Philosophie des Windes: Versuch über das Unberechenbare 9783839468432

Der Wind ist fast immer und überall in irgendeiner Form anwesend. Er umspielt und umfasst uns von allen Seiten. Dennoch

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German Pages 416 [410] Year 2023

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Philosophie des Windes: Versuch über das Unberechenbare
 9783839468432

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Rainer Guldin Philosophie des Windes

Edition transcript | Band 10

Rainer Guldin

Philosophie des Windes Versuch über das Unberechenbare

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Stefan Schweihofer / Pixabay Korrektorat: Antonia Wind, Freiburg Satz: Jan Gerbach, Bielefeld Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Print-ISBN 978-3-8376-6843-8 PDF-ISBN 978-3-8394-6843-2 EPUB-ISBN 978-3-7328-6843-8 https://doi.org/10.14361/9783839468432 Buchreihen-ISSN: 2626-580X Buchreihen-eISSN: 2702-9077 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Einführung  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 7 1. Meteore: Figuren der Ambivalenz � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 27 2. Vom Wind und den Winden: Einzahl und Vielzahl  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 59 3. Windpersonifizierungen: Engel und Dämonen  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 93 4. Luftmeer: Flüsse und Strömungen  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 131 5. Von Winden und Wolken: Himmelsschlacht und Möglichkeitsfeld

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6. Die Sprachen des Windes: Übertragung und Übersetzung � � � � � � � � 209 7. Der Atem der Welt: Wind und Körper  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 251 8. Der Wind des Wahnsinns: Plötzlichkeit und Exzess  � � � � � � � � � � � � � � � � � 291 9. Der Wind des Nomadischen: Politik und Kommunikation

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10. Windanmut: Klima und Kultur  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 361 Schlusswort  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 387 Literaturverzeichnis  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 393 Film- und Abbildungsverzeichnis  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 405

»Anemophile (griech. anemos – ›Wind‹, phileo –, ›ich liebe‹) […]. Die A. ziehen den Wind stets seiner Abwesenheit vor, selbst wenn es sich um den stärksten Sturm handelt. […] ›Als Anemophiler gilt ein Mensch, der unabhängig von Alter, Geschlecht, Denkart oder sozialer Stellung sein Leben ändern möchte, ohne daß ihn die Bedingungen der Vergangenheit bedrücken und der sich gleichstellt mit dem Wind, der immer Veränderungen mit sich bringt.‹« Ivetta Gerasimchuk, Wörterbuch der Winde

Einführung »How easily the weather lends itself to metaphorical interpretations.« Arden Reed, Romantic Weather Der Wind ist fast immer und überall in irgendeiner Form anwesend, umspielt und umfasst uns1 von allen Seiten. Dennoch nehmen wir ihn nur noch selten bewusst wahr. Er kommt meist erst dann in unser Blickfeld, wenn er stört oder seine Stärke ein gewisses Niveau überschreitet. Eine Beschäftigung mit dem Wind zeigt, wie eng unsere körperliche und emotionale Eingebundenheit, in die uns umgebende Wetterwelt eigentlich ist. Denn jedes Mal, wenn wir Ein- oder Ausatmen, durchbrechen wir die Grenze zwischen dem Körper und der Welt und diejenige zwischen Himmel und Erde. Eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Wind ermöglicht darüber hinaus eine Erweiterung und Reorientierung unserer Wahrnehmung vom Visuellen und der Welt der soliden Gegenstände auf das Ungreif bare und Unsichtbare hin, auf das Stille oder kaum Hörbare, aber stets Gegenwärtige. Der Wind hat mit dem Geistigen und Spirituellen zu tun. Das Irritierende und zugleich Inspirierende des Windes liegt darin, dass er sich dem Körper zwar aufdrängt, dem Be-greifen aber entzieht. Winde sind grundsätzlich unberechenbar. In ihrer programmatischen Einführung zu einem interkulturellen und interdisziplinären philosophisch orientierten Studium des Windes schreiben dazu Chris Low und Elisabeth Hsu: »Wind is both felt and tangible, and thus physical and elusive, as is the spiritual. It comes as no surprise, therefore, that ideas of wind persistently overlap with notions of spirit, divinity, breath, smell, and shadow. These concepts work together in a 1 Mit Nennung der weiblichen [männlichen] Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die männliche [weibliche] Form mitgemeint.

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family of resemblances to inform ontology and epistemology.« Eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Wind führt zu den zentralen Fragen der Philosophie zurück, »the big questions of life that have occupied philosophers since the earliest documented records.«2 Aufgrund der vom Menschen verursachten Klimaveränderungen, deren destruktive Auswirkungen sich in den letzten Jahren immer deutlicher spürbar gemacht haben, hat der Wind in der öffentlichen Wahrnehmung eine zunehmend existenzgefährdende Gestalt angenommen. Stürme brechen Äste ab, entwurzeln Bäume, fegen mit hoher Geschwindigkeit über Wälder und Felder hinweg und hinterlassen Schneisen der Verwüstung. Orkane zerfetzen Segel, peitschen die Meereswogen hoch und bringen Schiffe zum Kentern. Die Sogwirkung des Windes führt dazu, dass abgedeckte Dachziegel und wegf liegende Gegenstände durch die Luft wirbeln. Das destruktive Verhalten des Windes, das sich wegen seiner Unberechenbarkeit noch verstörender gestaltet, und die davon ausgehende Bedrohung für Leib und Leben haben dazu geführt, dass – wie bei Wetterphänomenen im Allgemeinen – auf Metaphorisierungen zurückgegriffen wurde. Die zwei folgenden Beispiele beschreiben den Wind in den verwandten Metaphern der zerstörerischen Wut und der entfesselten Wildheit. In L’air et les songes. Essai sur l’imagination du mouvement beschreibt Bachelard den Wind aus der personifizierenden Perspektive des Zorns. Der Wind ist eine agierende Person, mit einem eigenen geheimnisvollen unerklärlichen Willen. »Man könnte sagen, dass der wütende Wind das Symbol der reinen Wut ist, einer Wut ohne Objekt, ohne Vorwand […]. Der Wind ist in seinem Übermaß ein Zorn, der überall und nirgends ist, aus sich selbst geboren und wiedergeboren wird […].«3 Die Gegenstands- und Grundlosigkeit des Windes steht hier zugleich für dessen Ungreif barkeit und Unvorhersehbarkeit. Hunt beschreibt in seinem Reisebericht Where the Wild Winds Are. Walking Europe’s Winds from the Pennines to Provence einige der bekannteren europäischen Winde: den Helm, den Mistral, den Föhn und die Bora. Der Helm, der einzige Wind in England, der einen Namen trägt, weht von Os2 Ch. Low und E. Hsu, »Introduction«, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 13 (2007), S. 2. 3 G. Bachelard, L’air et les songes. Essai sur l’imagination du mouvement, Paris 1992, S. 291292. Alle Texte, die nicht schon in einer deutschen Übersetzung vorlagen, sind von mir übersetzt worden.

Einführung

ten nach Westen über das 400 km lange Mittelgebirge der Pennines hinweg, das in Cumbria, im Nordwesten des Landes, an der Grenze zu Schottland liegt. Es ist ein heftiger, oft tagelang wehender Wind, der manchmal wie ein Schnellzug vorbeirauscht und von der Formation einer dichten länglichen Wolkenkappe, der Helm Bar, begleitet wird. Hunt verbindet die Wildheit des Windes mit der rauen dünnbesiedelten Landschaft und den über die Grenze hinweg operierenden reivers, die bis ins 17. Jahrhundert plündernd und brandschatzend über die Gegend und ihre Einwohner herfielen. »This was my first intimation of what would become a strong theme on these walks: highlands have always been the home of wild winds and wild people.«4 In dieser Beschreibung wird dem Wind ein anarchisches Potential attestiert, das mit einer bestimmten Landschaft und Menschengruppe verbunden wird. Im Gegensatz zu Bachelard, der das Beunruhigende und Unergründbare des Windes hervorhebt, geht es hier auch um ein implizites Versprechen von Freiheit. Die beiden Metaphorisierungen verdeutlichen das breite Spektrum der möglichen Verwendungsweisen des Windes als Metapher und weisen zugleich auf etwas Grundlegenderes und Verbindendes hin. Winde sind für Wetterumschwünge verantwortlich. Sie können einen wolkenverhangenen Himmel leerfegen und eine neue Wolkenfront vor sich hertreiben, für weniger Luftfeuchtigkeit sorgen und einen Temperatursturz herbeiführen. Der Wind ist in diesem Sinne ein vielfaches Prinzip der Verwandlung und Veränderung, wie Ivetta Gerasimchuk im Motto festhält, das diesem Buch vorangestellt worden ist. Diese Vorstellung, die transkulturelle und transhistorische Bedeutung besitzt, hat auch den Umgang mit dem Wind in der chinesischen Kultur entscheidend geprägt. »To ponder winds«, schreibt dazu Shigehisa Kuriyama, »was to contemplate the mystery of change. This is the theme that runs throughout the history of the Chinese imagination of wind. Winds foreshadow change, cause change, exemplify change, are change. ›Wind is movement‹.«5 Veränderungen gehen auch in der chinesischen Kultur mit einem Moment des Chaotischen und nicht Voraussehbaren einher: »[…] the character of all winds, inner or outer, was 4 N. Hunt, Where the Wild Winds are. Walking Europe’s Winds from the Pennines to Provence, London und Boston 2018, S. 28. 5 S. Kuriyama, »The Imagination of Winds and the Development of the Chinese Conception of the Body«, in: Body, Subject & Power in China, hg. von A. Zito und T. E. Barlow, Chicago 1994, S. 24.

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that they always retained some chaotic contingency, the possibility of suddenly blowing in new and unexpected directions.«6 Obwohl der Wind eine destruktive, unkontrollierbare Kraft darstellt, ist es immer wieder gelungen, seine Energie erfolgreich zu zähmen und nutzbar zu machen. So versetzen Winde Mühlenf lügel in Bewegung und treiben Segelschiffe über den Ozean. In diesem Sinne stellen in der gegenwärtigen Wahrnehmung des Windes die Windenergieanlagen eine bedeutungsvolle Gegenposition zur entfesselten Destruktivität der Winde dar. Man findet sie in ausgedehnten Landf lächen mit geringen Höhenunterschieden, in unmittelbarer Küstennähe oder in erheblichem Abstand davon, wo sie emsig und lautlos dafür sorgen, dass der Wind eingefangen und verwertbar gemacht wird. Auch hier stößt man auf Metaphorisierungen. Die alternativen Bezeichnungen ›Windpark‹ und ›Windfarm‹ deuten auf die architektonische und landwirtschaftliche Bedeutung des Vorganges hin. ›Gewachsene‹ Windparks entstanden durch die räumliche Nähe nacheinander errichteter Anlagen. Die einzelnen Windräder stehen dabei nebeneinander wie in regelmäßigen Abständen hingepf lanzte Bäume in einem Obstgarten. Der Wind wird eingesammelt und eingefahren, als ob es um eine Ernte ginge. Damit ist auch die radikale, unlösbare Ambivalenz des Windes benannt, die nicht nur für die westliche Kultur von Anfang an bestimmend war: Winde können verheerend sein oder nützliche Dienste erbringen. Winde befruchten oder sind Boten des Todes. Diese dichotomische Wahrnehmung des Windes, die zwischen Anemophilie und Anemophobie oszilliert, überspielt eine ganze Reihe von feineren Zwischentönen, denen in diesem Buch nachgespürt werden soll. Das Manifestationsspektrum reicht von Windstille und Flaute, über zögerliche Luftbewegungen, zu Durchzug und Zugluft, sanften Brisen, stärkeren Luftströmungen und steifen Brisen, bis hin zu Sturmböen, Wirbelstürmen, Blizzards, Orkanen, Taifunen und Zyklonen. Ebenso vielfältig ist das Bedeutungsspektrum des Windes, das je nach Epoche und Kultur nicht nur meteorologische Prozesse im modernen Sinne des Wortes, sondern auch Erdbeben und Atmungsvorgänge umfasste. Wie die folgenden Kapitel zeigen sollen, hat diese kontinuierlich changierende Mannigfaltigkeit, zusammen mit seiner Unsichtbarkeit und Ungreif barkeit, den Wind zu einer radikalen Herausforderung an das Denken gemacht, was zu unterschiedlichen theoretischen Zähmungsversuchen und vielfachen Formen der Metaphorisierung 6 Ebd., S. 38.

Einführung

geführt hat. Aber nicht nur der Wind selbst, sondern auch der Umgang damit, kann zur Metapher werden.

Wind und Metapher In Platons Phaidon (99e4-100a3) ist die Rede von der zweitbesten Fahrt (deuteros plous, δεύτερος πλοῦς), ein Begriff aus der Seefahrt, wenn der Wind versagt und man gezwungen ist zu rudern. Nach dem Wind zu segeln, ist schneller und weniger mühevoll, die zweitbeste Fahrt dagegen langsamer und anstrengender. Von den Seeleuten verlangt sie jedoch, dass sie sich tapfer ins Zeug legen. Das verfolgte Ziel bleibt in beiden Fällen dasselbe, aber die eingesetzten Mittel auf dem Weg dorthin sind grundsätzlich verschieden. Diese Gegenüberstellung dient als eine doppelte Metapher für den Prozess der Erkenntnis. Der erste Weg ist zwar der einfachere und direktere, aber er birgt auch Gefahren in sich. Wenn man allein mit Hilfe der Sinne die Wahrheit der Dinge zu erfassen versucht, kann das unter Umständen zur Blindheit der Seele und zur vollständigen Unwissenheit führen. Der zweitbeste Weg dagegen ist zwar schwieriger, mühseliger und indirekter, aber dadurch auch sicherer. Man gelangt ans Ziel in einem Zustand gesteigerter Wachsamkeit. Dieser Weg vermeidet die direkte sinnliche Wahrnehmung und vertraut auf die logoi, die Gedanken, die Begriffe. Die vorsokratischen Naturphilosophen haben den ersten Weg ausgewählt, und die Rhetoriker und die Sophisten, die sich von ihren Geschichten treiben lassen, sind ihnen auf diesem Weg gefolgt. Wer auf der zweitbesten Fahrt unterwegs ist, lässt sich nicht von täuschenden Bildern, von Tropen und Metaphern verführen, sondern vertraut auf klare Begriffe. Die f leißig rudernden Philosophen leisten mühsame Arbeit am Begriff. Wer segelt, statt zu rudern, hingegen, baut auf den unberechenbaren Wind und ist ihm dadurch auch ausgeliefert. Ein Segelschiff lässt sich zwar steuern, der Wind aber kann plötzlich umschlagen, den Seeleuten ins Gesicht blasen, sich in Sturm verwandeln oder abrupt aussetzen. Winde sind unvorhersehbar. Die Griechen zur Zeit Platons beherrschten noch nicht die Kunst, gegen den Wind zu kreuzen, was wohl die Vorstellung des Ausgeliefertseins zusätzlich verstärkt hat. Dieses Beispiel zeugt von der frühen Verbindung zwischen Wind und bildhaftem Denken und dem Windhaften von Metaphern im Allgemeinen. Der Wind kann daher auch als eine Metapher für die Metapher benutzt

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werden. Wenn man in Metaphern denkt, so läuft die Überlegung in Platons Phaidon, verliert man zum Teil die Kontrolle über die eigene Wahrnehmung. Metaphern wuchern hemmungslos und schießen ins Kraut. Das Denken beschleunigt sich und die Evidenz des Bildhaften nimmt überhand. Metaphern bef lügeln das Denken und die Fantasie, sie inspirieren, so wie der Wind die Segel eines Schiffes bläht, aber sie verführen auch zu voreiligen Verkürzungen und Übertreibungen. Metaphern haben etwas Windiges, Flüchtiges, sie sind ephemer und eigenwillig wie Böen. Das Denken kommt in der Metapher nur scheinbar zur Ruh, tatsächlich überschießt es dauernd sein Ziel. Der Begriff verlangsamt und zwingt zum Nachdenken. Der Wettercharakter von Metaphern verweist dabei auf ein viel grundlegenderes Problem. Es verdeutlich die Tücken des Terminologischen und die definitorischen Schwierigkeiten, denen man begegnet, wenn es darum geht, schwer begreif bare Phänomene, die den Netzen des begriff lichen Denkens zu entschlüpfen drohen, in Worte zu fassen. So wie der Wind einem durch die Finger gleitet, wenn man ihn zu ergreifen versucht, entziehen sich auch Metaphern einer eindeutigen Bestimmung. In der europäischen Tradition wird die Metapher bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als sekundär und ornamental betrachtet. Es wird ihr eine untergeordnete Rolle im Verhältnis zum begriff lichen wissenschaftlichen Denken zugewiesen. Der Gebrauch von Metaphern wird in diesem Sinne als charakteristisch für eine noch vorwissenschaftliche Position bestimmt. Metaphern können bereits klar formulierte oder in wissenschaftliche Erkenntnisse überführbare Vorstellungen vereinfacht und verdichtet anschaulich wiedergeben. Sie können helfen, das zu erklären, was noch nicht klar, schwer zu erklären oder nur intuitiv wahrgenommen wird. Als vorwissenschaftliche Bilder können sie zum Nachdenken anregen, ihre diskursive Relevanz bleibt aber letztlich hinter dem Begriff lichen zurück. Diese Vorstellung wurde von Max Black, George Lakoff, Mark Johnson und Hans Blumenberg in Frage gestellt. Diese Autoren haben gezeigt, dass Metaphern nach systematischen Kriterien operieren, ein heuristisches Potential besitzen und sich nicht einfach dem Begriff lichen gegenüberstellen und unterordnen lassen. Metaphern beleben und dynamisieren das begriff liche Denken. Selbst Platon, der dem bildhaften Denken und der Metapher eine Absage erteilt, greift immer wieder darauf zurück, wenn das begriff liche Denken ins Stocken gerät. Metaphern haben grundlegend Modellcharakter. Sie aktivieren einen Erkenntnisprozess, der Ähnlichkeiten erzeugt, ein Beziehungsnetz entwirft und dadurch auch völlig neue Einsich-

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ten ermöglicht. Wie Max Black festhält: »Every metaphor is the tip of a submerged model.«7 Metaphern zeichnen nicht nur vorhandene Beziehungen nach, sondern generieren neue Perspektiven. In diesem Sinne verfügen sie über ein innovatives und kreatives epistemologisches Potential. Metaphern kommen besonders dann zum Einsatz, wenn ein Phänomen – wie z. B. der Wind – wegen seiner Unvorhersehbarkeit und Ungreif barkeit schwer erfassbar und einem Verständnis nicht unmittelbar zugänglich ist. Metaphern können abstrakte Realitätssauschnitte veranschaulichen. Traditionell wurden Metaphern als simple statische Entsprechung zwischen zwei Begriffen behandelt. Ein klassisches Beispiel aus der antiken Rhetorik ist die lachende Wiese Quintilians. Hier wird die Frische der Wiese im Bild eines lachenden Gesichts eingefangen. Diese punktuelle Deutung von Wort zu Wort aufgrund einer einzigen Verbindung geht jedoch am Ziel vorbei und reduziert die Komplexität des Phänomens. Black spricht daher von einem »system of associated commonplaces«, einem »implicative complex«, bei dem die beiden Begriffe – in Lakoff und Johnsons Terminologie die source domain und die target domain – zu einem vielschichtigen reziproken Beziehungssystem verbunden werden. Dabei wird eine Reihe von Attributen aus der source domain auf die target domain übertragen. Lakoff und Johnson nennen diesen Vorgang des Projizierens mapping, was das Dynamische des Prozesses betont. Die beiden Autoren unterscheiden zudem zwischen einer internal und einer external systematicity. Im ersten Falle geht es um die innere Kohärenz einzelner Metaphern und im zweiten um die Kohärenz miteinander verbundener Metaphern, die in einem Cluster zusammenfinden. In beiden Fällen gibt es eine innere Ordnung, die den Vorwurf des Beliebigen und Unkontrollierten widerlegt. Wie beim Wind geht es auch hier nicht einfach um Unordnung und Beliebigkeit, sondern um eine andere Form der Komplexität. Metaphorisierungsprozesse sind zudem grundlegend reversibel. So können die dem Wind metaphorisch zugeschriebenen Attribute, seine Geschwindigkeit, Leichtigkeit und Wildheit, seine Ungreif barkeit und Unvorhersehbarkeit, ihrerseits wieder als Metaphern verwendet werden. In diesem Sinne ist der Wind eine Metapher für Wahrnehmungs- und Denkprozesse, für Veränderungen und Bewegungsabläufe, für Gefühl und Wahnsinn sowie für politische Freiheit und Vorgänge der Kommunikation. 7 M. Black, »More about Metaphor«, in: Metaphor and Thought, hg. von A. Ortony, Cambridge 1979, S. 31.

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Wind und Wetter Eine Philosophie des Windes ist auch eine Philosophie des Wetters. Die alliterierende Doppelformel ›Wind und Wetter‹ ist eine Gesamtbezeichnung für alle Wettervorgänge. ›Wetter‹ kommt vom Mittelhochdeutschen wetar und hat dieselbe indogermanische Wurzel wie ›wehen‹ und ›Wind‹. Der Wind wird oft als Synekdoche des Wetters betrachtet, er verkörpert dessen wesentliche Aspekte und dies deutlicher als andere Wetterphänomene wie z. B. Regen, Schnee oder Wolken. Das hat seine Gründe. Schon in Aristoteles’ Meteorologie stellen die Winde das Kernstück dar, von dem aus die anderen Wetterphänomene angegangen werden. Dasselbe gilt auch für Lukrez’ De rerum natura und Senecas Naturales quaestiones, die dem Wind und den damit assoziierten Phänomenen eigenständige Kapitel widmen. Reine Windtrakte gibt es bis ins 17. Jahrhundert hinein, zum Beispiel Francis Bacons The Natural and Experimental History of the Winds. Selbst in Jean-Baptiste de Lamarcks Annuaires Météorologiques aus dem frühen 19. Jahrhundert wird dem Wind die zentrale Rolle als Wettermacher zugeschrieben. Wie Wetterphänomene im Allgemeinen sind auch Winde unbeständig, veränderbar und ephemer. Winde blasen kontinuierlich oder diskontinuierlich, nehmen an Stärke zu oder lassen nach und ändern abrupt ihre Richtung. Ein plötzlicher unerwarteter Windstoß kann alles durcheinanderbringen. Der Wind ist nicht nur überall, er kann, wie Wasser, überall hingelangen, alles berühren und miteinander in Verbindung bringen. Winde können einander verstärken oder sich gegenseitig in die Haare geraten. Darüber hinaus ist der Wind unsichtbar und ungreif bar, ein zwischen Himmel und Erde angesiedeltes Phänomen, ein hybrides Gemisch und Gemenge wie alle anderen Wetterphänomene auch. Die Erscheinungen der Atmosphäre stellen einen besonderen Bereich der Natur dar, der nur in Ausschnitten und nur unvollständig erfassbar ist. Wetterphänomene tauchen darüber hinaus nicht allein, sondern zusammen auf, durchdringen und bedingen sich gegenseitig. Das Wetter im Allgemeinen und der Wind im Besonderen stellen in dieser Hinsicht in vielfacher Art und Weise eine Herausforderung an das Denken dar. Hier geht es nicht nur darum, etwas Abstraktes und schwer Überschaubares zu veranschaulichen und dadurch dem Verständnis näher zu bringen, sondern auch darum, das Unsichtbare zuerst einmal in eine gewisse Sichtbarkeit zu überführen. Der Wind stellt wie die spirituelle Welt, mit der er signifikanterweise in eins ge-

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sehen wurde, eine Extremposition für Prozesse der Metaphorisierung dar. Durch seine Unsichtbarkeit, Un(be)greif barkeit und diffuse ephemere Natur spottet er jeder klaren Einteilung und Kategorisierung. Die Metaphern, die für den Wind verwendet worden sind, stellen nicht nur einen Spezialfall für Metaphorisierungsprozesse dar, sondern führen diese auch an ihre terminologischen Grenzen. Wie Arden Reed im vorangestellten Motto festhält, ist bei der Beschreibung von Wind und Wetter immer wieder fast gezwungenermaßen auf Metaphern zurückgegriffen worden, auch weil die beiden Bereiche zahlreiche Affinitäten aufweisen. Michel Serres geht sogar von einer grundsätzlichen strukturellen Ähnlichkeit zwischen Wetterphänomenen und Metaphern aus. Aber davon mehr in Kapitel eins.

Eine Philosophie des Windes Dies ist weder eine Kulturgeschichte des Windes noch eine umfassende historische Wetterkunde. Es ist auch keine systematische Untersuchung der Art und Weise, wie der Wind im Laufe der Geschichte in der Literatur, der bildenden Kunst, der Fotografie und dem Film dargestellt wurde, auch wenn im Folgenden auf diese Bereiche mehrfach zurückgegriffen wird. Eine metaphorisch ausgerichtete Philosophie des Windes ist vielmehr der Versuch, die Denk(un)möglichkeiten zu erkunden, zu denen dieses Phänomen Anlass gibt. Welches ist die erkenntnistheoretische Relevanz der Metapher des Windes? Was sagt der Wind über uns und unser Verhältnis zur Welt aus? Welche Realitätsbereiche können anhand der Metapher des Windes anders oder neu gedacht werden? Lässt sich damit so etwas wie eine zusammenhängende Philosophie des Windes herausarbeiten?8 Vier Momente, deren Verhältnis sich im Laufe der Zeit verschoben hat, sind für die gesamte hier untersuchte philosophische Tradition des Westens von Bedeutung: der Wind als empirisches Phänomen, die Metaphorisierungen des Windes, die Verbindung der Metapher des Windes zu anderen Wettermetaphern und zu verwandten, teilweise gegenläufigen Metaphern, und schließlich der Gebrauch des Windes als Metapher. Dies impliziert eine Rei8 Zur Bedeutung der Metapher in der Philosophie vgl. R. Konersmann, »Figuratives Wissen«, in: Wörterbuch der philosophischen Metaphern, hg. von R. Konersmann, Darmstadt 2011, S. 7-20.

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he von Fragen: Wie entwickelt sich das empirische Verständnis des Windes? Welche Metaphern werden verwendet, um des unsichtbaren ungreif baren Windes habhaft zu werden? Welche Beziehung besteht zwischen der Metapher des Windes und anderen Wettermetaphern, zum Beispiel der Metapher der Wolke? Wie verhält sich der Wind zu anderen Metaphern der Philosophie aus dem Bereich der Natur, z. B. das Meer oder die Metapher des Fließens? In welchen Bereichen wird die Metapher des Windes eingesetzt und zu welchen Zwecken? Und schließlich: Was sagt die Metapher des Windes über Prozesse der Metaphorisierung im Allgemeinen aus? Was ist am Phänomen Wind besonders spannend für eine Theorie der Metapher? Kann man die Metapher des Windes (und des Wetters ganz allgemein) als eine mögliche Metapher für Metaphern verstehen? Diese Philosophie des Windes ist ein Versuch, die Überlegungen von fünf Autoren zu Wind und Wetter zusammenzuführen, um zwischen ihnen einen theoretischen Dialog zu eröffnen. Zu den schon erwähnten Arden Reed und Michel Serres kommen noch Tim Ingold, Vilém Flusser und Ryōsuke Ōhashi hinzu. Die fünf Autoren nehmen keinen expliziten Bezug aufeinander. Die einzige Ausnahme stellt dabei Arden Reed dar, dessen umfassende Meteorologisierung von Literatur und Sprache auf Serres’ naturwissenschaftlich inspirierte Philosophie der Gemenge und Gemische zurückgeht. Trotzdem bestehen zwischen dem Denken der einzelnen Autoren vielfältige Beziehungen. Ihr Werk wird durch einen gemeinsamen vielgestaltigen Lufthauch animiert. So findet sich Ingolds dynamische weather-world, die sich einem dualen Verständnis der Welt als Gegensatz von Boden und Luft, Himmel und Erde widersetzt, wenn auch in abgewandelter Form, in Flussers kommunikationstheoretischer und anthropologischer Vision einer neuen nomadischen Bodenlosigkeit wieder. Die interkulturelle Perspektive des japanischen Philosophen Ryōsuke Ōhashi, die westliche und fernöstliche Philosophie zusammenbringt, fügt dem Denken der anderen vier Autoren eine ergänzende außereuropäische Perspektive hinzu. Ein interkulturelles Interesse ist auch in den Texten Ingolds festzustellen, der anthropologische und ethnologische Quellen einsetzt, um den spezifisch europäischen Umgang mit Wind und Wetter zu hinterfragen. Serres’ Philosophie der Meteore, die er vor allem im Laufe der 1970er Jahre entwickelte, geht von einer meteorologisch inspirierten Neudefinition der Beziehung von Chaos und Ordnung aus und entwickelt anhand von Wind und Wetter eine alternative Vorstellung von Raum und Zeit und eine damit

Einführung

verbundene Philosophie der Flüsse und Turbulenzen. Reed untersucht die Bedeutung des Wetters im Werk von Coleridge und Baudelaire. Er benutzt das Klima als Metapher für den Text, die Identität eines Autors, den Schreibprozess und die Deutungsarbeit des Literaturkritikers: »[…] my topic cannot be confined to the weather in the text, because the text itself may be already a kind of weather.«9 Sein Interesse gilt dabei vor allem der Metapher des Dunstes, die mit Flussers und Serres’ Gebrauch der Wolken-Metapher verwandt ist. Ingolds phänomenologischer und anthropologischer Ansatz stellt das körperliche Erlebnis in den Mittelpunkt. Sein Begriff des Mediums ist mit Serres’ globalen Flüssen und Flussers Begriff der Bodenlosigkeit verwandt. Wie Serres verwendet auch Flusser Wind und Wolke als Metaphern für die Lebenswelt der Gegenwart. Die Wolke steht dabei für die neue Instabilität und Fluidität des Subjekts und des Objekts und der Wind für eine neue nomadische Existenzweise im Zeitalter der digitalen Informations- und Kommunikationstheorie. Seine Gegenüberstellung von sesshaften und nomadischen Lebensformen wiederum erinnert an Ingolds animistisch inspirierten Unterschied zwischen exhabitant und inhabitant. Ōhashi untersucht den Wind-Begriff in der japanischen Kultur und vergleicht diesen mit der Windvorstellung in der westlichen Tradition. Alle fünf Autoren benutzen das Meteorologische als Grundlage für eine Denkweise, die nicht trennt und ausgrenzt, sondern mehrfach verbindet und vermischt.

Über den Wind schreiben Wind-Monographien sind auf unterschiedliche Art und Weise mit dem Thema und den damit verbundenen Darstellungsschwierigkeiten umgegangen. So finden sich neben linear und kumulativ strukturierten Texten auch solche, die durch Einschübe und Abschweifungen der Unvorhersehbarkeit des Windes Rechnung tragen. Das 1940 publizierte L’homme et le vent10des in Lausanne geborenen Geographen und Geologen Edgar Aubert de la Rüe betont zu Beginn die unlösbare Ambivalenz des Phänomens. Der Wind ist eine beachtliche unberechenbare natürliche Kraft, vor der man sich schützen muss, die man aber auch zu 9 A. Reed, Romantic Weather. The Climates of Coleridge and Baudelaire, Hanover 1983, S. 19. 10 E. Aubert de la Rüe, L’homme et le Vent, Paris 1940.

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eigenen Zwecken nutzen kann. Dies bedingt auch die Gesamtstruktur des Buches. Der Wind ist eine wichtige Energiequelle für Windmühlen, Segelschiffe und die Luftfahrt. Die ersten Kapitel entwickeln eine Windtypologie aus geographischer und meteorologischer Sicht. Es folgen Kapitel über den physikalischen Einf luss des Windes auf das Klima und die Physiologie des Menschen. Der Wind hat unterschiedliche Wohnformen und Strategien, um Felder und Wälder zu schützen, hervorgebracht und ist ein wichtiger Transfer-Agent. Das vorletzte Kapitel fasst Vor- und Nachteile des Windes noch einmal zusammen und das letzte trägt auf knapp vier Seiten unterschiedliche Mythen und Legenden aus verschiedenen Teilen der Welt zusammen. Xan Fieldings Aeolus displayed - a Book of Winds und Lyall Watsons Heaven’s Breath. A Natural History of the Wind, das 2019 neu aufgelegt wurde mit einem Vorwort von Nick Hunt, auf den ich in dieser Einführung schon hingewiesen habe, sowie Jan DeBlieus Wind. How the Flow of Air Has Shaped Life, Myth & the Land11, gehören inzwischen zur Standardliteratur, besonders die letzten zwei. Fielding, der sich vor allem mit den mythischen Dimensionen des Windes aus der griechischen und römischen Antike beschäftigt, stellt diese den exakten Erkenntnissen der modernen Meteorologie gegenüber. Abergläubische Windbeschwörungen und die obsessive Suche nach Zeichen und Omen stehen hier in ihrer angeblichen Naivität den Gewissheiten der Gegenwart gegenüber und dies, obwohl die verwendeten Metaphern oft von verborgenen Kontinuitäten zeugen. Fielding beschreibt sein Werk als eine »Pilgerreise« die vom »Eifer eines Alchemisten auf der Suche nach dem Stein der Weisen«12 angetrieben wird. Die einzelnen Kapitel reihen sich lose und oft unverbunden aneinander und das zusammengetragene Material folgt weitgehend einer kumulativen Logik. Hunt beschreibt Watsons Buch in der Einführung als einen Windschlauch. Äolus, »the Keeper of the Winds«, hatte dem Odysseus auf seiner Heimfahrt nach Ithaka die in einem Sack gefangenen Winde mitgegeben mit dem strikten Hinweis, diesen unter keinen Umständen zu öffnen, sondern sich für die Rückreise allein auf die sanft wehende günstige westliche Brise zu verlassen. Als die Matrosen diesem Gebot zuwiderhandelten, drangen die entfesselten Winde hervor und trieben die Schiffe kurz vor der Ankunft wieder zu Äolus’ Insel zurück, worauf zehn Jahre der Irrfahrt folgten. Hunt 11 J. DeBlieu, Wind. How the Flow of Air Has Shaped Life, Myth & the Land, Berkeley 2006. 12 X. Fielding, Das Buch der Winde, Nördlingen 1988, S. 8.

Einführung

deutet diese Warnung, die mit der zutiefst beängstigenden Natur des Windes zusammenhängt, in einem positiven Sinne um. »The book in your hands is that oxhide sack. All the winds of the world are inside. If you open it, you will be blown to places you never expected. […] We are blown from the macro to the micro, often in the space of a single page […] for wind has always blown inside the human imagination […] invisible yet tangible.«13 Der Leser soll durch eine »sinuous journey«, einen verschlungenen Pfad, durch das Buch geführt werden. Hunt spricht in diesem Zusammenhang auch von Watsons »delight in the meander.«14 Wie der Titel schon präzisiert, geht es dem aus Südafrika stammenden Watson vor allem um die Bedeutung des Windes in den Naturwissenschaften, von der Physik und der Geographie, über die Biologie, die Botanik und die Zoologie, hin zu Physiologie, Chemie und Philosophie. Watson definiert Menschen verkürzend als »essentially tropical animals«.15 »As a species, we seem to have a high awareness and surprisingly low tolerance of the wind.«16 Im Gegensatz zu Hunts Metapher weist das Buch eine deutlich artikulierte strenge Struktur auf, deren Gesamtnarrativ von einer kosmischen zu einer anthropologischen Perspektive hinführt. Der Wind, so Watson, »is far from hollow. It is the most vital of metaphors.«17 Diese Behauptung bleibt leider aber weitgehend Programm. So schließt das Buch mit einer »Philosophy of the Wind«, die wie schon bei Aubert de la Rüe verschiedene Mythologeme aus unterschiedlichen Kulturkreisen lose versammelt, ohne auf deren gemeinsamen metaphorischen Gehalt einzugehen. Jan DeBlieu, die sich auf Fielding und Watson bezieht, hat eine hybride Textform gewählt, die persönliche Erfahrungen und beschreibende Passagen miteinander verwebt. Im Gegensatz zu den anderen hier diskutierten Texten löst sie damit eine der zentralen Forderungen Serres’ und Ingolds ein, die, wie noch zu zeigen sein wird, die körperliche Erfahrung des Windes mit der theoretischen Vision zu verbinden versuchen. Die amerikanische Autorin DeBlieu lebt auf den Outer Banks, eine schmale 280 Kilometer lange Inselkette im Atlantik vor der Küste North Carolinas, ein Ort, wo Winde 13 L. Watson, Heaven’s Breath. A Natural History of the Wind, New York 2019, S. vii-viii. 14 Ebd., S. ix-x. 15 Ebd., S. 222. 16 Ebd., S. 276. 17 Ebd., S. 7.

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den Alltag besonders stark bestimmen. Die einzelnen Kapitel, die meist mit einem persönlichen Erlebnis einsetzen, haben oft keinen gradlinigen Aufbau und führen mehrere thematische Schwerpunkte zusammen. Alessandro Novas Das Buch des Windes. Das Unsichtbare sichtbar machen18 und Stephan Cartiers Der Wind oder Das himmlische Kind. Eine Kulturgeschichte19, die beiden letzten Bücher, auf die ich hier eingehen will, verfolgen eine ganz andere Richtung. Der italienische Kunsthistoriker hat ein kompaktes faszinierendes reich bebildertes Werk vorgelegt, eine Ikonographie des Windes, die von der Antike über die christliche und mittelalterliche Welt und die Neuzeit bis in die Gegenwart hinein reicht und im Zeichen der Unsichtbarkeit des Windes und deren Repräsentationen in der Kunst steht. Dadurch ergibt sich zwar eine weitgehend chronologische Struktur, diese wird aber durch unterschiedliche Formen der Winddarstellung in der bildenden Kunst, von der Personifikation, über die Allegorie und die Metapher bis hin zum Zeichen, unterbrochen. Stephan Cartier hat sich für einen besonders originellen Auf bauplan entschieden, der von Beauforts Windskala ausgeht. Die Beaufortskala der Windstärke besteht aus insgesamt 13 Stärkebereichen, die von der Windstille (0) bis zum Orkan (12) reichen. Dementsprechend besteht das Buch aus dreizehn Kapiteln neben einem Vor- und einem Nachspiel. Cartiers kulturgeschichtlicher Ansatz vereint Überlegungen zu Windvorstellungen aus der griechischen Antike mit dem Verhältnis von Atem und Wind, der Geschichte des Wetterhahns, der Entdeckung des Luftdrucks, der Bedeutung von Windmühlen, Windkugeln und Windkanälen und endet mit der globalen Windzirkulation, einer Vision des Windes als allumfassendes Förderband der Lüfte. Die Metapher der Windskala greift nur zum Teil, da die Kapitelnummerierung mit ihrer Vorstellung einer zunehmenden Entfesselung des Windes nicht durchgehend mit dem Inhalt der einzelnen Kapitel übereinstimmt.

18 A. Nova, Das Buch des Windes. Das Unsichtbare sichtbar machen, München und Berlin 2007. 19 S. Cartier, Der Wind oder Das himmlische Kind. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2014.

Einführung

Zum Aufbau des Buches Im Anhang von Peter Greenaways Drehbuch zum Film Prospero’s Books findet sich eine Liste von Büchern, die buchstäblich die Welt bedeuten. Im Zusammenhang mit einer Philosophie des Windes ist besonders das ›Buch der Bewegung‹ relevant. Dieses beschreibt auf der einfachsten Ebene, »wie die Vögel f liegen und wie die Wogen rollen, wie sich Wolken bilden […].« Es beschreibt auf der komplexesten Ebene aber auch, »wie im Gedächtnis sich Ideen jagen und wohin ein Gedanke geht, wenn er ausgedacht ist.« Das Buch ist mit »zähem blauen Leder überzogen, und weil es aus eigenem Antrieb immer aufspringt, wurden zwei Lederriemen darum herumgeschlungen und am Buchrücken mit Schnallen festgemacht. Nachts trommelt es gegen das Bücherregal und muss mit einem Messinggewicht niedergehalten werden.«20 Obwohl der Wind hier nicht explizit erwähnt wird, gemahnt Prosperos Lederband an Aölus’ Windschlauch, an die Höhlen und Käfige, in denen die tobenden Winde gefangen gehalten wurden, und an Hunts Metapher für Watsons Buch. Ein solches Windbuch kommt auch im Film The Addams Family aus dem Jahr 1991 vor. Es genügt, den Buchdeckel zu öffnen und ein mächtiger Hurrikan strömt hervor, der alles mit sich reißt und durch die Luft schleudert. Dieser heftige Strom versiegt, sobald man das Buch wieder schließt. Obwohl man solchen Metaphern eine gewisse Faszination nicht absprechen kann, ist die deutliche dichotomische Gegenüberstellung von Unordnung und Ordnung, von hoffnungslos chaotischen Winden und zähmender ordnender diskursiver Begrenzung letztlich eine theoretische Vereinfachung. Serres’ Ansatz, der unter anderem auf die Chaostheorie zurückgeht, beruht auf einer Durchdringung der beiden Momente: In der Ordnung schleicht sich unablässig Unordnung ein und in der Unordnung findet man geordnete Strukturen vor. In diesem Sinne habe ich mich für einen Auf bau entschieden, der dieser simplen Dualität entgeht und weder kumulativ noch rein linear ist, sondern ganz im Sinne Serres’ nacheinander verschiedene Stationen anläuft, die zwar voneinander abweichen, aber vielfach miteinander verbunden sind. Serres benutzt für dieses Narrativ die Metapher der randonnée. Dabei geht es weniger um eine Wanderung oder Tour als um ein Flanieren und Umherschlendern. Serres verwendet für diese nichtlineare 20 P. Greenaway, Prosperos Bücher, Drehbuch nach »Der Sturm« von William Shakespeare, Zürich 1991, S. 232-233.

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Vorgehensweise auch die Metapher einer hin und her f liegenden Wespe, die immer wieder an einer anderen Stelle auf dieselbe Fensterscheibe trifft. Die sich daraus ergebende Synthese hängt nicht von einer einzigen Erklärung ab, sondern entsteht aus einem vielfältigen Bezugsystem, sie ist »ein stark differenziertes, aber organisiertes Ensemble von Relationen.«21 Diese Fortbewegungsweisen sind Formen des Umherschweifens. Das Klima dieses Buches, um es mit Reeds Metapher zu sagen, ist durch eine Mischung aus Linearität und Abschweifung charakterisiert, es lebt von Exkursen und thematischen Echos. Dazu möchte ich ein kurzes Zitat aus Flussers Essaysammlung Vogelf lüge anfügen, in dem das Verstörende des Windes als Metapher für die Struktur der einzelnen Texte verwendet wird. »Der Anfang der Essays scheint diszipliniert und diskursiv an einer Wäscheleine zu hängen und das Ende des Essays unordentlich in dem Wind, der von den hartnäckigen, unbändigen Erfahrungen der Essays bläst, zu schaukeln.«22 Auch die einzelnen Kapitel dieses Buches schaukeln im Wind, sowohl was ihre Position im Ganzen wie auch ihr eigenes Narrativ angeht. Die komplementäre Methodologie von Blumenbergs Metaphorologie beruht auf der Unterscheidung zwischen historischen Längsschnitten und synchronen Querschnitten. Längsschnitte bestehen aus einer Reihe von Punkten, durch die eine Kurve gezogen werden kann. Ein Querschnitt hingegen verfolgt »eine Interpretation aus dem gedanklichen Zusammenhang, innerhalb dessen e[r] steht und seine Konturen wie sein Kolorit empfängt.« Querschnitte dienen dazu, »faßbar zu machen, was die herangezogenen Metaphern jeweils bedeuten.«23 In diesem Sinne ziehen die einzelnen Kapitel und das Buch als Ganzes verschiedene Kurven, die historisch gesehen bei den Texten der Naturphilosophen der Antike ansetzen und bis in die Gegenwart hineinreichen. Was Blumenbergs Querschnitte angeht, so wurde eine Kontextualisierung insbesondere bei Serres und Flusser angestrebt, in deren Philosophie das Meteorologische eine Schlüsselstelle einnimmt, von der aus das Gesamtwerk in den Blick gerät. In den anderen Fällen ging es darum, die theoretischen Implikationen der unterschiedlichen Metaphern des Windes im Werk eines bestimmten Autors herauszuarbeiten und in Bezug zur gesamten historischen Entwicklung zu setzen. 21  M. Serres, Aufklärungen. Fünf Gespräche mit Bruno Latour, Berlin 2008, S. 151 und 154. 22  V. Flusser, Vogelflüge. Essays zu Natur und Kultur, München 2000, S. 123. 23 H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt am Main 1998, S. 49.

Einführung

In der Nachfolge Serres’ und seines meteorologisch ausgerichteten Ansatzes wird die Entwicklung des Wetterwissens von den Traktaten der Antike bis zur modernen Meteorologie nicht im Sinne eines einseitigen wissenschaftlichen Fortschrittes und einer rein linearen Logik gelesen, sondern sowohl auf Diskontinuitäten und Rupturen wie auch auf Kontinuitäten und Wiederholungen untersucht. So ist beispielsweise die Kriegsmetapher des Wetters, die schon in der Antike eine Rolle spielte, auch in der Meteorologie der BergenerSchule, die sich zur Zeit des Ersten Weltkrieges herausbildete, nachzuweisen (Kapitel fünf). Die Vorstellung des Windes als ein pfeilartig sich bewegender Strom, die mit Aristoteles’ Meteorologie einsetzt und über das Mittelalter bis in die Neuzeit hinein von Bedeutung ist, taucht auch in den bildhaften Notationen der gegenwärtigen Meteorologie auf (Kapitel vier). Obwohl die zehn Kapitel ein Gebiet abstecken, das sich stets erweitert, können sie unabhängig voneinander, als eine Reihe von unterschiedlichen, miteinander verwandten Perspektiven auf den Wind gelesen werden. Die einzelnen Kapitel verfolgen jeweils ein spezifisches Narrativ, das in einigen Fällen einer geschichtlichen, in anderen einer eher formalen Anordnung folgt. So untersucht Kapitel vier die Metapher des Luftmeers und die hydrologische Analogie von Wind und Fluss von den Texten der antiken Naturphilosophen bis zur gegenwärtigen Meteorologie, die von einem globalen zusammenhängenden Zirkulationssystem der Meeresströmungen und der Windf lüsse ausgeht. Kapitel acht hingegen untersucht die Verwendung des Windes als eine Metapher der Plötzlichkeit und des Exzesses ausgehend von Momenten der intimen Inspiration bis hin zum Wahnsinn. Die zehn Kapitel sind thematisch mehrfach miteinander verbunden. So wird das Verhältnis von Engel und Wind aus unterschiedlichen Perspektiven im dritten, sechsten und neunten Kapitel auf Verschiebungen, Erweiterungen und Umdeutungen hin untersucht. In den ersten Kapiteln des Buches geht es vor allem um unterschiedliche Metaphorisierungen des Windes, während im zweiten Teil der Wind als Metapher im Mittelpunkt steht. Die Metaphorisierungen des Windes und der Gebrauch des Windes als Metapher lassen sich dabei aber nicht deutlich voneinander trennen. Eine wichtige Rolle spielt auch der Sprachvergleich. Die verschiedenen Sprachen sprechen auf unterschiedliche und zugleich verwandte Art und Weise über den Wind. Das erste Kapitel »Meteore: Figuren der Ambivalenz« beschäftigt sich mit der vielfältigen Ambivalenz des Begriffs ›Meteor‹ und dessen metaphorischem Potential, das sich im Lauf der Jahrhunderte stark verändert hat.

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Ursprünglich war ›Meteor‹ ein Sammelbegriff für eine Gruppe von Phänomenen – Sternschnuppen, Erdbeben und Atemvorgänge –, die im damaligen Verständnis zu einer einzigen zusammenhängenden Welt gehörten, aus heutiger Sicht aber widersprüchlich und beliebig erscheinen müssen. In der Folge wurde der Begriff sukzessive eingeschränkt und umfasste bald nur noch die Wetterphänomene im modernen Sinne. Das zweite Kapitel »Vom Wind und den Winden: Einzahl und Vielzahl« untersucht die schon in der Antike diskutierte Frage, ob der Wind als singuläres Phänomen zu betrachten ist oder in verschiedene Winde zerfällt. Neben dem Verhältnis von Luft und Wind und der damit zusammenhängenden Frage, wann ein Wind eigentlich ein Wind ist, geht es hier auch um die theoretische Diskussion unterschiedlicher Windarten und deren jeweilige Ursache oder Ursachen. Dabei sollen Wind-Traktate untersucht werden, die von den Vorsokratikern, Aristoteles und Theophrastos, über Lukrez, Seneca und Plinius bis hin zu Francis Bacon, René Descartes und Jean-Baptiste de Lamarck reichen. Im dritten Kapitel »Windpersonifizierungen: Engel und Dämonen« geht es um Personifikationen und Allegorisierungen des Windes. In der Antike, im Mittelalter und bis in die Frühe Neuzeit hinein wurden Winde als bärtige Götter mit wehenden Haaren, blasende Köpfe und engelshafte oder dämonische Flügelwesen, aber auch als Tiere dargestellt, die in ein System der geographischen Zuordnung – Windrosen und Winddiagramme – eingebunden waren. Die anthropomorphen Darstellungen wurden von einem abstrakten Notationssystem begleitet, das Ströme, Strahlen, Linien, Striche und befiederte Pfeile umfasste. Das vierte Kapitel »Luftmeer: Flüsse und Strömungen« ist einer besonders folgereichen Metaphorisierung des Windes gewidmet, die von Aristoteles’ Meteorologie ausgehend bis in die Gegenwart hineingewirkt hat. Die hydrologische Analogie geht davon aus, dass die einzelnen Winde Flüssen vergleichbar sind und der Himmel ein grenzenloses Meer ist. In der gegenwärtigen Meteorologie ist ebenfalls die Rede von einem globalen zusammenhängenden Zirkulationssystem der Meeresströmungen und der Windf lüsse. Im fünften Kapitel »Von Winden und Wolken: Himmelsschlacht und Möglichkeitsfeld« geht es um das Verhältnis der beiden Meteore im Zeichen der Metaphern des Windschlauchs und der Himmelsschlacht, die schon in frühen mythologischen Vorstellungen eine zentrale Rolle in der Beschreibung von Wolken und Wind spielen. Darüber hinaus wird das erkenntnis-

Einführung

theoretische Potential von Wind und Wolke im Werk Serres’, Flussers und Reeds untersucht. Das sechste Kapitel »Die Sprachen des Windes: Übertragung und Übersetzung« thematisiert den Wind im Zeichen der Übertragung und des Transports. Winde verbinden unterschiedliche Realitätsbereiche miteinander und vermitteln zwischen verschiedenen Wahrnehmungsformen. Darüber hinaus sind sie selbst Übersetzer über Zeit und Raum hinweg. Das siebte Kapitel »Der Atem der Welt: Wind und Körper« beschäftigt sich mit dem Verhältnis von äußeren und inneren Winden und dessen historische Entwicklung. Von der Antike bis in die Frühe Neuzeit wurden Wind und Atem als die beiden Seiten eines einzigen pneumatischen Prozesses betrachtet. Diese Vorstellung wurde in der Folge weitgehend aufgegeben, aber in der Romantik im Sinne einer Gefühlsmetapher wiederentdeckt. Ingold und Serres kommen von unterschiedlichen Standpunkten aus auf diese frühere einheitliche Vision zurück. Ausgehend von der Vorstellung des Windes als einer anarchischen chaotischen Kraft und einer Verkörperung des Wahnsinns behandelt das achte Kapitel »Der Wind des Wahnsinns: Plötzlichkeit und Exzess« unterschiedliche Deutungen des Verhältnisses von Ordnung und Chaos in Literatur, Film und Philosophie. Im Gegensatz zum siebten Kapitel geht es hier um die dunkleren beängstigenden Seiten des Windes als Gefühls- und Weltmetapher. Das Spektrum reicht von der Windstille der Seele bis hin zu den bedrohlichen und zum Wahnsinn treibenden Manifestationen des Windes in Victor Sjöströms Verfilmung von Dorothy Scarboroughs Roman The Wind. Das neunte Kapitel »Der Wind des Nomadischen: Politik und Kommunikation« untersucht die Ambivalenz des Windes in Hinblick auf Politik und Kommunikation. In der Politik benutzt Aristoteles die Winde als Metaphern unterschiedlicher politischer Verfassungen. Der Wind ist immer wieder, besonders ab der Romantik als eine Metapher der Freiheit und Entgrenzung gedeutet worden. Flusser verwendet ihn als eine Metapher der digitalen Kommunikationsrevolution und der sich daraus ergebenden bodenlosen nomadischen Existenz der Gegenwart. Serres entwickelt aus der Metapher des Windengels eine umfassende ökologische Vision unserer gegenwärtigen Lage. Im zehnten Kapitel »Windanmut: Klima und Kultur« stehen Deutungen des Windes im Mittelpunkt, die das europäische Verständnis von Natur und Kultur grundsätzlich in Fragen stellen. Watsuji Tetsurô geht von einer klimatischen Geschichtlichkeit aus. Ōhashi beschreibt die japanische Gesellschaft

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als eine Windkultur. Weitere Ref lexionen, die in die gleiche Richtung gehen, finden sich in James K. McNeleys Darstellung der umfassenden poetischen und philosophischen Wind-Philosophie der Navajo-Kultur, von der aus zugleich wesentliche Momente des gesamten Buches noch einmal kritisch und erweiternd aufgerufen werden können. Wie ich in diesem Buch zeigen möchte, kann man anhand einer Philosophie des Windes einen anderen Blick auf eine ganze Reihe von Phänomen gewinnen. Winde verschieben unsere Aufmerksamkeit auf das Unsichtbare und Immaterielle, vom Visuellen zum Akustischen, Haptischen und Olfaktorischen. Die Winde sprechen zu uns und tragen uns Gerüche zu. Der Wind ist eine allgegenwärtige inspirierende und belebende Kraft, die wir gelernt haben, weitgehend zu ignorieren. Meist nehmen wir ihn nur noch in seinen extremen und destruktiven Manifestationen wahr. Der Wind aber ist im Subtilen, Spielerischen und Ephemeren angesiedelt. Wien und Lugano, Herbst 2022

1. Meteore: Figuren der Ambivalenz »Von Aristoteles oder sogar den Vorsokratikern bis mindestens zu Descartes konnte niemand sich als Philosoph bezeichnen, wenn er nicht über die meteora geschrieben hatte.« Michel Serres, Atlas Aufgrund ihrer Flüchtigkeit und ihres hybriden Charakters haben Wetterphänomene nicht denselben ontologischen Status wie andere natürliche Gegenstände. Dies kommt im Begriff ›Meteor‹ zum Ausdruck, dessen Geschichte ich hier nachzeichnen werde. Eine Philosophie der Meteore bedingt auch einen anderen Zugang zur Zeit, wie Serres in seinem Werk aufgezeigt hat. Und schließlich lässt sich eine grundlegende Analogie von Meteoren und Metaphern postulieren, welche das enge strukturelle Verhältnis der beiden Bereiche miterklären kann. ›Meteor‹, von meta, ›auf einer höheren Stufe‹, und aoros, ›erhoben, in der Luft schwebend‹, kommt vom griechischen Substantiv meteoron, ›etwas, was hoch oben ist‹ und dem Adjektiv meteoros, ›vom Boden entfernt‹. Das Präfix meta- betont eine Zwischenstufe, einen Wechsel, oder bezeichnet eine hierarchisch höherliegende Ebene. Aoros ist verwandt mit aerein ›erheben, hochhalten‹. Der Begriff ›Meteor‹, den man heute zwar immer noch in der Fachsprache der Meteorologie für Phänomene verwendet, die man in der Atmosphäre und an der Erdoberf läche beobachten kann – aber, wie noch zu zeigen sein wird, nicht mehr für den Wind –, hat im Laufe seiner Geschichte eine fortschreitende terminologische Einengung erfahren. In Aristoteles’ Meteorologie hatte der Begriff Meteor ein sehr weites Bedeutungsspektrum, das neben Wetterphänomenen auch die Milchstraße, Sternschnuppen, Flüsse, das Meer, Erdbeben und sogar Verwesungsprozesse umfasste. Die spätere Bedeutung von ›Meteor‹ als Feuerball im Himmel

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wird zum ersten Mal 1590 verwendet. Im Laufe des 19. Jahrhunderts werden die Begriffe Meteorologie, Meteorologe und meteorologisch nur noch für Wetterphänomene im modernen Sinn verwendet. Dieser Übergang war jedoch graduell und verlief über Mischformen. Heute versteht man unter ›Meteor‹ im Allgemeinen eine Leuchterscheinung, die auf den Eintritt eines Meteoroiden in die Erdatmosphäre zurückzuführen ist. Meteoroiden sind kleiner als Asteroiden und befinden sich auf einer Umlauf bahn um die Sonne. Sie entstehen meist, indem sie durch Kollisionen aus einem Asteroiden herausgeschlagen werden. Ein nicht vollständig verglühter Meteoroid, der die Erdoberf läche erreicht, wird ›Meteorit‹ genannt. Im Zitat, das diesem Kapitel vorangestellt ist, weist Serres auf eine Ruptur in der philosophischen Wahrnehmung des Wetters in Europa hin, die er auf den Sieg der mechanistischen Weltsicht Newtons zurückführt. Waren Wind und Wetter im 17. Jahrhundert noch ein »major topic of Western philosophy and literature«, wie Reed festhält, so vollzog sich in der Folge, vor allem mit der Auf klärung und in verstärktem Maße im Laufe des 19. Jahrhunderts, eine Neudefinition des Phänomens. Das Wettergeschehen wurde aus den philosophischen Diskursen ausgegrenzt und dem Bereich der sich neu konstituierenden wissenschaftlichen Disziplin der Meteorologie zugewiesen. Damit änderte sich das Interesse für das Wetter grundlegend. Fragte die Philosophie der Meteore noch nach der lebendigen Eingebundenheit des Menschen in die Wetterzusammenhänge, so ging es der naturwissenschaftlichen Meteorologie nunmehr nur noch um das abgezirkelte und dadurch objektivierte Gebiet der Wettererscheinungen. Als Reaktion auf diese Entwicklung haben Serres und Reed versucht, die Meteore wieder in den philosophischen und literarturkritischen Diskurs zurückzuholen. Die moderne experimentelle Wissenschaft verlangte rigorose Beobachtungen und exakte Messungen. Vor diesem Hintergrund musste das unvorhersehbare anarchische Wetter als ein hochproblematisches Feld wirken, das sich quer zu den positivistischen und objektivierenden Ansprüchen der Zeit legte. Die Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, besonders die Romantik versuchte, die Tradition der Meteoren zu rehabilitieren. »The Enlightenment, for reasons implicit in its very name, attempted to dissipate the clouds […]. But the Romantics tended to lift that repression, and Sturm und Drang broke over the skies of the Auf klärung – skies that had never been

1. Meteore: Figuren der Ambivalenz

entirely clear, of course, in the first place.«1 Reed liest die beiden Begriffe ›Auf klärung‹ und ›Sturm und Drang‹ konsequent als das, was sie eigentlich sind: Wettermetaphern. Die Auf klärung träumt von einem wolkenlosen unverstellten Himmel, einem idealen wetterlosen Zustand und verwendet zu dessen Beschreibung ironischerweise gerade eine Wettermetapher. In der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts wird die Tradition der Meteore weiter gepf legt. Die Philosophie wird sich jedoch erst wieder im 20. Jahrhundert, vor allem im Anschluss an die Chaostheorie, ernsthaft mit Wetterphänomenen beschäftigen. Wie Serres in Éloge de la philosophie en langue française ausführt, findet jedoch schon in Paris um 1900 eine erste diskursive Öffnung und Umschichtung statt, welche die Chaostheorie vorwegnimmt und die verschiedensten Kulturbereiche von der Mathematik und Physik hin zu Philosophie, Musik, Malerei und Literatur verbindet. Serres führt den Physiker und Wissenschaftsphilosophen Pierre Duhem, die Mathematiker Jacques Hadamard und Henri Poincaré, den Philosophen Henri Bergson, Claude Debussys La Mer, Maurice Ravels Jeux d’eau, Claude Monets Nymphées, Lautréamonts Chants de Maldoror und Charles Peguys Clio zusammen. Allen gemeinsam sind die Abweichung vom Gleichgewicht und die Hinwendung zur chaotischen Turbulenz als einer neuen komplexeren Form der Logik, die Serres auf Descartes’ Wirbel und Lukrez’ Physik bezieht. Die melodischen Linien Ravels und Debussys gleichen Wellen, die vom Wind angetrieben werden und erinnern an den unvorhersehbaren Zickzack-Flug der Wespe aus einem Gedicht Verlaines: »ein turbulentes, aber logisches und zielgerichtetes Verhalten.«2 Serres erwähnt in diesem Zusammenhang auch den Lorenz-Attraktor (1963) des amerikanischen Mathematikers und Meteorologen Edward Lorenz, der als einer der Wegbereiter der Chaostheorie gilt. Es handelt sich dabei um ein System von drei gekoppelten nichtlinearen Differentialgleichungen, das von zentraler Bedeutung für die Meteorologie ist. Serres verbindet den zerklüfteten Schreibstil Peguys mit der Trunkenheit des Wespenf luges, dem fraktalen Küstenverlauf Benoît Mandelbrots und der unvorhersehbaren Abfolge der befreiten melodischen Linien von Gabriel Fauré, César Franck und Francis Poulenc: »perfekte Kohärenz unter scheinbarer Unordnung.«3 1 Reed, Romantic Weather, S. 4. 2  M. Serres, Éloge de la philosophie en langue française, Paris 2014, S. 175. 3 Ebd., S. 209.

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Im Zeichen des Unbestimmten und Hybriden In der Meteorologie, ein Buch, das bis weit in die Frühe Neuzeit hineinwirkte, diskutiert Aristoteles die Stellung der Meteorologie innerhalb der Naturlehre. Diese beschäftigt sich mit den Meteoren, das heißt mit den natürlichen Phänomenen, die sich in dem der Gestirnsphäre benachbarten sublunaren Raum abspielen und dem allgemeinen Werden und Vergehen unterworfen sind. Im Vergleich zu den ersten einfachen Elementarkörpern sind die Meteore durch Instabilität und Unregelmäßigkeit charakterisiert. Meteore sind von kurzer Dauer. So wie sie räumlich zwischen dem Himmel und der Erde liegen, siedeln sie sich auch zeitlich zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit an. Geburt und Tod folgen hier nicht aufeinander, sondern vollziehen sich im gleichen Moment. Wie Anouchka Vasak und Thierry Belleguic festhalten, sind die Meteore der Instabilität und dem Verfall anheimgegeben, »frappée d’instabilité, de corruption.«4 Die Region der Meteore ist ein Ort, an dem sich die Unordnung entfaltet. Auch Aristoteles musste sich verschiedenen Definitionsschwierigkeiten stellen. So hat er einige Meteore neu benannt und auf poetische Wendungen in der Bezeichnung unterschiedlicher Blitzformen zurückgegriffen. Die Schwierigkeit des Trennens und Eingrenzens der einzelnen Phänomene wird auch offen angesprochen, und der Begriff der Grenze (ὄρος) und verwandte Wortverbindungen spielen in vielfacher Hinsicht eine zentrale Rolle in der Meteorologie. Die Meteore widersetzen sich einfachen Definitionen und Klassifikationen. Selbst der Begriff ›Meteor‹ ist in mehrfacher Hinsicht ambivalent. »Der Meteor ist ein schlecht definierter Körper, dessen Zusammensetzung unklar ist und sich dadurch der linguistischen Bestimmung widersetzt. Diese terminologische Unbestimmtheit verfolgt ihn als seine eigentliche Natur […].«5 Seine Bedeutung bleibt selbst heute noch unabgeschlossen. Er bezeichnet gemischte, instabile und ephemere Phänomene, die sich in einem mittleren Zwischenraum ereignen, und oszilliert zwischen einer metaphorischen und einer wörtlichen, einer wissenschaftlichen und einer literarisch-philosophischen Bedeutung. Die »undeutliche und un4 A. Vasak und T. Belleguic, »Introduction. ›Météore‹. Brève enquête sur le mot et la chose«, in: Ordre et Désordre du Monde. Enquête sur les météores de la Renaissance à l’âge moderne, hg. von T. Belleguic und A. Vasak, Paris 2013, S. 4. 5 Ebd., S. 6-7.

1. Meteore: Figuren der Ambivalenz

geteilte Vielfalt scheint ein Merkmal des Meteors zu sein. Als Objekte mit unbestimmten Konturen stellen Meteore ein wesentliches Definitionsproblem dar, und das von Anfang an […].«6 In diesem Sinne ist die Geschichte der Meteore auch der immer wieder angestrebte und gescheiterte Versuch, das grundsätzlich Vermischte und Unübersichtliche terminologisch zu zähmen. Die Meteore sind in vielfacher Hinsicht ein Gemisch. Für einige von ihnen findet man keine Erklärung, andere hingegen können einigermaßen begriff lich erfasst werden. Die Kometen, die Milchstraße und die Sternschnuppen beruhen auf Entzündung und sind mit Bewegung verbunden. Andere wiederum, wie der Regen und die Wolken, kann man der Luft und dem Wasser zuschreiben und schließlich gibt es noch diejenigen, die mit der Erde verbunden sind, wie die Winde und die Erdbeben. Der Unterschied zwischen der ungeordneten Welt der Meteore und den geregelten unveränderlichen Abläufen der Sterne und die darauf zurückgehende Gegenüberstellung der beiden Wissensformen der Meteorologie und der Astronomie ist bis in die Moderne hinein zentral für die Geschichte des Wetters im europäischen Raum gewesen. Gleichzeitig hat es parallel dazu den Versuch gegeben, das chaotische Wetter anhand des Einf lusses der Sterne zu deuten. Erste Elemente dieser Astrometeorologie finden sich schon bei Aristoteles. Die materielle Ursache des sublunaren Wetters beruht auf den vier übereinander gelagerten Elementen, die sich in konzentrischen Kreisen von innen nach außen, von der Erde, über das Wasser und die Luft zum Feuer anordnen. Das fünfte Element ist der Äther - von altgriechisch αἰθήρ aithḗr, blauer Himmel -, ein einfacher elementarer Körper, aus dem der Himmel und die Sterne gemacht sind. Der Äther gehört in den oberen Bereich des Himmels, ein Ort ewig gleicher unbegrenzter und perfekter Bewegungen. Die ewig bewegten Himmelskörper, die in der äußeren Sphäre kreisen, aber mit ihren Umschwüngen in kontinuierlicher Verbindung mit den inneren vier Sphären stehen, sind Ursprung und erste Ursache der Meteore. Die Meteorologie ist hier somit letztlich von der Astronomie her zu verstehen, wenigstens was die innere Bewegungsursache angeht. Die Meteore stehen für einen Teil der Natur, der in vielfacher Hinsicht von den Gesetzen abweicht. Über Meteore zu schreiben, bedingt daher eine Reihe von Ambivalenzen, die nicht nur den Inhalt, sondern auch die Methode betreffen. Die verschiedenen Windtheorien sind durch einen hybriden Zugang 6 Ebd., S. 3.

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zum Phänomen charakterisiert, der empirische Erfahrungen, theoretische Spekulation und einen Rückgriff auf frühere Vorstellungen zusammenführt. Dies gilt nicht nur für die Autoren der Antike und des Mittelalters, sondern auch für Bacon und Descartes. Sowohl bei Aristoteles wie bei Descartes kommen noch terminologische Unklarheiten hinzu, besonders im Zusammenhang mit der Bestimmung des Windes. Davon mehr im nächsten Kapitel. Aristoteles unterscheidet zwischen einfachen und zusammengesetzten Körpern. Diese bestehen aus den vier Elementen, Luft, Wasser, Erde und Feuer. Die gemischten Körper können vollkommen oder unvollkommen sein. Die ersten entstehen an ihrem angestammten natürlichen Ort und nach den Gesetzen der Natur, die anderen hingegen, unter denen sich auch die Meteore befinden, entstehen außerhalb der natürlichen Ordnung, die darauf beruht, dass Gleiches Gleiches erzeugt. Aristoteles verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass die Meteore zwar aus Erde und vor allem aus Wasser bestehen, sich aber in der Luft manifestieren. Die Zeit, in der die Meteore erscheinen, ist nicht geregelt, wie das durch die Jahreszeiten bedingte Wachstum der Pf lanzen. Auch der Ort, an dem sie in Erscheinung treten ist nicht immer derselbe. Die Himmelsbewegung rührt die unteren vier Elemente auf, die sonst in sich ruhen würden. Dadurch werden sie vermischt und miteinander verbunden. Dies generiert hoch instabile Interaktionen, da jedes Element in sich bereits instabil und potenziell in den anderen latent vorhanden ist, was auch dazu führt, dass sich die einzelnen Elemente jederzeit ineinander verwandeln können. So bestehen die Meteore nicht nur aus Luft oder Wasser, oder einer Kombination davon, sondern auch immer aus allen anderen Elementen, mit denen sie vielfältige Wechselbeziehungen unterhalten. Die unvollkommene sublunare Welt der vier Elemente ist nicht nur durch andauernden Ortswechsel, sondern auch durch gemischte Bewegungen charakterisiert. So sind die Meteore ein Gemisch, auch was die Art ihrer Fortbewegung betrifft. Die sublunare Welt der Antike ist durch eine doppelte zugleich zentrifugale (Feuer und Luft) und zentripetale (Erde und Wasser) Bewegung bestimmt. So wie es einfache und gemischte Körper gibt, gibt es auch einfache und gemischte Bewegungsformen. Die einfache gradlinige Bewegung geht von oben nach unten oder von unten nach oben. Feuer und Luft, die beiden oberen Elemente, tendieren von sich aus nach oben, die beiden unteren Elemente, Wasser und Erde, hingegen nach unten. Der Äther wird mit einer einfachen zirkulären Bewegung verbunden. Und schließlich ist die jeweilige

1. Meteore: Figuren der Ambivalenz

Ausformung der Meteore nicht immer der Ursache angemessen. Meteore erscheinen somit weder am richtigen Ort noch zur richtigen Zeit, und tendieren dazu über ein gesundes Maß hinauszugehen. Sie sind daher unvorhersehbar und letztlich unkontrollierbar. Im Gegensatz zu Serres und Reed, welche die Vermischtheit und Ambivalenz der Meteore zum Ausgangspunkt einer ganzheitlichen Vorstellung machen, geht Daniel Parrochia in Météores. Essai sur le ciel et la cité von einer Position aus, welche das kategorisierende Wissen der modernen Meteorologie in die Vergangenheit zurückprojiziert. Dabei steht das Trennende im Vordergrund. Aristoteles habe versucht, in der Gesamtheit der Phänomene die von den Meteoren gebildete Domäne stricto sensu zu isolieren, obwohl die Grenzen noch unsicher waren. Die Astrometeorologie der Antike und der Renaissance habe es unterlassen, den Bereich der Meteoren und Kometen, von den »eigentlichen atmosphärischen Phänomenen korrekt zu isolieren.«7 Mit diesem eingeengten Blick, bei dem es vor allem um die disziplinären Grenzen der modernen Meteorologie geht, verliert man die verschiedenen zuvor zusammengedachten Bereiche aus den Augen. Dass die frühe Meteorologie Aristoteles’ zu den Meteoren unter anderem auch Himmelsphänomene sowie Flüsse und Erdbeben zählte, geht aus einer gesamtheitlichen Vorstellung hervor, die in übergreifenden Verbindungen quer über die Realitätsbereiche hinweg denkt. So vereint Aristoteles’ Meteorologie auch verschiedene heute weitgehend getrennte disziplinäre Wissensbereiche: Astronomie, Geografie, Physik, Geometrie, Optik, Geologie, Seismologie, Vulkanologie, Chemie und eben Meteorologie im modernen Sinne des Wortes.

Übergänge In Bacons The Natural and Experimental History of the Winds (1622) kommt der Begriff meteor noch an verschiedenen Stellen vor und auch die aristotelische Verbindung von Wind und Erdbeben wird angesprochen. Die Hybridität der Meteore hinterlässt darüber hinaus ihre Spuren in der Methodologie. Dennoch spielt der Begriff nicht mehr die zentrale Rolle, die er in früheren Texten noch hatte. Bacon unterscheidet zwischen fiery und aqueous meteors. Die einzelnen Meteore erscheinen oft zusammen, vermischen sich und sind 7  D. Parrochia, Météores. Essai sur le ciel et la cité, Champ Vallon 1998, S. 75.

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daher nur schwer voneinander zu trennen, was zu Problemen in Hinblick auf mögliche Wettervoraussagen führt. Bacons Vorgehen ist eine Mischung aus systematischer empirischer Wetterbeobachtung und dem Wissen der früheren Meteorologie, vor allem die Texte von Aristoteles, Theophrastos und Plinius dem Älteren, wobei nur der letztere explizit erwähnt wird. Einschränkend hält Bacon zu Beginn fest, dass es unmöglich sei, eine befriedigende Antwort auf alle Fragen bezüglich des Windes zu finden. Dazu verwendet er die Metapher des Prozesses, in dem die Natur auf der Zeugenbank sitzt. »Such are the heads requisite to a particular history of the winds; but we expect not that our present stock of experience should be able to answer them all. However, as in trials at law, a good lawyer knows how to put such questions as the case requires; but knows not what the witnesses will answer: so we can proceed no otherwise in the grand cause betwixt nature and mankind; and must leave posterity to see the issue.«8 In Die Meteore (1637) geht es Descartes vor allem darum, die reine Fantasie, den Aberglauben und das Irrationelle durch einen rationalisierenden Zugang zu entschärfen und die früheren, inzwischen als heterogen empfundenen Bestandteile aus dem Studium der Meteore auszuschließen, was ihm jedoch nur zum Teil gelingt. Wie schon in Lukrez’ De rerum natura geht es um eine Säkularisierung und Entzauberung der Himmelserscheinungen. »Wir begegnen naturgemäß den Dingen über uns mit größerer Bewunderung als denen, die auf selber Höhe oder unterhalb von uns sind.« Wir müssen »die Augen zum Himmel drehen, um auf sie zu blicken, und deshalb stellen wir sie uns als so hochstehend vor, daß Dichter und Maler aus ihnen sogar den Thron Gottes bilden und ihn dort seine eigenen Hände dazu verwenden lassen, den Winden die Türe zu öffnen und zu schließen […]. Dies lässt mich hoffen, daß wenn ich ihre Natur hier so erkläre, daß kein Anlaß mehr besteht, sich über irgendwas zu verwundern, was sich an ihnen zeigt oder von ihnen herkommt, man mir leicht glauben wird, daß es möglich ist, in derselben Weise die Ursachen aller bewundernswerten Dinge zu finden, die es sonst noch auf der Erde gibt.«9 8 F. Bacon, The Natural and Experimental History of the Winds, in: The Works, Bd. 12, London 1815, S. 16. 9 R. Descartes, »Die Meteore«, in: Entwurf der Methode. Mit der Dioptrik, den Meteoren und der Geometrie, Hamburg 2013, S. 197.

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Zur Verbindung von Wetter und Aberglaube schreibt er: »für die untätige Bevölkerung« seien dramatische Himmelsereignisse ein »Beweggrund […] sich Scharen von in der Luft miteinander kämpfender Gespenster« vorzustellen. Es überwiegten dabei die »Phantasie oder Hoffnung«, und diese würden noch zusätzlich »durch Aberglaube und Unwissenheit verfälscht und gesteigert.«10 Aus diesem Grund präsentiert er die einzelnen Meteore nacheinander als Bestandteile einer logischen in sich stimmigen Serie, deren einzelne Teile organisch auseinander hervorgehen, und schließt dabei Kometen, Feuersäulen, Erdbeben und Mineralien aus. Die neue Ordnung wird durch Ausgrenzung und Entmischung erreicht. Nach einer Ref lexion über Dämpfe (vapeurs) und Ausdünstungen (exhalaisons), die an die aristotelische Tradition gemahnt, behandelt er das Salz, die Winde, die Wolken, den Schnee, den Regen, den Hagel, die Stürme sowie den Blitz und die anderen Feuer, die sich in der Luft entzünden. Es folgen die optischen Phänomene, der Regenbogen, die Farben der Wolken, der Kreise und Kränze, die sich manchmal um die Gestirne bilden (Korona), und die Erscheinung mehrerer Sonnen (Parhelia). Descartes versucht anhand der Meteore, seine neue Methode an einem besonders schwierigen Gegenstand vorzuführen. Das Außergewöhnliche der Meteore und ihre Einzigartigkeit sollen dadurch einer rationalen Erklärung zugeführt werden. Dass der Discours de la méthode eigentlich vor allem eine Einleitung zum Studium der Meteore war und deren Darstellung die Methode im Vollzug zeigen sollte, wurde von der Forschung lange übergangen. Descartes’ philosophische Betrachtung auf der Basis sinnlicher Anschauung und geduldig empirischer Beobachtung gilt vor allem für die erste Gruppe der Meteore: Wind, Wolken, Schnee, Regen, Hagel, Sturm und Blitze. Hinzu kommt eine mathematische Perspektive, die für die zweite Gruppe der optischen Phänomene bedeutsam ist: Regenbogen, die Farben der Wolken, Kreise und Kränze und die Erscheinung mehrerer Sonnen. Wie Zittel festhält, hat dies damit zu tun, dass Meteore »traditionell als unberechenbare Renegaten im sonst gesetzesförmigen Reich der Naturphilosophie auftreten und von der Theorie prinzipiell nicht leicht ›einzufangen‹ sind. Meteore sind instabil, transitorisch und ihr Verhalten von so vielen Faktoren abhängig, dass man sie nicht berechnen, sondern lediglich beobachten, be-

10  Ebd., S. 275-276.

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schreiben und erfindungsreich visualisieren kann [Hervorhebung d. A.].«11 Die Metapher des unberechenbaren Renegaten, ein Abtrünniger eines Glaubens- oder Wertsystems, überführt die Meteore in ein politisches und religiöses Deutungsmuster. Die Jagdmetapher des Einfangens, die eigentlich beim Wind eher unangebracht ist, würde er doch auch dem feinmaschigsten Netz entkommen, taucht, wie noch zu zeigen sein wird, immer wieder auf. Die Verbindung zur Jagd wird zudem durch die Vorstellung Winde seien wilde Tiere hergestellt. Wie Parrochia12 festhält, ist der Auf bau des mittleren Teils so konzipiert, dass die einzelnen Meteore eine logische Sequenz darstellen. Der Übergang von den Dämpfen und Ausdünstungen zur Beschäftigung mit dem Salz hat damit zu tun, dass diese aus dem Meer aufsteigen, wodurch sich Salze an dessen Oberf läche bilden. Die Winde begleiten die Dämpfe durch die Luft, die sich zu Wolken verdichten, und diese wiederum lösen sich in Regen, Schnee und Hagel auf. »Danach werde ich prüfen, woher die Winde kommen, die die Dämpfe durch die Luft leiten und die Wolken […] sich an bestimmten Stellen sammeln lassen. Da die Winde die Wolken auf lösen, werde ich sagen, was den Regen, den Hagel und den Schnee verursacht […].«13 Diese Reihenfolge ist zugleich eine Aussage über das Verhältnis der einzelnen Meteore zueinander, die sich wie in Aristoteles’ Meteorologie ineinander verwandeln oder auseinander hervorgehen. Descartes’ linearisierende Logik erinnert zudem an das auf Verdichtung und Verdünnung beruhende Transformationskontinuum Anaximanders, auf das ich im nächsten Kapitel zu sprechen komme. Descartes’ Neubestimmung der Meteore vollzieht zwar einen Bruch, bleibt aber weiterhin der aristotelischen Tradition verpf lichtet. Die gewählte Reihenfolge der einzelnen Meteore übernimmt er weitgehend aus den scholastischen Aristoteles-Kommentaren. Wie in der aristotelischen Tradition spricht er von Meteoren auch als unvollkommene Mischungen. Trotz Descartes’ Bereinigungsversuchen bleibt somit der problematische epistemologische Status der Meteore erhalten. Dies kommt auch in der Hybridität und

11 C. Zittel, »Schneekristalle, Wind und Wolken. Zum Zusammenspiel von Beobachtung, bildlicher Konzeption und wissenschaftlicher Erklärung in Descartes’ Die Meteore«, in: Wind und Wetter. Die Ikonologie der Atmosphäre, hg. von A. Nova und T. Michalsky, Venedig 2009, S. 122. 12 Vgl. Parrochia, Météores, S. 77. 13 Descartes, Meteore, S. 198.

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Heterogenität des Textes zum Ausdruck, der zwischen Wissenschaftlichkeit (besonders die Teile zur Optik, vor allem das achte Kapitel über den Regenbogen), Wunder (für das Descartes eine hartnäckige Faszination empfindet) und dem durch die Scholastik weitergereichten aristotelischen Erbe schwankt. »Wie sein Gegenstand kann auch der Text der Météores bis zu einem gewissen Grad als heterogen, intermediär oder hybrid bezeichnet werden, weil er einen Diskurs entwickelt, der manchmal als wissenschaftlich, manchmal als scholastisch«14 auftritt und manchmal mit Zauberei zu tun hat. Die Hybridität der Météores zeigt sich zudem in den auffälligen Metaphern, auf die Descartes immer wieder zurückgreift.15 »[…] der kartesische Meteor ist kein eindeutig identifizierbares Objekt. […] er widersetzt sich mehr als irgendein anderer Gegenstand jeglichem Rationalisierungs- und Definitionsversuch.«16

Umdeutungen Im 17. und 18. Jahrhundert wird weiterhin auf die gemischte unbeständige und unvollständige Natur der Meteore hingewiesen, und dies wird immer noch in einem philosophischen Zusammenhang diskutiert. In César-Pierre Richelets Dictionnaire de l’Académie française (1680) werden Meteore wie folgt umschrieben: »Meteor. Begriff der Philosophie. Unvollkommene Gemische, die in der Luft entstehen, wie Hagel, Blitz, Donner usw.« Vasak und Belleguic deuten das usw. am Ende der kurzen Aufzählung als Signal des Unfertigen, Unabschließbaren und der Unfähigkeit »de mettre un terme à la chose – bref de la définir«17, der Sache ein Ende zu setzen – kurz: sie zu definieren. Jede Definition der Meteore bleibt letztlich unvollständig, selbst die Abfolge der von Richelet aufgelisteten Meteore bleibt lückenhaft und weist ins Leere. Die Meteore haben etwas Vages (vague) und Vagabundierendes (vagant) an sich, was Unbestimmtheit und Beweglichkeit auf einen gemeinsamen Nenner bringt. Die definitorische Unschärfe der einzelnen Meteore, die auf ihre gemischte Natur zurückgeht, wird dadurch verstärkt, dass sie sich nur schwer voneinander trennen lassen, weil sie in Verbindung miteinander auftreten, 14 Vasak und Belleguic, Introduction, S. 10. 15 Vgl. dazu Kapitel vier. 16 Vasak und Belleguic, Introduction, S. 11. 17 Ebd., S. 12-13.

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auseinander hervorgehen und ineinander übergehen. Die Meteore bleiben eine Herausforderung für jedes philosophische Denken. Sie verweigern sich eindeutigen Definitionen und Unterteilungen, zerf ließen und sind auch einzeln ungreif bar: »›in den Wissenschaften gibt es nichts Wichtigeres, als gut zu unterteilen und gut zu definieren‹, der sich bewegende und unteilbare Meteor erzeugt gezwungenermaßen ›fehlerhafte‹ Definitionen.«18 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verändert sich die naturphilosophische Definition der Meteore aufgrund des neuen physikalischen Verständnisses der Luft. In den Ausgaben des Dictionnaire de l’Académie française von 1762 und 1798 wird die Luft als dasjenige der vier Elemente bezeichnet, das die Erde umgibt. Diese terminologische Verschiebung findet auch für die Meteore statt, die nun nicht mehr allein im Sinne der aristotelischen Physik als bloße Körper, sondern als Phänomene bezeichnet werden. In der Ausgabe von 1832-1835 werden die Meteore als ›atmosphärische Phänomene‹ beschrieben. Das neue Adjektiv ›meteorologisch‹ erscheint zum ersten Mal in der Ausgabe des Dictionnaire de l’Académie française von 1762, obwohl dessen Ursprung bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann. Meteorologisch ist zwar hier noch all das, was die Meteore angeht, es wird aber auch für das Ensemble aller Wetterbeobachtungen, wie Kälte, Wärme, Niederschlagsmenge und Winde angewendet. Ganz zu Beginn von »Traité des Météores«, dem ersten Buch seines Traité de Météorologie, das 1774 veröffentlicht wurde, kehrt der französische Priester und Wissenschaftler Louis Cotte (1740-1815) zu den etymologischen Ursprüngen des Wortes Meteor zurück. Es ist ein Versuch, durch reine Sprachdefinition ein zutiefst undurchschaubares Gebiet einzugrenzen und zu ordnen. Die Meteorologie beschäftigt sich mit den Meteoren, die in der Atmosphäre entstehen und dort auch erscheinen. Meteorologie und Meteor kommen vom griechischen meteoros, erhobener Ort, und Atmosphäre von atmos, Ausdünstung, und sphera, Sphäre. Die Atmosphäre ist die uns unmittelbar umgebende f luide Luftmasse, in der wir ein- und ausatmen. Die Meteore sind demnach Phänomene, deren klare definitorische Erfassung schwierig bleibt. Die Suche nach feiner definitorischer Abgrenzung zeigt sich besonders deutlich im Kapitel über die Winde. Cotte unterscheidet vier Formen von Meteoren: die Luftmeteore (météores aériens) der Wind und die Stürme, die aus der Luftbewegung hervorgehen; die Wassermeteore (météores aqueux), Wolken, Tau, 18  Ebd., S. 14-15.

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Regen, Nebel, Hagel und Frost, welche durch feuchte Ausdünstungen d.h. Dämpfe (vapeurs) verursacht werden, die in die Atmosphäre aufsteigen; die Feuermeteore (météores enf lammés), Blitz und Donner, Irrlichter und Elmsfeuer, die durch Ausdünstungen (exhalaisons) verursacht werden, welche in der Luft Feuer fangen, und schließlich die Lichtmeteore (météores lumineux), der Regenbogen und die Nebensonnen, die aus einer Verbindung der vapeurs und der exhalaisons mit dem Licht resultieren. Auch Cottes Diskurs über die Meteorologie positioniert sich bewusst zwischen den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem früheren Aberglauben, zwischen Literatur und Wissenschaft. Das Numinose wird im Namen der Klarheit Descartes’ abgelehnt. Die aristotelische Tradition ist jedoch nach wie vor gegenwärtig. In der Enzyklopädie von Diderot und D’Alembert (1751-1780) werden die Meteore dem Bereich der Naturgeschichte zugewiesen, die sich von der »histoire céleste«, der Geschichte des Himmels unterscheidet. Ein Teil davon umfasst aber nach wie vor die »prodiges célestes«, die Wunder, die am Himmel stattfinden, und deutet diese als Abweichungen von der Natur. Die Meteore sind hier noch ein Teil der Physik. »METEOR, s. m. (Physik) Körper oder Erscheinung eines Körpers, der für einige Zeit in der Atmosphäre erscheint & aus den dort schwimmenden Stoffen gebildet wird. Es gibt drei Arten: 1°. Die feurigen Meteore bestehend aus schwefelhaltiger Materie, die Feuer fängt; d.h. Blitze, Donner, Irrlichter, Sternschnuppen und andere, die in der Luft erscheinen. Siehe Blitz, Irrlicht &c 2°. Luftmeteore, die durch Ausdünstungen entstehen. […] 3°. Wässrige Meteore, die aus Dämpfen oder wässrigen Partikeln bestehen, d.h. Wolken, Regenbögen, Hagel, Schnee, Regen.« Die Definition führt einige neue wissenschaftliche Elemente ein, kommt aber nicht ohne definitorische Lücken und das fatale »&c« aus, auf das Vasak und Belleguic hinweisen. Der Regenbogen wird nun interessanterweise den wässrigen Meteoren zugewiesen. Geblieben ist auch die aristotelische Unterscheidung von Dämpfen (vapeurs) und Ausdünstungen (exhalaisons). Der Wind wird der zweiten und die Wolke der dritten Meteoren-Art zugerechnet. Die spätere Entdeckung der Elektrizität führte zu einer neuen Unterteilung: Photometeore, Lichtphänomene (Regenbogen) und Elektrometeore (Blitz und Donner).19 Die ›Meteorologie‹ wird in der Enzyklopädie als Wissenschaft der Meteore bestimmt. Diese untersucht deren unterschiedliche Arten und Erscheinungsformen sowie deren Ursprung. Das Adjektiv ›meteo19 Vgl. Parrochia, Météores, S. 164.

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rologisch‹ wiederum bezieht sich einerseits auf all das, was mit den Meteoren zu tun hat, sowie auf die verschiedenen Alterationen und Veränderungen, die sich in der Luft im Laufe der Zeit ereignen. Andererseits bezieht sich das Adjektiv auf Wetterbeobachtungen und Instrumente zur Messung des Wetters. Die wunderbaren Meteore (météores prodigieux) werden unter dem Stichwort prodiges abgehandelt. Dabei wird zwischen Wundern erster und zweiter Klasse unterschieden. Die heidnischen Wunder verdienen nicht unseren Glauben. Die zweite Klasse der rein natürlichen Effekte, die weitaus seltener sind und gegen die Naturgesetzte zu verstoßen scheinen, hat man in der Vergangenheit aus Aberglaube übernatürlichen Ursachen zugeschrieben. Dies ist aber meist nicht der Fall, sind doch viele dieser Phänomene empirisch nachweisbar und ein Zeichen der Vorsehung Gottes. Damit wendet sich die Enzyklopädie explizit gegen die von Descartes forcierte Säkularisierung der Himmelserscheinungen. Hinzu kommt das neue Stichwort météorite, das im Laufe des 19. Jahrhunderts das frühere ›Meteor‹, wenigstens in der Umgangssprache weitgehend verdrängen wird.

Nachleben In seinen Annuaires Météorologiques, die zwischen 1800 und 1810 publiziert wurden, verwendet Lamarck die neuen Begriffe météorologie und météorologique neben dem älteren météores. Er spricht von den principaux météores, den wichtigste Meteoren, den verschiedenen Arten, den météores aqueux, aériens, lumineux und électriques, aber auch von den météores violents et dangereux, z. B. den Blitzen, vor allem aber immer wieder von der région des météores, den unterschiedlichen atmosphärischen Schichten, und den sich darin ereignenden Wetterphänomenen. In der Nachfolge der Auf klärung bestimmt Lamarck die Abwesenheit von Meteoren als Idealzustand und Norm, an der sich die durch die Meteore verursachten Abweichungen messen lassen. Die ›natürlichen Proportionen‹ und die ›natürliche Ordnung der Dinge‹ besteht in einer durchsichtigen Atmosphäre, einem wolkenlosen und windlosen Himmel sowie in der ununterbrochenen linearen Abnahme der Lufttemperatur von den tiefsten zu den höchsten Schichten der Region der Meteore. Der ausgeglichene natürliche Normalzustand ist somit ein wetterloser Nullzustand. In diesem Sinne definiert Lamarck die einzelnen Meteore als eine grundsätzliche Störung

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dieses Normalzustandes. Diese kann in den verschiedenen Schichten der Atmosphäre mehr oder weniger ausgeprägt sein. Manchmal betrifft es die höheren, manchmal die tieferen Schichten, und manchmal beide zugleich. Diese Störung kann durch Winde, Temperaturschwankungen und die Herausbildung von Wolken verursacht werden. Die Winde sind somit nicht – wie in der modernen Meteorologie – die Folge eines Ungleichgewichts, d.h. eines Temperaturunterschieds, der zu einem Druckunterschied führt, den die Winde auszugleichen versuchen, sondern grundsätzlich störende Kräfte, die den Normalzustand durcheinanderbringen. Sobald diese Störungen behoben sind, wird die Transparenz der Atmosphäre wieder hergestellt. Das Sonnenlicht operiert in diesem Zusammenhang als Antagonist der Meteore. Es durchbricht die Wolkendecke und bringt sie zum Verschwinden, es gleicht die destabilisierende Auswirkung der Winde aus und stellt das verlorengegangene Gleichgewicht wieder her.20 In der XIV. Ausgabe des Annuaire Météorologique fasst Lamarck seine Vorstellung der Meteore zusammen: »Als Meteore bezeichnet man alle atmosphärischen Erscheinungen, die irgendwo die Heiterkeit oder Transparenz der Luft unterbrechen (interrompt quelque part la sérénité ou la transparence de l’air) und deren Dauer begrenzt ist (et qui a des bornes dans sa durée).«21 In Thomas Forsters 1823 veröffentlichten Researches about Atmospheric Phenomena und in Luke Howards The Climate of London (1833) wird der Begriff meteors zwar nur noch im engeren Sinne verwendet. So benutzt ihn Howard für »fiery meteors«22, d.h. fallende Sterne, listet ihn aber an anderer Stelle nach einer Reihe von Wetterphänomenen auf: »wind, rain, thunder and other occasional meteors«.23 Forster spricht im Vorwort von feurigen Meteoren (igneous meteors) mit langen Schweifen, und von leuchtenden fallenden Sternen und dem Blitz als nächtliche Lichtphänomene. Das Wort meteor ist hier kein Sammelbegriff mehr. Es bezeichnet eine spezifische Erscheinung, die sich von anderen Wetterphänomenen unterscheidet. Dennoch führt Forster sie am Ende einer Liste von Wetterphänomenen, nach den Wolken, nach Regen, Hagel, Schnee und Tau auf. Das dritte Kapitel24, das sich ausführlich mit fal20 Vgl. J.-B. Lamarck, Annuaire Météorologique pour l’an XI, n° 4, Paris 1803, S. 124-146. 21 J.-B. Lamarck, Annuaire Météorologique pour l’an XIV, n° 7, Paris 1806, S. 142. 22 L. Howard, The Climate of London, London 1833, S. 135. 23  Ebd., S. 125. 24 Vgl. Forster, Researches about Atmospheric Phenomena, S. 114-127.

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ling meteors und meteoric stones beschäftigt, folgt direkt auf zwei Kapitel über die Wolken. Allein dem Wind ist ein eigenständiges, aber deutlich kürzeres Kapitel gewidmet.25 Ansonsten wird der Begriff nur noch in den zusammengesetzten Formen meteorology, meteorologist und meteorological verwendet. Im International Cloud Atlas der World Meteorological Organization aus dem Jahr 1975 wird der Begriff ›Meteor‹ für Phänomene verwendet, die man in der Atmosphäre oder direkt auf der Erdoberf läche beobachten kann. Wie Vasak und Belleguic festhalten, weist das Klassifikationssystem einige Unstimmigkeiten auf. »Der Begriff ›Meteor‹ bezeichnet heute Phänomene, welche sich in der Atmosphäre abspielen. Die Atmosphäre selbst gehört also nicht dazu.« Obwohl alle Formen des Niederschlags und alle Lichtphänomene dazu gerechnet werden, wird alles, was die Luft angeht, ausgeschlossen. »Die Wolke wird als Luft betrachtet und gehört nicht zu den Meteoren: Wird sie als gasförmige Erscheinung betrachtet und daher aus den Meteoren ausgeschlossen?«26 Der Wolkenatlas teilt die Karten neu aus. »A meteor […] consists of a suspension, a precipitation, or a deposit of aqueous or non-aqueous liquid or solid particles, or a phenomenon of the nature of an optical or electrical manifestation.«27 Meteore weisen drei unterschiedliche Zustände auf – Suspension, Präzipitation und Ablagerung – und bestehen aus wässrigen, nicht wässrigen, aber f lüssigen, und soliden Partikeln oder haben mit optischen und elektrischen Phänomenen zu tun. Aufgrund dieser Kriterien kann der Wind nicht mehr als Meteore betrachtet werden. Wegen der Beschaffenheit ihrer Bestandteile oder den physischen Prozessen, die mit ihrem Erscheinen einhergehen, haben Meteore einen sehr unterschiedlichen Charakter. Man kann vier Arten unterscheiden. Dies erinnert an die frühere Einteilung aufgrund der vier Elemente, von denen im Wolkenatlas jedoch nur noch das Wasser übriggeblieben ist: Hydrometeore (Regen, Schnee und Hagel), Lithometeore (atmosphärischer Staub, aufgewirbelter Sand), Photometeore (Regenbogen, Glorie und andere Lichteffekte) und Elektrometeore (Gewitter, Sturm, Blitz, Donner, Polarlicht, Elmsfeuer). Im Gegensatz zu seiner früheren Zentralität wird dem Wind in dieser Klassifikation der Status eines Meteors abgesprochen und eine rein zudienende Rolle zugewiesen. 25 Ebd., S. 200-204. 26  Vasak und Belleguic, Introduction, S. 3, Fußnote 5. 27 World Meteorological Organization, International Cloud Atlas Bd. 1, überarb. Ausgabe, Genf, 1975, S. 3-4.

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Der Wind ist kein eigenständiger Meteor mehr, spielt aber bei den ersten beiden Meteorformen eine wichtige Rolle. Auch die Wolken sind ausgegliedert und einem völlig neuen Klassifikationsschema zugeführt worden, das nicht mehr auf deren Materialität beruht, sondern auf deren Formenvielfalt und jeweiligen Höhe in der Atmosphäre. Die Lithometeore bestehen vorwiegend aus festen Partikeln, z. B. Sand- oder Staubpartikeln. Wenn diese in der Luft schweben, kann dies zu Dunst- oder Rauchbildung führen. Sie können aber auch vom Wind aufgewirbelt und wieder verweht werden, z. B. bei Flugsand. Hydrometeore bestehen aus einem »ensemble of liquid or solid water particles suspended or falling through the atmosphere«. Suspended particles findet man in Dunst und Nebel und falling particles in Regen, Schnee oder Hagel. Obwohl die Wolken wie die anderen Hydrometeore aus schwebenden wässrigen Partikeln bestehen, werden sie nicht in diese Systematik aufgenommen. Die Partikel können sich auch ablagern, was zu Tau, Raureif oder Frost führt. Sie können ebenfalls vom Wind erfasst und in die Höhe getragen werden, was zu Flugschnee und Schneeverwehungen führt. »Wie jede wissenschaftliche Tatsache«, schreibt Parrochia, der damit das cartesianische Ideal der vollständigen Auf hellung der Welt beschwört, »werden die Meteore archiviert, indexiert, klassifiziert und ihre reiche Vielfalt anhand eines universellen Rasters gelesen, das in der Lage ist, sie eindeutig zu definieren.«28 Als Beispiel für diese neue naturwissenschaftliche Methode erwähnt er signifikanterweise gerade die Wolkenklassifikation, deren Kategorien eigentlich nur bei einfachen Himmelskonstellationen eindeutig funktionieren. Wenn viele unterschiedliche Wolkentypen auf verschiedenen Ebenen ineinander geraten, spricht man in der Regel von einem chaotischen Himmel. Wie Vasak und Belleguic festhalten, hat auch der moderne Meteor-Begriff die früheren Ambivalenzen nicht abgestreift. Reed und Serres, auf die ich nun zu sprechen komme, gehen noch einen Schritt weiter und bezeichnen gerade diese unlösbare Ambivalenz als das theoretisch Entscheidende.

