüchen des Lebens erlöst werden, Sappho von den Widersprüchen der Kunst zum Leben.« Aller­ dings schlägt das am Ende um, denn Ilse Münch weist zu Recht darauf hin, dass sowohl Kunst als auch Leben jeweils einen internen Gegensatz zwischen Statik und Dynamik kennen (vgl. Ilse Münch, Die Tragik in Drama und Persönlichkeit Franz Grillparzers, Berlin 1931, 27 ff.). Am Anfang steht das Leben für das Prinzip der Ruhe, nach den erotischen Verwirrungen wird die Kunst zum statischen Ideal. 30 Siehe meine Analysen: Zum Verhältnis von Metaphysik des Lebendigen und allgemeiner Metaphysik. Betrachtungen in kritischem Anschluss an Schopenhauer, in: Metaphysik. Herausforderungen und Möglichkeiten, hg. v. Vittorio Hösle, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 59–97.

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Welt als Wille und Vorstellung erst 1820, also kurze Zeit nach der Sappho, kennengelernt,31 aber doch viel früher als die meisten seiner Zeitgenossen, die Schopenhauer jahrzehntelang ignoriert haben – vermutlich fühlte er in dem Werke Wesensverwandtes. In der Tat drücken die berühmten Verse V. 1201 ff. »Wer auch so schlafen könnte, wie die Vögel, / Doch lang und länger, ohne zu erwachen« eine Sehnsucht nach Entselbstung aus, die nur mit der Romantik möglich geworden ist und die Schopenhauer auf den Begriff bringen wird. Die verunglückte Liebe zum Leben wird Liebe zum Tod. Dage­ gen blieb Grillparzer die Philosophie Hegels, dem er 1826 in Berlin persönlich begegnete, zeitlebens zuwider. Hegelianisch ist Sapphos Wunsch, eine Synthese von Kunst und Leben zu schaffen: Laß uns denn trachten, mein geliebter Freund, Uns beider Kränze um die Stirn zu flechten, Das Leben aus der Künste Taumelkelch, Die Kunst zu schlürfen aus der Hand des Lebens. (V. 280 ff.)

Aber die Pointe des Trauerspiels, ganz wie Kierkegaards, ist, dass eine solche Synthese eine Illusion ist und nicht gelingen kann – in der Wirklichkeit waltet ein unversöhnliches Entweder – Oder, und gerade der unsinnige Wunsch nach der unmöglichen Synthese treibt in die Katastrophe. Den Wunsch, die Illusion zu durchbrechen, teilt Grillparzer mit dem barocken Drama; aber modern ist, dass die Illusion, um die es geht, die von der Möglichkeit einer Synthese ist. Die Beziehung zu Phaon verkompliziert sich dadurch, dass Sap­ pho Melitta nicht einfach als Sklavin ansieht, sondern ihre Freundin sein will (vgl. V. 348 f.; siehe auch 1332 f.) und Melitta wirklich an ihr hängt (vgl. V. 24, 1180 ff., 1792), ja, sie als Rollenvorbild ansieht (vgl. V. 1788 ff.). Zwar findet sich bei Grillparzer keine Anspielung auf les­ bische Liebe, auch wenn Sappho Melitta mehrfach küsst (nach V. 338 und 344).32 Doch sucht Sappho bei Melitta eine Nähe, die ohnehin 31 Vgl. Walter Seitter, Unzeitgemäße Aufklärung. Franz Grillparzers Philosophie, Wien, Berlin 1991, 24. Entscheidend ist natürlich Kants Einfluss; siehe dazu Fritz Störi, Grillparzer und Kant, Frauenfeld, Leipzig 1935 sowie Ulrich Fülleborn, Das dramati­ sche Geschehen im Werk Franz Grillparzers, München 1966, 305 ff. 32 Allerdings hat Grillparzer das φιλήσει in V. 23 der Ode an Aphrodite keineswegs als »küssen« übersetzt, was, wie Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff zu Recht betont (Sappho und Simonides, Berlin, Zürich, Dublin 21966, 76), für die Sprache der Zeit noch nicht statthaft wäre, sondern als »lieben« (V. 450). Doch aus der Geliebten (V. 24 bei Sappho ist eindeutig) wird ein Geliebter. – Die Abhandlung von Friedrich

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bei einer Sklavin nicht angemessen ist. Aber selbst eine Freundin auf die Schönheit des eigenen Verlobten hinzuweisen (vgl. V. 321 ff.), ihr, wenn sie nicht beistimmt, eine »Leben-leere Brust« vorzuwerfen (V. 326), von der Großartigkeit der eigenen Liebe zu erzählen (vgl. V. 355 ff.) und gleichzeitig zu bekennen, man könne den eigenen Gelieb­ ten wohl nicht glücklich machen (vgl. V. 370 ff.), da man durch eine Kluft von ihm getrennt sei (vgl. V. 394 ff.), ist nach alter Lebenser­ fahrung nicht sehr klug. Sapphos Verhalten zeigt nochmals, dass sie bar aller ›normalen‹ weiblichen Instinkte ist: »Sie begeht dabei eine Dummheit nach der anderen«.33 Zwar erkennen Melitta und Phaon an, dass Sappho wesentlich gut ist (vgl. V. 672, 1795 ff.; 1747), und in der Tat sagt nicht nur Rhamnes (vgl. V. 1859 ff.), sondern auch zahl­ reiche ihrer Reaktionen (vgl. V. 1051 ff., 1327 f.34 und die Regiean­ weisung nach 1585) belegen, dass Sappho eine große Fähigkeit zur Empathie hat und, vielleicht gerade weil sie selber viel gelitten hat, anderen Menschen keine Schmerzen zufügen möchte. Ihre Bedro­ hung Melittas mit dem Dolch ist eine einmalige Entgleisung – anders wohl diejenige Rhamnes’ durch Phaon (vgl. V. 1406 f., 1449 ff.). Gleichzeitig ist ihre Freundschaft deswegen eine Bürde, weil sie ers­ tens, wie im fünften Auftritt des dritten Aufzugs, durch enorme Stim­ mungsschwankungen charakterisiert ist und weil sie zweitens unver­ meidlich asymmetrisch ist: Sie betrachtet nicht nur Melitta, sondern auch die freien Mädchen, die sie erzieht, als ihr »Werk« (vgl. V. 751, 1244) und kann nichts von Melitta annehmen (vgl. V. 1131, 1953 f.). Analog will sie Phaon »auf den Fittigen des Ruhms / Hinüber in der Nachwelt lichte Fernen tragen« (V. 1227 f.). Dass sich das »Werk« gegen diese tief empfundene Abhängigkeit auflehnt (vgl. V. 1788 ff.), ist verständlich; aber es bleibt trotzdem wahr, wie Rhamnes am Ende Phaon sagt, dass letzterer sich in Melitta nur verlieben konnte, weil Gottlieb Welcker, Sappho von einem herrschenden Vorurtheil befreyt, Göttingen 1816 (wiederabgedruckt in: Kleine Schriften zur Griechischen Litteraturgeschichte II, Bonn 1845, 80–144) trug viel dazu bei, Sapphos Liebesgedichte als nicht sexuell inspiriert zu lesen. Das war relativ neuartig; frühere Vorstellungen finden etwa ihren Ausdruck in Nicolai Abildgaards Gemälde Den græske digterinde Sappho og mytilenerinden von 1809 (im Statens Museum for Kunst in Kopenhagen; reproduziert in: Helmut Bachmaier, Franz Grillparzer, Salzburg 1980, 52). 33 Heinz Politzer, Franz Grillparzer oder das abgründige Biedermeier, Wien, München, Zürich 1972, 93. 34 Hier sogar um den Preis des Selbstwiderspruchs; siehe Joachim Kaiser, Grillparzers dramatischer Stil, München 1961, 62.

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sie Sapphos »Werk« ist (vgl. V. 1872), und dass ebenso auch sein eigener Trotz nur durch sie möglich geworden ist (vgl. V. 1826 ff., 1857 f.). Phaon und Melitta finden einander nicht nur, aber doch auch, weil sie sich beide gegen Sapphos unaufhebbare Überlegenheit auf­ lehnen – und bleiben gerade dadurch in ihrem Bann. Phaon bildet sich ein, in Melitta, in der Sprache von Platons Symposion, seine andere Hälfte gefunden zu haben (vgl. V. 1421 ff.), aber Rhamnes’ düstere Vorahnungen (vgl. V. 1851 ff.) lassen den Leser nicht an eine glückli­ che Beziehung beider glauben, trotz Sapphos Segen am Ende (vgl. V. 2026).35 Sappho dagegen gelingt es, ihre Integrität wiederzugewinnen – doch nur durch den endgültigen Verzicht nicht nur auf ihre Sehnsucht nach dem Leben, sondern auf das Leben selbst, das in ihren Augen notwendig durch Verrat (vgl. V. 945, 1093, 1509, 1524, 1722) und Undank (vgl. V. 1206 ff., 1290 ff.) verunreinigt ist. Schon im dritten Aufzug erkennt Sappho, dass eine Synthese von Kunst und Leben nicht möglich ist: Wen Götter sich zum Eigentum erlesen, Geselle sich zu Erdenbürgern nicht, Der Menschen und der Überird’schen Los Es mischt sich nimmer in demselben Becher, Von beiden Welten Eine mußt du wählen, Hast du gewählt, dann ist kein Rücktritt mehr! (V. 948 ff.)

Im vierten Aufzug will sie »von jedem Pfad des Lebens rauh geschie­ den« (V. 1259) sein und beklagt, aus »der Dichtung Auen« (V. 1272) auf die Erde hinabgestiegen zu sein. Sicher hat ihre Rückwendung zur Dichtung, in deren Ornat sie am Ende wie zu Beginn des Dramas erscheint, etwas von der Abkehr des Fuchses, dem die Trauben des Lebens, von Freundschaft und Liebe (vgl. V. 958 ff.), zu sauer sind. Aber angesichts der Tatsache, dass es tatsächlich Sappho und keines­ wegs Phaon ist, die einen Titel auf Unsterblichkeit hat (vgl. V. 1834 ff.), eignet ihrer Entscheidung Würde. Da Phaon sich als treulos, ja, zeitweise sogar als brutal erwiesen hat – seine Verleumdungen Sapphos zeigen (vgl. V. 1427ff., 1602 f., 1652, 1683 ff., 1758), wie wenig er von ihr begriffen hat –, und da Melitta, die an der Katastrophe 35 Armin Gebhardt ist zu optimistisch, wenn er schreibt: »Phaon und Melitta, Mann und Frau aus dem Volke, sind Kandidaten auf gemeinsames Lebensglûck.« (Armin Gebhardt, Franz Grillparzer und sein dramatisches Werk, Marburg 2002, 40)

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weniger Schuld hat (vgl. V. 1867), letztlich »albern« ist (V. 966),36 bleibt Sappho trotz des Fehlgriffs, den sie mit der Wahl Phaons getrof­ fen hatte,37 eindeutig überlegen. War anfangs die Liebe stärker als der Stolz (vgl. V. 1017 f.), hüllt sich Sappho, die zeitweise sogar ihre Spra­ che verliert (vgl. V. 1661 ff.), nun in ihren Stolz ein. In der zweiten Hälfte wird dieser ihr Zug mehrfach hervorgehoben – dreimal von Phaon (vgl. V. 1153, 1172, 1755), einmal von Melitta (vgl. V. 1795). In der Schilderung der Eucharis gewinnt Sappho bei ihrer Vorbereitung auf den Tod nahezu göttliche Attribute – sie scheint eine Götterstatue zu sein (vgl. V. 1907), die plötzlich durch eine höhere, fremde Macht bewegt wird (vgl. V. 1917, 1920). Die Götter, die sie vor sich selber schützen sollten (vgl. V. 1219), ergreifen von ihr Besitz – und es ist nicht klar, ob dies primär Erhöhung oder Vernichtung ihres Selbst bedeutet. Wer sie jetzt sah, zum erstenmale sah, Auf des Altares hohen Stufen stehend, Die Leier in der Hand, den Blick gehoben, Gehoben ihre ganze Lichtgestalt, Verklärungsschimmer über sie gegossen, Als Überird’sche hätt’ er sie begrüßt, Und zum Gebet gebeugt die schwanken Kniee. (V. 1937 ff.)

Der Preis der Vergöttlichung ist hoch – bei den Beobachtern löst er »Schauder […] und Graun« aus (V. 1945).38 Und bei Sappho? Einer­ seits scheint sie sich selbst gefunden zu haben. Hatte sie nach Phaons Verrat gefragt »Bin ich denn noch, und ist denn etwas noch?« (V. 1189), kann sie ihm nun mit Verachtung zurufen: »Ich suchte dich und habe mich gefunden!« (V. 1960). Aber die Stabilisierung des eigenen Selbst durch den endgültigen Verzicht auf die Öffnung zum anderen ist andererseits deswegen prekär, weil sie mit den vitalen Bedürfnissen des Menschen nicht kompatibel ist. Wer am Leben und der Liebe nur nippen, aber nicht trinken kann (vgl. V. 1995 ff.), muss unweigerlich verdursten. Sapphos »lebend toter Blick« ist entsetzlich (V. 1946), und So auch Grillparzer im Gespräch mit Robert Zimmermann (vgl. 2.746). Da die Hero von Grillparzers Des Meeres und der Liebe Wellen manchen Zug mit Sappho teilt, fragt man sich, ob die Beziehung zu Leander glücklich hätte werden können, wenn er nicht ertrunken wäre. 38 Zur Funktion der Rede der Eucharis, die abweiche von der des klassischen Botenberichtes, siehe Robert Pichl, Dualismus und Ambivalenz. Die Dramenschlüsse Schillers und Grillparzers als Indizien individueller Vorgangsgestaltung, Wien, Stuttgart 1972, 130. 36

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ihre Unberührbarkeit, die ihrer Heiligkeit entspringt (vgl. V. 1956 f.), umleuchtet sie zwar mit göttlichem Glanz (vgl. V. 2023 f.), kann aber nur im Verlassen der Erde und der Rückkehr zu den Göttern enden (vgl. V. 2040 f.), von der Melitta nur vage geschwatzt hatte (vgl. V. 588 f., 617). Sapphos Abschied von Phaon, den sie als »ein Freund aus fernen Welten« auf die Stirn küsst, und von Melitta, zu der sie sich, noch lebend, als »tote Mutter« verhält (V. 2019 f.), hat etwas Gespens­ tisches – das heißt, wir erleben Geist ohne Leben. Indem sie die Flucht nach vorne antritt und sich Phaons Rechtfertigung seines Wechsels zu Melitta zu eigen macht, »Den Menschen Liebe und den Göttern Ehrfurcht« (V. 1782 und 2025), stilisiert sich Sappho zwar als Göttin, aber sie muss sich gleichzeitig damit abfinden, dass sie von der für die erotische Grunderfahrung des Lebens so bezeichnenden Wechselsei­ tigkeit für immer ausgeschlossen ist. Ihre Sehnsucht nach der Geist­ losigkeit des Lebens wird von ihr als Schuld gedeutet (vgl. V. 2027) – ganz so wie Phaon ihr erklärte: Mit Höhern, Sappho, halte du Gemeinschaft, Man steigt nicht ungestraft vom Göttermahle Herunter in den Kreis den Sterblichen. Der Arm, in dem die goldne Leier ruhte, Er ist geweiht, er fasse Niedres nicht! (V. 1726 ff.)

Nicht nur Melitta und Phaon bleiben im Banne Sapphos, auch sie unterwirft sich letztlich Phaons Deutungshoheit.

II. Die Ähnlichkeit der Dreiecke Tonio Kröger – Hans Hansen – Inge­ borg Holm und Sappho – Phaon – Melitta liegt auf der Hand. Aus­ gangspunkt beider Dreiecke ist eine Künstlerpersönlichkeit, die eine unglückliche Liebe bzw. Freundschaft zu zwei Menschen empfindet, die ihr geistig unterlegen sind, nach deren einfacher Vitalität sie sich allerdings sehnt. Die Geschichte endet damit, dass die beiden von ihr Geliebten einander – wenn auch in sehr unterschiedlicher Form – finden, während der Künstler alleine zurückbleibt, aber die beiden segnet. Dies ist, in der Terminologie Edward Morgan Forsters, die gemeinsame »story« beider Werke. Allerdings ist, wie Forster zu Recht schreibt, die »story« (die er vom »plot« unterscheidet) das

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Dürftigste an einem Roman;39 und Analoges gilt für die Fabel eines Dramas. Entscheidend ist, was der Dichter aus ihr macht. Die erste Differenz, die ins Auge fällt, betrifft das Ende der Fabel bzw. der »story«: Sappho tötet sich, Tonio Kröger geht zwar am Schluss durch eine schmerzliche Krise, vermag sie aber produktiv zu bewältigen und aus ihr Kraft für seine Dichtung zu beziehen. Das hat zweitens mit dem ganz unterschiedlichen Genre zu tun, zu denen die zwei Werke gehören. Keineswegs alle Dramen Grillparzers sind durch die Einheit der Zeit bestimmt; König Ottokars Glück und Ende etwa erstreckt sich über viele Jahre. Aber Sappho spielt, wie die meisten griechischen Tragödien (von denen sie sich freilich durch ihre Handlungsarmut unterscheidet), an einem einzigen Tag.40 Sappho hat also gar nicht die Zeit, ihre Enttäuschung zu verarbeiten. Eine Erzählung verfügt über Zeit in einem ganz anderen Maße als das klassische Drama, und Tonio ist am Anfang vierzehn, am Ende »ein wenig jenseits der Dreißig«41 (also sogar älter als sein Autor); seine dargestellte Entwicklung umfasst damit knapp zwei Jahrzehnte. In ihnen lassen sich Wunden lecken. Ein dritter Unterschied betrifft das Figureninventar. Zwar ist es in beiden Werken sparsam, wobei naturgemäß die Novelle Nebenfi­ guren wie Erwin Jimmerthal, Magdalena Vermehren, François Knaak usw. einführen kann, denen in dem Drama nichts entspricht. Aber die wichtigsten Personen sind in beiden Werken die jeweils drei schon genannten. Dazu kommen in Sappho die treuen Diener Rhamnes und Eucharis, in Manns Erzählung dagegen Lisaweta Iwanowna. Diese Differenz ist von großer Bedeutung. Einerseits spiegelt sie den sozialen Wandel des 19. Jahrhunderts. Ich sage: des 19. Jahrhunderts, weil Grillparzers Figuren, wie schon gesagt, bewusst anachronistisch sind. Wie Melitta hätte sich keine griechische Sklavin benehmen können, und Rhamnes ist bestenfalls eine Figur des Ancien Régime, seiner eigenen Würde, aber auch der seiner Herrin bewusst und von rührender Treue.42 Derartige Figuren verschwinden im Laufe des 19. Jahrhunderts; man findet sie noch in Fontanes Gegenwartsroma­ 39 Edgar Morgan Forster, Aspects of the Novel, San Diego, New York, London 1955, 25 ff. 40 Sappho ahmt die klassische Tragödie in vielen Einzelheiten nach, etwa durch die fünf Akte, die Peripetie im dritten usw. 41 Ich zitiere nach: Thomas Mann, Die Erzählungen, Bd. 1, Frankfurt 1975. Dort: 221. 42 Zu Recht schreibt Raoul Auernheimer, Franz Grillparzer. Der Dichter Österreichs, Wien 1948, 57: »der treue, so österreichisch anmutende Haushofmeister Rhamnes«.

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nen (später auch in historischen Romanen; man denke an Jacques alias Franz Xaver Joseph Kromichl in Joseph Roths Radetzkymarsch), aber sie spielten schon in Manns Leben keine Rolle mehr. Das ist andererseits nicht nur bedauerlich; denn »Dienertreue ist schön, aber Elternliebe ist besser«, wie Dr. Rummschüttel in Kap. 34 von Fontanes Effi Briest schreibt.43 Die konstitutive Asymmetrie der Herr-DienerBeziehung kann kein Ersatz für ersehnte Liebe sein, die Freundschaft Tonios mit Lisaweta durchaus. Zwar hat ihre Freundschaft keine erotischen Untertöne (es ist nicht explizit ausgeschlossen, dass sie sich später einmal entwickeln können, aber sie scheinen von keiner Seite angestrebt zu werden), und Tonio verhält sich etwas steif, wenn er sie aufsucht, was die russische Malerin erheitert, die nicht ständig bewiesen haben will, dass Tonio eine gute Kinderstube genossen hat. Doch er hält sie für seine Freundin, »der er alles sagt[e]« (221). Mit ihr kann er über sich reden, ihr wird er am Ende schreiben. Das lange theoretische Gespräch im vierten und der Brief im neun­ ten Kapitel sind nicht nur Haltepunkte der Reflexion, in denen der Held das Erlebte zu begreifen sucht und die die Novelle tetradisch gliedern;44 derartige Überlegungen über die eigene Sonderstellung finden sich auch in Sapphos Monologen. Sie sind außerdem Formen symmetrischer Intersubjektivität, und diese sind Sappho versagt. Allerdings ist nicht nur im Brief unvermeidlich Tonio mitteilsamer als Lisaweta; auch im vierten Kapitel stammt der Löwenanteil des Gesagten von ihm, dem redseligen Schriftsteller. Aber auch eine schweigende Malerin ist viel wert, wenn sie eine gute Zuhörerin ist; und im kurzen fünften Kapitel, das sowohl hinsichtlich der Kapitelals auch der Seitenzahl genau das Zentrum des Textes bildet, vermag es Lisaweta, Tonio die entscheidende Frage zu stellen, nämlich über welche Route er nach Dänemark zu reisen gedenke. Tonios Erröten und seine Umschreibung seiner Heimatstadt (»ich berühre meine – meinen Ausgangspunkt«, 232) zeigen, dass er ihr zwar nicht von selbst »alles sagt«, aber doch ihren Fragen nicht ausweicht. Der vierte Unterschied zwischen beiden Werken betrifft den Erfolg der beiden Helden als Künstler. Sappho ist paradoxerweise 43 Theodor Fontane, Sämtliche Werke Bd. VII. Frau Jenny Treibel. Effi Briest, München 1959, 410. 44 Es gibt verschiedene Weisen, die Erzählung einzuteilen, u.a mit Bezug auf die Sonatenform; siehe den Überblick bei H.R.Vaget, Thomas Mann – Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, München 1984, 118 sowie bei H.Wiegmann, Die Erzählungen Thomas Manns. Interpretationen und Realien, Bielefeld 1992, 104 ff.

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deswegen viel verletzlicher als der junge Tonio, weil sie schon eine berühmte Künstlerin ist; als Frau nähert sie sich zudem dem Alter, in dem sie zumindest aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts aufhört, begehrenswert zu sein. Sie kann sich also nicht damit trösten, dass in Zukunft alles besser werden könne. Der 14- bzw. 16jährige Tonio hat hingegen noch Möglichkeitsräume vor sich (vgl. 218), die die Zurückweisung seiner Liebe leichter ertragen lassen. Er kann es seinen Mitschülern und Lehrern nicht wirklich verargen, dass sein Ansehen bei ihnen durch seine selbstgeschriebenen Verse Schaden gelitten hat; denn erstens ist seine Verfasserschaft »durch sein eigenes Verschulden bekannt geworden« (207); und zweitens teilt das väter­ liche Erbe in ihm im Grunde deren Missbilligung. Und drittens dürfen wir vermuten, dass die Verse so gut noch nicht waren; zumindest genossen sie anders als diejenigen Sapphos noch keine allgemeine Anerkennung. Allerdings antizipiert Tonio den späteren Ruhm und erkennt, dass ihm auch der nicht helfen würde, Ingeborg Holms Aufmerksamkeit zu erregen. Man würde vielleicht einmal aufhören zu lachen! Hatte etwa nicht kürzlich eine Zeitschrift ein Gedicht von ihm angenommen, wenn sie dann auch wieder eingegangen war, bevor das Gedicht hatte erscheinen können? Es kam der Tag, wo er berühmt war, wo alles gedruckt wurde, was er schrieb, und dann würde man sehen, ob es nicht Eindruck auf Inge Holm machen würde. […] Es würde keinen Eindruck machen, nein, das war es ja. (217)

Und nach der Begegnung mit ihrem dänischen Äquivalent fragt sich der inzwischen recht erfolgreiche Tonio: Und würdest du auch heute noch lachen, nun da ich doch so etwas wie ein berühmter Mann geworden bin? Ja, das würdest du und würdest dreimal recht daran tun! Und wenn ich, ich ganz allein, die neun Symphonien, ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹ und ›Das Jüngste Gericht‹ vollbracht hätte, – du würdest ewig recht haben zu lachen. (253)

Allerdings scheint Kröger sich hier zu irren. Der bürgerliche Vertreter des Lebens mag über den Künstler innerlich lächeln; laut lacht er in der Regel nicht, da seine eigene Respektabilität davon abhängt, dass er an den Schöpfungen der Kultur rezeptiv teilhat. Grillparzer ist realistischer: Phaon liebt von Anfang an Sapphos Lyrik, und auch am Ende, da er verstanden hat, dass er ihre Person nicht liebt, will er sie weiterhin verehren. Tonios Phantasien von Inges Lachen werfen

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mehr Licht auf seine eigenen Selbstzweifel als auf das Verhältnis des Bürgers zur Kunst. Und doch haben sie zu tun mit einem epochalen Wandel im Begriff der Kunst. Ich erwähnte erst Tonios väterliches Erbe. In der Tat weicht – fünftens – Tonios Künstlernatur markant von derjenigen Sapphos ab. Wie sein Name schon andeutet, ist Tonio Kröger, ähnlich seinem Autor, eine Mischung zweier Welten, des protestantischen Nord­ deutschlands und des sinnlichen Südamerikas (»ganz unten auf der Landkarte«, 208), der Sohn Konsul Krögers und einer feurigen Con­ suelo, die sich nur ein Jahr nach ihrer Verwitwung neu vermählt, »und zwar mit einem Musiker, einem Virtuosen mit italienischem Namen, dem sie in blaue Fernen folgte. Tonio Kröger fand dies ein wenig liederlich; aber war er berufen, es ihr zu wehren?« (219) Tonio hat also neben der Künstlerader in sich das Prinzip des Lebens, nach dem er sich sehnt (255); der Gegensatz beider Prinzipien in seinen mannig­ fachen Ausprägungen durchzieht bekanntlich die ganze Novelle, aber eben auch die Seele ihres Helden, für die vermutlich der gefangene Tiger, der an Rilkes Panther erinnert, ein Symbol ist (241, 243). Das bedeutet einerseits, dass Tonio seit seiner Kindheit an Spannungen leidet, die der vergleichsweise einheitlichen Sappho unbekannt sind, heißt aber andererseits auch, dass bei ihm eine Synthese denkbar ist, die Sappho konstitutionell versagt ist, auch wenn sie sie versucht. Teils erklären Tonios puritanische Momente seine tiefe Skepsis gegenüber der Kunst, teils tut es die Tatsache, dass er in Nietzsches Schule des Verdachts großgeworden ist. Der Nietzsche, den Tonio im Auge hat, ist der einzig erträgliche Nietzsche, der mittlere; für den Verehrer Cesare Borgias hat er, anders als der Bruder des Autors, wenig übrig (229). Sehen Sie, Lisaweta, ich hege auf dem Grunde meiner Seele – ins Geis­ tige übertragen – gegen den Typus des Künstlers den ganzen Verdacht, den jeder meiner ehrenfesten Vorfahren droben in der engen Stadt irgendeinem Gaukler und abenteuernden Artisten entgegengebracht hätte, der in sein Haus gekommen wäre. (225)

Die Geschichte vom kriminellen Bankier, der Novellen dichtet, und Tonios eigene Festnahme in seiner Geburtsstadt aufgrund der Ver­ mutung, er sei ein Betrüger, geben diesem Verdacht Kontur. Aber ein solcher Verdacht ist nur möglich im Zeitalter nachauratischer Kunst; nur wenn man von dem Glanz des Kunstwerks nicht mehr geblendet ist, mag man sich mit seinen oft fragwürdigen Entstehungsbedingun­

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gen befassen und diejenigen verachten, die nicht wissen, »daß gute Werke nur unter dem Druck eines schlimmen Lebens entstehen, daß, wer lebt, nicht arbeitet, und daß man gestorben sein muß, um ganz ein Schaffender zu sein« (220 f.). (Das Erfolgsgeheimnis von Tonio Kröger liegt natürlich darin, dass es selbst ein formal nahezu klassi­ sches Kunstwerk über das Problematische an der modernen Künst­ lerexistenz ist.) Sappho dagegen versteht sich selbst als Priesterin der Kunst – das gibt ihr Halt und Stärke, bedeutet aber auch, dass sie die Schuld der Abkehr von ihrer Bestimmung mit dem Tode büßen muss. Wer so eindeutig auf die Kunst bezogen ist wie sie, der kann die Liebe zum Leben nur als Fall, als pathologisch empfinden. Vielleicht hat Lisaweta etwas von ihrer Strenge; denn Tonio muss sie bitten, seine Liebe zum Leben nicht zu schelten (vgl. 256). Gleichzeitig scheint ihre russische Herkunft ihr eine instinktive Unbeirrbarkeit zu gewähren, die Sappho fremd ist. Um – sechstens – den Unterschied zwischen Grillparzers und Manns Kunstbegriff auszuloten, ist eine weitere Kategorie unabding­ bar: die des Formalismus. Die nachauratische Kunst hat keine reli­ giöse Fundierung mehr, wie sie Grillparzer nicht nur für seine Sappho, sondern auch für sein eigenes Werk annimmt.45 Das Leiden an der Erkenntnis hat sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum »Erkenntnisekel«, zu einer ironischen »Müdigkeit aller Wahrheit gegenüber« (227) gesteigert, die Nietzsches Radikalisierung von Schopenhauers Philosophie voraussetzt.46 Unter diesen Vorausset­ zungen wird die Kunst verspielt; sie genießt formale Strukturen ohne Rücksicht auf den Gehalt – sie wird seelenloser Geist, der sich über »die abscheuliche Erfindung des Seins« hinwegsetzt (227). Der Novellist Adalbert, der den Frühling verdammt und ins Café geht, weil er »die kleinste Pointe und Wirkung in Gelassenheit ausarbeiten« will (222), ist ein Beispiel dieser Artistik.47 Doch auch Kröger meint: Wenn Peter von Matt schreibt »Überzeugend ›versinnlicht‹ wird Sappho nur als Herrin und Priesterin – als Dichterin wird sie […] bloss bezeichnet« (Der Grundriss in Grillparzers Bühnenkunst, Zürich 1965, 17), übersieht er, dass ihre priesterliche Funktion der Kern ihrer Mission als Dichterin ist. 46 Vgl. meinen Aufsatz: Ethik des Erwählten und Metaphysik des Geistes und des Lebens. Zu Thomas Manns Philosophie, in: System der Philosophie? Festgabe für Hans-Dieter Klein, hg. v. Ludwig Nagl, Rudolf Langthaler, Frankfurt, Berlin, Bern u.a. 2000, 51–68 (siehe oben in diesem Band 243-264). 47 Mir scheint, dass es eine Novelle Adalberts ist, die Kröger in der Lübecker Volksbibliothek, seinem ehemaligen Elternhaus, in die Hände nimmt. Yasushi Sakurai 45

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Denn das, was man sagt, darf ja niemals die Hauptsache sein, sondern nur das an und für sich gleichgültige Material, aus dem das ästhetische Gebilde in spielender und gelassener Überlegenheit zusammenzuset­ zen ist. […] Das Gefühl […] ist immer banal und unbrauchbar. (223)

Um die Überwindung dieser leeren Geistigkeit geht es in der Erzäh­ lung – einer Geistigkeit, die keineswegs priesterlich-asketisch ist wie diejenige Savonarolas in Fiorenza, sondern mit raffinierter Sinnlich­ keit gepaart sein kann. So kam es nur dahin, daß er, haltlos zwischen krassen Extre­ men, zwischen eisiger Geistigkeit und verzehrender Sinnenglut hin und her geworfen, unter Gewissensnöten ein erschöpfendes Leben führte. (220)

Anders als in Sappho ist die Liebe zum »Leben« daher keine Gefähr­ dung der Kunst, sondern das, was ihr substantiellen Inhalt zu geben vermag. Zwar mag man seine Zweifel daran haben, ob Pferdenarren und blondzopfige und sommersprossige Gören wirklich ein angemes­ sener Ersatz für Gott als Fundament der Kunst sind, aber wenn sie aus dem Formalismus der décadence herausführen, sei ihnen manches nachgesehen. Tonio jedenfalls kann glauben, gerade im Wiederauf­ leben seiner Liebe zu ihnen eine Neubefruchtung seiner Kunst zu erkennen; er darf also gerade nicht den Felsen hinabspringen, sondern hat einen langen Aufstieg vor sich. Und es ist nicht nur seine anders gestaltete künstlerische Aufgabe, die ihn vor Sapphos Tod rettet. Seine Skepsis hinsichtlich seiner eigenen Berufung ebenso wie hinsichtlich der Legitimität der Kunst trägt zu den Verwirrungen seiner langen Jugend bei, gewährt ihm aber auch eine Lässigkeit, die vor tödlichen Verwundungen schützt. Tonio ist zu verspielt, um die Kunst wirklich so ernst zu nehmen, dass es sich lohnte, ihretwegen zu sterben. Freilich ist diese Verspieltheit selbst das Signum einer Künstlernatur, nun gleichsam in zweiter Potenz. (Tonio Kröger, in: Thomas Mann. Romane und Erzählungen, hg. v. Volkmar Hansen, Stuttgart 1993, 68–88, 75) vermutet zwar, es handle sich um Goethes Werther. Aber so sehr Manns Novelle mit Goethes erstem Roman wetteifert, scheint mir nicht nur die leitmotivisch wiederholte Wendung »Pointe und Wirkung« (237) auf Adalbert zu weisen; ich halte es für ausgeschlossen, dass Tonios herablassendes »Ja, das ist gut gemacht« auf ein Werk Goethes sich beziehen kann. – Die Leitmotivtechnik Thomas Manns ist ein gutes Beispiel für das, was Roman Jakobson als das Wesen der poetischen Funktion der Sprache ansieht, nämlich Parallelismen, d.h. rekurrente Sprachstrukturen (wie Metren oder Reime).

