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German Pages 342 Year 2015
Friedrich Balke, Marc Rölli (Hg.) Philosophie und Nicht-Philosophie
Edition Moderne Postmoderne
Friedrich Balke, Marc Rölli (Hg.)
Philosophie und Nicht-Philosophie Gilles Deleuze – Aktuelle Diskussionen
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Inhalt
Philosophie und Nicht-Philosophie Einleitung Friedrich Balke/Marc Rölli | 7
T eil 1: P hilosophische I nterventionen Gilles Deleuze – Philosoph der Immanenz Marc Rölli | 29
Zweierlei Vitalismus Überschreitung – Normativität – Differenz Maria Muhle | 71
Deleuzianischer Nietzsche und nietzscheanischer Deleuze Stéphane Nadaud | 97
T eil 2: K ino nach D eleuze Der Film der Zweiten Moderne oder Filmtheorie nach Deleuze Oliver Fahle | 113
Was ist Philosophie? Gilles Deleuze Was ist Kino? Werner Herzog Hanjo Berressem | 131
In der Abwesenheit des Menschen Über Lager, Landschaften und Geister in Philip Scheffners Halfmoon Files Friedrich Balke | 157
T eil 3: Ü bersetzung , W iederholung , V erkettung Neue Dialoge Das ABC von Gilles Deleuze Antonia von Schöning/Hanns Zischler | 197
Es wiederholt sich Kurt Röttgers | 209
Das Wörtchen ›und‹ Zur Entdeckung der Konjunktion als philosophische Methode Mirjam Schaub | 227
T eil 4: A spekte der N icht -P hilosophie Menschen – Körper – Sensationen Deleuze zur Malerei von Francis Bacon Ralf Krause | 255
»Notre frère à tous« Zur Insistenz der Figur Christi bei Deleuze Clemens Pornschlegel | 275
Leibniz und die Psychophysik des Gehirns Sjoerd van Tuinen | 291
Was heißt Denken nach dem Ende des Durchblicks? Zum Tod von Gilles Deleuze Alexander Kluge/Joseph Vogl | 315
Zu den Autorinnen und Autoren | 337
Philosophie und Nicht-Philosophie Einleitung Friedrich Balke/Marc Rölli
Die Hypothese, die dem vorliegenden Buch zugrunde liegt, lautet: Die Aktualität der Philosophie liegt in ihrem Bezug zur Nicht-Philosophie. Und man könnte hinzusetzen, dass auch in bestimmten nicht-philosophischen Tätigkeitsfeldern (etwa in der Kultur- und Medientheorie, aber auch andernorts) eine philosophische Inspiration in einem aktualitätsfreudigen Sinne wirksam sein oder produktiv gemacht werden kann. Mit dem Ausdruck ›Nicht-Philosophie‹ greifen wir dabei einen primär philosophischen Begriff auf, der bereits seine Geschichte hat. Das ist nicht überraschend, bezeichnet er doch in einer abstrakten Geste der Negation all das unter einem Begriff, was nicht Philosophie ist. Hinter der Geste steckt eine eigentümliche Hybris. Es scheint fast, als könnte die Philosophie so viel sein, dass sie auf gleicher Höhe steht mit dem, was sie nicht ist. Und dies wäre, so müsste man sicher sagen, mit ihrer derzeitigen akademischen Außenseiterrolle kaum zu vereinbaren. Auf den interessanten Kern des Begriffs der Nicht-Philosophie wird man aber schnell aufmerksam, wenn man bedenkt, dass es lediglich ein philosophischer Begriff ist, der etwas geradezu Unmögliches bezeichnet: nämlich eine Öffnung der Philosophie auf die Nicht-Philosophie hin, die sie in ihren Grundlagen verändert, sofern sie in sich einen Platz schafft für das, was sie nicht selbst ist. Mit dem Begriff der Nicht-Philosophie wird signalisiert, dass sich die Philosophie nicht selbst genügen kann. Vielmehr wird sie genötigt, diese ihre Nichtselbstgenügsamkeit zu reflektieren und sich auf diesem Wege zu transformieren. Möglicherweise besitzt dieser Vorgang einen exemplarischen Wert, sofern die Grenzen des Geltungsrahmens philosophischen Wissens
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mit einem Austausch oder einer Interdependenz über Fächergrenzen hinweg zusammengedacht werden. In einer Arbeit aus dem Jahre 1809 mit dem Titel »Die Philosophie in ihrem Übergang zur Nichtphilosophie« hat der Arzt und Philosoph Carl August Eschenmayer die idealistischen Systemkonstruktionen (v.a. von Fichte und Schelling) mit einer prinzipiellen Grenzziehung konfrontiert, welche die »Nichtphilosophie« der Philosophie auferlegt: »Um mich zu erklären, was ich unter Nichtphilosophie verstehe, darf ich nur einen Mißverstand wegräumen. Es giebt nämlich eine nothwendige und eine von zufälligen Umständen abhängige Nichtphilosophie. Für die nothwendige ist der Gegenstand von der Beschaffenheit, daß er sich von selbst der Spekulation entrückt, und überhaupt die Gränzen des Erkennens bezeichnet; bey der andern fehlt es entweder am Entschlusse zu philosophiren, oder am philosophischen Talent. Von der letztern kann hier die Rede nicht seyn.« (Eschenmayer 1809: I)
Die notwendige Nichtphilosophie ist Eschenmayer zufolge eine »reine Theologie«, so dass der Übergang der Philosophie zu ihr »zugleich die Gränze zwischen der Spekulation und dem Glauben bestimmte.« (Ebd.: II) Ausdrücklich wird von Eschenmayer die spekulative Gleichsetzung der Idee des Absoluten mit Gott zurückgewiesen, so dass die philosophische Reflexion auf die nichtphilosophische Theologie mit einer Einschränkung des Wahrheitsanspruchs der Philosophie zusammenfällt. (Vgl. ebd.: 30ff.) Hiermit wird ein bestimmtes Motiv eingeführt, im Rekurs auf etwas (hier: das Göttliche des nichtphilosophischen Glaubens), das nicht in der philosophischen Wesenserkenntnis aufgehoben werden kann, eine kritische Selbstbegrenzung des Denkens herbeizuführen, die nicht – wie noch bei Kant – vor dem Richterstuhl der Vernunft durchführbar ist. Übertragen lässt sich diese Denkfigur in den Kontext des Hegelianismus, wenn die systematisch-enzyklopädische Vereinnahmung aller möglichen nichtphilosophischen Bereiche (von der Physik, Psychologie, Rechtsund Staatwissenschaft bis zur Kunst und Religion und der Geschichte (des Geistes) überhaupt) unter dem Dach einer philosophischen Wissenschaft mit dem Anspruch herausgefordert wird, Philosophie und Nichtphilosophie auf einem grundlegenderen anthropologischen Fundament zu versöhnen. Feuerbach, auf den dieser Gedanke zurückgeht, schreibt dazu:
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»Der Philosoph muß das im Menschen, was nicht philosophiert, was vielmehr gegen die Philosophie ist, dem abstrakten Denken opponiert, das also, was bei Hegel nur zur Anmerkung herabgesetzt ist, in den Text der Philosophie aufnehmen. Nur so wird die Philosophie zu einer universalen, gegensatzlosen, unwiderleglichen, unwiderstehlichen Macht. Die Philosophie hat daher nicht mit sich, sondern mit ihrer Antithese, mit der Nichtphilosophie zu beginnen. Dieses vom Denken unterschiedene, unphilosophische, absolut antischolastische Wesen in uns ist das Prinzip des Sensualismus.« (Feuerbach 1843: 234)
Die anthropologische Basis des ganzen Menschen ist bei Feuerbach so gefasst, dass sie das sensualistische und das scholastisch-geistige Prinzip miteinander versöhnt – und auf diesem Wege die Selbstentfremdung korrigiert, die der Mensch durch seine eigentümliche Fabrikation religiöser Ideale herbeigeführt hat. Mit der Nichtphilosophie – und nicht mit dem Wesen des Geistes – zu beginnen, das erscheint nunmehr als die Möglichkeit, die bei Hegel nicht wirklich erreichte Realisierung der Freiheit mittels eines Denkens, das die materiellen oder real-politischen Verhältnisse quasi nicht-ideologisch mit einbegreift, zu vollenden. Auf diese Weise soll der Bestimmung des Menschen entsprochen werden, d.h. seinen wirklichen Bedürfnissen und nicht nur einem philosophisch-scholastischen Idealbild. »Nur da also, wo sich mit dem Wesen die Existenz, mit dem Denken die Anschauung, mit der Aktivität die Passivität, mit dem scholastischen Phlegma der deutschen Metaphysik das antischolastische, sanguinische Prinzip des französischen Sensualismus und Materialismus vereinigt, nur da ist Leben und Wahrheit. […] Wie die Philosophie, so der Philosoph, und umgekehrt: die Eigenschaften des Philosophen, die subjektiven Bedingungen und Elemente der Philosophie sind auch ihre objektiven. Der wahre, der mit dem Leben, dem Menschen identische Philosoph muß gallo-germanischen Geblütes sein. Erschreckt nicht, ihr keuschen Deutschen, über diese Vermischung!« (Feuerbach 1843: 235)
Ebenso wie Eschenmayer macht auch Feuerbach eine notwendige Nichtphilosophie geltend, die anthropologisch begründet ist. Unterschieden ist sein Ansatz dort, wo er in der Anthropologie eine neue philosophische Gestalt erblickt, die gerade mit den theologischen Illusionen Schluss zu machen hat, die noch in den traditionellen Formen der Schulphilosophien bis in die Gegenwart fortleben. Die in der sog. »klassischen deutschen Philosophie« seit Kant eingeübte Verwerfung der Popularphilosophie als
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– mit Eschenmayers Ausdruck – bloß zufällige Nichtphilosophie wird von beiden geteilt. Einen Kontrast dazu stellt Heinrich Heine dar, der sich mit Feuerbach zwar dort einig weiß, wo der französische Revolutionsgeist mit deutscher Philosophie ausgestattet werden soll – diese Zusammenführung aber umgekehrt einen popularisierenden Effekt auf diese ausübt, der sie nicht unberührt lässt. Hiermit wird das zufällige Moment aufgewertet, sofern nicht länger nur tiefsinnige Gedanken revolutions- und volksmundgerecht (oder auch nur allgemein verständlich für ein gebildetes bürgerliches Publikum) ausgesprochen werden sollen, sondern dabei vor allem der esoterische Tiefsinn auf seine soziale Relevanz hin überprüft wird. Diese Überprüfung stellt nichts weniger als eine popularphilosophische Revision der Philosophie in Aussicht. Hiermit sind wir bei dem zweiten Punkt angekommen, der eine Beschäftigung mit der Nicht-Philosophie spannend machen kann. In Pourparlers hat Gilles Deleuze beide Punkte – d.h. den notwendigen und den zufälligen nach Eschenmayer – zusammengebracht. Er berichtet dort von seiner Lehrtätigkeit an der Universität in Vincennes (und später in St. Denis) und betont, dass die Veranstaltungen stets von Studierenden und Nicht-Studierenden, von Philosophen und Nicht-Philosophen wie Künstlern, Architekten, Musikern etc. besucht worden sind. »Damals habe ich erfaßt, wie sehr die Philosophie nicht nur eines philosophischen Verständnisses durch Begriffe bedarf, sondern auch eines nicht-philosophischen Verständnisses, das über Affekte und Perzepte verläuft. Beides ist erforderlich. Die Philosophie steht in einem wesentlichen und positiven Verhältnis zur Nicht-Philosophie: sie richtet sich unmittelbar an Nicht-Philosophen.« (Deleuze 1990: 203)
Einerseits bezieht sich die Philosophie auf (nicht-philosophische) Empfindungen und Wahrnehmungen, die nicht das Denken in einem anthropologischen Sinne (des ganzen Menschen) ergänzen, sondern der Brechung des außer sich geratenden Denkens entsprechen, das vorgängige Bedingungen impliziert, die es nicht aus sich heraus setzen oder entwickeln und kontrollieren kann. Andererseits adressiert sich die Philosophie nicht zuletzt an Nicht-Philosophen, gerade weil sie auf Probleme reagiert, die aus ihren (vorgängigen oder nicht-philosophischen) Bedingungsverhältnissen resultieren. Zum Beispiel gewinnt die Philosophie eine Popularität, wenn es ihr gelingt, zu einer bestimmten Zeit die sozial und politisch relevanten Themen (der Revolution in Frankreich etc.) aufzugreifen und zu verhan-
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deln. Es sind diese zunächst einmal nicht-philosophischen Themen, die es allererst ermöglichen, dass sich die Philosophie populär aussprechen kann – sofern eben die metaphysischen Fragen, die einen ihnen entsprechenden akademischen Tiefsinn erforderlich machen, durch die soziale Frage (oder andere Probleme, die das ›gesellschaftliche Unbewusste‹ heimsuchen) abgelöst werden. Es war Merleau-Ponty, der in seinen Vorlesungen Ende der 1950er Jahre die Schwierigkeiten der Philosophie, die sich durch die zunehmende Dominanz der Natur- und Sozialwissenschaften in eine Krise gestürzt sah, auf die griffige Formel ›Philosophie und Nicht-Philosophie‹ gebracht hat.1 Am Ausgangspunkt seiner Überlegungen steht Hegel (und der Reformhegelianismus Kojèves u.a.), sofern gerade die Abgeschlossenheit seines Systems nach einer Neubestimmung des Verhältnisses der Philosophie zur Nicht-Philosophie verlangte. Kurz gesagt verwendet Merleau-Ponty den phänomenologischen Begriff der Lebenswelt, um auf die (prinzipiell uneinholbaren) nicht-philosophischen Voraussetzungen der Philosophie aufmerksam zu machen. Gelingt es der Philosophie, sich unmittelbar auf die Lebenswelt zu beziehen, so kann sie gegenüber der abstrakten Negation der Philosophie in den Natur- und Sozialwissenschaften einen Vorteil geltend machen, der zunächst einmal in der Fähigkeit besteht, das metaphysische Erbe in den Wissenschaften thematisieren zu können. Die Lebenswelt kann daher weder als ein positives Faktum einfach vorausgesetzt noch 1 | Vgl. Merleau-Ponty 1996: 38, 72f. Aufmerksame Leserinnen und Leser werden bemerkt haben, dass wir erst mit Merleau-Ponty von einer ›Nicht-Philosophie‹ (mit Binde- bzw. Trennstrich) sprechen, die sich von der älteren ›Nichtphilosophie‹ (ohne Binde- bzw. Trennstrich) dadurch unterscheidet, dass sie die immanente (und nicht lediglich negative) Verbindung mit der Philosophie, aber gleichzeitig auch die Trennung von ihr, zum Ausdruck bringt. Pointiert gesagt, steht der Begriff der ›Nicht-Philosophie‹ nicht nur für das (nichtphilosophische) Andere der Philosophie, sondern auch für eine im nicht-äußerlichen Bezug auf dieses Andere sich verwandelnde Philosophie. Vielleicht kann man von einem doppelten Werden sprechen, das die Verwandlungen der außer sich geratenden Philosophie mit Veränderungen aufseiten der Nichtphilosophie – hin zur Nicht-Philosophie, d.h. zu einer Aktualisierung ihrer philosophischen Bezüge – überkreuzt. »Das Paradox dieses reinen Werdens mit seiner Fähigkeit, dem Gegenwärtigen auszuweichen, besteht in der unendlichen Identität […] beider SinnRichtungen zugleich.« Deleuze 1969: 17. Vgl. auch Deleuze/Guattari 1991: 130f.
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als neues philosophisches Fundament – wie in Husserls Phänomenologie – verstanden werden. Von Deleuze wird diese Problemstellung und ihre sonderbare Paradoxie aufgegriffen und weitergeführt. In dieser Perspektive lassen sich seine Struktur- und Immanenzbegriffe, die Maschinen und die Gefüge oder Dispositive, als kritische differenztheoretische Nachfolgebegriffe der ›Lebenswelt‹ interpretieren. Immer ist mit Begriffen wie der Lebenswelt ein Versprechen formuliert, dass es der Philosophie nun nach all ihren spekulativen Umwegen und Eskapaden um die Sache selbst geht, dass sie, nachdem sie sich von den Menschen und ihren Existenzbedingungen in den platonischen Himmel entfernt hat, in die Höhle zurückkehrt, nicht um die von ihr eröffnete Dimension der Wahrheit preiszugeben, sondern um sie mit dem zu versöhnen, was Husserl das »vergessene Sinnesfundament« aller menschlichen Praktiken genannt hat. Die Philosophie hört in dieser Perspektive nicht auf, den »Verlust ihrer Lebensbedeutsamkeit« zu beklagen und sich auf den »rechte[n] Rückgang zur Naivität des Lebens« zu begeben (Husserl 1977: 64). Von der phänomenologischen Strategie, den Kontakt der Lebenswelt dadurch wiederzugewinnen, dass man »den Menschen als ihr Subjekt« restauriert, ist allerdings die deleuzianische Berufung auf das Nicht-Philosophische toto coelo unterschieden. Deleuze verbietet sich den Rückgriff auf das anthropologische Pathos eines erneuerten Menschentums. Keinen Augenblick glaubt er an den Mythos, die Geschichte der neuzeitlichen Philosophie bestimme sich als »Kampf um den Sinn des Menschen« (Husserl 1977: 14). Wenn er mit solchem Nachdruck darauf beharrt, dass das Nicht-Philosophische »vielleicht tiefer im Zentrum der Philosophie als die Philosophie selbst« (Deleuze 1991: 49) ist, dann denkt er dieses Nicht-Philosophische nicht als jene Fülle des Sinns, die den Mangel einer bloß begrifflich-abstraktiven Anstrengung zu kompensieren vermöchte. Deleuze bleibt dem strukturalen Denken zeit seines Lebens insofern verpflichtet, als er stets auf die maschinale und kollektive Dimension der Produktion von Sinn und Bedeutung zurückkommt. Die Logik des Sinns, der er ein Buch gewidmet hat, wird nicht von der Suche nach einem Mehr an Sinn getragen, als es die Philosophie bislang hervorzubringen vermochte. Deshalb weist er auch ohne Zögern alle theologischen und anthropologischen Bestimmungen des Nicht-Philosophischen zurück: »Als der Sinnbegriff die Funktion der absterbenden Wesenheiten übernahm, schien die philosophische Grenze sich zwischen jenen einzurichten, die den Sinn
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mit einer neuen Transzendenz, mit einer neuen Anverwandlung Gottes, einem verwandelten Himmel verbanden [das Paradigma Eschenmayer; Vf.], und jenen, die den Sinn im Menschen und seinem Abgrund, in neu ausgehobener Tiefe, unterirdisch fanden [das Paradigma Feuerbach; Vf.]. Neue Theologen eines düsteren Himmels (der Himmel über Königsberg) und neue Humanisten der Höhlen besetzten den Schauplatz im Namen des Gott-Menschen oder des Mensch-Gottes als Geheimnis des Sinns. Zuweilen war nur schwer zwischen ihnen zu unterscheiden.« (Deleuze 1969: 98)
Ob Himmel oder Souterrain: »der Sinn wird allemal als Prinzip, Reservoir, Vorrat, Ursprung« oder, wie bei Husserl, als Quelle beschworen, eine Position, gegen die Deleuze die »frohe Botschaft« der Wissenschaften von den Oberflächenwirkungen ertönen lässt, die besagt: »Der Sinn ist niemals Prinzip oder Ursprung, er ist hergestellt. Er ist nicht zu entdecken, wiederherzustellen oder neu zu verwenden, er ist durch neue Maschinerien zu produzieren. Er gehört zu keiner Höhe und findet sich in keiner Tiefe, sondern ist Oberflächeneffekt, und von der Oberfläche als der ihm eigenen Dimension nicht zu trennen.« (Deleuze 1969: 99)
Weil der modische Diskurs über philosophische Strömungen sich beeilt hat, das strukturale Denken für antiquiert zu erklären, weil auch der sogenannte Poststrukturalismus inzwischen ›historisch geworden‹ ist, hat man schlicht nicht verstanden, dass das, was heute die Medien- und Kulturwissenschaften betreiben, in weiten Teilen Erkundungen solcher Oberflächen und der zur Herstellung ihrer Effekte nötigen Apparate und Maschinerien sind. Von den Leinwänden, Bildschirmen und Monitoren der audiovisuellen analogen oder digitalen Medien bis hin zu den Inskriptionen der Wissenschaften, den Graphiken, Karten, Diagrammen und Zeichnungen, die weit entfernte und physisch unerreichbare Gegenstände und Phänomene auf eine überschaubare Oberfläche aus Papier bannen: In allen Fällen sind es Techniken der Erzeugung optischer Konsistenz auf kleinem Raum, die es dem Betrachter erlauben, mit einem Blick jene Evidenz zu erlangen, die ihm verwehrt bliebe, wollte er Erfahrung mit den Sachen selbst machen. Medien sind nichts anderes als die von Deleuze aufgerufenen »Maschinerien« der Sinnproduktion – und die Frage nach der Rolle des Menschen im Zusammenhang medientechnischer Anordnungen hat niemand so prägnant beantwortet wie der selbsterklärte Deleuzianer Bruno Latour, der in
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seinem programmatischen Text zur Rolle der »Papierarbeit« in den Wissenschaften feststellt: »Ein Mensch ist niemals viel mächtiger als ein anderer – sogar von einem Thron aus; von einem Mann jedoch, dessen Auge Aufzeichnungen dominiert, durch die gewisse Verbindungen mit Millionen anderer hergestellt werden können, kann man sagen, dass er dominiert. […] Der Maßstab eines Akteurs ist mit anderen Worten kein absoluter, sondern ein relativer Begriff, der mit der Fähigkeit variiert, Information über andere Orte oder Zeiten zu produzieren, zu erfassen, zusammenzufassen und zu interpretieren. […] Der ›große Mann‹ ist ein kleiner Mann, der auf eine gute Karte schaut.« (Latour 1986: 297)
Wenn Latour als das zentrale Interesse der ANT ausgibt, eine Antwort auf die Frage zu suchen, wie man »das Soziale flach halten« kann (Latour 2005: 286), dann reformuliert er damit lediglich die Weigerung Deleuzes, die Erzeugung von Konsistenz in theologischen oder transzendenten Begriffen zu denken: um dem Chaos eine Konsistenzebene abzugewinnen, bedarf es keines Entwurfs »im Geist eines Gottes« und es verbietet sich ebenso die Berufung auf eine »Evolution«, sofern sie als die Entwicklung und Ausfaltung eines vorab feststehenden Programms konzipiert wird. Deleuze fordert ein Denken, das sich allein der Immanenzebene verschreibt und daher den Rückgriff auf eine Dimension verbietet, »die den Dimensionen dessen, was gegeben ist, hinzugefügt wird« (Deleuze 1981: 166). Die Immanenz, so heißt es an einer Stelle in Was ist Philosophie?, werde von den theologisch gesonnenen Philosophen so gefürchtet, weil sie »die Weisen und die Götter« verschlingt (Deleuze 1991: 54) – nicht minder aber von ihren Nachfahren, den Experten unserer Tage, die autoritativ darüber entscheiden, woraus sich eine Gesellschaft zusammensetzt, mit welchen Arten von Wesen sie bevölkert ist und welche der sie durchziehenden Konflikte legitim sind. Das Nicht-Philosophische in der Philosophie zum Einsatz zu machen, heißt vor diesem Hintergrund nichts anderes, als das Soziale nicht durch einen Katalog von Akteuren, Institutionen oder Systemen zu begrenzen, sondern es jeweils als das zu bestimmen, was neue, überraschende und unvorhergesehene Verbindungen oder ›Assoziationen‹ zwischen bislang unassoziierten Kräften herstellt. Aufzugeben ist daher die Vorstellung, Gesellschaften bestünden aus sprach- und handlungsfähigen Subjekten und nichts sonst.
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Dass die jüngeren Entwicklungen auf dem Gebiet der Medien-, Kultur- und Sozialwissenschaften einen zentralen Impuls des Deleuzianismus aufnehmen, erkennt man im Übrigen nirgendwo so gut, wie dort, wo Deleuze seine Spielart des philosophischen Empirismus erläutert und sie unter das Zeichen der Konjunktion (et) und nicht der Kopula (est) stellt. Gegen den »Kult des Grundes, des Baums und der Wurzel, des Innen« wendet er die Kraft des Und: »Bezug nach Draußen, Kult der nie sich senkenden, fundamentlosen, obenauf dahinziehenden Straße, Rhizome«, zusammengenommen also: »Verkettung« (Deleuze/Parnet 1977: 66). Mit der Straße ist nicht nur eine beliebige Metapher für den Bezug zum Draußen gewählt, sondern zugleich eine Einrichtung, die mit vielen anderen Medien der Übertragung die elementare Voraussetzung für die Herstellung von ›sozialem Zusammenhang‹ gleich welcher Art und damit zugleich die Verwiesenheit jeder Logik auf eine ihr zugrundeliegende Logistik markiert. Auch die Philosophie bewohnt ein Territorium, das erst durch Wege, Kanäle und andere Bahnungen erschließbar wird. Mit seiner Definition der »Verkettung« jedenfalls hat Deleuze bereits in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts einen Bezug des philosophischen Denkens zum Außerphilosophischen hergestellt, der in vielen gegenwärtigen Debatten um Netzwerkdenken und Heterogenese aufgegriffen wird: »Was ist eine Verkettung? Eine Vielheit, die, zahlreiche heterogene Glieder umschließend, zwischen diesen Gliedern Verbindungen, Beziehungen unterschiedlicher Natur stiftet – über Zeitalter, Geschlechter und Reiche hinweg. So bildet die einzige Einheit der Verkettung denn auch nur die des gemeinsamen Funktionszusammenhangs: sie ist Symbiose, ›Sympathie‹. Wichtig sind niemals die Abstammungen, wichtig sind die Bündnisse und Mischungen; wichtig sind nicht die Nachkommen, wichtig sind die Ansteckungen, die Epidemien, der Wind.« (Ebd.: 76)
Ein auch an anderen Stellen ausführlich diskutiertes Beispiel, das die ontologisch und klassifikatorisch begründeten Grenzziehungen zwischen Mensch, Tier und Technik in Frage stellt, bringt ein Konzept des Handelns ins Spiel, das nicht länger auf das beschränkt ist, was Menschen ›intentional‹ oder ›mit Sinn‹ tun, so dass begreifbar wird, dass auch Dinge, sofern sie eine gegebene Situation verändern und ihre Existenz einen Unterschied macht, Akteursqualität oder Handlungsmacht gewinnen können:
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»Nehmen wir die Verkettung ›Mensch – Tier – hergestellter Gegenstand‹: Mensch – Pferd – Steigbügel. Von Technologen stammt die Erklärung, der Steigbügel habe, indem er dem Reiter seitlichen Halt gab, eine neue Kriegstechnik ermöglicht; die Lanze kann unter den Arm geklemmt werden, profitiert vom Schwung des Pferdes, wirkt als eine vom Lauf getragene und selbst in Ruhelage befindliche Spitze. […] Mensch und Tier treten in eine neue Beziehung ein, worin beide Elemente sich verändern, das Schlachtfeld wird von einem neuartigen Affekttyp besetzt. Falsch wäre indes zu meinen, die bloße Erfindung des Steigbügels sei dafür ausreichend gewesen. Eine Verkettung ist niemals technologisch; ganz im Gegenteil. Die Werkzeuge setzen stets eine Maschine voraus – und diese ist allemal primär eine Gesellschaftsmaschine und erst sekundär eine technische. Immer ist es die Gesellschaftsmaschine, die die zu verwendenden technischen Elemente auswählt und festlegt. Ein Werkzeug bleibt randständig oder kaum genutzt, solange keine Gesellschaftsmaschine oder kollektive Verkettung existiert, die es in ihr ›Phylum‹ zu integrieren vermag.« (Ebd.: 76f.)
Liest man die weiteren Überlegungen zur Funktion technischer Erfindungen im Rahmen unterschiedlicher Gefüge (agencements), dann wird deutlich, dass das Programm der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) in nichts anderem besteht, als in der konsequenten methodischen Ausarbeitung und Pointierung des Konzepts der kollektiven Verkettung. Zum einen nämlich weisen Latour und seine Mitstreiter (Michel Callon, John Law, Madeleine Akrich) den soziologischen Begriff der Gesellschaft zugunsten des Kollektivs zurück. Dabei verstehen sie unter ›kollektiv‹ nicht eine Handlung, die von homogenen sozialen Kräften ausgelöst oder vorangebracht wird, sondern in der Verbindung zahlreicher heterogener Glieder oder neuer Entitäten besteht, die in dieser Konstellation zuvor noch nicht ›versammelt‹ waren. Es ging Deleuze (und Guattari) wie heute Latour darum, die auf Sinnkommunikation oder Informationsübertragung geschrumpfte Bedeutung von ›sozial‹ dadurch rückgängig zu machen, dass jede Vorabfestlegung zurückgewiesen wird, welche basalen Elemente (z.B. Handlungen oder Kommunikationen, um gegenwärtige Kandidaten für die sozialen Basisoperationen zu nennen) die Gesellschaft konstituieren. Bevor man über soziale Beziehungen der Stände im Feudalismus spricht, sollte man zunächst, so darf man Deleuzes exemplarische Analyse verstehen, eine Liste mit den heterogenen, menschlichen wie nichtmenschlichen Elementen anfertigen, die zusammenkommen müssen, damit die kollektive Verkettung, die die Historiker mit dem Feudalismuslabel zudecken, zustande
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kommt. Ein so gebauter Begriff des Sozialen, der an die Bedeutung des lateinischen socius (von sequi: folgen) anknüpft, ist »sehr viel umfassender« als der soziologische Normalbegriff des Sozialen, aber zugleich auch »streng begrenzt« auf das, was Latour in deleuzianischer Begriffssprache »das Verfolgen neuer Assoziationen und das Aufzeichnen ihrer Gefüge, ihre Assemblagen« nennt (Latour 2005: 19). Weil alles das, was Latour weitschweifig als das soziologische Missverständnis des Sozialen zurückweist, denen wenig Neues sagt, die bereits mit der deleuzianischen Zurückweisung humanistischer und anthropologischer ebenso wie technologischer oder medientechnisch abgeleiteter Gesellschaftsbegriffe vertraut sind, verstehen sich einige der in diesem Band versammelten Beiträge nicht zuletzt auch als Versuche, die von Deleuze und Guattari entwickelte Analysetechnik kollektiver Verkettungen erneut in die kultur- und medienwissenschaftliche Diskussion einzuführen und ihre Fruchtbarkeit unter Beweis zu stellen. Da es keinen absoluten Bezugsrahmen dafür gibt, was eine Gesellschaft oder eine Kultur ausmacht und woraus ihre ›Letztelemente‹ bestehen, verdienen die ›schizoanalytischen‹ Untersuchungen erneut unsere Aufmerksamkeit, denn sie schärfen unseren Blick für die Unwahrscheinlichkeit historisch entstandener und entstehender Gefüge und enthalten zugleich auch ein Widerlager, das dem Netzwerkbegriff und seiner Entgrenzungseuphorie abgeht. Den Netzwerkbegriff würde Latour ja am liebsten inzwischen zurückrufen (Latour 1999: 561-572), weil er längst zu einem »absoluten Begriff« mutiert ist, dem jede analytische Distinktionskraft abhanden zu kommen droht. Die ANT ist hier offenbar selbst in das Netz eines Begriffs hineingeraten, der ausschließlich eine Dimension der Analyse pointiert, nämlich dazu dient, »die schiere Komplexität der Assoziationen zu entfalten«, auf die man bei der Beschäftigung mit sozialen Tatsachen stößt. Spinozas Feststellung, »was ein Körper alles vermag, hat bis jetzt noch niemand festgestellt« (Spinoza 1977: 261), die Deleuze immer wieder zitiert, hat ihre kritische Pointe in der Zurückweisung aller Versuche, ohne eine genaue Untersuchung vorab auf der Grundlage bestimmter Annahmen über das Wesen und die Eigenschaften eines (individuellen oder kollektiven) Körpers dessen Vermögen oder Handlungsmacht festzulegen. Was die ANT-Version dieser spinozistischen und zugleich nominalistischen Perspektive auf die Handlungsmacht der Körper und Körperschaften von dem Analysestil Deleuzes/Guattaris unterscheidet, ist, kurz gesagt, ihre Vernachlässigung all
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der Faktoren und Prozesse, die die Entfaltung des Vermögens der Körper beschränken oder gar unterbinden. Weil sie sich ausschließlich auf die Beobachtung der Herstellung neuer, am liebsten weltumspannender Verknüpfungen konzentriert, weil sie das Lokale immer nur in seiner Funktion für die Produktion des Globalen in Betracht zieht, privilegiert sie, in der Begrifflichkeit von Deleuze und Guattari die Deterritorialisierungsdynamiken der Verkettungen. Demgegenüber erinnert Deleuze daran: »Keine Verkettung ohne Territorium, ohne Territorialität und ohne alle möglichen Künstlichkeiten umfassende Reterritorialisierung.« (Deleuze/Parnet 1977: 78) Neben die Erforschung der komplexitätssteigernden Verbindungen und des Spiels der Konjunktionen rückt daher die Untersuchung von disjunktiven und dissoziativen Prozessen der Teilung, Abspaltung und Verwerfung sowie der höchstambivalenten Versuche, diese Prozesse zum Ausgangspunkt von ›Neo-Territorialitäten‹ zu machen, die einen Schutz vor der Gewalt der Deterritorialisierungsprozesse gewähren sollen. Die Konzentration allein auf die Freilegung des »Spektrums der Existenzformen, die die Akteure zum Handeln bringen« (Latour 2005: 239), verkürzt die Problematik der Funktionsweise von Assoziationen und Gefügen um die Analyse von Codes und Aussagen, deren Funktion darin besteht, die Akteure am Handeln zu hindern bzw. sie die Handlungsohnmacht und den Zwang, dem sie unterliegen, spüren zu lassen. Man kann den sozialen Raum noch so »flach« zu zeichnen bemüht sein, die Reproduktion von Hierarchien und asymmetrischen institutionellen Machtchancen bei der Festlegung der Bahnen, in denen das Handeln sich bewegt, wird auf diese Weise keineswegs suspendiert. Immer wieder kommt Deleuze in seinen Arbeiten auf ein »Bild des Denkens« zurück, »das sich dem der Philosophie entgegensetzt« (Deleuze 1976: 78). Der Philosophie wird der Vorwurf gemacht, dass sie sich von vornherein »des guten Willens zum Denken« versichert, da sie auf ganz natürliche Weise das Wahre anstrebe. Deleuzes Lektüren großer Philosophen ebenso wie seine Beschäftigung mit Schriftstellern wie Marcel Proust zielen darauf ab, in den jeweiligen Werken zu den »dunklen Zonen« vorzudringen, »wo die wirksamen Kräfte sich ausbilden, die auf das Denken wirken, die Bestimmungen, die uns zu denken zwingen« (Deleuze 1976: 78). »Wichtiger als der Gedanke ist das, ›was zu denken gibt‹« und für das gilt, dass es der Denker nicht aus eigenem hervorzubringen vermag – ebenso wenig wie der Handelnde die Handlung. Deleuze stellt die Dichtung, die Malerei und den Film daher sogar ›über‹ die Philosophie, nicht
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weil er wie weite Teile der gegenwärtigen Philosophie eine besondere Vorliebe für die sogenannte ›ästhetische Erfahrung‹ hätte, sondern weil man von der Literatur, der Malerei und dem Kino lernen kann, »daß das Wesentliche außerhalb des Denkens liegt«, nämlich in jenem, »was zu denken zwingt«. Das Leitmotiv seines eigenen philosophischen Denkens ist daher das Wort zwingen. Dieser Zwang wirkt sich dabei keineswegs in der Form einer mächtigen Kausalität aus, sondern nimmt die Gestalt dessen an, was Deleuze die »Kontingenz der Begegnung« nennt. Der Denker hat es nach Deleuze nicht mit »abstrakten Möglichkeiten« zu tun, die er ›durchspielt‹ oder in seinem Geist ›entwirft‹ (so wenig wie es der Handelnde mit Elementen zu tun hat, die er nach Belieben kombinieren könnte), sondern mit der Aktivität des Interpretierens, die sich von einem »Zeichen« abhängig weiß, das es zu »explizieren, entziffern, übersetzen« (Deleuze 1976: 80) gilt. Anders nämlich als die geläufigen Semiotiken suggerieren, ist das Zeichen durchaus kein einfaches, transparentes Gebilde, das einen Signifikanten mit einem Signifikat zusammenschließt, sondern eine Macht, die die Vermögen (Verstand, Gedächtnis, Imagination) bewegt und in Krisen stürzt. Die Beiträge des vorliegenden Bandes praktizieren auf jeweils eigene Weise dieses Denken, das sich der Kontingenz der Begegnung mit einem Nicht-Philosophischen verdankt, das »vielleicht tiefer im Zentrum der Philosophie als die Philosophie selbst« ist. Dabei machen sich einige von ihnen die Einsicht zunutze, dass auch das Denken Deleuzes bestimmten Zwängen und Begrenzungen unterliegt, die dem philosophischen Diskurs entstammen oder eine bestimmte inzwischen historisch werdende Konfiguration reflektieren, die es nötig erscheinen lässt, die »dunkle Zone« dieses Denkens weiter zu entfalten, statt es lediglich in gelehrten Kommentaren zu bekräftigen oder zu widerlegen. Im ersten Teil des Buches werden einige Regel überschreitende Veränderungen zum Thema gemacht, die Deleuze »in der guten alten Stube der Philosophie« (Foucault 1969: 10) vornimmt. Marc Rölli interpretiert die von Deleuze entwickelte Immanenzphilosophie als eine mögliche Antwort auf die von Merleau-Ponty aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Nicht-Philosophie. Ausgehend von dem Entwurf einer ›Immanenzebene‹ in Was ist Philosophie?, einem gemeinsam mit Guattari geschriebenen Buch, wird die eigentümliche Radikalität des Deleuze’schen Denkens entfaltet und gegen andere, auf Transzendenzen spekulierende Positionen profiliert. Dies geschieht in mehreren Schritten:
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Spinoza, Hume, Kant und Nietzsche liefern nicht nur die entscheidenden begriffsgeschichtlichen Anhaltspunkte der ›Immanenz‹, sondern auch die werkbiographisch und systematisch relevanten Aspekte der immanenzphilosophischen Theoriebildung. Deutlich wird: Aktuelle Interpretationen, die Deleuze entweder lebensphilosophisch oder aber im Sinne einer negativen Theologie oder Ontologie deuten, greifen zu kurz. Mitten im Paradox des Denkens des Nicht-Denkens, d.h. der vielfältigen technisch und sozial verketteten Werdensprozesse der Erfahrungen, Handlungen, Institutionen – liegt die Spannung, die Deleuzes Philosophie der Immanenzstrukturen auszeichnet. Maria Muhles Beitrag verleiht der Auseinandersetzung mit dem deleuzianischen Vitalismus eine neue Wendung, indem er dessen Heterogenität freilegt. Zu diesem Zweck werden Deleuzes späte Notate zu Foucaults Machtbegriff einer detaillierten Lektüre unterzogen, wobei sich eine Zweideutigkeit des von Deleuze behaupteten »Primats des Begehrens über die Macht« herausstellt: Weil für Deleuze die Macht selbst dort, wo sie ihre von Foucault herausgestellte produktive Natur entfaltet, in letzter Instanz ihren repressiven Charakter bewahrt, läuft sein ontologischer Bezug auf ein Leben Gefahr, Politiken wie den Resistenz-Produktivismus von Hardt und Negri zu inspirieren, die im Namen eines ursprünglich ›guten‹, weil organlosen Körpers auftreten und dem Phantasma einer Unabhängigkeit des Lebens und seiner wahren Dynamik von allen Kodierungen der Macht verfallen. Der Beitrag zeigt, dass das eine Leben bei Deleuze ontologisch als die »disjunktive Synthese zweier Bewegungen« zu begreifen ist, die auch, wenn sie politisch artikuliert werden, untrennbar miteinander verbunden bleiben. Die Immanenz von Lebensvollzügen und dynamischen Affektladungen trifft stets auf eine Ebene der ›Pläne‹ oder Entwürfe, die die Formen und Entwicklungen, die Subjekte und deren Bildungen organisieren. Dass der Akt des Denkens, wie Deleuze immer wieder behauptet, »die einzige wahre Schöpfung« ist, heißt eben, dass sie niemals »einer einfachen natürlichen Möglichkeit« (Deleuze 1976: 80) entspringt, selbst dann nicht, wenn diese Möglichkeit ›Leben‹ heißt. Stéphane Nadauds Beitrag geht auf die »Kontingenz der Begegnung« Deleuzes mit Nietzsche zurück, deren eminente Bedeutung in der Forschung unbestritten ist. In Nietzsche und die Philosophie wird Nietzsche für seine Methode gerühmt, die den Sinn von etwas dadurch erfasst, dass sie erkennt, »welche Kraft sich das Ding aneignet, es ausbeutet, sich seiner bemächtigt oder in ihm sich zum Ausdruck bringt« (Deleuze 1962: 7). Na-
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daud wendet diese symptomatologische Methode auf Deleuzes NietzscheLektüren selbst an und kommt – u.a. auf dem Wege einer statistischen Auswertung der Nietzsche-Zitate – zu einem zwiespältigen Befund. Obwohl Deleuze grundsätzlich zur Kenntnis nimmt, dass Nietzsche »nicht so sehr ein Individuum ist«, sondern »ein kollektives Äußerungsgefüge«, das sich in jedem seiner zahlreichen Heteronyme (Dionysos, Zarasthustra, der Gekreuzigte…) findet, kommt es bei Deleuze doch zu einer selektiven Bezugnahme auf bestimmte Texte Nietzsches, denen eine größere Autorität im Hinblick auf die Auslegung seines Denkens beigemessen wird als anderen Fragmenten. Diese Bevorzugung eines bestimmten Nietzsche ist keineswegs als solche zu monieren; problematisch, so zeigt Nadaud, wird sie erst dann, wenn sie in systematischer Absicht vorgenommen und mit der Annahme einer ›progressiven‹ Entwicklung seines philosophischen Denkens verknüpft wird, was etwa dort geschieht, wo Deleuze eine vermeintlich frühe dialektische Vorstellung des Gegensatzes Dionysos/ Apollon einer ›gereiften‹ Konzeption des Widerspruchs von Dionysos und Christus gegenüberstellt. Den zweiten Teil zum Kino und der von Deleuze mit großer Hartnäckigkeit verfolgten philosophischen Reflexion auf das Filmbild und seine Geschichte eröffnet Oliver Fahle. Er zeigt in seinem Beitrag, dass der Film und die Filmtheorie nach Deleuze in einem doppelten Sinne zu verstehen ist: Zwar kann die hierzulande intensiv rezipierte Deleuze’sche Kinotheorie sehr wohl die Filme der Gegenwart ›wahrnehmen‹, obwohl ihr Verfasser sie doch nicht mehr sehen konnte; der Beitrag plädiert jedoch dafür, es nicht bei der Anwendung der vorliegenden Konzepte auf immer neue filmische Konstellationen zu belassen, sondern die Deleuze’sche Kinotheorie zugleich auch konsequent als virtuelle Medientheorie zu begreifen – und das, obwohl Deleuze vom Begriff des Mediums in seinen Arbeiten so gut wie keinen Gebrauch gemacht und sein eigenes Denken auch nicht in die bereits zu seinen Lebzeiten ausgebildete Theorietradition der Medientheorie eingeschrieben hat. Wenn es ein konstitutives Merkmal gegenwärtiger Filmkunst ist, systematisch die medialen Bedingungen und das visuelle Wissen im filmischen Raum zu reflektieren, dann käme es aus dieser Sicht heute darauf an, die Vorstellung eines homogenen Filmbildes und seiner bloß typologischen Auffächerung selbst in Frage zu stellen und sich mit einem filmischen Zeichen auseinanderzusetzen, das wesentlich
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als wechselseitige Relation von Filmbild und anderen visuellen Medien, etwa Video, Fernsehen und digitalen Bildern zustande kommt. Hanjo Beressem realisiert die Kontingenz der Begegnung von philosophischem Denken und Filmbild bereits durch die Anordnung seines Beitrags in Form von zwei parallel laufenden textuellen Serien, die auf diese Weise auch typografisch die Konsequenz aus Deleuzes Hinweis zieht, dass die Philosophie nicht »abstrakter« als ihr Gegenstand ist und daher auch nicht diesem Gegenstand, hier also dem Kino, übergeordnet werden darf. Die Begriffe des Kinos müssen also von der Philosophie erst erfunden werden, sie sind keiner Disziplin zu entnehmen, um dann lediglich auf den Film ›angewendet‹ zu werden. Im Zentrum der Überlegungen Beressems steht der spezifische »Naturalismus«, den Deleuze im Anschluss an die antike atomistische Bildtheorie des Lukrez zu seiner Konzeption einer ›tiefen‹ Serie von Körpern und ihren affektiven Vermischungen auf der einen und einer Serie von an der Oberfläche spielenden Ereignissen und Effekten auf der anderen Seite weiter entwickelt. Das Kino stellt jene »projektive Ebene« zur Verfügung, auf der sich fortlaufend die Trennung der beiden Serien vollzieht, indem sich auf der Leinwand das Leben der Körper, ihrer Affekte und Aktionen in ein ›photonisches‹ Leben, Impuls in medialisierte Vision übersetzt. Indem sich die Bewegungen und Affekte aus ihrer »Ursprungswelt« lösen und sich gewissermaßen ›entkörpern‹, können sie in dem Maße, wie sie der Film seinen künstlichen Körpern attribuiert, zugleich in neue Resonanzbeziehungen eintreten. Am Beispiel von Werner Herzogs an der Schnittstelle von Dokumentation und Fiktion angesiedelten Kino entfaltet Beressem in einer zweiten textuellen Serie die gleichzeitige Bewegung einer Spiritualisierung der Realität und einer Aktualisierung der Träume: In Fitzgeraldo kommt es nicht darauf an, zu zeigen, wie der Urwald wirklich ist, sondern der Maßlosigkeit seines Lebens eine andere künstliche Maßlosigkeit, die der Oper, entgegenzusetzen, um dieses Leben in ein strahlendes »Monument« zu verwandeln. Theater und »Urwaldfabrik« sind auf diese Weise am Ende des Films »einander vollkommen attribuiert«. Friedrich Balkes Beitrag knüpft ebenfalls an die von Deleuze und Guattari in ihrem letzten gemeinsam geschriebenen Buch entwickelte Vorstellung des Kunstwerks als eines »Empfindungsblocks« oder Monuments an. Philip Scheffners Film Halfmoon Files erlaubt es besonders gut, die Verwandlung von Wahrnehmungen und Empfindungen in künstlerische Perzepte und Affekte zu verfolgen. Auch dieser Film ignoriert konsequent
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die Grenzziehung zwischen Dokumentarfilm und filmischer Fiktion. Die Fiktion fügt er aber nicht einfach dem Dokument hinzu, er extrahiert sie vielmehr aus medial unterschiedlichen Archivspuren, die die Einrichtung eines deutschen Speziallagers für außereuropäische Kriegsgefangene während des Ersten Weltkriegs hervorgebracht hat. Die Weise, in der Halfmoon Files die Position des Archivs zu seinem Gegenstand verschiebt, besteht in einer genuin filmischen Strategie der Aufzeichnung und Montage von aufgezeichneten (optischen, akustischen und textuellen) Lagerspuren, die nicht einfach im Stil der gängigen Formate eines History-TV präsentiert werden, sondern ein eigenes, innerfilmisches Archiv konstituieren. Dass es sich bei Scheffners Film zugleich um eine ghost story handelt, verweist einmal mehr auf den eigentümlichen Platonismus der von Deleuze und Guattari gegebenen Definition des Kunstwerks als eines Empfindungsblocks, denn die Perzepte und Affekte werden von ihnen als »Wesen« bezeichnet, »die durch sich selbst gelten und über alles Erleben hinausreichen«. Indem der Film das phonographische Stimmenarchiv der ehemaligen Lagerinsassen öffnet und durch seine Bildsprache die eigentümliche Theatralität der Tonspuren zum Vorschein bringt, macht er die technisch bewirkte Ablösung der Stimmen von ihren empirischen Trägern rückgängig und verleiht ihnen die »Dimension von Riesen, als wären sie aufgebläht durch ein Leben, an das keine erlebte Perzeption herankommt« (Deleuze/Guattari 1991: 202). Im dritten Teil werden die theatralen Wiederholungsformen in den Blick genommen, die in der medialen Inszenierung des L’Abécédaire, aber auch in der Differenzlogik der répétition und im methodischen Verfahren der Verkettung zum Vorschein kommen. Antonia von Schöning und Hanns Zischler reflektieren in ihrem Gespräch auf die vielfältigen Bedingungen und Effekte einer ›Übertragung‹ des Abécédaire ins Deutsche. Deleuze hatte die nach dem Alphabet geordneten Gespräche zu zentralen Begriffen seiner Philosophie mit Claire Parnet geführt. Noch zu seinen Lebzeiten wurden sie im Fernsehen gezeigt, nach seinem Tod zunächst auf Video, später auf DVD veröffentlicht. Von Schöning und Zischler sprechen die deutsche Übersetzung des Abécédaire als Voice-Over-Fassung, die sich über das französische ›Original‹ legt, ohne dieses ersetzen oder unkenntlich machen zu wollen, denn »Synchronisation ist eine Amputation« (Zischler). Das Gespräch der beiden Sprecher ist ein Dialog über den Dialog, den sie zugleich im Medium der philosophischen Begriffe und Argumente, die
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Deleuze und Parnet austauschen, als auch in dem der deutschen Sprache führen, die nicht nur eine korrekte Übersetzung des philosophischen Gehaltes leisten muss, sondern zugleich den Akzenten der gesprochenen Sprache Rechnung zu tragen hat, ohne sie einfach schauspielerisch mimen zu können. Es sind vor allem zwei strukturelle Beobachtungen, die diesen Dialog über den Dialog bemerkenswert machen: Zischler und von Schöning zeigen, dass die Redepositionen und die Kameraführung des Abécédaire nur dem einen Ziel dienen, nämlich den »Gestus des Zuhörenkönnens- und wollens«, der durch nichts gestört werden darf, zu verstärken; sodann erweisen sich die Gespräche zwischen Deleuze und Parnet als eine »Verführung zum Außerphilosophischen oder Nichtphilosophischen«, insofern es gelingt, eine Verkettung der Konzepte mit Vorfällen und Ereignissen aus dem Leben herbeizuführen (etwa in den Gesprächen zu »Kindheit«, »Krankheit«, »Tennis« oder »Oper«), die über die bio-graphische Bedeutung hinaus immer zugleich den Punkt anvisieren, an dem das Denken sich mit dem Leben, seinen Kräften und Affekten verbindet. Von Kurt Röttgers wird die ›Wiederholung‹ als Schlüsselbegriff der Deleuze’schen Arbeiten herausgestellt. In ihm bündeln sich einerseits unterschiedliche Theoriestränge z.B. der Zeitphilosophie oder der Repräsentationskritik – und andererseits schafft er einen offenen Bezug zu nicht-philosophischen Themen. Im ›Ritornell‹ werden beispielhaft philosophische Überlegungen zur Wiederholung mit Phänomenen und Fragen verbunden, die aus den Bereichen der Kunst, aber auch der Raumtheorie, der Politik u.v.m. stammen. Die Möglichkeit dieser Verbindung ist in der Theoriebildung Kierkegaards und Nietzsches vorgeprägt, auf die sich Deleuze grundsätzlich bezieht. Insbesondere Kierkegaards wiederholte Feststellung, dass die Wiederholung unmöglich ist, deutet Röttgers als eine nicht spekulativ einholbare Auszeichnung der Performanz des Textes, die in die Philosophie ein nicht-philosophisches Moment einführt. Mirjam Schaub nähert sich der Anwesenheit des Nicht-Philosophischen in der Philosophie Deleuzes durch die Methodenfrage. In der relationslogischen Vorrangstellung der Konjunktion, so ihre These, wird der Anspruch, die Differenz zu denken, methodisch eingelöst. Die konjunktionale Verkettung gestattet es, verschiedenste Dinge miteinander zu verbinden, ohne dabei auf apriorische Regeln einer metaphysischen ›Einheit des Geistes‹ rekurrieren zu müssen. Diese Verbindungen sind quasi ›äußerliche‹, weil sie die einzelnen Relata als voneinander getrennte nicht in der Synthesis aufheben. Im Sinne einer Maschinenlogik können Begriffe aus
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den unterschiedlichsten Wissensgebieten miteinander kombiniert werden – im Abzielen auf unübersehbare experimentelle Konsequenzen. Schaub weist nach, dass diese Logik in den Arbeiten von Deleuze überall präsent ist – und dass sie eine nicht-hierarchische Praxis des interdisziplinären Austauschs präfiguriert, die Vielheiten denkbar macht, ohne sie einem privilegierten Allgemeinen unterzuordnen und dadurch zu disziplinieren. Der vierte Teil behandelt abschließend verschiedene Aspekte des NichtPhilosophischen, die in den Arbeiten von Deleuze besonders hervorstechen. Ralf Krause thematisiert das Nicht-Philosophische der Philosophie im Rahmen der Malerei. Deleuzes Anspruch, die Sinnlichkeit als eigenständiges Vermögen mit dem zu konfrontieren, was nur sie allein vermag, lässt das Kunstwerk zugleich als Experiment mit den Bedingungen der Sinnlichkeit erscheinen. In seiner Studie über die Malerei von Francis Bacon zielt Deleuze auf diesen Zusammenhang von aisthesis und Ästhetik, um die Sinne aus den Angeln des repräsentativen Wahrnehmungsgeschehens (Perzeptionen und Affektionen) zu heben. Bacons Kunst, die Sensation zu malen, indem sie das Wirken unsichtbarer Kräfte sichtbar macht, evoziert mit der Deformation des organischen Körperschemas zugleich einen Funktionswandel des Sehens: ein Haptisch-Werden des Auges, das die Ordnung der Sinne durchkreuzt. Das Kunstwerk tritt so als Ereignis hervor, das sich die Bedingungen seiner eigenen Sichtbarkeit erschafft. Clemens Pornschlegel geht in seinem Beitrag dem Insistieren der Christusfigur bei Deleuze nach. Wie ist die Faszination zu verstehen, die diese Figur – oder auch religiöse Erfahrungen, bestimmte theologische Vorstellungen – auf einen erklärten Atheisten und radikalen Immanenzphilosophen ausübt? Gezeigt wird, dass Deleuze der von Nietzsche im Antichrist ins Feld geführten Entgegensetzung des kirchlich etablierten, paulinischen Christentums und der immanent-utopischen Lebenspraxis Jesu’ folgt, indem er den Glauben an die Welt und ihre Ereignisse gegen das System des Urteils, des Gerichts, der Schuld und des transzendenten Gottes ausspielt. Pointiert gesagt, deutet Deleuze die Christusfigur als eine Figur des Übermenschen, die mit aller nihilistischen Verurteilung des irdischen, vergänglichen, außermoralischen Lebens bricht. Auch in der Beziehung zur Religion könnte daher ein Grundmotiv der Philosophie liegen – das für beide Seiten eine Herausforderung oder ein Anderswerden bereithält. Sjoerd van Tuinen beschäftigt sich mit der von Deleuze und Guattari im Schlusskapitel von Was ist Philosophie? entwickelten Konzeption des Ge-
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hirns. Ihre rätselhaft anmutende These, dass sich im Gehirn die Verknüpfung von Philosophie, Wissenschaft und Kunst ereignet, sofern es nämlich auf dreierlei Weise »Subjekt wird« (Deleuze/Guattari 1991: 249), erläutert van Tuinen im Rekurs auf Deleuzes Leibniz-Buch Die Falte von 1988. Hierbei werden nicht allein altbekannte Begriffe wie z.B. die prästabilierte Harmonie, die angeborenen Ideen oder auch die Monaden im Licht des transzendentalen Empirismus nachvollziehbar gemacht, sondern darüber hinaus werden die Synthesen im Entstehungsprozess der Erfahrung auf die synaptischen, rhizomatischen Netzwerke im Gehirn beziehbar. Allerdings heißt das nicht, eine empirische Erklärung des Denkens zu geben. »Das Gehirn ist der Geist selbst.« (Deleuze/Guattari 1991: 251) Wie van Tuinen deutlich macht, lässt sich das (Hirn-)Denken nur denken, indem auf seine (ebenso materiellen wie geistigen) Bedingungen an der Schnittstelle zwischen Philosophie und Nicht-Philosophie Bezug genommen wird. Der Dank der Herausgeber gilt Aleksandra Wolny und Lisa Schreiber, die mit großer Sorgfalt bei der Fertigstellung des Manuskripts geholfen haben. Beim Transcript-Verlag bedanken wir uns für die immer freundliche und unkomplizierte Zusammenarbeit, und insbesondere bei Alexander Masch für die redaktionelle Betreuung des Bandes. Ein besonderer Dank geht an Antonia von Schöning, die den Beitrag von Stéphane Nadaud übersetzt hat und Hanns Zischler für ein Gespräch über die gemeinsame Arbeit an der deutschen DVD-Ausgabe des Abécédaire gewinnen konnte.
L iter atur Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie, übers. v. B. Schwibs. Frankfurt a. M. [1962] 1985. Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, übers. v. B. Dieckmann. Frankfurt a. M. [1969] 1993. Deleuze, Gilles: Proust und die Zeichen, übers. v. Henriette Beese. Berlin [1976] 1993. Deleuze, Gilles/Parnet, Gilles: Dialoge, übers. v. B. Schwibs. Frankfurt a. M. [1977] 1980. Deleuze, Gilles: Spinoza. Praktische Philosophie, übers. v. H. Linden. Berlin [1981] 1988.
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Deleuze, Gilles: Unterhandlungen, übers. v. G. Roßler. Frankfurt a. M. [1990] 1993. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie?, übers. v. B. Schwibs/J. Vogl. Frankfurt a. M. [1991] 1996. Eschenmayer, Carl August: Die Philosophie in ihrem Übergang zur Nichtphilosophie. Nachdruck Saarbrücken [1809] 2007. Feuerbach, Ludwig: »Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie«, in: ders., Werke in sechs Bänden, Bd. 3, Kritiken und Abhandlungen II (1839-1843), hg. v. Erich Thies. Frankfurt a. M. [1843] 1975, S. 223-243. Foucault, Michel: »Der Ariadnefaden ist gerissen«, in: ders., Gilles Deleuze, Der Faden ist gerissen, übers. v. W. Seitter. Berlin [1969] 1977, S. 7-12. Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg [1977] 1982. Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, übers. v. G. Roßler. Frankfurt a. M. [2005] 2007. Latour, Bruno: »Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente«, übers. v. A. Belliger/D. J. Krieger, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld [1986] 2006, S. 259-307. Latour, Bruno: »Über den Rückruf der ANT«, übers. v. A. Belliger/D. J. Krieger, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld [1999] 2006, S. 561-572. Merleau-Ponty, Maurice: Notes de cours. 1959-1961, hg. v. S. Ménasé. Paris 1996. Spinoza, Benedictus de: Die Ethik. Lateinisch und Deutsch, übers. v. J. Stern. Stuttgart 1977.
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Teil 1: Philosophische Interventionen
Gilles Deleuze – Philosoph der Immanenz Marc Rölli
»Die Immanenz kann man für den glühenden Probierstein jeder Philosophie halten, weil sie alle Gefahren trägt, denen diese sich aussetzen muß, alle Verurteilungen, alle Verfolgungen und Verleugnungen, die diese erleiden muß. Was zumindest zur Überzeugung führt, daß das Problem der Immanenz nicht abstrakt oder bloß theoretisch ist.« (Deleuze/Guattari 1991: 54)
Immanenz ist verführerisch. Ihr Begriff suggeriert eine Einheit der traditionellen Gegensätze (von Geist und Materie, Leib und Seele, Denken und Ausdehnung etc.), und zwar eine Einheit, die nicht die Gegensätze als solche voraussetzt, um sie in komplizierten Gedankengängen aufzuheben, sondern eine Einheit, die zunächst und primär gegeben ist, und die von Anfang an die Welt der Gegensätze als abgeleitet, sekundär und schlecht konzipiert begreift. Allerdings kann es nicht genügen, in einer stets metaphysisch anmutenden Redeweise von einer Einheit zu sprechen. Ursprungsphilosophische Annahmen widersprechen den berechtigten Forderungen einer immanent verfahrenden Philosophie. Monistische und dualistische Denkweisen werden von den Vertretern einer Immanenzphilosophie regelmäßig – z.B. im Namen eines durchgreifenden Pluralismus – zurückgewiesen. Deutlicher wird dies, wenn man den Gegenbegriff der Immanenz, d. i. die Transzendenz, hinzuzieht. Zwar ist es nicht möglich, diesen Begriff kurz zu definieren, will man die Komplexität seiner Historie
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nicht vorschnell preisgeben. Aber vorläufig kann man sagen, dass ›Transzendenz‹ im Unterschied zu ›Immanenz‹ das Überschreiten der sinnlichen Erfahrung bezeichnet, oder auch ein (höchstes) Seiendes, das nicht als ein innerweltlicher Erfahrungsgegenstand aufgefasst werden kann, z.B. der »unbewegte Beweger« der aristotelischen Metaphysik.1 Überkreuzen sich in dieser Konzeption einer transzendenten Instanz auf eine äußerst wirkungsvolle und einflussreiche Weise ontologische und theologische Annahmen, so wird nachvollziehbarer, inwiefern gerade die Entgegensetzung des Sinnlichen und des Vernünftigen, des Vergänglichen und des Ewigen, der Täuschung und der Wahrheit etc. auf einem transzendenten Prinzip basiert, das den Immanenzgedanken auflöst oder vernichtet. Mit Nietzsche könnte man sagen, dass das auf eine ursprüngliche Einheit der Gegensätze zielende Denken regelmäßig die Immanenz der Transzendenz opfert, und zwar durch die in der Gegensatzkonstruktion selbst liegende asymmetrische Privilegierung einer Seite, etwa des reinen Geistes, wenn er nicht nur als das Andere der Natur, sondern auch als ihr eigentliches Wesen begriffen wird.2 Interessiert man sich im Detail für eine Begriffsgeschichte der Immanenz, so wird man sich den Arbeiten von Gilles Deleuze zuwenden. Wie kein anderer Begriff steht ›Immanenz‹ im Mittelpunkt seiner Philosophie – und zwar nicht nur in den Entwürfen seines ›eigenen‹, z.B. als empiristisch, strukturalistisch, nomadologisch oder auch differenztheoretisch bezeichneten Philosophierens, sondern auch in den anderen (klassischen) Philosophen gewidmeten Monographien. Die Ausarbeitung einer Immanenzphilosophie bei Deleuze korrespondiert gewissermaßen mit der ›Aneignung‹ der philosophischen Tradition unter dem Gesichtspunkt der Immanenz. Aus diesem Grund finden sich in seinen Büchern zu Spinoza, Bergson, Kant, Nietzsche und Hume, um nur diese zu nennen, zahlreiche Hinweise darauf, wie mit dem Gedanken der Immanenz durch die Jahrhunderte hindurch umgegangen wurde. Umgekehrt bedeutet das, dass die hier intendierte Darstellung von Deleuze als Philosoph der Immanenz auf historisch einschlägige Texte und Positionen zurückgreifen kann. Tatsächlich ist es möglich, am Leitfaden einer Klärung des Immanenzbegriffs die eigentümliche Originalität und Radikalität der Deleuze’schen Philosophie 1 | Vgl. Aristoteles: 1072bff. 2 | Vgl. Nietzsche 1886: 16f. Vgl. zu diesem Thema sehr ausführlich Dewey 1929.
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zu rekonstruieren. Diese wird regelmäßig unterschätzt oder auch unwillig beiseite geschoben, indem man an eingeübten und durch entsprechende Autoritäten abgesicherten Denkgewohnheiten festhält oder auch festzuhalten müssen glaubt. Die Immanenz ist ein »glühender Probierstein« der Philosophie, gerade weil sie sich nicht leichthin aneignen lässt, weil sie eine Entscheidung provoziert, der man sich im Normalfall entziehen will. In diesem Sinne sind die traditionellen Denkweisen, die sich gegen die Immanenz sperren – und hier wären die meisten gegenwärtig kursierenden großen Ismen aufzuzählen – mit den Grundannahmen Deleuzes unverträglich. Auf diesem kritischen Punkt zu insistieren bedeutet, eine begriffliche Strenge der Unterscheidung einzufordern – gegen den Trend eines allgemeinen fragmentarischen Theoriegebrauchs, der in der Gefahr schwebt, die Zusammenhänge aus den Augen zu verlieren, die zwischen Theorie und Praxis – und auch Theoriefragmente reproduzieren (zumeist aber nur implizit) ›ganze‹ Theoriegebilde – bestehen. Immanenz – das ist auch der Ausgangspunkt für die Antwort, die Deleuze auf die von Merleau-Ponty in seinen Vorlesungen 1959-61 aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Nicht-Philosophie gibt. In dieser Frage bündelt sich eine ganze Reihe von Themen. Zunächst wird die Frage als eine modernetypische charakterisiert, die sich »seit Hegel« stelle.3 Merleau-Ponty verbindet mit der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, die bei Hegel ein letztes Mal das gesamte Wissen der Natur und der Sitten umfasst, eine nicht länger mögliche systematische Aufhebung der Nicht-Philosophie in der Philosophie.4 Das bedeutet für ihn, dass mit dem Ende der Metaphysik eine (philosophische) Krisensituation entsteht, die mit der Verselbständigung der Naturwissenschaften einerseits und der Sozial- und Kulturwissenschaften andererseits zusammenhängt. Positivismus und Historismus sind die Resultate einer in jeder Hinsicht undialektischen Negation der Philosophie. Merleau-Ponty begreift sie als Gestalten des ›Nihilismus‹, die der Krise der (metaphysischen) Rationalität nichts als Ignoranz entgegenzusetzen wissen. Der Ausdruck ›Nicht-Phi3 | Vgl. Merleau-Ponty 1996: 269ff. Vgl. auch Merleau-Ponty 1973: 237-240. 4 | Tatsächlich sind viele der zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftauchenden neuen philosophischen Disziplinen – z.B. Anthropologie, Ästhetik, Geschichtsund Sprachphilosophie etc. – bereits ebenso viele Ankündigungen eines neuartigen wissenschaftlichen (und nicht-philosophischen) Umgangs mit Völkern, Psyche, Sprache, Geschichte, Gesellschaft, Politik etc.
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losophie‹ verweist aber nicht nur negativ auf das, was keine Philosophie ist, sondern er bezeichnet auch positiv dasjenige, was sich die Philosophie nicht (in herkömmlicher Weise) aneignen kann – und worauf sie sich doch notwendig zu beziehen hat: Lebenswelt. Die von Merleau-Ponty diagnostizierte Krise betrifft nicht die Philosophie überhaupt, sondern lediglich die Philosophie der metaphysischen Systeme und die (antiphilosophische) Nicht-Philosophie naturalistischer und kulturalistischer Provenienz. »Mais, entre philosophie, au sens classique, […] et recherche concrete trop vite identifiée à la science – on ne voit pas place d’une philosophie comme ontologie interrogative, quoiqu’on ne se contente ni de philosophie classique ni de scientisme.« (Merleau-Ponty 1996: 37)
Auf unterschiedliche Weise findet Merleau-Ponty v.a. in der Phänomenologie Husserls, aber – zumindest in Teilen – auch schon im Hegelianismus selbst eine Möglichkeit, auf das Problem der Nicht-Philosophie in philosophischer Manier auf angemessene Weise zu reagieren. Es zeichnet eine Ontologie des Fragens (»ontologie interrogative«) aus, dass sie sich auf die (in sich fraglichen) »Sachen selbst« bezieht, d.h. auf eine äußere Wirklichkeit, die ihren (nicht-philosophischen) Eigensinn hat – und gerade deshalb nicht ein Faktum im positivistischen Verstande sein kann. Husserl etwa findet demnach zu einer neuen philosophischen Inspiration, weil er im Gegenzug gegen positivistische Überzeugungen des sog. »Psychologismus« (oder auch »Anthropologismus«) ein Reduktionsverfahren entwickelt, das auf dem Weg der Einklammerung der natürlichen Seinssetzung die immanente Gegebenheit der Phänomene wieder findet. »Husserl retrouve lui-même, à partir de sa naivité, toute la philosophie.« (Ebd.: 66) Die phänomenologische Erneuerung der Philosophie leistet Merleau-Ponty zufolge eine Reflexion der aktuellen Rationalitätskrise, indem sie die metaphysikkritische ›Erschütterung‹ der Vernunft zugleich ernst nimmt und relativiert, aber auch die Gegebenheit der Dinge akzeptiert und nichtpositivistisch aufzuschlüsseln unternimmt. Das neue philosophische Bewusstsein der Phänomenologie entspricht damit ihrem Bewusstsein der Nicht-Philosophie.5 Die in vielen, aber nicht in allen Punkten Husserl fol5 | »La méditation sur [les] rapports essence-facticité se croise avec [les] faits qui mettent en cause essence de la philosophie. De cette rencontre doit résulter: approfondissement de la philosophie dans le sens de la facticité, et compre-
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gende Krisendiagnose Merleau-Pontys bezieht sich zwar einerseits auf die Dominanz einer nicht- oder antiphilosophischen Rationalität im Bereich von Natur und Gesellschaft, Wissenschaft und Technik –, andererseits steht aber das Nicht-Philosophische für eine Seinsart, die mit traditionellen Denkmitteln regelmäßig übergangen worden ist, und die daher nach einer anderen philosophischen Rationalität verlangt.6 Ist vom Verfall, von der Dekadenz oder vom Ende der (akademischen) Philosophie die Rede, so kann sich dies laut Merleau-Ponty nur auf die mit unhaltbaren metaphysischen Voraussetzungen belastete Philosophie beziehen. »Ma thèse: cette décadence de la philosophie est inessentielle; est celle d’une certaine manière de philosopher (selon substance, sujet-objet, causalité). La philosophie trouvera aide dans poésie, art etc., dans un rapport beaucoup plus étroit avec elles, elle renaîtra et réinterprétera ainsi son propre passé de métaphysique – qui n’est pas passé.« (Ebd.: 39)
Die These von einer Krise der Philosophie als solcher behauptet einen »unwesentlichen« Sachverhalt, weil sie sich nur auf diejenige (antiquierte) Philosophie beziehen kann, die noch in Substanz- oder Subjektkategorien denkt – und daher das Problem der Nicht-Philosophie von sich ausschließt. Nichtsdestotrotz überdauert die Metaphysik in zweierlei Weise, einmal im Zustand der gegenwärtigen (naturalistischen) Rationalität, dann auch noch in den philosophischen Bemühungen, die Metaphysik loszuwerden. Mit Blick auf die Phänomenologie zeichnet Merleau-Ponty nach, wie sie sich schrittweise von der metaphysischen Erblast befreit – im Zuge der Ausbildung eines nicht länger egologisch verfassten Denkens der Intersubjektivität, des In-der-Welt-Seins, des Seins der Sprache etc.7 Auch im Hegelianismus findet er einen auf die konkreten Lebensverhältnisse bezogenen Ablösungsprozess, von Marx zu Kierkegaard und zurück
hension de ces faits – Mais aussi ré-instauration de la philosophie, précisément parce qu’elle comprend l’ébranlement de la raison, ré-instauration de la philosophie, précisément comme la conscience la plus pleine de la non-philosophie.« Ebd. Merleau-Ponty 1996: 72f. 6 | Vgl. ebd.: 275. 7 | Vgl. ebd. 71.
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zum frühen Hegel.8 Auch hier spielt die Öffnung auf eine nicht-philosophische Existenzweise eine zentrale Rolle, die nicht länger von metaphysischen, geschichtsphilosophischen Grundannahmen überschattet ist.9 »La référence à notre temps [est] nécessaire justement parce qu’il est temps de non-philosophie.« (Ebd.: 38) In der zeitgenössischen Kunst – MerleauPonty beschäftigt sich u.a. mit Mallarmé, Rimbaud und Michaux, mit der Malerei Klees, mit der Musik Alban Bergs und Boulez’10 – wird ebenso ein ›Philosophisch-Werden‹ ausgemacht wie in der Psychoanalyse und in der Ethnologie (und in anderen vom strukturalistischen Fieber heimgesuchten Wissenschaftsbereichen). Auf diese Weise wird nicht nur die Krise der Philosophie kompensiert, vielmehr demonstriert die Kunst einen Situationsbezug zum Sein, der auch für die gesuchte Neuausrichtung des Philosophierens einen exemplarischen Wert besitzt. Es ist deutlich geworden, dass der Ausdruck ›Nicht-Philosophie‹ in erster Linie auf ein ›Außen‹ der Philosophie verweist, das ihr nicht äußerlich bleibt, sondern auf das sie sich zu beziehen hat. Es handelt sich um ein Außen, das philosophisch unaufhebbar ist, selbst wenn es die Philosophie immanent bestimmt. Die ›Nicht-Philosophie‹ bezeichnet also keine einfache Verneinung der Philosophie, sondern – wie Merleau-Ponty an einer viel zitierten Stelle schreibt – eine »philosophie qui veut être philosophie en étant non-philosophie«.11 (Merlau-Ponty 1996: 38) – Vielleicht wird man sagen, dass diese Idee in einem mehr systematischen Sinne erst wieder von François Laruelle aufgenommen wurde. In jedem Fall beziehen sich Deleuze und Guattari in Was ist Philosophie? (1991) auf Laruelles Buch Philosophie et Non-Philosophie (1989) und sehen darin »einen der interessantesten Versuche der zeitgenössischen Philosophie« (Deleuze/Guattari 1991: 49). Diese Einschätzung dürfte wohl nur zum Teil der von Laruelle 8 | Zu »Kierkegaard et la non-philosophie« im Anschluss an Merleau-Ponty vgl. Colette 1994: 10. Terminologisch interessant und prägend für zahlreiche philosophische Diskurse im 20. Jahrhundert ist dabei, dass Kierkegaard in Der Begriff Angst mit seinen Gedanken zur Transzendenz (im Sinne einer Öffnung des geschlossenen Systemzusammenhangs) die als »immanent« bezeichnete Logik Hegels konterkariert. Vgl. Kierkegaard 1844: 8-10, 51. 9 | Vgl. ebd.: 275. 10 | Vgl. Merleau-Ponty 1996: 46-64. 11 | Métraux übersetzt frei: »Unser Augenmerk gilt vielmehr der Nicht-Philosophie im Innern der Philosophie selbst.« Merleau-Ponty 1973: 237.
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gegebenen Auflösung des Problems der Nicht-Philosophie – als »Reales der Wissenschaft«12 (ebd. 260) – gelten als vielmehr der (zutiefst philosophischen) Problemstellung selbst: »Il faudra sans doute le dire – il faut déjà le redire: la non-philosophie n’est pas une ›philosophie du non‹ et encore moins une tentative de destruction nihiliste ou de négation positiviste de la philosophie. Un tel projet serait de toute façon absurde et impossible, mais c’est surtout une entreprise positive que nous proposons. Elle doit, tous comptes faits, se comprendre plutôt par analogie avec les géométries ›non-euclidiennes‹. Plutôt qu’une nouvelle variante de la révolution copernicienne, notre projet est d’introduire dans la philosophie une mutation lobatschevskienne et riemannienne.« (Laruelle 1989: 8)
Im Folgenden werde ich das Verhältnis der Philosophie zur Nicht-Philosophie aus der von Deleuze entwickelten Immanenz-Perspektive betrachten. Einen guten Einstieg bietet ein Kapitel aus dem gemeinsam mit Guattari geschriebenen Buch Was ist Philosophie?, das die von Merleau-Ponty entwickelte Problematik auf die sog. »Immanenzebene« bezieht. In einem zweiten Schritt werde ich das Konzept der Immanenz genauer erläutern, indem ich auf den spinozistischen Ansatz in der Ethik – auch mit Bezug auf Deleuzes Studie über Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie (1968) – eingehe. Dieser Ansatz erfährt drittens auf verschiedenen empiristischen Wegen eine Aktualisierung: zunächst bei Hume, dann auch im pragmatistischen Kontext einer Erneuerung des Erfahrungsbegriffs. Abschließend und viertens werde ich für die Aktualität des Immanenz-Denkens votieren, indem ich die Kantische Version des immanenten Denkens und ihre kritische Adaption bei Nietzsche und Deleuze nachzeichne. Dabei wird sich herausstellen, dass bis heute Transzendenzfiguren die Gegenwartsphilosophie beherrschen – während allein die immanente Bestimmung der philosophischen Tätigkeit ihren Bezug auf das Nicht-Philosophische adäquat zu konstruieren vermag.
12 | Deleuze und Guattari schreiben zu guter Letzt: »Doch ist nicht einsichtig, warum dieses Reale der Wissenschaft nicht genausogut auch Nicht-Wissenschaft ist.« Ebd.
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I. In einem Gespräch mit François Ewald und Raymond Bellour vom September 1988 »Über die Philosophie« kündigt Deleuze nicht nur die Wiederaufnahme der gemeinsamen Arbeit mit Guattari an, – er nimmt auch manche Themen vorweg, die dann insbesondere im ersten Teil von Was ist Philosophie? verhandelt werden.13 Hierzu gehören die Themen der Begriffskonstruktion und der Immanenzebene, aber auch die Unterscheidung zwischen Philosophie und Nicht-Philosophie. »Philosophie besteht immer darin, Begriffe zu erfinden.«14 (Deleuze 1990: 198) Mit Hegel gesprochen sind Begriffe nichts, wenn nicht ihre Bestimmung als solche zu einem spekulativen Gegenstand der Erfahrung wird. Allerdings verweisen Begriffe von selbst »auf ein nicht-begriffliches Verständnis«, sofern sie nämlich auf ein Problem bezogen sind, das ihnen Sinn verleiht. (Vgl. Deleuze/Guattari 1991: 48, 22) Und spätestens hier beginnt die Merkwürdigkeit. Inwiefern kann ein nicht-begriffliches oder auch ›intuitives‹ Verständnis für einen Begriff sinnkonstitutiv sein? Deleuze zufolge machen Begriffe ganz allgemein bestimmte Voraussetzungen –, zum einen schon deshalb, weil sie sich auf andere Begriffe beziehen müssen, und zum anderen, weil sie vorphilosophische Annahmen implizieren, d.h. Kontexte, aus denen heraus sie entwickelt werden. Diese vorphilosophischen Annahmen formen ein »Bild des Denkens«, in welchem festgelegt wird, was von Rechts wegen das Denken bestimmt und was als bloß empirischer Sachverhalt anzusehen ist. (Vgl. ebd.: 44, 59) Die platonische Unterscheidung zwischen epistêmê und doxa aufgreifend, unterstreicht Deleuze den ›epistemologischen‹ Grundzug jeder philosophischen Tätigkeit, nämlich mehr oder weniger implizit stets eine Ebene oder einen Horizont zu ent13 | Vgl. Deleuze 1990: 197-226. 14 | »Ich hatte nie Probleme mit einer Überwindung der Metaphysik oder einem Tod der Philosophie. Die Philosophie hat eine Funktion, die vollkommen aktuell bleibt: Begriffe schaffen […].« Ebd. Weiter heißt es da: »Die Philosophie steht in einem wesentlichen und positiven Verhältnis zur Nicht-Philosophie« – einmal in Bezug auf ein nicht-philosophisches Verständnis der Philosophie, »das über Affekte und Perzepte verläuft«, und dann auch hinsichtlich der nicht lediglich philosophisch gelehrten Adressaten von echten Philosophiebüchern. Vgl. ebd.: 203. An diesem Punkt wird die Philosophie populär, wenn sie sich dem Nicht-Philosophischen öffnet. Zum Thema der Popularphilosophie vgl. Rölli 2007: 41ff.
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werfen, in welchem sich das begriffliche Denken bewegen und orientieren kann. Eine solche Ebene bezeichnet er als »Immanenzebene«, weil sie – wiederum de jure – von Begriffen unterschieden werden muss, die sie gleichsam bevölkern oder die sich auf ihr ansiedeln. Die vielleicht entscheidende These in diesem Zusammenhang besagt, dass die Immanenz verloren geht, wenn man sie einer Sache zuschreibt, die somit begrifflich universal gefasst ist und die Transzendenz einführt.15 Als Beispiele einer derartigen »Verwechslung« (von Begriff und Ebene) firmieren altgriechische Geist- und Materiebegriffe ebenso wie Gottesbegriffe der christlichen Philosophie und neuzeitliche Subjektivitätskonzeptionen. Demnach genügt es nicht, lediglich implizite (sprachliche oder hermeneutische, biologische oder vitalistische, ökonomische oder soziologische) Voraussetzungen des Philosophierens anzuerkennen, wenn nicht gleichzeitig der z.B. subjektivitätstheoretisch vermittelte Transzendenzbezug zurückgewiesen wird (oder auch das philosophische Selbstverständnis, grundlegende erste Wissenschaft zu sein). Anders gesagt, geht es hier um eine Bejahung der unvermeidlichen Situiertheit jedes Denkens, die sofort negiert wird, wenn sie ursprungslogischen Begrifflichkeiten subsumiert wird, die ihre vorgängigen und vorphilosophischen Bestimmungen aufheben und tilgen – und in diesem Sinne den Bezug der Philosophie zur Nicht-Philosophie verkennen oder marginalisieren. Wie wir noch sehen werden, verlangen die nicht-philosophischen Bedingungen der Philosophie ihrerseits nach einer philosophischen Konstruktion – als Immanenz. Deleuze zufolge sind philosophische Begriffe von Rechts wegen ausnahmslos in einem Rahmen situiert, der seinerseits als vorgegebener Rahmen entworfen (oder voraus-gesetzt) wird, insofern er eine Verteilung des Empirischen und des Transzendentalen vorschreibt, die per definitionem nicht aus empirischen Gründen angefochten werden kann.16 Wenn daher Philosophenschulen auftreten, die mit Begriffen operieren, die sich die Immanenz zuschreiben (– d.h. transzendente Instanzen etablieren, indem sie etwa von der Annahme einer natürlichen Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Verstandes ausgehen, die sich in einem quasi selbstverständlichen Glauben an die Wahrheit oder auch an das Gute im Menschen zum Ausdruck bringen –), so bleibt aus immanenztheoretischer Sicht gerade im Aufweis des jederzeit untilgbaren Bezugs auf unhintergehbare (und nicht repräsentations15 | Vgl. Deleuze/Guattari 1991: 53f., 42. 16 | Vgl. Deleuze 1968a: 174.
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logisch modellierbare) implizite Voraussetzungen stets ein Kritikpotential erhalten. Tatsächlich kann sich Deleuze hier auf unterschiedliche Varianten der philosophischen Kritik berufen, z.B. auf das Verfahren, innerhalb philosophischer Theorien Voraussetzungen empirischer Art nachzuweisen, die mit dem entsprechenden philosophischen Selbstverständnis unvereinbar sind – z.B. Descartes’ scholastische Erbschaft –, oder auch auf das Projekt einer immanenten Kritik, das Kant zwar »entworfen« aber »nicht realisiert« habe (Deleuze 1962: 100). Die vorphilosophische Errichtung einer Immanenzebene wiederholt quasi innerhalb der Philosophie ihren Bezug auf die Nicht-Philosophie oder auf ein Außen. Paradox formuliert: »Vorphilosophisch meint nichts Präexistentes, sondern etwas, das nicht außerhalb der Philosophie existiert, wenngleich es von dieser vorausgesetzt wird.« (Deleuze/Guattari 1991: 49) Die Philosophie kann nicht umhin, sich in einem impliziten Denkhorizont zu bewegen, gerade weil sie von Fragen und Problemen abhängt, die sie auf den Plan rufen – und die sie als ihre inneren Bedingungen bestimmen kann (als Struktur, Maschine, Gefüge etc.). In diesem Sinne entsprechen sich das ›Innen‹ und das ›Außen‹: jenes wird nur dann immanent gedacht, wenn dieses die Selbsteinschließung des begrifflichen Denkens verhindert – durch eine Unterscheidung, die sich vom Denken nicht ablösen oder abtrennen lässt. »Das Nicht-Philosophische ist vielleicht tiefer im Zentrum der Philosophie als die Philosophie selbst […]. Man möchte sagen, DIE Immanenzebene sei zugleich das, was gedacht werden muß, und das, was nicht gedacht werden kann. […] Sie ist das Innerste im Denken und doch das absolute Außen.« (Ebd.: 49, 68f.)
Mit diesen Formulierungen beziehen sich Deleuze und Guattari auf Differenz und Wiederholung zurück, nämlich auf die Konzeption eines »höheren Empirismus«, der sich dadurch auszeichnet, eine transzendentale von einer empirischen Form der Vermögen strikt zu unterscheiden. Während die empirische Form einen Gemeinsinn und subjektphilosophische Prämissen voraussetzt, bestimmt sich die transzendentale Form durch eine empirisch uneinholbare Notwendigkeit, nämlich durch den Bezug auf ein
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differentielles und singuläres ›Objekt‹ jedes einzelnen Vermögens: das sentiendum, memorandum und cogitandum.17 Sofern nun das Denken nicht denkt, ohne dazu von außen stimuliert worden zu sein, impliziert gerade der transzendentale Gebrauch des Denkens einen Bezug zum NichtDenken: z.B. Affekte und Wahrnehmungen, die man zwar (in empirischer Hinsicht) nicht ›haben‹ oder ›machen‹ kann, deren Intensität wir aber ausgesetzt sind, die uns zielsicher trifft. Das, »was nur empfunden werden kann«, erschüttert die Seele, macht perplex und zwingt zum Denken. Und nicht allein in Begriffen bewegt sich das philosophische Denken, sondern es geht noch weiter, indem es auf die nicht-philosophischen Bedingungen reflektiert, die es verursacht haben – und die somit (noch einmal sei es gesagt) innerhalb der Philosophie wiederkehren (als vorphilosophische Ebene, die möglichst immanent entworfen werden muss, wenn mit ihr das philosophisch unbedingte Außen der Affektivität etc., d.h. die NichtPhilosophie, adäquat gedacht werden soll). Das Eigentümliche der Philosophie im Unterschied zur Religion liegt nach Deleuze und Guattari in der Auszeichnung der Immanenz, die mit der Zerstörung der Transzendenz einhergeht.18 In Anlehnung an Kojève und Blanchot finden sie diesen eigentümlichen Zug bereits im griechischen ›Ursprung‹ der Philo-Sophie: »Denn ist der Philosoph nicht deshalb Freund oder Liebhaber der Weisheit, weil er Anspruch auf sie erhebt«, d.h. sie nicht formell oder tatsächlich besitzt, sondern sie sucht oder ihr nachstellt? (Deleuze/Guattari 1991: 7) Hatten andere Kulturen ihre Weisen, so beglaubigen die Griechen deren Tod – und ersetzen sie »durch die Philosophen, die Freunde der Weisheit«. (Ebd.: 6) Während die Religionen stets vermittels figürlichen Denkens eine hierarchische, um einen tran17 | »Vom sentiendum zum cogitandum hat sich die Gewalt dessen entfaltet, was zum Denken nötigt. Jedes Vermögen ist aus seinen Angeln gehoben. Was aber sind die Angeln, wenn nicht die Form des Gemeinsinns, der alle Vermögen kreisen und konvergieren ließ? […] Anstatt daß alle Vermögen konvergieren und dem gemeinsamen Bemühen zur Erkenntnis eines Objekts zuarbeiten, wohnt man einem divergenten Bemühen bei, wobei jedes Vermögen hinsichtlich dessen, was es wesentlich betrifft, seinem ›Eigenen‹ gegenübergestellt wird. Zwietracht der Vermögen […].« Deleuze 1968a: 183-184. 18 | »Der Atheismus stellt kein Drama dar, er bildet vielmehr die Heiterkeit des Philosophen und die Errungenschaft der Philosophie.« Deleuze/Guattari 1991: 106.
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szendenten Punkt göttlicher Wahrheit kreisende Ordnung entwerfen19, stellt die Philosophie die also modifizierte »Weisheit […] in den Dienst der reinen Immanenz.« (Ebd.: 53) Die ersten Philosophen sind »Fremde auf der Flucht«, die in den griechischen Stadtstaaten auf günstige Umstände treffen: eine Gesellschaft aus Gleichen oder Rivalitätsverhältnisse »freier Männer«, die innerhalb mehr oder weniger demokratischer Verhältnisse um das Objekt ihrer Begierde streiten.20 Wie lässt sich aber über die Wohlbegründetheit der Ansprüche ein sicheres Urteil fällen? Diese (die empirischen Bedingungen philosophisch aufgreifende und transformierende) Frage führt bei Platon zur Konstruktion der Ideenlehre, die es möglich macht, den echten Philosophen von den Sophisten zu unterscheiden.21 Und hier taucht eine Verwechslungsgefahr auf, die mit der Wiedereinführung der Transzendenz in die Philosophie zusammenhängt: Die Immanenz selbst wird einer Wahrheit zugeschrieben oder einer höheren Einheit unterworfen – und sodann »von den Ansprüchen einer emanativen [im Neoplatonismus; Vf.] und vor allem kreativen Transzendenz [in der christlichen Philosophie; Vf.] streng kontrolliert und eingerahmt«22 (Deleuze/ Guattari 2001: 54). Wie Nebel durchziehen die Illusionen der Transzendenz die philosophischen Begriffswelten, so etwa wenn versucht wird, aus 19 | »Denken impliziert hier eine Projektion des Transzendenten auf die Immanenzebene. Mag die Transzendenz an sich auch ›leer‹ sein; sie füllt sich in dem Maße, wie sie sich neigt und verschiedene hierarchisierte Niveaus durchquert […]. Nicht anders ist es, wenn die Transzendenz das Absolute erobert […]: Der transzendente Gott bliebe ›leer‹ […], projizierte er sich nicht auf eine Immanenzebene der Schöpfung, auf der er die Etappen seiner Theophanie einzeichnet. In allen diesen Fällen, imperiale Einheit oder geistiges Reich, bepflastert oder bevölkert die auf die Immanenzebene projizierte Transzendenz diese mit Figuren. Das mag Weisheit sein oder Religion. Nur von diesem Gesichtspunkt aus lassen sich die chinesischen Hexagramme, die hinduistischen Mandalas, die jüdischen Sefirot, die islamischen ›Imaginabeln‹, die christlichen Ikonen vergleichen.« Deleuze/Guattari 1991: 102. 20 | Vgl. ebd.: 99f. 21 | Vgl. ebd.: 14f. 22 | Nehmen wir z.B. die platonische Idee des Schönen, die schöner ist als alles andere…: »Mir scheint nämlich, wenn irgend etwas anderes schön ist außer jenem Schönen selbst, daß es wegen gar nichts anderem schön sei, als weil es teilhabe an jenem Schönen, und ebenso sage ich von allem.« Plato [Phaidon]: 100c.
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der Erfahrung im Ganzen einen fundamentalen Satz zu entnehmen, indem das Cogito oder ein reines Bewusstsein extrahiert wird – als eine neue subjektive Einheit, die die »bloße Empirie« überschreitet, indem sie ihr als erste und eigentliche Evidenz zugrunde gelegt wird.