28  Parrochia, Météores, S. 155.

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Concordia discors Wie Ingold, Ōhashi und Schmitz auf die ich in den nächsten Kapiteln näher eingehe werde29, betont Arden Reed den spezifisch anderen ontologischen Status der Meteore. »Because they are insubstantial, shifting, and literally groundless ›meteors‹ have a different ontological status from natural objects – rocks, stones, trees […].« Hermann Schmitz bezeichnet sie daher auch als ›Halbdinge‹. Meteore gehören in die Welt der Kontingenz und Vergänglichkeit, »›the realm of mutability‹«. In diesem Sinne sind sie »purely temporal figures, and it is impossible to conceive of them apart from time.«30 Reed geht es darum, das destabilisierende Potential der Meteore und deren grundsätzliche Ambivalenz unter einem anderen Vorzeichen neu zu deuten, auch gerade deshalb, weil durch die Auf klärung und den Positivismus des 19. Jahrhunderts der Kontakt zu dieser meteoric tradition weitgehend abgebrochen wurde. »The connection between ›meteor‹ and ›meteorology‹ has been broken – a result of the word’s scope having shrunk […]. But originally, ›meteor‹ referred to any kind of meteorological activity: storms, rainbows, winds, lightening, comets, mists and fogs, as well as some we would call astronomical (the Milky Way, for example) or geological (earthquakes and volcanoes). In contrast to stars, which have a regular motion that may be determined, graphed and predicted, ›meteors‹ are cosmic freaks. They are likely to be unstable, unpredictable, aleatory, turbulent, disruptive and chaotic. […] One purpose of classical science was to domesticate ›meteors‹ […]. But science can never completely master the ›meteor‹. […] and it will resist [its] efforts to describe and know it […].«31 Die Autoren der klassischen Antike entwickelten zahlreiche Strategien, um die ontologische Störung des Wetters ordnend zu entschärfen. Es ging darum, das Chaos und die Konf likte anzuerkennen. Unordnung sollte nicht einfach in Ordnung umgewandelt, sondern die Unordnung in gewisser Weise als essenziell für die Schaffung von Ordnung gedeutet werden. Der Anfang von Aristoteles’ Meteorologie geht von einer ähnlichen Vorstellung aus. Gegensätzliche Eigenschaften, wie heiß und kalt, können nicht gekoppelt 29 Vgl. dazu Kapitel sieben und zehn. 30 Reed, Romantic Weather, S. 10. 31 Ebd., S. 9.

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werden und dennoch gehen die vier Elemente daraus hervor. Ihre Entstehung ist eine Verwandlung in Gegensätze, die aus Gegensätzen hervorgehen und dies wird nur dadurch möglich, dass jedes Element von einem Element zum anderen übergeht. In diesem kosmischen Tanz, den Reed als »ur-minuet« bezeichnet, entstehen die einzelnen Elemente als eine Veränderung aus Gegensätzen, die ins Gegensätzliche überführt: »a change into contraries and out of contraries.«32 Jedes Element enthält in seinen Beziehungen zu den anderen ein Moment der Gegensätzlichkeit. Das noch ältere Ordnungsprinzip der concordia discors, des Zusammenklanges des Dissonanten, das sich vom aristotelischen unterscheidet, geht auf Pythagoras zurück und wurde auch von Platon und dem Platonismus übernommen. »To stabilize ›meteors‹, writers from the classical period onward relied on the principle of concordia discors, until a new principle of order provided by Newton’s laws displaced the Pythagorean one.«33 Diese musikalische Vorstellung einer disharmonischen Harmonie versucht, die Unordnung als Voraussetzung für Ordnung einzusetzen. Darin gleicht sie Serres’ Ansatz, der davon ausgeht, dass die Ordnung aus der Unordnung auftaucht. »This provided a way to resolve the errancy and irrationality of ›meteors‹ in regular and rational patterns, founded on Mathematics.«34 Reed benutzt in seiner Beschreibung der Meteore durchgehend Metaphern des Abweichenden, Abtrünnigen und Nomadischen. Meteore sind in vielfacher Hinsicht dazwischen, sowohl räumlich als auch zeitlich. Präsenz und Abwesenheit durchdringen sich. »Their coming into being is already their going out of being. [They] cannot achieve the ontological stability of a form – although they never participate fully in presence, neither are they ever entirely absent. […] And the aleatory or erratic alterations of any one ›meteor‹ are contingent on any number of other ›meteors‹ themselves contingent, and propagate only more accidents in their wake.«35 Meteore sind, wie schon hervorgehoben, zweifach gemischte Erscheinungsformen. Sie besitzen hybriden Charakter und treten nie allein auf. Aus diesem Grund sind sie nicht einfach mit sich selbst identisch und verweilen auch nicht innerhalb von klar definierbaren Grenzen. »The weather is not so much 32 Ebd., S. 31. 33 Ebd., S. 7. 34 Ebd., S. 32. 35 Ebd., S. 11.

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beyond formalism as before formalism. It is ›situated‹ prior to the appearance of forms or things on the horizon of being. ›Meteors‹ fall between being and nothingness.«36 Das Wetter ist eine Art linguistisches ›No Man’s Land‹. »Thus, weather signs are neither free nor determined but fall somewhere in between – a location, we will discover, that they frequently ›occupy‹ […]. We can regard the weather as manifesting either continuity and regularity or discontinuity and unpredictability. […] But historically speaking, it has more often been typical to associate meteorological phenomena with a certain drift or tropism away from the clear and distinct, the orderly, the formal, and the necessary, and toward the uncertain, the disordered, the shifting, and the contingent.«37 Meteore können somit weder als stabil noch als völlig unstabil klassifiziert werden. Sie sind daher nicht einfach unordentliche Phänomene, die sich der Klassifizierung und Voraussage entziehen, sondern stellen sich quer zum einfachen Gegensatz von Ordnung und Unordnung und stellen dadurch eine ganze Reihe weiterer Dichotomien in Frage: »[…] I have emphasized the disorderly character of ›meteors‹, but it would be more accurate to say that they displace the very opposition between order and disorder […] weather simultaneously composes (though not in any ordinary causal sense) and decomposes a number of the most familiar […] dichotomies: subject/object, inside/outside, nature/culture, physical/metaphysical […] familiar/foreign, presence/absence.«38 Dass Meteore Dichotomien zugleich konstruieren und dekonstruieren, ist ein zentrales Moment einer Philosophie des Windes. Eine meteorologische Poetik, wie Reed sie anstrebt, sieht in der Schwierigkeit, literarische Zeichen zu deuten, eine Gemeinsamkeit mit dem Wetter, dessen Manifestationen ebenso schwer zu entziffern sind. Vor der Auf klärung hatten die Meteore eine »renegade significance«39 und tauchten in unerwarteten disziplinären Zusammenhängen auf, so zum Beispiel in der Geologie und der Psychologie. Das Wort Meteorologie selbst verweist auf diese widersprüchliche Zugehörigkeit. Es vereint die Instabilität des Dazwischen (Meteo) mit dem Feld der Logik und der Regelmäßigkeit der Gesetze (Logos). »[…] Meteorology is 36 Ebd., S. 11-2. 37 Ebd., S. 8-9. 38 Ebd., S. 13. 39  Ebd., S. 7.

1. Meteore: Figuren der Ambivalenz

an oxymoronic science. As its name implies, meteorology is rooted in the field of logic, and is governed by the supreme authority of the logos. […] By contrast, a ›meteor‹ is not so much the opposite as the other, or an other, of the logos.«40 Die Meteorologie versucht, Veränderungen dessen vorauszusagen, was sich definitionsgemäß jeder eindeutigen Vorhersage entzieht. Serres weist darauf hin, dass das Wort Oxymoron selbst turbulenten widersprüchlichen Charakter hat, und sich auf der Grenze von Ordnung und Unordnung, Klarheit und Unklarheit positioniert. Oxymoron, oξύμωρος (oxýmoros) kommt von oξύς (oxýs), scharfsinnig, spitz, subtil, und μῶρος (móros), stumpf, dumm. Serres spricht in diesem Zusammenhang von einer »obscure clarté«41, einer obskuren Helligkeit. Diese Verbindung von Wetter und Abweichung, der man auch bei Lamarck begegnet, hat in der europäischen Tradition eine lange Geschichte.

Clinamen: Meteore und Metaphern Wie Reed festhält, war der ursprüngliche paradiesische Zustand vor dem Sündenfall, so wie er in der biblischen Genesis beschrieben wird, wetterlos und damit auch zeitlos, denn Zeit und Wetter gehören untrennbar zusammen: »[…] before the Fall there was no weather such as we know it […] and this pre-Lapsarian absence of weather is mirrored after the Apocalypse.«42 Sonne und Mond sind verschwunden und mit ihnen auch die Zeit (Offenbarung 21, 23). Vor dem Sündenfall gab es somit auch keinen Wind. Reed zitiert dazu eine Passage aus Johannes Calvins Werk, die einen Bogen vom schlechten Wetter zur allgemeinen Unordnung schlägt: »›the inclemency of the air, frost, thunder … and whatever is disorderly in the world are the fruits of sin‹.«43 Serres erwähnt Miltons Paradise Lost, Thomas Burnets (1635-1715) Telluris Theoria Sacra, or Sacred Theory of the Earth (1681-1689) sowie Abbé NoëlAntoine Pluches (1688-1761) Histoire du ciel consideré selon les idéees des poètes, des philosophes et de Moïse (1739), die sich alle direkt auf diese Vorstellung beziehen. Nach Burnet ist die Welt in schöner und regelmäßiger Form von Gott erschaffen worden, aber bei der Sintf lut, die mit dem Sündenfall verwandt ist, 40 Ebd., S. 13-14. 41 M. Serres, Biogée, Paris 2013, S. 160. 42 Reed, Romantic Weather, S. 28. 43 Ebd., S. 33-34.

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hat sie ihre heutige hässliche Gestalt angenommen. Felsen und Berge sind die am stärksten deformierten Zeugen dieses Ereignisses. Für Burnet finden diese geologischen Unregelmäßigkeiten eine direkte Entsprechung in den Stürmen, die die Welt heimsuchen.44 In Miltons Paradise Lost45 war das Chaos des Wetters ursprünglich ganz der Hölle zugeordnet und wurde erst nach dem Sündenfall auf der Erde entfesselt, so dass die Menschheit auch unter dem teuflischen Fluch der Veränderlichkeit der Jahreszeiten zu leiden hatte. Die Engel verschoben zu diesem Zweck die Achse der Erde: »Some say, he bid his Angels turn ascanse / The poles of earth, twice ten degrees and more, / From the sun’s axle; they with labour pushed / Oblique the centrick globe […].«46 In dieser Deutungstradition wird die schiefe Lage der Erdachse, die Ekliptik, die für die Jahreszeiten mitverantwortlich ist, als eine bösartige Folge der Erbsünde verstanden. Metaphorisch gesehen wird dadurch der Sturz in die Sünde mit der Kippbewegung der Erde, die, wie man annimmt, auf einen Meteoriten zurückgeführt werden kann, als zusammenhängend gesehen. Auch Bacon weist zu Beginn von The Natural and Experimental History of the Winds die Meteore der postlapsarischen Welt zu. In der Schöpfungsgeschichte der Genesis werden weder das Wetter noch die Zeit erwähnt. Sie sind nicht von Gott erschaffen worden, sondern eine Folge des Sündenfalles. »They are not primary creatures, or of the first six days works, as to their action: no more than the other meteors; but were produced later in the order of creation.«47 Auch der Wind entsteht konsequenterweise erst nach dem Sündenfall. In dieser aus den Fugen geratenen Welt, erzeugt die Achsenneigung die Jahreszeiten zugleich das Wetter und die Zeit. Es ist die Vernunftlosigkeit des Klimas, »la déraison climatique«48, wie Serres es nennt. Das Wort Klima stammt von griechisch κλίμα (klíma), ›Neigung des Sonnenstandes, Witterung‹ und dem Verb κλίνειν (klínein), ›neigen, lehnen‹. Wie Serres festhält, hat die Verbindung von Klima (climat) und Neigung (inclinaison) mit der Eklipse, d.h. mit einer Abweichung zu tun.49 Dem setzt er eine Les44  Vgl. auch ebd., S. 14-15. 45  V  gl. auch A. Harris, Weatherland. Writers and Artists under English Skies, London 2015, S. 139-145. 46  J. Milton, Paradise Lost, X 665-669. 47 Bacon, History of the Winds, S. 2. 48  M. Serres, Atlas, Paris 1996, S. 95. 49  Vgl. ebd., S. 95.

1. Meteore: Figuren der Ambivalenz

art gegenüber, die das Wetter und den Wind vom rein Unregelmäßigen entfernt und in die Nähe des Schöpferischen rückt. In Lukrez’ De rerum natura ist das Clinamen (griechisch: geringfügige Abweichung) ein minimales Abkommen vom gradlinigen, unauf hörlichen Fall der Atome durch den leeren Raum. Dadurch geraten die Atome aneinander, was zu Zusammenballungen führt. Gäbe es diese feinen Bewegungsabweichungen nicht, würde nichts Neues entstehen. Die Linearität der Abläufe entspricht im Sprachlichen der Literalität. So postuliert Serres eine strukturelle Analogie zwischen Meteoren und Metaphern. Das Clinamen ist nicht nur eine Voraussetzung des Wetters, sondern auch eine Vorbedingung der metaphorischen Verwendung von Sprache. Es schafft einen Raum zwischen dem Wörtlichen und dem Uneigentlichen, der durch die Metapher überbrückt wird. »[…] l’existence n’apparait que dans et par l’écart à l’équilibre […] ledit écart soit l’espace premier où toute métaphore aura lieu et temps. Le clinamen est le transport en général (die Existenz erscheint nur in und durch die Abweichung vom Gleichgewicht […] diese Abweichung ist der eigentliche Raum, in dem alle Metaphern entstehen. Das Clinamen ist der Transport im Allgemeinen).«50 Die Wendung »aura lieu et temps« ergänzt den »espace premier«, den Ur-Raum, durch das Moment des Zeitlichen. Die Metapher ist zugleich eine Übertragung und eine Übersetzung im Raum und in der Zeit. Es ist dabei gerade die ›Uneigentlichkeit‹ der Metapher, ihre Ab-weichung vom ›eigentlichen Sprechen‹ die Neues in die Welt setzt. Die Metapher ist eine zweifache De-viation vom Linearen und Wörtlichen, eine vorübergehende sprachliche Turbulenz. »To coin a new metaphor […] is to introduce a new inclination into the laminar f low of meanings, an inclination that causes two meanings to collide and create something new.«51 Durch den Begriff des Clinamen, den Serres sowohl auf das Wetter als auch auf die Metapher anwendet, eröffnet sich die Möglichkeit, das Wetter und besonders den Wind auf ihre kreative Seite hin zu prüfen. Der Wind ist hier auch eine Metapher der Metapher, weil beiden Phänomenen das Moment des Überraschenden und Unvorhersehbaren gemeinsam ist. Dabei verwandelt sich deren anscheinende Unordnung in eine neue komplexere Form von Ordnung. Viele der Eigenschaften, die Serres im Zusammenhang mit den Meteoren betont, sind auch für Metaphern zentral: Ambivalenz, Instabilität, Dynamik, 50 M. Serres, La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce. Fleuves et turbulences, Paris 1998, S. 185. 51 Ch. Watkin, Michel Serres. Figures of Thought, Edinburgh 2020, S. 307.

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Komplexität und die Fähigkeit zur steten Verwandlung. Meteore, insbesondere der Wind, entziehen sich einer klaren Begriff lichkeit, tauchen selten allein auf und haben die Tendenz, sich ineinander zu verwandeln. Dies trifft auch für Metaphern zu. Das Wetter hat metaphorischen Charakter und umgekehrt hat die Metapher Wettercharakter. Sowohl Meteore wie Metaphern eröffnen ein hochkomplexes Wissensfeld, in dem Ordnung und Unordnung nicht einander gegenüberstehen, sondern sich auf vielfache widersprüchliche Art vermischen und ergänzen. Im Gegensatz zu Begriffen, die auf klare terminologische Grenzen setzen, verbleiben Metaphern trotz innerer und äußerer Strukturiertheit in der Mehrdeutigkeit. Metaphern konjugieren das Verhältnis von Ordnung und Unordnung auf andere Art und Weise. Sie neigen dazu, semantisch zu überf ließen und sich mit anderen Metaphern zu verbinden, da die Grenzen zwischen Metaphern ebenfalls dazu tendieren zu zerf ließen. Meteore sind auch Metaphern für die Funktionsweise von Metaphern. Andrew Gibson untersucht die Funktionsweise von Metaphern in Serres’ Texten anhand der Metapher der Kreuzung. Dabei spielen einige Aspekte eine Rolle, die ebenfalls für Serres’ Verständnis der Meteore von Bedeutung sind. Metaphern sind keine theoretischen Fixpunkte, sondern bewegliche Interferenzräume, mobile Austausch- und Durchgangsknoten. Als zeit- und raumabhängige Phänomene sind Metaphern wie Meteore stets im Fluss. Kreuzungen sind Orte, an denen die Dinge zusammenfinden und nicht Orte der Wahl und der Trennung. Sie müssen als komplexe Verwicklungen und Verschachtelungen gedacht werden, die nicht eigenständige heterogene Räume miteinander verbinden, sondern die Prinzipien der Linearität und der Hierarchisierung auf lösen. Es geht um Verbindungen zwischen multiplen Räumen, um Brücken, Knoten und Verknüpfungen, die nie endgültig stabilisiert oder fixiert werden können. Es geht um Gewinn nicht um Verlust. In Serres’ Augen ist die Kreuzung ein Ort, an dem Überfülle herrscht und eine größere Komplexität, ein Schnittpunkt zwischen verschiedenen Netzwerken. Die Metapher der Kreuzung fungiert dabei selbst als Kreuzung. Die Metapher der Kreuzung ist deswegen auch keine zentralisierende »founding metaphor or metaphorical structure« keine »central metaphor.« Der Denkweg führt von Kreuzung zu Kreuzung. »There is no overview of this journey, it has no totality […].«52 Dies gilt auch für die Metapher der Meteore. 52 A. Gibson, »Serres at the Crossroads«, in Mapping Michel Serres, hg. von N. Abbas, Ann Arbor, University of Michigan Press 2005, S. 87.

1. Meteore: Figuren der Ambivalenz

Meteore und Metaphern sind durch ein Prinzip der Vermischung und Überlagerung miteinander verbunden. Beide sind Operatoren der Transformation. »The mixed or destabilized metaphor seems to me to be cardinal to Serres’s work. More than any other philosopher or theorist, he generates a desire to mix metaphors, a desire for ›cross-metaphorization‹.«53 Metaphern tauchen meist nicht völlig allein auf, sondern in Gesellschaft anderer Metaphern. Sie können sich auf lösen und daraus können weitere Metaphern hervorgehen, so wie die Wolke und der Winde zusammen erscheinen, und sich eine Wolke in Wind verwandelt und dieser wiederum zu Regen oder Hagel wird. Die Verwandlungsfähigkeit, schillernde Beweglichkeit und Vieldeutig der Metapher verhindert nicht nur, dass sie im Begriff lichen erstarrt, sondern auch dass eine spezifische Metapher, sei es nun die Kreuzung oder die Metapher der Meteore, zu einer zentralen und zentralisierenden Metapher erstarrt. Serres beschreibt den Wind als eine kreative Kraft, die ihre Spuren hinterlässt, indem sie sich auf verschiedenen Oberf lächen einschreibt. So sind die melodischen Linien des Meeres und der unberechenbare Horizont des Wellenganges eine Antwort auf das Schnauben und Keuchen der Wogen unter der Einwirkung des Windes. Die materielle Welt, in welcher der Mensch eingebunden ist, ist ein Kommunikationsnetz, in dem Informationen gesendet, empfangen und gespeichert werden. Selbst in der Bibel, entgegen der zuvor erwähnten Interpretationstradition, spielt der Wind eine aktive Rolle und das von Anfang an. Der Wind ordnet, strukturiert und informiert. So auch in 1. Mose 1,2: »die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urf lut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.« Kurz darauf wird Licht von Finsternis geschieden und die Schöpfung beginnt. Serres deutet den Wind Gottes als Instanz, die das Chaos in eine erste Form überführt. »Am Anfang herrscht das Hintergrundrauschen: Tohuwabohu, Geplätscher (clapotis), die aleatorischen Fluktuationen der Gewässer. Über diesen Zufall hinweg bläst der Ruach. Hören Sie jetzt, wie dieser Wind diese Unordnung ordnet.«54 Das französische clapotis wird für eine stehende Welle benutzt, die durch Ref lexion einer Welle an einer vertikalen Wand, z. B. einer Mole oder Ufermauer, entsteht. Die an der Wand ref lektierte eingehende Welle erzeugt dabei eine ausgehende Welle mit der gleichen Amplitude. Aus der Überlagerung der

53 Ebd., S. 91. 54 M. Serres, Musique, Paris 2014, S. 93-94.

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beiden Wellen ergibt sich eine stehende Welle. Clapotis ist hier zugleich eine Metapher der Überlagerung von Ordnung und Unordnung. Eine verwandte Deutung schlägt Klaus Reichert vor. Das ruahk elohim aus Genesis 1,2 wird in der europäischen Tradition in der Regel als pneuma theon, spiritus dei und spirit of god, das heißt als ›Geist Gottes‹ ausgelegt. Wie Martin Buber in Zu Luthers Übertragung von Ruach (1926) aber ausführte, übersetzte Luther in Der Geist geistet, wo er will (1526) diese Passage ursprünglich mit »und der Wind Gottes schwebt auff dem Wasser.« Am Rande notierte er zuerst noch zögerlich ›Wind oder Geist‹, entschied sich am Ende aber für Geist mit der Begründung, dass es den Wind als Geschöpf damals noch gar nicht gegeben hatte. In der Kirchengeschichte besteht daher die Tendenz das Wort nicht als Pneuma, das zugleich Wind, Atem und Geist bedeutet, sondern als ›Geist‹ im deutschen Sinne zu deuten. Buber entschied sich in seiner Bibelübersetzung für die andere ältere Version. Anstelle von der ›Geist Gottes‹ steht nun der »Braus Gottes«, der an das »Tosen und Toben des Schöpfungswindes« erinnern soll, »eine Art Urwort.«55 In einer neuen englischen Bibelübersetzung aus dem Jahr 1989 steht daher konsequenterweise: »And a Wind from God moved over the surface of the waters.«56

Ein wetterbedingtes Zeitverständnis In La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce. Fleuves et turbulences spricht Serres von einer Tilgung der Meteore, »l’effacement des Météores«, die schon mit Descartes’ Les Méteores einsetzt. »Die Meteorologie ist aus der Geschichte, der Wissenschaft und der Philosophie verdrängt worden. Ich spreche nicht vom Klima, sondern von den Meteoren: Wolken, Regen und Wirbelstürme […] Richtung und Stärke des Windes, jetzt und hier. Ich spreche nicht vom vorherrschenden Wind. Die Meteore sind Zufälle, Umstände.«57 Das ephemere Witterungsereignis und die beunruhigende Instabilität, die von ihm ausgeht, werden zur theoretischen Zähmung in eine wissenschaftliche Zwangsjacke eingeschlossen. »Das Labor und jedes geschlossene System schützen vor den 55 K. Reichert, »Zeit ist’s. Die Bibelübersetzung von Franz Rosenzweig und Martin Buber im Kontext«, in: Die unendliche Aufgabe. Zum Übersetzen, München 2003, S. 169. 56 Ebd., S. 191, Fußnote 30. 57  Serres, Naissance, S. 85.

1. Meteore: Figuren der Ambivalenz

Turbulenzen. Die Wissenschaft ist darin eingeschlossen. Sie […] wird nicht mehr aus dieser Umzäunung herauskommen, die den Zufall und das Unkontrollierbare ausschließt, heute würden wir Hyperkomplexität sagen.«58 Serres verwendet den Begriff ›Meteor‹ in einem sehr weitgefassten Sinne, einerseits für Wetterphänomene im Allgemeinen und andererseits als Modell oder Metapher einer chaotischen Realität, die sich der rationalen Kontrolle weitgehend entzieht. Die Meteore ermöglichen darüber hinaus ein neues Zeitverständnis, das im Zeichen der Hyperkomplexität steht. Im dritten Kapitel von Atlas59, dessen französischer Titel Temps du monde eine doppelte Ambivalenz enthält, entwickelt Serres anhand der Meteore eine neue Zeitdefinition. Temps bedeutet zugleich Zeit und Wetter, wobei die Einzahl, temps, und die Mehrzahl, temps, identisch sind, was zusätzlich noch auf die grundlegende Pluralität der Begriffe Zeit und Wetter hinweist. Temps kommt vom Lateinischen tempus, ›den Fluss zerschneiden, einteilen‹, und templum, ›abgrenzen‹. Der Text beginnt mit einem Gespräch über das Klima zwischen Lamarck und Napoleon. Lamarck wohlwollend zurechtweisend meint dieser, er solle sich lieber wieder mit den Pf lanzen und Mollusken beschäftigen und die Spekulationen über Wolken und Wetter sein lassen. Lamarck soll darauf in Tränen ausgebrochen sein. »Ahnte der geometrisch denkende Stratege«, kommentiert Serres ironisch, »bereits etwas vom Moskauer Winter und dem Regen in Waterloo?«60 Napoleons Bemerkung drückt die allgemein verbreitete Geringschätzung seiner Zeit für das Thema Wetter (le temps qu’il fait) aus. Ein Vergleich zwischen der Astronomie und der Meteorologie, den regelmäßig kreisenden Sternen und dem unvorhersehbaren Wetter, liefert den theoretischen Kontext zu Napoleons Ratschlag. Die Entdeckung des Planeten Neptun 1845 durch den französischen Mathematiker und Astronomen Urbain Jean Joseph Le Verrier aufgrund von Berechnungen sei zwar bekannt, hält Serres fest, aber nicht die Tatsache, dass derselbe Le Verrier 1855 auch die erste Wetterkarte entworfen und damit von der Astronomie des Sonnensystems und der Deduktion ins Reich der Singularitäten und Atlanten hinübergewechselt war. Die Vorherrschaft der Sterne gegenüber dem Wetter, der Gegensatz von temps mécanique und temps des tempêtes, der mechanischen Zeit und der Zeit der Stürme – man beachte die verbin58 Ebd., S. 86. 59  Michel Serres, Atlas, Berlin 2005, S. 81-108. 60 Ebd., S. 81.

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dende Alliteration von temps und tempêtes – hat mit einer problematischen dichotomischen Vorstellung des Verhältnisses von Ordnung und Unordnung zu tun, welche die Himmelsmechanik und die ruhige Ordnung des Kosmos dem steten Wandel des Wetters gegenüberstellt. Heute, so weiter Serres, interessieren sich nur noch wenige für den Neptun, während die Wettervorhersage alle Gemüter bewegt. Die animierten digitalen Wetterkarten auf den Computern und Fernsehbildschirmen zeigen eine ganz andere Welt: wirbelnde Ströme und turbulente Fluten, f luktuierend »wie Fahnen im Wind oder wie eine Feuerwand […].«61 Dieses f ließende Ensemble aus Zirkulationsbewegungen vergleicht Serres mit Descartes’ belächeltem Wirbelsystem. An dieses erinnere sich heute niemand mehr, während man immer noch von Descartes’ nutzloser Methode und seiner romanhaften Physik spreche. Die Wirbeltheorie, die man Descartes nicht abnahm und bei Lukrez unterschlug, behauptete, dass man sich den Raum nicht als leer, sondern als mit Materiepartikeln angefüllt vorstellen musste, die eng beieinander lagen und sich nicht frei bewegen konnten, wodurch es zu wirbelförmigen Bewegungen kam. Die feinere Materie gelangte aufgrund einer Zentrifugalkraft an die äußeren Ränder der Wirbel und die gröbere wurde wegen ihrer Trägheit in das Zentrum des Wirbels befördert. Diese Theorie wurde von Newton und seinen Anhängern abgelehnt. »[…] man hatte Angst vor dem Zufall, der chaotischen Unordnung; der Ausdruck métóres verschwand bald schon aus dem Bereich des Klimas und der Wolken und wechselte ganz ins Gebiet der rationalen Mechanik hinüber […]. Drei Jahrhunderte lang war die Wetterkunde (les météores) aus der Epistemologie ausgeschlossen und konnte nicht als Wissenschaft gelten.«62 Die Zeit hatte das Wetter verdrängt, »le temps qu’il est avait exclu le temps qu’il fait.«63 Descartes steht mit seinem Buch über die Meteore auf einer Wasserscheide. Die darauffolgenden 300 Jahre, die Zeit vom frühen 17. bis zum frühen 20. Jahrhundert, stehen im Zeichen des Vergessens. Um 1900 dann entwickelt sich eine neue Weltsicht, die für Serres im Zeichen des Werks von Poincaré, Monet und Debussys steht und die spätere Chaostheorie vorwegnimmt. Die mechanistische und rationale Vision der Welt, die sich für die Regelmäßigkeit der Planetenbahnen interessiert, pf legt eine Ontologie des Festen 61 Ebd., S. 82. 62  Ebd., S. 85-86. 63 Serres Atlas, Paris 1996, S. 92.

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und Stabilen. Dagegen sind das Fluide und Unscharfe der Meteore und der von der Stimme erzeugte Lufthauch »nichts anderes als Wind.«64 Das Feste und Harte widersteht dem Vagen und Nebulösen, dem Weichen und Zähf lüssigen, dem »nicht analysierten Gemisch«, dem »mehr oder weniger viskosen Wirbel.«65 Die vorherrschenden Metaphern der mechanistischen und rationalistischen Weltsicht operieren mit dem Dualismus von fest und f lüssig oder gasförmig, genauso wie man früher zwischen Licht und Schatten, rein und unrein unterschied. Sie tun dies auf mehr oder weniger verborgene Art und Weise, damit aber auch umso wirkungsvoller. Seit Descartes hat es kein Philosoph mehr gewagt, sich mit den Meteoren zu beschäftigen. »Warum die Verdrängung in der Wissenschaftsgeschichte, die gut die Hälfte des Werkes von Lamarck und Le Verrier vergisst? […] Wann wandte sich die Vernunft vom Wetter ab (le temps qu’il fait)? Warum schreiben Philosophen nicht mehr über das Wetter (météores)?«66 Serres’ Wortwahl verfolgt eine präzise Strategie, die auf Pluralisierung und Verfremdung aus ist. Le temps wird manchmal im doppelten Sinne von ›Wetter‹ und ›Zeit‹ verwendet. Manchmal werden die beiden Bedeutungen, le temps qu’il fait (Wetter, weather) und le temps qu’il est (Zeit, time), explizit einander gegenübergestellt. In beiden Fällen soll die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Verbindung hingelenkt werden und ihn dazu verleiten, zwischen den beiden Bereichen hin und her zu pendeln. Die Pluralform météores soll einerseits auf die irreduzible Pluralität der Wettererscheinungen hinweisen und andererseits durch ihren altertümlichen Charakters so etwas wie einen Verfremdungseffekt erzielen. All dies geht leider in einer deutschen Übersetzung verloren. Manchmal greift Serres auch auf die englische Sprache zurück. »Time pour l’astronomie, weather pour le climat«67, Zeit für die Astronomie, Wetter für das Klima. Die meteorologische Voraussage spricht nicht von der gleichen Zeit (du même temps). Der Chronometer misst die eine und der Barometer gibt eine vage Einschätzung der anderen. Die tickende Uhr suggeriert einen linearen Zeitverlauf, der durch das chaotische Wetter in Frage gestellt wird. Die Tatsache, dass in den romanischen Sprachen Zeit und Wetter durch ein einziges Wort bezeichnet werden, benutzt Serres als Anlass, um die chao64 Serres, Atlas, S. 86. 65 Ebd., S. 86-87. 66 Ebd., S. 83. 67 Serres, Atlas, Paris 1996, S. 90.

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tische Natur des Wetters auf die vereinfachend lineare Vorstellung der Zeit anzuwenden. So verwendet er die turbulenten Meteore und deren Komplexität als ein Modell für ein neues Verständnis der Zeit als ein widersprüchliches Zeit(en)gemisch, das dem unordentlichen Gemenge des Wetters entspricht. Die Meteore mischen die Zeiten nach der Art der Umstände. »Sollte das Wetter die Summe aller messbaren Zeiten sein?«68 Das klassische Verständnis der Zeit geht von einer langen geraden Linie aus, einem nachvorneeilenden Pfeil oder einem gemächlich dahinf ließenden Strom. Das Wetter jedoch ermöglicht ein vielschichtigeres Verständnis der Zeit. Dieses lässt sich auch auf den menschlichen Körper anwenden. Unser Organismus kennt mehrere synchrone Zeiten, nicht nur die lineare Zeit Newtons, den immerwährenden Wechsel von Tag und Nacht, sondern auch Bergsons durée, die Evolutionszeit Darwins, und die entropische Zeit des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik. »Dank derselben Synchronie mehrerer Zeiten ähnelt die Zeit unseres Körpers dem Gang des Wetters.«69 Äußeres und inneres Klima entsprechen sich. Statt einer rein linearen Zeitvorstellung lässt sich anhand der Meteore eine komplexere Vision entwickeln, die gleichermaßen Ordnung und Unordnung umfasst, wobei die Ordnung als ein Spezialfall der Unordnung betrachtet und das Geordnete dem Ungeordneten untergeordnet wird, vergleichbar einer Insel in einem stürmischen Ozean. Die Zeit f ließt nicht, sie perkoliert. Perkolation ist ein zufälliger Fluss in zufälliger Umgebung. »Percolation is not always smooth; it includes tipping points and sudden changes. […] It borders on the chaotic as it percolates in several directions, multiple speeds and numerous rhythms […].«70 Sowohl der einfache laminare Fluss, bei dem eine Flüssigkeit in getrennten parallelen Schichten f ließt, als auch die turbulenten Strömungen, bei denen es zu Verwirbelungen und einer stärkeren Durchmischung kommt, gehören zur Perkolation. Der Übergang von der einen Strömungsform zur anderen hängt vor allem von der jeweiligen Fließgeschwindigkeit ab. Ein Strom f ließt nicht besonders lange laminar, er bildet Turbulenzen, zerbricht und verteilt sich. Turbulenzen sind fraktal. Winde verhalten sich auf ähnliche Art und Weise. Aber davon mehr später. Das Wetter bezeichnet eine vielgliedrige Summe und einen vielschichtigen Mischzustand. 68 Serres, Atlas, S. 92. 69 Ebd., S. 93. 70  Watkin, Figures of Thought, S. 135.

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»Man denke etwa an die Verben und Substantive tempérer, mäßigen, tempérance, Mäßigung, tempérament, température, tempête, Sturm, intemperie, Unbilden der Witterung – sämtlich Ausdrücke, die zur selben Wortfamilie gehören wie das elementare le temps und zusammen ein Gemisch bezeichnen, dessen Funktionsweise oder Gestalt den beiden Bedeutungen von temps (associent et fédèrent les deux sens, chronologique et météorologique), vorausgeht und sie verknüpft oder zusammenführt, wie es nur in den lateinischen Sprachen geschieht […].«71 Diese unentwirrbar komplexe Zeit besteht aus Elementen, die sich einer einfachen harmonisierenden Zusammenfügung widersetzen. Darin ist sie mit der ambivalenten Vielschichtigkeit des Wetters vergleichbar. Die Meteore bedingen nicht nur eine neue Vorstellung von Zeit, sondern entwerfen auch eine komplexere Vision von Geschichte. Die Wetterkarten bringen Bewegung in die Tableaus der Historiker. »Angesichts der unendlichen Summe der erforderlichen Daten und angesichts derselben Synchronie mehrerer Zeiten scheint die der Geschichte eher dem Vorbild des Wetters zu folgen.«72 Das Prinzip der Perkolation erfasst gleichermaßen die Flüsse, die Zeit und das Wetter, die Welt und das Leben sowie unsere Seelen, die ein unerwartetes Gemisch aus porösen Erinnerungen und zurückgekehrtem Vergessen sind. Sie alle perkolieren und sickern hindurch und hinein. »Das f ließende, zähf lüssige, instabile, chaotische Wetter (les météores) bietet also den Philosophen stärkere und feinere Modelle als die Architektonik, die auf Solides, Festes, Schweres […] baute. Zuweilen genügte der kleinste Erdstoß, um sie zum Einsturz zu bringen. Aber welchen Sinn hätte es, vom Einsturz der Meteorologie zu sprechen, da sie noch Erdbeben, Wirbelstürme und Flutwellen umfasst und voraussetzt?«73 Das allgemeine Modell des kontinuierlichen und zugleich diskontinuierlichen Ablaufens und Abf ließens, das die Meteore aufzeigen, projiziert ein wucherndes, sich verzweigendes endlos perkolierendes Gemisch aus Zufall und Notwendigkeit, das in seinen Multiplizitäten weitaus geschmeidiger und zutreffender ist als das lineare Modell. Im letzten Abschnitt »Nochmals über die Meteore schreiben« hält Serres zu Beginn ironisch fest, dass am Anfang des 20. Jahrhunderts ein Gelehrter 71 Serres, Atlas, S. 93. 72 Ebd., S. 94. 73  Ebd., S. 105.

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bemerkt habe, dass die Moderne erst eigentlich dann beginne, wenn die Philosophie nicht mehr von Engeln spreche. 1993 erschien Serres’ La légende des anges, welche die Kommunikations- und Transportsysteme der Gegenwart im Zeichen der Engel deutete. Ich werde auf dieses Buch im neunten Kapitel näher eingehen, besonders in Hinblick auf die Rolle, die dort dem Wind zugeschrieben wird. Serres verbindet den philosophischen Diskurs über die Engel mit dem der Meteore. »Welche Wissenschaft, welche Weisheit kündigt sich an, wenn diese Boten neuerlich erscheinen, um auf neuartigen Wegen ein Universum voller Hauch und Netzwerken zu weben (un univers conspirant de souff les et de réseaux)?« Das französische conspirer, ›konspirieren‹, vom lateinischen conspirare, ›im Einklang stehen, zusammenwirken‹, aber auch ›sich mit jemandem gegen jemanden verschwören‹, geht auf con-, ›zusammen‹, und spirare, ›wehen, hauchen, atmen‹ zurück. In diesem neuen Universum, das von engelhaften Boten belebt ist, f ließen Atem und Winde, individuelle und kollektive Flüsse, lokale und globale Strömungen ineinander. Die moderne Philosophie begann »in dem Augenblick, als sie den Wissenschaften die riskante Aufgabe überließ, an ihrer Stelle die meteora zu beschreiben. Welche Philosophie ließe sich absehen, wenn sie erneut darin brummen, donnern, wehen und umschmeicheln, f ließen und sickern (tonnent, souff lent, et caressent, coulent et percolent)?«74

74 Ebd., S. 108.

2. Vom Wind und den Winden: Einzahl und Vielzahl »Ja, der Wind ist Brise, brise brisée, gebrochene Brise […]. Der Wind ist voller Teilwinde, er zerbricht in kleine Winde, deren kleine Böen sanfter wehen.« Michel Serres, Hermes V. Die Nordwest-Passage Anfangen möchte ich mit einer kurzen Sequenz aus Stanley Kubricks Spartacus, der 1960 in die Kinos kam. Inmitten der Befreiungskämpfe der aufständischen Sklaven gegen die römischen Legionen entspinnt sich ein Gespräch zwischen Spartakus, dem Anführer des Sklavenheers, und seiner Gefährtin Varinia. Es ist ein kurzer Moment der Freiheit und des Friedens im Auge des Orkans. Spartakus hat keine Lust mehr, immer weiterzukämpfen. Er will von seiner neu erlangten Freiheit profitieren. »I know nothing, I want to know everything.« Warum fällt ein Stern, aber ein Vogel nicht, warum geht abends die Sonne unter und woher kommt der Wind. In den Händen hält er einen abgerissenen Zweig, dessen längliche Blätter von einem leichten Lufthauch bewegt werden. Der zerstörerische kriegerische Sturm der Geschichte steht hier der zarten meditativen Brise gegenüber, die so etwas wie eine neue Existenz zu versprechen scheint. Die Frage nach der Herkunft des Windes, dem Ursprung des Lebenshauches artikuliert, ein zutiefst existentielles Interesse. Es ist die Suche nach dem Sinn des eigenen Lebens. Der Wind, erzählt ihm Lavinia, sei im weit entfernten Norden in einer Höhle geboren worden, wo ein schlafender junger Gott von einem Mädchen geträumt und sehnsuchtsvoll aufgeseufzt habe. Aus seinem Atem sei der Abendwind hervorgegangen. Die mythologische Erzählung, die für den Wind einen unterirdischen Ursprung benennt und dessen Entstehung mit dem Vorgang des Atmens verbindet, benennt zugleich eine präzise geographische Herkunft. In der griechischen Mythologie tritt der winterliche

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Nordwind in der Person des Boreas auf, der im antiken Rom Aquilo oder Septentrio hieß. Boreas entführte Oreithyia, die Tochter des athenischen Königs Erechtheus, womit ein direkter Bezug zu Varinias Liebesgeschichte besteht. Spartakus’ Frage und Varinias mythologische Erzählung machen die f lüchtige und diffuse Erscheinung des Windes an einem eindeutigen geographischen Ort und zugleich an einer Person fest, die mit einem Namen und einem spezifischen Aussehen und Charakter ausgestattet wird. Ich werde auf diese Aspekte im Folgenden zurückkommen. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit drei zusammenhängenden Fragen, die von den frühen Texten der Naturphilosophen der griechischen und römischen Antike bis in die Frühe Neuzeit und Moderne hinein eine Rolle gespielt haben. Wie in der kurzen Filmszene aus Kubricks Spartacus geht es auch hier um einen Versuch, das unsichtbare, unfassbare und sich dadurch einer klaren Klassifikation entziehende Phänomen Wind in eine sichtbare, wohlstrukturierte Ordnung zu überführen. Es geht um Trennungen und Kategorisierungen, die zwischen Singularität und Pluralität oszillieren. Die erste Frage betrifft das Verhältnis von Luft und Wind. Ist der Wind einfach bewegte Luft oder lässt er sich prinzipiell von der Luft unterscheiden? Ist der Übergang zwischen den beiden f ließend oder lässt sich eine Grenze ausmachen? Wann ist ein Wind ein Wind? Wann geht Windstille in Wind über? Bei der zweiten Frage geht es um die Singularität oder Pluralität des Windes. Gibt es nur einen einzigen Wind oder muss man von einer Vielzahl unterschiedlicher Winde ausgehen? Kann man die Anzahl der Winde begrenzen oder lässt sich diese ins Endlose steigern? Wie lassen sich die einzelnen Winde sowohl räumlich als auch zeitlich voneinander unterscheiden und wie verhalten sie sich zueinander? Wehen sie nacheinander oder gleichzeitig, miteinander, gegeneinander oder durcheinander? Die dritte Frage schließlich betrifft die Ursache oder die Ursachen. Gibt es eine einfache umfassende Erklärung für das Entstehen von Winden oder muss man von einer Reihe unterschiedlicher Ursachen ausgehen, die sich ergänzen oder gegeneinander antreten? Ich möchte diesen drei Fragen und ihrem Verhältnis anhand einer Rekonstruktion europäischer Windtheorien nachgehen, wobei es nicht so sehr um eine lückenlose historische Darstellung geht als um eine Erkundung unterschiedlicher Zugangsweisen. Anfangen möchte ich mit den Schriften der beiden Vorsokratiker, Anaximander und Anaximenes, gefolgt von Aristoteles’ Meteorologie und Theophrastos’ De ventis, deren Vorstellungen in Lukrez’ De rerum natura, Senecas Naturales quaestiones und Plinius’ Natura-

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lis historia aufgenommen wurden und über die Vermittlung von Isidor von Sevilla bis in die Frühe Neuzeit hineinwirkten. Mit Bacons The Natural and Experimental History of the Winds und Descartes’ Die Meteore beginnt ein neues Verständnis des Phänomens, das jedoch noch weitgehend auf frühere Vorstellungen zurückgreift. J. B. Lamarcks Annuaires Météorologiques markieren den Übergang zur modernen Wissenschaft der Meteorologie.

Zum Verhältnis von Luft und Wind In der Tradition der Handschriften der Antike und des Mittelalters findet man im Wesentlichen zwei Vorstellungen zur materiellen Substanz der Winde.1 Die erste Traditionslinien beschreibt den Wind als sich bewegende Luft oder als Luft, die in eine gewisse Richtung f ließt. In De natura rerum bestimmt Isidor von Sevilla den Wind als bewegte und rastlose Luft (ventus est aer commotus et agitatus, 36.1.1-3) und bezieht sich dabei auf Lukrez, für den Wind entsteht, wenn die Luft aufgewirbelt wird (ventu enim fit ubi est agitando percitus aer, 6.685). Dieselbe Vorstellung findet sich bei Plinius (f luctus aeris 2.114) und in Vitruvs Traktat über die Architektur, wo der Wind als Luftwelle beschrieben wird (ventus autem est aeris f luens unda cum incerta motus, 1.6.2). Eine ähnliche Vorstellung findet sich auch bei Theophrastos. In seinen Naturales quaestiones bestimmt Seneca (1-65 n. Chr.) den Wind als Luft, die sich in eine Richtung bewegt (ventus est aer f luens in unam partem, 5.1). Ich werde auf Senecas Deutung des Verhältnisses von Luft und Wind im vierten Kapitel im Zusammenhang mit den Metaphern des Strömens und Fließens zurückkommen. Die zweite Traditionslinie, geht auf Aristoteles’ Meteorologie zurück. Hier werden Luft und Wind voneinander getrennt, da ihre materielle Substanz nicht identisch ist. Beide Deutungsmuster gehen von der grundsätzlichen Gerichtetheit des Windes aus. Der Übergang von der Luft zum Wind und die Frage, ob es eine klare Grenze zwischen diesen gibt, ob die eine unbewegt und die andere bewegt ist oder ob die Luft nicht immer schon bewegt ist, spielt nicht nur in den folgenden Überlegungen eine Rolle, sondern auch in den theoretischen Diskussionen zur Windskala, auf die ich im achten Kapitel zu sprechen komme.

1 Vgl. B. Obrist, »Wind Diagrams and Medieval Cosmology«, in: Speculum, 72/1 (1997), S. 36.

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In den Schriften der Vorsokratiker sind Luft und Wind aufs engste miteinander verbunden. Für Anaximander von Milet (610-546 v. Chr.) ist der Wind bewegte Luft. Winde sind Luftströme, »ein Fließen der Luft, indem die feinsten und feuchtesten Teile in ihr von der Sonne in Bewegung gesetzt« werden.2 Der Wind entsteht aus der Feuchtigkeit der Erdoberf läche, die sich durch die Einwirkung der Sonnenwärme in Dunst verwandelt. Dieser sammelt sich an, steigt auf und bildet Wolken. Aus diesen lösen sich dann leichte und schwere Bestandteile ab. Die leichteren feinteiligen Partikel des Dunstes werden zu Luft und vereinigen sich zu Winden. Die schwereren führen zu Regen, womit die Feuchtigkeit wieder zur Erdoberf läche zurückkehrt. Die Bewegung der Luft wird nicht ausdrücklich als Fortbewegung bestimmt, sondern als ein Vorgang, bei dem der Dunst sich auf löst und zerf ließt. Die Luft ist nicht ein selbständiges Element, sondern stellt nur eine Phase eines umfassenden Umbildungsprozesses dar, der durch die Verdunstung von Wasser und die Feuchtigkeit der Erdoberf läche eingeleitet wird. Anaximander formuliert eine kosmo-meteorologische Theorie der Ausdünstung, welche die Entstehung der wichtigsten Meteore erklärt. Donner, Blitz und Stürme können alle auf die Einwirkung des Windes zurückgeführt werden.3 Was der Wind im Makrokosmos ist, ist der Atem im Mikrokosmos. Die Luft ist in diesem Sinne ein zweifacher Lebensprozess. Nach Anaximander ist die Luft seelenartig. Die Psyche ist ursprünglich ein Hauch und die Luft ist die Seele und das Lebensprinzip des Kosmos. Ein mehrdeutiges verwickeltes »Wind-Regiment«.4 Nach Anaximander entsteht der Kosmos aus der Trennung der miteinander kämpfenden Elemente, die der Reihe nach das meteorologische Geschehen beherrschen. So entsteht der Wind aus dem Kampf zwischen dem himmlischen Feuer und der Kälte der Erde. Auch die anderen meteorologischen Phänomene, wie der Blitz und der Donner, sind ein Überrest dieser primitiven Epoche der Unordnung. Für Anaximenes (585-525 v. Chr.) ist die Luft (aër)5 zwar das Unbestimmte, aber auch der Urstoff, der Urgrund des Seins und das oberste lebensspenden2 W. Capelle, Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte, Stuttgart 1968, S. 81. 3 Für die folgenden Überlegungen vgl. Parrochia, Météores. 4  G  . Böhme und H. Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 1996, S. 235. 5  L loyd weist darauf hin, dass es fünf Hauptbegriffe für Luft, Atem, und Wind gab: aer, aither, pneuma, phusa und anemos und eine Reihe von weiteren weniger gebräuchlichen Termini.

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de Prinzip. Wir nehmen die Luft wahr, wenn sie sich bewegt und zu agieren beginnt. Erst dann können wir sie fühlen oder hören und nennen sie Brise oder Wind. »Wenn die Luft ganz gleichmäßig verteilt« ist, ist sie unsichtbar. Sie offenbart »ihr Dasein durch Kälte und Wärme und durch Feuchtigkeit und Bewegung.«6 Die Luft ist ständig in Bewegung, denn das, was sich verändert, kann sich nicht verändern, wenn es sich selbst nicht stets bewegt. Die einzelnen Elemente befinden sich auf einem Kontinuum zwischen Verdünnung und Verdichtung. Wenn die Luft durch Erwärmung sich verdünnt, verwandelt sie sich in Feuer, und wenn sie sich durch Abkühlung verdichtet, wird sie zu Wind, der sich durch weitere Verdichtung in Wolken verwandelt. Diese wiederum verdichten sich zu Wasser, Erde und schließlich zu Stein. Luft und Wind bestehen aus demselben Material. Als verdichtete Luft ist der Wind zugleich das erste Stadium dieses Prozesses und der erste Grad der Verdichtung. In der Meteorologie distanziert sich Aristoteles (384-322 v. Chr.) von den Windtheorien der Vorsokratiker. Er trennt den Wind von der Luft, indem er diesen eine je andere materielle Ursache zuschreibt und zugleich die Existenz einer Pluralität von Winden postuliert. Im dreizehnten Abschnitt des ersten Buches der Meteorologie wird neben der Gleichsetzung von Wind und Luft auch das damit zusammenhängende Kontinuum der Verdünnung und Verdichtung in Frage gestellt: »Da gibt es die Behauptung einiger, die sogenannte Luft sei, bewegt und strömend, Wind, verdichtet aber sei dieselbe Luft Wolke und Wasser, denn Wasser und Wind seien von gleicher Natur, und der Wind sei bewegte Luft.« Dieses Kontinuum verleitet zur falschen Annahme, dass alle Winde einen einzigen Wind darstellten, »weil ja auch die bewegte Luft in ihrer Gesamtheit ein und dasselbe sei.«7 Obwohl als Neubeginn gedacht, ist Aristotelesʼ Meteorologie von fremden Einf lüssen und traditionellen Problemstellungen mitgeprägt. So werden zwar zu Beginn die Luft und der Wind prinzipiell voneinander getrennt, in der Folge aber wird die Luft als möglicher Ursprung des Windes genannt. »Wenn nun das Motiv wegfällt, das die Luft in Ruhe gebannt hielt, gerät sie wieder in Bewegung und der Wind erhebt sich […].«8 Es gab in der griechischen Kultur der Antike keinen Konsensus oder gar eine Orthodoxie im Gebrauch dieser unterschiedlichen Begriffe (G. Lloyd, »Pneuma between body and soul«, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 13 (2007), S. 136-138). 6 Capelle, Vorsokratiker, S. 93. 7 Aristoteles, Meteorologie – Über die Welt, Berlin 1970, S. 30. 8 Ebd., S. 68.

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Der griechische Philosoph und Naturforscher Theophrastos von Eresos (371-287 v. Chr.) versammelt in De ventis Erkenntnisse, die aus sorgfältig über die Jahre hinweg gesammelten Wetterbeobachtungen, eigenen Reiseerfahrungen und Erzählungen anderer Reisender stammen. Theophrastos’ Wissen erstreckt sich dabei aber vor allem auf das Gebiet Griechenlands. Seine Kenntnisse über Winde in anderen Regionen sind oft fragmentarisch und basieren auf Hörensagen und Mythen. Im Gegensatz zu Aristoteles’ deduktiver Methode ist sein Zugang stark empirisch ausgerichtet. Trotzdem setzt er sich nur bedingt von diesem ab. Obwohl Theophrastos’ Anemologie weitgehend auf Aristoteles’ Meteorologie beruht, definiert er den Wind als bewegte Luft, was eine Rückkehr zur Position der Vorsokratiker bedeutet: »Aber die Bewegung von Luft ist Wind.«9 Wichtig sind auch der Einbezug von Seebrisen und lokalen Winden und die Rückführung der horizontalen Bewegung der Winde auf das Wesen der Luft selbst. Diese jedoch ist »nicht selbstbewegend«10, sondern wird von Kälte und Wärme in Bewegung gesetzt. Für Lukrez (ca. 99-53 v. Chr.) ist Wind Luft in Bewegung, die Luft selbst ist bewegungslos.11 Die Beziehung von Luft und Wind ist ambivalent und in sich widersprüchlich. Sie sind zwar beide aus derselben Substanz gemacht, diese ist aber unterschiedlich angeordnet. Die Luft ist zudem eher stationär und verwandelt sich in Wind, erst wenn sie in Bewegung gesetzt wird. Dies ist zugleich der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Zuständen. Winde interagieren mit der umgebenden Luft durch Austausch von Partikeln. Der Wind absorbiert dabei die leichteren Partikel, was seine Disposition, Feuer zu fangen, verstärkt. Im Gegenzug nimmt die umgebende Luft die schwereren Partikel auf. Wenn Wind- und Feuerpartikel sich vermischen, entsteht eine sich schnell fortbewegende überhitzte Masse. Durch die Erregung der Luft beginnen sich die einzelnen Partikel zu bewegen und neu anzuordnen. Einige gehen dabei verloren und andere kommen hinzu. Die neue daraus hervorgehende Substanz ist der Wind. Obwohl Lukrez keinen Ursprung für die Erregung der Luft angibt, scheint er dieser eine eigenständige Bewegungskraft zuzusprechen. 9  Theophrastos, De Ventis, hg. von V. Countant und V. L. Eichenlaub, Notre Dame und London 1975, S. 29. 10 Ebd., S. 23. 11 Vgl. dazu N. Durant, The Importance of Wind and Air in Book 6 of Lucretius’ De Rerum Natura, 2012.

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Im dritten Buch von De rerum natura werden Wind und Luft voneinander getrennt. Der Verstand (animus) hat seinen Sitz in der Brust. Er ist die vorherrschende Komponente der Seele. Die zweite untergeordnete Komponente, der Geist (anima), ist im ganzen Körper verbreitet; er wird zwar vom Wind unterschieden, ist aber mit diesem verbunden. Lukrez verwendet für die Luft eine einzige Bezeichnung (aer), für den Wind aber drei verschiedene Begriffe: ventus, ein Wind, der aktiv in die natürlichen Prozesse eingreift, aura, eine Gruppe von Winden oder Brisen und anima. Der erste Begriff wird immer im Singular und der zweite nur im Plural auris, verwendet. Diese haben eine passive Rolle und fungieren als Medium, in dem sich bestimmte Prozesse abspielen. Der dritte Begriff, anima, hat vor allem mit dem Atem zu tun. Lukrez verwendet ihn aber auch im Zusammenhang mit Erdbeben, was auf die Verbindung von Körper und Welt hinweist. Anima und ventus sind verschieden, weil sie eine unterschiedliche Herkunft haben, sie sind aber zugleich verwandt, weil ihre Haupteigenschaften, impetus (Ungestüm) und vis (Kraft), dieselben sind. So spricht Lukrez von impetus animi und dem vergleichbaren vis venti. Obwohl anima in der Regel Wind und nicht Luft bedeutet, wird der Begriff in einer Passage über Erdbeben mit der Luft gleichgesetzt. Zugleich bezeichnet anima einen spezifischen Wind, der sich in einem geschlossenen Raum herausbildet, in Analogie zum Atem, der im Inneren des Körpers zirkuliert. Lukrez’ zögerliche inkonsequente Terminologie zu Luft und Wind einerseits und zu Wind und Atem andererseits ist ein Zeugnis der Abgrenzungsschwierigkeiten im Bereich der Meteore. Die meisten Naturereignisse, die im sechsten Buch von De rerum natura dargestellt werden, haben mit dem Wind zu tun. Wie Aristoteles beschreibt Lukrez den Wind dabei meist in der Pluralform. Die unterschiedlichen Begriffe für den Wind heben dessen zentrale Eigenschaften hervor: die Bewegung, den energischen gewalttätigen Charakter (validi venti) und die zerstörerische Wucht (vis venti). Die Winde sind oft wild, stürmisch (pentulantibus auris, 6.111) und kämpfen miteinander (aetheriae nubes contra pugnantibus ventis, 6.98). Die sich raufenden Winde treiben die Wolken zusammen und diese kollidieren geräuschvoll wie Wellen, die am Strand zerschellen. Die vom Wind zerfetzten Segel klingen wie zerrissene Seile. Eine der wichtigsten Eigenschaften der Winde ist die Bewegtheit, die mit der allgemeinen Erregung der Atome verwandt ist. Diese ist zugleich die Ursache jeder Bewegung in der physischen Welt. So könnte man den Wind auch als eine Veranschaulichung und zugleich eine Potenzierung dieses Grundprinzips verstehen.

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Die Windatome kollidieren heftig mit den anderen Körpern, sie prallen auf die Wolken und die Erdoberf läche. Lukrez verwendet dafür Worte, die das Gewalttätige und Zerstörerische hervorheben: impetus (Antrieb, Schub), ictus (Schlag, Stoß), plaga (Hieb, Streich), incidere (überfallen, angreifen), premere (drücken, durchbohren), erumpere (hervorstürmen, ausbrechen). Die stürmische Gewalt der Winde ist vor allem auf deren Geschwindigkeit zurückzuführen. Dabei wehen die Winde in der Himmelsregion mit deutlich mehr Vehemenz als diejenigen an der Erdoberf läche. Dennoch richten sie auch hier große Verwüstungen an. Schon in der ersten Erwähnung wird der Wind auf seine Geschwindigkeit und zerstörerische Gewalt reduziert, die selbst große Bäume mitsamt den Wurzeln ausreißt und niedermäht: rapido pecurrens turbine campos arboribus magnis sternit (1.273-4). Winde, die in engen Räumen eingesperrt sind, steigern ihre Wut und Kraft ins Unermessliche. Selbst an einer Stelle, an welcher der Wind als gemächliche Brise dargestellt wird (6.215-6), erweist er sich letztlich als Zerstörer. In Naturalis historia bestimmt Plinius die Luft als Lebenshauch, der den gesamten leeren Raum in der unteren Region des Himmels einnimmt. »Unterhalb des Mondes ist ihr Sitz, und noch viel tiefer.« Sie entsteht, »indem sich eine unendliche Menge der obern Luft mit einer unendlichen Menge irdischer Ausdünstungen mischt […] Daraus entstehen Wolken, Donner und Blitz, Hagel, Reif, Regen, Stürme und Wirbel. Von da herab kommen die meisten Übel der Menschen, und dort ist der Schauplatz des Kampfes der Naturkräfte unter sich.« Plinius räumt ein, dass man den Wind als »ein Strömen der Luft« verstehen kann, an einer anderen Stelle aber trennt er den Wind von der simplen Bewegung der Luft. Der Luftstrom ist kontinuierlich und allgegenwärtig, Winde aber entstehen nur in gewissen Zonen und zu gewissen Zeiten. »Zwischen dem Luftstrome und dem Winde findet ein bedeutender Unterschied statt. Jener wehet beständig und fühlbar, und zieht sich nicht bloß über einzelne Striche, sondern über ganze Länder hin. Er ist weder eine milde Luft noch ein Sturmwind [und] wird entweder durch den beständigen Lauf der Welt und den Gegenlauf der Sterne erzeugt oder er ist jener, allen Naturwesen gemeinsame, bald hier bald dorthin wie in einem Schlauche herumschweifende Hauch; oder er ist die, durch den ungleichen Stoß der Planeten und den vielfältigen Wurf der Strahlen gepeitschte Luft; oder er entsteht aus besondern, den Sonnenstrahlen näheren Sternen, oder aber aus den Fixster-

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nen. So viel ist gewiss, dass jenem Strome ein nicht unbekanntes, wenn auch noch nicht genugsam erforschtes Naturgesetz zum Grunde liegt.«12 Der Unterschied von Luft und Wind spielt auch bei Bacon und Descartes eine wichtige Rolle. Wie Bacon festhält, ist die eigentliche Natur der Winde verborgen und geheim, genauso wie die Natur und Kraft der Luft, die durch die Winde verwaltet wird: »the nature and power of the air, which the winds administer to and wait upon […] remain absolutely unknown.«13 Die Darstellung des Verhältnisses von Luft und Wind bleibt daher durchgehend ambivalent und stellenweise widersprüchlich. Da beide bewegt sind und stets ineinanderf ließen, ist es nicht möglich, eine deutliche terminologische Grenze zu ziehen. Der Wind ist selbstbewegte Luft: »every impulse of the air makes a wind.«14 Er geht aus den Veränderungen der Luft hervor: »inequality of air is the beginning of wind.«15 So entsteht Wind, wenn die Luft erwärmt wird und sich ausdehnt, oder wenn diese sich abkühlt und zusammenzieht. Die Luft ist zwar aus sich heraus bewegt, muss dadurch aber nicht immer automatisch zu Wind werden. Bacon spricht von der »genuine motion of the air itself«16 als einer wellenförmigen Bewegung. Die Luft gerät nicht nur durch einen einfachen Impuls, sondern auch durch Vermischung von Dämpfen in Bewegung und kann an den allgemeinen Himmelsbewegungen teilnehmen. Die Winde können ihr darin folgen oder sich ihr entgegenstellen. Bacon nennt es ein »agreement or disagreement with the Natural motion of air.«17 Der Wind kann aber auch die Luft vor sich hertreiben oder diese sogar gegen sich selbst wenden. Descartes’ Bestimmung des Verhältnisses von Luft und Wind steht im Zeichen der empirischen Beobachtung. Die Perspektive verschiebt sich vom Stoff lichen im aristotelischen Sinne zur Sinneswahrnehmung, von der Frage nach der substanziellen Beschaffenheit von Luft und Wind zur Frage nach der Art und Weise, wie man den Wind wahrnimmt. Die Bewegung spielt nach wie vor eine zentrale Rolle. Im französischen Original von Die 12 Plinius der Ältere, Naturalis historia, Die Naturgeschichte des Gaius Plinius Secundus, S. 160-161. 13 Bacon, History of Winds, S. 2. 14 Ebd., S. 63. 15 Ebd., S. 36. 16 Ebd., S. 6. 17  Ebd., S. 45.

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Meteore bestimmt Descartes das Verhältnis von Luft und Wind folgendermaßen: »Toute agitation d’air qui est sensible se nomme vent, et tout corps invisible et impalpable se nomme air [Hervorhebung d. A.].«18 Jede erkennbare Erregung der Luft nennt man Wind und jeden unsichtbaren und ungreif baren Körper Luft. Das französische sensible, von lateinisch sensibilis, wird als Fähigkeit definiert, sinnliche Eindrücke wahrzunehmen. Impalpable, von lateinisch impalpabilis, ›ungreif bar‹, betont vor allem das Taktile. Etwas ist zu substanzlos, um durch Berührung wahrgenommen zu werden. Zwei unterschiedliche Übersetzungen ins Deutsche sollen hier dazu dienen, Descartes’ Unterscheidung von Luft und Wind weiter zu präzisieren. In der ersten ist der Wind eine »fühlbare Bewegung der Luft«19, in der zweiten eine »wahrnehmbare Erregung der Luft [Hervorhebung d. A.].«20 Das sinnlich konnotierte ›Erregung‹, das der Luft die Fähigkeit zur Eigenbewegung attestiert, ist eine eindeutig bessere Wahl als das unspezifischere ›Bewegung‹. ›Erregung‹ fängt zudem Descartes’ Vorstellung der sich hin und her bewegenden Partikel, aus denen die Luft besteht, ein. Die Luft ist ein unsichtbarer und unberührbarer Körper, der erst dann wahrnehmbar wird, wenn er in Bewegung gerät. Das Adjektiv ›fühlbar‹ engt das Spektrum der Wahrnehmung ein und leitet vom Sinnlichen weg. Die in diesem Abschnitt behandelten Autoren zeugen davon, dass das Verhältnis von Luft und Wind innerhalb der europäischen Windtheorien von zentraler Bedeutung war. Man kann sowohl von einem grundsätzlichen Unterschied wie von einer partiellen Identität ausgehen, die ein Kontinuum zwischen den beiden Phänomenen voraussetzt. Der Übergang von Luft zu Wind hat mit dem Wesen des Windes selbst zu tun. Winde sind unlösbar von der Luft selbst dann, wenn ein klarer Unterschied zwischen ihnen postuliert wird.

18 R. Descartes, Discours de la méthode. Suivi de la dioptrique, les météores et la géométrie, Paris 1987, S. 243. 19  Zitiert in Zittel, Schneekristalle, S. 135. 20  Descartes, Meteore, S. 225.

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Die Winde und ihr Verhältnis in der griechischen und römischen Antike Die Vorsokratiker gingen davon aus, dass es nur einen Wind gab, der mit der Luft identisch war. Aristoteles trennte den Wind von der Luft und löste die Vorstellung der Einheitlichkeit im Sinne einer Pluralität auf. Wenn man von einer Mehrzahl von Winden ausgeht, stellt sich aber die Frage, für wie viele man sich entscheidet, in welches System man sie einordnet und wie sich die verschiedenen Winde in Raum und Zeit zueinander verhalten. Denn Winde tendieren dazu, zahlenmäßig zu proliferieren. Wie konnte man also deren Anzahl begrenzen und zugleich jedem Wind seinen eigenen Platz zuweisen? Ein zentrales Ordnungsschema war der Kreis der Windrose, in den die einzelnen mit Namen versehenen personifizierten Winde eingeschlossen waren und ihren eigenen angestammten Platz fanden. In den kreisförmigen Winddiagrammen der Antike und des Mittelalters standen die Winde sich direkt gegenüber, was auch ihr Verhältnis zueinander bestimmte. In einigen Fällen standen sich auch Windpaare gegenüber. In anderen Entwürfen wiederum wurde von vier Kardinalwinden ausgegangen, die den vier zentralen Himmelsrichtungen entsprachen. Älter als alle Windsysteme war allerdings ein antithetisches Zweierschema, das Winde in günstig und ungünstig aufteilte. In all diesen Klassifikationsverfahren ist die Spannung zwischen Vervielfältigung und Begrenzung zentral. Potenziell kann es mindestens genauso viele Winde wie Grade auf der Windrose geben. Aber neben diesen 360 möglichen Winden kann es noch zahlreiche andere geben. Das ungelöste Problem einer endlosen Proliferation der Winde hat deshalb zu verschiedenen theoretischen Strategien geführt, bei denen Bündelung, Reduktion und Hierarchisierung im Vordergrund standen. Die vier Hauptwinde, die den vier Himmelsrichtungen entsprachen, wurden zum Beispiel auf zwei komplementäre Paare reduziert. Den vier Hauptwinden wurden acht Nebenwinde zur Seite gestellt, die ihrerseits zu vier Paaren gebündelt wurden. Die Hauptwinde besaßen größere Regelmäßigkeit als die Nebenwinde und standen daher in der Windhierarchie an erster Stelle. Ihre Aufgabe war es, die unregelmäßigeren anarchischen Winde zu kontrollieren. Diese Überlegungen sind von zentraler Bedeutung für die mittelalterlichen Winddiagramme, auf die ich im nächsten Kapitel näher eingehe. Aristoteles strebt nicht nur eine eindeutige räumliche, sondern auch eine klare zeitliche Zuordnung der Winde an. Die Winde, die regelmäßig

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zu gewissen Jahreszeiten wehen, werden den in jahreszeitlichen Übergängen wehenden Winde gegenübergestellt, die in Analogie zu ihrem zeitlichen Erscheinen durch unbeständiges Wetter gekennzeichnet sind. Übergänge tendieren zur Hybridität. In Aristoteles’ Windrose stehen sich die einzelnen in komplementären Gegensatzpaaren angeordneten Winde direkt gegenüber. Die angestrebte Regelmäßigkeit und Symmetrie sind aber unvollständig. So werden neben den acht traditionellen Winden noch zwei weitere in der nördlichen Hemisphäre erwähnt, denen kein Gegenwind in der südlichen Hemisphäre entspricht. Von zentraler Bedeutung ist darüber hinaus der Unterschied zwischen Nord- und Südwinden. Die kälteren westlichen Winde werden dem Norden (Boreas) zugeordnet und die wärmeren östlichen dem Süden (Notos). Die komplementäre räumliche Positionierung wird direkt auf die zeitliche Frequenz der einzelnen Winde bezogen. In entgegensetzten Jahreszeiten wehen in der Regel entgegengesetzte Winde. Einander direkt entgegengesetzte Winde können nicht gleichzeitig wehen, da der eine den anderen unweigerlich überwältigen würde und dieser sein Wehen einstellen müsste. Deshalb wehen sie abwechselnd und nacheinander. Gleichzeitig wehende Winde hingegen blasen in dieselbe Richtung, was dazu führt, dass ein Schiff früher an sein Ziel gelangt. Wenn Winde sich in die Quere kommen, entstehen Sturmböen. Dies ist aber eher die Ausnahme. Die wohlgeordnete Regelmäßigkeit überwiegt. In ihren Wirkungen sind die sich gegenüberstehenden Winde entweder gleich oder entgegengesetzt. »Hört ein Wind auf, so kommt die Reihe an den zunächst anschließenden, in der Richtung der Sonnenbewegung; denn was dem Ursprung zunächst liegt, kommt als erstes in Bewegung; der Ursprung der Winde aber macht die Bewegung der Sonne mit.«21 Nicht nur die Bewegung der Winde wird somit von der Sonnenbahn bestimmt, sondern auch deren Abfolge. Theophrastos lehnt die unitäre Luftmeer-Vorstellung der Vorsokratiker ab und geht wie Aristoteles von einer Mehrzahl unterschiedlicher Winde aus mit klar erkennbaren individuellen Merkmalen und Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen und deren Gesundheitszustand. Alles, was im Himmel, in der Luft, auf dem Land und auf dem Meer passiert, ist von den Winden abhängig. Die einzelnen Winde werden voneinander abgegrenzt und lösen sich aufgrund eines geordneten Planes ab. Jeder Wind hat seine individuellen Eigenschaften und seinen eigenen Platz in der Natur. Die zwei 21 Aristoteles, Meteorologie, S. 62.

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wesentlichen Beschreibungskriterien sind dabei die Kraft eines Windes und dessen Temperatur. Winde sind stürmisch oder ruhig, werden von regnerischem oder schönem Wetter begleitet, sind regelmäßig oder unregelmäßig sowie kontinuierlich oder diskontinuierlich. Winde, die in vergleichbaren Gebieten entstehen, sind einander ähnlich. Die Eigenschaften eines Windes hängen auch von der Distanz ab, die ihn von seinem Herkunftsort trennt. Je näher er seinem Ursprung ist, desto mehr Kraft besitzt er. Wenn ein Wind einen anderen parallelen in sich aufnimmt, wird er stärker. Ein Wind kann sich erschöpfen und von einem Gegenwind abgelöst werden. Winde können auch miteinander in Konf likt geraten, kollidieren und große Wellen hervorrufen, die in einen Sturm übergehen. Winde, die gegeneinander wehen, kämpfen um die Vorherrschaft. Dies ist besonders dann der Fall, wenn diese Winde sich noch nicht ausgeblasen haben. Dies führt dann meistens zu einem Sturm. Es gibt Eigenschaften, die allen Winden gemeinsam sind und Winde, die keinen fixen Charakter haben. Wie schon bei Aristoteles sind die Eigenschaften von Winden in saisonalen Übergängen oft ungewiss, weil sie die Charakteristika der endenden und der neu beginnenden Jahreszeit in sich vereinen, was dazu führt, dass sie besonders unregelmäßig, instabil und turbulent sind. Die Eigenschaften jedes einzelnen Windes hängen von seiner Natur und Position ab, d.h. von den Gebieten, über die sie hinweggleiten, auf die sie hinströmen oder aber von denen sie ihren Ursprung nehmen. Im fünften Buch der Naturales quaestiones beschäftigt sich Seneca mit der Einteilung unterschiedlicher Winde. Er erstellt dazu eine narrative Reihenfolge, die auf dem Tagesablauf beruht und vom frühen Morgen bis zum frühen Nachmittag reicht. Die Entwicklung verläuft in einem steten Crescendo von kurzen und sanften Brisen, die sich vor der Morgendämmerung herausbilden, über Morgen- und Mittagswinde, hin zu zerstörerischen unkontrollierbaren Wirbelwinden. Diese im Zeichen einer Opposition von Regelmäßigkeit und Unregelmäßigkeit stehende Perspektive, die vom Sanften, Geordneten zum Unkontrollierbaren und Zerstörerischen führt, hat innerhalb des westlichen Weiterwissens Tradition. So findet man sie z. B. in den Windskalen wieder, aber auch in vielen anderen Windklassifikationen, die davon ausgehen, dass die prekäre Ordnung der Winde stets durch ein anarchisches Moment bedroht wird. Bei seiner Klassifikation der Winde bezieht sich Seneca auf das Werk des römischen Autors Marcus Terentius Varro. Seneca beginnt mit den vier tra-

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ditionellen Winden, die den vier geographischen Richtungen entsprechen und unterteilt die vier Himmelsgegenden in jeweils drei Sektoren. Jedem der vier Kardinalwinde werden zwei Nebenwinde zugeordnet, ein Modell, dem man auch in mittelalterlichen Winddiagrammen begegnet. Dadurch ist der zahlenmäßigen Proliferation, die solche Klassifikationsversuche unweigerlich begleiten und bedrohen, ein Riegel vorgeschoben. Es ist ein Systematisierungsversuch, der wie Gareth Williams festhält, einer »clinical division of the skies into twelve zones«22 gleichkommt. Es geht darum das, was tendenziell ineinanderf ließt, zu zerschneiden und auseinanderzudividieren. Seneca hat die problematische theoretische Spannung, die aus einer unbegrenzten ungeordneten Anzahl von Winden hervorgeht, direkt angesprochen. Jede Klassifikation schwankt zwischen Vervielfältigung und Reduktion, einer unbegrenzten und einer überschaubaren Anzahl von möglichen Winden. »Ich fände kein Ende, wollte ich diese Einzelwinde alle aufzählen, gibt es doch kaum eine Gegend, die nicht einen Windhauch hat, der in ihr entsteht und bei ihr vergeht.«23 Seneca verwendet zwei Metaphern aus dem Umfeld der römischen Kultur, die der Vermehrung der Winde eine obere Grenze setzen und ein Moment der Hierarchisierung einführen. Nicht zu verleugnen ist dabei auch der imperiale vereinnahmende Gestus, der die Winde des Mittelmeerraumes in die Logik der lateinischen Kultur überführt. Die erste Metapher stammt aus der Grammatik. Latein besitzt insgesamt sechs Deklinationsfälle. Nicht jedes Substantiv muss alle sechs Fälle aufweisen, aber keines kann insgesamt mehr als sechs Fälle haben. So nimmt man an, »es seien zwölf Winde, nicht als ob es überall so viele gäbe […], sondern weil es nirgendwo mehr gibt.«24 Williams sieht in der Begrenzungs- und Eindämmungsmetapher auch einen Versuch, die Eigenständigkeit der römischen Kultur gegenüber der griechischen hervorzuheben. »The analogy is of interest not least because it implies the ownership and rationalization of ›our‹ winds on the model of ›our‹ language, that foundation of our self-identity; and the emphasis on Roman identity is already signalled when Seneca assigns two subpraefectos to each cardinal wind […], as if those 22 G. Williams, »Seneca on Winds: The Art of Anemology in Natural Questions«, in: American Journal of Philology 126 (2005), S. 445. 23  S eneca, Naturales quaestiones, Naturwissenschaftliche Untersuchungen, Lateinisch/ Deutsch, übers. v. Otto und Eva Schönberger, Stuttgart 1998, S. 311 und 313. 24 Ebd., S. 309.

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auxiliary winds are extended components of the Roman bureaucracy.«25 Die zweite hierarchisierende Metapher, die zwischen befehlenden Haupt- und gehorchenden Unterwinden unterscheidet26, liegt auch den mittelalterlichen Winddiagrammen zugrunde. Die Wahl der politischen Verwaltungsmetapher hat aber noch weitere Implikationen. Der römische Präfekt leitet den ihm untergeordneten Bereich und gebietet dem Subpräfekten wie die Hauptwinde den Nebenwinden. Dadurch wird das Verhalten der Winde einem kulturellen und politischen System unterworfen, das auf territorialer Aufteilung und Hierarchie beruht. In der Naturalis historia, die um 77 n. Chr. entstand und aus insgesamt 37 Büchern besteht, beschäftigt sich Plinius der Ältere (ca. 23-79 n. Chr.) ebenfalls mit dem Problem der Vielzahl der Winde. Er beklagt die viel zu hohe Anzahl und die zahlreichen unterschiedlichen Namen der Winde. Traditionell wurden vier Winde bestimmt. »Das folgende Zeitalter fügte mit allzu großer Genauigkeit und Zersplitterung, noch acht hinzu. Die folgenden wählten das Mittel zwischen beiden, indem sie zu der kleineren Eintheilung noch vier von der größern setzten. Dadurch kommen also je zwei auf die vier Himmelsgegenden.« Aber »das genügte noch nicht. Einige setzten nämlich zwischen dem Boreas und Cecias den Nordostnord, und zwischen den Eurus und Notus den Südostsüd.« Einige Winde »sind nur gewissen Ländern eigenthümlich, und gehen nicht über einen bestimmten Strich hinaus […]. Überhaupt haben dieselben Winde an verschiedenen Orten verschiedene Namen.«27 Dem steht aber ein Naturgesetz gegenüber, wonach auch den Winden Zeit und Grenzen gesetzt sind. Das meteorologische Wissen der Antike zur Anzahl der Winde und deren Verhältnis zueinander wirkte bis in die Frühe Neuzeit hinein.

25 Williams, Seneca on Winds, S. 433-434. 26 In der deutschen Übersetzung geht dieses wichtige Detail verloren, ist doch dort die Rede von zwei »Unterwinde[n]« (Seneca, Naturales quaestiones, S. 307). 27 Plinius, Naturgeschichte, S. 161-162.

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Windarten Francis Bacons The Natural and Experimental History of the Winds28 ist die erste umfassende Studie zum Wind seit der Antike. Sie verbindet folkloristische Anekdoten mit handwerklichem Wissen, empirische Erfahrungsberichte und Gelehrsamkeit. Der Versuch einer Systematik wird immer wieder von Einschüben und Exkursen durchkreuzt. Unzusammenhängende Notizen folgen auf Anekdotisches und Empirisches verschiedensten Ursprungs. Bacon widmete dem Studium der Windtheorien nur einen Monat, und war sich auch bewusst, dass er keine befriedigende Antwort auf die Frage nach den Ursachen des Windes gefunden hatte. Wie Descartes ging es ihm vor allem darum, anhand des Windes seine neue Untersuchungsmethode vorzuführen. Das Buch besteht aus siebzehn Abschnitten, die insgesamt dreiunddreißig Fragen zum Wind behandeln. Auf die Namen der wichtigsten Winde folgen deren wichtigste Eigenschaften sowie deren Herkunft und Entstehungsgrund. Dabei werden auch außergewöhnliche und zufällige Winde sowie plötzliche Windstöße behandelt. Danach geht es um die räumlichen und zeitlichen Grenzen von Winden, deren Höhe, Ausdehnung und Dauer, deren jähes oder allmähliches Ein- und Aussetzen, deren Abfolge – »what order they dance in«29 –, deren unterschiedliche Bewegungsformen und Kraft. Weiterhin beschäftigt sich Bacon mit der Art und Weise, wie die Winde Ebbe und Flut und die Meeresströmungen beeinf lussen, und der Rolle, die sie bei der Verbreitung von Seuchen und Krankheiten spielen. Ein großer Teil des Buches beschäftigt sich mit Segelschiffen und der Frage, wie man den Wind erfolgreich nutzen kann. Die letzten Abschnitte beschäftigen sich mit Vorzeichen und Voraussagen, die mit dem Auftreten von Winden zusammenhängen und mit unterschiedlichen natürlichen und künstlichen Formen der Windnachahmung, wie der Atem und der Blasebalg. Bacon geht es hier mitunter auch um eine Kritik des Wetteraberglaubens. Sein Projekt steht damit in einer Linie mit Lukrez und Descartes, die ebenfalls eine radikale Säkularisierung des Himmels anstreben. Die für die Antike und das Mittelalter, aber auch für viele außereuropäischen Kulturen zentrale Verbindung von Atem

28  V  gl. V. Janković, Reading the Skies. A Cultural History of English Weather, 1650-1820, Manchester University Press, Manchester 2000, S. 44-47. 29 Bacon, History of the Winds, S. 12.

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und Wind, menschlichem Leib und Weltkörper hat hier seine Bedeutung weitgehend eingebüßt. Winde werden vor allem aus der Perspektive ihrer Kontrollierbarkeit und Nutzbarkeit untersucht, sie treiben die Schiffe auf den Meeren an, ermöglichen den weltweiten Geschäftsverkehr und bewegen die Räder der Windmühlen. Sie sorgen dafür, dass die Erde gesäubert und die Luft gereinigt wird. Utilitaristische Anwendungen des Windes stehen daher auch am Anfang einer den Text beschließenden Liste für zukünftige Bestrebungen: Wie kann man die Segel eines Schiffes so ausrichten, dass mit weniger Wind längere Reisen möglich werden? Wie kann man Windmühlen dazu bringen, mit weniger Wind mehr Korn zu mahlen? Wie kann man das Verhalten von Winden besser voraussagen und dieses Wissen für die Schifffahrt, Entdeckungsreisen und den Seekrieg nutzen? Wie viele Autoren vor und nach ihm bestimmt er vier Windarten auf einem Kontinuum, das von Regelmäßigkeit und Voraussehbarkeit zu Unregelmäßigkeit und Unvorhersehbarkeit übergeht: Die general winds wehen immer, die precise, fixed oder stated winds hingegen sind periodisch und wehen nur zu gewissen Jahres- oder Tageszeiten, wie die Gezeiten des Meeres. Darüber hinaus gibt es noch die peculiar, attending oder serving winds, wie zum Beispiel Frühlings- und Sommerwinde sowie Winde, die vom Land zum Meer hin oder umgekehrt wehen, und schließlich die free winds, die jederzeit und von überall her wehen können. Es folgen Betrachtungen zu den verschiedenen Attributen der Winde, die Bacon in kontrastiven Paaren einfängt. Neben der ersten Einteilung der Winde in vier Arten aufgrund ihrer Frequenz und Regelmäßigkeit bestimmt Bacon zweiunddreißig unterschiedliche Winde, die er an ebenso vielen geographischen Positionen festmacht. Neben den vier cardinal und semicardinal winds, dem Nord-, Süd-, Ost- und Westwind, bzw. denen, die sich dazwischen befinden, unterscheidet er noch median, major median, und lesser median winds. Tatsächlich wehen Winde von überall her und die Unterteilung könnte endlos weitergeführt werden. »There is no point of the heavens, but a wind may blow from it; so that if the heavens were divided into as many points as there are degrees in the horizon, there will, one time or other, be found winds blowing from each.«30 Da Winde unterschiedliche Herkunft haben, können sie sich manchmal in die Quere kommen. Dabei können die stärkeren die schwächeren überwältigen oder in sich auf30 Ebd., S. 22.

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nehmen. »Winds blow from the quarters of their nurseries: and when these nurseries are differently seated, different winds generally blow together; but the stronger either subdues the weaker or turns it into its own current.«31 Descartes verwendet zwar keine Eigennamen mehr für die einzelnen Winde, geht aber wie die anderen hier behandelten Autoren von zwei komplementären Paaren aus, den Ost- und Westwinden und den Nord- und Südwinden. Wie Bacon unterscheidet er prinzipiell zwischen allgemeinen und besonderen Winden. Die allgemeinen, regelmäßigen Hauptwinde unterscheiden sich von den besonderen Winden durch ihre beschränkte Anzahl, ihre Regelmäßigkeit und Voraussagbarkeit. Die Unregelmäßigkeit und Vielzahl der besonderen Winde macht es besonders schwierig, ihr Verhalten vorauszusagen. Dies hat auch mit der Beschaffenheit der Gegenden zu tun, über welche die Winde hinwegstreifen. Die landschaftlichen Eigenschaften der unterschiedlichen Gegenden der Erde beeinf lussen die Entstehung von Meteoren. Auf hoher See erreicht man dagegen mehr Genauigkeit, weil die f lache Oberf läche des Wassers keinerlei Unregelmäßigkeiten aufweist und die Winde daher weniger unregelmäßig sind. Die meisten plötzlichen Veränderungen der Luft hängen von den Winden ab. Wenn sich Wolken übereinanderstapeln, ist die Einwirkung der Sonne auf die Erzeugung von Dämpfen sehr unterschiedlich. »Das führt dazu, daß die besonderen Winde an einem bestimmten Tag und in einer bestimmten Gegend fast unmöglich vorherzusehen sind; wobei es oft sogar mehrere entgegengesetzte Winde gibt, die übereinander verlaufen.«32 Die einzelnen Winde gehen sich aus dem Weg. Stärkere Winde zwingen dabei meist schwächere dazu, in die unteren Regionen der Atmosphäre auszuweichen. Konträre Winde vermischen sich nicht. Dennoch kann »sehr wohl im Allgemeinen bestimmen, welche Winde die häufigsten und stärksten sind und an welchen Orten und zu welchen Jahreszeiten sie herrschen müssen, wenn man exakt auf alles achtet, was hier erwähnt worden ist.«33

31 Ebd., S. 120-121. 32  Descartes, Metore, S. 235. 33  Ebd., S. 235-236.

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Windsysteme Für Lamarck ist der Wind prinzipiell eine Luftströmung (courant d’air), eine Bewegung der Luft (mouvement de l’air). In seinen Schriften wird das Verhältnis von Luft und Wind nicht thematisiert. Im Vordergrund stehen die unterschiedlichen Winde und ihr Verhältnis zueinander. Dies kann als eine theoretische Verschiebung gedeutet werden, die auf die spätere Vorstellung eines globalen Windzirkulationssystems hindeutet. Die zentrale Bedeutung der Winde für das Wetter ist, so Lamarck, bisher zu Gunsten anderer Komponenten vernachlässigt worden. Von allen Meteoren aber ist der Wind gerade derjenige, der am meisten Aufmerksamkeit verdient hat, auch weil es der beste Weg ist, um die anderen Meteoren und ihr Verhalten besser zu verstehen. Wichtige Aspekte sind dabei die jeweilige Art eines Windes, seine Richtung und Stärke und sein Verhältnis zu anderen Winden. Windveränderungen beeinf lussen den Himmelszustand, die Meteore, die sich in einem bestimmten Teil der Atmosphäre zu einem bestimmten Zeitpunkt herausbilden sowie die Luftdurchsichtigkeit, die Lufttemperatur und die Luftsättigung, die atmosphärische Dichte und Elastizität und der Grad an Luftfeuchtigkeit oder -trockenheit. Die entscheidende Rolle des Windes als Wettermacher hängt mit der schon erwähnten Vorstellung eines Idealzustandes zusammen, der durch ein atmosphärisches Gleichgewicht und die Durchsichtigkeit des Himmels charakterisiert ist. Schönes Wetter und schlechtes Wetter sind dabei direkt mit dem Einf luss der Sonne und des Mondes verbunden. Die Winde, der Dunst und die Wolken stören das Gleichgewicht und die idealen Proportionen des transparenten Himmels. »Wenn die Transparenz der Atmosphäre immer perfekt wäre und wenn keine Art von Wind dazu führen würde, dass sie gestört wird, dann wären die Auswirkungen des direkten Sonnenlichts auf die Oberf läche des Globus regelmäßig und immer proportional zu den Klimazonen […] ohne irgendeiner Art von Änderung unterworfen zu sein.«34 Das windbedingte Wetter wird somit weitgehend als Abweichung bestimmt, als Störung der direkten Auswirkung der Sonnenstrahlen auf die Erdoberf läche. Die bisher betriebenen Windbeobachtungen waren meist unvollkommen und wurden nur mit Wetterfahnen oder Anemometern vorgenommen. Damit sammelte man praktisch nur Informationen zur Richtung der Winde, 34 Lamarck, Annuaire Météorologique pour l’an XI, S. 102-103.

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die in der tieferen Atmosphärenschicht wehen. Man muss jedoch auch die unterschiedlichen Bewegungen der Wolken über mehrere Tage hinweg und in den verschiedenen Schichten der Atmosphäre beobachten. Im Gegensatz zur heutigen Meteorologie geht Lamarck noch davon aus, dass sich Winde nur in der Region der Meteore, d.h. im unteren Teil der Atmosphäre herausbilden. Die oberste Schicht der Region der Meteore ist durch ewige Ruhe und einen stationären Zustand charakterisiert. In der mittleren Schicht kann man verschiedene Verschiebungen feststellen, was zu Temperaturvariationen, Veränderungen des Sättigungsgrades und häufiger Herausbildung und Auf lösung von Wolken führt. In der unteren Schicht, die häufig von verschiedenen Winden bewegt wird, findet man auch die stärksten Winde. Dem widerspricht das Phänomen der Jetstreams, die meist im Bereich der oberen Troposphäre bis zur Tropopause auftreten. Diese atmosphärischen Windbänder erreichen Geschwindigkeiten von bis zu 540 km/h. Lamarck postuliert bei Gleichheit der Bedingungen und Umstände auch Gleichheit der Effekte, d.h. er geht von linearen Beziehungen aus, wie schon vor ihm Descartes. Ein bestimmter Wind, an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit, mit einem bestimmten Charakter verursacht konstant denselben Zustand. Dadurch kann man Voraussagungen wagen. Für jede Region der Erde soll deshalb eine lokale statistisch fundierte Meteorologie erarbeitet werden, die nur auf genauen empirischen Beobachtungen beruht und die Abfolge der Winde im Laufe des Jahres, deren jeweilige Stärke und das Vorkommen damit zusammenhängender weiterer Meteore untersucht. Eine statistique terrestre ohne eine météorologie statistique wäre wie ein Körper ohne Seele. Im Gegensatz zur meteorologischen Tradition, die die einzelnen Winde in ihrer getrennten, ungemischten Form studierte und vor allem auf die geographische Herkunft fixiert war, betont Lamarck die Existenz von einfachen, gemischten oder zusammengesetzten Winden sowie von zweifachen und manchmal sogar dreifachen Winden, die sich allesamt ineinander verwandeln können. So kann ein einfacher Wind sich in einen anderen einfachen Wind oder einen gemischten Wind verwandeln, und dieser wiederum kann sich in einen einfachen Wind zurückverwandeln. Verschiedene Winde wehen durcheinander, zur gleichen Zeit, am selben Ort, aber auch in unterschiedlichen Luftschichten, was man an der Bewegung der Wolken ablesen kann. Bei gemischten gleichzeitig wehender Winde kann es zu einer Inversion der Windrichtung kommen.

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Trotz dieser Vorstellung interagierender und sich ineinander verwandelnder Winde folgt Lamarcks Windklassifizierung einer Logik der Komplementarität. Das Wetter ändert sich je nachdem, welcher Wind in der oberen oder tieferen Schicht der Atmosphäre weht. Wenn in der oberen Schicht ein vent méridional vorherrscht und in der unteren ein vent boréal, kommt es zu Regen und einem undurchsichtigen Himmel. Wenn sich die Situation umkehrt und in der oberen Schicht ein vent boréal und in der unteren ein vent méridional weht, kann man mit klarem Himmel und schönem Wetter rechnen.35 Ein einfacher vent boréal führt meist zur Transparenz zurück. Die vents méridionaux wehen von Südwesten und Südosten oder von Westen her und führen zu einem bedeckten wolkigen Himmel, mehr oder weniger großer Luftfeuchtigkeit, Regen, manchmal Schnee und einer Mischung aus schönen und passablen Tagen, obwohl das schlechte bis ungewisse Wetter überwiegt. Die vents boréaux hingegen, die alle anderen geographischen Herkunftspunkte umfassen, führen zu kalten eher trockenem Wetter, einem klaren wolkenlosen Himmel und schönem Wetter. Es kann auch zu Mischungen dieser beider Grundwinde kommen. In diesen Fällen ist der Himmelszustand nicht voraussehbar. Die allgemeinen Aussagen über diese Winde gelten nur, wenn sie über weiten Ebenen, im Inneren von Kontinenten und große Inseln wehen. In bergigen Regionen muss man mit Abweichungen rechnen. Auch Lamarck unterscheidet zwischen allgemeinen regelmäßigen Winden und besonderen unregelmäßigen Winden. Diese wehen immer, wenn auch nur in gewissen Regionen der Atmosphäre. Man kann zwar ihr Auftauchen, aber weder ihre Stärke noch Dauer voraussehen. Die lokalen und periodischen Winde, sind unregelmäßiger und können aus diesem Grund nicht vorausgesehen werden. Diese vents irréguliers findet man in den temperierten Zonen zwischen den Passatwinden, auf deren Grenzen sie verändernd einwirken, und in der Nähe von Polarwinden, die sie in eine andere Richtung abdrängen können. Es sind vor allem letztere, die dazu geführt haben, »dass die Theorie der Winde bisher so unvollkommen und so voller Konfusion geblieben ist und dass sich das Studium der Meteorologie so schwierig gestaltet hat, vor allem auch weil niemand die notwendige Ordnung in die Ideen, eingeführt hat.«36 Die allgemeinen Winde, wie z. B. die Polarwinde und die Passatwinde, wehen rund um den Globus. Die 35 Vgl. Lamarck, Annuaire Météorologique pour l’an XIV, S. 187. 36 Ebd., S. 149.

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durch sie verursachte Luftbewegung verlangt keinen Ersatz. Die besonderen Winde (vents comprimants) hingegen verursachen ein Ungleichgewicht, das nach einem anderen gleichstarken Wind verlangt (vent de retour, courant réparateur, vent de redondance), der in entgegengesetzter Richtung weht und für einen Ausgleich der verschobenen Luft sorgt. Dadurch wird das gestörte atmosphärische Gleichgewicht wieder hergestellt: Der vent de retour ist nicht immer dem ersten Wind direkt entgegengesetzt, sondern weht mehr oder weniger seitlich. Das atmosphärische Ungleichgewicht ist nicht eine Leere, sondern ein Zuwenig oder ein Zuviel. Durch einen vent comprimant sammelt sich an einer bestimmten Stelle immer auch ein Überf luss an Luft an, der durch den vent de redondance abgebaut wird. Dieser vent de retour tut aber oft mehr, oder weniger, als eigentlich nötig wäre, um das Gleichgewicht wiederherzustellen und verwandelt sich dadurch in einen neuen vent comprimant, wodurch ein neues Ungleichgewicht entsteht. Dies führt zu unregelmäßigen atmosphärischen Schwankungen, die sich deutlich von der Regelmäßigkeit von Ebbe und Flut unterscheiden.

Der Ursprung des Windes Die Spannung zwischen Einzahl und Vielzahl spielt auch bei der Diskussion zur Ursache des Windes eine Rolle. So stellt sich bei mehreren Ursachen erneut die Frage nach deren Anzahl und Verhältnis zueinander. Aristoteles, Theophrastos und Lamarck gehen von einer einzigen zentralen Ursache aus, Seneca, Plinius, Bacon und Descartes von mehreren. Aristoteles diskutiert die Ursache des Windes im Zusammenhang mit der Trennung von Luft und Wind. Im vierten Abschnitt des zweiten Buches unterscheidet er zwei Arten von Ausdünstungen, die durch die Einstrahlung der Sonne verursacht werden und in die Atmosphäre aufsteigen: die eine ist wasserdampfartig, kalt und feucht, die andere rauchartig, warm und trocken. Wenn die kalte und feuchte Ausdünstung eine gewisse Höhe erreicht hat, kondensiert sie und fällt in Form von Regen wieder auf die Erde zurück. Im Gegensatz zum Wind, der auf die warm-trockene Ausdünstung zurückzuführen ist, besteht die Luft aus beiden Ausdünstungen. Aus diesem Grund kann der Wind auch nicht als bewegte Luft beschrieben werden. Die beiden Ausdünstungen lösen einander ab wie Wind und Regen. Wenn die warme und trockene Ausdünstung vorherrscht, ist das Wetter windig, im

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anderen Fall ist es feucht und regnerisch. Im Sinne der concordia discors treten die beiden Ausdünstungen nicht nur nacheinander, sondern auch stets in gemischter Form auf. Das Feuchte kommt »nicht ohne das Trockene, das Trockene nicht ohne das Feuchte vor, vielmehr beziehen sich die Namen auf den jeweils vorherrschenden Charakter.«37 Durch Steigerung der einen entsteht Regen und durch Zunahme der anderen Wind. Der eigentliche Motor bei der Entstehung von Wind und Regen ist jedoch der Kreislauf der Sonne. Wenn die Sonne sich der Erde nähert und diese erhitzt, steigt das Feuchte empor, entfernt sich die Sonne aber wieder, so führt dies zu einer Abkühlung und der emporgeführte Dampf wird wieder zu Wasser. Die Sonne verhindert oder regt auch die Windentstehung an. Obwohl die warmen und trockenen Ausdünstungen vertikal aufsteigen, bewegen sich Winde in der Regel horizontal, was nach Aristoteles mit der Bewegung der himmlischen Sphären zusammenhängt. So haben die Winde zwar ihren materiellen Ursprung in der Tiefe, ihre Bewegung aber wird von den oberen Sphären bestimmt: »[…] so wehen die Winde doch rund um die Erde, weil die ganze Erde die umgebende Luftschicht der Himmelsbewegung folgt.«38 Zu erwähnen wären noch Aristoteles’ terminologische Schwierigkeiten bei der genauen Bestimmung der warmtrockenen Ausdünstungen, die mit der schwierigen Bestimmung des Windes zusammenhängen. Für das gesamte Wesen der warmtrockenen rauchartigen Ausdünstungen gibt es »keinen Namen«, sondern nur ein »teilweise zutreffende[s] Wort«39, das man notgedrungen verwendet. Die warm-trockenen Ausdünstungen sind »wie Rauch von brennendem frischem Holz.«40 Genauso wie »ein geringes Quantum an Brennstoff, das man in ein großes Feuer wirft, oftmals verzehrt wird, bevor es Rauch entwickeln kann«41, braucht es zur Herausbildung eines Windes eine größere Menge an trockenen Ausdünstungen. Aristoteles hat sich hier mit dem Rauch für eine Metapher entschieden, die nicht nur auf die Fluidität und Ambivalenz des Phänomens hinweist, sondern auch die Unsichtbarkeit des Windes ins Visuelle überführt.