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Der siebte Unterschied zwischen Sappho und Kröger betrifft die sexuelle Orientierung des letzteren. Wir haben schon gesehen, dass Grillparzers Sappho keine lesbischen Beziehungen pflegt, auch wenn ihr Bedürfnis nach Nähe zu Melitta sehr weit geht. Tonio Krögers Erotik ist komplexer. Zwar wird kein sexueller Akt geschildert; nur generisch heißt es im dritten Kapitel: »Aber da sein Herz tot und ohne Liebe war, so geriet er in Abenteuer des Fleisches, stieg tief hinab in Wollust und heiße Schuld und litt unsäglich dabei.« (219) Das ist mit allerlei Vorlieben kompatibel, aber es wird in Übereinstimmung mit Krögers Ästhetik der Indirektheit nicht ausgeführt48 – anders als Tonios »Lust der Seele« (220), die sich sowohl auf Hans Hansen als auch auf Inge Holm richtet. Emotional gesehen ist Kröger offenbar bisexuell, aber da die mit der Seelenlust verbundene Seligkeit keusch ist (213, 254, 256), heißt das keineswegs, dass er beide Formen von Sexualität ausgelebt hat – ebensowenig wie sein Autor, der seine prävalente Homosexualität, soweit wir wissen, nur in Flirts, intensi­ ven Freundschaften – zur Zeit der Abfassung von Tonio Kröger (1899– 1902) mit dem Maler Paul Ehrenberg – sowie in Tagebuchnotizen befriedigt hat.49 Nun muss man sich im Prinzip davor hüten, Sachver­ halte, die für einen Autor gelten, auch auf seine Helden zu übertragen (oder den Umkehrschluss zu vollziehen). Doch da die fragwürdigen Entstehungsbedingungen der Kunst selbst ein Thema der Novelle sind, ist in diesem Falle die Versuchung besonders naheliegend, letztere autobiographisch zu lesen. Mann hatte keine sehr lebhafte Phantasie; er arbeitete gewöhnlich Selbsterlebtes aus. Und in der Tat wissen wir, dass der Jugendfreund Armin Martens für Hans Hansen Pate gestanden hat. Während das Vorbild Magdalena Vermehrens eine reale Magdalena Brehmer war, kennen wir keines für Inge Holm; 48 Marcel Reich-Ranicki irrt, wenn er aus dem Kastratenvergleich (224) einen Hin­ weis auf eine homosexuelle Neigung Tonio Krögers herauszulesen versucht: »Die Frage nach der Richtung seiner Sexualität bleibt nicht unbeantwortet.« (Thomas Mann und die Seinigen, Stuttgart 1987, 106) Denn Kastraten sind, wenn sie rechtzeitig kastriert werden, oft, nicht immer asexuell, und die Kastration hat keinen Einfluss auf ihre sexuelle Orientierung. 49 Nach der in Anm. 10 erwähnten Sappho-Aufführung im Prinzregententheater notiert sich Mann: »Herr Reimers hat schöne Beine, ist aber sehr dumm.« (445) Das kann sich nur auf den Phaon-Darsteller Walther Reymer beziehen (vgl. Jürgen Schlä­ der, Robert Braunmüller, Tradition mit Zukunft. 100 Jahre Prinzregententheater Mün­ chen, Feldkirchen 1996, 296; ich danke Wiebke Schmidt für einen entsprechenden Hinweis). Ebenso deutlich wie die erotische Anziehung ist die Verachtung, deren Stärke offenbar größer ist als bei Tonio.

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und Hermann Kurzke vermutet in seiner vorzüglichen, zu Recht ins Englische übersetzten Biographie, »daß die Schwärmerei für Inge auch die versetzte Gestaltung eines homoerotischen Erlebnisses sein könnte«.50 Tonios Schwärmen für Inge ist dagegen ehrlich; da aber die Liebe zu Hans Hansen erhalten bleibt, haben wir Grund anzunehmen, dass der Held der Novelle in seiner sexuellen Orientierung bis zum Ende unentschieden ist. Nun sind Homo- und Bisexualität um 1900 keine einfache Sache gewesen; sie steigern die Verletzlichkeit des einen geistlosen Menschen Liebenden beträchtlich. Schwerlich mit gewollter Anspielung auf seine schwankende sexuelle Orientierung, doch nichtsdestoweniger brutal nennt Knaak Tonio, der moulinet des dames tanzt, »Fräulein Kröger« (216). Auch wenn Tonios Neigung für Hans das Skandalöse der Passion Gustav von Aschenbachs abgeht, da sie leicht als eine weitverbreitete Verirrung der Knabenjahre klassifiziert werden kann, ist doch Mann erstaunlich deutlich. Die Sache war die, daß Tonio Hans Hansen liebte und schon vieles um ihn gelitten hatte. Wer am meisten liebt, ist der Unterlegene und muß leiden – diese schlichte und harte Lehre hatte seine vierzehnjährige Seele bereits vom Leben entgegengenommen. (207)

Tonios Liebe ist einerseits in Hans’ Schönheit, andererseits in seiner Andersheit begründet (vgl. 208). Faszinierend ist jedoch, wie Tonio sich Hans gegenüber zugleich öffnet und schützt. Wenn er ihn, der Pferdebücher vorzieht, mit dem Hinweis auf König Philipps Tränen zur Lektüre von Schillers Don Carlos animieren will, spricht er impli­ zit von der eigenen Verwundbarkeit; und in der Tat wird der Verrat Posas unmittelbar darauf von Hans wiederholt, der nach dem Erschei­ nen Erwins seinen Bewunderer plötzlich mit Nachnamen anredet. »Ich nenne dich Kröger, weil dein Vorname so verrückt ist.« (211) Und doch ist es gleichzeitig bemerkenswert, dass ein Knabe sich nicht mit 50 Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, München 1999, 62. Kurzke sieht, ver­ einfacht gesprochen, Manns literarisches Schaffen als eine artistische Ersatzbefriedi­ gung seiner Homosexualität. So verberge sich etwa hinter der Liebe der alternden Rosalie von Tümmler (die wie Sappho einen jüngeren Mann liebt) in seiner letzten Erzählung Die Betrogene Manns eigene Begierde nach jungen Männern (578 ff.). Das mag sehr wohl sein, aber m.E. hat auch Cesare Cases recht, der Rosalie als »grotesk« bezeichnet und in dieser Erzählung eine Art später Rache an Ingeborg Holm zu sehen scheint: »In Rosalie la Ingeborg Holm del Kröger è invecchiata di trent’anni.« (Saggi e note di letteratura tedesca, Torino 1963, 156) Hübsche, aber banale Menschen verbrin­ gen nicht immer ein glückliches oder würdiges Alter. Immerhin stirbt Rosalie einen würdigen Tod.

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Posa oder Don Carlos (deren Beziehung zudem homoerotische Züge hat), sondern mit dem König identifiziert – man denkt an Grillparzers Neigung für den Rudolf II. von Ein Bruderzwist in Habsburg (»Aus Spanien komm’ ich, aus gar harter Zucht«, V. 2424). Die Flucht in die Etikette, die Form, den Luxus erscheint schon dem jungen Tonio als ein Ausweg aus der Verletzlichkeit; und der erwachsene Dichter wird ihn benutzen, wenn er stets elegant gekleidet ist (vgl. 223) und mit Komfort reist – »denn er pflegte zu sagen, daß jemand, der es innerlich so viel schwerer hat als andere Leute, gerechten Anspruch auf ein wenig äußeres Behagen habe« (232). Sappho dagegen flüchtet sich nur in ihr Dichterkostüm. Aber der entscheidende Unterschied betrifft – achtens – den ontologischen Status des Sich-Findens der beiden geistlosen Liebha­ ber. In Sappho ist ihre wechselseitige Liebe so real wie der Rest, wie in einem Drama in der Regel zu erwarten ist (immerhin ist der dritte Akt von Faust II ein bedeutendes Gegenbeispiel). Das eigentlich Heimtückische am achten Kapitel von Tonio Kröger ist freilich, dass der Leser erst nach einer Weile bemerkt, dass Hans Hansen und Ingeborg Holm nur in Tonios Phantasie ein Paar geworden sind. Schon dass die beiden Jugendfreunde Tonios zusammen mit einer dänischen Gruppe auftreten, ist überraschend; doch ist Dänemark so weit von Lübeck nicht (und noch kurz vor Manns Geburt war die Grenze sehr nahe). Aber die Verwendung des Verbes »geschehen« ist ein Alarmzeichen: »Da geschah dies auf einmal: Hans Hansen und Ingeborg Holm gingen durch den Saal.« (247) Ein Alarmzeichen ist es, weil wir in Kapitel 2, als Tonio vergeblich auf Inge wartete, gelesen hatten: »Dergleichen geschah nicht auf Erden.« (217; wiederholt 254) Soll also nun geschehen, was auf Erden nicht geschieht? Keineswegs; denn wir hören später, dass die als Ingeborg Holm Bezeichnete »vielleicht seine Schwester« war (252). Aber die Ingeborg Holm des zweiten Kapitels ist nicht die Schwester des Hans Hansen des ersten Kapitels. Das heißt, wie oft betont, dass die beiden Figuren keinesfalls identisch sind mit den Figuren aus Tonios Jugend. Es handelt sich um zwei Dänen, die an Hans und Ingeborg erinnern, »nicht so sehr vermöge einzelner Merkmale und der Ähnlichkeit der Kleidung, als kraft der Gleichheit der Rasse und des Typus, dieser lichten, stahlblauäugigen und blondhaarigen Art« (251). Und das heißt: Die Paarung der beiden Jugendgeliebten ist nicht eine Demütigung, die die Wirklichkeit Tonio aufzwingt, sie ist eine Phantasmagorie, in der

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der Dichter seine schöpferische Souveränität manifestiert.51 Und sie ist nicht einmal besonders großzügig, weil die beiden »vielleicht« nur Geschwister sind, also keineswegs notwendig ein Liebespaar, was Eifersucht freisetzen könnte. Sie lösen Jugenderinnerungen aus, in denen der Dichter schwelgen kann; sie sind Material, das das Innenleben Krögers anstößt. Nicht mehr. Dagegen kann man einwenden, dass die Nicht-Identität der bei­ den Paare noch lange kein Argument gegen ihre ontologische Rele­ vanz sei. Schopenhauers eigenwillige Metaphysik hat bekanntlich platonische Momente, und der von Mann verwendete Terminus »Typus« suggeriert, dass nicht eigentlich das Individuum zählt, son­ dern eine allgemeine Struktur, die in verschiedenen Individuen instantiiert wird.52 In der Tat entspricht der Postadjunkt dem Ballett­ meister Knaak, und auch Magdalena Vermehren kehrt wieder in Gestalt der jungen Dänin mit »der flachen Brust« und »schwarzen, schwimmenden Augen« (252). Auch sie ist an Kröger interessiert, und als auch sie hinfällt (vgl. 215, 217, 229), hebt er sie sachte auf (253 f.) – eine neue und vermutlich die einzige wirklich altruistische Geste der ganzen Novelle. Aber so berechtigt der Verweis auf Schopenhauer ist, so sehr lässt sich der Vorwurf erneuern, dass dies an der ontolo­ gischen Defizienz der Individuen nichts ändere. Was für Mann zählt, sind Strukturen, die sich wiederholen, und was der Geist des Künstlers aus ihnen macht. Dessen Liebe interessiert Mann, nicht das von ihm Geliebte – die Noesis, nicht das Noema. Phaon und Melitta werden schuldig – darin liegt ihre Ehre, und Sappho kann ihnen vergeben. Aber die reale Ingeborg und der reale Hans interessieren Kröger letzt­ lich ebensowenig wie ihre dänischen Pendants (auch Martens hatte bald schon Mann zu interessieren aufgehört); schon der junge Tonio hat ja erfahren, wie schnell seine Liebe erlosch (218). Verdrängt der in den Kissen schluchzende Dichter viele Jahre später die Tatsache, dass er bald wieder seine Achseln zucken und sich anderen Reprä­ sentanten des Typus zuwenden wird? Ist die Art, wie er auf das Erleb­ nis in Aalsgaard reagiert, wirklich ein Überschreiten der Gefühlskälte, Zur Träumernatur Krögers treffend Hellmut Haug, Erkenntnisekel. Zum frühen Werk Thomas Manns, Tübingen 1969, 51: »Die Not der Isolierung treibt den Träumer in den Widerspruch hinein, etwas wünschen zu müssen, dessen Voraussetzungen er doch keineswegs wünschen kann.« 52 Vgl. das 42. und besonders das 44. Kapitel des zweiten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung; in letzterem findet sich der Terminus »Typus«. 51

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die nach dem Gespräch mit Lisaweta notwendig zur Kunst gehört, und nicht vielmehr ihre subtile Bestätigung? Denn zumindest lassen sich seine bürgerlichen Gefühle nicht intersubjektiv mit den Vertretern des Lebens teilen.53 Mann ist ein großer Dichter des Geistes, enzyklopädisch gebildet und mit der weltgeschichtlichen Aufgabe betraut, den ›deutschen Geist‹ mit dem angelsächsichen Liberalismus zu versöhnen. Aber er ist, vielleicht mit Ausnahme der Buddenbrooks, kein großer Dichter des Lebens, weil ihn das Leben nur als Stimulans des Geistes inter­ essiert. Das hat sicher auch damit zu tun, dass seine Religiosität opa­ ker ist als diejenige Grillparzers, der davon ausgeht, dass das Seelen­ heil eines jeden Menschen, auch des Nicht-Intellektuellen, unbedingt zählt. Vermutlich hilft ein traditionelleres Christentum bei der Gestal­ tung nicht-geistiger Menschen (Manzoni, Dickens und Dostojewski sind gute Beispiele), und ein solches ist Thomas Mann zumindest in unserer Novelle fremd, trotz der Anspielung auf 1. Kor. 13 am Ende (vgl. 255 f.). Denn der intertextuelle Bezug ist in Wahrheit vermittelt, also Zitat eines Zitats; Mann hat weniger Paulus als Goethe im Sinne, der nach Eckermann am Weihnachtstag 1825 den ersten Korinther­ brief zitierte, um sich von Platens Homoerotik zu distanzieren.54 Kurzke hat vermutlich recht, dass hier Mann auf seine eigenen Hei­ ratsabsichten anspielt.55 Es geht auf jeden Fall nicht um eine religiöse Krise Krögers, der bis zum Ende durch und durch Künstler bleibt und sich für das Leben der anderen nur dann interessiert, wenn es seinen künstlerischen Zwecken nutzbar gemacht werden kann. Und wer wollte bestreiten, dass seinem Autor diese Funktionalisierung des Lebens für die Kunst allgemein und im besonderen Falle unserer Künstlernovelle glänzend geglückt ist?

Rolf Selbmann weist zu Recht auf Manns Kritik an Tonio Kröger hin (Wenn der Erzähler seinen Helden demontiert. Eine Neulektüre von Thomas Manns Erzählung Tonio Kröger, in: Wirkendes Wort 57 (2007), 269–277). Aber es handelt sich um (selbst)verliebte Kritik. Das gleiche Ende von Kap. 1 und Kap. 9, das Selbmann stark hervorhebt, kann auch so verstanden werden, dass der Autor schließlich bewusst zu seinen Anfängen zurückkehrt und das für sich wird, was er an sich – für den Erzähler – schon war. 54 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. v. Christian Michel unter Mitwirkung von Hans Grüters, Frankfurt 1999, 167. In der ersten Ausgabe ersetzte Eckermann Platens Name durch Sternchen, um ihn nicht zu verletzen. 55 Op. cit., 136. 53

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Der Geist als Nostalgiker des Lebens

Sappho jedoch spielt nicht mit dem Leben und der Liebe; und deswegen stirbt sie. Darin mag man je nach Stimmung eine Stärke oder eine Schwäche sehen. Eine Stärke, weil die Möglichkeit des Todes dem Leben erst Wirklichkeit gewährt, und eine Schwäche, weil der Selbstmord etwas von einer Flucht vor dem Leben hat, in dem allein Kunst geschaffen werden kann.56 In seiner Selbstbiographie erklärt Grillparzer, er habe den Vorwurf stets akzeptiert, er hätte in Sappho mehr die Frau als die Dichterin geschildert. Ich war nämlich immer ein Feind der Künstler-Dramen. Künstler sind gewohnt die Leidenschaft als einen Stoff zu behandeln. Dadurch wird auch die wirkliche Liebe für sie mehr eine Sache der Imagination als der tiefen Empfindung. Ich wollte aber Sappho einer wahren Leidenschaft […] zum Opfer werden lassen. (I 84)

Wahrscheinlich hätte Grillparzer Tonio Kröger und seinen Helden nicht geliebt, denn schon Bertha in Die Ahnfrau spricht negativ von »Menschen, die die Liebe lieben, / Aber nicht den Gegenstand« (V. 1053 f.). Aber er hätte sich mit Tonio identifiziert, denn in der Zeit seiner Liebe zu Katharina Fröhlich, wohl 1821, schreibt er an Georg Altmütter: »Ich bin der Liebe nicht fähig! […] Ich glaube bemerkt zu haben, daß ich selbst in der Geliebten nur das Bild liebe, das sich meine Phantasie von ihr gemacht hat.« (IV 762) Manche Dichter schreiben gegen das an, was sie sind, andere zelebrieren es. Beide können große Literatur schaffen, aber als Menschen sind sie schwerlich gleicherma­ ßen liebenswert.

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Vgl. Gerhard Baumann, Franz Grillparzer, Frankfurt, Bonn 1966, 47.

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Berufsethik der Geheimdienste und Krise der hohen Politik Philosophische Betrachtungen zum literarischen Universum von John le Carrés Spionageromanen im Allgemeinen und zu Absolute Friends im Besonderen1

Dass le Carré alias David John Moore Cornwell (1931–2020) einer der besten, wenn nicht gar der beste britische Schriftsteller der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, hat verschiedene Gründe. Er schreibt extrem spannend und, oft dank des Einsatzes des Stilmittels des understatement, zugleich enorm witzig. Seine stilistische Spannweite ist beträchtlich – er gibt die oft vulgäre Ausdrucksweise seiner Zeit­ genossen präzise wieder, imitiert gelegentlich deren Stil in seinen eigenen Aussagen, erhebt sich aber auch zu einzelnen und daher um so auffälligeren Stellen von hohem Pathos. Seine Erzähltechniken sind komplex, selten linear – in The Perfect Spy m.E. am vollendetsten und innovativsten, weil die beiden alternierenden Erzählstränge, die erst am Ende zur Deckung kommen, die gespaltene Persönlichkeit des Doppelagenten perfekt widerspiegeln. Le Carrés realistische und punktgenaue Schilderungen, die in ihrer sozialen Karikatur an die gro­ ßen gesellschaftskritischen viktorianischen Romane erinnern, sind zugleich von intertextueller Dichte, wobei er nicht nur seine eigene Nationalliteratur gut kennt, sondern – wie sein Held Smiley – als ausgebildeter Germanist auch mit der deutschen Geistesgeschichte gut vertraut ist. Seine politischen Analysen sind weltumspannend (auch wenn die außereuropäische Welt immer wieder klischeehaft dargestellt wird, in den Idealisierungen des Spätwerks nicht min­ der als in früheren schurkenhaften Gestalten wie dem Hongkonger Mafiaboss Drake Ko). Sie sind zugleich von ausgeprägter Sensibilität für Niedergangsphänomene und ihre psychologische Kompensation – le Carré hat schließlich eine Zeitlang als Geheimdienstagent einer 1 Ich danke meinem Freunde Jan-Lüder Hagens für die kritische Lektüre des Manu­ skripts und viele hilfreiche Hinweise.

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Berufsethik der Geheimdienste und Krise der hohen Politik

ehemaligen Weltmacht gearbeitet. Er kennt die Logik der Macht in allen Details, und seine politischen Werturteile gründen in einleuch­ tenden moralischen Prinzipien wie etwa der scharfen Ablehnung jedes Totalitarismus. Seine Charakterisierungskunst ist ganz vorzüglich – er hat Figuren wie Charlie (deren sprechender Name eigentlich Charmian ist) (The Little Drummer Girl), Magnus Pym (The Perfect Spy) und inbesondere den viele seiner Romane prägenden George Smiley geschaffen, die m.E. zum Pantheon der Weltliteratur gehören; und er hat auch bei Nebenfiguren eine erstaunlich sichere Hand bewiesen (im neuen Roman sei z.B. auf die über Jahre hinweg 29 Jahre alt bleibende Mrs. McKechnie und die Bankangestellten Frinck und Dr. Eisner verwiesen). Insbesondere aber hat es le Carré geschafft, einem Genre, das trotz vager Vorläufer bei Rudyard Kipling (Kim) und Joseph Conrad (The Secret Agent) erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts voll aufgeblüht ist, eine neue Wendung zu geben, ja es dadurch erst eigentlich literaturfähig zu machen. Man widme nur ein paar Stunden – mehr lohnt nicht – etwa Jack Higgins, um das unge­ heure literarische, moralische und intellektuelle Gefälle zu sehen, das le Carré von so vielen anderen Autoren von Spionageromanen trennt, ebenso wie Dostojewski von heute vergessenen Verfassern von Kriminalgeschichten des 19. Jahrhunderts. (Und damals wie heute haben nur Snobs gemeint, die Zugehörigkeit zu einem als Trivialliteratur gewiss leicht missbrauchbaren Genre schließe ein Werk prinzipiell von der großen Literatur aus.) Vielleicht kann man sagen, le Carré habe das philosophische Potential des Agentenromans als erster erkannt, ja sogar ausgeschöpft. Vermutlich wird es nach ihm kaum weitere Spionageromane von diesem Range geben. (Im übrigen ist der Roman sicher das dem Spionagethema kongeniale literarische Genre – sehr komplexe Intrigen lassen sich in einem Drama schwer darstellen.) Im Folgenden will ich erstens einige Grundzüge des literarischen Universums le Carrés skizzieren, um meine These zu stützen, er habe den Agentenroman philosophisch ausgelotet, und zweitens diese allgemeinen Aussagen an seinem neuesten Roman etwas konkretisie­ ren, der auf die gegenwärtige politische Situation ein ebenso grelles Licht wirft wie auf die jüngere deutsche Geschichte.2 2 Während ich die früheren Romane, die ich nur streife, auf Englisch zitiere, benutze ich bei Absolute Friends (Boston, New York, London 2003) die vorzügliche deutsche Übersetzung von Sabine Roth (Absolute Freunde, München 2004), gebe allerdings

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I. Warum sind die Geheimdienste erst im 20. Jahrhundert zum Zentrum eines ganzen Genres in Literatur und Film geworden, warum üben sie auf die populäre Phantasie eine derartige Anziehungskraft aus? Ein Teil der Antwort ist sicher, dass sie in der politischen Realität seit der Zeit des britischen Empires an Bedeutung zugenommen haben. Und doch kann das nur ein Teil der Antwort sein – denn jeder Leser etwa von Kauṭilya weiß um die Bedeutung von Geheimdiensten schon in den antiken Hochkulturen. Immerhin kann man einräumen, dass erst das 20. Jahrhundert heiße und kalte Weltkriege gekannt hat – zur Globalisierung gehört auch, dass der Hass weltumspannend wird. Das hat allen militärischen Aktivitäten, also auch den nachrichten­ dienstlichen, eine neue Extension und sicher auch eine neue Intensität gegeben. Ja, es hat der Spionage gerade deswegen eine besondere Weihe verliehen, weil einer ihrer Zwecke darin besteht, Kriege unwahrscheinlicher zu machen, indem sie paradoxerweise durch wechselseitige Überlistung gegenseitiges Vertrauen aufzubauen ver­ mag. Dass sie nur selten zu physischer Gewalt greift und sich meist der Waffen des Geistes bedient, spricht für sie, ebenso die Tatsache, dass ein Agent besonders riskant lebt – Agenten des Westens riskierten im Kalten Krieg immer wieder ihr Leben und, mehr noch, dasjenige ihrer Mitarbeiter jenseits des Eisernen Vorhangs, nur selten das des politi­ schen Gegners. Diese Verbindung von intellektueller und moralischer Hochleistung kommt dem unauslöschlichen menschlichen Bedürfnis nach Heroismus besonders entgegen. Denn auch wenn die Zeiten, die keine Helden brauchen, in der geschichtsphilosophischen Retrospek­ tive die glücklichsten sind, können sie, wenn man sie lebt, besonders langweilig sein. Der triviale Spionageroman hat zugegebenermaßen keine andere Funktion als die Langeweile sicher lebender Spießbürger durch die Vermittlung von Allmachts-, Jagd-, Rache- und sexuellen Phantasien à la James Bond zu mindern, und das ist ein vielleicht zwar einträgliches, aber doch selbst sehr langweiliges Geschäft. Doch Helden können auch subtiler sein, wie uns gerade le Carré lehrt. nach der deutschen auch die Seitenzahl im englischen Original (=eO) an. Wer genauere Informationen zu den im Folgenden nur kurz erwähnten literarischen Figu­ ren aus le Carrés Romanen sucht, sei auf das nützliche Nachschlagewerk verwiesen: David Monaghan, Smiley’s Circus. A Guide to the Secret World of John le Carré, London 1986.

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Doch die Faszination des Agenten geht nicht nur von seinem Heroismus aus – um Feuerwehrleute dreht sich, auch nach dem 11. September 2001, kein eigenes Genre. Der Heroismus des Spions ist nämlich wesentlich ambivalenter Natur, und ein derartiges Vorbild ist einer Zeit wie der unseren, der so viele falsche Leitbilder angeboten wurden und die sich so schwer auf ein gemeinsames Vorbild zu eini­ gen weiß (man denke an Siegried Lenz’ bekannten Roman zum Thema), paradoxerweise leichter zu vermitteln als ein schlichteres, das unglaubwürdig wirkt und dem Rezipienten Arglosigkeit und Nai­ vität zu unterstellen scheint. Gerade die Erhabenheit des Zieles, unter Bedingungen moderner Massenvernichtungsmittel das Risiko eines heißen Krieges zu senken, mag den Einsatz von Mitteln rechtfertigen, die wir ansonsten zu Recht verabscheuen. In der Tat ist die Verstel­ lung, die zur Spionage konstitutiv dazugehört und noch nicht einmal das schlimmste ihrer Mittel ist, von manchen Kulturen für moralisch wesentlich bedenklicher gehalten worden als etwa das Töten, das mit jedem Krieg einhergeht, und dies gilt keineswegs nur für archaische Kulturen. Auch nach Kant ist Lügen, anders als Töten, kategorisch, d.h. unter allen Bedingungen, verboten. Ein Geheimdienstler kann also kein Kantianer sein. Aber das heißt nicht, dass er unmoralisch, skrupellos oder gar zynisch sein muss. Er mag sich mit der Frage, welche Zwecke welche Mittel rechtfertigen können, intellektuell und existenziell intensiv auseinandersetzen, ohne sich mit Kants simpler Antwort zufriedenzugeben.3 Allerdings ist das Risiko, das mit dem Verlassen der Kantischen Antwort verbunden ist, hoch. Bestimmte Resultate des Utilitarismus, die den einzelnen vollständig dem Wohl des Ganzen opfern und seine furchtbarste Instrumentalisierung erlauben, sind noch viel kontraintuitiver als diejenigen des Kantia­ nismus. Und selbst wenn eine plausible Werthierarchie vorliegt, die begründet, warum bestimmte den Alltagsnormen widersprechende Handlungen unter extremen Umständen gerechtfertigt sein können, besteht die enorme Gefahr, dass der in einem bestimmten Fall legiti­ mierte Übertreter gleichsam auf den Geschmack kommt, die primafacie-Normen auch dann zu verletzen, wenn es dafür keine Rechtfer­ tigung gibt. Es mag sogar sein, dass jemand selbst an jener ersten, an sich legitimen Normenübertretung nur deswegen interessiert war, weil sie ihm das Gefühl verschaffte, er sei an die üblichen Normen 3 Vgl. dazu Myron J. Aronoff, The Spy Novels of John le Carré. Balancing Ethics and Politics, New York 1999, besonders 89–112 und 201–214.