II. »Wer sich ganz und gar dessen bewußt war, daß die Immanenz nur sich selber immanent und damit eine Ebene ist, die von den Bewegungen des Unendlichen durchlaufen wird […] – ist Spinoza. Darum ist er auch der Erste unter den Philosophen. Vielleicht der einzige, der keinerlei Kompromiß mit der Transzendenz geschlossen, ihr überall nachgestellt hat. […] Er hat in der Immanenz die alleinige Freiheit gefunden.« (Deleuze/Guattari 1991: 57)
In den Spinoza gewidmeten Arbeiten Deleuzes sind es zunächst zwei Dinge, die ins Auge fallen: Ihm wird zugeschrieben, erstmals in der Geschichte der Philosophie aus der Immanenz einen systematischen Begriff von größter Bedeutung gemacht zu haben.23 Darüber hinaus stellt die (am Leitfaden des Immanenzbegriffs vorgenommene) Rekonstruktion seiner Philosophie die Weichen für grundsätzliche Theorieentscheidungen, die sich insbesondere in der in Differenz und Wiederholung vorgelegten Ontologiekonzeption, aber auch in der Kritik der Repräsentation und in der Affekttheorie auswirken.24 In jedem der genannten Bereiche spielt die Immanenz eine wichtige Rolle. Im Folgenden soll dies im Ausgang von der Kritik thematisiert werden, die Spinoza an den Grundlagen des Cartesianismus übt. Im 18. Lehrsatz des ersten Buchs der Ethik spricht Spinoza in einem terminologisch prägenden Wortgebrauch von der »immanenten Ursache«: »Gott ist die immanente, nicht aber die übergehende Ursache aller Dinge.«25 Zu einem Verständnis dieses Lehrsatzes gelangt man, indem man 23 | Vgl. Deleuze 1968b: 151ff. Zum eher marginalen Gebrauch des Immanenzbegriffs in der scholastischen Philosophie (z.B. bei Duns Scotus) vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Art. Immanenz, 219ff. 24 | Vgl. Deleuze 1968a: 64. 25 | Spinoza 1677: 55; I, 18 Lehrsatz. Der Satz lautet im lateinischen Original: »Deus est omnium rerum causa immanens, non vero transiens.« Ebd.: 54. Spi-
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die substanzlogischen Erläuterungen Spinozas als immanenztheoretische Bestimmungen der causa sui interpretiert. In Abwandlung der neoplatonischen, aristotelisch-scholastischen und letztlich auch der cartesianischen Vorstellungen wird die unendliche Substanz als singuläres und allumfassendes Geschehen gedeutet, das weder schöpfungstheologische noch anders gefasste dualistische Vorbehalte geltend macht. Der Definition der Substanz (und einiger weiterer Annahmen) entsprechend, kann es nur eine geben – welche im selben Sinne (»eo sensu«) von sich und von den Dingen die Ursache sein muss.26 Die philosophischen Implikationen dieses Satzes und die einzelnen Argumentationsschritte, die für seine Begründung anzuführen sind, können hier nicht erschöpfend expliziert werden. Wichtig für Deleuze ist, dass die spinozistische These von der Singularität der Substanz in ihrer konsequenten Durchführung mit der ontologischen Tradition bricht, derzufolge sich das Sein in unterschiedlichen kategorialen Bedeutungen (äquivok) aussagt. Die Attribute sind keine Kategorien, weil sie lediglich real, nicht aber numerisch voneinander unterschieden sind: Sie beziehen sich auf eine ungeteilte Substanz, deren univokes Wesen sie ausdrücken.27 Spinoza transformiert die cartesianische Substannozas Ethik wird im Folgenden mit Seitenzahl; Teil, Lehrsatz (und gegebenenfalls mit weiteren Angaben: Beweis, Zusatz, Anmerkung etc.) zitiert. 26 | Vgl. ebd.: 66; I, 25, Anm. Da es kein Ding außerhalb der Substanz geben kann – Dinge oder Modi sind laut Spinoza »Affektionen der Substanz« (ebd.: 5; I, Def. 5) – und zudem auch die Existenz mehrerer Substanzen ausgeschlossen ist, d.h. Seiendes, das außerhalb der hier angenommenen einen Substanz in sich ist (»quod in se est«; ebd.; I, Def. 3), so bleibt nur übrig, die Substanz als immanente, d.h. sich nicht überschreitende und also bei sich bleibende Ursache aller Dinge zu begreifen. Als solche wird die causa efficiens im selben Sinn wie die causa sui ausgesagt: »Der spinozistische Begriff der Immanenz hat keinen anderen Sinn: er drückt die doppelte Univozität der Ursache und der Attribute aus, d.h. die Einheit der Wirkursache mit der formalen Ursache […].« Deleuze 1968b: 148. 27 | Vgl. Spinoza 1677: 23; I, 11, Anm. und Deleuze 1968b: 38. In seinem ›großen‹ Spinoza-Buch kommentiert Deleuze die »Univozität der Attribute« wie folgt: »Was in anderem ist, und was in sich ist [d.h. Modi und Substanz; M.R.], wird nicht im selben Sinn ausgesagt; das Sein aber wird formal im selben Sinn von dem, was in sich und von dem, was in anderem ist, ausgesagt: dieselben Attribute konstituieren, im selben Sinn genommen, das Wesen des einen und sind durch das Wesen des anderen impliziert.« Deleuze 1968b: 148. So kann Deleuze
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zenlehre, indem er Denken und Ausdehnung als Attribute einer Substanz begreift, die sich also nicht kategorial, sondern nur modal differenzieren lässt.28 Das bedeutet aber, dass die repräsentationslogische Vermittlungslogik außer Kraft gesetzt wird, sofern sich das Sein von den Einzeldingen aussagt.29 Die »vierfache Fessel« der Repräsentation, welche die Differenz zähmt, indem sie sie auf einen Vernunftgrund bezieht, setzt sich Deleuze zufolge aus der Identität im Begriff, dem Gegensatz im Prädikat, der Analogie im Urteil und der Ähnlichkeit in der Wahrnehmung zusammen.30 Hierin liegen die logischen Merkmale eines Denkbildes, das im Rekurs auf transzendente Grundlagen hierarchische Prinzipien etabliert, die sich im Ausgang von der Philosophie in sämtlichen von ihr beeinflussten Gebieten der Nicht-Philosophie auswirken. Spinoza kommt in der Ethik auf einige derartige Punkte zu sprechen. Von erster Bedeutung für die eigentümlich immanent verfahrende Methode Spinozas ist ihre kritische Distanz gegenüber dem cartesianischen Fundamentalsatz ego sum res cogitans, id est dubitans etc., sofern dieser Satz mit der Zweisubstanzenlehre und weiter mit der Einführung eines transzendenten Gottes notwendig verbunden ist. Beginnt die Philosophie mit dem cogito, so verfehlt sie den wahren Anfang – der mit der Definition der unendlichen Substanz gemacht werden muss – und neigt dazu, mit einiger Verspätung einen per se abstrakten Gottesbegriff geltend zu machen.31 sagen, dass die Immanenz »die neue Gestalt der Theorie der Univozität bei Spinoza« ist. Ebd. 28 | Vgl. ebd.: 45; I., 15, Anm. 29 | Vgl. Deleuze 1968a: 376. Ausdrücklich privilegiert Spinoza die intuitive Erkenntnisart, die sich auf die Einzeldinge bezieht (rerum singularium cognitio), vor der »universalen Erkenntnis«. Vgl. Spinoza 1677: 685; V, 36, Anm. 30 | Vgl. Deleuze 1968a: 329, 180. Vgl. exemplarisch die spinozistische Kritik der transzendentalen Ausdrücke und Universalbegriffe in: Spinoza 1677: 205f.; II, 40, Anm. 1-2. Erst mit Hilfe der Gemeinbegriffe kann sich die Erkenntnis aus der Befangenheit des Vorstellungsbewusstseins befreien. 31 | In der Ethik hält Spinoza fest, dass Descartes und seine Anhänger »den ordnungsmäßigen Gang des Philosophierens nicht eingehalten« haben. »Denn die göttliche Natur, die sie vor allem hätten in Betracht ziehen müssen, weil sie sowohl der Erkenntnis als auch der Natur nach die erste ist in der Reihe der Erkenntnis, hielten sie für die letzte, und die Dinge, die Objekte der Sinne genannt werden, hielten sie für die ersten von allen. So kam es, daß sie bei der Betrach-
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Im Appendix zum ersten Buch der Ethik unterstreicht Spinoza, dass das gewöhnliche (religiöse bis scholastische) Gottesverständnis anthropomorphe Züge trägt, gerade weil das menschliche Bewusstsein als unbefragte Ausgangstatsache in Anspruch genommen wird. Problematisch ist dabei, dass Gott als Instanz zweiter Stufe die Aufgabe übernimmt, theoretisch unlösbare Schwierigkeiten auf der ersten Stufe zu kompensieren. Wird nämlich an dem Vorurteil festgehalten, dass »alle Dinge in der Natur handelten, wie sie [die Menschen; M.R.] selbst, um eines Zwecks willen«, so leitet sich daraus das Erfordernis ab, einen Gott als Schöpfer der Natur und damit der Zweckmäßigkeit der Dinge vorzustellen bzw. einen »mit menschlicher Freiheit begabten Lenker der Natur«. (Spinoza 1677: 95; I, Anhang) Ebenso wird es dann mit Hilfe einer göttlichen Substanz möglich, zwischen den vorab getrennten Bereichen der körperlichen und der geistigen Daseinsweise zu vermitteln. In beiden Fällen aber gilt, dass die behauptete kreative und vermittelnde Tätigkeit obskur bzw. unverständlich bleibt.32 Diese Gottesvorstellung ist laut Spinoza lediglich ein Produkt der menschlichen Einbildungskraft – und mit zahlreichen Widersprüchen behaftet. Die teleologischen Grundannahmen resultieren im Paradox der Theodizee und die theologische Idee einer absoluten Freiheit des Willens widerstreitet dem Gedanken einer notwendigen natürlichen Ordnung. Regelmäßig werden diejenigen als »Ketzer und gottlose Menschen« angesehen, die sich nicht mit Offenbarungen eines höheren Wissens zufrieden geben wollen und stattdessen die natürlichen Ursachen erforschen.33 Hiertung der natürlichen Dinge an nichts weniger dachten als an die göttliche Natur […].« Spinoza 1677: 135; II, 10, Zusatz und Anm. Vgl. auch im fünften Buch ebd.: 619-627; V, Vorwort. 32 | »Indessen zeigen sie [manche Philosophen; M.R.] […] deutlich, daß sie die körperliche oder ausgedehnte Substanz selbst von der göttlichen Natur ganz und gar fernhalten, und zwar behaupten sie, diese sei von Gott geschaffen. Aus welcher göttlichen Macht sie aber geschaffen werden konnte, darüber wissen sie nicht das geringste; was deutlich zeigt, daß sie das, was sie sagen, selbst nicht verstehen.« Spinoza 1677: 37; I, 15, Anm. 33 | »Daher kommt es, daß einer, der die wahren Ursachen des Wunderbaren sucht und bestrebt ist, die natürlichen Dinge als Wissender zu verstehen, statt sie als Einfältiger anzustaunen, oft für einen Ketzer und gottlosen Menschen gehalten und von denen verschrien wird, die das Volk als die Dolmetscher der Natur und der Götter verehrt. Denn sie wissen, daß mit der Unwissenheit auch das
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mit verbindet sich Spinozas Auflehnung gegen die traditionelle Geringschätzung der Körperwelt, schließlich ist »die ausgedehnte Substanz eines von den unendlichen Attributen Gottes«. (Ebd.: 37; I., 15, Anm.) Es gibt keinen guten Grund dafür zu behaupten, das Materielle oder Körperliche sei »der göttlichen Natur unwürdig«. (Ebd.: 41; I, 15, Anm.) Ebenso sind das gewöhnlich so bezeichnete Gute, Schöne, Harmonische und Geordnete nichts anderes als Vorstellungen, die aus dem allzumenschlichen Streben hervorgehen, die Zweckursachen zu kennen. Sofern aber Menschen um eines Zwecks willen handeln, und es Gott angeblich zukommt, die Welt zweckmäßig eingerichtet zu haben, verwundert es nicht, dass man nicht nur das Nützliche, sondern auch »alles, was zum Wohlbefinden und zur Verehrung Gottes beiträgt […] gut« nannte. (Ebd.: 103; I, Anhang) Das moralisch Gute konstituiert sich entsprechend mit einem Transzendenzbezug, sofern eben Geist und Seele von dem Körperlich-Materiellen abgesondert und in eine exklusive Beziehung zu dem Göttlichen gesetzt werden. Eindrucksvoll führt Spinoza die parallelistische Konzeption der körperlichen und seelischen Leidenschaften gegen moralische Traditionen ins Feld, die die Macht des Körpers mit der Ohnmacht der Seele in einen direkten Zusammenhang stellen bzw. einen prinzipiellen Vorrang des Geistes behaupten.34 Es steht uns nicht frei, zu denken (bzw. zu fühlen, zu wollen) oder nicht zu denken etc. – und ebenso wenig sind wir in der Lage, den »Körper auf einen bloßen Wink des Geistes bald in Bewegung, bald in Ruhe« zu versetzen.35 (Ebd.: 261; III., 2, Anm.) »Denn jeder lenkt alles gemäß seinem Affekt.« (Ebd.: 267; III, 2, Anm.) Ein besonderes Gewicht auf den Unterschied zwischen (spinozistischer) Ethik und (deontologischer) Moral legend, betont Deleuze: »Die Ersetzung
Anstaunen, das einzige Mittel, womit sie ihre Lehren beweisen und ihr Ansehen behaupten, dahinschwindet.« Ebd. 101-103; I, Anhang. 34 | »[D]ie Ordnung der Handlungen und der Leiden unseres Körpers [entspricht] von Natur aus [genau] der Ordnung der Handlungen und der Leiden unseres Geistes.« Ebd.: 261; III, 2, Anm. Ebenso gilt, dass eine gesteigerte körperliche Affektfähigkeit die Möglichkeiten des Denkens entsprechend vervielfältigt: vgl. ebd.: 689; V, 39. 35 | »Die Erfahrung aber lehrt genug und übergenug, daß die Menschen nichts weniger in ihrer Gewalt haben als die Zunge und daß sie nichts weniger vermögen, als ihre Triebe im Zaum zu halten.« Ebd.: 265; III, 2, Anm.
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der Moral durch die Ethik ist die Konsequenz des Parallelismus und stellt dessen eigentliche Bedeutung dar.« (Deleuze 1968b: 227) Mehrfach akzentuiert Spinoza den eigentümlichen Gesetzescharakter des Verbots, das in der mosaischen Geschichte vom Sündenfall Adams eine so wichtige Rolle spielt. Demnach gründet das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, letztlich auf einer diätetischen Empfehlung Gottes, die aber von Adam »zufolge seiner mangelhaften Erkenntnis« als moralisches Gebot missverstanden wurde. (Spinoza 1670: 85) Adam ist nicht frei geboren, sondern unfähig, die natürlichen Ursachen des (von Gott offenbarten) Übels – d. i. der schlicht vergiftete Apfel, wie Deleuze anmerkt – adäquat zu erkennen.36 Infolgedessen bestimmt sich der Gegensatz zwischen gut und böse in Abhängigkeit von einer transzendenten Position, welche imaginiert wird, sofern die Ursachen verkannt werden, die hinter dem göttlichen Rat ebenso wie hinter seiner menschlichen Interpretation stehen. »Die Illusion der Werte geht einher mit der Illusion des Bewußtseins: weil das Bewußtsein wesentlich unwissend ist, weil es die Ordnung der Ursachen […] ignoriert, und weil es sich damit begnügt, deren Auswirkungen zu erwarten und zu empfangen.« (Deleuze 1981: 34)
Das Bewusstsein wird hiermit als ein reaktives Organ angesehen, das lediglich mit Wirkungen konfrontiert wird, die es aber regelmäßig als Ursachen interpretiert. Nicht nur bleiben seine unmittelbaren Vorstellungen äußerer Dinge verworren, eben weil sie nicht mit Bezug auf die Verkettung der Ursachen erkennbar werden, hinzu kommt noch im Kontext des moralischen Urteils die enge Verklammerung mit den trübsinnigen Leidenschaften. Mit Spinoza wird man sagen, dass die theologischen und moralischen Vorstellungen, die mit einer Missachtung der immanenten Bestimmung der Handlungen, Leidenschaften und Affekte zusammenhängen, ganz entscheidend dafür verantwortlich sind, dass die Menschen 36 | Vgl. Spinoza 1677: 583; IV, 68, Beweis und Anm.; Deleuze 1981: 33. »Daher kam es auch, daß Adam jene Offenbarung nicht als ewige und notwendige Wahrheit aufgefaßt hat, sondern als Gesetz, d.h. als eine Verordnung, auf welche ein Vorteil oder ein Nachteil folgt, nicht aus der Notwendigkeit und Natur der begangenen Tat, sondern bloß nach dem Belieben und dem unbedingten Befehl eines Herrschers.« Spinoza 1670: 85.
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ein Leben in Knechtschaft führen.37 Die Ketten ihres sklavischen Daseins sind mit der despotischen Macht der Affekte verbunden, die die Fähigkeit zu affizieren und sich affizieren zu lassen vermindern und auf diese Weise zum Verlust des Tätigkeitsvermögens und zur sozialen Vereinzelung und politischen Unterdrückung beitragen. In der Ethik verschmilzt »das Portrait des Ressentiment-Menschen« mit einer Herrschaft des abstrakten Guten, für welche »alles Glück eine Beleidigung ist« und der »Haß auf das Leben« die Regel. (Vgl. Deleuze 1981: 37) »Man sieht also, wie die Ethik, d.h. eine Typologie immanenter Existenzweisen, die Moral ersetzt, die die Existenz immer mit transzendenten Werten verknüpft. Die Moral ist das Gottes-Urteil […].« (Ebd.: 34)
37 | Dabei sind es die passiven (schlechten) Affekte oder Affektionen des Körpers, die das Tätigkeitsvermögen verringern, sofern ihre Ursache von uns nur partial oder inadäquat eingesehen wird –, während wir selbst die adäquate Ursache der aktiven (guten) Affekte sind, die unsere Fähigkeiten vergrößern oder vermehren. »Denn die Menschen sind sich […] wohl ihres Tuns und ihrer Triebe bewußt, aber die Ursachen, von denen sie bestimmt werden, etwas zu erstreben, kennen sie nicht.« Spinoza 1677: 439; IV, Vorwort. Nun sind genau die (philosophischen, theologischen) Vorstellungen von einer vermeintlichen Kenntnis der Ursachen, z.B. der Begriff eines freien Willens, aber auch teleologische Denkfiguren, abstrakte Begriffe u.v.m., für die genannte Knechtschaft mitverantwortlich. Sie verstellen den Blick auf die komplexen Bedingungen der menschlichen Existenz, die es möglich machen, dass »wir die Idee mancher Körper auswählen, die mit dem unseren zusammenpassen und uns Freude verschaffen, d.h. unser Vermögen steigern.« Deleuze 1993: 195. Diese Auswahl der Affekte mit ihren vektoriellen Zeichen des Typs Freude/Traurigkeit (Bejahung/Verneinung) charakterisiert die Ethik im Unterschied zu einer Moralphilosophie, die sich an abstrakten und allgemein gültigen Sollenssätzen orientiert. Ausgerichtet auf die Distinktion der aktiven und reaktiven Kräfte des Körpers bezieht sich die ethische Maxime (vermittelt über die Gemeinbegriffe) gleichzeitig auf die affektiven und auf die gesellschaftlichen und politischen Lebensverhältnisse. Vgl. z.B. Spinozas Erläuterungen zum Affekt der Furcht im Zusammenhang mit seiner Kritik der Hobbes’schen Staatslehre: Spinoza 1677: 481; IV, 18, Anm.; ebd.: 541; IV, 47; ebd.: 573f.; IV, 63.
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III. Ausgerichtet auf die Immanenz im Sinne eines alles umfassenden, ebenso natürlichen wie göttlichen Seins, das als Prinzip der Ursache sämtlicher Einzelmodi fungiert, ermöglicht Spinoza einen neuartigen philosophischen Blick auf die traditionellen metaphysischen Annahmen und Gegensätze. Tatsächlich sind die abstrakten Vorstellungen von Freiheit, Ordnung, Moral, Gott u.v.m. auf ein Modell des Denkens bezogen, das die Welt der geschaffenen Dinge (natura naturata) zum Ausgangspunkt der Betrachtung wählt. Auf diese Weise etabliert sich in der philosophischen Tradition ein Dualismus, welcher der Natur und ihrer (›bloß mechanischen‹) Gesetze ein Anderes und Ursprünglicheres entgegensetzt, eine transzendente höchste Realität – des reinen Geistes. Hiermit wird in einem »Asyl der Unwissenheit« Zuflucht gesucht, sofern eben gerade die abstrakten metaphysischen Ideale die Unkenntnis des zureichenden Grundes verbergen.38 Wo reale Ursachen nicht wirklich erkannt werden, spricht man von freiem Willen, von Zufall oder von göttlicher Fügung. »Spontaneität ist nur ein Ausdruck für die Unwissenheit der Menschen in bezug auf die Götter.« (Butler 1872: 209) Wie Samuel Butler in dem utopischen Roman Erewhon ausführt, v.a. in dem bereits 1863 in Teilen publizierten Abschnitt mit dem Titel »Das Buch der Maschinen«, liegt ein besonderer Witz der Überlegungen Spinozas darin, die Erkenntnis der natürlichen Ursachen zum philosophischen Erkenntnisparadigma schlechthin zu machen. Demzufolge verbleibt diese Erkenntnis keineswegs in dem engen Rahmen der menschlichen Vorstellungen äußerer Gegenstände, sondern sie verbindet den Begriff der Wirkursache mit demjenigen der ersten und freien Ursache (der unendlichen, göttlichen Substanz qua natura naturans).39 In diesem Sinn bezeichnet der Ausdruck ›Maschine‹ bei Butler nichts Totes im Unterschied zum Lebendigen oder Menschlichen, sofern eben die Bewegungen der Lokomotive ebenso wie die Handlungen des Lokomotivführers aus komplizierten kausalen Prozessen resultieren.40 Die seit Kant geläufige 38 | Vgl. Spinoza 1677: 101; I., Anhang. 39 | Vgl. Butler 1872: 187-216, v.a. 205, mit Bezug auf Spinozas Überlegungen im ersten Buch der Ethik. Vgl. Spinoza 1677: 47; I, 16, Zusätze 1-3 und ebd.: 209f.; II, 40, Anm. 2. 40 | »Der Lokomotivführer gehorcht seinen Vorgesetzten, weil er Nahrung und Wärme von ihnen bekommt, und wenn man sie ihm vorenthält oder in ungenügen-
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Unterscheidung zwischen dem maschinenmäßig Toten physikalischer Vorgänge und einer organisationslogisch gedachten Totalität des Lebendigen, die auch einer Bestimmung der menschlichen Natur zugrunde gelegt werden muss, greift hier nicht. Die klassische Idee einer ›göttlichen Maschine‹ reflektiert auf das philosophische Prinzip des zureichenden Grundes, d.h. auf die Erkenntnis der bestimmten Ursache aller Dinge, ohne die diese weder sein noch begriffen werden können.41 Von Butler werden Überlegungen dieses Typs weitergeführt, indem er unter Zuhilfenahme empiristischer Grundsätze die substanzmetaphysischen Prämissen aufgibt. Hiermit akzentuiert er eine immanenztheoretische Kontinuitätslinie von Spinoza zu Hume, auf die Deleuze in seinen Arbeiten wiederholt hingewiesen hat.42 In Differenz und Wiederholung firmiert Butler stets als Empirist, der in der Lage ist, aus der ontologischen Tradition der kategorialen Begriffsbestimmung auszuscheren und neuartige, »phantastische« Begriffe hervorzubringen, »Begriffe […] für ein aufgelöstes Ich«.43 (Deleuze 1986a: 13, 355) Exemplarischen Wert besitzen hier die Begriffe der Gewohnheit (custom, habit) und des Glaubens (belief), aber auch der Begriff der Wahrscheinlichkeit und weitere kausalitätstheoretisch relevante Ausdrücke Humes. »Die Macht der Gewohnheit ist ungeheuer […].« (Butler 1872: 212) Und hiermit wird auch deutlicher, wie der Gedanke der Immanenz in der empiristischen Tradition fortlebt – unter eher skeptischen, die Substanzmetaphysik radikal verändernden Vorzeichen. Im Buch der Maschinen konstruiert Butler den Übergang, indem er die spinozistische Kritik einer (schöpfungs-)theologischen Erklärung des Weltgeschehens – z.B. mit Bezug auf die stets vorschnelle moralische Beurteilung eines Unglücks als Strafe Gottes, d.h. eines Vorfalls, der eigentlich ganz natürliche Ursachen hat – mit dem Hume’schen Zukunftsargument verbindet. Demnach ist es unmöglich, mittels induktiven Schließens der Menge zuteilt, hört er auf zu fahren; ebenso arbeitet die Maschine nicht mehr, wenn sie unzureichend gespeist wird.« Butler 1872: 208-209. 41 | Vgl. zum Beispiel Leibniz 1714: 469. 42 | Vgl. dazu neuerdings Peden 2008: 57-70. 43 | »Samuel Butler hat wie kein anderer gezeigt, daß es keine andere Kontinuität als die der Gewohnheit gibt und daß wir keine anderen Kontinuitäten haben als die unserer tausend Teilgewohnheiten, die in uns entsprechend viele abergläubische und betrachtende Ichs […] bilden.« Ebd.: 105. Vgl. dazu auch die Interpretation der spinozistischen Gemeinbegriffe in Deleuze 1968b: 243ff., hier 246.
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die Zukunft vorherzusagen, nicht weil sich diese prinzipiell kausalen Mechanismen entzieht, sondern aus dem schlichteren Grund, weil die Vergangenheit mitsamt ihrer determinierenden Kraft unsere endlichen Beobachtungsfähigkeiten bei weitem übersteigt. »Daß wir die Zukunft nicht ebenso klar übersehen können wie die Vergangenheit, hat seinen einzigen Grund in unserer zu geringen Kenntnis der wirklichen Vergangenheit und der wirklichen Gegenwart.« (Ebd.: 205f.) Zwar steigt der Wahrscheinlichkeitsgrad der Richtigkeit hypothetischer Sätze mit der Anzahl bekannter Wiederholungsfälle bzw. mit der Erfahrungsdichte empirischer Regelmäßigkeiten, aber die spekulative Aussicht auf eine »unendliche […] Aufzeichnung der Resultate«, die allein eine sichere Voraussicht garantieren könnte, bleibt doch grundsätzlich unmöglich. (Ebd.: 208) Die Zeit lässt sich nicht sub specie aeternitatis betrachten und damit überspringen – und die Kausalität beruht im Wesentlichen auf der Erfahrung, d.h. auf empirischen Wiederholungen, die Gewohnheiten ausbilden, dies oder jenes (beim Eintreten dieses oder jenes Falles) in der Zukunft zu erwarten. Aus pragmatischen Gründen ist dabei ein grundsätzlicher Zweifel an der empirischen Kontinuität kausaler Verhältnisse unangebracht.44 Im Empirismus lebt das Thema der Immanenz weiter, sofern das dort insbesondere von Hume praktizierte Kausalitätsdenken die Einführung der Transzendenz auf objektiver wie subjektiver Seite verhindert. Der Begriff der Ursache wird dabei so angelegt, dass möglicherweise zwar eine empirisch nicht nachvollziehbare Kraft – im Sinne einer notwendigen Verknüpfung – eine ganz bestimmte Wirkung herbeiführt, genauer gesagt aber lediglich einzelne Ereignisse (in diskontinuierlicher Abfolge) beobachtet werden können, die somit in äußerlichen Relationen (der Kausali44 | Vgl. Butler 1872: 206. Hume zufolge ist diejenige skeptische Haltung eine verbohrte, die darauf insistiert, nicht wirklich zu erkennen – nämlich die Kräfte, die innerhalb kausaler Vorgänge wirken –, insofern die Suche nach Gewissheit, mit Dewey zu reden, einem ihrerseits metaphysischen Ideal verpflichtet ist. Vgl. Hume 1739: 250, 341ff. Tatsächlich sind die »letzten Grundkräfte und Prinzipien [der Ursachenerkenntnis; MR] […] menschlicher Wißbegierde und Forschung ganz und gar verschlossen«, nicht weil diese in einer göttlichen Wunderwelt zuhause wären, sondern weil zwingende logische Argumente dafür sprechen, dass Tatsachenerkenntnisse den Geltungsrahmen des Aposteriori nicht überschreiten können. Vgl. Hume 1748: 41. Vgl. ebd.: 78, 81. Auch die Idee einer pragmatischen Skepsis findet Butler also bereits bei Hume.
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tät im empirischen Verständnis) zueinander stehen. Erfahrungsschlüsse basieren Hume zufolge stets auf Gewohnheit und nicht auf Vernunft. Kausale Tatsachenrelationen sind demnach immanent bestimmt, sofern sie sich aus der Erfahrung ableiten lassen. Hiermit wird jedem Versuch widersprochen, z.B. »außergewöhnliche Erscheinungen […] zu erklären«, indem ein »unsichtbares vernünftiges Prinzip als unmittelbare Ursache jenes Geschehens« geltend gemacht wird, das »durch die gewöhnlichen Naturkräfte nicht erklärt werden kann«. (Hume 1748: 85) Nicht nur der Wunderglaube wird auf diese Weise von Hume bekämpft, sondern jede Einführung einer die natürliche Erfahrung transzendierenden Instanz – z.B. die Vorstellung der Willensfreiheit oder teleologische Vorgaben. Radikal ist diese Position vor allem deshalb, weil sie die Gewohnheit als Prozess der Subjektivierung begreift, der nichts Substanzielles mehr unterliegt. Dem entspricht ein eigentümlicher Atomismus der Perzeptionen, der mit dem Erfahrungsbegriff der Philosophie des Common Sense bricht, d.h. mit der wohl bestimmten Repräsentation der Dinge. Berühmt sind Humes Formulierungen im Treatise, die den menschlichen Geist mit Perzeptionen gleichsetzen, »die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluß und Bewegung sind.« (Ebd.: 327) Dieser Prozess des Werdens und der Veränderung enthält »weder in einem einzelnen Zeitpunkt Einfachheit noch in verschiedenen Zeitpunkten Identität; sosehr wir auch von Natur geneigt sein mögen, uns eine solche Einfachheit und Identität einzubilden« (ebd.), – d.h. es gibt keine subjektive oder objektive Transzendenz, welche der Sukzession der sinnlichen Eindrücke und der Gedankenbewegungen unterliegt. Sämtliche synthetischen Relationen ergeben sich allein aus der Erfahrung bzw. daraus, wie sie sich selbst organisiert oder strukturiert. In der Einleitung zum ersten Band der Zeitschrift für immanente Philosophie hält der Herausgeber Max Kauffmann fest, dass Humes Philosophie als erste konsequente Ausarbeitung »einer rein immanenten Weltanschauung« gelten kann, weil sie den (von Berkeley noch vertretenen) dogmatischen Gegensatz zwischen »Percipirendem« und »Percipirtem« verabschiedet.45 Auch Deleuze betont, dass die Radikalität des Hume’schen 45 | Vgl. Kauffmann 1895: 8. Die historische Entstehung der »gegenwärtigen immanenten Philosophie« – Kauffmann verweist u.a. auf Nietzsche und Ernst Mach – wird von Kauffmann nach England verlagert, und d.h. in der empiristischen Traditionslinie (von Locke bis Hume) situiert. Vgl. ebd.: 7f., 5f.. Verstanden
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Ansatzes in der Auffassung der Subjektivierung liegt, die herkömmlichen Annahmen eines vorausgesetzten Wahrnehmungssubjekts deutlich widerspricht. »Hume opère une inversion qui va porter l’empirisme à une puissance supérieure […].« (Deleuze 1972: 67) Das Besondere liegt eben darin, Subjektivität aus der Erfahrung heraus entstehen zu lassen, sofern sich Gewohnheiten, Erwartungen, Konventionen bilden, die auf äußerlichen Relationen basieren. »Par là le véritable monde empiriste se déploie pour la première fois dans toute son extension: monde d’exteriorité, monde où la pensée elle-même est dans un rapport fondamental avec le Dehors […] – monde où la conjonction ›et‹ détrône l’intériorité du verbe ›est‹, monde d’Arlequin, de bigarrures et de fragments nontotalisables où l’on communique par relations extérieures.« (Ebd.: 67)
Die Deleuze’sche Hume-Lektüre ist von Anfang an pragmatistisch inspiriert – oder genauer gesagt folgt sie dem Anliegen, die erkenntnistheoretische Fundierung des Empirismus zugunsten der eigentlich praktischen Relevanz der Logik der Relationen aufzugeben.46 Hiermit steht sie in der Tradition des »radikalen Empirismus« von William James – oder überhaupt in einer Tradition der (pragmatistischen) Erneuerung des Erfahrungsbegriffs, welche die üblicherweise in ihm liegenden metaphysischen Implikationen – entweder einen Sinnesatomismus als erkenntnistheoretische Verifikationsgrundlage oder aber apriorische Verstandesgaben – aufgegeben hat.47 Intellektualistische Ansätze verfehlen ein Erfahrungsdenken, das die vielfältigen und nirgends festgestellten Prozesse der Subjektivierung mitumfasst, indem sie auf eine irgendwie vorgegebene Realität spekulieren – reine Beobachtungen oder reine Vernunft einer sich selbst wird sie als »die Wissenschaft der reinen Erfahrung«, die sowohl mit den rationalistischen als auch mit den materialistischen Grundannahmen bricht. Siehe dazu in der Sache ebenso Deleuze/Guattari 1991: 122. Allerdings verfolgt Deleuze die Weiterentwicklungen des klassischen Empirismus weniger im Umfeld des sog. Empiriokritizismus als vielmehr im Kontext des Pragmatismus, z.B. bei William James. 46 | »La science ou la théorie sont une enquête, c’est-à-dire une pratique: pratique du monde apparemment fictif que décrit l’empirisme […]. Grande conversion de la théorie à la pratique.« Deleuze 1972: 65. Vgl. Deleuze 1953: 130. 47 | Vgl. ebd.: 22, 121.
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vergewissernden reinen Subjektivität. Ist bereits Deleuzes frühe Arbeit zu Hume ganz entscheidend durch die Konzeption der ›äußerlichen Relationen‹ (die von James stammt und im französischen Sprachraum durch Jean Wahl bekannt gemacht wurde) inspiriert, so wird auch in späteren Jahren und bis zuletzt die Verbindung zwischen Pragmatismus und empiristischer Immanenzphilosophie aufrechterhalten. In Was ist Philosophie? kann man lesen: »Ich ist eine Gewohnheit. Begriff gibt es überall dort, wo es Gewohnheit gibt, und die Gewohnheiten entstehen und zerfallen auf der Immanenzebene der radikalen Erfahrung: sie sind ›Konventionen‹. Deshalb ist die englische Philosophie eine freie und wilde Schöpfung von Begriffen. Eine Proposition sei gegeben: auf welche Konvention bezieht sie sich, welche Gewohnheit konstituiert deren Begriff? So lautet die Frage des Pragmatismus.« (Deleuze/Guattari 1991: 122)
Auch diese Frage nach den bedeutungskonstitutiven Handlungsfolgen von Begriffen ist eine immanente, weil sie auf eine ›grundlose‹ Praxis rekurriert, d.h. auf eine Praxis, die nicht in transzendenten Bezugspunkten von vornherein verankert, abgesichert oder durchgeplant ist.48 Kein Wunder also, dass »das in Frankreich derart verkannte philosophische Unternehmen des Pragmatismus [in Amerika] tatsächlich in einer Kontinuität mit der demokratischen Revolution« steht. (Ebd.: 120) Der Pluralismus von William James zeichnet sich nach Deleuze eben dadurch aus, auf eine Welt der Exteriorität bezogen zu sein, und d.h. auf ein fragmentarisches Sammelsurium unterschiedlicher Perspektiven, die nicht länger beanspruchen, die eine und ganze Welt durch einen internen Bezug auf eine transzendente Größe, z.B. die reine Vernunft, zu erfassen. Trotz dieser Nähe des amerikanischen Pragmatismus zu den Grundintuitionen Deleuzes bleiben einige markante Differenzen bestehen. Zum einen wird man Schwierigkeiten haben, das letztlich doch kontemplative Begriffsmodell Deleuzes mit einem pragmatistischen Begriffsverständnis 48 | Mit Deleuze gesprochen muss die (repräsentationslogische) Grundlosigkeit positiviert werden, wenn man nicht den Versuchungen der negativen Theologie erliegen will. Die abstrakte Idee der Grundlosigkeit wird in das (quasi spinozistisch verstandene) Begriffsgebilde des zureichenden Grundes verwandelt, sofern dieser nur als problematische Idee gedacht oder bestimmt werden kann. Siehe dazu unten Abschnitt IV.
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zusammen zu denken.49 Wichtiger noch ist, dass pragmatistische Autoren der mit Kant einsetzenden Veränderung der Denkungsart keine besondere Aufmerksamkeit schenken. Für Deleuze hingegen verbindet sich mit Kant und der Transzendentalphilosophie eine zeitphilosophische Wende, die auf die mit Spinoza angesprochenen Probleme der Ontologie durchschlägt. Aus diesem Grund findet auch der eigentümliche Gebrauch des Immanenzbegriffs in der Kantischen Philosophie eine dezidierte Aufnahme bei Deleuze. Die kritische Weiterentwicklung des Empirismus kulminiert bei ihm daher nicht zufällig im sog. ›transzendentalen Empirismus‹. Hiermit verbindet sich auch eine grundsätzlichere, nämlich strukturale Deutung der empiristischen Relationenlogik. Es genügt nicht, so könnte man mit Deleuze sagen, der Wissenschaft die Lebenswelt gegenüber zu stellen. Zwar folgt er dem pragmatistischen Anliegen, die Erfahrung nicht strikt erkenntnistheoretisch zu modellieren – aber aus seiner Sicht kann es nicht genügen, erstens Ereignisse und Relationen als abstrakte Wissenschaftsgegenstände aufzufassen, die dann zweitens in konkreten lebensweltlichen Kontexten situiert werden.50 Vielmehr werden Ereignisse und Relationen als strukturelle Aspekte der primären (quasi lebensweltlichen) Erfahrung aufgefasst – welche so auch den Ausgangspunkt für eine Untersuchung der wissenschaftlichen Praxis darstellt.51
49 | Zum eigentümlichen Hegelianismus des Begriffs bei Deleuze vgl. Rölli 2003: 313ff. 50 |Vgl. dazu Deweys »experimentellen Empirismus«: Dewey 1929: 128-129, 115. Zwar macht auch Dewey deutlich, dass Lebenswelt und Wissenschaft in einer immanenten Relation zueinander stehen – keineswegs wird jene dieser grundphilosophisch (wie z.B. bei Husserl) vorgeordnet –, dennoch bezieht er die mit der experimentellen Methode eingeführten Differenzierungen zunächst nur auf die Wissenschaft, die die Lebenswelt (und damit die qualitativen Erfahrungsdimensionen) dann mehr von außen und nachträglich affiziert. An diesem Punkt erweist sich Deweys Naturalismus als wenigstens partiell szientistisch. 51 | Vgl. Deleuze 1968a: 220-233.
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IV. In der transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft entwickelt Kant ein neuartiges Konzept der Idee als Vernunftbegriff. Transzendentale Ideen sind demnach »Begriffe der reinen Vernunft; denn sie betrachten alles Erfahrungserkenntnis als bestimmt durch eine absolute Totalität der Bedingungen.« (Kant 1781/²87: A 327, B 384) Einerseits beziehen sie sich auf den ganzen Verstandesgebrauch, andererseits überschreiten sie die Grenzen der Erfahrung: ihnen kann »kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden.« (Ebd.: A 327, B 383) Aus diesem Grund spricht Kant auch von dem problematischen Charakter der Ideen. Ihr objektiver Gebrauch ist stets »transzendent« – »indessen daß der von den reinen Verstandesbegriffen, seiner Natur nach, jederzeit immanent sein muß, indem er sich bloß auf mögliche Erfahrung einschränkt.« (Ebd., vgl. auch A 296, B 352-353) Diese begriffliche Unterscheidung reproduziert allerdings nicht lediglich die Differenz, die zwischen dem Gebrauch des Verstandes und der Vernunft besteht, sondern bezieht sich selbst auf einen legitimen bzw. illegitimen Vernunftgebrauch: »Also werden die transzendentalen Ideen allem Vermuten nach ihren guten und folglich immanenten Gebrauch haben, obgleich, wenn ihre Bedeutung verkannt und sie für Begriffe von wirklichen Dingen genommen werden, sie transzendent in der Anwendung und eben darum trüglich sein können.« 52 (Kant 1781/²87: A 643, B 671)
Deutlich wird hiermit, dass die metaphysischen Annahmen, die auf etwas verweisen, das nicht innerhalb der Erfahrungsgrenzen dargestellt werden kann, trotzdem einen rational begründbaren – oder wenigstens nicht zwingend widerlegbaren – Sinn haben können. Ist von einer systematischen Einheit der Einzelerkenntnisse die Rede, so liegt im regulativen Gebrauch dieser Idee eine durchaus empirische oder immanente Verwen52 | »Denn nicht die Idee an sich selbst, sondern bloß ihr Gebrauch kann, entweder in Ansehung der gesamten möglichen Erfahrung überfliegend (transzendent), oder einheimisch (immanent) sein, nachdem man sie entweder geradezu auf einen ihr vermeintlich entsprechenden Gegenstand, oder nur auf den Verstandesgebrauch überhaupt, in Ansehung der Gegenstände, mit welchen er zu tun hat, richtet.« Ebd.
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dungsweise. Entgegen den Vorstellungen der empiristischen Logik wird von Kant eine neue Bedeutung des Ausdrucks ›immanent‹ etabliert, die sich nicht auf empirisches Erkennen, sondern einzig und allein auf das Denken von Ideen bezieht. Es ist dieser Punkt der Kantischen Transzendentalphilosophie, der für Deleuze grundsätzlich wichtig wird. Die »Problem-Idee« ist aus seiner Sicht nichts anderes als die »Struktur« – und die Struktur wird in der Folgezeit durch die Begriffe der Maschine und des Immanenzplans (oder der Immanenzebene) ersetzt.53 Das Objekt der Idee, d. i. ein nicht empirisch gegebenes Objekt, kann nur in problematischer Form vorgestellt werden. Es ist »weder eine Fiktion noch eine Hypothese, noch ein Vernunftwesen: Es ist ein Objekt, das weder gegeben noch erkannt werden kann, sondern vielmehr repräsentiert werden muß, ohne daß es direkt bestimmt werden könnte.« (Deleuze 1968a: 218) In erster Annäherung verwendet Deleuze die Kantischen Begriffe ›Horizont‹ und ›Brennpunkt‹, um auf die eigentümliche Ordnungsfunktion der Ideen hinzuweisen, welche die vereinzelte Verstandestätigkeit in einen Problemzusammenhang – »d.h. die Konstitution eines einheitlichen systematischen Feldes« – einbinden.54 Eine kritische Operation von erster Bedeutung besteht nun allerdings darin, Probleme, die in der Vernunft entspringen bzw. von der Vernunft aufgeworfen werden, auf eine immanente und nicht transzendente Weise zu stellen.55 Zwar lehnt sich Deleuze an genau diesen Kritikbegriff an, gleichzeitig arbeitet er aber die Kantische Fassung des Problems um. Der immanente Gebrauch der Idee unterscheidet sich vom transzendenten nicht einfach durch ihren bloß regulativen und nicht konstitutiven (oder objektiven) Gebrauch – vielmehr kommt es darauf an, die Idee als ein »konkretes Universal« zu denken, das in der »Aufteilung des Gewöhnlichen und Ausgezeichneten« besteht. (Ebd.: 226) Die Distinktion der Idee liegt in der immanenten Bestimmung dessen, was von Rechts wegen das Problem definiert und was 53 | Vgl. Deleuze 1968a: 226, 233ff., 258f. 54 | Vgl. Deleuze 1968a: 218. »Kant sagt gerne, die Idee als Problem habe einen zugleich objektiven wie unbestimmten Wert. Das Unbestimmte ist nicht länger eine bloße Unvollkommenheit in unserer Erkenntnis oder ein Mangel im Objekt; es ist eine objektive, vollkommen positive Struktur, die als Horizont oder Brennpunkt bereits in der Wahrnehmung wirkt.« Ebd.: 218f. 55 | »Man wird erfahren, daß die falschen Probleme an einen illegitimen Gebrauch der Idee gebunden sind.« Deleuze 1968a: 217.
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nicht (z.B. im Unterschied zu den empirischen Lösungsfällen). Diese Bestimmung bildet »die Gestalt des zureichenden Grundes«, indem sie – abweichend von Kant – den Problemcharakter der Idee mit den transzendentalen Erfahrungsbedingungen zusammen denkt.56 Bei Salomon Maimon findet Deleuze den ersten Versuch, eine Idee zu denken, welche das Transzendentale mit einem genetischen Anspruch versieht. Sein »Genie liegt im Nachweis dessen, wie ungenügend der Gesichtspunkt der Bedingtheit für eine Transzendentalphilosophie ist.« (Ebd.: 223) Sofern aber das erkennende Bewusstsein auf die ideellen Bedingungen bezogen ist, liegt in der Entstehung der Erfahrung gleichzeitig ein ideelles oder strukturierendes und ein unbewusstes Moment. »Die Idee erscheint als das System idealer Verbindungen, d.h. von Differentialquotienten zwischen reziprok bestimmbaren genetischen Elementen. Das Cogito gewinnt alle Macht aus einem differentiellen Unbewußten, einem Unbewußten des reinen Denkens, das die Differenz zwischen dem bestimmbaren Ich [Moi] und dem bestimmenden Ego [Je] interiorisiert und ins Denken als solchem etwas Ungedachtes hineinlegt, ohne das seine Ausübung für immer unmöglich und leer wäre.« (Ebd.: 223f.)
Es gibt demnach eine Idee des strukturellen Unbewussten, die genau auf die wirklichen Bedingungen der Erfahrung reflektiert, d.h. auf Strukturen, die nicht abstrakt und quasi kategorial gegliedert die Erfahrung von außen determinieren, sondern die eine immanente Hervorbringung der aktuellen Gegebenheiten des Bewusstseins zu denken ermöglichen. Im Rekurs auf Bergson beschreibt Deleuze den ontologischen Status der problema56 | Vgl. Deleuze 1968a: 226. »Es besteht in der Idee […] eine innere problematische objektive Einheit des Unbestimmten, Bestimmbaren und der Bestimmung. Dies ist es vielleicht, was bei Kant nicht genügend deutlich wird: zwei der drei Momente bleiben ihm zufolge äußerliche Merkmale (wenn die Idee an sich unbestimmt ist, so ist sie nur im Verhältnis zu den Objekten der Erfahrung bestimmbar und trägt das Ideal der Bestimmung nur im Verhältnis zu den Verstandesbegriffen). Mehr noch, Kant ließ diese Momente in verschiedenen Ideen Gestalt annehmen: Das Ich ist vor allem unbestimmt, die Welt bestimmbar und Gott das Ideal der Bestimmung. Vielleicht muß man hier die wahren Gründe dafür suchen, daß Kant, wie ihm die Postkantianer vorwarfen, am Gesichtspunkt der Bedingtheit festhält, ohne den der Genese zu erreichen.« Ebd. 219.
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tischen Ideen oder Strukturen als »virtuell«. Damit ist auf eine Realität Bezug genommen, die keine aktuell gegebene ist, die aber (als strukturelle Erfahrungsbedingung) in jeder Gegenwart insistiert – z.B. als Erinnerungsgedächtnis, das allen besonderen Erinnerungsakten zugrunde liegt.57 Mit dem Abstieg in die eigentümlichen transzendentalen Regionen des Virtuellen konsolidiert sich die Immanenzphilosophie Deleuze’schen Typs. Begründet Spinoza eine Linie des Immanenzdenkens und entwickelt sich eine andere in der Tradition des Empirismus von Hume bis zu pragmatistischen Theorien einer »reinen« oder »primären« Erfahrung, so besteht eine dritte ›kritische‹ Variante, die im Anschluss an Kant dem endlichen Erkennen eine transzendentale Dimension zugrunde legt. Deleuze schlägt sich nicht auf eine der Seiten, sondern kombiniert die verschiedenen Ansätze, indem er die metaphysikkritischen Spitzen der empiristischen Skepsis mit einer (ontologierelevanten) zeitphilosophischen Neufassung der Transzendentalphilosophie verbindet. Resultat dieser Synthese ist eine verformte »Gestalt des zureichenden Grundes« spinozistischer Inspiration. Eine Vorläufertheorie dieses Immanenzgedankens findet Deleuze bei Nietzsche. Die Lehre von den Willen zur Macht entfaltet demnach paradigmatisch die Problem-Idee einer von der Zeit vollkommen durchlöcherten ›Substanz‹, die sich in allem Geschehen als bestimmende Kraft aktualisiert. Sie ist dem Bewusstsein vorgegeben – das sie nicht fassen kann, weil es sich seiner Natur gemäß an Formen und Qualitäten, beharrlichen Dingen und einfacher Selbstgegenwart festhält – als unaufhörlicher Prozess des Werdens. Diese Idee eines ›dionysischen‹ (radikal empirischen) Geschehens kann aber gedacht (bzw. in Affekten affektiv und in Phantasien phantastisch etc. erfahren) werden. Sie ist virtuell, weil sie das Aktuelle real bestimmt ohne in ihm anzukommen. Nicht auf vorgeschriebene Möglichkeiten zu reduzieren, modifiziert sie sich in jedem Moment – weil sich mit jeder Aktualisierung auch die strukturelle Ausgangssituation ändert. Selbst Gewohnheiten setzen sie voraus: virtuelle Zeitstrukturen einer 57 | Deleuze gibt zahlreiche weitere Beispiele derartiger virtueller ProblemIdeen. Viele Themen sind dabei strukturalistisch geprägt: Sprache (nach Saussure, Trubetzkoy), Gesellschaft (nach Althusser), Verwandtschaftsverhältnisse (nach Lévi-Strauss), Psyche (nach Lacan) etc. Aber alle diese Themen werden philosophisch in einem größeren Kontext diskutiert, der Auseinandersetzungen mit ontologischen und begrifflichen Fragen, mit Zeit und Wiederholung, später mit Gefügen und Machtverhältnissen u.v.m. impliziert. Vgl. ebd. 235ff., 258f.
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Wiederholungsmacht, die eingespielte Verhaltensmuster aufzubrechen vermag, sofern in ihnen etwas liegt oder versprochen wird, was sich nicht (in der Konfrontation mit sich selbst) durchhalten lässt.58 Deutlich hat Deleuze den Punkt bezeichnet, an dem Nietzsche die Substanzontologie Spinozas radikalisiert: »Die spinozistische Substanz erscheint als unabhängig von den Modi, und die Modi hängen von der Substanz ab, allerdings als von etwas anderem. Die Sub stanz müßte sich selbst von den Modi, und nur von den Modi aussagen. Eine derartige Bedingung kann nur um den Preis einer allgemeineren kategorischen Umkehrung erfüllt werden, derzufolge sich das Sein vom Werden, die Identität vom Differenten, das Eine vom Vielen usw. aussagt. […] Mit der ewigen Wiederkunft wollte Nietzsche nichts anderes sagen.« (Deleuze 1968a: 64-65)
Sagt sich das Sein vom Werden aus, so ist die Struktur des Werdens dasjenige, was gedacht werden muss oder nur gedacht werden kann. Möglich wird dies aufgrund der ›kopernikanischen Revolution‹, welche die Zeit ins Denken einführt, indem sie das Denken aus sich heraus stellt und auf (zeitlich neue und in Situationen konkret bestimmte) Probleme bezieht, die sich (von Außen) stellen. Wenn es eine Errungenschaft der Kantischen Philosophie ist, der Zeit – v.a. im Kontext des notwendigen Anschauungsbezugs der (schematisierten) Begriffe – eine folgenreiche Bedeutung beizumessen, die es unmöglich macht, zwischen dem ich denke und dem ich bin, d.h. zwischen transzendentalem und empirischem Ich, problemlos (im cartesianischen Stil) zu vermitteln, so vollendet doch erst Nietzsche die immanente Kritik, indem er die Einheit der Substanz ebenso wie die Einheit der Vernunft von dem Vielen aussagt, d.h. von Zeit-Unterschieden,
58 | An diesem Punkt ist Nietzsche eindeutig Spinozist. Besonders einsichtig ist dies im Zarathustra, wenn Nietzsche die trübsinnigen Leidenschaften und das Leben in Knechtschaft zum Thema macht, indem er die »irdischen« oder die »schenkenden Tugenden« gegen sämtliche Formen des Ressentiments, der Lebensverneinung ausspielt. Vgl. Nietzsche 1883: 42ff., 97ff. Der »Geist der Schwere« lässt den Menschen am Boden niederknien – und gibt ihm viele Lasten zu tragen, v.a. die moralischen Wertvorstellungen, bis er »weltmüde« zusammensinkt. Vgl. Nietzsche 1884: 241ff., 246ff.
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die eine perspektivistische oder pluralistische Umformung des Philosophierens insgesamt erzwingen.59 Hiermit sind wir zuletzt dort angekommen, wo wir zu Beginn anfingen – beim Entwurf einer Immanenz, die sich per se durch einen Bezug auf ein Außen auszeichnet. Das erscheint auf den ersten Blick sicher paradox. Es zeigt sich aber doch auf den zweiten, dass die Vernunft nur dann ihre traditionelle Eingeschlossenheit im rein Theoretischen aufzugeben in der Lage ist, wenn sie diese als eine Imagination der Transzendenz durchschaut. Situiert sie sich aber in der Immanenz, dann muss sie sich selbst mitsamt ihren vorphilosophischen Bedingungen auch so entwerfen, dass sie ihre Endlichkeit, Perspektivität und Abhängigkeit von Problemen mitdenkt. Strukturen, Machtverhältnisse, historisch variable Gefügeordnungen sind demnach nichts anderes als Ideen, die die niemals feststehenden Bedingungen des Vernunftgebrauchs zu bestimmen suchen. In dieser Zirkularität besteht das philosophische Abenteuer. Die Radikalität des immanenzphilosophischen Konzepts liegt aber in der konsequenten Vermeidung jedes Transzendenzbezugs. Das lässt sich abschließend mit Blick auf die Kritiken gut erläutern, die Deleuze und Guattari an den drei transzendenztheoretischen Paradigmen der neuzeitlichen Philosophie geübt haben: Kontemplation, Reflexion, Kommunikation. »Seit Descartes und mit Kant und Husserl ermöglicht es das Cogito, die Immanenzebene als ein Bewußtseinsfeld zu behandeln. Das rührt daher, daß man die Immanenzebene einem reinen Bewußtsein, einem denkenden Subjekt immanent bestimmt.« (Deleuze/Guattari 1991: 54-55)
Das Bewusstsein ist das Paradigma des neuzeitlichen Transzendenzbezugs in der Philosophie, und dies kontemplationslogisch mit Blick auf die res cogitans, reflexionslogisch mit Blick auf eine transzendentale Subjektivität und kommunikationslogisch in Bezug auf eine Denkfigur der Intersubjektivität, die zwischen einem Ich und einem anderen Ich Relationen der Transzendenz errichtet. Die cartesianische Beibehaltung supranaturalisti59 | Vgl. zum Verhältnis Nietzsche-Deleuze ausführlicher: Schrift 2009: 47-68 und Rölli 2009: 255-274. Zwischen Zeit und Ewigkeit zieht dagegen Spinoza eine rigorose Trennlinie, sofern er den zeitlich gebundenen Vorstellungsassoziationen der ersten Erkenntnisgattung die höhere Erkenntnisform »unter einem Gesichtspunkt der Ewigkeit« entgegensetzt. Vgl. Spinoza 1677: 217ff.; II, 44, Zusätze 1-2.
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scher Grundsätze – das im menschlichen Denken liegende Fundament einer zweifelsfreien Gewissheit und entsprechende Vorstellungen von Gott, Seele, Freiheit und einem Dualismus der Substanzen – wird von Spinoza exemplarisch kritisiert. Erneuert werden aber diese metaphysischen Grundsätze durch Kant: »nicht mehr die Transzendenz eines Etwas oder eines Einen, das über allem steht (Kontemplation), sondern die Transzendenz eines Subjekts, dem sich das Immanenzfeld nicht zuschreibt, ohne nicht zugleich zu einem Ich zu gehören, das sich notwendigerweise ein derartiges Subjekt vorstellt (Reflexion).« (Ebd.: 55)
Das Kantische Subjekt ordnet sich die Immanenz zu oder etabliert sich als Erfahrungsursprung, weil es eine Einheit der Vermögensleistungen a priori geltend macht. Diese Einheit ist zwar als transzendentale – und im Kantischen Sinne keineswegs als transzendente – zu begreifen, d.h. sie gibt die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung vor und liegt damit nicht selbst außerhalb der Erfahrung, gleichwohl ermöglicht sie in den Augen von Deleuze und Guattari eine »moderne Art zur Rettung der Transzendenz«. (Vgl. ebd.) Diese Rettung liegt eben darin, auf die skeptischen Überlegungen (v.a. Humes) mit einer Verlagerung der Geltungssphäre wissenschaftlicher Erkenntnisse zu reagieren, deren Objektivität nunmehr im Rekurs auf subjektive Urteilsformen und Wahrnehmungsbedingungen gewährleistet wird – im Bereich des mundus sensibilis bzw. der Welt der Erscheinungen und nicht der Dinge (an sich). Wie gesehen, wird diese Kantische Position durch philosophische Entwicklungen konterkariert, die die methodische Entgegensetzung von begründungslogischen und konstitutionsgenetischen Überlegungen aufheben bzw. anders konzipieren.60 Mit der Ausarbeitung einer philosophischen Psychologie steht Nietzsche in einer Traditionslinie des skeptischen Postkantianismus, wenn er den unbedingten Status der Vernunft bei Kant herausstreicht und kritisiert. Ihre privilegierte Stellung im System der Wissenschaften beruht demzufolge auf einer erkenntnistheoretischen Modellierung, welche die Geltung synthetischer Urteile a priori mit dem (pragmatisch motivierten) Glauben 60 | Problematisiert wird (im bunten Stimmengewirr des Postkantianismus nach 1800) die strikte Trennung der Bereiche Ästhetik-Analytik-Dialektik und damit zusammenhängend die Grundgegensätze zwischen Theorie und Praxis, Ding an sich und Erscheinung, reines und empirisches Wollen.
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an diese Geltung verwechselt.61 Dem korrespondiert im Bereich der praktischen Philosophie ein Moralkonzept, das auf die metaphysische Qualität des reinen vernünftigen Willens und seiner grundsätzlichen Freiheit, sich selbst zu bestimmen, vertraut. Dieses ist aber in sich nihilistisch verfasst, weil es mit der moralischen Entwertung der nicht-selbstzweckhaften, d.h. bloß instrumentellen Handlungen mitsamt ihrer an sog. »niedere« Erkenntnis- und Begehrungsvermögen geknüpften Empirie einhergeht.62 Man wird sicher sagen können, dass Nietzsche die vonseiten der Pragmatisten geäußerte Kritik der Kantischen Moral in den Grundzügen vorwegnimmt.63 In einer letzten Zuspitzung verlagert sich die Transzendenz in die Selbstüberschreitungsformen der Subjektivität selbst, die sich auf Anderes bezieht, das es nicht selbst ist. »Zu diesem Augenblick der Moderne begnügt man sich nicht mehr damit, die Immanenz in einem Transzendenten zu denken, man möchte die Transzendenz im Innern des Immanenten denken, und man erwartet gerade von der Immanenz einen Riß.« (Deleuze/Guattari 1991: 55-56)
61 | Vgl. Nietzsche 1886: 25. 62 | Vgl. ebd.: 16f., 31f. Vgl. auch Nietzsche 1883: 74-76. 63 | Es lässt sich hinzufügen, dass hiermit gegen die ›theoretizistischen‹ Grundlagen der Kantischen Philosophie die empiristische Skepsis wieder belebt und erneuert wird. Auch sind leicht spinozistische Motive in Nietzsches Ablehnung der Kantischen Moralphilosophie auffindbar – sofern eben die ethische Deutung des Wiederkunftgedankens mit einer Versöhnung von Vernunft (als Organ der intellektuellen Redlichkeit) und Glückseligkeit zusammenstimmt. Nur zu wollen und zu wünschen, was ewig wiederkehrt, impliziert die Tilgung des schlechten Gewissens und aller Schuld- und Ekelgefühle am Dasein, d.h. die Erreichung eines Maximum an Lust, Freude, Genuss und Lebensbejahung. Zu diesem Zweck ist es nötig, die immanente Bestimmung oder die natürlichen Ursachen der Affekte kennen zu lernen, so dass es möglich wird, die Lebensaktivität zu steigern – und die bloße Hinnahme von Gefühlen, Lebensumständen, Verhaltensgewohnheiten etc. zu minimieren. »Das Vergangne am Menschen zu erlösen und alles ›Es war‹ umzuschaffen, bis der Wille spricht: ›Aber so wollte ich es! So werde ich’s wollen – Diess hiess ich ihnen Erlösung.« Nietzsche 1884: 249. Vgl. auch Nietzsche 1882: 521.
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Husserls Intentionalität, Heideggers Transzendenz des Daseins oder der Dinge und überhaupt die Konzeption der Intersubjektivität oder der »Mitwelt«, die sich am kommunikativen Ideal einer Beziehung zwischen Ich und Anderem orientiert, – das Ich ist nur Ich, weil es in seinem Wesen liegt, sich auf ein anderes Ich hin zu überschreiten, von dem es z.B. begehrt, begehrt zu werden (frei nach Kojève) – repräsentieren diese letzte Form einer ursprünglichen Transzendenz, die sich auf fertig vorgegebene Ich-Entitäten bezieht und deren Weltabgeschnittenheit sie kompensiert.64 Nichts scheint einfacher und natürlicher zu sein als der phänomenologische Glaube an die Dinge, auf die hin sich das menschliche Bewusstsein wesensmäßig überschreitet. Fehlt dieses (von Heidegger als ›ekstatisch‹ bezeichnete) Aus-sich-heraus-treten, so scheint sich die Existenz quasi egologisch in sich selbst einzuschließen. Typischerweise spricht Sartre in diesem Zusammenhang von der empiristischen »Immanenz-Illusion«, wenn die intentionale Struktur der Vorstellung verkannt wird. (Sartre 1940: 45ff.) Hume wäre demnach der absurden Ansicht gewesen, dass die »Vorstellung eines Stuhls« und »ein Stuhl im Bewusstsein« dasselbe sind. (Ebd.: 46) Schließlich habe er zwischen einer einfachen Vorstellung als solcher und einer Vorstellung von einem wirklichen Gegenstand nicht unterschieden. Diese phänomenologische Auffassung von einer objektiven Referenz des intentionalen Bewusstseins ist mit sprachphilosophischen Positionen insofern vereinbar, als gerade die traditionellen erkenntnistheoretischen Probleme auf mentalistische Verirrungen und Fixierungen zurückgeführt werden können.65 Diesem breiten Strom von Meinungen und Überzeugungen (der sprachanalytischen, phänomenologisch-existenzialistischen, anthropologisch-hermeneutischen und dialektischen, kommunikationsoptimistischen Denkschulen) widersetzt sich Deleuze, indem er das ›Postulat der Referenz‹ mit dem phänomenologischen ›Modell der natürlichen Wahrnehmung‹ verbindet – und davon eine immanenztheoretische Wahr64 | Vgl. Deleuze, Guattari 1991: 55 – und zu ihrer exemplarischen Diskussion des Jaspersschen Begriffs des »Umschließenden« ebd.: 56. 65 | Moderne Bedeutungstheorien, die entweder gegenstandstheoretisch oder auf den normalen Sprachgebrauch ausgerichtet sind, unterscheiden sich bekanntlich von älteren repräsentationslogischen Ansätzen, die in der Sprache lediglich ein Mittel anerkennen, im Bewusstsein bereits fertig konstituierte ›kognitive Gehalte‹ oder ›qualitative Bilder ohne Ausdehnung‹ zu artikulieren.
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nehmungskonzeption unterscheidet.66 Vielleicht wird hier das ›Alleinstellungsmerkmal‹ des Deleuze’schen Philosophierens besonders gut sichtbar: mit der Immanenz beginnen …, von einer »universellen Veränderlichkeit« ausgehen, d. i. »ein Materiestrom, in dem kein Verankerungspunkt oder Bezugszentrum angebbar wäre.«67 (Deleuze 1983: 86) Mit Bezug auf Bergson spricht Deleuze von den »Bewegungsbildern«, die als »Darstellungen der Immanenzebene« weder geistige noch materielle Seinsweisen sind. Eher noch lassen sie sich als filmische bezeichnen, weil sie »das Subjekt aus seiner Verankerung ebenso wie von der Horizontgebundenheit seiner Sicht der Welt« befreien, indem die normalen Wahrnehmungsbedingungen außer Kraft gesetzt werden.68 »Das Auge ist in den Dingen« – oder »es sind die Dinge, die aus sich selbst leuchten«: Das Bewusstsein fällt mit dem zusammen, was erscheint. (Deleuze 1983: 90) In diesem Sinne ist es ein primärer und ichloser Bewusstseinsstrom, ein »unpersönliches transzendentales Feld«, das die prozessuale Voraussetzung jedes faktischen Bewusstseins ausmacht. (Deleuze/Guattari 1991: 56-57) Diese Faktizität ist somit ein sekundäres Phänomen. Es bildet sich, weil Lebewesen bestimmte »äußere Wirkungen, die ihnen gleichgültig sind«, außer Acht lassen und nur dasjenige im Blick behalten, was sie ihren Bedürfnissen entsprechend interessiert. (Deleuze 1983: 91) Anders gesagt, kann ausgehend von der »automatischen Anordnung der Bewegungsbilder« – bei 66 | Vgl. dazu den fulminanten zweiten Bergson-Kommentar im ersten der KinoBücher: Deleuze 1983: 84-102. 67 | »Dieser Materiezustand ist zu heiß, als daß man noch feste Körper unterscheiden könnte. Es ist eine Welt universeller Veränderlichkeit, universeller Wellenbewegung, des universellen Plätscherns: in ihr gibt es weder Achsen noch Zentrum […]. Eine solche unbegrenzte Menge aller Bilder wäre gewissermaßen die Ebene der Immanenz. Das Bild existierte an sich, auf dieser Ebene. Dieses An-sich des Bildes ist die Materie: nicht irgendetwas, was hinter dem Bild verborgen wäre, sondern im Gegenteil die absolute Identität von Bild und Bewegung.« Ebd.: 87. 68 | »Nun sind diese Bedingungen existentielle Koordinaten, die eine ›Verankerung‹ des wahrnehmenden Subjekts in der Welt definieren, ein In-der-Weltsein, eine Öffnung zur Welt, die sich in dem berühmten ›alles Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas‹ ausdrücken wird.« Deleuze 1983: 85. Vgl. zum Verhältnis Deleuze-Bergson in immanenztheoretischer Perspektive Ansell-Pearson 2001: 412-441.
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ihnen handelt es sich »nicht mehr um ein mechanisches, sondern [um] ein maschinelles Weltbild« – gezeigt werden, »wie sich an irgendwelchen Punkten Zentren bilden, an denen sich feststehende Momentbilder aufdrängen«. (Ebd.: 88, 86) Das von Sartre gestellte Problem einer Immanenz-Illusion löst sich also in einer unerwarteten Weise. In immanenztheoretischer Sicht gibt es ein zweifaches Bezugssystem der Bilder – einerseits den maschinellen Prozess des Bildbewusstseins, andererseits das faktische Wahrnehmungsbewusstsein. »Das Ding und die Wahrnehmung des Dings sind ein und dasselbe […] Bild«, das aber erstens – hier redet Deleuze von »Ding« – in unmittelbaren Relationen zu allen anderen Bildern steht und zweitens – im Sinne von »Wahrnehmung« – in einer privilegierten Beziehung zu einem bestimmten anderen Bild steht, »von dem es begrenzt wird, dessen Wirkung es nur in begrenztem Maße aufnimmt und auf das es nur mittelbar reagiert.«69 (Ebd.: 93) Die Welt krümmt sich um das subjektive Wahrnehmungszentrum herum, das als sekundäres Moment im universellen Geschehen entstanden ist – und sich nur fälschlicherweise als Ursprungsort aller Dinge begreift. Diese Verkehrung der Verhältnisse korrespondiert genau mit der Einführung der Transzendenz, welche vermeintliche Evidenzen, das Subjekt hier und die Objekte dort, zu absoluten Gewissheiten verklärt. Ich fasse zusammen: Mit der Ausarbeitung der Immanenz verbindet Deleuze den Anspruch, das Verhältnis zwischen Philosophie und Nicht-Philosophie neu zu bestimmen. Zu diesem Zweck verbindet er spinozistische, empiristische und transzendentalphilosophische Theorielinien – in einer insbesondere von Nietzsche exemplifizierten Art und Weise. Einer virtuellen ersten Natur maschineller Verkettungen unendlich komplexer Werdensprozesse steht eine aktuelle zweite Natur gegenüber, die von jener ersten immanent hervorgebracht wird. Mit der Aufrichtung metaphysischer Ideale werden gleichzeitig einzelne (sekundäre) Ergebnisse zum ursprünglichen (transzendenten) Ausgangspunkt z.B. ontologischer Betrachtungen erklärt. Die Frage liegt auf der Hand: In welchem Sinne liegt in der Immanenz selbst eine Überschreitungsfigur, die (philosophische) Öffnung auf 69 | Die Dinge sind demnach totale Erfassungen oder Prehensionen, wie Deleuze mit Whitehead sagt, die Wahrnehmungen hingegen sind partielle oder subjektive Erfassungen. Vgl. Deleuze 1983: 94.
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ein (nicht-philosophisches) Außen? Deleuzes Antwort ist zugleich einfach und paradox: Die Identität der Philosophie konstituiert sich in der Auseinandersetzung mit dem, was sie nicht ist – indem sie ein Bild der Bedingungen entwirft, die sie selbst möglich machen. Diese Bedingungen sind einerseits nicht-philosophisch vorgegebene und im Wandel befindliche, andererseits können sie in philosophietypischer Weise entworfen oder gedacht werden. Philosophische Theoriemodelle – Strukturen, Dispositive oder Gefügeordnungen – sind demzufolge als Denkformen möglich, die entweder auf die nicht-philosophischen (z.B. technischen) Bedingungen philosophischer Themen reflektieren oder eine philosophische Beschreibungsmöglichkeit nicht-philosophischer Zusammenhänge (z.B. sozialer Machtverhältnisse) entwickeln. Wäre die Philosophie sich selbst genug, dann würde sie auf eine Transzendenz bauen, die verhinderte, dass sie sich mit ›unwesentlichen Dingen‹ beschäftigen müsste, die etwas anderes als sie selbst bedeuteten. Das philosophische Denken ist aber nicht in sich eingeschlossen, weil und sofern es mit Problemen zu tun hat, die sich von Außen stellen und die seine eigenen Bedingungen mit betreffen.
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Zweierlei Vitalismus Überschreitung – Normativität – Differenz Maria Muhle
Die Diskussion um Gilles Deleuzes Vitalismus und ganz allgemein um den Vitalismus wird vermehrt im Hinblick auf eine Politik geführt, die sich mit einer organischen oder nicht-organischen Kraft des Lebens verbinden soll. Während die politischen und wissenschaftshistorischen Konsequenzen einer organischen Lesart die Verschaltung von lebenswissenschaftlicher Forschung und ethischen Debatten zur globalen Lebens- und Menschenführung umfassen, bringt der nicht-organische Vitalismus eine Widerständigkeit ins Spiel, der in ihrer minoritären Ausformulierung gerade in gesellschafts- oder globalisierungskritischen Diskussionen besondere Aufmerksamkeit gilt und als eine positive Ausformulierung von Michel Foucaults Begriff der Biopolitik gelesen wird. Deleuze selbst, so könnte man jedoch behaupten, hat sich expliziter Äußerungen über die Verbindung von Vitalismus bzw. Leben und Politik enthalten. Das Leben verweist in Deleuzes Denken zwar immer wieder und nicht zuletzt in Anlehnung an Nietzsches Willen zur Macht auf zentrale Begriffe wie Werden, Widerstand oder Kraft, nichtsdestotrotz gibt es keine genuin politische Ausformulierung dieser Konstellation. Dies geschieht vielmehr in Deleuzes Auseinandersetzungen mit Foucaults Machtanalyse, in die er eine positive Wendung einzuschreiben sucht. Um sich dieser Konstellation theoretisch zu nähern, soll im Folgenden dasjenige Verständnis von Leben in den Blick genommen werden, das den reformulierten Vitalismus von Deleuze informiert. Widersprochen werden soll dabei der Annahme, dass hier ein Ausweg aus der angeblichen »Sackgasse« von Foucaults omnipräsenten Machtstrategien zu finden ist.
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Hierfür soll der Deleuze’sche Vitalismus mit einem ebenfalls reformulierten Vitalismus im Denken von Georges Canguilhem konterkariert werden, um zu zeigen, dass es vielmehr der Canguilhem’sche Lebensbegriff ist, der für ein Verständnis von Foucaults Analysen der Biopolitik als Macht über das Leben maßgeblich ist, da er die interne Verstrickung von Macht und Leben nachvollziehbar werden lässt.
D as L eben – ein polemischer B egriff »Schaffen heißt nicht kommunizieren, sondern widerstehen. Es gibt eine tiefe Verbindung zwischen den Zeichen, dem Ereignis, dem Leben, dem Vitalismus. Es ist die Gewalt eines nicht organischen Lebens, wie sie in der Linie einer Zeichnung, einer Schrift, einer Musik liegen kann. Es sind die Organismen, die sterben, nicht das Leben. […] Alles, was ich geschrieben habe, war vitalistisch, zumindest hoffe ich es […].« (Deleuze 1993: 208f.)
In dem Essay »Die absolute Immanenz« weist Giorgio Agamben darauf hin, dass weder Foucault noch Deleuze eine Definition des Lebensbegriffs vornehmen, obgleich dieser in ihrem Denken eine zentrale Stellung einnimmt. Anlass für diese Aussage sind ihm speziell zwei Texte, die sich zunächst dadurch auszeichnen, dass es sich jeweils um den letzten zu Lebzeiten seines Autors zum Druck freigegebenen Text handelt: Foucaults Umarbeitung seiner 1978 erschienen Einleitung zur englischen Ausgabe von Canguilhems Schriften, die 1985 (also ein Jahr nach Foucaults Tod) unter dem Titel »La vie: l’expérience et la science« in der Revue de Métaphysique et de Morale publiziert wird, und Deleuzes kurzer und mysteriöser Text »Die Immanenz: Ein Leben…«, der zwei Monate vor seinem Tod im Jahr 1995 in der Zeitschrift Philosophie abgedruckt wird. Eine »bemerkenswerte Fügung« sieht Agamben in der Tatsache, dass sich beide Texte, so kurz vor dem Tod ihrer Autoren, mit dem stets vage und unbestimmt gebliebenen Begriff des Lebens beschäftigen. Foucaults Text zeugt gar von einer »merkwürdigen Umkehrung des Blickwinkels auf die Idee des Lebens« (Agamben 1998: 80), das nicht mehr, wie noch in der Geburt der Klinik, mit Xavier Bichat als »Gesamtheit der Funktionen, die dem Tod widerstehen« verstanden wird, sondern nun in Anlehnung an Canguilhem als wesentlich auf den Irrtum bezogen. Diese Umkehrung markiert nicht allein eine epistemologische Verschiebung oder »Zurechtrückung«,
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sondern vielmehr »eine neuerliche Verrückung der Erkenntnistheorie, die diesmal auf ein völlig unberührtes Feld führt«, insofern hier Erkenntnis nicht auf die Öffnung zur Welt und zur Wahrheit bezogen ist, sondern »einzig auf das Leben und sein Umherirren«, d.h. auf seine Irrtümer (ebd.: 81). Agamben legt nahe, dass die Entdeckung dieses Feldes nicht nur werkchronologisch mit dem Beginn der Untersuchungen zur Biopolitik zusammenfällt, sondern zudem jene von Deleuze bestimmte dritte Achse in Foucaults Denken ist, die Achse des Subjekts, die erst mit der ›Krise‹ nach der Veröffentlichung des ersten Teils der Geschichte der Sexualität zutage tritt und auf die Möglichkeit einer positiven Kraft abzielt, derer Foucault »laut Deleuze zu jener Zeit so sehr bedurfte« (ebd.). Diese positive Kraft wäre in jenem Begriff des Lebens zu verorten, der in Foucaults Text über Canguilhem vorgestellt wird. Ein solches Verständnis von Leben als positive Kraft ist gleichermaßen zentral für Deleuzes Text, dem Agamben sich im Anschluss zu wendet. Hier wird ein Leben im Sinne einer radikalen Singularität und Unbestimmtheit verhandelt, die Deleuze als Individuierung quasi-ontologisch versteht, und die sich so von der Unbestimmtheit bzw. Bestimmbarkeit des Lebens bei Foucault unterscheidet, dem das Leben Korrelat von Machttechniken und Wissenspraktiken ist. Bei Deleuze hingegen ist das unbestimmte und unpersönliche Leben ein Prozess unendlicher Differenzbildung, es ist Schöpfung und damit Widerstand. Agamben legt jedoch hier nahe, dass Deleuze mit einem Leben als Differenzbildung, als Werden, einen Ausweg aus Foucaults Dilemma der Omnipräsenz der Machtstrukturen eröffnet; einen Ausweg, den Foucaults selbst, laut Agamben, in Canguilhems Lebensbegriff zu finden scheint, der gleichermaßen als überschreitende Dynamik zu verstehen ist: Für Canguilhem ist das Leben wesentliche normativ, d.h. Normen schaffend, und bildet sich in der Polarität zwischen einer selbsterhaltenden und einer selbstüberschreitenden Dynamik aus. Sowohl Deleuze als auch Canguilhem (und damit indirekt Foucault) vertreten in diesem Sinne eine Form von reformuliertem Vitalismus, der Leben als produktives, schöpferisches und überschreitendes Prinzip versteht. Gleichwohl unterscheiden sich ihre Konzeptionen dahingehend, dass Canguilhems Vitalismus wesentlich über die »Polarität des Lebens« bestimmt ist, d.h. über die Tatsache, dass allein die Auseinandersetzung mit den negativen Werten wie Tod, Krankheit und Anomalie die genuin normative, also Normen schöpfende Dynamik des Lebens anstößt. Der Irrtum, die Abweichung, das Fehlgehen werden derart zu Instanzen pro-
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duktiver Negativität für das Leben. Deleuzes Vitalismus hingegen ist differenztheoretisch zu fassen: Die lebendige Dynamik kommt hier durch Differenzbildung zustande, d.h. durch Unterscheidungen, die nicht über Negation (gar über negative Werte) getroffen werden.1 Damit teilen diese beiden Formen des Vitalismus eine Bewegung der Überschreitung, die als Selbstüberschreitung des Lebens konkret wird; gleichwohl gestaltet sich diese jeweils anders, denn während sie bei Canguilhem nur in intrinsischer Auseinandersetzung mit der normativen und derart negativen Dimension des Lebens möglich ist, nimmt Deleuze eine negationsfreie überschreitende Bewegung an, in der das Leben derart unbestimmbar wird, dass es sich jeder Zuordnung entzieht. Die Untersuchung dieser zwei Formen von Vitalismus zielt auf eine Kritik an einer Interpretation von Deleuzes Denken ab, die die Dynamik seines unbestimmten Lebens als dem Leben inhärente Widerständigkeit gegen postsouveräne Formen der Macht liest. Eine solche Interpretation muss die widerständige Dynamik jedoch von den Machtmechanismen entkoppeln und macht so eine ausschließlich externe Beziehung von Leben und Macht denkbar. Mit dem Ziel, politischen Widerstand im Leben zu begründen, wird hier eine von der Macht über das Leben unkontaminierte Politik des Lebens postuliert, die die zwei Pole des Lebens – verkürzt gesagt, seine organische und seine organlose Dimension – auseinanderreißt und derart, so die These, seine eigene politische Relevanz unterläuft. Denn für ein Verständnis von Gegen-Bewegungen innerhalb einer post-souveränen Machtkonstellation ist die innere (und produktive) Verbindung von Macht und Leben, so wie Foucault sie im Anschluss an Canguilhems normativen Lebensbegriff denkt, zentral.
1 | Deleuze greift für seine Bestimmung des Vitalismus bekanntermaßen Henri Bergsons Kritik der Negation in der Schöpferischen Entwicklung auf, die grundlegend für den philosophischen Versuch ist, Differenzbildung jenseits von Negation, jenseits von sich ausschließenden Gegensätzen, zu denken. Vgl. zum Begriff der negationsfreien Unterscheidung bei Deleuze Baecker 1996.
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D as P rimat des B egehrens Deleuze thematisiert den Bezug von Leben und Macht fast ausschließlich in seinen Auseinandersetzungen mit Foucaults Machtanalyse, die er jedoch einer positiven Wendung zu unterziehen sucht. So in dem kurzen Aufsatz »Das Leben als Kunstwerk«, der, ähnlich den meisten Kommentaren zu Foucault, den Bezug von Subjektivität und Macht im Hinblick auf die »schöpferische Krise« nach dem Erscheinen von der Wille zum Wissen im Jahr 1976 diskutiert, in der Foucault sich über die lauernde Gefahr, »sich in den Machtverhältnissen einzuschließen« (Deleuze 1993: 142), klar geworden sei. Die Subjektivierungsprozesse, d.h. das Überschreiten der Kräfteverhältnisse (der Macht), beschreibt Deleuze als ein Beugen der Kräfte, die man dazu bringen muss, »sich selbst statt andere Kräfte zu affizieren: für Foucault eine ›Faltung‹, ein Kräfteverhältnis mit sich selbst«, (ebd.: 143) das in der Ästhetik der Existenz als »Sorge um sich« aufgenommen wird. Subjektivierung als Produktion einer Existenzweise ist, so Deleuze, weder mit dem »Subjekt« noch mit der »Person« zu verwechseln: »sie ist eine – einzelne oder kollektive – Individuierung, die ein Ereignis charakterisiert (eine Stunde des Tages, einen Fluß, einen Wind, ein Leben…).« (Ebd.) Die Einschreibung von einem Leben als positive Wendung in Foucaults Machtanalyse, die in dem Gespräch mit Didier Eribon aus dem Jahr 1986 besonders eindeutig hervortritt, wird schon in dem früheren Text »Begehren und Lust« von 1977 (also lange vor der ›Wende zum Subjekt‹), diskutiert. Besonders auffällig ist in diesem Text die Formulierung einer klaren Vorgängigkeit der Fluchtlinien gegenüber der Machtphänomene, die in flagrantem Gegensatz zu der von Foucault formulierten wechselseitigen Bedingtheit von Macht und Gegen-Macht steht. In den kurzen an Foucault gerichteten Anmerkungen thematisiert Deleuze explizit die Unterschiede seines Denkens zu dessen Machttheorie, wobei er besonders auf die Überlegungen zum Begriff der Biopolitik aus Der Wille zum Wissen rekurriert.2 Aufschlussreich sind diese Unterschiede vor allem mit Blick auf die Problematisierung der gegenseitigen Bedingtheit von Macht und Widerstand – als, Foucault zufolge, gegenläufige Dynamiken –, bzw. derjenigen von Organisations- und Konsistenzebene: Denn von der Art dieser Beziehung scheint die Möglichkeit eines Widerstands abzuhängen, der in einer von jeglicher Organisation, sei sie biologischer 2 | Vgl. Deleuze 1996a: 230-240.
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oder staatlicher Art, scheinbar unkontaminierten Lebenskraft verortet wird. Eine solche Unkontaminiertheit des Lebens hat jedoch in Deleuzes Denken zumindest einen komplexen Status, denn Deleuze nimmt zwar eine widerständige Kraft an und schreibt diese (in Absetzung zu Foucault) ins Leben ein, zugleich ist ihm das Leben hier (wie Foucault) nur in Verstrickung mit der Macht denkbar. So schreibt Agamben: »Wie Foucault ist sich auch Deleuze völlig darüber im klaren, daß ein Denken, das sich das Leben zum Gegenstand macht, diesen Gegenstand mit der Macht teilt und sich mit ihren Strategien auseinanderzusetzen hat.« (Agamben 1998: 108f.) Zugleich folgert Deleuze, er selbst habe, im Gegensatz zu Foucault, »kein Problem mit dem Status der Widerstandphänomene«, (Deleuze 1996a: 236) insofern er eine Nachträglichkeit der Organisation, Stratifizierung, Codierung und Reterritorialisierung annimmt, die er als »normierende« Dynamik der Macht im Sinne Foucaults liest. Die Fluchtlinien hingegen – die Begehrensgefüge (agencements de désir) – sind die »ersten Bestimmungen«, das Begehren fügt das soziale Feld zusammen und gliedert (agence) es, während die Machtdispositive von den Gefügen oder Verkettungen erzeugt, hervorgerufen werden. Doch unterstreicht Deleuze, dass sie diese zugleich auch erdrücken und dämmen, d.h. dass Begehrensgefüge und Stratifizierungen zueinander in einem Wechselverhältnis stehen. Die Gesellschaft bestimmt sich laut Deleuze zuerst darüber, dass alles »flieht«, dass alles von Fluchtlinien durchzogen ist, dass sich in ihr alles deterritorialisiert. Damit ist sie immer auch von widerständigen Kräften durchzogen, die sich der Organisation der Organe im staatlichen oder biologischen Organismus, den ordnenden, disziplinär-biopolitischen Machtstrategien entziehen und ob ihrer Vorgängigkeit für diese nicht greifbar sind. Deleuze nimmt Foucaults Verständnis des direkten Bezugs der Machtdispositive auf den Körper zwar auf, sieht diesen aber zugleich als Gefüge von Körpern und organlosen Körpern, als eine Topologie, auf der sich die Verstrickung von Immanenzebene und Machtdispositiven, Deterritorialisierung und Reterritorialisierung, Organisation und Individuierung abspielt: »Während der organlose Körper Ort oder Agens der Deterritorialisierung (und damit Immanenzebene des Begehrens) ist, vollziehen alle Organisationen, das ganze System dessen, was Michel ›Bio-Macht‹ nennt, Reterritorialisierungen des Körpers.« (Ebd.: 238) Deleuze überträgt die Verstricktheit von Macht und Leben der Foucault’schen Biomacht derart in sein eigenes Vokabular und legt damit
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eine Verbindung eines Lebens (oder organlosen Körpers) mit der Stratifizierungs- bzw. Organisationsebene nahe. Zugleich kritisiert er jedoch Foucaults Machtverständnis dafür, dass in ihm eine genuin schöpferische, d.h. widerständige Dynamik nicht möglich ist. Denn während für Deleuze die Strategie gegenüber den Fluchtlinien immer sekundär ist, sind für Foucault die Machtdispositive konstituierend, widerständige Strategien hingegen nachträglich und daher immer von der Macht einholbar. Diese Nachträglichkeit ist es, die Deleuze als Foucaults Problem der Widerstandsphänomene bezeichnet, das er selbst mit der Annahme des Primats des Begehrens aus dem Weg geräumt hat, denn jene Lebendigkeit, die zu immer neuen und immer unvorhersehbaren Verkettungen und Gefügen tendiert, geht den Machttechniken voraus (wenn auch nicht chronologisch, so doch logisch). Damit, so muss man schlussfolgern, scheint jedoch auch die Verbindung von Immanenzebene und Machtdispositiven, Deterritorialisierung und Reterritorialisierung, Organisation und Individuierung ein rein externe, weil nachträgliche: Der Körper und der organlose Körper stehen bei Deleuze in einer externen Beziehung, während bei Foucault Körper und Disziplinen, Leben und Biopolitik nur intern miteinander verbunden möglich sind, insofern sie sich permanent wechselseitig produzieren. Gleichwohl bedeutet diese wechselseitige Bedingtheit der Machtstrategien und ihrer Subjekte bei Foucault nicht deren radikale Ohnmacht: Denn der Widerstand kann nur aus der Macht heraus und in intrinsischer Verbindung mit ihr als Gegen-Bewegung entstehen – der Widerstand ist der »Weggefährte der Macht«. (Foucault 1977: 547) Mit der Frage nach dem Verhältnis (der Vorgängigkeit bzw. Nachträglichkeit) dieser zwei Mechanismen oder Pole (Macht und Widerstand) ist ein wesentlicher Einsatz für das Denken des Politischen benannt, das hier über seinen Bezug auf das Leben verhandelt werden soll. Paradigmatisch wird dieser Bezug als Relation von Norm und Leben, wenn auch in explizit nicht politischer (bzw. sozialer), sondern ausschließlich vitaler Hinsicht, in Canguilhems Schriften zum Lebensbegriff: Canguilhem reformuliert hier einen Vitalismus, dem Leben eine genuin normative Dynamik ist, d.h. ein sich selbst seine eigenen Normen setzender Prozess, in dem Selbsterhaltung und Selbstüberschreitung untrennbar miteinander verbunden sind.
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D ie I rrtümlichkeit des L ebens In dem bereits erwähnten Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Canguilhems Das Normale und das Pathologische bezeichnet Foucault die Frage des Vitalismus als einen »Indikator« in der Geschichte der Biologie, und zwar in zweierlei Hinsicht: Einerseits ist der Vitalismus ein theoretischer Indikator für Probleme, die es in Bezug auf die allgemeine Bestimmung der Originalität des Lebens zu lösen gilt; andererseits ist er kritischer Indikator für zu vermeidende Reduktionen, die verkennen, dass die Wissenschaften vom Leben nicht ohne »eine bestimmte Wertposition auskommen, die die Erhaltung, die Regulierung, die Anpassung, die Fortpflanzung markiert«. (Foucault 1987: 562) Damit sind zwei zentrale Begriffe für eine Bestimmung des Vitalismus genannt: die Originalität des Lebens (die auf seiner Irrtumsanfälligkeit gründet) und seine Wertebezogenheit, d.h. seine normative Dimension. Vitalismus ist eine Untersuchung des Lebens, die die wesentliche Normativität oder Wertebezogenheit des Lebens hervorhebt, er ist »eher eine Moral als eine Theorie«. (Canguilhem 2009: 158) Deleuze radikalisiert diese Reformulierung, insofern ihm der Vitalismus die Möglichkeit eröffnet, die tradierte Alternative zwischen einer auf transzendenten Werten begründeten Moral und dem nihilistisch-relativistischen Amoralismus zu umgehen: Die Vitalität des Lebens ist in Absetzung hiervon jene Lebensform, in der das Leben sich selbst will. Oder, in den Worten Canguilhems: in der das Leben sich selbst der höchste vitale Wert ist. Derart nietzscheanisch als Umwertung aller Werte reformuliert, lässt der Vitalismus jene wissenschaftsgeschichtlich bedeutende Alternative hinter sich, die sich um 1800 herauskristallisiert: die Alternative zwischen der Zurückweisung des klassischen Mechanismus, der das Leben durch die Annahme mechanischer, d.h. starrer und unveränderlicher Gesetzmäßigkeiten zu erklären sucht, und der irrationalistischen Annahme eines mystischen, alles erklärenden und nicht erklärbaren Lebensprinzips, das in letzter Instanz gleichbedeutend mit der Durchsetzung unveränderlicher Gesetzmäßigkeiten ist. Canguilhem stellt in seinen Untersuchungen einen Vitalismus vor, der sich jenseits dieser Alternative verortet und als Erkenntnis der »lebendigen Tatsache« (fait vital) das Leben in seiner spezifischen inneren Dynamik, d.h. als Lebendiges, aus dem Leben heraus und einer inneren Herausforderung folgend untersucht. Die Vitalität des Vitalismus belegt Canguilhem mit der biologischen Diskussion um das Leben, die sich ent-
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lang unterschiedlicher Antagonismen bewegt und sich so als eine geteilte und oszillierende Theorie artikuliert.3 Dieses permanente Oszillieren gilt ihm als Ausdruck einer unerkannten Dialektik, deren »dialektische Essenz« der Untersuchungsgegenstand, d.h. das Leben selbst ist – indem das Denken seine Struktur annimmt, wird es lebendiges Denken. Ganz im Sinne von Foucaults Bestimmung des Gegensatzes zwischen Vitalismus und Mechanismus als Oberflächenphänomen erklärt auch Canguilhem: »Das Leben geht über die Gegensätze von Mechanismus und Vitalismus, Präformation und Epigenese hinaus und setzt sich bis in die Theorie des Lebens hinein fort.« (Ebd.: 154)4 Weder Mechanismus noch klassischer Vitalismus, sondern nur eine Theorie des Lebens kann das Leben in seiner spezifischen Dynamik, als lebendige Tatsache, erkennen. Diese spezifische, lebendige Dynamik entsteht, wie Canguilhem im Anschluss an Xavier Bichat zeigt, in der Fähigkeit des Lebens zum Irrtum, durch die es sich radikal von einer starren mechanistischen Erklärung unterscheidet. Bichat bestimmt in seinen Recherches physiologiques sur la vie et la mort das Leben als Widerstand (résistance) gegen die organischen und anorga3 | Mechanistische und vitalistische Erklärungen sind sich uneinig in Bezug auf das Problem von Strukturen und Funktionen des Lebens; Theorien der Kontinuität und Diskontinuität in Bezug auf die Aufeinanderfolge der Formen des Lebens; die Vertreter von Präformation und Epigenese in Bezug auf die Entwicklung des Seins und jene von Atomizität und Totalität in Bezug auf das Problem der Individualität. Vgl. Canguilhem 2009: 153. 4 | Neben seiner Vitalität verhandelt Canguilhem noch zwei weitere »Aspekte des Vitalismus«: seine Fruchtbarkeit und seine Ehrlichkeit. Seine Fruchtbarkeit adressiert die Frage, inwiefern Wissenschaftler, die vitalistischen Überzeugungen anhingen, wissenschaftliche Entdeckungen wesentlich beeinflusst haben, die gemeinhin ausschließlich den mechanistischen Wissenschaften zugerechnet werden (so z.B. im Fall der Neurologie und im Besonderen der Reflextheorie, die den Vitalisten Willis und Pflüger mehr zu verdanken hätte als den Mechanisten; vgl. auch Canguilhem 2008). Unter dem Aspekt der Ehrlichkeit kommt Canguilhem auf die Beziehung zwischen Vitalismus und Animismus zu sprechen, die den Vitalismus als Wissenschaft disqualifiziert, sowie auf die problematische Bezugnahme der Naziideologie auf vitalistisches Gedankengut v.a. am Beispiel von Drieschs Verständnis der Entelechie als »Führer« des Organismus. Vgl. Canguilhem 2009: 177.
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nischen Bedrohungen, die ihm sein Milieu entgegenbringt, und fasst diese Widerstandskraft als »ein permanentes Prinzip der Reaktion«. (Bichat 1994: 57f.) Wenn Bichat genau darin das Prinzip des Lebens erkennt, so setzt er sich über die herkömmlichen Ansprüche dieses Begriffs hinweg, insofern er hier nicht auf die erste Ursache allen Lebens verweist, sondern vielmehr auf phänomenaler Ebene die Beziehung des Lebendigen zu seinem Milieu beschreibt: Obgleich eine solche Erklärung zunächst ein mechanistisches Vokabular von Aktion und Reaktion aufruft, entzieht sich das Leben jedoch der Formalisierbarkeit durch mechanische Gesetze, insofern es in nicht vorhersehbarer Weise auf die Gefahren des Milieus reagiert: Das Reaktionsprinzip ist kein bestimmtes, sich stets auf gleiche Weise aktualisierendes Prinzip, sondern bildet sich in der Auseinandersetzung mit dem Milieu und anderen Körpern auf immer andere Weise aus. Damit ist der »bemerkenswerte Unterschied« (ebd.) zwischen den vitalen und physikalischen Phänomenen markiert: Während erstere, vitalen Gesetze unterstehend, in ihrer Intensität, Energie und Entwicklung variabel sind und unter dem Einfluss unbedeutsamer Ursachen (z.B. Schlaf, physische Anstrengung, Leidenschaften oder Hungergefühle) Veränderungen durchlaufen, sind diejenigen Gesetze, die die physikalischen Phänomene bestimmen, »festgesetzt, unveränderlich, konstant und zu jeder Zeit dieselben« (ebd.: 121) und produzieren so eine Serie gleichförmiger, invarianter Phänomene. Derart wird eine Formalisierung des physikalischen Wissens möglich, für die die Lebenswissenschaften nicht zugänglich sind: Vitale Phänomene sind im Gegensatz zu physischen Phänomenen unregelmäßig, weil instabil.
V itale N ormativität und organische N ormalität Canguilhem sieht Bichats Verdienst darin, die Produktivität dieser Unregelmäßigkeit, der Irrtumsanfälligkeit und Fehlbarkeiten des Lebens, kurz der »negativen Dimension« – der negativen vitalen Werte Anomalie, Krankheit, Tod – für das Lebendige erkannt zu haben:5 Er spricht in die5 | Foucault hat diese Umkehrung des Vitalismus in einen Mortalismus bekanntermaßen in der Geburt der Klinik im Hinblick auf die Konstitution des klinischen Blicks untersucht. Vgl. Foucault 1988: 159ff. Foucaults Lektüre der Untersuchungen Bichats hatte ihn dazu geführt, den Begriff der Krankheit durch den des
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sem Zusammenhang von einer »Intelligenz der Anomalie«, die die Indizien für eine Lebenskraft (pouvoir de vivre) aufspürt, indem sie die negativen Werte der Existenz (Krankheit, Anomalie, Tod) zu »sinnvollen« Elementen macht, die die vitale Dynamik des Lebens anstoßen.6 Canguilhem übernimmt von Bichat derart sowohl die epistemologische These, nach der die Erkenntnis des Lebens auf der Untersuchung der morbiden Phänomene basiert – das Leben kann nur anhand seiner Irrtümer erkannt werden, die jedes Lebewesen auf seine konstitutive Unvollkommenheit und Unvollendetheit verweisen –, als auch die Bestimmung des Lebens als einer Dynamik, die zu einem »type naturel«, zu einer Norm tendiert. Wie das Leben, so finden auch die Normen ihre Begründung im Bewusstsein dessen, was ihnen äußerlich ist. Normen werden dann wirksam, wenn der Organismus sie überschreitet. Der Wert des Lebens, d.h. das Leben als Wert, das Leben in seiner inneren Normativität, ist damit in seiner eigenen wesentlichen Ungewissheit (précarité) begründet.7 Diese normative Dynamik beinhaltet eine zweifache Dimension: Sie ist zugleich Aufrechterhaltung des inneren organischen Gleichgewichts oder des milieu intérieur (Cl. Bernard), wie auch die permanente Infragestellung dieses Gleichgewichts. Canguilhem unterscheidet so zwei normative Dimensionen des Lebens, die im intrinsischen Verhältnis zueinander stehen: eine homöostatische, selbsterhaltende und zur organischen Normalität strebende, und eine selbstüberschreitende, genuin normative, weil Normen schaffende Dynamik des Lebens. Während die normalisierende Dynamik ein holistisches Verständnis des Organismus voraussetzt und anhand der globalen Aktivität der Regulierung als biologische Tatsache par
pathologischen Lebens zu ersetzen. Der Mortalismus Bichats als Feststellung der permanenten Präsenz des Todes im Leben hat dieser Umformulierung stattgegeben. Denn die Krankheit oder die morbiden Phänomene müssen, so Foucault, vom Text des Lebens aus interpretiert werden: Sie sind genauso lebendige Phänomene, wie die physiologischen Phänomene. Die Feststellung der Irrtümlichkeit oder Sterblichkeit des Lebens geht so mit der Feststellung einer Autonomie der pathologischen Phänomene einher, die eine eigene lebendige Ordnung bilden. 6 | Canguilhem in einer Rede aus Anlass einer Preisverleihung des CNRS im Jahr 1987. Zitiert nach Macherey 1998: 72. 7 | Vgl. Canguilhem 2002: 532.