37  Aristoteles, Meteorologie, S. 53. 38  Ebd., S. 56. 39  Ebd., S. 53. 40  Ebd., S. 55. 41  Ebd., S. 56-7.

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Auch bei Theophrastos kommt der Sonne eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung der Winde zu. Wenn die Sonne einen bestimmten Ort erreicht, beginnen sich die Winde zu regen. Die Sonne kann die Winde freisetzen oder anhalten. Obwohl auch der Einf luss des Mondes zu berücksichtigen wäre, ist dieser deutlich geringer. Die warmen und trockenen Ausdünstungen spielen bei der Windentstehung keine relevante Rolle mehr und werden deshalb im Buch auch nur an zwei Stellen explizit erwähnt, die Sonne hingegen insgesamt dreißigmal. Im Gegensatz zu Aristoteles können nach Theophrastos Winde auch aus feuchten und kalten Ausdünstungen hervorgehen. Wasserdampf haltige Winde haben dieselbe Temperatur wie die Luft oder Ausdünstung am Ort ihres Entstehens. Winde, die über Flüssen und Seen entstehen, sind wegen der Feuchtigkeit der Luft kalt. Die Beschaffenheit einer bestimmten Gegend beeinf lusst die Windrichtung und Windkraft sowie die jeweiligen Eigenschaften eines Windes.42 Nach Seneca entstehen Winde auf verschiedene Art und Weise. Die Erde ist wie ein großer Körper, der eine beträchtliche Luftmasse ausstößt und aus der Tiefe atmet. Die ausgestoßenen Teilchen werden vom Dampfstrom in die Höhe getragen und diese Mischung aus dem Erddunst und diesen Teilchen verwandelt sich in Wind. Wie bei Aristoteles ist auch bei Seneca die Sonne ein Entstehungsgrund von Winden. Die Kraft der Sonne verursacht Wind dadurch, dass sie die starre dichte Luft zerstreut und auseinanderfaltet. Die aufgehende Sonne sorgt für weitere Unruhe und Bewegung. Sie wirkt nicht nur durch ihre Wärme, sondern auch durch den Druck ihrer Strahlen. Wind kann auch in Höhlen und unterirdischen Nischen im Inneren der Erde entstehen. Neben diesen Entstehungsgründen führt Seneca auch noch die Selbstbewegtheit der Luft an. Für Plinius entstehen Winde dadurch, dass die Erde »einen feuchten, sonst aber durch Einf lüsse der Hitze rauchigen Dunst« aushaucht. Winde »oder vielmehr Luftströme« können »aus der dünnen und trocknen Ausdünstung der Erde entstehen«, aber »auch aus der von den Gewässern ausgehauchten weder zu Nebel verdichteten noch zu Wolken verdickten Luft; sowie durch den Trieb der Sonne […] auch aus Flüssen, und aus dem selbst ruhigen Meere entwickeln sich Winde.«43 Es gibt aber auch Winde, die unerwartet auftauchen und oft zerstörerische Auswirkungen haben. 42  Vgl. Theophrastos, De ventis, S. 35. 43  Plinius, Naturgeschichte, S. 158-159.

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Bacon kritisiert Aristoteles’ Trennung von Luft und Wind und die alleinige Rückführung der Winde auf die warmtrockenen Ausdünstungen. Winde entstammen meist in der mittleren Region des Himmels, was jedoch bis anhin nicht wahrgenommen wurde, weil man in der Regel nach dem Obskuren und Extremen Ausschau hielt und nicht nach den Dingen, die direkt vor einem liegen. Trotz dieser Kritik der Astrometeorologie sieht er eine direkte Verbindung zwischen den Sternen und den Winden. So folgen auf Sternschnuppen oft Winde, da diese die Luft der unteren Regionen in Bewegung setzen. Wie Seneca und Plinius geht Bacon von einer Vielzahl an Ursachen aus, präsentiert aber keine einheitliche Theorie, sondern eine unstrukturierte Anzahl von Erklärungen. Er nennt fünf Hauptursachen für den Wind und seine unterschiedlichen Eigenschaften: die Anwesenheit oder Abwesenheit der Sonne; die natürliche Bewegung der Luft und deren Ausbreitung (expansion of the air) oder Zusammenziehung (contraction of the air); der Unterschied des Stoffs (der beiden Ausdünstungen), aus dem Winde bestehen und der Ort, der sie hervorgebracht hat (das Meer, der Schnee, die Sümpfe); der Einf luss der Gegenden, über die sie hinwegziehen und ihr jeweiliger lokaler Ursprung. Bacon verwendet eine an Seneca gemahnende politische Metapher, um die zentrale Rolle der Sonne zu umschreiben. Die Sonne ist wie ein Prinz, der seine Stellvertreter (deputies) auswählt und diese in weit entfernte Regionen schickt, wo sie oft mehr Macht als der Prinz selbst haben. »Certainly the winds, which have their power and origin from the sun, govern and inf luence the temperatures of the countries, and the disposition of the air, as much or more than the sun itself.«44 Die Liste der Ursachen bleibt unvollständig: »Winds are generated a thousand ways […] whence it is not easy to fix observations in a thing of so much uncertainty […].«45 Neben der natürlichen Bewegung der Luft (natural motion of air), ist die Sonne der Haupterzeuger der Winde. Der Einf luss des Mondes auf die Herausbildung von Winden ist vergleichbar mit dessen Bedeutung für die Bewegung des Meeres. Die Luft kann sich ausdehnen oder zusammenziehen. In beiden Fällen entsteht Wind. Winde, die allein aus der natürlichen Bewegung der Luft hervorgehen, ohne ein Hinzukommen der beiden Ausdünstungen, sind eher leise und sanft. Vaporing winds hingegen sind in der Regel heftiger. Aristoteles’ Einf luss zeigt sich in der Unterscheidung von cau44 Bacon, History of the Winds, S. 46. 45 Ebd., S. 48.

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sa efficiens – die Hitze der Sonne – und causa materialis – die »vapours and exhalations«.46 Bei geringer Hitze und Abwesenheit von Ausdünstungen gibt es keinen Wind. Mittlere Hitze lässt Ausdünstungen entstehen, ohne diese jedoch zu zerstreuen. Große kontinuierliche Hitze zerstreut die Ausdünstungen: »The more equal and continuate heat of the Sun is less apt for the generation of winds: that which is more unequal and intermitted, is more apt.«47 Die intermittierende unregelmäßige Natur der Winde findet hier eine Entsprechung in der ebenso ungleichmäßigen Hitze der Sonnenstrahlen. Für Bacon, der sich von der aristotelischen Tradition absetzt und auf Theophrastos zurückgreift, können sowohl vapours als auch exhalations zu Winden führen. »Both the quantity and quality of vapours must be regarded. A small quantity produces gentle gales; and a middling quantity stronger winds; but a large one overloads the air, and produces rain either attended with a calm or wind. Vapours arising from the sea, rivers, and lands overflowed, produce a much greater quantity of wind, than terrestrial exhalations; but the winds that arise from the earth, and drier places, are more obstinate and durable; and prove, generally such as are thrown from above: so that the opinion of the ancients has its use in this respect; only they thought fit to divide the right, and assign rains to the vapours, and no thing but exhalations to the winds; with the like distributions; which look pretty in discourse, though they are but empty at the bottom.« 48 Winde entstehen auch durch die Auf lösung von Schnee und über sandigen kreideartigen Landstrichen. Im Gegensatz zu Aristoteles lösen Wind und Regen einander nicht ab, sondern gehen ineinander über. »The winds arising from sea-vapours, easily fall back again into the rain, or the water where of they are made […]. The meeting of strong winds one against another, produces violent whirlwinds; but if they are only gentle and moist, their meeting produces rain and a calm.«49

46 Ebd., S. 10. 47 Ebd., S. 68. 48 Ebd., S. 68. 49 Ebd., S. 69-70.

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Bacon und Descartes haben beide Plinius gelesen und möglicherweise kannte Descartes Bacons fünfzehn Jahre zuvor entstandene The Natural and Experimental History of the Winds. Während aber Bacon noch immer im argumentativen Umfeld der früheren Windtheoretiker steht, versucht Descartes einen kompletten Neustart. Es geht dabei um eine Erarbeitung allgemeiner Prinzipien der Natur, die auf dem Wege der Empirie gewonnen werden. Die einzelnen Naturkörper, Wasser, Erde und Luft, werden in ihre einfachsten Bestandteile zerlegt, um die jeweilige Konstellation von Komponenten, aus denen ein Körper besteht, zu bestimmen. Descartes’ Ansatz ist weitgehend mechanistisch. Die Bestandteile bewegen sich, dehnen sich aus, kollidieren, schieben und werden geschoben, legen sich aufeinander und verhaken sich. Die Erklärung verläuft von den einfachsten zu den verwickelteren Materialteilchen, von den Partikeln, die sich ganz einfach voneinander lösen, zu den Partikeln, die schwieriger voneinander zu trennen sind. Die Materialteilchen selbst sind jedoch trotz der behaupteten Empirie den Augen nicht zugänglich. Wasser, Luft und Erde sind aus Materialteilchen unterschiedlicher Gestalt und Dicke zusammengesetzt. Die dadurch entstehenden Zwischenräume (Poren) sind nicht leer, sondern von feiner Materie angefüllt, welche immer in Bewegung ist. Die Geschwindigkeit ist an die Wärme gebunden, das heißt, an die Einwirkung des Sonnenlichtes. Durch die Vermittlung dieser feinen Materie überträgt sich die Einwirkung des Lichtes auf die Naturkörper. Die Partikel der Körper sind nicht wie unteilbare Atome. Jedes kann auf eine Unzahl von Arten geteilt werden. Sie sind eher wie Steine von unterschiedlicher Gestalt, die aus demselben Felsen stammen. Das Wasser besteht aus kleinen Aalen, die einheitlich, lang und schlüpfrig sind und daher leicht voneinander getrennt werden können. Die anderen beiden Körper, die Luft und die Erde, bestehen aus ungleichförmigen Gestalten, die sich verschiedenartig verhaken und ineinander verschlingen können. Descartes vergleicht sie mit den Ästen von Sträuchern und Hecken. Luft oder Öle sind nicht so eng ineinander verschlungen, sondern legen sich einfach übereinander. Wenn die Teilchen dicht miteinander verbunden sind, entstehen harte Körper, z. B. Holz oder Erde. Im zweiten Entwurf geht es um Dämpfe (vapeurs) und Ausdünstungen (exhalaisons). Die aristotelischen Anklänge dieser Unterscheidung sind nicht von der Hand zu weisen. Die Sonne lässt etliche kleine Partikel in die Luft aufsteigen. Dämpfe expandieren, nicht wegen einer besonderen »Neigung dieser Partikel selbst, zu steigen oder weil die Sonne irgendeine Kraft in sich hätte, sie anzuziehen, sondern allein weil sie keinen anderen Ort finden, an

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dem es ihnen leicht fiele, ihre Bewegung fortzusetzen […] wie im offenen Gelände der Staub sich allein schon dadurch erhebt, daß er durch die Füße eines Fußgängers angestoßen und aufgewirbelt wird.«50 Descartes geht auch hier von einer rein mechanischen Erklärung aus, die er anhand der Metapher des aufgewirbelten Staubes veranschaulicht. Es gibt viel mehr Dämpfe (regelmäßige Wasserpartikel) als Ausdünstungen (unregelmäßige Partikel). Wasserpartikel lassen sich wegen ihrer Gestalt leicht voneinander trennen. Sie zerstreuen sich überallhin und steigen in die Luft auf. Wasserdampf nimmt mehr Raum ein wegen der Erregung der Partikel, die nach allen Seiten ausscheren, sich im Kreis drehen und sich in ihrer ganzen Länge strecken. Ausdünstungen steigen nur vermischt mit Dämpfen in die Luft, sind danach aber leicht wieder voneinander zu trennen, so wie Öle sich vom Wasser lösen, mit dem man sie destilliert hat. Im Gegensatz zu Dämpfen und aufgrund der größeren Unterschiede zwischen den einzelnen Partikeln besitzen Ausdünstungen deutlichere Qualitäten. Wie Aristoteles’ Bemerkungen im Zusammenhang mit der Rauch-Metapher für die warmtrockenen Ausdünstungen, verweist auch Descartes auf die terminologische Problematik des Begriffs ›Ausdünstung‹. Exhalaison sei eine Verlegenheitswahl: »weil ich keinen geeigneteren Namen weiß.«51 Im Gegensatz zu Aristoteles berühren diese terminologischen Ungewissheiten aber nicht mehr den Wind, da dieser aus den feuchten Dämpfen, vapeurs hervorgeht. Tatsächlich ist exhalaison ein Sammelbegriff für verschiedene, voneinander abweichende Partikel. Die gröbsten sind die Partikel, aus denen die Erde besteht. Die f lüchtigen Salze und Öle hingegen bestehen aus mittelgroßen Partikeln, die man auch im Rauch, der aus brennenden Ölen aufsteigt, finden kann. Einige andere besitzen fast die gleiche Gestalt wie die Wasserpartikel, z. B. Weingeist und Branntwein, die stets die ersten sind, die aus destillierten Körpern aufsteigen. Sie sind aber feiner als diese, da sie leicht in Brand gesetzt werden können. Hinzu kommen noch Partikel, die in Zweige aufgeteilt sind, aber so fein, »daß sie nur dazu geeignet sind, den Luftkörper zu bilden.«52 Die gröberen, ebenso in mehrere Zweige geteilten Partikel hingegen können nicht von selbst aus den harten Körpern austreten. Dies ist nur möglich, wenn sie Feuer fangen und dadurch zu Rauch werden. 50 Descartes, Meteore, S. 204. 51  Ebd., S. 205. 52 Ebd.

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Descartes führt die Bewegung der Winde auf den Sonnenverlauf und die Erdumdrehung zurück. Der Einf luss der Gestirne auf die Entstehung von Meteoren ist sehr gering. Damit wendet er sich wie Bacon gegen die Astrometeorologie seiner Zeit. Die eigentliche Neuerung liegt in der Einführung einer Materialteilchentheorie, die darauf abzielte, die theoretische Basis der traditionellen Auffassung der vier Elemente und deren Verbindung in Frage zu stellen. Dennoch geht er wie Aristoteles und Bacon bei der Erklärung des Windes von zwei unterschiedlichen Ausdünstungen aus. Es sind nun aber prinzipiell die wasserdampfartigen und nicht mehr die warmtrockenen Ausdünstungen, die für die Entstehung von Wind verantwortlich sind. In »Über die Winde«, dem vierten Entwurf, wendet Descartes seine Materialteilchentheorie auf die materielle Zusammensetzung und Entstehung des Windes an. Wind ist, wie schon ausgeführt, eine Erregung der Luft. Auch mit einem Fächer angestoßene oder aus einem Blasebalg getriebene Luft ist ein Wind, das, was Bacon ›imitation of wind‹ nennt. Die »sich weiter erstreckenden Winde, die auf der Meeresoberf läche oder der des Erdbodens herrschen, [sind] gewöhnlich nichts anderes […] als die Bewegung der Dämpfe, die, wenn sie expandieren, von dem Ort, an dem sie sich befinden, zu einem anderen übergehen, an dem sie sich mit größerer Mühelosigkeit ausbreiten können.«53 Bei gewöhnlichen Winden steigen die Dämpfe nicht nur von Wasseroberf lächen hoch, sondern auch von feuchten Erdböden, Schneefeldern und Wolken. Die Sonnenwärme fördert die Ausbreitung der Partikel, die Winde hingegen verdichten diese. Sich verdichtende Dämpfe ziehen sich an einem Ort zusammen, verwandeln sich in Wasser oder Schnee und überlassen dadurch anderen noch expandierenden Dämpfen den Raum, was einen Wind dorthin verursacht. Wenn sich die Luftpartikel mehrheitlich zu einer Seite hin bewegen, erzeugen sie Wind. Wenn zwei Winde aufeinandertreffen und sich einander entgegenstellen, hindern sie sich gegenseitig daran, die Luft zu erregen. Dämpfe können auch unterhalb von Wolken gefangen werden, und sich daher nicht über den ganzen Raum ausbreiten. Partikel, die sich alle in dieselbe Richtung bewegen, können die Partikel anderer Körper nicht so sehr erschüttern, »wie ja auch ein unablässig in derselben Weise wehender Wind, auch wenn er sehr stark ist, die Blätter und Zweige eines Waldes nicht so sehr aufwirbelt wie ein schwächerer

53  Ebd., S. 225.

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der weniger gleichförmig ist.«54 Die Ungleichförmigkeit und Diskontinuität des Windes dient Descartes hier als Metapher zur Sichtbarmachung des Bewegungsprinzips der Partikel. Winde werden zwar fast allein von Dämpfen verursacht, bestehen aber nicht nur aus diesen, sondern auch aus Luft und den Ausdünstungen (exhalaisons). Expandierende Dämpfe schleppen die gesamte sich auf ihrem Weg befindende Luft und die anderen Ausdünstungen mit sich und treiben sie vor sich her. In geringem Maße können auch die Ausdehnung der Luft und der Ausdünstungen zur Entstehung von Winden beitragen. Wenn Dämpfe sich ausdehnen, führt dies zu Wind, wenn sie sich verdichten, führt dies zu Wolken. Die Unsichtbarkeit der Luft hängt von der Bewegungsgeschwindigkeit der Partikel ab. Bei Verlangsamung durch gegenseitige Berührung steigert sich die Sichtbarkeit, es bilden sich Wassertropfen (Regen) oder Eisstückchen (Hagel). Je langsamer die Bewegung ist, desto mehr Teilchen verbinden sich und desto sichtbarer wird die Luft, bis sie eine undurchsichtige Masse bildet (Eis).

Der Einfluss der Sonne und des Mondes Lamarck, der in seiner Beschreibung der Windursachen ohne die aristotelischen Ausdünstungen und Descartes’ Materialteilchen auskommt, führt die Entstehung des Windes auf die kombinierte Auswirkung des Mondes und der Sonne zurück. Wie bei der Klassifikation der Winde geht es auch hier um die Suche nach Gesetzmäßigkeiten. So unterscheidet Lamarck zwischen zufälligen und periodischen Variationen. In diesem dichotomisch komplementären Modell wird Regelmäßigkeit mit dem Einf luss der Sonne und Unregelmäßigkeit mit der Einwirkung des Mondes verbunden. Die Sonne wirkt durch Licht und Anziehungskraft auf die irdische Atmosphäre ein, der Mond allein durch die Schwerkraft. Ein einfacher Wind, der über längere Zeit hinweg weht, ist nicht vom Mond, sondern allein von der Sonne abhängig. Der Mond spielt keine Rolle bei den Winden, die sich gegenseitig hervorbringen und auf die Notwendigkeit zurückgehen, in einem bestimmten Bereich der Atmosphäre eine Umverteilung zustande zu bringen, damit das allgemeine Gleichgewicht wieder 54 Ebd., S. 208.

2. Vom Wind und den Winden: Einzahl und Vielzahl

hergestellt werden kann. Temperaturveränderungen gehen in der Regel auf das Sonnenlicht zurück. Die Sonne erscheint daneben auch als der Gegenspieler der Winde. Diese haben eindeutig mehr Einf luss auf das Wetter, als man allgemein annimmt. Manchmal ist ihr Einf luss sogar stärker als derjenige der Sonne. So können Winde den Einf luss der Sonne, der darauf abzielt, die einzelnen Wolken zu gruppieren, durchkreuzen, und verhindern, dass die Wolken zusammenfinden. Ohne den Mond gäbe es keine unregelmäßigen Winde, sondern nur die Passatwinde, die Polarwinde und die lokalen Winde. Der Mond stört immer wieder die Ordnung, was zu schlechtem Wetter führt, und ist selbst unfähig, diese wiederherzustellen. Nicht zufälligerweise wird er daher auch mit den unregelmäßigen Winden assoziiert. Stabiles schönes Wetter hat immer mit der Regelmäßigkeit der Sonne und einer Abnahme des Mondeinf lusses zu tun. Nicht alle Erdregionen sind dem destabilisierenden Einf luss des Mondes ausgesetzt: ausgenommen sind die Polarregionen und die heißen Zonen. Letztere werden durch den starken Einf luss der Sonne geschützt. Es ist vor allem in den gemäßigten Zonen, wo sich der Einf luss des Mondes am stärksten zeigt, und es zugleich die größten atmosphärischen Variationen gibt. Der Mond ist stärker in der nördlichen Hemisphäre, und hat einen direkten Einf luss auf die Herausbildung der vents méridionaux, die zu einer Verringerung des atmosphärischen Sättigungsgrades, der Luftdichte sowie zu Wolkenbildung, und schlechtem Wetter führen. Die Abwesenheit des Mondeinf lusses begünstigt dagegen die Formation der vents boréaux, die klare Himmel und schönes Wetter verursachen. Diese Winde sind manchmal das Resultat der vents polaires, die ebenfalls von einem schwachen Mondeinf luss begünstigt werden. Somit findet die Dichotomie der zwei konträren und komplementären Windarten eine direkte Entsprechung in der Gegenüberstellung von Sonne und Mond und ihrer unterschiedlichen Rolle in der Entstehung der Winde.

Globale Windzirkulation und fraktale Winde Zusammenhängende einfache, aber meist lokale oder regionale Windsysteme gab es schon in der Antike, meist standen sich dabei aber getrennte Winde gegenüber, die sich in der Regel nicht in die Haare gerieten, sondern nacheinander wehten. Die Vorstellung eines globalen den gesamten Planeten umspannenden Windsystems, das auch mit den Entdeckungsreisen,

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den kolonialen Interessen Europas und der weltweiten Schifffahrt zusammenhängt, kam erst im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts auf. Das planetarische Zirkulationsmodell der gegenwärtigen Meteorologie55 beschreibt den globalen Wind als zusammenhängendes, aus Zellen bestehendes System, welches zugleich die Existenz spezifischer Windzonen und einer ganzen Reihe von regionalen und lokalen Winde umfasst und unter anderem aufgrund von hydro- und thermodynamischen Zusammenhängen operiert. Die vielen verschiedenen Winde sind nunmehr in ein einziges umfassendes System eingebunden, welches zugleich die Existenz einzelner Windsysteme wie die Bedeutung des größeren Zusammenhangs betont. Die einzelnen Winde f ließen nicht mehr, wie im früheren Deutungsmodellen, räumlich und zeitlich getrennt voneinander, sondern sind Teil eines integrierten Ganzen. Dieses Interpretationsmodell einer allgemeinen globalen Windzirkulation umfasst eine Reihe von atmosphärischen Zirkulationssystemen, die durch ihre Wechselwirkung die Wetterdynamik der Erdatmosphäre antreiben. Dazu gehören Prozesse der mittleren und höheren Erdatmosphäre, der Zusammenhang der einzelnen Zirkulationssysteme sowie die Interaktion der Atmosphäre mit Bereichen anderer Erdsphären wie z. B. den Ozeanen. Aus der Erwärmung der Luft über dem Äquator resultieren durch Einwirkung der Corioliskraft je drei schlauchförmige Luftzirkulationszellen pro Hemisphäre: die Passatwinde (Hadley Zellen), die Westwinde (Ferrel-Zelle oder Westwinddrift) und die Polarzellen. Zellen sind mehr oder weniger kreisförmige Luftströmungen in der unteren Erdatmosphäre. Diese werden in der Regel durch Temperaturunterschiede angetrieben, die aufgrund unterschiedlicher Sonneneinstrahlung entstehen. Zellen können eine globale Ausdehnung haben, so z. B. die subtropischen Hadley-Zellen oder die Polarzellen der Arktis. Daneben gibt es aber auch kleinräumige Zellen, die für die Entstehung von Gewittern verantwortlich sind. Zu der in diesem Kapitel skizzierten Entwicklung vom einen Wind über die vielen unterschiedlichen Winde hin zum integrierten globalen vielteiligen Windsystem hält Cartier treffend fest. »Aus den vier, acht, sechzehn, oder auch 32 Winden der Griechen, die alle einen eigenen Namen trugen, war endgültig der eine Wind geworden.«56 Dagegen wäre jedoch einzuwenden, dass sich diese Vorstellung eines einzigen Windes, wenn auch unter ganz anderen 55 Vgl. dazu auch Kapitel vier. 56 Cartier, Der Wind, S. 149.

2. Vom Wind und den Winden: Einzahl und Vielzahl

Vorzeichen, schon ganz am Anfang bei den Vorsokratikern auffinden lässt. Im Sinne von Serres’ nicht-linearem Geschichtsverständnis könnte man in diesem Zusammenhang von einer Antizipation oder Rückkehr sprechen. Dies ist aber nur die eine Seite dieses übergreifenden historischen Prozesses. Die neue Vision eines einheitlichen Zirkulationssystems der Winde beinhaltet im Gegensatz zur Vision der Vorsokratiker auch eine neue verwirrende innere Pluralität und Diversität, die Serres im Sinne der fraktalen Prozesse der Chaostheorie als endlose innere Aufspaltung selbstähnlicher Phänomene bestimmt hat. Das Phänomen der Selbstähnlichkeit wurde zuerst zur Beschreibung von Turbulenzen entwickelt. Der französisch-US-amerikanische Mathematiker Benoît Mandelbrot zieht eine direkte Verbindung zwischen der fraktalen Selbstähnlichkeit und der Turbulenz und diskutiert dies am Beispiel des Windes, der die Eigenschaft hat, in Böen aufzutreten. Die Turbulenz scheint dabei selbst turbulent zu sein, da sie in unregelmäßigen Böen auftritt. Der Wind zerfällt nicht nur in unzählige Winde, die einzelnen Winde zerfallen ihrerseits in zahlreiche Böen, die in noch kleinere Brisen zerbrechen. Serres fasst diese Vorstellung in dem diesem Kapitel vorangestellten Motto in einem schwer übersetzbaren Wortspiel zusammen: Le vent c’est la brise brisée. Der Wind ist die zerbrochene Brise. Die Alliteration von brise, ›Brise‹ und brisée, ›zerbrochen‹ – vom Verb briser, ›brechen, zerbrechen‹ – verweist auf die Tatsache, dass der Wind trotz seiner kompakten Wirkungsweise ein grundsätzlich fraktales Phänomen ist. Mit der endlosen Vervielfältigung selbstähnlicher Winde geht darüber hinaus nicht mehr ein einfacher Kontrollverlust einher. In der fraktalen Weltordnung stehen sich Regelmäßigkeit und Unregelmäßigkeit, Ordnung und Unordnung nicht mehr diametral gegenüber, sondern gehen ineinander über. Damit ist der aus der Pluralität der Winde resultierende Kontrast zwischen regelmäßigen und unregelmäßigen Formen, dem in den Windtraktaten eine zentrale Bedeutung zukam, einer neuen Form der Komplexität gewichen. Man könnte somit von einer doppelten konträren Bewegung sprechen, in deren Verlauf die Pluralität der Winde in ein einziges Windsystem integriert wird und die einzelnen Winde sich als in sich zerbrochene und immer wieder aufs Neue zerbrechende Gebilde erweisen.

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3. Windpersonifizierungen: Engel und Dämonen »The wind […] is not an object, nor does it tear at the trees because it is endowed with agency. It is an air current, materials-in-motion. We say ›the wind blows‹, because the subject-verb structure of the English language makes it difficult to express it otherwise. But in truth, we know that the wind is its blowing. Similarly, the stream is the running of water.« Tim Ingold, Being Alive Als ich in den späten 1950er Jahren einen Kindergarten in Zug in der Zentralschweiz besuchte, ließ man uns mit Farbstiften Zeichnungen von Landschaften anfertigen. Ich zeichnete meist einen tiefen Horizont, eine Linie, auf der sich Bäume, Häuser, Autos und Personen nebeneinander ansammelten. Im Himmel waren es kleine vereinzelte Wolken und am oberen Rand eine lachende Sonne in Form eines gelben Kreises, der von Strahlen umgeben war. Den Wind stellte ich mir damals ebenfalls als ein Gesicht vor: ein blauer Kreis, in dem sich zwei runde Augen befanden und die geblähten Backen eines vollkommen runden blasenden Mundes, aus dem divergierende Strahlen hervorschossen. Als man mich fragte, warum ich den Wind gerade so zeichnete, wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Eine erste Antwort auf diese Frage kann man in der Sprache finden. So diskutiert Herta Müller unterschiedliche sprachbedingte Perspektiven anhand des Windes und zeigt dadurch auf, wie tief eine vergegenständlichende und personifizierende Sicht des Windes in vielen Sprachen verankert ist. »Im Dialekt des banatschwäbischen Dorfes, in dem ich aufgewachsen bin, sagte man: Der Wind geht. Im Hochdeutschen, das man in der Schule sprach,

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sagte man: Der Wind weht. Und das klang für mich als Siebenjährige, als würde er sich wehtun. Und im Rumänischen, das ich damals in der Schule zu lernen begann, sagte man: Der Wind schlägt, vintul bate. Das klang damals, als würde er anderen wehtun. Und genauso unterschiedlich wie das Wehen ist das Aufhören des Windes. Auf Deutsch heißt es: Der Wind hat sich gelegt. Auf Rumänisch aber: Der Wind ist stehen geblieben, vintul a stat.«1 Der Wind wird hier als eine agierende Person verstanden, die weht, geht, sich hinlegt oder stehen bleibt und Schläge austeilt oder, wie in Müllers Deutung, sich selbst verletzt, was auf seine Feinheit und Verletzbarkeit hinweist. Auch in vielen anderen Sprachen wird der Wind personifiziert. The wind blows. Il vento soffia. Le vent souff le. El viento sopla. O vento sopra. The wind ceased, died down. Il vento è calato, si calma. Le vent tombe, s’apaise. O vento parou. El viento se asiente. Obwohl die Sprachen leicht voneinander abweichen, ist die personifizierende Metapher durchgehend präsent. Diese Sicht hat auf entscheidende Art und Weise die Wahrnehmung des Windes als einer blasenden Person geprägt. Winde kommen durch Luftdruckunterschiede zustande, die mit Temperaturveränderungen zusammenhängen. Dabei entstehen ein Hochdruck- und Tiefdruckgebiet. Zur Ausgleichung des Druckunterschiedes gelangt Luft aus der Hochdruckzone in die Tiefdruckzone. Hunt weist darauf hin, dass man sich diesen Vorgang nicht als ein ›Blasen‹ vorzustellen hat, sondern als ein ›Saugen‹, wie bei Wasser, das eine leere Mulde ausfüllt oder aufgrund der Gravitationskraft hinunterf ließt. »[…] air is forced from high pressure areas to low pressure areas to balance things out. It is sucked rather than blown […].«2 Die personifizierende Vorstellung des Windes geht davon aus, dass der Wind immer einen klaren Anfang und ein deutliches Ende hat, die beide als Willensakt beschrieben werden könnten: Winde beginnen zu blasen und hören wieder auf, sie besitzen, was man in der Soziologie agency nennt. Aus diesem Grund wird das Phänomen ›Wind‹ substantiviert, mit Adjektiven umschrieben und mit einem verbalen Prädikat versehen, der nach Adverbien verlangt. Ingold weist in dem diesem Kapitel vorangestellten Motto darauf hin, 1 H. Müller, Wenn sich der Wind legt, bleibt er stehen oder Wie fremd wird die eigene Sprache beim Lernen der Fremdsprache, in: Murnau, Manila, Minsk. 50 Jahre Goethe-Institut, hg. v. Goethe-Institut, München 2001. 2 Hunt, The Wild Winds, S. 6.

3. Windpersonifizierungen: Engel und Dämonen

dass der Wind im Grunde genommen weder ein Gegenstand ist noch wie eine Person agiert, sondern dass sein Wesen in seinem Wehen selbst, its blowing, besteht, so wie das Wesen des Flusses, im Fließen des Wassers, the running of water. Daher schlägt Ingold für die Beschreibung des Windes und des Wetters den Gebrauch von Verben vor. Statt the weather weathering, und statt the wind das Verb to wind, sich winden, sich schlängeln. Flusser schlägt eine vergleichbare Deutung vor, auf die ich im sechsten Kapitel zurückkommen werde. Im Zusammenhang mit Personifizierungen sprechen George Lakoff und Mark Johnson von ontologischen Metaphern. Diese haben verschiedene Funktionen. Im Falle des Windes geht es vorerst einmal um eine Sichtbarmachung, dann aber auch um die Zuweisung von anthropomorphen Zügen, die den Wind verständlicher, berechenbarer und sein Verhalten nachvollziehbar machen. »Perhaps the most obvious ontological metaphors are those were the physical object is further specified as being a person. This allows us to comprehend a wide variety of experiences with nonhuman entities in terms of human motivations, characteristics, and activities.«3 Dem Wind werden nicht nur menschliche Eigenschaften, sondern auch Verhaltensweisen und Motivationen zugeschrieben. Winde gehen, stehen und setzen sich, sie sind aggressiv und gewalttätig, Verkörperungen entfesselter kosmischer Wut. Der Wind wird in unterschiedlichen ontologischen Metaphern eingefangen: neben ganzkörperlichen Personifizierungen unterschiedlicher Windgötter mit zerzaustem Haar, wirrem Bart und Flügeln auf Vasenbildern und Denkmälern, die in einem geschlossenen Sagenkreis eingebunden und mit wenigen charakteristischen Funktionen ausgestattet sind, finden sich Windallegorien zur Veranschaulichung abstrakter Inhalte, kultische Bildzeugnisse, Windbüsten, blasende Köpfe und Flügelwesen. Im Werk der Hildegard von Bingen stößt man auch auf Tierallegorien. Aber davon mehr später. Diese unterschiedlichen Figuren tauchen ebenfalls in den mittelalterlichen Winddiagrammen auf, welche graphische Elemente und bildhafte Motive mit Texten kombinieren. Die Winde werden dabei in kreisförmige oder rechteckige geometrische Schemen gebannt, sitzen in den vier Ecken eines Quadrats und blasen auf die Welt herunter. Ikonographische Motive dieser Art finden sich ebenfalls in mittelalterlichen Manuskripten besonders in Bibelillustrationen. Dieses statische Weltverständnis ist nicht ohne seine Ambivalenzen. So sind die Winde zugleich engelhafte und dämonische Figuren, die Segen spenden 3  G. Lakoff und M. Johnson, Metaphors We Live By, Chicago 2003, S. 33.

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oder Tod und Zerstörung bringen. Die jeweiligen Attribute der Winde treten in immer neuen Kombinationen auf. Dieser begrenzte Spielraum muss aber innerhalb eines stabilen Rahmens gedacht werden. In der Regel wurden Winde in der Antike und im Mittelalter als männliche Figuren dargestellt. Eine Ausnahme stellen dabei die Harpyien dar, weibliche Winde, die in der griechischen Mythologie als schöne Frauen mit gelocktem Haar und Vogelf lügeln beschrieben wurden, später aber meist als bösartige hässliche Dämoninnen, gef lügelte Mischwesen und Vogelgestalten mit Frauenkopf. Besonders hervorgehoben wurden dabei die gewaltigen Krallen – wohl wegen der Tendenz von Winden, Gegenstände zu ergreifen und wegzutragen – und manchmal auch die langen wallenden Haare. Wie andere Winde wohnen die Harpyien in einer Höhle auf Kreta und müssen die Seelen von Toten in den Tartaros tragen und Menschen töten, die Zeus’ Zorn erregt haben. Die Harpyien werden als schnell wie der Wind und als unverwundbar beschrieben. Ihre Anzahl ist unbestimmt. Sie sind die Töchter des Meerestitanen Thaumas und der Okeanide Elektra. Aello ist der Sturmwind und der Wirbel, Okypete die Schnellf lügelige, Podarge die Schnellfüßige, Mutter der Pferde des Achilleus, und Kelaino die Dunkle und Unheilvolle. Bei den Harpyien überwiegt das Destruktive und Dämonische. Es ist wohl kein Zufall, dass bis vor kurzem die tropischen Wirbelstürme noch ausschließlich Frauennamen trugen. Im europäischen Kulturkreis wurde der Wind anhand seiner Auswirkungen – bewegte Wellen, geneigte Bäume, wehende Gewänder, Fahnen –, sichtbarer Zeichen – Blasinstrumente, Flügel, farbige Linien, Pfeile, Beschriftungen – und unterschiedlicher Personifizierungen und Allegorisierungen – Menschengestalt, Menschenkopf, Engel, Dämon – dargestellt. Der Antwerpener Stecher Antonius Wierinx (1552-1624) hat in einem Kupferstich die Luft und den dazugehörigen Wind gleich mehrfach ins Bild gesetzt. Die Luft ist ein gef lügelter Genius des Fliegens, dessen Haare sich in Wolken verwandeln, eine weibliche Gestalt mit erhobenen Armen und entblößten Brüsten. Auf dem Zeigefinger ihrer rechten und linken Hand sitzt jeweils ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln, der zum Flug ansetzt. Die Luft steht auf einem Wagen, der von einer weiteren ebenfalls stehenden gef lügelten und blasenden Figur mit wirrem Haar und wild im Wind f latternden Gewändern gelenkt wird. In der rechten Hand hält er die Zügel von zwei den Wagen ziehenden Adlern. Die Gallionsfigur, klein und satyrhaft, übt sich in der Kunst des Glasblasens. Im Hintergrund sieht man Segelschiffe und den

3. Windpersonifizierungen: Engel und Dämonen

abstürzenden Ikarus, was zugleich an die nützlichen und gefährlichen Seiten des Windes gemahnt.4

Windgottheiten in der Antike Wie Kora Neuser in ihrer Studie zur Darstellung der Winde und Windgottheiten in der Antike festhält, werden »nahezu alle Bereiche menschlichen Daseins, ja Leben schlechthin […] in den mythologischen, kosmologischen oder astrologischen Vorstellungen der Antike in enger Wechselbeziehung mit den im elementaren Naturphänomen ›Wind‹ gegenwärtigen Wirkkräften begriffen; menschliches Leben, diesseitiges und jenseitiges, spielt sich zwischen Winden ab, die es fördern oder gefährden.«5 Alle Lebensbereiche, Seefahrt, Landwirtschaft, Glück und Unglück, Segen und Verderben, Krankheit und Tod haben mit dem Einf luss der Winde zu tun, die zwar als unberechenbar und launenhaft verstanden werden, aber durchaus auch einen wichtigen Beitrag leisten, so tragen sie die Toten ins Jenseits und übernehmen Botendienste. Die Bedeutung des Windes ist ein Kernstück der antiken Kosmologien, die zusammen mit den antiken Windtheorien in die ikonographische und literarische Tradition ausstrahlen. In der antiken Darstellungstradition der Winde ist das Viererschema, wie schon hervorgehoben, von großer Bedeutung. Hinzu kommt im Zuge der Personifizierung die Vorstellung eines familiären Zusammenhangs. Zwei gegensätzlichen Windgöttern, Boreas und Zephyros, die den klimatischen Wandel im Mittelmeerraum entscheidend prägen, kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Boreas, römisch Aquilo, ist ein rauer kalter Winterwind aus dem Norden und Nordosten, ein Bergwind, der aus zerklüfteten Höhlen stammt und für heiteres trockenes wolkenarmes Wetter sorgt. Boreas ist der Herr der Winde und der Vater der Stürme. Hervorgehoben werden vor allem seine Schnelligkeit und wilde ungebrochene Kraft. Seine Eltern sind Astraios und Eos, seine Brüder Zephyros, Notos und Euros. Die vier verschwisterten Kardinalwinde werden paarweise angeordnet: Boreas (Norden) und Zephyros (Westen), auf der einen, Notos (Süden) und Euros (Osten) 4  Vgl. Böhme und Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 31. 5 K. Neuser, Anemoi. Studien zur Darstellung der Winde und Windgottheiten in der Antike, Rom 1982, S. 7.

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auf der anderen Seite. Der Westwind Zephyros, römisch Favonius, kommt aus düsterer Himmelsrichtung und bringt dunkle Wolken, dennoch wird er als goldlockiger milder freundlicher und fruchtbarer Frühlingsbote dargestellt, der den Winter vertreibt, erquickt, belebt und die Seefahrt begünstigt. Unter den Winden ist er zugleich der schnellste und weiblichste und wird meist mit der Liebesthematik verbunden. In den ersten ikonographischen Darstellungen ist er noch ein wilder Charakter mit struppigem Haar, wehendem Chiton und ungestümem Schritt. In Mythen und Sagen ist er aber auch der liebliche sanft wehende Westwind. Neben Boreas ist nur noch der Kardinalwind Zephyros mythenbildend geworden. In Ovids Metamorphosen sind die Winde Brüder, denen verschiedene geographische Bereiche zugeordnet wurden, damit sie sich nicht in die Haare geraten. »Doch auch ihnen überließ der Schöpfer der Welt die Luft nicht uneingeschränkt; selbst heute kann man nur mit Mühe verwehren, daß sie die Welt in Stücke reißen, wo doch jeder von ihnen in einer ganz anderen Richtung weht; so groß ist die Uneinigkeit der Brüder.«6 Als zerstrittene Brüder sind die Winde grundlegend inkompatibel. Aus diesem Grund sind sie räumlich und zeitlich getrennt worden. Wenn sie sich vermischen würden, könnte ihr Streit die Welt in Stücke reißen, und wenn sie sich zusammentäten, würde ein einziger riesiger vernichtender Sturm entstehen. Die anthropomorphisierenden Darstellungen von mythischen Windgottheiten weisen über Jahrhunderte hinweg eine große stilistische und thematische Geschlossenheit auf. Das feste Zeichensystem umfasst Schulterf lügel, Flügelstiefel, wehender kurzer Chiton, wehender Mantel über Schulter oder Arm, langes gesträubtes oder wirres Haar, hochstehendes Stirnhaar. Alle Attribute deuten auf Bewegung hin. Meistens werden nur einige eingesetzt, aber genug, um Eindeutigkeit herzustellen. Auch die Gestik suggeriert Bewegung und Leichtigkeit: ausgreifender Schritt, begehrlich vorgestreckte Arme, Abheben von der Bodenlinie, durch die Luft f liegen. Das Moment des Blasens, das in den Winddiagrammen eine zentrale Rolle spielt, fehlt hier meist ganz. Der in späthellenistischer Zeit in Athen entstandene achteckige Turm der Winde, der Horologion des Andronikos, ist ein Gipfelpunkt antiker Winddarstellungen und zugleich ein Wendepunkt, denn die noch vollfigürlich und f liegend dargestellten Windgötter sind zugleich schon elementare Gewalten, 6  Ovid, Metamorphosen, Stuttgart 2015, S. 11.

3. Windpersonifizierungen: Engel und Dämonen

die aus dem mythologischen Kontext herausgelöst worden sind. Jedem der acht Winde werden neben dem Namen eine geographische Herkunft und eine Jahreszeit zugewiesen. Die acht differenzierten Flügelpersonifikationen des Turmes sind die Synthese des gesamten naturkundlichen Wissens der Antike. Dieses achtteilige Windsystem, das für eine lange Zeit ein gültiges Vorbild blieb, umfasste vier Kardinalwinde und vier Nebenwinde. Die Windreliefs zeigen, aus welcher Richtung ein Wind kommt, wie er heißt und welche Eigenschaften er hat. Alle acht Winde sind als nach rechts f liegend und außer Boreas als nicht blasend dargestellt. Boreas ist ein bärtiger Mann mit einem Mantel und einer Muschel, in die er bläst. Kaikias (Nordosten) ist ebenfalls ein bärtiger Mann, der runde Objekte, möglicherweise Hagelkörner, aus einem runden Schild schüttet. Ap(h)eliotes (Osten) hingegen wird als Jugendlicher dargestellt, der ein mit Früchten und Getreide gefülltes Manteltuch trägt. Euros (Südosten) ist ein bärtiger Mann, der in einen Mantel gehüllt ist. Notos (Süden) wiederum ist ein Jugendlicher, der eine Kanne entleert. Auch Lips (Südwesten) wird als Jugendlicher dargestellt, zusammen mit einem Steven, dem Vorderteil eines Schiffes. Zephyros (Westen) ist ein Jugendlicher, der ein mit Blumen gefülltes Manteltuch trägt und Skiron (Nordwesten) ein bärtiger Mann, der ein bauchiges Gefäß entleert. Vier Winde sind erwachsene Männer und vier Jugendliche. Vier tragen einen Bart. Die Muschel steht für das Blasen, der Schild, das vielfach gefüllte Manteltuch, die Kanne und das bauchige Gefäß deuten auf die Großzügigkeit der Winde und der Steven auf deren Bedeutung für die damalige Schifffahrt hin. In der Folge verschwinden die anthropomorphen einzeln agierenden Windgottheiten und werden von entpersönlichten Windbüsten oder Windköpfen ersetzt, die den Reduktionsprozess anthropomorpher Windgottheiten am sichtbarsten durchführen und den Wind nunmehr als Naturphänomen darstellen. Eine der frühesten Darstellungen eines blasenden Windkopfes findet sich auf einer Vase aus dem 3.-4. Jahrhundert v. Chr. Der große pausbackige Windkopf mit wirrem gesträubtem Haar befindet sich in der oberen rechten Ecke.7 Die neuen Bilder sind keinem Mythos mehr entnommen, sondern bildhafte Allegorien eines empirisch feststellbaren Vorganges. Wie Neuser ergänzend festhält, muss man diese auf zwei Phasen beruhende Interpretation noch weiter ausdifferenzieren, gehören doch auch 7  V  gl. T. Raff, »Die Ikonographie der mittelalterlichen Windpersonifikationen«, in Aachener Kunstbblätter 48 (1978-79), S. 80 (Abbildung 10).

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Winddämonen, Windpferde und Trompetenjünglinge zu dieser Entwicklung. Die älteste Schicht sind schlangenfüßige, gef lügelte, raubgierige, raffgierige chthonische Dämonen. Selbst der Windgott Boreas hat Schlangenschwänze anstelle der Füße. Wie die weiblichen Harpyien präsentieren sich die männlichen Winde ursprünglich »als raffende dämonische Wesen im ›selbstsüchtigen Zufassen‹ nach Opfern.«8 Dass Winde als raffgierige, raubende und Menschen entführende Wesen dargestellt werden, hat wie schon zuvor festgehalten damit zu tun, dass schwere Stürme Gegenstände unterschiedlicher Größe durch die Luft tragen können. Reduzierte Windgötter in Form von blasenden bärtigen Figuren und später auch als gef lügelte Windköpfe oder Windbüsten treten schon Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. auf. Diese niederen dienenden Windgottheiten erfüllen spezifische Funktionen und sind nicht voll handlungsfähig wie die anthropomorphen Gottheiten. Das Blasen stellt dabei oft bloß ihre Schnelligkeit und den von ihnen verursachten Lärm dar. Ein blasender Mund repräsentiert die Quelle der Windbewegung, ein trompetender Jüngling den Ausgangspunkt des Windgeräusches und das galoppierende Pferd die Schnelligkeit. »Damit wird schon im fünften Jahrhundert v. Chr. das ikonographisch nachvollzogen, was die antike Naturkunde und Kosmologie mit der systematischen Erfassung der elementaren Naturkraft, ihrer Entstehung, ihres Wesens, ihrer Erscheinungsform und ihrer Funktion seit der ältesten ionischen Naturphilosophie vorgezeichnet hatte.«9 Die bildhaften Darstellungen folgen somit den naturphilosophischen Überlegungen der Vorsokratiker, die im letzten Kapitel diskutiert wurden.

Mittelalterliche Windpersonifikationen Thomas Raff beschäftigt sich mit der Ikonographie mittelalterlicher Windpersonifikationen in handschriftlichen Bibelausgaben, Mosaiken und Wandgemälden. Obwohl in mittelalterlichen Enzyklopädien immer ein Kapitel über die Winde vorkommt, finden sich darin keine Bemerkungen dazu, wie man Winde bildlich darstellen soll. Auch die damalige Wetterkunde nahm keinen Einf luss auf die Ikonographie der Winde, die weitgehend von antiken Vorbildern inspiriert wurde. Dabei spielen, was das Thematische 8 Neuser, Anemoi, S. 232. 9 Ebd., S. 234.

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angeht, vor allem bestimmte Bibelpassagen eine Rolle. Der Wind ist ein Attribut der Herrlichkeit Gottes, der über das Wetter Gewalt hat. Gott ist von Stürmen umgeben, die seinen Willen ausführen, und ist auf den Flügeln der Winde unterwegs. Die Winde sind Gottes Boten. Sie sind Vermittler und führen Gottes Befehle aus. Obwohl Gott, der schöpferische Atem (ruach) und der Wind in bestimmten Bibelstellen als identisch gedacht werden, ist der Gott der Bibel prinzipiell kein Windgott. Er ist nicht mit dem Wind identisch, dieser kündigt ihn an.10 Der Wind ist zugleich eine destruktive strafende und eine belebende inspirierende Kraft. Das vom Wind gepeitschte aufgewühlte Meer, die stürmischen lebensbedrohlichen Seefahrten und die zerstörerische Wut des Windes stehen dem befruchtenden Atem Gottes, der tote Gebeine zum Leben erweckt, und der inspirierenden Präsenz des Windes in prophetischen Visionen und am Tag des Jüngsten Gerichts gegenüber. Das Darstellungsrepertoire umfasst Engel und Dämonen, als Prinzipien des Guten und des Bösen, die allein oder zusammen auftreten können. Die Winddämonen11 verkörpern die zerstörerischen Aspekte des Windes: kleine struppige Flügelwesen mit Hörnern und/oder Flügeln, meist nackt und dunkelfarbig, mit strähnigem zu Berge stehendem Haar, wie senkrechte f lammenartige Borsten als Zeichen der Besessenheit. Daneben finden sich hybride Gestalten sowie vielfache Übergangsformen. Aus Windgöttern werden »gef lügelte und geschwänzte Dämonen (›Teufel‹) mit Krallenfüßen, die mit zwei Händen Trompeten an den Mund halten.«12 Engel tragen manchmal seltsame zackige Rückenf lügel, die auf Tritonen zurückgehen, deren Fischschwänze umgestaltet wurden. Tierfratzen und Tierköpfe, die nicht unbedingt mit den zerstörerischen Seiten der Winde gleichgesetzt werden können, sind in der mittelalterlichen Kunst eher die Ausnahme, aber typisch für die Miniaturen der Bibles moralisées. Wind-Tiere finden sich auch in den illuminierten Handschriften des Beatus von Liébana zugeschriebenen Apokalypsen-Kommentars mit ihren farbenprächtigen Miniaturen, die zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert in Nordspanien entstanden. In Daniels Traum (Daniel 7) wird das Meer von vier Winden aufgewühlt und vier Tiere steigen daraus hervor. Auf einer Doppelseite der Beatus-Handschrift 10  Vgl. D. Lys, Daniel, Rûach. Le Souffle dans L’Ancien Testament, Paris 1962. 11  Vgl. Raff, Ikonographie, S. 158-159. 12 Ebd., S. 122.

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des Kathedralenarchivs von Gerona, die auf das Jahr 975 datiert wird, kann man in den vier Ecken Tiere sehen, deren untere Körperhälfte in einem Wirbelkreis zu stecken scheint. Jedes Tier hält eine Tuba an den Mund. In einer weiteren etwa hundert Jahre jüngeren Beatus-Handschrift in der Paris Nationalbibliothek, ist jedem der vier Tiere noch ein blasender Windkopf mit Flügeln beigegeben worden. Der Wind belebt und zerstört. In Ezechiels (Ez 37, 9) Vision des Tals der dürren Gebeine erwecken die vier Winde die Toten zu neuem Leben. In mittelalterlichen Handschriften wird dies anhand von vier Windköpfen, teils im Profil, teils frontal dargestellt, die aus den vier Himmelsrichtungen auf die Toten herunter blasen. In der Farfa-Bibel aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts sind es vier Windköpfe im Profil, die in die vier Ecken platziert worden sind. Sie tragen drei Flügelpaare, zwei seitlich und ein drittes am Hinterkopf. In der Gumperts-Bibel aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts blasen vier blaue, f lügellose Windgesichter aus Wolken, die ebenfalls in die vier Ecken platziert wurden. Gewellte Strahlen f ließen von den Mündern zu den beseelten Körpern hinunter. Ezechiels prophetische Gottesvision (Ez 1, 4ff.) berichtet von einem Sturmwind (ventus turbinis), der von Norden herkommt und einer großen Wolke, die von Lichtglanz umgeben ist. Dies hat zu unterschiedlichen Darstellungsformen geführt, bei denen die verschiedenen Einzelheiten frei kombiniert wurden. In der Roda-Bibel bläst ein Windkopf im Profil mit drei Flügelpaaren von rechts kommend auf eine aus mehreren unregelmäßigen Ringen gebildete Wolke. In der Farfa-Bibel hingegen ist es ein blasender Windkopf mit zwei Flügelpaaren, der von links ins Bild bläst. In der Bibel von St. Bénigne in Dijon findet sich in der E-Initiale eine Wolke, aus der Himmels- und Regenbogen hervorkommen. Darunter, links und rechts davon, steht ein sechsf lügeliger Engel mit Schwert und zwei ineinander verschlungene Flügelrädern. Dazwischen befindet sich eine von vier kleinen Köpfen im Profil umgebene Wirbelwolke. Die Köpfe blasen zwar nicht, wie zu erwarten wäre, aber die zurückgewehte Frisur weist darauf hin, dass es sich um Windköpfe handelt. Zu Beginn von Hiobs gottgewollter Prüfung (Hiob 1, 19) erfasst ein gewaltiger Sturm von jenseits der Wüste, die vier Ecken des Hauses, das daraufhin zusammenbricht. Der Urheber des Einsturzes ist ein satanischer Wind. In der Patmos-Handschrift sitzen Hiobs Kinder um einen Tisch herum, während aus den oberen Ecken des Bildes dunkle ungef lügelte Gestalten große Steinblöcke herunterwerfen. In weiteren Hiobshandschriften des 13. und

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14. Jahrhunderts werden die teuf lischen blasenden Gestalten in den oberen Ecken als Köpfe oder Büsten dargestellt. In einer Illustration aus einer lombardischen Bibel tritt aus der oberen rechten Ecke ein blauer Teufel hervor, der in den ausgestreckten Händen einen roten gef lügelten Windkopf hält, welcher Strahlen auf das einstürzende Haus bläst. Gott schickt den Wind zwar als Bestrafung, kann diesen aber jederzeit zum Verstummen bringen. Dies ist der Fall in zwei Szenen aus dem Neuen Testament. In der einen stillt Christus den Sturm auf dem See Genezareth, in der anderen wandelt er auf dem Wasser und errettet Petrus aus den Fluten (Mt 14, 22-23; Mk 6, 45-51; Joh. 6, 16-21). Giottos Navicella-Mosaik in der Vorhalle des Petersdoms in Rom basiert auf einer spätantiken Vorlage: Zwei Windpersonifikationen befinden sich rechts und links oberhalb des Schiffes und halten mit der einen Hand eine Trompete. Auch hier wie in anderen Darstellungen des Christus, der den Sturm auf dem See Genezareth stillt, sind die Winde als Tierfratzen dargestellt, die vom Bildrand her auf das segellose Boot blasen. Im oberen rechten und linken Bildrand befinden sich noch weitere Tierköpfe.

Geflügelte Wesen In der Bibel werden Wind und Flügel an mehreren Stellen zusammengedacht. Der strafende Sturm wickelt die Schuldigen in seine Flügel (Hosea 4, 19). Gott kommt auf den Fittichen des Windes daher (Psalm 18, 10). Die Flügel sind auch ein Attribut Gottes: »Er wird dich mit seinen Fittichen decken, und deine Zuversicht wird sein unter seinen Flügeln« (Psalm 91, 4). Die im Mittelalter weit verbreitete christliche Vorstellung von gef lügelten, schwebenden Engeln ist weitgehend auf die römische Kultur der Antike zurückzuführen.13 Bis Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. wurden Engel meist ohne Flügel, als ätherisch verklärte Figuren dargestellt. In der Bibel selbst tragen nur die Erzengel sowie die Seraphim und Cherubim Flügel. Es wird mehrmals auf die Fähigkeit der Engel zu f liegen hingewiesen. Dennoch hat sich in der christlichen Tradition früh schon die Vorstellung gef lügelter Engel durchgesetzt. Obwohl Engel in der Regel nur in Erscheinung treten, stehen bleiben und wieder abtreten, ist die Vorstellung eines f liegenden und gef lügelten Wesens in vielen Passagen aber schon implizit vorhanden. Die Flügel sind ein 13 Vgl. G. Berefelt, A Study on the Winged Angel. The Origin of a Motif, Stockholm 1968.

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Zeichen der Geschwindigkeit, und ein Attribut derjenigen, die sich zwischen den Lebenden und den Toten hin und her bewegen. Engel sind Botschafter und Wächter, inspirierte Wesen oder Instrumente des göttlichen Willens. Obwohl die Bibel die Vorstellung gef lügelter und schwebender Engel beeinf lusste, ist deren eigentlicher Ursprung auf die römischen Darstellungen des personifizierten Sieges zurückzuführen. Das römische Siegesmotiv und die damit verbundene imperiale Apotheose entwickelten sich mit der Zeit zu einem Symbol des Triumphs der christlichen Lehre, besonders nachdem diese als offizielle Religion des Kaiserreiches anerkannt worden war. Die oberhalb von Triumphbögen angebrachten gef lügelten schwebenden Engel wurden dabei meist in symmetrischen Paaren, mit ausgestreckten Armen und einem Medaillon in den Händen dargestellt. Die beiden Engel stellten die Apotheose Christi dar und die Verherrlichung seines Namens und seiner Lehren.14 Ab dem 5. Jahrhundert n. Chr. wurden die Flügel zum markantesten Merkmal der Engel. Auch die Engel, die als Gottes Botschafter fungierten, wurden nun als schwebend und gef lügelt dargestellt, allerdings nie in Paaren, sondern immer allein. Der Einf luss des römischen Siegesmotivs ist auch hier anhand der Beinstellung, der Flügelform, dem wallenden Kleid und den stilisierten Falten des Kostüms nachweisbar. Die Austauschbarkeit von Engeln und Winden beruht unter anderem auf der Tatsache, dass beide Flügel tragen.15 Dabei werden die Flügel der Winde auf die Engel übertragen. Auch die äußerliche Verwandtschaft von Engeln und Dämonen hat damit zu tun, dass beide Flügel tragen. Nach Isidor von Sevilla haben die Dichter den Winden Flügel verliehen, um auf deren Schnelligkeit hinzudeuten. So schreibt er in den Etymologiae: Den Engeln »gibt man nach dem Willen der Maler Flügel (pennas facit), um ihre schnelle Bewegung auszudrücken, so wie nach den Fabeln der Dichter auch die Winde wegen ihrer Schnelligkeit Flügel haben sollen« (venti pennas habere dicuntur propter velocitatem) (Etym lib. 7, 5, 3). Auch die Boreaden, die Nachkommen des Nordwindes Boreas, haben in Ovids Metamorphosen Flügel an Köpfen und Füßen.16 Um 200 n. Chr. schreibt der nord-afrikanische Kirchenvater Tertullian: »Omnis spiritus ales est. Hoc angeli et daemones. Igitur momento ubique

14  Zum Verhältnis von Engeln und Winden vgl. auch A. Nova, Das Buch des Windes, S. 45-49. 15  Für die folgenden Überlegungen vgl. Raff, Ikonographie, S. 157-159. 16 Vgl. Ovid, Metamorphosen, S. 184-46.

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sunt: totus orbis illis locus unus est«17 (Alle Geister haben Flügel, so auch Engel und Dämonen. In einem Moment sind sie überall: die ganze Welt ist für sie ein einziger Ort). Damit begründet er die Flügel von Engeln und Dämonen, wie Raff festhält, »gerade mit jenen Eigenschaften, die vor allem bei den Winden beobachtet und ihnen zugeschrieben wurden: überall auf dem Erdkreis gleichzeitig zu sein.«18 In einem Buch über Engel schreibt dazu der christliche Autor und Kirchenvater des frühen 6. Jahrhunderts n. Chr. Pseudo-Dionysos Areopagita: »Wenn die Engel ferner ›Winde‹ genannt werden, so bezeichnet das ihren schnellen und nahezu zeitlosen Flug über alles hin, ihre von oben nach unten und desgleichen von unten nach oben führende Bewegung … Man könnte auch sagen, daß der Name Wind, sofern er für den wehenden Lufthauch gebraucht ist, auch die Gottähnlichkeit der himmlischen Geister bezeichne …«.19 Auch Beatus von Liébana beschreibt in seinem Apokalypsenkommentar aus dem 8. Jahrhundert die Engel und die Winde als identisch und bezieht sich dabei auf die schon erwähnte Passage aus Isidor von Sevilla. Winde und Engel sind nicht nur wegen ihrer Geschwindigkeit und Leichtigkeit austauschbar, sondern auch wegen ihrer gemeinsamen spirituellen Natur. Macht Gott die Winde in der ursprünglichen Fassung der Bibel noch zu seinen engelhaften Boten (Psalm 104, 4), so werden in der Vulgata und der Septuaginta seine Engel zu Winden gemacht. Diese tendenzielle Verschmelzung von Wind und Engel kann unter anderem auf eine Passage aus der »Offenbarung« zu den Ereignissen vom Jüngsten Tag zurückgeführt werden: »Danach sah ich vier Engel stehen an den vier Ecken der Erde, die hielten die vier Winde der Erde fest, damit kein Wind über die Erde blase noch über das Meer noch über irgendeinen Baum.« (Offenbarung 7, 1) In dieser Passage haben die Engel, die sonst auch als Winde auftreten, die Aufgabe, die Winde festzuhalten, um sie an ihrer zerstörerischen Tätigkeit zu hindern. Das Thema der Zurückhaltung der Winde hat eine eigene Darstellungstradition gefunden, die nicht mit der restlichen Tradition in Verbindung gebracht werden kann. In einer Illustration aus der deutschen ottonischen Buchmalerei, das Perikopenbuch Heinrichs II. vom Anfang des 11. Jahrhunderts, das in München in der Bayerischen Staatsbiblio17  Z  itiert in Raff, Ikonographie, S. 157, nach Tertullian, Apologeticus adversus gentes pro christianis, cap. 22 (PL.1, 407). 18  Ebd., S. 157. 19  Zitiert ebd., S. 158, nach Pseudo-Dionysos Areopagita, Himmlische Hierarchie, Kp. 15.6.

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Abbildung 1: Albrecht Dürer, Zurückhaltung der Winde

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thek erhalten ist, sieht man vier posaunende Engel neben vier aus den Ecken blasenden Windköpfen. Die vier bläulichen gehörnten f lügellosen, aber blasenden Menschenköpfe haben keine Instrumente. Ein weiteres Beispiel für diese Verdoppelung ist das sogenannte Lektionar des Heiligen Bernulph vom Ende des 11. Jahrhunderts (Utrecht, Erzbischöf liches Museum): ein posaunender halbfiguriger Engel mit Heiligenschein tritt zusammen mit einem gehörnten Windkopf auf. In der sogenannten Kölner oder Koberger-Bibel (1483-9) sind es vier Engel in den vier Ecken des Bildfeldes, die mit gezücktem Schwert gegen drei Winde ankämpfen, die sich in der oberen Bildmitte befinden. Diese Konzeption beeinf lusste auch Albrecht Dürers Holzschnittapokalypse zur Zurückhaltung der Winde (vgl. Abb. 1). Dürer übernahm die stehenden bewaffneten Engel und rückte sie zusammen, nur noch einer von ihnen ist bewaffnet. Die Winde selbst sind als vier große menschliche Köpfe mit aufgeblasenen Backen und struppigen Haaren dargestellt, die sich allerdings nicht in den Ecken, sondern im oberen Bildteil inmitten von Wolken befinden. Die oberen zwei Winde links und rechts blasen nach oben in die Ecken und scheinen keinen Bezug zu den Engeln zu haben. Die unteren zwei blasen ins Bild hinein und auf die Engel hinunter, die Abwehrgesten zeigen. Die beiden vorderen Engel verhalten sich ruhig und halten bloß ihre Schwerter, ohne einen Kampf anzudeuten. Die beiden hinteren hingegen wenden sich gegen die zwei blasenden Winde. Damit liegt dem Holzschnitt eine Erzählung zugrunde, die verschiedene Stadien der Zurückhaltung der Winde verdeutlicht. Die vorderen Engel haben ihre Schlacht schon geschlagen, denn die Winde blasen nun nicht mehr auf Land und Meer. Die hinteren sind noch in einen Kampf verwickelt. Die Engel können somit zugleich Winde sein oder gegen die Winde kämpfen. Sie können aber auch beides zugleich sein: Winde und diejenige, die den Winden befehlen. Das Motiv des bewaffneten Kampfes gegen die Winde findet sich auch auf einer Illustration zu einem Kommentar von Beatus von Liébana zur Johannes-Apokalypse. In diesem aus Spanien stammenden Codex aus dem ersten Viertel des 10. Jahrhunderts (Pierpont Morgan Library New York) halten die Engel eine Hand vor den Mund, als wären sie im Begriff, diesen zu verschließen. Die Engel stellen Winde dar, die auf Befehl anderer Engel auf hören zu blasen. Diese Deutung widerspricht der entsprechenden Bibel-Passage, heißt es dort doch, dass die vier Engel die Winde festhalten. Im Kommentar des Beatus aber steht, die vier Engel und die vier Winde seien dasselbe und zugleich Kräfte des Guten und des Bösen: »Quattuor angeli et quattor venti

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unum sunt […] vidi quattuor angelos tenentes quattuor ventos …Isti angeli vel venti et boni sunt et mali.«20 Die Austauschbarkeit von Engeln und Winden beruht hier auf der Tatsache, dass beide sowohl heilbringende Kräfte und Gottes Diener als auch teuf lische Dämonen und Zerstörer sein können. Diese Identität wird auch anhand des Blasens, das eigentlich ein Attribut der Winde ist, hergestellt. Manchmal werden auch die Flügel weggelassen, welches das typische Attribut der Engel ist. In einer weiteren Beatus-Handschrift der Apokalypse von Saint-Sever-sur-l’Adour aus dem 11. Jahrhundert sind die Engel nur bis zum Knie sichtbar, was auf ihre dunkle Seite hinweisen könnte. In den Händen tragen sie gef lügelte Windköpfe. Zwei davon blasen ungehindert, den zwei anderen ist aber bereits der Mund durch eine Engelshand verschlossen worden. In weiteren Handschriften finden sich noch zusätzliche Varianten: in den vier Ecken stehen vier Engel, die einen ungef lügelten Windkopf in einer Hand halten, der in ein langes gekrümmtes Horn bläst; in den vier Ecken kniende Engel versuchen, vier Tierfratzen die Mäuler zu verschließen; neben den vier Engeln befindet sich je ein gef lügelter Hundekopf, aus dessen geöffnetem Maul wellige Strahlen kommen. Raff bestimmt drei Grundtypen von Windengeln: die Engel wenden sich gegen die Winde, sie blasen selbst, sind also auch Winde, und sie halten die Winde in ihren Händen. Windengel und engelgestaltige Winde sind Teil der allgemeinen Engelikonographie, die wiederum von literarischen Quellen meistens aus der Antike abhängig ist. Wind- und Engelikonographie hängen aufs engste miteinander zusammen. Die Engel, welche die Windköpfe halten, sind fast stets menschlich und nur selten zoomorph. Die Windköpfe können gef lügelt oder ungef lügelt sein. Wie die Winde, die Windköpfe und die Engel sind auch die Tiere und Tierfratzen nie eindeutig diabolisch konnotiert, sondern verbleiben in der Ambivalenz. Die Zurückhaltung der Wind wird durch verschiedene Gesten ausgedrückt: die Engel halten die Winde mit einer oder mit beiden Händen, oder aber sie legen ihre Hand auf deren Mund. Dabei werden, wie bei Dürer, verschiedene Stadien der Zurückhaltung dargestellt: der Wind kann noch ungehindert blasen, der Engel hat schon seine Hand vor dessen Mund oder diesen bereits fest zugedrückt. Winde und Engel werden dadurch unterschieden, dass letztere erstere in den Händen halten. Die beiden werden aber oft auch als bildlich identisch aufgefasst. Die Dualität von heilbringendem Engel und zerstörerischem 20 Zitiert in ebd., S. 131.

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Dämon wird in den mittelalterlichen Winddiagrammen mit dem Gegensatz von Haupt- und Nebenwinden konjugiert, der wiederum mit der Dichotomie von Ordnung/Unordnung und Regelmäßigkeit/Unregelmäßigkeit zusammengedacht werden muss, die auch im Wetterwissen der Neuzeit und frühen Moderne eine Rolle gespielt hat.

Winddiagramme Aristoteles definierte in der Meteorologie eine Windrose, die auf acht Winden beruhte, zu denen sich noch zwei weitere Winde in der nördlichen Hemisphären gesellten, denen aber kein Gegenwind in der südlichen Hemisphäre entsprach.21 In der Folge wurden verschiedene weitere Windrosen definiert, die von vier Kardinalwinden bis zu 32 Winden reichten. Die Winde wurden fast ausschließlich in Schemata mit Vierer- oder Zwölfergruppen eingeteilt. Die Zahl Acht spielte im Mittelalter keine große Rolle. Das tertium comparationis bei diesen Korrespondenzen war oft nur die Zahl. Die vier Winde wurden mit den vier Kardinalhimmelsrichtungen, den vier Jahreszeiten und den vier Elementen verbunden. Dieses Quaternitätschema wurde durch den christlichen Gelehrten und Theologen Origenes (185-253/4 n. Chr.) ins christliche Weltbild übernommen. Die vier Kardinalwinde waren in ein enges Netz von Korrespondenzen eingebunden, das auch die Körpersäfte umfasste. So beginnt der anonyme medizinische Traktat aus dem frühen Mittelalter De quattuor ventis et quattuor angulis caeli et quattuor corporibus mit der programmatischen Feststellung: »Quattuor sunt venti, quattuor angulis caeli et quattuor humores in humano corpore […]«22, vier sind die Winde und die Ecken des Himmels, und vier sind die Körpersäfte. Der Vorteil von Diagrammen besteht in der Korrelation der unterschiedlichen Kategorien, die eine bestimmte Hierarchie erst sichtbar machen. Diagramme sind eine umfassende, klar-strukturierte Zusammenfassung der Winde in ihren Beziehungen zueinander und zu den anderen Bestandteilen des Makro- und Mikrokosmos. Die zwölfstrahlige Windrose aus der römischen Antike, die der Systematisierung der Winde diente, stellte noch kein Bild des Kosmos dar. Die zwölfstrahlige Windrose, die sich im Mittelalter 21 Zu Windrosen in der chinesischen Kultur vgl. Kuriyama, The Imagination of Winds, S. 29. 22 Zitiert in Obrist, Wind Diagrams, S. 72, Fußnote 139.

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durchsetzte, hingegen hing mit den zwölf Stämmen, den zwölf Aposteln sowie den zwölf Monaten und den zwölf Stunden des Tages und der Nacht zusammen. Dabei unterschied man zwischen vier Hauptwinden, denen jeweils zwei Nebenwinde zugeordnet wurden. Die aus der Antike stammende Darstellung der Erde als liegendes Rechteck wurde in der christlichen Kunst kaum verwendet. Üblich waren ein Kreis oder kreisähnliche Formen, die in einem Quadrat untergebracht waren. Die grundsätzliche Unterordnung der Nebenwinde unter die Kardinalwinde entsprach dem Unterschied zwischen lebenspendenden und zerstörerischen Winden und postulierte zugleich die Vorherrschaft der natürlichen Ordnung über die Kräfte der Unordnung. Der Rangunterschied zwischen Haupt- und Nebenwinden wurde oft durch die unterschiedliche Größe der Figuren verdeutlicht. In einer Handschrift von Isidor von Sevillas De natura rerum stehen z. B. vier nackte Männer mit großen Kopff lügeln und ausgestreckten Armen in einem Kreis. In den Händen halten sie eine ihnen gleichende, deutlich kleinere Figur, die hier noch als ganzfigurig dargestellt wird. In anderen Illustrationen werden die Hauptwinde in der Regel ganzfigürlich und die Nebenwinde als Köpfe dargestellt oder umgekehrt. Wesentlich ist dabei aber immer der Unterschied und die damit implizierte Windhierarchie. Den ersten frühmittelalterlichen Winddarstellungen begegnet man bei Isidor von Sevilla, dessen De natura rerum (ca. 613) noch weitgehend durch die griechisch-römische Meteorologie bestimmt ist, die den Wind als sublunares Phänomen versteht. Im 12. Jahrhundert beginnen sich in der Windtheorie theologisch orientierte Vorstellungen, die den Ursprung der Winde in- oder oberhalb der himmlischen Sphäre sehen, durchzusetzen. »Wundere dich nicht, wenn du Gott nicht siehst«, schrieb der Apologet Minucius Felix schon im 3. Jahrhundert n. Chr. an einen Zweif ler, »durch das Blasen des Windes wird alles bewegt, erschüttert, umhergewirbelt – und doch kommt dir kein Windhauch je vor die Augen.«23 Damit wurde für den Wind ein göttlicher Ursprung postuliert. Dieser wurde durch die Kohäsion der Pneumavorstellungen der Antike und die stoische Physik unterstützt. Hinzu kamen neoplatonische und numerische Spekulationen. In De natura rerum, in dem er die Schriften der antiken Philosophen und Naturforscher mit denen der Kirchenväter zusammenführte, beschäftig23  M  . Minucius Felix, Octavius, 32, 5, hg. v. B. Kytzler, München 1965, S. 178 zitiert in Raff, Ikonographie, S. 155.

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te sich Isidor von Sevilla (560-636 n. Chr.) auch mit dem Wind. In diesem Sinne bildet sein Werk einen Übergang zwischen der griechisch-römischen Antike und den Texten des Mittelalters. Isidor von Sevilla übernimmt Momente aus Aristoteles’ Meteorologie, Lukrez’ De rerum natura, zitiert aus dem Werk der römischen Dichter Vergil und Marcus Annaeus Lucanus und fügt christlich inspirierte Überlegungen hinzu. Darüber hinaus spielen Kapitel aus Varros De rerum natura und zwei anonyme poetische Werke von Gaius Suetonius eine Rolle. In seinen Etymologiae (13.9.1) beschreibt Isidor von Sevilla den Wind als mächtige Kraft (vehemens et violentus), die Bäume ausreißt (arbores evellat) und die Meere aufwühlt (maria commovet). In einem längeren dem Suetonius zugeordneten Gedicht werden die Winde in zwei Kategorien eingeteilt, welche den traditionellen hierarchischen Unterschied von Hauptund Nebenwinden hervorheben: Vier Winde blasen von den vier Seiten der Welt und jedem Wind sind zwei weitere untergeordnete Begleiter zugeteilt. Das 36. Kapitel von De natura rerum ist den Winden und ihrem Wesen und das 37. De nominibus ventorum deren unterschiedliche Namen gewidmet.24 Isidor von Sevilla zitiert darin Lukrez, der den Wind als bewegte und aufgewühlte Luft, die sich erhebt und ausbreitet, definiert hatte. Er vergleicht den Wind mit dem von einem Fächer verursachten Luftzug an einem völlig windstillen Ort. Dieser dient dem Verscheuchen von Fliegen und dem Erzeugen einer kühlenden Brise. Luft entsteht aus Wasser und Wind geht aus der Luft hervor. Die Winde sind engelhafte Botschafter Gottes, die dieser zum Wohle der Menschheit sendet. Die brennenden Winde hingegen sind boshafte Geister, welche mit ihrem üblen Atem die Herzen der Ungerechten mit irdischen Gelüsten entf lammen. Isidor von Sevilla geht von insgesamt zwölf Winden mit griechischen und römischen Namen aus, wovon vier Hauptund acht Nebenwinde sind. Die vier Hauptwinde entsprechen den kardinalen Achsen und garantieren die kosmische Harmonie. Die acht Nebenwinde werden als Störenfriede betrachtet. Wie Barbara Obrist festhält25, wurden Winddiagramme in der Forschung wenig beachtet, weil man annahm, dass sich die mittelalterliche Welt nicht für die physische Zusammensetzung der Natur und für Phänomene wie den Wind interessierte, sondern ausschließlich für spirituelle Belange und für As24 Vgl. I. von Sevilla, Book On the Nature of Things (De Natura Rerum Liber), übers. v. Carolyn Hembach, 1969. 25  Obrist, Wind Diagrams, S. 33ff.

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tronomie. Im Vergleich zu anderen Bereichen der sublunaren Welt, insbesondere der vier Elemente, war das Studium der Winde im Mittelalter jedoch von zentraler Bedeutung. Winddiagramme sind zwar komplementär zu den Texten entstanden, aber oft differenzierter als diese, verweisen sie doch auf das gesamte implizite Wissen, das in den Texten nicht erwähnt wird. Die bildhaften Darstellungen sind unabdingbar für ein umfassendes Verständnis der mittelalterlichen Vorstellung vom Wind, auch weil es bis zum 12. Jahrhundert sehr wenig einschlägige Texte gab. Wie bei den von Neuser und Raff untersuchten Windpersonifizierungen lassen sich Kombinationen und Rekombinationen bestimmter diagrammatischer Standardtypen ausmachen. Aristoteles’ Angaben zur Erstellung von einem Winddiagramm (Meteorologie 2.6-363a25-30) wurden in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts ins Lateinische übersetzt. Aristoteles begann mit dem Ost/West Gegensatz, auf den die Nord/Süd-Kardinal-Achse folgte. Zu diesen zwei gegensätzlichen Windpaaren kamen vier Nebenwinde und noch drei weitere Winde hinzu. Der griechische Geograph aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. Timosthenes von Rhodos fügte diesen elf Winden dann noch einen zwölften hinzu. Im Gegensatz zu Aristoteles zeichneten Vitruv und Plinius zuerst das Nord/Süd-Paar, was zu zwei unterschiedlichen Deutungstraditionen geführt hat. Die frühesten Winddiagramme operierten mit einem Zwölferschema und einer minimalen Struktur. Im Gegensatz zu den Winddiagrammen der Antike, in denen das Zentrum der Schnittpunkt der beiden Achsen bildete, blieb in den mittelalterlichen Versionen das zentrale runde Medaillon dabei meist leer. Daneben gab es aber auch Versionen mit einem Medaillon, das von den zwei sich kreuzenden Worten kosmos (vertikal) und mundus (horizontal) zerteilt war. Die beiden Worte waren von den zwölf Namen der Winde umgeben. Im Gegensatz zu heutigen Windrosen befindet sich in den mittelalterlichen Diagrammen der Orient, immer dort wo heute der Norden ist. Ab dem 9. Jahrhundert n. Chr. entstehen Winddiagramme, in denen die vier nackten Kardinalwinde auf der vertikalen und horizontalen Achse und mit den Füßen zum Zentrum hin angeordnet sind. In den Händen ihrer ausgestreckten Arme tragen sie weitere ganzfigurige Personifikationen der Nebenwinde oder bloß deren Köpfe. In einer Illustration aus Flavius Josephus’ Antiquitates Judaicae, die Anfang des 9. Jahrhunderts entstand, treffen sich die Füße der einzelnen im Kreis angeordneten vier nackten und frontal dargestellten Figuren im zentralen Kreis. In der linken und der rechten Hand halten sie je einen blasenden Kopf im Profil mit langen Haaren. Die vier Winde sind auf

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den vier Achsen angeordnet. Die Trennung in Haupt- und Nebenwinde wird hier gleich mehrfach ausgedrückt: ganzfigurige Gestalten und Windköpfe, lockiges oder langes Haar, frontal oder im Profil dargestellt, nicht blasend oder blasend, kontrollierend oder kontrolliert, dominant oder untergeordnet. Der Unterschied frontal/im Profil und der damit verbundene Gegensatz ruhig/unruhig, statisch/dynamisch deutet auf das Machtverhältnis zwischen den Winden hin. »The rigid frontal position of the main winds conveys a strong impression of immobility. This is antithetically enhanced by the contortions and unstable positions of the collateral winds, the heads, necks, or ears of which are squeezed in the hands of the axial figures. The fact that the main winds are associated with the cardinal axes, and their immobility and frontality, makes it clear that they are superior physical forces, which maintain order by subduing irregular wind currents.«26 Jeder Kardinalwind kontrolliert jeweils zwei untergeordnete Winde und ist dabei zweifach tätig: »[…] these personifications exercise a double action, one being directed toward the central part of the diagram on which they stand, the other directed toward the side. […] The sideways-directed actions of cardinal winds are also aimed at domination: holding the side winds in their hands, they subdue and control them.«27 Nur Winde haben die Kraft, andere Winde zu kontrollieren. Im Sinne des im ersten Kapitel diskutierten Begriffs concordia discors sorgen sie dadurch dafür, dass die Erde nicht aus den Fugen gerät. Die durchgehende Windhierarchisierung findet ihre Entsprechung in den späteren Versuchen des 17. und 18. Jahrhunderts, regelmäßige von unregelmäßigen Winden zu trennen, um den voraussagbaren geordneten Winden die schwer voraussagbaren und ungeordneten entgegenzustellen. Allerdings bleibt es in diesen späteren Deutungen bei der Trennung. Die regelmäßigen Winde üben keine kontrollierende Funktion auf die anderen Winde mehr aus. Die Winddiagramme des 12. und frühen 13. Jahrhunderts zeugen von einem wachsenden Interesse für die Präsenz des göttlichen Geistes in der Gesamtstruktur des Kosmos. Dabei wird die umfassende biblische Vision der Welt mit der stoischen Tradition des Weltkörpers verknüpft. Der Wind wird nunmehr direkt mit Gott verbunden. Die Winde sind Agenten Gottes, Instrumente des göttlichen Willens, vergleichbar mit Engeln oder anderen Gott unterworfenen spirituellen Geschöpfen. Sie beleben das ganze Uni26 Ebd., S. 72. 27 Ebd., S. 70-71.

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versum und sorgen für die Kohäsion des Kosmos, der in der stoischen Vorstellung durch das Pneuma sichergestellt wurde. Ein Beispiel für das neue Verständnis der umfassenden kosmischen Aufgabe der Winde ist ein im späten 11. und frühen 12. Jahrhundert entstandenes anonymes Werk, dessen Winddiagramme die hier skizzierten Spannungen zusammenfassen.28 Im Text, der drei astronomisch orientierte Winddiagramme enthält, wird die zentrale Funktion der Winde betont. Sie sind die Ursache der sphärischen und planetarischen Bewegung und übertragen den göttlichen Willen auf das gesamte Universum. Der Autor benutzt weitgehend die traditionelle ikonographische Typologie und passt diese seinen Vorstellungen an. Die vier als nackt dargestellten Kardinalwinde sorgen für die Stabilität des Universums, dadurch dass sie das Himmelszelt mit ihren hochgehalten Armen stützen. Die vier Säulen, die das Himmelsgebäude an den vier Ecken hochhalten, sind die Kardinaltugenden. Im zweiten Diagramm stehen die vier Winde auf konzentrischen Kreisen, welche die Erde umgeben. Sie haben Kopff lügel und halten je einen gef lügelten, aber nicht blasenden Kopf in ihren Händen. In einem weiteren Winddiagramm aus der Epitome historiae sacrae des französischen Theologen Petrus von Poitiers (um 1125-1205)29 werden die kosmischen Winde direkt mit dem allumfassenden Geist Gottes verbunden (vgl. Abb. 2). In einem Medaillon in der Mitte und jeweils zwischen den vier frontal dargestellten bärtigen Greisenköpfen der Kardinalwinde stehen Schlüsselstellen aus den mittelalterlichen Windtheorien zur Bedeutung der Kardinalwinde. Das Thema der Kardinalwinde als ordnende und strukturierende Prinzipien innerhalb des Universums wird hier noch viel deutlicher hervorgehoben als in früheren Winddiagrammen. Die vier Winde sind darüber hinaus direkt mit dem Leib Christi verbunden, der das zentrale Rund aus konzentrischen Kreisen mit beiden Händen umfasst und zugleich trägt. Im Gegensatz zu früheren Diagrammen entspricht sein Kopf nun dem Norden, seine Füße weisen nach Süden und seine Hände nach Osten bzw. nach Westen. Die vier Hauptwinde, dargestellt durch die Köpfe von alten bärtigen Männern, die nach links und rechts blasen, sind jeweils dem Kopf, den Füssen und den beiden Händen Christi zugeordnet. Die den Wind repräsentierenden Strahlen sind rot, um die feurige Natur des Heiligen Geistes, der das gesamte Universum durchweht, hervorzuheben. Befinden sich die 28 Vgl. ebd., S. 79-82, Abb. 32 und 33. 29 Vgl. ebd., S. 81-84, Abb. 34 (Österreichische Nationalbibliothek, Wien).

3. Windpersonifizierungen: Engel und Dämonen

vier Kardinalwinde innerhalb des von Jesus gehaltenen Kreises, so ist den acht Nebenwinden nun ein Platz außerhalb desselben zugewiesen worden. Die radikale Dichotomie von stabilisierenden und harmonisierenden Hauptwinden und destabilisierenden und bedrohlichen Nebenwinden, die in früheren Diagrammen noch beide als Teil derselben Welt verstanden wurden, ist nun dahin gelöst, dass diese außerhalb der inneren göttlichen Ordnung angesiedelt werden, da sie dieser auf radikale Art und Weise widersprechen. Die vier Paare sind in ebenso vielen Rundungen, die sich zwischen dem Kopf, den Füßen und den beiden Händen Christi befinden, angesiedelt. Die acht Nebenwinde an den vier Ecken der Welt sind als ganzfigürliche dunkelbraune gehörnte und gef lügelte Windteufel dargestellt, die zugleich als Fluss-

Abbildung 2: Petrus von Poitiers, Epitome historiae sacrae

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personifikationen verstanden werden können. Was sie aber in den Händen halten, so Obrist, sind nicht Gefäße, sondern Windschläuche, die sie mit beiden Händen festhalten. Die Hauptwinde sind in diesem Entwurf nicht mehr aufgerufen, die Nebenwinde zu kontrollieren, da diese außerhalb der harmonischen Ordnung angesiedelt sind. Man kann neben den radikalen Unterschieden zu früheren Winddiagrammen jedoch auch einige analoge Merkmale feststellen. Die vier sitzenden Teufelspaare schütten den Wind aus ihren Schläuchen nach links und nach rechts aus, so wie die vier Kardinalwinde nach links und nach rechts blasen. Zugleich gehen diesen wie bei den Gesichtern im Inneren des Kreises zahlreiche Strahlen aus dem Mund hervor. Diese sind nicht nur länger und deutlicher gezogen worden, sondern dringen auch beängstigend über die einrahmenden Kreise hinaus. In einer weiteren Version dieses Winddiagramms aus einer österreichischen Sammelhandschrift der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts sind die vier Paare der ganzfigürlichen Nebenwinde als zugleich gef lügelte und gehörte, zugleich blasende und nach links und nach rechts aus Urnen Wasser gießende Windteufel dargestellt, eine Mischform aus Flussgöttern und Winddämonen.30 Dies ist zugleich ein Hinweis auf die vier Flüsse des Paradieses (Gen 2, 10-14), die hier mit den vier Eckwinden in eins gesehen werden. In einer Variante aus der Mitte des 14. Jahrhunderts31 ist in den vier Dreiviertelkreisen nur noch eine einzige ganzfigurige und gehörnte Gestalt auszumachen, die nun klar als Flussgott erkennbar ist, der nur noch Wasser ausschüttet und nicht mehr bläst. Diese letzten Beispiele zeigen nicht nur die enge metaphorische Verbindung von Luft und Wasser, von Winden und Flüssen, die im Mittelpunkt des nächsten Kapitels steht, sondern auch, dass die Windfiguren selbst grundsätzlich ambivalent sind, und die verschiedenen Attribute jeweils neu gemischt und zugeordnet werden können.

30  Vgl. Raff, Ikonographie, S. 151, Abbildung 121 (Bundesstaatliche Studienbibliothek, Linz). 31  V  gl. ebd., S. 152, Abbildung 122, Christus mit Windschema und Paradiesflüssen (Chronik von Klosterneuburg um 1335).

3. Windpersonifizierungen: Engel und Dämonen

Hildegard von Bingens blasende Tierköpfe Hildegard von Bingens (1098-1179)32 hermetische Imagologie inszeniert in den Miniaturen zu ihren erstaunlichen Visionen ein mehrfaches übersetzendes Hin und Her zwischen Bild und Wort. Sie überführt ihre Visionen in den Text und dieser wiederum wird vom Miniaturisten ins Bild zurückverwandelt. Die Heilige ist selbst Teil des Bildes: In den Miniaturen sitzt sie in der unteren linken Bildecke, schreibend in ihrer Zelle und mit himmelerhobenem Blick, während das visionäre Bild als Strom in ihre Augen f ließt. In Bingens Vision eines von Liebe durchwirkten Universums wirkt das befruchtende Licht wie ein vitalisierender Lufthauch. Die Windkräfte repräsentieren den Dynamismus der Welt, sie treiben das Rad der Welt an und wehen dem Menschen ihren Hauch zu. Das All und der Körper werden gleichermaßen durch den Wind und die Seele durch den Atem zusammengehalten, damit sie nicht auseinanderbersten. So wie die Seele den gesamten Leib des Menschen trägt, halten auch die Winde den Gesamtverband des Firmaments zusammen. Dieses Wind-Regiment wird von der Antike bis ins 17. Jahrhundert hinein »als Bild der kosmischen Energie und der allesbestimmenden Dynamik der Kräfte benutzt. Die Winde durchhauchen das All und den Menschen als Lebensodem […].«33 Wie schon erwähnt, sind Tierköpfe in den mittelalterlichen Winddarstellungen eher selten.34 Hunde-, Löwen- und Drachenköpfe findet man z. B. in Darstellungen der Sturmszenen auf dem See Genezareth. Dort ist oft der Bug des Schiffes mit einem Tierkopf versehen, als magische Abwehr von drohenden Sturmschäden. Ab dem 12. Jahrhundert werden Tierköpfe zudem in Darstellungen des Jüngsten Gerichts und in Windrosen eingesetzt. In diesem Sinne stellt die systematische Verwendung von Tierköpfen zur Winddarstellung bei Hildegard von Bingen eine Ausnahme dar.35 Die Tierköpfe blasen dabei sowohl nach innen als auch nach außen. Die pneumatischen Windströme sind Kräfte, die gleichermaßen den Makrokosmos und den Mikrokosmos durchziehen, die Sterne am Firmament und die Planeten, aber 32  V  gl. Nova, Das Buch des Windes, S. 50-6 und Böhme und Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 212-221. 33  Böhme und Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 217. 34  Raff, Ikonographie, S. 159. 35  Zu Hildegard von Bingen vgl. ebd., S. 154-155.

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Abbildung 3: Hildegard von Bingen, Miniatur zur zweiten Schau. Der Kosmosmensch auch die vier Elemente und die Körpersäfte beeinf lussen und zur allgemeinen Stabilität des Universums beitragen. Das Buch vom Wirken Gottes – Liber divinorum operum entstand zwischen 1220 und 1230. Für eine Philosophie des Windes ist dabei vor allem der erste Teil der zweiten Vision, die den Elementen im Bau der Welt gewidmet ist, von Bedeutung. Der Wind spielt eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit

3. Windpersonifizierungen: Engel und Dämonen

der Funktionsweise des Kosmos und dem spirituellen Leben des Gläubigen. Die Miniatur zur zweiten Schau zeigt den Kosmosmenschen (vgl. Abb. 3). Das Diagramm ist in einem Viereck enthalten, und besteht aus einer Christusgestalt in Rot, die mit den Armen einen Kreis umfasst, der weitere konzentrische Kreise enthält. In der Mitte des innersten Kreises steht eine Menschenfigur mit ausgestreckten Armen. Die Fingerspitzen ihrer rechten und linken Hand berühren den innersten der insgesamt sechs konzentrischen Kreise. Ein Teil des Kopfes der Christusfigur sowie deren Füße sind oberhalb und unterhalb des Kreises sichtbar. Über allem thront das Antlitz Gottes. Auf den ersten Kreis des leuchtenden und schwarzen Feuers folgt ein Kreis aus reinem Äther und ein Kreis aus wasserreicher und weißleuchtender Luft. Darunter befindet sich eine dünne Luftschicht, die teilweise von Wolken besetzt ist. Der äußerste Kreis durchströmt mit seinem Feuer die übrigen Kreise und der Kreis der wasserreichen Luft benetzt alle anderen mit seiner Feuchtigkeit. Das Achsenkreuz mit der Vierung der Himmelsrichtungen in vier Kardinalwinde und deren Nebenwinde symbolisiert die Lage des Menschen, der ebenfalls an einem Kreuzweg steht. In der dritten Vision des ersten Teils, die den Menschen im Bau der Welt beschreibt, setzen der Ost- und der Südwind mit ihren Nebenwinden durch ihr gewaltiges Wehen das Firmament in Bewegung und lassen es von Osten nach Westen über die Erde hin drehen. Dort wird es vom West- und Nordwind und ihren Nebenwinden aufgenommen, die es mit ihrem Wehen von Westen nach Osten zurücktreiben. Alle »diese Winde bringen mit ihrem Blasen die Welt ins Gleichgewicht und bewahren durch ihren Dienst die Menschen zu seinem Heil. Weder die Welt würde bestehen noch der Mensch könnte leben, wenn sie nicht durch das Wehen dieser Winde belebt würden.«36 Die Winde wirken sich nicht nur auf das Gleichgewicht des Kosmos aus, sondern auch auf das Heil des Menschen und die Ausrichtung seiner Seele. Der Südwind mit seinen Seitenwinden bringt Hitze und Überschwemmungen und der Nordwind Blitz, Donner, Hagel und Kälte. Die östlichen und westlichen Hauptwinde fordern ihre Seitenwinde auf, »vorsichtiger und langsamer […], die Urteile Gottes durchzuführen.«37 Die Winde »halten mit dem Wehen ihrer Kräfte den Umlauf des Weltalls zusammen, und den Menschen, der 36 H. von Bingen, Das Buch vom Wirken Gottes – Liber divinorum operum, hg. von der Abtei St. Hildegard, Eibingen, Werke, Bd. VI, Beuron 2012, S. 46. 37  Ebd., S. 55.

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in ihr lebt, spornen sie an, auf seinen wahren Nutzen zu achten, damit er keinen Schaden erleidet.«38 Die entfesselten Winde können zwar zerspalten und zertrümmern, aber sie werden durch göttliche Mäßigung wieder unter Kontrolle gebracht. Dabei spielen auch hier die Hauptwinde die Rolle der Mäßigenden und die Nebenwinde die Rolle der ungezügelten Rebellen. Dies bestätigt, dass trotz der vorhandenen Maßlosigkeit die Ordnung letztlich überwiegt und sich durchsetzt. Hildegard von Bingen beschreibt ebenfalls, wie die einzelnen Winde auf den Leib und die Seele einwirken und wie sie den Gemütszustand verändern können. Der nach den Anordnungen Gottes blasende Wind durchdringt ohne Widerstand den Leib des Menschen und die Seele nimmt ihn auf. Die Winde können den Menschen stärken oder schwächen. So wird sein Körper vom Bären, dem Hauptnordwind, »bei körperlicher Drangsal von unzähligen Stürmen der Beschwerden geschüttelt.«39 Der Ausgewogenheit der kosmischen Kräfte entspricht im Leib das Gleichgewicht der Temperamente, welches die Gesundheit des einzelnen Menschen sichert. Makro- und Mikrokosmos gehen ineinander über, wobei die Winde in beiden Fällen die Rolle der Vermittler spielen. Wie in den anderen mittelalterlichen Winddiagrammen verwendet Hildegard von Bingen vier Hauptwinde für die vier Seiten des Weltalls, mit jeweils zwei damit verbundenen Seitenwinden, die durch ein Netz vielfach sich verbindender und überschneidender goldener Linien dargestellt werden. Die Winde, »sowohl die Hauptwinde als auch ihre Seitenwinde, erhalten durch ihre Kraft das Weltall und den Menschen […].« Die Seitenwinde sind dabei »die Flügel der Hauptwinde« und »hören nicht auf, beständig, wenn auch sanft zusammen mit der Luft zu wehen.«40 Den vier Hauptwinden und den acht Seitenwinden entsprechen unterschiedliche Tierköpfe. Der hierarchische Unterschied zwischen den Winden wird auch dadurch markiert, dass den vier Hauptwinden jeweils nur ein einziger Tierkopf zukommt, während für die acht Nebenwinde nur vier weitere Tierköpfe zur Verfügung stehen, die in unterschiedlichen Paarungen eingesetzt werden. Der Leopard verkörpert den Hauptostwind, der Wolf den Hauptwestwind, der Löwe den Hauptsüdwind und der Bär den Hauptnordwind. Hinzu kommen noch der 38  Ebd., S. 59. 39  Ebd., S. 45. 40  Ebd., S. 54.

3. Windpersonifizierungen: Engel und Dämonen

Abbildung 4: Hildegard von Bingen, Miniatur zur zweiten Schau. Der Kosmosmensch (Detail) Krebs, der Hirsch, die Schlange und das Lamm für die Nebenwinde. Alle Winde ahmen das Wesen des jeweiligen Tiers nach und haben zugleich eine theologische Bedeutung. Die Reihenfolge, in welcher die einzelnen Winde vorgestellt werden, verläuft nicht kreisförmig, sondern von Osten nach Westen, und von dort nach Süden und Norden. Der Hauptostwind (Leopard), kommt aus dem reinen Äther, »nicht, weil dieser Wind wie ein Leopard aussieht, sondern weil er wie ein Leopard die Wildheit eines Löwen ohne dessen Wissen besitzt.« Der Leopard ist zugleich sanfter und schwächer als der Löwe: »so erhebt sich dieser Wind in wilder Angst, dann wendet er sich zur Milde und hört rasch auf zu blasen.« Die Wildheit hat er aus dem oberen schwarzen Feuer, die Milde aber vom reinen Äther: »[…] aus der rechten Seite des Maules biegt er sich etwas zurück und formt sich zu einem Krebskopf mit zwei Scheren, gleichsam wie mit Füßen«41, dabei nimmt er die Eigenschaften des Krebses an. »Auf der linken Maulseite endet der Hauch, indem er sich ebenso in der Länge zurückdreht in einem Hirschkopf […].« Er ahmt in dieser Richtung die Schnelligkeit des Hirsches nach (vgl. Abb. 4). Aus dem Krebsmaul geht ein Atem hervor, der zur Mitte hin, zwischen dem Leoparden- und dem Löwenkopf strömt, und aus dem Hirschmaul ein Hauch, der zwischen dem Leoparden- und dem Bärenkopf strömt. Ist das Hauptattribut des Hirsches die Geschwindigkeit, so ist dasjenige des zweifüßigen Krebses die Vor- und Rückwärtsbewegung. Das Blasen des Krebses ist ungleichmäßig und unbeständig, was zu Wirbelwinden führt. Das Blasen des Hirsches hingegen ist ein starkes und schnelles Rauschen. »Damit hört er rasch auf, wie ein Hirsch heftig zustößt und schnell wegläuft und dabei nicht lange 41  Ebd., S. 45.

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durchhält. Auf diese Weise zügelt er sich, während er in die Mitte zwischen Osten und Norden läuft.«42 Dem windigen Weg vom Leoparden zum Krebs und zum Hirsch entspricht im Menschen der Heilsweg. Dieser führt vom reinen Äther der Reue zum Leoparden, die Furcht vor dem Herrn. Die Kraft aus dessen Mund führt zur Zerknirschung und dehnt das Herz aus. Von dort gelangt man zum Kopf des Krebses, dem Vertrauen, von dem sich zwei Scheren, d.h. zwei Füße ausstrecken, die Hoffnung und der Zweifel. In Schwierigkeiten führt die Zerknirschung zum Kopf des Hirsches, dem Glauben. Das Geweih des Hirsches steht dabei für den wahren Trost, der den Unglauben des Zweifels zunichtemacht. Aus dem Maul des Krebses entströmt der Hauch der Beständigkeit und aus dem Maul des Hirsches der Hauch der Heiligkeit. Beide führen zur Fülle der Vollkommenheit. Metaphorisch gesprochen, könnte man sagen, dass die Kraft, Wildheit und Unbeständigkeit der Winde dadurch letztendlich geläutert werden und in Harmonie übergehen. Die für den Hauptostwind und seine beiden Nebenwinde beschriebene Grundstruktur wiederholt sich in abgewandelter Form bei den weiteren drei Hauptwinden und ihren Seitenwinden. Der Hauptwestwind lebt wie ein Wolf im Wald verborgen und ist auf Nahrungssuche aus. Er entsteht aus der wasserreichen Luft unter den Füßen der Menschengestalt. Wenn er aus seinem Versteck hervorkommt, setzt bald darauf das Grünen der Pf lanzen ein. Wenn dies nicht der Fall ist, folgt plötzliches Ausdörren. Die beiden Seitenwinde werden durch einen Hirschkopf und einen Krebskopf dargestellt. Der Hauptsüdwind ist wie ein leuchtendes Feuer, denn der Löwe ist dem Wesen des Feuers gemäß willensstark und stürmisch. Er verursacht »das Zusammenprallen von Wolken, Wolkenbrüche und Gefahren durch plötzliche Regengüsse.«43 Der Seitenwind zur Rechten ist ein Schlangenkopf, der sich geschmeidig biegt, aber auch bissig nachstellt. Manchmal schickt er sanfte Lüfte, manchmal starke Stöße und Hiebe. Zur Linken befindet sich der Kopf eines Lammes: zahm und sanft, mild und ungefährlich. Der Hauptnordwind schließlich, entspricht dem schwarzen Feuer. Wie ein Bär brummt er in seinem Zorn und »wie dieser in seinem Wesen böse ist, so verursacht auch dieser Wind manchmal Erschütterungen, Getöse und Gefahren.« Seine Seitenwinde sind das Lamm und die Schlange, denen ein ambivalenter Charakter zugeschrieben wird. Die Natur des Lam42 Ebd., S. 46. 43  Ebd., S. 53.