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nicht gebunden; es war ihm also nicht um das Gut, dessen Bewahrung die Normenübertretung diente, gegangen, sondern um den Genuss der Normenübertretung selbst, und das rechtfertigende Gut diente subjektiv nur als Vorwand. Die Motive, die jemanden dazu führen, Geheimdienstagent zu werden, können – auch bei ein und derselben Person – sehr unterschiedlich sein und von brutalem Machtwillen über die Suche nach Halt oder Spannung im eigenen Leben zu auf­ richtiger Verantwortung für unschuldige Menschen reichen. Es bedarf keiner überragenden Vertrautheit mit der menschli­ chen Psyche, um – auch ohne konkrete Erfahrungen im Milieu4 – davon auszugehen, dass Geheimdienste Persönlichkeiten fragwür­ diger Struktur anziehen. Die Integrität der Dienste hängt daran, dass derartige Gestalten nicht angestellt werden, wenigstens nicht in verantwortliche Positionen gelangen. Reine Apparatschiks wird es überall geben, ebenso mehr oder weniger undurchsichtige oder eitle Abenteurerpersönlichkeiten wie etwa Smileys Kollege Toby Esterhase von Tinker, Tailor, Soldier, Spy an; und vermutlich sind auch nie richtig innerhalb einer Familie sozialisierte, hasserfüllte, ihren unmittelbaren Zielen ohne jede Bedenken fanatisch zuarbeitende, aber Befehlen gehorchende Figuren wie der Mossadagent Shimon Litvak in The Little Drummer Girl, der wunderbar Klavier spielt5 und auch sonst genausogut bei der Geheimpolizei eines totalitären Staates arbeiten könnte, unvermeidlich. Aber Litvak wird von seinem sympathischen Vorgesetzten Kurtz in Schranken gehalten, und das eisige Nicken Gadi Beckers – bzw. Josephs, wie er von Charlie genannt wird –, als Litvak vorschlägt, die Libelle zu opfern, rüttelt diesen auf.6 Den­ noch können moralisch unzurechenbare Personen selbst als untere Chargen (»leash-dogs«, schreibt le Carré) beträchtlichen Schaden anrichten: Fawn – gekennzeichnet als »little, furious« und »dark Zu le Carré hat auch ein ehemaliger (kanadischer) Agent ein Buch verfasst (Tod Hoffmann, Le Carré’s Landscape, Montreal & Kingston, London, Ithaca 2001); er bestätigt, trotz der künstlerischen Transformation, die Wirklichkeitsnähe von le Car­ rés Romanen: »He represents the true soul (or soullessness) of the covert world.« (8) 5 The Little Drummer Girl, New York 1983, 41. 6 The Little Drummer Girl, 384: “›She’s a whore and she’s a Communist and she’s an Arab-lover!‹ he shouted, loud enough to be heard through the partition wall. ›Dump her. Who cares?‹ If Litvak was expecting Becker to make a fight of it, then he was disappointed, for the most Becker offered was one quiet nod of confirmation, as if everything that he had been thinking about Litvak for some time had now been demonstrated.« 4

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and mad«7 – tötet schließlich seinen undiszipliniert romantischen Mitagenten Westerby. Die Trauer, die Smiley erfasst, wenn er an den Tod Jerry Westerbys denkt, und die Rücksicht, die sein treuer, ihm voller Bewunderung ergebener Knappe Peter Guillam auf sie nimmt, belegen freilich, dass es in le Carrés Spionageuniversum auch Menschen gibt, die strenge moralische Maßstäbe an sich und ihre Tätigkeit legen. Smiley, der von Anfang an in le Carrés Werk – selbst im Schul- und Detektivroman A Murder of Quality – zumindest als Randfigur auftritt, will in The Spy Who Came In From the Cold bezeichnenderweise keinen Anteil an der geplanten Intrige haben, weil er sie für moralisch »distasteful« hält, versucht aber am Ende, Liz Gold zu retten.8 Trotz seiner moralischen Gewissenhaftigkeit ist er freilich alles andere als erfolglos: Es gelingt ihm auch bei Benut­ zung moralisch wohl zulässiger Mittel, zunächst seinem Kollegen und Doppelagenten Bill Haydon (dessen Vorbild bekanntlich Kim Philby ist), dann seinem mythischen sowjetischen Gegenspieler Karla das Handwerk zu legen. Dass er freilich letzteren nur dadurch zu Fall bringen kann, dass er dessen einzige liebevolle Geste – die Sorge für seine geisteskranke Tochter, die er in einer westlichen psychiatrischen Anstalt untergebracht hat – ausnutzt, verschafft ihm quälende Gewissensbisse, und sein melancholisch-skeptisches »Did I?«, nachdem ihm seine Mitarbeiter den größten Triumph seines Lebens bescheinigt haben, adelt ihn noch mehr als seine überragende analytische Intelligenz.9 Denn Smiley weiß, dass ein Sieg über einen schrecklichen Gegner dann eine Niederlage ist, wenn er nur dadurch errungen werden kann, dass der Sieger so wird wie der Gegner. In der Auslotung der moralischen Grenzen der geheimdienstli­ chen Aktivitäten liegt eine auch für die allgemeine Ethik interessante Aufgabe des Spionageromans, und le Carrés Größe zeigt sich an der enormen moralischen Sensibilität und Differenziertheit, mit der er sich in diesem Felde bewegt. So bedient er sich virtuos einer der ethi­ schen Grundeinsichten der Moderne, die gleichsam das Signum dieser Zeit ist. Dass man mit guten Absichten Schlimmes und mit bösen Absichten Gutes bewirken kann, ist eine Erkenntnis, die Machia­ velli, Mandeville, Malthus theoretisch ausgesprochen, Cervantes und The Honourable Schoolboy, New York 1977, 480 und 525. The Spy Who Came In From the Cold, New York 1964, 61, 256. 9 Smiley’s People, London 1980, 327. Vgl. 324: »I have destroyed him with the weapons I abhorred, and they are his.«

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Shakespeare künstlerisch dargestellt haben und die der Antike und dem Mittelalter in dieser grundsätzlichen Form noch fremd war. Le Carré macht als moderner Schriftsteller von Anfang an deutlich, dass er zwar im Kalten Krieg die Sache des Westens für überlegen hält, dass aber keineswegs alle, die sich für den Westen einsetzen, moralisch besser sind als die Kommunisten. Von Liz Gold, Alec Leamas’ Freundin in The Spy Who Came In From the Cold, an hat er genügend subjektiv-ehrliche Kommunisten gezeichnet, denen er nur mangelnde Intelligenz und objektive Gefährlichkeit bescheinigt, denen er aber gute Absichten, ja sogar Herzensgüte keineswegs abspricht. In demselben Roman ist Fiedler, der überzeugte Kommu­ nist, ohne jeden Zweifel moralisch integrer als sein mörderischer Gegenspieler Hans-Dieter Mundt, der in Wahrheit für den Westen arbeitet. Ganz gemäß der alten Konzeption von Ritterlichkeit wird selbst Karla Achtung nicht versagt – dass er bei seiner Begegnung mit Smiley in Delhi nicht zum Westen überläuft, obwohl ihn in der Sowjetunion menschlichem Ermessen nach die Erschießung erwartet, belegt eine formale Größe, für die Smiley nicht weniger als le Carré empfänglich ist.10 Schon in Call for the Dead zeichnet den kommunis­ tischen Agenten Dieter Frey eine heroische Stärke aus, die seinem Chef Mundt abgeht; dass er am Ende beim Kampf mit seinem alten Freund aus der Zeit des gemeinsamen Einsatzes gegen den National­ sozialismus Smiley stirbt, geht nicht auf physische Unterlegenheit zurück, sondern auf ein inneres Zögern, das ihn adelt. Und doch sind le Carré keineswegs alle Agenten gleich recht: Sein moralisches Urteil ist zwar differenzierend, aber dort, wo nötig, durchaus unerbittlich. Dass Haydon als führender Mitarbeiter des »Circus« – unter dieser Sigle fasst le Carré MI5 und MI6 zusammen – ein Doppelagent der Sowjetunion ist, könnte ihm von le Carré vielleicht verziehen werden. Denn man mag sich für moralisch berechtigt halten, sein eigenes Land zu verraten – immerhin versuchen die britischen Dien­ ste, Sowjetbürger ebenfalls zum Landesverrat zu bewegen, und für »Goethe« in The Russia House, der durch seinen Geheimnisverrat den Westen vor der Angst vor der Sowjetunion befreien und das Wettrüsten beenden will und dafür hingerichtet wird, hat man nur 10 The Spy Who Came In…, 136 ff. Das tiefe emotionale Band zwischen Smiley und Karla wird symbolisiert durch das Feuerzeug, das Ann »with all my love« Smiley geschenkt hatte, das dieser Gerstmann-Karla in Delhi anbietet und das Karla bei seiner Festnahme viele Jahre später in Berlin bewusst fallenlässt.

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Sympathie und Achtung. Doch dass Haydon sogar seinen Freund (und wohl auch früheren Geliebten) Jim Prideaux, der ihm am Ende den Nacken bricht,11 instrumentalisiert und verraten hat, ist das, was ihn so monströs macht, und dass er nach seiner Entlarvung und vor seiner geplanten, ihm aus politischen Gründen angebotenen Emigration in die Sowjetunion in einem Abschiedsgespräch mit Smiley sich nicht nur um den Transfer seines Vermögens in die Sowjetunion und um die Kleidung Sorgen macht, in der er in Moskau eintreffen wird, sondern Smiley sogar beauftragt, seinen letzten Liebhaber finanziell abzufinden – und zwar »aus dem Reptilienfonds« des Dienstes –,12 zeigt eine menschliche Erbärmlichkeit, die jedes Maß sprengt. Erst jetzt, jetzt aber definitiv, wissen wir über das moralische Niveau des Mannes Bescheid. Während für Dante jeder Verrat im letzten Kreis der Hölle bestraft zu werden verdient, ist le Carrés moralisches Urteil subtiler. Landesverrat mag unter Umständen legitim sein. Ja, die sub­ jektive Überzeugung, ein Landesverrat sei moralisch erlaubt, kann man im Kontext eines Weltbürgerkrieges auch dann entschuldigen, wenn man ihn für objektiv verbrecherisch hält. Für die Auffassung, öffentliche Kassen müssten für die eigenen Geliebten aufkommen, gibt es jedoch nicht den Schein einer Rechtfertigung. Und wenn jemand sich nach einer solchen Maxime verhält, erscheinen auch alle seine anderen Handlungen in einem neuen Licht. Immer wieder ist es bei le Carré paradoxerweise die vergleichsweise unbedeutende Geste, die mehr Klarheit bei der moralischen Bewertung von Charakteren verschafft als deren »große« Taten. Denn diese sind angesichts der Komplexität moderner Politik zugegebenermaßen nicht einfach zu bewerten, ja nicht einmal einfach zu interpretieren. (Dieselbe ethische »Reduktionsstrategie«, wie man sagen könnte, kennzeichnet auch den großen Film Nikita Michalkows über die stalinistischen Säuberungen Утомлённые солнцем (Die von der Sonne Ermüdeten).) Neben der ethischen Dimension ist somit eine weitere philoso­ phisch relevante Dimension geheimdienstlicher Aktivitäten die theo­ retische, insbesondere die hermeneutische. In der Welt des Scheins, ja des bewussten Trugs ist es nicht einfach festzustellen, was die Wahr­ Im Roman muss der Leser das selbst erschließen. Es ist eine Schwäche der BBC-Verfilmung mit Alec Guiness als großartigem Smiley (Regie: John Irvin), dass die Ermordung anschaulich vorgeführt wird. 12 Tinker, Tailor, Soldier, Spy, New York 1974, 345. 11

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heit ist, und insbesondere wann man einem Mitmenschen trauen kann.13 (Da das Urteil anderer alle unsere Überzeugungen beeinflusst, führen zweifelhafte Mitmenschen – man denke an Hitchcocks The Lady Vanishes –, aber auch Zweifel an den Mitmenschen leicht zu Zweifeln an der Erkennbarkeit der Wahrheit.) Wer auf Täuschungen anderer aus ist, muss mit deren Gegentäuschungen rechnen. Hat man erst einmal ein grundsätzliches Misstrauen erworben, helfen Bestätigungen der eigenen Redlichkeit auf der anderen Seite nicht weiter: Sie erwecken eher Zweifel als dass sie sie ausräumen. Folgende Szene wäre vulgär, wenn sie nicht symptomatisch wäre für die Pro­ blemsituation le Carrés. Jerry Westerby hat es schließlich geschafft, die leidenschaftlich geliebte Lizzie Worthington in ein Stundenhotel zu bringen. Diese wird nach einer Weile durch einen Lustschrei aus dem Nebenraum geweckt. “’Christ,’ she declared appreciatively, ›she really hit the moon.‹ The squawk repeated itself. She changed her mind. ›No go,’ she said disapprovingly. ›She’s faking it.‹«14 Wie uns u.a. die Spieltheorie lehren kann, eine dem 20. Jahr­ hundert kongeniale Disziplin, kann man, selbst wenn man einen Trick des Feindes durchschaut zu haben glaubt, nicht ausschließen, dass genau dieses »Durchschauen« von der Gegenseite beabsichtigt war, es sich also um einen Metatrick handelt. Eben dieses dreifache Verschieben der Ebene macht den Reiz von The Spy Who Came In From the Cold aus.15 Sicher ist die Fähigkeit, mit der Möglichkeit eines solchen Ebenenwechsels zu rechnen, für einen guten Agenten zentral, aber für einen unbeschwerten Bezug zur Wirklichkeit und zu dem anderen durchaus ein Hindernis. Denn dem erfahrenen Agenten ist die politische Welt wie ein Vexierbild – bald alte Frau, bald junge Dame –, der Kollege bald ein Gleichgesinnter, auf den man sich verlassen muss und der einer der wenigen Mitmenschen ist, die um die eigene Identität wissen, bald der gefährlichste Feind, der Doppelagent im Dienste des Gegners, bald zwar dem eigenen Land loyal, aber doch ein intriganter Rivale. In einem Brief aus seiner »blauen Periode«, nach seiner Entmachtung im »Circus«, schreibt der alte Smiley:

13 Corridors of Deceit: The World of John le Carré ist der Titel von Peter Wolfes zumal diesem Aspekt gewidmeter Monographie (Bowling Green 1987). 14 The Honourable Schoolboy, 496. 15 Vgl. meine Analyse in: Moral und Politik, München 1997, 471 f.

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I chose the secret road because it seemed to lead straightest and furthest toward my country’s goal. The enemy in those days was someone we could point at and read about in the papers. Today, all I know is that I have learned to interpret the whole of life in terms of conspiracy. That is the sword I have lived by, and as I look round me now I see it is the sword I shall die by as well. These people terrify me, but I am one of them. If they stab me in the back, then at least that is the judgment of my peers.16

Anders als im Fall des Vexierbildes (oder in manchen Stücken Piran­ dellos) gibt es freilich bei le Carré stets eine definitive, richtige Deutung der Situation: Er ist ebenso ontologischer Objektivist wie Kurosawa in Rashomon. Doch man kann jene Deutung nur finden, wenn man sich eine Zeitlang wie ein Vexierbildbetrachter gefühlt hat. Daraus ergibt sich ein weiteres philosophisch interessantes Problem der Agentenexistenz: Die Identitätssuche ist besonders schwierig. Das gilt zumal für einen Doppelagenten wie Magnus Pym, der anders als der Ideologe und Egomane Bill Haydon in seinen Verrat mehr oder weniger hineingerutscht ist (er hat seinen Freund Axel – der bezeichnenderweise keinen Nachnamen hat17 – durch eine Denunzation in die Spionage für den tschechoslowakischen Staat erst getrieben und ist ihm nun einiges schuldig), der also psycholabil ist und am Ende gar nicht mehr weiß, wem er eigentlich dient und was er wirklich will. Aber es gilt auch für einen normalen Agenten, der hinter seinem offiziellen Beruf und oft einem falschen Namen seine eigentliche Tätigkeit verbergen muss. Der normale Schauspieler spielt eine von ihm selbst verschiedene Rolle nur auf der Bühne, und selbst wenn er sein Publikum in Bann schlägt, weiß dieses doch in der Regel auch während des Spiels, und stets nach dem Ende der Aufführung, dass die es faszinierende Person im eigentlichen Leben Schauspieler und nicht etwa König wie Lear oder Mörder wie Woyzeck ist. Der British Council-Angestellte, der in Wahrheit Agent ist, ist hingegen das, was er mit dem höchsten Einsatz seiner Person ist, nur für ganz wenige eingeweihte Personen. Es lässt sich daher sagen, dass der Agent in einem noch existentielleren Sinn Künstler ist als der Schauspieler und der Dichter, die Rollen spielen und erfinden, die aber das, was sie hinter ihren Masken und Erfindungen sind, öffentlich zu leben vermögen. (Dem Agenten kommt der Schauspie­ 16 17

The Honourable Schoolboy, 533. A Perfect Spy, New York 1986, 199.

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ler dabei näher als der Dichter, weil er zwar die Täuschung nur spielt, aber doch mit Einsatz seines ganzen Körpers.) Fast das ganze Leben des Agenten, und nur das seine, ist dagegen eine artifizielle Projektion, ein Kunstwerk – die Proportion zwischen täuschender professioneller Tätigkeit und eigentlichem Leben ist beim Agenten umgekehrt zu derjenigen beim Schauspieler; und seine Täuchung ist zudem blutiger Ernst. Dem Agenten also, und nur ihm, gelingt die – freilich notwendigerweise geheime – Erfüllung eines ästhetischen Traumes der Moderne; und dies trägt zum Reiz seines Berufes und des ihm gewidmeten Genres in unserer Epoche ebenso bei wie die Tatsache, dass das Freilassen der Imagination in der Neuzeit jedem Menschen die Spannung zwischen Sein und Schein, eigentlichem Selbst und aufgezwungener Rolle in ganz neuer, oft schmerzlicher Weise erfahrbar gemacht hat. In gesteigertem Maße gilt das Gesagte für den Doppelagenten, bei dem sogar ein Teil seiner Aktivitäten als Agent gespielt, also eine Maske, nicht die eigentliche Wahrheit ist und der deswegen so schwer zu entlarven ist, weil die Weitergabe von »chicken food«, also korrekter, aber minderwertiger Information, an den Gegner durchaus auch von loyalen Agenten betrieben wird. In Absolute Friends sind sowohl Edward Mundy als auch derjenige, der ihn in die tödliche Falle lockt, Dimitri, gescheiterte Dichter bzw. Schauspieler, und einer der Doppelagenten unter den Nebenfiguren des Romans, der Pole Jan, ist ebenfalls Schauspieler – wie auch Charlie in The Little Drummer Girl. Sie spielt gerne Shakespeares Rosalind, die sich selbst als Mann verkleidet, ist aber existenziell angezogen von dem Mossad-Agenten Joseph, gerade weil sein Gesicht so endgültig bestimmt wirkt. »A face that to Charlie’s eye spelt one strong and constant reality, in contrast to an actor’s many masks.«18 Aber nicht nur können drittklassige Schauspieler und Dichter glänzende Agenten werden – auch drittklassige Agenten können sich in erstrangige Schriftsteller verwandeln, wie dies le Carré vormacht. Seine wieder­ holten Reflexionen zur Wesensverwandtschaft von Agenten- und Schriftstellerberuf sind natürlich reflexiv zu lesen und werfen ein ironisches, eines Thomas Mann würdiges Licht auf die zwiespältigen Aspekte seiner eigenen, der Schriftstellerexistenz. Das Heroische an der Agentenexistenz wird gesteigert durch die Tatsache, dass nur ganz wenige Menschen um sie wissen. Dass der unbekannt bleibende Held der größte aller Helden ist, weil ihm 18

The Little Drummer Girl, 51. Vgl. 63 f.

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nicht einmal Ruhm zuteil wird, es ihm also wirklich nur um die Sache selbst gehen kann, versteht sich von selbst – auch wenn der literarische Reiz der Schilderung des »unbekannten Siegers«, um an einen der schönsten Romane Hans Erich Nossacks zu erinnern, darin besteht, dass wenigstens der Leser Bescheid weiß. Ästhetisch ist diese Struktur derjenigen der Spannung verwandt, die, wie etwa jeder Hitchcockbewunderer erfahren hat, dann am stärksten wirkt, wenn nur der Leser oder Zuschauer um eine Bedrohung des Helden weiß, die diesem selbst nicht bekannt ist. Analog ist es in unserem Fall nur der Leser, nicht die Mitwelt des Helden, die um seine Größe weiß – und manchmal nicht einmal der Held selber. Das letztere ist aber nicht notwendig. Es besteht damit folgender Unterschied: Das Informationsgefälle besteht bei der Spannung zwischen dem Leser und dem bedrohten Helden, manchmal auch seiner Umwelt, beim unbekannten Helden zwischen dem Leser und der Umwelt des Helden, manchmal auch dem Helden selber. Letzteres gilt freilich nur bei naiver Größe; ein reflexiver, sentimentalischer Charakter mag sich vielmehr auf das Unbekanntbleiben seiner Leistung besonders viel einbilden. Besonders schmerzlich ist das Verkanntwerden, wenn es nicht nur die weite Welt betrifft, sondern auch die nächsten Menschen. Der Kontrast zwischen dem äußerst verantwortungsvollen, besonne­ nen, mutigen und klugen Verhalten von Kapitän MacWhirr – der allerdings gerade kein Intellektueller ist – in Joseph Conrads Typhoon und der arglosen Verständnislosigkeit seiner Frau, die im letzten Kapitel der Erzählung geschildert wird, steigert unsere Bewunderung für den Kapitän, weil wir seine abgrundtiefe Einsamkeit nicht nur auf dem Schiff, sondern auch zu Hause spüren. Ganz ähnlich weiß selbst die Familie des Agenten oft genug nicht, was er eigentlich tut – Mandy, die dumme Frau des »Circus«-Direktors Control, scheint zu glauben, ihr Mann arbeite im Aufsichtsrat der Kohlebehörde.19 Für Beziehungen ist das unvermeidlich eine Belastung – wenn man will: ein Verrat, denn zu einer normalen, zumindest zu einer modernen und also symmetrischen Beziehung gehört wenigstens implizit das Versprechen unbedingter Offenheit. Zwar mag es einer traditionellen Ehefrau gleichgültig gewesen sein, ob ihr Mann beim Geheimdienst oder in der Kohlebehörde eine leitende Funktion ausübt – schließlich handelt es sich bei beiden um nützliche, staatstragende Tätigkeiten, 19

The Spy Who Came In…, 21.

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und der Unterschied zwischen beiden Anstalten mag ihr entgehen –, aber eine moderne Ehefrau wird den Mangel an Vertrauen nicht schätzen, dem sie ausgesetzt war, falls sie ihrem Mann auf die Schliche kommen sollte. Und selbst wenn ihr das nicht gelingt, wird sie spüren, dass er ihr etwas vorenthält, sie nicht an der tiefsten Schicht seiner Existenz teilhaben lässt. Das ist zumindest für eine symmetrisch sein wollende Ehe nicht gut, und daher sind die Ehen und Beziehungen von Geheimdienstlern bei le Carré notorisch gefährdet und instabil. Das Genie seines Faches, Smiley, wird von seiner von ihm aufrichtig geliebten Frau Ann ständig betrogen (einer ihrer Liebhaber, Bill Haydon, ist von Karla bewusst auf sie angesetzt worden, um Smileys wachsenden Verdacht, Bill sei ein Landesverräter, abzulenken bzw. um Smileys Verdächtigungen anderen als unglaubwürdig, da von Eifersucht diktiert, erscheinen zu lassen). Gadi Becker ist und bleibt geschieden, auch wenn sein Chef Kurtz alles tut, um seine alte Ehe wiederaufleben zu lassen,20 und ob seine neue Beziehung mit Charlie glücken wird, der er sich so lange wie möglich entzieht, nachdem er sie in sich verliebt gemacht hat, um sie zu einer Tätigkeit als Agentin zu motivieren, bleibt am Ende des Romans offen. (Autor und Leser wünschen dem Paar von Herzen alles Gute, auch weil sie hoffen, dass Gadi durch die neue Beziehung seine ihm selbst fragwürdig gewordene zionistische Ideologie ganz abstreifen wird.) Magnus Pym ist geschieden, und seine zweite Ehe mit einer Agentin, die erst die Geliebte seines Vorgesetzten war und die dieser gerne an ihn weitergeleitet hat, ist trotz des gemeinsamen Hintergrunds innerlich völlig aufgebraucht, als der Roman beginnt. Die Dialektik erotischer und sexueller Beziehungen von Agen­ ten, die le Carré unverblümt realistisch, manchmal romantisch und oft mit unverhohlenem Spott auf das romantische Ideal darstellt, ist komplex und unendlich weit entfernt von dem Bilde des Don Giovanni, das die populäre Imagination mit den James Bonds dieser Welt verbindet.21 Gewiss kennt auch le Carré Agenten mit überstei­ gertem Sexualtrieb, romantischen Träumen und/oder großer eroti­ 20 Kurtz ist selbst eine glückliche Ausnahme, und »with Churchillian magnanimity, expected everyone to have a marriage like his own« (The Little Drummer Girl, 354). Auch wenn Frankie, Beckers Exfrau, ihm am Ende am Telephon sagt »›I’ll be whatever you want me to be‹«, hat sie keinen Erfolg: »The last thing Becker wanted was to invent anybody.« (427) 21 Vgl. Tony Barley, Taking Sides: the Fiction of John le Carré, Milton Keynes, Phil­ adelphia 1986, 15 ff.

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scher Anziehungskraft. Aber es ist bezeichnend, dass deren Prototyp, Jerry Westerby, genannt Galahad, nicht nur daran scheitert, dass er seine romantischen Vorstellungen der eisernen Disziplin, deren ein Geheimdienst notwendig bedarf, nicht unterzuordnen vermag, sondern nicht einmal die leidenschaftlichste Liebe seines Lebens vollziehen kann. Es gelingt ihm zwar schließlich – kurz bevor er von Fawn niedergeschossen wird –, seinen Bewachern zu entwischen und die allgemein begehrte und nur scheinbar mysteriöse, in Wahrheit banale Lizzie Worthington in ein Hotel zu bringen, aber aufgrund eines harten Schlages in relevante empfindliche Körperregionen, den er bei seinem Ausbruch erlitten hat, ist er gerade jetzt, wo er es am meisten gewünscht hätte, zu sexuellen Aktivitäten nicht in der Lage.22 Und natürlich besteht das erst erwähnte Problem auch und gerade im erotischen Feld: Die leidenschaftlichste Liebeserklärung mag ein besonders raffinierter Trick sein, um sich in das Vertrauen von jemandem einzuschleichen, den man instrumentalisieren, vielleicht sogar verraten und vernichten möchte. Subtil ist auf der anderen Seite, dass Gadi Becker-Joseph mit Charlie schläft, bevor sie die Entschei­ dung treffen muss, ob sie zur gefährlichen Mission ins Palästinenser­ lager aufbricht, das sie als Doppelagentin ausforschen soll. Charlie ist derart in ihn verliebt, dass sie ganz von ihm abhängig ist; und er – der ein rein professionelles Verhältnis zu ihr unterhält oder zumindest zu unterhalten scheint – schläft mit ihr, um den sexuellen Druck von ihr zu nehmen, sie also wirklich frei entscheiden zu lassen. Das ist eine liebevolle Geste; doch gerade weil Charlie spürt, dass Joseph sich ihr hingibt, weil er sie nicht ausnutzen möchte, also gerade nicht – wie es zunächst scheinen möchte – um sie noch abhängiger zu machen, kurz weil sie wenigstens eine gewisse moralische Integrität, wenn nicht gar eine persönliche Zuneigung spürt, ist sie, in einer eigenwilligen Dialektik, um so eher bereit, zu ihrer Reise aufzubrechen.23 Da die Liebe für Agenten problematisch ist, sind Freundschaften zu Kollegen oder Vorgesetzten im Dienst um so unersetzlicher: Sie sind die einzige Weise, das unauslöschliche Bedürfnis nach Intersub­ jektivität zu befriedigen, das jeder Mensch hat, und derjenige um so mehr, der eine so prekäre Identität besitzt wie der Agent. Zwar kann schon die Zugehörigkeit zu einem Geheimbund ein Gemein­ schaftsgefühl vermitteln, ganz ähnlich der Zugehörigkeit zu einem 22 23

The Honorable Schoolboy, 494 f. The Little Drummer Girl, 314 ff.

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religiösen Orden, dessen Erbe der Geheimdienst mentalitätsmäßig und institutionell ist. Jack Brotherhood heißt bezeichnenderweise Pyms Vorgesetzter. Im letzten Roman lesen wir: Wir sind Karmeliter. ... Wir dürfen nicht reden über das, was wir tun, wir erhalten keine sichtbare Anerkennung, das normale Leben ist für uns gestorben. Unsere Frauen müssen vorgeben, sie hätten Versager zu Männern, und manche glauben es auch. Aber wenn es für all die Rädelsführer und Schaumschläger da oben Zeit zum Abtreten ist, werden unsere Jungs und Mädels diejenigen sein, die etwas bewirkt haben.24

Aber erstens gehören zum Orden, wie oben erwähnt, stets auch einige Mitbrüder, die man nicht so schätzt, und zweitens können selbst gediegene Kollegen und bewunderte Vorgesetzte nur einen Korpsgeist vermitteln, nicht jene individuelle Abstimmung zweier Persönlichkei­ ten bewirken, die man »Freundschaft« nennt. Auch wenn das um Aufnahme in den Geheimdienst-Orden bemühte Individuum sich eine Durchleuchtung seiner Privatsphäre gefallen lassen muss, die diejenige eines traditionellen Novizen noch übertrifft (schon weil der Beichtvater ein Gremium, kein einzelnes Individuum ist), bleiben seine eigentlichen existenziellen Probleme dabei doch ungelöst; denn es geht um nichts anderes als um seine Funktionalität für den Dienst. Ein Freund ist etwas anderes, und eine maximal intensive und exklusive, also absolute Freundschaft suchen manche von le Carrés Helden – teilweise weil sie nur mit Hilfe eines solchen Freundes ihre eigene, zumindest ungewöhnliche Psyche besprechen können, die sie einen solchen eigenwilligen Beruf ergreifen ließ. Liebesentzug in der Kindheit etwa durch das Fehlen einer Mutter und tyrannische, wenn nicht gar hochstaplerische Väter sind Faktoren, die nach le Carré der hier über sich selbst spricht, zu einer Agentenlaufbahn prädisponie­ ren. Die Beziehung zwischen Magnus Pym und Axel ist eine solche absolute Freundschaft, ebenso die zwischen den Helden seines letzten Romans. Smiley allerdings ist aufgrund seiner ganz exzeptionellen Intelligenz zur Einsamkeit verurteilt (Peter Guillam ist Knappe, nicht Freund), aber er hat, wie Sherlock Holmes in Moriarty, wenigstens einen absoluten, »dualen« Feind – Karla. Dass Bill Haydon Jim verraten hat, der die Rolle des absoluten Freundes zu spielen schien, ist eines der Dinge, die ihm nicht verziehen werden können. Das Ethos des Dienstes lässt absolute Freundschaften zu – bei Doppelagenten 24

Absolute Freunde, 185 (eO197).

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sind sie manchmal unabdingbar, um das erforderliche Vertrauens­ verhältnis zwischen Agent und Agentenführer zu gewährleisten –, allerdings in der Regel nur, sofern sie nicht mit Homosexualität verbunden sind. Ansonsten ist die Ähnlichkeit zu den Kriegerpaaren der Heiligen Schar Thebens verblüffend. Man muss zugeben: Eine Existenzform, die an der des Dichters, des Schauspielers, des Mönchs und des Soldaten gleichermaßen teilhat und das Erlebnis absoluter Freundschaft ermöglicht, ist interessant, ja erzählenswert. Die oben zitierte Passage zeigt, dass le Carrés Helden ihr Selbst­ wertgefühl nicht nur nicht aus öffentlichem Beifall beziehen, sondern ganz im Gegenteil aus ihrem Bewusstsein, anders als diejenigen zu sein, die von diesem Beifall leben, also die Politiker. Die Verach­ tung für deren wichtigtuerische, aber letztlich nichts riskierende, intellektuell und moralisch oberflächliche Klasse ist eine Konstante des Werkes le Carrés, auch wenn erst im letzten Roman sich daraus eine wirkliche Krise der geheimdienstlichen Tätigkeit selbst ergibt. Von der grotesken Figur Roddy Martindales in Tinker, Tailor, Soldier, Spy über den Smiley begleitenden glatten Oliver Lacon bis zu den der Realität menschlichen Leidens völlig entrückten Bush und Blair der Gegenwart25 (Downing Stret l0 lässt Mundys früheren heroischen Einsatz als Agent sogar dementieren, nachdem dieser von den Ame­ rikanern ermordet worden ist) setzt le Carré der soldatischen Würde seiner Helden den leeren Pomp, ja die mörderische Primitivität der Mediendemokratie entgegen. Man mag dahinter eine antidemokrati­ sche Gesinnung vermuten, doch wer wie le Carré nicht glaubt, dass sich Politische Ethik auf Prozeduren, Diskurse und Showgeschäft reduzieren lässt, ist noch kein schlechter Bürger. Aber nicht nur politische Würdenträger – Vertreter also der etablierten »Sittlichkeit« – sind Opfer von le Carrés satirischem Hohn, nicht weniger gießt er ätzenden Spott über die Vertreter der »Moralität«, die der Sittlichkeit den Kampf angesagt haben. Astrid Berger-Helga, die Terroristendame in The Little Drummer Girl, und ihr Freund Albert Rossino-Mario sind einfach abscheulich, und wir empfinden kaum Mitleid, wenn der Mossad sie am Ende erlegt. Aber selbst verwöhnte Pseudorevoluzzer wie Charlies zeitweiliger, sie regelmäßig schlagender Freund Alastair, mit dem es bald nur noch im Bett und dann auch da nicht mehr interessant ist,26 ist widerwärtig. 25 26

Absolute Freunde, 359 (eO 382). The Little Drummer Girl, 67.

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Treffend erfasst le Carré Grundzüge der infantilen linken Intelligenz, deren Seifenblasen mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben und bei dem ersten Kontrast mit realen eigenen Interessen platzen, wenn er über Charlie und ihre Schauspieler-Freunde schreibt: Their little marriages were breaking up, fresh combinations were not saving them; Lucy thought she might be pregnant, but then Lucy often did, and with reason. The great political debates had died for want of impulse, since the most they really knew was that the System was against them, and that they were against the System; but in Mykonos the System is a little hard to find, particularly when it has flown you there at its own expense.27

Dabei sind le Carrés politische Ideen ohne Zweifel der Linken, ja Old Labour zuzurechnen. Um so vehementer ist seine Verachtung derjenigen, die mit diesen Ideen nur spielen, ohne sie mit analytischer Kompetenz zu durchdenken und mit persönlichen Tugenden zu leben. Fragt man sich, welchem der Klassiker le Carré nahekommt, fällt einem zunächst Ernest Hemingway ein. Sicher sind die Ableh­ nung der normalen bürgerlichen Existenz, die Glorifizierung des Risikos, die Faszination durch die militärische Ausnahmesituation beiden Autoren gemeinsam. Und doch ist Hemingway nach Art der Existenzialisten erstens formalistischer als le Carré – wofür man sich einsetzt, ist bei ihm nicht so entscheidend, während der moralische Abwägungsprozess bei le Carré sehr ausgearbeitet ist, der, wie Graham Greene, ein Moralist ist.28 Le Carré ist zweitens viel intellektueller als Hemingway, bei dem der Kampf oft ein Kampf mit der reinen Natur ist, die er auf viel großartigere Weise erfasst, als es le Carré möglich wäre, bei dem meist Verstand gegen Verstand ankämpft. Mir scheint – der Eindruck mag freilich subjektiv sein –, dass kaum ein klassischer Autor le Carré wesensverwandter ist als 27 The Little Drummer Girl, 59. Eine vergleichbare Schauspielergruppe tritt auch in Absolute Friends in Erscheinung (139 f.; eO 147 f.); besonders witzig ist dabei, dass le Carré die einzelnen Figuren nach den Shakespearerollen benennt, die sie spielen. Die gutartige Dummheit der Gruppe zeigt sich bei ihrem Versuch, den polnischen Schau­ spieler Jan, in den sich »Viola« unsterblich verliebt hat, in den Westen zu schmuggeln. Gegen alle sinnvollen Erwartungen gelingt der Versuch – aber nur deswegen, weil es sich dabei um einen Agenten handelt, den der Warschauer Pakt im Westen arbeiten lassen möchte, so dass die Kontrollen etwas anders als sonst ablaufen. 28 Vgl. Lynn Diane Beene, John le Carré, New York/Toronto 1992, 143: »The strengths of le Carrés fiction are his considerable talents at manipulating this genre and his relentless moral vision.«

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Heinrich von Kleist. Bei beiden Autoren ist das Grundproblem, wie man sich auf den Mitmenschen verlassen kann, und die tiefe Skepsis hinsichtlich einer Antwort auf diese Frage macht unweigerlich das Identitätsproblem und die Suche nach einer absoluten Beziehung zu dem eigentlichen Zentrum einer äußerlich politisch-militärischen Zielen gewidmeten Existenz.