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excellence gedacht wird,8 überschreitet die zweite, Normen schaffende Dynamik dieses organische Gleichgewicht und schafft so neue vitale Werte: Die erreichten Werte, der Normalzustand, wird immer wieder ›riskiert‹ und aufs Spiel gesetzt, da das Lebendige sich sonst in einem künstlichen Gleichgewicht der Organfunktionen immobilisiert. Problematisch ist nun die Frage nach dem Zusammenhalt dieser beiden Dynamiken, v.a. insofern ein homöostatisches System sich gerade dadurch auszeichnet, dass es Abweichungen integrieren und auf ein Normalmaß hin ausgleichen kann. Die vitale Normativität ist bei Canguilhem gerade nicht Anpassung, sondern permanente Überschreitung und Infragestellung des Gegebenen: Ein Lebewesen verhält sich normativ, wenn es sich nicht an ein bestehendes Milieu oder eine bestehende Norm anpasst – dann wäre es pathologisch –, sondern sich sein eigenes Milieu und seine eigenen Normen schafft. Canguilhems normativer Lebensbegriff bildet sich in der Polarität zwischen diesen beiden Dimensionen aus: Denn nur in seiner Abweichung von der Norm kann das Leben normativ sein, d.h. neue Normen produzieren, die ihrerseits auf eine neue, vorläufige Normalität ausgerichtet sind. Die Normativität besteht darin, »die geltenden Normen zu sprengen« (faire craquer les normes).9 Erst vor dem Hintergrund einer solchen schöpferischen Kraft ist ein inneres Gleichgewicht möglich: Die Normalität gründet auf der Normativität. Die Herausforderung des Canguilhem’schen Lebensbegriffs liegt darin, dass sich die organische Normalität permanent den normativen Abweichungen ausgesetzt sieht, d.h. das Leben nicht in einem Gleichgewichtszustand (wie ihn z.B. das Labor künstlich herstellt) verweilt, sondern diesen immer wieder von Neuem auf den Prüfstand hebt und überschreitet. Andernfalls, d.h. wenn das Leben ›nur‹ Organismus wäre, wäre es pathologisch zu nennen; stattdessen aber ist es Polarität und damit organisch und schöpferisch zugleich, d.h. im emphatischen Sinne lebendig.10 8 | Vgl. Canguilhem 1989: 712. 9 | »Wenn man nach Maßgabe der Physiologie von einem normalen Menschen sprechen kann, so deswegen, weil es normative Menschen gibt, das heißt Menschen, für die es normal ist, die geltenden Normen zu sprengen und neu in Kraft zu setzen.« Canguilhem 1977: 110. 10 | Eine solche vorwärtstreibende Kraft (valeur propulsive) wird von Canguilhem den physiologischen Konstanten zugeschrieben, die es dem Lebendigen erlauben, sich normativ im genannten Sinne zu verhalten. Im Gegensatz dazu zeugt
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D ifferenzen »L’homme est malade parce qu’il est mal construit. Il faut se décider à le mettre à nu pour lui gratter cet animalcule qui le démange mortellement, dieu, et avec dieu ses organes. Car liez-moi si vous voulez, mais il n’y a rien de plus inutile qu’un organe. Lorsque vous lui aurez fait un corps sans organes, alors vous l’aurez délivré de tous ses automatismes et rendu à sa véritable liberté. Alors vous lui réapprendrez à danser à l’envers comme dans le délire des bals musette et cet envers sera son véritable endroit.« (Artaud 1976: 104)
Die Lebendigkeit des Lebens, die Canguilhem im Anschluss an Bichat und Kurt Goldstein bestimmt, wird jedoch von diesen selbst wieder eingeschränkt: So ist Canguilhems Vorwurf an Bichat, dass er zwar die Besonderheit der Biologie bzw. der Theorie der lebendigen Prozesse herausgestellt hat, diese in einem nächsten Schritt jedoch einzig als ›Ausnahme‹ vom physikalischen Milieu versteht und sie damit wieder den physikalischen Gesetzen unterordnet. Ähnlich ist die Kritik an Goldstein, der die Schöpfung von Normen zwar erkannt, sie aber ausschließlich innerhalb einer organischen Struktur, die als Ganze den Gesetzen der Konstanthaltung untersteht, gedacht hat. In Absetzung von Bichats letztendlich konzedierten Primat des Mechanischen über das Lebendige und von Goldsteins »Aufbau des Organismus« als Reduktion des normativen auf das organische Leben, bestimmt Canguilhem die vitale Normativität als »Exzess der Kraft über die Formen, der zu einer Erneuerung der Formen führen muss, ohne dass diese Erneuerung, außer im Falle einer beschränkten Normativität wie der der Krankheit, einer Begrenzung auf eine dominante Form entsprechen würde« (Le Blanc 2002: 39).11
der pathologische Zustand »von der Zerbrechlichkeit des durch die Krankheit gesetzten Normalen. Die pathologischen Konstanten sind regressiv und streng auf Selbsterhaltung gerichtet.« Ebd. 1977: 155. 11 | (Übersetzung v. M. Muhle) Für eine ausführliche Diskussion dieses doppelten Normativitätsbegriffs bei Canguilhem im Hinblick auf Kurt Goldsteins Thesen zum Aufbau des Organismus siehe das Kapitel zur biologischen Individualität in: Ebd.: 31ff. Für eine Untersuchung der theoretischen Nähe eines solcherart bestimmten normativen Lebensbegriffs zu Nietzsches Wille zur Macht, siehe G. Le Blanc 2008: 57f. u. 68ff.
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Der gemeinsame Einsatz im Denken des Vitalismus von Canguilhem und Deleuze ist dieser Exzess, d.h. die Annahme einer Vitalität oder Kraft des Lebens, die überschreitend ist, wie im Folgenden anhand Deleuzes unbestimmten Leben gezeigt werden soll. Gleichwohl macht die normative Dimension von Canguilhems Lebensbegriff, die Deleuze zurückweist, einen wesentlichen Unterschied geltend im Hinblick auf die bereits angesprochene Verbindung von Leben und Macht, organlosem Körper und Organisation. Denn das Organlos-Werden des Körpers bei Deleuze ist eine anti-normative Bewegung, die sich nicht über Gegensätze oder Negationen, sondern jenseits davon ausbildet; hingegen wird die Normativität des Lebens bei Canguilhem überhaupt erst über die negativen vitalen Werte denkbar. Dieser Unterschied ist insofern zentral, als sich an der Art des Aufeinander-bezogen-Seins der beiden Dimensionen des Lebens zu entscheiden scheint, ob eine Vorgängigkeit einer Dimension möglich ist und was für Konsequenzen eine solche Vorgängigkeit oder Nachträglichkeit für ein Denken des Politischen hat.
E in L eben … Die Besonderheit der Canguilhem’schen vitalen Normativität als überschreitende Dynamik liegt nicht zuletzt darin, dass sie sich innerhalb eines biologisch bzw. vital kodierten Lebens artikuliert. Deleuze hingegen nimmt diese organische oder organistische Dimension im Ganzen als Kontrastfolie für die Figuren des organlosen Körpers oder eines Lebens. In Abwendung von der organischen Interpretation des Lebens und den damit einhergehenden biologisch-organischen Begrifflichkeiten (Selbsterhaltung, inneres Gleichgewicht, Organisation) ruft Deleuze gegen den organischen Holismus die von Artaud übernommene Figur des organlosen Körpers auf: als ein »nicht-organisches Leben, denn der Organismus ist nicht das Leben, er sperrt es ein. Der Körper ist ganz und gar lebendig und dennoch nicht organisch«. (Deleuze 1995: 32) In dieser »rückhaltlosen Offenheit des Lebens« liegt seine Widerständigkeit gegen systematische Einschreibungen aller Art begründet, die von dem unbestimmten Artikel markiert wird, mit dem der bereits zitierte Text von Deleuze überschrieben ist: Denn das Leben als ein Leben ist »›in nichts‹, keine Instanz vermag es sich anzueignen und einzuschließen«. (Deleuze 1998: 208) Ein Leben markiert für Deleuze »die Immanenz der
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Immanenz, die absolute Immanenz« und ist so »vollkommenes Vermögen, vollkommene Glückseligkeit«. (Deleuze 1996b: 30) Beispielhaft für ein Leben, dessen unbestimmter Artikel als »Indiz des Transzendentalen« zu lesen ist, führt Deleuze in Anlehnung an Charles Dickens zunächst das Leben des homo tantum an: Ein Leben zwischen Leben und Tod – ein »Moment, der nichts ist als ein Spiel eines Lebens mit dem Tod«. (Ebd.) Auf den Gegensatz von Individualität und Singularität bezogen, ist das indefinite Leben des indefiniten Menschen (tantum) »eine Diesheit, die keiner Individuation mehr, sondern einer Singularisierung entspricht«. (Ebd.: 31) Das individuelle Leben, das Leben des Subjekts, tritt hinter einem singulären Leben zurück, das einem Menschen ohne Namen immanent ist, der doch mit keinem anderen verwechselbar ist – es handelt sich um eine Unbestimmtheit, die gerade keine Austauschbarkeit, sondern »singuläre Wesentlichkeit« (ebd.) ist.12 Agamben, dem der Text als »Deleuzes Testament« gilt, verweist auf die Tatsache, dass das »nackte Leben«, wie es hier anhand von Dickens Erzählung exemplifiziert wird, erst im Moment des Todeskampfes in Erscheinung tritt, während Deleuzes zweites Beispiel, das prä-individuelle Leben der kleinen Kinder, an der Grenze zwischen dem Leben und der Geburt verortet ist. Dabei gibt er zu bedenken, »daß der heikle Versuch, den Taumel der Immanenz durch ›ein Leben‹ zu klären, uns im Gegenteil auf ein noch unwägbareres Gebiet geführt hat, wo das Kind und der Sterbende die rätselhafte Signatur des nackten biologischen Lebens zur Schau stellen«. (Agamben 1998: 105) Agamben weist so auf die Gefahr hin, die Indefinition von Deleuze, seine Absetzung von einem organischen Lebensbegriff, in einer paradoxen theoretischen Volte wieder auf den Boden der biologischen Tatsachen zu verorten, auf dem indefinites und nacktes
12 | Als ein indefinites Leben beschreibt Deleuze auch das Leben der kleinen Kinder, die noch keine Individualität, aber Singularitäten haben: »ein Lächeln, eine Geste, eine Grimasse, Ereignisse, die keine subjektiven Merkmale sind.« (Ebd.) Ebenfalls in diesem Sinne verliert Melvilles Bartleby-Figur »das (psychologisch und soziologisch) identifizierbare und erklärbare Leben und [gewinnt] ein Leben«: Bartlebys ›I would prefer not to‹ wird so zum Wahlspruch eines »passiven Widerstands« und Bartleby selbst zum Held des »minoritären« Lebens. Balke 1998: 109.
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Leben ineinander fallen.13 Fraglich bleibt also der Unterschied zwischen einer rein vegetativen Form des Lebens einerseits und dem ›Lebensfunken‹ in Dickens Erzählung bzw. Deleuzes unpersönlichem Leben andererseits. Diesen Unterschied macht Agamben an der Rolle bzw. Funktion fest, die das Leben für Deleuze spielt, und die radikal gegensätzlich zu derjenigen des vegetativen Lebens bei Aristoteles ist: Denn während das nutritive (oder vegetative) Leben jenes Prinzip ist, das es ermöglicht, einem Subjekt ein Leben zuzuordnen, kann ein Leben nie zugeordnet werden, sondern ist vielmehr »die Matrix einer unendlichen Desubjektivierung«. (Agamben 1998: 110) Während also das Ziel der Isolierung oder Abspaltung des nackten Lebens (vom politischen oder qualifizierten Leben) darin liegt, eine Trennung oder Division im Lebendigen einzuführen, anhand derer dann Gegensätze (wovon derjenige zwischen zoé und bios wohl mittlerweile der bekannteste ist) artikuliert und politisch aktiviert werden können, markiert das singuläre, indefinite Leben die radikale Unmöglichkeit, Hierarchien und Trennungen zu etablieren, d.h. Stratifizierungen, Codierungen und Reterritorialisierungen vorzunehmen – und ist so, wenn man Agamben hier folgt, radikal von den Machttechniken abgetrennt.
O rganisation und organloser K örper Auch in Tausend Plateaus wird dieser Komplex von Leben, Widerstand und Macht aufgegriffen und anhand der Frage »Wie schafft man sich einen organlosen Körper?« erprobt. Und auch hier kommt ein ähnlicher Gegensatz von Anordnung bzw. Organisation (von Organen) und der Unverfügbarkeit für eine solche Organisation, die dem organlosen Körper eignet, zum Tragen. Der organlose Körper ist eine Grenze, die man nie erreicht 13 | Agamben führt seine Analyse über Aristoteles Rede vom vegetativen Leben (die Pflanze) als Grundlage (Boden) des Lebendig-Seins in De Anima zu Bichats Unterscheidung zwischen dem »vie animale« und dem »vie organique« in den Recherches, um dann festzustellen, dass die Foucault’sche Biopolitik nichts anderes tue, als das vegetative oder organische Leben progressiv zu verallgemeinern und neu zu bestimmen. Er greift hier die zentralen Thesen aus Homo Sacer auf, wo das nackte Leben anhand so disparater Figuren wie des Komapatienten und der Lagerinsassen als Gegenstand einer Biopolitik verhandelt wird, die strukturell in Eins fällt mit der souveränen Macht und deren Recht über Leben und Tod.
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und die eine endlose Dynamik, ein Streben, anstößt: »man kann ihn nicht erreichen, man hat ihn immer angestrebt.« (Deleuze/Guattari 1997: 206) Auch hier wird die Figur des Kindes – das Kindsein, die Kindheit – aufgerufen, die jedoch nicht an der Grenze zwischen Leben und Geburt (Tod) verortet wird, sondern in ihrem Bezug auf den organlosen Körper als Grenze dynamisiert, verlebendigt wird: »Der oK ist ein Kindheitsblock, ein Werden, das Gegenteil einer Kindheitserinnerung. Es ist weder das Kind ›vor‹ dem Erwachsenen noch die Mutter ›vor‹ dem Kind [so wie der organlose Körper nicht vor dem Organismus ist]: es ist die strenge Zeitgleichheit […] des Erwachsenen und des Kindes.« (Ebd.: 225)
Diese Gleichzeitigkeit entzieht den organlosen Körper einer Fortschrittsebene und hält eine homogene, lineare Zeitlichkeit auf, die geordneten Zuschreibungen produziert: Der organlose Körper ist ein »Intensitätskern, in dem es weder Eltern noch Kinder (organische Repräsentation) gibt und geben kann« – er ist unzugehörig, nicht zuzuordnen, unbestimmt, indefinit, unabhängig von Form und Organisation, so wie Deleuze sie später mit Bezug auf ein Leben diskutieren wird: Der organlose Körper »ist immer ein Körper«. (Ebd.) Besonders an dieser Unbestimmtheit eines Lebens oder eines Körpers ist die Tatsache, dass sie gerade nicht mit einer Bestimmbarkeit von Außen einhergeht, wie dies bei Foucaults Leben als Korrelat der Macht zu denken wäre, sondern ihre Widerständigkeit darin liegt, dass sie sich der Bestimmbarkeit als Einschreibung entzieht. Denn die Deleuze’sche Unbestimmtheit ist nicht negativ, d.h. über einen Mangel an Bestimmtheit oder Differenzierung zu denken, noch über die gestörte Beziehung zu einer verlorenen Einheit. Vielmehr drückt der unbestimmte Artikel »die reine Intensitätsbestimmung, die intensive Differenz« aus, er »ist der Leiter des Begehrens«. (Ebd.) Dabei gibt es kein »falsches Begehren« – das Begehren kann auch seine eigene Vernichtung begehren, auch der Faschismus ist Begehren; vielmehr muss innerhalb des Begehrens zwischen dem unterschieden werden, »was auf der Wucherung eines Stratums oder auf allzu gewaltsamer Destratifizierung beruht und was auf der Konstruktion der Konsistenzebene beruht«. (Ebd.: 225) In den bereits zitierten Notizen zu Foucaults Wille zum Wissen diskutiert Deleuze den Unterschied zwischen seinem ›Begehren‹ und Foucaults ›Lust‹ in ähnlichen Termini:
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»Als wir uns das letzte Mal sahen, hat Michel mir in aller Freundlichkeit ungefähr Folgendes gesagt: Ich kann das Wort désir, Begehren, nicht ausstehen; selbst wenn Sie es anders verwenden, kann ich nicht umhin zu denken oder zu leben, daß Begehren = Mangel, oder daß man von Begehren als unterdrücktem redet. Michel fügt hinzu: Und was ich nun ›Lust‹ nenne, ist vielleicht das, was Sie ›Begehren‹ nennen; ich brauche aber jedenfalls ein anderes Wort als Begehren.« (Deleuze 1996a: 237)14
Deleuze fügt hinzu, wie unerträglich ihm wiederum das Wort »Lust« sei, um im Folgenden zu zeigen, dass »Begehren« weder einen Mangel beinhaltet, noch etwas »natürlich« Gegebenes ist. Sondern Begehren steht auf der Seite der »Gefüge von Heterogenem« (agencements d’hétérogènes), es ist Prozess und nicht Struktur, Affekt und nicht Gefühl, Ereignis und nicht Ding oder Person – Begehren ist (wie ein Leben) »Diesheit« (haecceité): Individualität eines Tages, einer Jahreszeit, eines Lebens im Gegensatz zu Subjektivität. Das Begehren impliziert die Konstitution eines Immanenzfeldes oder eines organlosen Körpers, »der sich nur durch Intensitätszonen, durch Schwellen, Gradienten, Ströme definiert«. (Ebd.) Dabei ist der organlose Körper zugleich biologischer und kollektiver bzw. politischer Körper, denn er ist nicht das Gegenteil der Organe selbst, sondern vielmehr das ihrer Organisation bzw. der Organisation, sei sie biologischer oder politischer Art: »Der Feind ist der Organismus. […] jene[r] Organisation der Organe, die man Organismus nennt.« (Deleuze/Guattari 1997: 218) Artauds Gottesgericht ist ein solches, theologisches System der Stratifizierung, der Anordnung (Organisation) von Organen als Organismus, dessen Ziel es ist, den organlosen Körper zu verhindern, »ihn auszuweiden« (éventrer). Der Organismus ist nicht identisch mit dem Körper, vielmehr ist er eine Schicht auf dem organlosen Körper: Er ist »ein Phänomen der Akkumulation, der Gerinnung und der Sedimentierung, die ihm Formen, Funktionen, Verbindungen dominanten und hierarchisierte Organisationen und organisierte Transzendenzen aufzwingt, um daraus eine nützliche Arbeit zu extrahieren«. (Ebd.) Mit dem Ziel also, die Körper nutzbar zu machen, wie es schon Foucault in Überwachen und Strafen als Ziel der Disziplinarmacht bestimmt hat. »Das Gottesgericht reißt ihn [den organlosen Körper] aus seiner Immanenz heraus und macht ihm einen
14 | Übersetzung leicht abgeändert v. M. Muhle.
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Organismus, eine Signifikation, ein Subjekt. Es ist der oK, der stratifiziert wird.« (Ebd.) Symptomatisch scheint hier, dass Deleuze den Bezug von Macht (Stratifizierung, organisierte Transzendenzen) und Leben (organloser Körper), der post-souveräne Machtmechanismen laut Foucault auszeichnet, im Gottesgericht verankert sieht (wenn auch dem Artaud’schen), das als souveräner Mechanismus par excellence eine hochgradig externe Beziehung zwischen Macht und Leben etabliert. Während also Foucaults biopolitische Techniken sich gerade durch eine Produktivität auszeichnen, die sich zu den Körpern oder lebendigen Subjekten mimetisch verhält, insofern sie die innere vitale Normativität aufnimmt und so einen intrinsischen Bezug zum Leben herstellt (durch den die Macht das Leben besser regieren kann), greifen die stratifizierenden, organisierenden Techniken bei Deleuze von Außen auf das Leben oder den Körper zu, und degenerieren diesen ursprünglich ›guten‹, weil organlosen Körper. An eine solche Auffassung zweier nur lose verbundener Ordnungen knüpft auch die Annahme einer positiven Politik des Lebens an, die sich jenseits der Einschreibung des Lebens in die Macht entwickelt und deren politische Relevanz hier abschließend hinterfragt werden soll.
F luchtlinien des L ebens »Leben – ist das nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur es ist? Ist Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein, Different-seinwollen?« (Nietzsche 1993: 21f.)
Deleuzes heterogene und teilweise nicht immer eindeutige Texte, die sich im weitesten Sinne mit einem Leben beschäftigen, scheinen in einer (gewollten) Doppeldeutigkeit zu verweilen: Denn einerseits legt Deleuze nahe, dass ein Leben nie jenseits einer Organisations- und Fortschrittsdynamik verstanden werden kann, sondern nur in wechselseitiger Auseinandersetzung, im Dazwischen von Konsistenz- und Organisationsebene. Dies geht besonders aus den Texten zu Foucaults Machtanalytik hervor und könnte somit als Reformulierung des intrinsischen Bezugs von post-souveräner Macht und Leben bzw. Körper im Anschluss an Foucault gelesen werden. Andererseits wird sowohl die Vorgängigkeit eines Lebens oder das Primat des Begehrens, als auch seine radikale Nichteinholbarkeit durch Macht-
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mechanismen oder Organisationsebenen aufgerufen. Leben als Werden, Leben als Differenzbildung, das nur jenseits von Negation und Mangel zu denken ist, scheint sich nur extern auf die Machtmechanismen zu beziehen, zu denen es sich widerständig verhält. Es ist dieser intrinsische bzw. externe Bezug von Macht und Leben, der hier auf dem Spiel steht und der die politische Relevanz der Gegen-Bewegungen oder Fluchtlinien bestimmt. Um den Widerstand im Ausgang vom Leben in den Blick zu nehmen, muss also das Zusammenspiel der Dynamiken oder Ebenen des Lebens gedacht werden. Dies leistet der normative Lebensbegriff von Canguilhem, der sich nur in der Polarität von Normalem und Pathologischem, von Selbsterhaltung und Selbstüberschreitung, ausbildet. Deleuze hingegen verwehrt sich jedweder Polarität, um gerade diese normativen Gegensätze hinter sich zu lassen und ein Leben als nicht zuzuordnender Prozess, als unendliche Abweichung, als Werden, zu verstehen. Dem ist nichts entgegenzusetzen, sofern es Deleuze um die ontologische Bestimmung eines Lebens, um eine »vitalistische Ontologie« (Badiou 2000: 193) zu tun ist. Sobald jedoch die Bestimmung politischer Fluchtlinien über die Verankerung politischer Widerständigkeit gegen zeitgenössische Machtstrukturen in einem Leben zur Diskussion steht, so wie u.a. Toni Negri und Michael Hardt es im Anschluss an Deleuze vorschlagen, scheint sich hier eine weitere Problematik aufzutun. Zugleich könnte man behaupten, dass die Annahme einer unkontaminierten Kraft des Lebens, die sich als politisch-emanzipative aktualisiert, die Deleuze’schen Überlegungen in doppelter Hinsicht verkürzt: Einerseits übersetzt sie das nicht-organische Leben, das von Deleuze auf ontologischer Ebene verhandelt wird, in einen politischen Kontext, in dem es direkter Träger einer politischen Kraft wird; und andererseits muss sie die beiden Dimensionen oder Ebenen des Lebens und Werdens voneinander dissoziieren, um derart eine unkontaminierte, nicht einholbare Kraft des Lebens postulieren zu können (eine Interpretation, die, wie bereits gesagt, bei Deleuze durchaus angelegt, gleichwohl nicht zwingend ist). So stellen Negri und Hardt in Anlehnung an das Deleuze’sche und Foucault’sche Vokabular (und zugleich in doppelter Missinterpretation) der negativen Biomacht als stratifizierende, organisierende Verkettung eine ›positive‹ Biopolitik als »Produktion des Lebens« entgegen, die Grundlage einer eigenen sozialen Produktion (Widerstand gegen die Biomacht) ist.15 Da15 | Vgl. Negri/Hardt 2003: 37-55 sowie 2004: 112ff.
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mit führen sie in Foucaults post-souveräne Machtanalytik eine vorgeblich an Deleuze orientierte Unterscheidung zwischen einer guten Macht des Lebens und einer schlechten Macht über das Leben ein, die eine Unabhängigkeit der Machttechniken und Gegen-Bewegungen voraussetzt und die »Positivität« der Macht bei Foucault grundlegend verfehlt: Denn diese liegt keinesfalls in einer Kraft des Lebens, die über die Macht hinausweist, sondern vielmehr im Bezug der Macht auf das Leben, der eben positiv und nicht repressiv ist, und das Leben im Rückgriff auf dessen eigene Dynamik regiert.
S chwellenzustände des L ebens Die Diskussion um das Politisch-Werden des Lebens steht also in direktem Zusammenhang mit der Konstellation der Ebenen oder Dynamiken des Lebens, die von den hier zentral verhandelten Autoren jeweils unterschiedlich gefasst wird und mit Blick auf das Politische unterschiedliche Konsequenzen zeitigt. Wie gezeigt wurde, artikuliert Canguilhem seinen NeoVitalismus in einem normativen Vokabular, in dem die zwei Dynamiken der lebendigen Vollzüge als normalisierende bzw. normative Bewegung beschrieben werden, die heterogen bleiben, jedoch intrinsisch miteinander verbunden sind, und in deren Polarität sich das Leben ausbildet. Diese produktive Negativität kennzeichnet den Canguilhem’schen Vitalismus und bezeichnet zugleich den Punkt, an dem sein Lebensbegriff für Foucaults Machtanalytik relevant wird: Denn es ist diese normative Dynamik, die Normen schaffende Aktivität des Lebens, die sich in der »Positivität« der biopolitischen Techniken wiederfindet. Während Foucaults disziplinäre Norm die normierende Dynamik, d.h. im Canguilhem’sch informierten Vokabular die ausschließlich selbsterhaltende und somit pathologisierende Tendenz des Lebens adressiert, wird die genuin normative und damit im Sinne Canguilhems lebendige Dynamik von der biopolitisch-gouvernementalen Norm aufgegriffen, die Foucault als normalisierende von der normierend-disziplinären Norm unterscheidet.16 Diese bezieht sich in zweifacher Weise auf das Leben und dessen doppelte Dynamik, insofern Biopolitik erstens eine Politik ist, die sich nicht auf souveräne Subjekte oder disziplinäre Individuen, sondern auf das Leben der Bevölkerung als ihren 16 | Vgl. Foucault 2006: 90ff.
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Gegenstand bezieht; zweitens imitieren die Techniken der Biopolitik die Funktionsweise der vitalen Normativität des Lebens, da ihr Bezug auf das Leben positiv und nicht repressiv, schöpferisch und nicht einschränkend ist, und das Leben so zum Modell ihrer Funktionsweise wird: Die biopolitische Regierung lässt der Kraft des Lebens die Freiheit, sich in bestimmten Grenzen normativ zu verhalten, d.h. sich neue Normen und ein eigenes Milieu zu schaffen. Werden diese bestimmten Grenzen überschritten, wird die normative Kraft des Lebens auf ihre normale Form reduziert und Biopolitik schlägt um in Thanatopolitik, in jene paradoxe Politik des Todes um des Lebens willen, die das 20. Jahrhundert laut Foucault zu einem der grausamsten gemacht hat.17 Biopolitische Techniken haken damit in dem Zusammenspiel von normaler und normativer Dynamik des Lebens ein und ermöglichen so in eins das freie Spiel der lebendigen Kräfte und ihre Einfriedung zugunsten des Gemeinwohls – Normativität und Normalisierung können im Hinblick auf die Frage der Organisation der Macht nicht auseinanderfallen oder isoliert voneinander bestehen. In der Foucaultschen Machtanalyse gibt es keine derart radikale Überschreitung, so wie eine bestimmte Deleuze-Interpretation sie als lebendige Kraft oder Macht des Lebens herausstellt und sie jenseits der Macht über das Leben ansiedelt.18 Denn Widerstand ist in Foucaults Machtanalyse einzig aus den Machtmechanismen heraus und in intrinsischer Auseinandersetzung mit diesen möglich: Es gibt hier weder ein Primat der Kraft über die Form, noch ein Jenseits der Macht, das jene Flucht- oder Widerstandslinien in sich bergen könnte, die in Deleuzes Vitalismus zum Tragen kommen. Zugleich war es Deleuze, der als einer der ersten diese intrinsische Verstrickung von Macht und Widerstand bei Foucault hervorgehoben hat, so z.B. wenn er schreibt, die Achse des Subjekts bzw. des Lebens und die Achse der Macht haben in Foucaults Denken nie unabhängig voneinander existiert.19 Die Fluchtlinien oder Subjektvierungsprozesse, die Deleuze 17 | Siehe hierzu das Abschlusskapitel aus Der Wille zum Wissen und Foucaults Untersuchungen zum Staatsrassismus in seinen Vorlesungen In Verteidigung der Gesellschaft. Für eine eingehende Untersuchung dieses doppelten Bezugs der Biopolitik auf das Leben siehe Muhle 2008: 216ff. 18 | Vgl. hierzu auch Le Blanc 2008: 96: »Die Transgression der Normen ist eine Unmöglichkeit für Foucault.« Übersetzung v. M. Muhle. 19 | Vgl. Deleuze 1992: 134.
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hier als Widerstandlinien kennzeichnet, sind damit Überschreitungen der Macht, die zugleich kein Jenseits derselben kennzeichnen, sondern eine intrinsische Verschaltung der beiden Dynamiken von Macht und GegenMacht markieren. Dass dies nicht heißen muss, dass Deleuze eine solche Verstrickung auch für sich selbst in Anspruch nimmt, sei dahingestellt. Zumindest lässt es Zweifel aufkommen an dem Anspruch, ein Leben als Ausweg aus Foucaults Machtanalyse zu konzipieren. Gerade hier setzt jedoch die zeitgenössische Reinterpretation der Biomacht bzw. Biopolitik als negative und positive Konstellierung von Macht und Leben ein, die Foucault vorwirft, die »wahre Dynamik der Produktion in der biopolitischen Gesellschaft verkannt zu haben«.20 (Negri/Hardt 2003: 54) Diese ›wahre biopolitische Produktion‹ wird in einer paradox anmutenden Bewegung auf die genuin widerständige Kraft des Lebens festgelegt, die Deleuzes Leben als Differenzbildung in ein genuin politischemanzipatorisches Feld einschreibt. Damit wird scheinbar im Anschluss an Deleuze, dem die Fluchtlinien in seinem Kommentar zu Foucault die erste Bestimmung des sozialen Felds sind, eine Vorgängigkeit des Lebens vor der Macht bestimmt. Diese Vorgängigkeit des Lebens als Unabhängigkeit von Machtkodierungen (als wahre Dynamik) zu interpretieren, die auf ein Jenseits der Macht verweist, ist jedoch im Hinblick auf Deleuze, wie bereits gezeigt, zweifelhaft. Vielmehr könnte diese Vorgängigkeit bei Deleuze im Sinne eines transzendentalen Empirismus21 gefasst werden, d.h. als Ensemble der realen Voraussetzungen für aktuelle Erfahrung: Dieses Ensemble ist bei Deleuze das Leben, während es bei Foucault die Macht ist. Deleuzes Ansatz zum Verständnis eines Lebens ist ontologisch zu verstehen: Leben ist die disjunktive Synthese zweier Bewegungen (Organisations- und Konsistenzebene), die ihrerseits nicht politisch gefasst sind; doch selbst wenn sie ins Politische übertragbar wären, müsste daran festgehalten werden, dass Organisations- und Konsistenzebene (oder Widerstand und Macht) nicht zu trennen sind, dass die eine immer aus der anderen entsteht und beide sich gegeneinander wenden. Überspitzt könnte man also sagen, dass die Übertragung eines ontologisch gefassten, genuin schöpferischen und damit widerständigen und vor allem unkontaminierten Lebens auf Fragen der politischen Gemeinschaftsbildung jenseits von 20 | Übersetzung v. M. Muhle. 21 | Vgl. Balke/Vogl 2002: 12.
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repressiven Machtstrategien zugleich die Positivität der Macht im Sinne Foucaults missversteht und zu einer Auffassung von Vitalismus zurückkehrt, die ein dem Leben immanentes Prinzip annimmt, das jedweder Kodierung von Außen unzugänglich ist und mithin die letzte Erklärung alles Politischen liefert.22 Damit würde eine solche Interpretation nicht nur hinter die Machtanalytik Foucaults zurückfallen, sondern zugleich auch hinter die Neubestimmung eines Vitalismus von Seiten Deleuzes.
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22 | Dieser Politisierung der lebendigen Kraft gilt auch die kurze und prägnante Kritik, die Rancière an einer Fundierung der Politik in einer »Ontologie des Lebens« formuliert, die er in die Tradition eines aus den Grundrissen stammenden, anthropologischen Marxismus einschreibt, der sich in der politischen Praxis des Operaismus geschärft und im Deleuze’schen Vitalismus theoretisch verjüngt hat. Vgl. Rancière 2010.
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Deleuzianischer Nietzsche und nietzscheanischer Deleuze Stéphane Nadaud
Anstatt danach zu fragen, was die Philosophie von Deleuze (sowohl die von ihm allein als auch die in Zusammenarbeit verfasste) der Philosophie von Nietzsche schuldig ist, möchte dieser Beitrag vielmehr untersuchen, inwiefern der explizite Bezug auf Nietzsche in mehreren Aufsätzen und insbesondere in seinen zwei Büchern über den Philosophen ein schlagendes Beispiel dafür ist, dass Deleuze manipulativ in den nietzscheanischen Text eingreift und daraus sogar ein wesentliches methodisches Argument macht. Deleuze selbst beschreibt sein Verhältnis zu Nietzsche als sehr verschieden von demjenigen zu den anderen Autoren, denen er Bücher gewidmet hat (von Hume bis Kant): »Ich selbst habe lange Philosophiegeschichte ›gemacht‹, habe Bücher über diesen oder jenen Autor gelesen. […] Aber vor allem bestand meine Art, heil da herauszukommen, glaube ich, darin, die Philosophiegeschichte als eine Art Arschfickerei zu betrachten oder, was auf dasselbe hinausläuft, unbefleckte Erkenntnis. Ich stellte mir vor, einen Autor von hinten zu nehmen und ihm ein Kind zu machen, das seines, aber trotzdem monströs wäre. Daß es wirklich seins war, ist sehr wichtig, denn der Autor mußte tatsächlich all das sagen, was ich ihn sagen ließ. Aber daß das Kind monströs war, war ebenfalls notwendig, denn man musste durch alle Arten von Dezentrierungen, Verschiebungen, Brüche, versteckten Äußerungen hindurchgehen, was mir nicht wenig Spaß bereitet hat. […] Nietzsche habe ich erst spät gelesen, und er hat mich aus all dem herausgeholt. Denn es ist unmöglich, ihn einer solchen Behandlung zu unterziehen. Von hinten einem
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Kinder machen, das macht er. Er gibt einem einen perversen Geschmack (weder Marx noch Freud haben den je irgendjemand gegeben, im Gegenteil): jedem den Geschmack, einfache Dinge im eigenen Namen zu sagen, in Affekten, Intensitäten, Erfahrungen, Experimenten zu sprechen.« (Deleuze 1991: 15f.)
Deleuze experimentiert mit Nietzsche damit, die Philosophie auf eine ganz andere Art und Weise anzugehen: eine Philosophie, die »in Intensitäten« und »im eigenen Namen« spricht, indem sie ihn von hinten nimmt. Um dies besser zu verstehen, sollen zunächst die beiden Bücher von Deleuze über Nietzsche genauer untersucht werden. In Nietzsche von 1965 scheint Deleuze in klassischer Herangehensweise das Korpus des nietzscheanischen Werkes erfassen zu wollen: dieses schmale Buch ist in vier Abschnitte unterteilt, von denen die ersten beiden Nietzsches »Leben« und dann seiner »Philosophie« gewidmet sind. Deleuze scheint sich also mit diesem Ansatz, Nietzsches Biographie und sein philosophisches Werk zu verknüpfen, in eine direkte Nachfolge von Jaspers oder Andreas-Salomé zu stellen.1 Und obwohl man Deleuze vorwerfen könnte, eine fatale Unterscheidung zwischen Leben und Werk einzuführen, indem er sie nicht in die gleiche Kategorie ordnet, sondern ihnen jeweils ein eigenes Kapitel widmet, besteht die Stärke dieses kurzen Bandes darin, dass Deleuze eine Lektüre vorschlägt, die zwar auf den ersten Blick partiell wirken mag (formale Unterscheidung zwischen Leben und Werk), durch die Ergänzung der zwei weiteren Teile jedoch Komplexität gewinnt: ein »Wörterbuch der Hauptfiguren« und »Auszüge« aus den Werken Nietzsches; ein Aufbau, der eine Bewegung von einer partiellen Lektüre zu einer Lektüre in Fragment(en) vornimmt. Die Biographie, die Deleuze im ersten Teil präsentiert, ist eine klassische Zusammenfassung der großen Momente in Nietzsches Leben, von seiner Geburt bis zu seinem Tod. Aber dem vorangestellt ist eine Einleitung, die erstaunlicherweise nicht so sehr Nietzsches als vielmehr Zarathustras Leben behandelt: sein erstes Kapitel, »Das Leben«, beginnt mit der Aufzählung der Verwandlungen aus dem ersten Buch von Also sprach Zarathustra. Deleuze schreibt: »Nach Nietzsche bezeichnen diese drei Verwandlungen unter anderem ebenso Momente seines Werkes wie auch Stadien seines Lebens und seiner Gesundheit. 1 | Vgl. Jaspers 1981; Andreas-Salomé 1983.
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Zweifellos sind die Einschnitte selber relativ: der Löwe ist präsent im Kamel, das Kind ist im Löwen und im Kind gibt es ein tragisches Ende.« (Deleuze 1979: 7)
Die Methode dieses Büchleins ist von Beginn an eingeführt: in der Nachfolge Karl Jaspers geht es darum, Leben und Werk Nietzsches zu beschreiben; und obwohl dazu eine Trennung von Leben und Werk in »Stadien« vollzogen wird (die durch die drei Verwandlungen markiert sind), suggeriert Deleuze nichtsdestotrotz, dass sich diese Perioden überschneiden, und zeigt diese Verschränkungen, indem er ein »Wörterbuch der Hauptfiguren« wie ein Echo auf »Das Leben« widerhallen lässt. In diesem Wörterbuch (drittes Kapitel von Nietzsche) wird deutlich, was Deleuze gemeinsam mit Guattari in Was ist Philosophie entwickelt hat, nämlich das Konzept der Begriffsperson2 . Indem Deleuze 1965 die zwei Kapitel von Nietzsche, das heißt »Das Leben« und »Wörterbuch der Hauptfiguren« aneinanderfügt, wird offensichtlich, dass er Zarathustra, diesen wandelnden Schatten, ebenso wie Ariadne als Heteronyme (um den Begriff von Pessoa zu verwenden)3 von Nietzsche auffasst. Die Begriffsperson erklärt, wie der Philosoph auf das Chaos einwirkt (wie er eine Ebene einzieht und ihr Konsistenz verleiht, wie er Begriffe prägt), das heißt wie er noch zum Subjekt werden kann (oder vielmehr wie er als Subjektivierungsprozess fortbestehen kann) inmitten eines Chaos, wo die individuierte Subjektivität (Subjekt/Objekt) keinen Sinn mehr hat. In einem Gespräch mit JeanNoël Vuarnet erklärt Deleuze, inwiefern bei Nietzsche die Problemstellungen der zeitgenössischen Philosophie zum Ausdruck kommen, die einen Paradigmenwechsel bezüglich der Subjektivität betreffen: »Einerseits glauben die Menschen kaum noch an das Ich, an Personen. […] Die Individuation ist nicht mehr in einem Wort eingeschlossen, die Singularität ist nicht mehr in einem Individuum eingeschlossen.« (Deleuze 2003b: 198f.) 2 | Deleuze/Guattari 2003: 56. 3 | »Mein Halbheteronym Bernardo Soares, das übrigens in vieler Hinsicht Álvaro de Campos ähnelt, erscheint immer, wenn ich müde und schläfrig bin und meine Hemmungen und mein Denkvermögen etwas nachgelassen haben; diese Prosa ist eine ständige Träumerei. Soares ist insofern ein Heteronym, als sich seine Persönlichkeit, auch wenn sie nicht die meine, so doch nichts anderes als sie ist, wohl aber eine leichte Verstümmelung von ihr. Soares ist ich, allerdings ohne mein Denkvermögen und ohne meine Emotionalität.« Pessoa 2003: 549f.
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Indem er ein »Wörterbuch« seiner Heteronyme an »Das Leben« von Nietzsche anfügt, nimmt Deleuze zur Kenntnis, dass Nietzsche nicht so sehr ein Individuum ist (das man aufschneiden könnte, auf partielle Weise zerschneiden), sondern ein kollektives Äußerungsgefüge, das sich in jedem Heteronym findet, in jedem Fragment(e) seiner Subjektivität (seines Lebens/Werks). Betrachtet man im Übrigen das zweite Kapitel, »Das Werk«, etwas genauer, wird klar, dass Deleuze sich vor allem mit der Form beschäftigt, die Nietzsches Schriften annehmen, bevor er die Konzepte von Nietzsche untersucht, die ihn interessieren: »Nietzsche integrierte in die Philosophie zwei Ausdrucksmittel: den Aphorismus und das Gedicht. Diese Formen selber implizieren eine neue Konzeption der Philosophie, sowie ein neues Bild des Denkers und des Denkens.« (Deleuze 1979: 19)
Es ist dieses neue Bild des Denkens, mit dem Deleuze mit Nietzsche experimentiert – in diesem Experiment nimmt nicht mehr Deleuze Nietzsche von hinten, sondern (wenn man so sagen darf) sowohl Nietzsche nimmt Deleuze von hinten, als auch Deleuze Nietzsche. Dem Motiv dieser doppelten Arschfickerei soll hier weiter nachgegangen werden. Da uns die Psychoanalyse gelehrt hat, dass After und Zwangsmechanismen zusammenhängen, soll an dieser Stelle eine kleine Zählübung durchgeführt werden: zählen wir einmal, wie oft jedes von Nietzsches Werken in den »Auszügen« aufgeführt wird: von den 30 Auszügen, die Deleuze für seinen Leser ausgewählt hat, ist das einzige vor 1874 verfasste Werk, das er zitiert, Die Geburt der Tragödie (zweimal). Von den vier Unzeitgemäßen wird nur Schopenhauer als Erzieher (1974) zitiert (einmal). Keine Erwähnung von Menschliches allzu Menschliches oder von Meinungen und Sprüche; ein Zitat von Der Wanderer und sein Schatten (1878) und zwei von Morgenröte (1881). Die Fröhliche Wissenschaft (1882) wird ebenfalls nur einmal zitiert. Die beiden meist zitierten Werke sind Also sprach Zarathustra (1885/86) mit acht Referenzen und Die Genealogie der Moral (1887) mit sieben Referenzen (Jenseits von Gut und Böse wird nur zweimal zitiert). Die dritthäufigste Erwähnung findet Der Wille zur Macht (vier Zitate). Von den Schriften aus dem Jahr 1888 werden allein Die Dithyramben des Dionysos (zweimal) und Ecce Homo (dreimal) zitiert (kein Zitat also aus Antichrist, Götzendämmerung oder Nietzsche gegen Wagner). Wozu dient eine solche Aufzählung? Um festzustellen, dass
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ein ganzer Stapel von Nietzsches Werken (jedenfalls die ersten Schriften (aus Basel) und die Schriften, die klassischerweise die moralistischen genannt werden)4 von Deleuze als »Auszüge« aus dem Gesamtwerk Nietzsches nicht für nennenswert erachtet werden, aber auch um festzustellen, dass die Werke von 1886-1887 (Also sprach Zarathustra, Die Genealogie der Moral und Der Wille zum Wissen) überdurchschnittlich häufig zitiert werden. Natürlich soll hier nicht behauptet werden, dass Deleuze nur diese letztgenannten Schriften gekannt hat (darüber wissen wir nichts), aber dass in dieser kleinen Anthologie bereits eine Auswahl getroffen, eine Manipulation vorgenommen wird – hier nimmt Deleuze Nietzsche von hinten, indem er nur das von seinem Leben und Werk herausgreift, was ihn interessiert, wobei sein Buch zugleich den Eindruck erwecken soll, dass ein Student oder ein eiliger Professor darin eine Zusammenfassung des gesamten Nietzsches für den Leser vorfindet. Allerdings lässt man sich so leicht nicht täuschen, und Deleuze selbst erinnert in Nietzsche und die Philosophie daran, dass »sich die philosophischen Kenntnisse eines Autors weder nach den fremden Zitaten noch nach den vage bleibenden und immer nur mutmaßlich angenommenen bibliographischen Verzeichnissen beurteilen; vielmehr gründen sie in den sei es apologetischen, sei es polemischen Zielrichtungen seines Werkes selbst.« (Deleuze 2002: 177)
Außerdem soll diese Auflistung nicht dazu dienen, die philosophischen Kenntnisse von Deleuze über Nietzsche zu beurteilen, sondern eher dazu, die Manipulationen herauszustreichen, die Deleuze an dessen Schriften vornimmt (Manipulationen, von denen Nietzsche nicht ausgenommen ist, wie man sehen wird, da er ebenfalls mit Leichtigkeit Deleuze von hinten nimmt). Diese Manipulationen sind das beste Beispiel für Deleuzes Methode, die er anwendet, um Nietzsche zu fassen: eine Methode, die darin besteht, das Leben und Werk des Philosophen eben nicht in Einzelteile zu zerlegen, sondern seine Fragment(e) wie den Moment eines Zusammentreffens zu bearbeiten, auf der Schwelle der ewigen Wiederkunft, der Individualitäten (Leser, Werke, Autoren), die aufgrund dieses Zusammentreffens verloren gehen – eines Zusammentreffens, das zwar nicht überall stattfindet, aber überall stattfinden kann (Affirmation des Zufalls und der 4 | Vgl. hierzu den dritten Teil von Nadaud 2009.
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Notwendigkeit des Würfelwurfs, um die Begriffe von Mallarmé und von Deleuze aufzunehmen). Wie sich dieses Zusammentreffen im Moment des Verlusts von Nietzsche/Deleuze/Die Genealogie der Moral/Also sprach Zarathustra/Der Wille zur Macht abspielt, wird im Folgenden wie eine Art Liebesgeschichte oder erotisches Treffen im Hinterzimmer5 beschrieben. Zu diesem Zweck wird dasselbe Inventar anhand von Nietzsche und die Philosophie vorgenommen (das zweite Buch von Deleuze über Nietzsche, das im Folgenden interessieren wird – auch wenn es chronologisch gesehen das erste ist (1962)): die Aufteilung der von Deleuze zitierten Bücher Nietzsches ist in Nietzsche und die Philosophie identisch mit derjenigen in Nietzsche. Die drei meistzitierten Bücher sind wiederum Der Wille zur Macht (156 mal), Die Genealogie der Moral (153 mal) und Also sprach Zarathustra (133 mal), weit vor dem nächsten (Jenseits von Gut und Böse), auf das nur 45mal referiert wird.6 Es handelt sich also nochmals um eine über5 | In Tokyo, in diesen »fantastischen Labyrinthen«, schreibt Foucault, »spürt man die Möglichkeit von Orten ohne Geographie und Kalender, an denen man in absurdestem Dekor mit namenlosen Partnern auf die Gelegenheit wartete, frei von jeder Identität zu sterben. Dort bliebe man auf unbestimmte Zeit, für Sekunden, für Wochen und vielleicht für Monate, bis sich in gebieterischer Klarheit die Chance böte, die man, wie man sogleich erkennt, nicht verpassen darf. Das wäre dann die formlose Form des absolut schlichten Vergnügens.« Foucault 2008: 48. 6 | Um es noch einmal klarzustellen: während keiner der ersten Texte von Nietzsche aus der Zeit von Die Geburt der Tragödie in Nietzsche von 1965 erwähnt wird, finden sich in Nietzsche und die Philosophie von 1962 dagegen 15 Referenzen auf Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (und zwar nur auf diesen Text aus der sogenannten Basler Periode!). Im selben Buch wird Die Geburt der Tragödie 16mal zitiert, das heißt genauso häufig wie Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen – während die anderen vor 1874 verfassten Texte keine Erwähnung finden. Von den vier Unzeitgemäßen wird nur Wagner in Bayreuth nicht erwähnt, Schopenhauer als Erzieher (1874) hingegen ist mit 14 Erwähnungen immer noch überrepräsentiert, im Vergleich zu David Strauss (eine Referenz) und Vom Nutzen und Nachteil der Historie (vier Referenzen). Nur drei Zitate aus Menschliches, Allzumenschliches, vier Zitate aus Der Wanderer und sein Schatten (1879) (und außerdem aus den vorbereitenden Aufzeichnungen), dagegen keines aus Meinungen und Sprüche und dafür drei aus Morgenröte (1881). Die Fröhliche Wissenschaft wird ebenfalls nur neunmal zitiert. Von den
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durchschnittlich häufige Nennung dieser drei Bücher. Wo ein von Entwicklungsgeschichte besessener Zählfan sicherlich schlussfolgern würde, dass Deleuze im Grunde nur diese drei Bücher Nietzsches wirklich gekannt hat, ziehe ich es vor, in diesen drei Werken viel eher Fragmente zu sehen, die Zusammentreffen zwischen Werken/Autoren/Lesern darstellen, bei denen diese sich desindividualisieren (in dem Sinne sind die Werke nicht einfach nur Orte des Zusammentreffens zwischen dem Individuum Deleuze und dem Individuum Nietzsche: sie nehmen an diesem Zusammentreffen teil). Von diesen kollektiven Äußerungsgefügen wird hier aus Platzgründen Nietzsche/Deleuze/Der Wille zur Macht7 zunächst beiseitegelassen. Die beiden anderen Zusammentreffen (Deleuze/Nietzsche/Also sprach Zarathustra und Nietzsche/Deleuze/Die Genealogie der Moral) sind jedoch vor allen Dingen interessant, weil die beiden Individuen-Werke die Affirmation des Individuums-Deleuze in Bezug auf die Philosophie des Individuums-Nietzsche in verdichteter Form darstellen, wobei sich das Individuum-Nietzsche durch »zwei Ausdrucksmittel: den Aphorismus und das Gedicht« erklärt (als zweites das Individuum-Also sprach Zarathustra, zuerst das Individuum-Die Genealogie der Moral8). Besonders interessant ist hier der Aphorismus, und um die Konsequenz aus unserer Aufzählung zu ziehen, möchte ich, zugegebenermaßen etwas brutal, aber auf Grundvor 1888 verfassten Schriften werden hauptsächlich Der Antichrist (38mal) und Ecce Homo (35mal) zitiert (die damit ebenfalls gegenüber Götzendämmerung (achtmal), Nietzsche gegen Wagner (einmal) und Die Dithyramben des Dionysos (achtmal, davon vor allem das Gedicht Ariadne) überrepräsentiert sind). 7 | Man kann die Auffassung vertreten, dass Deleuze den Willen zur Macht als einziges verfügbares Reservoir der posthumen Fragmente aus quasi dem gesamten Leben Nietzsches verwendet (die Würzbacher Ausgabe, die Deleuze benutzt, stellt posthume Fragmente aus den Jahren 1870 bis 1888 zusammen). Mit Sicherheit hätte Deleuze die Ausgabe von Colli/Montinari verwendet, hätte es sie damals schon gegeben. 8 | Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Nietzsche und die Philosophie sagt Deleuze klar: »Nie wird sich Nietzsche mit der Rede oder der Abhandlung (logos) als Ausdruck des philosophischen Denkens begnügen, obwohl er die schönsten Abhandlungen geschrieben hat, insbesondere die Genealogie der Moral, der gegenüber die gesamte Ethnologie in einer nicht zu tilgenden ›Schuld‹ steht. Doch ein Buch wie Zarathustra lässt sich nur als moderne Oper lesen und als solche sehen und hören.« Deleuze 2005: 198.
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lage der vorangegangenen Präzisierungen, betonen: das Buch, auf das sich Deleuze besonders einlässt, ist Die Genealogie der Moral (mit 153 Zitaten). Denn vor allem in dieser Maschine wird das Bild (des Denkens) umgesetzt, dass »ein Aphorismus von Nietzsche eine Maschine [ist], die Sinn produziert, und zwar in einer bestimmten Ordnung, der des Denkens« (Deleuze 2003a: 198). Trotzdem ist Die Genealogie der Moral nicht in Aphorismen (sondern in drei Abhandlungen) geschrieben. Das Verhältnis der dritten Abhandlung zum Aphorismus (der als Quelle jeder Interpretation definiert wird) muss jedoch als wichtigste Lektion verstanden werden, die Deleuze aus diesem Buch mitnimmt: »Nietzsche erklärt: Drei Anekdoten genügen, das Leben eines Denkers wiederzugeben. Gewiß eine für den Ort, eine für die Stunde, eine für das Element. Die Anekdote ist im Leben, was der Aphorismus im Denken: etwas zum Interpretieren. Empedokles und sein Vulkan: das wäre eine solche Denker-Anekdote. Die Höhe der Gipfel und die Höhlen, das Labyrinth; Mitternacht-Mittag, das luftige, eisvogelhafte Element und auch das verdünnte Element des im Keller liegenden.« 9 (Deleuze 2002: 121)
Mit diesem Zitat wird nachvollziehbar, inwiefern der Aphorismus (wie die Anekdote) als eine Art Gärstoff der Interpretation fungiert (wie die Anekdote/Fragmente, die Nietzsche aus Also sprach Zarathustra zieht, die dritte Abhandlung der Genealogie der Moral eröffnet). Deleuze bekräftigt dies, wenn er sein besonderes Interesse an diesem letzten Buch betont: »Die Genealogie der Moral stellt das systematischste Buch Nietzsches dar. Dessen Intention ist eine doppelte: Zum einen bietet es sich weder als eine Gesamtheit von Aphorismen noch als ein Gedicht an – vielmehr als ein Schlüssel zur Auslegung von Aphorismen und zur Wertschätzung eines Gedichts.«10 (Ebd.: 95)
9 | Deleuze bezieht sich hier auf ein Fragment aus Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen [Einleitung]. 10 | Deleuzes Programm im dritten Teil seines Buches, »Kritik«, besteht darin, die »formale Struktur der Genealogie der Moral herauszuschälen«, und er ist überzeugt, dass »wir uns der Schlussfolgerung nicht verschließen [können]: dass in der Genealogie der Moral Nietzsche erneut die »Kritik der reinen Vernunft« hat durchführen wollen« ebd.: 96.
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Deleuze beschäftigt sich also vorzugsweise mit der Genealogie der Moral, weil ihm dieses Buch eine Methode zur Verfügung stellt, um selbst Manipulationen an dem vorzunehmen, was er bei Nietzsche als Aphorismen bestimmt – und was hier mit dem Begriff der Fragment(e) bezeichnet wird. Es ging hier demnach nicht so sehr um eine Liste der Zitate aus Nietzsches Werken, sondern um die Konstruktion eines Bildes vom Zusammentreffen von Deleuze mit Nietzsche und seinen Werken. Anders formuliert, geht es um das Bild des Denkens als einer Manipulation (ein Begriff, der von dem der Verfälschung unterschieden werden muss). Aber Deleuze verirrt sich in dieser Manipulationsübung auch – trotz dieser Methode, die er besser als jeder andere beherrscht. Er schlittert also nur knapp an der Verfälschung vorbei,11 vor allem, wenn er zu beweisen versucht, dass Die Geburt der Tragödie ein noch unreifes Werk Nietzsches (ein Werk aus einer unreifen Periode) sei (im Gegensatz zur Reife, die sich in den Werken zwischen 1883 und 1888 einstellt)12 . Deleuze stellt folgende These auf: wenn Die Geburt der Tragödie den Gegensatz (den er als dialektisch bezeichnet) zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen aufzeigt, dann steht dies, so Deleuze, »unter dem Einfluss von Schopenhauer und von Wagner«; und dieser Einfluss entfernt ihn vom »wahre[n] Gegensatz«, dem »tiefergehenden zwischen Dionysos und Sokrates« (Deleuze 2003: 18). Der Gegensatz zwischen Apollon/Dionysos entspräche einer Dialektik, da er das Werk eines Dialektikers ist, »der Beruf und die Mission des Dialektikers [ist es], überall dort, wo heiklere Wertschätzungen zu treffen, Koordinationen zu interpretieren wären, seine Antithesen aufzurichten«13 (ebd.: 20). Nietzsche stelle Dionysos nur deshalb Apollon entgegen, weil dieser die Antithese von jenem repräsentiert. Es ist jedoch Deleuzes Ansicht nach die philosophische und konzeptuelle Stärke von Nietzsche, dass er den Widerstreit der Kräfte, den Widerspruch erfunden hat (dessen 11 | Weitere Beispiele finden sich in Deleuzes Buch, vor allem seine Analyse der Prozesse, die Nietzsche aufgrund seines Antisemitismus gemacht wurden. Zu dieser Frage vgl. Nadaud 2009: 474ff. 12 | Diese Überzeugung von Deleuze erklärt wahrscheinlich auch die überdurchschnittliche Häufigkeit der Werke aus dieser Zeit in Nietzsche und die Philosophie. 13 | »Daß die Blüte die Antithese zur Knospe ist, dass jene diese ›widerlegt‹: darin haben wir schon so eine berühmte, der Dialektik ach so teure Entdeckung.« Ebd.
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Potentialdifferenz Wille zur Macht heißt). Und der Widerspruch von Dionysos, der für das Leben steht, ist nicht Apollon, sondern eher das, was gegen das Leben ist, und das bedeutet: der christliche Nihilismus und die Kontaminierung der Philosophie, die Dialektik14 . Die einzige Erfindung Nietzsches, die für Deleuze zählt, ist also das Schaffen von zwei Begriffen (zwei Begriffspersonen): Dionysos als Bejahung der Mannigfaltigkeit der Kräfte und Christus als dialektische Verneinung, das heißt als Unterordnung der aktiven unter die reaktiven Kräfte15 . Deleuzes These besteht hier darin, Nietzsches Entwicklung zu beschreiben, angefangen beim dialektischen Gegensatz (Dionysos/Apollon in Die Geburt der Tragödie, 1871) über den Gegensatz Dionysos/Sokrates (ganz am Ende von Die Geburt der Tragödie) bis zum Widerspruch Dionysos/Christus (in Der Antichrist, 1888) oder Dionysos/Ariadne (in Ecce Homo und Die Dithyramben des Dionysos, 1888)16. Die nihilistische Dialektik steht gegen die geniale Konzeption des Widerspruchs; Deleuze schreibt über sie, dass »Nietzsche dieser Interpretation in der Geburt der Tragödie noch nicht widerstehen konnte […]« (ebd.: 25). Mit diesem »noch« suggeriert Deleuze, dass es mindestens zwei Nietzsche(s) gibt: den jungen, unreifen, der unter Schopenhauers und Wagners Einfluss steht und noch Dialektiker ist – wie Deleuze es knapp formuliert: »Man sieht, wie sehr Nietzsche in der Geburt der Tragödie noch »Dialektiker« ist« (ebd.: 25, Fußnote 62) – und den gereiften Nietzsche, der beim Widerspruch angelangt ist. Deleuze sieht sich also gezwungen, Nietzsche in 14 | Dieser »Hang zu Antithesen, auf Kosten der wirklichen Koordinationen«, schreibt Deleuze und paraphrasiert Feuerbach über Hegel. Ebd.: 20, Fußnote 46. 15 | Dieser Gegensatz bringt für ihn die differentielle Bejahung der Kräfte hervor (Zagreus): »Der Gegensatz von Dionysos oder Zarathustra zu Christus stellt keinen dialektischen Gegensatz, vielmehr den Gegensatz zur Dialektik selbst dar: die differentielle Bejahung gegen die dialektische Verneinung, gegen jeden Nihilismus und jene besondere Form des Nihilismus.« Ebd.: 22. 16 | Er zitiert die bekannte Passage aus Ecce Homo, in der Nietzsche auf dem Gegensatz zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten insistiert: »Die Antithese Dionysos-Apollo, jener beiden Götter, die sich versöhnen, um vom Schmerz zu erlösen, wird ersetzt durch die noch mysteriösere Komplementarität DionysosAriadne; denn eine Frau, eine Braut ist unabdingbar, wenn es darum geht, das Leben zu bejahen. An die Stelle des Gegensatzes von Dionysos und Sokrates tritt der wahrhaftige Gegensatz: ›Hat man mich verstanden? – Dionysos gegen den Gekreuzigten…(EH, IV, 9)‹.« Ebd.: 19.
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Perioden, in Teilen zu denken, um eine solche Übung durchzuführen (und verliert dabei den Nietzsche in Fragmenten, um wieder auf die partiellen Nietzsches auszuweichen). Es liegt an dieser Stelle fern zu behaupten, dass Nietzsche sich nicht entwickelt hätte, nicht gereift sei, nicht gewachsen sei. Was hier jedoch in Zweifel gezogen wird, ist der Begriff der Entwicklung (und damit eine Philosophiegeschichte, der wir den Krieg erklären). Weit entfernt von der Stärke seiner Präsentation in Nietzsche von 1965 trennt Deleuze in dieser Passage das Leben von Nietzsche ab, um sein Werk in Perioden zu denken: »Ordnen wir einmal die Thesen aus der Geburt der Tragödie, die Nietzsche aufgeben oder verändern wird, so finden sich deren fünf.« (Ebd.: 28, Fußnote 71) Deleuze erklärt zudem, dass der dialektische Nietzsche aus Die Geburt der Tragödie sich verändert, und dass seine Entwicklung darin besteht, nicht mehr Dialektiker zu sein und sich stattdessen der ewigen Wiederkehr zu öffnen, dem Widerspruch zur Potentialdifferenz. Neben diesem philologischen Problem stellt man an diesem Ansatz eine philosophische Schwäche fest: Meiner Ansicht nach hat er Unrecht damit, den Gegensatz Dionysos/Apollon nur als dialektischen zu verstehen, insbesondere weil er damit in die Falle tappt, die er doch durchschaut hat (die dialektische Falle): Wenn er denkt, dass das Paar Dionysos/Apollon auf der Seite der Dialektik (des Nihilismus) steht und das Paar Dionysos/ Christus auf der Seite des Widerspruchs (Lebenskraft), macht er nichts anderes als selbst als Dialektiker zu handeln (in der hegelianischen Philosophie, von der sich Deleuze so oft distanziert und vor der er sich hütet, ist der Ursprung der Dialektik das Auftauchen des Begriffs: sagt Deleuze etwas anderes, wenn er quasi historisch aufzeigt, dass der dialektische Gegensatz Dionysos/Apollon sich in einem Begriff zusammenfasst, dem des Widerspruchs der Kräfte?). Dagegen möchte ich einwenden, dass im Gegensatz Dionysos/Apollon (ich sage nicht: schon) ein Widerspruch besteht; genauso wie im Gegensatz Dionysos/Christus (ich sage nicht: noch) eine Dialektik existiert17. Schließlich dient diese Lektüre nur dazu, die eigenen Konzepte darzulegen. Was an sich überhaupt nicht kritikwürdig 17 | Genau das bedeutet der Agon Apollon versus Dionysos. Deleuze nimmt unserer Meinung nach eine sehr (post-)moderne Lektüre von Die Geburt der Tragödie vor. Um dies zu verstehen, sind Nietzsches Texte aus den 70er Jahren sehr wertvoll (und zwar nicht nur Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen): denken wir beispielsweise an Homers Wettkampf und an Nietzsches Begriff des Agon. Zu dieser Fragestellung vgl. Nadaud 2007: 351-372.
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ist. Während es jedoch eine gute Sache ist, wenn er Nietzsche von hinten Kinder macht, ist es eine weitaus weniger gute Sache, dass er die Dialektik demontiert, indem er eine progressistische Entwicklungsfähigkeit (die eben genau von ihr erfunden wurde) konstatiert. Denn er verteidigt sich dagegen, dass auch Nietzsche Deleuze von hinten nehmen könnte – was, wie gezeigt werden soll, diesem am Ende aber gelingt. Dieser Irrtum von Deleuze, den ich dialektisch nenne (der also darin besteht, Nietzsche in Teile zu zerlegen, um den jungen, dialektischen Wagner-Schopenhauerischen Nietzsche wegzuschicken und den Nietzsche von Deleuze aus der Genealogie der Moral emporzuheben), ergänzt sich mit demjenigen, den er begeht, wenn er versucht alle Theorien beisammen zu halten (ewige Wiederkunft, Wille zur Macht), indem er Heidegger bemüht und schließlich, insbesondere am Ende von Differenz und Wiederholung, zum »Gestirn des Seins« zurückkehrt, wo man »im Denken von Nietzsche keinen Widerspruch ausmachen« (Deleuze 2002: 193) wird. Aber wir sollten vorsichtig sein, denn dieser Irrtum – wie viele davon befinden sich wohl im vorliegenden Aufsatz? – soll uns nicht dazu verleiten, das Kind Deleuze mit dem Bade auszuschütten. Glauben wir Deleuze, wenn er behauptet, die Beschäftigung mit Nietzsche hätte ihn »aus all dem herausgeholt« – die Beschäftigung mit diesem Nietzsche, der ihm »von hinten Kinder macht« und ihn zu »Erfahrungen, Experimenten« einlädt. In Nietzsche und die Philosophie gibt es auch diesen Nietzsche, denjenigen, den Deleuze auf der Konferenz von Cerisy im Juli 1972 vorstellt. Alle Nietzsche(s) von Deleuze sind Fragment(e), Begegnungen: Fragment(e) von Deleuze/Nietzsche und die Philosophie und Fragment(e) von Deleuze/Guattari/Anti-Ödipus18 … Die Nietzsche(s) von Deleuze treffen aufeinander und lösen sich wieder auf. Auf der Konferenz von Cerisy, als die Erfahrung der Deterritorialisierung mit Guattari für den Anti-Ödipus noch ganz frisch war, spricht Deleuze besonders inspiriert von Nietzsche. Er stellt sich die Frage, wer »heute der junge nietzscheanische Mensch« sein könnte und präsentiert Nietzsche als »Beginn einer Gegen-Kultur«. (Deleuze 1979: 105) Die Zeichen dieser Gegen-Kultur? Nietzsches verbitterter und unaufhörlicher Kampf gegen die Recodierungen, um immer noch ein Stück weiter zu gehen: jenseits der Recodierungen durch die Familie (die Freud’sche Psychoanalyse), jenseits der Recodierungen durch den Staat (der Marxismus), »liegt« für Nietzsche das »Problem woanders. 18 | Zu diesem Zusammentreffen siehe Nadaud 2004.
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Quer zu allen Codes der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geht es ihm darum, etwas passieren zu lassen, das sich nicht codieren lässt und sich nicht codieren lassen wird.« (Ebd.: 107) Hier spricht der Anti-Ödipus. Eine überzeugendere Erklärung als die gerade vernommene wäre: Nietzsche braucht den dialektischen Nietzsche, damit der Nietzsche des Widerspruchs sprechen kann – und umgekehrt. Deleuze kämpft nicht mehr für den Versuch, Nietzsche in oder über die Metaphysik hinaus zu integrieren: die Begriffe sein und dialektisch machen denjenigen der Maschinen und der Codes/Decodierung Platz. »Angesichts der Weise, in der unsere Gesellschaften sich decodieren und in der die Codes an allen Enden verschwinden, macht Nietzsche keinen Versuch einer Recodierung. Er sagt: das wird zu nichts führen.« (Ebd.: 109)
Nietzsche erreicht das Molekulare, dort, wo Freud und Marx im Molaren stecken blieben, wie Deleuze und Guattari im Anti-Ödipus schreiben: »Ein molarer Funktionalismus ist folglich dadurch ausgezeichnet, nicht weit genug gegangen zu sein, nicht jede Region erreicht zu haben, wo der Wunsch ankurbelt, und zwar unabhängig von der Natur dessen, was angekurbelt wird.« (Deleuze/ Guattari 2004: 232)
Deleuze präsentiert uns einen Nietzsche in Fragment(en): »Auf der Ebene seines Denkens und Schreibens unternimmt Nietzsche den Versuch von Decodierung, und zwar nicht im Sinne einer relativen Decodierung, die darin bestünde, alte Codes, seien sie gegenwärtig oder im Kommen, zu dechiffrieren, sondern im Sinne einer absoluten Decodierung – etwas passieren lassen, das nicht codierbar ist, und alle Codes durcheinanderbringen.« (Deleuze 1979: 109)
Wir sollten nicht in die Falle tappen, die wir durchschaut haben. Ich behaupte nicht, dass Deleuze in Nietzsche und die Philosophie von 1962 teleologisch argumentiert (obwohl eine Passage des Buches in Begriffen der Entwicklungsfähigkeit von Konzepten gedacht ist). Genauso wenig behaupte ich, dass er, weil er sich entwickelt und weil er Nietzsches Leben in Nietzsche von 1965 anhand von Begriffspersonen erzählt, schließlich 1972 und gemeinsam mit Guattari aus Nietzsche eine Maschine macht. Nein!
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Darauf fallen wir nicht herein. Die beiden Lesarten – ein partieller Nietzsche und ein Nietzsche in Fragment(en) – befinden sich bei den Nietzsches von Deleuze in ständigem Wettstreit (Agon). Genauso befinden sich alle Deleuze (Guattari) im Wettstreit, die sich im selben Chaos entdecken lassen. Wenn er sich fragt, was es an Faschistischem im Denken von Nietzsche geben kann, schlägt Deleuze Ansätze vor, die wie Bahnen eines möglichen Umherstreifens sind: »Und war dieses Denken selber überhaupt Philosophie oder handelte es sich nicht um eine heftige, allzu heftige Poesie, um allzu eigenwillige Aphorismen, allzu pathologische Fragmente?« (Deleuze 2005: 193) Das Gedicht (Also sprach Zarathustra) oder der Aphorismus (Die Genealogie der Moral) – letztendlich die Fragment[e] – bilden Fluchtlinien, auf denen Deleuze sich umherstreifend bewegt. Das Unverständnis für Deleuzes nietzscheanisches Eintauchen in die Unterschiedslosigkeit (Gedicht/Aphorismus/Fragment(e)), die Unterstellung dialektischer und metaphysischer Abirrungen, die Verschlossenheit gegenüber den zahlreichen Nietzsches von Deleuze – all jene allzu eilfertigen Abfertigungen von Deleuze »ambivalentem Verhältnis« zu Nietzsche führen zu ganz und gar leeren kritischen Interpretationen, beruhen sie doch auf einem Begriff von Interpretation, der weit von dem entfernt ist, was wir mit anderen, wie etwa Foucault, Genealogie nennen.19 Aus dem Französischen von Antonia von Schöning.
L iter atur Andreas-Salomé, Lou: Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Frankfurt a. M. 1983. Deleuze, Gilles: Nietzsche. Ein Lesebuch, übers. v. R. Voullié. Berlin 1979. Deleuze, Gilles: »Nomaden-Denken«, in: ders.: Nietzsche. Ein Lesebuch, übers. v. R. Voullié. Berlin 1979, S. 105-121. Deleuze, Gilles: »Brief an einen strengen Kritiker«, in: ders.: Unterhandlungen, übers. v. G. Roßler. Frankfurt a. M. 1991, S. 11-24.
19 | »Interpretieren heißt dann Interpretationen interpretieren und eben dadurch bereits die Dinge verändern, »das Leben« verändern.« Deleuze: 2003b: 187.
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Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie, übers. v. B. Schwibs. Hamburg 2002. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie?, übers. v. B. Schwibs/ J. Vogl. Frankfurt a. M. 2003. Deleuze, Gilles: »Über Nietzsche und das Bild des Denkens«, in: ders., Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953-1974, übers. v. E. Modelnhauer, hg. v. D. Lapoujade. Frankfurt a. M. 2003a, S. 195-205. Deleuze, Gilles: »Nietzsches Gelächter«, in: ders.: Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953-1974, übers. v. E. Moldenhauer, hg. v. D. Lapoujade. Frankfurt a. M. 2003b, S. 186-189. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, übers. v. B. Schwibs. Frankfurt a. M. 2004. Deleuze, Gilles: »Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Nietzsche und die Philosophie«, übers. v. B. Schwibs, in: ders., Schizophrenie und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2005, S. 193-198. Foucault, Michel: »Ein so schlichtes Vergnügen«, übers. v. M. Bischoff, in: Daniel Defert u.a. (Hg.), Ästhetik der Existenz: Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2008, S. 46-48. Jaspers, Karl: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin u.a. 1981. Pessoa, Fernando: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, übers v. I. Koebel. Zürich 2003. Nadaud, Stéphane: »Les Limbes ou l’antépurgatoire, qu’en est-il de la joute au XXe siècle?«, in: Revue Lignes, Nov. 2007, Nr. 23-24, S. 351-372 (in dieser Ausgabe fehlen versehentlich die Fußnoten. Den vollständigen Artikel gibt es unter www.revue-chimeres.fr/drupal_chimeres/?q=node/274). Nadaud, Stéphane: »Einleitung«, in: ders.: Guattari, Félix: Écrits pour l’Anti-Œdipe, Paris 2004, S. 7-31. Nadaud, Stéphane: Lecture(s) de Nietzsche, théorie et pratique du fragment(s), Diss. Alain Brossat, Université de Paris 8, Paris 2009.
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Teil 2: Kino nach Deleuze
Der Film der Zweiten Moderne oder Filmtheorie nach Deleuze Oliver Fahle
1. V ier P robleme Die Filmtheorie von Gilles Deleuze ist längst kein Geheimtipp mehr, sondern inzwischen das international wohl meistdiskutierte filmtheoretische Werk der Gegenwart.1 Jedoch ist diese Arbeit Deleuzes vor 25 Jahren verfasst worden. Grund genug, sich nicht damit zufrieden zu geben, seine Konzepte ein weiteres Mal zu erklären, sondern diese weiter zu entwickeln. Dies wird in diesem Text in vier Richtungen geschehen: Erstens soll das bei Deleuze vor allem im zweiten Band wichtige Konzept des modernen Films vorangetrieben werden. Es stellt sich die Frage, welche Konzepte der Film der Gegenwart hervorbringt, der längst nicht mehr nur mit Ideen des Autorenfilms oder des Zeitbildes operiert, sondern, so die These, eine Verschränkung von Narrations- und Autorenfilm betreibt. Diese Entwicklung des modernen Films soll als Zweite Moderne bezeichnet werden. Zweitens soll diskutiert werden, wie mit den Deleuze’schen Begriffen der gegenwärtige Film beschrieben werden kann. Deleuze hat seine philosophischen und theoretischen Positionen in enger Anlehnung an Filmen und Filmemachern erarbeitet. Deleuze kann die Filme der Gegenwart nicht mehr wahrnehmen, aber seine Theorie kann es. Es ist also nicht nur legitim, sondern auch notwendig, wichtige filmische Werke der letzten Jahre gleichsam durch eine Deleuzianische Lektüre zur Kenntnis zu 1 | Allein der Katalog zu Film, Media & Cultural Studies der Edinburgh University Press 2008 zählt elf Neuerscheinungen zu Deleuze, darunter sechs zur Filmtheorie von Deleuze auf. Vgl. auch www.eup.ed.ac.uk.
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nehmen, um die Entwicklung filmischer Konzepte zu begreifen. Drittens erscheint es mir angebracht, die Theoriebildung von Deleuze kritisch nach ihren blinden Flecken zu hinterfragen, also nach Perspektiven, die Deleuze wenig oder kaum zur Kenntnis genommen hat, die aber in Verbindung mit seinen Positionen Filme besser erklären können. Ich werde daher Deleuzes Theorie mit angelsächsischen Erzähltheorien ins Verhältnis setzen und dabei zu zeigen versuchen, inwiefern eine Verbindung dieser beiden, sich gegenseitig weitgehend ignorierenden Theoriestränge unseren Blick auf die gegenwärtige Ästhetik des Films verbessern kann. Viertens läuft die Weiterentwicklung der Moderne, des Films und der Deleuze’schen Konzepte darauf hinaus, Deleuze nicht nur als Film-, sondern auch als Medientheoretiker zu begreifen. Gegenwärtige Filme setzen sich – beginnend mit dem modernen Film – mit der medialen Bedingtheit von Wahrnehmung und visuellem Wissen auseinander. Der Film der Zweiten Moderne nimmt diese Tendenz auf und begreift Film vor allem als wechselseitige Relation von Film und anderen visuellen Medien, etwa Video, Fernsehen und digitalen Bildern. Wird dieser letzte Aspekt am Ende anhand eines Beispiels verdeutlicht, sind die drei ersten Fragen gleichzeitig Gegenstand der folgenden Kapitelabschnitte 2 bis 2b.
2. D er moderne F ilm Die Filmwissenschaft ist sich weitgehend einig darin, dass es verschiedene Modernisierungsphasen des Films gegeben hat, wobei zwei Einschnitte hier besonders hervorgehoben werden können. Der erste bezieht sich auf die klassischen Avantgarden der 1920er Jahre. Der zweite Einschnitt ereignet sich, im Anschluss an den italienischen Neorealismus, in den späten 1950er Jahren mit den zahlreichen neuen Wellen der europäischen und außereuropäischen Filmkulturen, von denen neben dem italienischen, deutschen, britischen und brasilianischem Film besonders die nouvelle vague hervorsticht. Nicht zufällig auch deshalb, weil ihr mit den einflussreichen cahiers du cinéma ein wichtiges Theoretisierungsorgan zur Seite stand, das die jungen Regisseure um Godard hingebungsvoll, aber auch theoretisch versiert, begleitete.2
2 | Zum modernen Film, vgl. unter vielen anderen: Ishagpour: 1996.
D er F ilm der Z weiten M oderne oder F ilmtheorie nach D eleuze
Es ist besonders diese zweite Phase der Modernisierung, also die Periode zwischen 1940 und 1960, die in den Blick gerät, wenn vom modernen Film die Rede ist. Das liegt vor allem daran, dass erst in dieser Phase die entscheidende Differenz entsteht, die den modernen Film als eigenständige Bewegung so sichtbar macht. Erst vor dem Hintergrund der Etablierung einer hegemonialen Filmsprache, nämlich des klassischen narrativen Films, wie er sich vor allem im Studiosystem Hollywoods konstituiert, bildet sich der moderne Film heraus und steuert die Reflexionsbemühungen, durch die eine moderne Filmästhetik entstehen kann. Die Modernisierung der 1920er Jahre hingegen richtete sich auf die Exploration der Möglichkeiten des filmischen Mediums im Verhältnis zu den seinerzeit traditionalen Medien wie Theater, Literatur und Malerei. Eine dominante filmische Ästhetik hatte sich noch nicht vollständig herausgebildet und setzt sich erst mit dem Tonfilm durch. Dann aber entwickelt sich der Film rasch in die Richtung einer Verdichtung hin zum narrativen Paradigma, das den Film nicht als reflektierendes, sondern als erzählendes Medium etabliert. Der moderne Film konstituiert sich dabei, so die These, sowohl über einen Binnenbezug – also eine Thematisierung des Films im Kontext des Films – als auch über einen Außenbezug – also eine Thematisierung des Films im Kontext anderer Medien. Erst der Zusammenschluss dieser beiden Bezugsformen erlaubt es, vom modernen Film zu sprechen.
Der moderne Film und der Binnenbezug Das narrative Paradigma, auch geführt als classical narration, ist weitgehend bekannt und vielfältig dargestellt worden.3 Daher möchte ich nur drei Aspekte hervorheben und für die folgende Argumentation im Auge behalten. Erstens definiert sich die klassische Narration an den Elementen von Aktion und Handlung. Was gezeigt und gesagt wird, steht in Funktion einer Handlung, die sich sinnförmig und im Normalfall linear, oftmals gemäß einer fünfaktigen Dramaturgie, organisiert. Zweitens ist die wichtigste Stütze der klassischen Erzählung der psychologisch motivierte Protagonist, der wie ein kohärent funktionierendes Subjekt begriffen wird. Drittens schließlich werden die filmischen Mittel stets so eingesetzt, dass sich das Raum-Zeit- und Sinngefüge des Films nach außen hin abschließt. Diese Schließung oder dieser Schließungseffekt ist enorm wichtig, weil er 3 | Vgl. unter anderem: Bordwell 1985.
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den Film als Fiktion von seiner Außenseite abgrenzt, etwa von der Produktion und den Herstellungsbedingungen. Für diese Ab- oder Einschließung der Fiktion stellt die Filmtheorie einen Begriff bereit und zwar den der Diegese. Die Diegese, von Etienne Souriau in den 1950er Jahren definiert, bezeichnet die Realität der Fiktion.4 Das heißt, die Fiktion des Films schafft durch ihre Abgrenzung eine eigene Realität, die nur dieser Fiktion zugehört, allerdings unter Einbeziehung der physikalischen und historischen Realität, wie sie vom Film vorausgesetzt werden kann. Ein Film, dessen Handlung in den Vereinigten Staaten spielt, setzt etwa die Existenz New Yorks voraus, auch wenn es nicht eigens Teil der Handlung wird. Anders gesagt: Die Diegese als Realität der Fiktion schließt das hors-champ ein, also Orte und Handlungen außerhalb des Bildfelds, nicht aber das horscadre, also Orte und Handlungen außerhalb der Kadrierung. Diese drei konstitutiven Elemente des klassischen Erzählfilms – Handlung, Protagonist als Subjekt und diegetische Schließung – werden nun vom modernen Film unterlaufen. Der moderne Film organisiert die Bilder nicht mehr vorrangig, um sinnförmige Handlung zu strukturieren. Er kann mit psychologisch definierten Protagonisten nichts mehr anfangen, weil er – der Film – selbst zum Protagonisten wird. Akteure kommen in diesen Filmen sicherlich noch vor, aber sie sind aus dem Zentrum gerückt, sind bestenfalls noch Akteure in einer verteilten Handlungsmacht, um eine Wendung von Bruno Latour aufzunehmen.5 Schließlich ist der moderne Film von der sichtbaren oder latenten Öffnung der Fiktion bestimmt, indem er das hors-cadre direkt thematisiert, etwa bei Godard6, Kluge oder Glauber Rocha, oder indem er die diegetische Schließung in den Bildern des Films gleichsam zerrinnen lässt, wie bei Fellini7, Antonioni oder Wenders. Zusammengefasst: Der moderne Film, wie er sich in den 1960er Jahren paradigmatisch organisiert, thematisiert in der Darstellung das Darstellende, in der Erzählung das Medium, macht Fremdreferenz und Selbstreferenz gleichermaßen sichtbar. Er wird damit theorieförmig, da er seine eigene Bauweise zum Gegenstand der filmischen Reflexion macht. Mit anderen Worten: Er wandelt sich vom Erzähl- zum Denkraum.
4 | Vgl. Souriau 1951. 5 | Vgl. Latour 1999, vor allem Kapitel 6. 6 | Vgl. Engell 2003: 132-151. 7 | Vgl. Fahle 2005: 26-37.
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Nicht alle filmtheoretischen Abhandlungen, die sich mit dem Verhältnis von klassischem und modernem Film beschäftigen, würden jedoch dieser terminologischen Bestimmung ohne weiteres zustimmen. Es ist vor allem die angelsächsische Erzähltheorie, die die Unterscheidung von klassischem und modernem Film zu vermeiden versucht und sie entweder nicht thematisiert, wie bei Edward Branigan8 oder Seymour Chatman9, oder stattdessen von classical und art-cinema-narration spricht, wie bei David Bordwell10. Die Differenz zu umgehen oder auf die Weise Bordwells terminologisch auszulegen, setzt voraus, Film prinzipiell als erzählendes Medium zu begreifen und erst von dieser Grundannahme aus die Formen zu bestimmen, die sich von den Kanonisierungen der klassischen Narration entfernen. Diese Position behauptet zudem, dass bis auf wenige Ausnahmen, die vielleicht im experimental cinema zu suchen wären, jeder Film Elemente des Erzählens mobilisiert, dass also nicht nicht erzählt werden kann. Diese Haltung ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass der amerikanische Film die Schaffung der wichtigsten Erzählformen wesentlich gestaltet hat und überhaupt in einer pragmatischen Denktradition steht, sondern sie hat auch überzeugende Argumente auf ihrer Seite. Denn in der Tat können die modernen Filme der 1960er Jahre auch als eine Auseinandersetzung mit den großen Erzählungen der klassischen Phase gelesen werden. Die Raum- und Zeitkonstruktionen des Films der Moderne bestimmen sich insbesondere auch vor dem Hintergrund der Auflösung und Zerstörung der Erzählregeln, die für den suture-Effekt, also die Vernahtung der Einstellungen zu einer kohärenten, diegetischen Fiktion, verantwortlich sind.11 Was berechtigt daher, in diesen Lockerungen der Narration bereits vom Aufbruch des Films in die Moderne zu sprechen? Warum markiert die Neuorganisation und Zersplitterung der Erzählung gleichzeitig schon die Einrichtung des Films als Denkraum? Anders gefragt: Welchen Vorteil gewinnt man in der Beschreibung, wenn man nicht mehr nur von der Differenz von klassischer und nicht-klassischer Erzählung spricht, sondern von der zwischen klassischem und modernem Film? 8 | Vgl. Branigan 1992. 9 | Vgl. Chatman 1993. 10 | Vgl. Bordwell 1985. Im französischsprachigen Raum ist Francois Jost der profilierteste Vertreter einer Theorie des narrativen Films. Vgl. Jost/Gaudreault 1990. 11 | Zur Suture vgl. Oudart 1969.
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Der moderne Film und der Außenbezug Die Beschreibung des Films ausschließlich im Rahmen der Erzähltheorien bezieht sich, so möchte ich behaupten, nur auf die Entwicklung des Films – also auf den Innenbezug – und muss die Verbindung zu anderen Medien ausblenden. Dies wird aber der Entwicklung des Films nicht gerecht, konstituieren sich die filmnarrativen Einschnitte doch maßgeblich unter Einfluss anderer Medien, die der Film verarbeitet. Modernisierungsschübe des Films ereignen sich immer dann besonders auffällig, wenn der Film Abgrenzungstendenzen gegen andere Medien entwickeln muss. Dies gilt, wie gesehen, schon für die 1920er12 und erst recht für die Bewegungen der 1960er Jahre, die sich angesichts der aufkommenden Bildmedien, insbesondere des Fernsehens, neu organisieren.13 Fernsehen entwickelt sich in dieser Zeit nicht nur zu einem dem Film ebenbürtigen und überlegenen Massenmedium, was die Distribution und den Empfang betrifft, sondern es ist auch dem Film ästhetisch ähnlich, vor allem, weil es das Privileg des Films, Erzählungen in bewegten Bildern zu konstruieren, aufhebt. Es ist das Fernsehen, das die beiden wichtigsten Konstituenten des erzählenden Films in Frage stellt: Zum einen die Verknüpfung der Bilder zu einer kohärenten Narration, auf die das neue Medium mit Fragmentarisierung und Verschaltung verschiedener Genres reagiert; zum anderen die klare Unterscheidung zwischen Fiktion und Dokumentation, eine Differenz, der sich die neuen, im weitesten Sinne im Live-Modus verfassten Bilder, weitgehend entziehen. Die Filme von Regisseuren wie Godard, Antonioni, Kluge oder Wenders, oder folgt man Jacques Rancière, auch die späten Werke von Fritz Lang14 , geraten unvollständig in den Blick, wenn man sie nur im Rahmen von Erzähltheorien begreift und nicht den Medienumbruch thematisiert, der diesen Filmen zu Grunde liegt; ein Medienumbruch, der vorwiegend mit dem Fernsehen zu tun hat, insofern als das Filmbild in der Konfrontation mit diesem neue Möglichkeiten erschließt, die im klassischen Film noch nicht gedacht werden konnten.15
12 | Vgl. Fahle 2000. 13 | Zum Verhältnis Film/Fernsehen vgl. unter anderen: Ishaghpour 1988: 1735. Roloff et al. (Hg.)1998. 14 | Vgl. Rancière 2001: 65-92. 15 | Vgl. Fahle 2003.
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Sprechen wir also von modernem Film, so ist das nicht nur eine Weiterentwicklung von Narration, sondern die Transformation filmischer Ästhetik durch Medienwandel, gleichsam ihre Stellungnahme und Positionierung zu den Medien, die dem Film nun andere Bilder entgegensetzen. Die Beschreibung dieses Wandels in Begriffen von extended narration oder art-cinema-narration bleibt zunächst defensiv, ohne den Blick auf die theorieförmige Ausrichtung des Films zu richten, der dann notwendig wird, wenn das filmische Bild nicht mehr bruchlos als erzählendes zu begreifen ist, sondern als bildmediale Reflexion. Das Bild spaltet sich auf, es wird polyoperativ und konfiguriert sich über die Erzählung hinaus als Denkraum. Wenn man diese Sichtweise akzeptiert, dann ist man auch bereit, die Filmtheorie von Gilles Deleuze als die letzte große theoretische Erzählung des modernen Films anzunehmen. Deleuze hat seine Filmtheorie in zwei Büchern verfasst, wobei der Übergang zwischen klassischem und modernem Film die konzeptionelle Nahtstelle zwischen den beiden Bänden herstellt.16 Auch wenn das erste Buch nicht ausschließlich vom klassischen Film handelt, sondern von einer filmischen Auslegung der Begriffe Bewegung und Wahrnehmung nach Bergson, so ist doch die Deleuze’sche Abhandlung darauf ausgelegt, den Schnitt zwischen klassischem und modernem Film gleichsam in den Zwischenraum der beiden Bände zu situieren. Auch kaum zufällig endet das erste Buch mit einer langen Darlegung des Aktionsbildes, das in seiner großen Form nichts anderes als der klassische Erzählfilm nordamerikanischer Prägung ist. Konsequenterweise beginnt das zweite Buch mit einer ausführlichen Darstellung des Neorealismus und des modernen Films in dessen Folge. Auch Deleuze erklärt den modernen Film zunächst in Absetzung vom klassischen, indem er den Riss des senso-motorischen Bandes als Ursache neuer, moderner Bildkonzepte begreift. Das senso-motorische Band ist die Direktleitung zwischen Sinnen und Aktion, die im Aktionsbild, ähnlich wie im klassischen Erzählfilm, als Reiz-Reaktionsschema, Kausalitätskette und chronologische Zeitorganisation weitgehend automatisiert worden ist. Dagegen stellt Deleuze den modernen Film, der sich nicht mehr vorrangig als narrative, chronologische und psychologische Realität begreift, sondern sich entlang simultaner und a-chronologischer Temporalität organisiert.
16 | Vgl. Deleuze 1983 und 1985.
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Den Übergang vom klassischen zum modernen Film stellt Deleuze jedoch in den Kontext der medialen Durchsetzung der Alltagswelt, in der der Film das Privileg der visuellen Darstellung verloren hat. Deleuze formuliert dies in Anspielung auf »Manhattan Transfer« von John Dos Passos:
»Eine zersprengte und lückenhafte Wirklichkeit, ein Gewimmel von Gestalten, zwischen denen es nur schwache Berührungspunkte gibt und die zu Hauptfiguren und dann wieder zu Nebenfiguren werden können; Ereignisse, die sich ihnen aufzwingen, die aber nicht denen gehören, die sie hervorrufen oder denen sie passieren. All das wird durch die gängigen Klischees einer Epoche oder eines Moments gekittet, durch akustische und visuelle Slogans […].« (Deleuze 1983: 279)
Mit akustischen und visuellen Slogans meint Deleuze die Insignien der Populärkultur, Wochenschauen, Fernsehen, Plakate, faits divers, anonyme zirkulierende Bilder. Damit wird der holistische Erzählgestus des Aktionsbildes selbst zum Symptom der Krise, weil auch die großen Filme Hollywoods angesichts der sich ausbreitenden visuellen Medien nicht mehr glaubwürdig vermittelt werden können. Deleuze begreift den Übergang in den modernen Film also als Medienwandel, aber auch bildtheoretisch als Umstellung von einem Bildtyp auf den anderen. Der Film integriert nicht neue Formen des gleichen Bildes, sondern er schafft gleichsam ein neues Bild – und dies nur in Auseinandersetzung mit anderen Medien. Filmischer Wandel wird als Bild- und Medienwandel wahrgenommen und damit kommt dem Film – ganz anders als in der Erzähltheorie – auch ein völlig anderer medialer Stellenwert zu. Erst die Interaktion der Bildmedien – der Außenbezug des Films – bringt neue Bildtypen hervor. Deleuze zahlt jedoch einen Preis für diese Art der Intervention, gleichsam als Kehrseite seiner Argumentation, da er die Narration historisch und theoretisch den modernen Bildkonzepten unterordnet. Historisch ist das für ihn ganz klar. Das Aktionsbild wird mit den Worten verabschiedet: »Die meisten Filme werden noch in dem Stil gemacht, aber der Geist des Films ist nicht mehr dort« (ebd.: 276), worin man, wenn man es nicht besser wüsste, fast eine idealistische Konzeption des Films vermuten kann, die im modernen Film ihre Erfüllung findet. Aber auch theoretisch kann Deleuze der Narration als filmischer Beschreibungskategorie nicht eben viel abgewinnen. Im zweiten Kapitel des Zeitbildes setzt er zu einer Kritik am semiotischen Projekt von Christian Metz an, indem er die Erzählung als untergeordnete Kategorie der Filmästhetik beschreibt. »Die Erzähl-
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handlung ist niemals eine sichtbare Gegebenheit der Bilder oder die Wirkung der ihnen zugrunde liegenden Struktur; vielmehr ist sie eine Konsequenz der selbst sichtbaren und von sich aus wahrnehmbaren Bilder […].« (Ebd.: 43) Die Kritik von Deleuze richtet sich gegen bestimmte semiotische oder strukturale Erzählmodelle, etwa das große Syntagma von Metz oder die Semiotik Umberto Ecos und nicht auf die amerikanischen Positionen, die sich allerdings auch erst kurz nach Deleuze etabliert haben. Es kann also festgehalten werden, dass Erzählung und Erzähltheorie von Deleuze historisch und systematisch ins Abseits gestellt werden. Aktionsbild und Zeitbild, Hollywood und Autorenfilm bilden ein dualistisches Verhältnis, ohne dass Deleuze eine mögliche Vermittlung zwischen ihnen ins Auge fasst. Mit dem Aktionsbild verabschiedet Deleuze gleichzeitig die Erzähltheorie, die allerdings ihre Probleme auch lieber ohne Deleuze zu lösen versucht. Doch ist diese Abgrenzung nicht nur ideologisch bedingt – etwa exception culturelle auf der einen, hegemonialer Unterhaltungsanspruch auf der anderen Seite –, sondern sie hat auch mit den logischen Unvereinbarkeiten der Theoriemodelle zu tun. Aus Sicht von Deleuze kann ein Bild oder eine Bilderkette nur auf einer Ebene funktionieren, als Aktions- oder als Zeitbild, als sukzessive oder als simultane Form. Zusammen passen sie nicht. Aus Sicht der Erzähltheorie kann in gleicher Weise mit dem Begriff der Diegese argumentiert werden. Entweder ist ein Film, oder sagen wir etwas vorsichtiger, eine Sinneinheit im Film, diegetisch oder nicht-diegetisch. Entweder wird die Realität der Fiktion aufrechterhalten oder nicht. Logisch sind diese beiden Formen nicht zusammenzubringen, sondern sie schließen sich gegenseitig aus. Deleuze und die Erzähltheorie produzieren also gleichsam blinde Flecken, die mit den Mitteln der jeweils anderen Theorie beobachtbar werden. Beobachten tut dies aber zunächst nicht die Filmtheorie, sondern die Filmästhetik, die eine Gegenüberstellung von Autorenfilm und Hollywood inzwischen vielfältig unterläuft.17 Verschiedene Filme der Gegenwart arbeiten an der aktiven Überwindung dieses Dualismus, nicht aber, indem sie diesen ignorieren, sondern indem sie ihn als Teil filmästhetischen Denkens definieren und sich damit im Sinne der Moderne theorieförmig geben. Filmtheorie ist also aufgefordert, die Konsequenzen einer Filmästhetik für die eigenen Theoriemodelle mitzudenken. Eine solche Filmäs17 | Es gibt auch erste Vorschläge, wie der gegenwärtige Film mit Deleuze gedacht werden könnte, etwa bei Michaela Ott (2007).
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thetik, die in der Folge modernen Denkens steht, zugleich aber die durch den modernen Film aufgeworfenen Aporien der jeweiligen Filmtheorien thematisiert, möchte ich als Film der Zweiten Moderne bezeichnen und nun im abschließenden Teil erläutern.