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mes ist zwar die Milde, es ist sanft und ungefährlich, aber anderswo kann es auch in Zorn wüten. So auch der Schlangenkopf, der »zunächst sanft dahingleitet, sich dann aber jäh bewegt […].« Denn auch »dieser Wind kommt am Anfang gleichsam täuschend ohne Geräusch hervor, schließlich zeigt er sich aber gefährlich, listig und unsanft. Und wenn dann die Menschen glauben, dass sie bereits untergehen, kehrt er wieder zur Milde zurück.«44 So »übt er seine Kräfte bald schmeichelnd, bald wie mit List überstürzt aus.«45 Das den Tieren zugewiesene Verhalten dient der Veranschaulichung der einzelnen Winde, die alle ihren eigenen Charakter besitzen. Dabei sind alle Seitenwinde, wenn auch auf verschiedene Art und Weise ambivalent: der Krebs durch seine zwei Zangen und die Vor- und Rückwärtsbewegung und die Schlange durch ihre zugleich sanfte und jähe Bewegung. Der Hirsch stößt zwar heftig zu, läuft dann aber schnell weg und das milde Lamm kann auch zornig werden. Der Ost- und der Westwind werden ebenfalls als grundlegend ambivalent beschrieben: so ist der Osten wild und milde, der Westen verborgen und reißend. Die Seitenwinde gehen direkt aus den Hauptwinden hervor, sie wachsen aus diesen hervor: sie formen sich, biegen sich zurück, brechen hervor, verwandeln sich und dehnen sich in die Länge aus, wodurch sich weitere Ambivalenzen artikulieren lassen. Die Winde sind vielfach widersprüchlich und immer wieder überraschend in ihrem Verhalten. Die verschiedenen Winde sind zwar voneinander getrennt, aber zugleich vielfach miteinander verbunden. »Und so sind die Hauptwinde und ihre Seitenwinde zwischen Osten und Süden, zwischen Süden und Westen, zwischen Westen und Norden und zwischen Norden und Osten in gleicher Weise miteinander verbunden und voneinander getrennt […].«46 Die von Gott festgelegten Grenzen können nur durch eine Entscheidung Gottes überschritten werden. »Denn in dem Maß, wie diese Winde voneinander getrennt sind, senden jene auch den Hauch ihres Blasens aus, weil ein Wind sein Blasen auf den anderen richtet. Aber sie überschreiten bei dieser Begegnung nicht ihre Grenze, und kein Wind geht über den anderen mit seinem Wehen hinaus, außer es geschieht nach Gottes Entscheidung.«47

44  Ebd., S. 58. 45  Ebd., S. 59. 46  Ebd., S. 54. 47  Ebd., S. 50.

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Die Seitenwinde kommen aufeinander zu und begegnen sich auf halbem Weg. Der Hauch eines Seitenwindes kann sich dabei mit dem eines anderen Seitenwindes verbinden und dessen Blasen in sich aufnehmen. Eine Begegnung kann aber auch zu Verwüstung und Zerstörung führen. Ein Wind, der vom Lammkopf zwischen dem Löwen- und Leopardenkopf hervorspringt, geht »mit seinem Rauschen auf das Blasen zu, das aus dem Wind kommt, der die Natur des Krebses nachahmt und zwischen Osten und Süden ausbricht. So entstehen dort aus ihrem Zusammentreffen oft Schrecknisse und Zusammenstöße.«48

Robert Fludds kosmische Meteorologie Obwohl Robert Fludds Philosophia sacra et vere Christiana, seu Meteorologia Cosmica 1626, nur vier Jahre nach Bacons The Natural and Experimental History of the Winds und neun Jahre vor Descartes’ Die Meteore erschien, führt es zu deutlich früheren Vorstellungen zurück, ein Zeugnis für die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Wettervorstellungen in der frühen Neuzeit. Der Inhalt des Buches ist auf dem illustrierten Frontispiz zusammengefasst.49 Makround Mikrokosmos sind hier nicht getrennt, sondern immer noch in ein Netz von Korrespondenzen eingebunden. Fludd benutzt das Wort meteor im aristotelischen Sinn für alle möglichen Himmelsphänomene, vom Wetter über die Planeten bis hin zu den Sternen. Als macrocosmic meteors können Winde pacific oder tempestuous sein. Die Abbildung in der unteren Mitte zeigt einen nackten Menschen, oberhalb dessen die inneren Organe ausgestellt sind. Diese sind in eine achtteilige kreisförmige Windrose eingefügt. Subsolanus, der Ostwind, ist hier noch oben angebracht, wo heute der Norden ist. Fludds meteorologische Anatomie, die in der Tradition von Hippokrates’ De f latibus steht50, interessiert sich vor allem für den Einf luss der Winde auf die Gesundheit. Die Winde sind Gottes Diener und erhalten ihre Macht direkt von ihm. Wie in mittelalterlichen Winddiagrammen sind auf dem Frontispiz in den vier Ecken die Köp48  Ebd., S. 54. 49 Vgl. J. Godwin, Robert Fludd, Hermetic Philosopher and Surveyor of Two Worlds, London 1979, S. 54. 50 Vgl. dazu Kapitel sieben.

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fe von je zwei Knaben und zwei Jünglingen angebracht, die aus Wolken heraus von oben und von unten auf die Welt blasen. Der rechte untere lockige Knabenkopf bläst nach oben auf einen üppigen paradiesisch anmutenden Garten. Die anderen drei Winde hingegen bewirken Verwüstungen: Erdbeben, Feuerregen und heftige Stürme, die die Schiffe in Not bringen. Diese Zerstörungen werden vom Wind allein, von Wind und Wasser, von Wind und Erde, oder von allen drei zusammen verursacht. Ein weiteres Bild in der oberen Mitte zeigt eine Landschaft, die von stürmischen Winden, Donner und Blitz so- Abbildung 5: Robert Fludd, wie heftigem Regen heimgesucht wird. The Fortress of Health Fludd verbindet in seinen Bildentwürfen die divergierenden Strahlen der blasenden Windköpfe aus der Bildtradition mit der Vorstellung des Pfeils, der von einem gespannten Bogen abgeschossen wird. Ich werde im folgenden Kapitel auf die Bedeutung und Entwicklung der visuellen Pfeilmetapher im Zusammenhang mit der Metapher des Fließens zurückkommen. Auf einem weiteren Bild, das den Titel The Fortress of Health51 trägt und damit den menschlichen Körper als Festung versteht, setzen vier teuf lische Engel verderbliche Seuchen – in Form von Schwärmen gef lügelter Insekten – auf die Welt frei. Diese werden von den vier Winden getragen und von vier in Festungstürmen verschanzten Erzengeln abgewehrt (vgl. Abb. 5). Die vier dämonischen Engel halten mit der rechten Hand die gespannten Sehnen eines Bogens, der vor den Mund eines blasenden gelockten Kopfes platziert ist. Sowohl die Erzengel als auch die dämonischen Figuren tragen Schulterf lügel. Im Gegensatz zu anderen Winddiagrammen sind die beiden Achsen leicht nach links geneigt, was der schon erwähnten Vorstellung einer postlapsarischen vom Wetter gepeinigten Welt entspricht. Auf The Four Archangels and the Twelve Winds52 schließlich übertragen vier stehende Erzengel kleineren knienden Engel die göttliche Kraft mittels eines Stabes, der ihren Kopf berührt (vgl. Abb. 6). Diese wiederum halten einen ge51  Vgl. Godwin, Robert Fludd, S. 56. 52  Vgl. ebd., S. 57.

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Abbildung 6: Robert Fludd, The Four Archangels and the Twelve Winds spannten Bogen, der vor dem Mund eines gelockten blasenden Kopfes angebracht ist. Auch in diesem Fall sind die Strahlen mit Pfeilen gleichzusetzen, die aus dem Mund der Winde herausschießen, um auf der Erde ihre gesegnete Arbeit zu verrichten. Einmal mehr werden dieselben Figuren und Attribute sowohl für die zerstörerischen wie für die heilenden Kräfte der Winde verwendet. In dem von Wolken umgebenen Kreis in dessen Mitte ein Globus angebracht ist, sind noch acht weitere Winde auszumachen, die ebenfalls als blasende Köpfe dargestellt werden, allerdings ohne Einsatz des Bogens. Das in diesem Kapitel beschriebene stark begrenzte mittelalterliche Darstellungsrepertoire des Windes, welches mit präzisen zeitlichen und räum-

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lichen Zuordnungen operierte und damit so etwas wie einen theoretischen Käfig errichtete, in dem man die Winde einfangen konnte, findet einen deutlichen Gegensatz in Leonardo da Vincis Werk. Dieser hebt explizit das f ließende und turbulente des Windes hervor und gelangt dadurch zu ganz anderen Darstellungsformen, die in vielfacher Hinsicht spätere Vorstellungen antizipieren. Im Mittelpunkt stehen dabei die Grenzen, die im Zeichen des Windes ins Fließen geraten.

Leonardo da Vincis Sfumato Kein anderer europäischer Künstler hat mit solcher Konsequenz und Intensität die Natur der Luft, des Windes und deren Auswirkungen erforscht wie Leonardo da Vinci.53 Dieser interessierte sich für die Richtung und Stärke der Winde und die Luftfeuchtigkeit und entwarf in diesem Zusammenhang einen mit einer Uhr versehenen Anemometer zur Messung des Windes und ein Hygroskop zur Aufzeichnung der Luftfeuchtigkeit.54 Seine Hinwendung zur empirischen Naturbeobachtung und sein wissenschaftliches Interesse für den Wind führten zu physikalischen Versuchen, die fast schon experimentell im modernen Sinne waren. So steckte er Watte in ein Zuckerrohr und blies Rauch hinein, der am anderen Ende wieder hervortrat, um die Bewegungen des Windes zu studieren. Auch seine Studien zum Vogelf lug, zu Luftwiderstand und Windströmungen stellen so etwas wie eine frühe Wende in der Geschichte der Windbeobachtung dar. Nova spricht von einem »epochalen Wendepunkt in der Geschichte der Winde und ihrer Darstellungsmodi […].«55 Anstatt sich bloß auf die Auswirkungen des Windes zu konzentrieren, wie es bis zu diesem Zeitpunkt die Regel gewesen war, entwickelte er ein System konventioneller graphischer Zeichen zur Sichtbarmachung der Windbewegung. In der um 1513 entstandenen Zeichnung Gewittersturm mit entwurzelten Bäumen, Reitern und Windfiguren, die möglicherweise die Darstellung eines

53 Vgl. dazu auch Kapitel vier. 54 Vgl. Nova, Das Buch des Windes, S. 73-87 sowie A. Nova, »Il vortice del fenomeno atmosferico e il grido metaforico: Le Tempeste di Leonardo e il Piramo e Tisbe del Poussin«, in: Wind und Wetter. Die Ikonologie der Atmosphäre, hg. von A. Nova und T. Michalsky, Venedig 2009, S. 53-66. 55 Nova, Das Buch des Windes, S. 99.

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Wirbelsturmes ist, kombinierte er verschiedene Darstellungsformen. »Der Betrachter erblickt […] einen von atmosphärischen Wirbeln hervorgerufenen Sturm, in dessen Luftmassen zwei unterschiedliche Darstellungsmodi der Winde auszumachen sind.« Neben zwei Winden oben links, die in Trompeten blasen, »um die Luftmassen voranzutreiben«, finden sich zwei überdimensionierte Putti in der Bildmitte. »Der erste […] scheint zwei Zirruswolken in den Händen zu halten, während sich der zweite Putto mit geblähten Wangen« links davon befindet.56 Leonardo vereint damit die ikonographischen Konventionen seiner Zeit mit dem Anspruch, die auch empirisch wahrnehmbare Form des Phänomens zu erfassen. Nova spricht von einem neuartigen Prinzip der »Verf lechtung visueller Codes.« In der Zeichnung vermengen sich die »heftig vom Wind gebogenen Bäume« mit »den abstrakten Zeichen der Luftwirbel und der Wellen des Äthers«57. Der Komplexität des Windes kann man sich nur durch eine Pluralität von Ansätzen nähern. Ausgehend von seinen Winddarstellungen und seinen Studien zum Vogelf lug entwickelt Leonardo darüber hinaus eine Technik der f ließenden Übergänge, bei der eine Linie bruchlos in die andere übergeht, als handle es sich dabei nicht um feste Gegenstände, sondern um ein Rauchkontinuum. Die Linie steht im Zeichen des Unfertigen, sie umfasst nicht, sondern erfasst die Dinge in ihrem Inneren. Es geht nicht mehr darum, die Konturen der Gegenstände bewusst darstellen zu wollen. Es gibt keinen sichtbaren Bruch mehr zwischen dem Ende eines Gegenstandes und dem Anfang eines neuen. In dieser Kunst des Sfumato werden Licht und Schatten gemischt, bis jede Spur einer Trennung verschwindet. Das Unsichtbare wird gerade dadurch der Sichtbarkeit zurückgeben, dadurch dass man den Versuch aufgibt, es zu fixieren. Der Sfumato ist ein Teil der Luftbewegungen, welche die Figuren umgeben. Die Linie ist nicht mehr ein Zeichen der Abgeschlossenheit, sondern die Geburt von etwas, was erst noch kommen wird. So ist das Ende einer Farbe immer zugleich auch der Anfang der nächsten. Damit führt Leonardo die Zeitdimension in die Darstellung der Meteore ein. Die Energie dieser anderen neuen Linie ist auch Ausdruck der Wucht (impeto) und des Hauches (soffio). Leonardos eigentlicher Gegenstand ist der Hauch, den wir einatmen und der uns durchdringt: Atem und Wind, respiro, soffio. Dieser wird durch die 56 Ebd., S. 73. 57 Ebd., S. 76.

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reine Energie der Hand sichtbar gemacht. Anstelle des früheren Silberstiftes oder der Federzeichnung mit brauner Tinte, welche beide eine präzise Konturenführung ermöglichen, verwendet Leonardo deswegen Kreidestifte. Der Einsatz von Rötel und schwarzer Kreide sorgt für eine atmosphärische Wirkung. Leonardo erzeugte »atmosphärisches Licht, indem er den Kreidestift mit schnellen, energischen Kreislinien über das Papier bewegte, um die dicht belaubten Äste vom Wind bewegter Bäume wiederzugeben.« Die schwarze Kreide war besonders dazu geeignet, verschwommene Effekte und »ungenaue und unscharfe Umrisse«58 zu erzielen. Leonardo erschuf in diesem Zusammenhang »ein wahres Lexikon graphischer Zeichen – gekrümmt, geschlängelt, spiralförmig – mit deren Hilfe er die Verwirbelung der Luft darstellte […].«59 Der Wind generiert hier gerade durch seine Flüchtigkeit eine neue beweglichere Darstellungsform, die zugleich einen ganz anderen Zugang zur Realität eröffnet. Dies stellt auch einen Wendepunkt in einer Philosophie des Windes dar.

58 Ebd., S. 80. 59 Ebd., S. 80-81.

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4. Luftmeer: Flüsse und Strömungen »Der Wind ist dasjenige in Ansehung der Luft, was ein Strom in Ansehung des Meeres ist.« Immanuel Kant, Physische Geographie Dieses Kapitel ist einer Rekonstruktion der Luftmeer-Metapher und dem metaphorischen Zusammenhang von Wind und Fluss gewidmet. Das Wehen des Windes wird mit dem Strömen von f ließendem Wasser verbunden und die Gesamtheit der Atmosphäre dem Meer gleichgestellt. Diese unterschiedlichen Metaphern des Fluiden und die damit verbundenen Veränderungsprozesse setzen sich von einem anderen Metaphernfeld ab, das in der philosophischen Tradition Europas von zentraler Bedeutung ist. Gemeint sind damit territoriale Metaphern der Stabilität, Stasis und Sesshaftigkeit sowie der Bodenbezogenheit, Zugehörigkeit und Verwurzelung.1 Die Spannung zwischen Stabilität und Fluidität nimmt in Serres’, Ingolds und Flussers Vision des Windes einen wichtigen Platz ein. Luft und Wasser sind in dauernder Bewegung. Winde und Ströme können durch Hindernisse zwar ab- und umgeleitet und auch teilweise gestoppt und vorübergehend gestaut, aber nie wirklich ganz festgemacht oder stillgelegt werden. Der Wind gelangt überall hin und versickert wie Wasser. Metaphorisch gesprochen kann der Wind als eine Potenzierung des Wassers verstanden werden, mit dem er die Eigenschaft des Fließens teilt. Im Gegensatz zum Wasser aber ist der Wind ungreif bar und unsichtbar. Dies ist ein weiterer wesentlicher Grund für die Benutzung der Wasser- und Flussmetaphern zur Beschreibung des Windes. Sie machen die Bewegungsabläufe des Windes sichtbar.

1 Vgl. dazu Kapitel neun.

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Fluidität In der deutschen Alltagssprache wird der Wind als ambivalentes, tendenziell eher negativ konnotiertes Phänomen dargestellt. Der ›Wind‹ ist eine Metapher der Leichtigkeit und Geschwindigkeit (›auf den Flügeln des Windes, auf dem Wind reiten, geschwind wie der Wind, schneller als der Wind sein‹), aber auch der Flatterhaftigkeit, Flüchtigkeit, Veränderlichkeit und Unbeständigkeit (›der Wind hat sich gedreht, hier weht ein anderer Wind, der Wind pfeift aus einem anderen Loch, man weiß nicht, wohin der Wind weht‹). Im positiven Sinne steht der Wind für neuen Schwung und Begeisterung (›einen frischen Wind in der Nase, den Ohren wehen, pfeifen lassen‹). Man kann mit oder gegen den Wind segeln und diesen vorübergehend in den Segeln haben, der Wind kann einem aber auch aus den Segeln genommen werden. Darüber hinaus kann sich der Wind jederzeit plötzlich drehen (›jemandem bläst der Wind ins Gesicht‹). Der Wind wird durch seine Auswirkungen auf die Welt der Gegenständlichkeit sichtbar. Er kann durch Verwehung alles Feste auf lösen und die Gegenstände auseinandertreiben (›in alle vier Winde zerstreuen‹) und sämtliche Spuren löschen (›vom Winde verweht‹). Damit überträgt er die eigene Unsichtbarkeit und Unbeständigkeit auf die Dinge, die er berührt und mit denen er in Kontakt kommt. Wie das Wasser negiert er das Solide, Feste (›vom Wind leben, sich vom Wind ernähren‹) und steht für das Unfeste und Unbedeutende, Ungegenständliche (›auf den Wind bauen, in den Wind schlagen, in den Wind reden‹). Der Wind steht für das Unbedeutende (›viel Wind um etwas machen‹), die substanzlose Leere (›ein windiger Bursche‹) und die leere Hülse (›Windkopf, Windbeutel, Windsack‹). Der Wind ist eigentlich ein Nichts (›wie der Wind sein‹), nichts Dauerndes bleibt vom ihm übrig (›in den Wind schreiben, in den Wind reden‹). Aus diesem Grund ist er auch eine Metapher der Täuschung und steht für Charakterlosigkeit (›den Mantel nach dem Wind hängen, sich nach dem Winde richten, sich von jedem Wind treiben lassen, den Hut nach dem Wind kehren‹). Aufgrund seiner Unfassbarkeit verbindet sich mit dem Wind auch Unsicherheit und Angst (›wind und bange, wind und weh‹).2 Wenn man sich der philosophischen Metapher des Fließens zuwendet, stößt man auf verwandte Vorstellungen. Diese appelliert »an vielfältige Erfahrungsgehalte und Stimmungen und hat einen ganzen Strom weiterer 2 Man vergleiche dazu den Wind in der japanischen Kultur (Kapitel zehn).

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Metaphern nach sich gezogen.« Die philosophische Metapher des Fließens steht für »Übergänge, Bewegungen, Veränderungen« sowie die Zeit, in der sich diese ereignen und »das Leben, in dem sie erfahren werden. Sie bringt die Erfahrung zum Ausdruck, daß Zeit und Leben ohne festen Halt sind, und Halt ist denn auch, mit einem ähnlich breiten Strom an Folgemetaphern […] in der europäischen Philosophie zur Gegenmetapher des Flusses geworden.«3 Bei der Metapher des Fließens spielt auch die Dimension des Überf lusses und des Überf ließens sowie deren grundlegende Ambivalenz zwischen Befruchtung und Zerstörung eine Rolle. Der über die Ufer tretende Fluss kann das Land überschwemmen und verwüsten, dadurch aber auch befruchten. Diese grundlegende Ambivalenz ist ebenfalls zentral für die metaphorische Bedeutung des Windes. Das Wortfeld des Fließens kann darüber hinaus als Quelle für die Metapher selbst verstanden werden. Metaphern wurden lange als ›überf lüssig‹ betrachtet, solange sie nicht von Begriffen ersetzt werden konnten, und dies sowohl in einem wörtlichen wie metaphorischen Sinne. Im Gegensatz zu Begriffen, die auf terminologischer Begrenzung und Eindämmung beruhen, betonte man bei Metaphern die Tendenz zur ungezügelten unstrukturierten wuchernden Proliferation des Sinnes oder, um eine Metapher aus dem semantischen Feld des Fließens zu verwenden, einen Hang zum Ausufern und Überf ließen. Hans Blumenberg hat diese belebende und befruchtende Kraft der Metapher umgedeutet und »darauf aufmerksam gemacht, daß Metaphern als überf ließende Quellen von Bedeutungen auch für das philosophische und wissenschaftliche Denken unentbehrlich sind, weil aus ihnen immer wieder geschöpft werden kann. Als überf ließende Quelle ist die Metapher des Fließens so zuletzt eine Metapher für die Metapher selbst.«4 Diese Überlegungen ließen sich mit Serres’ Verbindung von Meteor und Metapher zusammenführen. Beide Konzeptionen deuten das Überbordende und Überquellende der Metapher als deren eigentliche kreative und innovative Seite. Gewässer, Bäche, Flüsse, Wellen und Meeresströmungen5 sowie Luft, Rauch und Feuer, aber auch Sand und Dünen können f ließen. Werner Steg3 W. Stegmaier, »Fließen«, in: Wörterbuch der philosophischen Metaphern, hg. von Ralf Konersmann, Darmstadt 2011, S. 105. 4  Ebd., S. 105. 5 Vgl. U. Guzzoni, Wasser. Das Meer und die Brunnen, die Flüsse und der Regen, München 2015.

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maier bestimmt das Wasser als eine Folgemetapher des Fließens. Diesem würde ich den Wind hinzufügen. Die Metapher des Fließens lässt sich anhand einer Reihe von Kriterien ausdifferenzieren: der f ließende Stoff, dessen Masse, der Verlauf und die unterschiedlichen Gestalten des Fließens, die jeweiligen Richtungen, in die sich das Fließen bewegt, die damit verbundenen Gefahren und Vorteile sowie die Beobachtbarkeit des jeweiligen Fließens. Ich möchte hier Stegmaiers Kriterien auf das Phänomen Wind und dessen Beziehung zum Wasser anwenden und dabei auf Verbindungsmomente und Verschiedenheiten hinweisen. Wie schon hervorgehoben, liegt der entscheidende Unterschied in der Sichtbarkeit des Wassers. Fließendes Wasser macht strömende Luft sichtbar. Dies hat dazu geführt, dass der Wind in der europäischen Tradition aus der Perspektive des f ließenden Wassers als strömende Luft gedeutet wurde. Luft und Wasser f ließen, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise, was auf ihre unterschiedliche Masse und Konsistenz zurückgeführt werden kann. Aufgrund ihrer geringen Masse f ließt Luft nicht immer abwärts wie Wasser, das jeder Senkung folgt und sich seitlich oder nach unten hin ausbreitet. Fließendes Wasser kann in stehenden Gewässern zur Ruhe kommen. Eine metaphorische Entsprechung für den Wind wäre die Flaute oder die Windstille. So wie Wasser plötzlich zur bedrohlichen Sturm- und Springf lut werden kann, können unerwartete Böen eintreten. In beiden Fällen können die Auswirkungen verheerend sein. So wie ein Tsunami alles überf lutet und mit sich reißt, kann ein starker Windstoß Gegenstände erfassen und durch die Luft wirbeln. Flüssigkeiten können verschiedene Richtungen einschlagen oder durch Hindernisse daran gehindert werden. Flüsse ergießen sich über eine Ebene, sie f ließen in Tälern, zwischen Hügeln und Bergen oder in breiten Flussbetten dahin. Man kann ihr Fließen dadurch kontrollieren, dass man sie in Kanäle zwingt und durch Dämme anstaut. »Ungefaßt können sie nicht nur strömen, sondern auch verf ließen und versickern.« Wasser ist wie Wind äußerst schwer eindämmbar. Über Ritzen, Risse, Lücken und undichte Stellen gelangt es überallhin. So wie es kurzfristig verrinnt, kann es auch plötzlich wieder auftauchen. »Eingefaßt f ließen [Flüsse] zwischen festen Ufern, die sie vorfinden und in die sie hineinf ließen, die sie sich aber auch selbst schaffen können, indem sie sich eingraben oder Dämme aufschwemmen.«6 Es ist besonders dieser disziplinierende regulierende Einf luss von Kanälen und 6 Stegmaier, Fließen, S. 106.

4. Luftmeer: Flüsse und Strömungen

Dämmen, der für die metaphorische Beziehung von Wasser und Wind in der europäischen Tradition relevant wurde. Den Wasserdämmen entsprechen Windbrecher, Baumreihen oder Gebüsche, welche sich gegen die Gewalt des Windes stemmen, ohne diese jedoch ganz stoppen zu können. Fließendes Wasser und wehende Luft können die Gestalt einer Landschaft nachhaltig prägen. So bilden sich mit der Zeit durch Ablagerung Schwemmebenen heraus oder es formen sich Auenlandschaften. Der Wind ist nicht nur für die Wuchsform von Bäumen (vgl. Abb. 7) und Sträuchern, sondern auch für die Anhäufung von Löss – ein homogenes, ungeschichtetes, hellgelblich-graues Sediment – und die Gestaltung von Dünen verantwortlich. Wehender Wind und f ließendes Wasser sind nicht nur mit beachtlichen Gefahren verbunden, sie bringen auch vielfältigen Nutzen mit sich. Man kann zwar von Strömungen mitgerissen und weggeschwemmt werden und in den Fluten untergehen, aber auch gegen den Strom schwimmen oder dessen Kraft und Richtung für eigene Zwecke nutzen. Dasselbe gilt für den Wind. Dieser kann eine Person erfassen und wegtreiben. Man kann damit aber auch Windmühlen antreiben sowie den Wind für die Schifffahrt nutzen und sogar gegen den Wind segeln.

Abbildung 7: Edgar Aubert De la Rüe, Fichte ohne Äste auf der Luvseite, Île de St. Pierre

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Was die Beobachtbarkeit des jeweiligen Fließens angeht, so gibt es auch hier Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Man kann das Fließen eines Flusses von Ufern und Brücken aus beobachten. Es gibt aber auch den Standpunkt desjenigen, der sich treiben lässt, im Wasser, auf einem Floss oder einem Boot. Dasselbe gilt für den Wind. Man kann einem Orkan aus sicherer Ferne zusehen, meist ist man aber eher im Wind mittendrin. Man wird von Brisen umspielt, spürt den Wind auf der Haut oder in den Haaren. Der Wind zerrt an der Kleidung oder schiebt einen zur Seite. Manchmal hat man den Wind im Gesicht und kämpft gegen dessen Wehen mit dem ganzen Körper an. Aufgrund der spezifischen anderen Stoff lichkeit bietet sich beim Wasser eher der distanzierte und beim Wind der teilnehmende Standpunkt an. Dies hat, wie noch zu zeigen sein wird, entscheidende Folgen für deren philosophische Relevanz als epistemologische Metaphern.

Winde und Flüsse Trotz all dieser Ähnlichkeiten wurden in der Antike nur einige wenige gemeinsame Eigenschaften metaphorisch umgesetzt und alle anderen ausgeblendet. Diese Strategie des Hervorhebens und gleichzeitigen Ausblendens ist für Metaphern typisch. Die Winde wurden in der antiken Naturphilosophie und der darauf beruhenden westlichen Tradition des Wetterwissens im Wesentlichen als aus einer Quelle stammende und kompakt in eine einzige Richtung f ließende Flüsse dargestellt. Diese eingeschränkte Vorstellung, die auch der Fließkomplexität von Flüssen nicht gerecht wurde, wurde in der griechischen Antike auf den Wind übertragen. Sie machte diesen zwar sichtbar, blendete aber zugleich wesentliche Aspekte aus. Die daraus hervorgehende Deutungstradition hat sowohl in der Meteorologie als auch im alltäglichen Diskurs die Wahrnehmung des Windes nachhaltig geprägt. Die Flussmetapher weist jedem Wind eine Herkunft und eine Richtung zu. Von diesem Standpunkt aus gesehen, f ließen Winde in der Regel getrennt voneinander, sowohl im Raum als auch in der Zeit. Dass sie ineinander f ließen können, ist dabei eher eine sekundäre Eigenschaft. Winde f ließen Flüssen vergleichbar in einem überschaubaren Flussbett auf die Mündung hin, und geraten dabei selten über die Ufer. Es geht hier vor allem um eine lineare Ausgerichtetheit und eine pfeilartige Kompaktheit des Fließens, die seitliche Abweichungen, Vermischungen und ein mögliches Zurückf ließen ignoriert.

4. Luftmeer: Flüsse und Strömungen

Es hängt vom jeweiligen Verständnis eines Flusses ab, welche Eigenschaften man im Metaphorisierungsprozess auf den Wind überträgt. Vor ihrer Kanalisation haben Flüsse meist einen mäandrierenden Gang, ändern immer wieder ihren Lauf und bilden dabei vielfache Schlingen, Schlaufen und Schleifen, in denen der Fluss manchmal auch zurückf ließen kann. Manchmal teilt sich der Fluss in zwei oder mehrere Arme auf, die sich später wieder vereinen. Flüsse können nicht nur ihre Ufer überschwemmen, sondern sich von Zeit zu Zeit auch ein neues Flussbett bahnen. Selbst die Festlegung der Quelle ist oft spekulativ, und sagt letztlich wenig über den weiteren Verlauf aus. Ein Fluss ist somit keine Linie, sondern eher ein breiter Korridor, in dem der Fluss oft im Zick-Zack-Kurs durch ein von ihm geschaffenes Schwemmgebebiet verläuft. Allein in bergigen oder hügeligen Gegenden ist der Verlauf von Flüssen in der Regel relativ stabil. Es ist wohl auch aus diesem Grund, dass bei der Flussmetapher enge Schluchten, die die Geschwindigkeit des Windes steigern und felsige Widerstände, gegen die der Fluss anrennt und die dazu führen, dass er sich aufteilt, im Vordergrund stehen. Der harte Widerstand bestätigt die Kompaktheit und Unidirektionalität des Windstromes, und dadurch dessen räumliche Begrenztheit. Dies ist bei Winden noch problematischer als bei Flüssen, wenn man bedenkt, dass der Verlauf von Winden nur ungefähr aus den wahrnehmbaren Auswirkungen rekonstruierbar ist. Winde noch mehr als Flüsse zerf ließen und zerrinnen. Sie bewegen sich nicht nur in der Horizontale, wie dies Aristoteles behauptete, sondern auch seitlich und in geringem Ausmaß auch vertikal. In Les origines de la géométrie7 spricht Serres von der widersprüchlichen Komplexität des Fließens eines Flusses. Gegenströmungen treiben einen Teil der Strömung wieder stromaufwärts. Strudel und Turbulenzen bilden sich unter Brücken heraus und erfassen dabei einen Teil der vorwärts f ließenden Strömung. Ein Teil wiederum verdunstet. Flüsse und Winde bewegen sich stochastisch. Sie sind oft unvorhersehbar, verlangsamen oder beschleunigen sich plötzlich und ändern abrupt die Richtung. Der kontinuierlichen linearen ungebrochenen Vorwärtsbewegung von einer Quelle aus steht bei Serres eine Definition gegenüber, die auch auf Zufall, Überraschung und die Diskontinuität gegenläufiger Strömungen und lokaler Wirbel setzt.

7 Vgl. M. Serres, Les origines de la géométrie. Tiers livre des fondations, Paris 2011, S. 40-41.

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Die hydrologische Analogie bei Aristoteles und Theophrastos Die frühen Windtheorien haben sich an die Metapher des Flusses gehalten, weil diese ein Moment der Vorhersehbarkeit und Kontrolle einführt. Die Flussmetapher zähmt den Wind gleich in vielerlei Hinsicht. Die Sichtbarmachung durch Zuweisung einer greif baren Stoff lichkeit ermöglicht, dank der Evidenz des Anschaulichen, so etwas wie eine unmittelbare empirische Nachvollziehbarkeit. Die Flussmetapher bringt zudem eine Entmischung der an sich uferlosen Winde zustande, die sich nie an klare Grenzen halten, sondern sich immer wieder gegenseitig durchdringen und vermischen. Im Gegensatz zum Luftmeer-Argument der Vorsokratiker und der Vorstellung, dass alle Winde eins sind, steht bei Aristoteles die Pluralität der Winde im Vordergrund. Zur Verdeutlichung verwendet er die Metapher des Flusses: Winde sind wie Flüsse und besitzen wie diese ihre je eigene Quelle. Zu behaupten, es gäbe nur einen Wind, »ist gerade so, als wollte man annehmen, auch die Flüsse allesamt seien wie ein Fluß.« Dies kann aber nur dann stimmen, wenn »alle Flüsse aus einem Ursprung strömen.«8 Durch die FlussMetapher können die Winde klar voneinander getrennt werden. Die Festmachung an einer spezifischen geographischen Herkunft individualisiert die Winde und ermöglicht zugleich deren Personifizierung. »Was ist der Wind und wie entsteht er? Was setzt die Winde in Bewegung und woher stammen sie?« Strömt der Wind wie »aus einem Behälter«, so lang bis dieser leer ist, wie wenn man aus Schläuchen gießt? Oder stammt der Wind aus sich selbst? Dieselben Fragen kann man sich bei Flüssen stellen: »Ähnliche Anschauungen werden von einigen auch hinsichtlich des Ursprungs der Flüsse vertreten.«9 Alles, was strömt, muss eine Quelle haben. Dies gilt auch für Winde. Das Quellwasser von Flüssen kommt von den Bergen her. Das Gebirge und das Hochland sind wie ein dicker Schwamm, der den Regen in sich aufnimmt. Sie haben die Form eines hohlen, nach oben und nach unten offenen Behälters. Die größten Flüsse strömen alle von den höchsten Gebirgen herunter, weil sich dort am meisten Wasser ansammelt. Auf ähnliche Art und Weise entstehen Winde: »aus vielen allmählich zusammenf ließenden Ausdünstungen […]. Denn sämtlich sind die Winde am Ursprung ihres Wehens ganz schwach, in größerer Entfernung steigern sie sich dann zu kräftigerem We8 Aristoteles, Meteorologie, S. 30. 9 Ebd., S. 31.

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hen.«10 Es ist die Singularität des Ursprungs, die einmalige Quelle, die Winde und Flüsse gleichermaßen charakterisiert. »Es wäre ja absurd, wenn die uns umgebende Luft einfach durch Bewegung zu Wind würde, und Wind hieße, gleichgültig woher der Bewegungsanstoß kommt, und wenn es nicht ebenso wäre wie bei den Flüssen: für uns ist ein Fluss nicht irgendein strömendes Wasser, wie groß auch seine Masse sei, sondern es muss eine Quelle haben. So steht es auch mit den Winden; da könnte ja etwa durch einen mächtigen Fall eine Luftmasse in Bewegung geraten, ohne eigentlich Ursprung oder Quelle zu haben.«11 Geht es bei Aristoteles vor allem um den Ursprung der Winde, so dient die hydrologische Analogie bei Theophrastos vornehmlich zur Veranschaulichung von Bewegungsabläufen. Die Wassermetapher macht nicht nur den Wind sichtbar, sondern dessen Bewegungsabläufe auch besser theoretisierbar. So wird die Stärke eines Windes durch enge Passagen in der Landschaft gesteigert. Winde f ließen dadurch nicht nur schneller, sondern werden auch kälter. Weitet sich der dem Wind zur Verfügung stehende Raum, so weht dieser sanfter. Winde, die sich durch eine enge Lücke quälen, nehmen an Stärke zu, wie ein Wasserstrom. Manchmal teilt sich der Windf luss auf, wenn er auf ein Hindernis prallt, und f ließt dann auf beiden Seiten weiter, wie dies auch bei Flüssen der Fall ist. Winde, die sich an Küsten, zwischen Land und Meer herausbilden, lassen sich mit der Bewegung von Flut und Ebbe vergleichen. So wie Wasser sich in Mulden sammelt und in unbegrenzten Räumen zerf ließt, konzentriert sich die Luft in Hohlräumen und diffundiert im Offenen. Winde ändern ihre Richtung, wenn sie an Berge stoßen, die sie nicht überwinden können und beginnen dann gegen sich selbst zu wehen, was dazu führen kann, dass sich Wolken manchmal in die entgegengesetzte Richtung fortbewegen.

10  Ebd., S. 56. 11  Ebd., S. 54.

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Der Wind als Welle In Senecas Naturales quaestiones stehen die Winde im Zeichen des Ausgleichs. Sie verhindern Exzesse und sorgen für ein gemäßigtes Klima. Der Wind ist ein allgemeines Prinzip der Veränderung, das die Natur und das Leben der Menschen gleichermaßen bedingt. Der Wind ist Bewegung und verleiht allen Dingen Bewegung. Er ist ein Bewegtes, das bewegt. Die Bewegung der Winde ist dabei weitgehend koordiniert. Sie wehen in der Regel nicht gleichzeitig, sondern nacheinander. Die Winde wurden zum Wohle der Menschheit erfunden. Da Stillstand und Statik ein Problem sind, weil sie unweigerlich zu Zerfall und Korruption führen, besteht ihre Hauptaufgabe darin, die Luft stets in Bewegung zu halten. Winde wehen von allen Seiten, »damit nichts durch träges Daliegen verderbe.«12 Die ständige Umwälzung der Luft ist nützlich und lebensfördernd. Winde sorgen für Regenfälle, aber auch dafür, dass diese nicht Überhand nehmen. Sie bringen Gewölk, führen dieses aber wieder fort und verteilen es auf der ganzen Erde. »Die Passatwinde lassen die Wolken bei uns nicht stehenbleiben […].«13 Winde fördern das Wachstum der Ernten und brechen die Kornhülsen auf, wenn sie reif sind. Gott gab dem Menschen die Winde, »um die Temperatur von Himmel und Erde im rechtem Maß zu erhalten« und, »damit wir erkennen, was jenseits unserer Grenzen liegt.«14 Dank der Winde können wir andere Völker kennenlernen und bleiben nicht unwissend in unseren Grenzen eingeschlossen. In seinen Untersuchungen zum Wind erweitert Seneca die anemologische Tradition der Antike um eine ethische und moralische Perspektive, indem er den Wind und die menschliche Natur direkt aufeinander bezieht. Die grundlegende Regelmäßigkeit und Ausgewogenheit der Windbewegungen dient ihm dabei dazu, abweichende widernatürliche Verhaltensweisen beim Menschen bloßzustellen. Die Menschen haben die göttliche Gabe der Winde zum Fluch gemacht und ihre Nützlichkeit in Schaden verkehrt. Sie wünschen sich günstige Winde, um Flotten in den Krieg zu führen, fremde Länder zu erobern und zu verwüsten. Werden bei Lukrez die Winde als wilde in einem Käfig eingesperrte Tiere beschrieben, so sind es bei Seneca die

12  Seneca, Naturales quaestiones, S. 315. 13 Ebd., S. 313. 14 Ebd., S. 319.

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Menschen selbst, die sich »wilden Tieren gleich« verhalten. Die »Natur hätte es besser mit uns gemeint, hätte sie den Winden verboten zu wehen.«15 Im ersten Abschnitt des fünften Buches diskutiert Seneca das Verhältnis von Luft und Wind im Zusammenhang mit dem Meer und den Wellen. Absolute Windstille und ein völlig regungsloses Meer sind eine Abstraktion, die der empirischen Erfahrung widerspricht. Luft und Wind sind beide grundsätzlich bewegt, wobei bei der Luft keine klare Richtung zu erkennen ist. Die Luft selbst ist nie völlig reglos, sondern immer in Bewegung wie das Meer. Der entscheidende Unterschied zwischen Luft und Wind liegt nicht so sehr in der Bewegung als in der Eindeutigkeit der einmal eingeschlagenen Richtung. »Wind ist fließende Luft (ventus est fluens aer). Manche haben sie so definiert: Wind ist Luft, die in eine Richtung fließt (ventus est aer fluens in unam partem). Diese Definition halte ich für genauer, weil die Luft niemals so unbeweglich ist, daß sie nicht irgendwie umgetrieben würde. So nennt man das Meer ruhig, wenn es sich nur leicht kräuselt, nicht aber nach einer Richtung strömt. Wenn du daher liest: Als im Wind sanft ruhte das Meer, dann mußt du es so auffassen, daß es nicht steht, sondern sich ein wenig kräuselt und man es ruhig nennt, weil es nicht da- oder dorthin strömt. Dasselbe muß man auch von der Luft annehmen, nämlich daß sie nie unbeweglich steht, wenn sie auch ruhig ist.«16 Die Analogie von Meer und Atmosphäre lässt sich durch diejenige von Welle und Wind ergänzen. Der Wind ist eine Welle, die sich in eine bestimmte Richtung entrollt. So wie der Wind Luft ist, die in eine Richtung f ließt, ist die Flut »die Bewegung des Meeres nach einer Richtung« hin. Seneca unterscheidet zwischen bloßer Bewegung und zielgerichtetem Fließen. Denn alles, »was f ließt, f ließt jedenfalls in eine Richtung. Niemand behauptet, daß Wasser f ließt, wenn es sich nur in sich selbst bewegt, wohl aber, wenn es irgendwohin f ließt. Also kann sich etwas bewegen, ohne zu f ließen (moveri et non f luere), und umgekehrt kann unmöglich etwas f ließen, es sei denn in eine Richtung.«17 So wie Luft und Wasser immer bewegt sind, f ließen Wind und Welle immer in eine Richtung.

15 Ebd., S. 317. 16  Ebd., S. 285. 17  Ebd., S. 285-287.

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Der gewichtigste Grund bei der Entstehung von Wind ist für Seneca die Tatsache, dass die Luft »eine natürliche Eigenkraft der Bewegung« besitzt, die sie nicht von anderswo herbekommt, sondern ihr innewohnt. Hinzu kommt ein Vergleich mit dem Menschen: »Oder glaubst du, wir hätten die Kraft, uns zu bewegen, während die Luft untätig und unbeweglich blieb, wo doch das Wasser sich selbst bewegt, auch wenn die Winde ruhen? […] Also besitzt auch die Luft eine Art solcher Kraft, verdichtet sich deshalb bald und dehnt sich bald aus und reinigt sich, und ein andermal zieht sie sich zusammen, geht aber auch auseinander und zerstreut sich. So ist zwischen Luft und Wind der gleiche Unterschied wie zwischen See und Fluß.«18 Wie bei Theophrastos dient Seneca die Flussmetapher dazu, die Bewegungsabläufe von Winden zu erklären. Winde, die aus demselben Grund stammen, sich zueinander gesellen und miteinander vereinigen, sind wie Wildbäche, die »mit mäßigem Umfang strömen, solange jeder in seinem eigenen Bett f ließt, dann aber, wenn mehrere ihr Wasser vereinigt haben, die Größe richtiger und ganzjähriger Flüsse übertreffen.«19 So geht es auch bei kurzen heftigen Stürmen, die an verschiedenen Stellen toben. Wenn diese einmal ihre Kräfte vereinigt haben, nehmen ihre Dauer und Wucht zu. Die Ausdünstungen von Flüssen und Sümpfen sammeln sich nachts in Bergkesseln. »Ist nun der Bergkessel voll und der Dunst wird zu viel, wird er irgendwo hinausgedrückt, f ließt nach einer Richtung und wird zum Wind.«20 Wie Wasser wählt er dabei einen freien Abf luss und strömt dort hinaus, wo es ein offenes unbegrenztes Gebiet gibt. Flüsse, die auf ein Hindernis stoßen oder in einen engen Canyon gelangen, werden auf sich zurück gebogen und in sich hineingezogen, wodurch ein heftiger Wirbel entsteht. Wirbelwinde entstehen in Analogie zu Flüssen: »In Flüssen geht es meist so, daß sie einfach und gerade strömen, solange sie ohne Hindernis fließen. Stoßen sie aber auf einen Felsen, der vom Ufer seitlich hereinragt, werden sie zurückgeworfen und treiben ihr Wasser ohne Abfluß im Kreis herum, so daß es sich aus der Kreisbahn selbst einsaugt und einen Wirbel bildet. In gleicher Weise läßt der Wind, solange nichts im Weg steht, seiner Kraft freien Lauf; wird er aber an einem vorstehenden Berg zu18 Ebd., S. 289 und 291. 19 Ebd., S. 299. 20 Ebd., S. 293.

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rückgeworfen oder dort komprimiert, wo sich sein Weg zu einem abschüssigen und schmalen Gang verengt, dreht er sich mehrfach in sich selbst und bildet einen Wirbel, der dem geschilderten Wasserwirbel ähnelt.«21 In einer weiteren Passage, die ebenfalls mit der Flussmetapher operiert, führt Seneca zwischen der selbstbewegten Luft und dem in eine Richtung strömenden Wind eine dritte Stufe ein.22 Winde bringen andere Winde hervor, dadurch dass sie zusammenf ließen und sich summieren. »Wie Tropfen, wenn sie sich schon neigen und fallen wollen, doch noch nicht herabkommen, sondern erst, wenn mehrere vereinigt sind und ihnen die Masse Kraft verlieh, dann […] fließen und ihren Weg nehmen, so ist es noch kein Wind, wenn die leicht bewegt Luft an mehreren Stellen weht; erst dann wird es ein Wind, wenn alle diese Strömungen vermischt zu einem Stoß vereint sind. Der Lufthauch ist vom Wind dem Grade nach verschieden, denn ein heftiger Luftzug ist ein Wind und umgekehrt der Lufthauch schwach fließende Luft.«23 Diese Definitionsschwierigkeiten, besonders beim Auseinanderdividieren von Luft und Wind, begleiten die Geschichte des Windes bis in die Neuzeit und Moderne hinein. Die Naturphilosophen der Antike verwenden die Flussmetapher weitgehend im Sinne einer Analogie, die ihre metaphorische Dimension eher verbirgt als preisgibt. Bacon und Descartes setzen vermehrt auf empirische Beobachtung und stärken parallel dazu den rein metaphorischen Charakter der Analogie. Dies kommt besonders deutlich bei Descartes zum Ausdruck, der in seiner Beschreibung zwischen Metaphorizität und Wörtlichkeit oszilliert.

21 Ebd., S. 299-301. 22  Ähnliche Überlegungen findet man im Zusammenhang mit der Windskala (Kapitel acht). 23 Seneca, Naturales quaestiones, S. 301.

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Strömungsmetaphern Bacon setzt die Wind-Fluss-Analogie an mehreren Stellen ein und passt sie seinen eigenen theoretischen Vorstellungen an. Er erweitert das Bedeutungsfeld der Metapher und betont im Gegensatz zur Gerichtetheit und Kompaktheit des Fließens eine Vielfalt konträrer Strömungen und deren Durchmischung. »The direction of the wind’s progressive motion is governed by the nurseries, which serve as fountains to rivers […] when they find a current, or meet with little resistance from the air, then, like water in a declivity, they receive and sweep away all the light matter they find in their course, and mix it with their own stream, after the manner of rivers.«24 Der Wind entsteht zum Teil durch Ausdünstungen, die aus den Höhlen in den Tiefen der Erde kommen, hochsteigen und sich langsam sammeln »as rivulets collect into rivers.«25 Winde sind Flüsse, die aus verschiedenen Quellen stammen: »When air breathes out of the earth gradually and in small parcels, it is little perceived, at first; but when many of these small eruptions come together, they make a wind; as a river is formed of springs.«26 Bacon verweist auf konträre Luftbewegungen und verschiedene Strömungsschichten mit unterschiedlichen Fließgeschwindigkeiten. »Again, it is certain, that the higher clouds are sometimes found to f ly over the lower; so as to go different, and even contrary ways; like opposite currents. […] It happens also in waves, that sometimes the upper, and sometimes the lower water moves the quickest; and sometimes, though rarely, there are found two different currents of water, one above and another below, moving in contrary directions. And thus much for the natural motions of the winds […].«27 Wenn zwei Windströme unterschiedlicher Größe und aus unterschiedlichen Richtungen kommend aneinander geraten, f ließt der stärkere über den schwächeren hinweg, und nimmt diesen zum Teil in sich auf. Der schwächere unterliegt zwar, aber nicht ohne den anderen beeinf lusst zu haben. Bacon vergleicht diesen Vorgang mit einem Fluss, der auf das Meer trifft. Die stärkere Strömung des Meeres überwiegt zwar, wird aber durch diejenige des Flusses teilweise gebremst. Stürme sind gewaltige Luftwellen. 24 Bacon, History of the Winds, S. 78 25 Ebd., S. 8. 26  Ebd., S. 50. 27 Ebd., S. 83-84.

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»The motion of the winds is, in many respects, seen, as in a glass, by the motion of the waters. Great winds are inundations of the air, like inundations of the water; both proceeding from an increase of quantity. […] As sometimes in rivers there are contrary motions, one motion of the tide, another of the river’s course; and yet but a single motion takes place; that of the tide becoming predominant: so, likewise, when contrary winds blow, the greater subdues the less. As it sometimes happens in currents of the sea, and certain rivers, that the water a-top moves in a contrary direction to that below; so, likewise, in the air, when contrary winds blow, together, the one flies over the other.«28 Die Verbindung von Makro- und Mikrokosmos ist nur noch in einzelnen Vergleichen erhalten, beispielsweise in der metaphorischen Verbindung der wellenartigen Bewegung der Winde und dem menschlichen Pulsschlag: »The winds undulate quick; so that even a strong wind f luctuates, or rises and falls alternately, at least a hundred times in an hour; which shews the force of the winds to be interrupted: whereas rivers, though rapid; and currents of the sea, though strong; have no undulation, except from the winds. Nor is this undulation of the winds any way equable; but, like the pulse, sometimes intermits, and sometimes returns double.«29 In Die Meteore geht Descartes von verschiedenen Materialteilchen aus und der sich stets bewegenden durch das Sonnenlicht animierten feinen Materie, die zwischen den Partikeln hindurchf ließt wie ein Strom oder ein Windzug.30 Descartes benutzt zwar die hydrologische Analogie nicht mehr, verwendet aber den Wind und seine Verwandtschaft zum strömenden Wasser zur Veranschaulichung der Bewegungsformen der feinen Materie. Die Wind-Wasser Analogie aus der Tradition der naturphilosophischen Texte kommt hier nur noch in veranschaulichenden Metaphorisierungen zum Ausdruck, die implizit für so etwas wie empirische Evidenz sorgen sollen. In den drei relevanten Textstellen geht es um die Materialteilchen harter Körper und um die aalförmigen Partikel, aus denen das Wasser besteht. Der Wind und das damit metaphorisch assoziierte Wasser stehen im Text somit für ein Zweifaches. Auf der einen Ebene ist der empirisch feststellbare Wind das Resultat der Dämpfe und der von der feinen Materie erregten Material28 Ebd., S. 116-117. 29 Ebd., S. 82. 30 Vgl. dazu Kapitel zwei.

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teilchen, aus denen diese bestehen. Auf der metaphorischen Ebene hingegen wird der Wind selbst zu einem aktiven bewegenden Prinzip, das mit der feinen Materie vergleichbar ist. Dies findet jedoch nur auf der metaphorischen Ebene statt, da die Bewegung der feinen Materie durch die Einstrahlung der Sonne und die damit zusammenhängende Wärmezunahme verursacht wird. »[D]ie Partikel harter Körper, die wie ineinandergeschlungene Zweige sind« werden nicht so getrennt wie die f lüssigen Körper, aber die feine Materie lässt sie mehr oder weniger erzittern »wie der Wind die Zweige der Sträucher, aus denen ein Heckenzaun zusammengesetzt ist, erregen kann, ohne sie deswegen schon auszureißen.«31 In der zweiten Passage übernimmt das strömende Wasser die Rolle des Windes, wohl auch weil es hier um die Wasserpartikel geht. Die feine Materie kann »die winzigen Partikel des Wassers, zwischen denen sie gleitet, erregen und sie jeweils getrennt bewegen. Dadurch kann sie die Mehrzahl dieser Partikel sogar biegen und f lüssig machen.« Bei Eis gelingt das nicht. »Deshalb können Sie sich den Unterschied zwischen Wasser und Eis genauso vorstellen wie den zwischen einem Pulk kleiner Aale, die lebendig oder tot im Tank eines Fischkutters voller Löcher treiben, durch die Flusswasser einströmt, das sie erregt, und denselben Pulk Aale, wenn sie getrocknet und steif vor Kälte am Ufer liegen.«32 Die Metapher der glitschigen beweglichen Aale, die Descartes an anderer Stelle für die Gestalt der Wasserteilchen verwendet, muss in dieser Analogie wörtlich genommen werden. Dies zeigt wie durchlässig die Grenzen zwischen Metaphorizität und Literalität sind. Geht es in der ersten Passage um den Wind und in der zweiten um das Wasser, so werden in der dritten Wasser und Wind ineinander gedacht, wobei das Wehen des Windes durch eine Hecke als Metapher für das strömende Wasser benutzt wird. Wasser kann die kleinen Partikel der Öle ausgetrockneter Pf lanzen in einem alchemistischen Destillierkolben nach oben tragen, indem sie diese aus den ineinander verzweigten Materialteilchen herausspült, genauso »wie der Wind Blätter oder Halme mit wegträgt, die sich zwischen den Zweigen einer Hecke ineinandergeschlungen finden, wenn er quer durch sie hindurchfegt.«33 In den drei Textstellen geht es um ein Hindurchf ließen und Hindurchwehen. Der Wind und das Wasser strömen gleicher31 Descartes, Meteore, S. 201. 32 Ebd., S. 202. 33  Ebd., S. 205.

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maßen durch etwas hindurch, seien es nun die heckenartig angeordneten Materialteilchen harter Körper, die Löcher eines Fischkuttertanks oder die Poren eines anderen Körpers, wie in der folgenden Passage: »[…] die durch die Poren eines anderen Körpers f ließende feine Materie [ist] wie ein Fluß durch die Zwischenräume, der auf dem Flußbett wachsenden Gräser.«34

Die Bewegungsformen von Wasser und Wind Die Luft und das Wasser sind von Anfang an in Leonardos Malerei und seinen Zeichnungen gegenwärtig.35 Die Luft ist dabei agiler und subtiler als das Wasser. Im Gegensatz zu den mit der Metapher des Flusses operierenden Windtheorien der Zeit stehen im Werk Leonardo da Vincis Turbulenzen und Wirbel im Mittelpunkt. In Del moto e misura dell´acqua versuchte er, so etwas wie eine Enzyklopädie der unterschiedlichen Bewegungsformen von Wasser und Luft zusammenzustellen. Er kartographierte die komplexen Gestalten von Wirbeln und Spiralen wie ein Zoologe, der unterschiedliche Tierarten klassifiziert. Wenn Wasser auf Wasser niederstürzt, windet es sich in spiralförmigen Bewegungen zurück. Es formen sich »complex curls and eddies round the rising rings of bubbles, which surround the minor whirlpoools.«36 Leonardo vergleicht die Bewegungen an der Oberf läche von Gewässern auch mit denjenigen von langem Haar,37 wahrscheinlich, weil dieses ähnliche f luide Formen aufweist wie die expandierenden konzentrischen Kreise, die sich auf dem Wasser herausbildenden, nachdem ein Gegenstand dessen Oberf läche getroffen hat. In seinem Traktat zum Flug der Vögel38, den er im Zusammenhang mit den vergleichbaren Bewegungsformen von Luft und Wasser untersucht, wird zu Beginn auf die Möglichkeit hingewiesen, anhand des parallelen Studiums der Wasserströmungen (delle correnti d’acqua) Rückschlüsse für eine Wissenschaft der Winde zu ziehen. So wie die Strömungen des Wassers uns etwas 34 Ebd., S. 199. 35 Vgl. dazu auch Kapitel drei. 36 E. H. Gombrich, »The Form of Movement in Water and Air«, in: The Heritage of Apelles. Studies in the Art of the Renaissance, Oxford 1976, S. 39. 37 Vgl. ebd., S. 46. 38 Zu folgenden Überlegungen vgl. R. Giacomelli, »La scienza dei venti di Leonardo da Vinci«, in: Atti del Convegno di Studi Vinciani, Florenz 1955, S. 374-400.

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über die unsichtbaren Bewegungen der Luft sagen, so lassen sich auch an aufsteigendem Rauch und dem Flug der Vögel ablesen, wie die Winde sich in der Atmosphäre fortbewegen. Leonardos scienza dei venti, seine Wissenschaft der Winde, und deren Versuch, anhand der Bewegungen des Wassers die Bewegungen der Luft zu verstehen, geht dem Traktat über den Vogelf lug voraus. Vögel f liegen vor allem dort, wo sich Winde herausbilden, zwischen Bergen, in tiefen engen Schluchten, die voller Wirbel (retrosi) und widerspenstiger Bewegungen (moti revertiginosi) stecken. Der Wind ist kein regelmäßiger kontinuierlicher Fluss, sondern angefüllt mit Turbulenzen und Unregelmäßigkeiten. Seine intime innere Struktur besteht aus schwindelerregenden verschachtelten Wirbeln (revertiginosi e avvilupati retrosi). Die ausgewählten Worte betonen vor allem nichtlineare Bewegungsformen, die rückläufig sind und dadurch Wirbel hervorrufen: Retroso, vom Lateinischen retrōrsus, bedeutet ›umkehren, zurückweichen‹ und revertiginoso, kommt von vertigine, ›Schwindel‹, wobei das häufige Präfix re-, ›zurück, erneut‹, die Vorstellung eines kontinuierlichen Drehens um sich selbst noch zusätzlich verstärkt. Die erstaunliche Modernität dieses Ansatzes wird eigentlich erst aus der Perspektive der fraktalen Geometrie sichtbar. Die Bewegung des Windes lässt sich auch an den Wellen des Meeres ablesen. Diese sind diskontinuierlich, unordentlich und pulsierend (si move a scosse, bewegt sich stoßweise) wie der Wind, der sich sprunghaft in der Form einer Welle weiterbewegt. Leonardo spricht von der Welle des Windes (l’onda del vento). Dies lässt sich auch an der unregelmäßigen Art und Weise feststellen, wie Windstöße Staub aufwirbeln und Böen Fahnen zu wellenförmigen Bewegungen mit unterschiedlichen Erweiterungen und kurvenreichen Windungen (con varie dilatazioni e tortuosità) verführen. Diese Bewegungen treten plötzlich und unerwartet auf und variieren stets in ihrer jeweiligen Intensität. Leonardo verwendet zugleich Ausdrücke, die den Wind als handelnde Person auffassen und auf deren Unbeständigkeit und Leidenschaftlichkeit hindeuten: discontinua impetuosità, ›diskontinuierliches Ungestüm‹, und furia, ›Wut‹. Winde sind nicht nur diskontinuierlich in der Zeit, sondern wehen auch anders an verschiedenen Orten. Dies zeigt sich besonders deutlich am Flug der Vögel, die mit ihrem Flügelschlag immer wieder nachkorrigieren müssen.39 Das am häufigsten verwendete Wort zur Beschreibung des Win39  D  ass die Winde von aufsteigenden warmen Luftströmungen abhängig waren, wurde erst 1927 entdeckt.

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des ist das transitive Verb percotere, ›schlagen, einschlagen‹, hinzu kommen percussione, ›Schlag, Stoß‹ und percosso, ›geschlagen‹. Dadurch wird dem Wind Subjektcharakter zugeschrieben. Die Stärke des Auftreffens hängt von der Masse und Geschwindigkeit des jeweiligen Windes ab. Zum gleichen Umfeld gehören impeto, ›Wucht‹, potenza ›Kraft, Macht‹, spingere, ›stoßen‹, premere, ›drücken‹ und risaltare, ›zurückspringen‹. Die Bewegungen der Winde werden wie bei Aristoteles und Theophrastos von den Hindernissen abhängig gemacht, die sich ihnen in den Weg stellen oder zur Rückkehr zwingen. Der dadurch aufgebrochene Wind findet zwar wie f ließendes Wasser nach dem Hindernis wieder zusammen, die verschiedenen Strömungen treffen dabei aber so heftig aufeinander, dass sie einen möglichen Ausweg in der Höhe suchen müssen. Ein aufprallender Wind kann sich auch gegen sich selbst wenden (vento refresso che si rivolta). Dieser wird aber durch den nachf ließenden Wind, mit dem er sich bald vereint, wieder gestärkt. Dasselbe tut das Wasser. Nach dem Zusammenprall verdreht sich die zurückgewiesene Luft (l’aria refressa) in einen Wirbelwind (in moto revertiginoso). Leonardo deutet dies im Zusammenhang mit seinem eigenen Windverständnis, welches nicht das f lussartige Vorwärtsf ließen hervorhebt, sondern das Wirbelnde und Unregelmäßige des Windes. Die Bewegungen unterschiedlicher Körper, ob es sich nun um Wasser oder Luft handelt, können sich nicht gegenseitig durchdringen. So kann es dazu kommen, dass ein Wind von einem anderen in die Höhe getrieben wird und ein von einem Hindernis zurückprallender Wind sich unter die stärkere nachf ließende Luft schiebt. Wenn Winde frontal aufeinanderstoßen, entstehen vertikal ausgerichtete Wirbelwinde. Wenn ein Wind auf verschiedene Ausgänge aus einem engen Tal trifft und nicht zurückf ließen kann, wird er auf analoge Art und Weise wie ein Wasserstrom gleichzeitig aus diesen hinausf ließen und wie das Wasser wird auch der Strom, welcher der ursprünglichen Richtung des Windes am ehesten entspricht, der stärkste sein. Wenn zwei Ströme gleicher Intensität im rechten Winkel aufeinander treffen, weichen sie gleichermaßen voneinander in die umgekehrte Richtung zurück. Wenn sie aber unterschiedliche Stärke besitzen, wird der heftigere Strom den schwächeren zum Abbiegen zwingen. Leonardo unterscheidet zwischen einfachen und gemischten Luftmassen. Die einfachen Winde bestehen aus einem einzigen ursprünglich in die gleiche Richtung f ließenden Strom, die gemischten aus verschiedenen Strömen, die zusammengef lossen sind. Wenn zwei Luftströmungen mit

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unterschiedlicher Intensität aneinandergeraten, löst dies einen komplexen Bewegungsprozess aus. Der geringere Wind wird zwar vom größeren überwältigt und zurückgedrängt, hat aber eine, wenn auch nur sehr begrenzte Auswirkung auf diesen. Der Teil des breiteren Windes, der vom kleineren getroffen worden ist, ändert zuerst seine Richtung und kehrt auf den Spuren des anderen Windes zurück, dann aber trifft er auf den Rest des größeren nachf ließenden Windes. Dieser erfasst den gef lüchteten Teil, treibt ihn vor sich hin und zwingt ihn wieder in seine ursprüngliche Richtung zurück. Der breitere Wind erzeugt verschiedene sekundäre Bewegungen dadurch, dass er immer wieder auf sich selbst trifft. Die erste Flucht wird zwar eingefangen, führt aber zu einer zweiten, dritten und vierten, was einen Kaskadeneffekt verursacht. Die Winde rennen gegeneinander an wie zwei Wasserströmungen, die in sukzessiven Wellen aufeinanderprallen. Luftmassen sind nie ganz homogen, sondern in ihrem Inneren von verschiedenen Bewegungen animiert, die auf Windstöße und das Zurückprallen anderer Winde zurückzuführen sind. Wie zwei Wasserströme, die aufeinanderprallen, generiert ein Wind in sich selbst verschiedene Bewegungen. Konträre Winde können sich auch ineinander verhaken: »Oftmals geschieht es, wenn ein Wind mit einem anderen im stumpfen Winkel zusammenstößt, daß die beiden sich ineinanderdrehen und verschlingen in Gestalt einer riesigen Säule […].«40 Dennoch gibt es auch Situationen, in denen sich die Winde auf einer geraden Linie fortbewegen, was zu größeren Geschwindigkeiten führt, so z. B., wenn Luftströmungen einen Berg hinauff ließen oder wie Wasserfälle einen abfallenden Abhang zum Meer niederstürzen. Diese Geradlinigkeit der Winde ist aber meist nur von kurzer Dauer. Wenn die herunterstürzenden Winde auf der Meeresoberf läche aufprallen und dadurch nach oben abgelenkt werden, treffen sie schon bald auf andere Winde und werden von diesen wieder nach unten gedrängt, wie ein Fluss, der von einem Ufer zum anderen zurückgeworfen wird, was eine Hin- und Her-Bewegung verursacht. Leonardos detaillierte empirische Beobachtungen überwinden die in seiner Zeit noch vorherrschende Vorstellung eines unabhängig horizontal dahinf ließenden Windes. Dadurch entsteht eine komplexe vielschichtige Vision, die auf vielfachen Formen der Vermischung beruht. Leonardos ausführlichste Erklärung der Windentstehung beruht zwar auf dem traditionellen dualen Schema komplementärer Winde, erweitert 40 Zitiert in Nova, Das Buch des Windes, S. 86.

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dieses aber zugleich und geht von einer Form des atmosphärischen Ausgleichs zwischen unterschiedlichen Regionen aus. Dies könnte als eine mögliche Antizipation moderner meteorologischer Vorstellungen gelesen werden, die den Wind ebenfalls als ausgleichende Bewegung der Luft deuten. Die nördlichen Winde (venti settentrionali) sind kalt, trocken, leicht und schnell, die südlichen (venti meridionali), dagegen warm, feucht, schwer und langsam. In kalten Zonen kondensiert sich die Luft zu Wasser, wodurch die Luftkonzentration abnimmt. Diese zieht aus der Umgebung mit Wut neue Luft an sich, und diese eilt furios hinzu, um den Ort, aus dem die Luft gef lohen ist, wieder zu füllen. Daraus entsteht Wind. Die stürmische Geschwindigkeit, mit der die Luft sich fortbewegt, ist zugleich für die Wucht des Windes verantwortlich. In warmen Zonen verdunstet das Wasser zu Luft, wodurch die Luftdichte zunimmt und die Luft, die schon vorhanden war, sich entfernen muss. Auch diese zweite Bewegung ist Wind. Die höhere Dichte und Schwere sorgen hier für die erhöhte Schlagkraft des Windes (maggiore percussione). Die atmosphärische Zirkulation wird somit durch Überf luss (soperchia) oder Mangel (carestia) an Luft verursacht. Obwohl Leonardo diesen Zusammenhang nicht explizit erwähnte, könnten die beiden Windsorten aufeinander bezogen werden, was so etwas wie die globale Luftzirkulation in einer ersten embryonalen Form darstellen würde. Die überf lüssige f liehende Luft des Südens würde dann nach Norden f ließen, um dort die entstandene Lücke zu füllen. Auch in dieser Darstellung wird der Wind als strömendes Wasser verstanden, das überf ließt oder sich in eine entleerte Bodenvertiefung ergießt.

Luftozean Der Übergang von einem Modell getrennter, nacheinander wehender Winde zu einem Modell, das sämtliche Winde in ein einziges umfassendes System einbindet, lässt sich auch für die Strömungsmetapher nachweisen. Hier geht die Entwicklung von einzelnen Flüssen zum globalen Luftozean. Robert Hookes »A Method for the Making of the History of the Weather« (1667), Edmond Halleys »An Historical Account of the Trade Winds, and Monsoons« (1686) und George Hadleys »Concerning the cause of the general trade-winds« (1735) führten eine neue weltumspannende Perspektive auf den Wind ein. Sie zeigten, dass »das komplexe Spiel der Luftströmungen, Druckausgleiche und Temperaturschwankungen den Wind zu einem weltumspannenden System

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machte, das sich nur in seiner Gesamtheit erfassen ließ.«41 Diese Gesamtsicht der globalen Luftströmungen wurde anhand von neuen systematischen Notationssystemen, wie Wetterkarten und monatlichen Übersichten, veranschaulicht und eröffnete Formen der empirischen Wissensaneignung, die mit dem Gebrauch von Messgeräten – Barometer, Thermometer und Anemometer – zusammenhingen. Durch die Erweiterung des Flusses zum Ozean nimmt die hydrologische Analogie globalen Charakter an: »Dadurch wird der Motor der atmosphärischen Umwälzpumpe in Gang gesetzt und treibt die Winde in Richtung der kälteren Pole. […] die Rotation der Erde lenkt den Strom durch die sogenannte Corioliskraft ab und lässt ihn quer nach Westen wehen. So entsteht ein breiter Gürtel günstiger Winde.«42 Hooke schlägt systematische und regelmäßige Wetternotationen vor: »I conceive it requisite to observe […], the Strength and Quarter of the Winds, and to register the Changes as often as they happen […].«43 Die Wetterbeobachtungen sollten über längere Zeiträume hinweg stattfinden und die Veränderungen eines Monates auf zwei Seiten verteilt werden, so dass man auf einen Blick das gesamte Wettergeschehen überblicken konnte. »It will be desirable to order them so, that the Scheme of a whole Moneth, may at one view be presented to the Eye: And this may conveniently be done on the pages of a Book in folio, allowing fifteen dayes for one side, and fifteen for the other. Let each of those pages be divided into nine Columes, and distinguished by perpendicular lines; let each of the first six Columes be half an inch wide, and the three last equally share the remaining of the side. Let each Colume have the title of what it is to contain, in the first at least, written at the top of it.«44 Die erste Kolumne enthielt die Monatstage und die Stellung der Sonne, die zweite den Ort, die geographische Breite und die Mondphase. In die dritte wurde die Herkunft und Stärke der Winde notiert, in die vierte die Tempe41 Cartier, Der Wind, S. 148-149. 42 Ebd., S. 148. 43 R. Hooke, »A Method for the Making of the History of the Weather«, in Thomas Sprat, The History of the Royal Society of London for the Improving of Natural Knowledge, London 1667, S. 173. 44  Ebd., S. 175-176.

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ratur und in die fünfte die jahreszeitlich bedingte Trockenheit und Feuchtigkeit. Die sechste enthielt den Luftdruck, die siebte »the faces and appearances of the Sky«45, die achte die Auswirkungen des Wetters auf die Körper, Blitz und Donner, Außergewöhnliches und die neunte all das, was man daraus deduzieren konnte. Winde wurden in Buchstaben ausgedrückt und deren Stärke in Zahlen, dasselbe galt für die Temperatur, die Trockenheit oder Feuchtigkeit der Luft, den Luftdruck, so wie sie der Wetterhahn, das Thermometer, das Hydroskop und das Barometer anzeigten. »The Winds may be exprest by the Letters […]. The degrees of Heat and Cold may be exprest by the Numbers appropriate to the Divisions of the Thermometer. The Dryness and Moisture, by the Divisions in the rim of the Hydroscope. The pressure by Figures denoting the height of the Mercurial Cylinder.«46 Hooke wies darauf hin, dass die Luftzirkulation zwischen dem Äquator und den Polen aufgrund thermischer Unterschiede stattfinden musste. Edmond Halley schränkte diese auf die Tropen ein, da weiter polwärts die Auswirkungen der thermischen Effekte zu gering waren, um kontinuierliche Süd- bzw. Nordostwinde entstehen zu lassen. Der Kreislauf entstand allein aufgrund eines der Luft innewohnenden Bedürfnisses zum Ausgleich. Die Herausbildung der Winde wurde auf den Tagesgang der Sonne zurückgeführt. Halley warf eine Reihe von Fragen auf, welche die Konstanz betrafen, mit der die Passatwinde von Osten nach Westen wehten, aber auch die Tatsache, dass ihr kontinuierliches Wehen nur zwischen dem 30. Breitengrad Norden und Süden stattfand. In seiner Darstellung wurde der Wind als Strom beschrieben, der denselben Gesetzen anderer f lüssiger Körper folgte. »Wind is most properly defined to be the Stream or Current of the Air, and where such Current is perpetual and fixt in its course, ›tis necessary that it proceed from a permanent unintermitting Cause.«47 Immanuel Kants Schriften über den Wind, die von einer konstanten Verschiebung der Luftströmung vom Äquator zum Pol ausging, beruhten unter anderem auf den Windkarten des holländischen Mediziners Pieter van Musschenbroek (1729) und des englischen Wissenschaftlers und Arztes James Ju45 Ebd., S. 176. Zur Metapher des Himmelsgesichts vgl. Kapitel fünf. 46 Ebd., S. 176. 47 E. Halley, »An Historical Account of the Trade Winds, and Monsoons, observable in the Seas between and near the Tropicks, with an attempt to assign the Physical Cause of said winds«, in: Philosophical transaction of the Royal Society of London, London 1753, S. 164.

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rin. Dieser ließ der Geographia Generalis (1712) von Bernhard Varenius, eine Sammlung des geographischen Wissens im Europa des 17. Jahrhunderts, eine Windkarte hinzufügen.48 Im 64. Abschnitt der Physischen Geographie »Von den Winden überhaupt« verbindet Kant die Luft mit dem Wasser und den Wind mit dem Strom. Damit steht er in der hier aufgezeigten Deutungstradition, die inzwischen um eine globale Dimension erweitert worden war. »Der Wind ist dasjenige in Ansehung der Luft, was ein Strom in Ansehung des Meeres ist. Er wird auch wie die See durch die Richtung des festen Landes und der Berge sehr eingeschränkt. Wie zwei Ströme, die einander entgegengesetzt sind, einen Meerstrudel machen: so machen zwei Winde, die in verschiedenen Richtungen auf einander wirken, Wirbelwinde.«49 Dazu schreibt Cartier: die »gegensätzlichen Strömungen innerhalb des Luftmeeres« prallen gegeneinander »wie die Brandung auf die Küste.«50 Winde wehen gleichzeitig und oft gegeneinander. »Die Zwischenzeiten der periodischen Winde, die eine Zeit lang eine Gegend durchstreichen und hernach von entgegengesetzten abgelöset werden, die Zwischenzeit dieser Abwechselung, sage ich, ist mit Windstillen, Regen, Ungewittern und plötzlichen Orkanen beunruhigt. Denn alsdann herrscht schon in der obern Luft der entgegengesetzte Wind, wenn der vorige noch in der untern nicht völlig nachgelassen hat, und indem beide gegen einander treiben, so halten sie sich endlich im Gleichgewicht auf, verdicken die Dünste, die sie mit sich führen, und richten alle die genannte Veränderungen an. Man kann es auch fast als eine allgemeine Regel annehmen, daß Ungewitter durch einander entgegen strebende Winde zusammen getrieben werden.«51

48 Vgl. dazu Nova, Buch des Windes, S. 190. Jurin spielte auch im Zusammenhang mit der Entwicklung einer Windskala eine Rolle (vgl. dazu Kapitel acht). 49 I. Kant, Physische Geographie, Bd. 1, 1803, S. 284. 50  C artier, Der Wind, S. 151. 51 I. Kant, »Theorie der Winde, Neue Anmerkungen zur Erläuterung der Theorie der Winde«, in: Geographische und andere naturwissenschaftliche Schriften, Hamburg 1985, S. 103.

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In Kants Theorie der Winde (1765) wird das »dynamische Fließgleichgewicht der Luft zum Zentrum«52 der Argumentation. Cartier spricht in diesem Zusammenhang von einem »globale[n] Medium Wind.«53 »Man muß sich den Luftkreis als ein Meer von flüssiger elastischer Materie vorstellen, welches gleichsam aus Schichten von verschiedener Dichtigkeit, die in größeren Höhen allemal abnimmt, zusammengesetzt ist. Wenn dieses flüssige Meer im Gleichgewicht bleiben soll, so ist nicht genug, daß die Luftsäulen, die man sich neben einander vorstellt, gleich schwer seien; sie müssen auch gleich hoch stehen, d. i. die Schichte von einer gewissen Dichtigkeit muß in allen Theilen ihres Umfangs in derselben Wasserwage stehen; denn nach den Gesetzen der Flüssigkeit würde in entgegengesetztem Falle der höhere Theil nothwendig nach der niedrigen Seite abfließen, und das Gleichgewicht wäre den Augenblick gehoben.« 54

Wind- und Meeresströmungen Die Flussmetapher des Windes hat sich über die Jahrhunderte hinweg zusehends erweitert: von der Quelle und dem pfeilartig verlaufenden Fluss über die Verbindung von Wind und Welle zur globalen Vision des Luftozeans. So beschreibt Howard in Seven Lectures on Meteorology aus dem Jahr 1837 den Himmel als Ozean. Die Winde werden als Gezeiten und als konstante oder variable Ströme bezeichnet, die Wolken gleiten auf dem Luftmeer wie Kontinente oder Inseln. Gase f ließen wie Flüsse durch den Himmel. »The sky too belongs to the landscape; the ocean of air with its continents and islands of clouds, its tides and currents of constant and variable winds.«55 Die letzte Wandlung der Metapher führt zur Integration und Interaktion eines globalen Systems, das zugleich Wind- und Meeresströmungen umfasst. In William Ferrels »An essay on the winds and the currents of the ocean« (1856) spiegeln sich die globalen Strömungen der Winde und die Fließmuster der Weltmeere und dies gleich in mehrfacher Hinsicht. Dabei geht 52 Cartier, Der Wind, S. 149. 53  Ebd., S. 151. 54 Kant, Theorie der Winde, S. 91. 55 L. Howard, Seven Lectures on Meteorology, Cambridge 2011, S. 2.

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es nicht nur um die vergleichbare Fluidität von Luft und Wasser, sondern auch darum, dass beide ein globales zusammenhängendes System mit f ließenden Grenzen darstellen. So wie die Winde auf verschiedenen Höhen der Atmosphäre wehen, manchmal mit entgegengesetzter Richtung, f ließen die Meeresströmungen in verschiedenen Tiefen der Ozeane. Dabei wird der in den Tiefen der Ozeane wirkende Golfstrom mit der globalen Windzirkulation verglichen. Ferrel spricht von einem »aerial gulf-stream.«56 Der erste Teil des Essays ist den Winden gewidmet. Die Atmosphäre, die die Erde umgibt, ist ein elastischer Körper. »If the specific gravity of the atmosphere and of the ocean were everywhere the same, all the forces of gravity and of pressure which act upon any part of them, would be in exact equilibrium, and they would forever remain at rest.« Durch Temperaturunterschiede, die dazu führen, dass sich Luft und Wasser ausdehnen, wird dieses Gleichgewicht gestört: »the equillibrium is destroyed, and a system of winds and currents is produced. It is proposed in this essay to inquire into the effects which are produced, both in the atmosphere and in the ocean.« Es geht um eine einheitliche »theory of winds and currents.«57 Obwohl das Wort current hier für die Meeresströmungen steht, wird es in der Folge auch für die Bewegungen der Atmosphäre herangezogen. Ferrel spricht von einem meeting of currents in der Nähe des Äquators. Die Strömungsmetapher taucht in verschiedenen Zusammenhängen auf. Windströme steigen hoch und beginnen, in den höheren Regionen der Atmosphäre zu f ließen. Andere Winde f ließen an der Erdoberf läche, steigen dann aber graduell hoch, um dort auf die oberen Strömungen zu treffen. Die Winde vermischen sich wie die unterschiedlichen Meeresströmungen. Dabei verdrängt die schwerere Luft die leichtere und zwingt sie in die entgegengesetzte Richtung zu f ließen. »There is a f lowing together […] of the heavier air on all sides, which displaces the lighter air, and causes it to rise up and f low out in a contrary direction. This is the primum mobile of the winds, and all the other forces concerned are dependent on it for their efficiency.« Ferrel bezieht die Auswirkung der Coriolis Kraft, die einen maßgeblichen 56  W  . Ferrel, »An essay on the winds and the currents of the ocean« (1856), S. 20. Ferrel verwendet die Wassermetapher auch in Zusammenhang mit der Entstehung und der Gestalt von Stürmen. Der Wind jagt um deren Zentrum herum wie das Wasser um ein massives umgekehrtes Becken (vgl. P. Moore, The Weather Experiment. The Pioneers Who Sought to See the Future, London 2016, S. 284). 57 Ferrel, An essay on the winds, S. 2.

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Abbildung 8: William Ferrel, Die atmosphärische Zirkulation Einf luss auf die großräumigen Strömungsphänomene hat und dazu führt, dass die Winde nach Osten oder Westen abgelenkt werden, auf die Kräfte, die die Gezeiten regeln. »This is the same as one of the forces contained in La Place’s general equation of the tides […].«58 In einer dem Text beigegebenen Abbildung wird das globale Windsystem, »the general motions of the atmosphere«59, durch parallele Federpfeile dargestellt (vgl. Abb. 8). Der zweite Teil des Essays beschäftigt sich mit den weltweiten Meeresströmungen, »the general motions of the ocean.« Die Atmosphäre und der Ozean sind beide Flüssigkeiten und ihre Bewegungsformen daher vergleichbar. Die Winde und die Ströme im Ozean gleichen sich auch, was deren wichtigste Ursache betrifft: die Temperaturunterschiede. »The primum mobile of the motions of the ocean, as of the atmosphere, depends principally upon the 58 Ebd., S. 7. 59  Ebd., S. 5.

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difference of temperature between the equatorial and polar regions.«60 Eine weitere Parallele besteht in der Vorstellung eines gestörten Gleichgewichts, das nicht nur die Winde, sondern auch Meeresströmungen in Bewegung setzt. »But then the equilibrium at the surface would be destroyed, and the waters would f low there towards the poles, where the superior pressure at the bottom over that of the equator, would cause a current to f low back at the bottom of the sea, towards the equator.«61 Eine vergleichbare Vorstellung findet sich in Hadleys Theorie der Passatwinde. Allerdings ist die Grundbewegung hier spiegelverkehrt: »According to this theory, there should be a current on the surface of the earth from the pole to the equator […] and a similar counter-current in the upper regions from the equator towards the poles.«62 Ferrels vielfache Verbindung von globalen Wind- und Wasserbewegungen findet eine Erweiterung in den hochkomplexen Modellen zur planetarischen Windzirkulation in der gegenwärtigen Meteorologie, in denen die Metaphern des Fließens weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Die Begriffe ›Strömung‹ und ›Fluss‹ stammen heute weitgehend aus der Terminologie der Strömungsmechanik, die sich mit dem physikalischen Verhalten von Fluiden beschäftigt. Die Metapher hat sich hier zum naturwissenschaftlichen Begriff gewandelt, ohne jedoch den bildhaften Anteil ganz abzustreifen. Fließmetaphern kann man auch in anderen Texten über Winde und Wetter finden. DeBlieu verweist auf die vielfachen kontinuierlichen Interaktionen von Wind und Wasser. Wie zuvor die Winde wurden in den 1960er Jahren Meeresströmungen noch als Flüsse beschrieben, die sich an einen schmalen voraussehbaren Weg hielten. Der Wind verwischt die Grenze zwischen Luft und Wasser. »At the sea’s surface the two wave systems are coupled, they roll and push against each other […] the ocean-atmospheric link [is a] continuous loop of feed-back […]. The storms send currents roaring across the bottom, mirroring the circulation patterns that push the wind across land. It seems that there is not just one system of oceans on earth but two great encircling seas, one below the surface and one above.«63 60 Ebd., S. 28. 61  Ebd., S. 25. 62 Ebd., S. 9. 63  DeBlieu, Wind, S. 144-145.

4. Luftmeer: Flüsse und Strömungen

Watson und Moore erweitern die Strommetapher um eine leibliche Dimension. Watson vergleicht das globale Windsystem mit dem Blutkreislauf und dem Nervensystem im menschlichen Körper. »Winds provide the circulatory and nervous systems of the planet, sharing out energy and information.«64 Moore beschreibt den um die Mitte des 20. Jahrhunderts entdeckten Jetstream, der zwischen der Troposphäre und der Stratosphäre unterwegs ist, als »the great artery of the atmosphere.«65 Der Begriff ›Jetstream‹ ist eine Übersetzung von ›Strahlstrom‹, der 1939 vom deutschen Meteorologen Heinrich Seilkopf eingeführt wurde. Jetstreams sind Windkorridore, die sich infolge globaler Ausgleichsbewegungen zwischen verschiedenen Temperaturregionen oder Hoch- und Tiefdruckgebieten bilden und in ihrem Zentrum Geschwindigkeiten von bis 400 Kilometer pro Stunde erreichen können. »Like rivers«, schreibt Watson, »they are wide and relatively shallow, moving at the edges and at half the speed of sound down their tubelike cores. Sometimes the two jets in each hemisphere touch and join into a sort of ›supercharged gulfstream of the upper sky‹.« Jetstreams bilden »the volatile, serpentine backbone of the greatest wind systems on Earth.«66 Sie stellen die stärksten, natürlich auftretenden Winde dar, sind aber im Vergleich zu anderen Wetterphänomenen äußerst verlässlich und bleiben über mehrere Tage hinweg stabil. Jetstreams sind mäandrierende f lussartige Bänder, die sich zwischen der kalten Luft im Norden und der warmen Luft im Süden von Westen nach Osten bewegen. Die Kombination von ozeanischen und atmosphärischen Strömungen beeinf lusst auf entscheidende Art und Weise das globale Wetter. Dabei geht es nicht nur um die Wechselwirkungen der einzelnen Zirkulationssysteme untereinander, sondern auch um die Wechselwirkung der Atmosphäre mit Bereichen anderer Erdsphären wie den Weltmeeren. So interagiert der Golfstrom auf vielfache Art und Weise mit dem Jetstream. In den letzten Jahren konnte eine parallele, sich gegenseitig bedingende Abschwächung der beiden Strömungen festgestellt werden, die einschneidende klimatische Veränderung bedingt. Ein schwächelnder Golfstrom impliziert einen chaotischeren Jetstream.

64 Watson, Heaven’s Breath, S. 7-8. 65  Moore, The Weather Experiment, S. 325. 66 Watson, Heaven’s Breath, S. 30-31.

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Die Fließmetapher findet sich auch im Phänomen der Rossby-Wellen wieder. Dies sind großräumige Wellenbewegungen, die sich sowohl im Ozean als auch in der Erdatmosphäre herausbilden können. Die atmosphärischen Rossby-Wellen entstehen innerhalb des Polarfrontjetstreams, entlang der Luftmassengrenze zwischen der kalten Polarluft und der wärmeren Luft der Ferrel-Zelle. Atmosphärische Rossby-Wellen sind wie die Mäander eines Flusses, sie entfalten sich im Raum und der Zeit als eine Abfolge von Flussschlingen. Ozeanische Rossby-Wellen sind großräumige Wellen innerhalb eines Ozeanbeckens. Verglichen mit den atmosphärischen Rossby-Wellen, deren Größe bis zu Hunderten von Kilometern reichen kann, haben ozeanische Rossby-Wellen eine weit geringere Schwingungsweite in der Größenordnung von Zentimetern bis Metern. Es kann Monate dauern, bis sie ein Ozeanbecken durchqueren. Eine besondere Wettererscheinung, die ebenfalls metaphorisch kodiert ist, sind die sogenannten Kaltlufttropfen, die sich von der Polarluft abtrennen und Richtung Äquator migrieren. Diese bestehen aus sehr kalter Luft polaren Ursprungs, haben in der Regel eine horizontale Ausdehnung von 300 bis 1 000 km und befinden sich in 5 000 bis 10 000 m über dem Meeresspiegel. Ein Kaltlufttropfen hat keine Fronten.67 Dennoch sind bei seinem Durchzug ungefähr die gleichen Wettererscheinungen wie bei einem Tief zu beobachten, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge. Auf eine weitere Verwandtschaft von Wind- und Meeresströmungen verweist Benoît Mandelbrot, der die fraktale Natur des Golfstromes, seine sukzessive innere Aufteilung in kleine und noch kleinere divergierende Ströme hervorhebt, was an Serres’ Bemerkungen zum in Böen und Brisen zerfallenden Wind erinnert.68 Diese »Verzweigungseigenschaft« gilt auch für den Wind. Der Golfstrom »ist kein einzelner Meeresstrom, sondern er ist in eine Vielzahl von sich windenden Armen geteilt, und diese Arme unterteilen und verzweigen sich selbst wieder.«69

67 Zur Entstehung der Front-Metapher in der modernen Meteorologie vgl. Kapitel fünf. 68 Vgl. dazu Kapitel zwei. 69 B. B. Mandelbrot, Die fraktale Geometrie der Natur, Birkhäuser, Basel und Boston 1987, S. 111.

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Ströme, Strahlen, Linien, Striche und befiederte Pfeile In den Winddiagrammen, die in Kapitel drei untersucht wurden, wird der Wind durch gradlinige, manchmal auch leicht gebogene, parallele oder divergierende Linien dargestellt, die den blasenden Köpfen der Windgottheiten entströmen. In Robert Fludds kosmologischen Entwürfen kommt noch ein Bogen hinzu, der vor den blasenden Mündern angebracht ist. Die gespannte Sehne wird von einem dahinterstehenden gef lügelten Engel gehalten. Anstelle der möglichen Pfeile sind es hier konisch angeordnete Strahlen, die im blasenden Mund zusammenlaufen. Aufgrund des gespannten Bogens muss die Vorstellung eines abgeschossenen Pfeiles mitgedacht werden. Abstrakte Notationen in Form von gekrümmten, geschlängelten und spiralförmigen Strichen finden sich in den Zeichnungen von Leonardo da Vinci. Allerdings haben sie dort eine radikal andere Bedeutung, antizipieren sie doch eine neue modernere Vision des Windes. Pfeile findet man auch in den Wetterkarten der gegenwärtigen Meteorologie. Wetterkarten sind in der Regel Landkarten, welche die Wetterverhältnisse über einem geografischen Gebiet zu einem bestimmten Zeitpunkt visuell erfassbar machen. Meist geht es aus meteorologischer Sicht dabei um den momentanen Zustand der Luftdruckverhältnisse über einem größeren Gebiet. Wetterkarten geben darüber hinaus Aufschluss über die Geschwindigkeit und Richtung der Winde, die Bewölkung und die zu erwartenden Niederschlagsmengen. Dies ermöglicht eine Vorhersage zukünftiger Entwicklungen des Wetters in einer bestimmten Region. Die Richtung des Windes wird mit Pfeilen angegeben, wobei die Spitze die jeweilige Richtung anzeigt, in die der Wind weht (vgl. Abb. 9). Die Befiederung des Pfeiles, welche die Windgeschwindigkeit angibt, besteht aus Strichen und Dreiecken und befindet sich an der Basis des Pfeils. Fünf Striche werden zu einem spitzen, ausgefüllten Dreieck zusammengefasst, ein weiterer Strich entspricht zehn und ein halber fünf Knoten. Das Hochdruckgebiet befindet sich auf der Seite der Befiederung. Windstille wird durch einen leeren Kreis markiert. Die gleiche Notation wird auch für einen wolkenlosen Himmel verwendet. Der Pfeil wird unter anderem als Fahnenmast bezeichnet, wodurch die Federn als Fahnen Abbildung 9: Windpfeil

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gedeutet werden können. Die Metapher des Pfeils, mit seiner Spitze und Befiederung zur visuellen Darstellung eines Windes ist mit der Vorstellung verwandt, dass Winde sich wie schnell strömende Flüsse in der Atmosphäre verhalten. Der Pfeil steht dabei für die Richtung des Verlaufes und die Leichtigkeit und Geschwindigkeit des Windes. Die Befiederung lässt sich über die Dimensionen des Fluges und der Geschwindigkeit auch mit den gef lügelten Engeln der mittelalterlichen Winddiagramme verbinden. Wie in der Flussmetapher und den hierarchischen Winddiagrammen des Mittelalters geht es auch in Windrosen um ein Auseinanderdividieren des Windf lusses und eine präzise räumliche Zuordnung der individuellen Winde. Windrosen übertragen die geordnete Himmelsmechanik der Planeten und Sterne auf das weitgehend unvorhersehbare Wettergeschehen. »A wind-rose tames the air«, schreibt Alexandra Harris, »each wind has its section of the compass, each is neatly and helpfully labelled with a polyglot list of names and each blows from the mouth of a puff-cheeked face. The wind-rose looks like an astronomical clock and it sooths the mariner by making the air seem to run like a clockwork.«70 Harris’ Kommentar bezieht sich auf den ersten 1657 in Holland gedruckten Meeresatlas des niederländischen Kartographen Johannes Janssonius (1588-1664) Atlantis Majoris, Quinta Pars Orbem Maritimum Seu Omnium Marium Totius Orbis Terrarum. Dort findet sich eine aus einer Reihe von konzentrischen Kreisen bestehende sechssprachige Windrose (vgl. Abb. 10), die innerhalb eines Vierecks angebracht ist. Der äußerste Kreis dieser Tabula Anemographica enthält die Namen der verschiedenen Winde auf Holländisch und die inneren zwei auf Griechisch bzw. Lateinisch. Italienisch, Spanisch und Französisch befinden sich dazwischen. In den äußeren Ecken, vergleichbar mit den Engeln der mittelalterlichen Winddiagramme, befinden sich vier große blasende Köpfe. Für die verbleibenden 28 Winde sind mittelgroße und kleinere blasende Köpfe benutzt worden, um eine dreifache Hierarchie hervorzuheben. Die mittelgroßen Lockenköpfe entsprechen den Winden auf halbem Weg zwischen zwei Kardinalwinden und die kleinen Köpfe den anderen dazwischenliegenden Winden. Alle Köpfe blasen aus dichten Wolken auf den äußeren Rand des Kreises und nicht mehr direkt in den Kreis hinein wie noch in früheren Winddiagrammen. Das neue Bewusstsein der Zeit kommt nicht nur in der Mehrsprachigkeit zum Ausdruck, sondern auch in der Wahl der Hautfarbe der blasenden Köp70 Harris, Weatherland, S. 143.

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Abbildung 10: Johannes Janssonius, Tabula Anemographica seu Pyxis Nautica Ventorum Nomina Sex Linguis Repraesentans fe. Die acht Köpfe in der oberen rechten Ecke, von Süd-Osten nach NordOsten, sind mohrenhaft dunkel mit krausem Haar und blasen im Gegensatz zu den verbleibenden hellhäutigen goldlockigen oder weißhaarigen Winden nicht aus schwarzen, sondern weißen Wolken hervor. Die unverblümt rassistischen Konnotationen dieser Darstellung deuten implizit auf die traditionelle Gegenüberstellung von zerstörerischen und nützlichen Winden hin. Wie in den mittelalterlichen Illustrationen wird auch in Janssonius’ Windrose die stoff liche Manifestation des Windes, die bewegte Luft, d.h. der herausströmende Atem der blasenden Köpfe, durch divergierende Linien, wellen- und strahlenförmige Strukturen dargestellt. Die grundlegende Ambivalenz von Winden als segnende und strafende Instanzen kommt in einem weiteren Detail zum Ausdruck. Der sonnengekrönte Ost-Wind aus dem Orient hat seinem Atem kleine Sonnen beigemischt und der jugendliche bartlose, blondgelockte und blumenbekränzte West-Wind schickt eine üppige Ernte von vielfarbigen Früchten und Gemüsen. Der greise und bärtige Nord-Wind hingegen bläst gefährliche Hagelkörner auf die Welt hinunter.

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Zu einer Geschichte der visuellen Windnotationen im Zeichen der Strommetapher gehören auch Descartes’ Die Meteore, die eine ganz andere Art der Veranschaulichung und Sichtbarmachung verwenden. Die dem Buch beigefügten Abbildungen variieren je nach Gegenstand und stellen diagrammatisch und modellhaft eine Ergänzung zu dem dar, was zuvor bereits mathematisch berechnet und im Text beschrieben wurde. Imagination und Abbildung übernehmen hier »die Funktion von Bildnetzen, mit denen die unbeständigen Meteore und ihre unsichtbare Mikrostruktur eingefangen werden sollen.«71 Im Gegensatz zu den zuvor erwähnten Strömungsmetaphern kommt in den Abbildungen zuerst einmal das Statische und Situative zum Ausdruck. Durch die Hinzufügung von Buchstaben wird jedoch zugleich ein Narrativ möglich, das Schritt für Schritt dem Textverlauf entspricht. Descartes inszeniert Die Meteore bewusst als Kunst. So beschreibt er die gesamte Schrift als ein Gemälde, und verwendet durchgehend Metaphern der Malerei.72 Die Abbildungen operieren mit einem Code, der nicht explizit erwähnt wird, sondern sich erst aus dem Vergleich von Text und Bild ergibt. Für die einzelnen Partikel wurde jeweils eine graphische Übersetzung gewählt. So sind die Wasserteilchen kleine Kreise, in denen sich ein kurzer Strich befindet. Wolken bestehen aus dicht gedrängten Punkten und der Wind wird anhand von kurzen Strichen abgebildet. Wenn Wasser in Dampf übergeht, strecken sich die Partikel in ihrer ganzen Länge und verdrängen dabei, die anderen Partikel um sich herum (vgl. Abb. 11). Wenn die Erregung wieder nachlässt und die Windpartikel nicht mehr stark genug sind, um sich ausgestreckt zu halten, so beginnen sie sich zu verbiegen und einander anzunähern. Im Buch wird der Wind anhand von kleinen hintereinander gestaffelten parallelen und übereinander geschichteten StriAbbildung 11: René Descartes, In Dampf chen dargestellt. Diese sollen auf umgewandeltes Wasser nimmt viel mehr die Zusammensetzung des WinRaum ein 71 Zittel, Schneekristalle, S. 128. 72 Vgl. ebd., S. 131.

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des, d.h. auf seine materielle Seite, hindeuten. Es stellt sich dabei die Frage, ob die kurzen Windlinien und Windstrahlen aus der ikonographischen Tradition, die Descartes wohl bekannt waren, hierbei eine mögliche Rolle gespielt haben. Das Buch enthält die Abbildung eines Äolsballs (vgl. Abb. 12), auch Heronsball oder Äoli- Abbildung 12: René Descartes, Äolsball. pile73 genannt, der schon in der Antike bekannt war. Wenn man diese Wasser enthaltende Glaskugel erhitzt, wird Dampf generiert, der durch einen engen Ausgang entweicht und einen künstlichen Wind verursacht. Die erhitzten Wasserteilchen im Inneren der Kugel breiten sich aus, wirbeln herum, sto- Abbildung 13: Jean Goujon, Äolipile ßen sich gegenseitig an, dre- (Holzschnitt 1547) hen und zerstreuen sich. In der Illustration aus Descartes’ Die Meteore wird der austretende Wind erneut anhand von kurzen parallelen, hintereinander gestaffelten Strichen dargestellt, die in eine bestimmte Richtung strömen. In anderen Illustrationen aus dem 16. und 17. Jahrhundert wird der Äolsball als blasender Kopf im Profil abgebildet, was auf seine metaphorische Verwandtschaft zu den blasenden Köpfen der Antike und des Mittelalters, aber auch zu Aölus’ Windschlauch hinweist. Der Ausgang der Glaskugel und der Mund der blasenden Figur stimmen dabei überein (vgl. Abb. 13). Die austretende Luft wird in diesen Illustrationen einerseits durch Linien dargestellt, andererseits durch wolkenartige Strukturen. Die Metapher des Flusses findet ihren bildhaften Ausdruck auch auf der globalen Wetterkarte Halleys und in den befiederten Pfeilen Ferrels. Halleys 73 Vgl. M. Craig, »The Aeolipile as Experimental Model in Early Modern Natural Philosophy«, in: Perspectives on Science, 24/3 (2016).