II. Zwar ist der Vorwurf nicht unberechtigt, le Carré wiederhole sich und kombiniere seit längerem nur alte Grundmuster neu. Aber erstens gilt das für viele große Schriftsteller, und zweitens bleibt es beachtlich, wie das die meisten seiner Werke durchziehende, schon an sich hochkomplexe Spionagethema sich in der Lage erweist, sich mit den mannigfachsten Aspekten der sozialen Wirklichkeit zu verbinden. Informationen kann man schließlich von allen möglichen Menschen bekommen; und daher muss ein guter Agent – und, mehr noch, ein guter Spionageschriftsteller – sich in der Psychologie aller möglichen Stände und aller möglichen Kulturen auskennen. Wer später einmal die Eigentümlichkeiten der geschichtlichen Ära nach 1945 kennenlernen wollen wird, wird gut beraten sein, das Werk le Carrés zu studieren, das wie ein Seismograph Bewusstseinswandlun­ gen nicht minder registriert als politische Kämpfe wie den Kalten Krieg, den Nahostkonflikt und nun in seinem letzten Roman den Versuch der Ausdehnung der US-amerikanischen Hegemonie mit militärischen Mitteln. Man braucht nicht mit allen von le Carrés expliziten und impliziten politischen Optionen übereinzustimmen, ja man kann argwöhnen, dass le Carrés Antiamerikanismus (wie derjenige Bill Haydons nach der Suezkrise) zumindest unterschwellig mit der nationalen Kränkung zu tun hat, die die Macht der USA für Großbritannien darstellt. Man kann gegen ihn durchaus der Ansicht sein, dass das Zeitalter des europäischen Gleichgewichtes und des britischen Empires dem Weltfrieden keineswegs günstiger war als die Ära einer einzigen Hegemonialmacht, man mag in der Globalisierung Chancen auch und gerade für die Entwicklungsländer sehen, man kann seine Zweifel haben, ob die Außenpolitik einer Weltmacht Frankreich gerechter wäre als die der USA, und man mag den islamischen Terrorismus für eine sehr ernsthafte Bedrohung halten: Dennoch wird man le Carré ohne Zögern zugeben, dass ein

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Land, das eine Politik betreibt, wie es die USA seines Romans tun, seine Legitimität vollständig untergräbt. Absolute Friends, 2003 erschienen, ist veranlasst durch le Carrés Empörung über den Irakkrieg. Ein zorniger alter Mann schreibt hier, dessen Wut man um so eher ernst nehmen muss, als der Autor ja ganz gewiss kein Pazifist ist, sondern den Einsatz von Geheimdiens­ ten im Kalten Krieg insgesamt legitimiert und einzelne Agenten heroisiert hat. Auch im neuen Roman sind die beiden titelgebenden »absoluten« Freunde zwei von le Carré bewunderte ehemalige Agen­ ten des Kalten Krieges, der Brite Edward Mundy und der Deutsche Sascha (dessen Nachname, wie derjenige Axels, nie genannt wird). Dass US-amerikanische »Terrorismusbekämpfer« die beiden in einen angeblichen, in Wahrheit nur von ihnen selbst geplanten terroristi­ schen Anschlag in Heidelberg hineinziehen, indem sie sie ermuntern, eine alternative, kritische Universität zu eröffnen, ihnen dann in Bücherkartons Granaten und Zeitzünder zukommen lassen und sie schließlich in einer ohne jede Abstimmung mit den deutschen Behör­ den vorgenommenen paramilitärischen Aktion kaltblütig ermorden, um die Stimmung in Europa zugunsten des nächsten Präventivkrie­ ges zur Terrorismusbekämpfung umschlagen zu lassen, vermittelt den Eindruck, die Sieger des Kalten Krieges seien nicht gerade das, was man sich seinerzeit erhofft hatte, und zeichnet im Rückblick ein Fragezeichen hinter jenem von le Carré früher ersehnten Sieg. Der Ort des geplanten »Anschlages« und des konterterroristischen »Zugriffs« ebenso wie die Tatsache, dass einer der beiden Freunde Deutscher, der andere Germanist ist, erlauben le Carré mehr noch als in seinen früheren, teilweise in Deutschland spielenden Romanen eine Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte.29 Wie er es schafft, in der Biographie Saschas den inneren Zusammenhang zwischen Nationalsozialismus, DDR-Diktatur und 1968er Revolte zu veranschaulichen, ist atemberaubend. Absolute Friends ist ein faszinierender europäischer Roman, der eine geistige Symbiose zwischen dem Vereinigten Königreich und Deutschland (bzw. der Türkei) suggeriert, die in der politischen Reali­ Zu le Carrés Stellung zu den USA und Deutschland vgl. Lars Ole Sauerberg, Fear of Extremes: England’s Relationship with Germany and America, in: Harold Bloom (Hrsg.), John le Carré, New York, New Haven, Philadelphia 1987, 103–116. Siehe auch Barley, Taking Sides, op. cit., 90 ff. zu le Carré und den USA. Zwei der Vorwürfe le Carrés sind sicher, dass die USA sich zu sehr auf die Technik verlassen und mensch­ lichen Takt vermissen lassen. 29

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tät durch die vollständige Unterordnung des Vereinigten Königreiches unter die USA ersetzt worden ist. Nicholas Amory, der integre briti­ sche Geheimdienstler und einstige Führungsoffizier Edward Mundys, gleichsam ein Smiley kleineren intellektuellen Formats, formuliert das bei seinem letzten Treffen mit Mundy, den er vergeblich zu warnen und zu retten versucht, so: Leider hat mich die Politik nie sonderlich interessiert. Jetzt ist es ein bisschen spät. ... Für sein Vaterland lügen ist eine ehrenvolle Aufgabe, solange man noch die Wahrheit weiß, was bei mir leider nicht mehr der Fall ist. ... dienen wir blind unserer Königin und unserem Land, unge­ achtet der Tatsache, daß beide hundertprozentige Tochterunternehmen der einen großen Supermacht im Himmel sind.30

Amorys Desorientierung ist für Mundy um so verwirrender, als Amory, der ihm 1968 als britischer Diplomat erstmals begegnet war und ihn betreut hatte, nachdem er von der Berliner Polizei brutal zusammengeschlagen worden war, der Inbegriff intelligenten und verantwortlichen britischen Patriotismus ist. Dieser selbe Amory, der zu seinem eigenen Leidwesen wohl aus dem Landadel stammt (was allerdings nur eine Vermutung ist, da Amory sich nicht in sein Privat­ leben blicken lässt – Mundy weiß nicht einmal, ob er Frau und Kinder hat)31, reicht Mundy zum Abschied zwei gefälschte Pässe (einen für ihn, einen für Sascha) und Geld, das er aus der Sammelbüchse für die Schildkröten gestohlen haben will (der le Carré-Kenner kontrastiert das mit dem Reptilienfonds, auf den Bill Haydon zurückgreift). In erlebter Rede des alleine gelassenen Mundy heißt es: Die gefälschten Pässe in der Süddeutschen wiegen bleischwer, so schwer wie das Geld aus der Sammelbüchse für die Riesenschildkröten – wobei Mundy sich sehr täuschen müsste, wenn Amory es nicht sich selber gestohlen hat statt den Schildkröten. Die Amorys dieser Welt stehlen nicht. Sie dienen ihrem Vaterland in guten wie in schlechten Zeiten. Zumindest bis zu dem Tag, an dem sie plötzlich der Realität ins Auge blicken und ihre verquere Rechtschaffenheit sie verlässt und ihre Gesichter plötzlich so normal und ratlos aussehen wie die anderer Menschen auch. Tja, wieder so ein Gott, der sein Verfallsda­ tum überschritten hat: der aufgeklärte Patriotismus, bis dato Nick Amorys Religion.32 30 31 32

Absolute Freunde 396 f. (eO 421 f.). Ebd., 389 (eO 414), 392 (eO 417). Ebd., 399 (eO 425).

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Mit dem Zusammenbruch des Vertrauens in den eigenen Staat ist freilich die Sinnkrise der Geheimdienste offenkundig; denn ihre Aktivitäten können höchstens dann legitim sein, wenn die politischen Zielsetzungen, denen sie unvermeidlicherweise dienen, moralisch akzeptabel sind. Die absolute Gegenfigur zu Amory ist der formvollendete Bosto­ ner Orville Jay Rourke, früher beim CIA, am Ende des Romans selb­ ständig, da ihm dieser Status die filmische Verwertung seiner privat­ rechtlich organisierten »gegenterroristischen« Maßnahmen erlaubt und ihm zudem bessere Beziehungen zum Präsidententhron ver­ schafft. (Le Carré will wohl darauf anspielen, dass ein Teil der CIA vor dem Irakkrieg gewarnt hatte und dass ein undurchsichtiger Knäuel von privaten Thinktanks die Washingtoner Politik unter Bush Jr. mehr bestimmte als die üblichen staatlichen Institutionen. Eines von Rour­ kes realen Vorbildern ist wohl Richard Perle.) Schon Rourkes erster Auftritt hinterlässt ein merkwürdiges Gefühl: Wie er sich in Mundys Vertrauen einschleicht, um ihn als homosexuell zu entlarven, ist eher unangenehm (und erinnert an den CIA-Agenten Grant Lederer in The Perfect Spy). Dass er sich viel darauf zugute hält, den schauderhaften Maler Bernie Luger und dessen kubanische Freundin Nita wegen Lan­ desverrats für jeweils dreißig Jahre hinter Gitter gebracht zu haben, stimmt ebenfalls nicht für den Mann ein. Nicht, dass man Luger, dem Mundy während seiner Zeit in Taos als amerikanischer Stipendiat begegnet ist, ins Herz geschlossen hätte: Er ist ein größenwahnsinni­ ger Wichtigtuer, »der größte Freidenker und Freiheitskämpfer seit Thoreau, aus dessen Werken er bei seinen nächtelangen Partys vor­ liest, über den braunen Wall einer spanischen Kanzel spähend, die ihm angeblich Che Guevara verehrt hat, zum Dank für Dienste, über die er nicht sprechen darf«; Luger »hat sich für eine halbe Million jährlich aus dem Treuhandfonds der Familie von der Diktatur der Bourgeoisie losgesagt«.33 Er hat sich zugegebenermaßen den Sowjets als Agent angeboten, aber die haben den guten Geschmack gehabt, auf seine Dienste zu verzichten. Stattdessen hat die CIA ihm eine Falle gestellt, in die er getappt ist. Das ist gewiss ein Fehler gewesen, und für Fehler muss man zahlen. Aber dass Mundy für diesen armseligen Wicht Mitleid hat, weil er dessen Angst spürt,34 adelt ihn; dass hingegen Rourke ihn, dessen objektive Gefährlichkeit für die USA gleich Null 33 34

Ebd., 127 (eO 134), 245 (eO 259 f.). Ebd., 128 (eO 135).

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ist, für Jahrzehnte ins Zuchthaus bringt, wirft ein bezeichnendes Licht auf ihn selber. Für eine erfüllte Existenz, auf die man stolz sein kann, ist eine derartige Leistung ein bisschen wenig; und so darf es uns nicht verwundern, dass Rourke später auch Mundy und Sascha in eine Falle lockt. Dass er Mundy, einem bewährten Agenten, kurz davor weitgehende Versprechungen gegeben hat, hindert ihn nicht daran, bei dem »Zugriff« ihn höchstpersönlich zu ermorden. Die Rechtferti­ gung ist, dass Mundy seine Frage »Sind Sie für uns oder gegen uns?«35 nicht eindeutig beantwortet hat. Immerhin wird dadurch Rourke ein Mann der Tat: Hatte ihn Mundy verachtet als einen »verhätschelten Jungen, der niemals von Polizisten zusammengeschlagen worden ist, nie den Todesstreifen überquert hat, nie im Weißen Hotel eingesperrt war oder als Paket verschnürt ans Tragdeck eines Hubschraubers gekettet«,36 sehen wir ihn am Ende im Rahmen eines multimedialen Spektakels, das die »Terrorismusbekämpfung« in ein eben solches Showgeschäft verwandelt wie die Politik es nach le Carré immer gewesen ist, endlich in Aktion treten und dem wehrlosen, verwun­ deten Mundy aus einem High-Tech-Gewehr mit überdimensionaler Zielvorrichtung eine Hochgeschwindigkeitskugel in die Stirn und dann noch zwei in den Bauch und das Herz schießen, »wenngleich streng genommen keine von beiden wirklich nötig ist«.37 Auch nach dem Abschluss des »Zugriffs« beherrscht Rourke die weltpolitische Szene, die im 15. und letzten Kapitel mit unüberbietba­ rem Sarkasmus geschildert wird. Eine New York Times-Journalistin (reales Vorbild ist offenbar Judith Miller, die in der New York Times vor und nach der Invasion Iraks falsche Informationen zu den angeb­ lichen Massenvernichtungswaffen des Landes veröffentlichte, die ihr von den Geheimdiensten zugespielt wurden) berichtet von einem Interview, das ihr der anerkannte Kopf der Operation gegeben habe – »die Art Mann, von dem ich immer träume, dass er mich zum Essen ausführt, aber es kommt nie dazu«.38 Sein Zugeständnis bei der Andeutung eines möglichen Drogenhintergrunds bei Sascha, er habe dafür allerdings keine konkreten Beweise, zeigt der Welt, wie genau es Rourke mit der Wahrheit nimmt. Und das von vielen Fernsehersen­ dern ausgestrahlte Video von der Erschießung Saschas spielt nicht nur Rourke Millionen Dollar ein, sondern – prästabilierte Harmonie 35 36 37 38

Ebd., 358 (eO 380). Ebd., 359 (eO 382). Ebd., 410 (eO 437). Vgl. den ähnlichen Schluss in: The Little Drummer Girl, 421. Ebd., 417 (eO 444).

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von privatem und öffentlichem Interesse – stimmt die europäische Öffentlichkeit auf die amerikanische Rechtsauffassung ein, sie dürfe überall ihre Feinde zur Strecke zu bringen, ob mit Unterstützung ihrer Verbündeten oder ohne. Die deutsche und die britische Presse fallen über die toten »Euroterroristen« her, und am Ende sieht sich auch die deutsche Regierung, die in der Volksmeinung weiter zu verlieren droht, zu einem Kurswechsel gezwungen. Nachdem sie schon bald nach dem »Zugriff« eine Rechtfertigung des völkerrechtswidrigen Verhaltens der USA gegeben hatte, das im höheren Interesse des gemeinsamen Kampfes gegen den Terrorismus erfolgt sei, ist sie schließlich sogar bereit, bei der nächsten Phase dieses Kampfes mit­ zuwirken – d.h. im Klartext beim Krieg gegen Iran. Dass le Carrés bittere Vorhersagen – bisher – nicht eingetreten sind, ist eher der Tatsache zuzuschreiben, die bei der Abfassung des Romans le Carré noch nicht bekannt sein konnte, dass die Verwaltung Iraks nach dem Sturz seines Tyrannen sich als weniger einfach herausgestellt hat, als die Bush-Administration geglaubt hatte, schwerlich dagegen moralischen Bedenken. Die beiden absoluten Freunde begegnen einander im West-Ber­ lin der Studentenrevolte. Der kleine hinkebeinige Sascha ist als poli­ tischer Führer ein Idol der Studenten, ja von einer mysteriösen Aura umgeben, sein Erfolg bei Frauen, obwohl er bindungsunfähig ist und sein ganzes Leben bleibt, geradezu beängstigend – er spannt Mundy später sogar seine einzige Berliner Eroberung, Judith, aus. Und doch ist Sascha emotional von Anfang an auf Mundy fixiert, der die poli­ tisch-philosophische Indoktrinierung durch Sascha ebenso braucht, wie Sascha Mundys britisch-kritisches Nachfragen zu den neuen Theorien und dessen fürsorglichen Schutz. (Saschas Verführung Judiths entspringt vermutlich mehr der Eifersucht auf die Geliebte des Freundes als sexuellem Verlangen, denn auch später ist seine eifersüchtige Kälte gegenüber Mundys Frauen auffallend.) Sascha und Mundy bilden bald ein Paar nach Art Don Quijotes und Sancho Pansas, wobei es freilich jetzt der Knappe ist, der hochgewachsen ist. Erst Weihnachten 1967, nach mehrmonatigem Zusammenleben, lässt Sascha seinen Freund Einblick in sein Innenleben nehmen. Das Gerücht, er sei Waise, stimme nicht – das dürfe aber keiner wissen. Seine Eltern leben beide – seine Mutter als Wrack, sein Vater als das größte Scheusal, das er kennt. Er war schon vor der Machtergreifung, als junger ordinierter Pastor, begeistertes NSDAP-Mitglied. Aus der sowjetischen Gefangenschaft kam er als christlicher Leninist nach

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Leipzig zurück: »Dieses gebrochene kleine Würstchen von einem Mann, das immerfort schniefte und sich mit dem vereinten Evange­ lium von Jesus und Lenin zu seiner zweifachen Größe aufblies – er war mir widerlich.«39 1960 allerdings erschien Gott dem Herrn Pastor im Traum, er floh mit seiner Familie in die Bundesrepublik, ließ sich in Missouri in kapitalistischem Christentum ausbilden und setzt sich seitdem als Pfarrer in Schleswig-Holstein für Luther, die Wallstreet und die deutsche Rechte ein. Sein Sohn unterhält keinen Kontakt mehr mit ihm, und man beginnt zu verstehen, wieso die Studentenre­ volte gerade in Deutschland eine besondere Heftigkeit hatte. Nach Mundys Abschiebung aus Deutschland ist der Kontakt mit Sascha nur brieflich. Sie begegnen einander, zu Mundys völliger Überraschung, Jahre später in Weimar, wohin Mundy, inzwischen British Council-Angestellter und frisch verheiratet, eine Gruppe jun­ ger britischer Schauspieler begleitet. Sascha ist vor einigen Jahren in die DDR ausgewandert und hat eine kleine Stelle bei der Stasi. Er hat es geschafft, interessante Informationen über letztere zu sammeln, die er Mundy gibt mit dem Auftrag, sie an den britischen Geheimdienst weiterzuleiten. Mundy – der mit dieser Organisation bisher nichts zu tun hatte – wird durch Sascha also zu einem Geheimdienst-Agenten, und bis zum Fall der Mauer kooperieren Mundy und Sascha in der Form, dass Sascha in den Augen der Stasi Mundys Agentenführer ist, während in Wahrheit beide für die Briten arbeiten. Was hat Saschas Wandel verursacht? Bei dem kurzen Treffen in Weimar lässt Sascha nur seine Verach­ tung für den »Kleinbürger-Kindergarten« DDR mit seinem Kitsch und seinen nicht verführenswerten Frauen durchblicken.40 Erst bei der zweiten Begegnung in Prag gelingt es Sascha während eines Ausflugs, seinen Freund – den einzigen Menschen, mit dem er offen reden kann – über sein wahres Leiden zu informieren. Er war in die DDR übergelaufen, weil ihm die Stasi, die ihn seit einiger Zeit umwarb, klargemacht hatte, damit könne er der Glaubwürdigkeit seines Vaters bei den reaktionärsten Kreisen des Westens – er war als Bundestagsabgeordneter im Gespräch – empfindlich schaden. Sascha will seinem politischen Glauben Taten folgen lassen, ja, er hofft naiverweise, aus den Taten werde der Glaube schon entspringen. Aber der Übertritt in die DDR erweist sich als weniger erfreulich, 39 40

Ebd., 83 (eO 86). Ebd., 151 (eO 159).

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als er erwartet hatte. Nach einer Woche, in der er sich verärgert über nicht gehaltene Versprechen zeigt, wird er für mehrere Monate in ein Internierungslager gebracht, dessen Mitinsassen ihn die wahre Natur seiner neuen Heimat zu verstehen lehren. Aber das ist bei weitem noch nicht das Schlimmste. Das, was ihn auf jedes Risiko hin bewegt, Rache zu nehmen an der Deutschen Demokratischen Republik, ist vielmehr die auf die Haft folgende Einladung bei der Stasi-Größe Professor Wolfgang, der ihn seinerzeit zum Übertritt veranlasst hatte. Mundy war diesem eleganten und silbrigen Mitsech­ ziger in Weimar vor dem Treffen mit Sascha schon begegnet und hatte seinem Vortrag über Goethes Beziehung zur Natur gelauscht; später wird er der gemeinsame Vorgesetzte beider Freunde – wie er wenigstens selber glaubt. Ohne Zweifel ist die Schilderung dieses Mannes eine der Glanzleistungen le Carrés – seine spießbürgerliche Bildungsbeflissenheit und die ironische Überlegenheit, mit der er in Prag Mundy für die gute Sache anheuert (oder besser: anzuheuern glaubt), sind ebenso entlarvend wie seine nackte Angst 1989. Aber noch unheimlicher ist sein absoluter Freund. Im Garten seines herrschaftlichen Hauses in Potsdam – »›Dar­ ben kann auch der Dümmste‹, sagte er. ›Nirgends im Kommunisti­ schen Manifest steht, dass jemand, der es verdient, sich nicht ein bisschen Luxus gönnen darf. Warum soll immer nur der Teufel die guten Anzüge tragen?‹«41 – bemerkt Professor Wolfgang nach einer sarkastischen Bemerkung Saschas, seinen Humor habe er wohl von seinem Vater. Als Sascha erwidert, er habe seinen Vater nie lachen sehen, meint Professor Wolfgang, die besten Witze im Leben seien doch die, über die wir alleine lachten. Sascha versteht immer noch nicht, aber der Professor hilft ihm auf die Sprünge. Es stellt sich heraus, dass der Pastor und der Professor alte Freunde sind – Sascha erschließt aufgrund der Dauer ihrer Freundschaft, dass sie alte Nazikameraden waren – und dass der Pastor schon am Tage seiner Inhaftierung in der Sowjetunion von den Parteiorganen zu einem Leben der Selbstaufopferung ausgewählt worden war – er muss also sehr schnell mit dem Denunzieren seiner Mitgefangenen begonnen haben, und als Pastor in Leipzig hat er offenbar die Geheimnisse seiner Schäfchen seinen eigentlichen Dienstvorgesetzten mitgeteilt. Die Flucht 1960 war nicht auf das Geheiß Gottes erfolgt, sondern auf das der Stasi, als deren treuer Agent der Herr Pastor bis zu dem 41

Ebd., 213 (eO 225).

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heutigen Tage, da er im Sterben liege und auf einen Brief seines Sohnes warte, wirke. Bis dahin hatte ich geglaubt, die Schlechtigkeit meines Vaters bis in ihre tiefsten Tiefen ausgelotet zu haben. Jetzt wurde mir klar, wie naiv ich gewesen war. Wenn mir die Idiotie meines Entschlusses, mich auf die Seite des Kommunismus zu schlagen, irgendwann in ihrer vollen Härte aufging, dann in diesem Moment. Wenn Rachsucht eine Geburtsstunde haben kann, dann war es diese. Ich erinnere mich nicht, was für Worte speichelleckerischer Verehrung ich durch meine heimlichen Tränen des Hasses und der Wut niederschrieb.42

Dieser humorvolle Herr Pastor – der im Roman nur in den Berichten seines Sohnes erscheint – ist ein Schurke Shakespeareschen Formats, ja, eine der genialsten Symbolisierungen dessen, was an der deutschen Seele verabscheuenswürdig ist: Dieser sind ja immerhin zwei ver­ schiedene Formen des Totalitarismus zu verdanken. Thomas Manns Leverkühn steht für das Ambivalente am Deutschtum, der Herr Pastor für das rein Negative an ihm. Und nicht minder über das Individuelle hinausweisend ist die Beziehung Saschas zu seinem Vater. Dass die Kinder von Alt-Nazis gegenüber der kommunistischen Ideologie verführbarer waren, ist oft und zu Recht gesagt worden. Aber dass sie damit die Abhängigkeit von ihren Eltern nicht überwanden, sondern im Gegenteil fortsetzten und sich weiter in deren Schuld verstrickten, das zeigt Saschas Schicksal in kaum überbietbarer Anschaulichkeit. Die moralische Größe Saschas erweist sich freilich darin, dass er nun sein Leben riskiert, um dem menschenverachtenden, von Alt­ nazi-Recycling lebenden System zu schaden, dessen Stützen der Professor und der Herr Pastor sind. Dass er zu diesem Zwecke auch das Leben seines Freundes aufs Spiel setzt, ist nicht unproblematisch, gehört aber wohl zum Wesen einer absoluten Freundschaft dazu. Dass Sascha als Alt-Achtundsechziger 1989 über die bevorstehende Wiedervereinigung nicht glücklich ist, kann man nachvollziehen; dass er das Geld seines Vaters den Ärmsten der Welt zukommen lässt und auch von den Briten kein Geld für sich haben will (sondern nur für seine alte Mutter) und eine unstete Existenz als Dozent in verschiedenen Entwicklungsländern vorzieht,43 verdient ohne jeden Zweifel Respekt. Dass er freilich der Intrige Rourkes und Dimitris auf den Leim geht, obgleich Dimitri nicht schwer zu durchschauen 42 43

Ebd., 215 f. (eO 228). Ebd., 273 ff. (eO 288 ff.).

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ist (Mundy schöpft sofort Verdacht), zeigt, dass seine Intelligenz dort getrübt ist, wenn es um seine eigentlichen Wünsche geht. Und für diesen Fehler, diese Unfähigkeit, »um die Ecke zu denken«, die auch Othello und Ferdinand von Walter zum Verhängnis wird, muss nicht nur er, sondern auch Mundy sterben, der ihm 1968 in Berlin das Leben gerettet hatte und deswegen von der Polizei krankenhausreif geschlagen worden war. Edward Mundy ist sicher einer der sympathischsten Charaktere, die je aus le Carrés Feder geflossen sind. Auch seine Herkunft ist wie die der meisten Agenten nicht unproblematisch, aber seine Probleme sind mit denen Saschas nicht zu vergleichen, wie dieser bei jener Weihnacht 1967 irritiert zu erkennen gibt – wer wäre nicht lieber ein Bürger des Empires als des Dritten Reiches gewesen? Er wurde in Pakistan am Tage der Unabhängigkeit des Landes als Sohn eines Offiziers des Empires, später des neuen Staates, geboren und musste ins Mutterland auswandern, als sein Vater wegen einer Schlägerei mit einem Kollegen unehrenhaft aus der pakistanischen Armee ent­ lassen wurde. Anlass der Schlägerei war eine Anspielung darauf, dass Mundy senior die Mutter seines Sohnes, die bei der Geburt starb, vor der ihm aufgezwungenen Ehe geschwängert hatte. Mit dieser – vergleichsweise lächerlichen – Schuld wird der Infanteriemajor a.D. auch in England nicht fertig; er verfällt dem Suff und stirbt am Anfang der Studienzeit Edwards. Er sieht ungerne, dass sein Sohn in Oxford Deutsch studiert, statt die militärische Laufbahn einzuschlagen, beru­ higt sich aber schließlich damit, dass die nächste »Hunnenattacke« – so sein Terminus für einen neuen Angriff der Deutschen – zwan­ zig Jahre nach dem Ende des letzten Krieges ohnehin bald wieder fällig sei, so dass Deutschkenntnisse auch militärisch nützlich sein könnten – eine Einschätzung, die sich später durchaus als richtig erweist. Von einer ungarischen Mitstudentin, der er vergeblich einen Heiratsantrag macht, in die Geheimnisse Bakunins ebenso wie der weiblichen Anatomie eingeführt, bricht der verwaiste Edward Mundy schließlich nach Berlin auf, wo er sein Deutsch vervollkommnet, die Weltrevolution vorantreibt, die Freundschaft mit Sascha begründet und nach einer längeren Periode der Enthaltsamkeit die norddeutsche, bisher lesbische Jura-Studentin Judith Kaiser, wenn auch nur für eine sehr kurze Zeit, zu seiner Freundin macht. Deren Freundin Karen, die der »neuen heiligen Johanna von Orléans«, Ulrike Meinhof, in den Untergrund folgt und danach in Beirut agiert, stirbt später beim Basteln einer Bombe in Nairobi, Judith

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dagegen wechselt – noch vor der Ausweisung Mundys – in Saschas Bett, bleibt aber in Mundys Gedanken haften – denn Treue ist eine seiner auffallendsten und konstantesten Züge. Er schreibt ihr von England aus zahllose Briefe nach Kreuzberg und ruft alle Kaisers an der deutschen Nordseeküste der Reihe nach an, um wenigstens über ihre ihm unbekannte Familie ihre neue Adresse zu erfahren. Erst Jahre später, als er als Stipendiat in Taos gerade im Selbstverlag ein Bändchen mit Gedichten an Judith, »Liebe radikal«, veröffentlicht hat (»verkannte Genies wie er selber sind sich einig in ihrer Bewun­ derung, aber die Kosten sind doppelt so hoch wie veranschlagt«44), erhält er einen langen Brief von Judith aus Toronto. Dieser ist einer der Höhepunkte des Romans – le Carrés Hass auf opportunistische Linke hat hier ein literarisches Meisterwerk geschaffen. Judith ist inzwischen geachtetes Mitglied der Anwaltskammer von Ontario, hat ihre kämpferische Natur aber nicht aufgegeben, sondern setzt sich primär dafür ein, die kanadischen Anwaltshonorare denen in den USA anzugleichen. Sie ist verheiratet und Mutter einer kleinen Jasmine, langweilt sich aber mit ihrem Mann, der sie betrügt, und könnte einen Geliebten in ihrer Hütte am Lake Joseph gut gebrauchen. Im Falle einer Scheidung rechnet sie mit einer Abfindung von zwei bis zweieinhalb (Millionen, nicht Peanuts). Mundy verbrennt die ihm noch verbliebenen Exemplare von »Liebe radikal«. Nachdem er beim British Council eine Stelle gefunden hat, heiratet Mundy die Mathematiklehrerin Kate, von der er einen Sohn bekommt. Aber auch diese Beziehung ist nicht glücklich – die Ehe dauert nur elf Jahre. Teils erweisen sich seine geheimdienstlichen Aktivitäten, über die sie nicht Bescheid wissen darf, als Hindernis seiner Ehe (wie übrigens auch seiner Karriere im British Council, da die zuständige Dame in der Personalabteilung sich hintergangen fühlt), teils ist Kates eigener politischer Ehrgeiz ein Problem. Sie ist kleinbürgerlicher Herkunft und eine energische Vertreterin von New Labour. Von Anfang an geht sie gegen die Trotzkisten in der eigenen Partei vor, und sie verlässt ihren ihr stets treuen Mann, nachdem sie eine Beziehung mit Philip, einem aufstrebenden Parteistrategen, eingegangen ist, die sie allerdings erst öffentlich werden lassen will, nachdem die Scheidung abgeschlossen ist. Diese muss aber selbst darauf warten, bis Philip seine in Aussicht stehende neue Stelle wirk­ lich hat. Kate ist klug und zielstrebig, aber sie ist wesentlich lieblos – 44

Ebd., 126 (eO 133).