3. D er F ilm der Z weiten M oderne Zahlreiche Filme der letzten Jahre haben drei gemeinsame Merkmale: Das erste besteht darin, dass sie komplex erzählen, insofern als sie nicht mehr nur eine oder zwei Erzählebenen entwerfen, sondern mehrere, die zueinander in temporalen und vor allem sinnbezogenen Verschiebungsverhältnissen stehen. Das zweite Merkmal ist der Eintritt der Protagonisten in den Film, eine Variante des so genannten strange loop. Das ist bereits bekannt. Ungewöhnlich ist jedoch, dass dieses Eintreten der Figur in die Fiktion in vielen Fällen nicht metadiegetisch gerechtfertigt wird, dass sich also Fiktion und Voraussetzung der Fiktion auf einer Ebene befinden. Die Voraussetzungen dafür, dass sich der Protagonist in der Diegese befindet, werden innerhalb derselben Diegese erst geschaffen. Das ist paradox oder eine mise-en-abyme ohne mise-en-abyme. Das dritte Merkmal schließlich kann in einer zunehmenden Thematisierung außerfilmischer Medien gesehen werden. Das heißt, andere Medien wie etwa Fernsehen, Video, Computer werden nicht nur als Teil der Diegese begriffen, sondern ihre Dispositive und Dispositionen verflechten sich mit dem Film bis hin zur Ununterscheidbarkeit. Ich würde den Beginn der komplexen Erzählungen, Merkmal 1, in die Mitte der 1990er Jahre setzen, mit Filmen wie Short Cuts (Robert Altman), Magnolia (Paul Thomas Anderson) und Pulp Fiction (Quentin Tarantino). Den Eintritt der Protagonisten in den Film, Merkmal 2, sehe ich zur gleichen Zeit etwa in Barton Fink (Joel Coen), The Player (Robert Altman) und Manhattan Murder Mystery (Woody Allen). Kürzlich wurden diese Elemente durch das dritte Merkmal, der Relationierung durch andere Medien, teilweise neu ausgerichtet. Dies sehe ich in aktuellen Filmen wie etwa Being John Malkovich, Adaptation (Spike Jonze), Eternal Sunshine of the Spotlesss Mind (Michel Gondry), Swimmingpool (Francois Ozon), Stranger than Fiction (Marc Forster) oder Cidade de Deus (Fernando Meirelles).
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Ich behaupte nun, dass besonders diese letztgenannten Filme sowohl auf den Errungenschaften der Erzähltheorie als auch auf der Position von Deleuze aufbauen, von beiden aber nicht vollständig beschrieben werden können. Die Erzähltheorie begreift diese Filme vorrangig in Begriffen des Multiperspektivismus und als Zunahme diegetischer Komplexität, also als Anreicherung der diegetischen Welt mit Metadiegesen. Kaum in den Blick gerät dabei der Medienwechsel, der sich im Außen des filmischen Mediums bewegt und das theoretische Framing der Erzähltheorie überschreitet. Deleuze wiederum baut seinen Ansatz, wie gesehen, auf den Gegensatz von Erzählfilm und Autorenfilm, der aber gerade hier unterlaufen wird. Ich möchte deshalb behaupten, dass der Film der Zweiten Moderne den modernen Widerspruch von Aktions- und Zeitbild aufnimmt und weiterführt. Deleuze hat nicht gesehen, dass sich das Zeitbild dem Aktionsbild nicht nur gegenüberstellt, sondern selbst die Einheit der Differenz von Aktions- und Zeitbild darstellen kann. Das Zeitbild hat also zwei Dimensionen: Eine des modernen Films, wie Deleuze es bestimmt, als Gegensatz zum Aktionsbild und eine des Films der Zweiten Moderne, in dem es – gleichsam metatheoretisch – die Einheit der Differenz von Aktions- und Zeitbild thematisiert. Die Einheit der Differenz von Aktions- und Zeitbild tritt notwendigerweise als Mediendifferenz auf. Deshalb möchte ich diesen neuen Bildtypus der Zweiten Moderne als Translationsbild bezeichnen. Das Translationsbild ist die Begegnung von Aktions- und Zeitbild im Rahmen von Mediendifferenzen. Bevor ich dies anhand eines Beispiels erläutere und vertiefe, könnte jedoch die Frage aufkommen, ob das, was ich hier beschreibe, nicht schon begrifflich besetzt ist, nämlich mit Postmoderne. Ist nicht gerade der postmoderne Film derjenige, der einerseits die Narration nach den modernen Experimenten wieder aufgewertet hat, und der andererseits auch einen besonderen Akzent auf die visuelle Inszenierung legt, etwa den visuellen Exzess im Hollywood-Film oder in den medial durchsetzten Werken eines Peter Greenaway jeweils in den 1990er Jahren?18 Was die Aufwertung des Visuellen angeht, so hat die Zweite Moderne zweifellos die Postmoderne durchlaufen. Diese war es, welche die Aufmerksamkeit von der miseen-scène auf die mise-en-image und damit auch auf die mise-en-abyme gelenkt hat. Man könnte sagen, nach dem Erzählraum des klassischen, dem Denkraum des modernen, entwickelt der postmoderne Film den Bild18 | Vgl. Ullier 2005: 51-74.
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raum. Oder, um doch Begriffe der Erzähltheorie aufzunehmen: Nach der Dominanz der Geschichte im klassischen, des Diskurses im modernen entwickelt sich die Dominanz des Stils im postmodernen Film. Die oftmals beschworene Rückkehr zur Narration – etwa bei Umberto Eco19 – hat der postmoderne Film jedoch nicht geleistet. Der Narration, der wir im postmodernen Film begegnen – und das gilt für so unterschiedliche Filme wie Star Wars (George Lucas), Diva (Jean-Jacques Beineix) oder The cook, the thief, the wife and his lover (Peter Greenaway) – ist eher eine Hülle, innerhalb derer sich die visuellen Inszenierungen oder bestenfalls Stereotypen der filmischen Erzählung bewegen. Die von mir angenommene Rückkehr des Aktionsbildes in der Zweiten Moderne korreliert mit einem weiteren entscheidenden Unterschied zwischen modernem und postmodernem Film auf der einen Seite und dem Film der Zweiten Moderne auf der anderen Seite. Er liegt darin, dass erstere, trotz aller Bedrängnis von anderen Medien, den Film immer noch als Leitmedium begreifen. Die Moderne und die Postmoderne zeugen von den Möglichkeiten einer sich entfaltenden Filmästhetik. Der Film der Zweiten Moderne begreift sich hingegen nicht mehr als Leitmedium, sondern sieht den Film auf einer Ebene mit anderen Medien, vorwiegend elektronischen und digitalen. Damit kommt es zu einer interessanten Verschiebung: JeanLuc Godard hat das visuelle Denken noch vom Film her verstanden und behauptet dessen visuelle Reflexionshoheit. Der gegenwärtige Film versteht das Denken nicht mehr vorrangig vom Film her, wobei paradoxerweise genau darin seine Möglichkeiten umso deutlicher werden. Anders gesagt: Filmästhetik rückt nurmehr als Medienästhetik in den Blick. Blicken wir zur Verdeutlichung auf den Film Caché von Michael Haneke aus dem Jahr 2004. Kurz zur Handlung: Georges, einem bekannten Moderator einer Literatursendung, werden Videobotschaften zugesandt, die zunächst nichts anderes zeigen als Beobachtungen seines eigenen Hauses. Er vermutet hinter den Botschaften die Rache Majids, den Sohn der Dienstboten seiner Eltern, die 1961 auf einer Demonstration von der französischen Polizei getötet wurden. Daraufhin wurde Majid, aufgrund einiger Intrigen des kleinen Georges‹ ins Heim geschickt. Während der Franzose eine Karriere beim Fernsehen macht, lebt der Algerier in einem Vorort in bescheidenen Verhältnissen. Trotz verschiedener Begegnungen
19 | Vgl. Eco 1983.
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der Protagonisten kann nicht abschließend geklärt werden, woher die Beobachtungsvideos eigentlich stammen. Zunächst halten wir fest, dass Caché ein Film ist, obwohl er auf MiniDv gedreht wurde. Video wird in dem Film auf zweifache Weise eingesetzt. Einmal als handlungssteuerndes Element, das konstant die Frage bereithält, woher die Videos kommen. Zum anderen als mediale Ebene, die zur Ununterscheidbarkeit von Film- und Videobild tendiert. Anders formuliert: Es bleibt unentschieden, ob der Film als Film begriffen werden soll, der gleichsam handlungsorientiert Video aus der Perspektive des Films beobachtet. Oder umgekehrt: Ob es nicht das Video ist, das die Kontinuität des filmischen Aktionsbildes auseinander reißt und das seinerseits den Film in den Blick nimmt. Darüber hinaus werden, neben Video und Film, die die medialen Protagonisten Cachés sind, andere Medien wie Buch und Fernsehen an entscheidenden Stellen in den Blick gerückt. Dehierarchisierung der Medienebenen im Zusammenschluss mit klassischer filmischer Erzähldramaturgie ist ein entscheidendes Kennzeichen des Films. Der Beginn macht das besonders gut deutlich. Das Bild ist in einer unbewegten Einstellung auf eine Straße und ein Haus gerichtet. Eine durchaus konventionelle Einleitung eines Films, wenn auch verdächtig statisch. Darüber baut sich der Vorspann auf, zeilenförmig und, sagen wir, technisch induziert, denn es gibt nahezu keine Hervorhebungen. Der Schriftaufbau steht der Bedeutung gleichgültig gegenüber. Nicht das Entziffern, sondern die materiale Organisation der Fläche ist wichtig. Die Zeilenform wird später noch einmal wiederholt, wenn von Film auf Video umgestellt und die Videokassette gespult wird. Damit kommt es zu einer paradoxen Konstellation in Caché: Während das Aktionsbild die Bilder im chronologischen Raum ordnet, indem etwa die Beziehungen von Georges zu Majid langsam ans Tageslicht treten, haben die Bilder aus Fernsehen und Video – obwohl auch Teil des Aktionsbildes – keinen festen Ort mehr, sondern sind visuelle Konfigurationen, die aus einem intermedialen und anonymen Raum ausgesandt werden. Dies zeigt sich etwa am Fernseher in der Bücher- und Videowand, aus dem die Bilder gleichsam hervorleuchten oder an Georges in seiner Fernsehkulisse, die ganz andere Bücher zeigt als die in seiner Fernsehwand – oder sind es Videohüllen, die sich nur als Bücher maskieren? Diese Bilder vermitteln eine fundamentale Unsicherheit hinsichtlich des Wissensraums, aus dem sie kommen. Es sind unheimliche Bilder, die eine epistemische Unsicherheit oder Diskontinuität in die Bilder des Films bringen. Die
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verschiedenen Medien (Film, Fernsehen, Schrift und Video) ordnen sich hier nicht mehr hierarchisch, sondern bilden ein Kräftefeld, das nicht von vornherein organisiert ist. Sie bilden ein Wahrnehmungs- und Affektfeld, das vom Austausch und der Unmöglichkeit der Trennung der medialen Ebenen lebt. Es handelt sich um die von Deleuze und Guattari bevorzugt beschriebenen Momente der in »Ausdrucksmaterie eingebundenen Alterität« (Deleuze/Guattari 1991: 210) sowie um eine Komposition der »Entrahmung« (ebd.: 223). Obwohl es in Caché von Seiten des Protagonisten den laufenden Versuch gibt, die Herkunft der Bilder zu erfahren, bleiben diese doch bis zuletzt im Dunkeln. Selbst die letzte Einstellung, in dem sich die Söhne von Georges und Majid vor der Schule begegnen, ist ein Bild eines diffusen visuellen Raums, der sich den medialen Zuordnungen entzieht. In der Zweiten Moderne wird Filmästhetik daher nicht mehr nur als ästhetisches Projekt begriffen, sondern als eine epistemische Neuorientierung, in der die ästhetischen Parameter Erzählen, Denken und Bild als heterogene Wissensformen bereitgestellt werden. Es geht dann nicht mehr um die Dominanz einer Ausrichtung, sondern um die jeweiligen Implikationen, um wechselseitige Rahmungen von Aktions- und Medienbildern. Dieses Translationsbild verteilt sich über mehrere filmische und visuelle Wissensformen, artikuliert narrative und mediale Untrennbarkeit und mündet dabei nicht in die Privilegierung eines Bildes. Ähnlich wie Caché, der nicht mal mehr mit Filmmaterial gedreht sein muss, um als Film aufzutreten.
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Was ist Philosophie? Gilles Deleuze
Was ist Kino? Werner Herzog
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Philosophie ist die Kunst des Erfindens von Konzepten aus dem Leben heraus: d.h. aus der Problematik, die das ›gegebene‹ Leben stellt und dieses Leben ist: Es geht um die Logik des Sinns. Zu der Problematik dieses Lebens hat die Philosophie ein doppeltes Verhältnis. Als verkörperte Praxis ist sie dem gegebenen Leben immanent, als gedankliche Systematik ›über‹ dieses Leben ist sie von ihm getrennt. In dieser doppelten Beziehung ist sie dem Leben jedoch wiederum immanent. Wie ist dieses paradoxe Verhältnis des Subjekts zum Leben zu denken, »[w]ie kann sich im Gegebenen ein Subjekt so konstituieren, daß es über das Gegebene hinausgeht? Zweifellos ist auch das Subjekt gegeben. Zweifellos ist, was über das Gegebene hinausgeht, ein Gegebenes, doch auf eine andere Art, in einem anderen Sinn. Die-
Kino ist die Praxis des Erfindens von Kompositionen aus dem Leben heraus, d.h. aus der Problematik, die das ›gegebene‹ Leben stellt und dieses Leben ist: Es geht um die Logik der Sensation. Jeder Film ist eine zeit- und ortspezifische Reaktion auf die Problematik der radikalen Beziehung zwischen Kunst und Leben als zwei inkompatible Serien. Das Kino errichtet mit »Empfindungen Monumente« (Deleuze 1991: 236), welche die beiden Serien durch Bilder in eine affektive Resonanz bringen – denn das Kino denkt in Affekten und Perzepten. Was aber sind Bilder? Wenn das Kino eine radikal konstruktivistische Praxis ist, dann ist das photonische Medium, von dem Ausschnitte von Menschen als Licht wahrgenommen werden, das Grundmedium des Kinos, das Medium, in dem das Kino das Leben und sich selbst ausdrückt. Das Kino besteht aus kom-
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ses Subjekt, das erfindet und glaubt, konstituiert sich im Gegebenen in einer Weise, daß es aus dem Gegebenen selbst eine Synthese, ein System macht. […] Hier ist die kritische Einstellung die einer konstruktiven Logik, die ihrem Typ nach auf die Mathematik zurückgeht.« (Deleuze 1953: 103)
Auch an anderer Stelle betont Deleuze den Konstruktivismus der Philosophie. »Die Philosophie ist ein Konstruktivismus« (Deleuze 1991: 42) heißt es in Was ist Philosophie? und in Kino 2: »Theorie ist ebenso wie ihr Gegenstand etwas, das man macht. […] Ebenso wie ihr Gegenstand ist auch die philosophische Theorie eine Praxis. Keineswegs ist sie abstrakter als ihr Gegenstand.« (Deleuze 1985: 358) Man könnte diesen Konstruktivismus, der sich durch das gesamte Werk von Deleuze zieht, als ›radikalen Konstruktivismus‹ und gemäß dessen theoretischer Grundlage denken: der operativen Geschlossenheit lebender Systeme und ihrer gleichzeitigen Immersion in einer Ökologie sowohl materieller als auch immaterieller Medien, wobei Medien Mengen loser gekoppelter Elemente sind, die anhand einer Kunst der Kombinatorik in eine unendliche Anzahl von Formen gebracht werden können. (Die Beziehung zwischen Medium und Form ist arbiträr, jedoch aufgrund
plexen Photonenarrangements. Wie die Photographie, hält es »Lichtverhältnisse« (Deleuze 1984: 71) fest. Lukrez würde den materiellen Ursprung dieser Lichtbilder in den Simulakra sehen, die sich von der Oberfläche der Objekte lösen, während der immaterielle Ursprung dieser Simulakra die Einbildungskraft ist, welche die materiellen Irritationen zu immateriellen Bildern integriert und so einbildet: »Nun vernimm noch in Kürze, wodurch in Bewegung gesetzt wird | Unser Geist und woher der Gedanke zum Denken gebracht wird. | Erstlich behaupte ich dies: es bewegen sich Bilder der Dinge | Viele auf vielfache Art nach allen möglichen Seiten. | Zart ist ihr Wesen; drum bleiben sie leicht in der Luft aneinander […] Sind ja doch solcherlei Bilder viel feiner in ihrem Gewebe | Als was sonst uns die Blicke ergreift und das Auge kann reizen. | Denn durch die Maschen des Leibes gelangen uns solche ins Innre, | Wecken den duftigen Geist und reizen die Sinnesempfindung. || Überall schwärmen ja Bilder herum von allerlei Arten […] die Bilder der Dinge […] | Die von der Oberfläche der Körper wie Häutchen sich schälen | Und bald hierhin, bald dorthin umher in den Lüften sich treiben.« (Lucretius: V 34ff.)
In der Übersetzung in die Medientheorie des 20. Jahrhunderts, ins-
W as ist P hilosophie ? W as ist K ino ?
der Parameter, die von den spezifischen strukturellen Kopplungen zwischen Medium und Form gesetzt werden, keineswegs ›frei‹). In der Philosophie von Deleuze sind die wichtigsten ›grundlegenden‹ materiellen Medien das photonische, das atomare und das molekulare Medium. Schon diese Reihung zeigt, dass jede Form das Medium für eine darüber liegende Form bilden kann. So ist das Medium molekularer Formen das atomare Medium. Ich habe den Begriff ›grundlegend‹ in Anführungszeichen gesetzt, da es wegen der Schachtelung der Bausteine des Lebens keine wirklichen Grundmedien gibt, sondern lediglich pragmatische Einschnitte in die unendliche Skalierung von Medien und Formen. Anhand rekursiver Operationen, oder auch: ›algorithmischer Angewohnheiten,‹ synthetisieren und konsolidieren sich innerhalb der physikalischen, biochemischen und kulturellen Medien wahrnehmende Systeme. Diese Systeme, deren Spektrum von der Zelle bis zum Menschen reicht, schliessen sich operativ von den Medien ab innerhalb derer sie sich konstituieren und an die sie strukturell gekoppelt bleiben. Intensitätsänderungen werden als Nuancen registriert, zu Differenzen integriert und in Daten übertragen. Heinz von Foerster
besondere in die ›radikal konstruktivistische‹ Medientheorie Vilém Flussers: »Die technischen Bilder stellen nicht etwas dar (obwohl sie dies zu tun scheinen), sondern sie projizieren etwas.« (Flusser 1985: 42) Daher »ist es falsch, bei ihnen zu fragen, was sie bedeuten (ausser man gäbe die bedeutungslose Antwort: sie bedeuten Photonen).« (Ebd.: 43) Wenn die Sachverhalte sich photonisch enthäuten, so muss die Einbildungskraft sie wiederum bildlich umhüllen: »Diese unwahrscheinliche Welt der Einbildungskraft soll das schwirrende Punktuniversum wie eine Haut umhüllen, um ihm einen Sinn zu geben.« (Ebd.: 34) Die Operation der Einbildung liegt darin, »Punktelemente der Welt zu integrieren;« (ebd.: 63) d.h., Sinn- und Affektebenen zu erstellen. »Da jede Fläche aus unendlich vielen Punkten zusammengesetzt ist, wären unendlich viele Punkte zu raffen, um tatsächliche Flächen herzustellen. Daher kann die Geste der Einbildner nur scheinbare Bilder erzeugen. Flächen nämlich, die tatsächlich voller Intervalle sind, rasterartige Flächen.« (Ebd.: 21)
Es gibt somit zwei getrennte Ebenen in der Philosophie des Kinos; gegebene Photonenvielfalt und eingebildete Affekt- und Sinnflächen, wobei
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spricht daher von »organisatorisch geschlossenen, energetisch (thermodynamisch) aber offenen Systemen« (von Foerster 1993: 296). Systemisch gesehen sind die strukturellen Kopplungen zwischen System und irritierender Umwelt Resonanzphänomene. In jedem Werk von Deleuze geht es um diese Situation und die philosophischen Probleme, die sich daran anlagern. Wie kann man Philosophie anhand dieser donneés denken? Gegeben: eine Medienökologie und komplexe Aggregate, die sich aus deren Elementen entwickeln und sich aus ihrer Geschlossenheit heraus wieder in die Medienökologie zurückfalten. Ein atomarer Regen und eine minimale Abweichung eines der Atome vom vertikalen Fall: Schon früh entwickelt Deleuze diese Genese aus dem Lukrez’schen Naturalismus sowie die Formen der Systemkonstituierung und -verhärtung aus David Humes radikalem Empirismus, den er in Differenz und Wiederholung mit einer Theorie des Virtuellen unterfüttert. Dennoch ist Deleuze kein Naturalist. Am Ende von »Lukrez und das Simulakrum« wendet er sich den Stoikern zu, weil diese zum ersten Mal in der Philosophiegeschichte Ursachen und Wirkungen zwei getrennten Ebenen|Serien zuordnen, die gleichzeitig durch lebende Systeme zirkulieren: Die Beziehung
das Kino photonische Sachverhalte (Ursachen) auf die Ebene eingebildeter Ereignisse (Wirkungen) zieht. Ohne ihre Gründung in Sachverhalten wären Bilder, wie schon bei Lukrez, Phantasmen. Visionen. Wenn Kino sowohl eine verkörperte Praxis, als auch eine Visionsmaschine ist, wie sind diese Ebenen im Kino reziprok vorausgesetzt, oder: wie kann das Kino sie gegenseitig attributieren? Eine Eigenschaft des Kinos von Werner Herzog ist, dass es an der Schnittstelle zwischen Dokumentation und Fiktion angesiedelt ist. Zwischen Leben und Kunst. Die Begründung der Filme im Dokumentarischen impliziert in diesem Zusammenhang, wie beim ›autobiographischen Pakt‹ innerhalb des Genres der Autobiographie, einen ›dokumentarischen Pakt‹ über ihre Authentizität. Dokumentarfilme beginnen immer in der realen Welt, oder sie sind keine Dokumentarfilme. Sie tauchen das Kino in den Sachverhalt als ein einfaches, »›es gibt…‹« (Deleuze 1991: 22). Dieses Gegebene bildet ihren Schauplatz als materielles Diagramm aus dem sich die filmische Komposition entwickelt. Der von der Natur hingeschmierte Urwald bei Aguirre, der Zorn Gottes und Fitzcarraldo, den Filmen mit denen ich mich im Folgenden genauer beschäftigen
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zwischen der kausalen und der ›effektiven‹ Serie ist bei den Stoikern nicht mehr chronologisch, sondern topologisch; nicht mehr horizontal, sondern vertikal. Es gibt die tiefe, aktuelle Serie von Körpern, die sich affizieren und bewegen, und die oberflächliche, virtuelle Serie von Relationen, mit denen lebende Systeme die körperlichen Serien wahrnehmungstechnisch überspannen und zusammenziehen; Körpertiefe und Wahrnehmungsoberfläche, chronisches Sein und aionisches Werden. Von Die Logik des Sinns an entwickelt Deleuze Denkfiguren für die Beziehung dieser Serien. Eine der wichtigsten dieser Figuren ist die ›projektive Ebene,‹ in deren einseitiger Topologie die aktuelle und die virtuelle Serie auf einer von Deleuze als fraktal gedachten Oberfläche im Sinne ihrer »reziproke[n] Voraussetzung« (Deleuze 1985: 96f.) gegenseitig attributiert werden; denn wenn ein Attribut die Eigenschaft eines Gegenstands bzw. ein Prädikat ist (wobei es sich sowohl um wesentliche als auch um akzidentelle Eigenschaften handeln kann), so entspricht die gegenseitige Attributierung der Serien der Logik ihrer reziproken Voraussetzung; ganz so wie sich bei Spinoza ›cogitatio‹ (virtuelles Denken) und ›extensio‹ (aktuelle körperliche Ausdehnung) als die zwei für uns sichtbaren Attri-
möchte – das Diagramm einer unfertigen Schöpfung! Beide Filme sind Beispiele dafür, dass Herzogs Kino ein Kino extremer Schauplätze, extremer Leben, extremer künstlerischer Darstellungen und extremer Produktionsbedingungen ist. Herzogs Bilder, seine überlegte, ruhige und unerbittliche Unterwerfung unter das Mandat dieser extremen Situationen verdoppelt deren Existenz, so als wäre es nicht genug, wenn sie sich im realen Leben abspielen würden. Als wenn sie sich auch im expressiven Regime des Kinos abspielen müssten, damit sich Herzog ihrer entledigen kann. Ich bin »hier wegen einer anderen Vision, in deren Dienst ich stehe« (Herzog 2004: 271), sagt Herzog. Und er bleibt trotz aller Rückschläge am Schauplatz, »weil es eine Pflicht über uns allen gab« (ebd.: 275). Aus den Situationen erstellt Herzog Blöcke affektiver Bilder und Bewegungen, deren Konsistenz durch die visuelle Dynamik der filmischen Komposition getragen wird. Die Ebene dieser Komposition liefert dabei zwar eine Übersicht über ihre Komponenten, sie löst sich jedoch nie von deren Ebene. Sie durchkreuzt die Elemente, ohne je eine Distanz zu ihnen aufzubauen. Trotz dieser Distanzlosigkeit ist sie jedoch von den Elementen kategorisch getrennt, weil sie im
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bute Gottes gegenseitig, bzw. wechselseitig voraussetzen, obwohl sie je durch sich allein gedacht werden müssen. Die Topologie der projektiven Ebene macht diese gegenseitige Attributierung neu denkbar. Schon in Differenz und Wiederholung heißt es, »[m]an könnte sagen, der Untergrund steige zur Oberfläche auf, bleibe aber weiterhin Untergrund« (Deleuze 1968: 49). Es ist jedoch in Logik des Sinns, in dem Deleuze diese Denkfigur, in der die Bildlichkeit der Tiefe und der Oberfläche durch eine ›tiefe Oberfläche‹ ersetzt wird, aus dem Werk von Lewis Carroll extrahiert, um sie dann, insbesondere in Francis Bacon: Logik der Sensation und Die Falte: Leibniz und der Barock weiter auszubauen und zu variieren. Wenn Deleuze die Beziehung zwischen den beiden Serien als reziproke Voraussetzung bezeichnet, dann ist diese Gegenseitigkeit somit wörtlich zu nehmen; als räumliche Abbildung der zwei Seiten aufeinander innerhalb einer einseitigen Topologie: »[W]ir haben es hier mit vollständig umkehrbaren Vorder- und Rückseiten zu tun« (ebd.: 97). Trotz der topologischen Symmetrie der beiden Serien gibt es innerhalb ihrer Beziehung eine Vorrangigkeit intensiver Multiplizität vor extensiver Systemorganisation. So notiert Deleuze in Differenz und Wiederholung, dass
Gegensatz zu diesen unkörperlich ist. Wiewohl sie in Körpern inkarniert ist, ist sie von diesen radikal getrennt. Sie mischt sich nicht mit den Sachverhalten, in denen sie sich aktualisiert. Dies sind die zwei inkompatiblen Ebenen, die gegenseitig attributiert werden müssen. Die Situation wird dadurch noch komplizierter, dass Filme stets im Plural gemacht werden. Insbesondere kann man beide Filme nicht ohne die Zusammenarbeit von Herzog und Klaus Kinski denken. Während Herzog stoisch, dunkel und einsam denkt (»Sonst stumpf im Kopf, müde, ohne Sinn, sehr alleine« (ebd.: 139)), schreit Kinski am Set die Welt zusammen. In der Wirklichkeit spielt er, in einer von Herzog als phantasmatisch niedergemachten Fiktion, vor sich und der Welt den Naturmenschen. Während Herzog mit Spinnen kämpft und Maden isst, »kopuliert Kinski mit einem Baum.« (Ebd.: 231) »Er war indes beim Drehen zum Fürchten gut« (ebd.: 246), konstatiert Herzog, man müsse lediglich seine frei flottierende Intensität in einen künstlerischen Rahmen einpassen: »Was an Raserei in ihm steckt« muss »in eine Form gebracht« werden. (Ebd.: 265) Wenn Herzog der Metaphysiker ist, der die Natur nur in direkter materieller Auseinandersetzung erfahren kann, dann ist Kinski der Physi-
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»die Individuation de jure der Differenzierung [orig: ›differenciation‹] vorausgeht, daß jede Differenzierung [orig: ›differenciation‹] ein intensives Feld vorgängiger Individuation voraussetzt […] Die Individuation setzt keine Differenzierung voraus, ruft sie vielmehr hervor« (Deleuze 1968: 312).
Auch in »Die Immanenz: Ein Leben…« betont Deleuze noch einmal: »Die Transzendenz ist stets ein Immanenzprodukt« (Deleuze 1991: 32). Da sie immer an begrenzte wahrnehmende Systeme gebunden sind, bilden Wahrnehmungsoberflächen lediglich Ausschnitte aus der unendlichen Immanenzebene. In von Foersters Worten geht es um die »Verwandlung eines offenen Systems in ein geschlossenes System, im besonderen Fall das Schliessen des linearen, offenen, unendlichen Kausalnexus zu einem geschlossenen und endlichen Kausalnexus« (von Foerster 1993: 51). Dies erklärt eine von Deleuzes überraschenderen philosophischen Umkehrungen: Wahrnehmung verdunkelt und reduziert, so wie das Digitale das Analoge verdunkelt und reduziert. (Dies ist insbesondere in Bezug auf die photonische Immanenzebene im Kontext der Idee ›reinen Lichts‹ wichtig). Da aber jedes Wahrnehmungssystem aus der Immanenzebene ent-
ker, der die Natur phantasmatisiert. Herzogs Metaphysik ist stets rückgekoppelt an die materielle Welt, Kinskis Physik stets an das metaphysische Phantasma. Schnell ist es unentscheidbar, ob man Kinski oder Aguirre|Fitzcarraldo vor sich hat. Die expressiven Kräfte sind Kinski attributiert, der die Figuren nicht nur im Film spielt, sondern in den Schauplatz der Produktion trägt. Herzogs Dokumentation Mein liebster Feind – Klaus Kinski zeigt einige von Kinskis besseren Tobsuchtsanfällen. Herzog bleibt dabei immer ruhig, rational und gelassen, seine tödliche Entschlossenheit ist jedoch im Endeffekt noch gewalttätiger und irrationaler als Kinskis Hysterie. In ihrer chiastischen Verbindung ergibt sich eine doppelte Attributierung. Der Visionär und der Monomane. Ein Gespann geistiger und körperlicher Gewalt; von Gleichmut und Tobsucht. Beide sind auf ihre spezifische Art aus der Natur sowohl ausgeschlossen, als auch eingeschlossen. Kinski halluziniert sich als Körper in eine metaphysische Natur, Herzog aktualisiert seine metaphysische Vision in einen physischen Schauplatz. Er trotzt der Materie ein Bild ab. Naturalistische Abstraktion. In Herzogs Kino tritt das Leben nicht innerhalb der Kategorien des Kinos auf, das Kino wird in die Kategorien des Lebens geworfen.
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standen ist, kann es unwahrnehmbarer, unendlicher und – da das Unwahrnehmbare das Reservoir von Deleuzes materiellem Unbewußten bildet – damit auch unbewusster werden. Erklärtes Ziel von Deleuzes philosophischem Projekt ist, die Wahrnehmung so fein wie möglich zu machen und die Philosophie möglichst weit in die fraktale Oberfläche der »vorphilosophischen« (Deleuze 1991: 48) Immanenzebene zu bewegen. Das Mikroskop ist daher für Deleuze das, was für Freud die Couch ist. Wird Philosophie analog zum radikalen Konstruktivismus gedacht, so dürfen ihre Konzeptualisierungen nicht aus einem transzendenten Feld entwickelt werden, sondern aus der Immanenzebene heraus; aus der Multiplizität anonymer, intensiver Ereignisse: »Aus Sätzen oder einem Äquivalent entnimmt die Philosophie Begriffe, Konzepte (die nicht mit allgemeinen oder abstrakten Ideen zusammenfallen)« (ebd.: 31). Mehr noch, philosophische Konzepte sind selbst nichts als Ansammlungen von Ereignissen: »die Konsistenz der philosophischen Begriffe« liegt »in Ereignissen« (ebd.: 146). Wenn die Abstraktion ein Instinkt ist (Verstand ist »Instinkt, Gewohnheit oder auch Natur« (Deleuze 1953: 21), wenn aktive Synthesen aus distributiven Netzwerken passiver Synthesen emergieren (»dies-
Das Kino so zu behandeln, als wäre es das Leben, also. Denn für Herzog liegt die Aufgabe des Kinos nicht darin, von außen eine visuelle Vision in die Sachverhalte zu projizieren, sondern darin, visuelle Visionen| Ereignisse aus den Sachverhalten heraus zu erstellen und als Kino an sie zurückzugeben. Man muss die Natur dazu bringen, Vision zu produzieren, d.h. man muss den Urwald virtualisieren und diese Virtualisierung ›gleichzeitig‹ filmen. Für dieses Projekt reicht, wie gesagt, kein kompositorischer Überblick über den Schauplatz von einer transzendentalen Ebene aus; vielmehr muss die Produktion ganz empirisch und pragmatisch in den Urwald getränkt werden: »Vom Flugzeug aus gesehen ist das schiere Ausmaß des Urwalds erschreckend, niemand wird sich das vorstellen können, wenn er nicht selbst dort gewesen ist. Wir brauchen keine Artisten der Syntax« (ebd.: 110). Herzog ist der visionäre Bildingenieur dieser Virtualisierung der Natur bei gleichzeitiger Aktualisierung der Vision. Symptomatisch findet diese Überkreuzung am Horizont als dem ›Punkt der Unendlichkeit‹ auf einer projektiven Ebene statt. In der Filmerzählung schaut Fitzcarraldo »bis dorthin wo einem der Blick ausgeht und die Visionen beginnen« (ebd.: 18). Was ist Herzogs Vision?
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seits der aktiven Synthese« gibt es »das Gebiet der passiven Synthesen […] aus denen wir bestehen, Modifikationen, Tropismen und kleine Besitztümer ([orig: ›propriétés‹]« (Deleuze 1968: 110)) und wenn Essenzen eigentlich Ereignisse sind (»so heißt den Platonismus umzustürzen, zunächst die Wesenheiten zu entmachten, um sie durch Ereignisse als Singularitäten zu ersetzen« (Deleuze 1969: 78)), dann ist die Philosophie ein Ensemble philosophischer Ereignisse, Gewohnheiten und Praktiken und als solches das, was von Foerster eine Eigentheorie nennt: »Wollen wir nun das Problem einer Theorie der Erkenntnis lösen, also eine Epistemologie erzeugen, dann muss sie von solcher Art sein, dass sie sich selbst erklärt, oder in Hilberts Sprache, dass sie eine Eigentheorie ist. […] Erfahrung ist die Ursache | Die Welt ist die Folge | Die Epistemologie ist die Transformationsregel.« (von Foerster 1993: 368f.)
Eine solche Eigenphilosophie hält sich, solange ihre Konzeptualisierungen diese Transformationen erlauben und sich innerhalb einer Ökologie mit anderen Praktiken behaupten: »Sie ist eine Praxis der Begriffe, und es gilt, sie hinsichtlich anderer Praktiken, mit denen sie interferiert, zu beurteilen« (Deleuze
»Wie bei der irrwitzigen Wut eines Hundes, der sich in das Bein eines bereits toten Rehs verbissen […], hatte sich in mir eine Vision festgekrallt, das Bild von einem großen Dampfschiff über einen Berg – das Schiff sich aus eigener Kraft einen steilen Hang im Dschungel hinaufwindend und über eine Natur, die die Wehleidigen und die Starken gleichermaßen vernichtet, die Stimme Carusos, die allen Schmerz und alles Schreien der Tiere aus dem Urwald zum Verstummen bringt und den Gesang der Vögel verlöscht. Richtiger: das Schreien der Vögel, denn in dieser Landschaft, unfertig und von Gott im Zorn verlassen, singen die Vögel nicht; sie schreien vor Schmerz […] Im Dampf einer Schöpfung, die hier nicht beendet ist.« (Ebd.: 7)
Von Anfang an richtet Herzog das Drehbuch mathematisch exakt und konzentriert auf das erhabene Bild aus, das die Natur produzieren soll: »Fenster voll wahnsinnig gewordenen Lichts, und an der Wand habe ich mit Lineal und scharfem Bleistift ein mathematisch genaues Fadenkreuz angebracht. Das ist alles, was ich sehe, der Punkt an dem sich die Linien schneiden. Die Arbeit an dem Drehbuch in großer Wut und Dringlichkeit. Es wird nur etwas mehr als eine Woche in besinnungslosem Starren auf den einen Punkt sein.« (Ebd.: 8)
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1985: 358). Obwohl diese Interferenz im Raum einer doppelten Kontingenz stattfindet, ist Voraussetzung, dass die verschiedenen Praktiken ein Medium teilen. So kann sich eine Beziehung zwischen Philosophie und Kino nur dann ergeben, wenn beide aus derselben medialen Multiplizität bestehen, d.h. wenn sie aus denselben ›anonymen‹ Bausteinen zusammengesetzt sind. Für Deleuze ist diese mediale Multiplizität das photonische Leben; das anonyme, »nicht-organische Leben, welches die Welt umschließt« (ebd.: 81). Zwischen den unterschiedlichen Praktiken des Kinos und der Philosophie fließen jedoch nicht Informationen – denn Kino macht Kino und Philosophie macht Philosophie. Vielmehr ergeben sich Resonanzen und Dissonanzen, die sich auf die Ebene der gegenseitigen ›Gestimmtheiten‹ der unterschiedlichen Multiplizitäten beziehen. Nicht Informationsübertragung also, sondern ein komplexes Spiel von Kräfte- und Massenverhältnissen: Konzepte »treten nach Belieben in nicht-diskursive Resonanzbeziehungen« (Deleuze 1991: 30) innerhalb einer generellen konzeptuellen »Anpassung [orig: ›coadaptations‹].« (Ebd.: 94)
Nun könnte man dies leicht als persönliches Phantasma missverstehen. Es geht Herzog jedoch um ein fremdes, parasitäres Bild, das von ihm Besitz ergriffen hat, um sich zu aktualisieren, und das ihn im Zweifelsfall sogar vernichten kann – auch bei Fitzcarraldo, bemerkt Herzog, hat »eine große Idee […] von ihm Besitz ergriffen« (ebd.: 42). Sein »Traum« ist »die Oper: Die große Oper im Urwald« (ebd.: 15). Found vision. Aus diesem Grund bleibt Herzog, sogar bei größter Mutlosigkeit des Teams, genauso fokussiert wie Fitzcarraldo. »Ich […] sah etwas, was die anderen nicht sahen« (ebd.: 264), bemerkt Herzog. So wie die Indios, die glauben »daß unser gewöhnliches Leben nur eine Illusion darstellt, hinter der sich die Realität der Träume versteckt« (ebd.: 68). In Herzogs Kino geht es immer um die gleichzeitige Spiritualisierung der Realität und die Aktualisierung der Träume. Schon bevor er die Oper in den Urwald bringen will, wollte Fitzcarraldo mittels einer Eismaschine kristalline Kälte in den permanent überhitzten Urwald bringen; coincidentia oppositorum.
Das Kino der Philosophie Die Philosophie irritiert die Konzepte des Kinos, genauso wie das Kino die Konzepte der Philosophie irri-
Die Philosophie des Kinos »So wahr ich hier stehe, | werde ich eines Tages große Oper | in den Urwald bringen! | Ich bin … in der
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tiert. »Die Konzepte sind Schwingungszentren […] Darum herrscht überall Resonanz, anstatt Abfolge oder Korrespondenz« (ebd.: 30). Erst die Gesamtheit aller Praktiken bildet die Produktionsfläche auf und aus der Neues entsteht: »Dinge, Wesen, Bilder, Begriffe oder […] Ereignisse […] bilden sich auf der Stufe der Interferenz mit einer Vielzahl von Praktiken« (Deleuze 1985: 358). Die philosophische projektive Ebene korreliert somit konzeptuell gesehen die Virtualität des Aktuellen und die Aktualität des Virtuellen (›transzendentaler Empirismus‹) sowie, systemisch gesehen, die Metaphysik der Physik und die Physik der Metaphysik (›empirischer Transzendentalismus‹). Alles wichtige, sowohl im Leben, in der Kunst als auch in der Philosophie, spielt sich an diesen Zonen der Unentscheidbarkeit, den Schnittstellen von Produktion und Konstruktion ab. In Bezug auf das Kino entstehen an diesen Schnittstellen Kristall-Bilder, die programmatisch die trennende Verbindung zwischen Kino 1: Das Bewegungsbild und Kino 2: Das Zeitbild bilden, wobei innerhalb der projektiven Topologie der beiden Bücher Kino 1 die aktuelle Serie und Kino 2 die virtuelle Serie figuriert. Ihre reale Trennung in zwei Bände zeigt vor diesem Hintergrund die Unmöglichkeit, die zwei Serien zur vollständigen Konvergenz zu brin-
Überzahl! | Ich bin die Milliarden! | Ich bin das Schauspiel im Wald!« (Ebd. 5) Das Zitat ist Herzogs Tagebuch Eroberung des Nutzlosen vorangestellt. Fitzcarraldo schleudert es einem Kautschukbaron ins Gesicht, der Fitzcarraldos Caruso Vorführung auf einem Fest unterbricht. Herzogs Buch beschreibt die Produktion von Fitzcarraldo als eine von Katastrophen, Verletzungen und Niederlagen taktierte Zeit an einem Schauplatz, der sich nur selten, und wenn, dann völlig gleichgültig, zur Erhabenheit grandioser Naturschauspiele herablässt. Meist ist er von fetten Schweinen, gackernden Hühnern, Korruption, grotesken Insekten, Tod, Wunden, endloser Langeweile und Dreck bestimmt. Die obszön wuchernde Natur reißt alle Lebewesen in einen Strudel von Desinteresse. Herzogs Text ist zu großen Teilen ein trotziges Anschreiben gegen diesen Urwald: »Die Flüsse haben Nachts Fieber« (ebd.: 19), »[e]ine junge Frau säugte ein neugeborenes Schwein« (ebd.: 87). »Gegen den Urwald sind die Mächte des Himmels machtlos« (ebd.) »weil die Natur in ihrem innersten Sein niemals friedlich ist« (ebd.: 69). Herzog ist »[z]utiefst unversöhnt mit der Natur« (ebd.: 83), die ein »Streik gegen menschliches Mühen, in Permanenz« (ebd.: 97) ist.
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gen. Folgerichtig plaziert Deleuze das Kristall-Bild, sozusagen ›zwischen‹ die beiden Bücher. In diesen Büchern laufen konzeptuell gesehen gleichzeitig mindestens drei Filme übereinander ab: 1. ein Bergson’scher Film über die Logik der Wahrnehmung (Kino 1) und des Gedächtnisses (Kino 2), 2. ein historischer Film, der eine Filmgeschichte mit einer Taxonomie von Filmbildern innerhalb dieser Logik verbindet, und 3. ein philosophischer Film, in dem die Welt als Kino konzeptualisiert wird und der Resonanzen zwischen filmtheoretischen und philosophischen Konzepten herstellt: »So daß es immer […] einen Augenblick gibt, in dem man nicht mehr fragen sollte: Was ist Kino, sondern: Was ist Philosophie?« (Ebd.: 358) Daher ist Was ist Philosophie? ein Nachfolgeprojekt der Kinobücher. Die Resonanzräume sind: die photonische, luminöse Immanenzebe Bewegungsbilder; die allmähne liche Erstellung lebender Systeme aus der Immanenzebene Wahrnehmungsbilder; instinktive Reaktionen Impulsbilder; Handlungsfolgen Aktionsbilder. Innerhalb dieser Bebilderung der Philosophie ist für die Attributierung der körperlichen und der geistigen Serien insbesondere das naturalistische Bild wichtig, denn der Naturalismus erzählt zwar Geschichten über den gra-
»Über dem Urwald siedet ein Haß. Wo in den Tiefen der Geschichte ist uns das Wort ruchlos abhanden gekommen?« (Ebd.: 113) Der Urwald ist ein Triebtäter. »[O]bszön. Alles ist Sünde, deshalb fällt die Sünde als Sünde nicht auf« (ebd.: 119). »Den Urwald freut jede Unzucht« (ebd.: 168), er ist »voll von einer außerordentlichen Verschwendung an Leben.« (Ebd.: 143) Der Fluss ist »wie immer gewissenlos schön« (ebd.: 135) und strömt »planlos vor sich hin« (ebd.: 149). »Der Wald war von süßlicher, schöner Fäulnis erfüllt« (ebd.: 182). Man ist »an den Fundamenten der dinglichen Welt« (ebd.: 228). Die Pflanzenvielfalt besteht aus einer Überlagerung von Schmarozern. Das »majestätische […] Elend des Urwalds« (ebd.: 279) ist umfassend und riesenhaft. Gegen die »ausartikulierte Niedertracht des Dschungels« kommt sich Herzog vor »wie ein halbfertiger, schlecht aufgesagter Satz aus einem billigen Roman« (ebd.: 285). Alles ist voller »Grotesken« (ebd.: 294) und »Schimmel« (ebd.: 259). Truthähne kopulieren mit sterbenden Enten: »Schweiß, Gewitterbrüten, schlafende Hunde. Es riecht nach alterndem Urin. In meiner Suppe schwammen Ameisen und Käfer als Geleitzug der Fettaugen. Allmächtiger, schick uns ein Erdbeben« (ebd.: 58).
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duellen Abstieg in eine Ursprungswelt, er trennt die Ursprungswelt (die aktuelle, extensive Welt) jedoch nie von einem abgeleiteten Milieu (die virtuelle, intensive Welt). Seine entropisch geneigten Welten bilden ein Milieu, in dem das Erhabene (die ›große,‹ immaterielle Form) und das Verworfene (die ›kleine,‹ materielle Form) »derart in Beziehung zueinander treten, daß beide Ideen miteinander kommunizieren und in ihrem Austausch Figuren ausbilden« (Deleuze 1983: 250f.). Werner Herzogs Kino ist für Deleuze durch dieses Aufeinandertreffen maßloser, metaphysisch-halluzinatorischer Visionäre und kleiner, physisch-taktiler »Schwachsinnige[r]« (ebd.: 249) charakterisiert. Innerhalb eines kristallisierten Raumes treffen ›taktile‹ Bilder und Bilder großer Visionäre aufeinander. Herzog zieht die aktuelle und die virtuelle Welt auf eine ›projektive Ebene:‹ Sein Kino ist ein Kino der Kristall-Bilder. Im Naturalismus stehen die beiden Welten stets in reziproker Voraussetzung: »Die Ursprungswelt existiert und wirkt nur in der Tiefenschicht eines wirklichen Milieus, dessen Gewalttätigkeit und Grausamkeit sie enthüllt; andererseits stellt sich das Milieu auch nur im Inneren einer Ursprungswelt als das Wirkliche dar; es hat den Status eines ›abgeleiteten‹ Milieus, das von der Ur-
Der Urwald ist dem Menschen jedoch nicht nur aufgrund seines zügellosen Wucherns unzugänglich, sondern, mehr noch, weil seine Zeit die pure Gegenwart ist. Der chronische Puls der Zeit. Alles lebt »ausschließlich in der Gegenwart« (ebd.: 192). Nur manchmal erhebt sich, unendlich träge, ein Ereignis aus den chronischen Sachverhalten; ein Werden löst sich zäh aus dem Sein: Aufgrund »der Ankunft des Wasserflugzeuges, dem einzig nennenswerten Ereignis einer ganzen Woche, gerieten ein paar Leute hier in träge, eher unwillige Bewegung, als wäre dies eine Störung, ein Einbruch von Geschichte in das dumpfe Rasten der Zeit« (ebd.: 57).
Im Urwald gibt es »kein Gefühl für Geschichte,« nur ein »keuchendes, schwitzendes Präsenz« (ebd.: 106). Man befindet sich in einer »sprachlosen, zeitlosen, dämmernden Vorzeit« (ebd.: 141). Herzogs und Fitzcarraldos Visionen emergieren aus diesen Sachverhalten. Um den Peruanischen Kautschukbaron Carlos Fermín Fitzcarraldo erstellt Herzog eine komplexe Medienökologie (Fitzcarraldo, Eroberung des Nutzlosen, Mein liebster Feind – Klaus Kinski, der Filmroman: Fitzcarraldo sowie Les Blanks Dokumentation Burden of Dreams).
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sprungswelt eine Zeitlichkeit als sein Schicksal erhält« (ebd.: 173).
In der gegenseitigen Durchdringung dieser Ebenen treten an den Schnittstellen »[u]naufhörlich […] die Milieus aus der Ursprungswelt hervor und kehren dorthin zurück« (ebd.: 174). Daher kann auch die Logik des Realismus nicht von Ursprungswelten getrennt werden, wiewohl sie die Ebenen anonymer Wahrnehmung und Affekte – sowie ihrer kinematographischen Äquivalente: das Wahrnehmungsbild, das Affektbild und das Triebbild [orig. ›l’image pulsion‹] – nicht direkt adressiert, da sie eher an der Ebene des Subjekts und seiner kulturellen Programmierungen und Praktiken interessiert ist. Das kinematographische Äquivalent des Realismus ist daher das Aktionsbild: »Die Affekte und Triebe erscheinen nur noch im Verhalten verkörpert, in Gestalt von Gefühlen oder Leidenschaften, die das Verhalten leiten oder fehlleiten. Das ist der Realismus« (ebd.: 193). Hier zählt lediglich die Ebene der Aktualisierung: »Was den Realismus ausmacht, sind Milieus und Verhaltensweisen: das Milieu aktualisiert, und das Verhalten verkörpert« (ebd.). In Wild Fang and The Call of the Wild hat Jack London mit fast mathematischer Präzision die chiastischen Vektoren von Naturalismus zum
Die Urszene aller medialen Bearbeitungen ist eine scheinbar wahnsinnige, maßlose Idee: Um 1890 transportiert Fitzcarraldo mitten im Urwald ein Dampfschiff über einen Isthmus von einem Fluss zum anderen. Bei Herzogs Fitzcarraldo ist das Ziel, Geld zu verdienen, um in Iquitos eine Oper zu errichten. Herzog ist von diesem visionären Bild, das die Erhabenheit der Oper und der Vision mit der Niedertracht der Natur kurzschließt, fasziniert. Als wenn die Vision der Oper den Urwald mit Erhabenheit infizieren könnte, wird Fitzcarraldo zu Anfang des Films bei einer Opernvorführung im Teatro Amazonas in Manaus erst »Zeuge des Erhabenen,« (Herzog 1987: 14) dann sieht er, aus der Oper herauskommend, die ›Antwort‹ der Natur: »In spektakulärer Verzückung verbrennt sich der Himmel.« (Ebd.: 82) In Herzogs Einbildung wird Fitzcarraldos »Herausforderung des Unmöglichen« (ebd.: 86) ins schier Unendliche und Maßlose verstärkt. Das Schiff ist zehnmal schwerer. Und während Fitzcarraldo es auseinanderbaut, muss es bei Herzog an einem Stück transportiert werden, damit das visionäre Bild sich aktualisieren kann. Ironischerweise kann Fitzcarraldo alle materiellen Unmöglichkeiten besiegen, nur um am Ende von den Träumen der Indios besiegt zu
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Realismus und von Realismus zum Naturalismus ausgelotet. In Bezug auf den sensomotorischen Bogen liegt die naturalistische Logik näher am sensorischen Pol, während der Realismus näher am motorischen und intelligiblen Pol liegt: »Kurz, der Naturalismus verweist gleichzeitig auf vier Koordinaten: Ursprungswelt/abgeleitetes Milieu, Triebe/Verhalten. Man stelle sich ein Werk vor, in dem das abgeleitete Milieu und die Ursprungswelt wirklich voneinander geschieden und scharf auseinandergehalten würden: selbst wenn es alle Arten von Querverbindungen gibt, handelt es sich nicht um ein naturalistisches Werk.« (Ebd.: 174)
Jeder naturalistische Film rollt somit vor dem Hintergrund eines Lukrez’schen Entropismus ab und zeigt, mikrokosmisch, die Genese und den Tod eines gesamten Universums: »[D]ie Zeit des Naturalismus (scheint) von Anbeginn mit einem Fluch geschlagen zu sein. […] Sie ist also von einer Entropie, einer Verschlechterung, nicht zu trennen« (ebd.: 175). Aufgrund dieser Degradierung (besser noch: dieser Neigung oder dieses Gefälles) kann der Naturalismus »von der Zeit nur die negativen Auswirkungen aufgreifen: Verschleiß, Verfall, Schwinden, Zerstörung, Verlust oder einfach Vergessen« (ebd.: 176f.); Leben auf der schiefen Ebene.
werden, die das Schiff, von dem sie sich von Anfang an »so etwas wie eine Erlösung« (ebd.: 83) erwartet haben, nachdem der Kraftakt gelungen ist, losbinden, so dass es durch die Stromschnellen, die Fitzcarraldo durch das Unterfangen umgehen wollte, zurück an eine Stelle noch unterhalb des Ausgangspunkts getrieben wird. Der Grund ist die Fitzcarraldos Wahnsinn ebenbürtige Vorstellung der Indios, dies sei notwendig »um die bösen Geister der Stromschnellen zu besänftigen« (ebd.: 116). Im Endeffekt ist die Neigung des Lands daher nur eine Finte. Zwar stehen »[d]ie Männer« während des Kraftaktes »in seltsamer Anstrengung gegen die Schräge ihrer eigenen Welt« (ebd.: 102), die wirklich entropische Neigung jedoch ist die des Flusses. Herzogs Schiff ist der Sachverhalt, der den Film in eine Authentizität treibt, die sich vehement gegen alles Falsche stemmt. Wie Herzog über Hollywood notiert: »Es gilt hier als nicht diskutierte Selbstverständlichkeit, ein Modellschiff aus Plastik über einen Studiohügel zu ziehen, möglicherweise sogar in einem botanischen Garten, und ich sagte, die nicht diskutierbare Selbstverständlichkeit müsse ein wirklicher Dampfer über einen wirklichen Berg sein.« (Herzog 2004: 10)
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Die zweite Eigenschaft des Naturalismus ist die ihm innewohnende Gewalttätigkeit, die er aus seiner Beziehung zum Triebbild und zur Welt der Impulse bezieht. Diese formen das Reservoir an Energien, die naturalistisches Erzählen durchziehen und die in die abgeleiteten Milieus einbluten, wobei sie die Klarheit der kulturellen Ordnung durch die erschreckende Schönheit ungehemmter Kräfte ersetzen: durch die berauschende und großartige Brutalität reiner Affekte; die kategorische Monomanie des Impulses. »Das naturalistische Triebbild hat tatsächlich zwei Zeichen: die Symptome und die Idole oder Fetische. Die Symptome sind die Präsenz der Triebe in der abgeleiteten Welt, und die Idole oder Fetische sind die Darstellungen der ungestalteten Materie.« (Ebd.: 173)
Im Naturalismus »wird diese archaische, triebhafte Gewalttätigeit ein gegebenes Milieu allmählich durchdringen: ein abgeleitetes Milieu, das von ihr in einem langen Verfallsprozeß buchstäblich aufgezehrt wird« (ebd.: 188). Die naturalistische Welt ist durchtränkt von reinen »Energien […], die nicht einmal auf konstituierte Subjekte verweisen« (ebd.: 172) und die ausnahmslos »eine Fallinie zeichnen« (ebd.: 188). Deleuze sieht eine ähnliche Gewalt in den gestressten Gemälden von
Sofort darauf betont er jedoch, dass es ihm nicht um den materiellen Sachverhalt in all seiner gravitas geht, sondern um dessen Spiritualisierung; darum, ein Endliches zu erstellen, das die Unendlichkeit wieder herstellt. Das Schiff muss »nicht um des Realismus willen, sondern wegen der Stilisierung eines großen Opernereignisses« (ebd. 10) über den Berg gezogen werden. Die Natur muss zum Ereignis gegenaktualisiert werden. Sowohl Urwald und Oper sind verdichtete, konzentrierte »Axiome von Gefühlen. Das ist es, was Oper und Dschungel verbindet« (ebd.: 196). Kino ist in der Lage, Monumente aus Sachverhalten herausziehen insofern es Affekte aus ihnen zieht, deren Träger die ästhetische Figur ist, als Bild eines Phänomens auf einer Kompositionsebene. Kinski|Aguirre and Kinski|Fitzcarraldo entstehen aus und in Resonanz mit dem Diagramm des Schauplatzes als nichtfiguralem Feld. Die Ausdehnungen, Kontraktionen, Abspaltungen und Streckungen des Diagramms werden in Kinskis Spiel zu einer Figur komponiert, die virtuelle Kräfte verkörpert und sichtbar macht. Herzogs Aktionskino dreht sich darum, ein metaphysisches Ereignis in einen Sachverhalt einzuspeisen (Produktion: materialisierende Aktualisierung der virtuellen
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Francis Bacon: »Nun gibt es bei Bacon keine Gefühle; nichts als Affekte, d.h. ›Sensationen‹ und ›Triebe‹ nach der Formel des Naturalismus.« (Deleuze 1984: 30) Diese Gewalt zeigt sich insbesondere in den Verzerrungen der Gesichter, den »Kräften des Drucks, der Ausdehnung, der Kontraktion, der Abspaltung, der Streckung, die auf den unbeweglichen Kopf einwirken« (ebd.: 40). Bacon bezieht diese Energien aus dem Sachverhalt des Diagramms als der Ebene nicht-figuraler Gegebenheiten: aus dem Dschungel der Schmierereien, aus den farblichen Affekten welche die Unterlage der Figur bilden. Da sie aus diesem Diagramm entsteht und ihm immanent bleibt, ist die Form der Figur »nicht mehr Wesen, sie ist Akzidenz geworden, der Mensch ist ein Zufälliges. Der Zufall führt ein Zwischen in die Ebenen ein, in dem der Sturz geschieht […]. Keine Perspektive, sondern eine ›seichte‹ Tiefe trennen Hintergrund und Vordergrund« (ebd.: 82). So wie die Elemente der vorphilosophischen Immanenzebene »diagrammatische Merkmale« (Deleuze 1991: 47) sind, sind die diagrammatischen Schmierereien ›vormalerisch‹. Die Aufgabe des Diagramms ist es, eine erste, leichte Verlangsamung der unendlich schnellen Bewegungen innerhalb der Immanenzebene herbeizuführen. Aber auch wenn das Diagramm »ein Halte- oder Ru-
Vision), um dieses Ereignis dann filmisch zu extrahieren (Komposition: immaterialisierende Gegenaktualisierung der aktuellen Sachverhalte). Wenn es Fitzcarraldo darum geht, den niederträchtigen Urwald mit der erhabenen Oper zu kreuzen, geht es Herzog darum, dieses Ereignis aus dem Urwald und der Idee heraus filmisch zu komponieren (der erhabene Stil und Rhythmus des Films, insbesondere Thomas Mauchs ›getragene‹ Kamera). Um die Natur zum Ereignis werden zu lassen, muss man den Kinoapparat vollständig in die Natur tränken. Denn nur wenn er ein Attribut materieller Bewegungen, Kräfte und Intensitäten wird, kann eine authentische Komposition entstehen. Die Produktion als Physik materieller Affekte: »Alle Zweige, die ins Wasser hängen, verneinen die Bewegung des Flusses« (ebd.: 224) beobachtet Herzog. »Hauptakteure in unserem befremdlichen Drama, umgeben von gleichgültigem Dschungel als unser Zuschauer, sind keine Menschen mehr, sondern die Stahltrossen, der Caterpillar, die Seilwinden, die Baumstämme, der Lehm, der Fluß, der Regen, die Erdrutsche« (ebd.: 285).
Herzogs Bilder sind jedoch immer beides: Athletik und Oper, Physik
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hepunkt« in Bacons Bildern ist, so ist es dennoch »ein Ruhepol, der von der größten Unruhe umschlossen wird oder umgekehrt selbst das aufgewühlteste Leben umschließt« (Deleuze 1984: 84). Inmitten dieser »höchsten Unruhe der Materie« (ebd.) operiert das Diagramm als analoger »Modulator« (ebd.) aus dem »in einem Präsenzfeld oder auf einer begrenzten Ebene, deren Momente allesamt aktuell und sinnlich wahrnehmbar sind« (ebd.: 72) Figuren entstehen, wenn der ›schöpferische Akt‹ gelingt: »Das Wesentliche am Diagramm liegt darin, daß es dafür gemacht ist, daß etwas aus ihm hervorgeht, und es mißlingt, wenn nichts aus ihm hervorgeht« (ebd.: 97). Das Diagramm vermittelt in der Frage an die Malerei: wie »von der faktischen Möglichkeit zum Faktum gelangen« (ebd.)? Deleuzes Naturalismus ist ein Naturalismus der gegenseitigen Attributierung zweier inkompatibler Serien, die ein Grundmedium teilen. So erfordert das ›Tier werden‹ die »Macht eines Stoffes [orig: ›fond‹], der die Formen auflösen und die Existenz eines solchen Bereichs durchsetzen kann, in dem man nicht mehr weiß, wer Tier und wer Mensch ist« (Deleuze 1991: 205). Der Naturalismus beschreibt diese Zone der Unentscheidbarkeit meist innerhalb der gewalttätigen Register der Regression und der Atavismen:
und Vision. Es sind Kristall-Bilder, die den »kleinsten inneren Kreislauf« (Deleuze 1985: 98) und den Punkt der »Ununterscheidbarkeit« (ebd.: 119) zwischen dem Aktuellen und dem Virtuellen bilden, und die Deleuze fast so beschreibt, als würde er Fitzcarraldo beschreiben, denn sie zeigen »das Leben als Schauspiel, und dennoch in seiner Spontaneität.« (Ebd.: 122) Als ›Drehmoment‹ zwischen der aktuellen und der virtuellen Serie bilden Kristall-Bilder einen Raum mit »vollständig umkehrbaren Vorder- und Rückseiten;« (ebd.: 97) d.h. sie erstellen eine projektive Topologie in der »Materie und […] Geist« (ebd.: 104) aufeinandergefaltet werden. Innerhalb der Topologie der projektiven Ebene evozieren sie das Treffen der Gegensätze am jeweiligen, auf der Ebene jeweils unendlich weit voneinander entfernten, ›Punkt der Unendlichkeit,‹ an dem das Aktuelle und das Virtuelle als Gegensätze identisch werden. Sie sind ›unendlich nah‹ an dem magischen Punkt an dem das Bewegungsbild mit dem Zeitbild identisch wird und aktuelle Wahrnehmung in virtuelle Imagination umschlägt. Wiederum, diesmal topologisch, coincidentia oppositorum. Die Dreharbeiten im Urwald gestalteten sich so schwierig, dass »meine Aufgabe und die der Figur identisch
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»Personen sind darin wie Tiere, der Salonmensch ein Raubvogel, der Liebhaber ein Bock, der Arme eine Hyäne. Nicht daß sie so aussähen oder sich so verhielten, aber ihre Handlungen stehen vor jeder Differenzierung zwischen Mensch und Tier. Es sind menschliche Bestien« (Deleuze 1983: 172).
Wie wird man zum Tier? Auf der materiellen Ebene impliziert der Prozess den Austausch von Partikeln, um Teil eines Tierarrangements zu werden (»Das Fleisch ist der gemeinsame Raum von Mensch und Tier, ihre Ununterscheidbarkeitzone« (Deleuze 1984: 21)). Auf der Ebene dessen, was Deleuze Gegen-verwirklichung (besser: Gegenaktualisierung) nennt, impliziert der Prozess dass, genauso wie ein Ereignis in einem Sachverhalt aktualisiert wird, ein Ereignis aus einem Sachverhalt extrahiert werden kann; d.h., aus einem materiellen Sachverhalt wird ein immaterielles Ereignis abstrahiert. Es geht um »[d]as Einfangen von Kräften« (ebd.: 39). Wenn das virtuelle Ereignis für Deleuze der Teil des Ereignisses ist, der in seiner Aktualisierung nicht absorbiert wird, was ist dann Gegenaktualisierung? Wenn Aktualisierung das Virtuelle extensiviert, dann virtualisiert und intensiviert Gegenaktualisierung das Extensive: Wenn das virtuelle, aionische Ereignis in chronischen Sachverhalten
geworden ist« (Herzog 2004: 158), notiert Herzog. In dem erhabenen Wahnsinn seines Projekts werden reales Modell, eingebildete Figur und Regisseur zu einer umfassenden Begierdemaschine. Die Imponderabilien drängen die Produktion in eine ausgeweitete Improvisation, die den Film insgesamt figürlich macht: »Ungeprobt sehen die Dinge immer besser aus, sowie ich wiederhole, kommt eine Mechanik in die Abläufe, die ohne wirkliches Leben ist« (ebd.: 208). Katastrophen schreiben das Drehbuch. Es geht weniger um Erzählung oder Repräsentation, sondern um das Einfangen von Kräften. Nicht um Narration, sondern um Ausdruck. Am Ende von Fitzcarraldo sind Kinotheater und Urwaldfabrik einander vollkommen attributiert. Wie auf einer projektiven Ebene durchdringen sich Opernkulisse und Urwald: »Sie haben einen Wald aus Pappmaché aufgebaut, ihre Theaterkulissen und der Theaterwald ziehen am wirklichen Urwald vorüber. Was für ein Anblick!« (Herzog 1987: 119) Das Kino verdoppelt diese gegenseitige Immersion auf der ›projektiven Ebene‹ der Leinwand: Was bleibt, ist am Ende, obwohl – oder gerade weil? – Kinski sich genau an dem Tag ›unsäglich fürchterlich‹ aufführte, die reine Glückseligkeit in den Gesichtern
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aktualisiert wird, dann extrahiert Gegenaktualisierung das aionische Konzept aus dem Chronischen: »Man aktualisiert oder verwirklicht das Ereignis immer dann wenn man es […] auf einen Sachverhalt verpflichtet, aber man gegen-verwirklicht es immer dann, wenn man von den Sachverhalten abstrahiert, um aus ihnen den Begriff zu gewinnen« (Deleuze 1991: 186).
Aktualisierung und Gegenaktualisierung gehen somit in zwei unterschiedliche Richtungen, die Deleuze u.a. mit den unterschiedlichen Praktiken der Naturwissenschaften und der Philosophie korreliert. Naturwissenschaft »steigt von der chaotischen Virtualität zu den Sachverhalten und Körpern herab, die sie aktualisieren« (ebd.: 182), die Philosophie geht »von den Sachverhalten zum Virtuellen« (ebd.). Um den Prozess der Konzeptualisierung zu beschreiben, greift Deleuze in Die Logik des Sinns auf die Figur des Schauspielers zurück, der aus Sachverhalten ›ihr‹ virtuelles Konzept bzw. eine abstrakte Linie extrahiert, um es sodann zu verkörpern.
von Fitzcarraldo|Kinski und Molly| Cardinale. Ihr Charme, ihre Grazie, die Musik. Der Urwald als Ereignis. Obwohl sie ähnlich produziert sind, könnten Aguirre und Fitzcarraldo inhaltlich nicht gegensätzlicher sein. Beide bringen Impuls und Vision zusammen, sie tun dies jedoch unter gegensätzlichen Vorzeichen. Verkörpert Kinski in Aguirre einen gewalttätigen kulturellen Impuls, der vom Urwald absorbiert wird – »Ich bin der Zorn Gottes, die Erde, über die ich gehe, sieht mich und bebt« –, so verkörpert er in Fitzcarraldo den heiligen Narren, dem auch die größten Katastrophen nichts von seiner Liebe zur Oper nehmen können und dem es am Ende tatsächlich gelingt, die Oper in den Urwald zu bringen. Fitzcarraldo ist Visionär: Die psychische Vision steht zu Anfang und spiritualisiert das Milieu. Aguirre wird zum Visionär: Die physische Vision steht am Ende und wird in das Milieu projiziert.
Bei Aguirre geht es um den Versuch der gewaltsamen Aktualisierung eines Impulses in einen Schauplatz;
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Der Schauspieler »verwirklicht demnach das Ereignis, jedoch ganz anders, als das Ereignis sich in der Tiefe der Dinge verwirklicht. Oder er verdoppelt vielmehr diese kosmische physische Verwirklichung durch eine weitere, auf ihre Weise eine einzigartig oberflächliche« (Deleuze 1969; 188). Die Herausforderung der Gegenaktualisierung liegt darin, das virtuelle Bild der Rolle zu aktualisieren; aus einem Körper ›sein‹ Konzept zu isolieren, dies zu aktualisieren und so die extensive Welt der Körper zu spiritualisieren: »das virtuelle Bild der Rolle wandelt er zu einem aktuellen, das daraufhin sichtbar und leuchtend wird. Der Schauspieler ist ein ›Monstrum‹« (Deleuze 1985: 99) nicht im Sinne einer angsteinflößenden physischen oder psychischen Deformierung, sondern in dem Sinne, dass er Wahrzeichen ist. Es ist keine Frage des ›demonstrare,‹ sondern des ›monstrare;‹ nicht der Repräsentation, sondern eines Ausdrucks innerhalb dessen die zwei Serien in ihrer radikalen Unterschiedlichkeit attributiert werden. Dafür wiederum muss der Schauspieler selbst zu einem Medium werden, auf der sich fremde Ereignisse abspielen und aktualisieren können: »Dazu müßte das Individuum sich selbst als Ereignis begreifen. Und es müßte überdies das sich in ihm verwirklichende Ereignis als ein anderes
um die originäre Gewalt dieses Impulses – koloniale Monomanie – der sich über ein Milieu ausdehnt und dieses degradiert: »Wir werden Geschichte inszenieren wie andere Stücke auf dem Theater«, sagt Aguirre: »Wir sind der Lauf der Geschichte.« Bei Fitzcarraldo geht es um eine von einer Vision ausgehende Gegenaktualisierung der Sachverhalte; um die originäre Energie einer Vision – ästhetische Monomanie – die sich über ein Milieu ausdehnt und dieses spiritualisiert. Während Fitzcarraldo den Indios Caruso bringt wird Musik in Aguirre dem Urwald nicht gebracht, sondern von ihm gefordert. »Los, spiel was!« befiehlt Aguirre einem Indio. Auch bei Aguirre liegt der Ursprung des Films in einer realen Person, dem spanischen Soldaten Lope de Aguirre. Am Ende ist Aguirre der einzige Überlebende der unsichtbaren Angriffe vom Ufer, allein auf seinem schleimigen Floß, umgeben von Leichen und einer Bevölkerung von Affen. Aus dieser auswegslosen Situation heraus proklamiert er, der alles und jeden verraten hat, die wahnsinnige koloniale Vision: »Ich, der Zorn Gottes, werde meine eigene Tochter heiraten und mit ihr die reinste Dynastie gründen, die je die Erde gesehen hat. Zusammen werden wir über diesen gesamten Kontinent herrschen. Wir halten durch. Ich bin der Zorn Gottes! Wer sonst ist mit mir?«
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ihm aufgepropftes Individuum begreifen« (Deleuze 1969: 221). Dies also ist die projektive Ebene des philosophischen Ereignisses: »In jedem Ereignis gibt es den gegenwärtigen Augenblick der Verwirklichung, jenen, in dem das Ereignis sich in einem Dingzustand, einem Individuum, einer Person verkörpert […] Andererseits aber gibt es die Zukunft und Vergangenheit des Ereignisses an sich, das jeder Gegenwart ausweicht, weil es von den Begrenzungen eines Dingzustandes frei, wei es unpersönlich und präindividuell, neutral, weder allgemein noch besonders ist, eventum…; oder, vielmehr, das keine andere Gegenwart als die des beweglichen Augenblicks kennt, der es repräsentiert und der stets in Vergangenheit-Zukunft verdoppelt ist und dem Gestalt verleiht, was Gegen-Verwirklichung genannt werden muß.« (Ebd.: 189)
Entsprechend dazu ist die Aufgabe der Philosophie, Konzepte zu extrahieren: »Und sicher wird die Philosophie aus diesen Sachverhalten Begriffe gewinnen können, sofern sie daraus das Ereignis herausziehen wird« (Deleuze 1991: 61). Eine gute Vorgehensregel für die Erstellung einer Deleuze’schen Utopie wäre die, einen ›horizontalen Naturalismus‹ zu erstellen. Einen Naturalismus, in dem es um
Am Ende klaubt Aguirre einen der auf dem Floß herumstreunenden Affen – die Herzog, einen Veterinär spielend, vom Flughafen entwendet hatte –, sieht ihn an, um ihn dann mit einer Geste wegzuwerfen, mit der ausfließenden Gewalt eines reinen Impulses, der sich in der brutalen Brillianz des Kolonialismus aktualisiert hat. Die Objekte, die dieser Impuls aus der natürlichen Welt herausgerissen hat, sind Symptome und Fetische. Während Aguirres Verrat den Trieb ausdrückt, der sich im abgeleiteten Milieu aktualisiert, sind die Idole und Fetische, um welche diese Symptome zirkulieren, Blöcke ›goldener‹ Materie: El Dorado. Zu diesem Zeitpunkt ist die Landschaft jedoch schon zur reinen Vision geworden. Die Serien haben sich vollkommen entkoppelt. Der Impuls ist in eine Vision ausgewichen. Ein Schiff hängt in einem Baum. Selbst der Fluss hat sich vom kolonialen Impuls abgekoppelt. Entropisches Zögern der Strömung. Chronos absorbiert Aion. Keine Geschichte mehr. Sowohl der koloniale Impuls als auch die koloniale Vision werden vom Sachverhalt aufgesogen und absorbiert. Wie kann man Monomanie – ob kolonial oder ästhetisch – mit der Gegenaktualisierung anonymer Sachverhalte versöhnen? Ist das Treffen von Aguirre und Affe ein koloniales, so endet Mein liebster Feind – Klaus Kinski mit einer sanften, zärtlichen Sym-
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reine Affekte ohne Gefälle geht. Ein suspendierter Naturalismus, dessen widerstandslose Elemente sich einander in weichen, ›druckfreien‹ und anonymen Ökologien affizieren. In »Die Immanenz: Ein Leben…« hat Deleuze dies als die Ebene eines rein virtuellen, anonymen Bewußtseins beschrieben; eines »transzendenten Feld[es]« (Deleuze 1995: 29), das sich als »reiner a-subjektiver Bewusstseinsstrom dar[stellt], als unpersönliches prä-reflexives Bewusstsein, als qualitative Dauer des ichlosen Bewußtseins« (ebd.). Auf dieser Ebene virtueller Kräfte und intensiver Bewegungen ist die Sensation »nur ein Schnitt im Strom absoluten Bewusstseins« (ebd.). Die abstrakte Maschine. Der Schauplatz der Welt. Reines Licht. Die erste Verdunkelung. Philosophie des Kinos.
biose, passend zu Fitzcarraldo, der insgesamt ein unendlich zärtlicher Film ist; mit einer Serie kristalliner Bilder ›zwischen‹ vollem materiellem Sein, d.h. dem reinen Aktuellen, und leerem Werden, d.h. dem reinen Virtuellen. Herzogs voice-over Kommentar: »Und dann sehe ich ihn mit einem Schmetterling, ganz sachte, ganz leicht. Das kleine Wesen will nicht fort von ihm und ist so zutraulich, daß mir manchmal scheint, Klaus selbst wird zum Schmetterling.« Eine Figur reinen Affekts und reiner Resonanz. Die Selbstvergessenheit des Megalomanen. Die direkte Übertragung der Intensität solcher vorfilmischer Kristalle in den Film zeigt sich in Szenen wie der, in der sich Fitzcarraldo und die Indios zum ersten Mal begegnen, und die Indios ihn so anfassen, als wäre er ein Schmetterling, oder auch, als wären sie die Schmetterlinge. Unentscheidbar. Horizontaler Naturalismus. Das Licht in Kinskis Haar. Kino der Philosophie.
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L iter atur Was ist Philosophie? Gilles Deleuze Literatur Deleuze, Gilles: David Hume, übers. v. P. Geble/M. Weinmann. Frankfurt a. M. [1953] 1997. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, übers. v. J. Vogl. München [1968] 1992. Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, übers. v. B. Dieckmann. Frankfurt a. M. [1969] 1993. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild: Kino 1, übers v. U. Christians/U. Bokelmann. Frankfurt a. M. [1983] 1989. Deleuze, Gilles: Francis Bacon – Logik der Sensation, übers. v. J. Vogl. München [1984] 1995. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild: Kino 2: übers. v. K. Englert. Frankfurt a. M. [1985] 1991. Deleuze, Gilles: Die Falte: Leibniz und der Barock, übers. v. J. Schneider. Frankfurt a. M. [1988] 1995. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie?, übers. v. B. Schwibs/J. Vogl. Frankfurt a. M. [1991] 1996. Deleuze, Gilles: »Die Immanenz: Ein Leben
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Was ist Kino? Werner Her zog Filme Blank, Les: Burden of Dreams, Niederlande 1982. Herzog, Werner: Aguirre, der Zorn Gottes, Deutschland 1972. Herzog, Werner: Fitzcarraldo, Deutschland 1982. Herzog, Werner: Mein liebster Feind – Klaus Kinski, Deutschland 1999. Literatur Deleuze, Gilles: Francis Bacon – Logik der Sensation, übers. v. J. Vogl. München [1984] 1995.
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Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild: Kino 2: übers. v. K. Englert. Frankfurt a. M. [1985] 1991. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie?, übers. v. B. Schwibs/J. Vogl. Frankfurt a. M. [1991] 1996. Flusser, Vilém: Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen 1985. Foerster, Heinz von: Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke, übers. v. W. K. Kröck. Frankfurt a. M. 1993. Herzog, Werner: Fitzcarraldo/Wo die grünen Ameisen träumen: Filmerzählungen, Berlin 1987. Herzog, Werner: Eroberung des Nutzlosen, München 2004. Lucretius Carus, Titus: Von der Natur der Dinge, Leipzig 1947.
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In der Abwesenheit des Menschen Über Lager, Landschaften und Geister in Philip Scheffners Halfmoon Files Friedrich Balke
1. S ät ze und K r äf te Wenn es einen Punkt der philosophischen Gemeinsamkeit zwischen Gilles Deleuze, Michel Foucault und Jacques Derrida gibt, dann besteht er in der Hartnäckigkeit, mit der sie mit je eigenen Mitteln die zweifelhafte Existenz des Menschen und einer Politik im Namen des Menschen analysieren und zurückweisen. Dass der Mensch eine »junge Erfindung« ist und keineswegs »das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt« hat, dass der Mensch daher, so wie er als Objekt des Wissens und Zielscheibe der Macht entstanden ist, auch wieder »verschwindet« (Foucault 1966a: 462), ist der Weckruf, mit dem Foucault die Philosophie seit Kant sowie die mit ihr verbündeten Humanwissenschaften aus dem »anthropologischen Schlaf« reißt:
»In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raums, in dem es schließlich möglich ist, zu denken.« (Ebd.: 412)
Die sogenannte Philosophische Anthropologie, wie sie im Deutschland der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts entsteht, bestätigt
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Foucaults Diagnose der Leere und der Lücke am Ort des vormaligen Menschen, widmet sich aber, alle Warnungen Nietzsches ausschlagend, beharrlich der Arbeit an ihrer Ausfüllung. Nietzsche, weiß Deleuze, verändert »Theorie und Praxis der Philosophie« (Deleuze 1983: 193), weil er das Denken auf den Akt der Freilegung von Kräften ausrichtet: Die Formen, Dinge und Phänomene sind »Zeichen oder vielmehr Symptome« und verweisen als solche auf »Kräfteverhältnisse« (ebd.: 194). Nietzsches »allgemeine Semiologie« umfasst die »Philologie« und die »Linguistik«, also die Wissenschaften von der Sprache und ihrer spezifisch literarischen Verwendungsweise:
»Denn ein Satz ist selber eine Gesamtheit von Symptomen, die eine Seinsweise oder eine Existenzweise desjenigen, der spricht, zum Ausdruck bringen, das heißt, das Kräfteverhältnis, das jemand mit sich selbst und den anderen unterhält oder zu unterhalten sich bemüht.« (Ebd.)
Philip Scheffners Film Halfmoon Files (2007) ist nicht zuletzt auch ein philosophisches Ereignis, weil er seiner ganzen Anlage nach die Probe auf diesen Satz von Deleuze macht, der ja ein Satz über die Kräfte ist, die sich eines Satzes bemächtigen. Im Mittelpunkt des Films wie auch meiner Analyse stehen daher im Grunde nichts anderes als Sätze, die an einem bestimmten Ort hervorgebracht und auf dem Wege verschiedenster medialer Übertragungsvorgänge in eine Zirkulation versetzt werden, die weit über den Raum ihrer Entstehung hinausreicht. Deleuzes Hinweis auf die Rolle des Satzes in der Semiologie Nietzsches bezieht sich nicht nur auf dessen eigenes Schreiben, auf die ›Stile Nietzsches‹ (Derrida)1, sondern zugleich auch auf das Denken Michel Foucaults, der eine eigene ›Semiologie‹ entwickelte, die er Diskursanalyse genannt hat. Deleuze bewundert Foucault für nichts so sehr, als dass er den von Nietzsche abgeschossenen Pfeil dort aufgehoben hat, wo er »niedergefallen ist, um ihn woandershin zu schicken« (Deleuze 1983: 193f.). Der Text, den Deleuze seinem Foucault-Buch als »Anhang« beigegeben hat und der Foucaults Reflexionen über den Tod des Menschen fortführt, beginnt mit dem Satz: »Das allgemeine Prinzip Foucaults lautet: jede Form ist eine Verbindung von Kräfteverhältnissen.« (Deleuze 1986: 175) Die »Menschen-Form« wurde erst möglich, als sich die vormalige »Gottes1 | Vgl. dazu Derrida 1973.
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Form«, die für das Zeitalter der Klassik und ihrer Wissenstechnik einer »unendlichen Repräsentation« (ebd.: 180) charakteristisch ist, auflöste, als sie nicht länger im Zentrum der epistemischen Neugierde und der politischen Sorge stand und die
»Kräfte im Menschen […] in Beziehung [treten] zu neuen Kräften des Außen, den Kräften der Endlichkeit. Diese Kräfte, das sind das Leben, die Arbeit und die Sprache: die dreifache Wurzel der Endlichkeit, die die Biologie, die politische Ökonomie und die Linguistik entstehen läßt.« (Ebd.: 179)
2. A rchiv wesen und E mpfindungsblöcke Mit der von Michel Foucault beschriebenen Entdeckung des Lebens als Wissensgegenstand und Machtziel im 19. Jahrhundert entsteht auch die Denkbarkeit bzw. das Aussageprofil einer Philosophischen Anthropologie, die sich – etwa in Helmuth Plessners »Versuch« Macht und menschliche Natur – in Begriffen wie Unergründlichkeit, offene Frage, Exponiertheit, Wagnis oder in der an Nietzsche gemahnenden Formel vom »Menschen als Macht« (Plessner 1931: 185) expliziert. Was bei Plessner, Gehlen oder auch Scheler in Form von anthropologischen Quasi-Wesensaussagen begegnet, lässt sich in wissensgeschichtlicher Fragerichtung auf bestimmte Prozesse und Anordnungen zurückführen, die jene Fragwürdigkeit des Menschen, von der in den Texten der Philosophischen Anthropologen so oft die Rede ist, allererst als epistemisches Projekt etablieren. Ich möchte im Folgenden diese Problemstellung nicht auf textexegetische Weise, sondern am Beispiel eines Films entwickeln, der ein weitverzweigtes Netzwerk anthropologischer Wissensgenerierung erschließt. Philip Scheffners Film Halfmoon Files bildet aber nicht nur exemplarisch das komplizierte Verhältnis von anthropologischen Sagbarkeiten und Sichtbarkeiten in der politischen Situation des Ersten Weltkriegs ab. Die Dokumentationsarbeit des Films ist unlösbar verbunden mit einer spezifisch künstlerischen Intervention in das komplexe Dispositiv anthropologischer Erkenntnisbildung, dem so seine Ereignishaftigkeit und gespenstische Gegenwärtigkeit zurückgegeben wird. »Jedes Wissen«, schreibt Deleuze in seiner Besprechung der Ordnung der Dinge, »entfaltet sich Foucault zufolge in einem charakteristischen
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›Raum‹.« (Deleuze 1966: 133) Die Frage des Wissens als eine topologische gestellt zu haben, zeichnet zweifellos den wissensgeschichtlichen Ansatz Foucaults aus. Von Räumen des Wissens wird bei ihm keineswegs allein in einem epistemologischen oder epochalen Sinne (das Wissen des klassischen Zeitalters, das Wissen der Humanwissenschaften um 1800…) gesprochen, sondern in einem durchaus operativ-konkreten Sinne, der auf die historisch spezifischen Techniken der Wissensgenerierung und Wissensübertragung abzielt. Foucault ist an den konkreten architektonischen Materialisierungen von Räumen, in denen Wissen gewonnen und Macht ausgeübt wird, genauso interessiert, wie an ihrer diagrammatischen Seite. Ob er sich nun der klösterlichen Zelle oder ihren säkularen Abkömmlingen, den Schulräumen, Spitalräumen, Kasernenräumen, Fabrikräumen, Asylräumen oder Gefängnisräumen widmet: Immer geht es ihm darum, neben einer dichten Beschreibung der von ihnen eingefassten Praktiken zugleich auch die medialen Operationsketten sichtbar zu machen, die den Informations- und Befehlsfluss steuern, den diese Disziplinarräume von der »Utopie einer perfekten Einsperrung« (Foucault 1975: 263), auf die man sie allzu oft reduziert, unterscheiden. Die Einsperrung oder zeitlich begrenzte Fixierung von Individuen dient hier der Transformation von Dingen (z.B. in der Fabrik) oder Personen (in der Schule, im Spital etc.) sowie der fortlaufenden Gewinnung von Wissen über menschliche Tatsachen und menschliches Verhalten (im Hinblick auf pathologische Abweichungen von einer vergleichend ermittelten Norm des homme moyen). Das Panopticon, das Foucault als die Matrix der diversen Disziplinierungsstätten beschreibt, ist daher keineswegs »als Traumgebäude zu verstehen: es ist das Diagramm eines auf seine ideale Form reduzierten Machtmechanismus« (ebd.: 263f.). Die Disziplinierungsstätten versetzen die Individuen »in eine fast ununterbrochene Überprüfungssituation« (ebd.: 239). Die Überwachten, so Foucault, werden »in ein Netz des Schreibens und der Schrift« gesteckt, die Prüfung »überhäuft sie und erfaßt sie und fixiert sie mit einer Unmasse von Dokumenten. Von Anfang an waren die Prüfungsverfahren an ein System der Registrierung und Speicherung von Unterlagen angeschlossen« (ebd.: 243f.).
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Abbildung 1: »Personal-Bogen«
Halfmoon Files ist ein Film über Lager und Lagerungen, camps und Archive »von Körpern und Tagen« (ebd.: 243), wie Foucault sagt – genauer: ein Film, der die Überlagerung von verschiedenen Lagerfunktionen oder Lagerdimensionen vorführt. »Das Lager«, heißt es in Überwachen und Strafen, »bedeutete für die wenig rühmliche Kunst der Überwachungen das, was die Dunkelkammer für die große Wissenschaft von der Optik war.« (Ebd.: 222) Der auf den ersten Blick rätselhafte Satz könnte den Halfmoon Files als Motto vorangestellt werden, denn in dem Lager, das dieser Film mit den ihm eigenen Mitteln vor den Augen der Zuschauer wiedererstehen lässt, wird etwas entwickelt: Was für Foucault den Status eines erhellenden Vergleichs hat – Lager und Dunkelkammer –, bezeichnet im Fall des filmischen Lagers – der im Medium des Films vorgenommenen Speicherung und Anordnung von historischen sowie aktuellen optischen, akustischen und textuellen Spuren – geradezu das operative Prinzip seiner Einrichtung. Einerseits versetzt uns der Film in die Zeit des Ersten Weltkriegs und in das so genannte Halbmondlager in Wünsdorf bei Berlin, in dem Kriegsgefangene außereuropäischer Herkunft, sogenannte Kolonialsoldaten, interniert wurden. Andererseits markiert bereits sein Titel, dass der Film sich keineswegs damit begnügt, dem Zuschauer das Leben in einem sehr besonderen Kriegsgefangenenlager vor Augen zu stellen. Scheffner hat im Titel seines Films den Begriff ›Lager‹ nicht zufällig getilgt und ihn mit »Files«, also Akten, Karteien, Dateien überschrieben, weil der Zugang zum Raum des Lagers über einen anderen Raum, nämlich den des Archivs führt, in dem die überlieferten medialen, insbesondere akustischen Spu-
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ren seiner einstmaligen Existenz aufbewahrt werden. Aber Halfmoon Files exponiert nicht nur den Modus der Indirektheit jeder möglichen Erfahrung des einstigen ›Lagerlebens‹, indem er dem Ort und den baulichen Überresten des einstigen Lagers die Archivräume zur Seite stellt, in denen sich auf tausenden von Tonträgern akustische Spuren dieses Lebens oder auf Glasdias hunderte von Fotografien der Lagerinsassen befinden. Sein Film ist Feldforschung auch in dem Sinne, dass er ein ganzes Netzwerk von Wissensspuren sichtbar macht, in das das einstige Lager und seine Insassen ›eingegangen‹ sind: Anthropologen wie Egon von Eickstedt etwa nahmen an 76 Sikhs umfangreiche Körpermessungen vor, um mittels der gewonnenen Daten, die durch aufwendige Rechenmodelle miteinander in Beziehung gesetzt wurden, im Rahmen einer ethnologischen Qualifikationsschrift das Phantasma einer homogenen Ethnie zu bestätigen – ohne Erfolg, wie der Autor schließlich eingestehen muss. Abbildung 2: Dissertation Egon v. Eickstedts
Was den Film über seine dokumentarische Seite hinaus zu einem Kunstwerk macht, lässt sich am besten mit einem Begriff charakterisieren, den Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem letzten gemeinsam verfassten Buch prägen: »Empfindungsblock«. Mit dem Begriff wird einer Vorstellung von Kunst widersprochen, die sie auf die Wiedererinnerung und das Gedächtnis oder einen Ausdruckswillen festzulegen versucht. Die Arbeit des Künstlers besteht vielmehr darin, »einen Block von Empfindungen, ein reines Empfindungswesen zu extrahieren« (Deleuze/Guattari 1991: 196). Einem Objekt, einem Feld von Tatsachen wird »mit den Mitteln
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Abbildung 3: Biometrie. Aus dem »Anhang« der Dissertation Egon v. Eickstedts
des Materials« – und nicht mit Hilfe irgendwelcher künstlerischer Absichten oder Ideen – etwas entrissen: Das so entstehende Perzept unterscheiden Deleuze/Guattari von den Perzeptionen, also den gewöhnlichen Wahrnehmungen, die einem empirischen Subjekt gehören oder auf ein Objekt verweisen. Wenn der Regisseur gleich zu Beginn des Films klarstellt, dass er eine »ghost story« drehen will, dann steht die Hartnäckigkeit der Geister und des Gespenstischen im Film, die wenig zum indexikalischen Wert der verwendeten phonographischen Stimmen und fotografischen Bilder zu passen scheint, für die Suche nach Empfindungskomplexen oder Empfindungsblöcken ein, die auf keinen empirischen Zustand verweisen oder sich zumindest nicht auf diesen Hinweis reduzieren lassen. Die Empfindungsblöcke oder Perzepte sind
»Wesen, die durch sich selbst gelten und über alles Erleben hinausreichen. Sie sind, so könnte man sagen, in der Abwesenheit des Menschen, weil der Mensch, so wie er im Stein, auf der Leinwand oder im Verlauf der Wörter gefaßt wird, selbst eine Zusammensetzung, ein Komplex aus Perzepten und Affekten ist.« (Ebd.: 192)
Die Frage nach den Wesen oder Geistern, die in den Archiven hausen, trägt der Film dabei keineswegs von außen an das Material heran; sie wird ihm vielmehr von einer der aufgezeichneten Stimmen aus dem Lager vor-
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gegeben, die eine Antwort auf eben diese Frage in Aussicht stellt. Diese Antwort kann, wie der Film zeigt, auf verschiedene Weise gegeben werden, nämlich genealogisch-dokumentarisch auf der einen, ›literarisch‹ auf der anderen Seite:2
»Was ist ein Geist? Wie lebt ein Geist? Wie viele verschiedene Arten von Geistern gibt es? Wie wird jemand zum Geist? Darüber werde ich euch erzählen.«
Die »Wesen« oder ghosts sind nichts, was der Film als eine fiktionalisierende Operation über die dokumentarisierende Spur legt. Sie entstehen vielmehr im Herzen einer medialen Düsternis, wie sie im Archivraum herrscht3 und werden durch die Stimme des Archivars selbst beschworen: »Also, ich bin die meiste Zeit in diesem Raum allein. Ich hab keine Mitarbeiter sonst. […] Allerdings ist es auch so, dass man so im Hintergrund von 7000 oder 7500 Schellackplatten man eigentlich doch nie so richtig alleine ist.«
2 | Für den Genealogen, schreibt Nietzsche, sei »das Graue« »hundert Mal wichtiger […] als gerade das Blaue«. Das Graue, also »das Urkundliche, das WirklichFeststellbare, das Wirklich-Dagewesene«. Nietzsche 1887: 254. Der Film bewegt sich in seiner dokumentarischen Dimension unübersehbar im Grauen, aber das Grau, wie man an der filmischen Farbgebung zeigen könnte, tangiert auch die Fabulation: dort, wo es nichts zu zeigen gibt, wo kein Bild einem Ton entspricht, verwendet er Schwarzbilder, um den Nullpunkt des Dokumentarischen zu dokumentieren; ansonsten dominieren häufig graue Farbwerte – etwa in den Szenen, in denen die Kamera wie durch Nebelschleier die Orte zeigt, an denen sich früher das Lager befand. 3 | Das Archiv mit den Stimmaufzeichnungen der Gefangenen wird im Film von der Off-Stimme akribisch beschrieben, ohne dass die Beschreibung abgeschlossen würde: »Der Raum ist 12 Meter lang und 4 Meter breit. Auf der rechten Seite befinden sich 20 Metallschränke mit jeweils 4 Schubladen. Jede Schublade hat die Maße 40 mal 36 mal 62 Zentimeter. In jeder Schublade befinden sich 11 gleich große Fächer …«.