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wind map, eine Wetterkarte des Planeten (vgl. Abb. 14), ist ein herausfaltbares Doppelblatt, das dem Text am Ende beigegeben worden ist, »der erste Fahrplan globaler Windströme«, welcher die »Ergebnisse seiner Forschungen zu den Passat- und Monsunwinden in einer Karte« zusammenfasst »und die Windrichtungen mit alten Verzeichnissen der Meeresströmung«74 abgleicht. Die Resultate seiner Nachforschungen so Halley, seien »better expressed in the Mapp hereto annexed, than it can well be in words.«75 Und weiter: »To help the conception of the reader in a matter of so much difficulty, I believed it necessary to adjoin a Scheme, shewing at one view all the various Tracts and Courses of these Winds; whereby ›tis possible the thing may be better understood, than by any verbal description whatsoever.«76 Die verschiedenen Windzonen sind durch prickt lines, punktierte Linien, voneinander getrennt. Im Atlantik sind es die regelmäßigen Passatwinde. Von den unregelmäßigen Winden (variable winds) verläuft eine Linie zwischen Afrika und Südamerika im Süden und eine zweite im Norden, südlich der Bermudainseln und der Kanarischen Inseln. Halley verwendet keine Pfeile, sondern Striche (stroaks), deren scharfes hinteres Ende (sharp end) die Herkunft des Windes darstellt. Die gestrichelten Linien laufen weitgehend parallel und in dieselbe Richtung, von Osten nach Westen. Die Monsun-Winde im Indischen Ozean dagegen werden durch gestrichelte Linien dargestellt, die abwechselnd von Osten nach Westen und von Westen nach Osten verlaufen. »The limits of these several Tracts are designed everywhere by prickt lines, as well in the Atlantick and Aethiopick, where they are the boundaries of the Trade and Variable Winds, as in the Indian Ocean, where they also shew the extent of the several Monsoons. I could think of no better way to design the course of the Winds on the Mapp, than by drawing rows of stroaks in the same line that a Ship would move going alwaies before it; the sharp end of each little stroak pointing out that part of the Horizon, from whence the Wind continually comes; and where there are Monsoons the rows of the stroaks run alternately backwards and forwards, by which means they are thicker there than elsewhere.«77 74 Cartier, Der Wind, S. 149. Die Zugmetapher ist hier nur teilweise berechtigt. 75  Halley, Historical Account, S. 155 76 Ebd., S. 162-163. 77 Ebd., S. 162-163.

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Abbildung 14: Edmond Halley, Wind map In der Illustration aus William Ferrels Essay (vgl. Abb. 8), welche die Erde als einen in parallele Zonen aufgeteilten Kreis darstellt, sind die Pfeile noch deutlich als solche zu erkennen und tragen die Befiederung, wie zu erwarten wäre, am hinteren Ende. Im Gegensatz zu den eher abstrakt wirkenden Notationen der Pfeile aus den Wetterkarten der Gegenwart erinnern Ferrels parallel gestaffelte Pfeile an die von Jägern verwendeten Geschosse und sind dadurch eindeutig metaphorischer. Die Illustration, die wie Halleys Wetterkarte den gesamten Planeten, allerdings ohne die Kontinente zeigt, nimmt in seiner Kreisform die unterschiedlichen Windzonen auf, so wie sie in gegenwärtigen Darstellungen des globalen Windsystems vorkommen. Ferrels Kommentar verbindet die Fluss- mit der Pfeilmetapher. »If then there were no continents, or other local causes of disturbance, the motions of the atmosphere would be as represented in the following diagram, in which the direction of the wind is represented by the arrows, and the external part of which represents the motion of the air […]. This system, however, is found to prevail on the ocean only, and is very much interfered with in other parts on account of local causes of disturbance, especially in the northern hemisphere, where the uniformity of the earth’s surface is most interrupted by land. […] Hence, there is a rising up of the atmosphere at the latter places, and a flowing thence in the upper regions to the former places, where it descends, and thus a system of current is produced as represented by the arrows […].«78

78  Ferrel, Essay on Winds, S. 5.

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Heinrich Wilhelm Brandes, »ein Wegbreiter der Visualisierung«79, erwähnt 1816 als einer der ersten, die Möglichkeit, auf Windkarten ein Pfeilchen für die Windrichtung zu verwenden. Pfeile spielen auch in der Front-Theorie der Bergen Schule, auf die ich im nächsten Kapitel näher eingehen werde, eine Rolle. Dort werden konvergierende und divergierende, zusammenf ließende und sich voneinander entfernende Pfeile auf Frontlinien bezogen. Wie nachhaltig die simple Version der Pfeilmetapher unsere alltägliche Vorstellung von Winden noch immer prägt, kann man den Wetterkarten aus meteorologischen Fernsehsendungen entnehmen. Selbst die Illustrationen in Hunts Buch über die Winde Europas operieren mit Pfeilen, die entschlossen und eigenwillig über die Landschaften und Länder hinwegfegen wie Schnellzüge. Betrachtet man den gesamten Bogen, von den frühen mittelalterlichen Winddiagrammen bis hin zu den Notationsformen der gegenwärtigen Meteorologie, so stellt man eine Tendenz zur Abstraktion und Entmetaphorisierung fest. Die einfache f lussartige Gerichtetheit und Gradlinigkeit der Winde, die auf Kosten der verdeckten chaotischen fraktalen Dimensionen geht, sowie die Assoziationen des Windes mit der Geschwindigkeit des Fluges, bleiben jedoch beide in der Metapher des befiederten Pfeils bis zuletzt erhalten. Hinzu kommt ein Moment, welches im noch weitgehend ambivalenten Bild der himmlischen oder dämonischen Engel einen Platz hatte. Die frühe Vorstellung der concordia discors ist einem statistisch argumentierenden Diskurs gewichen. Dass die gerade Linie und der Strich bis in die moderne Meteorologie hinein dabei im Zentrum stehen, ist nicht ohne Ironie. Das Wetter und besonders der Wind sind, wie Harris treffend festhält, grundsätzlich »inimical to lines, dissolving them as soon as they are made.«80

Animierte Wetterkarten Durch die neuen computergesteuerten bildgebenden Verfahren der Gegenwart ist eine dynamischere und komplexere Form der Darstellung in der Meteorologie möglich geworden. Ein Beispiel dafür findet sich in »Tornado«, der ersten Episode der Netf lix-Dokuserie Earthstorm: Naturgewalten auf der Spur (2022), in der es um Sturmjäger und Überlebende geht, die von 79 Nova, Buch des Windes, S. 190-191. 80 Harris, Weatherland, S. 9.

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ihren Erlebnissen mit Vulkanen, Wirbelstürmen und Erdbeben erzählen. Es handelt sich dabei um eine Visualisierung der Tornadobildung im Mittleren Westen der USA. Die animierte Wetterkarte zeigt, wie warme Winde aus dem Süden auf kalte Winde aus dem Nord-Westen treffen und sich mit diesen vermischen. Die Winde, die auf unterschiedlichen Höhen unterwegs sind, durchdringen sich und produzieren dadurch einen gigantischen Wirbel. Wie zwei Fischschwärme bewegen sich zahlreiche dichtgedrängte rote und blaue parallele längliche Striche aufeinander zu. Die Striche selbst sind f lexibel, verbiegen sich, weichen kurz ab oder scheren nach links und nach rechts aus. In einigen Fällen stoßen sie dabei auf andere Striche oder gelangen über diese hinaus. Obwohl auch diese Darstellung auf die hier geschilderte Tradition zurückgeht, kombiniert sie eine geordnete Struktur mit zahlreichen inneren gegenläufigen Bewegungen. Die Windströmungen sind zwar kompakt, zerfallen aber immer wieder in ihrem Inneren in kleinere Winde. In Atlas schlägt Serres eine Lektüre der Wetterkarten der Gegenwart im Zeichen einer allgemeinen globalen Theorie der Strömungen und Flüsse vor, die zwischen Ordnung und Unordnung oszilliert. »Die warmen und kalten Luftmassen, die für den Temperaturausgleich zwischen Pol und Äquator sorgen und von allen diesen Bewegungen mitgerissen werden, verlagern sich auf erratische Weise. Wenn sie einander begegnen, führt ihr Zusammenstoß zur Bildung neuer Wirbel, die der Wind dann prompt zwischen die bereits bestehenden größeren Wirbel weht.«81 Die animierten Weltkarten der modernen Meteorologie basieren auf einem Prinzip der komplexen Gleichzeitigkeit. Die digitalen Bildverfahren präsentieren mehrere Meteore und mehrere Winde zugleich, in einer Welt der Gemische und Gemenge, und der kontinuierlichen f ließenden Übergänge, in der Windströmungen und Meeresströmungen ineinander übergehen. Mit ihren Wirbeln und Stürmen erinnern diese Wetterkarten an physikalische Modelle, die in der Moderne weitgehend in Vergessenheit geraten sind, die schon erwähnte Wirbeltheorie Descartes’ und die Physik eines Lukrez, die ebenfalls auf einem System von Strömungen und Wirbeln beruhte. »Mit Mischung und Perkolation bietet das Klimasystem des weltweiten Wetters das schönste Modell der Zeit […]«82 und des Universums als Ganzes. Im Abschnitt »Von der Weltkarte zum Informationsnetz« deutet Serres das Modell der globalen animierten Wetter81 Serres, Atlas, S. 83. 82 Ebd., S. 103.

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karte als Informationsnetz, das die gesamte Welt umspannt. »Diese Ströme werden so vollkommen untereinander vermischt und verrührt, dass kaum ein Ort nicht über den Zustand der übrigen Bescheid wüsste. Die Nachricht wird ihnen von den einander kreuzenden Flüssen zugetragen, in denen Substanzen als Träger von Information fungieren.«83 Das globale Windsystem und das damit zusammenhänge System der Meeresströmungen sorgt für weltweiten Austausch. Sich verändernde Temperaturen in den wüstenhaften Gebieten Australiens beeinf lussen die Regelmäßigkeit der Winde, die entlang des Äquators wehen, was zum plötzlichen Erscheinen von El Niño führt, ein ungewöhnliches ozeanografisch-meteorologisches System nicht zyklischer, veränderter Meeresströmungen des äquatorialen Pazifiks. Dadurch werden das Klima Perus gestört und Wirbelstürme im Golf von Mexiko hervorgerufen. Diese wiederum wirken auf den Golfstrom zurück, was das Wetter in Teilen Europas verändert und die Richtung der Uralwinde beeinf lusst. »Diese Ströme aus Feuer, Luft und Wasser, deren Zirkulation ein wenig der von den antiken Stoikern beschriebenen ähnelt«84, sind Flüsse, die Informationen quer über Kontinente und Ozeane hinwegtragen. Serres bezieht sich hier auf das Weltkörperkonzept der stoischen Philosophie, das auch in Senecas Windtheorie eine Rolle spielt. Serres’ Atlas erschien 1994, zu einem Zeitpunkt als das Internet noch in seinen Anfangsstadien war. Dennoch kann man das weltumspannende Wettersystem mit seinen sich kreuzenden und zusammenf ließenden Windströmungen auch als eine Metapher des Internets verstehen, dessen Seekabelnetz die Welt umspannt und zusammenführt, wie das globale Windsystem.

83 Ebd., S. 104. 84  Ebd., S. 105.

5. Von Winden und Wolken: Himmelsschlacht und Möglichkeitsfeld »Es sage mir keiner, die Winde seien austauschbar, ein Wind, der heute in Triest weht, wehe morgen in Berlin. […] Die Winde sind Wesen, haben ihre Gebiete, Namen und Wirkungsweisen. […] Wind, vent, veter, szél, im Grunde muß er einsilbig sein, der Wind, wie der Schnee, nicht wie die Wolke, die Formen annimmt: von Flocken, Flügeln, Fischen […], Weiß, Bleigrau, Beige, Schmutzgelb, Creme, Der Wind hat keine Farbe, aber er tönt: singt, pfeift, stöhnt und tobt sich aus.« Ilma Rakusa, Mehr Meer In Die Idee der Phänomenologie benutzt Edmund Husserl den Wind und die Wolke als eine Doppelmetapher, die von zwei Seiten her die sichere Ankunft auf dem Festland der Gegebenheiten behindert und bedroht. »Nun sind aber neue Schritte notwendig, neue Überlegungen, damit wir in dem neuen Lande festen Fuß fassen können und nicht am Ende an seiner Küste scheitern. Denn diese Küste hat ihre Klippen, über ihr liegt das Gewölk der Unklarheit, das uns mit skeptischen Sturmwinden bedroht.«1 Das Schiff kann an den gefährlichen Klippen zerschellen, wenn man die lauernden Gefahren nicht rechtzeitig erkennt: die nebelhaften verschleiernden Wolken und die 1 E. Husserl, Die Idee der Phänomenologie, Husserliana Bd. II, hg. von Walter Biemel, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1973, S. 45ff., zitiert nach A. Friedrich, Philosophisches Heimweh. Eine metaphorologische Studie zur Phänomenologie Edmund Husserls, in: Journal Phänomenologie 41 (2014), S. 9.

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unvorhersehbaren destabilisierenden Sturmwinde können vom richtigen Kurs ablenken und das Schiff in den tobenden Ozean zurückwerfen, bevor es den Hafen der Gewissheit erreicht hat. Die Skepsis der Sturmwinde und die Unklarheit des Gewölks, einer nicht weiter definierten Ansammlung unterschiedlicher Wolken, betonen hier gleichermaßen das Plurale und Uneindeutige. Die Winde haben signifikanterweise ihren Ursprung im Gewölk: Die Skepsis geht aus der Unklarheit hervor. Im Gewölk der Unklarheit liegt »eine unheilvolle Ahnung dessen, was sich als ein heraufgezogenes Gewitter entpuppen mag, das mit Blitz und Donner die sichere Landung des Entdeckers gefährdet.«2 Das Wetter ist jedoch nicht nur eine Bedrohung und Gefahr: Meer und Wind sind »zugleich jene Elemente, deren Kräfte das Schiff zum ersehnten Ufer des Neulands tragen.« Dennoch sind es die »skeptischen Sturmwinde«, die das Anlanden erschweren und »das Schiff auch fort vom Punkt der Abfahrt«3 treiben. Zum Vergleich möchte ich eine Passage aus Serres’ Hermes IV. Verteilung heranziehen, in der ebenfalls die Doppelmetapher der Wolke und des Windes verwendet wird, wenn auch mit ganz anderen Vorzeichen. Das sichere Festland ist hier einer begrenzten Insel gewichen. »Jetzt sind die alten geordneten Systeme nur noch Inseln in einem endlosen Meer […] ein paar Gipfel, ein paar Olymps hier und da, die aus den Wolken herausragen, von den Winden umtost. […] es gibt den Sturm über der alten Wissenschaft und über der alten Philosophie; es gibt Böen, Wolken, das Wetter mit all seinen Erscheinungen, Tsunamis, Sturzf luten, Transgressionen im Sinne des Wassers, das über seine Ufer tritt: Meeresvorstöße.«4 Der Hinweis auf die wolkenlosen Olymps der griechischen Götter verbindet die Auf klärung und die positivistische Wissenschaft des 19. Jahrhunderts mit dem von ihr desavouierten religiösen Glauben. Die Pluralisierung des Wortes Olymp relativiert noch zusätzlich den absoluten Wahrheitsanspruch der Wissenschaften. Ausgehend von Husserls und Serres’ Doppelmetapher und der Spannung, die sie ausdrücken, möchte ich in diesem Kapitel verschiedene Metaphern untersuchen, in denen die Beziehung der beiden Meteore im Mittelpunkt steht. Anfangen möchte ich mit den Metaphern des Windschlauches und des Krieges, die das konf likthafte Verhältnis von Wolke und Wind als Kampf 2 A. Friedrich, Philosophisches Heimweh, S. 9. 3 Ebd., S. 13-14. 4 M. Serres, Hermes IV. Verteilung, Berlin 1993, S. 8-9.

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deuten, und zugleich einen Versuch darstellen, die anarchische Dimension des Wetters unter Kontrolle zu bringen. Im zweiten Teil möchte ich kontrastiv dazu die Verbindung von Wolke und Wind im Zusammenhang mit Serres’ und Flussers Werk diskutieren, in denen es nicht um Konf likt und Konfrontation geht, sondern um eine weltverbindende dialogische Vision der Welt. Die Wolke und der Wind treten hier als verwandte Metaphern auf, die einen anderen Zugang zur Wirklichkeit ermöglichen. Die kontrastive Zweiteiligkeit des Kapitels deutet zudem auf den Übergang von den Metaphorisierungen des Windes der ersten vier Kapitel zur Bedeutung des Windes als Metapher in der zweiten Hälfte des Buches.

Die eingesperrten Winde Die erste Metapher, der ich hier im Zusammenhang von Wind und Wolke nachgehen will, ist der Windschlauch oder der Windsack. Die Wolke ist ein Behälter, ein Käfig und eine Höhle. Die darin gefangenen Winde versuchen auszubrechen, beginnen sich im Kreis zu drehen und steigern dabei ihre Kraft, bis sie die Wolken zerreißen und daraus hervorstürmen. Die streitsüchtigen Winde sind wie Tiere in einem Käfig. So beschreibt Lukrez die in den Wolken gefangenen Winde als eingesperrte wilde Tiere (ferarum more, 6.197-99). In den Hymnen der Veda verschlingen die entfesselten Winde die Wälder und wüten wie Löwen.5 Im Gegensatz zur Windrose, welche jedem Wind seinen Ort und seine Zeit zuweist, ist der Windschlauch ein Ort, wo die verschiedenen Winde miteinander eingeschlossen sind und sich gegenseitig zur Raserei antreiben. Die Spannung zwischen anarchischer Grundstimmung und sichernder Kontrolle könnte nicht größer sein. Hunt berichtet in seinem Reisebericht von einem Windmuseum in Triest, das an eine Erzählung von Jorge Luis Borges erinnert. Das »Museo della Bora« wurde 2004 gegründet. Die Website beschreibt es als »Magazzino dei Venti« und als Raum des Windes und der Phantasie.6 »The museum«, schreibt Hunt,

5 Vgl. E. Canetti, Masse und Macht, München 2011, S. 100. 6 Vgl. dazu https://museobora.org/.

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»was housed in the ground-floor of a crumbling apartment block. Its curator Rino Lombardi […] welcomed me as a fellow fanatic […]. His career had started with a gimmick, creating his Bora in Scatola – a Canned Bora, a tub of air listing record Triestine wind speeds […] by far the strangest and loveliest thing was the glittering display cabinet full of ›captured winds’ sent by enthusiasts from around the world. He had over 150 […] bottles, jars, phials, tins, flagons, flasks and Tupperware stacked in disorderly rows, each with its label of origin, including a Sirocco from Rome, a Mistral from Provence, a Tramontana from Tuscany, an unnamed but undoubtedly holy wind from Lourdes, and even one from Darfur with a sprinkle of red desert sand. Each contributor was rewarded with a certificate proclaiming them an ambasciatore eolico, ›ambassador of winds‹.«7 Hunt sieht in Lombardi einen modernen Äolus. Die Winde sind widerspenstige und renitente Kinder, die man nicht wirklich kontrollieren kann. Lombardis Museum verbindet den individualisierenden Gestus der Windrose mit dem Kontrollmoment des Behälters. Äolus Windsack hält sämtliche Winde gefangen, außer den Westwind Zephyros, während Lombardis Flaschen nur je einen Wind beherbergen. Äolus hat die Winde eingefangen und eingeschlossen. Bei Lombardis Sammlung stellt sich die Frage, wie die Winde überhaupt in die ihnen reservierten Flaschen gelangt sind. Das Klassifikationsunterfangen krankt darüber hinaus an einem unlösbaren Widerspruch: Ist ein in Flaschen abgefüllter Wind tatsächlich noch ein Wind oder nur Luft? Verwandelt sich ein Wind, wenn er stillsteht, nicht einfach wieder in Luft zurück? Das Einzige, was noch von den individuellen Winden zeugt, sind die verschiedenförmigen Behälter sowie der Name und Herkunftsort auf dem Etikett. Den unzähmbaren unfassbaren immateriellen Winden stehen hier die soliden Glasf laschen gegenüber. Zwischen den beiden Welten gibt es keine Übergänge. Was für Lombardis Versuch spricht, ist die Betonung der irreduziblen Individualität der einzelnen gefangenen Winde und das implizite parodistische Moment: »›Wind is disorder […]. In this room I try to make order – it’s a crazy idea. I am happy I will never succeed. […] This is a museum that does not exist. To show something that is invisible is not easy, not easy at all.‹«8

7 Hunt, The Wild Winds, S. 67-68. 8 Ebd., S. 69.

5. Von Winden und Wolken: Himmelsschlacht und Möglichkeitsfeld

Die Metapher des Windsackes lässt sich in verschiedenen Kulturen nachweisen, was die Frage aufwirft, worauf diese Ähnlichkeiten zurückzuführen sind. In den verschiedenen Monografien über den Wind, die in der Einführung besprochen wurden, stößt man auf mehr oder weniger lange Kompendien zum Wind in der Mythologie unterschiedlicher Kulturen.9 Diese grundsätzlich kumulativen Listen, die in der Regel allein auf Gemeinsamkeiten hinweisen, ohne sich um den jeweiligen Kontext zu kümmern, sollen durch ihre schiere Zahl beeindrucken und so etwas wie ein allgemein menschliches Substrat suggerieren, ohne dafür jedoch irgendwelche Gründe anzugeben. Ganz anders Ōhashi, der die Präsenz des Windsackes in der japanischen Kultur diskutiert und dabei einen Vergleich zur griechischen Antike zieht. Sein Ziel ist es, mögliche Ähnlichkeiten hervorzuheben, ohne die kulturelle Differenz zu verneinen und zugleich eine erste mögliche Erklärung mitzuliefern. Der wilde Nordwind Boreas bläst nicht mit seinem Mund, sondern aus einem Windsack, den er mit sich trägt. »Er hat einen Windsack, offensichtlich deshalb, weil sein Wind zu kräftig ist, als dass er aus seinem Mund geblasen werden kann.«10 Dies ist sicher nicht der einzige Grund, da auch andere griechische Windgötter mit Gefäßen dargestellt werden. Im Osten gibt es eine verwandte Figur. Auf einem bemalten Stellschirm des japanischen Künstlers Tawaraya Sôtatsu (1570-1640) findet sich eine Darstellung des Wind-Gottes Oado, der aus den Wolken hervor stürmt und ein f latterndes Band um seinen Körper trägt. Oado schwingt einen langen schmalen Windschlauch über dem Kopf, den er mit beiden Händen festhält. Im Gegensatz zu den griechischen Windgöttern trägt er aber keinen Bart und hat auch keine Flügel. Er ist eher ein Dämon als ein anthropomorpher Gott. Dieselbe Figur ist auch als Donnergott Raijin gedeutet worden, dem der Windgott Fujin zur Seite gestellt wurde. Dieser taucht zwar auch aus Wolken auf, hält aber nur die beiden Enden eines langen Bandes in den Händen. Die von Ōhashi beschriebene Figur stammt aus dem Katalog zur Ausstellung »Alexander the Great – East-West Cultural Contacts from Greece to Japan«, die im Heiseikan Tokyo National Museum vom 5. August bis 5. Oktober 9  Vgl. E. Aubert de la Rüe, Man and the Winds, London 1955, S. 192-195 und Watson, Heaven’s Breath, S. 301-307.  . Ōhashi, »Inwieweit ist der ›Wind‹ ein Morphom? Eine Figurationsdynamik der Kultur in 10  R Japan«, in: Morphomata. Kulturelle Figurationen. Genese, Dynamik und Medialität hg. von Blamberger, G. und D. Boschung, München 2011, S. 287.

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2003 stattfand. Darin wird festgehalten, dass der japanische Windgott denselben Ursprung wie die griechischen Windgötter hat. Diese Behauptung basiert auf der Annahme, dass griechische Vorbilder über die Seidenstraße nach Japan gelangten, was Ōhashi bezweifelt. »›The same origin‹ könnte in verschiedenen Weltgegenden in gleicher Weise als eine den Menschen gemeinsame Grunderfahrung des Windes gefunden werden […] Sôtatsu hätte auch ohne Kenntnis der Figur des altgriechischen Gottes Boreas seinem Wind-Gott einen Windsack beifügen können. In der Tat wird in der Mythologie-Forschung festgestellt, dass es in den alten Mythologien der verschiedenen Weltgegenden oft gemeinsame, aber voneinander unabhängig entstandene Archetypen«11 gibt. Auch die indischen Windgötter tragen einen Windsack. Als der japanische Windgott Fūjin die Winde aus seinem Sack entweichen ließ, wurden die Morgennebel vertrieben, so dass die Sonne scheinen konnte. Dies widerspricht wiederum der griechischen Version aus der Odyssee (X: 17-26), welche die zerstörerische Seite der entfesselten Winde betont. Eine weitere Legende aus Neuseeland erzählt davon, dass alle Winde der Welt außer dem Westwind, den man nicht einfangen und einsperren konnte, in eine Höhle gesteckt wurden, damit sie sich ruhig verhielten. Ein großer Stein wurde vor den Eingang gerollt, damit sie nicht entf liehen konnten. Der Windsack entspricht hier der Höhle, beide dienen als Käfig. Somit stellt man beides fest: vergleichbare Metaphern und kulturelle Differenzen, die oft in den Details zum Ausdruck kommen. Ōhashi hält dazu abschließend fest: »Die begriff liche Formkonstanz ›Wind‹ wird immer und überall beibehalten, aber die sinnlich wahrnehmbaren Phänomene des Windes ergeben sich nicht als konstant, sondern als kontingent und mannigfaltig, so dass man mittels der Windphänomene eine vergleichende Betrachtung der Kulturen versuchen kann.«12 Einen solchen Vergleich habe ich im letzten Kapitel versucht. Ein Kompendium von Wetter- und Windmetaphern stellt das 1879 veröffentlichte Wolken und Wind, Blitz und Donner. Ein Beitrag zur Mythologie und Culturgeschichte der Urzeit, der zweite Band von Die Poetischen Naturanschauungen der Griechen, Römer und der Deutschen in ihrer Beziehung zur Mythologie des deutschen Sagensammlers und Schriftstellers Wilhelm Schwartz dar.13 11 Ebd., S. 290. 12 Ebd., S. 303-304. 13 W. Schwartz, Wolken und Wind, Blitz und Donner. Ein Beitrag zur Mythologie und Culturgeschichte der Urzeit, Berlin 1879, S. 1-82. Vgl. dazu auch V. Ionescu, Pneumatology.

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Schwartz’ Ansatz vereint die damaligen Erkenntnisse aus Anthropologie, Mythologie, Sprachwissenschaft und Ethnologie. In sieben Kapiteln untersucht er unterschiedliche Verbildlichungen von Wolken, Wind, Blitz, Donner, Gewitter, Regen und Regenbogen. Obwohl er dabei an gewissen Stellen immer wieder auf Querbezüge aufmerksam macht, fehlt eine synoptische vergleichende Sicht der Wettervorstellungen von Griechen, Römern und Deutschen, vor allem auch was das Verhältnis der einzelnen Wetterphänomene angeht. Ich möchte hier nicht auf die verschiedenen theoretischen Fragwürdigkeiten seines Vorgehens eingehen, sondern versuchen, die zentralen Metaphorisierungen von Wind und Wolke aufzulisten und aufeinander zu beziehen. Der wohl spannendste Aspekt von Schwartz’ akribischer Kompilation sind die übergreifenden oft erstaunlichen formalen Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Mythologien. Die Betonung liegt zuerst einmal auf der Stoff lichkeit von Wind und Wolke, die beide als Gegenstände wahrgenommen werden. Darüber hinaus spielen auch Personifizierungen eine Rolle. Beide Darstellungsstrategien, die miteinander verwoben werden, betonen die physische Greif barkeit von Wind und Wolke und negieren somit sowohl deren Immaterialität als auch deren ephemere Natur. Winde und Wolken sind mythische und göttliche Gestalten oder werden mit Tieren assoziiert, was in beiden Fällen dazu führt, dass ihnen bestimmte Eigenschaften zugesprochen werden. Winde werden oft als Zwerge oder Riesen dargestellt, als vielarmige Sturm- und Gewitterwesen. Den Wolken und dem Wind wird Handlungsfähigkeit zugesprochen. Wolken können schwanger sein, tanzen, emporsteigen und vorbeiziehen. Winde jagen und fegen den Himmel und die Erde wie ein Besen. Sie ruhen, schlafen, erwachen und haben im Gegensatz zu Wolken eine Stimme. Sie erheben sich, fahren auf, tosen, toben, rasen und wüten, f lüstern, pfeifen, stöhnen, schnauben wie Pferde und spielen Harfe oder fordern auf zum Tanz. Der Wind ist oft betrunken, taumelt, ist ungeschlacht, unbändig, grobschlächtig, plump. Windriesen leben im Inneren von Bergen, wo sie zechen und jauchzen. Winde wühlen in Wolken und treiben diese wie Jäger vor sich her. Sie reiten auf Wolken, jagen hinter Wolkenfrauen nach, sind eingeschlossen in Wolkengebirge und heulen wie Hunde und Wölfe. An Inquiry into the Representation of Wind, Air, Breath, ASP, Brüssel 2017, S. 18-9 und M. Tabeaud et. al., »Par mots et par vents«, in: La pluie, le soleil, et le vent. Une histoire de la sensibilité au temps qu’il fait, hg. von A. Corbin, Paris 2013, S. 69-88.

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Die Wolke ist meist ein hohler Behälter, aus dem nicht nur Wind, sondern auch Blitz und Donner dringen können. Sie sind Tonnen und Brunnen, Türme, Gebirgsformationen, aber auch Burgen, Städte und Schlösser. Die Gewitterwolke ist eine glänzende Halle voller Wolkensäulen, eine schwimmende Insel und ein Transportmittel, ein Wolkenschiff oder ein Wolkenwagen. Wolken sind auch Grotten, Höhlen oder Berge. Wolkengebirge, die sich selbst auftürmen oder von Winden geformt werden, sind ein Tummelplatz für verschiedene himmlische Wesen, neben der Sonne, dem Mond und den Sternen auch die Winde. Zwerge werden in Wolkengebirgen gefesselt und festgehalten, bis sie losgelassen werden. Winde wohnen in Höhlen und Wolkenbergen, in denen sie eingeschlossen und gefangen sind. Die Wolke ist ein prallvoller donnerschwerer Behälter, der sich jederzeit entladen kann und schließlich ist eine Wolke auch ein Windsack oder Windschlauch. Die Metapher des Schlauches oder Sacks hat mit einer anderen Seite der Wolke zu tun, ist diese doch auch eine trennende Schicht, eine regenspendende befruchtende Haut, ein Fell und ein Vlies, ein vom Mond gewebtes Nebelgespinst, und in ihrer schützenden Funktion auch ein Mantel, Panzer oder Harnisch. Wolken sind wollig, und werden mit dem Fell von Schaf herden verglichen, was seine Spuren auch in der Nomenklatur der modernen Meteorologie hinterlassen hat. So werden die umgangssprachlichen Schäfchenwolken als Cirrocumulus floccus, ›f lockig‹, bezeichnet. Wolken und Winde werden darüber hinaus mit gef lügelten Tieren verglichen. Vögel sind Windgeister und Wolken himmlische Vögel. Regenwolken sind wie die unbeweglichen Ochsen in einer Herde, wie Rinder und Himmelskühe wegen ihrem herdenhaftem Auftreten und, wie die Winde, Wölfen vergleichbar. Eine gewaltige Wolke ist ein Untier. In der Metapher des Windschlauches spielen der Streit und die kämpferische Auseinandersetzung eine wichtige Rolle. Darauf möchte ich im nächsten Abschnitt eingehen.

Der Himmel als Schlachtfeld In einem Gespräch mit Michel Capdenac zum Dokumentarfilm Pour le Mistral (1965) beschreibt Joris Ivens das Verhältnis von Wind und Wolke als Himmelsschlacht. »Seit fünf Jahren denke ich über den Mistral nach. Die erste Idee kam mir in Saint-Tropez, wo ich eines Tages Zeuge eines Kampfes der Wolken (un combat de nuages) wurde, die zwischen zwei Winden, dem Mistral und der Tramontana, zerrissen wurden.« Der Mistral

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»verhält sich in allem fast wie ein menschliches Wesen. Er ist der Star meines Films. Ein Stern, der sich am Horizont versteckt und der herausgefordert und eingefangen werden muss, wie in einem Stierkampfspiel (il s’agit de le défier, capturer, comme dans un jeu de tauromachie). Manche Soundprobleme müssen dabei gelöst werden, weil der Wind mit dem Sound spielt, ihn verzerrt oder zerstreut. Dank des TV-Forschungszentrums konnten wir einen Windkäfig bauen, um die Stimme des Windes einzufangen (une cage de vent, pour attraper la voix du vent). Normalerweise ist der Wind der Feind des Soundsystems […].«14 Ivens beschreibt auch sein Verhältnis als Filmemacher zum Wind in den Metaphern des Kampfes. Es geht darum, dem Wind nachzustellen, ihn zu stellen und zum Stehen zu bringen, um ihn einzufangen und in einen Käfig zu zwingen. Da der Wind unsichtbar ist, kann es hier nur darum gehen, seine Stimme einzufangen. Aber der Wind, wie Ivens festhält, stäubt sich dagegen, er verzerrt und zerstreut die Aufnahmen. Der akustische Windkäfig, den Ivens sich zu diesem Zweck konstruieren ließ, ist genauso eine Falle wie der Fotoapparat und erinnert an Äolus Windsack und Lombardis versiegelte Flaschen, die beide dem Wind so etwas wie greif bare Stoff lichkeit verleihen. So wie die leeren Flaschen in Triest bewegte Winde vortäuschen, unterschlagen Himmelaufnahmen, die fundamentale Beweglichkeit und Wandelbarkeit der Wolken. In beiden Fällen entsteht eine Illusion von Materialität. Diese Vorstellung findet einen ironischen Kommentar im Werk der beiden amerikanischen Fotografen Robert und Shana ParkeHarrsion (vgl. Abb. 15). Auf einem ihrer surrealen Bilder werden die Wolken als dichte Watteballen dargestellt. Diese sind wie schwebende Luftballons an Seilen festgemacht, die an einem in die Erde gerammten Pf lock befestigt worden sind. Der Himmel ist zugleich eine spektakuläre Bühne und ein Schlachtfeld. Diese metaphorische Vorstellung, der man nicht nur in Mythen, sondern auch in den Schriften der Naturphilosophen der Antike begegnet, hat bis in die Gegenwart hineingewirkt. Der Himmel ist die Bühne Gottes. In der Bibel kommt er auf den Schwingen der Wolken daher und befiehlt dem Wind, welcher der Erde und den Menschen Segen oder Fluch beschert. Auf Albrecht Dürers Holzstichen kämpfen Winde und Engel gegeneinander. 14 J. Ivens, Cinquante ans de cinéma, hg. von Jean-Loup Passek, Centre Pompidou, Paris 1979, S. 47. Vgl. auch Filmstelle VS ETH/VSU (Hrsg.), Der Wind im Film – Windgeschichten / Junger deutscher Film, Zürich 1993, S. 68- 70.

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Abbildung 15: Robert und Shana ParkeHarrsion, Suspension Auch in den mittelalterlichen Winddiagrammen wird der Kosmos trotz der Vorherrschaft von Stabilität und Ausgeglichenheit als kriegerische Welt sich bekämpfender Elemente betrachtet. Die Winde überfallen und verwüsten die Welt mit ihren Waffen (Hagel, Sturm, Regen) wie regelrechte Armeen. Das Rauschen der Winde ist der Schlachtlärm zusammenstoßender Reiterei. Die Winde kämpfen miteinander, aber auch mit den Wolken und dem Meer. Das Wetter ist eine dramatische Theaterinszenierung, die immer wieder in Kampf und Krieg ausartet. Auch die sublunare Welt der frühen meteorologischen Entwürfe wird in Theatermetaphern eingefangen. Es ist eine Welt des Spektakels, des Scheins und der optischen Illusionen. Das zerstörerische und unkontrollierbare Spektakel der Natur überrascht, beunruhigt und begeistert. Wolkenmaschinen inszenieren es in den barocken Theatern. Noch Lamarck spricht vom »spectacle du ciel.«15 Selbst das Erzähler-Ich in Des15 Vgl. O. Grill, Die Wetterseiten der Literatur. Poetologische Konstellationen und meteorologische Konzepte im 19. Jahrhundert, Paderborn 2019, S. 1ff.

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cartes’ Die Meteore tritt als Theaterdirektor und Impresario auf, der durch das Programm führt, eine gottähnliche Figur, die über Wind, Wolken und Regen verfügt, und diese ineinander verwandelt. In diesem Zusammenhang kommt auch der Gesichtsmetapher eine besondere Bedeutung zu. An der Physiognomie des Himmels lässt sich der Charakter des Wetters ablesen und mögliche Weiterentwicklungen vorhersehen. Ein heiteres wolkenloses Gesicht, ein völlig durchsichtiger wolkenloser Himmel versprechen schönes stabiles Wetter. Im Gegensatz zur Schlachtmetapher, die den spannungsvollen Konf likt mit ungewissem Ausgang veranschaulicht, liegt bei der Gesichtsmetapher die Betonung auf der Einheit einer vorherrschenden zeitlich begrenzten Stimmung. Dennoch spielen auch hier das Flüchtige, der plötzliche Stimmungswechsel und das Konf likthafte eine Rolle. So verwendet Goethe in seinen Schriften zur Meteorologie die Gesichtsmetapher, um auf die Wandelbarkeit des Wetters hinzuweisen. Anfang September 1819 notiert er in Karlsbad: »Alle atmosphärischen Erscheinungen haben in dieser Gebirgsgegend einen anderen Charakter als im niederen Lande und drücken sich viel entschiedener aus. Nur muss man, der Himmel mache ein Gesicht, welches er wolle, sich entschließen aus der Karlsbader Schlucht herauszugehen und die Höhen zu ersteigen […].«16 In der meteorologischen Gesichtsmetapher steht die Wolke in ihrer Anwesenheit oder Abwesenheit und jeweiligen Ausformung im Mittelpunkt. Entscheidend sind vor allem deren Sichtbarkeit und Wandelbarkeit. Der Wind wird erst in den Bewegungen der Wolken sichtbar. Es gibt viele unterschiedliche Himmelsgesichter. Hooke spricht von »the constitution and face of the Sky or Heavens«17 und benutzt die Metapher, um unterschiedliche Himmelszustände zu charakterisieren. Die Farbe des Himmelsgesichts bei Sonnenund Mondauf und -untergang ist ebenfalls zu beachten: »[…] the faces of the Sky, they are so many, that many of them want proper names and therefore it will be convenient to agree upon some determinate ones, by which the most usual may be in brief exprest.«18 Hooke unterscheidet zwischen einem wolkenlosen dunstfreien Himmel und einem bewegten Himmel sowie einer 16  W  . von Goethe, Schriften zur Meteorologie, in: Gesamtausgabe der Werke und Schriften in Zweiundzwanzig Bänden, hg. von H. Hölger und E. Wolf, Bd. 20, Schriften zur Geologie und Mineralogie, Schriften zur Meteorologie, Stuttgart 1963, S. 789. 17 Hooke, Method, S. 174. 18 Ebd., S. 177.

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Kombination der beiden. Der Himmel kann verschwommen, dickf lüssig, bedeckt, haarig, wässrig, gewellt oder wolkig sein. Diese Bezeichnungen stehen für ebenso viele Wolkenformationen. Diese ›Gesichter‹ können einzeln oder sogar zusammen auftreten, was eigentlich die auf Einmaligkeit ausgerichtete Gesichtsmetapher sprengt. »There may be also several faces of the Sky compounded of two or more of these, which may be intelligibly enough exprest by two or more of these names.«19 Diese pluralisierende Deutung der Gesichtsmetapher weist zurück auf die Kampfmetapher. Im Unterschied zur Strommetapher, die ein Naturphänomen anhand eines anderen erklärt, projizieren die Schlacht- und Kriegsmetaphern ein kulturelles Muster auf das Himmelsgeschehen und machen dadurch das unvorhersehbare zerstörerische Wetter verständlicher. Sie verleihen dem Formlosen und Unsichtbaren eine Gestalt: Kriege beginnen und enden, zerfallen in einzelne Schlachten und lassen Kontrahenten unterschiedlicher Stärke gegeneinander antreten. Sie haben einen Zeitverlauf mit einem Ausgang, führen zu bestimmten Folgen und finden an einem oder mehreren Orten gleichzeitig statt. Stürme sind wie Schlachten, in denen die Meteore gegeneinander kämpfen. Donner und Blitz sind der begleitende Kriegslärm. In den Schriften von Lukrez, Plinius und Seneca wird das Himmelsgeschehen ebenfalls als Schlacht beschrieben. In Lukrez’ De rerum natura geraten die Wolken geräuschvoll aneinander, wenn die Winde in der oberen Himmelsregion miteinander kämpfen. Gewaltige Winde bohren sich ins Innere der Wolken, höhlen diese aus und zerreißen sie. Wenn Winde durch Wolken hindurchwehen, entsteht ein lautes Geräusch, das an einen vom Wind durchfegten Wald erinnert, dessen Äste und Blätter erzittern. Winde treiben die Wolken aufeinander zu, dringen in diese ein und beginnen sich dort zu drehen. In Lukrez’ Vorstellung sind Winde wilde, gefährliche und zerstörerische Naturgewalten. Ein in einer Wolke herumwirbelnder Wind erhitzt und spitzt die Blitze zu und gibt ihnen den letzten Schliff, um sie dann zu entzünden. Ein Wind kann zusätzlich von außen auf die Wolke stürzen und den fertigen Blitz herauspressen. Dessen Richtung wird von der Richtung des Windes bestimmt. Wenn es dem Wind nicht gelingt, in eine Wolke einzudringen, kann er diese hinunterdrücken, was einen gigantischen Wirbelwind oder eine Wasserhose verursacht. Zur Beschreibung von Wolkenformationen in Gewittern verwendet Lukrez 19 Ebd., S. 178.

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die Metaphern des vom Wind geblähten, durch einen plötzlichen Windstoß zerrissenen Segels, des gepeitschten knatternden in den Lüften wirbelnden zerfetzten Papierblattes und des aufgehängten im Wind f latternden Gewandstücks. Die drei Bilder verweisen auf etwas Konvulsivisches und sind verwandt mit Lukrez’ Beschreibung der Wolke als etwas Raues und Zerklüftetes. Wolken haben zugleich etwas Starres und Sperriges, als wären sie wild manövrierende Galeeren, majestätisch dahintreibende Luftschiffe in einer imaginären am Himmel stattfindenden Seeschlacht. Dabei durchdringen sie einander nicht, sondern prallen geräuschvoll aufeinander. Seneca verwendet in seiner Darstellung des Windes ebenfalls Kampfmetaphern. So verweist er auf plötzliche heftige Wolkenbrüche, die auf einen Streit zwischen trockenen und feuchten Ausdünstungen zurückzuführen sind. Die in schlauchförmigen Taschen gefangene, sich erhitzende und expandierende Luft im Inneren von Wolken bricht plötzlich aus diesen hervor und zerreißt sie. Zur Erklärung des damit einhergehenden Donners benutzt Seneca die Metapher der Löcher einer Flöte, durch welche die Luft geräuschvoll abgeht. Einige Winde kommen aus »geborstenen und nach unten aufgerissenen Wolken«, man nennt diese Winde Wolkenstürme. Da die aufsteigenden Korpuskeln ungleichmäßig sind, einige trocken und andere feucht, kommt es zum Widerstreit der kämpfenden Körper. Daraus entstehen »hohle Wolken und zwischen ihnen röhrenartige und f lötenförmige Engstellen.« Der eingesperrte Wind saust geräuschvoll aus den f lötenförmigen Löchern der Wolken hervor. Die in diesen Zwischenräumen eingeschlossene dünne Luft versucht, sich erfolglos auszudehnen, erwärmt sich dabei und nimmt an Volumen zu, bis sie »die Wände sprengt und in einem Wind ausbricht«. Dieser ist sturmähnlich und fällt heftig aus der Höhe hinab, weil er nicht frei f ließen kann, sondern seinen »Weg mit Gewalt und Kampf bahnen«20 muss. Seneca verwendet die Kampfmetapher auch im Zusammenhang mit der Metapher des entfesselten wilden Tieres. Die oft gewaltigen Windmassen können nicht gezähmt werden und keine Fessel kann sie zurückhalten. Denn der Wind wird jede zerreißen, um sich den nötigen Freiraum zu verschaffen, besonders wenn er gereizt ist und versucht, sich sein Recht zu verschaffen. Die Himmelsschlacht ist ein Kampf von Winden und Wolken. Auch Plinius beschreibt das Himmelreich als ein Schlachtfeld, auf dem die Natur einen endlosen inneren Krieg gegensätzlicher Prinzipien ausficht. »Regen fällt he20 Seneca, Naturales quaestiones, S. 299.

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rab […] Hagel stürzt nieder […]. Leer stürzen die Winde herbei und kehren mit Raub beladen wieder zurück. […] Der Kampf kann nicht ruhen, sondern dauert bei den reißend schnellen Umschwüngen fort […].«21 Betonen die Gesichtsmetapher die innere Stimmigkeit eines bestimmten Wetterzustandes und die Bühnenmetapher das Numinose und Spektakuläre, so eröffnet die Schlachtmetapher, die Möglichkeit eines komplexeren Wetterverständnisses, das von einer vielschichtigen Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Himmelsscharmützel ausgeht. Dies ist der Fall bei Leonardo da Vinci, der die Schlachtmetapher des Himmels als ein Gemenge versteht und in seinen Notizbüchern den Sturm als windgepeitschte Wolkenschlacht geschildert hat. Die Wolke wird mit einer Bombarde verglichen, Blitz und Donner mit artilleristischen Effekten. Die am Himmel vorbeiziehenden Wolken erinnern an ein waffenstarrendes kompaktes Heer. Wolkenformationen weisen zudem spezifische Ballungen und Verteilungen auf, die an einzelne Knäuel von Kämpfenden gemahnen. Weitere gemeinsame Aspekte sind das unabsehbare Gewirr mehrfacher chaotischer Bewegungen, das undurchschaubare Durcheinander ineinander verf lochtener Gestalten und die Gleichzeitigkeit des steten Wandels, die einen Verlust der Übersicht mit sich bringen. Gerade bei Schlachten sind die Bewegung und die Kontingenz von entscheidender Bedeutung. Schlachten sind wie Wolken und Winde unberechenbare ungeordnete Turbulenzen, durch einen f lüchtigen Aggregatzustand und eine Vielfalt zugleich stattfindender Ereignisse charakterisiert. Die Metapher der Himmelsschlacht beschreibt in der Regel den Kampf zwischen den verschiedenen Meteoren in der Atmosphäre, der Krieg kann aber auch zwischen dem Himmel und der Erde stattfinden, wie dies im Werk Wolfgang von Goethes der Fall ist. Im Wolkentagebuch, das Goethe auf einer Reise nach Karlsbad schreibt, ist die Rede von fortdauernden Wolkenkonf likten, von Wettstreit und Schauspiel. Die andere Seite der Theatermetapher und des Naturschauspiels ist die Kriegsmetapher. Der Konf likt zwischen der Atmosphäre und den Wolken hat mit Gewalt und Übergewalt, mit Sieg und Herrschaft zu tun. »Am Himmel ist Krieg, Wetter bedeutet Krise. […] Die Atmosphäre erscheint als ein ›Amphitheater‹, in dem sich der Kampf ›der oberen Region‹, wo ›die Herrschaft der Trocknis‹ waltet, mit der ›unteren Region, der sich auf die Erde beziehenden Feuchte‹ abspielt. Die Wolken werden in dieser feucht-trockenen Arena wie ein Spielball hin und 21  Plinius, Naturgeschichte, S. 155.

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her, oder besser: hinauf und hinunter geworfen. Goethe inszeniert das Wetter als ›Schauspiel‹ […] und ›Kriegstheater‹ […].«22 In der Passage, auf die Grill hier verweist23, ist auch die Rede von ›Sieg‹ und ›verbündeten‹ Kräften. Umkämpft sind dabei grundsätzlich die Grenzen zwischen den beiden Kriegsparteien. Das Wetter löst die ursprüngliche hierarchische Ordnung auf und fördert eine wüste wilde Durchmischung zutage. Wetter hat mit Unordnung zu tun, mit Desorganisation. So vergleicht Goethe nicht nur den Krieg mit einem Gewitter, sondern auch die Revolution, beides Extremformen der Abweichung von der etablierten Weltordnung. In der Campagne in Frankreich verlagert sich die Gewalt des Krieges in die Darstellung des Wetters. »Dadurch rücken der Krieg im Wolkentagebuch von 1820 und das Wetter im Kriegstagebuch in ein aufschlussreiches Nahverhältnis«, das auf die Verunsicherung hinweist, »die für Goethe vom Wetter ausgeht.«24 Kampf und Krieg sind seit der Antike zentrale Metaphern des Wetterwissens. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Schlachtmetapher auch in der Meteorologie der Gegenwart zum Einsatz gekommen ist.

Wetterfronten als Schlachtlinien Scott Huler weist auf eine wichtige Verschiebung in der zentralen Metapher der Meteorologie des frühen 20. Jahrhunderts hin, die Hand in Hand mit einem neuen globalen Wetterverständnis geht. Bis zu diesem Zeitpunkt hinein wurden Winde noch weitgehend als singuläre Strömungen verstanden, d.h. als parallel verlaufende Flüsse, eine Vorstellung, die man bis auf Aristoteles zurückverfolgen kann. »[…] only in the 1910s did meteorologists finally recognize that mid-latitude storms […] move not so much in discreet streams of air as with the moving boundaries between large masses of air of differing temperature and pressure. Thus, a mass of cold air advances on a mass of warm air, and the turbulence at their border causes storms, which move as the air masses do. The Norwegian meteorologist Vilhelm Bjerknes developed this theory during World War I, so he naturally called the unsettled borders

22  Grill, Wetterseiten der Literatur, S. 52. 23 Goethe, Meteorologie, S. 811. 24  Grill, Wetterseiten der Literatur, S. 54.

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of these huge air masses ›fronts‹.«25 Diese neue Sichtweise und die damit einhergehende Metapher der Front gehen auf die Bergener-Schule der Meteorologie (Bergenskulen i meteorologi) zurück, die 1917 am Geophysischen Institut der Universität von Bergen gegründet wurde und die Grundlagen der modernen Wettervorhersage entwickelte. Neben Vilhelm Bjerknes (1862-1951) zählten sein Sohn Jacob Bjerknes (1897-1975) sowie Tor Bergeron (1891-1977) und Halvor Solberg (1895-1974) zu den wichtigsten Vertretern. Carl-Gustaf Rossby, auf den der Name der Rossby-Wellen zurückgeht, arbeitete zeitweilig in Bjerknes’ Gruppe und erhielt seine meteorologische Ausbildung nach den Methoden der Bergener Schule. Wie Robert Marc Friedman26 nachweist, ist der theoretische Weg zur Polarfrontheorie ein langwieriger. Die neue Front-Metapher hat die frühere Flussmetapher nicht einfach abgelöst, wie Huler festhält. In den graphischen Darstellungen der FrontTheorie findet man immer noch Pfeillinien wie auf Halleys Windkarte und Ferrels Illustration, diese folgen nun aber nicht mehr einander und bewegen sich auch nicht mehr parallel zueinander, sondern aufeinander zu, wie zwei sich bekämpfende Armeen, die an der Front zusammenstoßen. Die Wahl der Frontmetapher ergab sich auch nicht einfach von selbst aus der Situation des Ersten Weltkrieges. Der Zusammenhang ist hier wesentlich komplexer. Inwiefern die hier kurz skizzierte Vorgeschichte der Schlachtmetapher die Wahl beeinf lusst hat, ist nur schwer auszumachen. Entscheidend scheint mir eher die Tatsache, dass die Geschichte des Front-Begriffs der BergenerSchule der Meteorologie zeigt, wie die Wahl einer neuen Leitmetapher zu völlig neuen Erkenntnissen führen kann. Wenn man die Front-Metapher mit der Fluss-Metapher vergleicht, ergeben sich zahlreiche Unterschiede. Die in Kapitel vier untersuchte Fluss-Metapher setzt eine zweidimensionale Sicht ohne Tiefe voraus. Flüsse verlaufen in dieser Vorstellung kontinuierlich, horizontal und weitgehend linear. Sie sind in ein Flussbett eingeschlossen und haben eine Quelle, einen eindeutigen Ursprung. Es ist ein pfeilartiges Fließen. Die Flüsse f ließen meist allein und nacheinander, was eine lokale, regionale Perspektive bedingt. Wenn sie sich begegnen, treten sie allerdings als um Übermacht kämpfende Kontra25  S . Huler, Defining the Wind. The Beaufort Scale, and How a 19th-Century Admiral Turned Science into Poetry, New York, 2004, S. 130. 26 R. M. Friedman, Appropriating the Weather. Vilhelm Bjerknes and the Construction of a Modern Meteorology, Ithaca und London 1989.

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henten auf, ein Gedanke, der in der Front-Metapher wiederauftaucht. Auch diese ging wie die Flussmetapher zuerst noch von einer zweidimensionalen Vorstellung aus, die dann aber bald von einer dreidimensionalen abgelöst wurde. Darüber hinaus wurde die Perspektive vom Lokalen zum Kontinentalen und Globalen erweitert. Anstelle der früheren Ordnung stehen nun das Unvorhersehbare, Plötzliche und Turbulente im Mittelpunkt, wobei gewisse sich wiederholende und dadurch antizipierbare Strukturen mit im Spiel sind. Die Bergener-Schule zielte vor allem auf eine verbesserte Voraussagbarkeit der Stürme im Nordatlantik ab. Die neue Metapher ermöglichte es, das komplexe meteorologische Ereignis als ein Ganzes zu sehen und zugleich die unterschiedlichen abrupten Veränderungen im Sinne eines Kampfes darin unterzubringen. Dieser konnte wiederum durch mathematische Kalkulationen und ein statistisches Vorgehen erklärt werden. Die ersten theoretischen Entwürfe gingen von konvergierenden und divergierenden Strömungslinien in einem horizontalen Bewegungsfeld aus, die zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfanden. Schon um 1904 hatte man festgestellt, dass der Wind in zwei horizontalen Richtungen zu konvergieren und zu divergieren schien. Dies waren aber nur zwei von mehreren geometrischen Mustern, die in den Linien der Windströmungen entdeckt wurden. Untersucht wurden diese weitgehend als hydrodynamische Phänomene, die eine kinematische und dynamische Erklärung erforderten. Die Konvergenzlinien waren mit Gewitterlinien (squall lines) verbunden. Squall, ›Sturmbö‹,

Abbildung 16: Vilhelm Bjerknes, Frühe Darstellung des Zyklons, Sommer und Herbst 1918

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kommt von squeal ›schreien, kreischen‹. Wie später entdeckt wurde, entstehen squall lines meist an der östlichen Vorderseite eines Höhentiefs, d.h. am Rande der Frontalzone. Diese erstrecken sich meist über Hunderte von Kilometern hinweg in Form eines sich schnell bewegenden schmalen Bandes von Gewittern oder heftigen Schauern, das von starken Winden, Regen oder Hagel begleitet war, plötzlich auftauchte und dadurch selbst in der Landwirtschaft Mitteleuropas oft großen Schaden anrichten konnten. Konvergenzlinien verliefen quer über Europa hinweg und stellten auch eine Gefahr für Flugzeuge und Landebahn-Ballons dar. In Bodennähe waren sie von mehreren parallelen horizontalen Linienböen begleitet. In der Nähe von Konvergenzlinien wies das Windfeld ein deutliches aus den Strömungslinien entstehendes Wirbelmuster auf. Zwischen August und Oktober 1918 wurde daraus ein erstes Zyklonenmodell entwickelt (vgl. Abb. 16). Im Oktober erschien Jacob Bjerknes’ Essay »On the Structure of Moving Cyclones«, der von Zwillingslinien der Konvergenz ausging. So kam zu der schon erwähnten squall line jetzt auch noch eine steering line, eine Steuerlinie, und später auch noch forerunner lines of divergence hinzu, die in die steering line einmündeten, und den Konvergenzlinien vorausgingen (vgl. Abb. 17). Bis zu diesem Zeitpunkt waren Zyklone als symmetrische Strukturen mit einem zentralen Kern beschrieben worden. Das neue Modell ging von einem asymmetrischen thermischen Auf bau aus mit einer ›Zunge‹ aus warmer Luft, die von kühler Luft begrenzt wurde. Der Regen verteilte sich dadurch nicht mehr symmetrisch um den zentralen Kern des Zyklons herum, sondern war mit den Konvergenzlinien verbunden. Den linken Zungenrand bildete die squall line und den rechten die steering line. An der Zungenspitze, am Scheitelpunkt, trafen die beiden Linien aufeinander und von dort entfernte sich der Zyklon in einer tangentialen Linie weiter. In den Abbildungen f ließen gebogene parallele Pfeillinien in die beiden Linien ein und konvergieren auf die Abbildung 17: Jacob Bjerknes, Strömungslinien Zungenspitze zu, mit der sie (lines of f low), Zyklonenmodell Oktober 1918 verschmelzen. Dieses Modell

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war noch zweidimensional, daher auch die Metapher der Zunge. Diese ist besonders deutlich in einer Abbildung (vgl. Abb. 18) aus Vilhelm Bjerknes’ essay »The Structure of the Atmosphere when Rain is Falling« (1919) zu sehen. Später wurde diese Komponente als ›Kopf‹ bezeich- Abbildung 18: Vilhelm Bjerknes, Das Bergennet, um die Dreidimensionalität Zyklonenmodell 1919, horizontale Projektion des Vorganges hervorzuheben. Das Verbindende von Zunge- und Kopfmetapher (vgl. Abb. 19) liegt in der Tatsache, dass beide auf das organisch Gewachsene hindeuten und auf unterschiedliche Art und Weise das Vorderste bzw. das Oberste zum Ausdruck bringen. Die gepaarten parallelen interagierenden Ströme verschwanden in den späteren Modellen. Die zungenartigen surface boundaries trennten die warme von der kalten Luft und die parallelen, miteinander verbundenen Konvergenzund Divergenzlinien begrenzten eine rollende Luftmasse. Warme und kalte Luft strömten aufeinander zu und trafen sich an der Sturmlinie (squall line), vermischten sich aber nicht, was später jedoch angezweifelt wurde. Der Begriff der dreidimensionalen Wetterfront, der auf diese ersten Publikationen zurück geht, tauchte jedoch erst 1919 auf und stand für eine radikale konzeptuelle Veränderung und ein völlig neues Zyklonenmodell, in dem warme und kalte Luft interagierten. Indem kalte dichte Luft die warme höher gelegene leichtere Luft unterpf lügte und gewaltsam anhob, entstand ein enges Band von Regenfällen und Gewitterstürmen. Das neue Modell beruhte nicht mehr auf verbundenen konvergenten und divergenten Linien, wie noch im Artikel vom Oktober 1918. Die Linien, an denen die kalte und die warme

Abbildung 19: Vilhelm Bjerknes, Böenoberf läche (squall surface) 1919

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Luft aufeinandertrafen, waren nicht mehr konvergente Linien, obwohl die Bezeichnungen steering line und squall line noch immer verwendet wurden, wenn auch mit einer anderen Bedeutung. In diesem neuen Modell gab es keinen Platz mehr für konvergierende Linien, da diese nur in einem zweidimensionalen Feld Diskontinuitäten zuließen. Die surface boundary wurde neu als eine dreidimensionale Grenze zwischen Luftmassen gedeutet. Das neue Modell, welches einen ganz anderen Blick auf das Wettergeschehen ermöglichte, kam auch dank der aerologischen Luftbeobachtung während des Krieges zustande. Diese neuen dreidimensionalen atmosphärischen Grenzstrukturen, die surfaces of discontinuity, ersetzten die zweidimensionalen Konvergenzlinien als konzeptueller Schwerpunkt. Fast alle Wetterveränderungen wurden auf den Durchgang solcher Oberf lächen zurückgeführt. Die beiden surfaces of discontiunuity, die steerway surface und die squall surface sollten später warme und kalte Front heißen. Das Vorbeiziehen solcher Wetterfronten war mit ausgeprägten abrupten Temperaturschwankungen, Änderungen des atmosphärischen Drucks, plötzlichem intensivem Regen und Richtungsänderungen des Windes verbunden. Um 1920 fand die Schlachtfeldmetapher ihren Eingang in das Vokabular der Bergener-Schule. Hinzu kam ein personifizierendes Konzept, so sprach man nun von Zyklonenfamilien, von reifen Mutterzyklonen, die neue Zyklone gebären konnten. Zyklone hatten damit einen Anfang und ein Ende, sie wurden geboren und starben wieder. Wenn sich am Schwanzende einer squall surface, die aus einem reifen Zyklon herausragte, ein kleines wellenförmiges Muster herausbildete, kündigte das die Entwicklung eines neuen Zyklons an. Dieser Schwanzfortsatz konnte aber auch abbrechen ohne weitere Folgen. Nicht alle Zyklone waren autonome Entitäten, einige waren miteinander verbunden, es gab aber auch sekundäre Zyklone, die aus primären hervorgegangen waren und diesen folgten. In dieser unübersichtlichen Lage von einer Mehrzahl gleichzeitig auftretender und aufeinander bezogener Stürme lieferte die Familienmetapher mit ihren Geburts- und Todesimplikationen, wie schon die Schlachtmetapher, eine gewisse Strukturierung. Trotz dieser terminologischen Veränderungen fehlte zu diesem Zeitpunkt aber noch der Begriff einer Polarfront mit hemisphärischem Charakter. Mitte Dezember 1919 finden sich in informellen Diskussionen der Bergener-Schule erste Hinweise auf eine Kampf linie, die sich um die Nordhalbkugel erstreckt. Es gab innerhalb der Gruppe auch frühe Versuche, das Zyklonenmodell als Schlacht entlang zweier surfaces of discontinuity zu

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beschreiben, d.h. als Kampf zwischen warmer und kalter Luft. In Vilhelm Bjerknes »The Structure of the Atmosphere when the Rain is Falling« (1920) findet sich folgende Beschreibung, die das Wettergeschehen als Kampf beschreibt. »›We have before us a struggle between a warm and a cold air current. The warm is victorious to the east of the centre. Here it rises up over the cold, and approaches in this way a step towards its goal, the pole. The cold air, which is pressed hard, escapes to the west, in order suddenly to make a sharp turn toward the south, and attacks the warm air in the f lank: it penetrates under it as a cold West wind.‹«27 Die warmen und kalten Windströmungen verhalten sich wie Einheiten einer Armee, sie greifen an, ziehen sich zurück, um den Feind plötzlich in die Flanke zu fallen. Die warmen und kalten Luftmassen agieren kollektiv wie Bataillone. Es geht um Stellungskrieg, Angriff, Rückzug und Gegenangriff entlang einer Kriegsfront. Diese aus dem Ersten Weltkrieg stammende Metapher wurde erst in einem zweiten Schritt auf die ganze Hemisphäre ausgedehnt. Die Polarluft war der Feind, der sich auf einen Angriff auf den Äquator vorbereitete und mit einem Gegenangriff der warmen äquatorialen Luft, einem Vorstoß auf den Pol rechnete. »Between the two opposing types of air lies a battlefront, that extends around the hemisphere, marking the polar air’s furthest advances – hence the name polar front. Like battles along the front as one army or the other attempts to advance in war, atmospheric skirmishes were conceived as occurring along the polar front; cyclones form on the front, representing struggles between polar and equatorial air, each air mass attempting to advance into the other’s territory.«28 In der darauf folgenden Zeit benutzten die Mitglieder der Bergener-Schule abwechselnd die Begriffe Polarfront, Kampf linie (kamplinje) oder Kampffront (kampfront). Das Wort ›Front‹ bezog sich dabei sowohl auf die dreidimensionalen Grenzen als auch auf die zweidimensionalen Diskontinuitäten. Um eine Verwechslung von line und surface zu vermeiden, wurden die steering und die squall line neu als Warm- bzw. Kaltfront-Veränderung bezeichnet. Diese Terminologie setzte sich in der Folge durch.

27 Zitiert in ebd., S. 188. 28 Ebd., S. 188.

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Frühe Darstellungen der Polarfront zeigen diese als eine einfache diskontinuierliche Linie (line of discontinuity), die sich rund um die gesamte NordHemisphäre erstreckt. Die Schlachtanalogie wurde dahin erweitert, dass sie nun nicht mehr die Diskontinuitäten innerhalb einzelner Zyklone bezeichnete, sondern eine einzige Schlacht, die alle individuellen Scharmützel umfasste. Es ist dabei gerade die Schlacht- oder Kriegsmetapher, die zur Formulierung des neuen Modells der Polarfront verhilft. Dabei ging es nicht mehr um einzelne separate Gefechte, sondern um einen Krieg, an dem sich zugleich mehrere Schlachten ereigneten vergleichbar mit dem zusammenhängenden Frontverlauf des Ersten Weltkrieges. Die Angriffe und Gegenangriffe der kalten Polarluft und der warmen subtropischen Luft ereigneten sich auf beiden Seiten der Front, was in der Folge zur Vorstellung von Zyklonen (Tiefdruckgebieten) und Anti-Zyklonen (Hochdruckgebiete) führte. »They regarded the polar front, whose undulations swept across most of the temperate-zone lattitudes as the whole system moved from west to east, as a new means of comprehending the general circulation of the atmosphere and therefore predicting the weather.«29 Mathematisch gesprochen handelte es sich dabei um eine Wellenbewegung, welche die ganze Zone erfasste, und das Wetter der nördlichen Hemisphäre bestimmte. Die Polarfront wurde auch als zusammenhängende Kette beschrieben, auf der sich die einzelnen Zyklone, die stärksten Winde und deren abruptesten Veränderungen sowie die größten Temperatur- und Feuchtigkeitsunterschiede wie Perlen aneinander reihten. In der Folge wurde aufgrund von Tor Bergerons Entdeckung von sekundären Kaltfronten die Idee einer einzigen durchgehenden Diskontinuitätslinie einer Kritik unterzogen. Jacob Bjerknes verneinte zuerst noch deren Existenz, weil dies die Vorstellung einer einheitlichen Polarfront grundlegend in Frage gestellt und die militärische Metapher an ihre terminologischen Grenzen geführt hätte, da es im Stellungskrieg keine parallel hintereinander gestaffelten Fronten geben konnte. Vilhelm Bjerknes verteidigte noch bis 1921 die Vorstellung einer einzigen Polarfront. Bergeron und Sorberg hingegen diskutierten über die Möglichkeit von Brüchen innerhalb der primären Polarfront und über die Existenz weiterer transitorischer, arktischer und subtropischer Polarfronten. Diese stellten die Annahme der absoluten Homogenität von polarer und tropischer Luft, die durch eine einzige Polarfront voneinander getrennt waren, radikal in Frage. Bergeron 29 Ebd., S. 191.

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schlug ebenfalls die Idee einer höher gelegenen Front vor, die sich nach dem Zusammentreffen zweier Fronten dadurch herausbildete, dass sie sich vom Boden abhob und von den verbleibenden Oberf lächenfronten weggetragen wurde. Man vermutete zudem die Präsenz von Zyklonen ohne Warmfront und neue Fronten wurden vorgeschlagen, so z. B. eine maritime und eine marokkanische Front. Diese theoretischen Probleme führten mit der Zeit zu einer nuancierteren Lösung, die von verschiedenen Fronten ausging, aus denen die ursprüngliche Polarfront zusammengesetzt war. In diesem Zusammenhang spielte die Familien-Metapher eine wichtige Rolle. In Jacob Bjerknes’ und Halvor Solbergs Essay »The life cycle of cylcones« aus dem Jahr 1922, in dem es um die Herausbildung und Auf lösung von Zyklonen ging, war ebenfalls von Zyklonen-Familien die Rede, was ein Moment der Pluralisierung einführte, welches jedoch aufgrund der Metapher zugleich eine tieferliegende Einheit voraussetzte. So gingen die unterschiedlichen Kinderzyklonen alle auf die gleiche Mutter zurück. Die Polarfront propagierte sich als Welle entlang der surface of discontinuity, wobei die Geschwindigkeit der individuellen Zyklone im Allgemeinen größer war als die der gesamten Polarfront, in der sich die Zyklonen-Familie herausbildete. Aus dieser komplexeren Sicht wurde eine generelle Zirkulation der nördlichen Hemisphäre entwickelt. Vier Luftströme bewegten sich von den polaren Regionen ausgehend nach Süden, darüber und dazwischen bewegte sich Richtung Nordpol ein Strom tropischer Luft. Interessanterweise verwendeten die Mitglieder der Bergener-Schule die Schlacht- und Kriegsmetapher auch für ihre theoretischen Auseinandersetzungen. Sie betrachteten sich als Krieger und Waffenbrüder. In einem Brief vom 4. Oktober 1921 schrieb Tor Bergeron über den Plan, die neue Polarfront-Meteorologie weiter zu verbreiten. »›The time has come for the army north of the p[olar]-front to concentrate its forces [stridskrafter] and, following Napoleon’s celebrated example, with superior force strike at the enemy on small sectors of the front one at a time.‹«30 In der Meteorologie werden Warmfronten mit einer Linie aus roten Halbkreisen und Kaltfronten mit einer Linie aus blauen Dreiecken dargestellt. Stationäre Fronten werden mit Linien aus abwechselnd blauen Dreiecken und roten Halbkreisen auf den Wetterkarten eingezeichnet. Damit hat sich auch das System der Notation verändert: von Strahlen und Pfeilen 30 Zitiert in ebd., S. 197.

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hin zu kontinuierlichen Linien, Halbkreisen und Dreiecken. Das Beispiel der Polarfront-Theorie zeigt wie stark naturwissenschaftliche Erkenntnisse von Metaphern nicht nur mitgestaltet, sondern auch neu hervorgebracht werden.

Der Wind und die Wolke als epistemologische Metaphern Wind und Wolke sind gleichermaßen unbeständig und ephemer, f luid und weitgehend substanzlos. Wolken erscheinen am Himmel und ziehen vorbei, oft werden sie dabei von Winden angetrieben. Wolken machen das Unsichtbare sichtbar, zeugen von den momentanen Wetterbedingungen und kündigen zukünftige Wetterlagen an. »Fahnen«, schreibt Elias Canetti, »sind sichtbar gemachter Wind. Sie sind wie abgeschnittene Stücke von Wolken […]:«31 An der Bewegung und Form der Wolken lässt sich die Stärke und Richtung eines Windes ablesen. Wie Ilma Rakusa in dem diesem Kapitel vorangestellten Motto ausführt, ist die Einzigartigkeit der beiden Wetterphänomene eine grundlegend andere. Wolken sind visuelle Erscheinungen, Winde dagegen unsichtbar. So wie jede Wolke aber in Form und Farbe einmalig ist, so sind auch das Wehen eines Windes und seine Stimme grundsätzlich verschieden. Wolke und Wind haben daher auch ein unterschiedliches metaphorisches Potential und stellen eine ganz andere Herausforderung an das Denken. Aufgrund ihrer fraktalen Gestalt verweigern sich Wolken der Perspektivierung und Geometrisierung, ihr sichtbarer Formenreichtum lädt aber zur Entwicklung von Typologien ein.32 Wegen seiner Unsichtbarkeit und Unfassbarkeit stellt sich der Wind dagegen quer zu jeder umfassenden systematischen Erfassung. Auffallend ist die unterschiedliche Bedeutung der beiden Meteore in den Texten der antiken Naturphilosophie, die Wind und Wolke meist zusammen diskutierten, auch weil das ambivalente unstabile Gemisch der Meteore auf den kontinuierlichen Metamorphosen und Auseinandersetzungen der verschiedenen Meteore beruhte. Der Wind stand von Anfang an im Mittelpunkt des Interesses und dies von der Antike über das Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert hinein. Aristoteles’ Meteorologie beruhte auf einer Theorie der Winde, die zugleich das verbindende Element des gesamten Buches war. In dieser Zeit entstanden auch zahlreiche Windtraktate. Der Wind spielte auch des31 Canetti, Masse und Macht, S. 100. 32 Vgl. dazu auch R. Guldin, Die Sprache des Himmels, Berlin 2006.

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wegen eine so zentrale Rolle im früheren Wetterwissen, weil dieses auf der fundamentalen Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos basierte, dem Verhältnis von Körper und Welt, Atem und Wind. Der Wolke kam in diesem Kontext dagegen eine deutlich untergeordnete Rolle zu, die weitgehend in ihrem Abhängigkeitsverhältnis zum Wind diskutiert wurde. Selbst in Lamarcks Annuaires Météorologiques wurde dem Wind noch die zentrale Rolle als Wettermacher zugewiesen. Verfasste zu Beginn des 17. Jahrhunderts Bacon noch ein ganzes Buch zu den Winden, so war in Descartes’ Die Meteore, das kurz darauf erschien, der Wind neben der Wolke nur noch einer der vielen Akteure im meteorologischen Himmelsdrama. Das theoretische Interesse für den Wind spielte erneut eine wichtige Rolle in den Entwürfen der modernen Meteorologie zu einem globalen Zirkulationssystem der Lüfte. Um 1800 entwickelten Lamarck und Howard unabhängig voneinander die ersten systematischen Bemerkungen zu den Wolken und die ersten Wolkentypologien. Diese Klassifizierungsversuche der Wolken koinzidierten zugleich mit der Entstehung der modernen wissenschaftlichen Meteorologie. Die Wolken avancierten zu einem zentralen Thema der neuen Meteorologie und lösten dabei den Wind als Hauptakteur weitgehend ab. Ein Grund für diesen Paradigmenwechsel ist in der vorherrschend visuellen Ausrichtung der Auf klärung zu suchen. ›Auf klärung‹ ist selbst eine visuelle Wettermetapher, die man der ›Bewölkung‹ gegenüberstellen muss. Für die Philosophie der Auf klärung, schreibt dazu Claus-Michael Schlesinger, bedeutet die Wolke »ein epistemisches Problem. […] Auf einer erkenntniskritischen Ebene zeigt sich, dass mit den Wolken etwas bezeichnet wird, das als Anderes der Klarheit, selbst nicht zur Klarheit kommen kann. Das Licht, und damit die Sichtbarkeit, kehrt nach den Wolken wieder. Wolken müssen also verschwinden, damit Sichtbarkeit herrscht. […] Der klare Himmel ist metaphorisch mit einem klaren Denken identifiziert, das […] nur unter der Bedingung einer Abwesenheit sämtlicher Meteore«33 zustande kommt. Die intensive Beschäftigung mit der visuellen Dimension des Wetters, die im späten 18. Jahrhundert einsetzt, ist somit zugleich der Ausdruck eines ungelösten Widerspruches. Über den Wind und die Wolke zu schreiben, bedingt eine Reihe von unterschiedlichen Perspektiven, je nachdem von welchem Ort aus man schreibt. Wolken kann man durch das Fenster des eigenen Arbeitszimmers 33  C .-M. Schlesinger, Aufklärung und Bewölkung. Poetik der Meteore im 18. Jahrhundert, Konstanz 2018, S. 12.

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wahrnehmen, als gemächlich vorüberziehende Karawane oder als bedrohlich sich in der Ferne auftürmende Gebirgsformation. Es ist dies eine durch den Ausschnitt des Zimmerfensters begrenzte Erfahrung, ein Erlebnis aus der Ferne. Wolken sind vor allem eine visuelle Erfahrung aus der Distanz. Im Gegensatz zum Wind spielt die akustische, haptische und olfaktorische Wahrnehmung keine Rolle. Es geht um Farben, Formen, aber auch immer um Bewegung, Verwandlung, Auf lösung. Ganz anders beim Wind. Man kann seinem Treiben zwar aus dem inneren der eigenen Wohnung zusehen, und dabei verfolgen, wie sich die Blätter bewegen und die Baumkronen wiegen, wie eine Wasseroberf läche sich kräuselt und sich die Wellen jagen, wie einzelne Gegenstände aufgewirbelt, hoch- und wegetragen werden. Den Wind kann man aber erst dann in seinem vollen Ausmaß wahrnehmen, wenn man sich ihm aussetzt, durch Immersion des gesamten Körpers, was bei Wolken eigentlich nicht geht. Wenn man in einem Flugzeug durch Kumulusformationen f liegt, bleiben die Wolken trotz größerer Nähe abstrakt. Auch ein Spaziergang durch Hochnebel oder Wolkenformationen, die über einen Bergrücken ziehen oder sich an einem Berghang lagern, hat nicht denselben immersiven Charakter wie eine windige Landschaft, die man durchquert oder in der man sich auf hält. Im Gegenzug führt die Unsichtbarkeit des Windes dazu, dass man ihn zwar fühlt, aber weder sehen noch berühren kann.34 Wie Scott Huler treffend festhält, bedingt die Beschäftigung mit dem Wind einen radikalen Perspektivenwechsel. »To describe clouds […], you focus in on that specific thing, ignoring everything else. To describe the wind, you do the opposite: you look at everything else. It’s mind expanding.«35 Es ist aber auch möglich, den Blick auf beide Phänomene zugleich zu richten oder sich zwischen ihnen hin und her zu bewegen, wie dies Serres und Flusser in ihrem Werk getan haben.

Eine ökologische Perspektive Serres deutet den lokalen und weltweiten Wetterzusammenhang als Austausch von Informationen anhand von unterschiedlichen Strömungen, als komplexen Kommunikationsprozess. Begriffe, wie Kampf und Krieg, die eine zentrale Rolle in der Tradition spielen, sind seiner Philosophie völlig 34 Ich komme auf diese Momente im sechsten und siebten Kapitel ausführlicher zurück. 35  Huler, Defining the Wind, S. 90.

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fremd. Serres’ Denken scheut vor dem entzweienden Konf likt und dessen polarisierenden Konsequenzen prinzipiell zurück. Statt eine Position zu verneinen, erkennt er sie als eine weitere Deutungsmöglichkeit an. Es geht nicht um trennende Auseinandersetzung, sondern um ein zusammenführendes Föderieren, um den Einbezug fremder Standpunkte. Dies ist auch die Grundlage seines ökologischen Zugangs, der von einer grundlegenden Kontinuität zwischen Natur und Kultur ausgeht. In Serres’ Werk steht nicht so sehr das Verhältnis von Subjekt und Objekt im Mittelpunkt, als das Verhältnis der Dinge und Prozesse zueinander und die darin eingebettete Beziehung des Menschen zu seiner Welt. Der Mensch ist ein Teil der verschiedenen Austausch- und Kommunikationsprozesse, die zwischen den Dingen stattfinden. »Es existieren Negentropiequellen und ich, der ich eine von ihnen bin; Informationsquellen und ich, der ich eine von ihnen bin; Festkörper, die Informationen speichern, und ich, der ich mich erinnere; Dinge, die empfangen, und ich, der ich ein Empfänger bin.«36 In Analogie zu den Techniken des Geistes rezipieren alle Festkörper und Prozesse Informationen, die sie decodieren, neu codieren, speichern und weitersenden. Dies gilt auch für die Wolke und den Wind. Serres hat sich in seinem Werk eingehend und über Jahre hinweg mit dem Phänomen der Wolke und deren umfassenden philosophischen Bedeutung beschäftigt. »Die Wolke ist nicht mehr nur das schöne oder das schlechte Wetter, über das man sich leicht lustig machen kann im abgeschlossenen Raum der Schulen und mit der städtischen Technologie im Rücken, sie ist in uns und um uns herum, in der Brownschen Bewegung der Dinge […] und alles ohne Ausnahme ist Wolke.«37 Die Wolke ist ein aus f luktuierenden Punkten bestehendes Möglichkeitsfeld, aus dem Neues emportaucht. Sie ist reine Oberf läche und steht wie der Wind für das Aleatorische und Stochastische. Aufgrund der Unbestimmbarkeit ihrer äußeren Konturen negiert sie eindeutig definierbare Grenzen. Die zerklüftete Erscheinung von Wolken folgt den Prinzipien fraktaler Geometrie. Die Wolke stellt darüber hinaus ein poietisches Prinzip der andauernden inneren Metamorphose dar, bei der die einzelnen Phasen der Verwandlung ineinander übergehen. Wolken haben mit Bifurkation, Interpenetration, Osmose und Durchmischung zu tun. Ihre Gestalt ist die Folge eines sich selbst konstituierenden Prozesses. Serres be36 Serres, Michel, Hermes II. Interferenz, Berlin 1992, S. 128. 37 Serres, Verteilung, S. 8.

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nutzt die Wolke, um unterschiedliche Wirklichkeitszustände zu beschreiben. So bezeichnet er das spezifische Wissen einer Kultur zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt als eine aus verschiedenen kulturellen Bestandteilen bestehende Wolke. In dieser diffusen, jedoch strukturell komplexen und durchorganisierten Wolke begegnen sich die verschiedenen Realitätsaspekte und Diskursformen auf schwer zu bestimmende, aber dennoch geordnete Art und Weise. Serres’ paradoxe Wolken stehen auch für die Schwierigkeiten einer adäquaten Realitätserfassung, für das Unvorhersehbare, und all das, was sich einer perspektivisch verengten Sicht der Wirklichkeit verweigert und einem schematischen Denken entzieht. »Am Anfang ist das Undifferenzierbare […]. Das mag man als ›Wolke‹ bezeichnen. Eine Menge von Punkten […] mit unscharfen, f ließenden, verschwimmenden Rändern. […] Die Unordnung ist fast immer da. Das heißt Wolke oder Meer, Sturm oder Rauschen, Gemisch und Masse, Chaos, Tumult […] es gibt den Sturm über der alten Wissenschaft und über der alten Philosophie, es gibt Böen (coups de vent), Wolken, das Wetter (météore) mit all seinen Erscheinungen […].«38 Die Wolke und der Wind weisen als Meteore vergleichbare Eigenschaften auf und definieren als epistemologische Metaphern einen ähnlichen Zugang zur Welt. Dennoch kommt dem Wind in Serres’ Werk eine eigenständige Rolle zu, bei der das Körperliche im Vordergrund steht. Serres verbindet den Wind vor allem mit der Musik und der Sprache. Der Wind wird daher vor allem taktil und akustisch, als Vibration und Klang wahrgenommen und beschrieben. Im Gegensatz zur Wolke, die ein Möglichkeitsfeld entwirft, aus dem Neues emportaucht, ist der Wind wie im Werk Senecas zuerst einmal eine verbindende ordnende und eine aktiv schöpferische Kraft. Wind und Wolke sind fraktale Phänomene. Betrifft das Fraktale der Wolke aber vor allem deren zerklüftete Konturen, so zeigt sich die Fraktalität beim Wind in der Tendenz, in selbstähnliche Brisen zu zerfallen. Serres diskutiert diesen Aspekt in Biogée anhand der Böigkeit des Windes, auf Englisch squall und auf Französisch grain, was auch ›Weizenkorn‹ bedeutet. Eine Böe ist ein plötzlicher heftiger Windstoß, der sich deutlich von der durchschnittlichen Geschwindigkeit eines Windes abhebt. Die abrupte Veränderung der Windgeschwindigkeit wird in der Regel von einer scharfen Richtungsalteration begleitet. Böen können schlagartig auftreten und werden meist von heftigen Regengüssen, Schneefall oder Stürmen begleitet. Bei einer Fall-Bö entsteht ein plötzliches Luftloch, bei dem 38  Ebd., S. 7ff.

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die Luftschichten abrupt einbrechen und eine Luftlawine, die nur wenige Sekunden oder aber mehrere Minuten andauern kann, die Folge ist. In diesem Zusammenhang spricht man auch von horizontaler und vertikaler Windscherung, die durch parallele aneinander vorbeiziehende Luftströmungen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten ausgelöst werden kann. Serres spielt mit der Doppeldeutigkeit des französischen Wortes grain, das zugleich Bö und Samenkorn bedeutet, um auf das Befruchtende von Winden hinzudeuten. Jeder Windstoß ist Anlass zu etwas Neuem. Winde stehen auch für Serres grundsätzlich im Zeichen der Veränderung. Beim Wind sind abrupte überraschende Übergänge die Regel: »[…] rapide lineare Ordnung. Dann plötzlich Unordnung, ein Coup de Théâtre oder eine Gegenreaktion (contrecoup) wie der wirbelnde Wind. Rückenwind […] Der Wind spricht nicht durch seine Gewalt, er bestimmt aber trotzdem zugleich den Ton und das Maß (il donne à la fois le la et la mesure), die von Disharmonien zerteilte Zeit, die Rupturen des Rhythmus […].« Das erste von der Bö transportierte Samenkorn macht Sinn überhaupt erst möglich. Es steht am Anfang der Welt, so wie es zu Beginn der Genesis festgehalten wird. »Das erste Körnchen Bedeutung (le premier grain du sens), getragen vom Geist des Windes, der zuerst auf das Tohuwabohu wehte.«39 Auch in Habiter wird der Wind als eine aktive Kraft geschildert, die das Meer formt, indem er seine musikalische Botschaft direkt auf dessen Oberf läche einschreibt. Die Metaphern des Pf lanzens und der Musik werden hier durch die Metapher des Schreibens ergänzt, wodurch Kultur und Natur erneut ineinander gespiegelt werden.40 Der Wind »war, ist, wird immer der Urheber, der Schöpfer der Gestalten des Meeres sein. Dieses ist nichts, kann nichts ohne ihn. […] seine Böen (ses rafales, ses grains) höhlen oder glätten das Wasser […]. Die parallelen Wellen (les lames parallèles) an der Meeresoberf läche lassen uns die musikalische Partitur sehen und lesen, die das Pfeifen, das Heulen, das wahnsinnige mannigfache Keuchen des Windes darauf komponiert (les siff lements, les hurlements, les halètements follement différents du vent).«41 Der Text ist eingefasst durch zwei Abbildungen: ein Bild von Zephyros dem Sohn des Äolus und der Aurora, dessen Sanftmut Bäume und Blumen 39 Serres, Biogée, S. 100. 40  V  gl. dazu das Verhältnis von Natur und Kultur in der japanischen Gesellschaft (Kapitel zehn). 41 M. Serres, Habiter, Paris 2011, S. 37.

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zu neuem Leben erweckt: Ein nackter blonder durch die Luft f liegender Knabe mit Schmetterlingsf lügeln und einer dunkelblauen Schleife, der eine Blumenspur hinter sich zurücklässt. Die zweite Abbildung zeigt eine Meeresoberf läche, die aus horizontalen parallelen Wellen besteht, die bis zum Horizont hin reichen. Das Meer ist eine Partitur, auf welcher der Wind sich einschreibt. Die vom Wind auf das Meer geschriebene Botschaft ist dabei aber nicht rein linear, wie die parallelen Wellen auf dem Foto suggerieren. Die Einwirkung des Windes führt zur Herausbildung von windgetriebenen Wellen, deren Zusammensetzung genauso fraktal ist wie der Wind selbst. Ordnung und Unordnung gehen auch hier ineinander über. 1926 hatte der Physiker und Meteorologe Lewis Fry Richardson die Geschwindigkeit turbulenter Winde untersucht und festgestellt, dass turbulente Strömungen sowohl räumlich als auch zeitlich ein äußerst komplexes fraktales Muster aufweisen. Das zeitliche und räumliche Verhalten von Windrichtung und Windgeschwindigkeit hängt dabei von der jeweiligen Komplexität des Terrains ab, über das die Winde hinwegwehen. Daraus resultiert ein multifraktales System, in dem die einzelnen fraktalen Dimensionen nicht mehr ausreichen, um die Gesamtdynamik zu erklären.

Wolke und Wind als Metaphern des Ichs und der Welt Serres diskutiert die Wolke und den Wind zwar in verwandten Kontexten, geht aber im Gegensatz zu Flusser nicht explizit auf deren Verhältnis als epistemologische Metaphern ein. In Flussers Die Geschichte des Teufels, das in den 1950er Jahren entstand, treibt der »Windhauch der Wirklichkeit« die Wolkengebilde auseinander. Der über den Wolkenschwaden schwebende Philosoph »greift in die Wolkenschwaden«, und formt sie nach seinem Wunsch. Er »selbst ist nur eine Wolke unter Wolken und wird von den Wolken geformt, die er eben formte.«42 Dieser Vorstellung eines wolkenhaften Menschen, der eine wolkenhafte Wirklichkeit formt, begegnet man in späteren Texten wieder. In den Essays zum Nomadismus aus den späten 1980er und frühen 1990er Jahren wird dieses Bild auch im Zusammenhang des Windes wieder aufgenommen. Aber davon mehr im neunten Kapitel. In dem in den 1980er Jahren publizierten Vampyroteuthis infernalis sind die Himmelswolken durch die Farbwolken in 42  V. Flusser, Die Geschichte des Teufels, Göttingen, 1993, S. 185.

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den Tiefen des Ozeans und der über der Realität schwebende, die Wolken bearbeitende Philosoph durch den projizierenden Kopffüßler abgelöst worden. Der Vampyroteuthis besitzt eine Drüse, die es ihm erlaubt, Sepia in sein Umfeld zu schleudern. Diese im Wasser schwebende Sepiawolke ist nicht so sehr ein täuschender Schleier, der die anderen Vampyroteuthis in die Irre führen soll, sondern ein Punkteschwarm, den sie mit ihren Tentakeln modellieren können, dadurch dass sie Informationen darauf übertragen.43 Flusser geht von einem punktartigen Universum aus, das er anhand von zwei unterschiedlichen Metaphern darstellt: der nebelhaften Wolke und der Düne, aus denen neue Welten geformt werden können. Jedes Phänomen »ist eingehüllt in eine Wolke von Zukunft. Das eben macht es konkret, daß es ein Kern ist, um den herum sich unzählige Möglichkeiten lagern.«44 In der »Vom Projizieren« betitelten Einführung zu Flussers unabgeschlossenem Buchprojekt Vom Subjekt zum Projekt wird das Denken in post-modernen Zeiten als bodenloses, nebulöses Unterfangen beschrieben. Wir haben das Vertrauen in die »Solidität der Dingwelt, der dinglichen Welt«45 endgültig verloren. Hier trifft sich Flussers metaphorische und meteorologische Philosophie mit derjenigen Ingolds, Serres’ und Reeds. Wir leben in einer f luiden weatherworld aus sich ineinander verwandelnder Ströme, eine Welt, in welcher der ontologische Status der Dinge, die scheinbare Solidität der uns umgebenden Objekte fragwürdig geworden ist. Den Weg von der Renaissance in die Gegenwart hinein rekapituliert Flusser als doppelte Infragestellung und zweifache Auf lösung des Festgefügten, kurz, als zunehmende Entdeckung eines allgemeinen Prinzips des Wolkigen. »Das numerische Denken ist im Verlauf der Neuzeit immer tiefer in die Dinge vorgedrungen, aber statt auf einen Grund zu stoßen, hat es die Dinge zu Nebelschwaden aufgelöst, die im Nichts schweben. Aber das ist noch nicht das Entscheidende. Während es sich über die Dinge beugte, hat es sich selbst zu im Nichts schwebenden Nebelschwaden aufgelöst. Dieser gespenstische Vorgang wird beschönigend ›Auf klärung‹ genannt, wobei man Nebel mit Klarheit verwechselt.«46 Diese zwei konvergierenden und ei43 Vgl. V. Flusser und L. Bec, Vampyroteuthis infernalis. Eine Abhandlung samt Befund des Institut Scientifique de Recherche Paranaturaliste, Göttingen 1993, S. 45-46. 44  V. Flusser, Ins Universum, Göttingen 1992, S. 175. 45 V. Flusser, Vom Subjekt zum Projekt, Bensheim und Düsseldorf, 1994, S. 11. 46 Ebd., S. 11-12.

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nander implizierenden Tendenzen haben gezeigt, dass Subjekt und Objekt die gleiche numerische, d.h. punktuelle Struktur besitzen und dadurch in Partikelschwärme zerfallen. Das Prinzip des Wolkigen hat sich gegen die Illusion einer ganz und gar aufgeklärten transparenten Welt durchgesetzt. In Lob der Oberf lächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien beschreibt Flusser dieses neue Lebensgefühl in Bildern des befreienden und zugleich beängstigenden Zerfalls. Unsere Lebenswelt zerbröckelt und zerbröselt zusehends. Wolken lösen sich in Eiskristalle und Wassertropfen auf. Wellen zerstäuben zu Gischt und zerfallen in Tropfen. Dünen werden vom Wind zu Körnern zerrieben. Daraus taucht ein neues Universum der Punkte auf, ein »Gewirr von Atomen und Bits, von Partikeln und Intervallen […].« Es ist eine gespenstische Atmosphäre, aus der es kein Zurück mehr gibt. »Das Gruseln ist die uns Menschen eigene Stimmung.«47 Dieser neuen, aus Partikeln bestehenden wolkenartigen Welt begegnet man auch auf Fernsehschirmen und Computermonitoren. Die dort auftauchenden gespensterhaften Gestalten sind zu Formen geballte Punkte. Videokünstler, Fotografen, Filmemacher und Computer-Programmierer verwenden eine radikal andere Art des Projizierens von Modellen. Es geht nicht mehr um ein Schneiden und Kleben, sondern um ein Einbilden. Durch Tastendruck werden »die im Nichts umherschwirrenden Punkte zu Formen zusammengefügt.« Dieses einbildende Komputieren von Punkten, ist eine Geste des Raffens und Ballens. »Modelle sind Watteballen, welche aus dem Nichts herausgeklaubt werden. Dieses Wattige, Wolkige, zugleich Unfaßliche und Unbegreif liche, aber auch leicht Formbare und Wandelbare an unseren Modellen erklärt das existentielle Klima, in welchem wir da sind. Wir wandeln in Nebelschwaden.«48 Durch die Geste des Ballens verwandelt sich das unförmige zu Wahrscheinlichkeit tendierende Punktegeschwirr in ein Möglichkeitsfeld, aus dem unwahrscheinliche Gebilde zusammengelesen werden können. Der mit dem Zufall gegen die Notwendigkeit spielende und damit die negentropische Grundtendenz des Kosmos negierende Erfinder von Modellen sitzt nunmehr an einer Klaviatur, die es ihm ermöglicht, »aus dem Schwarm der Möglichkeiten einige [so] herauszuheben«, dass er sie zu Formen verdichten kann. Es geht dabei nicht um ein Finden schon vorgegebener Strukturen des Möglich47  V  . Flusser, Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, Bensheim und Düsseldorf, 1993, S. 11. 48 Ebd., S. 43.

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keitsfeldes, sondern um ein Er-finden: »ein zufälliges Zusammenballen« und »›Wahrscheinlich-Machen‹ von Möglichkeiten.« Wie spukhafte ephemere Gestalten des Zufalls, welche durch die einbildende Tätigkeit des Modellierenden ins Leben gerufen werden, ziehen sich diese Wolken zusammen und verf lüchtigen sich wieder. »Wie unwahrscheinliche Wolkenformationen tauchen diese Formen aus dem Dunst der Möglichkeiten auf, um sich notwendigerweise wieder darin aufzulösen.«49 Flusser unterscheidet hier zwischen dem Auftauchen und Vergehen von Wolken und verbindet sie mit dem Zufall bzw. der Notwendigkeit. Unwahrscheinlich sind diese eingebildeten Punkteballungen, weil sie für etwas Unerwartetes stehen und sich somit gegen die entropische Grundtendenz der inneren und äußeren Natur wenden. Damit stehen sie einerseits für einen Akt der Freiheit, die Flusser als Absicht gegen das Wahrscheinlichwerden im Tod versteht. Das notwendige sich Auf lösen andererseits deutet auf die grundsätzliche Hinfälligkeit und Fragilität menschlicher Erzeugnisse hin, auf das, was Flusser die Unausweichlichkeit des Scheiterns bezeichnet hat. Flusser berührt damit zwei essenzielle Aspekte des Phänomens: Wolken überraschen durch ihren unerwarteten Gestaltenreichtum, der immer wieder zu neuen Interpretationsleistungen herausfordert und stehen zugleich für das Flüchtige und Vergängliche. Flusser verwendet das Bild der Wolke in unterschiedlichen diskursiven Kontexten: Um zu einer philosophischen Aussage über die fundamentale Konsistenzlosigkeit der dinglichen Welt und der Realität des Subjekts zu gelangen, zur Beschreibung der Funktionsweise digitaler Bildgebungsverfahren und um über einige mögliche epistemologische, existentielle und ästhetische Folgen der Kommunikationsrevolution zu spekulieren, die auf das Auftauchen der neuen digitalen Medien zurückgeht. Er benutzt somit die punktartige, beliebig formbare Gestalt der Wolke, um Aussagen innerhalb beschränkter Wissensbereiche zu formulieren und zugleich, um eine umfassende Diagnose der gegenwärtigen Lage anzustreben. Die Wolke, so Flusser, ist zum Modell der Gegenwart geworden, weil sich die Wirklichkeit selbst als wolkig erwiesen hat. Der Wind zerreibt die Dünen zu Körnern, er löst sie auf, um sie wieder zusammenzutragen. Er verweht bestehende Dünen, trägt den Sand davon und schichtet neue Dünen an anderer Stelle wieder auf. All das ist nur vorübergehend. Der Wind steht für das Ephemere. Er ist zugleich eine entropi49 Ebd., S. 44.

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sche Kraft der Zersetzung und Zerstörung und wie bei Serres eine negentropische Kraft der Veränderung und Erneuerung. Neuen Formen emergieren nicht, sondern werden durch Ballung und Verdichtung geschaffen. Sie werden wie die digitalen Technobilder generiert, die auf Computerbildschirmen aufscheinen. Es sind komputierte, eingebildete Welten, die ganz aus Punkten zusammengesetzt sind. Im Gegensatz zu Serres, der vor allem die Metapher des Meeres gebraucht, benutzt Flusser ein metaphorisches Feld, das den Sand, die Düne, die Wüste und den Wind umfasst.50 Im letzten Abschnitt dieses Kapitels möchte ich auf Reeds Beitrag zu einer Philosophie des Wetters und des Windes eingehen, die er im Zusammenhang mit Baudelaires und Coleridges Werk entwickelt hat.

Das Prinzip der Verdunstung Reed interessiert sich für die Präsenz von Wettermetaphern in der romantischen Literatur und deutet die Romantik selbst als ein Wetterphänomen, das sich von den heiteren philosophischen Himmeln der Auf klärung im Sinne einer atmosphärischen Störung absetzt. »My aim in this book is to account for the pervasiveness of the weather in Romantic literature, or to read Romanticism itself as a kind of weather or atmospheric disturbance.«51 Es geht somit um das Wetter in den Texten und um die Texte selbst als Wetterphänomene. Im Zentrum steht dabei der Dunst, mist bei Coleridge und vapeur oder brume bei Baudelaire. Beide stehen zugleich für ein »intermediary and indeterminate stage of perception«52 und das Wetter im Allgemeinen. Wie alle anderen Meteore auch ist der Dunst nie völlig stationär, sondern in stetem Wandel begriffen. Dies gilt auch für die Sprache, die sich in Dunst auf lösen und aus dem Dunst wieder in Sprache kondensieren kann. Der Dunst ist eine mit dem Nebel und der Wolke verbundene visuelle Metapher, welche die auf klärerische Vorstellung des unverstellten transparenten Himmels hinterfragt und zugleich ein poietisches Prinzip darstellt, wie Serres’ und Flussers Wolke. Im Werk Baudelaires und Coleridges ist der Dunst vor allem eine Metapher für die kreative Imagination des Poeten. 50 Vgl. dazu Kapitel neun. 51 Reed, Romantic Weather, S. 4. 52 Ebd., S. 12.