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ihrem Mann ebenso wie der ganzen Welt gegenüber. Es fehlt ihr nicht nur eigene Größe, sondern auch jeder Sinn für die Größe anderer; ihre treibende Kraft ist kleiner Ehrgeiz. Als nach der Anheuerung Mundys durch die Stasi Diebe in ihr Haus einbrechen, kann sie sich das nur damit erklären, dass die Trotzkisten ihre Unterlagen stehlen wollen.45 Mundys stockende Karriere irritiert sie: »Da du, mein Schatz, ja bekanntlich lieber verhungerst, als in eigener Sache den Mund aufzumachen. Das ist dieser Public-School-Tic von dir – sich bloß nicht in den Vordergrund drängen. Nur, dass wir uns heutzutage leider alle in den Vordergrund drängen müssen, dafür hat der Thatcherismus glücklich gesorgt.«46 Die Art und Weise, wie sie schließlich die Ehe mit ihrem Mann abwickelt, ist sicher nicht unty­ pisch für die heutige Form des Vorgangs, aber nimmt nicht für Kate ein. Während die Ausbeutung von Frauen durch ihre brutalen Männer ein Topos der früheren Literatur ist, zeigt le Carré eine deutliche Umkehrung des Verhältnisses.47 Mundy, schuldbewusst, weil er zwar bei jeder Ostblockreise sein Leben riskiert, aber es seiner Frau nicht verraten hat, akzeptiert alle ihre – sehr egoistischen – Vorschläge; er ist sogar zu höflich, auf ihre Frage, er habe doch sicher die letzten Jahre nicht allein verbracht, mit der Wahrheit zu antworten.48 Kate ist im übrigen gegen alle ihre Grundsätze ausnahmsweise fast bereit, in der neuen Situation ihren Sohn in eine Privatschule zu schicken; sie erweist sich also auch als Opportunistin. Finanzielle Dinge will sie durch Anwälte klären lassen; später versucht sie, sich auch die Mundy in London abgetretene Wohnung unter den Nagel zu reißen.49 Nach dem Fall der Mauer, der unvermeidlicherweise den Verlust seines Jobs zur Folge hat, zieht Mundy nach Deutschland, zuerst nach Heidelberg, dann nach München. Dort knüpft er seine letzte Bezie­ hung an – mit Zara, einer jungen Türkin, der ihr inzwischen wegen diverser Verbrechen im Gefängnis einsitzender Mann die Zähne Ebd., 190 ff. (eO 202 ff.). Ebd., 227 (eO 241). 47 Das erinnert an Woody Allen; vgl. meine Reflexionen in: Woody Allen, München 2001, 78 f. Wegen dieser Inversion ist natürlich der Verweis auf Judiths lesbische Vergangenheit ironisch zu lesen – denn es gehört zu den Klischees der trivialen Spio­ nageromane, dass deren Meisteragenten routinemäßig lesbische, frigide usw. Frauen verführen und damit die sexuelle Allmacht des Mannes wiederherstellen. Judith dage­ gen behält ihre Führungsrolle – was sie nicht unbedingt sympathisch macht. 48 Ebd., 268 (eO 284). 49 Ebd., 276 f. (eO 293). 45

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engeschlagen hat und die, nicht viel anders als bekannte Vorbilder aus Dostojewski, mit Gelegenheitsprostitution ihren Sohn zu ernähren sucht. Zara ist ganz anders als Judith und Kate – sie ist auf Mundys Schutz angewiesen. Mundy und Zara leben längere Zeit zusammen, bevor er mit ihr schläft, und dies nur, nachdem der örtliche aufge­ klärte, ja weise junge Imam sein Plazet gegeben hat. Feministinnen werden tadeln, dass le Carré Frauen in der Rolle des Schutzobjektes dominierenden Frauen offenbar vorzieht. Entscheidend für sein Ver­ ständnis von Liebe ist die Wahrnehmung von Verantwortung50 – wie sie auch Barley gegenüber Katya in The Russia House zeigt. Die Judiths und Kates dieser Welt erlauben dem Mann nicht mehr, fürsorglich zu sein; dagegen ist Fürsorge in einer asymmetrischen Beziehung leichter, und wenn sich mit der traditionellen Geschlechterasymme­ trie auch eine kulturelle Asymmetrie verbindet, kann der britische Gentleman in einer veränderten Welt seine Überlegenheit fast ebenso spüren wie einst Rudyard Kiplings weißer Mann seine Last. Und dennoch ist die Kritik an einem paternalistischen Modell der Beziehungen zwischen den Geschlechtern und den Kulturen dann unangebracht, wenn man nicht erkennt, dass es zwar nicht ideal sein mag, aber doch besser ist als viele der real existierenden Alternativen. Mundy, der seine Kindheit in einem islamischen Land verbracht hatte, liebt die streng religiöse Zara aufrichtig, und sie gibt ihm viel zurück – am Ende ist sie es, die mit weiblichem Instinkt ganz richtig spürt, dass Mundy sich auf ein sehr gefährliches Abenteuer eingelassen hat, auch wenn er sie über seine neuen Pläne ebenso uninformiert lässt wie seinerzeit Kate. Kurz vor seiner Ermordung fliegt sie zu einem Familienbesuch in die Türkei – Rourke hat sie nur ausfliegen lassen, damit sie gleich nach der Ankunft in ihrem Heimatland verhaftet werden kann, wo die Vernehmungsmethoden denen in Guantanamo bekanntlich näherstehen als diejenigen in Deutschland.51 Der weise und liberale Imam wird in München immerhin auf unbefristete Zeit in Untersuchungshaft genommen: Das interkulturelle Geflecht, das Mundy in liebevoller Fürsorge zwischen Europa und dem Orient aufgebaut hatte, fällt dem Kampf gegen den Terrorismus zum Opfer. Eigentlich schade, zumal wenn man bedenkt, dass der einzige wirkli­ che Terrorist in dem Roman der mörderische Lügner Rourke ist.

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Ebd., 15 (eO 14). Ebd., 419 f. (eO 447).

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Le Carrés neuer Roman verbindet in intelligenter Weise viele Stränge. Wie in seinen früheren Werken sind politische und persönli­ che Dimension geschickt verwoben. Die absolute Freundschaft Mun­ dys und Saschas kann sich nur dank des gemeinsamen politischen Kampfes entfalten; und doch ist umgekehrt der politische Kampf nur die Hintergrundfolie für das, was wirklich zählt – individuelle Tugenden, unter ihnen eben die Fähigkeit zu unbedingter, heroischer Freundschaft. Für Sascha ist sie unvergleichlich wichtiger als alles andere in seinem unglücklichen, von dem Schatten seines Vaters ver­ unstalteten Leben; und auch wenn Mundy am Ende in der Beziehung zu Zara eine gangbare und dauerhafte Form der Liebe gefunden zu haben hoffte und sich daher Saschas Werben lange zu entziehen sucht, gelten doch seine letzten Worte seinem (schon toten) Freund, den er, fürsorglich wie in alten Berliner Tagen, zu beruhigen sucht. Immerhin weist der letzte Absatz des Werkes auf eine für beide Freunde wichtige weibliche Dimension: Die beiden »Terroristen« haben testamentarisch verfügt, neben ihren Müttern begraben zu werden – die Weiblichkeit siegt, aber nur in Gestalt eines archaischen Ganges zu chthonischen Kräften, nicht als uranische Macht, die uns hinanzieht. Zwischengeschlechtliche Beziehungen erweisen sich in le Carrés neuem Roman als viel komplexer und konfliktgeladener als gleichgeschlechtliche Freundschaften; und auch die Vermännlichung der Frau – wie sie in unterschiedlicher, groß- bzw. kleinbürgerlicher Form Judith und Kate vorführen – scheint keine zukunftsweisende Alternative zu sein. Gleichzeitig hat Absolute Friends eine klare politische Botschaft: Das Werk gibt zu verstehen, dass noch furchterregender als die Terroristen diejenigen sein können, die uns vor dem Terrorismus zu schützen beanspruchen. (Man denkt an Maxim Kantors großartiges Gemälde Requiem for a Terrorist.) Zwar ist der islamische Terrorismus nicht deswegen schon eine Fiktion, weil er in le Carrés neuem Werk, anders als in The Little Drummer Girl, abwesend ist. Aber das ändert nichts daran, dass le Carrés Warnung sehr ernst genommen werden muss. Der Bolschewismus war ohne Zweifel eine furchtbare Gefahr – aber er hat den Aufstieg von Faschismus und Nationalsozialismus erst möglich gemacht, deren letzterer gewiss kein kleineres Übel war als jener. Dass Angst vor Terrorismus bei der Bevölkerung, Zynis­ mus und Machtbesessenheit bei den Regierungen der Entstehung neuer autoritärer Staatsstrukturen günstig sind, liegt eigentlich auf der Hand, aber es ist trotzdem unverzichtbar, immer wieder darauf

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hinzuweisen und die alte Frage Juvenals zu stellen: Quis custodiet ipsos custodes? Wer wird die Wächter selbst bewachen? Le Carré hat mit seinem Buch das demokratische Bewusstsein geschärft und der Welt einen bedeutenden politischen Dienst geleistet. Auch einen lite­ rarischen? Zweifel kann man daran haben, ob diese – wichtige, aber schlichte – Botschaft mit den komplexen ethisch-politischen Dilem­ mata der früheren Werke konkurrieren kann. Rourke ist, trotz seiner formalen Vollendung, seinen nagelneuen Waffen und seiner Bezie­ hung zu den eigentlichen Entscheidungsträgern der letzten Welt­ macht, ein Scheusal, dem sogar der feine Humor des Herrn Pastors abgeht – er ist nicht einmal interessant. Ein verwöhnter Dandy wie er hat keinen Anspruch auf die Achtung, die selbst Karla verdient. Das Tragische ist bekanntlich nicht nur ein ästhetischer, sondern auch ein ethischer Begriff; und der ästhetische Wert der besten Tragödien resultiert u.a. daraus, dass es in ihnen um tragische Konflikte im ethischen Sinne des Wortes geht, in denen verschiedene, durchaus berechtigte Werte, oft in der Entscheidung des tragischen Helden, einander bekämpfen.52 Wenig hat so stark zur Differenziertheit des moralischen Urteils erzogen wie die Darstellung des Tragischen in der Literatur. Vom Tragischen in Smileys Entscheidungen war oben die Rede; wo aber ist Tragisches in Absolute Friends? Weder Rourke noch Sascha und Mundy sind tragische Figuren; der erste ist bar jeder Moral, und den beiden Freunden fehlt bis zum Ende ein wirkliches Bewusstsein ihrer Situation. Höchstens Amorys Quasi-Verrat am Schluss eignen tragische Züge. Doch er scheitert nicht nur, sondern ist von Anfang an chancenlos gegenüber dem nahezu allmächtigen Rourke. Die Reduktion des tragischen Potentials mindert den ästhe­ tischen Wert von Absolute Friends, der geringer ist als derjenige früherer Werke le Carrés. Und doch ist bei diesem Urteil eine Ein­ schränkung zu machen. Der Verlust an tragischen Konflikten ist eine notwendige Folge des Endes des Kalten Krieges. Francis Fukuyama hat schon in einem Aufsatz von 1989, dann in seinem Buch von 199253 behauptet, mit dem Sieg der USA habe das Ende der Geschichte begonnen – und dies mit durchaus gemischten Gefühlen festgestellt. Denn eine Folge davon sei der Niedergang des Heroischen und 52 Vgl. Mark Roches eindrucksvolle Typologie der Tragödie in: Tragedy and Comedy, Albany, NY 1998. 53 The End of History and the Last Man, New York 1992.

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Tragischen. Der Politiker- und Agententyp, den die neue Situation begünstigt, ist notwendig medioker, und er wird nicht besser, sondern schlimmer, wenn seine Macht nicht mehr kontrolliert werden kann. Die ästhetische Schwäche von Absolute Friends spiegelt die größere Banalität unserer Zeit gegenüber den 1970er und 1980er Jahren; und wenn ein Schriftsteller Seismograph seiner Epoche sein will, muss man ihn dafür bewundern, dass er um dieser Aufgabe willen auf eine ästhetische Differenziertheit verzichtet, die einer politisch flacheren Zeit nicht mehr entspricht. Es ist zu Recht hervorgehoben worden, dass in Absolute Friends wie in den Romanen jenes anderen großen britischen Schriftstellers, von dem le Carrés neuer Roman am deutlichsten inspiriert ist, Kiplings, Menschen wichtiger sind als Ideen.54 Das macht le Carré sympathisch, und doch liegt hier ein – literarisch nicht minder als philosophisch – ernstes Problem, Dass sich in le Carrés Perspektive die Amerikaner als die neuen Barbaren erweisen, ist ein politisches Übel, das umso bedrohlicher ist, als sie nunmehr keinen Gegenspieler haben, der sie mäßigen kann. Aber handelte es sich nur darum, so bestünde vielleicht die Möglichkeit, einen zum Scheitern verurteilten, aber wenigstens würdevollen Kampf gegen die neue Hegemonial­ macht zu konzipieren. In Wahrheit ist die Lage viel bedrohlicher, und es spricht für die unbedingte intellektuelle Integrität le Carrés, dass er sie keineswegs verhehlt. Nicht nur ist keine politische Alternative zu der US-amerikanischen Hegemonie sichtbar – man sieht auch keine konzeptionelle Alternative. »Nowhere do Sascha or Mundy come even close to formulating a coherent counterprogram, and in this sense the book reflects the diffuseness and confusion of the contemporary radical left just as much as it skewers the Bush administration.«55 Dies ist keineswegs ein Mangel des Romans, der bewusst dieses Vakuum erfahrbar macht – die einzige »alternative« Politikkonzeption wird in einer langen Rede von Dimitri skizziert, angeblich einem linken Philanthropen, in Wahrheit einem agent provocateur im Solde Rourkes. Man kann und soll ihm nicht glau­ ben, trotz der vielen Namen verdienter Linksintellektueller, die er fallenlässt. Damit hat le Carré durchaus den Nagel auf den Kopf getroffen: Die Macht der USA ist deswegen so groß, weil sie auch Vgl. Christian Caryl, Le Carré’s War on Terror, in: The New York Review of Books LI (2004), Nr. 13, 12–16, hier: 16. 55 Caryl, op. cit., 15.

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intellektuell nahezu alternativlos erscheint. Die deutsche Kultur ist nach zwei Totalitarismen nicht mehr in der Lage, einen Gegenentwurf anzubieten, und die britische Intelligenz lässt sich von den Kates dieser Welt führen. Während der Mangel an großen, utopischen Ideen von le Carré als Signatur der Zeit anerkannt wird, scheint er mir allerdings mit seinem vagen Verweis auf die Weisheiten des Orients – der in der britischen Literatur Tradition hat – einen ihm durchaus selbst zuzurechnenden Gemeinplatz zu verbreiten. Davon abgesehen, dass es nicht allzu viele weise und liberale Imams gibt, wüsste man gerne mehr über den Inhalt dieser Weisheit; hier bleibt le Carré selber so programmatisch wie im literarischen Universum des Romans seine an der alternativen Universität bastelnden Helden. Literatur ist in mancherlei Hinsicht mehr als Philosophie – sie bietet jedenfalls eine Detailerkenntnis, die dem begrifflichen Denken versagt ist. Und doch kann ohne Philosophie die Literatur deswegen nicht auskommen, weil sie meistens menschliches Handeln beschreibt; dieses aber ist – wenigstens dort, wo es interessant und literabel wird – von Ideen geleitet. Ohne moralische Ideen hat staatliche Aktion keine Legitimation; und ohne eine solche sind die Sekundärtugenden von Soldaten und Agenten nichts anderes als Zuckungen im Apparat der Macht, der auch dann keine Achtung und keine Dichtung verdient, wenn er die Weltherrschaft erringen sollte. Der Einsatz für einen derartigen Staat ist einem moralischen Menschen nicht mehr zuzumuten: Sascha und Mundy sind seit 1989 ausrangierte Agenten; und Amorys tiefe Perplexität beim letzten Treffen mit Mundy sowie sein hilfloser Versuch, nach dem Tode seiner Schützlinge im Internet die Wahrheit zu berichten, zeigen, dass auch er den Beruf wechseln muss. Eine Geheimdienstwelt, die von Rourke kontrolliert wird, ist eines großen Romans nicht mehr würdig. Was wird le Carrés nächstes Projekt sein? Wird er das Genre wechseln (wie er es etwa in The Naïve and Sentimental Lover getan hat)? Oder wartet er darauf, dass die vorschnell »Ende der Geschichte« benannte Epoche selber endet, vielleicht rascher als man denkt?

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Religion, Religionsverlust und Erzählstrategien in einer neueren Autobiographie Zu Johannes Hösles Vor aller Zeit. Geschichte einer Kindheit sowie Und was wird jetzt? Geschichte einer Jugend

Wie einen Kollegen ehren, der, obwohl aus der fernen Kantstadt Königsberg stammend, jemanden herzlich in Ulm willkommen hieß, dessen familiäre Wurzeln in der näheren Umgebung liegen? Vielleicht durch einen kleinen Beitrag zu einem Werke, das um Ulm herum spielt und in dem es auch um eine Reise in die berühmte Stadt Ulm geht, wo der Onkel des Autors dieses Werkes an einer Volks­ schule Wissen und katholische Werte vermittelte. Es war für den Autor dieses kleinen Festschriftenbeitrages eine besondere Freude, 1989/1990 in Ulm in Herrn Honold. jemandem zu begegnen, der diesen aufrechten Onkel noch gekannt hatte. Denn dieser Mann war sein eigener Großonkel, und der Autor des zu besprechenden Werkes ist sein Vater. Aus dessen Erzählungen wusste ich zwar schon, dass er als Kind immer gedacht hatte, Gott müsse diesem strengen, bärtigen, unverheirateten Onkel sehr ähnlich sehen, aber es war doch eine besondere Freude, nun jemandem außerhalb der Familie zu begegnen, der ihn noch gekannt hatte. Das breite Echo, das der erste Band der 2000 bei C.H. Beck erschienenen Autobiographie des emeritierten Regensburger Roma­ nisten auslöste – sie ist kurz darauf in einer zweiten Auflage erschie­ nen und 2002 als Taschenausgabe bei dtv –, mag rechtfertigen, dass sich nun auch jemand dazu äußert, der im Verdacht stehen könnte, befangen zu sein. Doch selbst der Sohn des Autors teilte bei der Lektüre das Gefühl der meisten Leser, mit einer Welt konfrontiert zu sein, die kaum weniger exotisch scheint als die ferne Welt Nepals oder Kolumbiens. Denn das dörfliche Oberschwaben der 1930er Jahre, in dem die erinnerte Kindheit des 1929 geborenen Autors sich abspielt, ist durch die große Wasserscheide der Modernisierung von dem heuti­ gen Deutschland geschieden, eine Wasserscheide, die für größere Dif­ ferenzen verantwortlich ist als alle geographischen Distanzen, sofern

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Religion, Religionsverlust und Erzählstrategien in einer neueren Autobiographie

die getrennten Gegenden nur alle durch die Modernisierung geprägt sind. Zu dieser gehört zwangsläufig eine Veränderung der religiösen Weltwahrnehmung. Man mag diese Veränderung »Säkularisierung« nennen, wenn der Begriff nur nicht ein Ende der Religion unterstellt. Die im ersten Band erinnerte Welt ist eine durch und durch katholische Welt, in der Gott allgegenwärtig ist – alles hört, sieht und weiß – und seine Mühlen langsam, aber unerbittlich fein mahlen lässt (so etwa einen Müller mitsamt seiner Familie ersäuft, weil er Hostienfrevel getrieben hat), eine Welt, in der die Schutzengel traurig wegschauen, wenn man sündigt, und einen also nicht mehr schützen, in der die armen Seelen, deren Gräber man mit (aus Faulheit mit normalem Wasser) verdünntem Weihwasser besprengt hat und die deswegen noch im Fegefeuer leiden, sich nachts auf die Brust des Faulpelzes legen, in der der Pfarrer zwar Epaminondas und Cornelius Nepos liebt, aber sich darüber grämen muss, dass sie ungeachtet ihrer menschlichen und literarischen Tugenden weder in den Himmel noch ins Fegefeuer kommen können, in der rauhreif­ überzogene Pappeln – »hoch, hell, rein, licht und ganz weiß« (35) – als Marienerscheinungen erfahren werden. Selbst die zaghaft Einzug haltende Moderne hat für den Ich-Erzähler nur die Wirkung der Verstärkung der geradezu mittelalterlichen Ängste: Eine der ersten Leuchtreklamen im Dorf beleuchtet abends in regelmäßigen Abstän­ den ein Standbild des gegeißelten und dornengekrönten Christus und lässt somit dessen Blick besonders vorwurfsvoll erscheinen. Es ist dies eine Welt, in der die zentrale Stellung des Dorfpfarrers ebenso unbestritten ist wie die Ausrichtung auf Rom, in der das höchste Ziel des begabten Kindes ist, selbst Pfarrer zu werden (auch um nicht harte physische Arbeit leisten zu müssen), und in der gleichzeitig die Anerkennung der kirchlichen Hierarchien es einem erlaubt, das anmaßende Verhalten der Dorfadligen, die in einem unzugänglichen, kafkaesk wirkenden Schloss wohnen, zu kritisieren. Auch wenn fast alle in diesem Universum katholisch sind, ist nicht nur die moralische, sondern auch und gerade die religiöse Einstellung der einzelnen sehr unterschieden – neben der tiefreligiösen Mutter, der kindlich-naiven älteren Schwester, dem trotz der Schande seiner unehelichen Geburt an Gottvater erinnernden, asketisch lebenden Lehreronkel gibt es etwa die Großmutter, die zwar jeden Tag in die Kirche geht, aber eigentlich überhaupt nicht fromm ist, und einen Oheim, der während der Messe Grimassen schneidet. Es ist dies eine Welt, in der Sterben und Töten ein ganz normaler Teil des Lebens sind, in der zur Freude der

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Religion, Religionsverlust und Erzählstrategien in einer neueren Autobiographie

umstehenden Kinder der Sandwirt die Sau mit dem Vorschlagham­ mer, und zwar nicht immer mit wenigen Schlägen, öffentlich tötet und ihr dann das Messer in den Hals stößt, in der verreckte Gäule auf den Hof geworfen werden, bis sie der Schindersknecht holen kommt, in der der süßliche Geruch aufgebahrter Leichen von Knaben und Mädchen eingesogen und kommentiert wird. Es ist dies eine Welt, in der man über Kinder, die wegen mangelnder Leistungen aus dem Gymnasium wieder ins Dorf zurückgeschickt werden, höhnisch herzieht, in der man gefangene Maikäfer einzeln tötet, um mehr Spaß zu haben, in der es im Nachbardorf sogar leibhaftige Evangelische gibt, denen man zur Freude der Muttergottes am Abend nach der Maiandacht die Fenster einwirft, damit sie wenigstens merken, wer den rechten Glauben hat, und in der die schlimmste Versuchung, die durch eine Bude mit einem auf ein Brett gemalten roten Teufel mit krummem Finger und ihre beiden Insassen repräsentiert wird, schlicht und ergreifend normaler sexueller Natur ist. Es ist dies eine Welt, in der die Erbauung an den Märtyrerlegenden gleitend übergeht in die sadistische – und daher zu beichtende – Freude an der Züchtigung verpetzter Kameraden durch eine altjüngferliche Lehrerin und in der jene Erbauung gleichzeitig einen stärkt in der neuen Zeit der Christenverfolgung: Denn diese Welt verliert ihre Geschlossenheit angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung, der einige erliegen, während andere, um den Dorfpfarrer geschart, weiterhin an den Fronleichnamsprozessionen teilnehmen und sich durch die Hitlerei nicht beirren lassen. Die suggestive Kraft der Schilderung dieser Kindheit wird durch einen doppelten erzählerischen Kunstgriff geleistet. Einerseits ist die Geschichte dieser Kindheit gerade nicht von einer Entwicklungs­ dimension gekennzeichnet: Es wird nicht nach einzelnen Jahren berichtet, sondern eine grundsätzliche Gleichzeitigkeit all dessen, was erzählt wird, dadurch vermittelt, dass das Kirchenjahr das gliedernde Prinzip ist: Advent und Weihnachten, Fasching und Fastenzeit, Ostern und Weißer Sonntag, das Dorffest, Kirchweih und Allerseelen sind Themen der zentralen Kapitel. (Hinzukommt eines über »Andachten, Wallfahrten und Prozessionen« sowie ein relativ selbständiges, sich in das Ganze schlechter fügendes über die Sparleidenschaft des kleinen Helden.) Die zyklische Zeit ist viel wichtiger als die lineare Zeit, und wie bei Mircea Eliade sind die Feste keineswegs nur Erinnerungen, sondern Vergegenwärtigungen der heiligen Zeit. Der Titel des Buches, der auch der des ersten Kapitels ist, Vor aller Zeit, der deutschen

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Fassung des »Te deum« entnommen, deutet eben diesen Unterschied zur normalen Zeit an, deren Einbruch erst am Ende der Kindheit erfolgt: »1939/40« ist das letzte Kapitel lapidar betitelt. In ihm geht es einerseits um den Kriegsausbruch (der auch in Thomas Manns Zauberberg den Fall aus der magischen Zeit verursacht), andererseits um den Tod des Vaters, der nicht nur als äußerliches biographisches Ereignis relevant ist, sondern auch in das wohlgefügte Weltbild erste Risse bringt: Die Gebete um die Genesung des Todkranken helfen ebenso wenig wie das wunderkräftige Öl der Heiligen Rita. Zwar gelingt es dem Halbwaisen, den entsetzlichen Gedanken, die Heiligen seien »nichts anderes als ein bißchen bemalter Gips oder geschnitztes, wurmstichiges Holz« (127), als offenbar vom Teufel eingegeben zu unterdrücken, aber es sind derartige Risse, die den Entwicklungsgang im zweiten, 2002 erschienenen Band bestimmen und diesen, trotz aller Abschweifungen, zu einer Art autobiographischem Bildungsro­ man machen. Und was wird jetzt?, ein Vers aus Erich Kästners Gedicht Das Riesenspielzeug, ist als Titel kontrapunktisch zu demjenigen des ersten Bandes gewählt, um die neue Form von Zeitlichkeit zu charakterisieren, die nun erreicht ist. Andererseits ist die Perspektive, aus der im ersten Band erzählt wird, besonders geschickt gewählt. Es ist die Perspektive eines altklu­ gen Kindes, das von seinem katholischen Glauben aus die gesamte Welt deutet, freilich immer wieder Fragen stellt, die die Erwachse­ nen in Verlegenheit bringen und die in der Tat eine beachtliche Sprengkraft besitzen. Die Rekonstruktion der vormodernen Welt aus der Perspektive des Kindes suggeriert natürlich eine Wesensver­ wandtschaft zwischen vormoderner Welt und Kindheit, eine Parallele zwischen Ontogenese und Phylogenese. Diese wird verstärkt durch die schwejkschen Züge des Kleinen, der sich oft hinter seinen großen Geschwistern versteckt, sich aber gleichzeitig bei Pfarrer und Lehrerin beliebt zu machen sucht und meint, sich im ganzen Universum auszukennen. Freilich ist der schlaue Tor intellektuell offener als seine Umgebung, die wie Sancho Panza sehr gerne in Sprichwörtern und Allgemeinplätzen redet und auf seine konkreten und präzisen Fragen meist keine Antwort weiß. Das ergibt sich schon daraus, dass das altkluge Kind mit dem Erzähler identisch ist, wenn auch durch sechzig Jahre getrennt. In der Tat ist die Erzählerperspektive als Perspektive des Kindes ungenau beschrieben worden, denn worum es eigentlich geht, ist die erinnerte Perspektive des Kindes. Mit der Wahl des Imperfekts als des durchgehend benutzten Tempus wird eine subtile

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Distanzierung erreicht, die zudem zeigt, dass auch der Erzähler selbst jene Altklugheit als komisch empfindet. Man glaubt keineswegs ein Kind zu hören, sondern man spürt genau, dass hier ein Erwachsener sich an seinen kindlichen Weltzugang erinnert und absichtlich gerade jenen Teil des kindlichen Bewusstseinsstroms auswählt, den er heute selber als besonders fremd empfindet. Ein Beispiel: Am schlimmsten war es für die katholischen Missionare, wenn sie in Afrika irgendwo hinkamen, wo schon evangelische dagewesen waren. Die erzählten zwar auch ab und zu etwas von Jesus, aber ganz bestimmt nichts von der Heiligen Maria. Und das Ärgste war, daß die Heidenkinder gar nicht wissen konnten, dass von dem, was ihnen von den evangelischen Missionaren erzählt worden war, nichts richtig stimmte. Und dann kam vielleicht noch einer, und der erzählte alles wieder anders, weil er von einer anderen Sekte war. Da war es höchste Zeit, dass ein katholischer Pater kam und erklärte, wie es wirklich gewesen war. (30)

Eine explizite Distanzierung des heutigen Erzählers, eine Einführung seiner eigenen Perspektive, wird stets unterlassen und hätte ohne Zweifel die Einheitlichkeit der geschilderten Welt gefährdet; sie hätte nur die kindliche durch eine erwachsene Altklugheit ersetzt und den Leser bevormundet. Bei aller Distanz empfindet der Leser ferner, dass der Autor mit seiner Kindheit nicht hadert; von einer Gottesvergif­ tung wie bei Tilmann Moser ist nicht die Rede, statt Groll oder gar Hass ist Humor die herrschende Stimmung, der nur selten zur Ironie wird. Die untergegangene Welt wird nicht verklärt, aber trotz all ihrer grausamen und grotesken Züge eignet ihr auch für den Blick aus der Distanz eine eigentümliche Würde, etwa in ihrer weitgehenden Unverführbarkeit durch den Nationalsozialismus. Im zweiten Teil dagegen ist zwar auch die Perspektive des Jugend­ lichen dominierend, aber der sich heute erinnernde Autor tritt immer wieder als solcher auf, und Distanzierungen von der Perspektive des Jugendlichen erfolgen explizit. Reflexionen auf das vermutlich baldige Erlöschen seines Erinnerungsvermögens finden sich ebenso wie Zweifel an der Genauigkeit der eigenen Erinnerung: Kannte 1948 der Autor schon das Wort »Engagement«, oder handelt es sich dabei um eine Retrojektion? Interessant ist in diesem Sinne etwa der folgende Absatz: Nach mehr als einem halben Jahrhundert ist mir kaum eine Erinnerung an das Aussehen, an die Gesichtszüge von Heinz Karg verblieben. Dies gilt jedoch nicht für die mit ihm verbrachten Stunden und die mit ihm

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geführten Gespräche im Anschluß an den Austausch der neuesten Nachrichten von den Kriegsschauplätzen. Um so unbegreiflicher schien es mir, daß gerade er als einziger der zu den Flakhelfern einge­ zogenen Schüler unserer Klasse bei dem Luftangriff auf Augsburg töd­ lich getroffen wurde. Die Geschlossenheit meines religiösen Weltbil­ des, das bereits zuvor Sprünge und Risse erhalten hatte, ist damals zerbrochen. Wie war es möglich, dass gerade mein Freund starb, wenn Gott, wie ich doch zuversichtlich geglaubt hatte, allwissend, allmächtig und allgütig war? ... Vom Bittsteller wurde ich zum Fragesteller. Als Folge wurde im Lauf der Jahre aus dem Glauben meiner Kindheit am Ende eines langen und keinesfalls linearen Prozesses eine inhaltsleere Hülse, wurde der persönliche Gott, mit dem ich groß geworden war, zu einem kaum noch wahrnehmbaren Schemen. (51 f.)