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Abbildung 4: Black Box Archiv
Für den Historiker vom Fach liegt in dem Rückgriff auf Archivmaterialien nichts Ungewöhnliches, verweist ihn doch seine Arbeit zwangsläufig auf das Studium von Daten und Quellen, die in irgendeinem Archiv aufbewahrt werden. Der Historiker ist aber darauf eingestellt, das Archiv an der Grenze der historischen Wirksamkeit seines Gegenstandes zu situieren: Mit seiner Archivierung tritt ein historischer Gegenstand zugleich von der Bühne der Geschichte ab. In Archiven werden Akten abgelegt, die ihre ›aktive‹ Zeit – Akten, acta sind ja ihrem Namen nach Handlungsträger par excellence – hinter sich haben. Halfmoon Files verschiebt die Position des Archivs im Verhältnis zu seinem Gegenstand: Die medialen Operationen der Speicherung und Aufbewahrung von Daten setzen nicht erst ein, nachdem das Lager aufgelöst ist. Das Halbmondlager erweist sich nicht nur als ein Ort, an dem die Körper von Kriegsgefangenen für einen bestimmten Zeitraum ›gelagert‹ und für politische und ökonomische Zielsetzungen ausgebeutet wurden, sondern zugleich als ein Raum der medialen Verdichtung und der Wissensgenerierung, deren ›Objekte‹ die Internierten sind. Der Wille zur Macht, wie er in der souveränen Verfügung über Leben und Tod unter Kriegsbedingungen aufs Äußerste gesteigert ist, verbindet sich im Halbmondlager mit einem Willen zum Wissen. Die Weise, in der Halfmoon Files die Position des Archivs zu seinem Gegen-stand verschiebt, besteht in einer genuin filmischen Strategie der Aufzeichnung und Montage von medialen Lagerspuren, die nicht einfach im Stil der gängigen Formate eines History-TV ausgewertet werden, sondern ein eigenes, innerfilmisches Archiv konstituieren. Halfmoon Files ist in der Tat »dem Archiv
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verschrieben« – und zwar in der Weise dessen, was Jacques Derrida als die »technische Struktur des archivierenden Archivs« beschrieben hat, eine Archivierung, die »das Ereignis in gleichem Maße hervor[bringt], wie sie es aufzeichnet« (Derrida 1995: 35). Der Film zeigt nicht bloß einen andernorts abgelegten ›Inhalt‹ vor, sondern ist selbst an der Produktion von files über einen Ort beteiligt, der bereits von seiner Struktur her ein Ort der anthropologischen Datenerhebung und -speicherung ist: Archiv über Archiv. Was hat es mit dem Wünsdorfer Halbmondlager auf sich? Das Lager war speziell für die Aufnahme überwiegend muslimischer Gefangener eingerichtet worden, die vor allem aus Indien und Nordafrika stammten und als sogenannte Kolonialsoldaten zuvor auf britischer oder französischer Seite gekämpft hatten. Die Muslime in den Kolonien und abhängigen Gebieten sollten in Übereinstimmung mit der ›Waffenbrüderschaft‹ des Deutschen und des Osmanischen Reiches dazu angehalten werden,
»den ›Heiligen Krieg‹ in Gestalt von Aufständen und anderen Widerstandsakten gegen die französischen, britischen und russischen Bedrücker zu führen; in deren Heeren aber, in die sie meist als Wehrpflichtige einberufen worden waren, hätten sie den Kampf gegen ihre Glaubensbrüder in den osmanischen und österreichischen Reihen zu verweigern und schließlich auf die Seite der Mittelmächte überzutreten, um dort der Sache des Islam zum Siege zu verhelfen« (Höpp 1997: 21). Man hoffte, die muslimischen Kriegsgefangenen durch zuvorkommende und rücksichtsvolle Behandlung auf die Seite des Deutschen Reiches ziehen zu können, um sie so nach ihrer Freilassung zu Attacken gegen die Kolonialherren, Deutschlands Kriegsgegner, zu motivieren.4 (Abb. 5) 4 | Vgl. dazu das Memorandum Max von Oppenheims, des Leiters der 1914 gegründeten NfO (Nachrichtenstelle für den Orient), die dem Auswärtigen Amt unterstand: »Denkschrift betreffend die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde« vom Oktober 1914, in der die ghiad-Strategie umfassend entwickelt wird. Durch eine Reihe von Maßnahmen sei die politische Gunst der muslimischen Gefangenen zu gewinnen: so sei im Lager eine »kleine Moschee« zu errichten, den Insassen sei ein »Imam zur Verfügung zu stellen« und ihnen seien »rituelle Schlachtungen zu ermöglichen«. Durch eine Reihe von Dolmetschern sei zudem eine »Einwirkung« auf die Gefangenen sicherzustellen und deren Verkehr untereinander und die Entwicklung ihrer Anschauungen zu beobachten. Im Ergebnis erhoffte man sich, dass »einige besonders geeignete Gefangene« sich bereit
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Als diese ghiad-Strategie zum Nutzen des Deutschen Reiches und seiner kaiserlichen Heeresleitung nicht aufgeht,5 verlieren die Militärs das Interesse an den Gefangenen und überlassen Sprachforschern, Ethnologen und Anthropologen das Feld, die von nun an im Halbmond-Lager ein- und ausgehen. Ihnen bieten die dort internierten Gefangenen die seltene Gelegenheit, »exotische Menschen« aus nächster Nähe als menschliche Forschungsobjekte zu behandeln, ohne sie dort aufsuchen zu müssen, wo sie zu Hause sind. Der Film zitiert Felix von Luschan, Direktor des Berliner Völkerkundemuseums, mit dem Satz:
»Wir haben in unseren Gefangenenlagern eine schier unübersehbare Menge der allerverschiedensten Rassen vertreten, alle Erdteile und alle nur jemals an Menschen beobachteten Farben. Ein Besuch in manch dieser Lager ist für den Fachmann fast so lohnend wie eine Reise um die Erde.«
Die anthropologische Feldforschung wird zur Lagerforschung. Akribisch und penibel werden die Gefangenen im Halbmondlager fotografisch erfasst, ihre Körper vermessen, vor allem aber: Sie werden zum Sprechen gebracht, wobei das Resultat dieser Diskurspraxis mittels spezieller phonographischer Aufzeichnungstechniken festgehalten und minutiös archiviert wird. Abbildung 5: Szene aus einem Lagerfilm
erklären würden, »entweder ›an die kämpfende Front zu gehen‹, und/oder zu versuchen, ›ihre Kameraden zum Uebergang zu uns zu bewegen‹«. Ebd.: 37. 5 | Zu den Gründen für dieses Scheitern vgl. ebd.: 85ff.
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3. A nthropologische L eerbegriffe Die Verwandlung von Kriegsgefangenen in epistemische Objekte setzt nicht nur – wie im Falle der Anthropometrien Egon von Eickstedts – an den Körpern der Inhaftierten an, sondern ebenso auch an einem Vermögen, das man seit der berühmten Definition des Aristoteles als ein, wenn nicht als das Wesensmerkmal des Menschen angesehen hat: seine Fähigkeit zu sprechen. Neben den Anthropologen haben sich auch die Linguisten für das Lager und seine Bewohner interessiert. Der Mensch, so heißt es, ist ein Wesen, das die Sprache bzw. den logos hat. Von der Sprache ließe sich sagen, dass es zwar stimmt, dass sie vom Menschen ausgeht – aber, es fragt sich sogleich: Wo geht sie hin? So sehr man sie auch ins menschliche Wesen einschließen und als Mittel der Offenbarung oder des Ausdrucks eines inneren (mentalen, affektiven) Zustandes verstehen mag, so kann doch andererseits kein Zweifel daran bestehen, dass sie in einen Raum der Äußerlichkeit eingebunden ist, der die Sprache nicht in ihrem vermeintlichen Wesen bewahrt, sondern in dem sie sich »am weitesten von sich selbst entfernt« (Foucault 1966b: 210). Die vielfältigsten medialen Funktionen stehen bereit, um die gesprochenen Worte, kaum sind sie verklungen, vom Menschen abzulösen, sie mehr oder weniger dauerhaft zu speichern oder sie mittels ausgeklügelter Transporttechniken oder postalischer Operationen an entfernte Orte zu verschicken. Den philosophischen Anthropologien des 20. Jahrhunderts geht nicht zuletzt aufgrund von medien- und wissenshistorischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts vollständig das Vertrauen in die Sicherheit ab, mit der die klassische Philosophie den Menschen von seinem Sprachvermögen her bestimmte und ein für allemal dem Tier (so wie später der Maschine) entgegensetzte. Man kann daher im Hinblick auf die Bestimmung des Menschen in diesen Anthropologien von einer strategischen Gliederung des anthropos sprechen6 – strategisch deshalb, weil inzwischen kein Attribut, das in der Geschichte anthropologischer Begriffsbestimmungen herangezogen wurde, mehr das Vertrauen der Philosophen genießt, weshalb sie aus der Not eine Tugend machen und aus Skepsis gegenüber den überlieferten Begriffen zu lauter Leerbegriffen gelangen, deren Distinktionskraft um so intensiver ist, je unbestimmter ihr Inhalt ausfällt: der Mensch als »produktive ›Stelle‹ des Hervorgangs einer Kultur« (Plessner 1931: 149), als 6 | Im Anschluss an Agamben 2002: 23.
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»offene Frage« (ebd.: 181), als »Unergründlichkeit« (ebd.: 161), als »schöpferische Durchbruchstelle« (ebd.: 160) und schließlich unvermeidlich: als »Macht« (ebd.: 185), sind Begriffe mit denen Plessner hantiert. Wenn in unserer Kultur also der Mensch derjenige ist, der nicht (mehr) definiert werden kann oder sich jeder Feststellung durch einen philosophischen Begriff entzieht, dann folgt daraus für die Philosophen und Theoretiker keineswegs, dass seine Position oder Stellung in völliger Unbestimmtheit belassen werden darf. Im Gegenteil: Die »offene Frage« provoziert geradezu Antworten, die allerdings nicht länger theoretisch, sondern, wie Plessner unmissverständlich klar macht, politisch gegeben und verantwortet werden müssen. Politik ist die Arbeit an der Feststellung des Menschen – eine Feststellung, die niemals ein für allemal vorgenommen werden kann, die insofern unabschließbar und ein »Wagnis« bleibt, weshalb der Mensch, wie Plessner dann unter systematischer Anknüpfung an Carl Schmitts Begriff des Politischen schreibt, »als Macht notwendig im Kampf um sie, d.h. in dem Gegensatz von Vertrautheit und Fremdheit, von Freund und Feind« (ebd.: 191) steht. Mit Schmitt begreift Plessner also die »Exponiertheit des Menschen« (ebd.) politisch, das heißt: nach Maßgabe der Unterscheidung von Freund und Feind. Schmitt hatte im Begriff des Politischen darüber hinaus den Feind umstandslos mit dem Fremden identifiziert und im Weiteren »in dem tausendjährigen Kampf zwischen Christentum und Islam« (Schmitt 1932: 29) eine charakteristische Ausprägung dieser Feindschaft gesehen. Plessner folgt Schmitt in der »existenziellen« Ansetzung der Feindschaft, allerdings mit einer entscheidenden Modifikation, die sich ausgerechnet am Namen Freuds festmacht. Während Schmitt nämlich die Gründe für seine Identifizierung des Feindes mit dem Fremden im Dunkeln lässt und stattdessen in immer neuen Anläufen die merkwürdige Irreduzibilität des Feindes herausstellt – er ist nicht der moralisch Böse, der ästhetisch Hässliche, der wirtschaftliche Konkurrent oder gar der Diskussionsgegner: alles dies ist er nicht, sondern »eben der andere, der Fremde« (ebd.: 27); während Schmitt es also bei diesem ›existenziellen‹ othering belässt, begreift Plessner die Identifizierung des Feindes mit dem Fremden vor dem Hintergrund der Schrift Freuds über »Das Unheimliche« (1919) und deren paradoxen Befund, dass das Fremde »das Eigene, Vertraute, Heim-
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liche im Anderen und als das Andere« ist. (Plessner 1931: 193)7 »Von dieser Unheimlichkeit und Fremdheit kommt der Mensch nicht einmal durch die Humanitätskonzeption los« (ebd.), kommentiert Plessner. Aber dieses distanzierte Verhältnis zum Humanismus steht im merkwürdigen Kon trast zur Vorbehaltlosigkeit, mit der er sich für seine philosophischen Zwecke einen anthropologischen Heroismus zu eigen macht, wie er im Bild der »schwankenden Frontlinie« (ebd.: 197) anklingt, das die aktivistische Bestimmung des Verhältnisses von Vertrautheit und Unvertrautheit, Umwelt und Welt, heimischer Zone und unheimlicher, bodenloser Wirklichkeit militärisch zuspitzt. Schmitt jedenfalls hat in Plessner sofort einen philosophischen Verbündeten erkannt, der den »Punkt des Politischen von der Intensität der Abstandnahme her bestimmt« (Schmitt 1932: 60) habe. Der Mensch Plessners ist eine Figur der Bemeisterung, der Erringung, des wagnishaften Sprungs, des sich selbst Führens – eine Figur, die das »Unvertrautheit-Unheimliche, Drohende und Abgründige« (Plessner 1931: 197) nur erfahren kann, um ihm immer aufs Neue seine Eigenheitssphäre ›abzuringen‹. Plessners Anthropologie ist, um den Neologismus Derridas aufzugreifen, sicher keine Hantologie (frz. hanter: heimsuchen)8. Geister oder Gespenster haben in ihr keinen Platz, alle Handlungsmacht geht vom Menschen und seinem leeren Zentrum bzw. seiner »exzentrischen Positionalität« aus. Das Gespenstische – als die Erfahrung der Grenze seiner Bemeisterung – ist für Plessner lediglich das noch nicht bewältigte Unheimliche, das für den Menschen zur Bewältigung ansteht. Plessner bestimmt die menschliche Daseinslage daher als »Situation«, von der es in dezisionistischer Manier heißt: »In der Situation ist der Mensch auf ihre Erledigung angewiesen. Seine Lage verlangt von ihm Entscheidungen« (Plessner 1931: 196).
7 | Wenn Schmitt – nicht im Begriff des Politischen! – den Feind andernorts mit einer Verszeile Theodor Däublers als »unsere eigene Frage als Gestalt« bestimmt, betritt allerdings auch er Freud’sches Terrain, ohne sich darüber jedoch theoretisch Rechenschaft abzulegen und die weitreichenden Konsequenzen dieser Formel im Hinblick auf das Problem des politischen Narzissmus und seiner Autoaggressionsbestrebungen zu bedenken. 8 | Vgl. dazu Derrida 1993.
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4. R edebefehl und linguistische D atenerhebung Abbildung 6: Das Sprechaufzeichnungsdispositiv
Um das Ausmaß einschätzen zu können, in dem es den Halfmoon Files gelingt, die akustischen Spuren des Lagers in ein verändertes ›Nachleben‹ zu versetzen, das sich ihrer ursprünglichen Funktionszuweisung – dem Aufbau einer globalen »Lautbibliothek« – durch ihre Einbeziehung in ein andersartiges Gefüge widersetzt, ist es nötig, einen genaueren Blick auf die im Film minutiös rekonstruierte Transformation des Lagers in einen epistemischen Ort zu werfen. Als Kriegsgefangene verfügen die Lagerinsassen ›von Rechts wegen‹ nicht oder nur eingeschränkt über ihr Leben und sind daher in einem sehr konkreten Sinne in einen mehrfach gegliederten
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Raum der Äußerlichkeit eingefügt. Im Fall der Sprechaufzeichnungen gibt das beistehende Foto Aufschluss über den Ort (eine Baracke des Lagers) sowie über das Netz der unterschiedlichen Plätze, die von den beteiligten Individuen eingenommen werden mussten, damit das sorgfältig geplante Redeereignis zustande kommen konnte. (Abb. 6) Die Stimmaufzeichnungen fanden unter der Leitung des Sprachwissenschaftlers Wilhelm Doegen, Geschäftsführender Sekretär der 1915 gegründeten Königlichen Preußischen Phonographischen Kommission und späterer Leiter des Berliner Lautarchivs statt, dem kein Geringerer als der Kaiser selbst attestierte: »Es war Ihr ausgezeichneter Gedanke, diese Aufnahmen in den Kriegsgefangenenlagern vorzuschlagen. Wir werden siegen und dann haben wir die ganzen Kerle für Jahrtausende auf der Platte.« Die Stimmaufzeichnungen gehorchten einem minutiös festgelegten Protokoll, das aus folgenden Elementen bestand: • Die Vereinbarung eines zu sprechenden Textes • Die Anfertigung eines Textblatts, der dem Probanden zum Ablesen vorgehalten werden musste • Die Installation des phonografischen Aufnahmeapparates samt seiner Überwachung durch einen Techniker • Die Garantie der technischen Aufnahmequalität durch die Sicherstellung des gleich bleibenden Abstands des Gefangenen zum Aufnahmetrichter • Die genaue Fixierung der Position des Textblatts zum Phonographentrichter und Gesicht des Sprechenden • Die Überwachung des Aufnahmevorgangs durch den Wissenschaftler und die Registrierung von Auslassungen oder Lesefehlern • Die Anfertigung eines Datenblatts im Anschluss an die – aus technischen Gründen nicht korrigierbare – Sprechaufnahme: Das Datenblatt hält unvorhergesehene Abweichungen der Aufnahme vom Text fest. Keine Frage also: Der Gefangene, der auf diese Weise Teil eines RedeDispositivs, einer aus technisch-apparativen, normativen und personalen Elementen bestehenden Anordnung ist, die ein bestimmtes wissenschaftlichen Standards genügendes Sprechen erzwingt, steht der Rede, die ihm abgenötigt wird, nicht in der Position des Rede-Inhabers gegenüber. Das von Doegen entwickelte Protokoll der Stimmaufzeichnungen im Lager ist ein Zeichenregime (Deleuze/Guattari 1980: 156), eine »abstrakte Maschi-
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ne«, deren Funktion es ironischerweise ist, den gesprochenen Texten der Gefangenen die reine Grammatikalität ihres jeweiligen ›nationalen‹ oder ›regionalen‹ Idioms zu extrahieren und am Ende des Datenblatts die Qualität ihrer Stimmprobe zu bescheinigen (Abb. 7). Die linguistische Arbeit der Datenerhebung am Kriegsgefangenen belegt, dass die Sprache, die Abbildung 7: Fachmännische Beurteilung der Stimmprobe
man auf diese Weise gewinnt und einer grammatischen Beschreibung zuführen kann, einem Redebefehl und dem (temporären) institutionellen Gefüge, das ihn ermöglicht, entspringt. »Wörter sind keine Werkzeuge, aber man gibt den Kindern Sprache, Schreibstifte, Hefte, so wie man den Arbeitern Hacken und Schaufeln gibt. Eine Grammatikregel ist in erster Linie eine Markierung der Macht, und erst dann eine syntaktische Markierung.« (Ebd.: 107) Für Deleuze/Guattari ist die Sprache daher weder informativ noch kommunikativ, die Grundform des Sprechens ist für sie der Befehl: »Die Sprache ist nicht einmal dazu da, um geglaubt zu werden, sondern um zu gehorchen und Gehorsam zu verschaffen.« (Ebd.: 106) Sprache ist »nicht das Leben, sie gibt dem Leben Befehle« (ebd.: 107). Das erkennt man in Halfmoon Files schon an dem ausdrücklichen Verbot, die Gelegenheit zu sprechen dazu zu nutzen, eine persönliche Geschichte zu erzählen oder einen spontanen Gedankeneinfall mitzuteilen. Der Gefangene spricht nicht, er verbalisiert eine Schrift. In vielen Fällen bleibt das Vor-Geschriebene oder einfach: die Vor-Schrift noch unterhalb der Schwelle des Texts, nämlich dann, wenn standardisierte Wortlisten oder Alphabete zu verbalisieren sind. Oder sie verharrt sogar noch diesseits der Schwelle der Sprache, wenn der Gefangene bloße Zahlenreihen zu reproduzieren hat. Überschreitet der vorgegebene Text diese Ebene eines paradigmatisierenden Sprechens, dann schränkt er das Zu-Sagende vorzugsweise auf Elemente aus ritualisierten Diskurssammlungen ein, konkret: Märchen
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und religiöse Texte, die das Zu-Sprechende vor dem Einbruch alltäglicher Sprachereignisse oder – in der Terminologie der Sprachaufzeichner – vor »unvorhergesehenen Aussagen« oder, in noch einmal anderer Terminologie, vor Fehlleistungen, bewahren sollen. Allerdings erweist sich genau diese Erwartung an die Kontroll- und Selektionsfunktion der vor-geschriebenen Diskurse als trügerisch. Der filmische Kommentar registriert diese Ambivalenz linguistischer Kontrollmacht: »Die Wissenschaftler sind nicht interessiert an der persönlichen Geschichte ihrer Studienobjekte, aber sie sind angewiesen auf die Geschichten, die ihnen erzählt werden.« Im Sprechaufzeichnungs-dispositiv wirken also unterschiedliche Prozeduren der Einschränkung dessen, was zu sagen erlaubt ist, mit Prozeduren, die das sprechende Subjekt auswählen und positionieren, zusammen: das Verbot, Dinge zu sagen, die nicht vor-geschrieben sind, steht am Anfang der Prozedur, die zugleich von einem epistemischen »Willen zur Wahrheit« angetrieben wird, der sich in der extremen Standardisierung des Sprechvorgangs zur Geltung bringt. »Ein zu sprechender Text wird vereinbart und aufgeschrieben.« (Abb. 8) Der streng normierte Ablauf der wissenschaftlichen Datenerhebung ist nämlich anfällig für Störungen aller Abbildung 8: Vereinbarung des Zu-Sprechenden
Art, die möglichst auszuschalten sind, weil sie die wissenschaftliche Vergleichbarkeit der Samples gefährden oder, wie es im Film lakonisch heißt, »zusätzliche Arbeit« schaffen. Die Gefahr, dass sich das Ereignis oder der Zufall im Diskurs meldet, wird sowohl durch Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung des Diskurses – seine Reduktion auf eine im Voraus festgelegte Abfolge von Sätzen – reduziert als auch durch die Auswahl der Probanden, bei der durch vorherige Befragungen die Zugehörigkeit zu möglichst homogenen Sprachgruppen sichergestellt werden muss – aller-
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dings ist man auch für diese Zuordnung maßgeblich auf die Auskünfte der ausgewählten Gefangenen angewiesen. »Unvorhergesehene Aussagen« sollen während der Aufzeichnung um jeden Preis vermieden werden, weil sie nicht löschbar sind und daher nur mit erhöhtem Aufwand in Form von schriftlichen Nachbemerkungen auf den Datenblättern markiert und ›exkludiert‹ werden können. (Abb. 9) Wilhelm Doegen hält z.B. in einer handschriftlichen und von ihm unterschriebenen Notiz fest, dass ein Abbildung 9: »Unvorhergesehene Aussagen«
Proband eigenmächtig »zum Schluß ohne Aufforderung ›Guten Abend‹ schreit«. Eine weitere Stimmaufzeichnung betrifft eine komplexere diskursive Widersetzlichkeit. Der Sprecher, Chote Singh, quittiert den ihm vor-geschriebenen Satz »Der deutsche Kaiser kümmert sich sehr gut um mich« mit einem dreimaligen Lachen. Es folgt auf den ebenfalls dreimal wiederholten Gruß und gewinnt seinen Ereignischarakter dadurch, dass es durch seine Gesetztheit und Abgesetztheit vom zu sprechenden Text ostentativ die Rede-Ordnung durchbricht und schon aufgrund seiner Wiederholungsstruktur nicht als Begleit- oder Nebengeräusch bagatellisiert werden kann: Hier ergreift der Sprecher vielmehr im Lachen und durch das Lachen das Wort. Der Witz der Aussage über den Kaiser, der sich sorgt, verdankt sich einer doppelten Abstandnahme. Zum einen markiert das Subjekt der Äußerung durch das Lachen Distanz zum Gegenstand oder Sinn der Aussage: Der Kaiser, Inhaber souveräner Machtfülle, soll sich um mich, der ich nicht einmal zum deutschen Volk gehöre, kümmern? Das verdient zweifellos nicht nur ein, sondern ein dreifaches Lachen. Zugleich resultiert die Komik dieser Sequenz aber auch aus einer Art Stellvertretungseffekt.
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Stellvertretend für die eigenen Untertanen, die der Kaiser als oberster Befehlshaber ungerührt in den millionenfachen Tod auf den Schlachtfeldern schickt, wird hier einem Satz ins Gesicht gelacht, der ja die Erwartung des ›eigenen Volkes‹ an den Kaiser ausspricht und ausgerechnet von einem gefangenen Soldaten ›bestätigt‹ wird, der, mit Plessner zu sprechen, zudem noch aus der »unvertrauten Fremde« in den »vertrauten Kreis« geraten ist. (Plessner 1931: 192) Die Souveränität, die sich im Lachen und den übrigen Affektsätzen manifestiert, ist diejenige des Witzes, dem ja bereits Freud eine aggressive und damit politische Tendenz attestierte, die sich im Vorgang der Herabsetzung oder Degradierung dessen äußert, was als das Erhabene zu seiner Erfassung einen Mehraufwand an psychischer Energie beansprucht.9 Diesen Mehraufwand verweigern die sprechenden Gefangenen, wenn sie in Lachen ausbrechen oder andere »unvorhergesehene Aussagen« produzieren. Ausgerechnet diejenigen also, die vollständig in die Äußerlichkeit eines Raumes eingeschlossen sind, der sie nicht nur körperlich exkludiert, sondern sie sogar in ihre eigene Sprache einschließt, die ihnen hier als vor-geschriebene und abzulesende Aussagenmenge gegenübertritt, ausgerechnet diese Gefangenen des »Großen Krieges« beweisen sich insofern als »Abstand von etwas nehmende Wesen« (Plessner 1931: 231), als sie sich der Redeanordnung keineswegs vollständig unterwerfen und die direkte Rede, die nur ein »losgelöstes Massenfragment« ist, wieder in »eine Art Stimmengewirr« einbetten. »Ich bin immer von einem molekularen Äußerungsgefüge abhängig, das in meinem Bewusstsein nicht gegeben ist (ebensowenig wie es nur von meinen offenkundigen sozialen Determinationen abhängig ist) und das viele heterogene Zeichenregime vereint. Glossolalie.« (Deleuze/Guattari 1980: 118) Was Deleuze/Guattari dem Schreiben attestieren, übernimmt bei Scheffner der Film: »Schreiben bedeutet vielleicht, dieses Gefüge des Unbewußten an den Tag zu bringen, die flüsternden Stimmen auszuwählen, die geheimen Stämme und Idiome heraufzubeschwören« (ebd.). Was den Film zu einer ghost-story macht, ist genau sein Prinzip, das Stimmenarchiv zu öffnen, nicht um es als Dokument zu nutzen und das Gesagte auf seine Referenz hin zu befragen, sondern um die gehörten Stimmen in ihrer Monumentalität erscheinen zu lassen. Halfmoon Files ist ein Film über ein Gefüge auch deshalb, weil er die eigene Rede- und Zeigeposition – also die Vorgänge, durch die dem Zuschauer und Zuhörer die Räume, Vorgänge und Aussagen aller9 | Vgl. Freud 1905: 195f.
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erst erschlossen werden – nicht im produktionstechnischen Off des Films belässt, sondern auf derselben Ebene anordnet, auf der auch das ›Material‹ gezeigt wird. Ein Gefüge ist also keineswegs der berühmte historische Kontext, der jedem Dokument seinen Platz anweist, sondern umfasst neben den vergangenen Anordnungen der Militärs und Wissenschaftler auch die gegenwärtigen filmischen Operationen, die an Bildern und Nichtbildern genauso wie an Tönen und Geräuschen vorgenommen werden und seinen bereits ›historischen‹ Komponenten eine – allerdings veränderte – Handlungsmacht zurückerstatten, insofern das Gefüge allerlei tote und lebendige Stimmen und die von ihnen verwendeten technischen Medien und Kommunikationskanäle miteinander in Verbindung bringt, die nur der Film in dieser multisensorischen Komplexität ermöglicht.
5. »W esen , die über alles E rlebte hinausreichen « In Halfmoon Files sehen wir einem Regisseur dabei zu, wie er einen Film macht, der an die Stelle des eigentlichen Films tritt, den er gerne in Indien drehen würde. Der Regisseur im Film (gespielt vom Regisseur des Films) wird trotz aller Bemühungen niemals nach Indien gelangen, wo er die Spur Mall Singhs, eines im Wünsdorfer Halbmondlager inhaftierten indischen Kolonialsoldaten verfolgen will. Auf die Frage des indischen VizeBotschafters, der sich um die Dreherlaubnis zu kümmern verspricht, um welche Art Film es sich denn handele, erfolgt die überraschende Antwort: eine »ghost story«. Obwohl der geplante Film niemals zustande kommt, gilt doch auch von dem Film, der an seiner Stelle entsteht, dass er über weite Strecken – schon auf Grund seiner medialen Basis – eine »ghost story« ist, einfach deshalb, weil Schallplatten die Stimmen auch von Toten präsentieren, als wären sie lebendig. Die unterschiedlichen Datensätze oder Files, die der Film versammelt, montiert und kommentiert, die im Lager entstandenden Ton-, Bild- und Filmdokumente und die sich an diese Dokumente anlagernden epistemischen, insbesondere anthropologischen und anthropometrischen Diskurse sowie ihre propagandistische Verwertung, zeugen von der Wirksamkeit eines Lebens, das von der juridischen Ausnahmestruktur des Lagers in den medialen Raum des Wissens und sodann – 90 Jahre später – in den noch einmal anderen Raum des Films übertragen wird. Die im Lager erhobenen Daten gewinnen im Film durch ihre spezifische Anordnung eine
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andere Dimension des Diskurses zurück, die man mit Foucault als seine dramatische oder theatrale Dimension bezeichnen könnte10 –, wie sie im Duktus der Rezitation erfahrbar wird, der den Stimmaufzeichnungen eigen zu sein scheint11 und ihnen (vor dem Hintergrund der Bilder oder Nicht-Bilder, mit denen sie im Film montiert werden) eine betont ›feierliche‹ Qualität verleiht. Diese Dimension haben auch Deleuze/Guattari im Auge, wenn sie mit dem – auf Foucault zurückweisenden – Begriff des Monuments die Haltbarkeit und Dauerhaftigkeit von Empfindungen hervorheben, die noch den flüchtigsten Spuren, in diesem Fall: den RedeEreignissen abgerungen werden können: »Selbst wenn das Material nur einige Sekunden Bestand hätte« – und das gilt für die phonografischen Aufzeichnungen auf den Schellackplatten in dem präzisen Sinne, dass sie schon aus technischen Gründen kaum länger als eine Minute dauern –, »würde es der Empfindung das Vermögen schenken, zu existieren und sich an sich zu erhalten, in der Ewigkeit, die zusammen mit dieser kurzen Dauer existiert.« (Deleuze/Guattari 1991: 195) Die filmische Öffnung der Files entfaltet eine gespenstische Wirkung auch insofern, als er der vitalistischen Berufung auf den Lebensgrund in den Philosophischen Anthropologien eine »Totenbeschwörung« entgegensetzt, die die phonografischen, fotografischen und filmischen Reste nicht etwa in historischer Manier, sondern durch ihre stetige Konfrontation mit den heutigen Orten des früheren Geschehens zum Leben erweckt. Diese Orte nehmen im Film nicht zufällig häufig die Form von Landschaften an. Deleuze/Guattari definieren die Empfindung oder das Perzept auch als »die Landschaft vor dem Menschen, in der Abwesenheit des Menschen.« Sie erinnern in diesem Zusammenhang an »das (häufig kommentierte) Rätsel Cézannes: ›der Mensch soll nicht da sein, aber ganz eingegangen in die Landschaft‹« (ebd.: 198). Scheffner baut seinen Film im Sinne dieses Rätsels um die Abwesenheit der ehemaligen Kriegsgefangenen, die, obwohl diese Abwesenheit im physischen Sinne endgültig ist, doch in eine ›meta-physische‹ oder medial gestützte Anwesenheit verwandelt werden kann: Die Stimmaufzeichnungen gehen buchstäblich in eine Landschaft 10 | Foucault 1982: 66. 11 | Obwohl dieser Eindruck vermutlich nur der Vorgabe der Lager-Linguisten zu verdanken ist, die den Sprechern abverlangt haben, für die Schellackplattenaufnahme klar und deutlich zu sprechen.
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ein, deren Konturen häufig kaum wahrnehmbar sind, weil es bei ihr wie bei den Personen, deren Stimmen wir hören, nicht um ihre empirische Rekognition geht. (Abb. 10) Der Kunstgriff, den entstandenen Film als das Produkt des Scheiterns eines anderen, ursprünglich geplanten Films anzulegen, schreibt diese Problematik des Perzepts auch in die filmische Diegese ein: Hartnäckig zwar versucht der Regisseur im Film, Informationen über Mall Singhs Herkunftsort in Indien bzw. dem heutigen Pakistan zu erhalten; der Film, der dann entsteht, bewahrheitet aber den Satz Cézannes, dass der gesuchte Mensch »nicht da sein soll«, wo er erwartet wird oder wo er ›zu Hause ist‹. Stattdessen geht er in die Landschaft des ehemaligen Wünsdorfers Lagers ein und wird Teil des filmischen Empfindungskomplexes. Die Fabulation »hat weder mit einer Erinnerung – und sei sie auch erweitert – zu tun noch mit einem Phantasma« (ebd.: 201; vgl. Deleuze 1991: 197-204). Und noch bevor der Regisseur seine Geschichte erzählen kann – die Geschichte seines verhinderten Films bzw. Filmprojekts –, sind die Zuschauer schon in eine ganz andere Geschichte hineingezogen, genauer: in das Versprechen der Geschichte, die Wahrheit zu erzählen. Bevor uns der Film ins Dunkel des Archivs mitnimmt, in dem die Platten lagern, hören wir vor dem Hintergrund einer sich allmählich lichtenden Flußlandschaft im Nebel eine knisternde Stimme sagen: Abbildung 10: »Der Mensch eingegangen in die Landschaft«
»Ein sehr alter Mann hat mir diese Geschichte erzählt. Er hat alles selbst mit eigenen Augen gesehen. Dies ist eine wahre Geschichte.«
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Die Perzepte sind nicht an den Perzeptionen und ihrer ›Wahrhaftigkeit‹ zu messen, den Wahrnehmungen, Gefühlen und Meinungen des Künstlers, seiner Figuren oder gar der Rezipienten. »Jede Fabulation ist Herstellung von Riesen« (ebd.: 202). Den Begriff der Fabulation übernehmen Deleuze/Guattari von Bergson, der sie »als ein von der Phantasie sehr verschiedenes visionäres Vermögen« begreift, das darin besteht, »Götter und Geister zu erschaffen, jene ›halbpersönlichen Mächte‹ oder ›wirksamen Gegenwarten‹«. (Ebd.) »Wie einen Augenblick der Welt dauerhaft machen oder es erreichen, daß er für sich existiert?« (ebd.: 20), in dieser Formulierung steckt die ganze Arbeitshypothese von Halfmoon Files. Das zeigt sich gleich zu Beginn des Films, wenn Mall Singh von seinem Schicksal in der dritten Person erzählt (also nicht im Modus der subjektiven Erinnerung, sondern der indirekten, überpersönlichen Rede): Nicht von ›sich‹ also, sondern von Mall Singh, der in einem bestimmen historischen Moment von Indien auf den europäischen Kriegsschauplatz katapultiert wurde und der eine mediale Spur hinterlässt, die so lange im Archiv verborgen war, bis der Film sie sich rezitieren lässt und diesen »Augenblick des Weltkriegs« dauerhaft macht: »Am 11. Dezember 1916 um 4 Uhr spricht Mall Singh einen kurzen Text in seiner Muttersprache in einen Phonografentrichter. Das Ganze dauert exakt 1 Minute und 20 Sekunden.« Mall Singh und all die anderen Gefangenen teilen das Schicksal jener »obskuren Menschen«, denen Foucault einen berühmten Essay gewidmet hat und von denen er sagt,
»daß nichts sie für irgendein Aufsehen prädestiniert habe; daß sie mit keiner der etablierten und anerkannten Größen begabt gewesen seien – Größen der Geburt, des Vermögens, der Heiligkeit, des Heldentums oder des Genies; daß sie zu jenen Milliarden von Existenzen gehören, die dazu bestimmt waren, ohne Spur vorüberzugehen«. (Foucault 1977: 15) Und obwohl sie dazu ›bestimmt‹ waren, hinterlassen sie dennoch etwas, ein äußerst schmales Vermächtnis von nur wenigen Sätzen und zwar deshalb, weil sie in einem entscheidenden historischen Moment die Macht gekreuzt und ihre Kräfte provoziert haben: »Damit etwas von ihnen bis zu uns herüberkomme, bedurfte es allerdings eines Lichtbündels, das sie – einen Augenblick zumindest – beleuchten kann. Licht, das von anderswo kommt.« (Ebd.: 15f.) Scheffner schneidet die Szene, in der die Kommentarstimme über das Datum der Stimmaufzeichnung Mall Singhs informiert und in der die Kamera eine Holzbaracke auf dem Gelände des
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ehemaligen Wünsdorfer Lagers abfährt12 (Abb. 11), so, dass sie von dem technikgeschichtlichen Ereignis der Erfindung und Autorisierung des Phonografen durch Edisons Stimme selbst – »This is Edison speaking« – und einer Radiostimme gerahmt wird,13 die einem gut gelaunten Professor Abbildung 11: Baracke im Wünsdorfer Halbmondlager
im Ruhestand gehört, Wilhelm Doegen, dem »Herrn über ein Archiv, das es nur einmal in der Welt gibt«: Als Lager-Linguist ›schafft‹ er, wie er ausdrücklich hervorhebt, nichts Geringeres als die »erste Lautbibliothek der Erde«. Auch im Falle des kurzen Textes, den Mall Singh am 11. Dezember 1916 spricht, ist es Doegen, der dafür Sorge trägt, dass die vergängliche Stimme des Gefangenen auf die Platte kommt, die der Film mit dem ihm 12 | In Wünsdorf gab es zwei Lager. Das Halbmondlager, von dem nichts mehr übrig ist und nur wenige Meter weiter das sogenannte Mühlenlager, in dem vor allem russische (tartarische) Kriegsgefangene interniert waren. Das Mühlenlager wurde nach dem Ersten Weltkrieg für Umsiedler aus Elsass-Lothringen genutzt, deren Nachfahren dort teilweise bis heute leben. Die Baracken wurden nach und nach baulich verändert. Die eigentliche Holzkonstruktion wurde meist mit Stein umbaut. Die leitmotivisch wiederkehrende Baracke im Film gehörte zum ehemaligen Mühlenlager und ist die einzige, die noch ohne Steinverschalung zu sehen ist. Von außen erscheint sie daher noch in einem relativ »originalen« Zustand. Die Baracke war bis in die 1990er Jahre bewohnt. Dank an Philip Scheffner für diese Hinweise. 13 | die in dem Moment einsetzt, in dem die Kamera den abrupten Übergang von der Baracke zu einem Wohnhaus, das unmittelbar an sie angrenzt, einfängt.
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eigenen ›Licht‹ aus ihrer virtuellen Existenz im Archiv14 in ein Perzept, einen Empfindungsblock verwandelt. Deleuze/Guattari schreiben an einer Stelle ihrer die Kunst betreffenden Ausführungen in Was ist Philosophie?: »Die Kunst beginnt nicht mit dem Leib, sondern mit dem Haus; deshalb ist die Architektur die erste der Künste.« (Deleuze/Guattari 1991: 222) Der Film macht sich diesen Satz zu eigen, denn er ist ein Geister-Film zunächst schlicht deshalb, weil nurmehr mediale Spuren – Töne, Bilder, Texte – auf diejenigen verweisen, die längst nicht mehr über einen ›ersten‹ Leib verfügen. Derrida hat diesen Sachverhalt so formuliert: »Damit es Spuk gebe, bedarf es einer Rückkehr zum Leib, aber zu einem abstrakteren Leib denn je.« (Derrida 1993: 200) Halfmoon Files verschafft dem, was unwiderruflich abwesend ist, diesen abstrakten Leib: keine Rückkehr zu einem „lebendigen Leib, von dem die Ideen oder Gedanken abgezogen sind«, sondern die mit den Mitteln des Films bewirkte Inkarnation dieser letzteren »in einem anderen, artifiziellen Leib, in einem prothetischen Leib, einem Phantom des Geistes« (ebd.). Der Satz, demzufolge die Kunst mit dem Haus beginnt, macht sich der Film dadurch zu eigen, dass er die verschiedenen Räume erforscht, in denen sich diese Spuren abgelagert haben – im physisch-technischen Sinn der Ablagerung genauso wie im ›spirituellen‹ Sinne. Die Fassade einer erhalten gebliebenen Holzbaracke ist das Haus, das im Verlaufe des Films immer wieder von der Kamera in den Blick genommen wird. Selten verweilt sie allerdings bei diesem Anblick, oft werden wir Zeuge von Kamerafahrten, die dem Eindruck vorbeugen sollen, man könne sich von diesem Ort auf dieselbe Weise ein Bild machen, wie es z.B. die zeitgenössischen Postkarten tun, auf denen das Halbmondlager mit der pittoresken Moschee zu sehen war (Abb. 12). Die Baracke ist ein ödes Haus, das unübersehbare Spuren des Verfalls trägt – und diejenigen, die heute in seiner Nähe wohnen, wissen von merkwürdigen Geräuschen aus der Tiefe zu berichten, die sich nachts einstellen. Die Archivfunktion ist im Übrigen auch in diesen Resten ehemaliger Lagerbauten präsent, wie eine Bewohnerin der auf dem Boden des Lagers entstandenen Neubausiedlung berichtet: Als sie ihr Haus 1996 renovierte und neue Türen einsetzen ließ, entdeckte sie auf den alten Türrahmen Namen und Adressen der ehemaligen Kriegsgefangenen, »schöne Erinnerungen«, wie sie feststellt, nicht ohne bedauernd hinzuzufügen: »Hätt ichs mal nicht verbrannt«. 14 | Ein Artikel der indischen Zeitung Tribune, der sich mit dem Filmprojekt beschäftigt und am Ende verlesen wird, stellt fest: »Über Jahrzehnte war Mall Singh im Archiv der deutschen Humboldt Universität«.
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Abbildung 12: Zeitgenössische Postkarte
Die Räume des Lautarchivs der Berliner Humboldt Universität, der Balkon des Berliner Schlosses, von dem aus der Kaiser im August 1914 seinem Volk ›den Krieg erklärt‹, der (nur akustisch zugängliche) Raum in Schloss Belvedere, in der die kaiserliche Rede Jahre später angesichts der drohenden Niederlage des Reiches aufgezeichnet wird, das Garnisonsmuseum in Wünsdorf mit dem alten Gedenkstein, der inzwischen durch ein neues Monument auf dem Friedhof ersetzt wurde, die Kneipe »Zum Zapfenstreich«, an deren Wand ein gerahmtes Bild der Lagermoschee hängt (Abb. 13) – und immer wieder die Holzbaracke: Alle diese Häuser, Räume und Abbildung 13: »Zum Zapfenstreich«
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Mauern, diese ›Territorien‹ öffnen sich im Film zu dem, was Deleuze/Guattari das »Universum« nennen:
»Denn das Territorium beschränkt sich nicht nur aufs Isolieren und Verbinden, es bietet eine Öffnung hin zu kosmischen Kräften, die aus dem Inneren aufsteigen oder von außen eindringen, und macht den Bewohner für deren Wirkung empfänglich.« (Ebd.: 221)
Die Öffnung des Territoriums auf einen ›anderen Ort‹ hin vollzieht sich im Film über die Frage nach dem Geist und damit: nach der Anwesenheit des Anderen an dem Ort, den man ausschließlich durch sich selbst besetzt zu haben glaubt. Der Film greift die Semantik des Hauchs, der Atmung (pneuma, spiritus) auf und verknüpft sie mit den Bildern und Geräuschen einer in Bewegung begriffenen Landschaft: »Ein Geist ist wie die Luft, die uns umgibt. Er kann überall hingehen« (Abb. 14); aber der Geist Abbildung 14: pneuma, spiritus, Hauch
manifestiert sich ebenso in der Serie medialer Re-Präsentationen von Personen, die unwiderruflich abwesend sind;15 und wenn die Semantik des 15 | Neben der technisch-medialen Verkörperung zeigt der Film gegen Ende auch eine Szene, in der anlässlich einer Gedenkfeier auf dem Wünsdorfer Friedhof im Beisein der Bürgermeisterin von Zossen und des Herzogs von Kent der indische Vize-Botschafter, mit dem der Zuschauer bereits aus den Gesprächen mit dem Regisseur bekannt ist, den gesprochenen Text Mall Singhs in englischer Übersetzung rezitiert – und anschließend kommentiert, wobei dieser Kommen-
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Hauchs und der Atmung immer noch einen Bezug zu anthropomorphen Vorstellungen hat, so belehrt uns eine weitere Stimme aus dem Archiv, dass die Geister auch ganz andere Formen annehmen können. Der Film nutzt sein dokumentarisch-indexikalisches Wirklichkeitsversprechen, um auch einen solchen menschenfernen Geist vorzuführen. (Abb. 15) Abbildung 15: Geistergestalten
„Viele Geister nehmen die Gestalt eines alten Seils an, das auf der Straße liegt Es liegt meist einfach auf der Straße herum Und die Füße der Passanten verfangen sich darin Der Geist ist ständig in Bewegung.«
Im Film kommt dem indischen Vize-Botschafter Amit Dasgupta die dramaturgisch undankbare Aufgabe zu, den Regisseur, der wiederholt wegen der benötigten Drehgenehmigung bei ihm vorspricht, hinhalten zu müssen; aber obwohl er dem Vorhaben, in Indien einmal nicht einen Tempel-Film, sondern einen Geister-Film zu drehen, einigermaßen reserviert gegenübersteht, weil das konkrete Projekt die komplizierte kolonialpolitische Vergangenheit des Landes berührt, greift er im Verlauf eines Gesprächs unvermutet zu einem Buch, das ausgerechnet indische Geistergeschichten tar über die Gründe für das bereits erwähnte Auseinandertreten von Äußerungssubjekt und Aussagesubjekt spekuliert, also darüber, dass Mall Singh von sich selbst in der dritten Person spricht, so als wäre er ein anderer.
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enthält. Aus dem Vorwort zitiert er den Satz »In Indien werden Geister und Geistergeschichten geachtet und gefürchtet«, um anschließend eine Geschichte vorzulesen, deren Besonderheit darin besteht, dass sie mitten ins Zentrum der kaiserlichen Dynastie des Deutschen Reiches führt. Der Titel der Geschichte lautet »Die weiße Dame der Hohenzollern«. Ihr bekannter Inhalt – die weiße Frau erscheint seit dem 15. Jahrhundert immer wieder als schattenhafte Botin drohenden Unheils im kaiserlichen Haus – wird auf die Situation unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges 1914 bezogen, wo sie dem Kaiser bei der Jagd »mitten im Wald, und niemand weiß, wo genau«, erschienen sein soll. Hier ist es die große Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen, die sich plötzlich in eine Geistergeschichte eingefügt sieht, die für den Kaiser die Rolle dessen vorsieht, der eine Warnung ignoriert und damit die Zukunft seiner Herrschaft und der Dynastie der Hohenzollern im Ganzen schon verspielt hat, bevor er den Krieg erklärt. (Abb. 16) Der Film operiert auch hier mit der Figur einer medialen Achronizität, also der Verschiebung dessen, was man die inaugurale Performanz des Ereignisses und damit in diesem Fall: der eminentesten historisch-politischen Handlungsmacht nennen könnte, die im staatlichen ius belli zum Ausdruck kommt. Abbildung 16: Die weiße Dame der Hohenzollern
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6. K aiserliche S timmabnahme und philosophisches N achleben Der Film bewegt sich nämlich keineswegs bloß an jenem Pol der Machtbeziehung, den man »den geringsten Körper des Veurteilten« bzw. Inhaftierten (Foucault 1975: 41) nennen könnte. Wir befinden uns im wilhelminischen Deutschland, das nach wie vor für den Körper des Königs, mit Kantorowicz zu sprechen, einen Ort und eine Rolle vorsieht, ganz gleich, was uns die Historiker über die wirkliche Stellung des Kaisers erzählen, der längst vor seiner offiziellen Entthronung im Hinblick auf die kriegswichtigen Entscheidungen zu einer machtpolitischen Randfigur geworden war. Selbst nachdem die Schwelle zum 20. Jahrhundert überschritten ist, verwischt sich in Deutschland also, mit Foucault zu sprechen, »dieses Disparate« (Foucault 1977: 41) nicht völlig – das Nebeneinander von mythischlegendärer Souveränität kaiserlichen Typs, deren Geschichte bis in das Mittelalter zurückreicht, und einer auf dem Niveau des Alltags ausgeübten Macht, die ganz andere Institutionen und Instanzen aktiviert, die nicht von der souveränen Form der Machtausübung abstammen, aber sich mit ihr auf höchst destruktive Weise überlagern. Nicht unerheblichen Witz bezieht der Film aus der Präsentation von dokumentarischem Material, das eine, vielleicht sogar die letzte Schlüsselsituation kaiserlichen Machtausübung vorführt. Diese Schlüsselsituation erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als der Effekt einer technisch-medialen Nachträglichkeit. Der Kaiser selbst nämlich wird zum Element jenes bereits beschriebenen Dispositivs, das zuvor an den Kriegsgefangenen des Halbmondlagers ausprobiert worden war. Am 6. August 1914 hält Wilhelm II vom Balkon des Berliner Schlosses eine Rede, mit der er das deutsche Volk »zu den Waffen« ruft. Die Rede liegt als gedruckter Text vor (Abb. 17), und es gibt ein Foto von dem Ereignis (Abb. 18), auf dem der Kaiser zu sehen ist, wie er mit erhobener linker Hand der Menge die Richtung weist und die »Horizontlinie« festlegt, die den »vertrauten Kreis« gegen »eine unvertraute Fremde« (Plessner 1931: 192) absetzt, kurz: Freunde von Feinden unterscheidet. Weitere Bilder, erst recht bewegte, sind von der Kriegsrede des Kaisers nicht bekannt – ebensowenig wie man einen Aufzeichnungsapparat auf dem Foto erkennen kann, das den sprechenden Kaiser zeigt. Merkwürdigerweise existiert aber dennoch ein Tondokument von dieser historischen Rede – was die Frage aufwirft, wann und unter welchen Umständen sie aufgezeichnet wurde.
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Abbildung 17: Text der Rede des Kaisers
Zweifellos kommt die Aufzeichnung der Rede des Kaisers unter sehr anderen Bedingungen zustande als die insgesamt 1650 Stimmaufzeichnungen der Gefangenen des Wünsdorfer Halbmondlagers. Und doch sind es dieselben Elemente und Operationen, die auch im Fall der kaiserlichen Stimmabnahme das Dispositiv ausmachen, das zur Produktion der Aufzeichnung erforderlich ist: der Aufnahmeleiter, Prof. Doegen, der Kaiser, ein Techniker, das Einsatzzeichen, der rotierende Plattenteller, der Trichter, in den hinein zu sprechen war, der vorgehaltene Redetext, der Vorgang des Ablesens und schließlich die minutiöse Kontrolle und Regulierung des Abstands zwischen sprechendem Kaiser und phonographischem Trichter, die hier allerdings im Bewusstsein um die symbolische Stellung
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des Sprechenden durch eine nur leise Berührung des kaiserlichen Rückens erfolgt. Der Adressat der Rede ist »das deutsche Volk«, ihr Inhalt lässt sich in den Begriffen Plessners präzise als die Verwandlung einer Lage (»Alle offenkundige und heimliche Feindschaft […] haben wir bisher ertragen.«) in eine mythisch zugespitzte Situation beschreiben, in der den Menschen »Entscheidungen« abverlangt werden, in diesem Fall: die Entscheidung par excellence, nämlich diejenige durch »das Schwert«, die der Kaiser als Inhaber des ius belli stellvertretend für das Volk trifft. Abbildung 18: Auf dem Balkon des Berliner Stadtschlosses
Die Erzeugung der Vorstellung einer »Welt von Feinden« (anders gesagt: die Weigerung, den Feind im Rahmen der Rede konkret zu lokalisieren), einer Welt zudem von nicht nur offenkundiger, sondern auch »heimlicher« Feindschaft, kurzum: die Totalisierung und Virtualisierung der Feindschaft ist eine Operation, die sich in den Diskurs einer dezidiert politischen Anthropologie übersetzen wird, wenn ihr Autor die Freund-Feindunterscheidung zur Wesensverfassung des Menschen erklärt und diese näherhin, unter Berufung auf Schmitt und Freud, in der »Unheimlichkeit des Fremden« und im Zwang zur Dissozierung bzw. zur ›Abstandnahme‹ verankert. Mit der Wendung: »Und wir werden diesen Kampf bestehen, auch gegen eine Welt von Feinden«, hat der Kaiser die Matrix einer anthropologischen Aneignung des Freund-Feind-Schemas formuliert, die eben darin liegt, dass der Feind grundsätzlich in jedem anderen vermutet werden muss, denn auch wir selbst gehören zur Welt. Der Feind ist eben ›unsere eigene Frage als Gestalt‹. Im politisch-anthropologischen Topos von der »Exponiertheit des Menschen« wiederholt sich die vom Souverän erklärte Exponiertheit oder Eingekreistheit seines Volkes in einer Welt von Fein-
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den, die der philosophische Diskurs generalisiert und damit dem deutschen Monopolanspruch entzieht. Die politische Anthropologie Plessners und die Rede »An das deutsche Volk« bewegen sich unter diesem Aspekt im selben diskursiven Raum. Zum Raum des Diskurses gehören bekanntlich nicht nur der Moment seiner Stiftung, sondern auch die Bedingungen seiner Wiederholbarkeit. Das »System der Materialität« (Foucault 1969: 150), dem bestimmte Aussagen gehorchen, gehört mehr der Institution als der räumlich-zeitlichen Lokalisierung an. Bereits der Kaiser, nicht erst der Philosophische Anthropologe macht die Probe auf die Wiederholbarkeit seiner Rede. Das System der Materialität eines Diskurses definiert »Möglichkeiten der Re-Inskription und der Transkription« und nicht bloße »begrenzte und vergängliche Individualitäten« (ebd.). Das Leben der Aussagen, anders gesagt, ist von ihrem Nachleben nicht zu unterscheiden, das sie allerdings nicht sich selbst, sondern den Orten oder Institutionen verdanken, die Aussagen mit einer bestimmten Autorität ausstatten und zugleich Positionen definieren, von denen aus sie wieder und wieder vorgebracht werden können. Was Wilhelm II als Kaiser Deutschlands gesagt hat, muss mit dem Zerfall der Institution Monarchie nicht der Vergessenheit anheim fallen oder dem Gedächtnis der Historiker überantwortet werden. Andere Institutionen können das Thema der Rede ›ausarbeiten‹ und ihr einen neuen Wahrheitswert zuschreiben, der nun von Philosophie und Wissenschaft gehütet wird, die diese Aussagen reinskribieren und transkribieren – und schließlich auch für ihre realpolitische Reaktivierung bereithalten. Scheffner fügt ein Tondokument aus dem Archiv in seinen Film ein, das uns ermöglicht, den Kaiser bei seinen immer wieder neu ansetzenden Versuchen zuzuhören, den ›richtigen Tonfall‹ für eine Rede zu finden, die längst gehalten war und deren Wirkung an Ort und Datum ihrer inaugrualen Performanz gebunden zu sein schien. Die Filmsequenz operiert daher auch in medialer Hinsicht auf der Höhe des Archivmaterials: Wenn wir das Foto sehen, können wir den Kaiser nicht hören, wenn wir den Kaiser hören, gibt es nichts zu sehen – ein Nichts, das im Medium Film die Form von beharrlichen Schwarzbildern annimmt, auf denen Zitate aus einem anderen Archiv, den Erinnerungen des Aufnahmeleiters Doegen an die Stimmübungen des Kaisers auftauchen. Der Kaiser also spricht wieder und wieder, was er längst gesagt hatte:
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»So muß denn das Schwert entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Nun auf zu den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterland! Um Sein oder Nichtsein unseres Reiches handelt es sich […], um Sein oder Nichtsein deutscher Macht und deutschen Wesens.«
Bereits die Wiederholung der Rede zu Zwecken ihrer technischen Aufzeichnung in Schloss Bellevue trägt dazu bei, ihr einen über die dokumentarische Funktion hinausgehenden Wert zu sichern, an den dann andere, z.B. Philosophen, anknüpfen können. Der Kaiser jedenfalls war, wie sich Prof. Doegen zu erinnern weiß, nach dem Wiederabhören der Stimmprobe von Begeisterung über das Gehörte erfüllt und soll ausgerufen haben: »Also, nun wird’s ernst.« Doegens Kommentar zu seiner Beschreibung des Effekts der ›nachgestellten‹ kaiserlichen Rede auf den Kaiser ist insofern entscheidend, als hier vom Ort des Wissenschaftlers eine Bestätigung des phantasmatischen Effekts historischer Nachträglichkeit erfolgt: »[E]rst heute kann ich ermessen, einen wichtigen historischen Augenblick erlebt zu haben«. Im Begriff des historischen Augenblicks verschmelzen hier die Aufnahmezeit der Rede und das Ereignis, auf das sie referiert und dessen Teil sie gewesen ist. Im Unterschied zur Fähigkeit der Gefangenen, sich von dem Text, der ihnen vor-geschrieben ist, mit den Mitteln des Witzes abzusetzen, werden die Zuhörer auf Schloss Bellevue im Falle der kaiserlichen Reverbalisierung seiner Rede Zeuge einer extremen Identifizierung: Kaiser und Aufnahmeleiter erleben das Vor-Geschriebene als die Wahrheit des Ereignisses und gehen damit über die dispositive Struktur als der Bedingung der Möglichkeit dieses Nachträglichkeitseffekts schweigend hinweg. Die Wahrheit dieses Ereignisses schreibt sich auch in eine politische Anthropologie ein, die die Exponiertheit des Menschen nach dem Modell der vom Kaiser deklarierten Exponiertheit des deutschen Volks angesichts einer »Welt von Feinden« denkt. Kaisers Gespenster sind also nicht nur seine ehemaligen Kriegsgefangenen, deren archivierte Stimmproben im Film mehr als 90 Jahre nach ihrer Aufzeichnung geisterhaft von den abgespielten Schellackplatten zu neuem Leben erweckt werden und damit den aus dem Off gesprochenen, banalen mediengeschichtlichen Sachverhalt bestätigen, dass seit Edisons Erfindung Tote sprechen können. Kaisers Gespenster tauchen auch dort auf, wo man sie am Wenigstens erwartet: im Herzen von Wissenschaft und Philosophie des Menschen, in Anthropologien also, die längst jedem Geisterglauben abgeschworen hatten und sich mittels genau
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geregelter Prozeduren der Erfassung menschlicher Tatsachen widmeten. In seinem Witz-Buch erzählt Freud den Witz: »Er glaubte nicht allein an keine Gespenster, sondern er fürchtete sich nicht einmal davor.« (Freud 1905: 73) Im anthropologischen Zwang, dem Menschen souveräne Machtbefugnisse zuzuschreiben und ihn den »Platz des Königs« einnehmen zu lassen, das Rechtsinstitut der Souveränität also von den Institutionen, die es handhaben, abzulösen und es auf den Menschen zu übertragen, liegt die Unheimlichkeit des Diskurses der Philosophischen Anthropologie, die Plessner glaubte, allein als zentrales Phänomen und Problem ihres Gegenstandsbereichs ansprechen zu dürfen.
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Teil 3: Übersetzung, Wiederholung, Verkettung
Neue Dialoge Das ABC von Gilles Deleuze Antonia von Schöning/Hanns Zischler
1988 gibt Gilles Deleuze seine hartnäckige Weigerung auf, im Fernsehen aufzutreten und lässt sich auf ein über siebenstündiges Filmgespräch mit seiner ehemaligen Studentin und Freundin Claire Parnet ein. Seine Bedingung dafür ist, dass das Material erst nach seinem Tod ausgestrahlt werden darf. Dass Deleuze einige Monate vor seinem krankheitsbedingten Freitod 1995 der Ausstrahlung in einzelnen Folgen dennoch zustimmt, ändert nichts an der ursprünglichen Versuchsanordnung dieses besonderen Filmdokuments, in dem Deleuze den Impulsen der alphabetischen Begriffsauswahl von Claire Parnet von A wie Animal bis Z wie Zickzack folgt und ausführlich zu so heterogenen Themen wie »Kultur«, »Geschichte der Philosophie«, »Literatur« oder »Widerstand« spricht. Nachdem das von Pierre-André Boutang produzierte TV-Interview L’Abécédaire de Gilles Deleuze in Frankreich seit seiner Erscheinung 1988 auf Video und später auf DVD bekannt ist und großen Erfolg hat, ist 2009 eine längst überfällige deutsche Version erschienen. Die Übersetzung des vollständigen Dokuments von Valeska Bertoncini bewegt sich dabei faszinierend nah an der Vorlage des Originals. Hanns Zischler und Antonia von Schöning haben eine Voice-Over-Fassung gesprochen. Hanns Zischler: Ich möchte nicht das Wort ergreifen, sondern fortsetzen, was wir schon einmal gemacht haben. Wir haben beide mit verteilten Rollen oder besser mit verteilten Stimmen die deutsche Übersetzung des Abécédaire gesprochen, und zwar entlang dem französischen Original, also synchron.
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Und jetzt frage ich dich als mein weibliches Gegenüber – in Vertretung von Claire Parnet – was geschieht, wenn man ein solches Gespräch, wie es zwischen Gilles Deleuze und Claire Parnet stattgefunden hat, fortlaufend in eine andere Sprache transponiert. Antonia von Schöning: Genau diese Frage stellt sich, weil es in keiner Weise darum ging, das originale Gespräch nachzuahmen. Wir wiederholen vielmehr frei nach Deleuze und dem Schema der Wiederholung und Differenz eine Gesprächs- und Sprechsituation, aber verändern sie zugleich. Dadurch, dass wir andere sind und eine andere Sprache sprechen, ist es natürlich auch ein anderes Gespräch geworden. Zugleich geht es auch um die Frage, wie überhaupt über Philosophie gesprochen werden kann. Deleuze und Parnet stellen sie, und wir stellen sie noch einmal. HZ: Ja, es ist ein anderes Gespräch geworden und gleichzeitig ist es natürlich gefasst und vorgegeben durch eine bereits vorhandene Aufzeichnung, das heißt durch diesen Film, der zu Deleuzes Lebzeiten eigentlich nicht gezeigt werden sollte. Es gibt für mich bei dieser Art von begleitender beziehungsweise gleitender Übersetzung ein Problem: dass der Sprechakt von beiden – von Deleuze naturgemäß mehr als von Claire – durch die lebendige wörtliche Rede gekennzeichnet ist. Und sie ist durchsetzt von unzählig vielen Akzenten, die wiederum eine Bedeutung schaffen, einen bestimmten Sinn herstellen. Unser Sprechen dagegen ist ja keine lebendige Rede in diesem Sinn. AS: Ja, für eine nachträgliche, deutsche Version stellt sich dieses Problem, das wir aber nicht zu vertuschen versuchen. Andererseits ist es ein spannendes Experiment, in diese philosophische Praxis außerhalb der Schrift mit einzusteigen, sie zu entfremden und ihr etwas hinzuzufügen. Durch die Verschiebung und Übersetzung, die wir erlebt haben, indem wir eine eigentlich gesprochene, lebendige Sprache übernehmen und sie mitlesen, passiert etwas Produktives mit dem ursprünglichen Sprechakt. HZ: Es passiert das, was in der Synchronisation – ich nenne das jetzt mal so – immer schon kritisiert worden ist. Borges hat einmal gesagt, Synchronisation ist eine Amputation, ein Bauchreden sozusagen. Der Körper ist von seiner Stimme getrennt beziehungsweise die Stimme als der individu-
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elle Teil des Menschen vom Körper als dem sozialen Teil. Daher rührt auch dieses schreckliche Unbehagen für mich, durch »Synchronisation« (die ja eigentliche eine Entzweiung ist) betrogen, mit einem falschen Text hereingelegt zu werden. Kann man überhaupt diesem langen, ausführlichen Gespräch, so wie es stattgefunden hat und aufgezeichnet wurde, gerecht werden in einer gesprochenen Form? AS: Man muss dazu sagen, dass das Gespräch – ob in französischer oder deutscher Sprache – bis heute nicht verschriftlicht werden darf. Auch dieses Verbot eines Medienwechsels macht das ABC zu einem sehr besonderen Dokument. Laß’ uns doch einmal die Gesprächssituation zwischen Gilles Deleuze und Claire Parnet genauer betrachten. Sie entsteht ja unter der Voraussetzung der posthumen Veröffentlichung. Deleuze lässt sich darauf ein, weil er weiß, dass die Aufzeichnung erst nach seinem Tod veröffentlicht wird, eine Tatsache, die ihm, wie er sagt, die Freiheit gibt zu sprechen. Er bezeichnet sich als »Stück Papier«, als »Archiv« bereits zu Lebzeiten und als »reiner Geist«, wie er ironisch formuliert. Das ist also die Voraussetzung für dieses Gespräch und dann kommt das ganze Setting hinzu, das auch beinhaltet, dass man ihn über Stunden in unterschiedlich nahen Einstellungen sieht, Claire Parnet dagegen entweder in einem Spiegel hinter ihm oder angeschnitten im Blick über ihre Schulter. Hauptsächlich guckt man Claire Parnet über die Schulter. Wenn wir schließlich in die Dialogsituation mit einsteigen, kommt noch der Aspekt des körperlosen Sprechens hinzu, der aber durch die Klausel der posthumen Veröffentlichung auch in der Originalversion schon vorhanden ist. HZ: Es hat etwas Unheimliches für mich. Ob ironisch, kokett oder leicht hingesagt, Deleuze betont es mehrere Male, dass er posthum oder von »après ma mort« spricht, das heißt: Ich spreche jetzt aus dem Jenseits. Ich spreche als Toter zu euch. Was ein sehr ungewöhnlicher Vorgang ist. Ungewöhnlich nicht, weil es diese Situation noch nie gegeben hätte, sondern ungewöhnlich ist, im Bewusstsein dessen zu sprechen. Die beiden wissen von vornherein, dass sie als Geisterstimmen zu uns sprechen. Das heißt, Deleuze formuliert in einem sehr, sehr langen Gespräch sein Testament, »the dying word« nicht angesichts, sondern in Antizipation seines Todes. Und jetzt kommen wir als Sprecher aus dem Off und transplantieren das Ganze mit Hilfe der Übersetzung und der Technik in eine andere Gegenwart. Im Grunde unterlaufen wir das Testament. Also ich weiß, wenn ich
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beim Film oder bei Aufnahmen für die Kamera spreche, wenn ich etwas mitteile, dass dies natürlich irgendwann auch noch zu sehen und zu hören sein wird, wenn ich nicht mehr da bin. Aber das ist in der Regel ohne Belang für die Aufnahme, auch für die Mitteilung selbst. Während das in diesem sehr besonderen Fall ein zentraler und essentieller Teil der Mitteilung selbst. AS: Hier ist es die Bedingung ihrer Möglichkeit. Unter anderen Voraussetzungen hätte sich Deleuze auf eine Aufzeichnung dieses Gesprächs wohl nicht eingelassen. Und er sagt ja, es ist befreiend für ihn, für sein Sprechen. Aber du hast völlig Recht, die Wiederholung davon ist besonders gespenstisch, weil die Bedingung, also die Bedingung des eigenen Todes so explizit im Raum steht. HZ: Ja, die steht im Raum und ist auch fortwährend zu spüren. Man weiß es, weil man es gleich zu Anfang gehört hat. Ich glaube, es kommt noch etwas hinzu: Es ist im Allgemeinen verpönt, so etwas zu sagen. Man kann nicht umhin, sich zu fragen, ob Deleuze den Gedanken an seinen Freitod mit einbezogen hat in diese Mitteilung »nach meinem Tod«. Nach konventionellen Vorstellungen wird über den eigenen Tod nicht gesprochen. Beim Schreiben ist das etwas anderes. Die Schrift ist das, was dem Autor von vornherein schon überleben wird. Die Schrift hat sozusagen das Jenseitige schon in sich, das Spätere, das, was vom Autor fortleben soll. Dieses Gespräch aber, dieser Dialog lebt geradezu von einer Frénésie, einer Raserei der Rede und von einer uneinholbaren Präsenz des gesprochenen Wortes – fast ist es, als wollten Deleuze und Parnet diese Emphase für die Aufzeichnung noch verstärken. Das fortlaufende und darunter laufende Bewusstsein, dass es für ein Danach gedacht ist, macht mir immer wieder zu schaffen. Ich weiß nicht, was geschieht, wenn wir das im Deutschen nachsprechen. Ich habe den Eindruck, dass das Gespräch uneinholbar ist. Wir übernehmen ja die Ich-Personen des Originals, wir sagen nicht »er sagt« oder »sie sagt«, wir reden ja als deren »Ich«. AS: Ich frage mich darüber hinaus, was für Entscheidungen in Bezug auf die Kameraeinstellungen gefällt wurden. Es ist doch interessant, dass Deleuze zusammen mit Félix Guattari sehr viel über das Gesicht und die Gesichthaftigkeit gearbeitet hat, über das Verhältnis von Sprache und Ge-
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sicht, über Sprechen und Gesicht. Und er sich dann einer Kamera aussetzt, die über eine Länge von mehr als sieben Stunden immer auf sein Gesicht und seinen Körper gerichtet ist, während er spricht. Also frage ich mich, was für Entscheidungen wohl dahinter standen, stundenlang Gilles Deleuzes Gesicht beim Sprechen zu filmen, ob das besondere Bewusstsein für das Verhältnis von Gesicht und Sprechen eine Rolle gespielt hat und ein bestimmter Effekt erzielt werden sollte. Ein Effekt, der uns jetzt wiederum entgeht, wenn wir nachträglich »gesichtslos« die deutsche Version sprechen. HZ: Wir sitzen in der Falle der vorhandenen Aufnahme. Zwar setzen wir allein durch den Wechsel und die Überlagerung der Sprachen andere Akzente. Dennoch frage ich mich: Welchen Effekt macht es eigentlich, wenn für den Zuschauer der physiognomische und der stimmliche Ausdruck von einer surimpression überlagert wird, die durch die zweite Stimme aus dem Off erzeugt wird? Das heißt, da gibt es eine Art von Verzerrung. Wenn ich zum Beispiel die deutsche Stimme von John Wayne höre, drängt sich der Eindruck eines schweren Machos auf. Wayne aber hatte eine sanfte, fast weich fließende irische Stimme. Was ist da passiert? Das heißt, ich defiguriere nicht nur das Sprechen von Deleuze, sondern auch sein Gesicht, seinen Ausdruck. Ähnliches gilt für Claire. Darüber muss man sich im Klaren sein. Wie nimmt man so etwas auf, wenn man das betrachtet? Was höre ich und wem höre ich wirklich zu? AS: Wahrscheinlich haben wir durch unsere Stimmen den beiden auch ein anderes Gesicht gegeben. Wer spricht also zu wem? Wer sieht wen an? Ich habe mich außerdem gefragt, als was man das bezeichnen sollte, was die beiden in dieser Aufnahme machen. Kann man überhaupt von einem Dialog sprechen? Der Austausch zwischen den beiden hat ja eine Struktur vorgegeben bekommen durch das Alphabet, durch die Entscheidung, jeden Buchstaben des Alphabets zu benennen und dazu einen Begriff, eine Idee zu diskutieren. Das macht ihn doch zu einer sehr speziellen Form des Dialogs. HZ: Ein monologue à deux? AS: Geht es vielleicht um den Prozess des Sprechens selbst, der uns im Nachhinein erlaubt, ein Stück weit das Denken von Gilles Deleuze nachzu-
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vollziehen, genau in seiner Prozesshaftigkeit, in seinem Wandern? Denn es handelt sich hier ja kaum um ein Erklären von Begriffen, mit denen er in seiner philosophischen Vergangenheit gearbeitet hat, es ist keine Rückschau seiner Bücher, kein Interview über seine Karriere. Wie könnte man benennen, was es ist und worum es geht? HZ: Ich finde es sehr wichtig und nützlich, sich darüber zu verständigen, womit man es da zu tun hat. Es geht doch um die Bestimmung des Genres oder der Form dessen, was uns da entgegen tritt. Die erste Bestimmung für mich ist nicht in der Dichotomie männlich/weiblich begründet, obwohl sie hier nicht unwesentlich ist, sondern vielmehr in der Atmosphäre der Vertrautheit zwischen den beiden. Das heißt, sie kennen und vertrauen einander, und es findet auch in einer Wohnung statt – offenbar in seiner Wohnung – es ist also etwas, das im privaten Raum, in der Geborgenheit stattfindet. Aber es weist weit über den privaten Raum hinaus. Zum anderen eröffnet es durch die Zeit, die sie sich lassen und die sie sich genommen haben, die Möglichkeit zu so etwas wie einer gemeinsamen Meditation. Also man sieht und spürt sie meditieren. Sie meditieren in dem Sinne, dass er lange und ausführlich nachdenkt, sich auf etwas einlässt, was ihm angeboten wird, womit er gelockt wird. Manchmal ist er auch etwas irritiert, obwohl er vielleicht selbst an der Wahl der Begriffe beteiligt war, aber jetzt soll er sich darauf wirklich einlassen, und er tut es dann auch, mit einer Ausnahme, glaube ich: »Wittgenstein«, wo nichts mehr geht. Der Überraschungseffekt ist also eigentlich relativ gering. Weil offensichtlich eine Vereinbarung stattgefunden hat. In diesem sehr freien Raum, den sie sich gegeben haben, findet kein Monolog statt. Deleuze ist ja nicht jemand, der vor sich hin monologisiert, sondern er spricht zu ihr. Ganz eindeutig. Er spricht nie in die Kamera. Die Kamera ist nah bei ihr, an ihrer Schulter, an ihrem Ohr gewissermaßen, also ich sehe das mal als eine Ohrposition, eine Mithörposition, oder auch in der Nähe ihres Auges: Die Tatsache, dass er zu ihr spricht und sie als eine Mithörende und eine Mitsprechende anerkennt und braucht, macht das Ganze bereits monolog-untauglich. Es ist tatsächlich ein Dialog der ungewöhnlichsten Form, da dieser hier nämlich in ihrem konzentrierten Zuhören besteht, das noch katalytisch verstärkt wird durch die Kamera. Also der Gestus des Zuhörenkönnens und –wollens ist außerordentlich stark und von ihm und ihr gleichermaßen gewollt – ohne das ginge es gar nicht.
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AS: Die beiden haben vor dem ABC, im Jahr 1977, ein gemeinsames Buch verfasst und produziert, das Dialoge betitelt ist. (Deleuze/Parnet 1977) Das Buch hat vier Kapitel, von denen jedes zwei Teile hat, und man begreift relativ schnell, ohne dass es genau gekennzeichnet wäre, dass Teil eins von Deleuze und Teil zwei von Parnet kommt. Gleich das erste Kapitel widmet sich der Frage »Was ist eine Unterhaltung und was nützt sie?«. Beide machen den Punkt stark, dass eine Unterhaltung im Grunde erreichen soll, den Schemata der, wie sie es nennen, binären Maschine, dem Machtapparat, etwas entgegenzusetzen. Die Binärmaschine arbeitet mit Schemata wie Frage/Antwort, männlich/weiblich, wissenschaftlich/nicht-wissenschaftlich. Bei Deleuze und Parnet sollen diese Oppositionen zugunsten eines »Werdens« abgelöst werden. »Werden« ist ja auch ein Begriff, der im ABC immer wieder auftaucht. Wie kann dieser Begriff des Werdens für eine Unterhaltung verstanden werden? Und geht am Ende das auf, was die beiden hier unternehmen, die sich eben auch theoretisch sehr viel mit den Prozessen und Mechanismen des Gesprächs und der gemeinsamen Arbeit beschäftigt haben? Geht das im Falle des ABCs auf? Sie thematisieren immer wieder, was es heißt, zu zweit zu arbeiten und sich oberflächlichen und binären Strukturen zu entziehen, um anders denken, anders schreiben und anders sprechen zu können. HZ: Das ganze Gespräch ist für mich das Bild eines weit verzweigten Werdens. Deleuze tastet sich an etwas heran, dessen Ende er im Grunde noch nicht kennt. Er stößt ins Offene vor in seiner Rede, in seinem Suchen, seinem Tasten, seinen verrückten Navigationen. Und sie fängt ihn manchmal auf. Da gibt es dieses leichte Kapern bei ihr. Ich habe manchmal den Eindruck, dass sie ihn sowohl kapert als auch wie eine Hebamme arbeitet. Sie entlockt ihm die Sprache. AS: Dies scheint ihre Strategie zu sein, um dem System zu entkommen, das sie so kritisieren, das mit vorgefertigten Fragen und erwartbaren Antworten arbeitet. Der Buchstabe F steht in der französischen Version des ABC für Fidelité, wird aber im Deutschen klugerweise mit »Freundschaft« übersetzt, und widmet sich genau dieser Multiplizierung der Autorschaft oder eben genau der Infragestellung eines singulären Autors oder Autorsubjekts. Claire Parnet geht vor allen Dingen auch auf die Freundschaft zwischen
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Gilles Deleuze und Félix Guattari ein und versucht anzuknüpfen an eine Tradition von Freundschaft und Freundespaaren, die auch gemeinsam irgendwie schöpferisch tätig sind. HZ: Bei Fidelité, »Freundschaft«, taucht diese merkwürdige Erinnerung von ihm auf. Er zitiert die Zeile »Hast du einen Freund hinieden« aus dem Gedicht »Zwielicht« von Eichendorff.1 Hier heißt es, es gibt Stunden und es gibt Augenblicke, in denen selbst der beste Freund eine Gefahr darstellt. Das hat mich fast erschüttert, weil ich mir über die Intention von Deleuze, es in diesem Zusammenhang aufzurufen, immer noch nicht im Klaren bin. Freundschaft wird mit diesem Zitat düster. AS: Er sagt ohnehin ein paar Dinge, die man beim Thema Freundschaft nicht erwartet. So zum Beispiel das offene Bekenntnis, von Guattari intellektuell gestohlen zu haben und die Hoffnung, dass Guattari das wiederum seinerseits bei Deleuze getan hat. Er hat ein Verständnis von Zusammenarbeit, das eben nicht darin aufgeht, dass man zum gleichen Thema schreibt und sich alles harmonisch zusammenfügt. Gedanken reihen sich vielmehr aneinander, Teile gehen in verschiedene Richtungen und treffen sich dann irgendwo wieder, Begriffe kommen auf und treten ins Verhältnis zu anderen – und man eignet sich dabei durchaus Gedanken des anderen an und wird einander zur Gefahr. Das war für mich eine überraschende Wendung dieses Freundschaftsthemas. HZ: Wobei das Eigentümliche ist, dass wir Fidelité eigentlich nicht mit Freundschaft übersetzen würden, wenn man aber andererseits nur von Treue spricht, rutscht das gleich auf eine ganz andere Ebene. Es gibt offensichtlich etwas in der Intimität bestimmter Beziehungen, gerade von Leuten, die sich hauptsächlich mit dem Denken befassen, das auch gefahrvolle Momente beinhaltet.
1 | Die dritte Strophe aus »Zwielicht« von Joseph von Eichendorff (1815) lautet: Hast du einen Freund hinieden, Trau ihm nicht zu dieser Stunde, Freundlich wohl mit Aug und Munde, Sinnt er Krieg im tückschen Frieden.
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AS: Für mich stellt sich im konkreten Fall des ABC die Frage, worin genau Claire Parnets Anteil besteht. Es ist offensichtlich, dass sie es konzipiert hat, dass sie jedem Buchstaben Begriffe zugeordnet hat, auch in Absprache mit ihm. Man fragt sich dabei immer wieder, ob sie auf etwas Bestimmtes hinaus möchte, ob sie etwas Bestimmtes von ihm hören will. Gerade an Stellen, an denen sie etwas biographischer fragt oder ihn dahin locken will, über sich selbst, über seine Kindheit, seine gesundheitliche Verfassung oder auch seinen Bezug zu 1968 zu erzählen, an diesen Stellen scheint es manchmal, als hätte sie eine Art größeren Plan. Als wollte sie ihn dazu bringen, Aussagen über sich in diesem »Testament« festzuhalten. Aber sie tut dies, indem sie immer wieder neue Linien für das Gespräch zieht. HZ: Schon der zweite Buchstabe B – Boisson, im Deutschen »Trinken«, das heißt im Klartext: Alkoholsucht ist ein sehr biographisches Thema. Und er spricht nicht nur über seine – überwundene – Trinksucht mit fast analytischer Klarheit: »Heute höre ich auf, um morgen wieder anfangen zu können«, sondern er holt plötzlich weit aus und kommt auf die von ihm bewunderten amerikanischen Schriftsteller Scott Fitzgerald und Thomas Wolfe zu sprechen. AS: Und hier nimmt Claire ganz entschieden den Faden auf, wenn sie über die Verbindung von literarischer Arbeit und Trinken sagt: »daß es dem Alkohol eine Lebensmacht gab, die zu stark für sie war, zu mächtig, wenngleich nur sie diese Macht wahrnehmen konnten.« Und Deleuze spielt dann auf einen für ihn sehr eigentümlichen Unterscheid zwischen den amerikanischen und den französischen Schriftstellern an. HZ: Ja, er sagt, sie, die Franzosen hätten nicht denselben Blick auf das Schreiben wie die Amerikaner; denen ginge es nämlich darum »etwas zu sehen, etwas zu sehen, was die andern nicht sehen.« Erstaunlich und sehr bewegend ist auch, wie er das Vorkriegs-Panorama des Abstiegs seiner Familie aus dem wohlhabenden 17. (Pariser) Arrondissement entwirft. Als würde er die Ballistik eines immer tiefer sinkenden Flugkörpers beschreiben… AS: In diesem Zusammenhang, es ist der Buchstabe E – Enfance, »Kindheit«, erinnert Deleuze an etwas, das man sich heute kaum mehr vorstellen kann: die Durchsetzung des ersten bezahlten Urlaubs für Arbeiter
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und kleine Angestellte in Frankreich. Deleuze beschreibt, wie diese Menschen am Strand von Deauville auftauchen, dem Urlaubsort der Pariser Bourgeoisie, und wie das Großbürgertum vor den eigenen Landsleuten erschrickt und entsetzt ist. Claire Parnet stellt mit der Stoßrichtung ihrer Fragen immer wieder Bezüge zum Außerphilosophischen oder Nicht-Philosophischen her, die für seine Arbeiten ganz eminent wichtig sind. Zwischen einer philosophischen Arbeit und einem Leben außerhalb davon wird nicht getrennt, sondern Parnet stellt ein Verhältnis zwischen beiden her, indem sie eine Auswahl von Begriffen wie »Kindheit«, »Krankheit«, »Tennis« oder »Oper« trifft und das Außen immer wieder mit herein bringt, genau wie er. Ihr scheint zum Beispiel der Bezug zu den politischen Bewegungen und Ereignissen seiner Zeit besonders wichtig und sie verleitet ihn, deren Bedeutung für seine philosophische Arbeit zu formulieren. HZ: Ja, sie verführt ihn schon, das ist schon eine Art von sanfter Verführung und Lockung. Sie ermutigt ihn, über Dinge zu sprechen, die nicht primär philosophischer Art sind, und er geht darauf ein, wenn er diese schöne Ausführung macht: Man muss nicht Philosoph sein, um philosophisch zu denken. Es ist eine wunderbare Formel, die er da entwickelt. Oder wenn sie ihn dazu bringt, in knapper Form den Anti-Ödipus2 darzustellen. Ich finde das eine unglaubliche Stelle. Er sagt ungefähr: Das war etwas ganz Einfaches, was Félix und ich da gemacht haben. Und dann erklärt Deleuze, wie Guattari und er die gemeine Vorstellung von Wunsch zurechtrücken. Man begehrt nicht irgendetwas oder irgendjemanden, sondern immer ein Ensemble. Er sagt, die zentrale Frage im Anti-Ödipus lautet: »Wie müssen die Beziehungen zwischen Elementen beschaffen sein, damit … Wunsch entstehen kann, damit (diese Elemente) begehrenswert werden?« Das ist zum Beispiel eine Sache, von der ich denke, dass er sie alleine ohne Anstoß nicht gesagt hätte. AS: Ich glaube, dass das ein ganz wesentlicher Punkt ist. Das Zusammenspiel von Deleuze und Parnet besteht darin, Philosophie als eine Praxis zu verstehen, die weit darüber hinausgeht, philosophiegeschichtliche Bücher zu schreiben oder sich an einzelnen Philosophen abzuarbeiten. Ihre Philosophie dagegen steht in unmittelbarem Bezug zum Außerphiloso2 | Deleuze/Guattari 1972.
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phischen und bedeutet nicht nur die Fähigkeit, neue Begriffe zu schaffen, sondern diese auch auf konkrete Phänomene zu beziehen. Hier sehe ich einen der Kernpunkte des ABC-Projektes, auf den beide großen Wert legen. Drei Jahre, bevor sich Deleuze und Guattari gemeinsam fragen, was Philosophie ist3, löst das ABC die strikte Trennung von Philosophie und Nicht-Philosophie auf. Es ist auffällig, dass keiner der Buchstaben sich direkt auf ein philosophisches Konzept bezieht, es gibt höchstens ein paar wenige Buchstaben, die nach einzelnen Philosophen benannt sind, wie K für Kant und W für Wittgenstein, über den er ja nicht reden will. Aber es gibt wiederum kein B für Bergson, kein N für Nietzsche und kein S für Spinoza. Philosophische Konzepte ergeben sich aus der philosophischen Praxis und dem Sprechen heraus, Philosophie ist eine Praxis und ein Produzieren von Fragen und Begriffen. Sie reicht weit über den akademischen Rahmen hinaus und berührt Essensgewohnheiten, Fragen des Stils, Fernsehdebatten oder das Reisen. Ich finde, diese Praxis führen die beiden in ihrem Gespräch sehr gut vor. Gleichzeitig liegt für uns eine Möglichkeit darin, dass es Deleuze und Parnet offensichtlich nicht darum gegangen ist, einen bestimmten Punkt zu machen, den wir jetzt übersetzen müssen. Vielleicht liegt genau darin eine besondere Ethik, sich gegen einen festen Ausgangspunkt und ein festgelegtes Ziel zu sperren, das dann von A bis Z konsequent verfolgt wird. Auch wenn ein ABC vielleicht zunächst nahe legt, dass es vom ersten bis zum letzten Buchstaben eine Entwicklung gibt, die nachvollzogen werden muss. Aber genau dagegen verwehren Deleuze und Parnet sich. Hierin liegt die Herausforderung und Schwierigkeit für uns, aber auch die Möglichkeit, heute wieder ansetzen zu können. Und damit dieses einzigartige Dokument immer wieder zu öffnen und zugänglich zu machen. ABÉCÉDAIRE – Gilles Deleuze von A bis Z. Ein Film von Pierre-André Boutang. Konzeption und Interview von Claire Parnet, übers. v. Valeska Bertoncini, hg. v. Valeska Bertoncini und Martin Weinman, ko-produziert von Zweitausendeins und Absolut Medien. D 2009 (F 1988-89/1996).
3 | Deleuze/Guattari 1991.
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L iter atur Deleuze, Gilles/Parnet, Claire: Dialoge, übers. v. B. Schwibs. Frankfurt a. M. [1977] 1980. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie 1, übers. v. B. Schwibs, Frankfurt a. M. [1972] 2008. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie?, übers. v. B. Schwibs/J. Vogl, Frankfurt a. M. [1991] 2007. Eichendorff, Joseph von: »Zwielicht«, in: ders., Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff, Gedichte, Bd. 1,1, hg. v. Harry Fröhlich/ Ursula Regener. Stuttgart/Berlin/Köln [1815] 1993, S. 11-12.
Es wiederholt sich Kurt Röttgers
»Ich möchte mich nicht wiederholen…« – »Das sagtest du bereits.«1
Nach Ansicht der »Deleuze Studies« gehört der Begriff der Wiederholung bei Deleuze nicht zu seinen »key concepts«.2 Als jedoch Deleuze 1991 anlässlich des Erscheinens von Qu’est-ce que la philosophie, wo die Aufgabe der Philosophie bestimmt wird als das Erschaffen von Begriffen, von Didier Eribon gefragt wurde, welchen Begriff er selbst denn geschaffen habe, da antwortet er mit einem einzigen Begriff: »La ritournelle […] Nous avons formé un concept de ritournelle en philosophie.« (Deleuze 2003: 356) Zusammen mit den anderen Begriffen des Begriffsfelds der Wiederholung (répétition, retour) gehört das Ritornell in der Tat zu den charakteristischen Begriffen der Philosophie und philosophischen Performanz der Texte von Deleuze. Dieses Begriffsfeld ist mit anderen Konzepten auf die vielfältigste Weise verknüpft, z.B. mit seiner Theorie der Zeit oder den ästhetischen Überlegungen. Dass sich etwas wiederholt, kann beruhigend, aber auch verstörend oder beängstigend sein. Schon Nietzsche musste mit seiner These von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen gegen die Meinung angehen, dass es furchtbar wäre, wenn sich alles wiederholte. Seine Lehre vom Amor fati bewahrt davor. Hatten doch viele zuvor angenommen, dass das Leben 1 | Im Allgemeinen hat die Wiederholung keinen guten Ruf; vgl.: »Wenn sonst nichts klappt – Wiederholung wiederholen«, Buchmann u.a. 2005. 2 | Siehe dazu www.eri.mmu.ac.uk/deleuze/on-deleuze-key_concepts.php. Vgl. aber dagegen Rölli 2007.
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ein Horror sei und dass eine Erlösung aus der ewigen Wiederholung des Schreckens in einem Jenseits dieses Jammertals in Aussicht stehe. Noch die Fortschrittsphilosophien des 19. Jahrhunderts haben dieses Jenseits der Gegenwart – dann allerdings säkular in der Zukunft – erwartet. Die Toten aber, die keine Ruhe fanden und als Wiedergänger die Hinterbliebenen beunruhigten, die Doppelgänger, die ein Selbst sich selbst als wiederholende Spiegelung konfrontierten, das Echo, das die Äußerung parodiert,3 all das ist zutiefst verunsichernd, weil es den einfachen Fortgang der Zeit unserer temporalen, sozialen und diskursiven Orientierung fraglich werden lässt. Gibt es etwa, muss man sich angesichts dieser Erscheinungen fragen, mehr als eine Gegenwart, die irreversibel zwischen Vergangenheit und Zukunft eingespannt ist, so dass sich wiederholen kann, was doch sicher als vergangen schien? Gibt es mehr als ein Selbst, so dass sich als eine Wiederkehr des Selbst präsentiert, was doch sicher der Andere zu sein schien? Und schließlich: Gibt es mehr als eine Diskursivität, so dass als Problem auftaucht genau das, was doch epistemisch oder normativ schon bewältigt gewesen zu sein schien? Wenn es Methode gibt, d.h. den eindeutigen und richtigen Weg durch die Wirrsal dieser Welt, dann darf es keine Wiederkehr geben, es sei denn wir hätten etwas falsch gemacht. Denn dann tauchen bekanntlich die unbewältigten Probleme der Vergangenheit in der Gegenwart als Symptome auf, dann begegnet der Feind (der Fremde) uns als »unsere eigene Frage als Gestalt« (Schmitt 1950: 89f.) und das Gewusste als Illusion. Aber die Wiederholung hat auch etwas Beruhigendes, sie verheißt uns die Stabilität der Welt, z.B. dass die Sonne jeden Morgen wieder im Osten aufgeht, dass uns die Anderen bekannt vorkommen und in gleicher Weise, wie sie uns immer begegneten, und unser Wissen von der Welt uns als das erscheint, was es immer schon war: unser Wissen von der Welt. 1968 hat sich Gilles Deleuze mit seiner Schrift Différence et répétition4 (zusammen mit dem ersten Spinoza-Buch) habilitiert. Diese Schrift ist nach einer Reihe von »philosophiehistorischen« Studien zu Hume, Nietzsche, Bergson und Kant, zu denen Foucault zu Recht gesagt hat, dass De-
3 | Vgl. Röttgers/Schmitz-Emans 2008. 4 | Vgl. Deleuze 1968. Es wird im Folgenden nach der hervorragenden deutschen Übersetzung von Joseph Vogl zitiert.
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leuze alle Philosophie wiederkehren lasse, aber nicht als dieselbe,5 der erste große systematische Wurf von Deleuze. Aber die Thematisierung von Wiederholung wiederholt sich vielfach im Werk von Deleuze; performativ wiederholt sich so, was Kierkegaard in seiner Studie über »Wiederholung« vorgezeichnet hatte, die weniger eine Theorie der Wiederholung bietet, als vielmehr eine Inszenierung von Wiederholung entgegen der dort explizit vertretenen Einsicht, dass Wiederholung nicht möglich sei. Bei Deleuze, und das hat genau mit seiner Theorie der Wiederholung zu tun, wiederholt sich die Wiederholung unter variierender Gestalt und Begrifflichkeit, also nicht nur als »répétition«, sondern vor allem auch als »(éternel) retour« oder als Ritornell. So ergibt sich bereits frühzeitig ein textliches Werden, das Deleuze 1964 in seinem Beitrag zu dem von ihm organisierten 6. Kolloquium von Royaumont über Nietzsche als Interpretation der Ewigen Wiederkehr angeboten hatte. Die Ewige Wiederkehr ist keine zyklische Rückkehr des Selben oder des Einen oder auch des Ganzen. Vielmehr ist das Nicht-Gleiche, das Differente der wahre Grund der Ewigen Wiederkehr. Die Welt der Ewigen Wiederkehr ist die Welt der Differenz, die weder das Eine noch das Selbe voraussetzt, weder den Einen Gott noch eine Ich-Identität. In einer solchen Welt ist die Ewige Wiederkehr die einzige Einheit, nur als Wiederkehrendes ergibt sich ein Selbst. »En d’autres termes, l’éternel retour se dit seulement du devenir, du multiple. Il est la loi d’un monde sans être, sans unité, sans identité. Loin de supposer l’Un ou le Même, il constitue la seule unité du multiple en tant que tel, la seule identité de ce qui diffère: revenir est le seul ›être‹ du devenir. Si bien que la fonction de l’éternel retour comme Être n’est jamais d’identifier, mais d’authentifier.« (Deleuze 2002: 173)
Weil die Ewige Wiederkehr nicht die Wiederholung des Selben, noch die Rückkehr zum Selben und Einen ist, ist sie im Kern selektiv. Der andere Aspekt ist das, was Nietzsche den Amor fati genannt hatte und was sich 5 | Vgl. Foucault 1969: 976; vgl. dazu auch Deleuze/Guattari 1996. Als Foucault 1970 sagte: »Eines Tages wird das Jahrhundert vielleicht deleuzianisch sein«, da soll das nach Deleuze seitens Foucault ein Scherz gewesen sein, um die Freunde zu amüsieren und die Gegner zu provozieren; Foucault hat sich jedoch m.W. von der Äußerung niemals distanziert.
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hier wie eine Parodie des kategorischen Imperativs liest, Parodie, weil natürlich der Bezug auf ein »allgemeines Gesetz« hier gerade ausgeschlossen ist: Was immer du willst, wolle es so, dass du zugleich seine Ewige Wiederkehr willst. Als eine solche Maxime verbindet sich der Gedanke der Ewigen Wiederkehr mit dem Gedanken des Willens zur Macht zu dem Konzept einer schöpferischen Selektion des Werdens. In seinem Nietzsche-Buch sagt Deleuze wenig später: »In der ewigen Wiederkunft kehrt nicht Ein-und-Dasselbe zurück, sondern ist die Wiederkunft selbst das Eine, das allein vom Diversen und von dem sich Unterscheidenden ausgesagt wird.« (Deleuze 1976: 53) So ist für Deleuze, wie er programmatisch formuliert, die Ewige Wiederkehr die Manifestation eines Prinzips, »das den Grund des Verschiedenen und seine Reproduktion, der Differenz und ihrer Wiederholung darstellt.« (Ebd.: 55) An anderer Stelle sagt er auch – etwas gewagt als Interpretation –: »Die ewige Wiederkunft ist das Sein des Werdens.« (Ebd.: 79) Im Begriff des Werdens und den darin eingeschlossenen zeittheoretischen Aspekten der Wiederholung wird die Wiederkehr Bergsons im Werk von Deleuze greifbar. Hier nun also greifen bereits zeittheoretische Überlegungen in den Gedanken der Wiederholung ein. Denn der Interpretation von Deleuze liegt – entgegen manchen missverständlichen Äußerungen Nietzsches – eine radikale Absage an eine zyklische Zeitauffassung zugrunde. Jede moderne Zeitauffassung sieht sich dem Problem des Übergangs konfrontiert, der die Kontinuität und die Diskontinuität synthetisieren muss.6 Denn das Gegenwärtige differiert von dem Vergangenen und koexistiert doch mit ihm. Die Theorie der Zeit bei Deleuze wäre eigentlich ein ganz eigenes wichtiges Thema, es kann hier nur im hier unverzichtbaren Umfang angesprochen werden. Wie die Phänomenologie geht Deleuzes Theorie der Zeit von der Zeit-Theorie Bergsons aus und kommt doch zu ganz anderen, und in der Philosophie Heideggers sogar entgegengesetzten Konsequenzen. Ist für Husserl die Metapher des Flusses der Zeit zentral, so für Deleuze der noch zu erläuternde Begriff des Zeit-Kristalls. Aber zuvor seien die für unsere Überlegungen grundlegenden zeittheoretischen Vorstellungen aus »Differenz und Wiederholung« angesprochen. In seiner Erwägung des (Kantischen) Gedankens eines Aprioris der Zeit als Form der Anschauung unterscheidet Deleuze zunächst drei temporale Synthesen. Die erste 6 | Vgl. Röttgers 2002, 2007.