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In der romantischen Ästhetik ist der Dunst der Imagination mit dem Wind der Inspiration verbunden.53 Reed geht nur kurz zu Beginn darauf ein, untersucht in der Folge aber nur die Metapher des Dunstes und beschäftigt sich nicht weiter mit der komplementären Metapher des Windes. Dies hat damit zu tun, dass das Prinzip der Verdunstung eine doppelte Natur besitzt, die wesentliche Attribute der Wolke und des Windes in sich vereint. Verdunstung ist ein zweifacher Transformationsprozess, ein Hin und Her zwischen Kondensation und Verdampfung. »And if phenomena can condense out of the mist, they can likewise evaporate back into mist.«54 Coleridge und Baudelaire versuchten, die traditionsreiche schon in der Humorallehre angelegte metaphorische Entsprechung von Dunst und Imagination zu rehabilitieren. Damit ging eine Vorstellung von Identität einher, die auf einer wetterartigen Instabilität beruhte. »From the early humor psychology there were already shared terms like ›vapor‹ and ›temper‹. Further, the weather was seen to f luctuate with the speed and seeming unpredictability of moods and was said to have a direct inf luence on states of mind.«55 Der Rationalismus des späten 18. Jahrhunderts versuchte, nicht nur das Wetter zu kontrollieren, sondern wirkte sich auch uniformierend und glättend in anderen Domänen aus. Im Gegensatz dazu betonte die Romantik die irreduzible Vielfältigkeit und die stete Veränderung. »This change resulted in an intellectual style that could tolerate and even cultivate changes in climate (and its varying inf luences), as well as atmospheric changes from hour to hour.«56 Reed wendet die Wettermetapher auch auf die Sprache selbst an. Sein »weather report« über Coleridges und Baudelaires textuelle Landschaften stellt den Dünsten und Dämpfen sowie den konträren komplementären Prozessen des Verdunstens und Kondensierens nach, dem »f lux and eff lux of the imagination«57 in der Poesie und der Prosa. Beide Autoren haben eine vergleichbare meteorologische Vorstellung von Sprache und bewohnen dadurch auch dasselbe intellektuelle Klima. Für beide Schriftsteller hat die Sprache eine »›meteoric‹ composition (and hence decomposition).«58 Nicht nur die Sprache der 53 Vgl. dazu das nächste Kapitel. 54 Reed, Romantic Weather, S. 13. 55  Ebd., S. 58. 56  Ebd., S. 59. 57 Ebd., S. 60. 58 Ebd., S. 62.

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Literatur, sondern auch die Sprache der Literaturkritik beruht auf einer meteorologischen Rhetorik. »Like the language of literature, that of criticism is already articulated by the rhetoric of meteorology. […] there will always remain an excess of vapeur that no reading could ever successfully precipitate and so meteorology will remain at best a stochastic science.«59 Der Dunst ist hier eine Metapher für das Unklare, Ungeklärte und letztlich Unerklärliche, das sich jeder erschöpfenden literaturkritischen Interpretation entzieht. Im Zusammenhang mit Coleridges Poetik zieht Reed wie Serres eine direkte Verbindung zwischen Metaphern und Meteoren: »metaphor is the product of volatization«, die Konversion einer Flüssigkeit in Dunst. »Volatization […] is not simply one metaphor among many others but is the source of metaphors, the process by which the literal turns or vaporizes into the figurative. To hazard this figure, therefore, is to invoke the metaphor of metaphorization, to enter the endless circle, or the labyrinth, of figurative language.«60 Der Dunst ist somit auch eine Metapher für die Metapher und der Prozess der Verdunstung eine Metapher für den Prozess der Metaphorisierung. Die Eigentlichkeit der Wörtlichkeit verdunstet zur Uneigentlichkeit des Metaphorischen. Metaphern stellen einen anderen Aggregatzustand der Sprache dar. Das Metaphorische ist das Mehrdeutige, Instabile, Flüchtige im Gegensatz zum festeren, aber doch noch immer f lüssigen Zustand der Wörter in ihrer nicht-metaphorischen wörtlichen Bedeutung. Dissipation, Auf lösung und Diffusion erfassen auch die Imagination, die im poetischen Universum von Coleridge mit dem Dunst und der Verdunstung in eins gesehen werden: »imagination is itself dissolved, as when mist spreads out over a landscape.«61 Dieser sich wiederholende Prozess verhindert, dass die Bilder der Imagination und die Imagination selbst versteinern und dadurch ihre Vitalität einbüßen. Auch Meteore erstarren nie in einem spezifischen Zustand, sondern befinden sich im steten Übergangen und in kontinuierlicher Metamorphose. Diese Vorstellung der Sprache ist mit der Alchemie verbunden. »Alchemy itself is associated with meteorology, for the precious metals it aims to produce are ›meteors‹ again according to Aristotle. The alchemist’s procedures of distillation, condensation and sublimation have their obvious

59 Ebd., S. 77. 60 Ebd., S. 193. 61 Ebd., S. 194.

5. Von Winden und Wolken: Himmelsschlacht und Möglichkeitsfeld

meteorological equivalents […].«62 Alchemistische Prozesse spielen auch bei der Herausbildung des künstlerischen Ichs eine Rolle: »a process of vaporization that transforms the self into a kind of climate and makes the personal identity contingent on a certain condensation.«63 Baudelaire versteht das Ich als meteorologisches Phänomen, was zur Auf lösung klarer Grenzen zwischen Subjekt und Objekt führt: »[…] the material of the self is already meteorological, for Baudelaire conceives of interior space in terms of the weather. […] the subject/object opposition tends to dissolve, because the vapeurs by which the artist manifests himself, are indistinguishable from the vapeurs that compose the weather […].«64 Die meteorologische Perspektive lässt auch die Grenzen zwischen dem künstlerischen Ich und seinem Werk zerf ließen. Die ›Vaporisation du Moi‹, die Verdunstung des Ichs, ist mit den zahlreichen in den Texten zirkulierenden Atmosphären, Dämpfen und Nebelschwaden verbunden. »[…] all aesthetic production involves an atmospheric dissemination of the self«, eine Form der ›self-vaporization.‹ »The many vaporous or vaporizing figures in the poetry thus become mises en abîmes for the artist himself.«65 Weder eine Multiplizität von Metaphern, von denen jede eine Art Dunst darstellt, noch eine einzige Metapher sind imstande, die Dünste einzufangen oder zu benennen. Jede neue Formulierung verschiebt die früheren und wird ihrerseits von neuen ersetzt, so wie Meteoren auseinander hervorgehen und einander ablösen. Wetter und Schreiben gehen deshalb ineinander über. »Vaporization transforms the self into a climate; it sends the artist’s internal weather abroad in an imaginative mist, turning thought into atmosphere. At the same time, vaporization transforms the self into writing […] Weather and writing may thus be names for the same production […].«66 Baudelaires Verdunstung ist ein ununterbrochener Prozess, der jedoch auch sein Gegenteil benötigt, die Verdichtung. Das Ich dehnt sich durch sukzessive Verdunstung aus. Dies setzt kein ursprüngliches Zentrum voraus, von dem aus der Verdunstungsprozess hervorgeht. Das Selbst ist grundsätz-

62 Ebd., S. 16. 63 Ebd., S. 70. 64 Ebd., S. 241-242. 65 Ebd., S. 243. 66 Ebd., S. 247.

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lich fragmentiert und der Verdunstungsprozess primär. Identität und die Existenz im Allgemeinen sind ephemer und voller Überraschungen. »Because existence is entirely vaporous, the only way for the self to come into being is après coup, through a condensation, concentration, or ›centralisation du Moi‹. This may occur when the perpetual play of vapeurs or forces temporarily forms a certain configuration that we call a subject. ›Centralisation‹ or selfhood, is reduced in Baudelaire to a punctual event that periodically interrupts the timeless process of vaporization. […] As a kind of condensation the self has a most precarious existence, for it depends on what can never be depended upon, the constancy of climate. As the weather changes, the self is vulnerable to the slightest increase or decrease in temperature.«67 In Baudelaires Werk bezieht sich das Wetter zugleich auf den Künstler, das Ich, das Werk und die Zeit. »The linguistic indistinguishability in French means that to name one temps is always at the least to invoke the specter of the other.«68 Zeit und Wetter funktionieren dabei wie bei Serres als Metaphern voneinander. »In terms of ›vaporisation du Moi‹, the double sense of le temps means that the self can be no more unified or present to itself in time than it is in space. Once more, it is impossible to determine any beginning or end to vaporization: because vaporization is coextensive with time […].«69

67 Ebd., S. 266-267. 68 Ebd., S. 269. 69 Ebd., S. 270-1.

6. Die Sprachen des Windes: Übertragung und Übersetzung »Vorhänge sind Dolmetscher für die Sprache des Windes.« Walter Benjamin, Crocknotizen Der Wind berührt, bewegt und belebt, er übersetzt zwischen den verschiedensten Domänen hin und her, zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Innen und Außen, Leib und Seele, Gegenwart und Vergangenheit, und ist zugleich eine empirische feststellbare Präsenz, die sich an den bewegten Gegenständen ablesen lässt. Der Wind ist ein Prinzip der Veränderung, das in Übersetzungsprozessen zum Ausdruck kommt. Winde übersetzen, sie transportieren und transformieren über Raum und Zeit hinweg. Winde werden durch die Gegenstände, die sie berühren und bewegen, von der Unsichtbarkeit in die Sichtbarkeit übertragen. Winde hinterlassen ihre Spuren im Sand und schreiben sich auf der Oberf läche des Meeres ein. Wie Benjamin im Motto andeutet, sind Vorhänge Übersetzer des Windes, so wie Fahnen und f latternde Kleider an einer Wäscheleine. Vorhänge sind Übersetzer zwischen Innen und Außen, sie zeigen an, dass ein Luftzug zwischen dem Inneren eines Hauses und der äußeren Umgebung vermittelt und dadurch für Temperaturausgleich sorgt, so wie der Atem dazu dient, die innere Körpertemperatur zu regulieren. Der Wind hat viele Stimmen. Er lässt die Kabel von Brücken vibrieren, schaukelt die Segelboote im Hafen und lässt deren Takelung geräuschvoll gegen die Maste schlagen, er wiegt Äste und Zweige und durchweht die schwankenden Baumkronen, die seine unsichtbare Präsenz zugleich ins Visuelle und Auditive übersetzen. Windf lüchter sind Bäume und Sträucher, deren Gestalt über die Jahre hinweg durch die Winde modelliert wurden. Ihr der Wetterseite abgeneigter Wuchs ist in der Regel einseitig verstärkt. Der Windwuchs dieser Bäume zeigt sich in der deutlichen Schiefstellung des Stammes

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und der Herausbildung einer fahnenförmigen Krone. Diese Bäume f lüchten vor dem Wind, in die von diesem bestimmte Himmelsrichtung, ohne ihm wirklich entkommen zu können. Windf lüchter leisten nicht nur eine visuelle Übersetzung der langwierigen gestaltenden Arbeit der Winde, sondern können auch im Wind erklingen und die Bewegung des Windes ins Hörbare übertragen. In Ostfriesland werden Windf lüchter als Windläufer, auf Plattdeutsch Windlooper, bezeichnet. Windf lüchter mit stark ausgeprägtem Fahnenwuchs werden dort auch Windharfen genannt. Äolsharfen, auch Geister-, Windoder Wetterharfen genannt, sind Musikinstrumente, deren Saiten durch die Einwirkung eines Luftstroms zum Klingen gebracht werden.1 Die Äolsharfe wurde in der englischen Romantik als Sinnbild für den Poeten gesehen, dessen Seele durch die Inspiration zum Erklingen gebracht wird. Winde übersetzen sich auch ins Haptische und Olfaktorische. Sie berühren sanft das Gesicht und die Haut, zerzausen die Haare, zerren an der Kleidung oder stoßen einen zur Seite. Auf diese Dimension werde ich im nächsten Kapitel näher eingehen. Winde transportieren aber auch Düfte und Gerüche von einem Ort zu anderen, so wie der Atem den Mundgeruch aus dem Inneren des Körpers nach außen transportiert und die Darmwinde von der dem Blick entzogenen Verdauung zeugen. Der Wind ist nicht nur Teil verschiedener Übersetzungsvorgänge, sondern selbst ein Übersetzer, der Fremdes dadurch vereint, dass er weit Auseinanderliegendes zusammenführt. Winde übersetzen zwischen den Dingen hin und her, und zwischen unterschiedlichen Dimensionen der Realität, zwischen innen und außen, oben und unten, und zwischen Nahem und Fernem. Sie transportieren den roten Saharasand über das Mittelmeer hinweg nach Europa, Vulkanasche und Schnee sowie Pf lanzen, Tiere und Samen von einer Region zur anderen, aber sie übermitteln auch subtilere Botschaften quer über die Kontinente hinweg. Zur Beschreibung der Winde benutzt Bacon eine Metapher aus dem Bereich des Geschäftlichen. Winde sind Vermittler, sie kaufen und verkaufen Ausdünstungen und Dämpfe über politische Grenzen hinweg. »This much is certain, that winds are either natives, or strangers, and as it were traders in vapours; importing them collected into clouds, and exporting them again to and from different countries; whence winds are produced as by traffick and exchange.«2 1 Vgl. M. Minssen et. al., Äoslharfen – Der Wind als Musikant, Frankfurt am Main 1997. 2 Bacon, History of the Winds, S. 48-49.

6. Die Sprachen des Windes: Übertragung und Übersetzung

Die verbindende vermittelnde Tätigkeit des Windes ist nicht nur mit Vorgängen der Übersetzung, sondern auch mit Metaphorisierungsprozessen verwandt. In beiden Fällen findet ein Transfer zwischen unterschiedlichen Realitätsbereichen statt. Den Wind in den Metaphern des Flusses und des Fließens, des Meeres und der Welle, des Kampfes und des Krieges zu denken oder anhand unterschiedlicher Personifizierungen, ist ein Übersetzungs- und Metaphorisierungsprozess, der Verborgenes Unsichtbares ins Wahrnehmbare überführt. Dabei wird etwas Abstraktes auf etwas Konkretes bezogen und dadurch anschaulich und begreif bar gemacht. Ein zweiter narrativer Strang dieses Kapitels ist dem Verhältnis der Sinne gewidmet, welches sich an unterschiedlichen Formen der Windwahrnehmung exemplarisch diskutieren lässt. Die philosophische Beschäftigung mit dem Wind hat sich vor allem auf das Visuelle konzentriert, was auch mit der Privilegierung des Sehsinns in der westlichen Kultur zusammenhängt. Wie aber Serres, Flusser und Ingold gezeigt haben, spielen das Auditive, Haptische und Olfaktorische dabei eine ebenso wichtige, wenn nicht wichtigere Rolle. Man könnte sogar sagen, dass der Wind nicht so sehr die visuelle Wahrnehmung als das Gehör, die Berührung und den Geruch anspricht.

Das Unsichtbare ins Sichtbare übersetzen Auf die Frage, warum es sich lohne, Winddarstellungen in der westlichen Kunst zu studieren, weist Nova auf die Frage nach der Transparenz hin. Der Wind und die Luft sind eine Herausforderung für die westliche Kunst, weil diese grundsätzlich auf der vornehmlich visuellen Nachahmung der Natur beruht. In diesem Sinne liegt der erkenntnistheoretische Gewinn des Windes in der Sichtbarmachung einiger wesentlicher Darstellungsstrategien der westlichen Kunst. Die Transparenz des Windes steht in der christlichen Tradition für die Unsichtbarkeit des göttlichen Geistes. In der Ikonoklasmus-Debatte des 4. Jahrhunderts n. Chr. verbindet der syrische Mönch Ephraim, der Syrer, die Transparenz des Windes mit der Unmöglichkeit, diesen in Farben zu malen. Er argumentiert dabei gegen die Griechen, welche die Luft sehen wollen. Die Luft aber ist unsichtbar, so wie die göttliche Kraft unfassbar ist. Diese Momente sind in die westliche Kunst eingef lossen und spielen in der Renaissance eine zentrale Rolle.

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Viel ist über Aby Warburgs innovative und folgenreiche Deutung der äußerlich bewegten Gewänder und Haare in den beiden Botticelli-Gemälden Die Geburt der Venus und Frühling geschrieben worden, auch im Zusammenhang mit der Rolle des Windes, unter den Kunstkritikern befinden sich auch Alessandro Nova, Ingrid Christian und Georges Didi-Huberman, auf die ich im Folgenden eingehen möchte.3 Anfangen möchte ich mit einem Vergleich der Winddarstellung auf den beiden Gemälden. Nova, der sich im Gegensatz zu Warburg nicht mit der Winddarstellung in Die Geburt der Venus, sondern mit derjenigen in Frühling beschäftigt, sieht in den beiden Gemälden »einen weiteren Wendepunkt in der Sichtbarmachung«4 des Windes, eine Vision, die zwar weniger modern ist als diejenige Leonardos, sich aber dennoch als fruchtbar erwiesen hat. Nova situiert die Entstehungszeit von Frühling in den Jahren zwischen 1477-78 und 1485. Obwohl Die Geburt der Venus meist zuerst diskutiert wird, ist Frühling wahrscheinlich vor Die Geburt der Venus entstanden. So sind die beiden Gemälde auch auf die Jahre 1482-83 bzw. 1484-86 datiert worden. Diese Chronologie würde auch dem thematischen Verhältnis der Gemälde entsprechen, die beide den westlichen Windgott Zephyros in unterschiedlichen aufeinanderfolgenden Situationen zeigen, und zwar spiegelverkehrt, einmal auf der rechten und einmal auf der linken Gemäldeseite. In Frühling ist Zephyros ein schwebender bartloser Jüngling mit wallendem dunklem Haar, geblähten Wangen und bläulich-grünlicher Hautfarbe (vgl. Abb. 20). Er verfolgt die davonstürzende, aber sich zugleich ihm zuwendende Nymphe Chloris und versucht, diese mit beiden Armen festzuhalten. Aus der Umarmung wird die Frühlingsgöttin Flora hervorgehen, was durch Rosenblüten, die aus dem rechten Mundwinkel der Nymphe herauswachsen, versinnbildlicht wird. Der Windgott trägt ein dunkelgraues wallendes Gewand. Seine großen gleichfarbigen Flügel kann man zwischen den dichten Blättern der Lorbeer- und früchtetragenden Orangenbäume im Hintergrund ausmachen. Die dunklen Farben des Zephyros sind eine Anspielung auf seine kühle Frische. Ovid hat auf die Verwandtschaft dieser Szene mit derjenigen 3  V  gl. dazu auch B. Baert, »Nymphe (Wind). Der Raum zwischen Motiv und Affekt in der frühen Neuzeit (Zugleich ein Beitrag zur Aby Warburg-Forschung)«, in: Ars 46/1 (2013), S. 16-42 und »Wild is the Wind. Pathosformel and Iconology of a Quintessence. Like a Leaf clings to a tree«, in Mitteilungen für Anthropologie und Religionsgeschichte, hg. von M. L. G. Dietrich et. al., Bd. 22, Münster 2015, S. 239-280. 4 Nova, Das Buch des Windes, S. 16-8 und vor allem 87-93, hier S. 92.

6. Die Sprachen des Windes: Übertragung und Übersetzung

Abbildung 20: Sandro Botticelli, Frühling (Ausschnitt) des kalten Nordwindes Boreas hingedeutet, der Oreithyia, die Tochter des Erechtheus, entführte. Aus dem linken Winkel des geschlossenen Mundes dringt ein zarter kaum sichtbarer Lufthauch, der befruchtend in die linke Mundhöhle der Nymphe dringt. Dieser Atemzug ist auf dem Gemälde durch äußerst feine, kurze weißliche Linien dargestellt worden. Wie Nova hervor-

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hebt, konnte 1982 durch eine Restaurierung des Gemäldes die eher zögerliche Visualisierung von Zephyros’ Atemzug, die der Philosoph und Kunsthistoriker Edgar Wind zuvor schon angenommen hatte, bestätigt werden.5 Auf dem anderen Gemälde (vgl. Abb. 21), Die Geburt der Venus, werden zwei Winde dargestellt. Es handelt sich dabei um zwei gef lügelte und über dem Wasser schwebende jugendliche Wesen mit langen lockigen braunen bzw. blonden Haaren. Von den zwei Gestalten geht ein Schauer rosafarbener Blumen nieder. Beide tragen ein wallendes verknotetes grau-blaues bzw. gelblich-olivgrünes Gewand. Die männliche Figur, die sich auf der rechten Seite befindet, wird von einer zierlichen, weiblich anmutenden Figur begleitet, die ihre Arme um seine Taille geschlungen hat. Diese zweite Umarmung könnte als eine spiegelverkehrte Variante der ersten gelesen werden, sowohl was die Geschlechterverteilung wie die Intention angeht. Wenn man die weibliche Gestalt als die Brise Aura deutet, so lässt sich die Umarmung als ein Hinweis auf ihre warme umhüllende Natur verstehen. Diese würde dann der männlichen Geste der Eroberung des ersten Gemäldes diametral gegenüberstehen. Bei der Identifizierung dieser Figur, »die in der Forschung als ›weiblicher Wind‹ bezeichnet wird, herrscht noch immer große Unsicherheit.« Nova vermutet in der Darstellung auch eine »Reinkarnation der zärtlichen Umarmung zwischen Zephir und Iris«6, aus deren Verbindung Eros hervorgegangen ist. Die gef lügelte Götterbotin Iris ist eine Personifikation des Regenbogens und konnte nach den damaligen Vorstellungen Wind erzeugen. Das Paar wurde auch als Zephyros und die verwandelte Nymphe Chloris gedeutet, die Zephyros zuvor verfolgt, entführt und geheiratet hatte. Diese Deutung würde zur erwähnten Chronologie der Gemäldeentstehung passen. Im Gegensatz zum ersten Gemälde dringt hier aus den geschlossenen Lippen des mit geblähten Backen blasenden Zephyros ein starker, klar erkennbarer Luftstrahl, ein dichtes weißes Band, das fast bis zum rechten Arm der Venus reicht. Der Luftstrahl, der aus dem linken Mundwinkel des leicht geöffneten Mundes der weiblichen Figur dringt, ist dagegen zaghaft und löst sich schon nach Kurzem in Luft auf. Da dieser Atemzug nicht dazu dient, die Muschel voranzutreiben, besteht seine Funktion wohl allein darin, die Figur als Wind auszuweisen. Die unterschiedliche Stärke des Atemzuges auf den beiden Gemälden könnte man auf die unterschiedliche Funktion der 5 Vgl. dazu ebd., S. 89. 6 Ebd., S. 89.

6. Die Sprachen des Windes: Übertragung und Übersetzung

Abbildung 21: Sandro Botticelli, Die Geburt der Venus (Ausschnitt) Winde zurückführen: der intime befruchtende Lufthauch einerseits, und andererseits der starke Atemzug, dessen Zweck es ist, die Muschel der Venus zum Ufer hinzutreiben. Die Winddarstellungen der beiden Gemälde sind somit nicht nur Teil desselben Mythos, sondern weisen auch eine Reihe von formalen Ähnlichkeiten auf, welche auf die Windikonographie der Antike und des Mittelalters zurückgehen. Die verschiedenen Attribute werden dabei vielfach kombiniert und variiert und schaffen dadurch einen Dialog zwischen den beiden Werken. In allen drei Fällen – d.h. auch bei Zephyros – dringt der Atemzug aus dem linken Mundwinkel hervor und nicht aus der Mitte wie in den anderen bis hierher diskutierten Winddarstellungen. Auf beiden Gemälden werden die Windgötter als bewegte Beweger im Zeichen der Übersetzung und Übertragung dargestellt, als schwebende Gestalten, welche die f liehende Chloris bzw. die Muschel der Venus vor sich hertreiben. Zephyros’ Atem dringt befruchtend in den Mund der Chloris und wird in Blumen übersetzt oder er überträgt sich auf die Muschel und setzt diese in Bewegung. In Hinblick auf die bisher geschilderte Deutungstradition ist das männlich-weibliche Windpaar der zwei ungleichen, aber ineinander verschlungenen Figuren von Botticellis Die Geburt der Venus das wohl spannendste Moment. Warburg, der von mehreren Winden und zwei pausbackigen Zefiri, spricht,

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»deren Blasen man sieht«7, zitiert Giorgio Vasari und Angelo Poliziano, die von zwei unterschiedlichen Winden sprechen, von aure e venti, zarten Lüften und Winden, und von zefiri lascivi, launenhaften zügellosen Winden. Warburg verwendet ebenfalls die Bezeichnung »brise imaginaire«8, die auch im Titel eines Essays von Didi-Hubermann erscheint9, auf den ich noch zu sprechen komme. Die Darstellung des Windpaares überwindet die standardisierten blasenden Köpfe der mittelalterlichen Winddiagramme und überführt den Wind in eine hybride Zwischenzone. Dies betrifft nicht nur die Geschlechtsambivalenz, sondern auch die unterschiedliche Visualisierung des Atemzuges. Didi-Hubermann und Christian erweitern Warburgs Deutung, indem sie auf die komplexe metaphorische Dimension des Windes auf den Gemälden der Frührenaissance und in den Schriften Warburgs eingehen. Dabei heben sie die vielfältige Bedeutung des Windes als Übersetzer und Vermittler hervor.

Bewegte Beweger Christians Deutung bringt die im Text implizit angelegte metaphorische Bedeutung des Windes der ›Inspiration‹ ans Licht. »With his word choice, Warburg sets up an implicit relation between the act of inspiring and the depicted winds in the artworks. The windblown hair and garments are visual embodiments of the activity of the Inspirator who transmits to the painter the conceit of dynamic accessory.«10 Warburg deutet in seiner Wortwahl diese Verbindung zwar an, geht aber nie explizit darauf ein. Er zeigt, dass die Antike die Renaissance ›inspiriert‹ hat und dass die Vorstellungen von Künstlern, Dichtern und Gelehrten dieser Epoche in die bewegten Gewänder und Haarlocken der Figuren Botticellis übertragen wurden, und spricht an mehreren Stellen von der Beraterfigur des ›Inspirators‹. Diese Bezeichnung, so Christian, »suggests that the inspirer’s advice was translated into depictions of literally inspired objects 7 A. Warburg, »Sandro Botticellis ›Geburt der Venus‹ und ›Frühling‹. Eine Untersuchung über die Vorstellungen der Antike in der italienischen Frührenaissance«, in: Werke in einem Band, Berlin 2010, S. 44. 8 Ebd., S. 60. 9 G. Didi-Huberman, »The imaginary breeze. Remarks on the air of the Quattrocento«, in: Journal of Visual Culture 2/3 (2003). 10 M. I. Christian, »Aer, Aurae, Venti. Philology and Physiology in Abi Warburg’s Dissertation on Botticelli«, in: PMLA 129/3 (2014), S. 403.

6. Die Sprachen des Windes: Übertragung und Übersetzung

[Hervorhebung d. A.].«11 Die Worte ›Inspirator‹ und ›inspirieren‹ werden hier im wörtlichen Sinne gebraucht, wodurch die beiden Momente – die Tätigkeit des Inspirators und deren visuelle Übersetzung auf dem Gemälde – aufeinander bezogen werden können. Das Wort ›Inspirator‹ offenbart einen metaphorischen Subtext, »[a] thematic undercurrent of air«12, zu dem auch die Worte ›Einf luss‹ und ›beeinf lussen‹ gehören, die in Warburgs Text in Anführungszeichen gesetzt worden sind, als ginge es darum, auf die metaphorische Dimension des Fließens hinzuweisen, die auch der Vorstellung der Inspiration zugrunde liegt. Warburgs Essay wird von einem Luftzug durchweht, der verschiedenen Ebenen miteinander verbindet. Diese thematische Unterströmung wird im Leseprozess offenlegt und dadurch vom Latenten ins Explizite, vom Verborgenen ins Sichtbare übersetzt. Die kulturelle Atmosphäre, in der Botticellis Gemälde entstanden sind, kann als ein Netzwerk von bildhaften und textuellen Einf lüssen, zu dem auch die Figur des Inspirators gehört, betrachtet werden. Es ist aber auch ein gemeinsames Medium, das auf der metaphorischen Ebene durch die Luft verkörpert wird, »a f luid realm for crossovers between the discursive frame-works of image and word.«13 Die Luft ist ein f lüchtiges unsichtbares Fluidum, das den kulturellen Kontext einer bestimmten Epoche durchdringt. Kunstwerke sind Verkörperung von dem, was in der Luft liegt. Sie veranschaulichen den Einf luss eines bestimmten künstlerischen Klimas. Die Luft ist die Voraussetzung für die verbindende und vermittelnde Aktivität des Windes. Sie ermöglicht eine Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart, eine »actio ad distans between fields of enquiry, acting as a disciplinary milieu that permits semantic sympathies between words and fosters affinities between texts and images from distant epochs«14, einen Wissenstransfer. Dank diesem gemeinsamen Medium kann der Wind die Rolle eines Übersetzers, eines Vermittlers von Vorstellungen, die er über die Zeit und den Raum hinweg transportiert, übernehmen. Der Wind ist zugleich eine Metapher für die Bewegung der Imagination und für die Übertragung von impliziten oft versteckten Vorstellungen, die in das Werk eines Künstlers einf ließen. Die Metaphern der Luft und des Windes verweisen zugleich auf den diffusen unbestimmten Status von kulturellen und künstlerischen Modellen. 11 Ebd., S. 399-400. 12 Ebd., S. 401. 13 Ebd., S. 403. 14 Ebd., S. 402.

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Wie Didi-Hubermann festhält, setzt sich Warburg, dadurch dass er gerade das Moment der Bewegung in den Mittelpunkt seiner Untersuchung stellt, von früheren Deutungen ab, zum Beispiel von Winckelmanns Abscheu vor den »stürmischen Falten des Barocks« und Lessings Ablehnung einer »Poesie der Falten«, aber auch von Kants Bemerkung zu den losen Gewändern der Statuen als »unwesentliches« und »äußerliches Zierrat«.15 Dies geht nicht ohne gewisse Ambivalenzen in Bezug auf das Windverständnis vor sich. Eine davon ist die implizit im Text angelegte metaphorische Deutung des Windes als eine uniformierende, die individuelle Kreativität durchkreuzende Kraft, eine Vorstellung, die auch in Musils Der Mann ohne Eigenschaften eine Rolle spielt.16 Im Laufe des Textes stößt man auf verschiedene Momente, welche die Verwendung von windbewegten Formen problematisieren. Warburg bezeichnet seine Wahl des bewegten Beiwerks als Kriterium für den Einf luss der Antike als »einseitig, aber nicht unberechtigt.«17 Deren Verwendung umschreibt er an verschiedenen Stellen kritisch als ›antikisierend‹ und ›antikisch‹, eine leicht zu handhabende, nicht besonders originelle Technik, deren Ziel manchmal nur darin besteht, den Anschein ›eines gesteigerten Lebens‹ zu erwecken. An anderen Stellen weist er auf die bloße ›Äußerlichkeit‹ der Bewegung eines an sich ›willenlosen Beiwerks‹ hin. Dies führte in einigen Fällen zu ›gedankenloser Wiederholung‹ von äußerlichen Bewegungsformen, ein Thema, das im Grunde genommen für die Antike nicht typisch ist und in der Kunst der Frührenaissance einen Mangel an künstlerischer Besonnenheit signalisiert. Diese Äußerlichkeit verbindet sich mit dem Exzessiven. So zitiert Warburg eine längere Passage, in der Leon Battista Alberti ›gemäßigte und liebliche‹ Bewegungen in der Kunst lobt und zur ›Besonnenheit‹ aufruft, wenn es um die Darstellung bewegter Haare, Zweige oder Kleider geht. Eine ›widernatürliche Häufung‹ des Bewegungsmotivs sollte daher vermieden und nur dann eingesetzt werden, wenn die Bewegung auch tatsächlich vom Wind verursacht worden ist. Diese Momente werden am Ende des Essays direkt auf die künstlerische Arbeit Botticellis bezogen.

15 Vgl. G. Didi-Huberman, »Bewegende Bewegung. Die Schleier der Ninfa nach Aby Warburg«, in: Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als Medium und Metapher, hg. von Johannes Endres, Barbara Wittmann und Gerhard Wolf, München 2004, S. 338. 16 Vgl. Kapitel neun. 17  Warburg, Geburt der Venus, S. 58.

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Warburg geht von einer Kombination kollektiver und individueller Momente im künstlerischen Schaffungsprozess aus. Der einengende Einf luss einer bestimmten kulturellen Atmosphäre bedroht die individuelle Kreativität. Aus diesem Grund müssen Künstler die Fähigkeit besitzen, den konditionierenden Bedingungen ihres Milieus zu widerstehen. Dies war bei den Künstlern der Frührenaissance nicht immer der Fall. Sie waren »vom Gefühl durchdrungen […], dem Alterthum gleich zu sein«, und suchten daher nach vergleichbaren Formen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Dabei ließen sie sich von der vorherrschenden modischen Welle, die hier in der Metapher des Windes auftritt, mittragen. Botticelli war »einer von denen, die allzu biegsam waren.«18 Diese Biegsamkeit, die an das Verhalten eines Baumes im Wind erinnert, ist eine Verdoppelung des äußerlichen Bewegungsablaufs des willenlosen Beiwerks. Beide lassen sich ohne Widerstand von der Kraft des Windes bewegen. Die Unfähigkeit Botticellis, den Vorstellungen seiner Zeit und den Ratschlägen seiner Berater zu widerstehen, wird durch Warburg implizit mit dem passiven Verhalten der Gewänder und Haare gleichgesetzt. Diese Verbindung nimmt hier eine Bedeutung an, die mit den erwähnten Ambivalenzen von Warburgs Text in Bezug auf die Darstellung von Bewegung in der Kunst zusammenhängt. »The more Botticelli succumbed to the inspiration coming from his advisers, the more windblown his figures became. By implication the more wind and movement there are in the painting, the less individual agency went into the creation of the image.«19 Es scheint somit auch um eine Frage der Quantität zu gehen. Der Wind gerät dann zur Gefahr, wenn er über eine gewisse Grenze tritt und das Ideal der Mäßigung hinter sich lässt.

Der Zwischenraum der Übersetzung Georges Didi-Huberman diskutiert die Präsenz des Windes in den Gemälden von Sandro Botticelli, Domenico Ghirlandaio und Filippo Lippi. Das Werk Warburgs markiert eine klare theoretische Zäsur. In seiner Deutung von Botticellis Frühling aus dem Jahr 1893 »verschob er leicht den Blick: auf das f lüssige Auseinanderfallen der Haare im Wind, auf den Zwischenraum der Luft, auf die einladenden Wölbungen des blumenbestickten Tuches, das 18 Ebd., S. 108. 19 Christian, Aer, S. 409.

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der jungen Göttin dargebracht wird. In eben jenen Bewegungsformeln, in jenen f ließenden Gestalten erkannte er […] das grundsätzliche Pathos des Bildes.«20 Warburgs bewegtes Beiwerk ist dabei alles andere als etwas Beiläufiges. Die von toten Tüchern, schwebenden Gewändern und gefühllosen Haaren umspielten Körper auf dem Gemälde wirken selbst weitgehend immobil, während an deren Ränder sich alles in Bewegung setzt. Didi-Hubermann betont die paradoxale Spannung zwischen dem reglosen Raum, der »allesumfassenden Starre« und dem schmalen Zwischenraum, der »von Erzitterungen, von Flimmern und Atemstößen durchzogen«21 ist. Dieser vom Wind animierte hybride Zwischenraum der Bewegung ist eine Zone vielfacher Übersetzungsprozesse. In Didi-Hubermanns Interpretation ist nicht so sehr der Wind selbst ein Übersetzer, als das durch ihn Bewegte. Die Textur der Bewegung ist eine »Übersetzungsinstanz«, die »zwischen der ungreif baren Luft und den sichtbaren Körpern […] zwischen den sichtbaren Bewegungen und den Regungen der Seele«22 vermittelt. Es ist aber der belebende Luftzug, der die Gewänder in Übersetzer verwandelt und die Bewegung zwischen innen und außen sichtbar macht. Die luftigen Falten der wehenden Schleier sind »eine Art Interface am Rande der Körper, zwischen ihren ›äußeren Veranlassungen‹ (des Außenraums, der Atmosphäre) und den ›inneren Veranlassungen‹ (des Innenraums, der Stimmung) ihrer Bewegungen.«23 Die Körper sind sichtbarer Ausdruck eines unsichtbaren Jenseits. Die zahlreichen Seelenregungen manifestieren sich in den mannigfaltigen Bewegungen des Körpers. »Was aber entspricht, jenseits der Flächen, diesen symmetrisch? Vielleicht die Luftbewegungen, die den Schleiern, Falten, Locken ihre ganze ›Anmut‹ und ›Schönheit‹ verleihen […] ihre Lebendigkeit wird durch die fiktive Luft sichtbar, die sie bewegt, so wie alle Körper fiktiv durch die Regungen der Seele lebendig werden«24, die sie bewegen und beseelen. In den vom Wind bewegten Gewändern kommt noch ein weiteres zum Ausdruck. Das Nachleben früherer Modelle aus der klassischen Antike, die für die Renaissance von zentraler Bedeutung waren. Der Wind wird da20 Didi-Huberman, Bewegende Bewegung, S. 331. 21 Ebd., S. 334. 22 Ebd., S. 337. 23 Ebd., S. 338. 24 Ebd., S. 337.

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durch zu einem Botschafter aus der Vergangenheit, der Geschichtliches, Verschwundenes, Abgestorbenes und Absterbendes in die Gegenwart hinüberträgt, wo es in einem Zwischenraum »auf der Schwelle der Sichtbarwerdung«25 zu liegen kommt. Dies ist eine ikonographische Formel der Intensität, die »im Kunstwerk die Fähigkeit des Lebens zur Bewegung und zum Bewegtwerden sichtbar macht.«26 Die Renaissancekünstler benutzten in ihren auf antiken Vorbildern beruhenden Werken den unsichtbaren Windstoß und seine sichtbaren Auswirkungen als Zeichen früherer Zeiten. Der Wind ist ein Nachhauch einer früheren Epoche. Der Lufthauch, der die Haare durchwühlt und die Gewänder hochhebt, ist ein belebender animierender Wind aus der Vergangenheit, »ein Zeithauch, eine Art fossiler oder gespenstischer Wind, der zwanzig Jahrhunderte später gemalten Dingen von der Antike aus Leben einhaucht.«27 Ghirlandaios Obstträgerin, auf dem Gemälde zur Geburt Johannes des Täufers, die leichtfüßig und anmutig dahinschwebt, umspielt von luftigen aufgebauschten Gewändern, ist eine fantastische Traumfigur, die einen Wind aus einer anderen Zeit mitführt. So schreibt Warburg: »›Diese lebendig leichte, aber so höchst bewegte Weise zu gehen; diese energische Unauf haltsamkeit, diese Länge vom Schritt, während alle anderen Figuren etwas Unantastbares haben, was soll das alles?‹«28 Die Obstträgerin ist von der Leichtigkeit und Beweglichkeit des Windes ganz und gar durchdrungen. Didi-Hubermann spricht vom Nachleben eines verschwundenen heidnischen Lebensgefühls, das an die griechisch-römische Victoria erinnert, die sich in der christlichen Tradition des frühen Mittelalters in einen gef lügelten Engel verwandelte. Gef lügelte Engel sind, wie schon im dritten Kapitel ausgeführt, Verkörperungen des Windes. In diesem Sinne ist Ghirlandaios Obstträgerin nicht nur eine Windpersonifizierung, sondern auch eine Übersetzerin zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Man könnte den Obstkorb, den sie auf ihrem Kopf balanciert, als Metapher der übertragenen Botschaft aus der heidnischen Vergangenheit verstehen. Die Obstträgerin ist aber auch eine Mänade, die von einem dionysischen Wind bewegt wird, eine grausame Nymphe, Zwillingschwester der Salome, die nach einem Tanzauftritt auf Anstiftung der Mutter den abgeschlagenen 25  Ebd., S. 345. 26 Ebd., S. 343. 27 Ebd., S. 346. 28  Zitiert in ebd., S. 353.

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Kopf Johannes des Täufers einforderte. Dadurch steht sie im klaren Gegensatz zum Hauptsujet des Bildes. Der von der beschwingten Obstträgerin mitgebrachte Wind aus der Vergangenheit ist auch ein Wind des Begehrens, den Warburg im Sinne Nietzsches als Versprechen einer vergessenen Lebensfülle deutet. Wie der Wind in der europäischen Tradition, der zwischen Befruchtung und Zerstörung, Segen und Fluch, Engelhaftem und Dämonischem oszilliert, so ist auch dieser Wind eine ambivalente »Verkörperung der Lust, der Fülle, ja der dionysischen Trunkenheit«, die uns »bezaubert« und zugleich »eine gespenstische Gestalt der Zeit, die uns heimsucht.«29 Der Wind ist nicht bloß ein Zubehör des von ihm bewegten Stoffes noch ist dieser bloß ein Zubehör des bewegten Leibes. »Body, surfaces, and air all hang together […] each element in that dialectical dance exists by virtue of its being borne, transported and transformed by the others. […] The draperies are in the wind as the wind is in the draperies, in the hair, and all around the body.«30 Übertragung, hier im Sinne des Transports über den Raum hinweg, und Übersetzung gehen ineinander über. Die dialektische Sequenz verläuft von der Seele zum Körper, zu den bewegten Oberf lächen an seiner Peripherie und zur Luft. Der unsichtbare Wind macht dabei das Unsichtbare und Verborgene sichtbar, so wie der Tanz die Bewegungen der Seele veranschaulicht. Auch in den Traktaten zur Tanzkunst der Renaissance spielt die Luft (aria oder aer) eine wichtige Rolle. Sie verleiht den Tänzern eine luftige Präsenz und sorgt für grazile anmutige Bewegungsformen. Wind und Tanz sind metaphorisch verwandt. In beiden Fällen steht die Bewegung im Mittelpunkt. Die bewegten Körper (oder Gegenstände im Falle des Windes) werden von einer unsichtbaren Kraft belebt und angetrieben. Die Luft sorgt für eine Intensivierung der körperlichen Präsenz und des vorgetragenen Tanzschrittes. Körper in luftiger Bewegung werden in den Bildern des Wellenartigen, des plötzlichen Luftstoßes und der f latternden durch die Brise hochgetragenen Gewänder eingefangen. Die Stoffe sind so f lüssig wie ein Windhauch oder eine Welle. Wie eine Welle sorgt der Wind für Auftrieb. Er trägt in die Höhe und erhebt dabei auch die Seele. Die Halskette der dritten Grazie in Botticellis Frühling wirft einen Schatten, was darauf hindeutet, dass im Laufe des Tanzes der Jungfrau, diese »hochf liegt« und »sich frei bewegen

29  Ebd., S.355-356. 30 Didi-Huberman, The imaginary breeze, S. 276.

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kann.«31 Dies verdoppelt sich in den gürtellosen freischwebenden Gewändern der drei Frauen. Das italienische Verb ondeggiare, ›wogen, schwanken‹, kommt von onda, ›die Welle‹. »This gives rise to an entire vocabulary of ›undulation‹ […]; as if bodies, in their airy motions, were capable of assuming the images of waves, blasts of air, or draperies lifted by a breeze. […] Through a movement of ondeggiare, the dance of the Quattrocento ornaments the air and reciprocally grants visible f luidity to the anima or fantasia seeking outward expression.«32 Der Tanz gleicht dem Wind auch insofern als beide zwischen verschiedenen Bereichen hin und her übersetzen. Wind und Welle treffen in diesem Kontext mehrfach aufeinander. In einem am Anfang des 15. Jahrhunderts verfassten Traktat mit Anweisungen zu künstlerischen Techniken und Materialien empfiehlt der Maler Cennino Cennini, die Faltenränder aufzuhellen und diese Technik auch auf die Darstellung von Wellen an der Wasseroberf läche anzuwenden. Tintoretto wird dieses Verfahren später auch zur Darstellung von Luft nutzen. Winde berühren nicht nur die Dinge, sondern verändern sie. »The wind does more than just pass over things; it transforms, metamorphoses, profoundly touches the things it passes over.«33 Haar und Haut, Schleier und Gewänder, Luftzug und Körperbewegung befinden sich alle in einem unstabilen Zwischenbereich, den Didi-Huberman treffend als die »turbulent edges of [the] body«34 bezeichnet. Damit führt er eine meteorologische Perspektive in die Kunstgeschichte ein, die an Serres’ zerklüftete Wolkenkonturen und Reeds klimatischen Zugang zur Literatur erinnert. Der Wind berührt den Körper nicht nur von außen, sondern f ließt auch ins Innere hinein. Er übersetzt zwischen dem Inneren des Leibes und der Welt, die ihn umgibt, hin und her und dynamisiert dadurch in einem doppelten Sinne. Die aktivierende Kraft, das befreiende intensivierende Potential des Windes übertragen sich zusammen mit seiner Bewegung auf das Berührte und dies zugleich in mehrfacher auch metaphorischer Hinsicht. »The wind causes all that it touches to quiver or to stir, to be moved or convulsed.«35 Der bewegte und belebende Wind sendet ein Zittern und Schaudern durch den Raum und die 31 Didi-Huberman, Bewegende Bewegung, S. 334. 32 Didi-Huberman, The imaginary breeze, S. 286. 33 Ebd., S. 276. 34 Ebd., S. 277. 35 Ebd., S. 277.

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Zeit. Die Gegenwart wird von der Vergangenheit eingeholt, wobei der Wind gleich zweimal als Vermittler und Übersetzter auftritt: einmal als Thema und das andere als Metapher der Verwandlung und Übersetzung. Eine äußerliche Ursache für eine Verlagerung der Affekte, die auf innere Ursachen zurückgeht. »The air, then also sends a quiver through souls, and its invisible atmospheric displacement […] serves as a f luid index for the displacement of affects […].«36 Die Bewegungen des Körpers zeigen die Bewegungen der Seele an und die Bewegungen der Körperoberf lächen die Bewegung der Luft. Der Wind überträgt seine Beweglichkeit auf alles, was er berührt. In diesem Sinne ist er ein bewegter Beweger. Der Wind bewegt dabei nicht nur den Leib und das leichte Gewand, sondern auch die Seele. In Botticellis Gemälde Frühling umfasst Zephyros mit seinen Armen die Nymphe Chloris, die ihm zu entkommen versucht, und zugleich vom ihm bewegt wird, und dies auch in einem affektiven Sinne, was die aus ihrem Mund sprießenden Blumen anzeigen. Die verborgene spirituelle Dimension wird vom Wind ins Sichtbar-Körperliche übertragen. Dieser ist dadurch zugleich eine Metapher des Geistigen, das durch die Bewegung der Haare und Tücher sichtbar gemacht wird.

Der Wind der Inspiration ›Inspiration‹, ›inspirieren‹ kommen vom lateinischen inspirare, das wörtlich ›hineinhauchen‹, ›einatmen‹ bedeutet. In der griechischen Kultur der Antike wurden die Priesterinnen direkt durch die eingeatmeten heiligen Dämpfe inspiriert. In der christlichen Tradition wird die enge Beziehung von Wind, Inspiration, Sprache und Übersetzung unter anderem in der Apostelgeschichte (2, 1-11) thematisiert. »Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle beieinander an einem Ort. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt und wie von Feuer, und setzten sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab.« Der Heilige Geist, ist der göttliche Wind aus der Genesis, der sich erneut und diesmal auf ganz andere Art und Weise in den Herzen der anwesenden Menschen einschreibt. Das Pfingstwunder hebt den Fluch 36 Ebd., S. 278.

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der Mehrsprachigkeit des Turms von Babel wieder auf. Dieser Wind berührt alle Anwesenden zugleich und führt sie zusammen, obwohl sie aus ganz verschiedenen Gegenden kommen und völlig andere Sprachen sprechen. »Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde verstört, denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, Galiläer? Wie hören wir sie denn ein jeder in seiner Muttersprache? […] Wir hören sie in unsern Sprachen die großen Taten Gottes verkünden.« Der Heilige Geist ist der Wind Paraklet, vom altgriechischen Wort παρακαλεῖν, parakalein, ›herbeirufen, einladen‹, aber auch ›ermahnen und trösten‹, und von παράκλητος, paráklētos, lateinisch paracletus, ›der Herbeigerufene, der Tröster‹. Dieser wird im 1. Brief des Johannes (2.1) mit Jesus Christus gleichgesetzt: »Und wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher (παράκλητος) bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist.« Der Wind inspiriert die aus verschiedenen Ländern und Kulturen Kommenden zu sprechen und bewerkstelligt zugleich, dass alle Anwesenden das in unterschiedlichen Sprachen Gesprochene als in der eigenen gesprochen wahrnehmen. Der göttliche Geist erscheint im Zeichen der Übersetzung und der mehrsprachigen Kommunikation, die das Viele mit dem Einen verbindet und versöhnt. Der Wind ist der göttliche Hauch und die übermittelte Botschaft, zugleich aber auch die jedes Hindernis überwindende spirituelle Kraft, die Gott mit jedem Gläubigen und alle Gläubigen miteinander zu einem homogenen Ganzen zusammenfasst. Dabei findet eine mehrfache Übersetzung statt, bei der es um das Sprechen und das Hören geht: vom göttlichen Wind zu den predigenden Gläubigen und von jedem von ihnen zu allen anderen. In Hiob (4, 12-16) ist die Inspiration eine geistige Präsenz, die man physisch wahrnimmt. Zuerst ist es ein heimliches Wort, welches vom Ohr als ein Flüstern registriert wird, gefolgt von einem Hauch, der über den Körper hinweg fährt, und schließlich eine undeutliche visuelle Erscheinung mit einer Stimme, die in die Stille redet. Der Geist spricht in verschiedenen Sprachen, die sich nacheinander an verschiedene Sinne wenden: vom Auditiven über das Taktile zum Visuellen und zurück zum Auditiven: »Zu mir ist heimlich ein Wort gekommen, und von ihm hat mein Ohr ein Flüstern empfangen beim Nachsinnen über Gesichte in der Nacht, wenn tiefer Schlaf auf die Leute fällt; da kam mich Furcht und Zittern an, und alle meine Gebeine erschraken. Und ein Hauch fährt an mir vorüber; es stehen mir die Haare zu Berge an meinem Leibe. Da steht ein Gebilde vor meinen Augen, doch ich erkenne seine Gestalt

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nicht; es ist eine Stille, und ich höre eine Stimme […].« Die Inspiration ist der Hauch eines göttlichen Geistes, eine göttliche Eingebung, durch die ein kreativer Impuls vermittelt wird, ein aff lātus, von aff lāre, ›atmen, blasen‹.37 In »The Correspondent Breeze: A Romantic Metaphor« beschäftigt sich M. H. Abrams mit dem Verhältnis von Wind, Atem und Inspiration. In der englischen Literatur der Romantik bedeutet das Verb to breath viel mehr als atmen, es ist eine umfassende Metapher, welche die verschiedensten Bereiche verbindet. Abrams betont dabei das Moment der Erneuerung durch eine Rückkehr vitaler Kräfte, die sowohl die Gefühlswelt als auch die Imagination und Kreativität des Künstlers bef lügelt. »This is air-in-motion, whether it occurs as breeze of breath, wind or respiration – whether the air is compelled into motion by natural forces or by the action of the human lungs. […] the wind is not only a property of the landscape, but also a vehicle for radical changes in the poet’s mind. The rising wind, usually linked with the other transition from winter to spring, is correlated with a complex subjective process: the return to a sense of community after isolation, the renewal of life and emotional vigor after apathy […] and an outburst of creative power following a period of imaginative sterility.«38 Abrams untersucht die Metapher in einem weitgefassten historischen Kontext, der frühe Vorstellungen aus der Antike und des Christentums zusammenführt. Im Folgenden möchte ich seine Bemerkungen zur Windharfe als eine Metapher für Übersetzungsvorgänge zwischen äußeren Wetterbedingungen und inneren Stimmungen, zwischen Wort und Musik, Berührung und Klang untersuchen. Der Wind ist ein Leitmotiv für Kontinuität und Austausch zwischen äußeren Luftbewegungen und Wetterverwandlungen und inneren gefühlsmäßigen und gedanklichen Prozessen. »The wind-harp has become a persistent Romantic analogue of the poetic mind, the figurative mediator between outer an inner emotion. […] a conceptual model for the way the mind and imagination respond to the wind […]. In Coleridge’s Dejection the moaning wind-harp foretells a storm which the lyric speaker in his lethargy awaits in the hope [of] 37 Vgl. M. H., Abrams, »The Correspondent Breeze. A Romantic Metaphor«, in: Modern Essays in Criticism, hg. von M. H. Abrams, London, Oxford, New York 1973, S. 44-46. 38 Ebd., S. 37-38.

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release […] involving the revival of feeling and imagination […].«39 Dieser Wind der Inspiration ist kein plötzlicher stürmischer und aufrüttelnder Windstoß, sondern eine feine subtile und zart belebende Brise (gentle animating breeze), die an das sanfte leise Säuseln aus dem ersten Buch der Könige in der Bibel erinnert (19, 11-13).40 Sie ist ein Anreiz für eine frühlingshafte Erneuerung des Geistes und der Seele nach einem langen emotionalen Winter, wobei das innere und äußere Klima einander metaphorisch entsprechen. Diese leise perfekte Brise weht auch in Dantes Purgatorio (XXVIII, 7-21). Es ist eine zarte stetige Brise (aura dolce, sanza mutamento), mit einer Kraft, welche diejenige eines freundlichen Windes nicht übersteigt und die Blätter der Bäume dem Morgen zuneigen lässt, aber niemals so sehr, dass dadurch die Vögel in der Kunst ihres Gesangs gestört würden, ein Kontrapunktgesang zum rhythmischen Unterton der raschelnden Blätter. Das Rauschen der Blätter wird mit dem Wind verglichen, der von Ast zu Ast rauscht (di ramo in ramo si raccoglie). In den Gedichten der englischen Romantik wird das Motiv der perfekten Brise weitgehend in einen ästhetischen Zusammenhang übertragen. Der Wind spielt auf den Saiten des Geistes und bringt diese zum Klingen. So schreibt William Wordsworth in Prelude (1805): »For I, methought, while the sweet breath of heaven / Was blowing on my body, felt within / A corresponding mild creative breeze, / A vital breeze which travell’d gently on […].«41 Im 1795 geschriebenen Gedicht The Eolian Harp stellt sich Coleridge die gesamte Welt als eine aus unterschiedlichen kleineren Windharfen bestehende alles umfassende Windharfe vor: »all animated nature may be but organic wind harps, diversely framed, through which sweeps ›one intellectual breeze‹ […].«42 Ergänzend kommen noch die tobenden Stürme hinzu, die nicht nur aus der Lethargie und Taubheit wachrütteln, sondern auch das Ausleben der im Inneren gefangen gehaltenen Leidenschaften ermöglichen. Percy Bysshe Shelley43 ruft den Wind dazu auf, durch ihn hindurchzublasen, als ob er eine Windharfe wäre, die zum Erklingen gebracht werden muss. Er fordert den Wind dazu auf, ihn in eine Leier zu verwandeln, damit er auf den empfänglichen Saiten seines Körpers und Geistes spielen kann. Er sehnt sich 39 Ebd., S. 38-39. 40 Vgl. Kapitel acht. 41 Zitiert in Abrams, The Correspondent Breeze, S. 40. 42 Ebd., S. 46. 43  Vgl. auch Harris, Weatherland, S. 249-255.

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danach, sich ganz dem Wind hinzugeben. Dabei wird die innere Erneuerung des Poeten direkt auf Wiederbelebung der äußeren Natur bezogen. Der Wind überwindet spielend jedes Hindernis, weht überallhin und spricht zu jedem. Dies kann auch als ein Traum umfassender und unmittelbarer Kommunikation gedeutet werden, dem man sowohl in der Passage aus der Apostelgeschichte als auch im Werk Vilém Flussers begegnet.44 In den meisten Gedichten der englischen Romantik verwandelt sich der anfänglich als wörtlich zu verstehende Wind in einen metaphorischen Wind der Inspiration. Shelley kehrt diese Sequenz um und lässt den metaphorischen Wind der Inspiration in einen Luftzug umschlagen, der auf ihn niederweht. Die englischen Autoren der Romantik nutzten genau diejenigen Eigenschaften des Windes, die ihn für die philosophischen, politischen und ästhetischen Anliegen ihrer Zeit besonders geeignet machten. Abrams verweist dabei auf drei zentrale Momente. Die Winde der englischen Romantik sind zwar unsichtbar, aber nicht unhörbar, was eine Kritik der Vorherrschaft des Auges zugunsten der anderen Sinne ermöglicht. Daher auch die enge Verbindung von Wind, Inspiration und Musik, die in der Metapher der Wetterharfe zusammenfinden. William Blake und Samuel Coleridge »warned repeatedly against ›the despotism of the eye‹ [and] attributed to an obsession with what is materially visible the diverse shortcomings of the eighteenth century, from its sensationalist philosophy to its theory and practice of the arts. The wind as an invisible power known only by its effects, had even greater part to play than water, light, and clouds in the Romantic revolt against the worldview of the Enlightenment.«45 Die Zentralität des Auges und die untrennbar damit verbundene Fixation auf das Gegenständliche sind Ausdruck einer Hierarchie der Sinne, die durch den zugleich unsichtbaren und immateriellen Wind grundsätzlich in Frage gestellt wird. Diese Privilegierung des Sehsinnes, die in der westlichen Philosophie dazu geführt hat, dass die anderen Wahrnehmungsformen verdeckt wurden, geht einher mit einer Vorherrschaft des Materiellen, Soliden und Festen gegenüber dem Geistigen und Immateriellen, dem Fließenden und Diffusen. In Serres’ und Flussers Windbeschreibungen stehen das Auditive und Taktile im Vordergrund. Serres verbindet damit eine explizite Kritik an der Vorherrschaft des Visuellen in der westlichen Kultur, der man auch bei 44 Vgl. Kapitel neun. 45  Abrams, The Correspondent Breeze, S. 51.

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Flusser begegnet. Serres erreicht eine Infragestellung dieser Situation durch eine Pluralisierung der Perspektiven, die das Visuelle nicht völlig ausschließt, sondern durch das Auditive und Haptische ergänzt und erweitert. Flusser stellt der aufs Visuelle ausgerichteten griechischen Kultur der Antike die jüdische gegenüber, bei welcher der Hörsinn im Mittelpunkt steht. Gott kann man nicht sehen, aber man kann ihn hören. Serres und Flusser benutzen die Unsichtbarkeit des Windes als eine Möglichkeit, einen anderen philosophischen Standpunkt einzunehmen, von dem aus die westliche Fixierung auf den Sehsinn sichtbar wird. Ingold führt noch die Dimension des Olfaktorischen ein, auf die ich am Ende dieses Kapitels zurückkommen werde. Der zweite von Abrams angesprochene Punkt betrifft den romantischen Versuch, den Menschen an seine natürliche Umgebung zurückzubinden, durch die er von Descartes’ dualistischem und mechanistischem Weltbild getrennt worden war. Dieser Aspekt spielt auch in Ingolds und Ōhashis Bemerkungen zum Verhältnis von Natur und Kultur im Zeichen des Windes eine Rolle und steht in Serres’ ökologischer Perspektive im Vordergrund, allerdings nicht in einem romantisierenden Sinne. Die Metapher der Windharfe zeugt von einer verlorengegangenen harmonischen Beziehung mit der natürlichen Umgebung und der Empfänglichkeit des Dichters für deren inspirierende Kräfte. »For not only are nature’s breezes the analogue of human respiration; they are themselves inhaled into the body and assimilated to its substance.«46 Dieser Rückbesinnung unter neuen philosophischen Vorzeichen begegnet man ebenfalls in Ingolds Überlegungen zur weather-world, auf die ich im nächsten Kapitel eingehen werde. Der romantische Wind ist schließlich auch eine Metapher der Wildheit, Ungezähmtheit und Freiheit. Der romantische Wind kann nicht kontrolliert werden, und ist selbst in seiner gemäßigtsten Form immer noch eine Bedrohung. Dennoch setzt sich in dieser Vorstellung schlussendlich das Moment einer übergeordneten Ordnung durch: »a most eligible model for Romantic activism, as well as an emblem of the free Romantic spirit […] a purifying revolutionary violence which destroys in order to preserve. The Romantic ideal, it should be added, is that of a controlled violence of a self-ordering impetus of passion.« 47 Abrams spricht von einem »sovereign order in rage«48 und zitiert 46  Ebd., S. 51. 47  Ebd., S. 51. 48  Ebd., S. 52.

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abschließend aus Coleridges Gedicht To Matilda Betham, in dem der Wind, zwar ein heftiger entfesselter Sturm ist, der die wild f latternden Blätter vor sich hertreibt, aber nicht ohne ein Moment der Selbst-Begrenzung auskommt.

Das Unsichtbare ins Hörbare übersetzen Alessandro Nova verweist in einem Essay, in dem es unter anderem um die Darstellung eines Schreis auf Nicolas Poussins Gemälde Gewitterlandschaft mit Pyramus und Thisbe geht, das von Leonardo da Vinci inspiriert wurde, auf die zentrale Bedeutung der akustischen Dimension in der europäischen Kunst. Im Falle Poussins umfasst diese den Klang des Windes und die Schreie der Figuren. Es handelt sich dabei, so Nova, um eine unabdingbare Perspektive für eine vertiefte und umfassende Interpretation von einigen der wichtigsten Kunstwerke der europäischen Kultur.49 Dass Nova diesen Aspekt gerade im Zusammenhang mit dem unsichtbaren Wind hervorhebt, ist nicht ohne hintergründige Ironie. Joris Ivens’ autobiographisch inspirierter Spielfilm Une histoire de vent (1988)50 ist nicht eine Geschichte des Windes, sondern eine Windgeschichte, eine Geschichte, in der sich alles um den Wind dreht. Der Film kombiniert Dokumentarisches mit Fiktivem, fantastische Traumsequenzen mit Aufnahmen aus der Peking-Oper. Zu Beginn des Filmes erscheinen ein paar kurze Zeilen auf Französisch. Darin ist die Rede von einem alten Mann, der in einem Land geboren und aufgewachsen ist, in dem die Menschen immer wieder versucht haben, das Meer zu zähmen und den Wind einzufangen (de dompter la mer et de maîtriser le vent). Die Hauptfigur, die ein Leben lang davon geträumt hat, den Wind zu filmen, beschließt auf den Spuren seiner geistigen Wurzeln nach China zu reisen. Ivens, der inzwischen 90 Jahre alt ist und an Asthma leidet, fühlt sich mit dem Wind auf besondere Art und Weise verbunden. Bronchialasthma ist eine chronische Erkrankung infolge einer akuten Verengung der Atemwege, die mit einer dauerhaften Überempfindlichkeit einhergeht und sich als Atemnot äußert. Asthma unterbricht die atembe49  N  ova, Vortice, S. 53. Vgl. auch M. Minssen, »Zur Phänomenologie des Windes und der Windmusik«, in: Phänomenologie der Natur, hg. von G. Böhme und G. Schiemann, Frankfurt am Main 1997, S. 232-252. 50  Vgl. Filmstelle VS ETH, Wind im Film, S. 49-54.

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dingte Beziehung zur Umwelt. In Zusammenhang mit dem Film nimmt die Krankheit eine metaphorische Dimension an. So versucht Ivens im Film, den äußeren Wind stellvertretend für den inneren unter Kontrolle zu bringen, um das Gleichgewicht von Ich und Welt wiederherzustellen. In der Schlusseinstellung wartet das gesamte Team inmitten einer Wüstenlandschaft auf den Wind, aber dieser bleibt aus. Erst als eine alte Frau auftaucht und den Wind zu beschwören beginnt, kommt es zur Erlösung. Der Wind beginnt zuerst nur ganz schwach zu wehen. Der alte Mann atmet so tief ein, wie er kann, und schreit in den immer stärker werdenden Wind hinein, er solle sein Asthma heilen. Als der lang ersehnte Wind seine schlohweißen Haare durchfährt und erfasst, ist er plötzlich für einen ganz kurzen Moment wieder eins mit dem Atem der Welt und dem Wind der Geschichte. Die Filmsequenz, um die es hier gehen soll, findet auf dem Gipfel eines hohen Berges statt, der alle anderen Berge in der Ferne überragt und den man nur nach langem mühsamem Aufstieg erreicht: ein magischer Ort, von dem aus die ganze Welt sichtbar und vor allem hörbar wird. Kurz vor der Abenddämmerung versucht Ivens, mit einem langen Stabmikrofon die vielen Stimmen des Windes auf Tonband zu bannen. Sie sollen zurück in den Windbeutel, aus dem sie entkommen sind. Dabei wird ihr Wehen in Klang übersetzt. Im Vordergrund sieht man die ausschlagende Nadel eines Aufnahmegeräts, eine Visualisierung der akustischen Windstärke, aber auch ein ironischer Kommentar zum ganzen Unterfangen. Jeder Wind, wie Rakusa festhält, hat dabei seine eigene Stimme und spricht die Sprache der Weltregion, in der er agiert, oder des Landes, aus dem er kommt: Arabisch, Chinesisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Holländisch, Hebräisch, Spanisch. Die Stimmen der Winde sind sowohl männlich als auch weiblich und die verschiedenen Sprachen gehen bruchlos ineinander über und vermischen sich wie in der Passage aus der Apostelgeschichte. Einige Fragmente dieser vielen Stimmen sind in den englischen Untertiteln eingefangen worden: »I am the wind of the Sierra Madre, I freeze and make you cry, but you desire me, for I am the suffering, which makes you exist […] I am the wind of the wheat-field, I laugh, I laugh, I laugh, I laugh all day long …I’m the forbidden circle, he who steps through will gasp for breath … I am the Föhn, the Devil of Gothic Europe … I am the Mistral, van Gogh went mad trying to paint me … The Tunisians call me Chili, the Egyptians, Khamsin … I am the dreaded Simoun … I’m El Nino, the moody, cruel Child of Argentina … My secret will, alas,

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never be told. Pay tribute to the keeper of secrets … I’m the One Day Lover. I’m the light breeze … I am the Mosque of Cadiz, I push the heavy air away from the city … I am the breath of the first day of creation, which floated on the waters.« 51 Die vielen unterschiedlichen Winde, die gleichzeitig in verschiedenen Teilen der Welt wehen, kann man hier nacheinander sprechen hören. Die personifizierten Winde sprechen in der ersten Person, sie sprechen dabei nicht nur nacheinander, sondern auch durcheinander und gegeneinander. Eine Stimme wird von der anderen überlagert und verdrängt, wie ein Wind, der einen anderen übertönt. Daraus entsteht ein überschichtetes, undurchdringliches, instabiles Stimmengewirr, das man auch bei mehrmaligen Hören nicht ganz zu erkunden vermag: Das Ganze wird von den atonalen stakkatoartigen fraktal anmutenden Sequenzern eines Saxofons begleitet, ein Hinweis auf die Schwierigkeiten des Unterfangens, das letztlich zum Scheitern verurteilt ist.

Die Stimmen des Windes In Serres’ Werk sind der Wind und der Atem, aber auch die Stimme, die Musik und die Sprache durchgehend miteinander verbunden und stehen allesamt im Zeichen der Übersetzung. Der Hörsinn ist dabei wichtiger als der Sehsinn. »Hören ist ein Modell des Wissens. Es ist auch dann noch aktiv und reichhaltig (riche), wenn das Auge sich verirrt oder einschläft. Es ist kontinuierlich, dort wo die anderen Sinne intermittierend sind.«52 Man hört nicht nur mit den Ohren, sondern mit dem gesamten Körper. Wir atmen die zaghafte und zarte Unruhe der Welt ein und nehmen sie zugleich mit allen unseren Poren und Geschmacksknospen wahr. Serres benutzt das Gegensatzpaar hart und weich, um das Verhältnis von Wind und Geist zu beschreiben. Die Übergänge können als Übersetzungsprozesse verstanden werden. Das griechische anemos »erzeugte das lateinische anima. Die weiche Seele kommt vom Wind.« Dasselbe gilt für das griechische pneuma, das vom harten Wind in die weiche Dimension des Geistigen überführt. 51 J. Ivens, Une histoire de vent (1988). 52 M. Serres, Genèse, Paris 1982, S. 23.

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»Das lateinische spiritus spricht von einem anderen Hauch, demjenigen des Geistes. Was das hebräische ruagh angeht, so bedeutet es ebenfalls ein Atemzug, insbesondere in der Genesis und schon mit dem ersten Wort, das von Gott auf die Gewässer des primitiven Tohuwabohu gesprochen wurde. Die Erde und das Universum kommen ihrerseits aus dem Wind. Das Weiche hat das Harte gezeugt: ein Wunder! […] Vom Wind sagt man heute gewöhnlich, dass er ein Nichts sei. Ein Schwätzer, der viel redet und nichts sagt, sondern bloß Wind verkauft.«53 Die Wörter, der drei erwähnten Sprachen hingegen, sagen alles, was es zu sagen gibt. »Spiritus: Hauch des Geistes, des Wortes, der Sprache, der einen Menschen zum Menschen macht; Anima: Seele, die ein Individuum zu einer bestimmten beseelten Person macht; Ruagh: Atem der Inspiration, göttliches kreatives Genie. Dieses Nichts brachte alles hervor, ein Wunder! […] Das Kostbarste des erfinderischen Lebens bewohnt den Wind.«54 In Hermes V. Die Nordwest-Passage benutzt Serres die gemeinsame fraktale Selbstähnlichkeit und Turbulenz des Windes und des Atems, um daraus eine mögliche Deutung der Stimme und der Sprache zu entwickeln. »Sollte der Wind gebrochen sein wie eine Sprache? Wie an dem Morgen, als der Heilige Geist, der Paraklet kam? Ist die Sprache, jede Sprache, zusammengesetzt wie ein Wind, wie ein Wirbel? Nicht nur die Worte für den Wind (les mots du vent), sondern der Hauch der Stimme, in allen Sprachen oder, besser gesagt, in allen Zungen. Am Pfingstmorgen teilt sich der Wind in kleine Zungen auf, seither wissen wir, daß der Wind immer aus solchen Fragmenten besteht (se fracte, ainsi, toujours). Jede Sprache, jede Stimme unterteilt (se fracte) sich in Vokale, die von den Konsonanten unterbrochen werden. Die Barriere der Zähne, des Gaumens, der Zunge detailliert, zerbricht, zügelt den Fluß des Atems, unseres eigenen Windes. Der Wind des Heiligen Geistes spricht ohne Zweifel in Zungen, und alle Winde tönen tatsächlich in allen Zungen. Die Sprache ist ein intermittierender Atem, der Wind ist wie sie ein intermittierendes Objekt. Ist die Sprache eine parasitäre Folge, die den Atem hindert, laminar zu sein? Der Schrei ist laminar, Heulen, Rufen Klagen, Jubeln sind laminar. Und dann das Halleluja und das Evohe: behindert, zerschnitten, 53 Serres, Habiter S. 38. 54 Ebd., S. 38.

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fragmentiert, intermittierend, unterbrochen, in kleine Laute zerlegt. […] Die Sprache erhebt sich wie der Wind.«55 Serres spricht in diesem Zusammenhang auch von Homöothetie. Homöomerie, vom altgriechischen ὀμοιομερής, homoiomerés, ›gleichteilig‹, geht von der Existenz unendlich kleiner homogener Bestandteile der Substanz aus, die mit einem Samen vergleichbar sind. Die von Anaxagoras eingeführte Vorstellung setzt sich von der Lehre der vier Elemente und von Demokrits Atomen ab. Die ›Samen‹ sind unendlich vielfältig, unterscheiden sich in Form, Farbe und Geschmack, können sich ineinander verwandeln und sind von Anfang an in allen Dingen vorhanden. Diese Konzeption verbindet sich mit Serres’ Metapher des grain, welches zugleich ein belebender informierender Windstoß und ein Weizenkorn ist. Der in immer kleinere Brisen zerfallende Wind entspricht dabei den Bestandteilen der Sprache und den zahllosen Zungen des Pfingstwunders. Serres’ umfassende kosmische Vision beruht auf einem Prinzip der durchgehenden metaphorischen Kontinuität, das alle Aspekte der Wirklichkeit zusammendenkt. Dabei spielt der Wind eine zentrale Rolle. So schreibt er in Musique: »Wir sind nicht die einzigen, die schreiben und lesen, kodieren, die Codes anderer entschlüsseln, sich von anderen dekodieren lassen […]. Alle Dinge auf der Welt tun dies wie wir: das Licht, der Wind, der Regen […]. Die Welt erklingt in einer gemeinsamen Sprache […].«56 Der Leib, der in seiner Umgebung eingetaucht ist, schwingt mit dieser mit. »Meine Emotionen folgen genau diesen beiden Wellenbewegungen: […] Atemlose Atemzüge und Pulsschläge, Gänsehaut und zitternde Hände.«57 In Biogée deutet Serres den Wind eines heftigen Sturmes, der auf einer Kletterpartie im HimalajaGebirge weht, als universellen Beweger, der alles in Vibration versetzt und dadurch den Menschen, die Tiere und die natürliche Umgebung zusammenführt. Die Stimme des Windes ist eine Stimme unter vielen anderen. Das Geheul der Schakale und der Wolfsrudel vermischt sich mit dem Heulen und Pfeifen des Windes und dem unablässigen Auftreffen des Eisregens auf der Zeltwand. »Der Wind breitet sich durch variable Wellen, Schläge, Interferenzen aus: donnert, explodiert, vibriert, pfeift hoch, klingt tief, lässt die 55  M. Serres, Hermes V. Die Nordwest-Passage, Berlin 1994, S. 144-145. 56 Serres, Biogée, S. 147. 57  Serres, Musique, S. 105.

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ganze Welt an seiner intensiven, regelmäßigen und chaotischen Trance teilhaben […]. Sein Hauch verbindet so seinen arrhythmischen Rhythmus mit dem Chaos seiner Windstöße, seine Richtung mit seiner Unordnung und den Klang mit dem Hintergrundlärm.«58 Der Wind spielt auf der Zeltwand und der Haut, als wären beide musikalische Instrumente. Diese Vibrationsemotion, »die in unseren Eingeweiden zittert, vibriert auf eine Art und Weise, die dem Pfeifen der Bisen und dem Heulen der Wölfe ähnelt […]. Ich höre die akustische Frequenz von Geräuschen, draußen, wie diejenigen, die im Inneren die Brust erschauern und erzittern lässt und unsere Beine ins Wanken bringt.«59 Alles vibriert und singt, auch »die wilden Stimmen unserer Bäuche.«60 Aus dieser Vision entwickelt er einen möglichen Ursprung der Stimme und der Sprache. »Dank dem Winde und durch ihn glaube ich zu verstehen, wie eine Sprache beginnt. Wir gehen auch vom Tohuwabohu aus, das eine Emotion im Unterbauch auslöst, und übersetzen sie durch Vokalisierungen, Klagen und Schreie, in Wellen ohne Folgen und ruckartige Rhythmen, die von regenartigem Schluchzen begleitet werden. Der Mund öffnet sich und gibt Windgeheul von sich. Die Lippen des Windes, dagegen, hauchen Gefühle aus.«61 Steht in Biogée das Taktile im Mittelpunkt, so geht es in Musique um eine Genealogie der Musik, der Stimme und der Sprache aus dem ursprünglichen Chaos. Der Wind spricht in den Blättern der Bäume: »›Unsere Stimmen kommen vom Wind und seinen pulsierenden Körnern (de ses grains vibrants), durch die Lungen der Welt und unsere.«62 Die umfassende zufällige Orchestrierung des Universums, die stochastischen Weltgeräusche tauchen plötzlich aus dem chaotischen Lärm-Meer in Form von Musik auf. Die körnige Wellenstruktur des Windes findet sich auch in der Musik wieder. Ein Beispiel dafür ist die Granularsynthese, eine Tonsynthesetechnik, die aus der Erzeugung eines Tonsignals besteht, das unterschiedliche Körner kombiniert. Der dadurch geschaffene Klang ist eine aus Körnern bestehende Wolke. Serres verwendet in diesem Zusammenhang auch das Bild eines Dornes (épine). Der Hintergrundlärm ist nicht nur zerklüftet und fraktal, sondern 58 Serres, Biogée, S. 97-98. 59 Ebd., S. 100. 60 Ebd., S. 104. 61 Ebd., S. 98. 62 Serres, Musique, S. 11.

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auch dornig. Der Wind glättet die Dornen des Chaos, so wie der musikalische Rhythmus die Dornen des Lärms glättet. Der Pulsschlag und die anderen Rhythmen des Körpers schwingen dabei wellenartig mit: »Herz, Puls und Neuronen, die Rhythmen der Hormonen […] Pulsieren von Stimmen, Schrittmaß […] Wellenform, Länge der Wellen und Wavelets (ondelettes). […] unsere äußerlich oszillierenden Körper, imitieren ihre tausend inneren Schwingungen.«63 So verwendet Serres für die oszillierenden, sich wiederholenden Bewegungen, welche die Welt windartig durchf luten, eine musikalische Metapher. Die vibrierenden Saiten, die Orgelpfeifen, Bläser, und Windkanäle folgen der Logik der Fuge, des Kontrapunkts, des Refrains und des Ritornells, die alle strukturell miteinander verwandt sind. Die Fuge ist ein musikalisches Kompositionsprinzip polyphoner Mehrstimmigkeit, bei der ein musikalisches Thema in verschiedenen Stimmen zeitlich versetzt wiederholt wird. Dabei wird es jeweils auf unterschiedlichen Tonhöhen eingesetzt. Der Kontrapunkt ist eine musikalische Notation, die ihren Ursprung in der im Mittelalter geborenen Polyphonie findet und aus der organisierten Überlagerung einzelner Melodielinien besteht. Wind und Musik sind Metaphern voneinander: vent musique und musique vent. Die Stimme übersetzt die Vibrationen des Wetters und des Körpers in hörbare Klänge und gleichermaßen übersetzt die Musik den Lärm in Rhythmen und Melodien. Die ursprüngliche Beziehung des Windes zur chaotischen Anfangssituation taucht in der Musik und ihrer windartigen Ordnung wieder auf. Welche Beziehungen bestehen zwischen unserer Musik, unseren Worten und »den Klängen der Welt, dem Gemurmel des Meeres, den Atemzügen des Windes in den Blättern […]?«64

Ventos – Stürme Wie Serres geht auch Flusser von den vieldeutigen Bezeichnungen für Wind und Atem in der griechischen, lateinischen und hebräischen Sprache aus, und dies auch weil unsere heutigen Worte, wie Serres vermerkt, die frühere Verbundenheit vermissen lassen. So schreibt er in »Nomadische Überlegungen« zum Zusammenhang von Atem und Sprechen: »Es ist etwas Gespenstisches, Geistiges daran, und es hat mit Atmen und Sprechen, diesen beiden 63 Ebd., S. 23. 64 Ebd., S. 107.

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Winden des Geistes, eine enge Verbindung. Früher gab man diesem grundlosen, bodenlos-unfaßbaren Erlebnis Namen wie ruach, pneuma oder spiritus, heute wird von immaterieller Kultur und Software gesprochen.«65 Flusser verbindet hier den Wind mit der nomadischen Erfahrung der Bodenlosigkeit und der Kommunikationsrevolution der digitalen Technologie, ein Zusammenhang, auf den ich im neunten Kapitel zurückkomme. Das Geistige, Gespensterhafte, das auch in Flussers Deutung der Wolke mitspielt, wird hier mit der digitalen Kommunikationsrevolution und der damit assoziierten neuen nomadischen Lebensweise verbunden. »Der Wind (hebr. ›ruach‹, gr. ›Pneuma‹, lat. ›spiritus‹)«, schreibt er in »Nomaden«, »ist zwar wahrnehmbar, aber nicht fassbar. Daher ist er unheimlich, das heißt: er ist im Heim, im Haus zu vermeiden. Alle Winde, Geister, Gespenster sollen ferngehalten werden. Nomaden hingegen sind im Wind da. […]. Wir nehmen den Wind vor allem dank Gehör wahr. Wir verfügen über Organe, die uns gestatten, nicht nur zu hören, sondern auch zu sprechen, d.h. Luftschwingungen zu kodifizieren. […] Die Kommunikation dank Luftschwingungen (die ›auditive‹) ist andern Kommunikationsformen (etwa der ›visuellen‹) nicht notwendigerweise überlegen. Aber da sie auf Wind beruht, und da Wind unfassbar ist, umgibt die Sprache eine seltsame Aura.«66 Auch der Sprache und der Stimme haftet etwas Geisterhaftes an. Die Essaysammlung Vogelf lüge, die 1979 zuerst auf Portugiesisch unter dem Titel Natural:mente. Vários acessos ao significado de natureza erschien, ist das Buch, in dem Flusser sich am ausführlichsten mit der natürlichen Umgebung aus einer phänomenologischen Perspektive beschäftigt. Neben Essays zum Flug der Vögel, dem Regen, dem Nebel, geht es auch um den Wind. Der Originaltitel des Essays, den ich hier untersuchen möchte, ist »Ventos«, ›Winde‹, was mit ›Stürme‹ übersetzt wurde. Flussers Zugang zum Wind verläuft ausschließlich über das Gehör. Seine philosophische Grundhaltung ist Distanzierung, das, was er an verschiedenen Stellen ›einen Schritt zurücktreten‹ nennt. Aus dieser Distanz heraus kann man in einem zweiten Moment auf 65 V. Flusser, »Nomadische Überlegungen«, in: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Bensheim 1994, S. 61. 66 V. Flusser, »Nomaden«, in: Kulturendialog mit Vilém Flusser, hg. von R. Duarte und Th. Friedrich, Berlin 2020, S. 149.

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sein Sujet zugehen, um es von verschiedenen Seiten und Perspektiven aus zu umspielen und zu umtanzen wie der Fotograf seinen Gegenstand. Dies ist gerade im Umgang mit dem Wind besonders schwer zu bewerkstelligen. Im Wind ist man fast immer mittendrin und wird dadurch meist in die Rolle eines Gegenstandes gezwungen. Man ist von seinem Wehen umgeben und badet in der bewegten Luft. Der Wind bleibt nicht stehen und weht nicht konstant in die gleiche Richtung. Er bläst einem ins Gesicht und bedrängt einen zugleich von den verschiedensten Seiten. Der Wind ist daher zuerst einmal ein haptisches Erlebnis, wie dies auch Serres wiederholt hervorgehoben hat. Um sich von der taktilen Erfahrung des Windes abzusondern, verlegt Flusser seine Ref lexionen ins Innere eines Hauses in der Provence. Es ist mitten in der Nacht. Damit ist auch jeder mögliche visuelle Zugang zum Wind von Anfang an ausgeschlossen. Der Wind soll allein als akustisches Phänomen wahrgenommen werden, ohne Beimischung anderer Sinneseindrücke. Flusser betreibt hier bewusst eine phänomenologische Reduktion, indem er alle Sinne außer dem Gehörsinn vorübergehend in Klammern setzt. Der stürmische Wind, höchstwahrscheinlich der Mistral, auch wenn Flusser ihn nicht beim Namen nennt – wohl um der Gefahr einer voreiligen Personifizierung und geographischen Lokalisierung zu entgehen – umtobt das verriegelte Gebäude, rüttelt an den Fensterläden, und versucht immer wieder einzudringen, aber ohne jeden Erfolg. In späteren Verwendungen der Wind-Metapher hebt Flusser gerade das Gegenteil hervor. So ist der Wind der Kommunikation, der unsere Häuser durchf lutet und überall eindringt, ein befreiender Wind, der uns miteinander und dem Rest der Welt verbindet. Die weitere Beschreibung führt vor Augen, wie schwer es ist, vom Wind in nicht personifizierender Manier zu schreiben. Der Sturm jagt um das Haus herum. In der portugiesischen Version ist die Rede von einer »fúria desesperada«, einer verzweifelten Wut.67 Das Haus verwandelt sich eine uneinnehmbare Festung, die den Elementen trotzt. Der Erzähler fühlt sich beschützt und vertraut der Solidität des Hauses. Der Wind dagegen versucht, die Fundamente des Hauses zu erschüttern, aber vergeblich. Dem Wind haftet in unserer durch und durch säkularisierten Welt immer noch etwas Gespenstisches und Geisterhaftes an: Das Heulen des um das Haus rasenden Windes ist der Vorbote einer bösen Botschaft und weckt in uns eine Angst, die wir immer noch, wenn auch nur noch sehr schwach 67  V. Flusser, Natural:mente. Vários acessos ao significado de natureza, São Paulo 2011, S. 125.

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nachempfinden können. Es ist die drohende Stimme eines strafenden Gottes. Der Sturm, hält Flusser weiter fest, ist zwar selbst ›blind‹, kann aber von der Meteorologie ›vorausgesehen‹ werden. Er ist zwar unsichtbar, kann aber wie jedes andere Ding auch gemessen, gewogen und im Raum lokalisiert werden. Diese rein naturwissenschaftliche Zugangsweise erweist sich in der Folge aber als einseitig und begrenzt. Der Wind lebt von einem unlösbaren Widerspruch. Er ist ein Ding, das zugleich unsichtbar ist, und verwirrt dadurch »unseren Begriff von der ›Wirklichkeit‹, die gesehen, nicht gehört wird.« Hinzu kommt, dass sichtbare Dinge in der Regel dem Verhältnis von Subjekt und Prädikat gehorchen. Im Satz ›Die Sonne scheint‹, ist die ›Sonne‹ das sichtbare Subjekt und ›scheinen‹ sein verbales Prädikat. Die Sonne strahlt Wellen aus und ist deswegen ein Substantiv. Die Beziehung zwischen Substantiv und Prädikat kann hier nicht umgekehrt werden. Ganz anders beim Wind, der selbst unsere grammatikalischen Kategorien durcheinander weht: »Dagegen kann der Satz ›Der Sturm rast‹ umgekehrt werden, das ›Rasen‹ Subjekt sein und ›stürmen‹ Prädikat. Der ›Sturm‹ ist wesentlich ein akustisches Phänomen (eine Lautwelle). […] Stürmen ist ein Verbum in Form eines Substantivs. Der Sturm ist streng genommen, unvoraussehbar, und zu sagen, daß der Sturm rast, ist eine Tautologie.«68 Spätestens hier wird deutlich, warum man sich in der deutschen Übersetzung für den Titel ›Stürme‹ und nicht ›Winde‹, was ja eigentlich die passendere Übersetzung für ›ventos‹ wäre, entschieden hat. Der Sprachunterschied ist hier entscheidend. »Mas a sentença ›o vento uiva‹ (der Wind heult) é reversível. ›Uivo‹ (das Geheul) pode ser sujeto e ›venta‹ (windet, von ventar, ›winden oder windig sein‹) o predicado.« In der deutschen Übersetzung wurde das portugiesische uivar, ›heulen‹, mit rasen übersetzt. Damit geht das akustische Moment, das hier eigentlich zentral ist, verloren. Der Wind ist sein Heulen und dieses weht und windet. Ein weiterer Unterschied zwischen dem portugiesischen Originaltext und der deutschen Übersetzung, mit noch weitreichenderen Folgen betrifft die beiden letzten Sätze des Zitates. »Stürmen ist ein Verbum in Form eines Substantivs. Der Sturm ist streng genommen, unvoraussehbar, und zu sagen, dass der Sturm rast, ist eine Tautologie.« Im Original steht dagegen: »O vento é o próprio verbo, embora substantivado. A rigor, o vento é impredicável. Dizer que o vento uiva é dizer tautologia.« Wörtlich übersetzt: Der Wind ist das Verb selbst, obwohl 68  Flusser, Vogelflüge, S. 93.

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substantiviert. Streng genommen ist der Wind nicht prädizierbar. Zu sagen, dass der Wind heult, ist eine Tautologie. ›Unvoraussehbar‹ ist auf Portugiesisch imprevisível nicht impredicável. Es geht hier nicht darum, dass der Wind nicht (immer) voraussehbar ist, sondern, dass er sich nicht wie ein sichtbares Ding verhält, dem ein prädizierbares Substantiv entsprechen würde. Darin liegt gerade die epistemologische Provokation des Windes, der sich als empirisches Phänomen klaren Zuordnungen verwehrt, was in der portugiesischen Sprache, aber nicht in der deutschen (und englischen) seine Spuren hinterlassen hat. Dem englischen wind und dem deutschen Wind, entspricht kein Verb. ›To wind‹ bedeutet ›sich winden‹. Portugiesisch, Spanisch, Italienisch und Französisch hingegen haben vento / vent und ventar, ventare, venter, ›lüften‹. Diese sprachliche Asymmetrie erinnert an die von Serres betonte Gleichzeitigkeit von ›Zeit‹ und ›Wetter‹ in den romanischen Sprachen (temps, tempo). Es gibt Dinge in der Natur, die sichtbar, aber nicht hörbar sind, weil sie zu weit von uns entfernt sind, so z. B. die Sonne, die Sterne und alle anderen Himmelsphänomene. Flusser nennt sie im portugiesischen Original »Coisas ›substantivas‹«.69 Der Sehsinn trennt uns von den Dingen, während das Gehör uns in sie eintauchen lässt. »Die sichtbare Welt (mundo visto) umgibt uns (é circumstância), an der gehörten Welt nehmen wir teil (é mundo participado). Die Dinge der Natur, die hörbar, aber unsichtbar sind wie der Sturm (furacão, ›Hurrikan‹) und die Brise dringen in unsere Nasenlöcher, unseren Mund und unsere Poren ein. Es sind Dinge in der Form von Verben, nicht Substantive (coisas verbais, não substantivas).«70 Es sind Stimmen, die uns rufen, in entgegengesetzter Richtung zu unserer eigenen Stimme strömen und viel stärker sind als diese, aber dennoch dasselbe sind wie unsere Stimmen. Wir können sie mit den Augen nicht betrachten, weil sie in uns eindringen und uns daher zu nahe sind. Der Hörsinn bringt uns die Welt näher, dadurch dass diese in vielfacher Form in uns eindringt. Die coisas verbais sind nicht nur unsichtbar, sondern auch unvorstellbar, deswegen läuft unsere Beziehung zu ihnen nicht über die Imagination wie bei den coisas substantivas, sondern gestaltet sich als dialogisch. Flusser unterscheidet in der Folge zwei aus diesem Unterschied abgeleitete Grenzen der Natur und zwei Formen des Heiligen: die Grenze der sichtbaren, aber unhörbaren, unnahbaren, substantivischen Dinge und die 69 Flusser, Natural:mente, S. 127. 70   Flusser, Vogelflüge, S. 93-94.

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Grenze der hörbaren, aber unsichtbaren, unvorstellbaren, verbalen Dinge. »Die erste kann ›geisterhaft‹ genannt werden, wenn wir unter ›Geist‹ eine geräuschlose Erscheinung verstehen, die zweite ›geistig‹, wenn wir mit ›Geist‹ einen unvorstellbaren Hauch meinen.« Beide Formen sind technisch und theoretisch überwunden, und dadurch auch weitgehend entzaubert worden. »[…] Winde treiben seit langem Mühlen und Segel an. Aus Geistern, die nach Belieben blasen, wurden Kräfte, die nach unserem Willen blasen.«71 Der leise ironische Anhauch ist unmissverständlich. Im zweiten Teil des Essays wendet sich Flusser der existentiellen Seite des Windes zu. In gewissen Nächten, wenn der Wind draußen »wie eine verzweifelte Furie«72 tobt, kann man die Stimme der Sakralität des Windes noch hören. Die Stärke der Hausmauern und das moderne theoretische Wissen wenden zwar die Botschaft des Windes ab, können diese aber nicht ganz zerstreuen und zerstören. Diese Botschaft aus der Vergangenheit besteht aus zwei entgegengesetzten und letztlich nicht synthetisierbaren Denktraditionen, die jedoch zugleich immer auch Elemente aus der anderen enthalten: die jüdische Tradition der Stimme, des Gebots, des Verbums und der existentiellen Entscheidung und die griechische Tradition des Bildes, der Idee, des Substantivs, und der spekulativen Metaphysik. Es geht dabei nicht so sehr um das Dilemma von Sturm (vento) und himmlischem Ding (coisa celeste), von olam haba (›die kommende Welt, nach dem Tod oder nach dem Kommen des Messias am Ende der Tage‹) und topos uranios (›der himmlische Ort, an dem alle Ideen der Dinge auf bewahrt sind‹). Es ist das viel ältere Dilemma zwischen Hören, Sich-Berufen-Fühlen und Entscheiden, auf der einen Seite und Sehen, den Schleier lüften, um die Wirklichkeit zu betrachten (contemplar) auf der anderen, d.h. die für die westliche Kultur konstitutive Spannung zwischen der jüdischen und der griechischen Welt. Wie schon ausgeführt, sind die auf der griechischen und römischen Tradition beruhenden Winddarstellungen der Antike und des Mittelalters weitgehend visuell ausgerichtet. Aus diesem Grund wurde auch die Unsichtbarkeit des Windes zum Hauptproblem. Flusser hat an verschiedenen Stellen auf den zweifachen Ursprung der westlichen Kultur hingewiesen, auf deren doppelte, jüdisch-christliche und griechische Ausformung. Die beiden Momente stehen dabei zwar in einem 71 Ebd., S. 94. 72  Ebd., S. 95.

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komplementären, aber auch immer wieder konf likthaften Verhältnis zueinander, wobei das Jüdische oft in die Rolle des Verlierers gezwungen worden ist. Flusser geht in seiner Kommunikologie von zwei grundsätzlichen Dialogformen aus, dem griechischen Kreisdialog, der sich um eine leere Mitte herum abspielt, und dem jüdischen Netzdialog. Der Kreisdialog interessiert sich vor allem für die Theorie, für Ideen und neue Informationen. Bei Netzdialogen stehen das existentielle Problem des Todes und der Absurdität des Lebens sowie das Verhältnis zum anderen im Mittelpunkt. Bei einer jüdischen Kommunikationstheorie geht es weniger darum, Ideen sichtbar zu machen, als auf die Stimme des anderen zu hören und zu antworten. Erkenntnis ist hier stets mit der Anerkennung des anderen und der Selbsterkenntnis im anderen verbunden. Eine Synthese der beiden Momente ist im Laufe der Geschichte des Westens nicht zustande gekommen. Die weitaus erfolgreichere griechische Dialogform, die Flusser mit den Errungenschaften der Wissenschaften in der Neuzeit und Moderne verbindet, hat darüber hinaus verhindert, dass man sich nachhaltig mit dem Netzdialog beschäftigte. Das Visuelle hat sich gegenüber dem Auditiven auch im Zusammenhang mit dem Wind erfolgreich durchgesetzt. Wenn man daher den Wind als Ding betrachtet und auf dessen Sichtbarmachung aus ist, bewegt man sich innerhalb der visuell ausgerichteten griechischen Kultur. Wenn man aber auf den Wind hört, und dessen Stimme zu interpretieren versucht, positioniert man sich in einem jüdischen Kontext, was weitreichende Folgen auch für unser Verhältnis zur natürlichen Umgebung hat. Denn diese kann als sichtbares Objekt wahrgenommen werden oder aber als möglicher Dialogpartner, auf dessen Stimmen es zu achten gilt. Der Wind heult und spricht zu mir. Er ist nicht etwas, sondern jemand, »dem ich Antwort schulde, er ist ein Du, der mich mahnt, Ich zu sein. Als Du ist der Sturm unvorstellbar, unbegreif lich, nicht erkannt und nicht manipulierbar. Er soll gehört, empfangen, anerkannt und befolgt werden. Wenn der Sturm vorgestellt, begriffen, erkannt und manipuliert wird, wie es in der Technik und der Theorie der Fall ist, hört er auf Sturm zu sein, und wird zur Bewegung der Luft, wird ›objektiviert‹. Der Sturm ist aber kein Ding; er ist mein anderer. Er ist nicht, er existiert.« Flusser verweist in diesem Zusammenhang auf Martin Bubers Philosophie des Dialogs und Angelus Silesius’ Vorstellung von Gott als jemandem, auf den man hört und mit dem man spricht. »Der Sturm ist Sturm für mich, wenn ich ihm erlaube, Sturm zu sein.« Dadurch wird er zu einem Rätsel. Die Technik und die moderne Meteorologie machen

6. Die Sprachen des Windes: Übertragung und Übersetzung

den Wind vorstellbar, begreif bar und mathematisch kalkulierbar, indem sie ihn in ein Problem der Aeronautik und der Physik verwandeln und ihn zu einer bloßen Bewegung der Luft objektivieren, »zu einer in Dezibel meßbaren Vibration.«73 Dadurch aber verliert der Wind seine Stimme und verstummt. In dieser windigen Nacht, »wenn er als verzweifelte Furie um mein Haus rast, spricht der Sturm, weil ich bereit bin, ihn anzuhören.« Er bedeutet dabei nichts, er befiehlt (nada indica: impera): »Höre!«74 Obwohl ich mich im Haus geborgen fühle, versuche ich dem Wind zu erlauben, »daß er zu mir spricht, damit er in mich dringt, ohne mich zu durchdringen. […] Der Sturm muss ganz stark heulen, damit ich ihn ganz schwach noch höre.«75 Denn er muss die naturwissenschaftlichen Vorstellungen, die meine Wahrnehmung verstellen und bedingen erfolgreich durchdringen. Es ist noch wichtig, hier festzuhalten, dass Flusser damit den naturwissenschaftlichen Standpunkt nicht einfach negiert. Vielmehrt geht er von einer spannungsvollen Erfahrung des Windes aus, die zwischen einem intellektuellen und einem existentiellen Verständnis oszilliert, um diese miteinander zu verbinden und zu versöhnen. In den letzten Abschnitten erforscht Flusser weitere Aspekte des Windes. Der Wind ist die Bewegung eines Gases, das zugleich bodenlos und strengen meteorologischen Regeln unterworfen ist. Wie er festhält, haben ›Gas‹ und ›Chaos‹ die gleichen etymologischen Wurzeln. Das Wort ›Gas‹ wurde 1648 vom Brüsseler Chemiker J. B. van Helmont (1579–1644) für durch Kälte entstandenen Wasserdunst verwendet. Helmont lehnte sich dabei an das griechische Wort χάος, ›Chaos, leerer Raum‹ an, das im Holländischen sehr ähnlich ausgesprochene wird. Neben dieser phonetischen Verwandtschaft sind die beiden Worte auch semantisch verwandt. Der gasförmige Hauch ist genauso substanzlos wie das griechische Chaos. Flussers Hinweis auf die Bodenlosigkeit des Windes deutet zudem auf die spätere Verwendung der Windmetapher für ein neues bodenloses Leben im globalen digitalen Nomadismus hin.76 Die Erfahrung des Windes bedeutet eine Öffnung. »Weil das Chaos, von dem der Sturm zu mir spricht, nicht die Brownsche Bewegung im Gas ist (o acaso de um movimento browniano, ›der Zufall einer Brownschen Bewegung‹). Es ist das heulende ›Chaos‹. So interpretiere ich die Botschaft 73 Ebd., S. 96. 74 Ebd. 75 Ebd., S. 97. 76 Vgl. Kapitel neun.

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(esta é a interpretação que dou a mensagem do uivo, ›so interpretiere ich die Botschaft des Heulens‹): ›And this is all the wisdom I can reap: I came like Water and like Wind I go‹.«77 Das leicht abgeänderte Schlusszitat stammt aus der 28. Strophe des Rubáiyát von Omar Khayyám in der Übersetzung von Edward Fitzgerald.78 »With them the seed of Wisdom did I sow, / And with mine own hand wrought to make it grow; / And this was all the Harvest that I reap’d – / I came like Water and like Wind I go.« In der chinesischen Philosophie des Feng-Shui steht Feng für Wind, Luft, Gas, Wolken und Stürme und Shui für Wasser, Seen, Flüsse und alles, was f ließt und sich verändert. Der Vers kann als rätselhafte Botschaft über die Veränderbarkeit der menschlichen Existenz gelesen werden. Man kommt als formbares und f ließendes Wasser auf die Erde und verschwindet am Ende wieder wie ein Wind, ohne Spuren zu hinterlassen.