Die Unpersönlichkeit, in der Heinz Karg, ohne eigene Gesichtszüge, erscheint, ist nicht nur der des neuen Gottesbegriffes analog, sondern stellt das Theodizeeproblem in besonderer Abstraktheit und Allge­ meinheit und verschärft es dadurch: Denn jeder kann sich nun leicht sein eigenes, persönliches Äquivalent zu Heinz Karg vorstellen, was wesentlich schwieriger wäre, wenn er ebenso plastisch gezeichnet wäre wie viele der anderen Figuren der beiden Bände. Eine Autobiographie ist zumal dann interessant, wenn es in ihr um die individuelle Zuspitzung typischer Erfahrungen geht. Von besonderer Bedeutung ist die Darstellung der Auflösung der ursprünglichen Religiosität des Autors, weil dieser Prozess vermut­ lich von gar manchen Menschen im 19. und sehr vielen im 20. Jahrhundert analog erlebt worden ist. Gleichzeitig deuten die Erzähl­ strategien des Autors an, dass dieser Prozess vielschichtiger und weniger endgültig ist, als er vermutlich den Lesern des ersten Bandes erschienen ist, wo gerade die Abwesenheit von Reflexionen auf den Erzähler den Eindruck absoluter Distanz von der kindlichen Religio­ sität erzeugte. Hervorzuheben ist zunächst die Allmählichkeit des Religionsverlustes – keineswegs gibt es ein einzelnes dramatisches Ereignis. Noch Jahre nach dem Tod des Vaters und Heinz Kargs wird das Priesteramt als Beruf ernsthaft erwogen, und zwar nicht nur um der Mutter einen Gefallen zu tun. Die idyllische Ruhe einer Landpfarrerexistenz mit viel Muße für die Lektüre erscheint noch lange als Ideal. Es ist mehr das Problem des Zölibates, das von einem Theologiestudium abführt, als die Glaubenszweifel. Das Gefühl, nicht mehr zur Kirche »dazuzugehören«, wird endgültig bei einem katholischen Gottesdienst in Frankreich, der in den letzten Seiten des Buches beschrieben wird, doch auf diese Erfahrung folgt im Buch ein

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Traum, der die eigene Vermählung vorwegnimmt, und diese erfolgt im Traume an keinem geringeren Ort als im Mailänder Dom, in dem der Autor in Wirklichkeit noch nie gewesen ist (die Braut ist Mailänderin, doch ist nur die erste Begegnung mit ihr ausführlich beschrieben; was dazwischen erfolgte, bleibt ausgespart). Wichtig bei der Sprengung des eigenen dörflich-mittelalterlichen Weltbildes sind die Entfernung aus der familiären und heimatlichen Umgebung, etwa das Studium in Tübingen und später der Aufent­ halt als Assistent an einem weitgehend säkularisierten französischen Gymnasium. Aber schon im Dorf spielt gerade der Nationalsozialis­ mus die Rolle einer modernisierenden Kraft. Es ist beachtlich, wie differenziert die Analyse der wenigen Nationalsozialisten ausfällt, denen der Junge begegnet – fast so differenziert wie diejenige des Katholizismus. Einerseits gibt es für den Jugendlichen wie für den Erzähler keinen Zweifel daran, dass die deutsche Niederlage als Sieg über »das in Hitler Person gewordene Böse« (73) begrüßt werden muss. Schon als Knabe hat er die Kriegspropaganda als verlogen durchschaut, und selbst die Enthüllungen nach 1945 überraschen nur durch das Ausmaß der Verbrechen, nicht durch die Verbrechen als solche. Die moralische Integrität des Dorfpfarrers, der sich über die Kriegserklärung an die USA freut, weil er weiß, dass das der Anfang vom Ende ist, aber auch die symbolische Geste einer Mutter, die aus einer Hakenkreuzfahne einen Badeanzug für ihren Sohn schneidert, sind der Gegenpol zum mörderischen Fanatismus eines Uniformierten, der noch Ostern 1945 den Knaben im Volkssturmlager sein Lieblingslied »Und wenn das Judenblut vom Messer spritzt,/ Ja, Messer spritzt,/ Dann geht’s noch mal so gut« beibringt (60). Ande­ rerseits gibt es auch gutmütige Nazis, so einen weichherzigen Gymna­ siallehrer, der im Unterricht in eine Vase vor einem großen Hitlerbild regelmäßig Blumen steckt; und es gibt die als Vertretung von außen gekommene Ärztin, die als ledige Mutter zutiefst beunruhigend ist und deren nationalsozialistisch-heidnische Gesinnung sich nicht nur daran zeigt, dass sie ihren jungen Patienten verführen möchte, sondern dass sie ihn auch für Goethes Faust zu begeistern sucht. Das scheitert freilich daran, dass das Vorspiel im Himmel sich als mit den theologischen Vorstellungen des Jungen unvereinbar erweist, von der Tatsache ganz abgesehen, dass Goethe Protestant, ja Freimaurer gewesen sei. (Die konfessionellen Grenzen sind auch Grenzen des literarischen Interesses – ja selbst an Eichendorffs Das Marmorbild ist im Dorf nicht leicht heranzukommen, weil die zuständige Schwester

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in der Pfarrbücherei durch das Bild einer weiblichen Statue im Buche beunruhigt ist.) In mancherlei Hinsicht erscheint die sozial engagierte Nazi-Ärztin, die der Mutter des Helden zutiefst unheimlich ist, als Vertreterin einer offeneren Weltanschauung. Auch die Restaurations­ bemühungen nach dem Krieg werden aus der Distanz mit Ironie betrachtet, die der französischen Besatzungsmacht nicht weniger als die der katholischen Kirche: Eines der Hauptanliegen des Pfarrers, der zum Christkönigstag die Jugend sammelt, ist die Wiederherstellung der Konfessionsschule, und als ausreichendes Argument dafür gilt, sie sei von Hitler abgeschafft worden. Eine allgemeine Öffnung des Horizontes und die zunehmende Erfahrung der Ungerechtigkeiten der Welt, eine Erfahrung, die dank der Bekanntschaft mit einem Dichter wie Heine nun in einer Weise artikuliert werden kann, die sie noch erschreckender macht, sind nicht der einzige Grund für den zunehmenden Religionsverlust. Nicht minder wichtig ist die Begegnung mit Geistlichen, an denen die Gnadenwirkung der von ihnen zelebrierten Messen nicht ersichtlich ist. Eine trockene Beschlagenheit im Codex juris canonici anstatt einer inneren Freude aufgrund der Seligpreisungen bei dem einen, Bösartigkeit bei dem anderen der geistlichen Gymnasiallehrer führen zur weiteren Versiegung der religiösen Gefühle, und diese werden auch durch den großmütigen Domkapitular Hufnagel nicht mehr wie­ derhergestellt, der sich in Rottenburg um die katholischen Studenten aus Tübingen bemüht. In einer der sprachlich gelungensten Passagen des Buches heißt es: Jedesmal, wenn ich zu den farbenprächtigen Spiralen der Deckenma­ lereien einer unserer oberschwäbischen Barock- und Rokokokirchen hinaufschaue und von all dem blendenden Glanz nicht genug bekomme, bevor nicht die Augen tränen und ein leichtes Schwindel­ gefühl und der vom langen in die Höhe Starren steif gewordene Hals mir nahelegen, es endlich mit dem staunenden Betrachten genug sein zu lassen, wundere ich mich ein wenig, daß mir nicht von dort oben aus dem himmlischen Reigen seliger Geister ... Alfons Hufnagel freundlich lächelnd zuwinkt. (139 f.)

Obgleich die katholische Sozialisierung auch noch viele Kontakte und Freundschaften der Studienzeit bestimmt, führt doch gerade das Studium zum endgültigen Bruch mit der religiösen Erziehung. Schon der Dorfpfarrer hatte vor den Gefahren des Studiums gewarnt und auf David Friedrich Strauss verwiesen. Aber wichtiger noch als die historische Bibelkritik ist die Schopenhauerlektüre für das

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Philosophicum. Während es freilich in den Buddenbrooks der Leser Thomas ist, der in eine Krise gestürzt wird, ist das eigentliche Opfer Schopenhauers bei Hösle nicht er selber – denn Schopenhauer bringt nur auf den Begriff, was er selbst schon seit längerem empfindet –, sondern seine Mutter, die, auf den Krebstod wartend, das Buch des in den Ferien nach Hause zurückgekehrten Sohnes in die Hand nimmt und liest. Am nächsten Morgen fand ich, als ich von meiner Schlafkammer her­ unterkam, die Mutter leichenblaß und mit fiebrigen Augen vor. Ob sie eine schlechte Nacht gehabt habe, fragte ich sie. Ja, das habe sie. Nicht so sehr ihre Schmerzen seien es allerdings gewesen, die sie um den Schlaf gebracht hätten, sondern diese Bücher, in denen sie zu später Stunde noch gelesen habe. Danach habe sie keine Ruhe mehr finden können und sich vorwurfsvoll gefragt, ob es überhaupt recht von ihr gewesen sei, daß sie nichts unversucht gelassen habe, um mir ein Stu­ dium meiner Wahl zu ermöglichen. ... Ob ich denn denke, daß sie eine unwissende Frau sei, weil sie um alles in der Welt ihren Glauben nie und nimmer aufgeben und verleugnen würde? (189 f.)

Zwar kann und will der Sohn, anders als James Joyce, die Mutter mit Ausflüchten beruhigen, aber in Wahrheit ist er zu dem Zeitpunkt von der Richtigkeit des Schopenhauerschen Systems überzeugt, das er auch und gerade durch den Tod seiner Mutter bestätigt sieht. Diese freilich stirbt als ergebene Christin, und ihr Katholizismus bewährt sich gerade in ihrem gefassten Tode. Für den Erzähler scheinen in der Retrospektive beide Deutungen ihres Todes möglich; von Scho­ penhauer findet eine leise Distanzierung statt, wenn es einschränkend heißt, »daß seine, wie mir scheinen wollte, schlüssigen Argumentatio­ nen den Glauben meiner Kindheit zertrümmert hatten« (191). Eine analoge Differenzierung zwischen Subjekt und Objekt der Erzählung zeigt sich auch in der Geschichte um das Finden einer Wohnung in Tübingen, dem ersehnten Studienort. Von einer vergeblichen Zim­ mersuche aus Tübingen zurückgekehrt, ärgert sich der Erzähler nur über die fromme Zuversicht von Mutter und Schwester, eine Türe werde sich schon noch auftun. Aber gerade eine zufällige Begegnung im eigenen Dorf führt providentiell zum Finden der so dringend benötigten Wohnung. Freilich ist die Bestätigung des Gottvertrauens der Familienangehörigen insofern paradox, als die Studienzeit die Abkehr von dem familiären Weltbild bewirkt. Es versteht sich, dass diese Ablösung unter großen Gewissens­ qualen vor sich geht. Bei ihrer Bewältigung und Neutralisierung spielt

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die Psychoanalyse eine bedeutende Rolle, die der Student, so wie auch die biologische Verhaltensforschung, durch Studienfreunde aus anderen Disziplinen kennenlernt, die für seine Bildung nicht weniger wichtig sind als die Professoren, bei denen er hört. Interessant sind die Diskussionen um den wissenschaftlichen Status der Psychoana­ lyse, den zwei Biologie studierende Freunde ganz unterschiedlich einschätzen. Aber was auch immer ihre Wahrheit, ihr Nutzen ist für den jungen Johannes beträchtlich, denn dank ihrer gelingt es ihm, sein Seelenleben zu objektivieren und sich dadurch von ihm zu distanzieren. Träume spielen in beiden Bänden eine wichtige Rolle – der erste beginnt, der zweite endet mit einem Traum. Die quälenden Träume mit Botschaften der verstorbenen Mutter werden freilich nicht beschrieben – nur ihre Deutung als kausal notwendiger Resultate des eigenen Seelenlebens wird erwähnt. Nach der ... Lektüre ausgewählter Texte von Freud war ich den Träumen jedoch nach dem Erwachen nicht mehr wehrlos ausgeliefert. Nun brachte ich es fertig, jede kopflose Reaktion zu vermeiden. Sonst wäre es mir nicht gelungen, den jahrelang währenden ständigen Wechsel von weltanschaulicher Nesthockerei und -flucht ein für allemal zu unterbrechen und das sich zumeist im Morgengrauen einstellende Alpdrücken als das zu deuten, was es war: das notwendige Ergebnis meiner religiösen Erziehung, nicht eine reale Botschaft meiner wenige Monate zuvor verstorbenen Mutter aus dem Jenseits. (220 f.)

Wie der Tod des Vaters (1940) das Ende des ersten Bandes markiert, so die unmittelbare Zeit nach dem Tod der Mutter (1952) das Ende des zweiten. In diesem Jahr verbringt der Autor Weihnachten zum ersten Mal nicht zu Hause, sondern in Monte Carlo. Dies hat mit der Einladung zu einer Tante der Freundin nach Alassio zu tun sowie der Tatsache, dass er an der französisch-italienischen Grenze wegen eines fehlenden Einreisevisums zum nächsten Konsulat zurückgeschickt wird. Zwei Aspekte schälen sich als für den weiteren Werdegang entscheidend heraus: Der schon erwähnte Traum deutet an, dass es diesmal nicht bei der Unverbindlichkeit früherer Mädchenfreund­ schaften bleiben werde; und Italien rückt ins Zentrum des Interesses. Während er sich zum zweiten Mal, nun mit dem erforderlichen Visum, der italienischen Grenze nähert, hat der Autor das Gefühl, »in einer neuen Welt angekommen« zu sein. »Sie galt es nun zu erkunden und zu entdecken.« (224) Dieser letzte Satz des zweiten Bandes soll offenbar Neugierde auf den dritten wecken, in dem der Autor vermutlich seine italienischen

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Jahre, u.a. seine Zeit als Direktor des Mailänder Goetheinstituts, beschreiben wird. Er ist aber auch deswegen ein passender Abschluss, weil mit den Kategorien der Erkundung und Entdeckung eine geistige Einstellung beschrieben wird, die den vermeinten Sicherheiten des kindlichen Weltbildes entgegengesetzt ist. Ohne den Bruch mit diesen Sicherheiten hätte der Autor schwerlich Wissenschaftler werden kön­ nen, auch wenn seine Wissenschaft eine der »weichsten« ist – die Literaturwissenschaft, die er nun am Ende seines Lebens mit der Lite­ ratur vertauscht. (Er selber stellt heraus, wie wenig er naturwissen­ schaftlich und philosophisch begabt war.) Gleichzeitig ist das Faszi­ nierende an seiner Berufung – diese Kategorie spielt eine zentrale Rolle im Buche –, dass sie in wesentlich größerer Kontinuität mit sei­ ner katholischen Herkunft steht, als sich wenigstens der Held, viel­ leicht sogar der Erzähler Rechenschaft gibt. Für Italien hat sich schon das Kind des ersten Bandes als das Land des Papstes interessiert, und in Dantes Inferno, das eine fromme Tante besitzt, versenkt er sich erstmals gerade in den Tagen nach dem 20. Juli 1944. Die Literatur ist ihm offenbar nicht bloß ein Gegenstand positivistischer Samm­ lerneugierde, sie ist in vielem ein Ersatz für das verlorengegangene Weltbild der Kindheit. Verlorengegangen ist es im übrigen nicht des­ wegen, weil er etwa mit den moralischen Werten des Christentums gebrochen hätte: Gerade weil er die Lehre von der Gnadenwirkung der Messe so ernst genommen hat, hat er Schwierigkeiten mit dem Verhalten jener Geistlichen; und nur Schopenhauers Protest gegen das Leiden in der Welt, nicht den Immoralismus Nietzsches (der ungenannt bleibt) macht er sich in Tübingen zueigen. Die Weltan­ schauung des Erzählers, anders als die des Studenten, bleibt in der Schwebe; vielleicht ist er sich selbst über seine Position zu den letzten Fragen nicht im klaren. Der Bruch mit dem Katholizismus hat damit zu tun, dass Hösle ihm kaum einzelne Momente zu entnehmen ver­ mag; er erscheint ihm als eine Einheit, und zwar nicht nur in seinen Dogmen, sondern auch in der Verbindung von Theorie und Lebens­ form, eine Einheit, die man als ganze annehmen oder ablehnen muss. Dies ist ein vorkonziliares Verständnis des Katholizismus, und ferner verwechselt Hösle immer wieder den dörflichen Volkskatholizismus mit dem Katholizismus »an sich«. (Immerhin lernt er im Katholizis­ mus eines Pariser Freundes eine Variante kennen, die sich von der seinen unterscheidet, wenn auch nicht so, dass das die Kommunika­ tion zwischen beiden erschwerte.) Man kann allerdings in der Wei­ gerung, nach Laune aus dem Weltbild der Kindheit auszulesen,

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Religion, Religionsverlust und Erzählstrategien in einer neueren Autobiographie

ebenso wie in der ständigen Präsenz des Todes in beiden Bänden Rudimente eben dieses Weltbildes erkennen, die vielleicht sogar zu dem Urteil berechtigen, Johannes Hösle habe, malgré lui, zwei emi­ nent katholische Bücher geschrieben. Sein Humor und sein Grund­ vertrauen in die Welt auch nach dem Verlust seines Kinderglaubens, sein Sich-selbst-nicht-wirklich-ernst-Nehmen und sein scharfer Blick für moralische Differenzen im Universum sind nicht das Unwichtigste am Katholizismus, und auf jeden Fall verknüpft Hösles Umgang mit ihm zwei Eigenschaften, die nicht oft zusammen anzutreffen sind: Ehrlichkeit und Wohlwollen. Wer heute ernsthaft darüber nachdenkt, was zum »Wesen« des Katholizismus auch nach dem Untergang sei­ ner von Hösle beschriebenen Form gehört, wird aus seiner Autobio­ graphie Inspiration beziehen. Man darf gespannt sein, wie sein spä­ terer Lebensweg und besonders: wie die literarische Verarbeitung seines Weges weitergehen wird.

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Die Altersfrucht des Frühreifen Albert von Schirndings Jugend, gestern

Albert von Schirnding gehört nicht zu den international bekannten Figuren der deutschen Gegenwartsliteratur. Keines seiner Bücher ist bisher in eine Fremdsprache übersetzt worden, und wer im Worldcat die Verbreitung seiner Werke in den wichtigsten Bibliotheken nach­ schlägt, findet, dass seine Editionen – von Lessing und Thomas Mann –, seine Übersetzungen aus dem Griechischen – von Hesiod, Sap­ pho, Platon und Lukian – und seine literaturkritischen Essays seine eigenen literarischen Schriften deutlich schlagen. Gewiss, Ehrungen blieben nicht aus: Er erhielt mehrere Literaturpreise, wurde Ordentli­ ches Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste ebenso wie der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, und einige seiner Gedichte wurden vertont. Aber außerhalb Bayerns, wo er fast sein ganzes Leben verbrachte, ist er vermutlich nur Ken­ nern geläufig. Das ist deswegen überraschend, weil der junge Schirnding, der 1935 in Regensburg geboren wurde, sehr früh literarisch hervortrat – schon 1951 begann er Gedichte zu publizieren, und 1956 erschien, auf Empfehlung Georg Brittings, der ebenfalls Regensburger war, bei Hanser seine erste Gedichtsammlung Falterzug, die durchweg auf positive Resonanz stieß. Schon 1958 folgte im selben Verlag ein zweiter Band. Er hatte nicht den gleichen Erfolg wie der erste, und wenn auch bei kleineren Verlagen noch weitere Lyrikbände folgten, begriff Schirnding bald, dass er besser daran täte, große Lyrik der Vergangenheit herauszugeben – so edierte er 2005 Ludwig Reiners’ klassische Gedichtsammlung Der ewige Brunnen neu und tauschte dabei etwa ein Viertel der Gedichte aus. Dies alles geschah neben seiner Arbeit als Gymnasiallehrer, zuerst in Weiden und Ingolstadt, dann von 1965 bis 1998 am Ludwigsgymnasium in München. Studiert hatte er Klassische Philologie und Germanistik in Tübingen und München. In den Semesterferien arbeitete er mehrmals als Sekretär Ernst Jüngers in seinem Haus in Wilflingen. Sicher nicht nur wegen

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Die Altersfrucht des Frühreifen

seiner Frühreife, sondern auch aufgrund seiner Herkunft – beide Eltern entstammten altem Adel, ja, der Vater war der Chef der Thurn-und Taxis’schen Gesamtverwaltung – hatte er schon in seinen frühen Zwanzigern persönliche Kontakte zu einer Fülle bedeutender Intellektueller, zumal Dichter und Musiker. Allein schon deswegen sind die autobiographischen Prosatexte, die er seit 1987 zu veröffentli­ chen begann, sehr informativ – sie sind eine wichtige Quelle zum Kul­ turleben der frühen Bundesrepublik. Eines dieser Bücher, Alphabet meines Lebens (2000), behandelt das eigene Leben nach alphabetisch geordneten Stichworten von »Abstammung« bis »Zuletzt«. Aber diese Bücher sind oft mehr als geisteshistorisch nützliche Memoiren. Das gilt zumal für das, was ich als sein Hauptwerk ansehe, Jugend, gestern. Jahre – Tage – Stunden, das 2015 bei C.H. Beck in München erschien, und zwar mit einem vorzüglichen Nachwort von Rainald Goetz, der als Gymnasiast Schirndings Schüler gewesen war. Dieses Werk des Achtzigjährigen, scheint mir, ist das, was von ihm literarisch übrigbleiben wird, und ich wünsche mir, dass es breiter und tiefer rezipiert wird, möglichst auch außerhalb Deutschlands. Denn es ist nicht nur ein Zeitdokument, in dem man u.a. Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Werner Bergengruen, Günter Eich, Hans Egon Holthusen, den beiden Brüdern Jünger, Carl Orff, Walter Friedrich Otto, José Ortega y Gasset, Bernhard Paumgartner, Ina Seidel, Friedrich Sieburg begegnet, manchmal mit eindrucksvoller Charakterisierung der Person. Es ist auch keineswegs nur die autobio­ graphische Darstellung der Jugend einer ungewöhnlich begabten und menschlich außerordentlich liebenswerten Person. Das Buch ist auch literarisch kunstvoll aufgebaut, wie noch kaum anerkannt worden ist. Im Folgenden will ich versuchen zu erklären, warum dieses Werk sorgfältige Leser verdient. Das Werk nimmt einerseits einen schwebenden Zwischenzu­ stand zwischen dokumentarischer und fiktionaler Autobiographie ein. Von den zehn Kapiteln sind die ersten acht, bei aller literari­ schen Überformung, eher dokumentarischer Natur, doch das neunte, Rückkehr. Eine biographische Phantasie, kündigt sich ausdrücklich als »Phantasie« an, und man bräuchte den Untertitel gar nicht, um schon bald zu merken, dass es sich um pure Fiktion handelt – um eine fiktive Geschichte freilich, die Wahres aussagt über die Natur der Fiktionalität. Der letzte Text, Der Schatz, wird zwar nicht als Fiktion ausgegeben, aber spätestens im letzten Absatz, wenn der Erzähler von »japanischen oder kalifornischen Hotelbetten« spricht, in denen

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er schläft (166),1 weiß der Leser, dass auch diese Geschichte nicht wörtlich zu nehmen ist – auch wenn der Autor vielleicht anderswo wirklich einen Schatz besitzt. Die beiden letzten Geschichten sind die einzigen, in denen der Ich-Erzähler von einem Kind spricht (Dominik heißt er in der »Phantasie«, im letzten Stück bleibt das Kind ungenannt). Er ist also inzwischen erwachsen, ja, Vater geworden – ganz wie der Autor, der fast sechzigjährig war, als sein einziges Kind, Askan, geboren wurde. Andererseits ist das Buch als autobiographischer Text deswegen ungewöhnlich, weil der mit Abstand längste, fast die Hälfte des Buches einnehmende Text, der sechste, Stundenbuch der Jugend (71– 138), nicht eine späte Reflexion darstellt, sondern Tagebuchaufzeich­ nungen des jungen Studenten bietet – zu deren Anfang ist er noch nicht zwanzig, die letzten beziehen sich auf das Bestehen der Ersten Staatsprüfung. Mündlich versicherte mir der Autor, er habe nur ausgewählt, aber wenig an dem damaligen Text geändert oder ergänzt. Dieser gewährt also einen authentischen, nicht durch Erinnerungsar­ beit vermittelten Zugang zur Jugend von gestern. Die Vermengung der Zeitebenen erinnert an Goethes Italienische Reise, doch ist es eine der Eigenarten des Buches Schirndings, dass die Texte des Zwanzigjährigen Erlebtes mit allgemeinen Reflexionen mischen, denen ungeachtet aller aphoristischen Brillanz immer wie­ der etwas Altkluges anhaftet. Die witzige und spritzige biographische Phantasie, übrigens ebenfalls in Tagebuchform, scheint auf den ersten Blick eher von einem Jugendlichen zu stammen als die feierlichen Sentenzen des Stundenbuchs. Aber in Wahrheit ist es umgekehrt – der Autor bedurfte eines langen Reifungsprozeses, vielleicht sogar der Vaterschaft, um eine Leichtigkeit zu gewinnen, die dem Knaben versagt war. Fokus des Textes ist also, wie in den meisten Autobiographien, die Jugend – die spätere Zeit erscheint nur in literarischer Verfrem­ dung. Doch der Titel Jugend, gestern deutet darauf hin, dass es eine längst vergangene Jugend ist, die er beschreibt, ja, dass Jungsein damals etwas Anderes bedeutete als heute. Da zur Jugend die Erwar­ tung gehört, ist die elegische Erinnerung an weit zurückliegende Erwartungen ein wesentlicher Teil des Buches. Mit J.M.E. McTaggart Von nun an verweise ich auf Zitate aus Albert von Schirnding, Jugend, gestern. Jahre – Tage – Stunden, Beck, München 2015 unter Angabe der entsprechenden Seitenzahl in runden Klammern. 1

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kann man sagen, dass Titel und Untertitel des Buches sich auf die A-und B-Serie der Zeitlichkeit beziehen – »gestern« ist ein indexi­ kalischer Ausdruck, gibt also nur Sinn, wenn man den Zeitpunkt berücksichtigt, in dem die Äußerung erfolgte; Jahre, Tage und Stun­ den dagegen abstrahieren von dem eigenen Standpunkt und objekti­ vieren die Zeit. Schirnding gelingt diese Objektivierung, indem er Eigenarten der unmittelbaren Nachkriegszeit, auch unabhängig von seiner persönlichen Perspektive, scharf in den Blick bekommt. Er braucht nicht in den Speicher seines Schlosses hinaufzusteigen, um Erinnerungen zu verifizieren – »ich verlasse mich auf den Speicher in mir« (30). Der erste Text, Türspalt, greift auf das wilhelminische Deutsch­ land zurück, auf die Schulzeit des eigenen Vaters Otto Karl von Schirnding (1892–1979) am Weidener Humanistischen Gymnasium, an dem der Sohn später selber unterrichten sollte. Warum dieser Rückgriff? Einerseits spielt Herkunft bei einem Aristokraten eine wichtige Rolle, und Weiden ist nicht weit weg von Schirnding an der Grenze zu Tschechien, nach dem das Adelsgeschlecht benannt ist. Andererseits ist die Pointe der Geschichte eine doppelte: Der Vater erscheint erstens als lebenstüchtiger, kameradschaftlicher Naturbur­ sche, der sich für genealogische Sachverhalte nicht im Mindesten interessiert und mit 15 Jahren aus dem Gymnasium fliegt, weil er einen unerlaubten Wirtshausbesuch absolviert hat. Er blieb als einziger durch den Türspalt sichtbar, als der Pedell vergeblich in das Zimmer einzudringen suchte, und weigerte sich, die Namen der gymnasialen Zechgenossen preiszugeben. Aber dieser Zufall ist zweitens der letzte Grund der Existenz des Erzählers: Denn nur weil Otto Karl nun nach Regensburg ins Gymnasium wechseln muss, lernt er bei einem Hofball Marie Victoire geb. Verri della Bosia kennen, die zur Mutter des Autors wurde. Schirnding wird durch die Geschichte zu einem Kontingenzbewusstsein angeregt, dem Wissen um die »Kette von Geschehnissen, Entscheidungen, Konstellationen, deren höchst vorläufiges Ende das eigene Ich bildet«. Wäre der Winkel jener Tür­ öffnung, die gleichsam den Eintrittspunkt der Zukunft symbolisiert, anders ausgefallen, »schon wäre es für alle Zeit um mich geschehen gewesen« (10). Das zweite Kapitel, Jahrhundertsommer, spielt vierzig Jahre spä­ ter, also 1947, hauptsächlich auf Schloss Harmating in Oberbayern, das die Mutter geerbt hat, wohin schon während des Krieges die Familie aus Regensburg evakuiert wurde und wo auch jetzt noch der

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Autor lebt. Der Zwölfjährige liebt Beethoven, »dessen Nachfolge ich demnächst antreten würde« (12; vgl. 144), sowie gleichzeitig Karl May, den drei Jahre später Knut Hamsun verdrängen wird – die Kom­ bination des Komponisten mit dem Jugendschriftsteller ist eine der vielen Ironisierungen des Kindes durch den Erzähler, so wie später des Jugendlichen, der sich nachts im Keller durch Rezitation von Schil­ lermonologen auf den inzwischen anvisierten Schauspielerberuf vor­ bereitet (31). Der Held ist sich seiner Andersartigkeit gegenüber den Schulkameraden bewusst, die teils mit seiner musischen Begabung, teils mit seinem Adel zu tun hat, und zwar schmerzlich bewusst. Als ein blonder Klassenkamerad, Peter, sich das Knie aufschürft, verletzt sich der Held mit dem Griffel den Arm – teils aus Solidarität mit dem weinenden Jungen, teils weil er wissen will, ob auch das eigene Blut rot ist. Das ist es in der Tat, und so ist das Märchen vom blauen Blut erledigt, Gott sei gedankt, denn »ich wollte um alles in der Welt nicht anders sein als Peter Schindler« (14). Ausführlich und mit liebevoller Ironie schildert Schirnding die Wertvorstellungen des Adels, dem er durch seine Abstammung angehört, allerdings nur einer unteren Stufe. Die Enkel des Fürsten Albert von Thurn und Taxis reden nicht nur einander in dritter Person an, sondern ebenso die Kinder des Chefs der Verwaltung bei der Ostereiersuche im großen Regensburger Schlosspark. Doch unter erwachsenen Aristokraten gleichen Geschlechts duzt man sich sofort; man braucht sich auch vor einem Besuch nicht anmelden zu lassen (17, 96). Von Anfang an wird ihm von der Mutter bedeutet, dass für ihn (den einzigen Sohn neben vier Töchtern) nur eine standesgemäße Heirat in Frage kommt. Er spricht von »Gedächtnisriesen« »in der – gottlob ferneren – Verwandtschaft«, die alle Ururgroßmütter der im Gothaischen Genealogischen Taschenbuch Aufgelisteten abrufen konnten (16). Schirndings bewusst klassizistischer, anti-moderner Stil (das längste Lob der Mut­ ter erfolgt in einer latinisierenden Periode, die eine ganze Seite lang ist, 55 f.) sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er dieser versun­ kenen Welt nicht nur jetzt nicht nachtrauert, sondern ihr schon als Kind misstraute. »Wir fanden das alles reichlich blöd. Der Krieg kam uns zu Hilfe […], das Blut, das in unermeßlichen Strömen in Russland und anderswo vergossen wurde, hatte immer und überall dieselbe Farbe« (18). Und doch schildert Schirnding manche der adligen Verwandten mit aufrichtiger Achtung, den Cousin seiner Mutter Richard von Kühlmann z.B. nicht so sehr deswegen, weil er Außenminister des

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Deutschen Reiches 1917/18 gewesen war, sondern weil er nach dem 20. Juli 1944 von der Gestapo verhaftet wurde: »Daß die Verbrecher ihn eingesperrt hatten, machte ihn mir noch lieber als der Eintrag im Konversationslexikon« (21). Mit großer Gastfreundschaft nimmt die Mutter bei Kriegsende die flüchtigen Verwandten in ihrem Schloss auf, aber nicht nur diese – auch ein armes junges Mädchen nach einem Selbstmordversuch und die Gesellschafterin einer kurz vor Kriegs­ ende verstorbenen Baronin (26f., 56 f.). Auch als sich anlässlich des Scheiterns der ›Freiheitsaktion Bayern‹ Ende April 1945 herausstellt, dass die Dame eine Nazisse ist, darf sie bleiben – aber die Mutter würdigt sie keines Wortes mehr. Man mag diese devoten katholischen Adligen etwas lächerlich finden, an der Opposition der meisten von ihnen gegen den Nationalsozialismus ist kein Zweifel.2 Sie sind dank­ bar, in der amerikanischen und nicht in der sowjetischen Besatzungs­ zone zu leben. Sicher spricht die Mutter herablassend über die Ame­ rikaner als nette und harmlose Burschen, doch für den Sohn sind sie eher Götter. Dessen Andersartigkeit hat auch damit zu tun, dass ihm die Männlichkeit abgeht, die den meisten Frauen zusagt. Als er elf ist, sagt ihm ein Mädchen mit blonden Zöpfen: »Ach, du bist doch gar kein richtiger Junge« (39). Der Erzähler, der die Erfahrung des Verlacht­ werdens früh machen muss, erklärt sich deswegen keineswegs zum Transgender, denn er sei sich einig gewesen mit seiner Geschlechtszu­ gehörigkeit, auch wenn er gespürt habe, dass er kanonischen Rollen­ erwartungen nicht gerecht werde: »Keine Bäume gefällt, kein Wild erlegt, kein Pferd müde geritten« (41). Von homoerotischer Orientie­ rung ist nirgends explizite die Rede, aber wie bei Thomas Mann, schon in der Jugend seinem Lieblingsautor (108, 118), schwingt das Thema immer wieder dezent mit. In der Hervorhebung der unbedingten Ablehnung des Nationalsozialismus durch große Teile der deutschen Katholiken kommt das Buch überein mit der Autobiographie Johannes Hösles (1929–2017) Vor aller Zeit (Beck, München 2000). Dieser schildert eine ganz andere Klasse, das oberschwäbische Kleinbürgertum, aber in der auch nach dem eigenen Glaubensverlust von Sympathie getragenen Darstellung der weit­ gehenden katholischen Unverführbarkeit durch den Totalitarismus liegt ein wichtiger Berührungspunkt mit Schirndings Ansatz. Der Fortsetzungsband, Und was wird jetzt? (Beck, München 2002), thematisiert, wenn auch mit Verspätung, ähnliche intellek­ tuelle Erfahrungen wie diejenigen Schirndings, bezeichnenderweise ebenfalls an der Universität Tübingen. Die Ähnlichkeiten trotz aller Klassenunterschiede zeigen, dass die beiden Autobiographien Zeittypisches erfassen. 2