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bezieht sich auf eine gegenwärtige Zeitlichkeit, eine Zeit die »vorübergeht«. Diese Vorstellung ist insofern paradox, als sie eine gegenwärtige Zeitlichkeit konstituiert, die gerade keinen Bestand hat. Die zweite, ebenfalls von Bergson inspirierte Synthese stellt die Erinnerung ins Zentrum und den Nicht-Bestand des Gegenwärtigen. Gerade als vergangene Zeit hat die Zeit Bestand: Die Vergangenheit vergeht nicht. Zwar kann eine Erinnerung (subjektiv) verblassen, aber sie kann aufgefrischt werden, gerade weil das Vergangene (objektiv) ein An-sich-bestehendes ist. Für Deleuze ist Vergangenheit daher keine Dimension der Zeit, sondern sie ist die Synthese der Zeitlichkeit als solcher, wodurch Gegenwart und Zukunft zu Dimensionen der Zeit als Vergangenheit herabgestuft werden. Die Folge der Gegenwartsmomente ist nur in der Erinnerung gegeben, und nur die Erinnerung konstituiert die Folge der Gegenwartsmomente gemäß Prinzipien der Verknüpfbarkeiten und Ähnlichkeiten. Das Kontinuum gegenwärtigen Erlebens (Husserls »Urimpressionen«) ist für Deleuze nur möglich aufgrund von durch die Erinnerung gestifteten Ähnlichkeiten zwischen gegenwärtigem Erlebens-Inhalt und in der kristallinen Form vergangener Zeit bestehenden und erinnerten Sachverhalten. Auf diesem Grund ergibt sich eine dritte Zeit-Synthese, die die Differenz von Vergangenheit und Gegenwart in absoluter Weise festhält. Diese Zeit »durchstreift« das Subjekt und ist gewissermaßen – trotz allem Anti-Hegelianismus von Deleuze7 – eine Synthese der ersten beiden Synthesen zu einem An-und-für-sich der Zeit. In ihr wird die Gegenwart selbst zum Ort der Differenz; darin unterscheidet sie sich sowohl von Husserls einfacher Urimpression und den sich daran anschließenden Abschattungen als Origo aller Zeitlichkeit als auch von Bergsons Gegenwartszentrierung. In seiner Kant-Vorlesung vom 14.3.1978 in Vincennes verwendet Deleuze entsprechend viel Aufmerksamkeit auf die Frage, warum die Zeit (und der Raum) für Kant keine Verstandesbegriffe sind. »La position spatio-temporelle n’est pas une propriété du concept.« (Deleuze 1978a) Die Aufgabe der Begriffe (Kategorien) ist es, Vielheiten in Einheiten zusammenzufassen. Kategorien vermitteln, Anschauungsformen dagegen sind Formen der Unmittelbarkeit. Daher präsentieren Begriffe nicht, sie repräsentieren. Aber Zeit ist, darin würdigt 7 | Das zwiespältige Verhältnis von Deleuze zu Hegel hat in der Literatur vielfach Beachtung gefunden, vgl. vor allem Žižek 2004: 41ff. Im (zweifelhaften) »Antihegelianismus« von Deleuze wiederholt sich auf gewandelte Weise der unzweifelhafte (?) Antihegelianismus Kierkegaards.
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Deleuze die Kantische Revolution der Denkungsart, auch nicht eine in den Dingen oder an den Dingen vorfindliche Eigenschaft der Sukzession der Dinge untereinander. Wenn es aber eine Spannung zwischen Anschauungsformen und Kategorien gibt, dann ist das nach Deleuze folgenreich. In seiner anschließenden Vorlesung vom 21.3.1978 spricht er daher sogar von einer Spaltung des Subjekts und einer Entfremdung zwischen der Rezeptivität (der Anschauungsformen) und der Spontaneität (der Verstandesbegriffe), die es erlaubt, Rimbauds Formel »Je est un autre« auch auf das Kantische Subjekt anzuwenden (Deleuze 1978b). Um den genauen Zusammenhang von Differenz und Wiederholung zu bestimmen, muss nun allerdings doch kurz auf Bergsons Theorie der Zeit Bezug genommen werden, so wie sie Deleuze in Differenz und Wiederholung heranzieht. Es müssen grundsätzlich zwei Formen der Erinnerung unterschieden werden, die als Habitus und als Mnemosyne markiert werden. Die Gleichzeitigkeit beider führt die Differenz in die Wiederholung ein. Denn auf einer habituellen Ebene ist die Wiederholung oberflächliche, äußerliche Wiederholung von Elementen, auf einer zweiten, jedoch immer gleichzeitigen Ebene ist die Wiederholung eine tiefe, stets variable Reprise und Reproduktion. Die unvermeidliche Gleichzeitigkeit dieser Realität von Zeit als vergangener ist der Ort der Differenz, die also mehr ist als Nichtidentität auf einer der beiden Ebenen. Sie ist die Differenz zweier Ebenen und derselben Wiederholung/zweier Wiederholungen.8 Ich wiederhole: Deleuze war kein Philosophiehistoriker, sondern er wiederholt (in Differenz) andere Philosophie, weil nicht die Geschichte ihn interessiert, sondern das Werden, z.B. einer philosophischen Idee. Wie Deleuze/Guattari in Was ist Philosophie? feststellen, geht es auch heute darum, die Griechen und die griechische Philosophie zu wiederholen, »eine Wiederholung auf einer bis dahin unbekannten Stufe, in einer gewandelten Gestalt und mit anderen Mitteln…« (Deleuze/Guattari 1996: 112) Eines seiner frühen Bücher hat Deleuze Hume gewidmet, an ihm schult Deleuze den Gedanken einer Philosophie der Immanenz.9 Humes radikaler Empirismus, der keine Transzendenz mehr nötig haben möchte, erfordert offensichtlich ein eigenes Kriterium der Kontinuität der Erfahrung, das Philosophien der Transzendenz so leichtfertig im Jenseits der Immanenz 8 | Vgl. Deleuze 1968: 357. 9 | Ihn hat er natürlich von seinem Lehrer Gandillac aufgenommen. Zum Prinzip der Immanenz vgl. auch Langer 2003.
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versteckt, gesucht und gefunden hatten. Dieses Kriterium, dessen Wichtigkeit Deleuze hervorhebt, ist für Hume die Gewohnheit. Die Gewohnheitsbildung als Fähigkeit des Menschen ermöglicht es, aus der Wiederholung ähnlicher Fälle die Gewohnheit einer Erwartung abzuleiten, bzw. anzuknüpfen. Dann liefert die Erfahrung eine Wiederholung und stiftet damit eine Kontinuität. Diese Wiederholung ist nichts, was sich am Ding als solchem ereignet, es ist vielmehr der Verknüpfungsmodus von Erfahrungsgehalten durch die Fähigkeit der Gewohnheitsbildung. Wer sich wie Deleuze auf das Denken der Wiederholung einlässt, stößt nicht nur auf Nietzsches Wiederkehr des Gleichen, sondern insbesondere auch auf Kierkegaard. (Peguy wäre ein dritter Bezugs-Kandidat in dieser Reihe, auf den aber hier nicht eingegangen zu werden braucht.) Nach Kierkegaard ist es eine Einsicht der neueren Philosophie, dass das ganze Leben eine Wiederholung ist und dass eben darin das Glück bestehe. Nur die Wiederholung verleiht die »selige Gewißheit des Augenblicks«. (Constantius 1976: 330) Während die Hegel’sche, eine deutsche, Philosophie die Negation zum Zentrum der Bewegung des Denkens erwählte, ist es dänische Natur, so Kierkegaard, die unendliche Wiederholung der menschlichen Geschicke ins Zentrum des Philosophierens zu rücken.10 Die Wiederholung liegt nicht in der Natur der Dinge, und Deleuze verweist auf Gabriel Tarde, der zeigen wollte, dass der Widerspruch nur ein Sonderfall von Wiederholung sei. (Deleuze 1968: 44f.) Auch Freuds Wiederholungszwang bleibt nicht unerwähnt.11 Der eigentliche Bezugspunkt aber bleibt Kierkegaard. Bei ihm aber ist die Wiederholung weder im Physischen noch bloß im Psychischen begründet. Daher opponiert Kierkegaard zutiefst der Platonischen Lehre von der Wiedererinnerung. Die Wiederholung ist der Sinngarant menschlicher Existenz, weil sie, so auch Deleuzes Kierkegaard-Interpretation analog der Nietzsche-Interpretation, das eigentliche Sein des Werdens ist.
10 | Zu Kierkegaards Konzept der Wiederholung äußert sich Deleuze außer in »Differenz und Wiederholung« insbesondere auch in: Deleuze 1956. 11 | Wieviel Freud Nietzsche schuldete dazu vgl. Dimitrov/Jablenski 1967, die Wiederholung wird dort allerdings nicht als eine Wiederholung Nietzsches durch Freud erwähnt. Die früheste Formulierung des Wiederholungszwangs bei Freud bezeichnet die Wiederholung als eine »Art zu erinnern«, nämlich die des Kranken. Freud 1978: 519.
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Das Hauptwerk von Deleuze, »Differenz und Wiederholung« zieht aus diesen Anschlüssen an Nietzsche, Kierkegaard (und Peguy) die Konsequenzen. Allen diesen Bezugstheorien sei eines gemeinsam eigen: »Sie stellen die Wiederholung allen Formen der Allgemeinheit gegenüber.« (Deleuze 1968: 20) Wiederholung wird geradezu als Gegenteil der Etablierung oder der Anwendung eines allgemeinen Gesetzes (epistemisch oder als Sittengesetz) herausgestellt, sie erscheint als die Seinsweise der Singularitäten. Ihre Formen sind Spiegelungen und Echos. Jenseits von Spiegelndem und Gespiegeltem gibt es in einer konsequent immanentistischen Philosophie, die das Sagen nicht ins Jenseits des Gesagten stellt, nicht ein Allgemeines, das den Oberbegriff für beide Singularitäten abgäbe. Auch bei Kierkegaard sei das der Grund, die Wiederholung der Allgemeinheit der Naturgesetze entgegenzustellen. Deleuze erwartet von der Form der Wiederholung, dass sie Universales und Singuläres so vermittelt, dass die Allgemeinheit des Gesetzes (des Naturgesetzes ebenso wie des Sittengesetzes) damit unterlaufen wird. Denn die Allgemeinheit im Hinblick auf Einzelnes und den Einzelnen ist die Subsumtion und die Unterwerfung. Die Wiederholung dagegen folgt der Logik des Anschlusses, also der Konjunktion. Dass Universales und Singuläres in der Form einer Konjunktion, und das heißt auch auf einer Immanenzebene, miteinander verbunden zu denken sind, das ist die starke These einer Philosophie der Wiederholung. Der Allgemeinheit entspricht ein Theater der Repräsentation, etwas steht für etwas anderes, und auch: ein Phänomen steht für eine Idee. Der Wiederholung dagegen entspricht ein Theater der Bewegung. In Jacques Rivettes Film-Opus Out 1 sind diese zwei Formen des Theaters in ihrer Performanz konfrontativ vorgeführt. Die Inszenierung einer Repräsentation versucht zunächst, den Sinn zu identifizieren und dann eine Inkarnation dieses Sinns einzustudieren. Am Anfang steht also hier die Diskussion oder die Deklaration der Sinnvorgabe, dann folgt die Umsetzung in ein dramatisches Handeln. Sinn manifestiert sich in Repräsentation. Eine Inszenierung gemäß der Logik der Wiederholung setzt die Bewegung der Körper der Schauspieler an den Anfang, wie es auch die Theater-Theorie von Stanislawskij vorsieht.12 So wird der Bewegungsbegriff von Bedeutung für die Form der Wiederholung. Und Deleuze fragt sich, was es heißt: eine Bewegung machen, »oder was es heißt, zu wiederholen, die Wiederholung 12 | Stanislawskij 1991; sekundieren ließe sich das durch die sportphilosophischen Überlegungen von Volker Schürmann, vgl. Schürmann/Fikus 2004.
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zu erlangen.« (Deleuze 1968: 27) Die beiden dafür einschlägigen Denker, Nietzsche und Kierkegaard, geben darauf augenscheinlich verschiedene Antworten: den Tanz und den Sprung. Worauf es nach Deleuze (und Guattari) letztlich ankäme, wäre, einen solchen Übergang in der Philosophie zu inszenieren, der die Bewegung nicht nur anders beschreibt, sondern die Bewegung selbst ins Werk setzt, ein Philosophieren, das ohne Vermittlungen sich selbst als Werk will, ein Philosophieren, das als Singularität das differentielle Ereignis Begriff werden lässt. Darin erweist sich Deleuzes Philosophieren als extrem konsequente Immanenzphilosophie.13 Und für ein solches Philosophieren gibt der schreitende oder tanzende Zarathustra Nietzsches die Figur ab. Für Sprung steht Kierkegaard ein, für Tanz Nietzsche. Eine Auseinandersetzung mit der Wiederholung bei Kierkegaard ist nicht ganz einfach, weil der pseudonyme Verfasser Constantin Constantius, wie sein Name schon verrät, die Veränderung verabscheut und deswegen in die Wiederholung (unglücklich) verliebt ist. Er möchte nicht nur, dass sich die Dinge wiederholen, sondern auch, dass sie dadurch der Veränderung widerstehen. Aber er zweifelt und macht deswegen ein Selbstexperiment. Er fährt nach Berlin, wo er schon einmal war, und versucht dort, dasselbe, z.B. im Theater, noch einmal zu erleben. Der Versuch, wie nicht anders zu erwarten, misslingt. Aber am nächsten Abend geht er wieder ins Theater und wiederholt so den Versuch. »Das einzige, was sich wiederholte, war die Unmöglichkeit einer Wiederholung. […] ich hatte entdeckt, dass es die Wiederholung überhaupt nicht gab, und dessen hatte ich mich vergewissert, indem ich es mir auf alle mögliche Weise wiederholen ließ.« (Constantius 1976: 378f.)
Dass diese Aussage paradox ist, macht eine andere Lesart als die einer theoretischen Aussage erforderlich, die letztendlich die Wiederholung als eine Kategorie des Übergangs erscheinen lässt, indem die Performanz des Textes seine Aussage widerruft – der von manchen ängstlichen Philosophen perhorreszierte sogenannte performative Selbstwiderspruch. So ist 13 | Es ist signifikant, dass einige der wichtigsten philosophiehistorischen Studien von Deleuze Philosophen der Immanenz gewidmet sind: Zwei Werke über Spinoza, zwei über Nietzsche, eines über den Empirismus Humes und eines über den Bergsonismus, vgl. Langer 2003.
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der Text Kierkegaards, alias Constantius, nicht wirklich eine Theorie über die Wiederholung, aber sie enthält gleichwohl zitable theoretische Sätze wie folgende: »Doch muß ich immerzu wiederholen, daß ich dies alles aus Anlaß der Wiederholung sage. Die Wiederholung ist jene neue Kategorie, die es zu entdecken gilt. Wenn man etwas von der neueren Philosophie kennt und mit der griechischen nicht ganz unbekannt ist, dann wird man leicht gewahr, daß diese Kategorie gerade das Verhältnis zwischen Eleaten und Heraklit erklärt und daß die Wiederholung eigentlich das ist, was man irrtümlich als Mediation [d.i. als Vermittlung im Sinne Hegels, K. R.] bezeichnet hat. Es ist unglaublich, wieviel Wesens man in der Hegelschen Philosophie von der Mediation gemacht und wieviel törichtes Geschwätz sich unter dieser Firma des Ruhms und der Ehren erfreut hat. […] Mediation ist ein ausländisches Wort, Wiederholung ist ein gut dänisches Wort, und ich gratuliere der dänischen Sprache zu einem philosophischen Terminus. […] Die Dialektik der Wiederholung ist leicht; denn was wiederholt wird, ist gewesen, sonst könnte es nicht wiederholt werden, aber gerade daß es gewesen ist, macht die Wiederholung zu etwas Neuem.« (Constantius 1976: 351)
Die eigentliche Wiederholung aber ereignet sich bei Kierkegaard als Text: Nach etwa 55 Seiten endet der sonst nicht gegliederte Text und beginnt neu mit der »neuen« Überschrift »Die Wiederholung«, in der Performanz des Textes wiederholt sich die Wiederholung.14 Die Reflexion der Wiederholung gehört bei Kierkegaard in den Zusammenhang einer Philosophie des Übergangs, die sich bei ihm insbesondere als Bedenken des Sprungs äußert. Von der Art ist nach Lessing auch der Übergang von »zufälligen Geschichtswahrheiten« zu »notwendigen Vernunftwahrheiten; es ist ein »Sprung« über einen »garstigen breiten Graben«, den er selbst zwar oft versucht habe, der ihm aber nie gelingen wollte. (Lessing 1969: 4, 6) Mit dieser Lessing’schen Metaphorik des Übergangs als eines Sprungs über einen Graben setzt sich Kierkegaard intensiv auseinander und stellt fest, dass es gerade das Zögern vor dem Sprung ist, das den Graben unüberwindlich macht: »Ganz nahe an etwas gewesen zu sein hat schon seine komische Seite, aber ganz nahe daran gewesen zu sein, den Sprung zu machen, ist überhaupt nichts, gera14 | Vgl. Strowick 2004.
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de weil der Sprung die Kategorie der Entscheidung ist. Und nun gar mit äußerstem Ernst den Sprung haben machen wollen – ja, es ist ein Schelm, dieser Lessing […].« (Kierkegaard 1957: 91)
Das von Kierkegaard ironisierte Lessing’sche Zögern vor und die Unfähigkeit zu einem Sprung (nämlich in die Transzendenz eines Glaubens) wird von diesem selbstironisch auf seine »alten Beine und […] schweren Kopf« zurückgeführt. (Jacobi 1980: 74) Für Kierkegaards existentielles Denken ist der Sprung (im Denken des Übergangs) unausweichlich, aber ebenso notwendig ist die Kontinuitätssicherung der Übergänge durch Wiederholung (des Sprungs). Nur da, wo sich Wiederholung und Differenz nicht entsprechen, wo also etwas als Wiederholung einer Ordnung oder in einer Ordnung auftritt, dort wird die Ordnung des Allgemeinen begründet. Allerdings wird es auch notwendig, zwei Formen von Wiederholung zu unterscheiden: eine solche, die eine Identität des Begriffs darstellt und die bei genauerer Betrachtung dann doch keine Wiederholung sein kann, und eine Wiederholung durch Differenz und einen Exzess. Die eine betrifft nur die »abstrakte Gesamtwirkung«, die andere die »Wirkursache«. Die erste ist statisch, die zweite dynamisch. Die erste gestattet eine bloß äußerliche Differenz, die andere dagegen ist »Wiederholung einer inneren Differenz«. (Deleuze 1968: 38) Letztere schließt jede Form von Repräsentation aus. Deleuze veranschaulicht diese Unterscheidung durch den Rhythmus. Die statische Differenz entspricht dem Metrum: »eine regelmäßige Zeiteinteilung, eine isochrone Wiederkehr identischer Elemente.« (Ebd. 39) Aber anders als Deleuze an dieser Stelle von Differenz und Wiederholung würde ich das noch nicht als einen Rhythmus bezeichnen, sondern erst das, was Deleuze dann eine »Polyrhythmie« nennt: die Bewegung zweier Zeiten, durch die Intensitäten, Inkommensurabilitäten im Vergleich zu einem rein metrischen Takt sich erzeugen. »Das Metrum ist nur die Hülle eines Rhythmus und ein Verhältnis von Rhythmen. Die Reprise von Ungleichheitspunkten, Extrempunkten und rhythmischen Ereignissen reicht tiefer als die Reproduktion homogen gewöhnlicher Elemente.« (Ebd.)
Insofern ist die vermeintliche identische Wiederholung des Selben nur ein Schein, hinter dem sich die Wiederholung als Differenz verbirgt. Für
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Deleuze ist durchaus auch der erste Typ von Wiederholung eine Wiederholung, weil auch dieser sich der Repräsentation von Allgemeinheit und Gesetz entzieht; etwas mystifizierend spricht er in dem Zusammenhang noch von einem »geheimen Subjekt«, das sich in den wiederholten Objekten verbirgt: »das sich über sie wiederholt, das wahre Subjekt der Wiederholung.« (Ebd.: 42) In beiden Fällen aber bedeutet Wiederholung Differenz und nicht einfache Identität. Im ersten Fall ist die Differenz äußerliche Beziehung zwischen Objekten, im zweiten Fall ist sie der Idee immanent. Während die erste jedoch auch als Identität des Begriffs ausdrückbar ist, ist das für die zweite, weil sie die Entwicklung der Idee ist, nicht möglich. Befindet sich aber die dynamische Wiederholung im Inneren auch jeder statischen, dann heißt das, dass in beiden Formen von Wiederholung die Differenz des Anderen vom Selben aufzufinden ist. Aber Deleuze ist natürlich kein Hermeneutiker, der etwa den tiefen verborgenen Sinn jenseits des Offenkundigen suchte. Im Gegenteil: Die Verkleidung, die Maske ist die »Wahrheit des Nackten«. (Ebd. 43) Allen eifrigen Demaskierern und Demaskiererinnen wäre entgegenzuhalten, dass die dynamische Wiederholung sich entfaltet, entwickelt, nur indem sie sich einkleidet und damit verkleidet.15 In diesem Sinne können Deleuze/Guattari sogar sagen, dass der (philosophische) Begriff ein Ritornell sei.16 Er ist deswegen ein solches, weil er eine »Heterogenese« ist, das Werden seiner Komponenten und der Differenzlinien, die ihn durchqueren und ihn mit anderen in Verbindung setzen. Und dieses Durchlaufen wiederholt sich immer wieder von neuem. Worauf Deleuze an dieser Stelle überhaupt nicht eingeht, obwohl er es natürlich bestens kennt, ist Bergsons Unterscheidung zweier Formen von Gedächtnis, eines repräsentierenden und eines wiederholenden. Vermutlich fehlt hier dieser Verweis, weil er für Deleuzes eigene Konzeption extrem irritierend wäre; denn das, was Bergson relativ abwertend das bloß motorisch wiederholende Gedächtnis nennt, ist ja gerade das, worauf Deleuzes Theorie der Wiederholung als Differenz aufbaut, und dasjenige, was Bergson schätzt, ist gerade das, was bei Deleuze als Repräsentation 15 | Zu Demaskierungen vgl. Röttgers 2009a sowie Röttgers 2009b. Den in »Differenz und Wiederholung« entwickelten Zusammenhang von Wiederholung und Maskierung nimmt Foucault zwei Jahre später in » L’ordre du discours », sei ner Inauguralvorlesung am Collège de France als Deutung des Kommentars wieder auf: Foucault 1973: 27: »répétition masquée«. 16 | Vgl. Deleuze/Guattari 1996: 27.
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eines Allgemeinen problematisch wird. Bei Bergson gleicht das bloß wiederholende Gedächtnis einer Gewohnheit oder einer Bewegungs-Routine des Körpers.17 Das repräsentierende Gedächtnis ist für Bergson das eigentliche Gedächtnis. Es ist für Bergson deswegen so wichtig, weil wir nur die Vergangenheit wahrnehmen, d.h. für ihn repräsentieren können: »à vrai dire, toute perception est déjà mémoire. Nous ne percevons, pratiquement, que le passé, le présent pur étant l’insaississable progrès du passé rongeant l’avenir.« (Bergson 1946: 167) Wahrgenommene Gegenwart ist Vergangenheit, ein Inhalt des repräsentierenden Gedächtnisses. So ist die Gegenwart in jedem gegenwärtigen Moment verdoppelt: Gegenwart, die vergeht, und Gegenwart, die schon vergangen ist. Diese Verdoppelung der Gegenwart von ihrem Vergehend- und von ihrem Vergangen-Sein, sobald sie als Gegenwart wahrgenommen wird und bloßer bewusstloser Vollzug des Augenblicks ist, nennt Deleuze Zeit-Kristall. Und wieder18 war es nach Auskunft von Deleuze Félix Guattari, der gesagt habe, »que les cristaux de temps ce sont les ritournelles, c’est ces opérations perpétuelles par lesquelles un présent se dédouble.« (Deleuze 1983) Der Begriff des Ritornells als Gestalt der Wiederholung wird explizit eingeführt in Mille Plateaux. Geht man als erstes von einem Territorium aus, so ist der zweite Aspekt derjenige der Deterritorialisierung, die ein Territorium durchzieht und fügt. Die Deterritorialisierunglinien können ein Territorium zu einem anderen hin öffnen und Übergänge schaffen. So geht etwa die Territorialität eines Tieres zum »Ritornell« des Liebeswerbens über. Oder aber die Territorialität öffnet sich zu einem »Lied der Erde«. Mit dem Bezug der Wiederholung als Ritornell auf die Gefüge von Territorialität, Deterritorialisierung und Reterritorialisierung, also als eine Geo-Philosophie19 gibt die Philosophie als Wiederholung den Cartesianismus der Subjekt/Objekt-Spaltung auf.20 Philosophie ist territorial einge17 | Vgl. Bergson 1946: 83ff. 18 | Wie ja bereits der Begriff »Rhizom« nach Aussage von Deleuze von Guattari stammt. Deleuze 2003: 60. 19 | Vgl. Deleuze/Guattari 1996: 97ff. 20 | Mit der Verabschiedung dieser Spaltung gibt Deleuze allerdings den Subjekt-Begriff nicht gänzlich auf, was jedoch aufgegeben ist in aller Philosophie, die Nietzsche auch nur zur Kenntnis genommen hat, ist die Vorstellung einer Vorgängigkeit des Subjekts. Daher ist das Subjekt nicht länger Erklärungsgrund, sondern selbst ein zu Erklärendes, so wie bei Nietzsche der »Thäter« nicht vor der
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bunden und wiederholt sich, aber ohne auf einer bestimmten Ebene zu bleiben, in der Wiederholung wird sie vielmehr: nicht Monotonie des Selben, sondern das Ritornell als Gestalt territorialer Differenz. Die Wiederholung ist der Prozess des Anders-Werdens. Konsolidiert sich in diesen Prozessen etwas, so ist es vom Typ der verbundenen Mannigfaltigkeiten in der Art des Rhizoms. (Deleuze/Guattari 1980: 9-37) Nicht das Subjekt wiederholt sich, sondern was sich wiederholt, bildet ein Zwischen (»commencer par le milieu!«), aus dem der Gedanke eines Ursprungs – ebenso wie der eines Telos – verbannt ist. »Es« wiederholt sich, dazu bedarf es keiner vorgängigen Absichten von Subjekten. Solches lässt den Gedanken der Heimat nicht unberührt; auch sie ist jetzt nicht mehr Ursprung, von dem man herkommt. »Jetzt ist man indes daheim. Aber dieses Zuhause war nicht von vornherein da: erst mußte ein Kreis um das labile und unbestimmte Zentrum gezogen, ein abgegrenzter Bereich geschaffen werden.« (Deleuze/Guattari 1992: 424) Über die immanenten Strukturen eines Territoriums lässt sich solange nichts sagen, solange wir es nicht betreten haben, solange sich also nicht Linien der Deterritorialisierung in es hinein erstrecken, solange wir also nicht unterwegs dorthin oder von dorther uns befinden. »Der Übergang des Ritornells. Das Ritornell bewegt sich auf das territoriale Gefüge zu, läßt sich dort nieder oder verschwindet. Ganz allgemein bezeichnet man als Ritornell jedes Ensemble von Ausdrucksmaterie, das ein Territorium absteckt und das sich in territorialen Motiven und Landschaften [im Original: en paysages territoriaux, K.R.] entwickelt (es gibt motorische, gestische, optische und viele andere Ritornelle). Im engeren Sinne spricht man vom Ritornell, wenn das Gefüge klanglich ist oder vom Klang »beherrscht« wird – aber warum dieses scheinbare Privileg?« 21 (Deleuze/Guattari 1992: 440; Deleuze/Guattari 1980: 397)
In Was ist Philosophie? sagen Deleuze/Guattari daher, dass die Kunst nicht mit dem Leib beginne, sondern mit dem Haus, Architektur als erste Kunst.22 Erst die Rahmung lässt das Ritornell zu. Aber bereits die Territorien der Tiere sind Blöcke, die ein Milieu (ein Zwischen) bilden, in dem »That« ist und sich zu ihr entschließt, sondern nur in der »That«, d.h. nur insofern sie geschieht. 21 | Die deutsche Übersetzung ist nicht überall zuverlässig. 22 | Vgl. Deleuze/Guattari 1996: 218ff.
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sich Wiederholungen ereignen. Rahmungen schaffen sowohl Zwischenräume als sie auch die Deterritorialisierungbedingung sind. Der Gesang eines Vogels mag als ein Beispiel dienen: er ist ein homophones Ritornell und markiert zugleich ein Territorium. Ebenso zugleich aber ist es der Raum, das Milieu, die »Antwort« eines anderen. Gäbe es das Milieu nicht, dann gäbe es auch den »ersten« Gesang nicht. In doppelter Abwandlung der phänomenologischen Redeweise vom In-der-Welt-Sein (Heidegger) oder vom »Être-au-monde« (Merleau-Ponty) sprechen Deleuze/Guattari daher vom Mit-der-Welt-Werden. Künstler-Sein ist dementsprechend Sehender-Sein und Werdender-Sein. Im Künstler-Sein zeigt »es« sich. Es also: Es wiederholt sich – Aber ich möchte mich nicht wiederholen…
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Das Wörtchen ›und‹ Zur Entdeckung der Konjunktion als philosophische Methode 1 Mirjam Schaub
»Das ›und‹, die Möglichkeit dieses Zwiespalts und all dessen, was er verschlossen hält, ist das Entscheidende.« (Heidegger 1971: 117)
1. V orbemerkung Interdisziplinarität und ein hoher Grad an Vernetzung zählen zu den Strategien, angesichts knapper Zeitressourcen Wissenszuwächse auf geisteswissenschaftlichem Gebiet zu erzielen. In keinem Forschungsantrag darf das Bekenntnis zu einer Arbeitsweise fehlen, welche den berühmten ›Blick über den eigenen Tellerrand‹ riskiert. Was allerdings genau geschieht, wenn unterschiedliche, vielleicht sogar verfeindete oder aneinander desinteressierte Theorietraditionen, Denkschulen und Wissenschaftssprachen miteinander zu agieren beginnen, ist vergleichsweise unerforscht. Auf den ersten Blick leuchtet nicht ein, warum die künstliche Verbindung des Verschiedenen per se erfolgversprechender, d.h. innovativer und explikativer sein soll, als die natürlichen Verstärkereffekte des Ähnlichen. Auch ist unklar, wie die fundamentale Kluft in den Grundannahmen, den Herangehensweisen und dem Erkenntnisinteresse zwischen den unterschiedli1 | Johannes-Georg Schülein und Michael Mayer haben in den vergangenen zwei Jahren das Thema immer wieder mit mir diskutiert. Herzlichen Dank.
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chen Disziplinen praktisch überbrückt wird, wie und warum es überhaupt zu einem gegenseitig befruchtenden Dialog kommen kann. Der theoretische Schlüssel zu einer Praxis des Interdisziplinären ist womöglich nicht im Wörtchen ›zwischen‹ verborgen, sondern in dem Wörtchen ›und‹ versteckt, das immer dann zum Vorschein kommt, wenn das Verschiedene so miteinander in Verbindung gebracht wird, dass die Unterschiede nicht eilfertig zugunsten eines höheren/abstrakteren oder niederen/konkreten Dritten aufgehoben werden. Produktiv scheint die Begegnung des Verschiedenen vielmehr dann zu sein, wenn der schiere Kontakt allein nahe legt, einen veränderten Blick auf das je Eigene werfen zu müssen. Eine Schärfung der eigenen disziplinären Bewusstheit könnte das wichtigste – wenn auch ein unbeabsichtigtes – Produkt des interdisziplinären Kontakts sein. Die Kunst der produktiven Verbindung des Verschiedenen, ohne die Verschiedenheit zu leugnen oder zu nivellieren, rückt damit ins Zentrum einer Philosophie der Konjunktion. Wie kann Heterogenes mit- und zueinander in ein produktives Verhältnis gesetzt werden, wie miteinander agieren?
2. D as U ndisziplinierte , das übrig bleibt Aus der Philosophie mit ihrer mehr als zwei Jahrtausende alten Diskussionskultur und Traktatgeschichte sind historisch betrachtet viele der modernen Einzelwissenschaften (wie etwa die Physik und die Psychologie) hervorgegangen. Philosophie wäre so verstanden das Un-Disziplinierte, das schlackenartig übrig bliebe, nachdem sich neue Disziplinen erfolgreich methodisch geeinigt und abgespaltet haben. »Jene, die ihre Arbeit nicht anpassen wollen oder können [an ein neues Wissenschaftsparadigma], müssen alleine weitermachen oder sich einer anderen Gruppe anschließen. Historisch gesehen, sind sie oft einfach in den Gehegen der Philosophie geblieben, aus denen so viele Spezialwissenschaften hervorgegangen sind. Wie diese Hinweise andeuten, ist es manchmal nur die Annahme eines Paradigmas, durch welche eine vorher lediglich am Studium der Natur interessierte Gruppe in eine Fachwissenschaft oder zumindest eine Disziplin umgewandelt wird.« (Kuhn 1962: 39)
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Die Philosophie ist jedoch nicht nur ein ›Abstellgleis‹ für solche, die einen Paradigmenwechsel nicht mitmachen wollen, sondern sie kündigt sich stets von Neuem an, wenn ein altes Paradigma ins Wanken gerät. Derartige ›Krisen‹ des Wissens gehen immer mit einem Reflexivwerden, ›Philosophisch-Werden‹ einer Einzeldisziplin einher. So ist die Philosophie eben auch – mit Thomas Kuhn gedacht – das Reservoir an Ideen, das nötig wird, wenn die ›Wahrheiten‹ einer Disziplin unhaltbar werden und ein Paradigmenwechsel unausweichlich wird. Statt eine Hierarchie der Methoden zu zementieren, hat die Philosophie das Nebeneinander von rationalistischen/noumenalen, sensualistischen/empiristischen und skeptischen Strömungen geduldet und damit einen Kanon an Verfahren ausgebildet, mit dem sie sich mit der Nicht-Philosophie in Verbindung setzt. Gleichzeitig ist die Philosophie – auf ihren eigenen Kanon bezogen – eine genuin dissonante Wissenschaft ohne greifbares Fortschrittsinteresse geblieben. (Das ist die gute Nachricht). Die schlechte folgt sogleich: vielfach herrscht Sprachlosigkeit, Desinteresse, wenn nicht offene Feindschaft zwischen den philosophischen Schulen. Angesichts dieses disparaten Ausgangsbefunds verspricht die Frage Brisanz: Welchen Schatz an Wissen hält die Philosophie, die ihre eigene irritierende Vielfalt gerade durch das Beharren auf der Nicht-Verbindung wahrt, über die ›Kunst der Konjunktion‹ parat, welche für das Gelingen des interdisziplinären Versprechens so entscheidend ist? Nimmt man die Beliebtheit in kulturpolitischen, ästhetischen und kunstphilosophischen Kontexten als Richtschnur, dann scheint Gilles Deleuze mit seiner Philosophie ein besonders produktives theoretisches Instrumentarium bereitzuhalten, um dieser Frage näher zu kommen. Offenbar trifft sein Denken – das sich in mehr als 20 Monographien über Philosophen, Denkschulen, Filme und Gemälde erstreckt – den ›Nerv‹ der gegenwärtigen Vernetzungsbemühungen. Diesem Aktualitäts- und Anwendungsdruck ausgesetzt, erscheint es jedoch gleichzeitig verwundbar und prädestiniert für Missverständnisse.2
2 | Manfred Franks frühe Polemik in Was ist Neo-Strukturalismus? hat hierzulande den Generalverdacht der Subjektfeindlichkeit genährt; überboten nur von Sokals/Bricmonts spätem Pauschalvorwurf an die postmodernen Denker, sie wilderten schamlos im Terrain der Naturwissenschaften, um unter anderen Dilettanten Eindruck zu schinden. Vgl. Frank 1984: 455-497, dazu auch Sokal/Bricmont 1999: 177-192.
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3. D as P rogr amm Folgt man Deleuzes eigenen Ausführungen, verdient ein philosophisches Buch gelesen zu werden, wenn es einen kritischen, einen ergänzenden und einen erneuernden Impuls vereint: weil die bisherigen Arbeiten und Diskussionen über ein ähnliches oder verwandtes Thema einer Art Grundirrtum aufsitzen; oder weil bislang etwas Wesentliches über das Thema vergessen worden ist, und weil man hofft, ein bestimmtes philosophisches Problem mit Hilfe eines neuen Begriffs erhellen zu können.3 Von dem Versuch, sich dem Denken von Gilles Deleuze als einem der Konjunktion zu nähern, könnten ähnliche Impulse ausgehen. Zum Beispiel diese drei: (Ad 1) Kritisch ist eine solche Perspektive insofern, als sie weder die besonders in Architekten- und in Künstlerkreisen gepflegte emphatische Aneignung einiger deleuzianischer Schlüsselbegriffe – ›Deterritorialisierung‹, ›Rhizom‹, ›Ununterscheidbarkeitszone‹ – zu teilen vermag, noch die polemische Anfeindung und frenetische Ablehnung für gerechtfertigt hält, wie sie die Philosophie von Deleuze reflexartig unter bestimmten Naturwissenschaftlern oder Subjektphilosophen auslöst. Das Grundmissverständnis, dem sowohl die voreilige Bejahung wie Verneinung aufsitzt, scheint die distanzlose Anwendbarkeit und instantane Applikation des deleuzianischen Denkens (auf die Architektur, die Kunst oder die Subjektphilosophie) zu sein. Womöglich hat Deleuzes eigener, bis an die Schmerzgrenze offener Vortragsstil, hat der antiautoritäre Gestus seines Philosophierens den trügerischen Eindruck hinterlassen, hier produziere einer am laufenden Band Begriffe, die schon ready to go seien. (Ad 2) Zu lange hat man vergessen, zu fragen, was es mit der Fluktuation und Proliferation der Begriffe bei Deleuze eigentlich auf sich habe. Man hat versäumt zu fragen, ob der irritierende Reichtum an neuen und völlig heterogenen, ja scheinbar unkompatiblen Begriffen strategisch und methodisch zu deuten sei, etwa als ein provokanter Versuch, die Verhärtung des Denkens in Leitdifferenzen gezielt zu umschiffen, um ein prozesslogisches und vollzugsorientiertes Philosophieren in der Nachfolge von Whitehead und Peirce in Gang zu setzen. Deleuzes Begriffsreichtum 3 | Vgl. Villani 1996: 151f.
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könnte dann als eine methodische Grundentscheidung verstehbar werden, als eine unorthodoxe Prüfung von philosophischen Sachverhalten, die wie auf einer ›Streckbank‹ die verschiedenen Instrumente gezeigt bekommen, um ihre dadurch induzierte Neuperspektivierung zu studieren.4 (Ad 3) Ins Zentrum rücken also nicht allein die philosophischen Begriffe selbst, sondern eher das verschwindend kleine ›und‹, was sie trotz seiner eigenen Nichtigkeit verkettet. Während die Forschungstätigkeit vielfach darin besteht, die wechselvollen methodischen Selbstbeschreibungen von Deleuze – wie die paradoxe Formel ›transzendentaler Empirismus‹ (wie 1968 in Differenz und Wiederholung), sein taxonomisch-genealaogisch-kritischer Zugang (wie er ihn im Nietzsche-Buch von 1962 projektiert) oder die Figur der ›Gegenverwirklichung‹ (contre-effectuation) aus Logik des Sinns (1969) – einer Prüfung zu unterziehen, mit oft ernüchterndem Resultat, sei hier die implizite philosophische Begriffs- und d.h. Denkpraxis von Deleuze untersucht. Eine ›Theorie‹ der Konjunktion ergibt sich bei Deleuze aus eben dieser Praxis, die in seinem Werk erst nach und nach – gleichsam im schützenden Windschatten des ungleich prominenteren Begriffs der Maschine – den Charakter einer bewusst eingesetzten Methode annimmt.5 Deleuze erklärt 1976 in den Cahiers du Cinéma (Nr. 271) ebenso diagnostisch wie programmatisch: »Die Philosophie ist überfüllt mit Diskussionen über das Zuschreibungsurteil (Der Himmel ist blau) und das Existenzurteil (Gott ist), über die Möglichkeit der Zurückführung des einen auf das andere oder ihre Nichtzurückführbarkeit. Aber immer geht es um das Verb ›sein‹. Selbst die Konjunktionen werden an diesem Verb gemessen, beim Syllogismus ist das deutlich zu sehen. Eigentlich haben erst die Engländer und die Amerikaner die Konjunktion befreit und über die Relationen nachgedacht. Wenn man allerdings aus dem Relationsurteil einen eigenständigen Urteilstyp macht, merkt man auf einmal, dass es sich überall einschleicht, dass es alles durchdringt und zersetzt. […] das UND ist nicht einmal mehr eine 4 | Jeder Begriff hat nur einen »gewissen Aktionsradius«, um einen ›lokalen‹ Sachverhalt zu lösen. Die Begriffe »verändern sich selbst mit den Problemen. Sie besitzen Einflußsphären, auf die sie […] mittels einer gewissen ›Grausamkeit‹ einwirken.« Deleuze 1968: 13. 5 | Für die Entwicklung ist, wie wir noch sehen werden, die initiale Auseinandersetzung mit David Hume unverzichtbar.
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besondere Konjunktion oder Relation, es reißt alle Relationen mit sich fort, es gibt so viele Relationen wie UNDs, das UND bringt nicht nur alle Relationen ins Wanken, es bringt das Sein ins Wanken, das Verb … etc. Das UND, ›und … und… und‹, ist genau das schöpferische Stottern, der fremde Sprachgebrauch, im Gegensatz zum konformen und herrschenden Sprachgebrauch, der sich auf das Verb ›sein‹ stützt. Selbstverständlich, das UND ist die Mannigfaltigkeit, die Vielheit, die Zerstörung der Identitäten.« (Deleuze 1990: 67ff.)
Statt die begriffliche Zersetzung durch den wuchernden Einsatz des ›und‹ schlicht als Schwäche oder als Mangel an philosophischer Entschiedenheit auszulegen, will ich im folgenden der Intuition nachgehen, dass es sich dabei um eine bewusste, methodische Entscheidung handeln könnte; eine Entscheidung, die eng mit dem zusammen hängt, was sich programmatisch als Deleuzes Entdeckung der Konjunktion als Methode bezeichnen lässt. Ziel dieser Methode ist es, kanonisch gewordenes Denken ›aus der Reserve‹ zu locken, indem Begriffe aus heterogenen Wissenschaften (wie der Geologie, der Psychoanalyse, der Linguistik) wie Testballons in ein altbekanntes philosophisches Problemfeld eingeführt werden, wie etwa in die dritte Kantische Kritik, die spinozistische oder leibnizsche Philosophie. Der Verbindung heterogener Begriffswelten haftet dabei durchaus etwas Experimentelles, Künstliches und Voluntaristisches an. (Wir werden sehen, warum.) Die Frage ist, was genau aus dieser mitunter gewaltsamen Konfrontation folgt. Wie gelingt es Deleuze, etwas Stichhaltiges und Neues über die philosophischen Klassiker zu sagen? So kritisch seine Bücher zur Psychoanalyse aufgenommen wurden (wie der Anti-Ödipus, 1972 zusammen mit Félix Guattari verfasst),6 so einhellig sind seine Monographien zu Spinoza, 6 | In dem Buch von Frank (1984: 400-519) nehmen die Vorlesungen 20. bis 25. auf den Anti-Ödipus und die damals noch unübersetzten Bücher Mille Plateaux und Différence et Répétition Bezug. Die Arbeiten mit Guattari werden von Frank aus subjektphilosophischer Hinsicht harsch angegriffen, letzteres ob seiner »ungleich anspruchsvolleren und differenzierteren Argumentation« (ibid., 455) gelobt, eine wirkliche Auseinandersetzung aber vermieden durch einen überlangen Exkurs zu Searles type-token-Unterscheidung, die dem deleuzianischen Differenz-und-Wiederholungsmodell sprachanalytisch eng auf den ›Leib‹ geschneidert werden soll. Stefan Hesper ist über Franks Faschismusvorwurf (genannt wird der 1993 erschienene Band Conditio moderna) so erbost, dass er schreibt: »Frank
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Leibniz, Kant, Nietzsche und Bergson unter den jeweiligen Experten anerkannt. Dieser Befund spricht dafür, dass Deleuze etwas in den Texten der Klassiker ausfindig macht, was dort wirklich angelegt ist. Dabei geht es für Deleuze immer darum, dem strengen und »doppelten Ideal der wechselseitigen Wiederholung des alten und des gegenwärtigen Textes« (Deleuze 1990: 14) zu genügen. Sein erklärtes Ziel ist es, eine Neuverkettung auszulösen, die überraschend und auf den ersten Blick abwegig, aber der Sache nach gerechtfertigt und triftig ist. Um es in den drastischen Worten des Philosophen selbst zu sagen: Es geht darum, einem Autor ›ein Kind zu machen‹, das ›monströs‹, aber trotzdem erkennbar ›seines wäre‹.7
4. K onkre te K onjunktionen Seine eigene Methode beschreibt Deleuze in seiner Habilitationsschrift, Differenz und Wiederholung, als den Versuch, das philosophische Ausgangswerk durch seine wiederholende Nacherzählung in maximale Differenz zu sich selbst zu bringen. Man müsse dahin gelangen, »ein wirkliches Buch der Philosophiegeschichte so zu erzählen, als ob es ein imaginäres und fingiertes Buch wäre« (Deleuze 1968: 14). Deleuze pflegt fortan ein unerschrockenes, experimentelles Verhältnis zur Kunst der Verbindung, d.h. er fürchtet sich nicht davor, dass eine Verbindung scheitern könnte (obwohl das fraglos auch geschieht). Er hält sie für riskant, aber auch für interessant, denn oft hält sie eine ›andere‹ Lehre oder Überraschung für den Autor selbst bereit. Stets ist die Konjunktion das Ergebnis einer mehr oder minder zufälligen oder willkürlichen Koppeargumentiert nicht, er setzt Signale. […] Begriffe, die Frank nicht versteht, recherchiert er erst gar nicht, um sie nicht zu verstehen.« Hesper 1994: 10. 7 | In seiner Antwort an Michel Cressole (1973) heißt es erklärend hierzu: »Die Philosophiegeschichte übt in der Philosophie eine ganz offenkundig repressive Funktion aus, sie ist der eigentlich philosophische Ödipus: ›Du wirst doch wohl nicht wagen, in deinem Namen zu sprechen, bevor du nicht dieses und jenes gelesen hast, und dieses über jenes und jenes über dieses.‹ In meiner Generation sind viele nicht heil da rausgekommen […]. Ich stelle mir vor, einen Autor von hinten zu nehmen und ihm ein Kind zu machen, das seines, aber trotzdem monströs wäre. Dass es wirklich seins war, ist sehr wichtig, denn der Autor mußte tatsächlich all das sagen, was ich ihn sagen ließ.« Deleuze 1990: 14f.
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lung von etwas Heterogenem. Sie schafft Kohärenz bloß auf Zeit, denn ihr haften fraglos disparate Wirkungen an. Sie arbeitet arbiträr und folgerichtig, funktioniert bloß temporär und wirkt dabei doch sinnstiftend. Die anhaltende Faszination für das philosophische Problem, für die Praxis und Natur der Konjunktion in der Philosophie, lässt sich an den drei Hinsichten ablesen, unter denen Deleuze den Begriff selbst ausgestaltet: als provokante Koppelung disparater Begriffe, als offenes Experimentieren mit einer neuen Denk- und Schreibpraxis, zuletzt als philosophisches Credo, das auf eine halb ernst, halb scherzhafte ›Anleitung‹ zur Verdichtung abzielt: auf eine ›konkrete Philosophie‹, die sich der Schaffung neuer (begrifflicher) Singularitäten verschrieben hat. • Konjunktionen als provokante Koppelung disparater Begriffe: Deleuzes wichtigste Studien tragen nicht aus Verlegenheit das Wort ›und‹ im Titel oder Untertitel: Empirisme et subjectivité (1953), Nietzsche et la philosophie (1962), Différence et répétition (1968), Spinoza et le problème de l’expression (1969), Leibniz et le baroque (1988). In allen genannten Fällen werden beide Relata durch die konjunktionelle Relationierung neu bestimmt. Vorbild für dieses Verfahren ist Heideggers Sein und Zeit (1927), ein Werk, in dem beide Relata – trotz ihrer Verschiedenheit – als die epistemische Pointe oder auch die performative Kehrseite – des jeweils Anderen neu zu entdecken sind. Deleuze schlägt vor, die Wirkung des ›und‹ in Heideggers Werk als ›Gegenverwirklichung‹ (contre-effectuation) zu begreifen. Sein ist Zeit und Zeit ist Sein, aber als ihr jeweils komplementäres Anderes, als der jeweils ›unbemerkt im Rücken‹ wirksame besondere Parallelvollzug, der in einem minimalen, aber entscheidenden Punkt von der anderen Begriffsserie differiert. • Das Bilden von Konjunktionen als Experimentieren mit einer neuen Denk- und Schreibpraxis: Deleuze bildet seit 1970 mit Félix Guattari ein Autorenduo, über das er sagt: ›Jeder von uns war mehrere!‹ Er verweigert sich jeder nachträglichen Aufteilung des geschriebenen Textes auf ein einzelnes Autoren-Ich. Die Arbeiten entstehen durch das Austauschen, Rekapitulieren und wechselseitige Kommentieren in Briefen. • Die Konjunktion als philosophisches Credo: Insbesondere im epikureischen und lukrezianischen Naturalismus sowie im Hume’schen Empirismus findet Deleuze Anhaltspunkte für seine eigene Theorie des Mannigfaltigen. Die scheinbar nahtlose und mit einer intensiven Lustempfindung gepaarte Verknüpfbarkeit des Heterogenen prägen auch seine
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zeitphilosophischen Überlegungen im Proust-Buch (Proust et les Signes) (1964) zum unwillkürlichen Gedächtnis (mémoire involontaire), das Nähe zwischen entfernten und ursprünglich getrennten Erinnerungspartikeln herstellt. Ähnliche Überlegungen finden sich zum asymmetrischen Bild-Ton-Gebrauch an zentraler Stelle seiner Auseinandersetzung mit dem Kino (Cinéma I. L’image-movement und Cinéma II. L’image-temps 1983 und 1985) wieder. Konjunktionen eröffnen für Deleuze damit die Möglichkeit einer ›konkreten Philosophie‹, verstanden als Anleitung zur Rekombination des Schon-Bekannten zwecks Verdichtung neuer begrifflicher Singuläritäten. Was sich für viele als unüberwindbare Hürde entpuppt und Anlass gibt für allerlei Verdächtigungen gegenüber seiner Philosophie, sprich: die Heterogenität der aus verschiedensten Wissensgebieten geborgten Begriffe und ihre Neuerfindung in anderem Kontext, ist für Deleuze Teil seines eigenen philosophischen Programms, d.h. Denknotwendigkeit. Die Qualität eines gewählten Begriffs hängt davon ab, welche Möglichkeiten er eröffnet, welche neuen Perspektiven er schafft, mit welchen Feldern des Denkens er sich verbindet. Die Singularität des Begriffs und die Systematizität der Philosophie zu versöhnen, darin erweist sich die Kunst der Konjunktion. In seinem letzten Werk, zusammen mit Guattari verfasst, Qu’est-ce que c’est la philosophie? (1991) fragt Deleuze explizit nach der Kohärenz und dem Wirkungsgrad philosophischer Begriffe. Er bemerkt ihren Zeitindex, ihre schwindende Bindungskraft in einer veränderten Diskurslandschaft und führt diese schließlich auf eine verdeckte, interne Heterogenese zurück, auf das Vorliegen disparater Aspekte, die mittels ›Fürsprechern‹ (›Begriffspersonen‹ z.B.) auf Zeit unter dem Decknamen eines Terminus – ›unter dasselbe Joch‹ gespannt werden, d.h. in eine temporäre Konjunktion eintreten können.
5. Z um B egriff der K onjunktion , gr ammatisch wie astronomisch Etymologisch verweist der Begriff auf das lateinische Verbum ›conjungere‹, das wörtlich ›zusammenspannen‹, gewaltsam unter ein gemeinsames Joch nehmen bedeutet. Gebräuchlich ist der Begriff (1) in der Grammatik sowie (2) in der Astronomie.
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(Ad 1) Als grammatisches Bindewort weist der Begriff völlig unterschiedliche Terme einander zu, interessanterweise ohne ihr je eigenes Gewicht zu schmälern. Auch erfolgt die Bindung der sog. koordinierenden Konjunktion selbst unabhängig von der Frage, ob die Verkettung additiv (›und‹, ›weder–noch‹), adversativ (›aber‹, ›allerdings‹), disjunktiv (›entweder–oder‹), explikativ (›d.h.‹), kausal (›da‹), konzessiv (›wenn–dann‹) oder komparativ (›als‹) zu denken ist. Aristoteles definiert in seiner Poetik die Konjunktion (sÊndesmow) als einen »Laut ohne Bedeutung« (fvnØ êshmow), »der einen aus mehreren Lauten zusammengesetzten, bedeutungshaften Laut weder verhindert noch herstellt, den man an den Anfang und das Ende sowie in die Mitte eines Satzes stellen kann«. (Aristoteles 1982: 65) Aristoteles schafft so den Topos der Konjunktion als nicht-flektierbare Partikel einerseits und als verschwindenden oder neutralen Mittler ohne semantisches Eigengewicht andererseits. Auch Wilhelm von Ockham schenkt der Konjunktion in seiner Summa logicae von 1341 eine längere terminologische Betrachtung, welche exemplarisch die logischen Paradoxa des blind durch ›und‹ Verbundenen als zwangsläufige Folge der Bedeutungslosigkeit des Partikels aufzeigt. Nach Ockham vereiteln unmögliche oder nicht zugleich mögliche Relata einen semantisch sinnvollen konjunktionellen Zusammenschluss: »For this is impossible: ›Socrates is sitting and not sitting‹. And yet each part is possible.‹«8 (Ockham 1980: 187) Die Frage des ›ausgeschlossenen Dritten‹ spiegelt sich auch in der ausgedehnten etymologischen Debatte über den möglichen Einschluss gegensätzlicher Relata durch die Konjunktion ›und‹. Sie könnte sich aus Präpositionen der indogermanischen Grundform ›nthá‹, dem altindischen ›átha‹, über das griechische ›ént€‹, das lateinische ›unde‹ hin zu den westgermanischen Formen des ›andi‹, ›enti‹, ›inti‹, ›unte‹ bis hin zum angelsächsischen ›and‹ entwickelt haben. Ihre ursprünglich weder konnektive noch additive, sondern adversative Bedeutung als ein ›Entgegenstehendes‹ (›gegenüber‹ oder ›angesichts‹) liefert dabei womöglich einen Hinweis auf die oxytonierte Lokativform des griechischen Wortstamms des Adjektives ›ênthn‹ (entgegen, ins Gesicht, vor aller Augen, offen, von Angesicht …); verweist also auf eine mögliche Herkunftsgeschichte, die als nominales
8 | »For the truth of a conjunctive proposition it is required that both parts be true.« Ockham 1980: 187.
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Präfix in Begriffen wie ›Antwort‹ oder ›Antlitz‹ immer noch gegenwärtig ist.9 Untersuchungen über den Gebrauch der inhaltlich kopulativ-additiven Konjunktion ›ka€‹ im Griechischen – welche in Verbindung mit ›m°n‹ jedoch auch an die Stelle des adversativen ›d°‹ rücken kann – legen darüber hinaus weitere semantische Zuspitzungen nahe10: ›ka€‹ • wird im Griechischen gebraucht für die Einführung einer Neuheit, d.h. es eröffnet (stiftet) und kittet zugleich einen augenfälligen Kontextbruch; • schafft zwanglos Parallelität zwischen möglicherweise adversativen Relaten bzw. einzelnen Perzeptionen • behauptet ihre Irrelevanz für den gegebenen Kontext. Obgleich also ›ka€‹ fraglos auch Gegensätze sprachlich zu verbinden weiß, spricht nichts dafür, dass es beim sogenannten ›kai adversativum‹ zu einem diametralen Bedeutungswandel des ›ka€‹ selbst kommt.11 Vielmehr 9 | Vgl. hierzu Sehrt 1916: 1-5. 10 | Blomqvist unterscheidet zunächst einen adverbiellen (i.S.v. ›auch‹) von einem kopulativen Gebrauch (›und‹). Als möglicher Hintergrund wird die Abhängigkeit von semitischen Einflüssen, insbesondere von der hebräischen Partikel ›w(e)‹ diskutiert. ›ka€ ˜mvw‹ wird dann als ›doch, trotzdem‹ übersetzt; ›ka€ oÈ‹ pointiert ebenfalls einen deutlichen Gegensatz; während in schwächeren Kontexten das am Satzanfang stehende ›ka€‹ auch wie das englische ›and yet‹ begriffen werden kann. Vgl. Blomqvist 1979: 10-15. 11 | »Aus der Merkmallosigkeit des ›ka€‹ im Verhältnis zu den adversativen Partikeln [wie ›m°n… d°‹] folgt also, dass ka€ niemals adversativ sein kann. ka€ zeigt also die Eigenschaften, die wir bei einem merkmallosen Wort erwarten: in den meisten Kontexten Bedeutungsneutralität, aber gegebenenfalls die Fähigkeit, die der entsprechenden merkmalhaften Kategorie entgegengesetzte Bedeutung zu tragen.« Daraus folgt, gegenüber Aristoteles’ eben zitierten Auffassung aus der Poetik: »Deswegen ist die Bedeutung von ka€ nicht unbestimmt: die Partikel kann nicht jede beliebige Funktion annehmen, sondern nur diejenigen Funktionen, die ihre Stellung als Ausdruck für die merkmallose Kategorie im System der konnektiven Partikeln erlaubt. Die Auffassung, dass sich die Funktionen der Partikeln mit dem Zusammenhang schrankenlos wandeln, müssen wir im Fall von ka€ ablehnen: sie dürfte, wie ich meine, auch für die übrigen Partikeln unhaltbar sein.« Blomqvist 1979: 61.
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plädieren die Linguisten dafür, gerade auch in diesem Fall die exzeptionelle konnektive und konjunktionelle Kraft der Partikel zu würdigen: Gerade weil das ›kai‹ selbst eigentümlich ›merkmallos‹ sei (eine späte Referenz an Aristoteles?), stifte es auch keine besondere logische, hierarchische oder denominative Relation zwischen seinen Relaten. So werde es en passant möglich, dass »die gleichzeitige Gültigkeit der Gegensätze« in einer ›ka€‹Beziehung, nicht aber »ihre Gegensätzlichkeit« (Blomqvist 1979: 41) augenfällig wird. »Ein deutliches Beispiel ist Platon, Symposion, 214c. ofl m¢n oÔn êlloi pãntew ≤me’w efirÆkamen: oÁ dɧpeidØ oÈk e‡rhkaw ka‹ §kp°pvkaw, d€kaiow e‹ efipe’n. Der Grund, weshalb man von Alkibiades eine Rede fordern kann, ist ein doppelter: er hat am Trinken teilgenommen und hat keine Rede gehalten. Eine adversative Partikel oder Partikelkorresponsion (oder Hypotaxe) wäre auch möglich, aber Platon zieht es vor, die Gleichzeitigkeit mehr als die Gegensätzlichkeit zu betonen.« (Ebd.: 41f.).
Das Zusammentreffen zweier durch ›ka€‹ verknüpfter Gegensätze wird unterdessen selbst zur »Ursache eines Ereignisses oder Verhältnisses« (Ebd.: 41). Die schiere Möglichkeit einer Konjunktion des Differenten und Heterogenen erzeugt also – ganz in Deleuzes Sinne – bereits den Eindruck von Neuheit, ja Unerhörtheit. Zugleich wird jedoch das Skandalon des Neuen oder Neuartigen durch den – von Trenkner so definierten – »style ›ka€‹« vergleichsweise sanft aufgefangen und gemäßigt (vgl. Trenkner 1960). Denn anders als die »kontrastierende Wirkung des ›d°‹«, welche die Schilderung zwar lebhafter und auch kontroverser macht, schafft das »bedeutungsneutrale ›ka€‹ einen monotonen, aber auch ruhigen und würdigen Stil« (Blomqvist 1979: 33). Als ›besänftigendes‹ prosodisches Ausdrucksmittel war das griechische ›und‹ keineswegs ein erlesenes, sondern ein weit verbreitetes Stilmittel der Volkssprache. Diesem Befund folgt die Einschätzung der heutigen Grammatiker, dass im »Griechischen die Nicht-Markierung des Gegensatzes viel gebräuchlicher« (ebd.: 51f.) war, als in den modernen Sprachen Westeuropas. (Ad 2) In der Astronomie bezeichnet eine Konjunktion eine zufällige Begegnung bzw. auffällige Annäherung zweier Planeten, die aus Erdperspektive betrachtet, temporär als größtmögliche und daher bedrohliche Annäherung zentraler Himmelskörper erscheint, da diese für einen gewissen Zeitraum ›übereinander‹ am Firmament zu schweben beginnen. Als ›Gro-
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ße Konjunktion‹ wird dabei das besonders imposante Zusammentreffen von Jupiter und Saturn bezeichnet. Bei den kleinen, erdnahen Planeten Merkur und Venus unterscheidet man darüber hinaus eine ›untere‹ und eine ›obere‹ Konjunktion, je nachdem ob sich die beiden Himmelskörper zwischen Erde und Sonne oder ›hinter‹ der Sonne annähern. Wenn zwei Himmelskörper zur selben Zeit in Opposition zur Sonne (d.h. ›verdeckt‹ durch die Erde) stehen, kann es binnen weniger Monate aufgrund der optisch wirksamen Schleifenbahnen der Planeten sogar zu dem Eindruck einer dreifachen Konjunktion kommen, wie zuletzt 1980 bei der Begegnung von Mars und Jupiter geschehen. Kulturgeschichtlich wurden diese in großen Zeitabständen wiederkehrend auftretenden astronomischen Konjunktionen als Vorboten politischer Umwälzungen gedeutet. So verschieden die grammatischen und astronomischen Verwendungsweisen des Begriffs zunächst zu sein scheinen, so fällt doch auf: Eine Konjunktion nivelliert nicht, sie wertet und sie gewichtet ihre Relata nicht einseitig zugunsten oder zuungunsten des einen oder anderen Pols. Allein aus der Unabhängigkeit beider Relata bezieht sie die Kraft, über den Umweg des Anderen etwas Neues im Eigenen zu entdecken. Gehen wir im Folgenden den Impulsen nach, die Deleuze nicht nur von den Grammatikern – wie Trenkner oder Estienne12 – in dieser Hinsicht empfangen haben könnte, sondern die sich philosophischen Referenzen und Präferenzen verdanken.
12 | Vgl. neben der erwähnten Schrift von Trenkner (1960), Estienne (18311865; Nachdruck 1954).
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6. D avid H umes E ntdeckung der K onjunktion als ›G r avitationskr af t der E inbildung ‹ Gilles Deleuzes Aufmerksamkeit für die philosophische Wirkung der unscheinbaren grammatischen Konjunktion ›und‹ verdankt sich seiner Lektüre von David Humes Treatise on Human Nature (1739b), dem er in seiner Dissertation nachgeht (vgl. Deleuze 1953). Hume entdeckt im Zeichen der Konjunktion die »Gravitationskräfte der Einbildungskraft« (Brandt 1989: XVIII) und »die Manifestation ihres freien Gebrauchs«,13 wenn er vier mögliche Mechanismen unterscheidet, wie aus atomisierten Perzeptionen (Wahrnehmungen) miteinander verbundene Eindrücke (impressions) und Vorstellungen (ideas) werden können, nämlich natürliche Verbindungen (conjunctions), arbiträre, assoziative und habituelle/konventionelle Verknüpfungen (connexions). Natürlich nennt Hume die Verbindung zwischen Eindrücken, die zeitnah oder auch gleichzeitig perzipiert werden, obwohl sie möglicherweise nur zufällig zusammentrafen. Für diese Klasse von Ereignissen reserviert er den deskriptiven Terminus der Konjunktion (conjunction). Nur sehr selten verwendet Hume ihn synonym mit dem epistemischer eingefärbten Begriff der Assoziation (association),14 »während sonst die Assoziation die Beziehung ist, die zwischen den Vorstellungen von Objekten auf Grund der conjunction, d.h. des Zusammenvorkommens der Objekte in uns entsteht.« (Brandt 1989: 143, Anmerkung 169) Ähnlich wie in der Astronomie ist damit das zufällige Beisammensein ganz heterogener Dinge oder Ereignisse gemeint, wie sie im Moment der Perzeption ›in der Erfahrung‹ zusammentreffen. Humes berühmte skeptische Einschätzung geht nun dahin, dass solche Ereignisse unwillkürlich als de facto ›verbunden‹ erfahren werden, obgleich sie das möglicherweise de jure gar nicht sind.
13 | »Die Assoziation ist eine Regel der Einbildungskraft, kein Produkt oder Ausdruck ihres freien Gebrauchs.« Deleuze 1953: 12. 14 | Vgl. hierzu etwa Hume 1739b: 404: »In general we may observe, that in all the most establish’d and uniform conjunctions of causes and effects, such as those of gravity, impluse, solidity etc. the mind never carries its view expressly to consider any past experience: Tho’ in other associations of objects, which are more rare and unusual, it may assist the custom and transition of ideas by this reflection.« [Herv. M.S.] Vgl. dazu Hume 1739a: 143.
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In Ergänzung zu der vergleichsweise ›natürlichen‹ Verbindung (conjunction), gestiftet durch eine augenfällige »contiguity in time or place« (Hume 1739b: 319) und also einen »unmittelbare[n] Zusammenhang« (Hume 1739a: 21, Fußnote 22), bezeichnet Hume mit ›connexion‹ solche Verknüpfungen, welche – etwa über die Unterstellung (supposition) von Ähnlichkeitsbeziehungen oder Ursache-Folge-Beziehungen – durch die Einbildungskraft gestiftet werden. Obgleich die Einbildungskraft (imagination) theoretisch der ›Akteur‹ oder ›Motor‹ von Humes Darlegung bleibt, verlagert sich das praktische Interesse bald zugunsten der graduellen Unterschiede der als Assoziation (association) bezeichneten Verknüpfungskraft. Die Einflussskala der Assoziation reicht nämlich von »bald willkürlich, bald geleitet« bis zu »genötigt«. (Hume 1739a: 20, Anm. 21) Interessanterweise orientiert sich Hume bei der Ausbuchstabierung der in der Vorstellungskraft geschaffenen ›connexions‹ neuerlich am Modell der natürlichen Konjunktionen: die Assoziationskraft unterliegt damit selbst einer schleichenden Re-Naturalisierung; während umgekehrt die Einbildungskraft ein zunehmend passivischeres Vermögen zu werden verspricht. Doch der Reihe nach. Gemäß Hume erfolgt die imaginative Verknüpfung (connexion) einzelner Perzeptionen • aktiv, spontan und willkürlich (d.h. ungeregelt) untereinander; • sie verknüpft sie assoziativ miteinander, wobei die Einbildungskraft auch hier bereits eher passivisch der »eigengesetzlichen Assoziationskraft der Vorstellungen« (Brandt 1989: XVIII) verpflichtet bleibt; • beide Verknüpfungsarten verfestigen sich – durch stetige Wiederholung – zu gewohnheitsmäßigen oder konventionellen Verbindungen (so dass am Ende auch der Lügner an seine eigene Lüge glaubt); wobei wiederum über die hier passivisch bleibende Einbildungskraft der erstgenannte Verbindungsfall – sprich die Konjunktion – ins Spiel kommt, nämlich die natürliche, d.h. durch zufällige Koinzidenz gestiftete Verbindung des möglicherweise Grundverschiedenen. Wohlbemerkt, »wir dürfen daraus nicht ohne weiteres den Schluss ziehen, daß der Geist nicht [spontan, d.h.] ohne von diesem Prinzip [der Assoziation oder Verknüpfung der Vorstellungen] geleitet zu sein, zwei Vorstellungen vereinigen könne; denn nichts ist freier als jenes Vermögen; vielmehr müssen wir das fragliche Prinzip nur als
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eine sanfte Macht (a gentle force) ansehen, welche für gewöhnlich die Herrschaft hat (which commonly prevails) […].« (Hume 1739a: 21; Hume 1739b: 319)
Interessanterweise haben gerade die Konjunktionen (conjunctions) als ›natural connexion‹ zwischen möglicherweise kausal völlig unverbundenen Perzeptionen für Hume in ausgezeichneter Weise fundierenden Charakter für die Episteme. Nicht fraglos verbunden und dennoch verbindend, ja nötigend, bestimmen sie, warum der Geist (mind) von einer Vorstellung zur nächsten übergeht und dabei unaufhörlich neue Relationen schafft. ›Interne‹ und natürliche ›Gravitationsprinzipien‹ der Eindrücke und Vorstellungen einerseits sowie die ›universellen‹ und doch dynamischen ›Assoziationskräfte‹ (Brandt 1989: XIX) der Einbildungskraft andererseits werden zusammengespannt, ohne dass wir ein Bewusstsein für diese Mechanismen hätten. Das zumindest behauptet Hume. Die Ausführungen über die Natur und Genese seiner fundamentalen ›Kräfteverhältnisse‹ – sprich der Assoziationsgesetze und Konjunktionsprinzipien – bleiben bei dem schottischen Skeptiker jedoch spärlich und eigentümlich spekulativ. Er ›entdeckt‹ mit der Konjunktion einen neuen philosophischen Begriff, doch er selbst bleibt der – jederzeit das Verschiedene wieder rigoros trennenden – Methode des Skeptizismus verhaftet. Stellvertretend für Deleuze schreibt Lyotard: »Der Skeptizismus ist unerfreulich, denn er ist das Tierische des Geistes, der Magen, der die Bestimmungen aufzehrt.« (Lyotard 1981: 21) Hume arbeitet, so ließe sich der Verdacht von Deleuze und Lyotard reformulieren, nicht mit seiner Entdeckung, sondern er relativiert und d.h. schwächt sie zugleich mit dem scheinbar philosophisch so redlichen Rückzug auf eine skeptische Position. Gilles Deleuze versucht hingegen, mit dem von Hume Neuentdeckten produktiv – und d.h. auf radikal andere Weise – weiterzuarbeiten. Seine Arbeitsfragen lauten dabei: • Was folgt aus Humes Überzeugung, dass der menschliche Verstand mit seiner Verkettungskunst,15 d.h. Assoziationstätigkeit, systematisch den 15 | Hume spricht auch vom ›Prinzip der Vorstellungsverknüpfung‹ (»a principle of association«) qua Einbildungskraft, »jenes gewisse je-ne-sais-quoi, das man nicht definieren oder beschreiben kann, das aber jeder genügend kennt.« (»that certain je-ne-sais-quoi, of which ’tis impossible to give any definition or descrip-
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Abgrund des Nicht-Wissens und des Nicht-Wissen-Könnens zu verketten lernt? • Wie kann aus der losen Sammlung von in der Natur verteilten Einzeldingen (partes extra partes) eine kohärente Wahrnehmung resultieren? Wie lassen sich Mannigfaltigkeiten sinnvoll relational verketten? • Wie kann ein Subjekt oder gar ein philosophisches System darauf aufgebaut werden?16 • Ist es möglich, aus lauter Konjunktionen einen eigenen Urteilstyp zu entwickeln? Deleuze ist von der Schlichtheit und Einfachheit der von Hume überlieferten Antwort überrascht: »Die fortgesetzte Konjunktion ist die einzig notwendige Relation [à]. Die Relation ist nicht das, was verbindet, sondern das, was verbunden ist. [...] Sie ist innerlich gefühlt.« [Übers. geändert, M.S.] (Deleuze 1953: 15, 14) Allein den Umständen und der Gewohnheit, Verbindungen zu stiften, da, wo sich intensive Empfindungen ausfindig machen lassen, verdankt der auf Konjunktionen geeichte menschliche Geist seine erfinderische Kraft. »Darum beharrt Hume auf dem Paradoxon seiner These, auf ihrer positiven, objektiven Seite. Sofern die Notwendigkeit im Subjekt begründet liegt, ist auch die notwendige Relation lediglich in den Dingen eine fortgesetzte Konjunktion, Notwendigkeit meint nichts anderes. Jedoch im Subjekt ist sie nur, sofern das Subjekt betrachtet, nicht sofern es handelt. [à] Bei Hume ist die Bestimmung nicht be stimmend, sondern selbst bestimmt.« [Übers. geändert, M.S.] (Deleuze 1953: 15)
So verstanden ist das ›und‹ niemals rein integrativ zu denken, weil es selbst weder »dieselbe Natur« (Deleuze 1990: 68) hat wie die einzelnen Relata, die es verbindet, noch mit ihrer Gesamtheit resp. Gemeinsamkeit zusammenfällt. Eine ausgezeichnete Konjunktion wie das ›und‹ wirkt nach diesem Verständnis – wie in einem re-entry – gleichzeitig analytischtrennend und synthetisch-verbindend. Karen Gloy bemerkt hierzu: »Insofern Verbindung und Trennung sich wechselseitig fordern, drücken Kontion, but which every one sufficiently understands«.) Hume 1739a: 131; 145; Hume 1739b: 397; 406. 16 | »Wie wird eine Ansammlung zu einem System? [à] Wie wird der Geist Subjekt? Wie wird die Einbildungskraft zu einem Vermögen?« Deleuze 1953: 9.
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junktionen generell ein Synthesis-Analysis-Verhältnis aus.« (Gloy 1981: 7) Vor dem Hintergrund dieses paradoxen Befundes wird Deleuze aus der Konjunktion, und zwar ob ihrer die Trennung überbrückende, aber eben nicht nivellierende Kraft, seine eigentümlichen Methode machen. Dabei findet er durchaus Rückhalt in der Philosophiegeschichte.
7. D as › und ‹ als persistierende philosophische I rritation Deleuze greift damit just jenes »leere Flickwort ›und‹« wieder auf, das »wir gar nicht verstehen« und das Johann Gottlieb Fichte in seiner Wissenschaftslehre von 1804 deshalb als das »unverständlichste und durchaus durch keine bisherige Philosophie erklärte Wort in der ganzen Sprache« bezeichnet hat, weil es allein eine »Synthesis post factum« stiftet, die ihrer eigenen Wenigkeit zum Trotz »das reine Durcheinander, […] innerlich erst zusammenhält.« (Fichte 1804: X, 144) Slavoj Žižek macht in seinem Schelling-Buch aus der Figur der ›verschwindenden Vermittlung‹ zwischen den »zwei Polen (das Reale und das Ideale)« die »Grundoperation des Deutschen Idealismus«; doch bereits die Verkettung durch das ›und‹ ließe sich problemlos als ›verschwindende Vermittlung‹ titulieren (vgl. Žižek 1996: 120). Heidegger, Deleuzes philosophischer Antipode, hat in diesem Zusammenhang die ambige, das Denken herausfordernde Wirkung der Konjunktion in seinen Arbeiten zu Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809) programmatisch wie folgt zusammengefasst: »Das ›und‹, die Möglichkeit dieses Zwiespalts und all dessen, was er verschlossen hält, ist das Entscheidende.« (Heidegger 1971: 117) Auch Jean-François Lyotard macht auf den gähnenden Spalt aufmerksam, der mangels einer apriori-Regel die sinnvolle Verkettung von (durchaus wahren) philosophischen Einzel-Sätzen erschwert, wenn er in »Sprechen ›nach Auschwitz‹« schreibt, »Verketten heißt trennen.« (Lyotard 1981: 55) Ein paradoxer Befund wie dieser meint mit Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts auch: Gerade weil Auschwitz als das Unwiederholbare der Geschichte erscheint, geht es im gegen Adorno und gegen das spekulative Denken gerichteten Reden über diese Geschichte nicht darum, »das Unverknüpfbare zu überwinden«, sondern darum, es zu verknüpfen, gerade »weil es nicht verknüpfbar ist« und zwar einzig, »damit es nicht wie-
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derkehrt.« (Lyotard 1981: 64)17 Die Anstrengung der Verknüpfung wird bei Lyotard zu der ethischen Forderung wider besseres Wissen zu verknüpfen; eine Überlebensstrategie und der Versuch, etwas Menschliches inmitten des Unmenschlichen zu retten.18
8. S kiz ze einer P r a xis der K onjunktion Auch Deleuze verliert die Fragilität und Prekarität einer durch Konjunktionen gestifteten Verbindung nicht aus dem Blick. In vielen seiner Bücher prüft er die durch sie initiierten Verbindungen auf ihren epistemischen Mehrwert (qua ›Gegenverwirklichung‹) und auf ihre phänomenale Triftigkeit. Nur an einigen Beispielen sei angerissen, wie eine solche ›Prüfung‹ aussehen könnte: • In Logik des Sinns (1969) untersucht Deleuze die Gleichursprünglichkeit von Sinn und Unsinn aus einer komplexen Ereignislogik heraus. Dabei wird die Dichotomie von Sagen und Zeigen, die bei Wittgenstein noch in einem Ausschlussverhältnis stehen und dennoch aufeinander verweisen, von Deleuze radikalisiert. • In Differenz und Wiederholung (1968) werden beide, scheinbar so gar nicht schnittmengenträchtige Begriffe ins Feld geführt, um die doppelte und disparat bleibende Ereignislogik in ihren unkörperlichen, logischen, sprachlichen wie körperlichen, konkreten, sinnlichen Wirkungen verstehbar zu machen. • In seinem Foucault-Buch (1986) kehrt Deleuze zu der Frage der konstitutiven Verwiesenheit des (sukzessiv) Sagbaren auf das (simultan) Sichtbare als zwei Ordnungen, die ihre eigene Logik nur im jeweiligen anderen ›erfahren‹ können, zurück. 17 | Sinngemäß (es handelt sich um die spätere Transkription eines Gesprächs) in der Schlussdiskussion seines Buches, im Gespräch mit Derrida, Gandillac, Kofman, Nancy et al. 18 | Lyotard erklärt abschließend: »Wenn es jemanden gibt, der weiß, dass verknüpft werden muß, dass eine Regel gefunden werden muß, dass jeder Satz ein ungeheures Risiko eingeht, dass man zugleich weise (eine gute Nase haben) und waghalsig sein muß, doch nicht zu waghalsig, dass das einzige Verbrechen ist, nicht zu verknüpfen, so sind es die Heiden.« Lyotard 1981: 74f.
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Wie zerbrechlich diese Konjunktion von Sichtbarem und Sagbaren in concreto sein kann, zeigt Deleuze in seinen Kinobüchern (1983 und 1985) am Beispiel des italienischen und französischen Nachkriegskinos auf. Durch den parallelen, aber asynchrononen Gebrauch von Bild- und Tonspur schleicht sich ein für den Zuschauer spürbarer Zwischenraum (intr’acte) nicht nur zwischen Bilder und Tönen ein, sondern tut sich auch zwischen zwei Bildern, zwischen zwei Tönen auf, so dass keine für die gesamte Filmlänge kohärente Interpretation des Geschehenen und Gehörten mehr möglich ist. Wenn es umgekehrt ein filmisches Vorbild gibt für die Art und Weise, wie Deleuze selbst – im Sinne von Konjunktionen, bald freiwillig, bald unfreiwillig – philosophieren möchte, dann ist es wohl der bereits im AntiÖdipus als »einer der größten Künstler von Wunschmaschinen« (Deleuze/ Guattari 1972: 514) eingeführte Buster Keaton.19 Um zu verstehen, wie Buster Keaton hier die philosophische Arbeit für Deleuze (vor)macht, lohnt es sich, darauf achten, wie sich eine ganz kleine Differenz zwischen zwei Handlungen auftut und eine unendlich große Differenz zwischen zwei Situationen zum Vorschein bringt.20 Während Chaplin Werkzeuge benutzt und sich den Maschinen und Fließbändern in Modern Times widersetzt, macht Keaton aus den zumeist überdimensionierten Maschinen »seine besten Verbündeten« und stellt zugleich unter Beweis, dass sie »niemals aufhören, einem geheimen, höheren Zweck« (Deleuze 1983: 237) zu dienen. Keaton macht – völlig furchtlos, wie selbstverständlich – aus den Maschinen Gerätschaften, er schafft verblüffende Konjunktionen von Gefährten und Treibstoffen, wenn er das menschenleere Kontainerschiff mit Würstchen zu füttern und so flottzumachen beginnt. Was für einen Zweck haben diese einem absurden Konnektionismus geschuldeten Maschinen, welche Deleuzes Konjunktionsbegriff gleichsam wirklich werden lassen? Zuallererst sind sie wie alle anderen Maschinen auch Transformationsmaschinen: Wer in sie hineingerät, verlässt sie als ein 19 | Der folgende Textabschnitt folgt meinen Ausführungen: Schaub 2003: 14f. 20 | Ständig gerät Keaton in extreme Situationen, in Zyklone, Boxkämpfe, zerschmetterte Lokomotiven, Bürgerkriege etc., wenn er nicht gerade als Taucher auf dem Meeresgrund zu ertrinken droht. Der komische Effekt Keatons rührt nun daher, dass es einen riesigen Abstand gibt zwischen der gegebenen katastrophischen Situation und seinem unbekümmerten Tun.
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anderer. Nun ist es aber eher die Maschine, die in Buster gerät, als umgekehrt. Keaton bedient sich der Taktik der »geometrische[n] ›Miniaturisierung‹« (Deleuze 1983: 237), wie Deleuze sagt: »Wie kann man ein kleines Ei in einem enormen Kochtopf kochen? Bei Keaton definiert sich die Maschine nicht durch das Überdimensionale; sie impliziert es vielmehr, indem sie den Weg findet, es zu verkleinern, und zwar durch ein geniales, selbst wieder maschinelles System, das sich aus einer Masse von Rollen, Seilen und Hebeln zusammensetzt. […] Keatons Traum: die größte Maschine der Welt nehmen und sie mit ganz kleinen Elementen laufen zu lassen, sie auf diese Weise dem Gebrauch eines jeden anzuverwandeln, aus ihr eine Sache aller zu machen.« (Ebd.: 238)
Immer wieder sieht man in Keatons Filmen Vorboten der Konjunktion, ›seltsame Kausalbeziehungen‹ (ebd.: 239). Zwar bezieht sich jedes Element auf ein anderes, ihre Verbindung mag zwar physikalisch korrekt sein, doch ist sie alles andere als nahe liegend. Genau darin aber besteht das Visionäre: Die Möglichkeit, eine große Maschine mit kleinsten Teilen (wie etwa Würstchen) in Bewegung zu setzen, die Deleuze in seiner terminologischen Lust bescheiden als eine Form der ›Gebrauchsangemessenheit‹ (ebd.: 238) charakterisiert. Um diese zu erreichen, bedarf es einer Reihe von Umwegen, künstlichen Hebeln, gewagten Konstruktionen, verrückten Konjunktionen eben. Etwa, wenn Keaton aus seinem überbordenden Hab und Gut, mit dem er auf einem Leiterwagen umzieht, noch einen Blinker konstruiert, der die einzuschlagende Richtung anzeigen soll, während doch das ganze Unternehmen alles andere als wohlgeordnet und verkehrsrechtlich mehr als bedenklich ist. Wir sehen lauter unwahrscheinliche Verbindungen zwischen heterogenen Elementen, die dennoch zur Überwindung prekärer Situationen taugen. Was heißt all das für Deleuzes eigene Art, Philosophie zu betreiben? In welcher Weise ist die ›maschinenhaft-anarchische Vision‹ (vgl. ebd.) für ihn vorbildlich? Das Mannigfaltige denken, ohne es durch allgemeine Begriffe in seinem Inhalt zu beschneiden, das Ereignis verstehen, ohne sich seiner Intensität und Schmerzhaftigkeit zu entledigen -: diesen Wunsch will sich Deleuze nicht zuletzt mit seiner eigenen Form des Philosophierens erfüllen, im Entwurf seiner eigenen philosophischen Methode. Keaton macht gleichsam in einem anderen Medium vor, wie Deleuze das Heterogene, Mannigfaltige, Unzeitgemäße ganz kausal, ganz mechanisch
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verbinden kann, um die ›große Maschine‹ Philosophie mit dem Kleinsten, Leichtesten, mit einem einzelnen, phantastischen, unwahrscheinlichen Begriff in Gang zu bringen und rotieren zu lassen. Eine Maschine, die uns hoffentlich – wie die große Lok bei Keaton – heil durch alle Kriege trägt, die das Land befriedet und uns das Herz des Geliebten erobern lässt.21
9. S tich unterm S trich Damit zeichnen sich die Eigenschaften der konjunktionellen Methode durch wenigstens zwei Operationen aus: Produktion und Produktivität: die Neuverkettung als Verkettung, die selbst etwas Produktives, vor allem neue Verkettungen schafft. Denn das in die Philosophie hineingetragene ›und‹ zeitigt Effekte der ›Verfremdung‹ oder besser der Neubewertung an den jeweils aufeinander bezogenen Polen, die so zu etwas werden, was sie ›an sich‹ gar nicht waren. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt somit der nicht länger leere Zwischenraum, die Spanne (écart) dazwischen, die Verbindung selbst. Für das substantiell Neue, das allein aus der Rekombination, der Neuverkettung des Alten, Schon-Bekannten, erwächst, steht stellvertretend G.W. Leibniz, dessen ›ars combinatoria‹ Deleuze 1991 eine Monographie mit dem Titel Leibniz et le Baroque gewidmet hat, indem er sie in das Bild des bis ins Unendliche gefalteten Stoffes kleidet. Neuverkettung meint mit Leibniz eine neue Art der Verkettung (von lauter autarken Monaden), die den Bruch/ Unterschied/die Auflösung der Verbindung nicht, wie bei konventionellen Modellen der Verkettung, nivelliert, leugnet oder verdrängt, sondern voraussetzt.
21 | Die an Keatons Maschinenbehandlung geschulte philosophische ›machine désirante‹ Deleuzes ist, wie man in Abwandlung einer Passage des Anti-Ödipus sagen könnte, eine produktive, endlich glücklich gewordene Philosophie, die das scheinbar Heterogenste – die fremdesten Begriffe – sinnvoll miteinander agieren lässt, nicht ohne die Gewagtheit der Konjunktion, die Absurdität der Kombination selbst, nicht ohne den Unsinn als höhere Form des Sinns im Sinn zu behalten. Denn auch für die begehrend-begehrliche Maschinen-Philosophie Deleuzes gilt, mit Tinguely gesprochen: »[it’s] a truly joyous machine, by joyous I mean free«. Deleuze/Guattari 1972: 515.
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Distribution und Distributivität: Wer sich für dieses ›und‹ der Verkettung des Heterogenen interessiert, wird durch dessen distributive und relationalisierende Kraft zugleich auf einen wichtigen naturalistischen Grundzug aufmerksam gemacht. So ist schon bei Epikur und Lukrez vorbildhaft die Natur eine Summe, aber kein Ganzes; keine kollektive, sondern eine distributive Kraft; und die Naturgesetze sind Verteilungsregeln für Teile, die sich nicht totalisieren lassen. (Also das, was für Hegel ›wahre Unendlichkeit‹ meint.22) Im Unterschied zum herrschenden Sprachgebrauch, der auf das Verb ›sein‹, das intransitiv ausgelegt und substantiviert wird, gegründet ist, eröffnet das ›und‹ den Blick auf eine in der naturalistischen Philosophie erstmals entfaltete Mannigfaltigkeit, welche auf intensive und qualitative Einzelheit gegründet ist. (Vgl. Deleuze 1990: 67) Der Kontakt zur Nicht-Philosophie – wie zu den Funktionen der (Natur)Wissenschaften wie zu den Perzepten der Künste –, den Deleuze in seinem Werk unablässig gesucht, gefunden, gebraucht, missbraucht und ruiniert hat, ist so verstanden keine bloß mögliche Konjunktion unter vielen, sondern eine für die Konzepte der Philosophie selbst notwendige Kur, in der das kleine Wörtchen ›und‹ zwischen den ›dramatis personae‹ für Erregung und für Ansteckung mit neuen Erregern sorgt.
L iter atur Aristoteles: Die Poetik, griech.-dt., übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, 1456b38. Blomqvist, Jerker: Das sogenannte kai adversativum. Zur Semantik einer griechischen Partikel, Stockholm/Uppsala 1979.
22 | »Die Natur ist nicht attributiv, sondern konjunktiv: sie drückt sich in einem ›und‹ und nicht in einem ›ist‹ aus. Dieses und jenes: Abwechslungen und Verflechtungen, Ähnlichkeiten und Differenzen, Anziehungen und Zerstreuungen, Nuancen und Schroffheiten. Die Natur ist [ein] Harlekinmantel, der vollständig ist und Lücken hat, vollständig und lückenhaft, Dasein und Nichtsein, wobei jedes von beiden sich als unbegrenzt erweist, indem es das andere begrenzt.« Deleuze 1990: 67.
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Teil 4: Aspekte der Nicht-Philosophie
Menschen – Körper – Sensationen Deleuze zur Malerei von Francis Bacon Ralf Krause
»Es scheint, daß die Figuren Bacons in der Geschichte der Malerei eine der großartigsten Antworten auf die Frage sind: Wie lassen sich unsichtbare Kräfte sichtbar machen?« (Deleuze 1984: 40)
Von Francis Bacon hieß es unter anderem, er male mit dem Megaphon. Und seine Gemälde würden es den Interpreten leicht machen, den Mund voll zu nehmen. Der Schockeffekt, den seine exzessiven Darstellungen des menschlichen Körpers evozierten, ist mit der Zeit verpufft – und war überdies nach Bacons eigener Aussage nicht beabsichtigt: »Ich habe nie versucht zu schockieren« (Sylvester 1982: 49). Die plakativen Schreiporträts und Velazques-Adaptionen der 50er Jahre hat Bacon später selbst als »albern« abgetan.1 Eine Frage, wie die, mit der Deleuze an das Werk Bacons herantritt, kann daher durchaus abwegig anmuten. Die Frage: Warum 1 | Vgl. Deleuze 1984: 56f.: »Bacon übt gegen sich selbst dieselbe Strenge wie Cézanne, und wie Cézanne verliert er viele Gemälde, gibt sie auf, wirft sie weg, sobald der Feind [das Klischee] von neuem erscheint. Er urteilt: die Serie der Kreuzigungen? Allzu sensationell, allzu sensationell, um empfunden zu werden. Selbst die Stierkämpfe, allzu dramatisch. Die Reihe der Päpste? ›Ich habe ganz ohne Erfolg versucht, gewisse Wiedergaben zu schaffen – entstellte Wiedergaben. Ich bedaure diese Versuche, denn meiner Meinung nach waren sie sehr albern. […] weil ich denke, daß diese Aufgabe, so wie sie war, ein für allemal gelöst worden ist […]‹« (Zitat im Zitat, Sylvester 1982: 36).
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schreit der Papst? Und auch die Antwort sagt noch nicht sonderlich viel aus über das Verhältnis von Philosophie und Kunst, von Sinnlichkeit und Ästhetik, von Intensität und Erhabenem im Deleuze’schen Denken: Der Papst schreit, erklärt uns Deleuze, weil er nichts sieht. In Deleuzes Gesamtwerk finden sich zahlreiche Schriften über die Kunst, über Künstler in ihren Werken, über Funktionsweisen des Schreiben, Filmens oder Malens. Stets betonte er, dass seine Ausführungen – zu Proust, Carroll, Kafka, Melville, Sacher-Masoch, Beckett, zum Kino sowie über die Malerei Bacons – nichts anderes als Philosophie seien und dass die Kunst ihre eigene Weise des Denkens praktiziere. In der Kunst wendet sich die Philosophie einem Ausschnitt des Nicht-Philosophischen zu, der keineswegs jenseits der Philosophie liegt, sondern als Nährboden für die Kreation neuer Empfindungs- und Denkweisen, neuer Begriffe philosophisch fruchtbar gemacht werden kann. Das philosophische Denken ruht nicht in sich selbst, in einem vernunftbegabten Subjekt, sondern ist auf äußere Kräfte, Kräfte des Außen angewiesen, die zum Denken nötigen. Diese Affinität zur Kunst, hier zur Malerei, soll sie zwar nicht der Philosophie eingemeinden. Gezeigt werden soll indessen, dass Kunstwerke mit Bedingungen der Wahrnehmung oder Empfindung experimentieren, die umso bemerkenswerter sind, als sie den Blick auf das lenken, was der phänomenalen Alltagswahrnehmung entgeht. Deleuze spricht von Perzepten und Affekten, die sich aus dem Wahrgenommenen (den Perzeptionen) extrahieren und vom wahrnehmenden Subjekt (seinen Affektionen) ablösen lassen, um im Kunstwerk zu einem bloc de sensations zu verschmelzen.2
1. D ie S ensation : D er S chrei Dass die Sinnlichkeit, die Sensation, ein ganz eigenes Vermögen ist, dessen Reizschwellen nicht naturgemäß mit den Prozessen zur Objektvorstellung in einem Bewusstsein zusammenstimmen, thematisiert die moderne 2 | Vgl. Deleuze/Guattari 1991: 196: »Das Ziel der Kunst besteht darin, mit den Mitteln des Materials das Perzept den Perzeptionen eines Objekts und den Zuständen eines perzipierenden Subjekts zu entreißen, den Affekt den Affektionen als Übergang eines Zustands in einen anderen zu entreißen. Einen Block von Empfindungen, ein reines Empfindungswesen zu extrahieren. (Extraire un bloc de sensations, un pur être de sensation).«
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Malerei mit ihrer Abkehr vom Figurativen. Der vielzitierten Devise Klees nach besteht ihre Aufgabe nicht darin, das Sichtbare abzubilden, sondern sichtbar zu machen.3 Selbst eine durchaus abbildhafte Malerei wie die René Magrittes haftet nicht am Sichtbaren, sondern führt jene unsichtbare Tiefendimension vor Augen, die uns sehen lässt. Wie Magritte sagt, ist das Unsichtbare dem Blick nicht verborgen (L’invisible n’est pas caché au regard). Es zeigt sich in dem, woraus die sichtbaren Phänomene sich abheben, indem sie es verdecken, wie die geheimnisvolle Schwärze der Milch. Auch Deleuze, der seine Studie über Francis Bacon als Logik der Sensation betitelt, begibt sich auf die Spur des Unsichtbaren, wenn er dessen Malerei ein Motto Cézannes unterlegt: die Sensation malen.4 Die Sensation ist eben das, was der Papst nicht sieht. Es sind Kräfte, die sich des Körpers bemächtigen, ihn dezentrieren, seine organische Einheit in Spasmen deformieren, ohne ein Bild zu entwerfen, das die Ordnung des Figurativen restituieren könnte.5 An die Stelle von Figuration und Narration, gegenständlicher Darstellung und kompositorischen Kontexten, tritt bei Bacon das, was Deleuze – auf Jean-François Lyotard verweisend – das »Figurale« nennt. Als ein erstes Mittel, die figurativen, illustrativen und narrativen Aspekte aus dem Gemälde zu tilgen, dient die Isolation der Figur – die Art, wie Bacon sie auf einer Bühne zur Schau stellt, sie durch ein Rund, eine Bahn oder einen gerüstähnlichen Kubus im Gemälde separiert.6 Die solchermaßen isolierte Figur ist in keine Szenerie oder Handlung mehr 3 | Vgl. Klee 1920: 76: »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.« 4 | Vgl. Deleuze 1984: 27: »Das ist der ganz allgemeine Faden, der Bacon mit Cézanne verbindet: die Sensation malen, oder, wie Bacon mit ganz ähnlichen Worten wie Cézanne sagt, das Faktum festhalten.« 5 | Vgl. ebd.: 41: »Nun lassen sich aber die Kräfte, die den Schrei ausmachen und den Körper verkrampfen, um bis zum Mund als verwischter Zone zu gelangen, keineswegs mit dem sichtbaren Schauspiel verwechseln, angesichts dessen man schreit, und ebensowenig mit den zuschreibbaren Sinnesobjekten, deren Einwirkung unseren Schmerz dekomponiert und rekomponiert.« 6 | Vgl. ebd.: 9, 10: »Bacon sagt es immer wieder: um den figurativen, illustrativen, narrativen Charakter zu bannen, den die Figur notwendig besäße, wäre sie nicht isoliert. […] um dem Figurativen das ›Figurale‹ entgegenzuhalten.« »Isolierung ist also das einfachste, notwendige, aber nicht hinreichende Mittel, um mit
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eingebettet, aus der hervorginge, was ihr widerfährt. Bacons Aussage: »ich wollte eher den Schrei als den Schrecken malen«, versteht sich demnach als Absage an ein ›erzählendes‹ Malen, das die äußeren Umstände (den Schrecken) zur Erklärung des Schreis heranzieht und die Sensation ihrer Unmittelbarkeit durch eine Geschichte beraubt, die deren Herkunft oder Auslöser illustriert.7 »Unablässig jedenfalls war Bacon bestrebt, das ›Sensationelle‹ zu eliminieren, d.h. die primäre Figuration dessen, was eine heftige Empfindung provoziert. Das ist der Sinn der Formulierung. ›Ich wollte eher den Schrei als den Schrecken malen.‹ Wenn er den schreienden Papst malt, so gibt es dabei nichts, was Schrecken einflößen würde, und der Vorhang vor dem Papst dient nicht nur dazu, ihn zu isolieren, den Blicken zu entziehen, er ist vielmehr noch dazu gedacht, daß er selbst nichts sieht und angesichts des Unsichtbaren schreit: als neutralisierter ist der Schrecken vervielfältigt, weil er aus dem Schrei abgeleitet ist, nicht umgekehrt« (Deleuze 1984: 29).