Wind und Geruch ›Witterung‹, ist eine Ableitung von ›wittern‹ und wird für Wind und Wetter und den allgemeinen Zustand der Atmosphäre verwendet. Im Gegensatz zu ›Wetter‹ bezeichnet es meist einen längeren Zeitraum. Das Verb ›wittern‹ ist eine Ableitung von Wetter, wobei das ›i‹ der Stammsilbe möglicherweise auf die verwandten ›Gewitter‹ und ›gewittern‹ zurückgeht. Bis ins 18. Jahrhundert bedeutete ›wittern‹ irgendeine Art von Wetter. Es bezeichnete auch die Fähigkeit, Kommendes vor seinem Erscheinen wahrzunehmen, so wie große Ereignisse sich dem Wetter vergleichbar schon aus der Ferne ankündigen. Im metaphorischen Sinn kann es auch das Hallen von langanhaltenden Geräuschen und das Schimmern von unbestimmten Lichterscheinungen bedeuten. ›Wittern‹ bedeutet darüber hinaus auch spüren. Gewisse Tiere können ihren Tod ›wittern‹, so wie man ›wittern‹ kann, wie das Wetter sein wird. ›Witterung‹ hat daher auch mit Geruch und dem Geruchssinn zu tun. In der Jägersprache steht das Wort für die vom Wind transportierten Ausdünstungen von Tieren, die von anderen Tieren wahrgenommen werden können und die Fähigkeit der Tiere, mit dem Geruchssinn etwas für uns nicht 77  Flusser, Vogelflüge, S. 98. 78 Vgl. O. Khayyám, Rubáiyát Six Plays of Calderon, übers. v. Edward Fitzgerald, London und New York 1935.

6. Die Sprachen des Windes: Übertragung und Übersetzung

Wahrnehmbares zu erspüren. In der Umgangssprache bedeutet ›von etwas Wind bekommen‹ ein Geheimnis erahnen. Der Wind transportiert Botschaften, die auf mögliche Ursachen hindeuten. ›Witterung‹ ist die diffuse intuitive Fähigkeit eines Menschen, etwas Unsichtbares zu spüren, wobei es hier weniger um die ursprünglich olfaktorische Bedeutung geht, als um so etwas wie ein sechster Sinn. In der alten Bergmannssprache wurde Witterung für die sich über Erzgängen herausbildenden Dämpfe verwendet, eine Art unterirdisches Wetter. ›Verwittern‹, ›durch Wittereinwirkung zerfallen und zerbröckeln‹, ist zuerst im 18. Jahrhundert als bergmännisches Wort bezeugt, und wurde ursprünglich nur auf den Verfall von Mineralien bezogen. Der Vorgang der ›Verwitterung‹ schließlich bezeichnet die langsame Zersetzung fester Körper unter dem Einf luss der Luft und der Feuchtigkeit. Das semantische Feld von ›Witterung‹ und ›wittern‹ umfasst das Wetter und die Zeit, den Geruchsinn und die Gerüche sowie das Diffuse, Unbestimmte und Unsichtbare, aber nicht desto weniger Vorhandene, wenn auch noch in der Ferne, die intuitive ursprünglich olfaktorische Antizipation von Kommendem und den zermürbenden zerstörenden Aspekt des Windes. Das Wort ›Witterung‹ bezeichnet zudem den f ließenden Übergang von empirisch feststellbaren Phänomenen zum Unsichtbaren und Abwesenden. Reed weist auf den gemeinsamen ontologischen Status von Parfums und Dünsten hin, die beide von der Einwirkung der Winde abhängig sind: »Vapeurs like perfumes are situated between presence and absence.79 Winde transportieren Gerüche und informieren damit über noch unsichtbare, weit entfernte, aber durchaus reale Gefahren. Sie fungieren dabei als Übersetzer auch im Sinne des Transfers im Raum. Winde agieren in einer hybriden Zwischenzone und hinterlassen dabei Spuren, die sich zugleich in der Luft und am Boden ablagern. Die Winde agieren in einer Übergangszone, die vergleichbar ist mit den von Didi-Huberman untersuchten turbulenten Körperrändern im Werk Botticellis und Ghirlandaios. Ingold beschreibt diese durchwindete unbestimmte Übergangszone zwischen Himmel und Erde als ein Ort des kontinuierlichen Austausches. »Precisely because of the indeterminacy of the interface between substances and the medium, the same line of movement can register concurrently on the ground as a trace and in the air as a thread, such as when an animal is linked

79 Reed, Romantic Weather, S. 249.

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to the hunter by both its track and its scent.«80 Wie Chris Low hervorhebt, auf den sich Ingold explizit bezieht, überträgt der vom Wind transportierte Geruch die »essence […] or potency of the animal. […] there is a very real sense in which wind is a scent thread.« 81 Wenn man sich auf der Spur oder im Geruch eines Tieres befindet, ist man mit diesem Tier verbunden. Gerüche dienen als Erkennungsmittel, sie verbinden die Spuren mit der unsichtbaren Quelle. Low untersucht die epistemologische and ontologische Bedeutung des Windes in der Kultur der südafrikanischen Khoisan Volksgruppe und geht dabei der Frage nach, wie dieser die kollektive und individuelle Wahrnehmung der Realität strukturiert. Für die Khoisan verbindet der Wind die Jäger mit ihrer Beute wie ein Faden, der von einem Körper zum anderen führt. Winde, Atemvorgänge, Gerüche und Pfeile gehören zu einem einzigen Vorstellungskomplex. »Wind in its many guises is an invisible gift […]. The gift is not identical but specific. Each living entity has its own wind or smell which is a personalized expression of the breathing divinity and self evident in the act of respiration. Different winds define a particular sort of life […]. There is continuity between the wind that blows and the wind that people breathe and the winds that move between people, certain animals, and possibly some plants. Wind, often equally conceived as smell, can move between phenomena, embedding itself in the perceiver. The smell is a living connection between one organism and another, enabling one essentially to become the other.«82 Der Wind und die vom ihm transportierten Gerüche verweben alle Lebewesen miteinander. Wie in der Pneuma-Konzeption, die ihren Ursprung in der Antike hat, sind die makrokosmische und die mikrokosmische Ebene, der Wind, der in den Bäumen weht, und der Wind, der die Körper bewegt, zwar verschieden voneinander, aber miteinander verwandt und ineinander über-

80 T. Ingold, Being alive. Essays on Movement, Knowledge and Description, Routledge 2011, S. 121-122. 81 Ch. Low, »Khoisan Wind. Hunting and Healing«, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 13 (2007), S. 75. Vgl. dazu auch D. Parkin, Wafting on the Wind. Smell and the Cycle of Spirit and Matter, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 13 (2007), S. 39-53. 82 Ebd., S. 71-72.

6. Die Sprachen des Windes: Übertragung und Übersetzung

setzbar.83 Der Wind windet und schlängelt sich mäandernd durch die Landschaft und wirbelt Luft und Erde durcheinander. »The wind, too, mingles with substance as it blows through the land, leaving traces of its passing in tracks or trails. We could say of the wind that ›it winds‹, wending its way along twisted paths as do terrestrial travellers. These paths are often likened to ropes.«84 Der Wind beeinf lusst das Wachstum der Nahrungspf lanzen und transportiert Informationen. Sein Heulen sagt dem Raubtier, wo es Menschen finden kann und den Khoisan, wo ihre Jagdbeute ist. Der hybride Bereich zwischen dem Boden und dem Himmel, der Erde und der Luft, der metaphorisch mit der Zwischenzone der von Luft umgebenen Haut verwandt ist, übersetzt die beiden Dimensionen ineinander. Es ist ein liminaler Ort des Sowohl-Als-Auch und des Weder-Noch. Ingold unterscheidet zwischen zwei Spurenarten, threads, Fäden in der Luft, und tracks, Fährten, Pisten, Fußspuren am Boden. Letztere bilden sich nicht direkt auf dem Boden, sondern in dessen Nähe. Ihre Ambivalenz besteht in ihrer doppelten zugleich terrestrischen und luftigen Natur. Der Boden als Oberf läche »undergoes continual formation within an unstable zone of interpenetration in which the substances of the earth mingle and bind with the medium of air. […] the track or path is as much an aerial phenomenon as a terrestrial one […] not only impressed in the earth but suspended in the currents of wind and weather. […] ›Near‹ the ground surface, it is not quite of the earth and not quite of the air, but of both simultaneously. The synonymy between the wind of the meandering path and the wind of the swirling air may, then, be more than accidental.«85 Die beiden Linien sind leicht ineinander umwandelbar. In diesem Übergangsbereich übersetzen sich Luftfäden in Fährten und umgekehrt und verwischen damit den Gegensatz von Luft und Erde. Diese Überschneidung und Durchdringung ergeben sich auch für den Körper des Gehenden. Ein Schritt folgt auf den nächsten, so wie ein Atemzug den anderen ablöst. »If 83 Vgl. dazu Kapitel sieben. 84 T. Ingold, »Earth, Sky, Wind, and Weather«, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 13 (2007), S. 33. 85  T . Ingold, »Footprints through the weather‐world. Walking, breathing, knowing«, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 16 (2010), S. 130.

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the path is at once a trace and a thread, both on the ground and in the air, so too the pedestrian body simultaneously walks and breathes.«86 Es ist der durch den Wind transportierte Geruch, der Jäger und Beute miteinander verbindet. Die Atmosphäre ist ein unsichtbares Netz von Ausdünstungen verschiedener Tiere. In der folgenden Passage kommt zum Geruchsinn noch der Tastsinn hinzu. »The thread is essentially one of scent – the smell of the animal wafted through the air. As every animal has its distinctive smell, the whole environment is riddled with such scent-threads, binding its human and non-human inhabitants into an intricate web and percolating the very depths of their awareness. People even spoke of the threads as vibrating inside them, making a ringing sound. In tracking an animal whose scent is wafted towards you, it is essential to move against the wind, lest the animal be alerted to your intentions. Thus you start at the end of the thread and gradually wind it up, leaving the trace of your movement behind you as you advance on your quarry.«87 In dieser Vorstellung werden die Grenzen zwischen der äußeren Welt und dem Körperinneren aufgehoben. Der Geruch, dem zugleich eine taktile und eine akustische Dimension zukommt, spielt dabei eine mehrfache Übersetzerrolle.

Winde als engelhafte Übersetzer In diesem letzten Abschnitt möchte ich auf den Engel als Verkörperung des Windes zurückkommen. Diese Figur stellt in einer Philosophie des Windes so etwas wie ein Leitmotiv dar. Die Engel der mittelalterlichen Winddiagramme waren in eine hierarchisch konzipierte Struktur eingebunden, in der wohl geregelte Hauptwinde anarchischen Nebenwinden gegenüberstanden. Deren Aufgabe war es, die untergeordneten Nebenwinde in ihre Grenzen zu weisen, um dadurch die Stabilität des Ganzen zu garantieren. Bei Serres hingegen stehen die Windengel im Zeichen der Übersetzung, d.h. im Zeichen der Veränderung. Sie sichern den kontinuierlichen weltweiten 86 Ebd., S. 131. 87 Ebd., S. 131.

6. Die Sprachen des Windes: Übertragung und Übersetzung

Austausch und tragen dadurch zu dessen Funktionieren bei. Bei der Übersetzung geht es um Über-tragung, um Transport und zugleich um Verwandlung. Die Winde sind Agenten des Transfers und der Transformation. In Serres’ Die Legende der Engel sind die Winde Boten, Träger von Informationen, welche neue Relationen schaffen. »Jeder Engel ist Träger einer oder mehrerer Relationen; nun gibt es aber Myriaden von Relationen, und jeden Tag erfinden wir neue; was uns fehlt, ist eine Philosophie dieser Relationen.«88 Da Winde weder Dinge noch Lebewesen sind, geht es darum, Netzwerke aus Wegen (entrelacs de chemins) zu entwerfen, anstatt Netze (réseaux) aus Dingen oder Lebewesen zu knüpfen. Serres’ Engel sind mehrfach hybride Gestalten, die gegensätzliche Eigenschaften kumulieren: »Cherubim mit mehreren Körpern, physisch, lebendig, menschlich, künstlich oder ideal … Austauscher, Schleusenkammern oder Schlüssel […]. Individuell und vielfältig; erschienene, verschwundene, sichtbare und unsichtbare Boten, die Botschaften und Kommunikation hervorbringen; Geister und Körper, spirituell und physisch, beiderlei Geschlechts und geschlechtlos, natürlich und technisch, kollektiv und sozial, in Unordnung und Ordnung befindlich; Erzeuger von Rauschen, von Musik, von Sprache; Vermittler, Austauscher, in den natürlichen und künstlichen Dingen enthaltene Intelligenz […].«89 In Genesis 28, 11-12 träumt Jakob von einer Himmelsleiter, einer breiten vom Himmel bis zur Erde reichenden Treppe, auf der die Engel kontinuierlich zum Himmel hinauf und wieder zur Erde heruntersteigen. Serres deutet dieses Bild im Sinne des vermittelnden Informationsaustausches und der ununterbrochenen Übertragung und Übersetzung zwischen Himmel und Erde. In der französischen Fassung benutzt Serres im Gegensatz zur Einzahl ›Hauch‹ in der deutschen Übersetzung das Wort souff les in der Mehrzahl, welches zugleich den Atem und den Wind umfasst, den Körper und die Welt. »Masse von Engeln, Gewimmel, Menge, Armee, Trupp, Zug, Prozession … Chaos, das sich nach und nach ordnet und aus dem zuweilen Individualisiertes auftaucht. Die Engel steigen die unermessliche Leiter oder den endlosen Strom hinauf und hinab […] ein allgegenwärtiger Wind aus Milliarden winzigen, immer schwächeren Böen, ein vielfältiges, allenthalben ver88  M. Serres, Die Legende der Engel, Frankfurt am Main 1995, S. 293. 89 Ebd., S. 296.

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bundenes Strömen, f lüchtige Bewegungen, die das Universum zusammenhalten«, zugleich physisch und geistig, zugleich »bewegte Strömungen im Ozean oder in der Atmosphäre« und dem Klima, »Geister und weltliche oder immaterielle Botschaften«90, welche die Welt zusammenhalten.

90  Ebd., S. 295.

7. Der Atem der Welt: Wind und Körper »Respiration disrupts any boundary between earth and sky.« Tim Ingold, The eye of the storm Die antike Pneumavorstellung deutete die Luft und den Atem als Einheit und verband den Makrokosmos der Welt mit dem Mikrokosmos des Leibes. Ein Teil dieser umfassenden Vision betraf auch die Entstehung von Erdbeben, die auf den Einf luss von Winden zurückgeführt wurden. So wie der menschliche Körper durch interne Luftzirkulation erzittern konnte, sorgten in der Tiefe der Erde eingeschlossene Winde für eine Erschütterung der Erde. Diese Konzeption wurde im Laufe der Neuzeit aufgegeben. Damit verlor sich die Idee eines zusammenhängenden körperlichen Lufthaushaltes, der von einer grundlegenden Durchgängigkeit des Körpers nach außen und nach innen, aber auch von oben nach unten ausging. Das Atmungssystem und der Darmwind1 wurden in dieser Konzeption als die beiden Seiten eines einzigen körperlichen Ausgleichsprozesses verstanden. An dessen Stelle trat ein in sich geschlossenes von der Welt getrenntes Körper-Subjekt, welches der natürlichen Umgebung als quantifizierbares und manipulierbares Objekt gegenübertrat. Gegen diese Abspaltung wandten sich unter anderem die Romantiker, die auf den Wettercharakter der Gefühle und die Verbindung von innerem und äußerem Klima hinwiesen. Die frühere Verbindung von physiologischen und affektiven Leibesvorgängen hatte sich jedoch bis dahin zugunsten einer entkörperlichenden Sicht der Emotionen verschoben, welcher der innere Lufthaushalt zum Opfer fiel. In der Philosophie Serres’ und Ingolds kehrt die Vorstellung der Verbundenheit des Menschen mit seiner natürlichen Umgebung im Zeichen des Windes wieder zurück, ohne allerdings das frühere Modell des Makro- und 1  Vgl. Cartier, Der Wind, S. 51-55.

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Mikrokosmos wiederzubeleben. Bei Serres ist es die umfassende chaotische Welt der fraktalen Flüsse, in denen der Atemvorgang nur eine mögliche Erscheinungsform unter vielen anderen darstellt. Ingolds Konzept der weatherworld, die uns von allen Seiten umgibt, basiert ebenfalls auf dem Luftaustausch des Menschen mit seiner natürlichen Umgebung. So durchbricht jeder Atemzug die künstliche Grenze zwischen der Erde und dem Himmel, und diejenige zwischen dem Leib und der Welt. Beide Philosophen weisen darauf hin, dass die Entzauberung des Himmels und die Entwicklung einer naturwissenschaftlichen Meteorologie zusehends mit einer Lebensweise Hand in Hand gehen, die sich vermehrt in geschlossenen Räumen abspielt, im Inneren von Wohnungen, in Einkaufszentren, Flughäfen und klimatisierten Malls.

Innere und äußere Winde In der pneumatischen Sicht der Dinge konstituieren die Luft und der Atem ein Beziehungsgef lecht, das den Leib und die Welt zusammenhält. Das griechische anemos wurde für den äußeren Wind, aber auch für die inneren Winde verwendet.2 So wie der Wind die Erde durchströmt, durchf lutet der Atem den menschlichen Körper. Neben der eingeatmeten Luft gingen die ersten Pneumatiker von einem inneren Pneuma aus, welches durch Reibung Wärme erzeugte, die durch die eingeatmete Luft abgekühlt werden musste.3 Bei Anaximenes ist die Wind-Atem-Gleichung zwar schon angedeutet, aber noch nicht voll ausgesprochen. Nur in einem der Fragmente ist die Rede vom innigen Verhältnis von aër und Pneuma. »Wie unsere Seele, die Luft ist, uns beherrschend zusammenhält, so umfaßt auch die ganze Weltordnung Hauch und Luft.«4 Der Zusammenhang von Seele und Welt ist ein späterer Gedanke. In der Stoa ist das pneuma zugleich spiritus sacer und anima mundi, Weltseele und ein göttliches Gas, das die materielle Welt durchdringt, den Leib durchf lutet und die individuelle menschliche Psyche konstituiert. Aufgrund dieser Verbindung wurden Wetter und Gefühl zusammengedacht. Bei Lukrez spielt der Wettercharakter der Gefühle eine zentrale Rolle. Er 2 Vgl. Lloyd, Pneuma, S. 136. 3 M. Putscher, Pneuma, Spiritus, Geist. Vorstellungen vom Lebensantrieb in ihren geschichtlichen Wandlungen, Wiesbaden 1973, S. 8. 4 Zitiert in ebd., S. 122.

7. Der Atem der Welt: Wind und Körper

postulierte drei Arten von Gefühlen: schaudernde Gefühlswallungen sind windförmig, leidenschaftliche Ausbrüche feuerförmig und friedliche Ausbrüche luftförmig. Die Seele ist ein Hauch und deshalb allen Wechselfällen ausgesetzt, die auch den Wind bedingen. Nach Epikur verursacht der Wind körperliche Bewegung und die Luft Ruhe. Wind, Luft und Wärme sind in den Gliedern gemischt und wirken zusammen. Kalte Winde, die über den Körper hinwegwehen, verursachen Grauen, erregen Schaudern und schütteln die Glieder.5 Trunkenheit, Epilepsie und die Krankheiten der Seele verursachen im Körper wetterartige Turbulenzen. In den Fragmenten des Empedokles werden der Kosmos und der Mensch von den Elementen und damit auch von den Meteoren hervorgebracht. Die Entstehung des Kosmos und die Entwicklung der Einzelwesen verlaufen dabei weitgehend parallel. So bestimmt die Luft das menschliche Gehör und das Feuer die Sicht. Die in der Atmung ausgestoßene Luft wiederum formt das Gesicht und erschafft die Nasenlöcher. So wie der durch das Feuer angetriebene Wind die Täler erschafft und die Gewässer verjagt, vollendet auch der Atem das Relief der Organe. Dieser den menschlichen Leib formenden Kraft der Winde begegnet man auch in der Windphilosophie der Navajo, auf die ich im letzten Kapitel eingehen werde. Die Blutzirkulation entspricht der atmosphärischen Zirkulation. Der Wind führt Dämpfe mit sich, die in Form von Regen fallen, in die Erde eindringen und das Wachstum der Pf lanzen fördern. Die kontinuierliche Passage vom Erdinneren zum Erdäußeren konstituiert die kosmische Atmung.6 Der Ursprung einer Theorie der Ausdünstungen im doppelten Sinne einer Astrometeorologie (kosmische Ausdünstungen) und einer Körperphysiologie (innere Ausdünstungen) geht wahrscheinlich auf Heraklit zurück. Diese Vorstellung begründet eine Reihe von Entsprechungen. So wird der Fluss der physiologischen Ausscheidungen im Körperinneren mit den Verzweigungen eines Flusssystems in eins gesehen. Für Heraklit ist auch die Seele eine Ausdünstungsform. Empedokles verknüpft den Wind mit dem Atem. In diesem Sinne kann man von einer inneren Meteorologie sprechen, die bis in die Gegenwart hineinreicht. Parrochia spricht von einem tissu métaphorique, einem metaphorischen Gewebe, das die Sprache der Gefühle bis heute nachhaltig geprägt hat. Eine zentrale Bedeutung kommt in diesem Kontext Hippokrates’ Über die Winde (De f la5  Vgl. Böhme und Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 184-186. 6 Vgl. Parrochia, Météores, S. 28-29.

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tibus) zu. Darin unterscheidet er drei Nahrungsformen: Speisen, Getränke und Pneuma. »Die Luft (Pneuma), die sich in den Körpern auf hält, heißt Wind (Physa), diejenige, die sich außerhalb der Körper befindet, freie Luft (Aer).« Die Luft (Aer) ist für die Gesundheit des Körpers entscheidend, sie ist »der stärkste Herr in allem und über alles. […] Der Wind (Anemos), ist nämliche ein Fließen und Strömen von Luft (Aer). […] sie ist freilich für das Auge nicht sichtbar, dennoch für den Verstand erkennbar. Denn was könnte ohne sie existieren?«7 Hippokrates verwendet hier zwar verschiedene Begriffe, aber die Übergänge zwischen den Formen sind f ließend, da es sich dabei um dasselbe Prinzip handelt. Die Luft erfüllt den Raum zwischen Himmel und Erde und zirkuliert im Inneren des menschlichen Körpers. Die Durchgänge der Luft durch den Leib und ihr Anteil in allen anderen Lebewesen sind von großer Bedeutung. Aus diesem Grund besitzt der Wind nicht nur die Macht, Bäume zu entwurzeln, sondern auch Krankheiten zu verursachen. Krankheiten entstehen in der Regel durch ein Zuviel oder ein Zuwenig an Luft. Manchmal ist die zirkulierende Menge zu reichlich und zu dicht, manchmal ist sie zu gering, und manchmal gelangt verunreinigte Luft ins Körperinnere. »Der Schüttelfrost […] tritt je nach der Menge und Kälte ein, mit der die Leibeswinde unterwegs sind, ein stärkerer aus vielen und kälteren Winden, ein weniger starker aus schwächeren und weniger kalten Winden.«8 Fieber kündigt sich mit Gähnen an, weil sich zu viel Luft angehäuft hat und diese nun »in dichter Masse nach oben strömt«, da sich dort »ein guter Ausgang für die Luft« befindet. »Wie nämlich aus Kesseln Dampf in großer Menge aufsteigt, wenn das Wasser kocht, so strömt, wenn der Körper erhitzt ist, die Luft […]«9 aus dem Munde. Der Kopf wird schwer, wenn Winde die Adern bedrängen. Bei einem Muskelriss dringt Luft ein, und dies ruft Schmerz hervor. Wassersucht und Schlaganfälle haben ebenfalls mit dem Windhaushalt des Leibes zu tun. Schnell eindringender Wind lässt das Fleisch anschwellen und kann lokal oder im gesamten Körper zu einem Schlaganfall führen. Dieser ist erst dann überwunden, wenn die Winde wieder ausgeströmt sind. »Durch alle diese Darlegungen wurde deutlich, daß

7  H  ippokrates, »Über die Winde (De flatibus)«, in: Ausgewählte Schriften, übers. und hg. von Ch. Schubert et al., Düsseldorf 2006, S. 133. 8 Ebd., S. 139. 9 Ebd., S. 141.

7. Der Atem der Welt: Wind und Körper

die Winde am stärksten aktiv sind und in vielen Dingen wirken.«10 Die Luft beherrscht gleichermaßen das Universum und die Körper aller Lebewesen. Die fundierende Verbindung von Atem und Wind, Mensch und Welt, Makro- und Mikrokosmos bricht zwar in der Frühen Neuzeit auseinander, hinterlässt aber seine Spuren. In The Natural and Experimental History of the Winds verwendet Bacon durchgehend das Verb to breathe, ›atmen‹, sowohl für den Menschen als auch für die Erde. Im 15. Abschnitt »Imitating the Wind« widmet er diesem Zusammenhang ein paar kurze Bemerkungen, in denen auf eine Reihe ausgewählter unzusammenhängender Metaphorisierungen hingewiesen wird. Darunter findet sich auch eine Parallele zwischen den Darmwinden bei Mensch und Tier: »There is a great agreement between the winds of the world, and the flatulencies in the body of man, and other animals: for these also are generated from moisture and alter with it; as winds and rains do. They are also dissipated, and made to perspire, by a stronger heat. And hence an observation may be transferred to the winds; viz. their being produced from a matter affording a tenacious vapour, that is not easily dissipated; as we find by beans, pulse, and fruit; which proves the case also in the greater winds.«11 Weitere Spuren dieser Verbindung kann man bis in die Auf klärung hinein verfolgen. So findet sich in der Enzyklopädie von Diderot und D’Alembert aus dem späten 18. Jahrhundert der Eintrag venteux, ›windig‹, aus der Sprache der damaligen Medizin. Erbsen und Bohnen, aber auch Kohl sind windige Nahrungsmittel, weil sie eine große Menge Luft enthalten. Diese werden durch die Hitze der Verdauung verdünnt und dehnen den Magen und die Eingeweide aus, was zu Winden von oben und unten führt, und sogar Windkoliken verursachen kann. Auch Heilmittel können windig sein. Empfindlichen Menschen mit einem schwachen Magen, die anfällig auf Fasern sind, sollte man blähende Speisen und windige Medikamente verbieten. Diese Beispiele zeugen von einem Perspektivenwechsel. Die frühere pneumatische Einheit von physiologischen und mentalen Vorgängen, von Atmung und Flatulenz, und ihr Bezug zu Luft und Wind, d.h. der innere leibliche Zusammenhalt von tieferen und höheren Körperfunktionen und die 10  Ebd., S. 151. 11  Bacon, History of the Winds, S. 115.

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Verbindung zur Welt haben sich aufgelöst. Im Laufe dieses Prozesses trennen sich das Körperliche und das rein Gefühlsmäßige, wobei der eine Teil (das Gefühl) in einen höheren vergeistigten Bereich abhebt und der andere (die Verdauungsfunktionen) in die Tiefe des Körpers absinkt. Michail Bachtin hat in seiner Rabelais-Lektüre auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Ich komme in einem der folgenden Abschnitte darauf zurück. Zuerst möchte ich auf die andere Seite dieses zweifachen Metaphorisierungsprozesses von Leib und Welt und dessen Auf lösung in der Neuzeit eingehen.

Der Körper der Erde Der menschliche Leib und seine Seele sind dem Wind und anderen wetterartigen Prozessen ausgesetzt. Dies gilt auch für den Körper der Erde, der in seinem Innersten durch den Einf luss von Winden erschüttert wird. Leibliche Schüttelfröste und Erdbeben werden in dieser Vorstellung als analoge Prozesse verstanden. Die Verbindung von Wind und Erdbeben geht von einer Körpermetapher aus, welche die Erde und den menschlichen Körper aufeinander bezieht. So wie das Innere der Erde von Luft durchf lutet wird, zirkuliert der Atem im menschlichen Körper. Aristoteles schreibt in Hinblick auf die beiden Ausdünstungen: »So geschieht es oft, wie beim menschlichen Körper: wenn die inneren Hohlräume oben trocken sind, ist unten das Gegenteil der Fall, und ist das Körperinnere unten trocken, dann ist es oben feucht und kalt. Genauso erfahren die Ausscheidungen der Erde eine Konzentration als Reaktion und wechseln entsprechend ihre Plätze.«12 Wasserdampf und Rauch folgen zeitlich und räumlich aufeinander, und tauschen dabei ihre Plätze aus, in Analogie zum Körpergeschehen. Wind bildet sich im Inneren der Erde, strömt ins Erdinnere hinein und dringt aus diesem wieder hinaus. So wie die Kraft des eingeschlossenen Pneumas Zittern verursacht, führt der im Erdinneren gefangene Wind zu Erdbeben. Manche Erdbeben gleichen dabei eher einem Zittern, andere eher einem Schütteln. Krampf hafte Erschütterungen des menschlichen Körpers, wie z. B. Starrkrampf und Schüttelkrämpfe, sind beide pneumatische Bewegungen. Ein Erdbeben hört erst dann auf, wenn der bewegende Wind, einer Sturmbö gleich, aus der Erde ausgebrochen und 12  Aristoteles, Meteorologie, S. 55.

7. Der Atem der Welt: Wind und Körper

ins Luftreich entkommen ist. Der Wind ist auch die Ursache von unterirdischem Getöse, wie es manchmal Erdbeben vorangeht. Bei Erdbeben sind die Masse des Windes, das eingeschlossene Pneuma, und die Form der unterirdischen Räume, durch die er strömt, sowie die Engstellen, wo der Wind auf einen Widerstand stößt, von entscheidender Bedeutung. Der Wind, so Aristoteles, verhält sich dabei »wie Wasser, das aus einem Gefäß keinen Ausgang findet.«13 Auch für Lukrez sind die Erde und der menschliche Körper als analog zu denken. Die gigantische Lunge des Erdkörpers atmet ein und aus. Winde dringen in die Erde ein und diese erzittert. Gleichermaßen dringt Kälte in den Leib und alle seine Glieder und führt dazu, dass diese erbeben. Senecas Vergleich zwischen dem menschlichen Körper und der Erde schwankt zwischen metaphorischer Bedeutung und empirischer Feststellung, besonders in seinen Ausführungen zur Entstehung von Erdbeben. Für Plinius und Seneca, die beide Stoiker sind, ist die Erde ein Lebewesen. Leben ist Atem und Bewegung. Das Innere der Erde wird mit dem Inneren des Körpers in eins gesetzt. So schreibt Seneca im fünften Buch der Naturales quaestiones: »Wie in unserem Körper durch Speise Blähungen entstehen (die nicht ohne schlimme Beleidigung des Geruchssinns abgehen und den Leib manchmal geräuschvoll, manchmal ganz leise entlasten), so glaubt man, gibt der große Naturkörper bei Verdauung seiner Nahrung Luft von sich. Wir haben nur Glück, daß die Natur nur selten entläßt, was sie immerfort verdaut […].«14 Die Erde ist an vielen Stellen hohl. Dort gibt es »Winde, die im dunklen leeren Raum wehen«15, aber auch Wolken und Nebelfelder, Flüsse und Seen sowie stehende Gewässer ohne Ablauf. Dadurch wird die Luft schwer, was Luftdruck erzeugt, und dadurch Wind verursacht, wie an der Erdoberf läche. Dieser Wind sammelt sich an, um die »Erdkruste zu durchbrechen.«16 Das sechste Buch beschäftigt sich ausführlich mit Erdbeben und der Rolle der Winde bei deren Entstehung. Seneca referiert und kommentiert dabei verschiedene andere Autoren, unter ihnen Aristoteles und Theophrastos. Von Interesse im Zusammenhang dieses Kapitels sind vor allem die Körpermetaphern. Der Körper und die Welt sind miteinander verwandt. Blut und Atem zirkulieren im Inneren des menschlichen Körpers wie Wasser und Luft in den Tiefen der Erde. 13 Ebd., S. 69. 14 Seneca, Naturales quaestiones, S. 289. 15 Ebd., S. 303. 16  Ebd., S. 305

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»Unser Körper wird durch Blut versorgt und durch Luft, die in eigenen Bahnen läuft. Wir haben aber enge Luftgefäße, durch die sie nur durchströmt, teilweise aber auch weitere, wo sie sich sammelt und von wo sie sich im Körper verteilt. Ebenso ist unser ganzer Erdkörper von Gewässern durchströmt, die die Stelle des Blutes vertreten, aber auch von Winden, die man wohl nur ihren Atemhauch nennen kann. Diese beiden Elemente kreisen an manchen Stellen und kommen an anderen wieder zur Ruhe.«17 Ein gesunder Körper weist einen regelmäßigen Rhythmus in den Venen auf. Wenn etwas nicht stimmt, beginnen diese rascher zu schlagen, was zu Seufzen und Keuchen sowie Entkräftung und Erschöpfung führt. So wird auch der Erdkörper erschüttert, wenn »die Luft, die zuvor ruhig durchströmte, heftiger umgetrieben wird.« Seneca weist darauf hin, dass zwischen den beiden Phänomenen ein wichtiger Unterschied besteht. Erdbeben lassen sich zwar mit Fieberschüben vergleichen, aber mit dem Unterschied, dass der menschliche Körper als Ganzes erschüttert wird, dies aber bei der Erde nicht der Fall ist. Die körperlichen Erschütterungen erfassen den ganzen Leib, die Erbeben hingegen finden lokal statt. »Sonst würde die Erde ja als Gesamtlebewesen die Erschütterung überall spüren. Denn […] bei uns läßt das Fieber nicht nur diesen oder jenen Teil langsamer pulsieren, sondern es geht gleichmäßig durch alle Teile.«18 In der folgenden Passage verhält sich die Luft wie das Wasser. Die Himmelskampf-Metapher wird auf das Erdinnere übertragen. Wenn ein Schwall der Luft, der die Erde umgibt, in deren Inneres eindringt und auf ein Hindernis stößt, das ihr den Weg versperrt, so »gerät sie anfangs durch die nachdrängende Luft unter Druck; dann entweicht sie nur mit Mühe durch irgendeinen Spalt, und zwar pfeift sie umso heftiger durch, je enger die Ritze ist. Dies kann nicht ohne Kampf abgehen und der Kampf nicht ohne Erschütterung.«19 Wenn es keine Ritze gibt, durch die der Wind abf ließen kann, tritt er den Rückweg an, wird hin und her geworfen, ballt sich zusammen, dreht sich im Kreis und beginnt bald mit großer Wucht alles zu zerreißen und zersprengen. »Und dann bebt die Erde, weil sie sich entweder spaltet, um dem Wind Durchgang zu verschaffen, oder sie senkt sich, wenn sie ihn herausge17  Ebd., S. 355. 18 Ebd. 19  Ebd., S. 355-357.

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lassen hat […].«20 Die Erde, ist an vielen Stellen löchrig, diese Öffnungen hat sie zum Luftholen von Anfang an mitbekommen. Sie ist deswegen nie ganz ohne Luft, die sie zusammenhält und die verschiedenen Teile miteinander verbindet. Diese Luft agiert wie die Winde an der Erdoberf läche. Sie ist eine lebenspendende nährende Kraft für die verschiedenen Wurzeln, ohne die die an der Oberf läche wachsenden Bäume und Sträucher nicht existieren könnten. Die Erde ernährt viele Körper und braucht deshalb einen gewaltigen Vorrat an Lebensluft. Diese weit ausgedehnte Luftmasse, welche die dunklen unterirdischen Räume anfüllt, ist die Voraussetzung für das Beben der Erdhülle. Die Luft ist die beweglichste Materie und nichts ist »so ruhelos, so veränderlich und bewegungsfreudig«21 wie die Luft. Seneca überträgt die Überlegungen, die er im fünften Kapitel angestellt hat, auf das Verhalten der Luft in den Tiefen der Erde. Als Element, das sich immer bewegen möchte, setzt die Luft auch anderes immer wieder in Bewegung. Wird sie aber aufgehalten, so verhält sie sich wie ein Fluss. Dieser strömt ruhig dahin, solange er »sein bequemes und freies Bett« hat. Wird er gestaut, so nimmt seine Kraft gewaltig zu, denn »die ganze Wassermasse, die von hinten anläuft, sich auftürmt und ihre eigene Last nicht mehr bändigen kann, gewinnt im Sturz an Wucht und reißt dahinströmend mit, was ihr im Weg« steht. »Ebenso geht es bei der Luft; je stärker und beweglicher sie ist, desto rascher strömt sie aus und durchbricht umso heftiger alle Schranken. Daraus entsteht ein Beben und dies natürlich in der Gegend, unter der der Kampf stattfand.«22 Seneca sieht in der Luft die Ursache von Erdbeben, weicht aber zum Teil von der Meinung anderer Autoren ab, besonders was die Größe der Erdöffnungen und deren Lage angeht und verweist auf die begrenzte Anwendbarkeit der Körpermetapher. Die Löcher durch die die Luft eindringt, können nicht an der Oberf läche sein, denn auch die Haut des menschlichen Körpers weist die Luft ab und wenn diese aufgenommen wird, kann sie sich nur in den lockeren Teilen auf halten, nicht zwischen den Muskeln, »sondern in den Eingeweiden und im geräumigen Hohlraum im Körperinnern. Dasselbe läßt sich auch von der Erde vermuten […].«23 20  Ebd., S. 357. 21  Ebd., S. 359. 22 Ebd., S. 361. 23  Ebd., S. 375.

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Zum Verhältnis von innerem und äußerem Wetter Die metaphorische Parallele zwischen äußerem und innerem Klima geht bis in die Antike zurück. Ein Beispiel aus Augustinus’ Bekenntnissen (VIII, xii) soll dies verdeutlichen. Der Erzähler befindet sich zerquält und zerknirscht am Rande der Bekehrung, nur noch Eitelkeit und Torheit halten ihn vor dem entscheidenden Schritt zurück. Dann eines Tages, als er sich in den Garten in der Nähe seiner Unterkunft zurückzieht und dort in sich forscht, kommt es über ihn und sein ganzes Elend bricht aus seinem Herzen hervor wie ein gewaltiger Gewittersturm (procella ingens), der einen schweren Regen von Tränen mit sich bringt. Procella, ›schwerer Sturm, stürmischer Wind, steife Brise‹, kommt von procello ›heftig nach vorne werfen‹. Diese metaphorische Verbindung greift nicht explizit auf die Pneumavorstellung zurück, sondern entwickelt das Metaphorische aus der Gefühlssituation heraus. In der Nachfolge der Auf klärung und im Zusammenhang mit der sich herausbildenden modernen Meteorologie um 1800 kommt den Wettermetaphern der Gefühle eine neue Bedeutung zu, artikulieren sie doch eine Kritik der auf kommenden naturwissenschaftlichen Diskurse und der damit einhergehenden Abtrennung des Leibes von seiner Umwelt. Auf die Schönwetterperiode der Auf klärung folgen die Stürme der Romantik. Die Romantik selbst ist, wie Reed festhält, »a kind of weather or atmospheric disturbance, tracking some if its storms, frontal systems, isobars, low pressure zones […].«24 Eine erste Verschiebung führte zur Verinnerlichung von meteorologischen Metaphern. Um psychologische Zustände zu beschreiben, benutzen die Romantiker Bilder, die sich auf die äußere Wetterwelt beziehen. Umgekehrt wird dem Wetter die Instabilität des Gefühlsmäßigen nachgesagt. »[…] the weather was seen to f luctuate with the speed and seeming unpredictability of moods […].«25 Eine zweite damit einhergehende Verschiebung betraf einen Übergang vom heiteren wolkenlosen Himmel der Uniformität zur instabilen beunruhigenden Diversität schnell aufeinander folgender Wetterbedingungen, die ihrerseits auf die Instabilität und Wechselhaftigkeit von Gefühlen bezogen wurde. Wie schon bei Serres ist auch in der Romantik die Vielfalt der Meteore ein Modell, das eine ganz andere Perspektive auf die Wirklichkeit eröffnet. »By their multiplicity in space and their rapid succes24 Reed, Romantic Weather, S. 18. 25  Ebd., S. 58.

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sion in time, ›meteors‹ resist the mind’s effort to make them cohere in a unified vision.«26

Die Windnatur der Gefühle Gernot Böhme hebt in seiner auf Hermann Schmitz beruhenden Phänomenologie des Wetters die metaphorische Verwandtschaft von Wetter und Gefühl hervor. Wegen ihrem vagen und ephemeren Charakter entziehen sich Gefühle und Wettervorgängen weitgehend einer direkten und eindeutigen Beschreibung, was beide für eine metaphorische Beschreibung geeignet macht. »Eine Untersuchung metaphorischen Sprechens über Gefühle hat zudem den Vorteil, dass man dabei etwas über die Theorie der Gefühle selbst lernt, weil die Metaphern ja jeweils aus ihrem Herkunftsgebiet bestimmte Strukturen mitbringen und entsprechende dann im Feld der Gefühle beleuchten.«27 Wettermetaphern stehen nicht so sehr für einzelne in sich stimmige Gefühle als für ein Gemisch von Gefühlen, was der unübersichtlichen Gemengelage der Meteore entspricht. Mit dem Wetter teilen die Gefühle auch die Immaterialität, die Flüchtigkeit, die Konf likthaftigkeit und die plötzliche unerwartete Veränderung.28 Wetter und Gefühl sind Metaphern voneinander. So wie Wetterlagen Gefühlslagen entsprechen können, gleicht ein abrupter Wetterumschlag einer plötzlich veränderten Gefühlsatmosphäre. Die Veränderung einer Gefühlsatmosphäre wird dabei so erfahren, als ob sich das Wetter verändert hätte. Um das Verhältnis von Wetter und Gefühlen zu diskutieren, geht Böhme von ›Atmosphären‹ aus, d.h. von emotional getönten Räumen. Das Wort ›Atmosphäre‹ selbst hat metaphorische Konnotationen, da der Begriff aus der Meteorologie stammt, wo er die Gesamtheit der Lufthülle bezeichnet, welche die Erde umgibt. Damit sind zugleich zwei weitere Verbindungsmomente zwischen Wetter und Gefühl benannt: das Umhüllende und das Diffuse.

26 Ebd., S. 60. 27 G. Böhme, »Das Wetter in der Sprache der Gefühle. Mit besonderer Berücksichtigung Goethes«, in: Wind und Wetter. Die Ikonologie der Atmosphäre, hg. von A. Nova und T. Michalsky, Venedig 2009, S. 257-258. 28 Vgl. G. Böhme, »Das Wetter und die Gefühle. Für eine Phänomenologie des Wetters«, in: Luft – Elemente des Naturhaushaltes IV, hg. von B. Busch, Bonn 2003, S. 148-149.

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Das Wetter, das uns umgibt, ist ein Gefühlsraum, in dem wir eingetaucht sind. Als Sphären leiblich-sinnlich gespürter Wetterlagen sind Atmosphären quasi-objektive Gefühle, Stimmungen, die im Raum hängen. Gefühle werden als subjektive Tatsache einer äußeren gespürten Wetterlage beschrieben und dadurch aus ihrer Eingeschlossenheit in ein autonomes Individuum befreit. Gefühle kommen in der Begegnung zwischen dem Menschen und seiner unmittelbaren Umwelt zustande. Gefühlsatmosphären haben etwas Luftartiges, man erfährt sie atmend. Wie das Wetter können sie einen erheben oder niederdrücken. Schwüles Wetter suggeriert eine bedrängende Gefühlsatmosphäre. Umgekehrt wird eine beklemmende Gefühlsatmosphäre im Sinne des Wetters als schwül bezeichnet. Als bewegte Dunstkreise sind Gefühlsatmosphären mit Duftwolken vergleichbar. Artikulieren Atmosphären das räumliche Ausgebreitetsein von Gefühlen und die jeweilige gefühlsmäßige Tönung einer Weltsicht, so geht es bei Gefühlsschauern um ein plötzliches und oft befremdliches emotionales Ergriffensein. Atmosphären haben mit der Luft zu tun, ein Schauer hingegen ist ein Windhauch. Das Wort ›Schauer‹ ist so sehr in die Sprache der Gefühle eingegangen, dass dessen Herkunft aus dem Bereich des Wetters nicht mehr wahrgenommen wird. Ein Schauer ist ein überraschend hereinbrechendes Unwetter, das oft zusammen mit oder in Form von einem Windstoß auftritt. Ein Regenschauer ist ein plötzlich einsetzender, nicht lange anhaltender Regen. Ein Gefühlsschauer kann über das Herz fahren, wie ein Windstoß über das Gesicht. Ein emotionaler Schauer ist ein plötzliches erschütterndes Ereignis. Es geht dabei nicht nur um eine einfache emotionale Ergriffenheit, sondern um die gleichzeitige Erfahrung einer leiblichen Regung. Schauer und Schrecken liegen nahe beieinander. So kann ein Schauer einen Menschen aus seiner Ruhe reißen und mit Düsterem und Bedrohlichem konfrontieren. Böhme unterscheidet zwischen einem bloß metaphorischen und einem strukturellen Verständnis der Verwandtschaft von Wetter und Gefühl. Das erste bestimmt Gefühle als innerseelische Zustände, das zweite, von Hermann Schmitz ausgehende, als affektive Betroffenheit durch etwas Räumliches, das einen atmosphärisch umgibt und von außen her berührt. Diese Gegenüberstellung von ›metaphorisch‹ und ›strukturell‹ wirkt umso befremdender als die ›Atmosphäre‹ und der ›Schauer‹, wie schon ausgeführt, explizit als zwei mögliche Metaphern für den gestimmten Raum im Detail untersucht werden. Es ist anzunehmen, dass Böhme hier mit einem zweifachen Verständnis von Metapher operiert, das im Text jedoch nirgends explizit zur

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Sprache kommt. Die Verinnerlichung der Gefühle zertrennt die ursprüngliche Beziehung des Leibes zu seiner Umgebung, indem sie einen inneren autonomen Bereich schafft, der zugleich als Ursprung des Gefühls verstanden wird. Dies hängt jedoch nicht mit einem Prozess der Metaphorisierung zusammen, außer man versteht unter Metaphorisierung das bloß Vermittelte, Unechte und Sekundäre. Die von Böhme erwähnte Verinnerlichung ist somit nicht so sehr ein formales, sondern ein historisches Phänomen, das mit der Herausbildung eines geschlossenen individuellen Körpers in der Frühzeit und Moderne, wie sie Bachtin in seinem Buch über die karnevaleske Kultur beschrieben hat, zusammenhängt. Dieser neue moderne Körper ist nicht nur vom kollektiven Leib der Gesellschaft abgetrennt, sondern auch von seiner früheren Einbindung in die inneren und äußeren Strömungen von Wind, Atem und Flatulenz. Die Verbindung von Makro- und Mikrokosmos postulierte einen mehrfach offenen winddurchf luteten Leib, wobei dies nicht nur den äußeren Raum der Welt und den inneren Raum des Körpers betraf, sondern auch dessen oberen und unteren Teil, d.h. dessen ›höhere‹ und ›tiefere‹ Funktionen. Diese vertikale Trennung spielt auch in den metaphorischen Diskursen über den Körper des Staates eine zentrale Rolle.29 In der in der Antike entwickelten Vorstellung eines umfassenden pneumatischen Kontinuums waren nicht nur die Luft und der Atem, sondern auch die Atembildung in den Lungen und die Gasbildung im Gedärm in kontinuierliche Austausch- und Übersetzungsprozesse über die jeweiligen Grenzen von innen und außen und oben und unten hinweg verwickelt. Ich komme im Zusammenhang mit Bachtins Rabelais-Interpretation auf diesen Punkt zurück. Hermann Schmitz hat die Metapher des Windes und die Windnatur der Gefühle ausführlich im zweiten Teil des dritten Bandes von seinem System der Philosophie, der dem Gefühlsraum gewidmet ist, beschäftigt. Wie Ingold betont Schmitz die Eingebundenheit des Menschen in die umfassende Zirkulation der Luft. Diese ist »wie ein großes, ununterbrochenes Meer«, zu dessen Quellen der Mensch »als Ausatmender gehört, während er als Einatmender davon trinkt, so daß die Luft, die ihn unter anderem als Wind trifft,

29  V  gl. R. Guldin, Politische Landschaften. Zum Verhältnis von Raum und nationaler Identität, Bielefeld 2014.

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zu einem gewissen Teil aus ihm selbst stammt.«30 Die Luft kann man nicht berühren oder dingfest machen, wie das Wasser, das Feuer oder die Erde. Man erfährt sie als eigenleibliches Spüren, d.h. als Wind oder Atmung. Dinge sind konstant und relativ stabil, sie gehorchen der dreigliedrigen Logik von Ursache, Einwirkung und Effekt. Beim Wind hingegen fällt die Ursache mit der Einwirkung zusammen. Diese zweigliedrige Logik wird durch unmittelbare Kausalität bestimmt. Der Wind ist von inkonstanter Dauer, auf ihn ist kein Verlass. Schmitz bezeichnet ihn daher als Halbding. Der Wind ist nicht immer ein zarter Hauch, der einen atmosphärisch umgibt und umspielt, manchmal ist er etwas, gegen das »man ankämpfen muß, um vorwärtszukommen und nicht den Stand zu verlieren.« Dieses Etwas wird »als nackte Kraft erfahren, nicht als Äußerung eines Angreifers, der diese Kraft bloß ausübt, als wenn ein Riese uns wegstieße; diesen Riesen denken wir […] hinzu, indem wir den Wind als stürmisch sich bewegende Luft erdeuten, und mit diesem Zusatz eines kräftigen Dinges oder Stoffes zu der nackten Kraft machen«, um uns das Geschehen »berechenbar«31 zu machen. Diese Personifizierung verleiht der Erfahrung des Windes ein Gesicht und auch so etwas wie einen Beweggrund. Die leibliche Wahrnehmung des Windes ist aber eine grundsätzlich andere. Winde erheben sich nicht wie Riesen, sondern sind Teil eines unspezifizierten Kontinuums, aus dem der einzelne Wind sich nicht einfach herauslösen lässt. Die Identifizierung einzelner Winde, denen eine eigene Quelle zugewiesen wird und die wie Pfeile auf ein mögliches Ziel hindeuten ist letztlich eine Abstraktion. Diese Vorstellung wurde deswegen auch schon früh durch die Metapher des Flusses in die Anschaulichkeit überführt. Schmitz’ Windnatur der Gefühle, sagt uns somit nicht nur etwas über die Erfahrung von Gefühlen, sondern kann auch einer Rekalibrierung unserer Wahrnehmung des Windes dienen. So ist die Erregung eine Metapher für die dynamische, unstabile und ephemere Seite des Windes. Schmitz deutet die leibliche Erfahrung des Windes auf ähnliche Art und Weise wie Ingold, auf dessen weather-world ich in diesem Kapitel noch zu sprechen komme. Für Schmitz sind Gefühle nicht ein Zustand des gesamten Leibes, sondern Mächte, die den Menschen in Form einer unbestimmten leiblichen Be30  H  . Schmitz, »Die Luft und was wir als sie spüren«, in: Luft – Elemente des Naturhaushaltes IV, hg. von B. Busch, Bonn 2003, S. 76. 31 Ebd., S. 78.

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troffenheit heimsuchen, d.h. von außen her anrühren. So ist der klimatische Raum, d.h. das, was »›in der Luft liegt‹ […] nicht ein Zustand unseres Leibes, sondern eine diesen umhüllende, ungegliederte, randlos ergossene Atmosphäre, in deren Weite sich freilich der eigene Leib als etwas abhebt. Das von ihr in spezifischer Weise […] betroffen wird.«32 Die Verwandtschaft von Wetter und Gefühl ist somit begrenzt. Das Wetter besitzt zwar Gefühlsnatur, umgekehrt ist das Gefühl aber nicht eine Art von Wetter. Wetter kann man zudem durch Kleidung auf Distanz halten, Gefühle jedoch nicht. Dagegen wäre mit Böhme einzuwenden, dass Prozesse der Metaphorisierung immer umgedreht und dass Wetter und Gefühl jeweils als Metaphern voneinander bestimmt werden können. Die Richtungen des Wetters, dessen Herkunft und Ziel, sind im Gegensatz zu Gefühlen bestimmbar. Dieser Unterschied ist besonders folgenreich für die Verwendung der Windmetapher. Dem hält Böhme entgegen, dass auch Gefühlsatmosphären von spezifischen ›dinglichen Erzeugern‹ ausgehen können. Schmitz vermeidet es auch, auf die Tatsache einzugehen, dass das Wetter ein Natur-Phänomen ist, welches so etwas wie Eigenaktivität besitzt, und auch von naturwissenschaftlichen Diskursen miterfasst wird. Im Gegensatz zur Meteorologie, die das Wetter auf die Wechselwirkung unterschiedlicher Parameter zurückführt, ohne dadurch jedoch eine Totalsicht des Phänomens zu erzielen, vollzieht sich in der leiblich-sinnlichen Erfahrung eine synthetische Wahrnehmung des Wetters als Ganzes. Diese Erfahrung einer Totalität subjektiver Tatsachen die in affektiver Betroffenheit erfahren wird, sind dem Wetter und dem Gefühl gemeinsam. Eine Phänomenologie des Wetters soll daher eine Kategorisierung der »gesetzmäßigen Natur im Bezug auf das leibliche Spüren« in Analogie zu Goethes Farbenlehre anstreben.33 Eine Philosophie des Wetters und des Windes müssten nach Böhme, im Gegensatz zum analytischen Vorgehen der Naturwissenschaften, einen umfassenden Blick und einen synthetischen Zugang anstreben, der im Zeichen der subjektiven leiblichen Erfahrung steht. In Der Gefühlsraum unterscheidet Schmitz drei Formen des Gefühls, die sich jeweils nur durch eine Eigenschaft phänomenologisch bestimmen lassen: Stimmungen, Erregungen und intentionale Gefühle. Stimmungen sind 32 H. Schmitz, System der Philosophie, Bd. 3: Der Raum, zweiter Teil, Der Gefühlsraum, Freiburg und München, 2019, S. 361. 33  Böhme, Das Wetter in der Sprache der Gefühle, S. 250.

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›weit‹, Erregung ›gerichtet‹ und intentionale Gefühle durch ›Zentrierung und Sammlung auf ein Ziel‹ definiert. Alle Erregungen sind auch Stimmungen und alle intentionalen Gefühle auch Erregungen. Erregungen, die keine intentionalen Gefühle sind, bezeichnet Schmitz als ›reine‹ Erregungen. Die gefühlsmäßige Gerichtetheit von Erregungen äußert sich ohne Rücksicht darauf, ob die jeweilige Richtung auch ein Ziel hat oder nicht. Erregungen sind somit gerichtete, aber nicht immer zielgerichtete Gefühle. Erregungen können zwar auch zielgerichtet sein, im Zusammenhang mit der Windmetapher diskutiert Schmitz aber nur die ziellos gerichteten Gefühle, auch weil diese Eigenart, wie er festhält, in der philosophischen Tradition weitgehend verkannt wurde. Diese theoretische Vorentscheidung prägt auf entscheidende Art und Weise Schmitz’ Verwendung der Windmetapher. Die Windnatur der Erregung ist eine umfassende Atmosphäre, die sich in einem Gefühl der Mächtigkeit sowie der Unberechenbarkeit und der Abwesenheit eines klar definierten Herkunftsortes verkörpert. Schmitz’ Verständnis des Windes als Metapher der Erregung geht vom Fehlen einer Quelle aus, und im Falle der reinen Erregungen auch vom Fehlen einer Zentrierung auf ein Ziel hin. Eine reine Erregung ist eine ins Unbegrenzte gerichtete Energie ohne Ziel und Objekt, ein Hauch des Namenlosen und Undefinierten, der sich nach allen Seiten hin ausbreitet. Die reine Erregung besitzt daher oft einen »vielstimmige[n], akkord- oder konzerthafte[n] Charakter.«34 Auf den Wind übertragen, würde dies bedeuten, dass Winde nicht bloß in eine einzige Richtung f ließen, sondern dass ihnen auch eine kontrastive Vielstimmigkeit eigen ist. Diese Auffassung weicht deutlich vom Windverständnis der Naturphilosophie der Antike und der darauf beruhenden Tradition des europäischen Wetterwissens ab. Hier spielen vor allem der Herkunftsort, die Quelle, aber auch die eingeschlagene Richtung eine zentrale Rolle, was in der Metapher des Flusses zum Ausdruck kommt. Schmitz betont im Gegensatz dazu das Diffuse, Umfassende aber Unfassbare. Hier zeigt sich sein phänomenologischer Ausgangspunkt, der die leiblich-subjektive Erfahrung in den Mittelpunkt stellt, besonders deutlich. Der Wind ist nicht etwas, das wir wie einen Fluss aus der Ferne betrachten können, sondern etwas Unbegreif liches, das uns zwar spürbar umfasst, anrührt, erfasst und wegstößt, letztlich aber entgeht. Der Wind ist nicht so sehr etwas, was wir kontrollieren können, sondern ein Phänomen, dem wir eigentlich aus34 Schmitz, Gefühlsraum, S. 267.

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geliefert sind. Aus diesem Grund stehen in seinen Überlegungen zur Windnatur der Gefühle auch die Momente der Hingabe, Betroffenheit und Ergriffenheit im Vordergrund. Im Abschnitt, welcher der Windnatur der Erregungen gewidmet ist, finden sich verschiedene Belege aus der europäischen Literatur und Philosophie von der Antike bis in die Gegenwart, von der Bibel, über Sappho und Homer bis hin zu Charles Baudelaire und Nikolaus Lenau. Der Wind ist ein Hauch, ein »geheimnisvolles Angerührtwerden von etwas […] ohne beobachteten Hervorgang«, aus einer feststellbaren Quelle, vergleichbar mit einem »sanfte[n] Luftzug«, der »am Abend über den Menschen kommt.«35 Es ist eine eigenständige einwirkende und ergreifende Macht. Winde sind unsichtbar, aber sie berühren und rühren uns an. Sie können zwiespältige Gefühle evozieren, haben mit Sorgen, Furcht und Trauer zu tun und können über einen herfallen wie ein unerwarteter Wahnsinnsschub. Winde sind treibende Kräfte, die plötzlich und aus unterschiedlichen Richtungen den Menschen anfallen. In einer Fußnote findet man einen Hinweis auf den griechischen Autor der Spätantike Heliodor, der den unerwarteten Windstoß und die damit zusammenhängende plötzliche Erregung mit einem Bogenschuß vergleicht wegen »der gemeinsamen Art des Überfalls auf den Betroffenen.«36 Hier steht jedoch nicht die pfeilartige Gerichtetheit des Windes im Vordergrund, wie man sie aus der europäischen Tradition kennt, sondern die Momente des Plötzlichen und der leiblichen Betroffenheit. Die Passage, die am prägnantesten die ziellose Gerichtetheit und den Mangel eines Ursprunges bei Erregungen betont, stammt signifikanterweise aus dem Johannes-Evangelium (3, 8). Flusser und Ōhashi haben sie ebenfalls in einem anderen Zusammenhang erwähnt und auch ganz anders gedeutet.37 »Der Wind weht, wo er will, du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.« Alle vom Heiligen Geist ergriffenen Gläubigen sind Wind-Geborene und deshalb heimatlose Wanderer. Der Wind ist hier ein göttliches Geist-Prinzip im Sinne des alttestamentarischen ruach, das im Gegensatz zum Fleisch steht. Gemeint ist damit auch die absolute Macht Gottes, dessen Pläne undurch35 Ebd., S. 270. 36 Ebd., S. 270, Fußnote 619. Vgl. dazu Ridley Scotts Szene aus All the Money in the World in Kapitel acht. 37 Vgl. dazu Kapitel neun bzw. zehn.

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schaubar sind. Dieselbe Rolle kommt dem Wind in der Pfingsterzählung aus der Apostelgeschichte zu, die im letzten Kapitel zur Sprache kam. Zentral sind in Schmitz’ Interpretation das Fehlen eines angebbaren Woher und eines bestimmten Wohin sowie das unberechenbare Wehen und unbeständige unruhige lebendige Wesen des Windes. Jesus meine sicherlich nicht den »wirklichen Wind«, fügt Schmitz hinzu, sondern »eine übermächtige Erregung, die sich windgleich von ungefähr des Begnadeten bemächtigt, und diesen so sich anbildet, daß er wie aus ihr geboren und so wie sie ist.« Es geht wie in den anderen Beispielen um die metaphorische »Windnatur der Erregung.«38 Der äußere Wind ist eine unangekündigt auftauchende Kraft, die den Menschen, den er erfasst und umspielt, in seinem Sinne formt. Um auf den doppelten, zugleich griechischen und hebräischen Ursprung der neutestamentarischen Geistesvorstellung hinzuweisen, hebt Schmitz hervor, dass das hebräische rûah auch als profaner Name für den Wind diente und im Gegensatz zum altgriechischen pneúma (πνεῦμα) eine dynamischere Konnotation besaß, die eher dem Wort ánemos (aνεμος) entsprach. Der Wind tritt manchmal als heulende und klagende Person auf und als eigenständige hinreißende Macht, die stößt und niederdrückt. Er tritt stoßweise auf und ist auch dann wirksam, wenn man sein Wirken nicht wahrnimmt. Im Kontext der Pneuma-Theorie der Antike wäre die Passage aus dem Johannes-Evangelium auch dahin zu lesen, dass der Wind den Gläubigen zwar von außen angeht, dabei aber auch seine windähnliche Seele ergreift und radikal umgestaltet. Dies setzt ein Austauschprinzip zwischen dem Leibesinneren und dem Weltäußeren, zwischen Atem und Luft voraus, das in Schmitz’ Bestimmung der metaphorischen Windnatur der Erregungen fehlt. Im Gegensatz zu den ziellos gerichteten Erregungen, gehen die leiblichen Richtungen, z. B. der Vorgang des Ausatmens, »aus der Enge des spürbaren Leibes in die Weite hervor« und haben in diesem Sinne einen benennbaren Herkunftsort. Die Erregungen hingegen »kommen gleichsam hinterrücks aus der atmosphärischen Weite des Gefühls ohne örtlich umschriebene […] abgehobene Quelle«39 wie ein überwältigender Überfall. Unter Abgründigkeit versteht Schmitz das Fehlen einer »umschriebenen phänomenalen Richtungsquelle der Erregungen«40, die mit der spezifischen Gestalt des af38 Schmitz, Gefühlsraum, S. 271. 39 Ebd., S. 273. 40 Ebd., S. 274.

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fektiven Betroffenseins und der überwältigenden hinreißenden Kraft, die allen Gefühlen anhaftet, zusammenhängt. Sie ist wie eine in den Himmel steil aufragende Wetterwolke, die einen kommenden Sturm ankündigt. Der Wind ist eine Veranschaulichung der »abgründig ergreifende[n] Macht der Erregungen.«41 Diese quellen »aus dem Ungewissen und Unbestimmten hervor«42, kommen über den Menschen und ziehen durch ihn hindurch. In dieser Vorstellung ist die geheimnisvolle Natur der Quelle, ihre ›Abgründigkeit‹, das wesentliche Merkmal. Dadurch werden die in der Naturphilosophie immer wieder beklagten beunruhigenden Windeigenschaften der Unsichtbarkeit und Unvorhersehbarkeit ins Positive gewendet. Für Schmitz kennen die leiblichen Regungen, wie schon erwähnt, das Moment der Abgründigkeit der gefühlsmäßigen Erregungen nicht. Es kann aber passieren, dass während einer Phase tiefer Entspannung die eigenen leiblichen Regungen als fremd erlebt werden. Dies führt dazu, dass diese sich in »abgründige Mächte verwandeln.«43 Das dazugehörige Zitat operiert mit den Metaphern des Windes und des Segels. Geschildert wird eine unwillentliche Veränderung der Atmung im autogenen Training begleitet von einem unbeschreiblichen Gefühl, das zu einem vorübergehenden Atemstillstand führt. Dieser Zustand wird verglichen mit einem plötzlich erschlafften Segel, das schwer und zugleich schwebend in den Tauen hängt, bis der nächste zarte Windhauch es wieder, wenn auch nur geringfügig, in die Höhe hisst. Körperinneres und Umgebung, der Atmungsvorgang und das Wehen des Windes werden hier metaphorisch aufeinander bezogen. Aus Schmitz’ Sicht beleuchtet diese Metapher nicht so sehr die Möglichkeit f ließender Übergänge zwischen unterschiedlichen Bereichen, sondern die seltsamen Wandlungen, denen »das leibliche Befinden ausgesetzt wäre, wenn die Regungen, die es bilden, von den Erregungen deren Abgründigkeit übernähmen.«44

41  Ebd., S. 275. 42 Ebd., S. 276. 43  Ebd., S. 275. 44 Ebd., S. 276.

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Der winddurchflutete Körper Der hier geschilderte zweiwegige, im Zeichen des Windes stehende Bezug zwischen dem Körperinneren und dem Erdinneren und deren jeweilige Befindlichkeit, wirkt von der Antike ausgehend bis weit ins Mittelalter hinein, versickert aber zusehends in der Folge. Die progressive Abkoppelung von Mikro- und Makrokosmos, Mensch und Welt, Atem und Luft ist mit der terminologischen Verengung des Begriffs Meteor verbunden. Gerade die meteorologische Erdbeben-Theorie spielt dabei eine wichtige Signalrolle. In Bacons und Descartes’ Schriften aus dem frühen 17. Jahrhundert hat diese Ausgrenzung schon stattgefunden. Obwohl beide Autoren noch auf Elemente der aristotelischen Tradition zurückgreifen, wird der Zusammenhang von Wind und Erdbeben nicht mehr erwähnt. Die unterirdisch weiterwirkende Verbindung von Atem und Wind taucht jedoch weiterhin in literarischen Texten in einem weitgehend metaphorischen und parodistischen Sinne auf, zum Beispiel in Rabelais’ Gargantua und Pantagruel aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. In einem »A Mouthful of Sweet Air« betitelten Abschnitt geht Steven Connor auf die Vorstellung ein, man könne von Luft allein sein Leben fristen, wie das Chamäleon, von dem man aufgrund von Plinius’ und Tertullians Schriften im frühen 16. Jahrhundert glaubte, dass es überhaupt nichts aß, sondern seine ganze Nahrung ausschließlich in der Luft fand. Zum Fliegen, so weiter Connor in Anlehnung an Gaston Bachelards L’air et les songes, brauchen wir eigentlich keine Flügel, sondern »›winged substance or wing-like food‹«, das heißt »angelic alimentation«.45 Mit dieser Vorstellung geht eine Körperkonzeption einher, die auf äußerer und innerer Durchlässigkeit beruht. Der groteske Körper des Karnevals, den Michail Bachtin in Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur beschreibt, wird von Körpersäften durchströmt und ist offen für die Welt und andere Körper. Es ist ein Körper in dauerndem Wandel, auf der Grenze von Leben und Tod. Die Körpergrenzen, besonders die Körperöffnungen, der Mund und die Nase, der Anus und die Geschlechtsorgane spielen dabei eine zentrale Rolle. Neben den Körperausscheidungen – Blut, Sperma und Kot – ist auch das Pneuma, die Luft, die in den Leib eindringt und ihn wieder verlässt, von Bedeutung. Der groteske Körper wird, wie der pneumatische Körper, von vielfachen Winden durchweht und durchlüftet. In der folgenden Passage hat die frühere pneumati45 S. Connor, The Matter of Air. Science and the Art of the Ethereal, London 2010, S. 311.

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sche Vorstellung zwar überlebt, die Tatsache aber, dass diese nun in einem weitgehend parodistischen und metaphorischen Zusammenhang dargestellt wird, deutet auf die erwähnten Veränderungen des leiblichen Lufthaushaltes und dessen Bezug zur Umwelt hin. Die Körperwinde, der Atem und der Furz, durchwehen diesen mehrfach durchlässigen Leib und sorgen für eine zweifache Offenheit zwischen innen und außen, und zwischen oben und unten. Der durch den Mund eingeatmete Wind verwandelt sich in Nahrung, die im Körperinneren verdaut und durch den Anus in Form von Flatulenz wieder ausgeschieden wird. Die Seele ist Teil dieses porösen pneumatischen Kontinuums, in dem auch Leib und Geist ineinander übertragen werden.46 Im 43. Kapitel des vierten Buches von François Rabelais’ Gargantua und Pantagruel ist die Rede davon, wie Pantagruel aufs Eiland Ruach kam. Die Bewohner dieser Insel »leben einzig und allein vom Wind. Alles, was sie essen und trinken, ist Wind. Ihre Häuser sind Windfahnen. In ihren Gärten säen sie dreierlei Arten von Windrosen. Raute und andere windtreibende Kräuter jäten sie sorgfältig aus. Das einfache Volk nährt sich nach seinen Verhältnissen und Vermögensumständen von Feder-, Papier- und Leinwandwedeln. Die Reichen leben von Windmühlen. Wenn sie ein Fest feiern oder einen Schmaus geben, so lassen sie unter einer Windmühle decken oder unter einigen. Da tun sie sich dann gütlich wie auf einer Hochzeit. Und während der Mahlzeit erörtern sie die Vortrefflichkeit, Güte, Gesundheit und Seltenheit der Winde […]. Der eine lobt den Scirocco, der andere den Südwest, ein dritter den Südost, die Bise, den Zephir, den West und andere andere; einer dem Hemdenwind, der für Schürzenjäger und für Verliebte. Den Kranken verordnet man Zugluft, wie unseren Kranken Zugpflaster.«47 Aufgrund der Nahrung, welche die Einwohner zu sich nehmen, wird auf dieser Insel »weder geschissen noch gepißt noch gespuckt. Dafür aber furzen, fisten und rülpsen sie desto mehr.« Sie leiden an vielen Arten von Krankheiten, die alle auf den Wind zurückzuführen sind, wie dies schon Hippokrates festgehalten hatte. Epidemisch ist die Windkolik, »gegen die sie starke Do46 Zu diesem Zusammenhang vgl. V. Allen, Valerie, On Farting. Language and Laughter in the Middle Ages, NY Basinsgstoke 2007. 47  F. Rabelais, Gargantua und Pantagruel, Bd. 2, Frankfurt am Main 1979, S. 135-136.

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sen von windtreibenden Mittlen anwenden, worauf sie dann noch stärkere Dosen von Wind von sich geben. Sie sterben alle an der Trommelsucht, die Männer unter Furzen, die Weiber unter Fisten. Die Seele entweicht ihnen durch den Hintern.«48 In dieser karnevalesken Welt, die auf dem Kopf steht und in der das Unterste zuoberst gekehrt wird, werden gängige Machtstrukturen in Frage gestellt. In diesem Fall ist es die Subversion eines hierarchisch organisierten Sozialkörpers, in dem sich die unteren Etagen plötzlich über die oberen erheben, wie der Dritte Stand über die Aristokratie und den Klerus. Der Mund wird hier vom Anus verdrängt und die Atmung vom Furzen. »So sterben etwa die Bewohner der Insel Hauch, indem sie Gase ablassen, wobei ihre Seele durch den After austritt.«49 Eine karnevaleske Erniedrigung und Materialisierung des Todes. »Das ist der Grund, weshalb wir in allen großen Werken der Renaissance, deutlich die Karnevalsatmosphäre wahrnehmen, den frischen Wind des volkstümlich-festlichen Marktplatzes.«50 Der kollektive Körper, in dem die inneren und die äußeren Grenzen durchlässig sind, ist für Bachtin zugleich ein Modell, welches eine In-Frage-Stellung des in sich geschlossenen, von der Kollektivität und der Welt abgetrennten Körpers der Neuzeit ermöglicht. Ein weiteres Beispiel der hier angesprochenen Entwicklung findet sich in der deutschen Ausgabe von Alain Corbins Geschichte des Geruchs.51 Es handelt sich dabei um eine undatierte Abbildung (vgl. Abb. 22), höchstwahrscheinlich aus dem 18. oder frühen 19. Jahrhundert, die den Zusammenhang zwischen äußeren und inneren Winden auf parodistische karnevaleske Art und Weise aufnimmt. Der Neue Kompaß für sensible Nasen von Bombardoni zeigt vor der Landschaft des Schindangers von Montfaucon in Paris eine männliche Figur, die mit beiden Händen eine Windrose vor ihr entblößtes Hinterteil hält. Die Einteilung des Kreises folgt dem traditionellen Modell der vier Kardinalwinde: im Norden weht der vent imperial, im Süden der vent magistral, im Westen der vent primordial und im Osten der vent explosif. Die Wahl der Namen beruht auf dem profanierenden Kontrast zwischen dem pompösen hochtrabenden Anspruch und der Tatsache, dass es hier 48 Ebd., S. 136-137. 49 M. Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt am Main 1995, S. 532, Fußnote 96. 50 Ebd., S. 317. 51  A. Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Berlin 1984, S. 85.

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um die topographisch und kulturell tiefsten Körperfunktionen geht sowie um den mit diesen assoziierten Geruchssinn. Dazwischen befinden sich jeweils 31 weitere Winde, was zu einer Gesamtsumme von 128 Winden führt, weit mehr als in allen anderen Windrosen. In dieser zahlenmäßigen Übertreibung liegt ein weiteres parodistisches Moment. Die Ironie besteht auch darin, dass gerade in diesem tabuisierten Körperbereich eine übermäßige

Abbildung 22: Neuer Kompaß für sensible Nasen

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wissenschaftliche Akribie zur Anwendung kommt, die sich bei näheren Hinsehen als völlig beliebig erweist. Spielen die Namen der vier Kardinalwinde mit der karnevalesken Spannung von Drama und Farce, so sind diejenigen der untergeordneten Winde meist bewusst anzüglich gehalten: à la dérobée, heimlich, vent forcé, forcierter Wind, de durée, lang, apprivoisé, gezähmt, prémédité, vorsätzlich, à regret, widerstrebend, par ricochet, indirekt, inattendu, unerwartet, traître, verräterisch, hardi, frech, sans gêne, schamlos, en prélude, als Vorspiel, chatouilleur, kitzlig, muet, stumm, sourd, taub, musical, musikalisch, Helvétique, schweizerisch. Die Windrose enthält einen pfeilförmigen Zeiger, dessen Mitte mit dem Anus der Figur übereinstimmt, was die Idee nahelegt, dass der jeweilige Wind beim Austreten zugleich auch seine Herkunft und seinen wahren Charakter geräuschvoll enthüllt. In den folgenden Abschnitten möchte ich auf Serres’ und Ingolds Vorstellung des Windes als ein immersives ganzkörperliches Erlebnis eingehen. Beginnen möchte ich mit Serres, der im Gegensatz zu Ingolds leichter umschmeichelnder Brise einen heftigen stürmischen und unbarmherzigen Wind beschreibt. Ingolds Wind weht in der schottischen Landschaft, welche das am Meer liegende Aberdeen umgibt. Serres’ Wind tobt auf der offenen grenzenlosen Oberf läche des Ozeans.

Der Wind als ganzkörperliche Erfahrung Wie schon im letzten Kapitel ausgeführt, kann der Wind verschiedenartig wahrgenommen werden: visuell, auditiv, akustisch, haptisch, taktil, olfaktorisch, ja sogar gustatorisch wie in Rabelais’ Gargantua und Pantagruel. Es ist nun so, schreibt Flusser, »daß man den Wind zwar hört (oft tost er ohrenbetäubend), daß man ihn fühlt (er kann einen umwerfen), aber daß man ihn selbst nicht sehen kann, sondern nur seine oft verheerenden Folgen.«52 Die ganzkörperliche Winderfahrung, das Geschubst-, Herumgestoßen-, Umgeworfen- und Weggetragen-Werden, vermitteln im Fall des unsichtbaren Windes eine besondere Erfahrung der Machtlosigkeit, die zur Gegenwehr herausfordert.

52 V. Flusser, »›Wie schön sind deine Zelte, Jakob‹«, in: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Bensheim 1994, S. 74.

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Im Essay »Della Figura che va contro vento«, der sich mit dem schon erwähnten Gemälde Poussins Gewitterlandschaft mit Pyramus und Thisbe beschäftigt, vergleicht Françoise Viatte den Flug eines Vogels mit der angestrengten Bewegung einer Person, die sich gegen den Wind stemmt. Wie beim Vogelflug macht die Körperhaltung des Gehenden die jeweilige Richtung und Wucht des Windes sichtbar. Poussin stellt eine Figur mit ausgestreckten Armen, angewinkelten Beinen und gebeugtem Gesicht dar, die gegen ein unsichtbares Hindernis kämpft.53 Der zweite Teil von Buster Keatons Stummfilm Steamboat Bill, jr. (1928) zeigt die verschiedensten Formen der Interaktion von Wind und Körper. William Canfield jr. stemmt sich zuerst noch gegen den auf ihn eindrängenden Wind, bis er aufgibt und sich vom Wind hin und her tragen lässt, was sich letztlich als die bessere Lösung herausstellt. In Joris Ivens’ Pour le Mistral, der die vielen Stimmen und Gesichter des Windes darzustellen versucht, findet sich auch eine kurze Sequenz, die zeigt, wie der Wind ganzkörperlich erfahren wird und auf die Menschen und ihre Gangweise einwirkt. Die Körper der Spazierenden versuchen, auf verschiedene Art und Weise mit der Heftigkeit des Windes umzugehen. Die Passanten in den engen Gassen einer südfranzösischen Stadt führen vor, was der Wind alles mit den Körpern anstellt. Dadurch entsteht so etwas wie eine Typologie. Er bedrängt und umwindet sie. Einige halten den Hut mit der Hand fest. Andere neigen sich nach vorne, um der Wucht standzuhalten und doch noch irgendwie vorwärtszukommen. Flatternde Kleider und durchwühlte Haare. Ein Postbeamter auf einem Fahrrad versucht nicht umzufallen. Der Film wird von Zeit zu Zeit angehalten, um die schiefe Lage und die grotesken Verrenkungen aufzuzeigen, zu denen der Wind die Betroffenen zwingt. Ein Hochzeitspaar vor der Kirche: die Braut versucht, ihren zerzausten wild wehenden Schleier doch noch festzuhalten. Ein Mädchen auf einer Brücke dreht sich abrupt weg, während ihr Rock vom Wind aufgebläht wird. Der Wind hat, wie bei Keaton, einen abgründigen Sinn für Humor. So entreißt er einem Mann den Brief, genau in dem Moment, als er diesen in den Briefkasten schieben will. Der Wind treibt sein Spiel mit allen. Serres betont bei der Erfahrung des Windes die ganzkörperliche Dimension. Wir vibrieren im Stakkato-Rhythmus des Windes. In Hermes V. Die Nordwest-Passage beschreibt er die körperliche Erfahrung, aus der Sicht eines Matrosen auf offener See. 53  F . Viatte, »›Della Figura che va contro vento‹. Il tema del soffio nell’opera di Leonardo da Vinci«, in: Lettura Vinciana XLV, 16.4.2005, Mailand 2006.

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»Vom Wind ergriffen. Von der Gewalt der Bö erfasst, gestoßen, zu Boden geworfen und weiter umhergeworfen […]. Bö (le grain), Brise, der Wind weht kräftig und frisch, grand frais (il vente grand frais). Alle Ränder zerfransen flappend. Vom Wind wird man nicht gepackt wie von einer großen Hand, die einen beständig niederhält; die Bö (rafale) überfällt dich mit Gewalt, dann läßt sie für einen Augenblick nach, und in der Zwischenzeit versetzen kleine, lebhafte, schnelle Hände dir Ohrfeigen und zerren an dir (claqué, giflé, souffleté par de petites mains vives aiguës, rapides). Die große Turbulenz ist ein nahezu runder Rosenkranz aus Böen oder grains, Körnern […], ein Korn aus Körnern von Körnern. […] der Wind ist Brise, brise brisée, gebrochene Brise. […] Der Wind ist voller Teilwinde, er zerbricht in kleine Winde (il se brise en petites bises), deren kleine Böen sanfter wehen (où le petits soufflets sont un peu plus doux). Grand frais […]. Nicht frais, frisch von frisquet, denn der ›frische‹ Wind kann brennend heiß sein. Sondern les frais, Geld, Ausgaben oder Kosten, frais von frangere, fractum, fraktal!«54 Um die ganzkörperliche Erfahrung des Windes darzustellen, personifiziert Serres den Wind und verleiht ihm dadurch eine eigene Körperlichkeit. Der Wind hat Hände verschiedener Größen, mit denen er Ohrfeigen unterschiedlicher Stärke verteilt. Kräftige Hände, die einem ins Gesicht schlagen und kleine agile Hände, deren winzige Schläge man kaum wahrnimmt. Unterschiedliche Worte weisen auf diese Unterschiede hin: Claque, gif le, souff let. Die sanfteren kleinen Schläge sind wie Küsse. Der Wind ist eine Ohrfeige, die in zahlreiche kleine Küsse zerfällt, il se brise en petites bises. Trotz ihrer Fluidität können Wasser und Wind extrem hart sein. Turbulenzen im Wasser fühlen sich auf einem Schiff an, als ob man über einen Haufen von Steinen fahren würde. Die Körner des Windes wirken wie fallende Flocken oder Hagelkörner und berühren dementsprechend den ausgesetzten Körper. Die fraktale Körnung des Windes ist wie die Körnung einer Küste oder die Körnung der Haut. Mandelbrot, so Serres, hat es verstanden, dem Wind wieder zuzuhören55, so wie die Seeleute es tun, die ihn immer auch auf der Haut spüren. Die folgende Passage fügt zur Ohrfeige und dem Kuss noch das Lachen und das Lächeln hinzu.

54 Serres, Die Nordwest-Passage, S. 143-144. 55 Vgl. ebd., S. 144.

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»Das Meer hebt sich mit dem Wind. […] Zwischen den Wellenkämmen ist das Wasser nicht glatt und ruhig, es kräuselt und bricht (elle plisse et se frange) sich. Das Lachen des Windes (la risée) prägt der Dünung die Brise auf. Es ist ein Lachen voller Lächeln, das vielfältige Lächeln des großen Klamauks, un ris plein de risées, ein Lachen voller Gespött, ein Reff voll Wind. Oder sollte man es zusammenfassen und sagen: sourisée? Wer hätte noch nicht den Wind und die fraktalen Wirbel gesehen, finden sie doch alle Tage ihre Niederschrift auf großen Stücken der hohen See? Der frische Wind, die Brise, die zerfetzte Bö (le frais, la brise, le grain frangé) schreiben lächelnd (en risée) unter der Dünung und als Kamm auf dem Lächeln in der grünen Weite.«56 Das Wortfeld umfasst rire, ›lachen‹, sourire, ›lächeln‹, und risée, von ris, das zugleich ›Gespött‹ und ›Reff‹ bedeutet, sowie sourisées, ein Neologismus aus sourire und risée. Reffen bezeichnet auf einem Segelschiff den Vorgang, bei dem die Segelf läche reduziert wird, meistens während oder in Erwartung schlechten Wetters mit starkem Wind. Hinzu kommt noch die Metapher der Schnur und des Schnürens, welche die Metaphern des Zerbrechens durch eine Metapher des Verbindens und Zusammenfügens ergänzt. »Der Wirbel ist eine Spirale. […] Der ursprüngliche griechische Ausdruck bezeichnet eine Pflanze, eine Ginsterart, das Espartogras, aus dem man von jeher Taue und Seile (cordes et cordages) knüpfte, Trossen und Schiemannsgarn; der Seemann macht, was er anfaßt und sieht, er dreht und flicht Seile, Taue aus Tauen (il tord, il tresse des fils, des filins de filins) und so weiter. Wie oft muß man ein ordentliches Tau drehen, bis man bei den Fasern ist? Ein Tau ist fraktal, es ist homöomer. So wiedersteht es den fraktalen Kräften, den Böen (aux forces fractales, aux rafales). Der Wirbel ist eine Spirale […]. Von einem Zopf kann man sagen, daß er gleichfalls aus sich selbst aufersteht.«57 Fils, filins, filins de filins. Die fraktale Struktur findet sich selbst in den von den Matrosen gef lochtenen Tauen und Trossen wieder. In Serres’ metaphorisierender Darstellung, die mit Alliterationen und Konsonanzen operiert, ist die körperliche Erfahrung des Windes grundsätz56 Ebd., S. 146. 57 Ebd., S. 146,

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lich ambivalent. Der Wind versetzt uns Schläge, umschmeichelt und küsst uns, er lacht und lächelt uns an und zugleich sind wir sein Gespött. Wir sind aber nie bloß ein passives Objekt und ein Spielball seines Willens. Der Wind spricht zu uns und wirkt direkt auf unseren Körper ein. Serres nähert den Menschen auf vielfache Art und Weise dem Wind an. Dies findet auf der Ebene der Sprache statt, aber auch durch Personifizierung und die Vorstellung einer allumfassenden Fraktalität. Die körperliche Interaktion mit dem Wind offenbart, die vielfachen auf Ähnlichkeit beruhenden Beziehungsformen, die der Mensch mit seiner Umwelt unterhält. Dass Serres dazu gerade den unsichtbaren und unkontrollierbaren Wind auserwählt hat, verleiht dem dialogischen Verhältnis von Mensch und Welt eine besondere Brisanz. Auch Ingold versucht anhand des Wetters und des Windes die Verbindung zwischen dem Menschen und seiner Umgebung neu zu interpretieren. Dabei steht das Verhältnis von Himmel und Erde im Mittelpunkt.

Weather-World Zur Erklärung, worin sich die Wahrnehmung einer Landschaft von der Wahrnehmung des Wetters unterscheidet, schlägt Ingold die Unterscheidung zwischen drei miteinander verbundenen Momenten vor: dem Medium, der Substanz und der Oberf läche. Das Medium ist für den Menschen normalerweise die Luft. Diese ermöglicht es uns zu atmen, und da sie wenig Widerstand leistet, auch uns zu bewegen, Dinge zu tun und Dinge zu berühren. Die Luft überträgt mechanische Schwingungen, Strahlungsenergie und Geruchsmoleküle, was uns ermöglicht zu sehen, zu hören und zu riechen. Substanzen dagegen sind in der Regel solide Gegenstände, Holz, Steine und dergleichen. Wir können darauf stehen, aber nicht durch sie hindurchsehen. Die Schnittstellen zwischen dem Medium und den Substanzen sind die Oberf lächen. An diesem Interface finden die meisten menschlichen Tätigkeiten statt. Das Interface zwischen Himmel und Erde ist der Boden. Landschaften sind Oberf lächen, das Wetter hingegen ist das, was sich im Medium der Luft ereignet. Landschaften werden uns durch das Sehen, Hören und Berühren von Dingen vermittelt, das heißt, durch Beobachtung. Das Wetter hingegen ist uns durch die Erfahrung von Licht, Klang und Gefühl zugänglich. »The implication is that as weather changes we do not see different things, but we do see the same things differently. […] the weather

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is not what we have a perception of; it is rather what we perceive in. […] It is not so much an object as a medium of perception.«58 Auch wenn man den Wind und seine Auswirkungen sieht und hört, den kalten Luftzug auf dem Gesicht spürt und die eigene Körperhaltung seiner Stärke und Richtung anpasst, hat er nichts Substantielles. Man kann den Wind zwar fühlen, aber nicht berühren und auch der Wind berührt einen nicht, wie es die Sprache haben will. Der Wind bestimmt viel eher die Art und Weise, wie wir unsere Umgebung und die darin enthaltenen Dinge wahrnehmen. »We do not touch the wind, nevertheless things feel different when it is windy compared with when it is calm. For we touch in the wind. Wind is an experience of feeling, just as the brilliance or cloudiness of the sky is an experience of light. In our movement of action and perception we respond to the wind, as other creatures do.«59 Mit dem Wind und dem Wetter ist man immer mittendrin. »[…] it not so much the wind that is embodied as the body, in breathing, that is enwinded.«60 Seine Richtung, Stärke und jeweilige Temperatur sowie die Kontinuität oder Böenartigkeit seines Wehens wirken sich auf unsere Stimmung aus. Ein lauwarmer sanfter sommerlicher Luftzug schafft eine ganz andere Stimmung und taucht die Dinge in eine ganz andere Atmosphäre als eine schneidend kalte steife winterliche Brise. Hinzu kommt, dass die Erfahrung von Wind und Wetter jenseits der Trennung von Objekt und Subjekt stattfindet: »The equation of materiality with the solid substance of the earth has its root in a tendency, deeply sedimented in the canons of western thought, to imagine that the world is presented to human life as a surface to be occupied. […] life goes on upon the outer surface of a world that has already congealed in its final form, rather than in the midst of a world of perpetual f lux.«61 Die Vorstellung, dass die Welt zuerst einmal aus soliden Dingen besteht, hat dazu geführt, dass Philosophen und Theoretiker die Dimension der Luft zugunsten der soliden Landschaftsformen vernachlässigt haben. »In a word, they have shut out the weather. Yet even the residents of the hyper-modern city have to contend with the weather, despite their best efforts to banish it to the exterior of their air-conditioned, temperature-regulated, artificial58 T. Ingold, »The eye of the storm. Visual perception and the weather«, in: Visual Studies, 20/2 (2005), S. 102. 59 Ebd., S. 103. 60 Ingold, Earth, Sky, Wind, and Weather, S. 32. 61 Ingold, The eye of the storm, S. 103.

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ly lit, and glass-enclosed buildings. For the walker out of doors, however, the weather is no spectacle to be admired through picture windows but an all-enveloping infusion which steeps his entire being.«62 Aus diesem Grund fehlt in der westlichen Philosophie ein konzeptueller Raum, welcher der Ref lexion über das Wetter und den Wind gewidmet ist, »those very real phenomena and transformations of the medium that we generally recognize as weather. Where, we might ask, do we place wind and rain, sunshine and clouds, frost and falling snow, thunder and lightning?«63 Diese Feststellung erinnert an Serres’ These zur Verdrängung der Meteore aus den philosophischen Diskursen der frühen Neuzeit und der Moderne. Geht es aber Serres vor allem um die Verwendung des Wetters als allgemeines interpretatives Modell auf der Grenze von Ordnung und Unordnung, so interessiert sich Ingolds phänomenologischer Zugang für eine existentielle lebensweltliche Definition des Wetters, die mit Flussers Zugang verwandt ist. Ingold schlägt vor, die traditionelle westliche Ontologie, welche die Oberf läche anstelle des Mediums privilegiert, umzukehren. Das Leben ereignet sich als Bewegung durch eine sich stets entfaltende und erneuernde Umwelt. Sie ist nicht ein Fortschreiten über eine vorgeformte Oberf läche. Die Menschen sind aus dieser Sicht inhabitants und nicht occupants, was nicht nur ›Bewohner‹, sondern auch ›Besetzer‹ bedeutet. Ingold verwendet in diesem Zusammenhang auch das Wort colonial, und verweist damit auf die Vorstellung, der Mensch habe das Land, auf dem er lebt, zuerst erobern und besetzen, d.h. kolonisieren müssen. Damit spricht Ingold eine Dimension an, die für Flussers Verständnis von Nomadismus eine zentrale Rolle spielt. Nomaden sind nicht in einem Territorium verwurzelt, das sie besitzen. Nomaden leben im Wind. »The inhabited world would be constituted in the first place by the aerial f lux of weather rather than by the grounded fixities of landscape. The weather is dynamic, always unfolding, ever changing in its moods, currents, qualities of light and shade, and colours.«64 In der Wetter-Welt ohne solide Existenzgrundlage erscheint das Leben als fragiles ephemeres Floß, unterwegs auf vielfachen Strömungen, schwebend zwischen Himmel und Erde. Aus dieser Perspektive erscheint der Himmel nicht mehr als Oberf läche, sondern als Medium. Himmel und Erde sind zudem keine Gegensätze 62 Ingold, Footprints, S. 131. 63 Ingold, The eye of the storm, S. 103. 64 Ebd., S. 103.

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mehr, sondern untrennbar ineinander verwickelt. Sie verschmelzen in ein gemeinsames Feld einer sich ständig im Entstehen befindenden Welt. Das Wetter umfasst die Landschaft. In seinem phänomenologisch und anthropologisch orientierten Ansatz geht Ingold wie Serres vom Wetter aus und weist dem Wind eine zentrale Rolle zu. Serres geht es im Wesentlichen um eine Kritik der linearen Vorstellung von Zeit und Geschichte und der damit verbundenen Idee eines fortlaufenden ungehinderten Fortschritts. Hinzu kommt eine neue komplexere fraktale Vorstellung des Verhältnisses von Ordnung und Unordnung. Ingold dagegen strebt eine radikal andere Anthropologie an, die sich von dualen Vorstellungen löst. Subjekt und Objekt, Himmel und Erde stehen einander nicht mehr dichotomisch gegenüber, sondern treffen aufeinander und vermischen sich. Dabei scheut er sich nicht, auf frühere aus moderner Sicht überholte Lebenswelten zurückzugreifen, wie z. B. den Animismus. Obwohl in den meisten animistischen Kosmologien die Winde als Lebewesen wahrgenommen werden, stößt man hier auf zentrale Momente von Ingolds Konzept der weatherworld. Der Animismus anerkennt beispielsweise das Primat der Bewegung bei meteorologischen Phänomenen. Hinzu kommt, dass in der animistischen Ontologie das Leben sich nicht auf der unbelebten Oberf läche einer fertigen Welt abspielt. Ebenso wenig ist der Himmel eine Oberf läche, weder eine reale noch eine imaginäre, sondern grundsätzlich ein Medium. »It should come as no surprise, then, that most animic cosmologies attribute supreme importance to the winds, for not only do the winds give shape and direction to people’s lives, they are also creatively (and destructively) powerful in their own right. It is not that they have agency; they are agency. The wind, to repeat, is its blowing, not a thing that blows. Likewise, persons are what they do. There is nothing peculiar or anthropomorphic, therefore, about the attribution of personal powers to the winds.«65 In der weather-world löst sich die Grenze zwischen Himmel und Erde auf und die Vorherrschaft einer auf den Boden und die Materialität von Substanzen fixierten Ontologie wird grundsätzlich in Frage gestellt. Die weather-world ist ein instabiles transitorisches Gemisch sich ständig verwandelnder Strömungen. Ingold unterscheidet zwischen dem exhabitant, der auf der stabilen 65 Ingold, Earth, Sky, Wind, and Weather, S. 31.

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Oberf läche der Erde wohnt, und dem inhabitant, der eigetaucht in einer Welt von Flüssen lebt, die an Serres’ globales Zirkulationsmodell erinnert. Der exhabitant of the earth steht mit beiden Beinen auf dem festen Grund der Erde, unter dem aufgespannten Himmelszelt. Er lebt in der Sesshaftigkeit. Die Stabilität dieser Lebensform ist für Ingold aber nur eine eingebildete, was schon in der Wahl des Präfixes ›ex-‹ zum Ausdruck kommt. Der exhabitant ist im Grunde genommen ein Gestrandeter auf der verschlossenen Erdoberf läche, ein Schiff brüchiger, ein Ausgestoßener aus einer kontinuierlichen f luiden Welt. Das eigentliche Lebensmilieu der Menschen ist die unauf hörliche Bewegung von Wind und Wetter, die einen von allen Seiten umgibt und ununterbrochen auf einen einwirkt. Der im Offenen lebende inhabitant of the weather-world hingegen ist ganz und gar in seine Welt getaucht, eine hybride Zwischenzone des kontinuierlichen Austausches. »[…] to inhabit the open is not to be stranded on the outer surface of the earth but to be caught up in the transformations of the weather-world.«66 Über die Luft, die man ein- und ausatmet, ist man noch zusätzlich in die f luide Umgebung eingebunden. »The process of respiration, by which air is taken in by organisms from the medium and in turn surrendered to it, is fundamental to all life. Thus, finally, to inhabit the open is to dwell within a weather-world in which every being is destined to combine wind, rain, sunshine and earth in the continuation of its own existence. […] In this mingling, as we live and breathe, the wind, light and moisture of the sky bind with the substances of the earth in the continual forging of a way through the tangle of lifelines that comprise the land.«67 Im Offenen gibt es keine Objekte. Die offene Welt hat weder Innen noch Außen, sondern nur ein stetes Kommen und Gehen. Diese schöpferischen Bewegungen erzeugen Schwellungen, Wucherungen, Ausstülpungen und Erscheinungen, aber keine Objekte. In der offenen Welt ist man in die andauernde Bewegung der Windf lüsse und Wetterströme verstrickt, deren Dynamik sich nicht nur auf den inhabitant, sondern auch auf die Erde überträgt, die nicht mehr als ein fester unbeweglicher Standort wahrgenommen werden kann.

66 Ebd., S. 19. 67  Ingold, Being alive, S. 115.

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Diese doppelte Perspektive eines äußeren und eines inneren Standpunktes liegt auch der theoretischen Beobachtung des Windes zugrunde. Man kann den Wind durch ein geschlossenes Fenster wahrnehmen und sich dabei auf seine visuellen Auswirkungen und auf die von ihm verursachten Geräusche konzentrieren oder man kann sich seinem Einf luss direkt aussetzten und ihn auf der Haut und in den Haaren spüren. Im zweiten Fall verschiebt sich die Wahrnehmung vom Visuellen und Auditiven auf das Taktile und Olfaktorische, ohne dass die anderen Wahrnehmungsformen dabei verschwinden würden. Die Luft steht nie richtig still, auch dann nicht, wenn wir den Wind nicht wahrnehmen. Ingold räumt jedoch die Möglichkeit eines Stillstandes nicht ganz von der Hand. »In the open, the medium is rarely, if ever, still. Almost always, it is in a state of f lux. Sometimes these f luxes are barely perceptible; at other times they are so strong that they can uproot trees and bring down buildings. They can power mills and send ships around the world. The general term by which we know them is wind. But how can we tell that it is windy?«68 In einem »Winds of life« betitelten Abschnitt des Essays »Earth, Sky, Wind and Weather« ref lektiert Ingold über die epistemologische Relevanz des jeweiligen Ortes beim Studium des Windes. Ausgangspunkt ist ein Gespräch mit seinen Studenten während eines Kurses an der Universität von Aberdeen über die ortabhängige Beziehung zum Wetter im Allgemeinen und zum Wind im Besonderen. »I wanted to test the difference between the kind of discussion we could have indoors, with reference to academic texts, and the kind one can have in the open, immersed in the weather and with the land all around us. It is one thing, I surmised, to think about land and weather: quite another to think in them. […] To find out, we went for a walk in the countryside. It was a spring day of bright sunshine and occasional showers, with a gentle breeze. We could not touch the breeze [however] we knew it was breezy since we felt it on our exposed faces and in our breathing. […] How could we feel the wind without being able to touch it? […] To feel the wind […] is to experience commingling. While we did not touch it, we touched in it.«69

68 Ingold, Earth, Sky, Wind, and Weather, S. 28. 69 Ebd., S. 28-29.

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Ingold beschreibt die ganzkörperliche Erfahrung des Windes als ein ImWind-Sein und Im-Wind-Berühren. Wenn wir davon ausgehen, dass der Wind uns berührt, gehen wir von einer abstrahierenden und personifizierenden Perspektive aus, die den Wind als Phänomen aus der umfassenden Erfahrungssituation, in der wir uns befinden, herauslöst. Dies verhindert die Erkenntnis, dass der Wind vor allem ein Medium ist, ein Milieu, das uns von allen Seiten umgibt. Das Wetter ist nicht so sehr, was wir wahrnehmen als das, worin wir etwas wahrnehmen. Die f luide und umfassende Erfahrung des Windes kann dabei die Wahrnehmung des Bodens, auf dem wir gehen, überblenden.«We touch and smell in the keen wind that – piercing the body – opens it up and sharpens its haptic and olfactory responses. Indeed a strong wind can so overwhelm the senses as virtually to drown out the perception of contact with the ground.«70 Dass man Dinge und Menschen überhaupt wahrnimmt, hat letztlich immer damit zu tun, dass man vom Medium Luft umgeben und eingehüllt ist. »[…] for persons or things to interact at all they must be immersed in the f lows, forces, and pressure gradients of the surrounding media. Cut out from such currents, they would be dead. In short, the medium is not so much an interactant as the very condition of interaction. It is only because of their suspension in the currents of the medium that things can interact. […] the quality of that interaction will be tempered by what is going on in the medium, that is, by the weather.«71 Das Wetter wirkt ununterbrochen auf unser Befinden, unsere Empfindungen und Gefühle, unser Denken und Handeln sowie unsere Erinnerungen und Erwartungen ein. Ingold verwendet das Verb to temper, von dem sich ein komplexes semantisches Feld erschließen lässt, das Wetter und Zeit, Musik und Gefühl, Körperkonstitution und Temperament, inneres und äußeres Klima umfasst. Die Strömungen des Mediums ›temperieren‹ unser Verhältnis zur Welt. Das Verb to temper, ›mäßigen, mildern, mischen‹, und das Substantiv temper, ›Gemüt, Laune, Naturell‹, kommen vom Lateinischen temperare, ›mäßigen, zurückhalten, beschränken, zügeln und im richtigen angemessenen Verhältnis mischen‹. Die beiden abgeleiteten Wörter ›Temperament‹ und ›Temperatur‹, welche Emotion und Wetter miteinander verbinden, beruhen beide auf einer Vorstellung von gradueller Abstufung. Temperatura ist die gehörige Mischung und die temperatio aeris, die Mäßigung und Vermischung 70 Ingold, Footprints, S. 131. 71 Ebd., S. 132-133.