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Nach der sozialen und politischen Situation und der Großfami­ liendynamik zoomt der Erzähler im dritten Kapitel Auge und Ohr auf das Elternpaar. Sie stellen sehr unterschiedliche Menschentypen dar, den Augen- und den Ohrenmenschen. Vermutlich spielen im Hin­ tergrund Goethes Verse aus den Zahmen Xenien 6 eine Rolle: »Vom Vater hab ich die Statur, / Des Lebens ernstes Führen, / Von Mütter­ chen die Frohnatur / Und Lust zu fabulieren«. Doch während Goethe eine Synthese beider Eltern zu sein beansprucht, weiß sich Schirnding ganz auf Seite der Mutter. Er preist den Augenmenschen Ernst Jünger wegen der Noblesse, mit der er ihn, den Ohrenmenschen, gelten ließ (der trotz seiner Nähe zu seinem ›Chef‹ nie dessen Kriegsbücher las, weil ihm das Genre nicht lag). Zu Schirndings Begriff des Ohren­ menschen gehören keineswegs nur die Musikalität, sondern auch die Ausrichtung auf die Vergangenheit statt auf die Zukunft, Empfäng­ lichkeit und damit Weiblichkeit – anders als beim schauenden, zukunftsorientierten, aktiven und männlichen Widerpart, bei dem die Hand dem Auge folgt. Der Ohrenmensch sei dem Heiligen Sebastian vergleichbar, den man sich nicht als Opfer vorstellen solle: »Er genießt die Anziehungskraft, das Zielscheibenhafte seiner Halbwüchsigkeit. […] Die Pfeile fallen ab, die Wunden bleiben, die Wunden vernarben, das Gift kreist im Blut« (50). »Ich verfluche die Zeit, die Wunden heilt«, lesen wir später (75). Auch wenn die hochmusikalische Mutter sich als Ohrenmensch dem Vater unterwarf und sich statt auf ihre Violine nun auf ihre Familienpflichten konzentrierte, blieb sie »selbst ein Musikinstrument, reich- und reintönend wie eine Silbermannor­ gel« (55). War es eine glückliche Ehe? Im Stundenbuch reflektiert der Student: »Die Ehe meiner Eltern ist fast ausschließlich auf die Zukunft ihrer Kinder abgestimmt, auf ihr künftiges Glück. Das ist so, fiel mir bisher aber nie auf, weil ich es für selbstverständlich hielt« (101). Trotz der emotionalen und geistigen Nähe zur Mutter bedarf der Sohn jedoch unbedingt des Vaters. Bewegend wird erzählt, wie der Neun­ jährige 1944 drei Stunden auf die Ankunft des Vaters wartet, der mit dem Fahrrad den langen Weg von Regensburg nach Harmating zurücklegen muss (19 f.), und, noch früher, wie das Kind den schlich­ ten Zaubertrick des Vaters immer wieder »nochmal« wiederholt haben will (44). Pubertät damals beschreibt das Erwachen der Sexualität in einem Pubertierenden, und zwar in dritter Person. Der Junge heißt Ludwig, hat aber so viele Ähnlichkeiten mit dem Helden der Icherzählung, der sonst nirgends mit Namen genannt wird, dass man den Eindruck

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nicht los wird, es handle sich dabei um dessen Namen. Warum heißt er nicht Albert und, ganz besonders, warum der Wechsel in die dritte Person? Um anzudeuten, dass die Heterosexualität Ludwigs von der Orientierung des sonstigen Helden abweicht? Neben der Erfahrung von Erektion, Pollution, Stimmbruch (der manchmal längere Zeit mit zwei Stimmen einhergeht) und Tanzstunde ist die Entdeckung zentral, wieviel an der Welt durch Sexualität bestimmt ist. »Hatte das Volkslied ihn nicht längst auf die Spur gestoßen, das ihn aufforderte, zu sagen, wer das Männlein im Walde sei mit seinem purpurnen Mäntelchen?« (63). Gleichzeitig hat Ludwig nicht die geringste Eile mit sexuellen Erfahrungen. »Bis zum ersten Mal war der Weg noch beruhigend weit« (65). Auf die hormonellen Aufwallungen folgt mit Stundenplan 1950 ein Einblick in das damalige Curriculum. Es beginnt mit der Religion, in der man leicht eine Eins bekommen konnte, wenn man sich klar­ machte, Nietzschelesen sei ebenso eine Sünde wie Selbstbefriedigung und Rauchen. Trotzdem erfahren wir später, der Erzähler habe schon mit vierzehn mit der verbotenen Nietzschelektüre begonnen (151). In der Biologie war von Fortpflanzung nicht die Rede, aber wenn man in der Pause die Blütenkerze der Kastanie berührte, waren die »Finger […] für den Rest des Vormittags klebrig« (67). Offenbar wird damit suggeriert, dass es sich bei den Schülern auch ohne Unterweisung der Lehrer herumgesprochen hatte, dass auch Pflanzen Sexualität kennen – ja, sogar ein funktionales Äquivalent zum »Wonnekleister«, von dem im vorangehenden Kapitel die Rede war. Von der Mathematik heißt es, mit ihren abstrakten Identitätsaussagen sei die im Werden begriffene Identität der Jugendlichen bedenkenlos gefüttert worden, und sechs Jahre Englischunterricht – durch einen Lehrer, der nie in England gewesen war und nichts von Shakespeare und Keats zu wissen schien – hätten den letzten Funken der Liebe zur englischen Literatur vertilgt. Damit sind wir zum Hauptteil, dem Stundenbuch der Jugend, vorgestoßen und hören den Dichter als jungen Mann selber sprechen. Wie schon gesagt, verbinden sich in diesem Kapitel Erlebnisse, u.a. in zahreichen Träumen, mit Aphorismen. Das deutet auf einen Wesens­ zug Schirndings, der erklärt, warum er kein Romancier geworden ist:3 Er hält es nicht lange beim Konkreten aus, sondern erhebt sich immer Seinen Bildungsroman Vorläufige Ankunft (Langewiesche-Brandt, Ebenhausen 2010), der zu gutem Teil im Regensburg der 1950er Jahre im fiktiven Internat des

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wieder zum Abstrakten. Manche seiner Aphorismen sind herausra­ gend, und man ist beeindruckt, wie jung er war, als er sie formulierte. Man denke an »Wiederkehr hat Augen, Wiederholung ist blind« (76), »Entdecken ist leichter als Wiederfinden« (86), »Jemanden lieben heißt auch seine Unnahbarkeit lieben« (125), »Gegenstände gemeinsamer Verehrung sind im Grunde die einzigen Gesprächsge­ genstände« (127), »Das eigentlich Schlimme der Depression: daß die Vorstellung, sie überwunden zu haben, reizlos ist« (137). Der junge Sekretär zeigt sie Ernst Jünger, der sie ihm mit der Bemerkung zurückgibt, »die Gefahr dieser literarischen Ausdrucksweise sei der ridiküle Beigeschmack, wenn der Nagel nicht mit völliger Sicherheit auf den Kopf getroffen werde« (80). Das ist nicht gerade ermutigend, doch zum zwanzigsten Geburtstag schenkt ihm der Schriftsteller u.a. ein Wachstuchheft »Zum Notieren von Gedanken und Maximen«. In Klammern fügt das beglückte Geburtstagskind hinzu: »Also muß er die Aphorismen, die ich ihm neulich gab, doch nicht für ganz mißglückt halten« (84). Das sind sie in der Tat nicht. Manchmal hat man Lust, mit Gegenaphorismen auf sie zu reagieren – zu »Lernen ist schön, Wissen langweilig« (77) will man ausrufen: »Aber nur das Lernen des schon viel Wissenden hat Tiefgang«. Gelegentlich sind die Antworten schon gegeben worden. Bei der weisen Maxime »Den Schulmeister im Liebenden bekämpfen« (76) möchte man ergänzen »Und auch den Liebenden im Schulmeister«, denn später wird der Erzähler der Phantasie sein Verhältnis zu seiner Klasse als »Liebesverhältnis« bezeichnen (151). Man denkt an den großen katholischen Aphoristiker Nicolás Gómez Dávila, der in den Notas schreibt: »Todo pedagogo es un pederasta vergonzante«.4 Gleichzeitig ist sich der junge Tagebuchverfasser dessen bewusst, dass er vieles Alterstypische übersprungen hat – das Biertrinken lernt er erst mit 23 Jahren (135), und »es gibt Dinge, die nie wieder gutzumachen sind, wenn man sie vor seinem zwanzigsten Lebensjahr versäumt« (144). Statt mit Biertrinken hat der Jugendliche sich nur mit Hochkultur abgegeben, etwa bei Jünger den Eckermann gespielt (80). Das ist nicht nur ein Segen: »Zu viele unreife Früchte pflückte ich mir vom Baum der Zeit« (83). Adalbert Stifters Abgründigkeit sei ihm als Teenager völlig entgangen (99). Er erlebt alles gleichsam aus zwei­ »Meisters«, eines erfundenen George-Epigonen spielt, sehe ich als Vorübung zum Hauptwerk an. 4 Nicolás Gómez Dávila, Notas, Villegas Editores, Bogotá 2003, S. 428.

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ter Hand; zumindest muss er selbst etwas schon benannt haben, bevor er es direkt erfahren kann (106). Eher aus dem Munde eines Greises könnte der 1956 niedergeschriebene Satz stammen: »Nach Benns Tod ist mir zumute, als ob ich nichts mehr zu verlieren hätte« (107). Das wunderbare Wort »Lebenslampenfieber« (131) kommt zwar bei ihm vor, aber die Sache selbst scheint er nicht aus eigener Erfahrung zu kennen. Spürt er, dass seine größenwahnsinnigen Kommilitonen, deren einer Maria Stuart vor Schiller, Nietzsche vor Wagner und Hugo Wolf vor »so elenden Zeitgenossen wie Brahms« retten will (99), ihre Vorhaben nicht umsetzen werden können und dass Epigonalität das Schicksal der bundesrepublikanischen Literatur sein wird? Freilich vermag nicht erst der Erzähler, sondern schon der zwan­ zigjährige Student, trotz aller Schwermut (die ja nur möglich ist, wenn man sich selbst ernst nimmt), sich selbst zu ironisieren. Als Theodor Heuss Ernst Jünger besucht, darf der junge Sekretär vorne neben dem Fahrer sitzen, während sich der Bundespräsident und der Schriftsteller hinten über Käfer unterhalten und nicht ausreichend auf die Spalier stehenden Bürger reagieren. »Also hebe ich in gemessenen Abständen die Hand und lächle huldvoll« (98). Ob der junge Sekretär sich schon beim Akt des Handhebens oder erst beim Tagebucheintrag seiner eigenen Lächerlichkeit bewusst wurde, vermag ich nicht zu entscheiden – auf keinen Fall musste er dafür auf den Erzähler sechzig Jahre später warten. Deswegen wallt schon dem jungen Mann die Sympathie des Lesers, wenigstens dieses hier schreibenden Lesers, entgegen. Wer Schirndings noch späteres Buch Galerie der guten Geister5 liest, ist vom irenischen Geist des Werkes angetan – auch bei fragwür­ digen Figuren wird nur das Positive hervorgehoben. Das Tagebuch des jungen Mannes strotzt dagegen vor scharfen Urteilen, die oft genug treffen. Zu Marguerite Yourcenars Roman Mémoires d’Hadrien heißt es, seine Lektüre sei »nicht weniger peinlich, als mit einer schönen, aber frigiden Frau zu schlafen« (121). Beim Erfolgs-Germanisten Wolfgang Kayser diagnostiziert er dagegen »todesferne, also falsche Quicklebendigkeit« sowie »routinierte kupplerische Geschäftigkeit«: »Als Eunuchen müssen diese Typen keinerlei Folgen ihrer Wollust fürchten. Wo keine Zeugungskraft ist, kann auch keine Scham sein« (126). Am heftigsten und, aufgrund meiner eigenen, allerdings viel späteren Begegnungen mit ihm, übertrieben sind die Attacken gegen 5

Beck, München 2020.

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den jungen Tübinger Klassischen Philologen (und späteren Ordina­ rius für Allgemeine Rhetorik) Walter Jens. Teils ist die Antipathie gegen Jens rein subjektiv begründet: Seine Hofmannsthalvorlesung sei brillant, doch warum ärgere sie ihn so furchtbar? »Ist es die Tatsache, daß ein Älterer, Überlegener, Etablierter meinen Dichter dazu benutzt, geistreiche Sätze von sich zu geben?« (87). Doch mit einem Freund besucht Schirnding den Professor, der »wie Knallkör­ per« unzählige Namen herausschleudert (89), mindestens zweimal zu Hause. »Das Zentrum dieses Mannes ist ein unersättliehes Vakuum, das die halbverdaute Geisteskost schnellstmöglich von sich gibt, um sie einer ›Gemeinde‹ vorzusetzen. […] Das Verletzungsbedürfnis, die Verletzungslust sind überhaupt das eigentliche Charakteristikum dieser Menschensorte« (90). Ein wichtiger Teil des Erwachsenwerdens ist die Ablösung vom Katholizismus der Kindheit. Diese erfolgt allerdings nicht trauma­ tisch, sondern gleitend und ohne Schuldgefühle: »Angst um meinen Glauben an die göttliche Ordnung der Welt. Am beunruhigendsten die Gewißheit, daß ich mir vorstellen kann, auch ohne diesen Glauben ganz gut auszukommen« (89). Zu den Sakramenten geht er weiterhin, allerdings wie »zur Tränke ohne Durst« (106), also, wie Goethes Faust, nur habituell. Allerdings ist er »noch […] nicht« in der Lage, auf den Unsterblichkeitsglauben zu verzichten. Ihn aufzugeben sei »ein Luxus, den sich nur wenige leisten können« (101). Denn dieser Glaube ergänze das Geschichtsbewusstsein: »Wo beides fehlt: eine um Vergangenheit und Zukunft amputierte Gegenwart«. Was Schirn­ ding noch am Christentum festhält, ist die christliche Kunst: »Bachs Musik ist ein Beweis für die Wahrheit des Christentums« (130). Dabei kennt er die Faszination der griechischen Götter, aber weder will er das eine gegen das andere ausspielen, noch hält er eine Synthese für denkbar, nur »ein fortwährendes Hin und Her«. Schon im Gymnasium hatte Schirnding einen Lateinlehrer, der an die griechischen Götter glaubte (12), und dem Tübinger Gräzisten Walter Friedrich Otto, mit dem er sich u.a. über Knabenliebe unterhält (92), sagte man nach, er wolle die antike Religion wiederbeleben – 1963 erschien postum ein Buch von ihm mit dem Titel Die Wirklichkeit der Götter. Von der Unzerstörbarkeit der griechischen Weltsicht.6 Auch der junge Schirnding kann sich anfangs vorstellen, »daß ich an die griechischen Götter glauben lerne« (105), bekennt aber später, 6

Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1963.

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Ottos Haltung sei ihm fremd geworden (130). Gleichzeitig macht Schirnding sehr deutlich, warum ihm die Gegenrichtung zu Otto, die positivistische Klassische Philologie, nicht nur fremd, sondern geradezu zuwider ist. »Mein altphilologisches Studium lehrt mich, es zu verachten. Meine Liebe zielt auf das unverstellte Wort: den Vers der Sappho, Platons Sokrates. Aber man nährt meinen Hunger mit Konjekturen, Kommentaren, Interpretationen« (75). Selbst der größte deutsche Gräzist der vorletzten Jahrhundertwende, Ulrich von Wila­ mowitz-Moellendorff, sei ein beschränkter Geist (90): »unsägliche Öde und Gestelztheit des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der tödliche Irrtum des Historismus: daß es sinnvoll sei, eine Vergangenheit um ihrer selbst willen zu erforschen, das Ich an diese Beschäftigung zu veräußern. Wissenschaft als Götzendienst, als planmäßiger Selbst­ mord« (102). Nicht mehr Lernen von, sondern Lernen über ist in der Tat die Änderung des intentionalen Strahles, die den modernen Historismus konstituiert und gegen die Schirnding rebelliert. Deswe­ gen denkt er, trotz väterlichen Druckes (137), überhaupt nicht an eine Dissertation, sondern will Gymnasiallehrer werden, vermutlich weil er erkennt, dass den Heranwachsenden noch nicht wie an der Universität jene Sinnbedürfnisse ausgetrieben worden sind, die die antiken Texte zu stillen vermögen. Eine Schülertheateraufführung von Shakespeares Sturm überzeugt ihn: »Nie wußte ich genauer, daß nirgends anderswo mein Ort ist« (120; vgl. 144, 151). Die zwei nächsten Kapitel leiten über zum Erreichen des oikeios topos des Autors und Erzählers, der Schullaufbahn. Ein früher Gott ist eine Schilderung der frühen Liebe zum lyrischen Werk Josef Weinhe­ bers, aus dem er bei einer von den Eltern organisierten Einladung zu seinem siebzehnten Geburtstag 1952 die eigenen Lieblingsgedichte rezitiert, vermutlich ohne zu wissen oder wenigstens ohne wissen zu wollen, wie sehr der Dichter in den Nationalsozialismus verstrickt war. »Es war alles geliehen, Faltenwurf von Gewändern, die aus der Garderobe eines Schmierentheaters stammten, Falschmünzerei in größtem Stil« (141). Und die Ernüchterung hinsichtlich Weinhe­ bers bereitet den Abschied vom Genieverdacht vor – so der Titel des letzten nicht-fiktionalen Kapitels. Zwar erinnert ihn seine erste Schulstelle im Provinzort Weiden anfangs an Tomi am Schwarzen Meer, »auch wenn mein Genieverdacht […] nicht ganz ausreichte, mich mit Ovid zu identifizieren« (143). Aber der Fall folgt auf dem Fuß, und zwar mit der Publikation des zweiten Lyrikbandes, noch mit den nunmehr als anachronistisch empfundenen Reimen, Blüte

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und Verhängnis. Dessen Titel erweist sich als unfreiwillig prophetisch. »Was ein Versprechen zu sein schien, wird zur Jugendsünde, und der zu früh errungene Lorbeerkranz macht sich als Dornenkrone bemerkbar« (146). Schirnding beeilt sich, hinzuzufügen, in seinem Falle sei das maßlos übertrieben formuliert, und in der Tat hat die Redimensionierung der eigenen Existenz, wie in der zweiten Fassung von Gottfried Kellers Grünem Heinrich, etwas Versöhnliches. Schirn­ ding lehnt die ehrenvolle Anfrage der Bayerischen Akademie der Schönen Künste ab, sich für ein halbes Jahr von der Schule beurlauben zu lassen und als Stipendiat der Villa Massimo nach Rom zu gehen (er wird noch reichlich Gelegenheit haben, diese Stadt zu besuchen),7 aber er nimmt die Einladung zur Tukan-Lesung in München an. Als er die erste Zeile des ersten Gedichtes des neuen Bandes rezitiert: »Funkelnd ging mein Schmerz am Himmel auf«, seufzt eine Stimme »›schön‹. Es war nicht ironisch gemeint. Mir klang das Prädikat wie ein Todesurteil in den Ohren« (147). Damit könnte das ganze Buch enden, aber es ist nur das Ende des drittletzten Kapitels. Denn wir wollen wissen, was aus dem Helden nach seiner literarischen Entsagung geworden ist. In Rückkehr. Eine biographische Phantasie stellt sich der Verfasser des diesmal fiktiven Tagebuches als Schriftsteller dar, der die Schullaufbahn aufgab, um endlich das Buch seines Lebens zu schreiben. Aber da die Arbeit am Roman stockt, ist er bereit, einem Anruf des Klostergymnasiums Folge zu leisten und für einen erkrankten Lateinlehrer einzuspringen, zumal er früher dort selber unterrichtet und sein Sohn dort vor länge­ rem sein Abitur abgelegt zu haben scheint. Merkwürdigerweise schei­ nen ihn die Schüler gleich zu kennen. »Sollte das Fernsehporträt von mir, das neulich (oder doch schon von mehreren Jahren?) ausgestrahlt wurde, meinen Bekanntheitsgrad dermaßen erhöht haben?« (149). Er unterrichtet Ovids Metamorphosen, denn »um Verwandlung geht es ja auch bei diesen Jugendlichen« (150), und das Erfolgsgeheimnis des Lehrers bestehe darin, »mit den Jugendlichen gemeinsame Sache gegen die Welt der Erwachsenen zu machen« (152). Um vier Themen kreist nun das Tagebuch: Erstens will der Erzähler wissen, wen er eigentlich vertritt. Die Schüler lachen und nennen seinen eigenen Namen, unter dessen Gewöhnlichkeit er schon immer gelitten hatte und die er dadurch überwinden wollte, 7 Siehe sein Werk: Albergo Sole. Erinnerung an dreißig römische Lieblingsorte, Lange­ wiesche-Brandt, Ebenhausen 2017.

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dass er ein weltbekannter Schriftsteller werden würde. Aber es wird ihm geradezu unheimlich, als er die Adresse des Vorgängers her­ ausfindet und entdeckt, sie falle mit der eigenen zusammen. Seine Frau hält es für einen Witz, als er sie mit der Anordnung anruft, herauszufinden, ob im Haus ein Namensvetter wohne. Zweitens kehrt der Erzähler in freien Stunden zu seinem Roman zurück, um den Faden wiederaufzunehmen. »Da war gar kein Faden. Vielmehr: Es sind ihrer viel zu viele. Das ganze Manuskript besteht aus nichts als Fäden, die sich ineinander verknäuelt haben» (153). Das ist offenbar ein Kontrastprogramm zu dem in der Schule unterrichteten Buch, in dem sich die Fäden durchaus zu einem großartigen Gewebe ordnen.8 Doch im Unterricht behandelt der Held drittens eine andere, auf direktere Weise metapoetische Geschichte der Metamorphosen, die Orpheus-Episode. In einer eigenwilligen Uminterpretation erklärt der Lehrer, nicht Eurydike sei Orpheus gefolgt, sondern nur seine Erinnerung an sie. «Orpheus hat als Dichter versagt, nicht als Lieben­ der. Ovid erzählt nicht die Geschichte von der allesbezwingenden Kunst, sondern von ihrer Unzulänglichkeit» (155). Liest der Lehrer sein eigenes Scheitern als Romancier in das Epos hinein – oder las er es vorher hinein, da er uns bekennt, diese Interpretation stamme aus früheren Aufzeichnungen? Wie auch immer interpretiert, die Episode verfängt bei den Schülern nicht mehr: «Der Tod tangiert ihr Lebensgefühl nicht, die Liebe hat jeden Schrecken für sie verloren, und nichts ist ihnen fremder als eine Kunst, die nichts im Sinn hat als sich selbst» (156). Vielleicht weil die Zehntklässler nicht wie erwünscht auf Ovid anspringen, ersetzt der Erzähler viertens in seiner siebten Klasse den Latein-Unterricht durch den einer eigenen Sprache, die sein Sohn mit elf Jahren erfand, Zorones, abgeleitet von dem zoronischen Wort für ʻDrachenʼ. «Ich will meine Siebte zum Drachenfliegen einladen» (159). Doch als er nach einiger Zeit zu dem empörten Direktor gerufen wird, der von besorgten Eltern über die neue Sprache informiert worden ist, verlangt er nur, in das zoronische Generalkonsulat gebracht zu werden. Er landet in der Psychiatrischen Universitätsklinik, wo er mit Zoronisch allerdings nicht durchkommt. Immerhin kann ihm mit Medikamenten geholfen werden, doch seine Schüler sieht er nie wieder, und sein Roman hat sich als Hirngespinst erwiesen, ganz anders als Schirndings meisterhafter Text. 8 Zur metapoetischen Bedeutung des Ariadnefadens siehe Vittorio Hösle, Ovids Enzyklopädie des Eros, Winter, Heidelberg 2020, S. 149 ff.

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Subtil ist die Geschichte, weil sie eine alternative Autobiographie andeutet – wie die erste Geschichte eine alternative Welt ohne die eigene Biographie, wenn nämlich der Vater der Mutter nie begegnet wäre. Es ist die fiktive Autobiographie eines Mannes, der wie Schirn­ ding zwischen Lehrerberuf und literarischer Arbeit schwankt, aber jenen letztlich nur als notdürftigen Ersatz ansieht und sich einbildet, das Verfassen des großen Romanes sei seine eigentliche Bestimmung. Er verdrängt daher seine eigentliche Existenz und bildet sich ein, der eigene Stellvertreter zu sein, der nur während einer Stagnatiom seiner literarischen Arbeit zum lästigen Brotberuf zurückkehre. Kehrseite dieser Einstellung ist, dass er in beiden Tätigkeiten scheitert – ohnehin in seinem Roman, aber eben auch als Lehrer. Nicht nur ist der geplante Roman nur ein Zerrspiegel der Metamorphosen, er kann auch Ovid nicht mehr objektiv unterrichten, und bald auch nicht mehr die Kultursprache Latein. «Zoronisch» ist Ausdruck der Flucht in eine Fast-Privatsprache, die allerdings in ihrer Selbstgesetzlichkeit und in ihrem ikarischen Höhenflug an die poetische Sprache erinnert. Aber diese vermeidet nur dann den Wahnsinn, wenn sie in die reale Welt integriert wird – so wie Schirndings literarisches Schaffen in einen von Verantwortung für die Schüler getragenen Lehrerberuf. Man kann sich vorstellen, Schirnding hätte wie der Held dieser Phantasie geendet, hätte er das Stipendium an der Villa Massimo angenommen. Auch die letzte Geschichte ist, wie schon anfangs erklärt, fiktiv – aber anders als die vorletzte wird sie nicht ausdrücklich als Phantasie bezeichnet. Dass sie das ist, ergibt sich dem aufmerksamen Leser jedoch schon aus dem ersten Absatz. «Wie alt bin ich? Schwer zu sagen. Einigen wir uns auf fünfzehn, auf Wachstum und Jugend­ schwermut». Bei einem Spaziergang im Schlossgarten zeigt der Vater dem Erzähler das Wurzelholz eines Stammes und verrät ihm, er habe dort einen Schatz von Zwanzig-Mark-Goldstücken mit Wilhelm II. vorne drauf und dem Reichsadler hinten begraben. «Der Krieg geht spätestens nächstes Jahr zu Ende, und wir müssen damit rechnen, dass die Russen kommen» (163). Hier schon begreift, wer selber rech­ nen kann, dass die Geschichte keinen dokumentarisch-autobiographi­ schen Wert haben kann. Denn der Autor ist 1935 geboren, wurde also erst 1950 fünfzehn, die Geschichte spielt aber vor Weltkriegsende. Im Grunde deutet schon das ʻEinigen wir unsʼ die Fiktionalität an. Auch dass vom Vater gesagt wird, er sei noch als Achtzigjähriger, also zwanzig bis dreißig Jahre nach dem berichteten Vorfall, sehr rüstig gewesen, lässt es als höchst unwahrscheinlich erscheinen, er habe

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sich nach Kriegsende nicht um die Hebung des Schatzes bemüht – Zeit genug hätte er gehabt. Kurz, gleich zu Beginn gibt der Autor augenzwinkernd zu verstehen, wir sollten die Geschichte ja nicht wörtlich nehmen. Gleichzeitig tut der zweite Absatz alles, um das Leben des Erzählers in den Strom der realen Weltgeschichte einzubetten, wobei witzigerweise reale Ereignisse auf dem Theater die Klammer bilden zwischen der dargestellten Fiktion und dem Weltgeschehen und in vertrauter Weise der jugendliche Größenwahn ironisiert wird: «Im Stadttheater spielte man Des Teufels General. Man stand und klatschte noch, als der eiserne Vorhang sich senkte. Mao und ich schrieben Gedichte […]. Ich machte mein Abitur, Stalin starb, Pius der Zwölfte starb, Adenauer starb nicht» (164). Auch die Eltern des Erzählers sterben, und sein Kind wächst heran: Teils will es hoch hinaus auf die Bäume klettern, teils zum glühenden Innern der Erde vorstoßen, und sein Graben von Löchern in der Erde löst plötzlich die Erinnerung an des Vaters einstige Tat aus. Der dritte Absatz schildert einen Traum, der in der Regensburger Wohnung lokalisiert ist – nur die Geschwister sind am Esstisch versammelt, nicht mehr die Eltern. «Aber damit scheinen wir uns abgefunden zu haben, lange schon» (165). Offenbar ist das der gene­ rationelle Zwischenzustand zwischen dem Tode der Eltern und der Heraufkunft der neuen Generation. Im vierten Absatz graben Vater und Kind zusammen. Sie stoßen auch auf Widerstand, aber es ist nicht die Kassette, «sondern einmal nichts als von Wurzeln durchzogene Undurchdringlichkeit», einmal eine verrostete Zange. Der Verdacht steigt auf, der Baum, unter den der Vater den Schatz vergraben hatte, sei inzwischen gefällt oder vom Sturme umgestürzt worden, doch auch der Baumstümpfe sind zu viele, um den fraglichen zu identifizieren. Im fünften Absatz wird ein Metalldetektor eingesetzt, aber er bringt nur ein Eisenrohr zum Vorschein, durch das früher das Wasser aus dem Quellweiher in Garten und Haus gepumpt wurde. Im sechsten und letzten Absatz erklärt der Erzähler schließlich, je weiter er von zu Hause entfernt sei, desto klarer sehe er das Rechteck vor sich, das den Schatz eingrenze. Aber auf der Rückreise verschwimme das Bild und löse sich in nichts auf, wenn er den Garten wieder betrete. Daher breche er gleich wieder auf, und schon steige die Zuversicht, er könne sich seines Schatzes endlich bemächtigen. »Ich darf nur nicht den Fehler machen, noch einmal heimzukehren« (167).

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Die Geschichte erinnert ein wenig an eine der chassidischen Erzählungen Martin Bubers. Der Rabbiner Eisik, Sohn von Jekel, aus Krakau wird von dem Traum verfolgt, nach Prag zu reisen, wo er unter der Hauptbrücke einen großen Schatz finden werde. Aber als er dort ankommt, ist die Brücke immer bewacht. Sein auffälliges Verhalten provoziert die Frage des Hauptmanns, was er denn wolle. Er berichtet von seinem Traum und wird nur verlacht. Er selber, entgegnet der Hauptmann, werde von einem Traume gepeinigt, er solle nach Krakau gehen, um unter dem Ofen eines Rabbiners namens Eisik, Sohn von Jekel, einen Schatz zu finden, aber er sei nicht töricht genug, um seinem Traume zu folgen. Der Rabbiner dankt, kehrt zurück und findet bei sich den Schatz.9 Den Schatz kann man in beiden Geschichten nur finden, wenn man sich von ihm entfernt. Aber der Unterschied ist offenkundig: Rabbi Eisik kann schließlich den Schatz in Besitz nehmen – der Erzähler von Der Schatz nicht. Offenbar ist sein Schatz nichts Physisches. Das Gold ist etwas Ideelles, das gerade nicht in direkter Intention erworben werden kann. Es fällt einem zu, wenn man ihm nicht auf die Haut rückt. Die Anspie­ lung auf den Quellweiher, der Wasser ins Schloss pumpt, ist deutlich genug – der gebildete Leser, und für solche schreibt Schirnding, denkt an Hippokrene, die Apollon und den Musen heilige Quelle. Das Himmelstürmende des Kindes erinnert an Euphorion in Goethes Faust II, der Sinnbild der Poesie ist. Aber warum der Vater, warum die Szene mit den Geschwistern? Weil Poesie nicht künstlich erzeugt werden kann wie Zoronisch oder Esperanto, sondern sich langsam aus einem lebendigen Traditionszusammenhang ergibt. Gewiss schwingt bei der Geschichte ein aristokratisches Familienbewusstsein mit, das Schirnding auch in der Gedichtsammlung Übergabe artikuliert.10 Aber ihre eigentliche Bedeutung ist metapoetischer Art und bildet ein Gegengewicht zur Selbstzerstörung der Dichtung in der vorange­ henden Phantasie. Beide Kapitel zusammen bilden ein Ganzes und bieten das erst verfehlte, dann erreichte Idealbild einer im Leben gegründeten Dichtung. Die höchst kunstvolle Faktur dieser beiden Geschichten, die an die Erzählungen der Romantiker anknüpft, zeigt, dass Schirnding nicht wirklich die Literatur aufgegeben hat, als er die eigene spätromantische Lyrik nicht mehr weiterführen wollte. Er hat nur die Sparte gewechselt, nachdem er sein Leben in einem 9 10

Martin Buber, Die Chassidischen Bücher, Hegner, Hellerau 1928, S. 532 ff. Langewiesche-Brandt, Ebenhausen 2005.