Der Schrei als eine inkorporierte Sensation bildet nichts ab, erzählt nichts, sondern registriert allein »die Wirkung unsichtbarer Kräfte auf den Körper« (ebd.: 31). Mit dem Figuralen findet Bacon einen Weg, sich von der Figuration zu lösen, ohne – wie die Strömungen der Abstraktion (Mondrian) und der informellen Malerei des abstrakten Expressionismus (Pollock)8 – die Sensation ihrer sinnlichen Form zu entkleiden. »Die Figur ist die auf die Sensation bezogene sinnliche Form; sie wirkt unmittelbar auf das Nervensystem, das Fleisch ist« (ebd.: 27). Detailliert beschreibt Deleuze, mit welchen Maltechniken Bacon die Kräfte ins Figurale, den Körper, einzeichnet, um damit unmittelbar auf den Sehnerv des Betrachters einzuwirken. der Repräsentation zu brechen, die Narration zu zerschlagen, die Illustration zu verhindern, die Figur zu befreien: sich an das Faktum zu halten.« 7 | Vgl. ebd.: 29: »Sobald der Schrecken auftaucht, schleicht sich eine Geschichte ein, hat man den Schrei [die pure Sensation] verfehlt.« 8 | Vgl. ebd.: 66: »Im äußersten Fall erzeugte die abstrakte Malerei einen rein optischen Raum und beseitigte die taktilen Referenten zugunsten eines geistigen Auges: Sie strich die Aufgabe, die das Auge in der klassischen Malerei noch hatte, nämlich der Hand zu befehlen. Action Painting aber macht etwas ganz anderes: Es verkehrt die klassische Unterordnung, es ordnet das Auge der Hand unter, es zwingt dem Auge die Hand auf, es ersetzt den Horizont durch einen Boden.«
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Indem er verwischte Zonen hoher Intensität (von Hyperästhesien und Kontraktionen) mit Auslassungen (Anästhesien und Paralysen) kontrastiert, erscheint der gemalte Körper nicht mehr als ein Organismus, als ein organisches Ganzes, sondern weitmehr als Operationsfeld von Intensitätsdifferenzen, die ihn augenblicklich deformieren.9 Im Fleisch, das von den Knochen rutscht, in den Zonen der Permutation zwischen Mensch und Tier vermag Deleuze keine körperlichen Torturen auszumachen. Gezeigt würden vielmehr »die natürlichsten Haltungen eines Körpers, der sich je nach der bloßen Kraft, die auf ihn einwirkt, umordnet« (ebd.: 41). Es handele sich um die »in figuraler Hinsicht […] natürlichsten Haltungen, wie wir sie ›zwischen‹ zwei Geschichten einnehmen, oder wenn wir alleine sind, einer Kraft ausgesetzt, die uns erfaßt« (ebd.: 98). Dieser instantiven Deformation aufseiten der Figur korrespondiert eine Transformation des Sehens. Wenn das Auge keine organischen Formen und Konturen mehr wahrnimmt, verliert es seine vom Organismus bestimmte optische Funktion zugunsten der ganz anderen Fähigkeit, haptisch zu sehen.10 »Das ist die doppelte Definition der Malerei: Subjektiv besetzt sie unser Auge, das nicht länger organisch ist, um zu einem mehrwertigen und transitorischen Organ zu werden; objektiv errichtet sie vor uns die Realität eines Körpers, Linien und Farben, die von der organischen Repräsentation befreit sind. Und das eine geschieht durch das andere: Die reine Präsenz des Körpers wird sichtbar werden, 9 | Vgl. ebd.: 35: »Der Kontrakturen und Hyperästhesien werden oft mit verwischten, verschmierten Zonen markiert, die Anästhesien, Paralysen mit fehlenden Zonen (wie in einem sehr detaillierten Triptychon von 1972).« Und ebd.: 34: »Und zunächst die berühmte Kontrakturen und Paralysen, die Hyperästhesien und Anästhesien, die assoziiert sind oder einander abwechseln, bald unveränderlich, bald wandernd sind, je nach dem Vorbeiziehen der Nervenbewegung, je nach den Zonen, die sie besetzt oder von denen sie sich zurückzieht. Sodann die Phänomene von Präzipitation und Vorwegnahme und demgegenüber die Phänomen von Verspätung (Hysteresis), von Nachträglichkeit, je nach den Oszillationen der vorauslaufenden oder verspäteten Welle. Dann der transitorische Charakter der Organbestimmungen, je nach den einwirkenden Kräften.« 10 | Vgl. ebd.: 36: »[D]as Auge wird von ihr [der Malerei] nicht wie ein festes Organ behandelt. Mit der Befreiung der Linien und Farben von der Repräsentation befreit sie gleichzeitig das Auge von seiner Zugehörigkeit zum Organismus, sie befreit es von seinem Charakter als festes und qualifiziertes Organ.«
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während das Auge gleichzeitig das für diese Gegenwart bestimmte Organ sein wird« (ebd.: 36).
Die Präsenz der Sensation im Körper und für das Auge deckt laut Deleuze Bedingungen der Sichtbarkeit auf, die aus der Perspektive einer organischen Wahrnehmung nicht erfasst werden können. Denn zum einen handelt es sich um unsichtbare Kräfte, die den Körper affizieren. Zum anderen bewirken sie dessen Desorganisation und nötigen so das Auge dazu, von der Visualisierung eines Objekts abzulassen. Beide Faktoren sind entscheidend – ich komme auf sie über einen philosophischen Umweg zurück. Was meint Deleuze, wenn er von einer organischen Repräsentation spricht? Und warum hält er Bacon als Maler der Sensation für so überaus geeignet, um im Register des Sehens die Ordnung der Repräsentation zu Fall zu bringen?
2. D ie organische R epr äsentation und das E rhabene Als organische Repräsentation bezeichnet Deleuze die allgemeinen Konturen eines sich seit der Antike durchhaltenden Denkbildes. Diesem – hier nur grob skizzierten – Bild entsprechend organisiert sich die Wahrnehmung auf einheitliche Vorstellungen hin, gemäß einer vermeintlich natürlichen Disposition, die alle Sinne und Vermögen koordiniert. Deleuze nennt dies den Gemeinsinn, der weniger eine Richtung als ein Organ für sich reklamiert, wenn er von Rechts wegen (de jure) die Natur der Wahrnehmung definiert.11 Die Heterogenität der Sinne ist ebenso auf ein harmonisches Zusammenwirken im Subjekt ausgerichtet, wie die in ihnen auftretenden Eindrücke auf die Form eines Objekts. Jeder Sinn erfüllt sei11 | Vgl. Deleuze 1969: 105: »Subjektiv subsumiert der Gemeinsinn unterschiedliche Fähigkeiten der Seele oder differenzierte Organe des Körpers und bezieht sie auf eine Einheit, die Ich zu sagen vermag: Es ist ein einziges und selbes Ich, das wahrnimmt, sich vorstellt, sich erinnert, weiß usw.; und das atmet, das schläft, das geht, das ißt […]. Objektiv subsumiert der Gemeinsinn die gegebene Verschiedenartigkeit und bezieht sie auf die Einheit einer besonderen Objektform […]: Es ist dasselbe Objekt, das ich sehe, das ich rieche, das ich schmecke, das ich berühre, dasselbe, das ich wahrnehme, das ich mir vorstelle und an das ich mich erinnere […].«
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ne spezifische Funktion, jeder Sinneseindruck lässt sich mit anderen zu einem Gesamtbild konfigurieren, das als einheitliche Vorstellung im Subjekt repräsentierbar ist. Dagegen bewirkt die Sensation so etwas wie eine Entgrenzung oder »Ausschweifung aller Sinne«. Dies ist ein Ausspruch Rimbauds, den Deleuze auf Kants dritte Kritik und insbesondere das darin entworfene Konzept des Erhabenen appliziert. Dahinter steckt ein wesentliches philosophisches Anliegen Deleuzes. Er möchte die Sinnlichkeit (aisthesis), die von Kant als eigenständiges Vermögen in den Anschauungsformen von Raum und Zeit exponiert wurde, mit der Ästhetik im Kunstwerk verschmelzen; derart, »daß sich das Sein des Sinnlichen im Kunstwerk offenbart und das Kunstwerk gleichzeitig als Experiment erscheint« (Deleuze 1968: 97). Kants transzendentale Ästhetik – die Lehre von Raum und Zeit als reinen Anschauungsformen – formuliert Bedingungen, unter denen Sinneseindrücke sich zu Erfahrungsobjekten begrifflich fortbestimmen lassen. Kurz gefasst ist Erfahrung demnach möglich, weil die Formen, in denen etwas für uns überhaupt wahrnehmbar ist, auf die Verstandesbegriffe, durch die die verschiedenen Perzeptionen zu einer Objektvorstellung verbunden werden, a priori abgestimmt sind. Nur wenn sich das Mannigfaltige der raum-zeitlichen Anschauung auf den Begriff eines Gegenstandes bringen lässt, kann es als Objekt ein und desselben Bewusstseins bestimmt und diesem als seine Vorstellung bewusst werden. Deleuze zufolge hängt damit noch die Kantische Erkenntnistheorie dem Gemeinsinn an. Sie verleiht ihm eine transzendentalphilosophische Rechtfertigung, indem sie die Erfahrung a priori auf den empirischen Normalfall der Repräsentation beschränkt. Auch die Malerei sieht sich von der Repräsentation herausgefordert. Die weiße Leinwand ist keine tabula rasa, sondern bietet eine Projektionsfläche für all die Wahrnehmungskonventionen und Bilderwelten, die gewissermaßen ausgestrichen werden müssen, damit sich das Kunstwerk nicht in deren Reproduktion erschöpft.12 Bacons Methode, die Wahrnehmungsklischees auszustreichen, besteht darin, den Zufall auf die Leinwand einwirken zu lassen. Durch ein kontrollierten Chaos von mit freier Hand ausgeführten Markierungen entwirft er eine Art taktiles Diagramm, das die optischen 12 | Vgl. Deleuze 1984: 55: »Es ist ein Irrtum zu glauben, der Maler stehe vor einer weißen Oberfläche. Der Glaube ans Figurative rührt von diesem Irrtum her: Wenn nämlich der Maler vor einer weißen Fläche stünde, könnte er darauf ein äußeres Objekt reproduzieren, das als Modell fungiert.«
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Koordinaten (Zentrum, Rand, Unten, Oben, Links, Rechts) durchkreuzt13, ohne jedoch – wie in den Drip Paintings von Pollock – die ganze Fläche zu absorbieren. Das Diagramm14 bahnt den Weg, dem Figurativen zu entkommen, um zum Figuralen, der Sensation, vorzudringen. Wenn es so etwas wie eine Logik der Sensation geben kann, dann deshalb, weil in ihr die der Sinnlichkeit eigentümlichen Bedingungen thematisiert werden. Anstatt sie im Hinblick auf die Möglichkeit von Objekterfahrung zu bestimmen, soll sie sich unmittelbar als Empfindung im Empfundenen konstituieren. Deleuze spricht von Bedingungen realer Erfahrung, die das Bedingte nicht überschreiten. Deshalb akzentuiert er den Unterschied zwischen einer begrifflich präformierten Sinnlichkeit einerseits und der ästhetisch-künstlerischen Empfindung andererseits. Es soll gezeigt werden, dass sich die Sinnlichkeit nicht von Rechts wegen (de jure) auf ihren Beitrag zur Repräsentation beschränken lässt. Denn sie vermag weit mehr, sobald sie als eigenständiges Vermögen frei zur Ausübung kommt.15 Nicht mehr vorab den 13 | Vgl. ebd.: 58: »Wenn man nämlich eine Leinwand vor der Arbeit des Malers betrachtet, so scheinen alle Stellen einander zu entsprechen, alle gleich ›wahrscheinlich‹ zu sein. Und wenn sie einander nicht entsprechen, so in dem Maße, wie die Leinwand eine determinierte Oberfläche mit Rändern und einem Zentrum ist. Dies aber vor allem in Abhängigkeit dessen, was der Maler tun will und im Kopf hat: Die eine oder andere Stelle wird im Verhältnis zu diesem oder jenem Projekt privilegiert. […] Wie aber läßt es sich im Augenblick, da ich begonnen habe, anstellen, daß das, was ich male, kein Klischee ist? Man wird schnell ›freie Markierungen‹ innerhalb des gemalten Bildes machen müssen, um die entstehende Figuration in ihm zu zerstören und der Figur eine Chance zu geben, die das Unwahrscheinliche selbst ist. Diese Markierungen sind akzidentell, ›zufällig‹ […].« 14 | Vgl. ebd.: 63: »Das Diagramm ist also die operative Gesamtheit der Linien und Zonen, der asignifikanten und nicht-repräsentativen Striche und Flecke. […] Hier arbeitet der Maler mit Lappen, Handbesen, Bürste oder Schwamm; hier wirft er die Farbe mit der Hand hin. Als ob die Hand unabhängig würde und in den Dienst anderer Kräfte träte, Markierungen zeichnete, die nicht mehr von unserem Willen oder unserem Blick abhängen.« 15 | Vgl. Deleuze 1968: 97: »Es ist daher nicht verwunderlich, daß sich die Ästhetik in zwei irreduzible Gebiete aufspaltet, in das der Theorie des Sinnlichen, das vom Realen nur seine Übereinstimmung mit der möglichen Erfahrung einbe-
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Regeln der begrifflichen Repräsentation unterworfen, kann sie sich bis zur Grenze dessen entfalten, wozu nur sie allein fähig ist. Diese Grenze bezeichnet Deleuze in Differenz und Wiederholung als das Sein des Sinnlichen. Aus der empirischen Perspektive der Repräsentation handelt es sich um das Unsinnliche. Eben deshalb wird es aber von Deleuze als transzendental ausgezeichnet. Seinem Verständnis nach dient der transzendentale Gebrauch der Vermögen keineswegs zur Begründung des empirischen. Im empirischen Gebrauch hat jedes Vermögen seinen festumrissenen Anteil an der Repräsentation eines Gegenstandes. Keines von ihnen dringt bis zu seiner eigenen Grenze vor, weil etwa das, was gesehen werden kann, stets auch als das gilt, was ebenso gehört, geschmeckt, gefühlt, imaginiert, erinnert und begriffen werden kann. Ein transzendentaler Gebrauch stellt sich dagegen ein, wenn zunächst die Sinnlichkeit durch solche Bedingungen bzw. Kräfte zur Ausübung animiert wird, die etwas sichtbar (empfindbar) machen, ohne jedoch ihrerseits empirisch darstellbar zu sein. So provoziert das Sichtbarmachen unsichtbarer Kräfte, die den Körper desorganisieren, ein unorganisches Sehen, weil das Auge nur im Verlust seiner optischen Funktion der Kräfte habhaft wird, die es erfassen. Derart wird das Sehvermögen mit dem konfrontiert, was seine eigene Grenze ausmacht, mit dem Unsichtbaren als Bedingung der Sichtbarkeit, als des ihm eigentümlichen Seins des Sinnlichen. Einen solchen Grenzfall hat Kant im Erhabenen thematisiert. Er diskutiert dort das Scheitern der Einbildungskraft, die wechselnden Eindrücke zu einer kohärenten Wahrnehmung zu synthetisieren. Die Einbildungskraft kollabiert angesichts von Naturphänomenen, deren schiere Größe sich als zweckwidrig für das Reproduktions- und Darstellungsvermögen erweist. Ausgehend von der Zweckwidrigkeit solcher Naturformen – ihrer Undarstellbarkeit – entspannt sich ein zweckwidriges, diskordantes Verhältnis der subjektiven Vermögen zueinander, wenn die Vernunft interveniert, um die Einbildungskraft zur unmöglichen Darstellung des Undarstellbaren zu zwingen. Deren Scheitern interpretiert sie als ein Zeichen der per se undarstellbaren Vernunftideen. Was im Erhabenen geschieht, versteht Deleuze als eine Entgrenzung in Bezug auf den Gemeinsinn. Wie hält, und das der Theorie des Schöne, das die Realität des Realen insofern einfängt, als sie sich anderweitig reflektiert. Alles wird anders, wenn wir Bedingungen realer Erfahrung bestimmen, die nicht weiter gefaßt sind als das Bedingte und sich wesentlich von den Kategorien unterscheiden.«
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Kant sagt, tut die Vernunft der Einbildungskraft Gewalt an (vgl. Kant 1790: § 29). Sie verlangt dieser eine Leistung ab, die gänzlich außerhalb ihrer geregelten Partizipation am repräsentativen Wahrnehmungsgeschehen liegt.16 Am Erhabenen zeigt sich, dass der Gemeinsinn keinesfalls das selbstverständliche, naturgegebene Organ ist, über das jedermann und jede Frau von Natur aus verfügen, um die Außenwelt im Einklang mit den Erkenntnisvermögen auf gegenständliche Weise zu repräsentieren. Das Auftauchen zweckwidriger Phänomene wirft Probleme auf, die sich mit den Mitteln von Repräsentation und Gemeinsinn nicht ausräumen lassen, weil solche Zeichen sich keiner Form von Gegenständlichkeit fügen. Genau auf diese Probleme hat es Deleuze abgesehen, wenn er eine Logik der Sensation als Entgrenzung der Sinne geltend macht. Die experimentelle Rolle der Malerei besteht so gesehen in der Entfaltung von Sinndimensionen (Affekten und Perzepten), die von der Repräsentation nicht abgedeckt, sondern weit eher überdeckt werden. »Die Malerei unternimmt es unmittelbar, die Präsenzen unterhalb der Repräsentation, hinter der Repräsentation freizusetzen« (Deleuze 1984: 36). Damit komme ich auf Deleuzes Definition der Malerei zurück, also auf die beiden Seiten, die in der Sensation ein seiner Ansicht nach weder repräsentatives noch organisches Verhältnis eingehen. • Auf der einen Seite das, was sichtbar gemacht wird. Es sind die Kräfte des Körpers, genauer gesagt, die Kräfte, die den Körper affizieren und im Körper wirksam und sichtbar werden. Affekte des Übergangs, der Differenz, des Werdens zwischen zwei Zuständen; instantive Deformationen, die keiner affektionalen Zustandsbeschreibung entsprechen. • Auf der anderen das Sehen als ein Haptisch-Werden des Auges. Dieser von der Sensation provozierte Funktionswandel löst die organisierten Wahrnehmungen (Perzeptionen) zugunsten von Perzepten auf, Empfindungsintensitäten ohne gegenständliche Referenz. 16 | Vgl. Deleuze 1993: 50f.: »Das Erhabene […] bringt die verschiedenen Vermögen auf eine Weise ins Spiel, dass sie einander wie Kämpfer gegenübertreten […]. Das eine treibt das andere an seine Grenze, jedes aber lässt das eine die Grenze des anderen überschreiten. […] Die Emanzipation der Dissonanz, der diskordante Einklang – das ist die große Entdeckung der Kritik der Urteilskraft, die letzte der kantischen Umkehrungen.«
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3. D ie K r äf te des K örpers Einen Terminus Antonin Artauds, den Deleuze und Guattari mit Vorliebe verwenden, wird man auch in der Bacon-Studie nicht vergebens suchen: den des organlosen Körpers.17 Mit dem organlosen Körper lässt Deleuze ein Spinozistisches Motiv wieder aufleben. Bei Spinoza heißt es: Wir wissen gar nicht, was ein Körper eigentlich vermag. Spinoza opponiert damit der Cartesischen Vorstellung, dass die Aktivität des Körpers den Geist beeinträchtige, und der Geist nur tätig werde, wenn der Körper passiv sei.18 Aus einer solchen Perspektive lassen sich die Kräfte und Fähigkeiten, über die der Körper selbst verfügt, weder erfassen noch entfalten. Unter der programmatischen Überschrift Spinoza und wir leitet Deleuze die Aktualität Spinozas aus der Expressivität eines Körpers her, der nicht organizistisch finalisiert, hierarchisch verfasst ist, sondern sein Vermögen allein aus den von ihm erprobten Zusammensetzungen und seiner Affektfähigkeit erschließt.19 Die Affektfähigkeit bemisst sich an der Kapazität eines Körpers, 17 | Vgl. Deleuze 1984: 32: »Der organlose Körper steht weniger den Organen als jener Organisation der Organe gegenüber, die man Organismus nennt. Er ist ein dichter, ein intensiver Körper. Er wird von einer Welle durchströmt, die gemäß den Variationen ihrer Amplitude im Körper Ebenen oder Schwellen einzeichnet. Der Körper hat also keine Organe sondern Schwellen oder Ebenen. […] Darum gewinnt auch die Sensation, wenn sie den Körper über den Organismus hinweg trifft, ein exzessive und spasmodische Wendung, sie durchbricht die Schranken der organischen Aktivität. […] Die Figur ist exakt der organlose Körper […]; der organlose Körper ist Fleisch und Nerven.« 18 | Vgl. Spinoza 1677: III, Lehrsatz 2, Anmerkung: »[W]as der Körper vermag, hat bisher noch niemand festgestellt, das heißt noch niemand hat bisher bei der Erfahrung darüber Aufschluß erhalten, was der Körper bloß nach den Gesetzen der Natur, sofern sie nur als körperlich angesehen wird, zu tun vermag. […] Denn bisher kennt noch niemand den Bau [fabrica (Struktur, Zusammensetzung)] des Körpers so genau, daß er alle seine Funktionen erklären könnte.« 19 | Vgl. Deleuze 1981: 159f.: »Wie definiert Spinoza einen Körper? Er definiert jeden Körper auf zwei Arten gleichzeitig. Einerseits enthält ein Körper, so klein er auch sei, immer unendlich viele Teilchen: die Verhältnisse von Ruhe und Bewegung, Schnelligkeit und Langsamkeit zwischen den Teilchen, die einen Körper in seiner Individualität definieren. Andererseits affiziert ein Körper andere Körper oder wird von ihnen affiziert: diese Macht zu affizieren und affiziert zu werden
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Kräftedifferenzen empfinden und integrieren zu können. Ein solcher Körper setzt sich aus Intensitätszonen und sensitiven Schwellen zusammen. Seine Sinne und Vermögen entwickeln sich in dem Maße, wie er fähig wird, sich von außen affizieren zu lassen.20 Mit Michel Leiris stimmt Deleuze überein, dass die Präsenz des Körpers ein frappierendes Merkmal der Baconschen Kunst ist, die Kräfte zu malen.21 Die Präsenz kommt zum Vorschein als Wirkung unsichtbarer Kräfte, die den Körper deformieren. Er wird von den Kräften des Malakts gleichsam mitgerissen und scheint sich mittels ihrer seiner organischen Konstitution zu entwinden. Dieses Geschehen versucht Deleuze einzufangen, indem er einige seiner philosophischen Konzeptionen in die Baconsche Malerei einschleust: die Fluchtbewegungen, die Faltung der Kräfte im Körper, das Tier-Werden und die Intensität als Sturz. Für Deleuze erzeugt die figurale Dynamik auf dem meist flächigen monochromen Hintergrund eine intensive Bewegung, die sowohl von der Fläche zur Figur wie umgekehrt verläuft. Der Kontrast zwischen Fläche und Figur dient demnach nicht allein zur Isolierung des Körpers, sondern bringt ihn überdies in Kontakt mit den äußeren Kräften. »Die materielle Struktur [die Fläche] rollt sich um die Kontur zusammen, um die Figur zu umfangen, die die Bewegung mit all ihren Kräften begleitet« (Deleuze 1984: 16). definiert ebenfalls einen Körper in seiner Individualität. Dies sind zwei scheinbar sehr einfache Propositionen: die eine ist kinetisch, die andere dynamisch« (vgl. Spinoza: Ethik II, Forderungen 1-6). 20 | Vgl. Deleuze/Guattari 1980: 350: »Zwischen einem Rennpferd und einem Arbeitspferd gibt es mehr Unterschiede, als zwischen einem Arbeitspferd und einem Ochsen.« 21 | Vgl. Deleuze 1984: 35: »Gegenwart, Gegenwart, das ist das erste Wort, das einem vor einem Gemälde Bacons in den Sinn kommt.« Vgl. auch Leiris 1983: 12, 32: »[S]tets drängt sich dem Verständnis unmittelbar […] auf, daß die Figuren, die diese Bilder mit Leben erfüllen, eine Art realer Präsenz besitzen, ohne dabei eine wie auch immer geartete Beziehung zu dem zu haben, was in den Bereich der Theologie fällt.« – »Man kann aber sagen, daß solch ein Gemälde vor allem ein Ort ist, an dem etwas vor sich geht, etwas sich ereignet, in einer Art von Happening, das im großen Ganzen nichts anderes ist als das plötzliche Entstehen jener unmittelbaren Gegenwart […], ohne die der Malvorgang […] null und nichtig bliebe.«
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Wie Leiris verweist Deleuze auf den Schwund der räumlichen Tiefe. Die Präsenz ergibt sich nicht zuletzt aus dem Distanzverlust zwischen einem Hintergrund und der Figur. Trotz ihrer Exponiertheit scheint die Figur immer auch ein Stück weit nach außen auszulaufen (in Schattenwürfen oder Lachen). Oder sie vollführt athletische Verrenkungen (an Turngerüsten, Kreuzen, Knochen), um die Sensation durch ihre fleischliche Defiguration zur Schau zu stellen. Der Baconsche Körper wird zum Athleten, indem er die Kräfte des Außen internalisiert, um aus sich herauszukommen.22 Als ginge es ihm in den Worten Kafkas darum, einen zu Ausweg suchen. »Eine hysterische Szene. Die ganze Reihe von Spasmen bei Bacon entspricht diesem Typus, Liebe, Erbrechen, Ausscheidung, stets der Körper, der durch eines seiner Organe zu entkommen versucht, um sich mit der Farbfläche, der materiellen Struktur zu vereinigen. […] Und der Schrei, Bacons Schrei, ist die Prozedur, mit der der Körper insgesamt durch den Mund entweicht. All die Triebkräfte des Körpers« (Ebd.: 17)
Was Deleuze als Hysterie der Malerei bezeichnet, beschränkt sich nicht auf eine dem Körper von außen aufgezwungene Präsenz. Denn auch der Körper bemüht sich mit aller Kraft, sich der Sensation aufzuzwingen. Deshalb ist der Schrei seiner Ansicht nach ein »schreien um…« – eine »Verkopplung […] der spürbaren Kraft des Schreis und der nicht-spürbaren Kraft, dessen, was schreien macht« (ebd.: 41). Durch diese Verkopplung oder Faltung der äußeren Kräfte im Inneren wird der Körper zum Akteur. Er nimmt die Kräfte in sich auf, verkörpert sie und verleiht ihnen dadurch eine Sichtbarkeit, die sie ohne ihn nicht hätten. »Wenn der sichtbare Körper einem Kämpfer gleich den Mächten des Unsichtbaren trotzt, so gibt er ihnen keine andere Sichtbarkeit als die seinige. Und in 22 | Vgl. Deleuze 1984: 16: »Von Anfang an ist die Figur der Körper, und der Körper hat seinen Ort in der Umfassung des Runds. Der Körper erwartet aber nicht nur etwas von der Struktur, er erwartet etwas an sich selbst, er wendet Anstrengungen auf sich selbst, um Figur zu werden. Nun geschieht etwas im Körper selbst: Er ist Quelle der Bewegung. Das ist nicht mehr das Problem des Schauplatzes, sondern eher des Ereignisses. […] Der Körper müht sich oder wartet eben darauf, daß er entkommt. Nicht ich versuche, meinem Körper zu entkommen, vielmehr versucht der Körper, selbst zu entkommen durch… […].«
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ebendieser Sichtbarkeit kämpft der Körper aktiv, bejaht er eine Möglichkeit des Triumphes, die er nicht hatte, solange sie im Inneren des Schauspiels unsichtbar blieben, das uns unsere Kräfte raubte und uns ablenkte. […] Wenn die visuelle Sensation der unsichtbaren Kraft trotzt, die sie bedingt, dann setzt sie eine Kraft frei, die diese zu besiegen oder zum Freund zu gewinnen vermag. Das Leben schreit um sein Leben […].« (Ebd.: 42)
Es ist demnach eine Fähigkeit, sich von äußeren Kräften affizieren lassen zu können, um sie in Impulse zur Selbstaktivierung umzuwandeln. Das Subjekt des Handelns, der Akteur, konstituiert sich im Gegebenen, in Prozessen einer variablen Selbstaffektion, die den formalen Zuschreibungen von Gattungsidentität und Artdifferenzen entweichen. Entgegen einer repräsentativen Ordnung, die die Differenz auf den Artunterschied unterhalb einer Gattungsidentität beschränkt, verleiht Deleuze der Differenz im Intensiven eine eigenständige Macht. Intensiv wird die Differenz, sobald sie keinen äußerlichen Unterschied zweier Entitäten mehr bezeichnet, sondern einen wechselseitigen Übergang, der weder der einen noch der anderen zugeordnet werden kann. Die Differenz der Kräfte ist intensiv, da jede Kraft nur in Relation, in Wechselwirkung auf andere, nicht aber an sich bestimmbar ist. Auf dem Niveau der Intensitätsdifferenzen oder Kräfterelationen lösen sich die organischen Identifikationsmuster auf. Sie weichen Zonen der Ununterscheidbarkeit, des intensiven Übergangs von einem ins andere, die Deleuze in den fleischlichen Deformationen der Baconschen Bilder lokalisiert.23 Bereits Bacons Gestaltung des Kopfes verwischt die Identitätszüge des Gesichts und lässt ihn 23 | Vgl. ebd.: 40: »In diesem Sinne liegen Bacons Probleme tatsächlich in der Deformation und nicht in der Transformation. Dies sind zwei ganz verschiedene Kategorien. Die Transformation der Form kann abstrakt oder dynamisch sein. Die Deformation aber betrifft stets den Körper und ist statisch, sie entsteht an Ort und Stelle; sie ordnet die Bewegung der Kraft unter, aber auch das Abstrakte der Figur. Wenn eine Kraft auf eine verwischte Partie einwirkt, so läßt sie keine abstrakte Form entstehen, und ebensowenig vollzieht sie eine dynamische Kombination sinnlicher Formen: Im Gegenteil, sie macht aus diesem Bereich eine Ununterscheidbarkeitszone, die mehreren Formen gemeinsam ist, auf keine davon reduzierbar, und die Kraftlinien, die sie übermittelt, entkommen jeder Form gerade durch die Klarheit, durch ihre deformierende Präzision (wie man das im TierWerden der Figuren sah).«
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in die Fleischlichkeit des Körpers einfließen.24 Des Weiteren lässt Bacon im Fleisch tierische und menschliche Elemente fusionieren. Körper verschmelzen in verwischten Zonen: »Und zwar in einem Maße, daß die isolierteste Figur Bacons bereits ein Figurenpaar ist, der in einem latenten Stierkampf mit seinem Tier verwachsene Mensch.«25 Schließlich bringt das Fleisch die Intensität im Sturz zum Vorschein. Deleuze erinnert an Kants Definition der Intensität als ein Empfindungsgrad, der gegen Null tendiert, wenn er erklärt: »Das Aktive ist der Sturz […]. Die Intensitätsdifferenz wird in einem Sturz erfahren. […] Das Fleisch rutscht von den Knochen herab, der Körper sackt, von den aufgerichteten Armen oder Schenkeln herab. Die Sensation entfaltet sich im Sturz, im Fall von einer Ebene zur anderen. Die Idee einer positiven, aktiven Realität ist hier wesentlich.« (Ebd.: 52)
Unter dem zum Einsturz gebrachten Körperschema setzt die Sensation eine Sichtweise frei, die das Auge von seiner repräsentativen Funktion entbindet. Darauf macht auch Wieland Schmid in seiner Bacon-Interpretation aufmerksam, wenn er die statische, erstarrte Bewegung der Figuren kommentiert. Bacon, der sich häufig durch Eadweard Muybridges fotografische Bewegungsstudien inspirieren ließ, bricht das sukzessive Wahrnehmungskontinuum durch eine Simultaneität unterschiedlicher Bewegungsstadien auf. Die Figur wird deformiert, weil das Gemälde das Bewegungsfaktum mit einer Präzision und Präsenz fixiert, die die kontinuierliche, re- und protentionale Zeitwahrnehmung überblendet. Im instantiven Werden verschwimmen die Konturen, an denen sich die organische Wahrnehmung
24 | Vgl. ebd.: 23: »Der Fleisch-Kopf ist ein Tier-Werden des Menschen.« 25 | Ebd.: 20; vgl. auch ebd.: 19f.: »Anstatt durch formale Korrespondenzen [Ähnlichkeiten] wird die Malerei Bacons durch eine Zone von Ununterscheidbarkeit, Ununterscheidbarkeit zwischen Mensch und Tier konstituiert.« Und weiter ebd.: 21: »Das Fleisch ist der gemeinsame Raum von Mensch und Tier, ihre Ununterscheidbarkeitszone, es ist jenes ›Faktum‹, eben jener Zustand, in dem sich der Maler mit den Gegenständen seines Schrecken oder Mitgefühls identifiziert. Der Maler ist gewiß Fleischer, aber er ist in dieser Metzgerei wie in einer Kirche, in der das Fleisch selbst der Gekreuzigte ist (Painting von 1946).«
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bei ihrer Verknüpfung vorheriger mit nachfolgenden Sinneseindrücken orientiert.26
4. D as H aptisch -W erden des A uges Die durch die Figur sichtbar gemachten Kräfte tragen nicht nur die manuellen Züge des Malakts. Im Unterschied zu Jackson Pollock dreht Bacon die Hierarchie zwischen Auge und Hand nicht radikal um. Das Manuelle, das in Pollocks Action Paintings das gesamte Feld des Sichtbaren okkupiert27, ist vom haptisch werdenden Blick zu unterscheiden. Letzterer bildet sich unter dem Eindruck der sich ihm aufzwingende Präsenz. Die Präsenz der Figur versperrt die optische Tiefensicht des perspektivisch-räumlichen Sehens.28 Bacons Figuren fehlt die Tiefe eines sie umgebenden Raums. Sie haften an dessen monochromer Flächigkeit, aus der sie reliefartig hervortreten, in einer fleischlichen Farbigkeit, die den haptischen Effekt noch unterstützt. Deleuze erklärt Bacon zu einem »der größten Koloristen seit Van Gogh und Gauguin«.29 Wie Van Gogh arbeitet er die figuralen Aspekte in gebrochenen Tonalitäten heraus, die ihre Intensität aus chromatischen 26 | Vgl. Schmid 2006: 65: »Where the imagination strives to evoke multiple facets of an individual’s life, a certain blurring of contours is inevitable. But such a condensation of complexe experience and interwoven memories into a single image outstripes our capacity to digest it, to see it as an organic whole. […] Thus we could also say that the figures in Bacon’s pictures are not his real victims. Instead, his aggression is directed at our own capacity, or incapacity, for perception. He does not mutilate the image of humanity – his target is the viewer’s nervous system.« 27 | Vgl. Deleuze 1984: 66: »Der optische Horizont hat sich gänzlich zum taktilen Boden verkehrt.« 28 | Vgl. ebd.: 76: »Viele Dinge machen aus Bacon einen Ägypter, über die Jahrhunderte hinweg. Die gleichmäßigen Farbflächen, die Kontur, die Form und der Hintergrund als zwei gleichermaßen nahe Sektoren auf derselben Ebene, die extreme Nähe der Figur (Gegenwart), das System der Klarheit.« 29 | Ebd.: 87; siehe auch ebd.: 85: »Koloristen nennt man Maler, die Valeurverhältnisse durch Tonverhältnisse ersetzen und nicht nur die Form, sondern auch Schatten und Licht und Zeit durch diese reinen Verhältnisse der Farbe ›wiedergeben‹ wollen. […] Der Kolorismus will einen besonderen Sinn des Sehens freiset-
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Mischverhältnissen beziehen. Der asymmetrisch gebrochene Ton aus der Mischung zweier Primärfarben erlangt – im Unterschied zu den durch Beimischung von Schwarz oder Weiß erzeugten Farbvaleurs – ein haptisches Kolorit.30 »Wenn es stimmt, daß die Valeurverhältnisse, die Modellierung im Hell-Dunkel oder die Modulation des Lichts die rein optische Funktion eines in die Ferne gerichteten Blicks verlangen, so erschafft die Modulation der Farbe dagegen wiederum eine spezifisch haptische Funktion, in der das Nebeneinander der reinen Töne, die auf der Fläche nach und nach angeordnet werden, eine Progression und eine Regression um einen Kulminationspunkt der Nahsicht herum bildet.« (Deleuze 1984: 81)
Statt der Modellierung von Farbkonturen macht Deleuze bei Bacon eine modulierte Farbintensität aus, die sich aus dem Spannungsverhältnis zweier Farbtöne ergibt. Auch hier findet sich so etwas wie eine Zone der Ununterscheidbarkeit, in der die Differenz beider das Auge affiziert. Ein Weder-noch als Sowohl-als-auch, in dem sich die Konturen zugunsten der Farbvarianzen verwischen, die die Kraft der Farbe fühlbar machen.31 Die Kräfte malen heißt demnach zugleich auch, der Farbe die Kraft verleihen, unmittelbar auf das Sehen zu wirken, damit dieses die Kräfte verspürt, die selbst nicht sichtbar sind.32 zen: ein haptisches Sehen der Raum-Farbe, im Unterschied zum optischen Sehen des Zeit-Lichts.« 30 | Vgl. ebd.: 96: »Die Mischung von Komplementärfarben ergibt Grau; aber der ›gebrochene‹ Ton, die ungleiche Mischung bewahrt die spürbare Heterogenität oder Spannung der Farben. Die Farbe des Gesichts wird sowohl Rot als auch Grün etc. sein. Das Grau als Potenz der gebrochenen Farbe ist ganz verschieden vom Grau als Produkt von Schwarz und Weiß. Es ist ein haptisches, kein optisches Grau.« 31 | Vgl. ebd.: 92: »[V]or allem weicht die Struktur-Farbe der Kraft-Farbe: Denn jede dominierende Farbe, jeder gebrochene Ton zeigt die unmittelbare Einwirkung einer Kraft auf die entsprechende Zone des Körpers oder Kopfes an, er macht unmittelbar eine Kraft sichtbar.« 32 | Vgl. ebd.: 98: »Man wird ein Faktum in flagranti fassen, wie man ›nach der Natur malen‹, ›aus dem Leben greifen‹ [saisir sur le vif] wird. Das Faktum selbst aber, jenes der Hand entstammende pikturale Faktum, ist die Bildung eines drit-
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Aber ist dieses Haptisch-Werden des Auges nicht darüber hinaus ein Indiz für einen anderen Distanzverlust? Denn womöglich hat sich Deleuze nirgends so sehr dem phänomenologischen Blick angenähert, wie in seiner Studie über die Sensation. Die Sensation – so Deleuze an einer Stelle – »ist Auf-der-Welt-Sein, wie die Phänomenologen sagen: Ich werde in der Sensation, und zugleich geschieht etwas durch die Sensation, das eine durch das andere, das eine im anderen« (ebd.: 27). Ist die Sensation demnach das, was mit Merleau-Ponty als die rohe Erfahrung bezeichnet werden kann? Eine Faltung im Sein, die unseren Leib in das Fleisch der Welt einbettet? Verschränken sich in ihr Sehen und Sichtbares, indem sie einander als berührendes Berührt-Werden vor aller gegenständlichen Wahrnehmung affizieren? Deckt die Malerei die unsichtbaren Strukturen auf, die unser leibliches Zur-Welt-Sein umfangen? Indem sie in den Worten Merleau-Pontys das »verschlingende Sehen öffnet […], über die ›visuellen Gegebenheiten‹ hinaus, auf ein Gefüge des Seins […], das das Auge bewohnt, wie der Mensch sein Haus« (Merleau-Ponty 1964: 19). Ungewöhnlich vorsichtig gibt Deleuze im Bacon-Buch zu bedenken, dass die »phänomenologische Hypothese […] vielleicht unzureichend [ist], weil sie sich nur auf den erlebten Körper beruft. Aber der erlebte Körper ist wenig im Verhältnis zu einem tieferen und nahezu unlebbaren Vermögen. Denn die Einheit des Rhythmus können wir nur da aufsuchen, wo der Rhythmus selbst ins Chaos, in die Nacht eintaucht und wo die Ebenendifferenzen immer wieder mit Gewalt durcheinandergeworfen werden.« (Deleuze 1984: 32)
Das ist Deleuzes Bekenntnis zum Erhabenen. Nichts kann uns von Rechts wegen zur rohen Erfahrung einer natürlichen Harmonie, eines Einklangs der Vermögen mit der Natur zurückführen. Was die unsichtbaren Kräfte sichtbar machen, sind Zeichen der Differenz. Sie desorganisieren die bestehenden Relationen von Sehen und Sichtbarem und lassen damit das Problem der Sichtbarkeit aufs Neue hervortreten. Wo, wenn nicht im Seten Auges, eines haptischen Auges, eines haptischen Sehens des Auges, jene neue Klarheit. Als ob die Dualität des Taktilen und des Optischen visuell überholt würde auf jene haptische Funktion hin, die aus dem Diagramm hervorgegangen ist.«
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hen stellt es sich als dessen eigenste Bedingung. Und wo, wenn nicht im Gemälde lassen sich die Grenzen der Sichtbarkeit derart verschieben, dass das Kunstwerk als ein Ereignis erscheint, das sich die Bedingungen seiner eigenen Sichtbarkeit erschafft. Womit sich »das Sein des Sinnlichen im Kunstwerk offenbart und das Kunstwerk gleichzeitig als Experiment erscheint« (Deleuze 1968: 97).
L iter atur Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, übers. v. J. Vogl. München [1968] 1992. Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, übers. v. B. Dieckmann. Frankfurt a. M. [1969] 1993. Deleuze, Gilles: Spinoza. Praktische Philosophie, übers. v. H. Linden. Berlin [1981] 1988. Deleuze, Gilles: Francis Bacon – Logik der Sensation, übers. v. J. Vogl. München [1984] 1995. Deleuze, Gilles: Kritik und Klinik, übers. v. J. Vogl. Frankfurt a. M. [1993] 2000. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus, übers. v. G. Ricke/R. Voullié. Berlin [1980] 1992. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie?, übers. v. B. Schwibs/J. Vogl. Frankfurt a. M. [1991] 2000. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Berlin 1790. Klee, Paul: »Schöpferische Konfessionen«, in: ders., Form- und Gestaltungslehre, hg. v. J. Spiller. Bd. 1. Basel [1920] 1971. Leiris, Michel: »Francis Bacon – en face und im Profil«, in: Katalog. Barcelona/München 1983, S. 9-44. Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist, übers. H. W. Arndt. Hamburg [1964] 1984, S. 13-43. Schmid, Wieland: Francis Bacon. Commitment and Conflict, München/ Berlin u.a. 2006. Spinoza, Baruch de: Ethik; zitiert nach der v. O. Baensch hg. Ausgabe. Leipzig [1677] 1922. Sylvester, David: The brutality of fact. Gespräche mit Francis Bacon, übers. v. H. Schneider. München 1982.
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»Notre frère à tous« Zur Insistenz der Figur Christi bei Deleuze Clemens Pornschlegel
»Viditque Deus cuncta quae fecit et erant valde bona« Gen 1, 31
1 »Noch inmitten ihres Scheiterns hört die amerikanische Revolution nicht auf, ihre Fragmente weiter zu schleudern und auf der Linie des Horizontes etwas fliehen zu lassen; sie hört nicht auf, sich ins All zu katapultieren, die Mauer zu durchbrechen, das Experiment fortzusetzen, eine Brüderlichkeit in diesem Unternehmen zu finden, eine Schwester in diesem Werden, eine Musik in der stotternden Sprache, einen reinen Ton und unbekannte Akkorde im Sprechen. Was Kafka von den kleinen Nationen sagt, sagt Melville bereits von der großen, amerikanischen Nation, insofern sie das Patchwork aller kleinen Nationen sein soll. Was Kafka von den kleinen Literaturen sagt, sagt Melville schon von der amerikanischen Literatur seiner Zeit: Weil es in Amerika nur wenige Autoren gibt und weil das Volk sie kaum beachtet, fehlen dem Schriftsteller alle Bedingungen dafür, es zum anerkannten Meister zu bringen. Umso mehr bleibt er, noch im Scheitern, der Träger eines kollektiven Sprechens, das nicht mehr zur Literaturgeschichte gehört, und umso mehr bewahrt er die Rechte eines kommenden Volkes oder eines menschlichen Werdens. Schizophrene Berufung: Selbst in seiner Katatonie oder Anorexie ist Bartleby nicht der Kranke. Er ist vielmehr der Arzt eines kranken Amerika, der Medicine-Man, der neue Christus oder unser aller Bruder.«1 (Deleuze 1993: 123) 1 | Die Übersetzung wurde auf der Grundlage des französischen Textes leicht modifiziert.
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Mit diesen Sätzen beschließt Deleuze seine Lektüre der Novelle Bartleby von Herman Melville. Die Passage wirkt auf den ersten Blick überraschend. Denn die Sätze vom »neuen Christus«, von der Heilung einer kranken Welt durch den Leidenden, von der Hoffnung auf das kommende Volk und eine neue Brüderlichkeit greifen ersichtlich auf Figuren des messianischen Heils und der Erlösung zurück, kurz, auf Begriffe theologischer und religiöser Provenienz. Theologische Begriffe aber sind genau das, was der Philosophie – zumal einem Denken, das sich auf Nietzsche beruft – widerspricht und was ein Denken der Immanenz radikal von sich weist. »Eine systematische Philosophie der Immanenz muss sich kritisch und negierend dem entgegenstellen, was sie nicht ist – den Systemen des Glaubens und des Meinens«, stellt Alberto Gualandi in seiner DeleuzeMonographie lapidar dazu fest. (Gualandi 2009: 20) Und trotzdem taucht in Deleuzes Philosophie der Immanenz – die Passage zu Melvilles Bartleby zeigt es – unversehens ein »neuer Christus« auf. Die Fragen, die sich damit stellen, liegen auf der Hand: Wie ist das Syntagma vom »neuen Christus« im Kontext des Deleuze’schen Denkens zu lesen? Welcher Sinn kommt dem Namen »Christus« zu? Was besagt das Attribut »neu«? Und wieso Christus – und nicht Buddha, Aphrodite oder Shiva? Und davon ausgehend stellt sich dann weiter die Frage nach dem Verhältnis des Deleuze’schen Immanenz-Denkens zu religiösen Figuren. Handelt es sich um polemische Zurückweisungen? Radikale Ausschlüsse? Umwertungen? Parodien? Unbewältigte Restbestände? Niederlagen? Welche Funktion haben theologische Begriffe im Denken Deleuzes? Dass theologische Begriffe im Werk Deleuzes eine Rolle spielen, lässt sich jedenfalls, allen kritisch negierenden Oppositionen zum Trotz, kaum leugnen. Der Text zu Melvilles Bartleby ist nicht der einzige Text, in dem der Name »Christus« ausdrücklich auftaucht. Von der ersten Publikation Deleuzes an, Du Christ à la bourgeoisie aus dem Jahr 1946, über das bahnbrechende Nietzsche-Buch von 1962, Nietzsche et la philosophie, das Vorwort zu D.H. Lawrences Essay Apocalypse aus dem Jahr 1978, das Kapitel über die »Gesichtlichkeit« in Mille Plateaux, die eindringlichen Passagen zum notwendigen Glauben an die Welt in Image-Temps (vgl. Deleuze 1985: 223ff.) bis hin zum Text zu Melvilles Bartleby lassen sich in Deleuzes Werk wiederholt Auseinandersetzungen mit dem christlichen Gott und dem Christentum beziehungsweise mit theologisch konnotierten Begriffen finden. Allein schon die Regelmäßigkeit und Konstanz, mit der Deleuze auf theologische und religiöse Figuren zurückkommt – auf die Figuren des Erlösers,
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des Propheten, des Apokalyptikers, des Glaubens, der Gnade – macht deutlich, dass es sich keineswegs nur um Beiläufigkeiten, Zufälle oder vage Metaphoriken handelt. Zu behaupten, dass das Verhältnis des Deleuze’schen Immanenz-Denkens zum Bereich des Theologischen und Religiösen eines der reinen, womöglich folgenlosen kritischen Negation wäre, wird weder der Vielzahl noch der Regelmäßigkeit der Berührungen gerecht. Fruchtbarer scheint deswegen eine andere Hypothese, dass nämlich die Konfrontation mit religiösen und theologischen Doktrinen, mit der jüdischen Prophetie und dem Gesetz, mit der Figur des christlichen Erlösers, der Frage der ›croyance‹, aber auch der fortgesetzten ›création‹ in den Kern des Deleuze’schen Denkens selbst führt. Der Grund für die Annahme ist schnell genannt: Die Auseinandersetzung mit religiösen Figuren und Begriffen (Heil, Erlösung, Prophetie, Christus, Glaube, Gnade, Priesterschaft) kreist um genau jenen Motivkomplex, der für das gesamte Werk entscheidend ist: nämlich um den Komplex des Urteils, des »jugement« beziehungsweise des »système du Jugement«, also des Systems des Gerichts und des Urteilens. Das Urteilsvermögen ist für Deleuze das furchtbarste aller menschlichen Vermögen, mit dem es – jedenfalls als autonomes, den anderen Vermögen übergeordnetes Vermögen – endlich Schluß zu machen gilt. Das gesamte Werk mitsamt seinen polemischen Spitzen gegen die Reflexionsphilosophie und die analytische Philosophie lässt sich als Versuch verstehen, das Denken dem »système du Jugement« zu entreißen.
2 Wenn es einen Schrei gibt, der das Denken Deleuzes vom Anfang bis zum Ende durchzieht und der ihm seine unverwechselbare ethische Signatur verleiht, dann ist es der Schrei: »Urteilen ist fürchterlich! Es ist unerträglich! Hört endlich auf damit! Schluß mit dem Gericht! Pour en finir avec le jugement!« Deleuzes Kommentare zu Artaud, Kafka, Melville, Nietzsche, Beckett, D.H. Lawrence, aber auch zu Bergson, Spinoza, Leibniz und Kant arbeiten sich ein ums andere Mal an der Hinterhältigkeit und Grausamkeit des Urteils ab. Wenn es Schluss zu machen gilt mit dem Urteilen, dann deswegen, weil es das Leben unterjocht, es klein macht und einsperrt, es ins Ressentiment drängt, in die kleine Kritik des permanenten Besserwissens, Diskutierens, Verhinderns, des lähmenden ›richtigen‹ Argumentierens, des ›ordentlichen‹ Redens und Denkens. »Der Maler Gus-
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tave Courbet sprach von Leuten, die nachts aufwachen und brüllen: ›ich will urteilen, ich muß unbedingt richten‹. Reiner Wille zu zerstören, sich überall einzunisten und auf immer und ewig das letzte Wort zu haben.« (Deleuze 1993: 56) Nichts bekämpft Deleuze hartnäckiger als den furchtbaren Willen zu richten. Nichts versucht er, unmöglicher zu machen. Denn stets wird im System des Gerichts das, was aus sich selbst existiert und lebt, was sich einen Weg zu bahnen sucht, was in einem unabgeschlossenen Werden begriffen ist, externen, vorfabrizierten Codes, Maßstäben, Idealen oder Modellen unterworfen, in deren Namen das, was da ist und was wird, sich fortlaufend negieren und anhalten lässt: als Falschheit, Abweichung, Fehler, Irrtum, Sünde, Verbrechen, Verstoß, Krankheit, Defizienz. Im System des Urteils legt sich über das, was lebt, existiert und sich gerade entfaltet, stets der große, schwarze Schatten des Mangels und Ungenügens, des Verwerflichen und Bösen. Und im Herzen der Finsternis, in die das Urteilsregime das Leben stürzt, ahnt man schon den Willen zur Zerstörung und zur Vernichtung. Im kleinsten Urteil spürt man schon die rachsüchtige Wut aufs Leben, den Haß auf das, was vielfältig existiert und was nicht dem einfältigen (Vor-)Bild entspricht, auf das die großen und kleinen Richter die Welt permanent zu reduzieren suchen. Anstelle das Lebendige in seiner offenen, werdenden Vielfalt zu bejahen, injiziert das Urteilsregime allem und jedem das Gift des Negativen, der Trennung von sich selbst, der Vernichtung. Nichts kann mehr sein, wie es ist und – vor allem – wird; alles wird ins Nichtige gezerrt, den Kategorien der herrschenden Codes und den kleinen Idealen der angeblich besseren Welten unterworfen, das heißt den Chimären dessen, was nicht ist, ganz gleich, ob das ›nicht‹ ein ›noch nicht‹ oder ›nicht mehr‹ meint. Büchners Lenz, dessen Wanderung durchs Gebirg’ nicht zufällig den Anti-Ödipus eröffnet, (vgl. Deleuze/Guattari 1972: 7f.) sagte es nicht anders: »Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen, unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen. Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist, das Gefühl, daß Was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen Beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen. […] Die Leute können auch keinen Hundsstall zeichnen. […] Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur.« (Büchner 1835: 234)
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Verachtung des Lebens und Hass auf die defiziente Wirklichkeit sind es, die den Idealismus im Innersten beseelen. Idealismus heißt hier jene – sowohl begriffliche als auch perzeptive und affektive – Operation, die darin besteht, alle Phänomene auf ihr so genanntes wahres Wesen, auf ein ebenso grandioses wie unwirkliches Urbild zu beziehen, das ihnen als Vorbild entgegengehalten wird und hinter dem sie per definitionem zurückbleiben müssen. Je höher und idealer das Vorbild, desto größer die Verachtung und Geringschätzung des Wirklichen; je grandioser die Träume, desto unbarmherziger die Verfolgung und Verurteilung des Lebendigen. Eine haltlose Welt aus Chimären, Einbildungen, Phantasmagorien wird der real existierenden Welt als Maßstab vorgesetzt und hört dann nicht mehr auf, das Wirkliche zu denunzieren, es zu gängeln und zu maßregeln. So wie in Büchners Woyzeck der philosophierende Doctor das Versuchsobjekt Woyzeck mit einem Ideal vom Menschen und dessen liberum arbitrium terrorisiert und Woyzeck kurzerhand zum Hund-Sein verurteilt, selbstverständlich mit den besten humanistischen Absichten: »D octor Ich hab’s gesehn Woyzeck; Er hat auf Straß gepißt, an die Wand gepißt wie ein Hund. Und doch 2 Groschen täglich. Woyzeck, das ist schlecht. Die Welt wird schlecht, sehr schlecht. Woyzeck Aber Herr Doctor, wenn einem die Natur kommt. D octor Die Natur kommt, die Natur kommt! Die Natur! Hab’ ich nicht nachgewiesen, daß der musculus constrictor vesicae dem Willen unterworfen ist? Die Natur! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit. Den Harn nicht halten können! Schüttelt den Kopf, legt die Hände auf den Rücken und geht auf und ab.« (Büchner 1837: 157)
Büchners sarkastische Darstellung philosophischer Reden ist weder verzerrende Karikatur noch Fiktion. Büchner wiederholt in den Sätzen des »Doctors« ganz einfach den aktenkundigen Idealismus des Kantianers und nachmaligen Rektors der Universität Leipzig, Johann Christian August Clarus, (ebd.: 951ff.) der hinter jeder Normverletzung per definitionem eine freie Willensentscheidung »des Menschen« am Werk sah. Eben weil sich »in dem Menschen« – das heißt im Wesen aller Menschen – »die Individualität zur Freiheit verklärt«, bleibt jeder, der seinen Harn nicht halten kann, mit Notwendigkeit hinter seinem wahren Menschsein zurück und macht sich eines Vergehens an der eigenen Menschlichkeit schuldig. Die Normen der wahren Menschlichkeit sind zwar nicht die der Natur, aber es
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sind auch nicht, wie Büchner deutlich macht, die eines zeitlosen Ideenhimmels. Es sind bloß die der guten Gesellschaft, die ihre Konventionen zu unverrückbaren Wesenheiten und Idealen verklärt, um den Rest der Welt damit umso besser verurteilen und hinrichten zu können. Wenn Deleuze Büchners Lenz mitsamt seiner Flucht vor den verurteilenden Idealismen zur emblematischen Figur eines anti-ödipalen Lebens macht, dann weil er, wie Büchner, den unerträglichen Terror und die kalte Wut wahrnimmt, die in jeder vorgängig fixierten Wesensbestimmung nistet. Was als Erkenntnis des ›wahren Wesens‹ auftritt, entpuppt sich als Akt des Verächtlichmachens, der Denunziation, der Arroganz und eines eitlen, sentimentalen Narzissmus. »Hab’ ich nicht nachgewiesen… Was wird die Welt doch schlecht, sehr schlecht!« Getragen wird die Verachtung und Verurteilung des Lebens von der – allzu menschlichen, allzu interessierten – Annahme einer höheren Natur der Dinge, die sie vorab definiert, auf die sie je schon verpflichtet sind und in deren Namen die Wirklichkeit sich dann richten und zurichten lässt. Mit François Châtelet nennt Deleuze die Annahme einer höheren, idealen Natur eine »outrecuidance«, Vermessenheit und Überheblichkeit also. »In unserem Philosophenjargon nennen wir ein Prinzip, das zugleich als Quelle aller Argumente und als höhere Wirklichkeit angesetzt wird, Transzendenz. Das Wort ist hübsch, und ich finde, es passt. Die kleinen und großen Überheblichen, vom Ortsgruppenleiter bis zum Präsidenten der Vereinigten Staaten, vom Psychiater bis zum Vorstandsvorsitzenden, sie brauchen alle ihre tägliche Dosis Trans zendenz, genauso wie ein Säufer seinen täglichen Rotwein braucht. Der mittelalterliche Gott hat sich in alle säkularen Winde zerstreut, ohne dabei seine tiefe, formale Einheit einzubüßen: Die Wissenschaft, die Arbeiterklasse, das Vaterland, der Fortschritt, die Gesundheit, die Sicherheit, die Demokratie, der Sozialismus – die Liste würde allzu lang – heißen seine neuen Gestalten. Als Transzendenzen haben sie seinen Platz eingenommen (das heißt, dass er noch überall da, dass er allgegenwärtig ist) und gehen mit noch größerer Brutalität ihren Organisationsund Vernichtungsaufgaben nach.« (Deleuze 1988: 7f.)
Einheitliche Organisation und Vernichtung all dessen, was nicht ins höhere Schema passt, was anders ist und womöglich die himmlisch ungreifbare Wirklichkeit (der Firma, der Wissenschaft, des Vaterlands, des Menschen, der Demokratie usw.) in Zweifel zieht, gehören zusammen, so wie Transzendenz und Urteil zusammengehören. Beide überspringen das Wirkliche
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in seiner Vielheit und seinem Werden, das sich gerade nicht – und zwar in genau dem Maße, in dem es sich permanent verändert und wird – auf vorgegebene höhere Ideen, Codes oder zeitlose Wesenheiten rückbeziehen lässt, jedenfalls nicht ohne Gewalt und Destruktion, nicht ohne Repression und Vernichtung. Die Motive eines Denkens der Immanenz, wie Deleuze es systematisch zu entfalten sucht, sind evident. Es geht um die Zurückweisung uniformierter, im voraus codierter Organisation und hierarchischer Strukturbildung in sämtlichen Bereichen des (univoken, egalitären) Seins, um die Zurückweisung jeder Art von Transzendenz, die die (vielfach) existierenden Dinge zu defizienten Nachbildern einer höheren (Un)Wirklichkeit macht, in deren Namen sie identifiziert (codiert) und verurteilt werden – etwa wenn die im Plural existierenden Menschen auf ein transzendentes Ideal vom Menschen bezogen werden, das die Vielen dann zu verurteilen erlaubt: Unmensch, Halbmensch, Hund, Ungeziefer, ein bisschen mehr und ein bisschen weniger Mensch. Was Deleuze mit Nietzsche dabei immer wieder hervorhebt, ist der Sachverhalt, dass die Bedingung des Urteils und des Richtens das je schon vorausgesetzte und angenommene Schuldverhältnis gegenüber der transzendent angesetzten Wirklichkeit ist: »Der Mensch apelliert nur insofern ans Gericht, er ist nur insofern beurteilbar und urteilt selbst, als seine Existenz jener unendlichen Schuld unterworfen ist.« (Deleuze 1993: 171) Nur als im voraus Schuldiger verlangt er nach dem Gericht und macht sich selbst zum Richter. Das Unterwerfungs- und Schuldverhältnis gegenüber einer höheren (göttlichen) Welt ist es, das dem seltsamen Willen zum Richten und Gerichtetwerden vorausgeht – und nicht umgekehrt. Nicht der interessierte, singuläre Akt des Abschätzens der Dinge, wie er jedem Sein eignet, ruft bereits nach Transzendenzen, sondern umgekehrt: erst die Annahme von Transzendenzen und höheren Wirklichkeiten setzt die permanenten Verurteilungen des Seins in Gang. Im leeren, unendlichen Auge einer (angeblich) höheren Welt wird jedes Sein prinzipiell zum mangelhaften, sündigen, nichtigen Sein und muss deswegen – de profundis – nach Rechtfertigung schreien, nach Freispruch (der freilich immer nur scheinbar sein wird, jedenfalls bis zum Tag des Jüngsten Gerichts) und genauer Schuldzuweisung. Ohne die vorgängige Unterordnung und Entwertung des Seins bezüglich einer ›höheren‹ Wirklichkeit, der gegenüber es je schon schuldig ist, kürzer gesagt: ohne die Lehre von der Erbschuld, gäbe es nichts zu verurteilen und für nichtig zu erklären. Kafka hat es in seinen
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Texten immer wieder gezeigt: Die Schuld geht nie aus realen Tatbeständen und Wirklichkeiten hervor, sondern das vernichtende Urteil ergibt sich, wie von selbst, aus einem vorgängig angenommenen, immer schon existierenden Schuldverhältnis. Das Urteilsregime oder die »Lehre vom Gericht«, wie Nietzsche sagt, setzt das Schuldigsein als seine Bedingung voraus, und es wird deswegen prinzipiell auch fündig. »Der Grundsatz, nach dem ich entscheide, ist: Die Schuld ist immer zweifellos.« (Kafka 1919: 104) Wie könnte es anders sein? Sobald das diesseitige Sein auf ein vollkommenes, himmlisches Sein als dessen Nachbild bezogen wird, kann es nur noch mangelhaft sein, verschuldet an eine grandiose Ursache, die es nie einholen kann. Dieser grundsätzlichen (Erb-)Schuld, wie sie das Urteilsregime mitsamt seinen transzendenten Instanzen antreibt, setzt Deleuze das Ethos immanenter Existenz und der permanenten Kreation entgegen: »Das Urteil verhindert die Ankunft jeder neuen Existenzweise. Denn eine neue Existenzweise erschafft sich durch ihre eigenen Kräfte, das heißt durch die Kräfte, die sie zu ›fangen‹ versteht, und sie steht als Wert für sich selbst, sofern sie die neue Verbindung zur Existenz bringt. Vielleicht ist dies das Geheimnis: zur Existenz bringen, nicht richten. Wenn es so widerwärtig ist zu richten und zu urteilen, dann nicht, weil alles gleich gültig wäre und alles aufs Gleiche hinausliefe, sondern – ganz im Gegenteil – weil alles, was etwas wert ist, nur dadurch entstehen, sich auszeichnen und von anderem unterscheiden kann, dass es dem Urteil trotzt. Welches Expertenurteil könnte in der Kunst über ein kommendes Werk urteilen? Wir haben die anderen Existierenden nicht zu verurteilen, sondern zu fühlen, ob sie uns bereichern oder nicht, das heißt, ob sie uns Kräfte geben oder uns zurückfallen lassen ins Elend des Krieges [das heißt, der Herrschaft und Zerstörung], in die kleinen Bilder des [körperlosen] Traums oder die rigiden Zwänge der Organisation.« (Deleuze 1993: 183)
3 Trotz der Zurückweisung frecher Transzendenzen, die das Sein in die unendliche Verschuldung stürzen, hört die Figur »Christus« nicht auf wiederzukehren, und zwar als ambivalente, changierende Figur auf der Schwelle von Transzendenz und Immanenz, Diesseits und Jenseits, Wirklichkeit und Chimäre, Kreation und Destruktion. Mit Nietzsche (der sich seinerseits auf die aufklärerische Theologie des 18. und 19. Jahrhunderts
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stützt) unterscheidet Deleuze zwischen der historischen Figur Jesus Christus einerseits und der in seinem Namen etablierten Religion namens Christentum andererseits. Auf ihren ›Stifter‹ bezieht sie sich wesentlich im Modus der Verkehrung und Fälschung, der ressentimentgeladenen Umwertung und Instrumentalisierung. Fälschung, Instrumentalisierung und ›Transzendentalisierung‹ sind das Werk insbesondere zweier Autoren: Paulus von Tarsus, der Stifter der universalen, christlichen Institution Kirche, und Johannes von Patmos, der Autor der Apokalypse. In seinem Vorwort zu D.H. Lawrence Essay über die Offenbarung schreibt Deleuze zur Differenz zwischen Christus und dem posthum erfundenem Christentum, das um die fabelhafte Auferstehung kreist: »Das Unternehmen Christi ist individuell. Das Indviduum an sich ist weniger der Kollektivität entgegengesetzt, sondern Individuelles und Kollektives stehen sich in jedem von uns als zwei verschiedene Teile der Seele gegenüber. Nun wendet sich Christus kaum an das, was in uns kollektiv ist. Sein Problem war eher‹ ›das kollektive System der alttestamentarischen Priesterschaft, der jüdischen Priesterschaft, und ihre Macht zu vernichten, aber nur, um die individuelle Seele von diesem Beiwerk zu befreien. Was den Kaiser betrifft, so würde er ihm lassen, was des Kaisers ist. Insofern ist er Aristokrat. Er glaubte, dass eine Kultur der individuellen Seele genügen würde, um die in der kollektiven Seele verborgenen Ungeheuer zu vertreiben. Ein politischer Irrtum. Er überließ es uns, mit der kollektiven Seele, mit dem Cäsaren außerhalb und in uns, mit der Macht in uns und außer uns zurechtzukommen. In dieser Hinsicht hat er unaufhörlich seine Apostel und Jünger enttäuscht. Man könnte sogar denken, dass er es absichtlich tat. Er wollte kein Meister sein und auch nicht seinen Schülern helfen (nur sie lieben, wie er sagte, aber was verbarg sich dahinter?). Er hat sich nie wirklich mit ihnen vermischt oder wirklich mit ihnen gearbeitet und gehandelt. Er war die ganze Zeit allein. Er hat sie völlig verwirrt, und was jenen anderen Teil ihrer selbst anging, so hat er sie fallen lassen. Er weigerte sich, ihr physischer Herrscher zu sein: das Bedürfnis eines Mannes wie Judas, der Macht zu huldigen, fühlte sich betrogen! So betrog er seinerseits…‹ Die Apostel und Jünger zahlten es Christus heim: Verleugnung, Verrat, Fälschung, unverschämte Verdrehung der frohen Botschaft. Lawrence sagt, die Hauptperson des Christentums sei Judas. Und dann Johannes von Patmos, und dann erst Paulus. Sie bringen den Protest der kollektiven Seele, den von Christus vernachlässigten Teil zur Geltung. […] Die kollektive Seele will die Macht. […] Sie will die bestehende Macht freilich nicht einfach an sich reißen oder nur den Despoten auswechseln. Denn einerseits will sie die Macht tat-
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sächlich zerstören, sie hasst die Macht und die Herrschaft. Johannes von Patmos hasst den Kaiser und das römische Reich aus tiefstem Herzen. Andererseits will sie aber auch in jede Pore der Macht eindringen, ihre Zentren vervielfachen, sie über das ganze Universum ausbreiten: Sie will eine kosmopolitische Macht, aber nicht offen wie das Imperium, sondern in allen Ecken und Winkeln, in allen dunklen Nischen, in jeder Falte der kollektiven Seele.«2 (Deleuze 1993: 54-56)
Mit D.H. Lawrence wiederholt Deleuze die Unterscheidung zwischen Christus, dem individuellen, aristokratischen Befreier, und dem Christentum als einem rachsüchtigen Kollektivunternehmen groß angelegter Politik – Differenzierung, die Nietzsche im Antichristen bereits formuliert hatte. Auf der einen Seite steht Christus und seine, wie Deleuze ausdrücklich formuliert, »elegante Immanenz« – jener Christus also, »für den sich die Ewigkeit zuallererst im Leben bewies und sich nur im Leben erweisen konnte (›sich im Himmel fühlen‹)« (ebd.: 59) –, auf der anderen Seite das düstere Fälschungswerk Paulus’ und Johannes’, die aus der Immanenz des christlichen Lebens eine neue, universale Priesterherrschaft fabrizieren: »Der christliche Priester löst den jüdischen ab, und beide wenden sich gegen Christus. Man wird Christus die schlimmste aller Prothesen verpassen: Man wird ihn zum Helden der Kollektivseele machen, man wird ihn zwingen, der kollektiven Seele zu geben, was er niemals geben wollte. Oder anders: Das Christentum wird ihm das zusprechen, was er immer hasste, ein kollektives Ich, eine kollektive Seele. Die Apokalypse ist ein monströses Ich, das Christus angehängt wird. […] ›Immer nur Titel der Macht, niemals Titel der Liebe. Immer Christus der allmächtige Eroberer, der sein großes Schwert glänzen lässt und der zerstört. […] Niemals Christus, der Erlöser.‹ […] Nur deswegen wird man ihn mit allen Tricks wiederauferstehen lassen, ihn, der nicht gerichtet hat und nicht richten wollte. Man wird aus ihm ein zentrales Rad im System des Gerichts machen. Denn die Rache der Schwachen ist dann am stärksten, wenn das Urteil, das furchtbarste aller Vermögen, zum obersten Vermögen der Seele wird. (Zur sekundären Frage einer christlichen Philosophie: Ja, es gibt eine christliche Philosophie, weniger kraft des Glaubens, sondern sobald das Urteilen als autonomes Vermögen angesehen wird und dazu das System und die Garantie Gottes braucht).« (Ebd.: 57)
2 | Das Zitat im Zitat entstammt Lawrences Apocalypse.
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Dem rachsüchtigen System des Urteilens und Richtens steht die verschwenderische Liebe entgegen, der Zerstörung die Brüderlichkeit, dem Tod das schöpferische, freigiebige Leben. Wo Christus den Akzent auf das Leben und die Vergebung der Schuld gesetzt hatte (»nicht sich wehren, nicht zürnen, nicht verantwortlich-machen…« (Nietzsche 1895: 208)), dort werden Johannes von Patmos und Paulus ein »System von Grausamkeiten« (ebd.: 210) aufrichten: Jenseits, Jüngstes Gericht, unsterbliche Seele, Schuld, Strafe, Tod, Verdammnis, eine raffinierte Theologie der Sünde noch vor und nach allen Werken. Wo Christus eine immanente Praxis des Himmels und des seligen Lebens gelehrt hatte – »das Himmelreich ist ein Zustand des Herzens – nicht Etwas, das ›über der Erde‹ oder ›nach dem Tode‹ kommt […]; es hat kein Gestern und kein Übermorgen […]; es ist eine Erfahrung an einem Herzen, es ist überall da, es ist nirgends da…« (ebd.: 207) –, dort vernichten Paulus und Johannes von Patmos mit ihrer heidnisch-jüdischen Transzendenz-Religion jede immanente Praxis der Seligkeit und stellen das Leben in den Horizont des apokalyptischen Welt-Gerichts – am Ende der Zeiten, wenn alles gründlich massakriert, vernichtet und untergegangen sein wird. Aus Christus, dem Erlöser, wird ein kaltblütiger Rächer und Richter der Zukurzgekommenen, aus der Praxis des Verzeihens eine Apparatur der Verfolgung und universalen Verurteilung, an die Stelle der Erlösung tritt die unendliche Potenzierung von Schuld im Dienst der neuen Psycho-Macht: »in jede Pore eindringen, sie über das ganze Universum ausbreiten, sich einnisten in jede Falte der kollektiven Seele…«
4 Weswegen aber eigentlich diese Spaltung Christi in einen kollektiven falschen und einen individuellen wahren Christus? Weswegen die Unterscheidung zwischen dem individuellen, aristokratischen Evangelium Christi einerseits und einem kollektiven, machtpolitisch ausgerichteten Dysangelium Paulus’ und Johannes’ andererseits? Sind Paulus und Johannes tatsächlich nichts anderes als ›Fälscher‹ der wahren Botschaft? Ist der Buchstabe der Evangelien tatsächlich ein Verbrechen am Geist? So verständlich der Affekt gegen das »System der Grausamkeiten« wird, so unklar bleibt das hartnäckige Festhalten am Bezug auf den Namen und Titel »Christus«, des Messias, das Aufrechterhalten der »Referenz Christus« –
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bei Nietzsche, bei D.H. Lawrence, aber auch bei Deleuze. Bekämpft – mit mehr oder weniger polemischer Verve – wird das religiöse System und die Institution namens »Christentum«, dieser neunzehnhundertjährige Irrtum, die monströse Machtapparatur der Kirchen, die alt- und neutestamentliche Falschmünzerei, die Priesterherrschaft und der Priesterbetrug, ob jüdisch oder christlich, die anmaßende Überheblichkeit der Transzendenzen. Wundersamerweise bleibt aber der Name oder besser: der Titel »Christus« von allen anti-christlichen Polemiken ausgenommen. Man vergisst Christus nicht einfach als décadent oder Buddha unter anderen, als spirituellen Meister oder politischen Amateur unter anderen, sondern man nimmt den Titel seinerseits in Anspruch für ein Denken der eleganten Immanenz. Deleuze überträgt den Titel »Christus« auf Melvilles BartlebyFigur, aber auch auf Lawrence, der stirbt, wie Deleuze schreibt, »wie alle genialen Geister, indem er seine Bänder und Bandagen behutsam faltet und ordnet (Christus hatte das, wie er annimmt, so gemacht)«. (Deleuze 1993: 73) Dabei behält der Name seinen hoffnungsvollen Klang, und er verspricht nach wie vor: universale Befreiung, Rettung, Erlösung, Heilung, Durchbrechung der Mauer, Fortsetzung des Experiments, Fragmente der Brüder- und Schwesterlichkeit. Die decodierende Geste Christi, nämlich die Verabschiedung des alten Gesetzes, aller Codes, Normen und Institutionen, das Aufbegehren gegen die etablierten Mächte sowohl des imperium romanum als auch der jüdischen Hohepriesterschaft, wird nicht in Frage gestellt. Ganz im Gegenteil. Sie wird verlängert und mit Nachdruck gegen jene Institution gekehrt, die sich – boshafterweise – auch auf ihn beruft und ihn dabei ins ›Jenseits‹ katapultiert. Freilich ist sie der »falsche Bewerber« um die Nachfolge, sie ist der fälschende, bösartige, rachsüchtige, noch allzu jüdische, allzu heidnische, römische Bewerber. Ihr stehen Nietzsches »gute Europäer« und Deleuzes bessere »Amerikaner« entgegen, Melville, Whitman, Fitzgerald, Henry Miller… – und zwar als Figuren eines stets erneuerten, decodierenden Christentums des Westens, das nicht Vorschriften und Gesetze unterwürfig befolgt, sondern freie Lebens-Praxis der freien Brüderlichkeit ist, die auf jedes egoistische Ich zu verzichten weiß, ganz im Sinne des Pascalschen »le moi est haïssable«. (Pascal 1963: 584) Kurzum, die Ethik der Immanenz, wie Deleuze sie immer wieder entfaltet, widerspricht der Tradition der imitatio Christi nicht, sondern schreibt sie auf radikale, decodierende Weise fort.
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Dem katholischen Philosophen Maurice de Gandillac, der Deleuze habilitierte und blieb ihm zeit Lebens freundschaftlich verbunden, sind diese hyper-christlichen Bezüge in der Deleuze’schen Feier der Immanenz nicht entgangen. Zu Deleuzes Nietzsche-Interpretation (anlässlich des Kolloquiums in Cérisy-La-Salle im Juli 1972)3 hält er in seinem intellektuellen Tagebuch fest: »Deleuze entzaubert die entmystfizierende Triade [Nietzsche, Freud, Marx], die Foucault in Royaumont gefeiert hatte. Als Schulmeister und Hüter der ›Codes‹ bleiben Marx und Freud ›Bürokraten‹. Allein Nietzsche ist der Herold der ›absoluten Dekodierung‹. Auf einer ›Pascalschen Barke‹, die ›abdriftet auf eiskalten, unterirdischen Gewässern oder in tropischen Strömungen‹, sind ›Leute‹ unterwegs, ohne Kompass und Karte, die ›sich nicht lieben, sich schlagen, ja gegenseitig auffressen‹, die aber ›gemeinsam rudern‹, und ›gemeinsam rudern, heißt etwas teilen, ja brüderlich teilen‹. Mit diesem kleinen Satz stellt unser Freund, und sei es ›außerhalb des Gesetzes, ohne jede Institution und ohne jeden Vertrag‹, wieder so etwas her wie eine (fast) menschliche Gemeinschaft. Deleuze haucht damit jenen warmen Worten wieder Leben ein, für die wir – vor noch gar nicht so langer Zeit – [Robert] Garric und [Emmanuel] Mounier unendlich dankbar waren. Für diesen Augenblick des Glaubens [foi] oder der Hoffnung werde ich Gilles umarmen – Gilles, der mich wegen seiner Offenheit und Frechheit, so oft an den Gilles von Watteau denken lässt.« (Gandillac 1998: 426)
Nimmt man de Gandillacs Sätze ernst, gerade in ihrer sanften freundschaftlichen, doktorväterlichen Ironie, dann wird deutlich, dass Deleuzes Anti-Juridismus und Anti-Institutionalismus in die Tradition des westlichen Christentums selbst gehört – eine Tradition, die von Deleuze fortgeschrieben wird und in dessen Zentrum, von den historischen Zusammenhängen her auch völlig zu Recht, die Figur Christi steht. Die einzigartige anthropologische Position dieses westlichen Anti-Juridismus und Anti-Institutionalismus hat Pierre Legendre als Spezifikum der Kultur des abendländischen Christentums beschrieben. Er charakterisierte es wie folgt: »Im Gegensatz zur Torah oder zum Koran enthält der ursprüngliche Text des Christentums (die Evangelien und die Texte der Apostel) keinerlei sozialen Regeln. 3 | Vgl. Deleuze 1973: 159-174.
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Woher also sollte diese neue Religion ihre sozialen Regeln beziehen, die ihr fehlten? Nun, sie wird sie aus dem Recht des römischen Imperiums beziehen, das aus dem Christentum seine offizielle Religion macht. Und hier kommt es dann zu einer Kapitalübernahme des römischen Rechts durch das Christentum.« (Legendre 2007: 39f.)
An dieser decodierenden Position des frühen, vor-imperialen und vor-institutionellen Christentums hält Deleuze fest, um sie, religionsgeschichtlich einmal mehr,4 wirksam zu machen gegen die imperialen respektive pontifikalen und kanonischen ›Fälschungen‹ oder Recodierungen der messianischen Gesetzesferne, das heißt, gegen die Versuche, die Fluchtlinie zu kappen. Den dogmatischen Institutionen mitsamt ihren rächenden Transzendenzen setzt er ein sanftes, deswegen nicht weniger radikales »I would prefer not to« entgegen, und mit Artaud mobilisiert er immer wieder den Imperativ der Bergpredigt: »Richtet nicht!«5 »Wir haben die anderen Existierenden nicht zu verurteilen.« Wiederholt ist damit eine Denkfigur, die Deleuze bereits in seiner ersten, im Umkreis der Intellektuellengrupe um Marcel Moré und der christlich-existenzialistischen Revue Dieu vivant entstandenen Publikation, Du Christ à la bourgeoisie, formuliert hatte.6 Deleuze hatte dort den lebendigen Geist Christi der bürgerlichen Verinnerlichung und spiritualisierenden Verharmlosung entgegengesetzt. »Der Bourgeoisie gelingt es zuletzt, die von Christus initiierte Bewegung zu beenden, in dem sie all das verinnerlicht, was Christus verabscheut hatte, Eigentum, Geld, Besitz, und dem er die Werte des Seins entgegengesetzt hatte.« (Dosse 2007: 118) Zwar hat Deleuze diesen institutionellen, christlichen Kontext aus seinem Werk getilgt und die Aufsätze aus den Jahren vor 1953 nicht zur erneuten Publikation freigegeben, aus einleuchtenden anti-klerikalen, antiinstitutionellen Gründen. Dass der Name und der Titel »Christus« aber 4 | Hier ist in erster Linie an die Bewegung der »fratres minores« der franziskanischen Bewegung zu denken und deren Prinzip der »altissima paupertas«. Die Bewegung nimmt für sich eine forma vivendi in Anspruch, »die von der Sphäre des Rechts gänzlich getrennt war« – ein Leben also, das ›außerhalb des Gesetzes, ohne Institution und ohne Vertrag‹ gelebt wird. Vgl. Agamben 2000: 38. 5 | Vgl. Lk, 6, 34; Mt 7, 1. 6 | Zu diesen – in der deutschsprachigen Deleuze-Rezeption bislang ignorierten – Kontexten vgl. Gandillac 1998: 267ff.; Dosse 2007: 114-122.
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auch noch in den Veröffentlichungen nach 1953 derart insistiert, wird von diesem Kontext her verständlicher. Darüber hinaus vermag der getilgte Kontext noch seine Tilgung selbst zu erklären: Es geht darum, jede dogmatische Recodierung der Figur Christi zu verhindern, Christus ›gesichtslos‹ zu machen, die Figur immer weiter abdriften zu lassen… Der historische Christus wird von Deleuze der Endlichkeit und Immanenz zurückgegeben, während das Unternehmen der Befreiung und ›Erlösung‹, die Bewegung der absoluten Dekodierung immer wieder neu zu wiederholen ist. Die Wendung vom »neuen Christus oder unser aller Bruder«, die Deleuze in seinem Bartleby-Kommentar gebraucht, zielt auf genau diese entstellende Wiederholung. Imitatio Christi also nicht als Kopie eines (transzendenten) Modells, sondern als differenzierend-differenzierte Wiederholung des wiederkehrenden Ereignisses. Die christologischen Überlegungen des Romanciers, Essayisten und Rockmusikers Maurice G. Dantec, der zusammen mit Richard Pinhas die Band Schizotrope gegründet hat,7 sind deswegen weder Zufall noch Verrat. Sie sind genau: »Christus ist die Figur nach dem Menschen, derjenige, der auf den Menschen folgt. Ob wir in der Lage sind, diese posthumane Figur zu verwirklichen, liegt an uns – wenn wir es nur wirklich wollten.« (Dantec 2000: 79)
L iter atur Agamben, Giorgio: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, übers. v. D. Giuriato. Frankfurt a. M. [2000] 2006. Büchner, Georg: Lenz, in: ders., Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden, Bd. 1, hg. v. H. Poschmann. Frankfurt a. M. [1835] 1992, S. 223-250. Büchner, Georg: Woyzeck, in: ders., Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden, Bd. 1, hg. v. H. Poschmann. Frankfurt a. M. [1837] 1992, S. 143-219.
7 | Vgl. die Alben: Maurice Dantec & Richard Pinhas: Schizotrope (Subrosa 1999); Maurice Dantec & Richard Pinhas: Schizotrope – Life and Death of Marie Zorn (Cuneiform Records 2000); Maurice Dantec & Richard Pinhas: Le Pli – Schizot rope III (Emma productions 2009).
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Dantec, Maurice G.: Le théâtre des opérations. Journal métaphysique et polémique 1999, Paris 2000. Deleuze, Gilles: »Pensée nomade«, in: Centre Culturel Cérisy-La-Salle (Hg.), Nietzsche aujourd’hui?, 2 Bde., Bd. 1, Paris 1973, S. 159-174. Deleuze, Gilles: Cinéma 2. L’image-temps, Paris 1985. Deleuze, Gilles: Périclès et Verdi. La philosophie de François Châtelet, Paris 1988. Deleuze, Gilles: Kritik und Klinik, übers. v. J. Vogl. Frankfurt a. M. [1993] 2000. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1972): Capitalisme et Schiziphrénie, Paris 1972. Dosse, François: Gilles Deleuze et Félix Guattari. Biographie croisée, Paris 2007. Gandillac, Maurice de: Le siècle traversé. Souvenirs de neuf décennies, Paris 1998. Gualandi, Alberto: Deleuze, Paris 2009. Kafka, Franz: In der Strafkolonie, in: ders., Das Urteil und andere Erzählungen, Frankfurt a. M. [1919] 1952, S. 98-126. Legendre, Pierre: La Balafre. À la jeunesse désireuse… Discours à de jeunes étudiants sur la science et l’ignorance, Paris 2007. Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 6, hg. v. G. Colli/M. Montinari. München [1895] 1980, S. 165-254. Pascal, Blaise: Pensées, in: ders., Œuvres complètes, présentation et notes de Louis Lafuma, Paris 1963.
Leibniz und die Psychophysik des Gehirns Sjoerd van Tuinen
»Vous persuader bien facilement du premier coup d’œil sincère, que la désordre, mais mon ami c’est la belle essence de votre vie même! De tout votre être physique et métaphysique! Mais c’est votre âme Ferdinand! Des millions, des trillions de replies… intriqués dans la profondeur, dans le gris, tarabiscotés, plongeants, sous-jacents, évasifs… Illimitables! Voice l’Harmonie, Ferdinand! Toute la nature! Une fuite dans l’impondérable!« (Louis Ferdinand Céline)
1. D as G ehirn als M edium allen D enkens Die Probleme der Philosophie sind laut Deleuze niemals von sich aus philosophisch. Bereits eine Antwort auf die Frage Was ist Philosophie? setzt ein nicht-philosophisches ›Bild des Denkens‹ voraus, eine Art absoluten Hintergrund, in den die Philosophie eintauchen kann und aus dem sie hervorgeht. Überdies ist die Philosophie gerade durch diesen nicht-philosophischen Hintergrund verbunden mit der Wissenschaft und der Kunst, die ebenso Nicht-Wissenschaftliches und Nicht-Künstlerisches benötigen – »so als teilten sie sich denselben Schatten, der sich über ihre unterschiedliche Natur ausbreitet und sie auf immer begleitet.« (Deleuze/Guat-
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tari 1996: 260) In Was ist Philosophie? nennt Deleuze diesen Schatten oder auch dieses ›Nicht‹, zu dem jede Disziplin einen wesentlichen Bezug hat, das ›Gehirn‹. Dabei handelt es sich um ein Konzept, das von dem griechischen nous, wie es z.B. bei Anaxagoras vorkommt, abgeleitet ist, der es für die ordnende Kraft hielt, die die eine Welt aus dem ursprünglichen Chaos (apeiron) hervortreten lässt. Das Gehirn ist somit der Bereich interdisziplinärer Resonanzen und Interferenzen, geteilter Probleme und interner Allianzen. Eine Untersuchung der Bedeutung der Nicht-Philosophie für Deleuze täte deswegen gut daran, sich auf seinen Begriff vom Gehirn zu konzentrieren. Das Gehirn ist weder das Objekt der empirischen Wissenschaften noch das Transzendentalsubjekt der Phänomenologie, sondern, wie ich behaupten möchte, ein philosophisches Konzept. Es ist wichtig, die philosophische Konstitution des Gehirns anzuerkennen, weil jeder übereilte Versuch, Deleuze in Verbindung mit den Neurowissenschaften zu bringen, Gefahr läuft, die eigenständige Realität der Philosophie preiszugeben und uns wiederum die moralische Wahl zwischen Chaos und Wissenschaft aufzuzwingen. Stattdessen wusste Deleuze sehr wohl, dass »nur in ihrer vollen Ausgereiftheit – und nicht im Prozeß ihrer Bildung – Begriffe und Funktionen einander notwendig kreuzen, wobei sie jeweils nur mit ihren eigenen Mitteln erschaffen wurden.« (Ebd.: 188) Dieser Aufsatz zielt daher darauf ab, eine philosophische Antwort auf das Problem zu erkunden, wie die verschiedenen Bereiche der Kreativität zu unterscheiden sind, ohne gleichzeitig strikt voneinander getrennt werden zu müssen. Anstatt mich auf Tarde, Bergson, Whitehead, Ruyer oder Simondon zu beziehen, die allesamt Deleuzes Konzept des Gehirns am manifestesten beeinflusst haben, wähle ich Die Falte. Leibniz und der Barock als Bezugsrahmen. Neben den Kino-Büchern bietet Die Falte die anspruchvollste Veranschaulichung von der Bedeutung der Nicht-Philosophie als konstitutiver Existenzbedingung der Philosophie. Obwohl das Gehirn kein thematisches Konzept dieses Buches ist und nicht einmal explizit erwähnt wird, geschieht alles genau so, als ob es der Schatten sei, der sich über alle Kapitel ausbreitet und sie auf immer begleitet. Zudem lässt erst dieser Schatten die vorher erwähnten Philosophen als Mitglieder einer »verborgenen Schule« (Deleuze 2000: 126) des Leibnizianismus hervortreten. In Die Falte steht eine philosophische Logik von Konzepten auf dem Spiel, die mit den sinnlichen Beziehungen der Kunst (Affekte und Perzepte) eng verknüpft ist. Die Kunst wird von einem sinnlichen Medium ver-
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körpert und die Philosophie ist – ähnlich wie jene – eine Praxis formeller Schöpfung. Obwohl sie einen wesentlichen Teil von Deleuzes Entdeckung des Barocks ausmacht, ist die Wissenschaft etwas weniger präsent und sie wird in unserer Erkundung außer Betracht gelassen. Es reicht zu wissen, dass sowohl für Deleuze wie auch für Leibniz jeder der drei Bereiche in einem gemeinsamen Medium kommunizieren. Gezeigt werden soll im Folgenden, dass Leibniz Deleuze die Gelegenheit für eine adäquate Beschreibung dieses Mediums liefert. Hat Deleuze nicht selber schon erklärt, dass er erst durch die Arbeit an seinem Buch über Leibniz gelernt hat, Konzepte von Affekten und Perzepten zu unterscheiden?1
2. L eibniz über S eele , K örper und G ehirn Anders als Locke, der die Seele mit einer vollkommen homogenen und glatten Oberfläche einer noch unbeschriebenen Schreibtafel (tabula rasa) verglichen hat, auf der die von außen durch die Sinne kommenden Eindrücke eingeschrieben werden, stellt Leibniz in seinen Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand die Seele vor als ausgestattet mit ›angeborenen Ideen‹ ähnlich den Adern einer Tafel aus Marmor.2 Er übernimmt Lockes Analogie der Seele mit einem dunklen Zimmer (camera obscura), in dem das einzige Licht von den Sinnen stammt. Jetzt aber setzen die Sinne die Seele nicht länger unmittelbar in Verbindung mit einem Außen. Zwischen ihnen vermittelt ein Sieb oder eine Art zerebrale Membran, die gefaltet ist. »Um die Ähnlichkeit noch zu vergrößern, müßte man annehmen, daß in dem dunklen Zimmer eine Leinwand ausgespannt wäre, um die Bilder aufzunehmen, daß diese Leinwand aber keine ganz ebene Fläche bildete, sondern durch Falten (die die eingeborenen Erkenntnisse darstellen würden) unterbrochen wäre: daß weiter diese Leinwand oder Membran, wenn man sie spannt, eine Art Elastizität oder Wirkungskraft besäße, ja daß sie eine Tätigkeit oder Reaktion auszuüben vermöchte, die sowohl den älteren Falten als den neueren, die aus dem Eindruck 1 | Vgl. Deleuze 1993: 200. 2 | Vgl. Leibniz 1971: 86. »Daher habe ich lieber den Vergleich mit einem Stück Marmor gebraucht, das Adern hat, als den mit einem ganz einartigen Marmorstücke oder einer leeren Tafel […].« Ebd.: 8.
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der Bilder von außen stammen, angepaßt wäre. Und zwar müßte diese Tätigkeit in gewissen Schwingungen oder Oszillationen bestehen, wie man solche an einer angespannten Saite bemerkt, wenn man sie berührt, dergestalt, daß sie eine Art von musikalischem Ton von sich gäbe. Denn wir empfangen nicht allein Bilder oder Spuren in unserem Gehirn, sondern bilden auch neue, wenn wir komplexe Ideen betrachten. So muß also die unser Gehirn veranschaulichende Leinwand tätig und elastisch sein. Dieser Vergleich würde das, was im Gehirn vor sich geht, leidlich veranschaulichen, was aber die Seele betrifft, die eine einfache Sub stanz oder ›Monade‹ ist, so stellt sie eben diese Mannigfaltigkeiten der ausgedehnten Massen ohne Ausdehnung dar und perzipiert sie.« (Leibniz 1971: 126f.)