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Brotberuf verankert hatte, der ihm erlaubte, die besten Traditionen des Abendlandes an die jüngere Generation weiterzugeben. Jugend, gestern ist nicht nur ein Werk der Entsagung. Es ist auch ein Werk der Weisheit, der Heiterkeit und der späten Erfüllung. Die Jugend morgen wird glücklicher werden, wenn sie es nicht vergisst.

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Una poesia metafisica Zu Ludwig Steinherrs neuem Lyrikband Nachtgeschichte für die Teetasse

Von 1906 bis 1909 studierte an der Königlichen Akademie der bildenden Künste München ein junger italienischer Kunststudent namens Giorgio de Chirico (1888–1978). Es geschah zwar erst nach seiner Rückkehr nach Italien, zumal nach intensiven Erfahrungen der klassischen und jüngeren Architektur seiner Heimat in Florenz bzw. Turin, dass er ab 1910 seinen eigenwilligen Stil entwickelte, der als pittura metafisica einen enormen Einfluss ausübte auf Maler wie Salvador Dalí und René Magritte, aber auch Filmregisseure wie Michelangelo Antonioni und Dichterinnen wie Sylvia Plath. Aber die Zeit in München, in der er sich mit deutscher Philosophie vertraut machte, war für de Chiricos Werdegang wesentlich. Insofern fügt es sich trefflich, dass einer der Dichter, die im Medium der Sprache eine derjenigen de Chiricos wesensverwandte Bildersprache geschaffen haben, eine »poesia metafisica« eben, selber Münchner ist. Der mit einem Buch zu Hegel und Quine promovierte Philosoph Ludwig Steinherr (*1962) hat schon mehr als ein Dutzend Gedichtbände publiziert (zwei sind inzwischen auf Englisch erschie­ nen) und wird zu Recht als eine der bedeutendsten lyrischen Stimmen der Gegenwart anerkannt. Auffallend ist die dichte Aufeinanderfolge der Erscheinungstermine seiner letzten Bände – Steinherr erlebt offenbar Jahre besonderer dichterischer Inspiration. Sein neuer Band, der Ende 2014 herauskam (beim Münchner Allitera Verlag in der Lyrik Edition 2000), verblüfft wieder durch die Fülle an witzigen Einfällen, die Brillanz der Sprache, den Reichtum an intertextuellen Beziehungen (auf Lyriker wie Rainer Maria Rilke und Theodor Storm, aber auch Prosaiker wie Wilhelm Hauff), die Zartheit und Strenge des moralischen Empfindens, die Komplexität der Gedankengänge, die die menschliche Geschichte, Kunst und Reli­ gion umkreisen, und die innere Geschlossenheit. Im Folgenden will ich mich auf einige Merkmale des neuen Bandes und seiner Gedichte

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konzentrieren, die für alle diejenigen eine Quelle ästhetischen Hoch­ genusses sind, denen an philosophischer Religiositär liegt, die von sentimentalem Kitsch ebenso entfernt ist wie von einer sprachmagi­ schen Beschwörung der Sinnlosigkeit unserer Wirklichkeit, wie man sie etwa in dem formal verwandten, aber in der hoffnungslosen Welt­ anschauung inhaltlich entgegengesetzten, gleichzeitig erschienenen eindrucksvollen Lyrik- und Bildband Wolfgang Pfalzers Papagamä­ leon oder Rumpelstilzchens Rache. Ausgewälte Sprüche und Bild-Fle­ xionen findet (Biberach 2014).

1. Aufbau des Buches: eine Bewegung des Aufstiegs Lyrikbände sind der Natur der Sache nach nicht in gleichem Maße gliederbar wie etwa ein Epos. Denn die einzelnen Gedichte sind ja nicht in der Reihenfolge verfaßt, in denen sie im Buche aneinander­ gereiht werden. Sie sind vielmehr meist unabhängig voneinander entstanden. Auch wenn vermutlich im unbewußten Schaffensprozeß Bezugnahmen der Gedichte aufeinander eine nicht zu unterschät­ zende Rolle spielen, ist dies doch etwas ganz anderes als die reißbrett­ artige Konstruktion eines glasklaren Aufbaus, wie er einem einheit­ lichen Werke (etwa Dantes Commedia) eignet. Dennoch haben sich große Lyriker immer wieder darum bemüht, ihren Sammlungen eine gewisse Ordnung zu verleihen. Dass etwa die erste Ekloge Vergils der neunten, die zweite der achten usw. ringkompositorisch entsprechen und die zentrale fünfte Ekloge mit dem Todesthema das Geburtsthema der vierten invertiert, ist wohlbekannt – auch wenn die zehnte sich in die Gesamtkomposition nicht recht fügen will. In seiner letzten Sammlung hat Steinherr eine größere Strenge des Aufbaus erstrebt und erreicht als in allen vorangehenden Bän­ den. Was ist das Gliederungsprinzip der neun Kapitel, in die die 75 Gedichte zusammengefasst sind (wobei die Titel der Kapitel mit einer einzigen Ausnahme den Titel eines der in ihnen enthaltenen Gedichte aufgreifen)? Ohne zu schematisch sein zu wollen (denn in den einzelnen Kapiteln gibt es durchaus Gegenläufiges, Früheres Wiederaufgreifendes und Späteres Vorwegnehmendes), kann man doch erkennen, dass die einzelnen Kapitel nicht etwa wie bei Vergil ringkompositorisch gegliedert sind, sondern im Großen und Ganzen eine Bewegung des Aufstiegs vorführen.

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Das letzte Kapitel, das als einziges aus nur einem Gedicht besteht, deutet schon im Titel »Silvesterklassiker« den Abschluss eines Zyklus an. Inwiefern ist dieser Abschluss auch inhaltlich als solcher zu erkennen? Ein entscheidender Wink ist, dass das Subjekt fast aller Sätze der längsten Strophe (nämlich der fünften) »Hegels Weltgeist« ist, auf den sich die fünffache Anapher »er« bezieht. Es liegt für einen Hegelianer nahe, damit zu schließen, da dieser Terminus auch im letzten Kapitel »Das absolute Wissen« der Phänomenologie des Geistes erscheint, auf deren früheres Unterkapitel »Selbständig­ keit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knechtschaft« in den drei Versen »Dinner for one/ bei dem er zugleich Herr und Diener spielt/ (den dialektischen Spaß läßt er sich nicht nehmen)« (109) das Gedicht deutlich anspielt. Das Wort »Geist« erscheint nun als Wortbestandteil auch im Titel des ersten Kapitels »Geisterbeschwörung« – freilich in ganz anderer Funktion als in den Worten »Weltgeist« oder »absoluter Geist« (33). Denn Geister gehören bestenfalls in die Niederungen idealistischer Philosophie. Das erste Kapitel beginnt mit »Nachtge­ schichte« (7), dem Gedicht, das dem ganzen Buch den Titel gibt und das das liebevolle Gespräch des lyrischen Ichs mit seiner Teetasse darstellt. Freilich: Mit Tassen redet man in der Regel nicht, denn sie sind wie die sonst im ersten Kapitel beschworenen Dinge – wie der Kiesel, der das lyrische Ich einmal war (8), die Kleiderpuppe der Schneiderin (9), die Stecknadeln, zu denen Gott flüstert (11), der Wunderkleber (16), die ausgestopfte Schleiereule (17) und der Damenhandschuh im Speicher (18) – leblose Dinge. Gewiss: Der Zauber von Steinherrs Lyik besteht darin, diese Dinge wiederzubeleben, eben Geister zu beschwören, gewissermaßen einen dichterischen Animismus zu entwickeln, der nicht nur toten Tieren und Steinen, sondern sogar Artefakten eine Seele zuspricht. Aber das ändert nichts daran, dass es sich hier um die niedrigste Stufe der Beseelung handelt, wenn man hegelianisch sprechen will: um die sinnliche Gewissheit eines Animisten. Denn die Seele jener Dinge ist anderer Natur als die lebendiger Organismen, die im zweiten Kapitel »Der Fliederbusch als Voyeur« die Szene bestimmen – vom sehenden Fliederbusch (21) und der Kaper (28) über den Käfer (22), die Spinne (23), die Hummel (29) bis zu den Schoßtieren (28) und Kampfhähnen (29). Im »Arrondissement der Schlaflosen« sind die zentralen Subjekte dagegen die mensch­ lichen Toten (einschließlich des seines Selbst verlustig gehenden

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Ichs): das lyrische Ich, das keinen Haken findet für seine abgezogene Bartholomäus-Haut (37), das durch den Limbus wandelt (41) und in einem verschlossenen Café all die Toten seines Lebens vermutet (42); »der erdolchte Marat in der Badewanne« (38); und Jane Grey, die das Hackholz nicht findet, auf dem sie enthauptet werden soll (40). Das vierte Kapitel – »Gespräche mit der Katzengöttin« – erreicht die Stufe der Götter des Mythos, also dessen, was bei Ηegel »natür­ liche Religion« heißt: Das erste Gedicht, »Geblendet von der Abend­ sonne« (45), spielt mit ägyptischen Mythologemen, die in »Metamor­ phosen« (48) wieder aufgegriffen werden und denen am Ende des Kapitels die Bezugnahme auf die andere große orientalische Kultur im Gedicht »Babylonisch« entspricht, auch wenn dieses eigentlich in Rom spielt – in einem Café am Kapitol, wo eine Pyramide aus Zuckerwürfeln errichtet wurde. Damit – ebenso wie mit »Intime Mythologie« (49), das das antikem Mythos und antiker Dichtung teure Thema der Verwandlung in Sternbilder gestaltet – ist die Brücke zur klassischen Antike, zumal Rom, geschlagen. Das nächste Kapitel behandelt mit Venedig, Verona und Rom drei bedeutende italienische Städte, die auch Goethes Italienische Reise prägen. Doch der Kapitel­ titel »Schlaf an der schottischen Steilküste« macht deutlich, dass auch eine Reise nach Schottland, die Steinherr tatsächlich vorgenommen hat, thematisch ist, ein nördlicher Kontrast zu Europas Süden. Das Kapitel »Warum tragen die Trauerweiden Perücken?« greift zwar die Gegenstände des zweiten und des dritten Kapitels kraftvoll wieder auf, aber das Eingangsgedicht »Alter Satyr« bietet doch etwas ganz Neues im Zyklus. Sicher sind schon vorher mythische Gestalten aufgetreten, aber wie die in kleinerer Schrift unter dem Titel beige­ fügte Angabe »(Glyptothek München)« zeigt, geht es hier nicht mehr um den Mythos, sondern um seine künstlerische Gestaltung (so wie auch Hegel die griechische Tragödie in der Phänomenologie zweimal behandelt, erstens im Zusammenhang mit der antiken Sittlichkeit, dann im Zusammenhang mit der Kunst-Religion). Das Gedicht ist das erste ekphrastische Gedicht des Bandes, das also ein Werk der bildenden Kunst schildert, und im siebten Kapi­ tel »Varieté-Show auf einem Ozeanriesen« folgen mit »Corradinis Verschleierte Frau« und »Ingres’ Odaliske« weitere Auseinanderset­ zungen mit berühmten Kunstwerken, einer Barockstatue (die Puritas Antonio Corradinis aus der Ca‘ Rezzonico in Venedig) und einem Bilde des 19. Jahrhunderts, die thematisch nicht schärfer kontrastieren könnten: verhüllte Keuschheit auf der einen, sinnliche Nacktheit auf

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der anderen Seite – wobei es bezeichnenderweise die erste Figur ist (weil sie ungelöste psychische Probleme vermuten läßt), die eher erotische Neugierde und Begehren auslöst. Es ist also sicher nicht willkürlich, wenn man in diesen beiden Kapiteln das Thema der Kunst – zuerst der antiken, dann der modernen – sich erheben sieht. Auf die Kunst folgt im System des reifen Hegel bekanntlich die Religion (in der Phänomenologie auf die »Kunst-Religion« der Griechen die »offenbare Religion« des Christentums): Man darf daher erwarten, dass Steinherrs vorletztes Kapitel, »Kostümverleih für Heilige«, sich dem Christentum zuwendet. Und genauso ist es: Nach einem weiteren ekphrastischen Gedicht, diesmal zu einer mittelalterlichen Zeichnung (»Die Heilige Barbara, porträtiert von Jan van Eyck«), folgen mit »Amazing Grace«, »Crux«, »Christus Pan­ tokrator« und »Isaaks Opferung« außerordentlich dichte Durchdrin­ gungen christlicher Theologumena. Im »Silvesterklassiker« erscheint schließlich, wie schon gesagt, der Weltgeist höchstpersönlich. Und augenzwinkernd gibt uns der Dichter zu verstehen, dass er selber das Kind, das mit Zylindern und Kaninchen hantiert, nicht einfach einmal war, sondern, qua Lyriker, heute und in diesem Bande selber ist. Ist der Parallelismus zur Phänomenologie des Geistes von Stein­ herr gewollt, oder hat er sich, dank seiner früheren Hegelstudien und dank der allgegenwärtigen List der Vernunft, nolens volens eingeschlichen? Wie auch immer er die produktionsästhetische Frage beantworten mag – kunstwerkästhetisch ist die Analogie ein Faktum, an dem schwer zu rütteln ist.

2. Belebung des Unbelebten und der Toten Nachtgeschichte Als zu Beginn der Somme-Schlacht die großen Minen explodierten bebte ganz Europa – Vom Knall klirrte noch in London das Porzellan – Das erzähle ich meiner Teetasse während ich sie ausspüle und zärtlich trockenreibe – Ich halte sie gegens Licht wie ein rohes Ei –

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Durch den Tassenboden schimmert ein angebrütetes Gesicht – eine Geisha – Was ist das in ihrem Buddha-Lächeln – ein Äderchen? Ein haarfeiner Sprung in der Schale? Der übrigens fortläuft über den Rand der Tasse die Wand hoch und quer über die Zimmerdecke hinaus in die Dunkelheit wer weiß wohin –

Steinherrs Eingangsgedicht, das ich nach dem Gesamtüberblick über den Band genauer interpretieren möchte, ist deswegen so meisterlich, weil der Dichter, nicht anders als Alfred Hitchcock, es schafft, den Abgrund, der Grauen und biedermeierliche Gemütlichkeit trennt, zweimal in solcher Weise zu überqueren, dass das Gefühl des Grauens eine Allgegenwart gewinnt, die ihm anfangs, als es lokalisierbar schien, noch versagt war. Schon der Titel »Nachtgeschichte« ist von unheimlicher Ambiva­ lenz – man denkt zunächst an Gute-Nacht-Geschichten, die man Kin­ dern abends erzählt und in die man einiges Entsetzliche hineinmischt, das aber den Schlaf deswegen nicht stören wird, weil Rotkäppchen am Ende aus dem Bauche des Wolfs herausspringen und das Gute über das Böse siegen wird. Immerhin merkt der aufmerksame Leser sofort, dass im Titel das Wort »Gute« fehlt, und das Gefühl dieses Mangels ebenso wie die negativen Assoziationen von »Nacht« erzeu­ gen wenigstens unbewußt eine bange Erwartung. In der Tat scheint diese erfüllt zu werden, denn im ersten Vers wird eine der blutigsten Schlachten der Menschheitsgeschichte erwähnt, in der mehr als eine Million Menschen verletzt oder getötet wurden. Doch wird im Gedicht von den Toten abstrahiert – das Beben ganz Europas scheint rein metaphorisch gemeint zu sein und im wörtlichen Sinne sich auf das Klirren von Porzellan im fernen London, also jenseits des Ärmelkanals, zu beschränken. Es ist diese harmlose, das menschliche und tierische Leiden im Kriege geradezu verantwortungslos ausblendende Version der Geschichte, die das lyrische Ich seiner Tasse erzählt, die er zärtlich und vorsichtig wie ein rohes Ei behandelt. Aber wie er sie gegen das Licht hält, das hier paradoxerweise gerade die Kraft besitzt, die verdrängte Nachtseite der Wirklichkeit zu erhellen, gibt ihm die Tasse eine Botschaft, die

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gegen seine verharmlosende Version der Sommeschlacht protestiert. Ein Gesicht wird sichtbar – einer Geisha, deren fraglicher Beruf aber nichts daran ändert, dass ihr Lächeln an der Weisheit des Buddha teilhat. Es bleibt unklar, ob in diesem Lächeln etwas Organisches, das der Kunsthandwerker darstellen wollte, also ein Äderchen, oder ein ungeplanter Sprung der Tasse als solcher sich manifestiert. Jedenfalls ist er die Antwort der Tasse – er erstreckt sich über den ganzen Raum, ja, sprengt ihn, in dem das lyrische Ich anfangs geborgen war, hinaus in die Dunkelheit, die die bedrohliche Natur der im Titel erwähnten Nacht endlich sichtbar werden läßt. Formal zerfällt das Gedicht deutlich in zwei Teile: Auf zweimal 3 + 1 (insgesamt acht) Verse folgen fünf Mal zwei (insgesant zehn) Verse. Der Stimmungswechsel, der Zusammenbruch der Gemütlich­ keit, setzt mit dem Beginn des zweiten Teils ein. Trotz der Homo­ genität in der Verszahl der fünf Zweizeiler findet in den letzten drei eine deutliche Beschleunigung statt: Die Verse werden kürzer, und die letzten fünf Verse werden, anders als bisher, allesamt am Anfang kleingeschrieben. Die Alliteration am Ende mit dem dunklen Labiallaut »w« verstärkt das Unheimliche, das das »übrigens« zu Beginn des Satzes noch ironisch abzuschwächen schien, indem es suggerierte, jener Sprung sei in Wahrheit nicht von Bedeutung. Aber der Sprung in der Tasse, ja, in der ganzen Wirklichkeit, ist das, worauf es dem Dichter ankommt. Im Grunde wiederholt Steinherr Vergils »sunt lacrimae rerum« (Aeneis I 462), und zwar ohne den optimistischen Kontext, in dem Aeneas es äußert. Dass Steinherr seine Wiederverzauberung der Welt mit diesem Gedicht beginnt, ist deswegen bedeutsam, weil man seinem Panpsy­ chismus sonst leicht vorwerfen könnte, er verkenne die Sonderstel­ lung menschlichen Leidens. Doch gerade das tut Steinherr nicht – es ist nach ihm die Porzellantasse selber, die sich darüber empört, dass das lyrische Ich in seinen Gute-Nacht-Geschichten für das Geschirr das Klirren von Porzellangeschirr als das Schlimmste am Ersten Weltkrieg hervorhebt. Dies ist auch dann nicht statthaft, wenn man nur zu Porzellantassen spricht – wie sogar unbeseelte Dinge offenbar besser begreifen als manche Menschen. Gerade weil sie stumm, aber bestimmt auf die größere Dimen­ sion menschlichen Leidens verweisen und den Kontakt mit den Men­ schen wünschen, nimmt Steinherr die leblosen Gegenstände so ernst. Es sind nicht nur im normalen Alltag erblickte, sondern oft auch etwa in einen Speicher abgestellte oder sogar nur erinnerte Gegenstände

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aus der Kindheit, die die Erfahrung der Wirklichkeit metaphysisch knistern lassen. »Die schwarze Wählscheibe aus Bakelit/ hat sich zu lange nach einem Finger gesehnt«, lesen wir in »Speichergeflüster« (18). Pflanzen wie die schneebedeckte Trauerweide und die Brücke über den Eisbach werden anthropomorphisiert (67) – umgekehrt wird die Seele der berühmten Kurtisane Phryne mit den Kapern verglichen, die sie gepflückt haben soll, bevor sie zur Hetäre wurde: »Sie hatte die Seele einer Kaper – / Geheimnisvoll dunkelgrün/meeresgrottig sich verbergend/ in der eigenen Knospe/ und dabei fähig zu den exquisitesten/ Flamingo-Blüten –«(28). In einem der besten Gedichte des Bandes, »Sprachlose Schöp­ fung«, wird als Kontrast zu der durch seine Metaphern belebenden Vision des Lyrikers eine Stadt beschworen »groß wie Paris oder Babel/ in der man keine Worte hat für Trauer und Gott und Licht/ für Nichts und Liebe und Meer und Tod – / die Kathedralen sind Maschinenhallen/ Die Museen Schrottplätze –« (10). In dieser frem­ den Stadt, die auf einem anderen Planeten angesiedelt ist und die das lyrische Ich im Halbschlaf durchwandelt, gibt es, wie in Ray Bradburys Fahrenheit 451, keine Buchhandlungen und keine Bibliotheken, und erst recht sind Dryaden und Najaden verbannt: »Kein Baum tuschelt mit mir/ Nirgends Brunnen mit wasserplaudernden Nymphen«. »Paris oder Babel« suggeriert selbstredend, dass der Inbegriff der modernen Metropole der Nachfolger der widergöttlichen Stadt ist, deren Turmbau die modernen Maschinenhallen antizipiert. Dagegen weiß der Dichter in »Amazing Grace« Gott Dank für die Schönheit, die er zum Beispiel in der Flüchtigkeit der Morgengesichter und im Rauch der Kanaldeckel wahrzunehmen vermag – wohl wissend, dass er sie nicht verdient hat (95). Entscheidend für Steinherr ist die bleibende Gegenwart seiner Toten: »Immer öfter treffe ich meine Toten/ spät nachts in der U-Bahn –«, sind die einleitenden Verse von »Hades-Linie« (72), »Die Toten drängen sich in unsern Träumen/ wie Emigranten auf einem Schiffskai der 30er Jahre« sind dagegen diejenigen von »Seelenver­ käufer« (88). In »Unterwelt« schildert das lyrische Ich, das wie in Cocteaus Film Orphée durch die Unterwelt schlendert, die scheinbar erdrückende Allgegenwart der Farbe Schwarz – etwa ertrunkene Kin­ der, die sich über dunkle Bücher beugen, deren Seiten ganz schwarz sind. »Vom schwarzen Ast ein schwarzer Vogel/ fliegt plötzlich auf –/ Ein Kind hebt den Kopf –/ Auch in der Unterwelt/ gibt es den sanften Ruck der Schönheit/ und das Geheimnis das duftet/ wie

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im Malkasten/ das Schwarz« (73). Die Pointe am Ende wertet das Schwarz auf und deutet zart die Hoffnung an, dass auch die Reduktion der Sinne durch den Tod Platz lassen wird für die Erfahrung der Schönheit. Anderswo amüsieren die Toten sich allerdings über die Blindheit des lyrischen Ichs (42); und »Beschwerdebrief an den Tod« beklagt sich über die Unmöglichkeit der Kommunikation mit den Toten, die bestenfalls mit dem eigenen Tode wieder aufgenommen wird (69). Auffallend ist, dass die Arbeit an der Erinnerung gegen den Tod die Präsenz der Familie zurücktreten lässt, die in den früheren Gedichtbänden eine so entscheidende Rolle spielte. Nur in »Bestat­ tung auf Probe« will das lyrische Ich das kichernde Geflüster seiner Kinder im Nebenzimmer die Ewigkeit lang hören (55).

3. Menschliche Grausamkeit und Theodizee Menschliche Empathie liegt auch der Grausamkeit zugrunde (denn wer nicht mitempfindet, ist nur roh), und von seinem Anbeginn an hat Steinherr die Phänomene menschlicher Brutalität und Grausam­ keit mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht. Selbst die Liebe kann eine »Große Tragödie« sein, wenn eine einsame Sekretärin in Verona die Briefe zu beantworten sucht, »die unglücklich Verliebte/ aus aller Welt an Julia schicken –«, und zwar mit einem Bleistift, »der spitz ist wie ein Dolch/ und sein Ende ist/ blutig von Lippenstift/ und zernagt wie von Ratten« (24 f.). »Venedig im August« verbindet die Vision der sterbenden Stadt, »die als buntes Kinderspielzeug/ in der dampfen­ den Bannewanne treibt«, aus der jemand den Stöpsel zieht, so dass die Stadt im Schlammgrund versinkt, während japanische Touristen­ busse aus zehn Kilometern Entfernung den Untergang knipsen, mit der Idee einer letzten Aufführung von The Merchant of Venice in der Serenissima: »Die einzige Eintrittskarte/ kostet ein Pfund Fleisch des Zuschauers/ dem Herz zunächst geschnitten –« (59). Für große Kunst muss man wahrlich einen hohen Preis bezahlen, aber vielleicht lohnt es. »Vom Ruhm« dagegen ist eine großartige Verhöhnung des menschlichen Strebens nach Macht und Ehrung, eine schonungslose Offenlegung dessen, was in einem römischen Triumph wirklich geschah: »Die vernichteten Völker mitgeschleift in Ketten zur Erdrosselung/ Am Straßenrand tausende Frauen/ alle Schwestern von Semele/ die sich mit Benzin übergossen haben/ und

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auf den Streichholzblick harren –« (74). Der abrupte Übergang von der vom Blitz verzehrten Geliebten des Zeus zu modernen Selbstver­ brennungen ist typisch für Steinherrs Kunst, Brücken zu schlagen zwischen Mythos und Gegenwart, weil er in beiden anthropologi­ sche Konstanten erkennt. Die Drolligkeit von Schoßhunden darf in »Schoßtiere« nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir nicht wissen, und nicht wissen wollen, »was das für Fleischbrocken sind/ mit denen die beringte Hand des Diktators/ eure niedlichen Schnäuzchen füttert« (26). Auch der »Blitzschlag«, dem ein eigenes Gedicht gilt, ist ein zwar spektakulärer, aber leider nur unzuverlässiger »elektrischer Stuhl der Götter«: »Diktatoren protzen vor Gewitterwolken/ mit umgeschnalltem Säbel und Ordensbrust/ als prachtvolle Schießbu­ denfiguren –« (98). Immerhin ist die Ambivalenz des letzten Wortes ein gewisser Trost: Die Diktatoren werden keineswegs immer abge­ schossen, aber groteske Figuren ohne Würde sind sie allemal. (In diskreter Intratextualität spielt das Gedicht zudem auf die einige Seiten vorher verherrlichte Heilige Barbara an, deren Vater, nach der Hinrichtung seiner eigenen Tochter, späteren Fassungen der Legenda aurea zufolge vom Blitz erschlagen worden sein soll.) In jedem Fall ist Steinherr religiöser Triumphalismus zuwider – er versucht nicht, das Theodizeeproblem zu lösen (nirgends findet sich ein Verweis auf die menschliche Freiheit als Antwort), und er weiß, in »Crux« bzw. »Isaaks Opferung«, dass Gottes Unterschrift »verteufelt leicht/ zu fälschen ist«, Mafia-Killer ihre Kinderbibel »mit dem blutigen Bonbon-Herz Jesu« küssen« (96) und dass gegen Abrahams Berg­ bauernschädel und seine Löwenpranke der manikürierte Finger des Engels in Caravaggios Gemälde (gemeint ist offenbar das zweite, das in den Uffizien hängt) »lächerlich« wirkt (99). Der Gott, an den Steinherr glaubt, verhindert die schrecklichen Dinge nicht, die Menschen aneinander und sich selbst antun, oft auch im Namen der Religion. Deutlich mißbilligt Steinherr den religiösen Fanatismus nicht nur Abrahams, sondern auch der Märtyrerin Barbara, und zwar unter Bezugnahme auf Hegels Kritik an der schönen Seele: »Reiß mir die Haut mit glühenden Zangen vom Leib!/ Brat meine Augen und Brüste auf dem Rost!/ Ich mache für dich keinen Tintenklecks/ in mein lilienweißes Seelenheft!« (94) »Christus Pantokrator« ist somit »das falsche Modell«. Viel eher erkennt Steinherr Christus in dem Obdachlosen, der »in einer zerschlissenen Wolldecke und in Badeschlappen« durch den Eisregen

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torkelt (97). Freilich ist auch dieser Christus, wie derjenige des Kind­ heitsevangeliums nach Thomas, zu Wundern in der Lage – mit seiner Kinderspucke kann er zerhackte Regenwürmer zusammenkleben. Das lyrische Ich identifiziert sich offenbar mit dem Wurm, und es tröstet sich in »Schwieriger Dialog« damit, dass es Gott nur von weitem erblickt, »während du mich siehst/ in monumentaler Vergrö­ ßerung:/ jede Pore auf meiner regenfeuchten Stirn/ ein schwarzer Abgrund/ jedes Äderchen in meinem Augapfel/ ein tosender Strom von Blut« (12).

4. Einsamkeit des Lyrikers Während frühere Bände Steinherrs oft Dichtung und bildende Kunst miteinander kontrastierten, ist – trotz der zahlreichen ekphrastischen Gedichte – der Vergleich der Künste nun nicht mehr Thema. Statt dessen finden sich viele reflexive Gedichte, die die Natur des eigenen Werkes exponieren. Eins trägt den bezeichnenden Titel »Gedichte« und stellt in zwei mit »als ob« beginnenden Strophen zwei Merkmale der Dichtung heraus: die Einsamkeit, zu der sie verurteilt, auch wenn sie »bei einer Party/ zwischen angeheiterten Gästen« beginnt, und den Zwang, weiterzumachen, auch wenn man sich damit von den Gepflogenheiten dieser Welt verabschiedet (15). In der unmittelbar vorangehenden »Geisterbeschwörung« erscheint die Dichtung als Kompensation für den Verlust eines einzigartigen Geruchssinns, der am Dufthauch einer Frau wußte, »aus welcher Maupassant-Erzählung sie stammte« und »die Pheromone der Engel« schnüffelte – so in jener Promiskuität modaler und ontischer Ordnungen, die Steinherr so liebt. Zwar ist der Hund mit dieser Differenzierungsgabe nun tot, doch »sein Geist stöbert noch rastlos/ zwischen meinen Versen/ wie eine Fegefeuerseele/ auf Marderjagd« (14). Immer wieder spricht Steinherr von der Besessenheit des Künst­ lers – das Morellensalz soll deswegen »Caput mortuum« heißen, weil die alten Meister auch bei Enthauptungen »immer nur an das eine dachten – / ihre Wahnsinnskunst« (39). Und »Isaaks Opferung« endet mit den Versen »wie der irrsinnige Glaube/ wie die irrsinnige Kunst« (99), damit die dichterische Religionskritik überraschender­ weise der Religion wieder annähernd. Das komplexeste reflexive Gedicht ist »ORGA PRIVAT«, das, ganz in der Tradition der Verzau­ berung seelenloser Gegenstände, eine alte, auf dem Flohmarkt erstan­

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Una poesia metafisica

dene Schreibmaschine der genannten Marke zum Symbol der eigenen Lyrik avancieren läßt. Sie wird mit einem Sarg und einer SpukhausSilhouette verglichen, ihre Tasten mit gigantischen Stufen. Bei der ersten Benutzung brachen R und T in den Worten »GÜRTELTIER« und »LICHT« ein – Worte, die zwei Opposita, ein sich von seiner Umwelt abkapselndes Lebewesen und das schnellste und mitteil­ samste physische Gebilde, evozieren. Rilkes Grabinschrift kann nur ohne R und T getippt werden, und nach »SCHLA« bricht ein Schnal­ zen den Schreibprozess ab: »Aus dem schwarzen Korpus hing etwas/ wie eine gerissene Klaviersaite –/ der gerissene Strick des Erhängten/ Danach war alles tot«. Doch ab und zu streifen Freunde immer noch die leblosen Tasten »wie Kinder als Mutprobe die Treppe berühren/ zu einem Haus in dem/ ein Dämon wohnt« (84 f.). Es versteht sich, dass Steinherrs eigene esoterische Lyrik eben­ falls von einem Dämon bewohnt wird und dass es des Mutes bedarf, ja, der Überwindung der Angst vor dem Tode, um sich ihr zu nähern. Wie der Titel eines der berühmtesten Bilder de Chiricos besagt, handelt es sich bei Steinherrs Musen um muse inquietanti, beunruhigende Musen. Doch wer sich auf die Feinsinn und Geduld erfordende Arbeit ihrer Interpretation einläßt, wird belohnt – mit nichts weniger als einem neuen Blick auf die Wirklichkeit, die selbst in ihren einfachs­ ten Gegenständen und in ihren moralischen Abgründen Gestalt, ja Sinn gewinnt.

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