Mit anderen Worten: Leibniz gesteht Locke zu, dass die Perzeptionen der Seele mit dem, was draußen passiert, resonieren, selbst wenn sie, wie eine Saite mit seiner spezifischen Masse und Flexibilität, dies nur gemäß den charakteristischen Frequenzen eines Gehirns tun, d.h. je nach Biegsamkeit oder Faltbarkeit, die allen aktuellen Perzeptionen vorausgeht. Was ihn allerdings am meisten interessiert, ist die Monade als ein absolutes Innen, das seinem unsichtbaren, unerschöpflichen, dunklen oder »virtuellen« (Leibniz 2002: 19) Hintergrund ständig neue Perzeptionen entlockt. Jede Monade faltet in sich die ganze Vergangenheit und Zukunft der Welt ›an sich‹ ein, aber konstituiert nur auf endliche Weise die phänomenale Welt ›für sich‹: »Eine Seele allerdings kann in sich nur das lesen, was darin deutlich vorgestellt wird, und sie kann sich nicht auf einen Schlag ganz entfalten, weil das ins Unendliche geht.« (Ebd.: 137) Folglich definiert Leibniz die Monaden oder Seelen auch als »fensterlos«, während sich ihre Perzeptionen nichtsdestoweniger in einer prästabilierten Harmonie befinden, d. i. »diese Verbindung oder diese Anpassung aller geschaffenen Dinge untereinander und eines jeden mit allen anderen«. (Ebd.: 133) Wie sollen wir nun Leibniz’ ziemlich beiläufige Analogie von »der Leinwand«, die »unser Gehirn veranschaulicht«, bewerten? Oder präziser gefragt, wie verhält sich das Prinzip der prästabilierten Harmonie zwischen Seelen zu den musikalischen Klängen, die vom Gehirn hervorgebracht werden? Trotz des Bestrebens, seine Theorie der Perzeption mit der Lockes zu versöhnen, scheint es, dass Leibniz dem Gehirn keine eigenständige Existenz beimisst. Aus monadologischer Perspektive, in der nur Substanzen oder Seelen existieren, wäre es widersprüchlich, wenn das Gehirn eine eigene Realität hätte. Da das Gehirn von der Seele unterschieden ist, muss es wohl ein Teil des spatiotemporal bestimmten Körpers sein und
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daher ein Teil der bloß phänomenalen Welt. Allerdings behauptet Leibniz gleichzeitig, dass keine Seele, diejenige Gottes ausgenommen, ohne einen Körper existieren könnte, denn es ist gerade das Medium des Körpers, das sie mit dem Rest der Welt verbindet. Wenn die Seele durch ihre Perzeptionen definiert wird, so ist ihr Körper ihr »Gesichtspunkt«. (Leibniz 1890: VII, 570; III, 357) Eine der zentralen Fragen in den metaphysischen Texten von Leibniz betrifft daher den »gordischen Knoten« (ebd.: III, 343; IV, 507), der Körper und Seele vereint, d. i. eine Einheit, durch die eine Monade die Welt perzipiert »kraft einer vollkommenen Selbsttätigkeit, die dennoch in steter Entsprechung zu den Außendingen verbleibt.« (Leibniz 1966: 267) Für Leibniz ist der Unterschied zwischen Seele und Körper nicht der Unterschied zwischen zwei Arten von Substanzen, sondern der zwischen einer Seele als Monade an sich und einem Körper als Zusammensetzung von etlichen Monaden. Eine Seele bildet eine irreduzible individuelle Einheit, während die Materie eine Vielfältigkeit bildet, ein Aggregat zusammengesetzt aus Aggregaten ad infinitum. Da das wirklich Seiende notwendigerweise eins sein muss, besitzt die Materie jedoch keine Realität. Indem Leibniz physische Körper nicht für einfache, sondern für zusammengesetzte Substanzen hält, verschreibt er sich der idealistischen Überzeugung, dass die ausgebreitete Welt nur in den Perzeptionen einer fensterlosen Monade existiert. Zugleich behauptet Leibniz aber auch, dass die Seele nicht existieren und die Welt außerhalb wahrnehmen kann, ohne das körperliche Aggregat der Monaden: »Jede einfache Substanz oder ausgezeichnete Monade, die das Zentrum einer zusammengesetzten Substanz ausmacht […] und das Prinzip ihrer Einheitlichkeit, ist von einer aus unendlich vielen anderen Monaden zusammengesetzten Masse umgeben, die den eigenen Körper dieser Zentralmonade bilden und nach dessen Affektionen sie, wie in einer Art Zentrum, die Dinge vorstellt, die außerhalb von ihr sind.« (Leibniz 2002: 155) Die äußerliche Welt ist zusammengesetzt aus sekundärer Materie (materia secunda), d. i. nach Leibniz eine unendlich teilbare masse brute. Sie zerfällt in einen ungeformten Fluss von Monaden, die auf chaotische Weise miteinander interagieren, wobei die verschwommenen Vielheiten mit der Variabilität der unbewussten Perzeption in jeder Monade korrespondieren. Wenn die Seele trotzdem in der Lage ist, aus einem Fluss von unmerklichen Perzeptionen unterschiedene Perzeptionen, im Fall des Menschen sogar selbstbewusste Perzeptionen (»Apperzeptionen«) zu extrahieren, so liegt das in der Einheit eines vermittelnden organischen Kör-
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pers begründet. Dieser Körper ist primäre Materie (prima materia), die innerhalb des Flusses von sekundärer Materie disparate Individuen auswählt und in einer organischen Komposition verdichtet, die mit der ›Perspektive‹ einer diese Komposition dominierenden Seele übereinstimmt. Für Leibniz ist die Seele die plastische Kraft, die ›Form‹ oder der ›Grund (fundamentum)‹ (Leibniz 1890: II, 270-271) dieser Zusammensetzung, während die anderen teilnehmenden Monaden ihre ›Materie‹ oder ›Requisiten‹ sind. In der Tat ist die Materie nur präsent durch den organischen Körper, in dem die extensiven Phänomene verwirklicht werden. Mehr noch, eigentlich gibt es einen Körper nur durch diese konkreten Sinnesorgane, ohne die die sekundäre Materie völlig abstrakt bliebe.3 Ein Phänomen ist ein phaenomenon bene fundatum, wenn mit jeder klaren und deutlichen Wahrnehmung ein völlig entwickeltes Organ korrespondiert, das ein makelloses Hin-und-zurück zwischen ›privater‹ Wahrnehmung und ›öffentlichem‹ Körper, zwischen Form und Inhalt garantiert.4 Aber wie kann ein Körper zu einer Seele ›gehören‹, wenn Monaden per Definition fensterlos sind und sich nicht gegenseitig beeinflussen können, weshalb jede direkte Interaktion bloß phänomenal bleibt? Bietet jenes Konzept des Gehirns eine unerwartete Versöhnung zwischen der idealistischen und der realistischen Darstellung des Körpers? Insofern sich das Gehirn von den Phänomenen der empirischen Wissenschaften herleiten lässt, scheint die Antwort negativ zu sein. Insofern jedoch vom Gehirn, als Teil des Körpers, gesagt werden kann, dass es die Wirklichkeit des Körpers in seiner Gesamtheit bedingt, würde es ebenso die Wahrnehmungen der Seele bedingen. Nun wird gerade diese letztere Variante von Leibniz bestätigt, wenn er sagt, dass es überall im Körper einen viel größeren materiellen Fluß gibt als im Gehirn, das mithin als Sitz der Seele betrachtet werden kann. »In the human body it should not be thought that the soul is unified hypostatically with all the little bodies which are in it, because they exchange perpetually, but [the soul] inheres in the center of the brain with a certain fixed and insepa3 | Vgl. Deleuze 2000: 126. 4 | Neben dem idealistischen Leibniz gibt es dementsprechend auch noch einen realistischen Leibniz, für den mit jeder psychischen Perzeption irgendeine intermonadische Affektion mitschwingt: »Die Perzeption ist nichts anderes als die Vorstellung äußerlicher Variation in innerlicher Variation.« Leibniz 1890: 329f.
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rable flower of substance, most subtly mobile at the center of the animal spirits, and [the soul] is unified substantially so that it may not be separated by death.« (Mercer 2001: 146, 160)
Wenn organische Körper sich »einwickeln« oder »einrollen«, werden die Wahrnehmungen der Seele dunkel und verworren. Aber weil die Seele ewig ist und der Fluss von Perzeptionen unter der Bewusstseinsschwelle weiterfließt, kann auch der Körper niemals ganz verschwinden. Im Fall des Sterbens ist das Gehirn der letzte Teil des Körpers, der unverletzt bleibt und ein Minimum an Kohärenz innerhalb des Flusses der Materie bewahrt. Daher verbindet Leibniz den organischen Körper mit den klaren Gedanken der Seele und das Gehirn mit Träumen (oder verworrenen Perzeptionen): »Es besteht eine genaue Entsprechung zwischen dem Körper und allen Gedanken der Seele, mögen sie vernünftig sein oder nicht, und die Träume haben ebensogut ihre Spuren im Gehirn, wie die Gedanken der Wachenden. […] Die Perzeptionen der Seele entsprechen natürlicherweise immer der Verfassung des Körpers; sind also im Gehirn eine Menge verworrener und wenig deutlicher Bewegungen vorhanden, […] so können die Gedanken der Seele nach der Ordnung der Dinge ebenfalls nicht deutlich sein.« (Leibniz 1971: 92)
Obwohl der Organismus schrumpfen und sich auflösen könnte, behält das Gehirn eine Komplexität bei, die genauso unendlich ist wie der dunkle und verworrene Hintergrund aller Perzeptionen. Egal wie tief der Intensitätsgrad der seelischen Perzeption fällt, irgendeine ›substantielle‹ Zusammensetzung von im Gehirn eingewickelten animalischen Seelen besteht fort, ohne welche die Existenz der Seele unfassbar bliebe. Wir sehen also, wie Leibniz’ Begriff vom Gehirn uns zur Entdeckung eines Paradoxons in seinem metaphysischen System führt: Einerseits ist unsere Erkenntnis der Existenz des Gehirns bloß phänomenal oder empirisch; andererseits ist das Gehirn aber genau die Bedingung der phänomenalen Welt, so wie sie in einer Seele wahrgenommen wird. Das Gehirn ist zugleich innerhalb wie außerhalb des Leibnizschen Systems: Es ist eine Singularität.5
5 | Zu Deleuzes leibnizianisch inspiriertem Konzept der Singularität, siehe Frémont 1996.
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3. E ine A lchemie der N euen A bhandlungen und der K orrespondenz mit D es B osses In Die Falte hat Deleuze diese »fast schizophrene Spannung« (Deleuze 2000: 58) in der Allegorie des zweistöckigen Hauses wiedergefunden. Der Barock differenziert seine Falten »nach zwei Richtungen, nach zwei Unendlichen, wie wenn das Unendliche zwei Etagen besäße: die Faltungen der Materie und die Falten der Seele.« (Ebd.: 11) Wir haben bereits gesehen, dass für Leibniz jede Perzeption wesentlich eine ›Perzeption in den Falten‹ ist. Auf der Ebene des Körpers inspirierte ihn das von ›Mikroskopisten‹ wie Swammerdam und Leeuwenhoek freigelegte unendliche Universum dazu, seinen früheren Atomismus aufzugeben und stattdessen von ›Faltungen‹ als von letzten ›Elementen‹ eines unendlich teilbaren Kontinuums zu sprechen: »Man kann daher die Teilung des Kontinuums nicht mit der des Sandes in Körner vergleichen, sondern mit in Falten gelegtem Papier oder Stoff, so daß es unendlich viele Falten geben könnte.« (Leibniz 1890: VII, 533) Das Auftreten des Faltenbegriffs auf beiden Ebenen bildet den Ansatzpunkt von Die Falte, den gordischen Knoten zwischen den zwei absolut getrennten Bereichen wie ein unendliches Kontinuum zu »entfalten«, das sie zu jeder Zeit miteinander kommunizieren lässt. Zunächst besteht Deleuzes Strategie darin, zu der von Leibniz in Annäherung an Locke entwickelten Vorstellung der unendlich gefalteten Membran zurückzukehren. Einerseits spielt diese Vorstellung keine systematische Rolle in Leibniz’ anderen Werken, aber sie könnte doch ein Schlüssel zur Verbindung der beiden Ebenen sein. Um diese diplomatische Geste beizubehalten, muss Deleuze die Ambiguität festhalten und darf sich nicht zu einer Positionsbestimmung verführen lassen. Seine Leibniz-Lektüre beginnt genau »in der Mitte«, d.h. »unter dem Gesichtspunkt der reinen Einheit oder der Einigung«6:
6 | Vgl. Deleuzes Denkansatz zu Spinoza: »Auch da heißt es, ihn mittendrin zu nehmen und nicht am ersten Prinzip (eine einzige Substanz für alle Attribute). Seele und Körper: keiner hat je eine originellere Auffassung von der Konjunktion ›und‹ gehabt.« Deleuze/Parnet 1980: 66.
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»Man wird einwenden, daß dieser Text [es bleibt unentschieden ob ›dieser‹ auf Leibniz‹ Neue Abhandlungen oder Deleuzes Die Falte 7 verweist; SVT] nicht das Denken von Leibniz ausdrückt, sondern das Höchstmaß seiner möglichen Versöhnung mit dem Denken Lockes. Gleichwohl macht er daraus eine Art Repräsentation dessen, was Leibniz immer wieder behauptet von der Entsprechung und sogar Kommunikation zwischen den beiden Etagen, zwischen den beiden Labyrinthen, den Faltungen der Materie und den Falten der Seele. Eine Falte zwischen den zwei Falten?« 8
Viel später, im Kontext der körperlichen Zugehörigkeit, wird Deleuze diese anfängliche Frage sehr präzise und affirmativ beantworten. Die Crux ist, dass er Leibniz’ Analogie der zerebralen Membran mit einer angespannten Saite bis zu einem »beinahe unaushaltbaren Paradox« (Deleuze 2000: 180) oder einer weiteren Singularität ausdehnt: dem vinculum substantiale. In seiner Korrespondenz mit Des Bosses hat Leibniz versucht, das Problem der Einheit von Körper und Seele mit einem seiner kontroversen Konzepte zu lösen: dem Band zwischen Monaden, das selbst von substantieller Art, oder besser: »substantifizierend«, ist. Wenn mit jeder klaren und deutlichen Perzeption irgendeine organische Bewegung korrespondiert, so beinhaltet dies, dass Phänomene irgendwie »realisiert« oder in Materie »reifiziert« werden sollten. Das heißt, dass eine bloße Vielheit von sekundärer Materie mit einer primären oder organischen, zu einer Seele gehörenden Materie in Zusammenhang gebracht werden sollte. Ein elastisches Band oder vinculum ist notwendig, damit die Einheit des bloßen Aggregats, das unum per accidens ist, sich verdichtet in der Einheit eines unum per se, denn nur diese Einheit wäre ein »substantiatum resultierend aus unzähligen Monaden durch die weitere Hinzufügung einer bestimm7 | In seiner Übersetzung hat Ulrich J. Schneider »ce texte« mit »die Neuen Anhandlungen« übersetzt. (Deleuze 2000: 12) Obwohl Deleuze in Fußnoten oft auf diesen Text referiert und ihn auch häufig paraphrasiert, geht Schneider hier jedoch weiter als der Text selbst es erlaubt. Die Verwendung des Ausdrucksbegriffs impliziert vielmehr, dass noch die am weitesten hergeholten Deformationen in einer »höheren Entsprechung« (ebd.: 52), in der »das Ähnelnde […] selbst Modell wird« (ebd.: 157), versöhnt werden können, so dass, ausgehend von Deleuzes eigener expressionistischer Verfahrensweise, eine mehr ambivalente Interpretation präziser wäre. 8 | Deleuze 2000: 12f. Die Übersetzung wurde abgeändert.
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ten Einheit«. (Leibniz 1890: II, 399) Ein solches Band würde einer Monade, die selbst völlig autark und abgeschlossen bliebe, wie ein »Urteil Gottes« (Deleuze/Guattari 1992: 46) anhaften, so dass jegliche possessive Beziehung zwischen Monaden extern bliebe. Wie ein unabhängiges und nicht-lokalisierbares »Echo« (Leibniz) – oder »Refrain« (Deleuze) – der prästabilierten Harmonie ist dieses Band das notwendige Prinzip der Substantifikation, durch die eine Seele das Konstituierende der individuellen Einheit des dazu gehörenden Körpers bleibt. Wiederum aber begegnen wir hier einer Singularität oder einem paradoxen Begriff in Leibniz’ philosophischem System; denn streng genommen könnte ein solches Band gar nicht existieren, weil es keine Monade ist, obwohl es zur gleichen Zeit die körperliche Aktivität konstituiert, die ihrerseits ein Erfordernis aller deutlichen Perzeptionen ist. Wenn Deleuze zufolge eine Seele nicht ohne ein Gehirn – »diese feste und untrennbare Blume der Substanz« (Mercer 2001: 160) – existieren kann, so muss es »einen Haken, ein Joch, einen Knoten« (Deleuze 2000: 109) geben, einen vinkulären »Riß« (accroc) (Deleuze 1987: 137) ähnlich Descartes’ »Zirbeldrüse« (ebd.: 172), der weiterhin mit ihr verbunden oder verknüpft bleibt. Ein vinculum ist die Bedingung für die Entwicklung eines Körpers, von dem das Gehirn ein minimales Handlungsprinzip bildet, und zugleich die Bedingung für die unmittelbare Präsenz der Seele in ihrem Körper und so auch in der äußeren Welt: »Leibniz entdeckt hier, daß die Monade als absolute Innerlichkeit, als innere Oberfläche mit nur einer Seite, doch eine andere Seite oder ein minimales Außen hat, eine strikt komplementäre Form des Außen. Kann die Topologie den offenbaren Widerspruch auflösen? Dieser verschwindet in der Tat, sobald man sich erinnert, daß die ›Einseitigkeit‹ der Monade als Abschließungsbedingung eine Drehung der Welt zur Bedingung hat, eine unendliche Falte, die sich gemäß der Bedingung nur entfalten kann, wenn sie die andere Seite nicht als der Monade äußerlich, sondern als das Äußere oder das Außen ihrer eigenen Innerlichkeit restituiert: eine Wand, eine weiche und adhärierende Membran, dem ganzen Innen koextensiv. Das ist das vinculum, die nicht lokalisierbare erste Verbindung, die an das absolute Innere angrenzt.« (Deleuze 2000: 180)
Obwohl nicht explizit formuliert, identifiziert Deleuze hier Leibniz’ Begriff vom vinculum mit dem der zerebralen Membran. Überdies lässt er keinen Zweifel an der zentralen Bedeutung dieses Vergleichs. Wie ein
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substantielles Band kann das Gehirn weder phänomenal noch als eigenständige Substanz verstanden werden. Es ist weder eine Substanz noch ein für die empirische Wissenschaft zugängliches Phänomen, sondern die Möglichkeitsbedingung von beidem, mehr noch, die Bedingung ihrer Realität. Vielleicht könnte man sagen, dass in den Neuen Abhandlungen und in der Korrespondenz mit Des Bosses dieses ›minimale Außen‹ auf zwei verschiedene Weisen (in Übereinstimmung mit seinen zwei Seiten) ausgedrückt wird: erstens verdoppelt und bedingt es die Wahrnehmung auf der Innenseite als das Exterieur des Interieurs; zweitens individualisiert es eine zusammengesetzte Substanz als untrennbar von einer Seele (ebd.: 108), als wäre diese nur das innerliche double des Exterieurs. An sich gehört jedoch das vinkuläre Gehirn auf irreduzible Weise sowohl zu den Falten der Seele als auch zu den Faltungen der Materie. Es verharrt auf nicht lokalisierbare und genetisch ›primäre‹ Weise, wie ein Schatten – »eine Falte zwischen den zwei Falten.«9
4. V om C haos zum G ehirn Leibniz’ barocker Auffassung zufolge ist die ausgebreitete Natur kein Organismus; denn nicht alles ist organisch, obwohl Organe sich überall in der Materie eingefaltet befinden: »Jeder Zweig der Pflanze, jedes Glied des Lebewesens, jeder Tropfen seiner Säfte ist jedoch wiederum ein solcher Garten oder solcher Teich« (Leibniz 2002: 139) und »eine natürliche Maschine bleibt stets noch in ihren kleinsten Teilen […] dieselbe Maschine, die sie gewesen ist, da sie durch die verschiedenen Falten, die sie erhält, nur umgestaltet [wird].« (Leibniz 1966: 265) Für Deleuze heißt dies, dass die Natur eine abstrakte Faltungsmaschine ist, ein gewaltiger Körper ohne Organe: »Eine barocke Konzeption der Materie muß, in der Philosophie wie in Wissenschaft und Kunst, so weit gehen, bis zur Texturologie, die einen verallgemeinerten Organizismus bezeugt oder eine ubiquitäre Anwesenheit von Organismen.« (Deleuze 2000: 187) Primäre Materie ist die 9 | Siehe dazu auch Bredekamp 2004: 21, der Deleuze wohl zu Unrecht vorgeworfen hat, die Formel von der ›Fensterlosigkeit‹ zu einem starren Dogma zu verfestigen, »das die gleichsam flirrenden Austausch- und Stimulierungsprozesse des zerebralen Repräsentationstheaters in die Sphäre reiner Geistigkeit verflüchtigte.«
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»molar« organisierte Materie des individuellen »nackten« Körpers; sekundäre Materie ist ein »molekularer« Fluss einer »bekleideten« Materie. (Ebd.: 186) Durch jede molare Organisation fließt ein ›ewiger Fluß‹ von pro tempore Requisiten, die ständig von der einen Komposition zur anderen de- und reterritorialisieren. Aus organischer oder molarer Perspektive bietet dieser Requisitenfluss von Wachstum und Verfall oder Entwicklung und Einwicklung der Texturmaterie ein Bild für die natürlichen Transformationen der Dinge durch Geburt, Leben, Sterben usw. Das substantielle vinculum bleibt stets dasselbe und seine Struktur bleibt orientiert auf die konstitutiven Erfordernisse der unsterblichen Seele. Aus molekularer Perspektive aber erscheinen die Seelen selber als bloße provisorische Requisiten eines austauschbaren Bandes. Eine individuelle Monade ist durch die Einheit des Körpers mit der restlichen Welt verbunden, mit dem dunklen Hintergrund, dem sie ihre Perzeptionen entzieht. Aber durch ihre Inkarnation gehört dieses Individuum zugleich zu anderen Aggregaten und substiantellen vinculi, so dass es auch im unendlichen Hintergrund anderer Individuen figuriert. »Immer sind Seele und Körper real unterschieden, ihre Untrennbarkeit aber prägt das Hin und Her zwischen den beiden Etagen: meine einzigartige Monade hat einen Körper; die Teile dieses Körpers haben eine Menge von Monaden; jede dieser Monaden hat einen Körper […].« (Ebd.: 176) Letztlich könnte man sagen, dass die Natur selber das kollektive Unbewusste einer jeden Monade bildet. Von daher erklärt sich Leibniz’ freizügiger Gebrauch von Ausdrücken wie Schwindel und Vertigo, Taumel und Trunkenheit, die beschreiben, was passiert, wenn externe und interne Aspekte durcheinander geraten. Im Neuen System der Natur heißt es dazu, in einem Lieblingszitat von Deleuze: »Nachdem ich diese Dinge festgestellt hatte, glaubte ich, in den Hafen einlaufen zu können, aber als ich nun anfing, über die Vereinigung der Seele mit dem Körper nachzudenken, wurde ich wieder ins offene Meer zurückgeworfen.« (Leibniz 1966: 266) Mit diesem Vertigo stimmt überein, was Deleuze eine für den Barock typische ›Krise des Eigentums‹ nennt, eine Krise, die wohl die erste große Krise des Kapitalismus darstellt (Deleuze 2000: 179): Was ist nur ein psychotischer Traum und was ist ›wirklich‹? Besitze ich die Kontrolle über meinen Körper oder sind meine Requisiten zerstreut in konfliktuösen Eigentumsbeziehungen? »Shall I go to my analyst or to my neurologist?« (Cache 1995: 125-126) Dennoch insistiert, so scheint Deleuze uns zu suggerieren, zwischen den Monaden, zwischen ihren molaren und molekularen Verteilungen,
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ein sie verbindendes Gehirn, das »wie eine elastische und formlose Membran« (Deleuze 2000: 126-127) die chaotische Vielheit an Monaden siebt, damit eine harmonische Welt erscheinen kann, die sich über tausende psychische und physische Organisationen verteilt: »Das vinculum als Membran oder Wand sortiert gewissermaßen die Monaden, die es als Terme empfängt«. (Ebd.: 183) Daraus sollte man nicht folgern, dass das Gehirn alles sei, sondern dass alles, was im organlosen Körper ist, das Produkt einer Faltung des Gehirns ist. Das Gehirn ist der zureichende Grund oder der dunkle Hintergrund, eingeschlossen in jeder Monade, ganz gleich welche Perspektive oder welches Distributionsregime wir in Betracht ziehen. Dieses Konzept des Gehirns als Grund bildet das entscheidende architektonische Element in Deleuzes später Leibniz-Lektüre. Einerseits setzt Leibniz das Gehirn gleich mit einer undurchsichtigen Leinwand oder einem Vorhang voller Falten.10 Andererseits ist es eine »Elastizität oder Wirkungskraft«, die »eine Tätigkeit oder Reaktion auszuüben vermag, die sowohl den älteren Falten als den neueren, die aus dem Eindruck der Bilder von außen stammen, angepasst wäre«. (Leibniz 1971: 126) So oder so besteht es aus »gewissen Schwingungen oder Oszillationen […], wie man solche an einer angespannten Saite bemerkt, wenn man sie berührt, dergestalt, dass sie eine Art von musikalischem Ton von sich gäbe.« (Ebd.) Wie Deleuze bemerkt, führt Leibniz »eine große barocke Montage durch zwischen der unteren, durch Fenster unterbrochenen Etage und der oberen Etage, die blind und verschlossen, aber mit Widerhall ausgestattet ist wie ein Musiksalon, der die unten sichtbaren Bewegungen in Töne übersetzt.« (Deleuze 2000: 12) Wenn die phänomenale Welt das Spiel und die individuelle Seele das Theater ist, so ist das Gehirn die geteilte Kompositionsebene – eine gemeinschaftliche »lebendige Haut« (ebd.) – des großen barocken Gesamtkunstwerks, durch eine unendliche Variation über unendlich viele lokale Abteilungen gefaltet, wie ein geteiltes Außen aller heterogenen Innenseiten, ein doppelseitiger Spiegel zwischen Seele und Körper in dem die Welt ausgedrückt und produziert wird. Vom lokalen Echo zur globalen Harmonie oder vom kleinen zum großen Ritornell, so erzählt uns Deleuze, wird immer im Gehirn das Prinzip der prästabilierten Harmonie verwirklicht.11
10 | Vgl. Leibniz 1971: 126. 11 | Deleuze/Guattari 1992: 715.
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5. A ktualisierung und R e alisierung Nach welchen Prinzipien drückt sich die Welt im Medium des Gehirns aus, diese Dehnung und Invagination des Gehirns als labyrinthische ›Vielfältigkeit‹? Ein erster Schlüssel ist Leibniz’ Theorie der angeborenen Ideen. In seinen Konzessionen an Lockes Empirismus wird das Gehirn zur Welt und dringt die Welt in die Seele ein – in der schematischen Weise der »Falten, die die eingeborenen Erkenntnisse darstellen.« (Leibniz 1917: 126) Angeborene Ideen sind keine Vorstellungen der äußerlichen Welt, sondern vielmehr die »Repräsentanten« der Welt, durch die das Unendliche im endlichen Selbst präsent ist, so dass eine Seele in sich selbst lesen oder entfalten kann, was außerhalb passiert. (Deleuze 2000: 89) Im eingefalteten Zustand sind diese Ideen virtuell und nur an den »schwachen Schimmern« (Deleuze 1992: 270) im dunklen Hintergrund der Seele erkennbar sowie an den bewusstlosen Schwingungen des Körpers, welcher sich in ständiger Interaktion mit dem universalen Fluss der materiellen Welt befindet. In Leibniz’ Worten: »In dieser Weise sind uns die Ideen und Wahrheiten eingeboren als Neigungen, Anlagen, Fertigkeiten oder natürliche Kräfte, nicht aber als Tätigkeiten, obgleich diese Kräfte immer von gewissen, oft unmerklichen Tätigkeiten, welche ihnen entsprechen, begleitet sind.« (Leibniz 1971: 8) Angeborene Ideen, wie Leibniz auch mit Scaliger sagt, sind die »Samenkörner der Ewigkeit« (ebd.: 4), die ein unendliches Gedächtnis der Seele bilden, das die ganze Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Universums umfasst. Gleichzeitig aber sind es die organischen Handlungen des Körpers oder der primären Materie, die eine Entfaltung der angeborenen Ideen in Perzeptionen fordern. Die Ideen sind »leuchtende, in unserem Innern verborgene Züge, die bei der Berührung mit der sinnlichen Erfahrung herausspringen, gleich den Funken, die aus dem Gewehr beim Losdrücken heraussprühen.« (Ebd.) Fraglich bleiben hier die Entstehung der Perzeption und der organischen Interaktion – sowie ihre wechselseitige Kommunikation. Wie Deleuze zeigt, verteilt Leibniz die Produktion der Welt auf zwei radikal getrennte Mechanismen gemäß den zwei Etagen des barocken Hauses: Aktualisierung und Realisierung. Auf der Ebene der individuellen Seele werden die Perzeptionen entfaltet, indem differentielle Beziehungen zwischen den kleinen, verschwindenden Perzeptionen integriert werden. Alle Monaden enthalten ein unendliches Reservoir an kleinen Perzeptionen wie eine Art Nebel oder Dunst. Aber jede einzelne besitzt eine spezifi-
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sche, angeborene Sensibilität mit eigener Reizschwelle und eigener Intensität des Klaren und Distinkten. Angeborene Ideen sind gleichsam ›Filter‹ (cribles)12, welche die differentiellen Relationen verteilen, die ihrerseits nur diejenigen kleinen Perzeptionen hervorheben, die in einem gegebenen Fall zu einer relativ klaren Perzeption führen können. Ähnlich wird auf der Ebene des Körpers die organische Aktion, die mit aktuellen Perzeptionen übereinstimmt, durch einen Prozess der Amplifikation und Kontraktion der universellen Kommunikation der kollektiven Bewegungsmomente in der Natur erzeugt. Auf der »Schwingungsebene der Materie« (Deleuze 2000: 156) ist der Filtermechanismus offensichtlich nicht einer der angeborenen Ideen, sondern einer der elastischen Aktion des vinculums, durch die in der Materie realisiert wird, was in der Seele aktualisiert wird. Die architektonische Zweiteilung demonstriert, dass die Aktualität nicht die Realität konstituiert. Die untere Ebene ist nicht auf die obere Ebene reduzierbar, weil sie die prästabilierte Harmonie oder die Kommunikation der individuellen Seelen – die gegenseitige Verbindung und Akkomodation aller individuellen Seelen aneinander, und folglich eine »objektiv reale Welt« oder ein »Ding an sich« (ebd.: 171) – eben erst verwirklichen soll. So gibt es »eine fast schizophrene Spannung« (ebd.: 58) bei Leibniz zwischen der Behauptung, dass Gott allein die Welt gewählt hat, und der Behauptung, dass in jeder Welt jede individuelle Monade frei ist um andere Welten zu wählen, selbst wenn Gott sehr wohl weiß, dass sie das nicht tun wird. Die Wahlfreiheit eines aktuellen Adam setzt nämlich voraus, dass er in seiner Seele andere Neigungen, die anderen möglichen Welten entsprechen, finden kann. Im Körper insistiert demzufolge mehr Wirklichkeit, als die Seele für sich ausdrücken kann. Auf der Ebene der Seele lässt sich nur eine Welt aktualisieren, aber auf der körperlichen Ebene umfasst die sekundäre oder abstrakte Materie alle möglichen Welten, sogar wenn sie nicht mit der ›wirklichen‹ Welt kompatibel sind. Ein aktueller, aber nicht sündig gewordener Adam bleibt eine insistierende Möglichkeit, auch nachdem die virtuelle Welt der Sünde bereits von Gott gewählt worden ist. Hieraus folgt, erstens, dass Körper nicht individuell und deswegen nicht notwendig wirklich sind, und zweitens, dass sich die Filterfunktion des Gehirns nicht auf das Virtuelle, sondern auf das Mögliche bezieht, obschon es das direkte physische Komplement der virtuellen Ideen ist.
12 | Vgl. Deleuze 2000: 147.
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Zusammengefasst könnte man also sagen, dass der Prozess der Realisierung zwischen der Subsistenz der möglichen Welten und der Existenz der aktuellen Welt insistiert. In Deleuzes eigener Terminologie: Der Übergang von der Virtualität zur Aktualität muss durch ein Feld von nomadischen Intensitäten und den Selektionsprozess ihres kollektiven und reziproken Werdens hindurchgehen. Im Gehirn ›verschmelzen‹ die Prozesse von Aktualisierung und Realisierung in einer ›höheren Entsprechung‹. (Deleuze 2000: 52, 226) Wie die ewige Wiederkunft des Gleichen in den »verkleideten Wiederholungen« steckt, ist das Gehirn die Quelle der komplexen Modifikation des Ganzen: »ein Echo, das sie alle gemeinsam haben, sobald sie sich an einer Wand reflektieren.« (Ebd.: 181) Denn selbst wenn die Prozesse der Aktualisierung und der Realisierung real unterschieden werden müssen, so handelt es sich bloß um eine formale und nicht um eine numerische Differenz, denn diese Differenz »zieht keinerlei ontologischen Unterschied zwischen Seienden nach sich«. (Ebd.: 76) Statt auf einen wirklichen Dualismus hinzuweisen, bilden die zwei Etagen des Barock nur die provisorische Bühne eines »bi-univokalen« Monismus, in denen sie sich invers zueinander verhalten: ein Innen und ein Außen, die in gegenseitiger Voraussetzung zur selben Welt und zum selben Haus gehören. (Ebd.: 52) Wie Leibniz sagt: »Die Seele folgt ihren eigenen Gesetzen, wie der Körper den seinen; und sie treffen aufeinander kraft der prästabilierten Harmonie zwischen allen Substanzen, weil sie alle Vorstellungen eines und desselben Universums sind.« (Leibniz 2002: 145) Und was könnte der Locus dieser Harmonie sein, wenn nicht das zerebral-nervliche Milieu, das Echo, das sie beide gemeinsam haben?
6. D ie A utonomie der S innlichkeit : A ffekt, P erzept, K onzept In Was ist Philosophie? kehrt dieses Konzept des Gehirns als psychophysisches Ordnungsprinzip wieder. Wenn das Chaos einen Bereich reiner ›Variabilität‹ bezeichnet, d.h. der reinen Vielheiten des Werdens, die wie Blitzschläge mit unendlicher Geschwindigkeit erscheinen und verschwinden, so filtern die Faltungen und Windungen des Gehirns diese Vielheiten mittels kombinatorischer Schemata. Deleuze und Guattari nennen die Schemata »Vitalideen« (Deleuze/Guattari 1996: 249) und beschreiben ihr Funktionieren, indem sie Leibniz paraphrasieren: »Als würfe man ein Netz
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aus – aber der Fischer wird womöglich mitgerissen und findet sich auf offener See wieder, während er sich im Hafen angelangt wähnte.« (Ebd.: 241) Denken heißt schöpferisch tätig sein, wie Deleuze hartnäckig behauptet, und schöpferisch tätig sein heißt immer eine Ebene zu entwerfen, die das Chaos schneidet und auf der das Geschaffene eine autonome Existenz besitzt. Als eine »unendlich maschinenmäßige Maschine« (Deleuze 2000: 127) durchschneidet das Gehirn das Chaos. Es bildet seine »untere Seite« und behält so die Ideen bei, die es sonst schon fliehen würde, bevor sie überhaupt geformt worden sind. Zugleich ist es aber durchlässig für kleine Dosierungen von Chaos, die fest gewordene Meinungen sprengen und die Hervorbringung von Neuem ermöglichen. Somit gibt es nichts außerhalb des Gehirns; das Gehirn ist das tranzendentale Requisit des Denkens. Laut Deleuze und Guattari erstellt die Wissenschaft Funktionen zwischen Variablen, die auf eine Referenzebene verweisen, die dem Werden Grenzen auferlegt –, selbst wenn es ständig mit chaotischen Elementen konfrontiert wird, z.B. mit infinitesimalen Quantitäten, die seiner Reichweite entkommen. Die Kunst schafft aus materiellen Varietäten endliche Empfindungsblöcke, relativ auf eine Kompositionsebene, auf der die Blöcke einem unendlichen Werden unterworfen sind. Die Begriffe der Philosophie sind Variationen der Unendlichkeit, aber sie erhalten ihre Konsistenz, weil sie sich auf eine Immanenzebene beziehen. Das Gehirn leistet aber die Verknüpfung der genannten drei Ebenen. Es fungiert als ein abstraktes ›Diagramm‹, gleichsam ein von Ideen wimmelnder Schatten oder dunkler Hintergrund, aus dem Kunst, Wissenschaft und Philosophie hervortreten als wirklich unterschiedene in ihren Faltungen, obgleich sie stets untrennbar bleiben. Für Deleuze impliziert das transzendentale Gehirn vor allem eine Überwindung des Kantischen Dualismus von Sensibilität und Intelligibilität, weil es keine bloß formelle oder konzeptuelle Bedingung aller Erfahrung abgibt, sondern ein physisches Kontinuum zwischen Affekten, Perzepten und Konzepten. Vitalideen bilden den affektiven Grund, ein Kontinuum zwischen Perzepten und Konzepten, so dass man nicht länger sagen kann »wo das Sinnliche aufhört und das Intelligible anfängt«. (Ebd.: 195) In diesem Zusammenhang spielt die zerebrale Membran eine ähnliche Rolle wie die reine Oberfläche des Sinns, die in der Logik des Sinns zwischen logischen Propositionen und körperlichen Mischungen vermittelt. Ebenso steht die Leinwand in den Kino-Büchern zwischen Welt und
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Geist oder die Macht zwischen dem Sagbaren und dem Sichtbaren in dem Buch über Foucault. In Was ist Philosophie? bezeichnet das Gehirn zunächst das oszillierende Interface zwischen Kunst und Philosophie. Entsprechend der Architektur von Die Falte folgt die Unterscheidung zwischen Kunst und Philosophie derjenigen zwischen dem Möglichen und dem Virtuellen: »Dieses ist die in einer absoluten Form gefaßte Heterogenität, jenes die in einer Ausdrucksmaterie eingebundene Alterität. Das Monument aktualisiert nicht das virtuelle Ereignis, es inkorporiert oder inkarniert es vielmehr: Es verleiht ihm einen Körper, ein Leben, eine Welt. […] Diese Welten sind weder virtuell noch aktuell, sie sind möglich, das Mögliche als ästhetische Kategorie […], die Existenz des Möglichen, während die Ereignisse die Wirklichkeit des Virtuellen sind, Formen eines Natur-Denkens, die alle mögliche Welten überfliegen.« (Deleuze/ Guattari 1996: 210)
Zum Abschluss möchte ich diese kompakte Zusammenfassung der Differenz zwischen Kunst und Philosophie weiter entwickeln, um dann zu meiner anfänglichen Frage, wie die beiden miteinander im Gehirn interferieren, zurückzukommen. Die Kunst nimmt sich Deleuze und Guattari zufolge vor, eine Zusammensetzung von Affekten und Perzepten für sich allein bestehen zu lassen. Der Unterschied zwischen Affekten und Perzepten gründet auf dem leibnizianischen Unterschied zwischen der unbewussten und bewussten Perzeption. Die Affektivität erlaubt es, innerliche Erfahrung als Modus körperlicher Kommunikation zu verstehen, so dass ein andauernder Reizzustand der Seele mit den körperlichen Interaktionen (im Sinne eines differentiellen Potentials, aus dem die Perzeptionen entstehen) übereinstimmt. »Was man ›Perzeption‹ nennt, ist kein Sachverhalt mehr, sondern ein Zustand des Körpers, sofern er von einem anderen Körper induziert wird, und entsprechend ist ›Affektion‹ der Übergang von diesem Zustand zu einem anderen, und zwar als Erhöhung oder Verminderung des Potentials bzw. der Potenz unter Einwirkung anderer Körper.« (Deleuze/Guattari 1996: 179-180) Zudem sind Affekte und Perzepte nicht mit Affektionen und Perzeptionen zu verwechseln, denn sie gehören nicht zu einem Individuum und seiner gelebten Erfahrung. Stattdessen gehören sie zum organlosen Leben, »jenes Nicht-menschlich-Werden des Menschen« oder jene »nicht-
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menschlichen Landschaften der Natur«. (Ebd.: 199) Ein Körper kann eine substantielle Einheit besitzen ohne individuell zu sein, weil er nur dann individuiert wird, wenn der Filtermechanismus, der seine Teile in einem substantiellen vinculum erfasst, bis zu einer konstituierenden Monade zurückverfolgt wird, deren organischen Körper er konditioniert. Aber obwohl Organe die perzeptiv-affektiven Requisiten für die Entwicklung des Lebens der individuellen Monade sind, gilt nicht der umgekehrte Fall. »Selbst als nicht-lebendige und nicht-organische haben die Dinge eine gelebte Erfahrung, eben weil sie Perzeptionen und Affektionen sind.« (Ebd.: 180) Und: »Nicht jeder Organismus ist mit einem Gehirn ausgestattet, und nicht jedes Leben ist organisch, aber es gibt überall Kräfte, die Mikro-Gehirne bilden, oder ein anorganisches Leben der Dinge.« (Ebd.: 253) Überall in der Materie muss es unmenschliche Augen geben und ebenso viele verteilte Gesichtspunkte. Bereits Leibniz misst ausschließlich den vernunftfähigen Monaden ein vinculum bei, während die Körper, die zu tierischen Seelen gehören – die »übrigen Formen oder Seelen« von Mineralien, Pflanzen und Tieren, die »in die Materie versenkt«13 (Leibniz 1966: 261) sind –, stets neue Metamorphosen durchmachen und in verschiedene Kompositionen eingehen.14 Folglich ist das Modell aller Kunst, so wie Deleuze es definiert, das sinnliche Anders-Werden eines Tier-Werdens, das heißt die Animierung von Materie auf nicht-menschliche Weise. Wenn Affekte und Perzepte nicht auf die gelebte Erfahrung eines perzipierenden Subjekts zurück verweisen, so sind sie ebenso wenig auf unabhängig vom Subjekt existierende Objekte, deren Repräsentationen sie dann sein würden, zurückzuführen. Wird eine Ähnlichkeit mit einem Objekt konstatiert, so ist diese immer eine »produzierte Ähnlichkeit«. (Deleuze/Guattari 1996: 194, 204) Ähnlichkeit verweist auf eine Ausdrucksmaterie oder ›Gehirnmaterie‹, in der sie realisiert wird, so dass die Materie in Empfindung übergeht: »Das Lächeln aus Ölfarbe, die Geste aus gebranntem Ton, der Schwung aus Metall, das Gedrungene des romanischen
13 | Leibniz spricht auch von den »tierischen« oder »materiellen« Seelen – nicht, weil sie ideal sind, denn das sind Seelen immer, sondern weil sie der Materie zugehören. Die Körper können »nicht bloß tierisch sein, sondern beseelt: nicht weil sie auf Seelen einwirken, sondern insofern sie ihnen gehören […].« Deleuze 2000: 196. 14 | Vgl. Leibniz 2002: 141.
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Steins und das Aufstrebende des gotischen Steins.«15 (Ebd.: 194) Weil die Materie, in Anlehnung an Leibniz, keine eigene Realität als Ding an sich besitzt sondern immer ›abstrakt‹ ist, liegt ihre Realität genau in der Ähnlichkeit, die in ihr auf verschiedene Weisen synthetisiert oder komponiert werden kann. Diese Synthesis muss jetzt als ein Resultat verstanden werden und nicht als Anfang wie noch bei Kant. Es gibt daher auch keine irreführende Suggestion eines möglichen Objekts jenseits der Sinnesschwelle, das uns von außen affizierte: Die Empfindung kommt zuerst. Wenn ein Körper nicht mit seiner objektiven oder physischen Repräsentation übereinstimmt, dann ist das in der Tat so, weil es nur ein reines »feeling« (ebd.: 180) im Gehirn ist. Die Materie ist ein andauerndes ›Realisieren‹ von Phänomenen, was es schwierig macht »zu sagen, wo die Empfindung tatsächlich beginnt und wo sie aufhört.« (Ebd.: 194) Die Materie besitzt also die Allgemeinheit einer Ähnlichkeitsmaterie, d. i. eine das unendliche Chaos der reinen Möglichkeiten ordnende Textur. Jede Empfindungsmaterie faltet weitere Empfindungen, die noch andere in sich einwickeln, so dass jede verwirklichte endliche Form nur eine Falte von einer Unendlichkeit möglicher anderer, in die Materie verwickelter Empfindungen entfernt ist.16 Anders gesagt: Weil die Realisierung nicht aufhört, wenn ein Phänomen realisiert worden ist, so realisiert oder filtert jedes Phänomen zugleich auch, weil es etwas im Körper ist, neue Phänomene. Ähnliches gilt auch für Konzepte. In der oben zitierten Passage unterscheidet Deleuze Konzepte von Empfindungen mittels der altehrwürdigen Dualität von Form und Materie. In Die Falte heißt es dazu, dass der »Texturologie« eine »Logologie« korrespondiert. (Deleuze 2000: 63) Aber wenn der Aristotelische Hylomorphismus Materie und Form je nach ihrem Inhalt definiert, so sind sie jetzt durch ihre Expressivität relativiert. Eine Ausdrucksmaterie ähnelt nicht einem nicht-existierenden aktuellen Inhalt, als gäbe es keine Realität jenseits der Aktualisierung, sondern imitiert ›das Ausgedrückte‹, d.h. eine mögliche Welt. Aber können wir vom Konzept 15 | »Die Ähnlichkeit richtet sich nach dem Ähnelnden, nicht nach dem Ähnlichen. Daß das Perzipierte der Materie ähnelt, macht, daß die Materie notwendigerweise diesem Verhältnis entsprechend hervorgebracht wird, und nicht, daß dieses Verhältnis einem präexistenten Modell entspricht. Oder vielmehr ist es das Ähnlichkeitsverhältnis, ist es das Ähnelnde, was selbst Modell wird und was der Materie auferlegt, das zu sein, dem es ähnelt.« Deleuze 2000: 157. 16 | Vgl. Hammond 2010.
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als ›Ausdrucksform‹ das gleiche sagen? Auf dem Spiel steht »die Realität des Möglichen, insofern es möglich ist« (Deleuze 1993: 215), das Mögliche nämlich nicht hinsichtlich eines Inhalts, sondern hinsichtlich seines Ausdrucks. Für Leibniz wird ein Individuum durch seine Perzepte definiert, aber es existiert nur »dank des Vermögens des Begriffs«. (Deleuze 2000: 107) Das Konzept ist der ›vollständige Begriff‹ eines individuellen Existierenden und als solches das logische Äquivalent der substantiellen Form. Aber während die Materie unendlich viele Möglichkeiten entfaltet, schließt das Individuum nur eine mögliche Welt ein; überdies eine Welt, die aktuell unendlich ist und deswegen jedes Mögliche ausschließt. Obwohl Leibniz alle möglichen Welten im Realisierungsprozess (Reich der Natur) zulässt, ist das im Aktualisierungsprozess (Reich der Gnade) sicher nicht so. Von daher müssen Realisierung und Aktualisierung radikal getrennt bleiben, selbst wenn sie in einem virtuellen Ereignis im Gehirn konvergieren. Indem Leibniz das Ereignis in den Individuen, die es aktualisieren, lokalisiert, bleibt das Gehirn auf organische Weise von prästabilierten Verbindungen und Integrationen der allzumenschlichen Doxa (›Klischees‹) stratifiziert.17 Aus diesem Grund trifft hier Deleuzes frühe Leibnizkritik noch immer zu, nämlich die These, dass Leibniz’ fast schizophrene »Unentschiedenheit zwischen dem Virtuellen und dem Möglichen […] fatal« ist für die (immer noch identitätslogische) Befreiung der Differenz. (Deleuze 1992: 269-270) Im Gegensatz dazu begrüßt Deleuze den Leibnizianismus Whiteheads, für den inkompossible Welten in ein und derselben buntscheckigen Welt eingeschlossen sind und für den die Aktualisierungs- und Realisierungsprozesse in einem transversalen Werden verschmelzen.18 Auf der Ebene des Konzepts ist die Realität des Möglichen das Virtuelle, indem das Ereignis außerhalb der empirischen Zeit subsistiert und alle möglichen Welten zugleich überspannt. Die Ellipse, die Parabel, die Hyperbel ähneln einander nicht nur in einer höheren Entsprechung, des rein idealen Werdens des Zirkels, der ausgedrückt wird als der ›Sinn‹ unterschiedlicher psychophysischer Sachverhalte, sondern der Zirkel subsistiert zugleich als ein in keiner aktuellen Welt erschöpfbares Potential des Werdens, als etwas, das sich selbst ausweicht, so dass »die variable Krümmung den Kreis 17 | Vgl. Deleuze/Guattari 1996: 247f. 18 | Vgl. Deleuze 2000: 134f.
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entthronisiert« (ebd.: 67) und sich dieser »auf eine Wegstrecke oder Spirale hin« öffnet. (Ebd.: 226) Gewiss gründet das Konzept in der Existenz und von daher in Affekten und Perzepten – denn wie Leibniz sehr wohl wußte, »brauchen die abstrakteste[n] Gedanken irgendeine Art von sinnlicher Perzeption« (Leibniz 1890: IV, 563) –, aber wenn ein sinnliches AndersWerden immer realisiert werden muss in einem materiellen Sachverhalt, und deswegen, wie die Wissenschaft, von einer Verlangsamung des Chaos abhängig ist, so ist das Konzept eine unkörperliche Andersheit oder reine Heterogenität, welche die Einheit oder Konsistenz seiner Elemente mit unendlicher Geschwindigkeit überfliegt und sich sofort in einem perfekten nicht-individuellen Zustand auf alles andere bezieht, ohne seine Elemente zu transzendieren.19 Trotz augenfälliger Differenzen bestätigt Deleuze das von Leibniz entwickelte Konzept des Gehirns, das als unendlich oszillierende Leinwand oder Membran – das dunkle Zimmer, in dem die Perzeptionen aufglimmen – eine Verbindung mit der äußerlichen Welt herstellt, die ihre Eindrücke auf dem Körper hinterlässt. Für beide ist das Gehirn ein völlig entsubjektivierter und entobjektivierter Vermittler, in dem die Empfindung die Autonomie eines anorganischen Lebens erhält. Als irreduzible psychophysiche Entität aus einer Ausdrucksform und einer Ausdrucksmaterie zusammengesetzt, ist das Gehirn der Ort, an dem Denken und Natur zusammentreffen. Innerhalb der unendlich zusammengefalteten Unendlichkeit der Gehirnmaterie geben Subjekt und Objekt »schlechte Annäherungen an das Denken« (ebd.: 197) ab, denn sie sind nur die relativen Horizonte des Denkens, während das Gehirn den absoluten Horizont bildet, das heißt einen Horizont, der selbst ständig in Bewegung ist. Alles, was sich im Gehirn ereignet, kommt stets unmittelbar auf sich selbst zurück. Alles partizipiert an einem einzigen Kontinuum, das sich selber an seinen Rändern entlang entwickelt, wie eine Fraktallinie, die in den chaotischen Hintergrund eintaucht, aus dem die Realität hervortritt wie ein endloses Aufkommen des Neuen. Affekte und Perzepte sind hier immer schon »Ereignisse des Denkens« (ebd.: 80), während Konzepte nicht mehr auf ein Ego zurückverweisen, von dem sie synthetisiert werden. Ereignisse des Denkens sind kontraktive Falten oder individuerende »Wende[n]« (ebd.: 249) im Gehirn, für welche Deleuze den neoplatonischen Begriff der ›Kontemplation‹ verwendet: »Die Empfindung ist reine Kontemplation, denn durch Kontemp19 | Vgl. Deleuze/Guattari 1996: 182f.
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lation zieht man zusammen, dabei sich selbst in dem Maße betrachtend, als man die Elemente betrachtet, aus denen man hervorgeht.« (Ebd.: 252) Eine Kontemplation, also, ist das Subjekt gewordene Gehirn, eine unilaterale Faltung oder Auto-Affektion eines hyperplastischen Gehirns20, durch die der Grund »zur Oberfläche aufsteigt« (Deleuze 1992: 49) und ein »Hirn-Denken« (Deleuze/Guattari 1996: 250) entsteht, das seine molekularen Komponenten in einer untrennbaren Variation verbindet, wobei die konzeptuelle Schicht des Gehirns Philosophie und die sinnliche Schicht des Gehirns Kunst wird.
L iter atur Arthur, T.W. (Hg.): The Labyrinth of the Continuum. Writings on the Continuum Problem, 1672-1686, New Haven/London 2007. Bredekamp, Horst: Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst, Berlin 2004. Cache, Bernard: Earth Moves. The Furnishing of Territories. Writing Architecture Series, übers. v. A. Boyman. Cambridge 1995. Deleuze, Gilles: Foucault, übers. v. H. Kocyba. Frankfurt a. M. 1987. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, übers. v. J. Vogl. München 1992. Deleuze, Gilles: Unterhandlungen 1972-1990, übers. v. G. Roßler. Frankfurt a. M. 1993. Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibniz und der Barock, übers. v. U. J. Schneider. Frankfurt a. M. 2000. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, übers. v. G. Ricke/R. Voullié. Berlin 1992. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix : Was ist Philosophie?, übers. v. B. Schwibs/J. Vogl. Frankfurt a. M. 1996. Deleuze, Gilles/Parnet, Claire: Dialoge, übers. B. Schwibs. Frankfurt a. M. 1980.
20 | Zum hyperplastischen »Gehirn als transorganisches Organ, als Organ des Exzesses«, das zugleich Subjekt und Objekt einer Kreation ist, eine Leinwand, durch die die Welt sich selbst wahrnimmt, siehe Samsonow/Alliez 2000.
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Frémont, Christiane: »Komplikation und Singularität«, übers. v. A. Knop, in: Friedrich Balke/Joseph Vogl (Hg.), Gilles Deleuze. Fluchtlinien der Philosophie, München 1996, S. 61-79. Hammond, Matthew: »Capacity or Plasticity: So What Just Is a Body?«, in: Sjoerd van Tuinen/Niamh McDonnell (Hg.), Deleuze and the Fold. A Critical Reader, Basingstoke 2010, S. 225-242. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die philosophischen Schriften, hg. v. C. J. Gerhardt. Berlin/Hildesheim 1875-1890. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Bd. 2, übers. v. A. Buchenau, hg. v. E. Cassirer. Hamburg 1966. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, übers. v. E. Cassirer. Hamburg 1971. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie und andere metaphysische Schriften, übers. v. U. J. Schneider. Hamburg 2002. Leibniz, Gottfried Wilhelm: The Leibniz – Des Bosses Correspondence, hg. v. B. Look/D. Rutherford. New Haven/London 2007. Mercer, Christia: Leibniz’s Metaphysics. It’s Origins and Development, Cambridge 2001. Samsonow, Elisabeth/Alliez, Eric (Hg.): Hyperplastik. Kunst und Konzepte der Wahrnehmung in Zeiten der mental imagery, Wien 2000.
Was heißt Denken nach dem Ende des Durchblicks? Zum Tod von Gilles Deleuze 1 Alexander Kluge/Joseph Vogl
Alexander Kluge: Gilles Deleuze, der französische Philosoph, hat sich aus dem Fenster gestürzt. Er war krank. Joseph Vogl: Ja. Gilles Deleuze hatte über Jahre hinweg nur noch eine Lungenhälfte, und ich glaube auch von dieser Lungenhälfte nur einen Teil, er hatte große Atembeschwerden, war häufig in der Intensivstation und hatte wohl auch in den letzten Jahren öfter daran gedacht, die Apparate abzustellen, die Apparate abstellen zu lassen. Und er hat sich in einem Anfall von Atemnot und in der Panik, die diese Atemnot mit sich bringt, aus dem Fenster seiner Pariser Wohnung im 17. Arrondissement gestürzt. Und das ist ein Tod, der sich in fast allen Facetten der Interpretation widersetzt, weil es kein natürlicher Tod, aber auch kein wirklicher Selbstmord war. Gilles Deleuze hat nie einen über lange Zeit hinweg gefassten Plan an den Selbstmord in sich bewegt, und er hat nicht daran gedacht, sich auf diese Weise zu verabschieden. Es gab keinen Plan dafür, es gab keinen Vorsatz, sondern es war wahrscheinlich ein Akt, wie ihn Kant einmal beschrieben hat. Man stirbt, wie man ein Zimmer verlässt, in dem es brennt: weg aus dieser Panik, weg aus dieser Atemnot, weg aus diesem immer gesteigerten Leid. Es war wahrscheinlich ein Zustand höchster Zerbrechlichkeit, höchster Erschöpfung. 1 | Fernsehgespräch, gesendet am 25.3.1996, für den Druck gekürzt, korrigiert und überarbeitet.
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AK: Das Ende eines Lebens. JV: Das Ende eines Lebens und auch eine physische Erschöpfung, die Sehnsucht nach frischer Luft, nach einem tiefen Atemzug, nach der Möglichkeit zu atmen. Das Leben hatte für Gilles Deleuze keinen Ausweg mehr parat. AK: Er hat ja zusammengearbeitet mit Félix Guattari. JV: Ja. AK: Und war er auf der Beerdigung von Guattari? JV: Nein, er war nicht auf der Beerdigung von Guattari. Zu dieser Zeit war Deleuze bereits sehr krank. Er ist zwar noch häufig mit Leuten in Kontakt gewesen, aber er hat öffentliche Veranstaltungen gemieden. Auf der Beerdigung von Guattari hat er nur einen kurzen Text verlesen lassen, als Hommage an Guattari. AK: Wie ist seine Beerdigung gewesen, die von Deleuze? JV: Deleuzes Beerdigung fand vollkommen zurückgezogen statt im Limousin, seiner französischen Heimatlandschaft, und es waren, glaube ich, nur Familienmitglieder zugelassen. AK: Guattari dagegen hatte eine große Veranstaltung, nicht eine missglückte, aber eine große Veranstaltung. JV: Geglückt, missglückt, eine große Veranstaltung auf dem Friedhof Père Lachaise, in dem sich tatsächlich alle Freunde, die ganzen Gruppen, die Guattari in Bewegung gesetzt hat, noch einmal versammelt haben und fast in einer Art Fest Guattari zu Grabe getragen haben. AK: Wie haben die zusammengearbeitet? JV: Deleuze und Guattari hatten, zumindest für den Leser, eine schwer entzifferbare Art des Zusammenarbeitens. Sie sind nämlich in ihren gemeinsamen Büchern als Autoren kaum voneinander zu unterscheiden. Das ist eine der grandiosen Seiten dieser Bücher. Und man könnte das Prinzip
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dieser Zusammenarbeit vielleicht als eine Art produktiven Missverständnisses umschreiben. Deleuze war dafür zuständig, große Gedankenlinien, philosophiehistorische Schnitte zu ziehen, während Félix Guattari eine hohe begriffliche Phantasie beisteuerte. Guattari hat Begriffe erfunden, hat Deleuze Begriffe wie kleine Kristalle zugeworfen, der um diese Kristalle herum dann sein Denken anlagern oder ausfällen ließ. Und oft, Deleuze hat darüber geschrieben, war es sogar so, dass beide mit demselben Begriff nicht dasselbe meinten, zu keiner Übereinstimmung, aber zu einer Begegnung gekommen sind, zu einer Begegnung im Begriffsraum, in dem unterschiedliche Kontinente, unterschiedliche Gedankenfiguren aneinanderstoßen – was sich bis in die Bewegung des Textes hinein niederschlägt. AK: Wenn man hier so was nimmt wie das Buch Tausend Plateaus, was heißt tausend Plateaus auf Französisch? JV: Mille plateaux. AK: Und was ist damit gemeint? JV: Damit sind unterschiedliche Ebenen gemeint, unterschiedliche Schichten, in denen das Denken gleichzeitig operiert. Tausend Plateaus ist ein fast programmatischer Titel eines Buchs, das man nicht von Anfang bis Ende lesen kann, nicht von Anfang bis Ende lesen muss und das auch nicht in einer Sukzession, in einer Abfolge gedacht ist, sondern in einer Form der Gleichzeitigkeit. Das heißt, man kann von einem Plateau zum andern klettern, von einem Plateau zum anderen springen. Man weiß nicht, wie diese Plateaus nebeneinander, übereinander, nah aneinander oder weit voneinander entfernt situiert sind. Hier gibt es keine klare zeitliche oder räumliche Metrik. Diese Plateaus folgen nicht der Ordnung eines Buches, von Seite zu Seite, sie lassen unterschiedliche Verlaufsrichtungen und Orientierungen zu, vorwärts, im Krebsgang, seitliche Abwege. Und der Titel suggeriert, dass das Denken nicht zur überschaubaren Einheit gerinnt, Anfang, Mitte und Schluss, dass es sich nicht mit Anfangs- und Abschlussgedanken zufrieden gibt. Was Denken für Deleuze und Guattari bedeutet, passiert immer auf mehreren Ebenen zugleich, folgt unterschiedlichen Gangarten und Geschwindigkeiten. AK: Es ist die konsequente Haltung, die dahintersteht bei den beiden, ja?
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JV: Das ist die Frage: Wie kann die Form des Buchs, das eine sehr starke, folgenreiche abendländische Form zur Prägung des Denkens darstellt, wie kann diese Form des Buchs geöffnet werden, und zwar mit Blick auf die Zufälligkeit, die Begegnung, die Kontingenz.
»D enken als F ortbe wegungsmittel«/ Q uantenströmung AK: Da steht meinetwegen Quantenströmung. Was stellen die sich darunter vor, Quantenströmung? JV: Quantenströmung ist in diesem Kontext ein Begriff, der zwei Filiationen öffnet, nämlich auf der einen Seite die Frage des Quantensprungs, also den Übergang von einem Energiezustand zu einem anderen, eine unstetige, nicht-lineare Bewegung. Und auf der anderen Seite die Frage der Strömung, das heißt Prozesse der Energieübertragung, die man seit geraumer Zeit kennt, aber noch ohne genaue Vorstellung von einer Form, von einem Mechanismus. Diese beiden Dinge, das unstetige Springen und das seltsame Wirken von Strömen und Übertragungen, das könnte, glaube ich, da enthalten sein. AK: Gebraucht Quanten so wie Physiker das machen, also dass Materie an bestimmten Stellen antwortet, an anderen nicht antworten kann... JV: Ja. AK: ...so dass also gewissermaßen eine Linearität überhaupt nirgends in der Natur existiert. JV: Genau. Und dass es in dieser Hinsicht auch Fälle der Unentscheidbarkeit gibt, das heißt wie in der Naturwissenschaft, wie in der Lehre der Elementarteilchen, wo es Teilchen, Partikel gibt, die man nicht zuordnen kann, bei denen entweder die Geschwindigkeit oder der Ort bestimmbar ist, aber nicht beides zugleich. Sie sind nicht lokalisierbar, und nur insofern sie nicht lokalisierbar sind, können sie beschrieben werden.
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AK: Ich frage den Demosthenes in Athen etwas. Er stottert, er kann nicht sprechen. Fünf Jahre später kann er sprechen, er ist der beste Redner Athens. Das wäre aber sozusagen immer gleichzeitig? JV: Ja, das widerspricht sich und passt dennoch zusammen. AK: Das heißt, er war nie ein Stotterer und er war nie der Rhetoriker. JV: Und die beste Geschichte, die man von Demosthenes erzählen könnte, wäre die, die den großen Redner als einen vorführt, der eigentlich, wenn man genau hinhört, immer noch stottern kann, dessen Zunge immer noch zischt, der sein Stottern auch im Schwall des Redners noch nicht verlernt hat. AK: Er hat dem Meer gegenüber Steine in seinen Mund genommen, gegen das Meer angeschrien. Aber eigentlich ist er nicht beharrlich, er glaubt auch nicht, dass er das Meer übertönen könnte. JV: Ja. Man könnte vielleicht zwei Geschichten zu Demosthenes erzählen. Die eine ist die Schulgeschichte, die jeder kennt, das ist die Geschichte, die aus Demosthenes jemanden macht, aus seinem Mund etwas macht, was erzogen, dressiert werden muss. Das ist die Geschichte, die man in den Schulen, in Gymnasien mitgeteilt bekommt, d. h. eine Geschichte des Schmerzes, eine Geschichte der Erziehung und des Erfolgs. Und auf der anderen Seite könnte man die Geschichte, die zwei Ebenen, zwei Plateaus übereinandergelegt, die Geschichte des Stotterers und die Geschichte des Redners erzählen, eine Geschichte, die sagt, dass Demosthenes ein großer Redner nur insofern wurde, als er das Stottern erlernt hat. Das große Problem Demosthenes war nicht, das Reden zu lernen, klar reden zu können, klar zu artikulieren, seine Muttersprache zu beherrschen, sondern das eigentliche Problem des Demosthenes bestand darin, zu stottern und gleichzeitig zu reden, ein großer Redner weil Stotterer zu sein. AK: Provinzler zu sein und welterfahren... JV: Ja. AK: ...von Leidenschaften durchfurcht und gleichzeitig klar.
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JV: Und das heißt auch, von diesem winzigen sinnlichen Detail, von dem Laut, der kein Wort ist, von dem Zischen im Mund, das nicht zu Sprache werden kann, gleichzeitig zum klaren Gedanken zu kommen. Das bedeutet: Im Milieu des Klaren und Deutlichen, in dem, was die europäische Aufklärung auszeichnet, im Hang zu klaren und deutlichen Gedanken wird das nötige Hintergrundsrauschen bemerkbar, das Dunkle und Verworrene, das bei allen Klar- und Deutlichkeiten mitwirkt, mitspricht, mitdenkt. AK: Es gibt einen Ausdruck von Deleuze: Quantenglitschigkeit ins Glück. Das heißt also, offenkundig stellt er sich das so vor wie auf einer Bahn, im Schlamm sozusagen...
Q uantenglitschigkeit/ »D as L eben ist eine RUTSCHBAHN« AK: ...wo man hineinrutscht. Also wenn man sagt, das Leben ist eine Rutschbahn, ja, nach Wedekind, dann wäre das etwas, was er abtastet, ob Glück so eher möglich ist, während er es sich als ein gerades, mechanisches, als ein Straßenbauprojekt nicht vorstellen kann. JV: Ja, das ist richtig. Deleuze, um es etwas allgemeiner zu formulieren, ist vielleicht der Philosoph, der wie kein anderer sich die Frage nach der Fortbewegung im Denken, nach der Fortbewegung in der Philosophie gestellt hat. Und das ist zunächst einmal eine Frage der Bewegungsart: Gehe ich im Schritt, schreite ich, gehe ich im Gleichschritt, marschiere ich, watschle ich, tanze ich, springe ich? Und auf der anderen Seite eine Frage der Geschwindigkeit: Mit welchen Geschwindigkeiten kann man sich im Denken fortbewegen? Und diese Formulierung, Quantenglitschigkeit ins Glück, diese Formulierung enthält zwei Dinge, nämlich erstens das Unwillkürliche, die Bewegungen, die wie die Bewegungen von Tieren sind, die Bewegungen, die nicht dressiert sind, Bewegungen, die aus... AK: ...aus Versehen... JV: ...ja...
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AK: Das ist nicht Zufall? JV: Das ist nicht einfach Zufall, sondern das ist ein Ereignis, das durch eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit auf sich selbst, und zwar nicht die Aufmerksamkeit des Pädagogen, nicht die Aufmerksamkeit des Aufsehers, sondern eine bestimmte Empfänglichkeit vorbereitet wird. Dann geschieht die unwillkürliche Bewegung, und ich gerate tatsächlich über die Hintertür, durch Zufall, im Fall, also im Fallen oder im Hinfallen zum Glück. AK: Was sind die Hauptwerke von Deleuze und Guattari? JV: Deleuze und Guattari haben zusammen mehrere Bücher geschrieben. Das erste Buch ist der Anti-Ödipus, das Buch, das den größten öffentlichen Erfolg hatte, und zwar nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland, den Vereinigten Staaten.
ANTI-ÖDIPUS/ »S chlechtes G ewissen als K it t der gesellschaf tlichen P r a xis - -« JV: Weil das ein Buch gegen die symbolisierte Vaterfigur in der abendländischen Geschichte ist. Es ist ein Buch, das gegen all die Vaterfiguren, all die autoritären Figuren, die guten und schlechten Väter, die despotischen oder sorgenvollen Gestalten, die die sozialen Formationen, das Unbewusste, das Wissen der Psychoanalyse bevölkern – ein Buch also, das gegen den Wunsch nach Autoritäten geschrieben ist. AK: Und welche anderen Figuren spielen da eine Rolle? Oder gehen sie gar nicht mit Mythen um, benennen die nicht? JV: Sie benennen durchaus Mythen, aber Mythen, die gleichzeitig uralt und modern sind. Der alte Mythos ist tatsächlich der des Ödipus, d. h. also desjenigen, der seinen Vater umbringen muss, der gezwungen wird, der vom Mythos gezwungen wird, immer wieder von Neuem... AK: Weil der Vater ihn ja aussetzt.
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JV: Weil der Vater ihn aussetzt. Und der Mythos besteht ja nicht darin, das Individuum Ödipus zu interpretieren oder dem Individuum Ödipus Motive zuzuschreiben, sondern der Mythos sagt, so ist es gewesen, und so muss es immer gewesen sein, und so wird es auch bis auf Weiteres sein. Und das sagt dieser Mythos, den man so schätzt: Ödipus musste, um seine Mutter zu lieben, seinen Vater umbringen. Umgekehrt, er musste, um zu lieben, gleichzeitig in eine unmögliche Liebe geraten, nämlich in die zu seiner Mutter. Das macht das Moderne am alten Mythos aus. AK: Und er muss Kinder haben, die auch sozusagen ins Unglück stürzen. JV: Und er muss sich am Schluss blenden, er hat keinen Platz mehr in seinem Verband, er muss den Weg der Selbstbestrafung und Sühne einschlagen. AK: Und das befriedigt die beiden nicht? JV: Das befriedigt die beiden nicht, weil es Geschichten der Entsagung, Geschichten der Schuld, der immer weiter, im Mythos immer weiter... AK: ...fatalistische Geschichten... JV: ...forttransportierten Schuld sind. Vielleicht gar nicht fatalistisch, vielleicht wirklich eher Geschichten schlechten Gewissens. Das heißt also, um zu wünschen, um zu lieben, um eine Frau zu begehren, muss ich vor allem ein schlechtes Gewissen haben. Ich habe, ob es stimmt oder nicht, immer irgendwie schon den Plan, meinen Vater zu töten. Ich begehre, welche Frau ich auch immer begehre, immer schon auch ein verbotenes Objekt, meine Mutter. In jedem Wunsch liegt eine kleine Schuld, in jedem Wunsch liegt eine kleine Verfehlung, es liegt etwas Versäumtes, es liegt etwas Schreckliches, vielleicht sogar ein Mordgedanke dahinter. AK: Und da sagen sie, das unterschreiben wir nicht, das unterschreiben wir auch stellvertretend für die Menschen heute nicht. JV: Wir unterschreiben das nicht, und vor allem, und das ist entscheidend, wir glauben nicht, dass es wirklich so ist. Wir glauben, dass dieser Mythos irgendwann zu einer Erfindung wurde, die notwendig dafür war, dass
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Dinge glatt, ordnungsgemäß funktionieren, dass Kleinfamilien entstehen, dass diese Kleinfamilien sich mit dem Staat vertragen, dass dieser Staat einen Zugriff auf die Wünsche, auf das Begehren der einzelnen hat. Deleuze und Guattari sagen, dieser Mythos des Ödipus, dieser Mythos einer Schuld, eines Vergehens, eines Mangels, diese Schuld einer unmöglichen Liebe letztlich ist etwas, das bestimmten Autoritäten, bestimmten machtvollen Institutionen sehr gelegen kommt.
WUNSCHMASCHINEN & andere MASCHINEN nach G uattari und D eleuze AK: Wunschmaschinen, abstrakte Maschinen, Kriegsmaschinen – was ist das? JV: Zunächst ist eine Maschine ein Zusammenhang von verschiedenen Teilen, die ineinandergesetzt werden, um Funktionen freizusetzen. Eine Maschine funktioniert, eine Maschine verbindet Elemente unterschiedlicher Ordnung, sie bringt Teile, die hier und dort liegen, zueinander, bringt sie miteinander in einen Funktionszusammenhang. AK: Sie reden nicht von industriellen Maschinen, sondern sie reden von menschlichen Körpern, von menschlichen Seelen und von Gesellschaften. JV: Ja. Aber interessant ist am Maschinenbegriff, vor allem am Maschinenbegriff, wie ihn Deleuze und Guattari verwenden, dass dieser Begriff nicht instrumentell orientiert ist. Eine Maschine ist nicht das Werkzeug des Menschen. So wenig der Mensch das Werkzeug der Maschinen ist. Wichtig ist vielmehr der Gedanke, wie Menschen, Organismen, Hände und Köpfe mit anorganischen Teilen, mit technischen Elementen zusammenpassen und dadurch ein Aggregat ergeben, in dem etwas produziert wird, in dem etwas bewegt wird, in dem Energien umgewälzt werden. Das sind Maschinen. Maschinen sind komplexe Arrangements von Körpern, Köpfen, Strömen, mechanischen und nichtmechanischen, organischen und anorganischen Teilen, die zu funktionieren beginnen, die ineinandergreifen und die etwas herstellen.
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AK: Kann man sagen, noch nicht gelebtes oder ungelebtes Leben, das produktiv sein will? JV: Beides zusammen, gelebtes und ungelebtes Leben, die miteinander zusammengeschaltet werden. Also eine Maschine kann Leben erzeugen, eine Maschine kann aber auch Tod erzeugen. Die Produkte sind noch unklar. Es gibt Maschinen, die Leben herstellen wie beispielsweise Stammesriten, Fruchtbarkeitsriten; sie könnten Maschinen sein, die dazu bestimmt sind, Leben zu erzeugen, Reproduktionen zu regulieren. Es gibt umgekehrt Maschinen, die Tod erzeugen, also Kriegsmaschinen beispielsweise, Armeen, die Lebendiges zusammenfassen, um einen universalen Tod herzustellen. AK: Der Leib des Königs, also Ludwig XVI., wird hingerichtet, da wird eine Maschine hingerichtet. Das ist von Ihnen aus gesehen nicht primär der Mensch. JV: Ja. AK: Für den Menschen tut’s uns leid. JV: Ja. Es wird eine Maschine hingerichtet, und diese Maschine ist die Monarchie, ist der absolutistische Staat. Und diese Maschine wird hingerichtet wiederum mit einer Maschine, mit einer Maschine, die Guillotine heißt, die aber auch ein viel größeres maschinelles Arrangement voraussetzt. Die Maschine ist nicht die Guillotine alleine, sondern die Maschine ist die Revolution. Und in dieser Revolution gibt es... AK: ...die Heilskraft, die Verstandeskraft, die Ausgrenzung, das Gefühl: Ich habe genug. JV: Die Bewegung, auch eine neue Bevölkerungsschicht, die nun auftaucht, eine neue Form des Redens beispielsweise, eine neue Art des Mobilisierens, aber auch eine neue Form des Tötens, das Töten durch die Guillotine, das saubere Töten,... AK: Der König als Maschine. Das wäre zweitausend Jahre lang die kondensierte Hoffnung, irgendwann ist doch ein guter König wie Henry IV. dabei, ja? Es wird immer wieder enttäuscht, aber irgendwie hofft man, dass der
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dabei sein könnte. Immer wieder werden die Salbungen, die Zeremonien, die einen König installieren, wiederholt. JV: Ja. AK: Das ist ein Wiederholungszwang sozusagen, ja... JV: Es ist eine bestimmte Form des Wiederholungszwangs... AK: ...und Hoffnungszwang... JV: ...und die Frage, die sich immer mit Maschinen auch stellt: Wie organisiert sich das Verhältnis von Kontinuitäten und Diskontinuitäten? Die Monarchie ist eine Maschine zur Erzeugung von Kontinuitäten bis hin zu Ideen der Überzeitlichkeit, d. h. über dem König, über dem Monarchen steht nur noch Gott. Und die Staatsmaschine der Monarchie ist eine, die diese Kontinuität bildhaft, anschaulich macht. Das ist übrigens ein interessanter Aspekt des Maschinenbegriffs. Der Maschinenbegriff ist dazu angetan, vom Anschaulichen, von Bildern, von Anschauungen auszugehen, der Körper des Königs, der Königshof, die Zentralmacht, das Ritual, das Zeremoniell. Aber man muss dahinter gehen und sehen, wie viele unanschauliche Aggregatzustände, wie viele unanschauliche Operationen, wie viele mechanische Steuerungen nötig sind, um diese Anschauung herzustellen. Und immer gibt es in diesen politischen Maschinen diese Divergenz, Geheimnisse, heimliche Verhandlungen, Arkanum der Politik, d. h. etwas, das sich der Anschauung entzieht... AK: Tempelherren, Auszug nach Jerusalem, alles das sammelt sich über viele tausend Jahre zusammen zu einer Maschine. JV: Sammelt sich zu einer Maschine und produziert Anschauungen und Bilder, in denen die Maschinen ihre eigene Plausibilität gewinnen, in denen sie suggestiv werden, so wie schließlich dann die französische Revolution auch suggestiv wurde, in den Reden der Revolutionäre etwa, in der Bewegung der Massen, dann schließlich in der französischen Nation. Also auf der einen Seite der Körper des Königs, auf der anderen Seite der Körper der französischen Nation. Zwei verschiedenen Anschauungen, die
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suggestiv und unmittelbar gemacht wurden durch unterschiedliche Maschinen, die Maschine der Revolution und die Maschine der Monarchie. AK: Liebesgeschichten gingen nicht anders? JV: Liebesgeschichten... AK: Also Romeo und Julia, Penthesilea und Achill, sie würden immer sozusagen aus einer Maschinerie, die sich wiederholt, bestehen? JV: Ja. Deleuze und Guattari würden sagen, dass Liebesgeschichten keine privaten Angelegenheiten sind, keine Angelegenheiten individuellen Begehrens, keine Leidenschaft, die von einer Person zur anderen und zurück geht – dass diese ganze Form der Wechselseitigkeit eigentlich nicht hinreicht, Liebesgeschichten zu beschreiben. Sondern Liebesgeschichten sind Begegnungen, die aus großen Zusammenhängen, aus politischen Zusammenhängen regelrecht hervorbrechen. Es gibt keine Liebesgeschichte, die nicht irgendwo einen Fistelgang zur Politik hätte, und es gibt keine Politik, die nicht selbst Liebesgeschichten erzeugt. Denken Sie an Liebesgeschichten zwischen Ost und West vor und nach dem Fall der Mauer; die Liebesgeschichten haben sich dabei vollkommen verändert. Denken Sie an die Liebesgeschichte zwischen Penthesilea und Achill in Kleists Drama, die unmittelbar mit politischen Begriffen, mit politischen Machtvorstellungen, mit politischen Eroberungskonstellationen verbunden sind. Daraus entstehen Geschichten. AK: Da sind die Griechen, die bilden ein Staatswesen, das jetzt Troja angreift, und da gibt es Berater wie Odysseus und andere weise Leute. JV: Ja. AK: Und dann gibt es den kämpferischen Achill, und der will, in einer recht sexistischen Art, die Unterwerfung der Amazonen. JV: Ja. Das Heer der Griechen ist das Heer, das aus einem geordneten Staatswesen herkommt, das einen beinahe kolonialistischen Angriff führt, das in geordneten Heer-Reihen fortschreitet, das diplomatische Unterhändler mit sich führt, das heißt eine ganze Maschine abendländischer
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Politik in Bewegung setzt, um nun mit Diplomatie, mit List, mit Rüstungen, mit geordnetem Heerwesen... AK: ...angeblich ein Unrecht sühnen will, die Entführung der Helena rächen, in Wirklichkeit aber einen Eroberungskrieg führt, der den Konkurrenten Troja ausschaltet, Beute macht. JV: Demgegenüber eine ganz andere Maschine, die Maschine der Amazonen und an deren Spitze Penthesilea... AK: Nomadinnen. JV: ...eine Maschine, die nomadisch operiert, die kein Territorium erobern und behalten will, die eigentlich keine List kennt, die Territorien durchquert und wieder verlässt, die von einer Grenze zur anderen flieht, einer Fluchtlinie folgt, von Ort zu Ort und mit hoher Geschwindigkeit. Diese beiden Maschinen stoßen in Kleists Penthesilea aufeinander. AK: Tödlich. JV: Tödlich, aber auch in der Liebesgeschichte. Diese beiden Maschinen machen eine Liebesgeschichte möglich, die im Zusammenstoß, in der Konfrontation Leidenschaften, aber auch politische Affekte freisetzt. AK: Weil sich etwas wirklich Fremdes begegnet? JV: Weil sich etwas wirklich Fremdes begegnet, weil sich etwas begegnet, was sich nicht ineinander übersetzen kann. Penthesilea kann sich nicht in Achill übersetzen und Achill nicht in Penthesilea, sie erkennen einander nicht, sie können einander auch nicht wiedererkennen. Es ist nicht der andere uniformierte Soldat, es ist nicht die Form der Kameradschaft, in die vielleicht Liebe übergehen könnte, sondern es ist Liebe, die aus der Form der Nichtzusammengehörigkeit entsteht, aus der grenzenlosen Fremdheit, die auf der einen Seite zwischen einem festgefügten territorialen Staat...
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»Missverständnis als G rundlage der L eidenschaft - -«/ G ewalt der L iebe JV: ...und auf der anderen Seite einem nomadischen Bewegungsprinzip heraus entsteht. AK: Wenn Sie jetzt einmal eine solche erotische Konfrontation beschreiben: Die Penthesilea schickt ja ihre Hunde aus und beißt auch selber das, was sie liebt, den Achill, tot. JV: Ja. AK: Von ihm bleibt nichts übrig. Von ihr? JV: Penthesilea geht wie in einer Paralyse aus diesem Akt hervor und wird am Ende des Stücks selbst sterben. Aber in diesem Akt, in dem Augenblick, wo sie sich selbst über Achill stürzt, wo unentscheidbar ist, ob das ein Liebes- oder ein Gewaltakt ist, Bisse oder Küsse, überschreitet die Leidenschaftlichkeit, der Affekt, der von Penthesilea Besitz ergriffen hat, das, was Person an ihr ist, das, was geordnete Person, was das Gefäß der Person darstellt, und sie kommt wie aus Trance zurück. Sie weiß nicht, was geschehen ist in diesem Augenblick, und sie kommt zurück wie eine, die erkennen muss, dass das, was sie getan hat, Gewalt- oder Liebesakt, zu groß für sie war, zu groß für einen einzelnen Menschen, etwas Unerträgliches, das den Menschen überstiegen hat. Es ist auffällig, dass Kleist Penthesilea immer genau so beschreibt. Wenn Penthesilea errötet, heißt das, es steigt ihr Röte ins Gesicht, als ob die ganze Welt in Flammen stünde. Immer ist ihr Gesicht eine Spiegelfläche, auf der sich nicht eine Person, nicht ein Individuum, nicht eine verständliche Psychologie, sondern etwas Unerträgliches, eine den Menschen übersteigende Affektivität spiegelt. Und genau diese Affektivität wird freigesetzt im Kontakt, auch im politischen Kontakt, zweier Systeme. AK: Wenn ich jetzt überhaupt, also sozusagen als Gipfel des Politischen und des Begehrlichen, des Erotischen das Verbrechen begangen habe, aber gleichzeitig dem Verbrechen nicht gewachsen bin – das ist doch eine ungeheure narzisstische Kränkung. Wir sind nicht im Mittelpunkt des Weltalls,
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und jetzt sind wir auch nicht auf der Höhe unserer verbrecherischen oder bestialischen Gefühle, nicht auf der Höhe unserer Maschinen. JV: Ja. AK: Das ist doch fatalistisch, das ist doch jetzt wieder wie Ödipus erzählt. JV: Ja und nein. Ich würde zunächst sagen, es gibt einen fatalistischen Gedanken, der darin besteht, dass die Begegnung, etwa die Begegnung in der Liebe oder die Begegnung zweier politischer Systeme, die Begegnung zweier Maschinen Ereignisse erzeugt, die an diesem Punkt nicht mehr zu steuern sind und Kräfte freisetzen, die ihren eigenen Gesetzen folgen. Wenn Sie nun die Tat des Ödipus gegen die Tat Penthesileas halten, tritt ein entscheidender Unterschied zutage. Man könnte nämlich sagen, dass Ödipus vor der Frage steht, die auch das Tragische ausmacht, nämlich: Wie werde ich groß genug für diese Tat, die ich begangen habe, wie kann ich über mich hinauswachsen, um darin meine Tat zu erkennen... AK: Wie werde ich erwachsener? JV: Vielleicht. Das heißt aber auch: Wie kann ich überhaupt die Handlung, den Akt aus der Fatalität, aus dem Geschick herausbrechen und zu meiner Tat machen? Wie also kann ich für einen Augenblick zum tragischen Helden eskalieren? Und das bedeutet von der rückwärtigen Seite her gesehen, vom Abhang der Tat her, dass diese Tat eigentlich immer auch zu groß für mich war, ich habe sie getan, aber sie hat das Menschenmögliche gesprengt. Aufstieg zur Tat, Eskalation, Abhang und Abstieg – die ganze Tragödie des Ödipus ermisst die Unverhältnismäßigkeit zwischen der Monstrosität des Akts und den beschränkten menschlichen Vermögen. AK: Wenn er nicht tätig wird, ist er nicht auf der Höhe seiner Person. JV: Und umgekehrt: in der Aneignung der Tat lässt er das Gefäß seiner Person hinter sich. Damit wird er zum tragischen Helden, d. h. er erkennt eine Tat nur darin, dass sie seine eigene Kapazität überschritten hat und doch die seinige ist. AK: Was ist da jetzt bei Penthesilea anders?
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JV: Der Unterschied bei Penthesilea ist der, dass bei ihr diese Tat nicht in Begriffen der Schuld, nicht in Begriffen der Aneignung und Verantwortlichkeit, auch nicht in Fragen der Größe und Kleinheit reflektiert wird, sondern überhaupt jedes Reflexionsverhältnis durchkreuzt. Penthesilea begeht diese Tat nicht mit der Frage, wie werde ich groß zu dieser Tat, sie löscht sich vielmehr mit ihrer Tat aus. AK: Die Tat geschieht durch sie hindurch. JV: Sie geschieht durch sie hindurch, Penthesilea ist zum Schauplatz ihres Affekts geworden, die Tat, die Grausamkeit der Tat ist zum Manifest unpersönlicher, nicht-individueller Kräfte geworden. AK: Und jetzt, wie würden die beiden hier, Deleuze und Guattari, mit diesem Verhängnis umgehen, das darin steckt, dass weder etwas Politisches noch etwas Libidinöses so richtig möglich ist, dass der Mensch also in keiner Weise auf die Höhe seiner Zeit kommt, dass die Konstellation dieser Maschinen Armseligkeit und nicht Reichtum, Tod und nicht etwas Lebendiges erzeugt, obwohl wir doch wissen, dass es Städte gibt, die etwas lebendiger als das flache Land sind? JV: Deleuze und Guattari würden vielleicht die Frage etwas anders stellen. Sie würden danach fragen, ob das Persönliche, das Individuelle, die Individualabsichten und persönlichen Regungen tatsächlich hinreichen, das affektive und das politische Geschehen, die Verhältnisse zwischen Affekt und Politik zu beschreiben. Sie würden danach fragen, wie man von diesen Ereignissen eine Großaufnahme machen kann, wie man den Sturm der Ereignisse in eine Zeitlupe bringen kann, um die verschiedensten Bestandteile und Komponenten zu analysieren.
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G rossaufnahme als eine stillgestellte B ewegung/ »I ntensität« AK: Wenn die Maschinen nicht weiterlaufen, sondern einen Augenblick aussetzen. JV: Genau. Wenn ein Schnitt gezogen würde, wie in der Zeitlupe im Film, wie ein Foto, wie ein still, eine Großaufnahme, auf der glatte Oberflächen großporig werden. Dabei würde wahrscheinlich ein Gewimmel aus unterschiedlichen Elementen, aus heterogenen Kräften und überraschenden Verbindungen sichtbar werden: Wünsche und Begierden, politische Spieleinsätze, private Szenen, in denen man große Politik spielt, oder politische Geschicke, in denen das Liebesleid ächzt. Und plötzlich würde kenntlich, dass man auch libidinöse, passionelle Verwicklungen nicht allein im Privaten, im Persönlichen, mit Herz und Schmerz in der Liebesgeschichte auflösen kann. Oder anders und ganz einfach gesagt: Deleuze und Guattari würden nach den Politiken des Wünschens fragen. AK: Wenn Sie mir das mal also an den beiden Beispielen erklären, also Ödipus auf der Suche nach seiner Vaterstadt verirrt sich; er trifft nie auf die Sphinx, er trifft auch nicht auf die Mutter, er trifft auch den Vater nicht. Vielleicht wird er denjenigen, auf den er trifft, immer noch zu töten suchen, aber sein Grund ist nicht so groß wie beim eigenen Vater. Ist das richtig erzählt? JV: Ja; oder besser: nein. Das ist eine gute falsche Geschichte, die zeigt, dass man bei bestimmten Wegen oder Auswegen keine Größe benötigt. AK: Und wenn jetzt Penthesilea den Hunden zuruft, Achill zu zerfleischen, und im Übersprung, was es ja bei Tieren gibt, rennen sie woandershin und töten eine Hirschkuh, Achill, lachend, geht davon, wie in Rigoletto der Fürst, dann wäre das sozusagen Sabotage des Schicksals. Wäre das eine der Möglichkeiten, von denen Deleuze und Guattari sagen, die wollen wir studieren? JV: Ja, Schicksalssabotage. Wobei das Schicksal...
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»S abotage des S chicksals - -« AK: ...selber diese Tendenz in sich trägt... JV: ...immer auch Blasen wirft, Ungereimtheiten versammelt. Das Schicksal ist ja nicht nur das, was politische Systeme kaputtmacht, das Schicksal ist nicht nur das, was Lebensläufe kaputtmacht. Es ist auch ein Beobachtereffekt. Aus einer anderen Perspektive gesehen, enthält es vielleicht unendlich viele verschiedene Alternativen und Möglichkeiten, fatal wird es nur, wenn man an einem einzigen gebannten Blick kleben bleibt. Man muss die Blaupausen variieren. Man muss zu den schicksalhaften Lösungen und Antworten neue Fragen und Probleme suchen. AK: Erschütterungen. JV: Ja, Erschütterungen im festen Gefüge. Es geht um die Wiedergewinnung der Frageform, um Probleme, deren Lösungen nicht schon programmiert sind. Das ist der Weg von Deleuze und Guattari. Welche offene Frage steckt in einer tragischen Lösung? Welches ungelöste Problem liegt in einem Gefühl, in einem Empfindungskomplex? Für Deleuze und Guattari sind Fragen und Probleme Vehikel, man kann sich auf sie schwingen und davonreiten...
»S ich auf F r agen setzen und davonreiten - -« AK: Und dies ist ein Fortbewegungsmittel? JV: Ja, sie variieren den Horizont, bringen Ab- und Auswege in den Blick. Sie lockern die Lage, drehen am Stand der Dinge. AK: Ich fahre aber mit ihnen nicht wie mit einem Auto von einem Ort zum anderen? JV: Nein. AK: Oder von einer Zeit zu einer anderen, sondern es ist eine Metamorphose?
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JV: Ja. AK: Ich verwandle mich, ich verwandle die Konstellation, von der ich lebe.
WAS IST DENKEN? D enken als S tottern der Tat JV: Und Deleuze und Guattari würden wohl sagen, dass die Frageform, das Problematische, das eigentliche Element des Denkens, die Sache der Philosophie sei. Denken ist verzögerte Tat, aber, und das ist der produktive Charakter daran, nicht nur eine verzögerte, nicht nur eine stotternde, nicht nur eine aufgeschobene Tat, sondern ein potenziertes Tun, eine Tat hoch n. Und deswegen ist Denken beides zugleich, die Verzögerung und gleichzeitig die unendliche Beschleunigung, weil man in einem Realsystem immer nur eine Tat vollführen kann, der Denkakt aber durch die Tat hoch n entsteht. AK: Denken beschränkt, ja? JV: Denken beschränkt, und Denken potentialisiert und entgrenzt. Denken ist die Beschränkung des Übergangs von einem Eindruck zur Tat, von einer Wahrnehmung zur Handlung, von der Einwirkung einer Kraft zur Weitergabe dieser Kraft. Das ist die Beschränkung. AK: Eine Tat beschränkt, weil sie alle anderen Taten ausschließt. JV: Genau. Und die Tat beschränkt, die Tat ist sozusagen immer zweigeteilt. Sie hat ihren Realcharakter, den Unfall, den Vorfall, die große Handlung, die Heldentat und so fort und auf der anderen Seite hat sie eine Virtualität. Und nur unter der Bedingung dieser Virtualität und der Möglichkeit, dass jede Tat aus einer Menge aller möglichen Taten ausgewählt wird, kann sie zu einer wirklichen Tathandlung werden. AK: Jetzt gibt es hier in einem Text von Ihnen2 den Unterschied, immer nach Deleuze: Ein Bewegungsimpuls trifft auf einen Empfindungsnerv, das heißt also, ein Tatmotor trifft auf einen Sensibilitätsmotor, Wahrneh2 | Vgl. Vogl 1996.
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mungsmotor, und dies gibt eine kleine Explosion, ein kleines Missverständnis, und dies ist genau schöpferisch, das ist das Stottern der Tat. JV: Das ist das Stottern, und es ist ein Intervall, ein Zwischenraum, der sich auftut, den Deleuze übrigens auch Affekt nennt. Der Affekt ist gestaute Tat, die nicht unmittelbar umgesetzt werden kann. Das ist das Intervall, und das ist der Bewegungsimpuls auf einen Empfindungsnerv, auf einen Nerv, der keine Bewegung auslösen, sie bestenfalls ausdrücken kann. AK: Und das ist jetzt, sagen Sie weiter, Intensität. JV: Ja. AK: Das ist ein anderer Ausdruck für Intensität. JV: Genau. AK: Und Intensität, eine reduzierte Bewegung hoher Empfänglichkeit, das grenzen Sie ab, beziehungsweise Deleuze tut das, ab vom Gefühl. JV: Ja. AK: Das Gefühl schwappt, das ist sozusagen in einem Kochtopf, ja? JV: Das Gefühl schwappt, das Gefühl hat Töne, das Gefühl hat ein Ambiente, ein bestimmtes Milieu. Das Gefühl ist eine Ordnung, in der Personen, Dinge, emotionale Zustände in einer gewissen, zuletzt auch überschaubaren Verknüpfung vorliegen. Etwa das Gefühl der Traurigkeit, wo klar ist, hier ist Verlust, hier ist mein weiteres Leben, hier eine Leere, die sich auftut. Das Gefühl gibt der Existenz, dem Leben eine bestimmte Richtung. AK: Und der Affekt, die Intensität? JV: Hier ist Orientierung gestört, der überschaubare Zusammenhang unterbrochen, die Ausrichtung unklar. Das ergibt ein Verwirrungspotential, das Drama eines Problems und einer Desorientierung; und darum Anlass und Ausgangspunkt einer Bewegung oder Aktivität, die Deleuze wohl Denken nennen würde.
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L iter atur Vogl, Joseph: »Schöne gelbe Farbe. Godard mit Deleuze«, in: Friedrich Balke, ders. (Hg.), Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, München 1996, S. 252-265.
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Zu den Autorinnen und Autoren
Friedrich Balke Professor für Geschichte und Theorie künstlicher Welten und Sprecher des Graduiertenkollegs »Mediale Historiographien« an der Bauhaus-Universität Weimar [email protected] Hanjo Berressem Professor für Amerika-Studien an der Universität zu Köln [email protected] Oliver Fahle Professor für Filmwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum [email protected] Alexander Kluge Filmemacher, Fernsehproduzent, Schriftsteller und Drehbuchautor Ralf Krause Freier Autor und Philosoph aus Berlin [email protected] Maria Muhle Akademische Mitarbeiterin der Professur Geschichte und Theorie künstlicher Welten an der Bauhaus-Universität Weimar [email protected] Stéphane Nadaud Jugendpsychiater in Seine-Saint-Denis und Philosoph
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P hilosophie und N icht -P hilosophie
Clemens Pornschlegel Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München [email protected] Marc Rölli z.Zt. Professurvertretung am Institut für Philosophie der Technische Universität Darmstadt [email protected] Kurt Röttgers Professor i.R., ehemals FernUniversität in Hagen [email protected] Mirjam Schaub z.Zt. Gastprofessorin am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin [email protected] Antonia von Schöning Mitarbeiterin im Modul »Bildgrenzen und Bildfolgen« des NFS Bildkritik an der Universität Basel [email protected] Sjoerd van Tuinen Assistant Professor in Philosophy, Faculteit der Wijsbegeerte an der Erasmus Universiteit Rotterdam [email protected] Joseph Vogl Professor für Literatur- und Kulturwissenschaftler/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin [email protected] Hanns Zischler Schauspieler und Publizist
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