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der Luft. Temperantia, ›die Temperanz‹, wiederum ist die richtige Mischung der Speisen. Die Temperamentsanlage ist die natürliche Gemütsmischung. Auch Serres und Reed haben auf diesen semantischen Zusammenhang hingewiesen, der bis in die Antike zurückreicht.72 Das Wetter ist eine Metapher für ein spezifisches Gefühl und eine charakterliche Wesensart. Man spricht von Gefühlserhitzung und von cooler Gelassenheit. ›Temperiert‹ kommt auch im Bereich der Musik vor, so spricht man von einem wohltemperierten Musikinstrument. Auch Metalle können durch plötzliche Abkühlung temperiert werden, damit sie die nötige Härte erlangen. In all diesen Fällen hat Moderation mit Mischung zu tun, damit ein ausgeglichener gemäßigter Zustand erreicht wird. Es ist erst die richtige Mischung des Konträren, die zu einer ausgeglichenen Lage führen kann. Das gilt sowohl fürs Wetter wie auch für die Gefühle und den Charakter einer Person. Schlechtes Wetter ist somit exzessives Wetter, das durch die ungehörige Vorherrschaft einer Komponente der Mischung zustande kommt. »With its twin connotations of mixing or blending and fine-tuning, the verb to temper captures perfectly the way the fluxes of the medium comprise the ever-present undercurrent for our actions as we go along in the world. By way of our immersion in the medium, we are constituted not as hybrid but as temperate (and temperamental) beings. The fact that a whole suite of words derived from this common root refer interchangeably both to the characteristics of the weather and to human moods and motivations is sufficient proof that the two are not just analogous but fundamentally identical. Both refer to the conditioning of interaction by our suspension in the medium. And if the weather conditions our interaction with people and things, then, by the same token, it also conditions how we know them.«73 Diese Identität von Wetter und Gefühl weist auf eine andere Denkform hin, die mit Serres’ Philosophie der Meteore verwandt ist. Ingold nennt diese andere Denklandschaft die Heimat unserer Gedanken. »Perhaps it is because we generally think and write indoors that we have such difficulty in imagining how any world we inhabit could be other than a furnished room, or how, cast out from this interior space, we could be anything other than ex72 Vgl. Serres, Atlas, S. 93 und Reed, Romantic Weather, S. 33. 73 Ingold, Footprints, S. 133.

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habitants. What difference would it make […] were we to acknowledge the open world of earth and sky not as the object but as the very ›homeland of our thoughts‹.«74

Air conditioning Bei einer meteorologischen Lektüre literarischer Texte muss man sich einem gewissen Risiko aussetzen, das mit der Unvorhersehbarkeit und Diskontinuität von Wetterzeichen zu tun hat: »to take to a reading of the weather requires literary criticism out of doors, and this move entails certain risks. Our predictions become more tentative than may be respectable …«75 Benutzt Reed das Verlassen geschlossener Räume als Metapher der Ablösung und des Auf bruchs, so verbinden Ingold und Serres damit eine andere körperliche Erfahrung und eine Kritik moderner Lebensformen. Ingold weist darauf hin, dass man üblicherweise in einem geschlossenen Raum Bücher schreibt, eigentlich eine eher banale Feststellung, die aber gerade im Falle des Wetters und des Windes bedeutsam wird. »It is perhaps because we are so used to thinking and writing indoors that we find it difficult to imagine the inhabited environment as anything other than an enclosed, interior space. What would happen if, instead we were to take our enquiry out of doors? […] we would have to contend with those f luxes of the medium we call the weather.«76 Dabei reicht eigentlich schon, dass man das Studierzimmer verlässt und sich draußen mit einem Buch und den Notizen an einen Tisch setzt. Auf einer dem Wind ausgesetzten Dachterrasse stellt man bald fest, dass die Luft einen stets umspielt, und die losen Blätter verwirbelt, sobald man abgelenkt ist. Ausgedehnte Spaziergänge auf dem Land oder in der Stadtlandschaft vermitteln eine umfassendere Erfahrung des Im-Wind-Seins. Diese sind unterschiedlich und einmalig wie die Winde, denen man an verschiedenen Orten begegnen kann. Dieses Buch ist zwischen Wien und Lugano entstanden, in denen die Winde ganz anders wehen. Serres diskutiert den Gegensatz von Innen und Außen im Zusammenhang mit einer radikalen und umfassenden gesellschaftlichen Veränderung, 74 Ingold, Earth, Sky, Wind, and Weather, S. 29. 75 Reed, Romantic Weather, S. 6. 76 Ingold, Being alive, S. 119.

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die uns zusehendes von unserer physischen Umgebung und dem Wetter getrennt hat. Der Bauer und der Matrose, deren Zeitverständnis noch vom jeweiligen Zustand des Himmels und den stündlichen Veränderungen des Wetters abhing, sind im Laufe des letzten Jahrhunderts buchstäblich von der Erdoberf läche der westlichen Welt verschwunden. Ihr Leben spielte sich noch weitgehend im »temps extérieur des intempéries«, dem äußeren Wetter, der äußeren Zeit, des Unwetters ab. Serres spielt hier nicht nur mit der Doppeldeutigkeit von temps, das zugleich Zeit und Wetter ist, sondern auch mit der Doppeldeutigkeit des Wortes intempéries, das man zugleich als Unwetter und Unzeit deuten kann.77 Intempéries sind schlechtes, nicht temperiertes Wetter, intemperies coeli. Das Wort stammt vom Lateinischen intemperiae, intemperies, und ist verwandt mit intempérance, der schlechten nicht ausbalancierten Zusammensetzung der Körpersäfte, die zu einem Mangel an richtigem Temperament und zu Krankheit führt. Da wir nunmehr nur noch in inneren Räumen leben, eingetaucht in die Zeit (ne vivant plus qu’à l’intérieur, plongés exclusivement dans le premier temps), sind wir dem Klima gegenüber gleichgültig geworden, und achten eigentlich nur noch in den Ferien auf das Wetter.78 Da sich unser Leben weitgehend im Inneren abspielt, hat das Klima keinen Einf luss mehr auf unsere Arbeit. Das Wesentliche ereignet sich nunmehr in geschlossenen Räumen und im Zusammenhang mit Worten, und nicht mehr draußen im Umgang mit den Dingen. Aufgrund des dadurch gewandelten Zeitverständnisses orientieren wir uns nicht mehr an der langen, sondern nur noch an der kurzen bis extrakurzen Dauer. Dabei wäre genau das Gegenteil vonnöten, um die von der Umweltverschmutzung bedrohte Erde zu schützen. »Diejenige, die draußen lebten, in der Zeit (dans le temps) des Regens und des Windes […] haben keine Stimme mehr.«79 Wir haben die Meteore und das Klima vergessen. »Die Meteore verdunsten in den politischen Philosophien, die genauso akosmistisch sind wie die Sozialwissenschaften […].«80 Serres hat diese Zeilen Ende der 1980er Jahre geschrieben. Die dramatischen klimatischen Änderungen der letzten Jahre und besonders diejenigen des Sommers 2022, haben uns eines Besseren belehrt. Das globale Klima und das alltägliche Wetter haben inzwischen wieder unsere volle Auf77  M. Serres, Le contrat naturel, S. 52. 78  Vgl. ebd., S. 53. 79  Ebd., S. 56. 80 Ebd., S.117.

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merksamkeit. Das Wetter und das alltägliche Reden darüber im Privaten und in den öffentlichen Diskursen haben eine neue noch nie dagewesene Brisanz angenommen. »Die Philosophie ist endlich nach draußen gegangen. Da sind die Fluten. Die formlosen Fluten. Das Meer und die Mischung.«81 In einem Essay, der den programmatischen Titel »Air conditioning« trägt, hat sich Eva Horn mit weiteren Aspekten dieser historisch kulturellen Entwicklung, die mittlerweile schon fast den ganzen Planeten erfasst hat, beschäftigt. Darin geht es um die Zähmung des Klimas als Projekt der Moderne, wie es treffend im Untertitel heißt. Horn schildert ihre Ankunft im Flughafen von Singapur anhand abrupter kontrastierender körperlicher Wahrnehmungen. Die feuchte tropische Hitze trifft sie zuerst wie ein Schlag, auf den kurz darauf im klimatisierten Taxi ein weiterer konträrer folgt. Das Leben spielt sich in Singapur fast ausschließlich in künstlich trocken gehaltenen Klimakapseln ab, Räume »ohne meteorologische Überraschungen«82, das heißt auch, ohne jeden Lufthauch, abgesehen von dem der Klimaanlagen. »Klima-Kontrolle ist […] nicht ein Produkt der Komfortgesellschaft des 20. Jahrhunderts, sondern Kern des zivilisatorischen Projekts, sich von den Fährnissen der Natur zu befreien, gerade da, wo sie sich uns nicht als greif- und gestaltbares Ding, sondern als f lüchtige Atmosphäre zeigt.«83 Wie Serres und Ingold verweist sie auf etwas, was in der Moderne zusehends abhandengekommen ist. Es geht dabei nicht um die Frage nach dem Einf luss des Klimas auf den Menschen und auf die verschiedenen Kulturen, die im Westen eine jahrhundertelange Tradition aufweist, sondern um etwas viel Grundlegenderes, Existenzielles, »[…] was die Moderne aktiv verdrängt hat: die Frage nach einem In-der-Welt-Sein des Menschen, das ein Im-Klima-Sein ist.«84 Die Moderne »träumt davon, die Prägung des Menschen durch die Atmosphäre abzuschütteln und Welten zu schaffen, in denen das Klima entweder keine Rolle mehr spielt oder eine Option geworden ist […].«85 Dieses langfristige Projekt, das in den wohl temperierten Einkaufszentren der Gegenwart ihre vorerst letzte Ausformung gefunden hat, geht auf viel frühere Versuche zurück. Horn verweist auf den riesigen heiz81 Serres, Verteilung, S. 11. 82 E. Horn, »Air conditioning. Die Zähmung des Klimas als Projekt der Moderne«, in: Sinn und Form 4 (2015), S. 456. 83  Ebd., S. 457. 84  Ebd., S. 458. 85  Ebd., S. 459.

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baren Kristallpalast, der 1851 in London entstand, ein Vorläufer kommender Shopping-Malls, Schwimmbäder und Erlebnisparks. Damit beginnt eine Kultur des kontrollierten standardisierten und stabilisierten Klimas, welche zugleich die Offenheit eines Draußen zu simulieren versucht. Die Lüftchen, die einen manchmal in den vollklimatisierten Geschäften subtil umschmeicheln, sind künstlich und wollen nichts mehr mit den Atemvorgängen zu tun haben, die uns doch so eng mit unserer Umgebung verbinden. Wir vergessen damit zusehends, dass Wind und Wetter auch unsere Lebensformen prägen und nicht nur unsere Leistungsfähigkeit und unser Wohlbefinden. Viele Kulturen kennen so etwas wie eine »klimatische Intelligenz«, eine intelligente Anpassung an oft extreme Wetterbedingungen. »Wir Mitteleuropäer dagegen sind im Begriff, diese […] zu verlieren, oder haben sie als Einwohner der berühmten temperierten Zone vielleicht nie besessen. […] Unsere Außenwelt ist ein kontrollierter Innenraum geworden […]. Vielleicht ist es Zeit, aus der weltweiten Klimakapsel herauszukommen: in die heiße oder kalte, feuchte oder trockene Luft, die uns erwartet.«86 Das Wort temperiert nimmt hier eine ganz andere Bedeutung an. Die Ausgeglichenheit des Wetters ist nunmehr ganz und gar anthropogener Natur. Horn spricht von einer Architektur, welche die »anthropologische Norm vom gemäßigten Klima« buchstäblich umsetzt, und davon, wie wir »gerade durch diese massive Temperierung zunehmend intolerant, wenn nicht ungeeignet für das extreme Klima werden, das zu schaffen wir im Begriff sind.«87 Sich bewusst dem Wind auszusetzen und in diesem unterzutauchen, kommt vor dem gewandelten kulturellen und sozialen Hintergrund einer hochtechnisierten Postmoderne eine erhellende fast therapeutisch anmutende Funktion zu. Denn der Mensch ist nicht nur vom äußeren Klima abgeschnitten, sondern auch vom inneren, und vom Bewusstsein, dass eine grundlegende Verbindung zwischen dem eigenen Atemvorgang und den zirkulierenden Winden besteht. »[…] in the open world, persons and things relate not as closed forms but by virtue of their common immersion in the generative f luxes of the medium - in wind and weather. Fundamental to life is the process of respiration, by which organisms continually disrupt any boundary between earth and sky, binding substance and medium together in forging their own growth and movement.«88 86 Ebd., S. 462. 87 Ebd., S. 461. 88 Ingold, Earth, Sky, Wind, and Weather, S. 19.

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Fraktaler Atem und fraktale Winde Der Atem und der Wind, die im Laufe der Neuzeit voneinander geschieden wurden, finden in Serres’ umfassender ökologischer Philosophie im Zeichen eines globalen Systems fraktaler Ströme wieder zusammen, wenn auch auf neue Art und Weise: Atemzüge sind turbulent wie Winde.89 Damit verläuft das Narrativ dieses Kapitels parallel zu den ersten beiden Kapiteln, die ebenfalls von einer Rückkehr zu früheren Vorstellungen berichten, einer Rückkehr allerdings, die weit über den Anfang hinausweist. Was die beiden Luftströmungen, den Atemzug und den Wind angeht, so weisen sie vergleichbare Strukturen und Verhaltensweisen auf. Beide können von einem laminaren in ein turbulentes Fließen umschlagen. Analog zur Windströmung kann die Luftströmung in den Luftwegen des Körpers leicht turbulent werden. Dies hängt von mehreren Faktoren ab, z. B. von erhöhter Strömungsgeschwindigkeit und zunehmender Dichte und Viskosität des Atemf lusses. Laminares Fließen findet man vor allem dort, wo die Strömungsgeschwindigkeit sehr niedrig ist, beispielsweise in den terminalen Bronchien. Turbulente Strömungen hingegen entstehen in der Trachea, wo sich die Luftmoleküle nicht nur schneller, sondern auch in alle möglichen Richtungen bewegen. Darüber hinaus gibt es Stellen, z. B. bei Verzweigungen größerer Luftwege, in denen eine Mischung aus laminaren und turbulenten Strömungen auftritt.

89  Vgl. Serres, Aufklärungen, S. 180.

8. Der Wind des Wahnsinns: Plötzlichkeit und Exzess »If the disorder that marks the weather has its geological version in mountains, it has its psychological version in madness; we may define madness, then, as the subjective manifestation of meteorological turbulence.« Arden Reed, Romantic Weather Dieses Kapitel steht im Zeichen der bedrohlicheren destabilisierenden Aspekte des Windes. So kann der Wind eine Metapher der Melancholie und des Unheils, des plötzlichen emotionalen Umschwungs, der unbegrenzten Steigerung, des Wahnsinns und der Krankheit sein. Das Spektrum der Windmetapher verläuft dabei von der vollkommenen Windstille über den zarten beseelenden inspirierenden Lufthauch und das plötzliche Einbrechen einer anderen Welt bis hin zum entfesselten Sturm.

Die Windstille der Seele Die Windstille ist der Moment, in dem die einzelnen ungezähmten Winde noch in Äolus Windsack gefangen sind und nur darauf warten, endlich auszubrechen. Es ist eine vorübergehende ephemere Stille voller unausgesprochener Drohungen, die jederzeit durchbrochen werden kann. Diese Ambivalenz der Windstille ist ebenfalls in der philosophischen und literarischen Tradition der westlichen Kultur angelegt. Der windstille Raum ist ein Ausnahmezustand, in dem man verstrickt ist, verdammt zur Einzelhaft im Windschatten seiner selbst. Die Windstille ist eine Überdosis an Ruhe,

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die Unheil und Trostlosigkeit bedeutet und eine lädierte Seele hinterlässt.1 In der Philosophie wurde die Abwesenheit von Wind aber auch in einem bejahenden Sinne verstanden. In der griechischen Mythologie waren die Halkyone die Feinde der Windstille. Alkyone, die Tochter des Äolus wurde in einen Eisvogel verwandelt, nachdem sie sich aus Trauer für ihren ertrunkenen Mann in die Fluten gestürzt hatte. Die halkyonischen Tage wurden im antiken Griechenland wegen des heiteren Wetters und der Windstille geschätzt. Freud spricht in einem Brief an Overbeck vom Dezember 1888 von der vollkommenen Windstille der Seele, einem windstillen Winkel des Denkens, der als eine Zuf luchtsstelle dienen kann. Auch der griechische Skeptiker Sextus Empiricus lobt die mentale Flaute als Zustand der Ungestörtheit und inneren Ruhe. Die Ataraxie, die unerschütterliche Seelenruhe des Epikureismus und Pyrrhonismus wird meist in der Metapher der Meeresstille eingefangen. Diese ist dabei aber nicht mit absoluter Bewegungslosigkeit und Lethargie gleichzusetzen, sondern mit einem Zustand ebenmäßiger Bewegung und einem ungehinderten Gehen. Es ist eine Ruhe der Seele, die zugleich ein ausgeglichenes Leben verspricht. Die heitere Meeresstille und die Windstille hängen zusammen. In seinen Bemerkungen zur »nautischen Daseinsmetaphorik« schreibt dazu Hans Blumenberg: »Es gibt Küsten und Inseln, Hafen und hohes Meer, Riffe und Stürme, Untiefen und Windstillen, Segel und Steuerruder, Steuermänner und Ankergründe, Kompaß und astronomische Navigation, Leuchttürme und Lotsen. Oft dient die Metaphorik der Seefahrtsabenteuer allerdings nur dazu, die Behaglichkeit und Ruhe, die Sicherheit und Heiterkeit des Hafens vorzustellen, in dem die Seefahrt ihr Ende finden soll. Wo die Vorstellung des Hafens ausgeschlossen werden muß, wie bei Skeptikern und Epikureern, kann die Windstille auf dem hohen Meer die Anschauung des Glücks vertreten. Die Aufklärung wiederum hat sich von der Glücksidee der Windstille distanziert und die Leidenschaften gerechtfertigt als das treibende Element des Lebens […].«2

1 Vgl. Cartier, Der Wind, S. 18-30. 2  H  . Blumenberg, »Beobachtungen an Metaphern«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), S. 171-172.

8. Der Wind des Wahnsinns: Plötzlichkeit und Exzess

Lufthauch und Windstoß Obwohl in diesem Buch immer wieder auf Windmetaphorik aus Filmen zurückgegriffen wird, soll hier aufgrund der gewählten Perspektive keine umfassende Untersuchung des Windes im Medium Film angestrebt werden. Hier ein paar allgemeine Bemerkungen zur metaphorischen Dimension. Der Wind als kinematographisches Objekt3 braucht etwas, um sichtbar, hörbar oder fühlbar zu werden. Er ist ein f luides, transparentes Medium. Indem er den Widerstand und die Beweglichkeit der Dinge abtastet, kinomatografiert er diese. Der Wind erzählt von den materiellen Eigenschaften der Dinge, vermittelt Atmosphären und verwickelt in Turbulenzen. Winde bewegen Dinge von f lexibler, leichter, poröser und permeabler Materialität, die geringen Widerstand aufweisen. Brisen zeigen sich in den Verwirbelungen des aufsteigenden Rauches, im Zittern der vom Wind erregten Blätter, in wehendem Haar und f ließenden Gewändern. Wind rauscht in den Ohren, pfeift um die Ecken, und bewegt Türen und Fenster, als ob es eine Geisterhand wäre. Der Wind berührt die Haut, er vermittelt Wärme und Kälte und kann zu Gänsehaut führen. Ein erster umfassender Versuch zum Verhältnis von Wetter und Film ist Kristi McKims Cinema as Weather. Stylistic Screens and Atmospheric Change, das von einer grundlegenden Affinität der beiden Bereiche ausgeht, die auf ihrem gemeinsamen ephemeren Charakter beruht: »[…] film weather is a means of artfully and mechanically conquering contingency through contingency, of taming weather through a medium itself ephemeral and enduring.«4 Wetter im Film suggeriert somit etwas wie Kontrolle über das, was grundsätzlich f lüchtig ist und die menschliche Fähigkeit es zu zähmen überschreitet. »With the cinema, for the first time, weather becomes a screen. […] Cinema lends meteorology a metaphor by which we read our skies, while meteorology enriches our conception of film.«5

3 Vgl. H. Borisch und J. P. Müller, »Wind«, in: Wörterbuch kinematographischer Objekte, hg. von M. Böttcher et. al., Berlin 2014, S. 172-174. 4 K. McKim, Cinema as Weather. Stylistic Screens and Atmospheric Change, Routledge, New York und London 2013, S. 5. 5 Ebd., S. 11.

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In einem kurzen Videovortrag zum Windsymbolismus in Fellinis Filmen geht Richard Dyer auf eine Reihe von weiteren Aspekten ein.6 Der Wind wird bei Fellini als ein Affekt eingesetzt. Er stellt dabei vor allem eine spirituelle Quelle der Erlösung und ein Moment der Befreiung dar. So entkommt Marcello Mastroianni in Otto e mezzo einem Verkehrsstau, indem er sich in die Lüfte erhebt. Fellinis Le notti di Cabiria schildert das Leben der römischen Prostituierten Maria Ceccarelli, genannt Cabiria, die trotz aller Enttäuschungen und Demütigungen die Hoffnung auf ein besseres Leben noch nicht aufgegeben hat. Sie ist auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und sehnt sich nach Erlösung aus der Gefangenschaft ihres irdischen Daseins. In einer Sequenz des Filmes ist sie unterwegs im Auto mit einem Mann, der eine Wohltätigkeitsarbeit in den Vororten von Rom ausübt. Es ist frühmorgens. Sie halten an und der Mann, der auch als Christusfigur gedeutet werden kann, fragt sie, wo sie wohne, wie sie heiße und ob sie allein lebe. Cabiria lebt ganz allein in der Peripherie der Stadt. Sie hat ihre Eltern verloren, als sie klein war, und ist erst danach nach Rom gekommen, wo sie nun ihrem Gewerbe nachgeht. »Geh schlafen«, meint der Mann sanft und voller Mitgefühl, »poverina«, ›armes Ding‹, fügt er hinzu. Er öffnet ihr die Autotür, sie steigt zögernd aus und steht kurz mit dem Rücken zum Auto da. Ein Windzug ist hörbar, und man sieht auch wie er kurz ihre Federboa umspielt. Dieser Wetterschauer, der Cabiria plötzlich von außen anrührt, ruft eine kurzfristige nachdenkliche emotionale Stimmung hervor, die sich aber bald schon wieder auf löst. Darauf hin dreht sie sich kurz lächelnd um und spricht durchs halboffene Autofenster, während sie ihren Hut mit der Hand festhält. »Auf Wiedersehen«, sagt der Mann zuerst, und fragt dann einladend lächelnd: »Was willst du?« Aber sie bedankt sich knapp, lächelt ebenfalls irgendwie erleichtert und geht dann schnellen Schrittes weg. In Ridley Scotts Thriller All the Money in the World aus dem Jahr 2017, welcher der 1973 in Rom begangenen Entführung von John Paul Getty III, dem Enkel des gleichnamigen amerikanischen Milliardärs gewidmet ist, spielt ein plötzlicher heftiger Windstoß eine entscheidende Rolle, bewegt er doch den Großvater dazu, endlich auf die Lösegeldforderungen der Entführer einzugehen. Diese hatten dem Entführten ein Ohr abgeschnitten und es an eine große italienische Zeitung geschickt. Im Auftrag der Mutter veröf6 Vgl. R. Dyer, »The Wind in Fellini«, Internationales Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie, Bauhaus Universität, Weimar 2009.

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fentlichte diese auf der ersten Seite ein Foto des verstümmelten Neffen und verschickte dutzende von Exemplaren an den Milliardär. Die kurze Szene spielt sich vor der Villa J. Paul Gettys ab. Ein roter Lieferwagen hat soeben mehrere Zeitungsstapel ausgeladen. Auf Anweisung Gettys, der sich wegen des Windes mit der linken Hand den Hut festhält, bückt sich ein Angestellter darüber, packt den obersten Stapel aus und reicht ihm ein Exemplar. Gettys Blick gleitet vom makabren Titel, »Abbiamo ricevuto l’orecchio di Paul Getty«, wir haben das Ohr Paul Gettys erhalten, zum Foto des Neffen. In diesem Moment reißt ihm der Wind den Hut vom Kopf, und während er sich mit windzerzausten Haaren abwendet, auch noch die Zeitung aus den Händen, deren Seiten wild durch die Luft wirbeln. Während er wankenden Schrittes zur Haustür zu gelangen versucht, ergreift der Wind noch weitere Zeitungen, die ihn wie böse Geister zu umf lattern beginnen. Die Schlusseinstellung zeigt, wie der Angestellte vergeblich versucht, das Davonf liegen der anderen Zeitungen zu stoppen. Der unerwartete Windstoß versinnbildlicht Gettys plötzliche emotionale Ergriffenheit. Der davonf liegende Hut ist eine Metapher der Kopf losigkeit. Unkontrollierbar und anarchisch bringt der unsichtbare Wind die verborgenen Emotionen, aber auch den plötzlichen Umschlag der Gefühle visuell und akustisch zum Ausdruck. Plötzlich ist alles anders. Überwältigt verschwindet Getty in der Villa. Diese Darstellung passt zur Figur, ist doch Getty unfähig oder unwillig, seine Gefühle und seine Schuld vor sich und anderen einzugestehen. Im Gegensatz zu Cabiria, die nur kurz von einem Hauch gestreift wird und einen Moment lang bloß die Möglichkeit einer anderen Existenz erfahren hat, ist Getty vom plötzlichen heftigen Windstoß tief getroffen worden. In der Folge wird er auf die Forderungen der Entführer eingehen. Die beiden Filmszenen könnten als eine Veranschaulichung der von Schmitz hervorgehobenen Windnatur der Erregung gedeutet werden. Im Gegensatz zur Szene aus Le notti di Cabiria, in welcher der feine Lufthauch sowohl haptisch wie visuell kaum merklich ist und daher wohl auch keine bleibende Veränderung im Gefühlshaushalt der Figur hinterlässt, führt in Ridley Scotts Film die Heftigkeit des Windstoßes und die sichtbare Verwirrung, die er anstiftet, zu einer grundsätzlichen, wenn vielleicht auch nur vorübergehenden Metamorphose. Getty wird vom plötzlichen heftigen Luftstoß erfasst, der ihn nicht nur verwirrt und taumelnd mit zerzausten Haaren zurücklässt, sondern auch sein Innerstes durchwühlt.

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Sturmhöhe Neben dem Meer ist die Wüste die Landschaft, die auf das engste mit der Erfahrung des Windes zusammenhängt. In Dorothy Scarboroughs Roman The Wind (1925) und der gleichnamigen Verfilmung Victor Sjöströms (1928) ist es eine weitgehend leere Landschaft, die von unausgesetzten zermürbenden Windstößen heimgesucht wird wie die windgepeitschte Anhöhe der Hochmoore von Yorkshire in Emily Brontës Wuthering Heights (Sturmhöhe) (1847).7 Wuthering ist mit withering, ›verwelken, vernichten‹, verwandt, aber auch mit weather und bezieht sich auf das vom Wind verursachte Geräusch.8 Wuther ist eine dialektale Variante des schottischen whither, ›eilen, brausen‹, und mit dem altnorwegischen hviða, ›Windböe‹, verwandt. Zu Beginn des Romans wird explizit auf das Wort hingewiesen: »Wuthering Heights is the name of Mr. Heathcliff’s dwelling. ›Wuthering‹ being a significant provincial adjective, descriptive of the atmospheric tumult to which its station is exposed in stormy weather. Pure, bracing ventilation they must have up there at all times, indeed: one may guess the power of the north wind blowing over the edge, by the excessive slant of a few stunted firs at the end of the house […].«9 In »The Poetics of Climate in Brontë’s Wuthering Heights« spricht Mark Axelrod von den zahlreichen weiteren Hinweisen auf den Wind, das Wetter und die natürliche Umgebung, die so etwas wie eine »poetics of weathering or wuthering«10 darstellen, was schon die ersten Kritiker des Buches festgestellt hatten. So wurde der Roman in den Rezensionen der Zeit als eine atmosphärische Störung beschrieben. Der Wind rüttelt kontinuierlich an den Fenstern und bricht sich an den Mauern der Häuser, welche die Menschen darin gefangen halten. Cathy und Heathcliff definieren sich bewusst in Bezug auf das Wetter. »What vain weather-cocks we are!«11, meint die Erzählerin auf ihre gefühlsmäßige Instabilität anspielend zu Beginn von Kapitel vier. Ihre Persönlichkeit lebt in der steten Spannung unterschiedlicher kontrastiver Wetterlagen: »They each have in their parentage both storm and calm, rival weathers, 7 Vgl. Harris, Weatherland, S. 284-288. 8 Vgl. M. Axelrod, »The Poetics of Climate in Brontë’s Wuthering Heights«, in: The Poetics of Novels. Fiction and its Execution, Basingstoke 1998, S. 55. 9  Brontë, Wuthering Heights, Harmondsworth 1975, S. 46. 10 Axelrod, Poetics of Climate, S. 60. 11 Brontë, Wuthering Heights, S. 74.

8. Der Wind des Wahnsinns: Plötzlichkeit und Exzess

which have mixed in the blood and tempered each other.«12 Am Ende setzt sich die stürmische zerstörerische Tendenz durch. Der gnadenlose gewaltsame Wind wird in alliterativen Wendungen wiedergegeben: »sky and hills mingled in one bitter whirl of wind and suffocating snow«, »but the snow and wind whirled wildly blowing out the light«13 »the full fury of the storm.«14 Der Himmel und die Hügel vermischen sich in einem bitteren Wirbel aus Wind und erstickendem Schnee. Das äußere winddurchfurchte Klima der Hochmoore findet eine Entsprechung in den schwierigen konf liktbeladenen menschlichen Beziehungen und den Gefühlslagen, dem inneren Klima der Figuren. Axelrod spricht in diesem Zusammenhang von einem »emotional maelstrom«.15 Der Wind kennt aber auch feinere zartere Seiten: als sanfter Tauwind haucht er durch das Gras und lässt kaum merklich die Blätter erzittern. Nova hat dem Verhältnis von Wind und Wahnsinn eine eindringliche Beschreibung gewidmet, die einige der hier genannten Momente weiterspinnt. »Der Wind der Einbildungskraft kann auch als Metapher des Wahnsinns interpretiert werden.« Johann Heinrich Füsslis Gemälde Die wahsinnige Kate (1806-07) ist von William Cowpers Gedicht Crazy Kate aus dem Jahr 1785 inspiriert. Dieses erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die sich mit einem Matrosen vermählt, der auf hoher See stirbt und sie völlig allein zurücklässt. Füsslis Gemälde »zeigt eine junge Frau mit erweiterten Pupillen, verdrehtem Mund und vom Schmerz gezeichneten Gesichtszügen. Sie sitzt auf einem Felsen vor einem stürmischen Hintergrund und gestikuliert in Richtung der bewegten Wellen des Meeres, die als Zeichen für eine doppelt belegte Metapher zu verstehen sind.« Sie deuten auf den Tod ihres Geliebten, aber auch auf ihren eigenen Wahnsinnszustand. »Hierbei handelt es sich um eine Botschaft, die durch den heftigen Wind, der stürmisch in zwei entgegengesetzte Richtungen weht, noch weiter verstärkt wird, gerade so als wolle er den emotionalen Verlust Kates unterstreichen.« Nova weist darauf hin, dass die Darstellung zweier Winde, die in entgegengesetzter Richtung wehen, noch nie mit dieser »metaphorischen Intensität« versehen worden war. »Der in Böen wehende Wind und die durch die unbezähmbaren Luftströmungen geschaffene Unordnung übermitteln […] die Botschaft des Verlustes des Ver12  Harris, Weatherland, S. 285. 13  Brontë, Wuthering Heights, S. 56. 14 Ebd., S. 70. 15 Axelrod, Poetics of Climate, S. 63.

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standes.«16 Wie schon gezeigt, ist in der frühen meteorologischen Tradition die Vorstellung, dass Winde nacheinander und nicht gleichzeitig oder gar gegeneinander wehen, vorherrschend. In diesem Sinne widersprechen in entgegengesetzte Richtung wehende Winde der Grundordnung der Natur.

Wahnsinn und Weiblichkeit Der Wind wird in der westlichen Tradition als männlich und aktiv dargestellt, meist als erwachsener bärtiger Mann. Es gibt aber auch Ausnahmen, wie z. B. der sanfte Frühlingswind Zephyros. Joris Ivens’ mehrsprachige männliche und weibliche Winde aus Une histoire de vent stehen innerhalb dieser Tradition ziemlich einsam da. Winde sind sehr selten weiblich und meist nur dann, wenn das Dämonische, Dunkle und Unheilvolle überwiegen, wie im Fall der Harpyien, raffgierige dämonische Wesen, die Gegenstände wegtragen oder Menschen entführen. »Der Wind und das weibliche Geschlecht«, schreibt dazu Nova, »sind seit langem miteinander verwoben; man denke beispielsweise an den Mythos der Oreithyia und Letty Mason. Diese Verbindung hat bis in die heutige Zeit im guten wie im schlechten Sinn nicht an Wirkkraft verloren.« Letty Mason, die Hauptfigur in Dorothy Scarboroughs Roman The Wind, aber auch die wahnsinnige Kate aus dem Gedicht von William Cowper und dem Gemälde von Johann Füssli und die Königstochter Oreithyia sind weitgehend passiv und werden vom Wind ergriffen, herumgetrieben und zerzaust wie Wolken. Ein weiteres von Nova erwähntes Beispiel ist das Werk The Wind der finnischen Künstlerin Eija-Liisa Ahtila, eine Installation auf drei Bildschirmen aus dem Jahr 2002. Die Protagonistin erzählt von Liebesenttäuschungen, Misserfolgen und Krankheiten, die sie in die Depression, Verzweif lung und Psychose gestürzt haben. »In den ersten Sequenzen weht ein heftiger Wind durch das Fenster des Raumes; er stellt die künstliche Ordnung des engen kleinbürgerlichen Zimmers auf den Kopf, indem er die auf dem Tisch verteilten Zettel durcheinanderbringt und so die Chronik eines mentalen Zusammenbruchs ankündigt.«17 Der Wind stößt die Bücherregale um und zerstört schlussendlich das gesamte Zimmer. Es stellt sich jedoch heraus, dass dieser Wind nur 16 Nova, Das Buch des Windes, S. 169. 17 Ebd., S. 168.

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in der Vorstellung der Protagonistin existiert und ihrer eigenen Einbildungskraft entspringt. Man kann sich hier fragen, ob die Unfähigkeit der Protagonistin, den inneren vom äußeren Wind zu unterscheiden, nicht auch so etwas wie ein uneingestandener Wunsch nach Befreiung durch Sprengung und vollkommene Zerstörung des einengenden Milieus zum Ausdruck bringt. In »L’eau et la folie« (Das Wasser und der Wahnsinn), einem frühen Text Michel Foucaults geht es um einen Paradigmenwechsel in der Metaphorik des Wahnsinns, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts im westlichen Imaginären vollzieht. Bis dahin wurde die Vernunft mit dem Festland assoziiert, der Insel oder den Kontinenten, und die Unvernunft mit dem Wasser. Der Ozean war ein endloser, unsicherer, stets bewegter Ort, an dem Wellen und Stürme keine Spuren hinterließen. Eine grenzenlose Welt, in der man die Orientierung verlieren konnte. »La folie, c’est l’extérieur liquide et ruisselant de la rocheuse raison (Der Wahnsinn ist das f lüssige, tropfende Äußere der felsigen Vernunft).«18 Das Wasser des Wahnsinns wird auch mit leichten diffusen Dämpfen und Nebeln verbunden, die aus Verdunstung und Kondensation hervorgehen, leiden doch der Körper und die Seele des Wahnsinnigen an steter Überhitzung. Die Ambiguität des Wassers, das als ein Komplize des Wahnsinns auftritt, hat dazu geführt, dass es auch zu dessen Heilung und Austreibung benutzt wurde. Der reinigende Regen ist ein ideales Mittel gegen das giftige Meer des Wahnsinns, »l’océan venimeux de la folie.«19 Wasser reinigt und kühlt. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts werden in den kollektiven Diskursen über den Wahnsinn das Wasser und die Trunkenheit durch den Rauch und die Drogen abgelöst. Der Wahnsinn wird nun als eine inkohärente und diaphane Welt verstanden, die sich störend und verwirrend vor die Realität schiebt. Der einfache Gegensatz von Vernunft und Unvernunft, Ordnung und Unordnung, Erde und Wasser, Solidität und Fluidität löst sich zugunsten eines komplexeren und changierenden Universums auf. Die Grenzenlosigkeit ist nun nicht mehr ein Attribut des Wahnsinns, sondern hat sich zwischen der Realität und dem Wahn eingenistet und die frühere Trennung zwischen diesen erfolgreich verwischt. Foucault stellt abschließend der Melancholie die Schizophrenie gegenüber, die in den Metaphern des schwarzen Wassers eines Teiches und des schädlichen Rauches konjungiert werden. 18  M  . Foucault, »L’eau et la folie (1963)«, in: Dits et Ècrits I, 1954-1988, Bd. I: 1954-1969, Paris 1994, S. 268. 19  Ebd., S. 269

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Der von Foucault beschriebene Paradigmenwechsel in der Metaphorik des Wahnsinns könnte im Zusammenhang mit Serres’ Verwendung des Wetters als Interpretationsmodell, welches die simple dichotomische Gegenüberstellung von Ordnung und Unordnung in Frage stellt, gesehen werden. Foucault verwendet meteorologische Metaphern, um den Übergang zu einer neuen Vorstellung von Wahnsinn zu erläutern, die sich einem dualen Verständnis von Vernunft und Unvernunft verweigert. Der Wind artikuliert eine ganz andere Vorstellung, in der es keinen sicheren Grund mehr gibt, von dem aus sich der Wahnsinn eindeutig bestimmen ließe. Denn was würde dem Wind so entsprechen wie das Wasser der Erde? Die Unsichtbarkeit, Unbestimmtheit und Unvorhersehbarkeit des Windes verkörpern den Wahnsinn auf viel beunruhigendere und bedrohlichere Art und Weise als das Wasser, auch wenn es mit diesem viel Gemeinsames hat. Dies ist auch der Fall in Scarboroughs Roman.

Wüstenwind In Scarboroughs Roman und Sjöströms Verfilmung20 wird dem unablässig wehenden stürmischen Wüstenwind die Rolle des Protagonisten zugeteilt. Im Gegensatz zur destabilisierenden endlosen Flaute auf hoher See ist es hier die andauernde nagende Präsenz des Windes und des aufgewirbelten Sandes, die zum Wahnsinn verleiten.21 The Wind ist die Geschichte einer Frau, die in das Reich der Winde gelangt. Die 18jährige, verwaiste Letty Mason, die im Film von Lillian Gish gespielt wird, beschließt nach dem Tod ihrer Mutter, Virginia zu verlassen, um sich anderswo ein neues Leben aufzubauen. Sie reist zu ihrem Cousin Bev, der eine Ranch in West-Texas besitzt. Ist Lettys Heimat Virginia ein verlorenes Paradies, ein jungfräuliches fruchtbares Land und eine weiblich konnotierte Welt, so ist West-Texas eine von Männern und vom Wind dominierte Wüstenlandschaft. Die bedrohliche Kraft männlicher Sexualität verkörpert sich in dem Nordwind und der Figur 20 Vgl. Nova, Das Buch des Windes, S. 146-48 und Filmstelle VS ETH, Wind im Film, S. 27-33. 21 Für eine weitere Deutung der Metapher des Wüstenwindes vgl. I. Theilen, »El cuento que se llevó el viento?! El (real) maravilloso, das Erzählen und der Wind bei Cristóbal Colón, Juan Rulfo und Gabriel García Márquez«, in: Verfahren literarischer Wetterdarstellung. Meteopoetik – Literarische Meteorologie – Meteopoetologie, hg. von U. Büttner und M. Gamper, Berlin und Boston 2021, S. 195-210.

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von Wirt Roddy, dem Letty ganz zu Beginn im Zug kurz vor ihrer Ankunft begegnet. Die Zugfahrt durch die dürre wüstenhafte und windgepeitschte Landschaft findet im Film nachts statt, während der Sturm unauf hörlich Sand gegen das dunkle Zugfenster treibt. Bevs Frau, Cora, sieht in Letty eine Rivalin. Aus diesem Grund heiratet diese schon bald darauf den Farmer Lige Hightower, obwohl sie ihn nicht liebt. Es gelingt ihr aber nicht, sich an das neue Leben zu gewöhnen. In ihrer Isolation und Einsamkeit wird sie von Halluzinationen heimgesucht. Der Wind verwandelt sich in eine quälende übernatürliche Kraft, die sie an den Rand des Wahnsinns treibt. Sie bittet ihren Mann vergeblich darum, ihr das nötige Geld zu geben, damit sie wieder nach Virginia zurückkehren kann. In dieser Situation besucht sie Wirt Roddy und bietet ihr ein besseres Leben an. Sie gibt zwar seinen Annäherungsversuchen nach, sieht aber bald darauf ihren Fehler ein. Im Film wird die Vergewaltigungsszene durch den stürmisch wehenden Wind und das Bild eines Hengstes dargestellt. Letty lehnt es ab, mit ihm zu f lüchten und bedroht ihn mit einer Pistole. Während der Auseinandersetzung erschießt sie ihn versehentlich. Sie versucht, den Leichnam vor der Farm zu begraben, damit ihr Geheimnis verborgen bleibt. Der unsichtbare Wind bringt das Verborgene jedoch wieder ans Licht: Er weht den Sand, mit dem der Leichnam bedeckt worden war, weg und macht ihn für alle sichtbar. Darauf hin verliert sie den schon schwachen Bezug zur Realität und rennt hektisch nach draußen in den strafenden Wind hinein. Dieser Ausgang wird von Roddy zu Beginn des Romans vorweggenommen. Als er Letty im Zug begegnet, erzählt er ihr von einer indigenen Legende, nach der Frauen im Wind wahnsinnig werden. Im Film22 entschied man sich, wohl aus kommerziellen Gründen, für ein anderes Ende. Letty und Lige versöhnen sich wieder und beschließen, ein neues gemeinsames Leben anzufangen. Der Wind verwischt alle Spuren und begräbt die Leiche für immer im Wüstensand. Durch die Taufe des Windes ist Letty endgültig von ihrer Angst befreit worden. Die Geschichte der Selbstfindung einer jungen Frau endet hier nicht mit dem tragischen, in Anbetracht ihrer Umgebung wohl aber als realistisch einzustufenden Identitätsverlust, sondern führt zu ihrer Ermächtigung nach einem erfolgreichen Durchschreiten aller Gefahren. »›I am not afraid of the wind – of anything 22  V  gl. B. Florin, »Confronting the Wind. A reading of a Hollywood film by Victor Sjöström«, in: Journal of Aesthetics & Culture 1 (2009), S. 1-11.

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now‹«.23 Mit offenem Haar, wallenden Kleidern, ausgebreiteten Armen steht sie neben Lige im Wind. Nun kann sie auch ihre Liebe zu Lige bejahen. Wie Nova dazu treffend festhält, verändert dieses auf einem Mord beruhende bittersüße Happy End auch die metaphorische Bedeutung des Windes: »Der Wind der Grausamkeit hat sich ins Gegenteil, in einen Wind der Liebe verwandelt […] Boreas hat sich in Zephir gewandelt.«24 Die Film-Version hat auch andere wesentliche Dimensionen des Romans verdeckt, so zum Beispiel Scarboroughs Kritik der nostalgischen FrontierRomantik und den ideologischen Charakter der damit verbundenen Suche nach Freiheit und Abenteuer, welche die kolonialistische und imperiale Seite der Begegnung des zivilisierenden Helden mit der fremden Landschaft und Kultur unterschlägt. Der Roman, so Susan Kollin, »restores white women’s agency to the ›winning of the West‹. […] myths of white female innocence in the nation-building process are dismantled [rethinking] gendered and raced subjectivity in the West.«25 Der Roman stellt den Wind und den Sand von Anfang an in den Mittelpunkt. »The wind was the cause of it all. The sand, too, had a share in it, and human beings were involved, but the wind was the primal force […] there was nothing to break the sweep of the wind across the treeless prairies, when the sand blew in blinding fury across the plains, or lay in mocking waves, that […] piled in mounds that fickle gusts removed almost as soon as they were erected […].«26 Der zunehmende Wahnsinn der Hauptfigur hat mit der Hartnäckigkeit des Windes, aber auch mit der Wüstenlandschaft selbst zu tun, in der man jede Orientierung verliert. Die Unbeständigkeit der Dünen erinnert an das sich stets wandelnde Meer: »Everywhere sand, in the wind-blown waves stretching out like a vast sea, the dead grass bent over in the wind like the curling foam of the waves.«27 Auf den ersten vier Seiten des Romans, die wie eine prophetische Warnung klingen, wird der Wind als eine grausame Kraft dargestellt, die Frauen unterwirft und sich dabei des Sandes als Waffe bedient. »In the old days, the winds were the enemies of women. 23 Filmstelle VS ETH, Wind im Film, S. 30. 24 Nova, Das Buch des Windes, S. 147. 25 S. Kollin, »Race, Labor, and the Gothic Western. Dispelling Frontier Myths in Dorothy Scarborough’s The Wind«, in: Modern Fiction Studies 46/3 (2000), S. 685-686. 26 D. Scarborough, The Wind, Austin and London 1979, S. 1. 27  Ebd., S. 53.

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[…] The winds were cruel to women that came under their tyranny. […] And the sand was the weapon of the winds.«28 Der Wind sticht wie Glasscherben im Gesicht, blendet die Augen und sickert durch alle Ritzen und Spalten in die Häuser. Scarborough vergleicht den sich vor den Zäunen und Mauern anhäufenden Sand mit dem tiefen Schnee nach einem Sturm. Der Wind ist ein besonders gefährlicher Gegner, da er unsichtbar ist und körperlos. »How could a frail, sensitive woman fight the wind? How oppose a wild, shouting voice that never let her know the peace of silence? – a resistless force that was at her all day, a naked, unbodied wind – like a ghost more terrible because invisible – that wailed to her across waste places in the night, calling to her like a demon lover?«29 Roddy warnt Letty: Der unauf hörlich wehende unbarmherzige Wind zerstört das Aussehen einer Frau, zermürbt ihre Nerven und macht sie reizbar und nervös. Letty sieht im Wind eine dämonische Kraft, welche die weißen Siedler bedrängt und bedroht. »Outside nothing but vast, desolate stretches of sand and dead grass, with a few stalks of beat grass with its spears frayed by the wind […] and demoniac wind lying in wait to torment its victims […].«30 Der Wind ist ein dämonischer Liebhaber, der ihren Körper und ihren Geist vergewaltigen will. In Lettys Sicht nimmt die Natur, die traditionsgemäß als weiblich verstanden wird, deutlich männliche Züge an. Der Wind ist eine bösartige penetrierende männliche Kraft, die mit Absicht agiert, ein weißer Hengst, der sie überwältigen wird. Auch Roddys Schilderung zu Beginn evoziert einen »virile wind«31. Das Wiehern des Pferdes und Klappern seiner feurigen Hufe werden mit dem Heulen und schrillen Kreischen des Windes gleichgesetzt. Der personifizierte Wind verfolgt seinen eigenen Plan. »The wind had decreed it so.«32 Vielleicht lässt er sich durch einen Zauberspruch bannen. Das metaphorische Verhältnis von Wind und Pferd ist in der westlichen Tradition, besonders was das Geschlecht angeht, ambivalent. Einerseits werden Winde mit Pferden verglichen. So treten Winddämonen als Windpferde auf und Winde schnauben wie Pferde. Galoppierende Pferde veranschaulichen die Schnelligkeit der Winde. Andererseits aber werden Winde 28 Ebd., S. 3. 29 Ebd., S. 3-4. 30  Ebd., S. 105-106. 31 Ebd., S. 26. 32 Ebd., S. 180.

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und Pferde einander gegenübergestellt. So können gemäß mythologischen Erzählungen Stuten von den Winden geschwängert werden. Dieser Ambivalenz begegnet man auch in Scarboroughs Roman. Winde sind sowohl Hengste als auch geschlechtsunspezifische Pferde. In der Verfilmung erwähnt eine der männlichen Figuren eine indigene Legende, in welcher der Nordwind als in den Wolken lebendes Geisterpferd beschrieben wird. Visuell wird dies im Bild eines im Himmel wild nach hinten ausschlagenden weißen Pferdes vor bedrohlich aufquellenden dunklen Wolken umgesetzt. Darüber hinaus gibt es Einstellungen, die ein auf den Zuschauer zu galoppierendes Pferd mit wild wehender Mähne zeigen. Im Hintergrund sieht man auch hier dunkle Wolkenberge. In einer Einstellung wurde dieses Bild von demjenigen einer träumerisch nachdenklich blickenden schon im Wahnsinn abdriftenden Letty überblendet. In allen Einstellungen ist das Pferd unmissverständlich weiß, das Geschlecht hingegen bleibt undefiniert. Im Roman wird das Bild eines ungehemmt umherschweifenden Hengstes schon auf den ersten Seiten als Prinzip der Unzähmbarkeit und Freiheit vor der Kolonisierung und Einzäunung durch die weißen Siedler beschwört. Dieses erste Windpferd symbolisiert eine verlorengegangene ursprüngliche Freiheit. Es agiert selbständig, auf unvorhersehbare Art und Weise und lässt sich genauso wenig einfangen wie der Wind: »The winds were wild and free, and they were more powerful than human beings. Among the wild horses of the plains there would be now and then one f leet and strong and cunning, that could never be trapped by man […] a stallion that raced over the prairies at will, uncaptured and uncapturable; one with supernatural force and speed […].« Das Pferd ist eine Verkörperung der anarchischen Kraft des Windes, sowohl visuell als auch akustisch: sein wildes Wiehern in der Nacht, wenn es über die Prairie dahinf liegt, verdoppelt sich in seiner stürmisch wehenden Mähne. Als ungebändigter Hengst ist es mit dem Nordwind identisch. Im Gegensatz zum Film begegnet man im Roman sowohl einem weißen wie einem schwarzen Pferd, das jedoch erst spät eingeführt wird. In der Erzählung einer der Figuren wird das Bild eines ungebändigten weißen Hengstes direkt neben demjenigen eines schwarzen Pferdes eingeführt, dessen Mähne wie ein schwarzes Banner zurückschwebt. In Lettys darauffolgender Vision, die Wind und Pferd sowohl visuell als auch akustisch einander gleichsetzt, überwiegt die Farbe schwarz, was mit der düsteren Realität zusammenhängt, in die sie mehr und mehr eintaucht. »The wind gave a whistling shriek outside, and she shivered as she imagined

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a demon steed, racing like a black shadow across the plain, a lonely, terrible figure neighing in the night! […] She felt as if the black wing of a storm even then had come near her.«33 Der Wind und das Pferd werden durch weitere Entsprechungen aufeinander bezogen. Der schwarze Schatten des Rosses gleicht den schwarzen Flügeln des ungezügelten Sturmes. In der folgenden Passage sind die Ängste nicht mehr bloß ein Produkt der Imagination oder ein Trauminhalt. »She fancied she could see a lost horse staggering futilely in a desert of sands, mocked by the winds […]. She saw the wind as a black stallion with mane a-stream and hoofs of fire across the trackless plains […] He would trample her down to her death […].« Noch wehrt sie sich: »But this was folly, she told herself. […] The wind was not a demon horse – it was only the gale!«34 Lettys langsame unauf haltbare Reise in den Wahnsinn dekliniert sich in den Metaphern des Windes und der zunehmend engeren Überblendung von Wind und Pferd. Sie versinkt im Federbett und driftet in den Schlaf ab. »Her dreams were a jumble of whistling winds of sand and darkness of wide wastes […]. She seemed to be buried in a mountain of sliding sand […]. She was blown along like a leaf in a gale […].«35 Letty verstrickt sich zusehends in Wind und Sand, bis sich die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt auflösen und innen und außen ineinanderf ließen. Der Wind dringt wie Wasser durch jede Spalte und Ritze ein. Am Ende wird die Tür vom Wind niedergeworfen und der Sand dringt in das Haus ein. Als sie Roddy einlässt, wird sie vom Wind umgeworfen. Die inneren Räume bieten keinen Schutz mehr. Der Wind wirft Letty hin und her wie der wirbelnde Sand. Im letzten Kapitel in einem seltenen windstillen Moment fragt sich Letty, ob sie wirklich für Roddys Tod die Schuld trage oder ob nicht eher der Wind sie dazu verführt habe. Die Beziehung zwischen ihr und dem Wind gestaltet sich wie ein stummer Dialog, in dem die beiden Akteure ineinander verschwimmen und jeder den anderen übervorteilen will. »She must think fast, before, it started up again, because the wind did things to her brain that wouldn’t let her think.«36 Sie schleppt den Leichnam hinaus, der eine lange Spur im Sand hinterlässt, wie eine überdimensionierte Schlange. Sie wird die Waffe des Windes, den Sand, gegen ihn verwenden und ihn dadurch 33  Ebd., S. 155. 34  Ebd., S. 175. 35  Ebd., S. 50. 36 Ebd., S. 313.

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überlisten. Der Wind ist so ruhig, als ob er sie täuschen wollte. Zuerst deckt er den Körper zu, dann aber weht er den Sand wieder weg. »The wind was growing higher now, and rattled the windows louder. She shivered as she listened. The wind made her remember […] Another puff of the wind lifted another veil of sand […]. If she waited, another gust of wind would blow the sand back over the hands and cover the mounded form more securely.«37 Durchs Fenster sieht sie mit Schrecken, wie der Leichnam durch den Wind entblößt wird und stellt sich vor, wie dieser sie beobachtet. Vielleicht will er sie aber bloß hinauslocken und wird aufgeben, wenn sie nicht darauf eingeht. Vielleicht geht er einfach weg, und der Sand deckt den Leichnam wieder zu. »She looked – then gave a wild scream. […] With a laugh that strangled on a scream, the woman sped to the door, f lung it open and rushed out. She f led across the prairies like a leaf blown in a gale borne along in the force of the wind that was at last to have its way with her.«38 Die bisherigen Abschnitte haben sich mit Windmetaphern der Stille, Plötzlichkeit und Steigerung aus verschiedenen Perspektiven beschäftigt. Dem möchte ich nun das theoretische Modell der Windskala zur Seite stellen. Diese versucht, die Unberechenbarkeit und Fluidität des Windes in eine lineare Stufenfolge zu überführen, die auf einer Logik der steten Zunahme beruht. Im Mittelpunkt stehen dabei vor allem der Ausgangspunkt, das heißt der Entstehungsmoment eines Windes, und die Bestimmung der jeweiligen Übergänge von Stufe zu Stufe. In beiden Fällen geht es um Abgrenzungen.

Wann ist ein Wind ein Wind? In »De Motu Soni, Experiments and Observations on the Motion of Sound« (1708) untersuchte der englische Geistliche und Naturphilosoph William Derham (1657-1735) die Frage, wie Winde die Bewegung von Tönen beeinf lussten. Dabei beschäftigte er sich auch mit der Windgeschwindigkeit und schlug vor, diese mit Distelwolle und leichten Federn zu messen, die man zu Boden fallen ließ.39 In einem Brief vom 5. Juni 1766 an die Royal Society 37 Ebd., S. 332-333. 38 Ebd., S. 336-337. 39 Vgl. W. Derham, »De Motu Soni, Experiments and Observations on the Motion of Sound«, in: Philosophical Transactions 26 (1708).

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schrieb Alexander Brice, er habe diese Methode ausgetestet, aber mit geringem Erfolg. »I have attempted to determine (the velocity of the wind) this by letting light downy feathers f ly in the wind (the method, I understand, used by the ingenious Dr. Derham); but cannot say, in all the trials I have made (though I have let fifty of these feathers f ly, one after the other, at a time), that I have ever seen above one, or two at most, upon which I could have founded a calculation.«40 Die Geschichte der fallenden Daunenfedern, der aus heutiger Sicht etwas Parodistisches anhaftet, zeugt von der langen Beschäftigung mit einem schwer lösbaren Problem: Wie kann man die Geschwindigkeit eines unsichtbaren Stoffes anhand von sichtbaren Gegenständen messen? Im Englischen und Deutschen werden die verschiedenen Windstärken durch verschiedene Wörter ausgedrückt. Es werden dabei ein paar Grundtypen unterschieden, die zusätzlich durch Adjektive variiert werden. Die Unterscheidungen bleiben aber letztlich vage. Englisch unterscheidet zwischen breeze, ›Brise, sanfter Wind, Lüftchen, leiser Seewind‹, und gale, ›starker Wind, der auf dem Meer weht, rasender tobender Sturm‹. Breeze (1560) kommt vom spanischen briza, ›kalter Wind, der aus nördlicher oder nordöstlicher Richtung weht‹. Später wurde das Wort für einen lebhaften, frischen, vom Meer her wehenden Wind verwendet und ab 1620 für einen sanften oder leichten Wind. Die etymologische Herkunft von gale ist nicht gesichert. Sie verweist aber auf die menschliche Stimme, die Musik und die Magie. Das Wort kommt wahrscheinlich vom altnordischen gol, ›Brise‹, oder altdänischen gal, ›böse, wütend‹, das mit dem altnordischen galinn, ›wütend, verrückt, hektisch, verzaubert, verhext‹ – von gala, ›singen, Gesang‹ – verwandt ist. Das altenglische galan bedeutet ›singen, verzaubern und schreien‹. Dieses ist wiederum mit dem schwedischen und dem isländischen gala, ›krähen, singen‹ verwandt. Es könnte jedoch auch vom altenglischen giellan, ›schreien‹ kommen. Im Deutschen unterscheidet man zwischen sanfter, leichter, schwacher, mäßiger und frischer Brise. Das englische gale ist eine steife Bise, ein stürmischer Wind oder ein Sturm. Dem deutschen ›Böe‹, ›Steigbö‹ und ›Sturmbö‹ entsprechen im Englischen blast, gust (auch Windstoß), squall und scud. Diese Wörter spielten in der Geschichte der Windskala von Anfang an, meist in Kombination mit Zahlen, eine zentrale eine Rolle. 40 A. Brice, »A letter to the President of the Royal Society, containing a new Manner of measuring the Velocity of the Wind«, 1766, S. 224.

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Dabei stellen sich in einem philosophischen Zusammenhang zwei grundlegende Fragen: Wie kann man in Anbetracht der f ließenden Übergänge zwischen verschiedenen Windgeschwindigkeiten klar unterscheidbare Phasen festlegen und wann kann man überhaupt von einem Wind sprechen? Es sind dies auch die grundsätzlicheren Fragen nach der Erkennbarkeit eines Anfangs und der Eingrenzung und Benennung von Veränderungsphasen. Wann beginnt etwas Neues und wann gelangt man auf eine neue Stufe? Wie kann man diese Momente eindeutig bestimmen? Damit hängt noch eine dritte Frage zusammen, die schon in der Antike, bei einer Unterscheidung von Luft und Wind eine Rolle spielte: Gibt es überhaupt so etwas wie absolute Windstille? Eine der frühesten Versuche, den Wind anhand seiner Geschwindigkeit zu klassifizieren war die elfstufige Windskala des dänischen Astronomen Tycho Brahe (1546-1601) aus dem Jahr 1582. Die Skala setzte mit einer Null ein und umfasste insgesamt fünf zahlenmäßig definierte Niveaus. Die numerische Schreibweise wurde durch ein zweites Notationssystem ergänzt: ein ›l‹, wahrscheinlich für das dänische Wort lidet, ›wenig‹, und ein ›g‹, für graa, ›windig‹. Zur inneren Differenzierung kamen noch Zahlen mit oder ohne Komma, einem Punkt sowie einem einfachen oder doppelten Hochkomma hinzu. In »A Method for Making a History of the Weather« enthält die von Hooke vorgeschlagene monatliche Tabelle zum systematischen Wetterstudium auch Angaben zur Windmessung. Die Skala umfasst insgesamt fünf Niveaus und kommt ohne die Null aus. Dabei werden drei Kriterien beachtet: die Windstärke, die Windherkunft und die jeweiligen Veränderungen während des Tages. Die Windstärke wird durch »degrees of strength by 1, 2, 3, 4, &c. according as they are marked in the contrivance of the Weathercock«41 festgehalten und die Windrichtung durch die Kardinalpunkte des Kompasses. In der Tabelle, die dem Essay beigegeben war, gab es auch halbe Zahlennotationen, beispielsweise 3,5. Die späteren Erweiterungen von Brahes und Hookes auf fünf bzw. vier Stufen beruhenden Skalen durch weitere Unterteilungen drückt eine grundlegende Problematik aus, der man auch bei der Klassifizierung der verschiedenen Winde begegnet. Nicht nur Winde, sondern auch Windstärken lassen sich beliebig erweitern. Eine systematische empirische wissenschaftlich ausgerichtete Beobachtung verlangte jedoch nach einer simplen und vor allem praktisch anwendbaren Skala. Genau

41 Hooke, Method, S. 176.

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dies leistete Sir Francis Beauforts (1774-1857) erfolgreiche Windskala, die am Ende einer langen Entwicklung stand. James Jurin (1684-1750) forderte eine konsistente und kontinuierliche meteorologische Beobachtung in der Nachfolge Hookes. In seiner 1723 publizierten Studie »Invitatio ad observationes meteorologicas communi consilio institudendas«, zu einer Zeit als er Sekretär der englischen Royal Society war42, bestimmte er eine fünfstufige Skala, die im Gegensatz zu Hooke auch eine Null enthielt: »1 was meant to signify ›the gentlest motion of the wind, which scarcely shakes the leaves on trees‹; 4 was the most violent wind; 2 and 3 were in the middle, and 0 was ›perfect calm‹.«43 Jurins Skala wurde höchstwahrscheinlich von der Societas Meteorologica Palatina, der Mannheimer Meteorologischen Gesellschaft, aufgenommen, die um 1780 systematische Wetterbeobachtungen in verschiedenen Städten anstellte und dabei auch eine fünfstufige Windskala benutzte. Die Winde wurden wie bei Hooke nach Richtung und Stärke eingeteilt und die Einwirkung des Windes an den Bewegungen eines Baumes gemessen. Die Skala verlief von Null – windstill – bis vier – Orkan, der Äste abreißt und Bäume entwurzelt. Die eins bezeichnete eine schwache Luftbewegung, bei welcher sich die Blätter der Bäume bewegten. Auf der zweiten und dritten Stufe wurden Zweige bzw. größere Äste in Bewegung gesetzt. Die Verwendung eines Baumes, seiner Blätter und Äste zur Bestimmung der Windstärke war eine folgenreiche Entscheidung, die auf den schwedischen Astronomen, Mathematiker und Physiker Anders Celsius (1701-1744) zurückging. Celsius sammelte auch meteorologische Daten zu Temperatur, Luftdruck, Bewölkung, Niederschlag, Windrichtung und Windstärke. Seine Skala umfasste fünf Stufen. Auf Stufe zwei bewegt der Wind eine schwere Wetterfahne, auf Stufe vier geraten Baumstämme heftig ins Schwanken. In Celsius’ Temperaturskala wird die Null mit dem Gefrierpunkt verbunden. Analog dazu steht in seiner Windskala die Null für absolute Windstille. Damit könnte man das zu Eis erstarrte Wasser als eine Metapher für die völlige Abwesenheit von Wind einsetzen. 1870 publizierte das Smithsonian Institute eine Reihe von Directions for Meteorological Observations, die auf Celsius, Jurin und die Mannheimer Me42 J. Jurin, »Invitatio ad observations meteorologicas communi consilio instutudendas«, in: Philosophical Transactions 32 (1720-1723), S. 422-427. 43  Huler, Defining the Wind, S. 83.

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teorologische Gesellschaft zurückging. In einem Zusatz wurde zwischen der Null und der Eins noch ein Buchstabe zur Beschreibung der Windrichtung eingefügt. Zwischen der Windstille und der Brise, dem ersten erkennbaren Wind, wurde dadurch eine weitere Zwischenstation eingesetzt, welche die Luftbewegung von der Windstille einerseits und dem eigentlichen Wind andererseits trennte: »›a slight movement of the air, hardly to be called a wind, and only just sufficient to allow an estimate of its direction.‹«44 Der Wind beginnt als embryonische Luftbewegung, die erst in einem zweiten Moment, wenn sie eine feststellbare Richtung besitzt, zu Wind wird. Diese Vorstellung erinnert an Senecas vergleichbare Unterscheidung. Der f ließende Übergang zwischen Windstille und leichter Brise ist damit jedoch nicht gelöst, sondern bloß durch eine weitere Unterteilung ersetzt, auf die noch andere folgen könnten. Ausgehend vom Einf luss des Windes auf die Bewegungsgeschwindigkeit einer Windmühle entwickelte 1759 der englische Ingenieur John Smeaton (1724-1792) eine insgesamt elf Stufen umfassende Windskala ohne die null. Die Windgeschwindigkeit wurde in Meilen per Stunde und in Füßen per Sekunde festgehalten. Die ersten fünf Stufen entsprachen den ersten fünf Meilen und verliefen von hardly perceptible über just perceptible zu einem gentle pleasant wind. Ab einer Geschwindigkeit von zehn Stundenmeilen wurde in Abständen von fünf Meilen gemessen. Die weiteren Stufen waren: pleasant brisk gale, very brisk, high wind, very high und a storm or a tempest, was einer Geschwindigkeit von fünfzig Meilen entsprach. Es folgten mit sechzig Meilen a great storm, mit achtzig an hurricane und mit hundert ein Hurrikan, der Bäume entwurzelte und Gebäude vor sich hertrieb. 1779 schrieb der schottische Geograph Alexander Dalrymple (1737-1808), der zugleich der erste Hydrograph der Britischen Admiralität war, das Pamphlet »Practical Nagivation«, das jedoch nicht publiziert wurde. Dalrymple, der Smeaton persönlich kannte, passte dessen Windmühlenskala dem Gebrauch in der Marine an, ein wichtiger, wenn nicht entscheidender Schritt in der Entwicklung der Windskala, der erneut über eine metaphorische Beziehung verlief. Die Flügel der Windmühlen heißen auf Englisch ebenfalls sails, ›Segel‹, was die Übertragung von der Windmühle auf das Segelschiff mitbestimmt haben muss. Die Segelgatterf lügel einer Windmühle bestehen aus einem Gitterkreuz aus Latten, das mit Tuch bespannt wird. Die Segel 44  Ebd., S. 195.

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sind aus demselben Segeltuch gefertigt wie bei Schiffssegeln und mit einem Schutzanstrich versehen. Dalrymple bezog sich in seiner Skala explizit auf die frühere Arbeit von Smeaton. Sein Pamphlet enthielt eine Tabelle, welche die beiden Skalen direkt miteinander verglich. In der synoptischen Vision Dalrymples begann Smeatons Tabelle ebenfalls mit einer Null. Die ersten beiden Spalten enthielten Dalrymples bzw. Smeatons Skala. In der vierten Spalte wurden die Beschreibungen aus der dritten Spalte zusätzlich noch auf Französisch angegeben. In Smeatons Tabelle begann die Nummerierung allerdings erst ab Stufe drei, das heißt, wenn sich die Windmühle zu drehen und damit ihre eigentliche Arbeit zu verrichten begann. Die Umdrehungen waren ein wichtiges visuelles Kriterium, das es erlaubte, die jeweilige Windstärke zu quantifizieren. Da Dalrymples Skala zwölf und Smeatons in dieser Darstellung acht Stufen umfasste, entsprachen manchmal mehrere Stufen bei Dalrymple nur einer einzigen bei Smeaton. Die Tabelle bewegte sich von calm, air, breeze und gale bis hin zu storm. Die einzelnen Stufen wurden durch Adjektive ergänzt: faint, light, gentle, fresh, moderate, brisk, strong, hard, very hard. Die Kurzbeschreibungen umfassten auch die Auswirkungen des Windes auf Zweige, Äste und Bäume und den damit verursachten Lärm. Die ersten beiden Stufen der Skala wurden über die taktile Wahrnehmung erfasst, was eine folgenreiche Neuerung darstellte. Auf die Null, calm, motion of air not felt, folgten faint air, scarce a breeze, motion scarcely felt und light breeze, the direction of wind sensible, but insufficient to move mill, weniger als sechs Umdrehungen pro Minute. Dalrymples vierte Stufe entsprach Smeatons zweiter Stufe und war mit der Beschreibung sufficient to move the branches of trees versehen. Die Bewegungen eines Baumes dienten auch auf den nächsten Stufen eine Rolle, wobei sich zum Visuellen auch noch das Akustische gesellte. Der Wind bewegt die Äste und beginnt, Lärm zu verursachen. Die Umdrehungen der Mühle nehmen weiter zu. Ab der achten Stufe verwendete Dalrymple durchgehend den Begriff gale. Man kann nun die Geräusche hören, die der Wind beim Auftreffen auf solide Gegenstände verursacht. Die Bäume beginnen, hin und her zu schwingen. Auf den letzten Stufen nehmen die Geräusche und die Bewegung der Bäume stark zu, sogar die größeren Bäume beginnen sich zu biegen. Die Fläche der Windmühlenf lügel wurde von hier an sukzessive abgebaut, um zu verhindern, dass der allzu starke Wind sie zerreißt. Smeatons Skala misst die Geschwindigkeit des Windes anhand der Umdrehungsanzahl der Windmühlenf lügel und der aufgespannten Tuchf läche, die bei steigender Umdrehungszahl sukzessive entfernt wird. Darin liegt

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eine weitere entscheidende Analogie zu Beauforts Skala, die ebenfalls die Zunahme des Windes anhand der aufgespannten und später wieder entfernten Segel misst. Die Kraft des Windes und die aufgespannte Segelf läche stehen dabei in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander. Auf Stufe fünf bei achtzehn Umdrehungen in der Minute beginnt man das Segeltuch zu entfernen. Smeatons Anleitungen für Müller und eine effizientere Arbeit an der Windmühle werden von Dalrymple in Anweisungen für eine effektivere Schifffahrt übersetzt. Genau hier setzte Beauforts Windskala an. Dieser übernahm aus Dalrymples unveröffentlichtem Pamphlet, der ihm 1805 ein Exemplar übergab, die Analogie zwischen den Windmühlenf lügeln und dem Segeltuch eines Segelschiffes und legte wie dieser eine Geschwindigkeitsstufe fest, ab der die Fläche reduziert werden musste. In der ersten Skala aus dem Jahr 1806, die mit einer Null begann und dreizehn Stufen umfasste, fehlte noch dieser Zusammenhang. In der zweiten Skala, die ein Jahr später entstand, wurde die Null gestrichen und eine der Stufen entfernt. Die entscheidende Neuerung aber war die Messung der Windstärke anhand der gespannten Segel einer Fregatte. In einer 1830 veröffentlichten Version, die Beauforts Initialen trug und neben den zwölf Stufen wieder eine Null umfasste, wurde die Geschwindigkeit in Knoten ausgedrückt, was an die Drehungen von Smeatons Skala erinnert. Beauforts Skala verwendet die Begriffe breeze und gale, die anhand von Adjektiven qualifiziert werden, und für die letzten Stufen storm und hurricane. Die Verwendung der eingesetzten Segelf läche und die Bestimmung der ersten Stufe, als der Moment, in dem genug Wind weht, um das Schiff steuern zu können, erinnern an Smeatons Skala. Die Tabelle umfasste folgende Stufen: 0: calm; 1: light air or just sufficient to give steerage way; 2 bis 4: light, gentle, moderate breeze (all sails set), from 1 to 6 knots; 5-6: fresh, strong breeze, begin reducing sails; 7-9: moderate, fresh, strong gale, single-reefed, double-reefed, triple-reefed, close-reefed; 1011: storm, stormy stay sails; 12: hurricane, no canvas would withstand.45 1874 wurde die Beaufort-Skala offiziell an der Internationalen Meteorologischen Konferenz adoptiert. Sie wurde später abgeändert, da inzwischen Segelschiffe weitgehend von Dampfschiffen abgelöst worden waren. Darüber hinaus wurde sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Modell für die erste Erdbebenskala, was nicht ohne hintergründige Ironie ist, wenn man bedenkt, dass der Wind in den Wettertheorien der Antike als Ursache für 45  Vgl. dazu ebd., S. 253.

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Erdbeben bestimmt worden war. 1927 veröffentlichte der deutsche Kapitän P. Petersen eine Seegangskala, die 1939 international anerkannt wurde und die Stärken von null bis neun umfasste. Diese Seegangsskala wurde später mit einer zwölf Stufen umfassenden Windskala verbunden. Windstärke und Seestärke wurden dabei in Zahlen ausgedrückt und von Kurzbeschreibungen zum Zustand der Meeresoberf läche und der Wellen begleitet46: spiegelglatte See, keine Welle (0); ruhige See, gekräuselte Wellen (1); schwach bewegte See, kurze Wellen (2-3); leicht bewegte See, kleine Wellen mit Schaumköpfen (3-4); mäßig bewegte See, lange, brechende Wellen, Schaumköpfe (4-5); grobe See, große Wellen, Schaumkämme bilden größere Schaumf lächen (5-6); sehr grobe See, brechend (6-7); hohe See, Wellenberge, Gischt, Schaumstreifen, rollend (7-8); sehr hohe See, Wellenberge mit langen brechenden Kämmen, See weiß von Schaum (8-9); See außergewöhnlich schwer, Wellenberge, Schiffe verschwinden in Wellentälern, See weiß von Schaum (9-10, 11,12). Beide Skalen postulieren einen Nullmoment. Der Windstille entspricht hier nicht das gefrorene Wasser, sondern die spiegelglatte Meeresoberf läche.

Windwahrnehmung Goethes langjährige und intensive Beschäftigung mit den Wolken und ihrer Klassifikation ist inzwischen wohlbekannt und in den letzten Jahren von vielen Seiten untersucht worden. Dass er aber in seiner Witterungslehre auch eine eigenständige Windskala entwickelt hat, ist weniger bekannt. Huler erwähnt sie in seinem Buch über die Beaufort-Skala nicht und Cartier weist nur kurz darauf hin.47 Goethes phänomenologischer Ansatz orientiert sich an einem gesamtkörperlichen Wahrnehmungsspektrum und versucht, den f ließenden Übergängen zwischen den einzelnen Stufen Rechnung zu tragen. Die Nummerierung und die Wind-Bezeichnungen sind sekundär, wichtig sind hier vor allem die ineinander übergehenden detaillierten Beschreibungen. Die Übergänge, die gerade beim Wind von entscheidender Bedeutung sind, werden in Goethes Skala durch Steigerung der Frequenz und Intensität und miteinander verwobenen Darstellungsformen zum Ausdruck gebracht. 46 Vgl. ebd., S. 198-89. Siehe auch P. Petersen, »Zur Bestimmung der Windstärke auf See«, in: Annalen der Hydrographie und Maritimen Meteorologie 55 (1927), S. 69-72. 47 Cartier, Der Wind, S. 100.

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Goethes stetes und schon früh einsetzendes Interesse für Himmelserscheinungen führte ab 1815 zu einer planmäßigen und fachwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Meteorologie. Im Zentrum standen dabei vor allem die Wolkengestalt, aber auch der Barometerstand und das allgemeine Wettergeschehen. Goethe war von Howards simpler und effektiver Terminologie fasziniert, weil sie von einigen wenigen Grundformen ausging und zugleich die Beobachtung verschiedener Abwandlungen und Kombinationen ermöglichte. Er hatte aber auch Bedenken in Bezug auf die Möglichkeit, Wolken terminologisch zu erfassen. Neben seinen Wetternotationen hatte er auch einen Wolkenatlas mit Abbildungen aus eigener Hand geplant. Goethe verwendet in seinen meteorologischen Schriften weiterhin die traditionelle Terminologie. Er spricht von wässrigen Meteoren, darunter Gewitter, Regen, Schnee, Hagel, Nebel und Reif, und den anderen Meteoren, Höfe um Sonne und Mond, Nebensonnen und Nebenmonde, Morgen- und Abendrot, Regenbogen, Fallsterne und Feuerkugeln, Wetterleuchten und Nordlicht.48 Für die Beschäftigung mit dem Wind, die im Vergleich zu derjenigen mit den Wolken eine klar untergeordnete Rolle spielte, ist die Verwendung des Barometers von entscheidender Bedeutung. Schwankungen des Luftdruckes, die mit den Veränderungen der pulsierenden Anziehungskraft der Erde einhergingen, waren am Barometer ablesbar und verursachten ein wechselndes Wettergeschehen. Goethe schloss alle anderen kosmischen, solarischen, planetarischen und lunarischen Ursachen aus. Luftdruckveränderungen hatten »keine kosmische, keine atmosphärische, sondern eine tellurische Ursache.«49 Für Goethe war die Erde, wie schon für Aristoteles, ein lebendiges pulsierendes Wesen, das in dauerndem Ein- und Ausatmen begriffen war: »ein Atmen von der Peripherie nach dem Mittelpunkte und von dem Mittelpunkte«50 zur Peripherie. Damit stand er innerhalb der zeitgenössischen Meteorologie völlig allein da. Dass die Sonneneinstrahlung, der Unterschied von Tag und Nacht und die damit zusammenhängende Abfolge der Jahreszeiten für die hervorgerufenen Luftströmungen verantwortlich waren, blieb ihm verborgen. Auch die mathematisch-physikalische Seite der Wind- und Wetterbildung ließ er außer Betracht. Goethes tellurische Erklärung bedingte eine duale Vision des Wetters, die er an zwei gegensätz48 Goethe, Meteorologie, S. 976-981. 49 Ebd., S. 916. 50 Ebd., S. 942.

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lichen Windpaaren und den damit zusammenhängenden Barometerständen festmachte. »Ich habe nur zwei Winde, den Ostwind und den Westwind genannt, der Nord schließt sich mit seinen Wirkungen an den Osten an, der Süd an den Westwind, und so haben wir zwei Himmelsgegenden, die so wie in ihrer Lage als in ihren Erscheinungen einander entgegenstehen.«51 Bei allen meteorologischen Beobachtungen spielt der Barometerstand die zentrale Rolle, er ist der »Grund aller Wetterbetrachtungen.«52 Ein hoher Barometerstand erzeugt einen Ost- und Nordwind, ein tiefer Quecksilberstand einen West- und Südwind. Der Ostwind führt zu Trockenheit und einem heiteren wolkenlosen Himmel, der Westwind bringt Feuchtigkeit, Nässe und Wolkenbildung mit sich. Niedriger Barometerstand führt zu Wolken und Regen und bei tiefstem Barometerstand kommt es zu wütenden Stürmen. »Das Steigen des Barometers erzeugt ein Gegengewicht; der Wind bläst von Osten, die Wolken fangen an sich zu teilen« und »in die höheren Regionen aufzusteigen, um sich dort allmählich zu verlieren.«53 Goethe beschreibt diese Alternanz in der Tradition der Himmelsschlachtmetapher als Konf likt, als »Wetterstreit der Atmosphäre, den sie mit Dunst und Nebel und Wolken aller Art zu bestehen hat.« Barometerstand, Wolkenzug und Wolkengestalt sowie »Windstrich« – die geographische Herkunft des Windes – sind dabei stets aufeinander bezogen. Erreicht die Atmosphäre »einen gewissen Grad der Elastizität, der sich an unsern Barometern bezeichnen läßt, so vermag sie alle Feuchtigkeit in sich zu heben, zu tragen […] in sich zu verteilen, daß wir nur eine vollkommene Tagesbläue des Firmaments gewahr werden. Diese Disposition wird vom Ostwinde verursacht oder begleitet.«54 Die Ähnlichkeiten mit Lamarcks dichotomischem Zugang zum Wetter ist frappant. Kommt es zu Dunst- oder Wolkenbildung, so herrscht ein Westwind vor. »Wir finden sonach die atmosphärischen Erscheinungen immerfort eine durch die andere bestimmt […].«55 Der Barometerstand steht »in fortwährendem Verhältnis zu den Winden, das hohe Quecksilber auf Nord- und Ostwinde, das niedere auf West- und Südwinde, bei dem ersten wirft sich die Feuchtigkeit ins Gebirge, bei dem zweiten vom 51  Ebd., S. 951 52 Ebd., S. 914. 53  Ebd., S. 950. 54 Ebd., S. 790. 55 Ebd., S. 790.

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Gebirge ins Land.«56 Goethe fasst diese Alternanz in der Metapher des Luftmeers: »man spricht von Ebbe und Flut in der Atmosphäre, welche an den barometrischen Bewegungen mit Ursache sein sollen.«57 Was die Beobachtung der Windrichtung angeht, so schlägt er vor, sich nicht allein an der Ausrichtung der Windfahne zu orientieren, sondern auch den Wolkenzug, das heißt, die jeweilige Richtung, in die sich die Wolken bewegen, in Betracht zu ziehen. »Den Wolkenzug anstatt der Windfahne zu beobachten, wird immer das Sicherste bleiben; denn man erfährt nicht allein, welcher Wind in der unteren Region herrscht, sondern man wird zugleich aufmerksam auf das, was in der obern vorgeht, wo man denn oft Ruhe und Stille bemerkt, wenn unterwärts Zug und Bewegung sich spüren läßt.«58 Im Herbst 1815 wurde Goethe Staatsminister des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach. Zu seinem Verantwortungsbereich zählten auch neun meteorologische Stationen, die 1821 ihren Beobachtungsbetrieb aufnahmen. In diesem Zusammenhang verfasste Goethe die »Instruktion für die Beobachter bei den Großherzoglichen meteorologischen Anstalten«59, in denen der systematischen Windbetrachtung eine wichtige Rolle zukommt, bestimmt doch der jeweils vorherrschende Wind das gesamte Wettergeschehen. Das siebte Kapitel ist dem Wind gewidmet, dessen Richtung durch eine Windfahne angezeigt wird, die mit einer 32-teiligen Windrose versehen ist. Die Windstärke soll mit Hilfe eines Anemometers oder Windstärkemessers bestimmt werden. Das Augenmerk ist auf acht Winde gerichtet, die von Norden über Nordosten zu Westen und Nordwesten verlaufen. Die systematische Wetterbeobachtung soll »eine gedrängte Übersicht der Witterung des ganzen Tages«60 ermöglichen. »In diese Rubrik wird der den Tag über herrschend gewesene Wolkenzug nach den acht Windstrichen, oder wenn zwei gleichherrschend wären, beide eingetragen. Unter demselben wird die nach der Windskala mit Nummern zu bestimmende größte Windstärke, welche den Tag über zu bemerken war, eingetragen.«61

56  Ebd., S. 894-895. 57  Ebd., S. 915. 58 Ebd., S. 919. 59  Ebd., 966-995. 60 Ebd., S. 981. 61 Ebd., S. 983.

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Abbildung 23: Wolfgang von Goethe, Windskala nach Nummern (Ausschnitt)

In der dritten Beilage der Instruktion findet sich eine ausführliche von null bis acht angeordnete Windskala (vgl. Abb. 23) mit dazugehörenden Beschreibungen.62 Goethe kommt mit wenigen Begriffen aus, die das ganze Spektrum einfangen: Windstille, Wind, Sturm und Orkan. Diese differenziert er anhand von Zeitadverbien und Quantifizierungen: fast, fast nicht, etwas, ein bisschen, zuweilen, dann und wann, ab und zu, ein wenig, fast unabgesetzt, unabgesetzt, durchgehend, unauf hörlich. Die »wörtliche Bezeichnung« für die Null ist »gänzliche Windstille«. Es folgen die weiteren Stufen: kaum merklich, sehr schwach, schwach, mäßig stark, stark, sehr stark, Sturm, heftiger Sturm und Orkan. Bemerkenswert an Goethes Skala ist der Einbezug von unterschiedlichen, 62 Ebd., S. 991-993.

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fein abgestuften Wahrnehmungsformen, die vom Visuellen über das Akustische bis hin zum Taktilen reichen, und durch ihr subtiles Zusammenspiel einen komplexen Wahrnehmungskontext umschreiben. Dies ist einmalig in der Geschichte der Windskala. Die damit verbundene Palette an Phänomenen umfasst Wolken, Bäume und leichte Gegenstände wie Blätter, Staub und Ziegel. Die ersten beiden Stufen werden durch die Beobachtung des Wolkenzuges charakterisiert. Bei null ist der Wind »fast nicht bemerkbar«, dieses fast bedeutet, dass die Wolken über zehn Minuten unbeweglich bleiben. Windstille ist somit nie vollkommene Abwesenheit von Wind, sondern eine schwer wahrnehmbare Form von leichter Brise. Cartier deutet zwei Anmerkungen aus der Italienischen Reise auf ähnliche Art und Weise. Goethe bezeichnet dort die Windstille als »widrige Winde«, d.h. »als eine Variante des Windes und nicht als Urzustand unbewegter Atmosphäre. […] Die Windstille ist für ihn kein Ort des Nicht-Windes, sondern sie ist ein schlechter und ungünstiger Wind. So begegnet uns in Goethes Weltbild also Wind als ein universeller Begriff für eine Kraft, die den Menschen stets bewegt. Auch wenn er nicht vom Fleck kommt.«63 Theodor F. M. Richter definiert die Windstille als Resultat zweier aufeinandertreffender Winde, die sich vorübergehen gegenseitig in Schach halten. »Ein ruhiger Zustand der Luft heißt Windstille. Die Luft kommt indes nie wirklich, sondern bloß scheinbar zur Ruhe.«64 Auf der ersten Stufe von Goethes Windskala gibt sich der Wind »bloß im langsamen Wolkenzuge kund«.65 Wie bei Celsius, Jurin und der Mannheimer Meteorologischen Gesellschaft spielen Blätter, Zweigspitzen, Zweige, Äste, Baumwipfel, Stämme, aber auch ganze Bäume eine wichtige Rolle. Der Baum und seine verschiedenen Teile werden zu einem subtilen und differenzierten Messinstrument. Die Skala führt eine Vielfalt von zusätzlichen Differenzierungen und Abstufungen ein, bei denen die zunehmende Intensität und Frequenz auf den stetig stärker werdenden Wind hindeuten. Anfänglich rührt sich kein Blatt, dann zuweilen einzelne Blätter und danach beginnen sich die Blätter in den obersten Zweigen zu bewegen. Auf der dritten Stufe beginnen sich überall die Blätter in den Bäumen und die obersten Zweigspitzen, zuweilen zusammen mit den unteren Zweigspitzen durchgehend zu bewegen. 63 Cartier, Der Wind, S. 21. 64 Zitiert in ebd., S. 29 nach Theodor Friedrich Richter, Die Wasserwelt, oder das Meer und die Schifffahrt im ganzen Umfang, Bd. 1, Dresden und Leipzig 1836, S. 382. 65 Goethe, Meteorologie, S. 991.

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Auch die dünnsten Baumgipfel biegen sich hin und wieder. Auf der nächsten Stufe beginnen sich ganze Bäume zu bewegen und die Baumgipfel biegen sich »fast unausgesetzt«. Auf der fünften Stufe kündigt die sich bewegende Gestalt ganzer Bäume die Richtung des Windes an, während die Stämme ein wenig zu zittern beginnen. Auf Stufe sechs nimmt die Häufigkeit in der Bewegung ganzer Bäume zu, schwache Stämme beginnen sich zu biegen und die Gestalt der Laubbäume hat einen fahnenartigen Charakter. Auf der vorletzten Stufe werden Blätter durch die Luft gewirbelt, während in belaubten Bäumen die ersten Zweige und Äste abbrechen. Bei orkanartigen Winden brechen häufig Äste ab und einzelne Bäume werden hie und da ausgewurzelt (vgl. Abb. 24). Ein weiteres visuelles Kriterium, das auf der fünften Stufe bedeutsam wird, sind die durch den Wind in die Höhe getragenen Gegenstände.

Abbildung 24: Wolfgang von Goethe, Windskala nach Nummern (Ausschnitt)

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Anfänglich sind es noch vereinzelte leichte Sachen, wie Blätter und Staub, die nur für kurze Zeit in die Höhe getragen werden. Bei heftigem Sturm sind es leichte Körper wie Blätter, die kontinuierlich und rasch zu großen Höhen und zuweilen weit von ihrer anfänglichen Stelle wegtransportiert werden. Auch einzelne Ziegel beginnen hie und da zu fallen. Beim Orkan schließlich ist die Luft mit leichten Körpern erfüllt, die nur selten wieder zu Boden fallen. Taktile und akustische Wahrnehmungen sind ebenfalls von Bedeutung. Zuerst spürt man den Wind im Gesicht, das hin und wieder, später aber ununterbrochen sanft angeweht wird (Stufe zwei bzw. drei). Auf den folgenden Stufen wird man beim Gehen gegen den Wind zuerst nur manchmal ein bisschen gehindert (Stufe vier), dann wird das Gehen aber immer beschwerlicher. Auf Stufe fünf wird man ab und zu anhaltend ein wenig gehindert, danach wird fortgesetztes Gehen gegen den Wind beschwerlich, weil man fast ständig gehindert wird und um fortzukommen sich gegen den Wind stemmen muss. Das auditive Wahrnehmungskriterium setzt auf Stufe drei ein. Man hört zu Beginn ein schwaches Sausen im Freien, das sich zu einem durchgehend schwachen Sausen steigert, das zuweilen intensiver wird. Auf der fünften Stufe kann man ein stärkeres Sausen hören, das von einzelnen Windstößen begleitet wird. Auf der sechsten Stufe wird dies durch ein fast unauf hörliches starkes Sausen abgelöst. Goethes Windskala erfasst zugleich das Kontinuierliche der f ließenden Übergänge und das Abrupte und Diskontinuierliche des Windes, die variierenden zeitlichen Abstände, die Unterbrechungen und Pausen und die sich langsam steigernde Intensität, sowohl was die Dauer als auch die Wucht des Windes angeht. Die Skala beginnt zwar wie alle anderen mit der visuellen Wahrnehmung, gefolgt von der haptischen und auditiven, sie ist aber eindeutig feiner abgestimmt als die anderen hier diskutierten Windskalen.

Gegenstrebige Logik So wie Windrosen und Winddiagramme den Wind in einzelne Winde auf einem Kreis auseinanderdividieren und jedem einzelnen Wind dabei seinen eigenen Raum und seine eigene Zeit zuweisen, entfalten die Windskalen den Wind entlang einer einfachen Linie. Windskalen haben einen pragmatischen Zweck, sie sollen knapp über den jeweiligen Status informieren und dadurch eine Prognose ermöglichen. Die Logik, der sie unterliegen, beruht

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aber auf einer linearen kumulativen Vorstellung der steten Zunahme, die von der Windstille gradlinig zur völligen Entfesselung führt, vom wirtschaftlich nützlichen Wind, der die Mühlen antreibt und die Schiffe über die Meere trägt, zum gefährlichen Wind, der Verwüstungen anrichtet. Ausgeblendet werden dabei die vielfachen f ließenden Übergänge zwischen den einzelnen Stufen, die plötzlichen Böen, die zu vorübergehenden Unterbrechungen führen, und die abrupten Kurswechsel. Damit stehen sie in einer langen meteorologischen Tradition, die auch im Alltagsbewusstsein deutliche Spuren hinterlassen hat. Wie schon an mehreren Stellen ausgeführt, versucht Serres, diese lineare Vorstellung zu hinterfragen, indem er das chaotische unvorhersehbare Wetter auf unser Verständnis der Zeit und der Geschichte anwendet und auf die Fraktalität der Winde und unsere körperliche Eingebundenheit in die globalen Ströme verweist. In Carpaccio. Les esclaves libérés, das dem Gemäldezyklus von Vittore Carpaccio in der Scuola di San Giorgio degli Schiavoni in Venedig gewidmet ist, schlägt Serres eine andere gegenläufige Logik vor, die auf der Reduktion und dem Schrumpfen beruht. Diese führt vom endlosen Kampf um Macht und Ruhm einer im Kriegslärm erstickten Welt zur intimen meditativen Stille und dem inneren Frieden von Augustinus’ abgesonderter Klause, vom zerstörerischen Orkan der Geschichte zur sanften Brise. Dem Buch ist eine Passage aus der Bibel vorangestellt, die zugleich dessen Grundstruktur einfängt. »Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln. Als Elija es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle. Da vernahm er eine Stimme, die ihm zurief […].« (1. Buch der Könige 19, 11-13) Die Bewegung führt hier vom Sturm, über das Erdbeben und das Feuer zu einer kaum wahrnehmbaren Brise, in der sich endlich die Stimme Gottes zu Wort meldet. Die neun Gemälde Carpaccios in der Erdgeschosshalle der Scuola di San Giorgio degli Schiavoni entstanden zwischen 1501 und 1511. Sie sind inspiriert durch Jacobus de Voragines Legenda Aurea, eine umfassende Legendensammlung über die Heiligen, woraus auch das zweite dem Text vorangestellte Motto stammt, welches die Geschichte des hl. Georg erzählt. Die ersten drei Gemälde sind der Georg-Legende gewidmet. Auf der linken Seite ist der hl. Georg abgebildet, der den Drachen tötet und diesen als Trophäe im Triumphzug durch die Stadt führt. Auf der hinteren Wand

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findet sich ein drittes Gemälde, das zeigt, wie der Heilige den König und die Königin von Selene in Libyen tauft. Das vierte rechts davon, stellt die Errettung der Tochter des Kaisers Gordian von einem Basilisken durch den hl. Tryphon dar. Die fünf verbleibenden Gemälde auf der rechten Seite der Halle zeigen den betenden Jesus im Garten Getsemani, einem Ölberg bei Jerusalem, der zugleich die Stätte seiner Gefangennahme ist; die Berufung des hl. Matthäus, die Löwenbändigung durch den hl. Hieronymus, dessen Tod und den hl. Augustinus in seiner Studierstube. Serres liest die Entwicklung im Zeichen des Windes und des Bibel-Zitats. Die ersten vier Bilder schildern eine Opferung, die Serres im Sinne von René Girards Sündenbock-Theorie deutet. Das blutige Opfer, das zu immer weiteren ausgrenzenden Opferungen führt, ist die eigentliche Grundlage von Kultur. Serres spricht vom Lärm und der Wut, von Gewaltgeschrei und Zorn und von einem steten Gemetzel, als Grundlagen einer zerstörerischen Kultur, die den Zweiten Weltkrieg und Hiroshima hervorgebracht hat und bis in die Gegenwart hineinreicht. Dieser Teil entspricht den Anfangsversen aus der Bibel, dem heftigen Sturm, der die Berge zerreißt und die Felsen zerbricht, dem Erdbeben und dem Feuer. Das fünfte Bild, das erste auf der rechten Wand, ist der Wendepunkt hin zum Spirituellen, zur Versöhnung, zu den Wonnen des Paradieses und zur Meditation: Jesus ist das Opfer, das jedes weitere Opfer unnötig macht. Seine bewusste Selbstaufopferung soll der Notwendigkeit nach weiteren Opfern endlich ein Ende setzen. Es geht darum, den Sturm aufzuhalten, den ewigen Krieg zu besänftigen, die Bestie zu zähmen, um den Frieden vorzubereiten und zu verwirklichen. In einer kurzen Nachbemerkung für einen zukünftigen Komponisten66, der das Buch vertonen würde, verbindet Serres den Wind mit der Musik und nimmt das Narrativ des Buches noch einmal auf. Vom lauten Toben des Kampfes und dem Geheul der Menge, vom windigen Chaos der Schreie zur Stille des Raumes und der meditativen Ekstase des Augustinus. Damit wird das visuelle öffentliche Gewaltspektakel in ein abwartendes Zuhören übersetzt, ein Hinhorchen auf eine andere Welt. Die in Zürich geborene brasilianische Malerin und Lyrikerin Mira Schendel hat in ihrer Installation Ondas Paradas de probabilidade – Antigo Testamento, Livro dos Reis I, 19 (Stehende Wellen der Wahrscheinlichkeit - Altes Testament, 1. Buch der Könige 19), die sie 1969 an der 10. Biennal von São Paulo ausstellte, einen vergleichbaren Gedanken visuell umgesetzt. Es ist ein Spiel zwischen 66 Vgl. M. Serres, Carpaccio les esclaves libérés, Paris 2007, S. 42-43.

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Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit, Sehen und Hören. Das Werk bestand aus zahlreichen von der Decke bis zum Boden hinabreichenden Nylonfäden, die an einer Akrylplatte befestigt waren. Schendel erwähnt im Titel dasselbe Bibelzitat wie Serres. In ihrem Tagebuch schrieb sie dazu, es gehe um die Sichtbarkeit des Unsichtbaren, »›die visuelle Stille‹ (o silêncio visual).«67 Die Nylonfäden sind eine Windfalle, welche den leisesten Windzug sichtbar machen und zum Schweigen und Hinhören auffordern.

67  Z  itiert in G. Souza Dias, Mira Schendel. Do espiritual a corporeidade, São Paulo 2009, S. 147.

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9. Der Wind des Nomadischen: Politik und Kommunikation »Vielleicht leben Nomaden meteorologisch und wir astronomisch. Jedenfalls ist für Nomaden der Wind, was für Sesshafte der Grund ist.« Vilém Flusser, Von der Freiheit des Migranten Die politische Windmetaphorik in der westlichen Tradition ist genauso ambivalent wie der Wind selbst. Dieser steht für die Macht der Konventionen und des Kollektiven, für subjektive Freiheit, Revolte und Anarchie sowie für den Entwurf neuer Formen des Zusammenlebens. Es geht hier dabei nicht darum, die einzelnen Beispiele im Werk und Denken des jeweiligen Autors zu verorten, sondern im Kontext einer metaphorischen Philosophie des Windes zu lesen. Im Mittelpunkt stehen deshalb die innere Logik und Stimmigkeit der jeweiligen Metaphern und die möglichen Bezugspunkte zur bisher geschilderten Tradition. Ich möchte unterschiedlichen Schattierungen der Windmetapher nachgehen und der Frage, inwiefern die Metapher des Windes helfen kann, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, Subjektivität und Kollektivität, Gegenwart und Vergangenheit zu überdenken. Anfangen möchte ich mit Windmetaphern der Ambivalenz.

Fröste der Freiheit In ihrem Essay zu Atem, Äther und Atmosphäre in Fontanes Effi Briest untersucht Karin Tebben die Ambiguitäten von Luft und Wind aus genderspezifischer Sicht. Fontane verwendet meteorologische Metaphern zur Beschreibung der weiblichen Hauptfigur, ihrer Ehe, ihres Ehebruchs und ihres Todes. Als Tochter der Luft hat Effi Briest Affinitäten nicht nur zu Enzensbergers

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f liegendem Robert, sondern auch zu Cathy aus Emily Brontës Wuthering Heights. Heathcliffs Vorstellung von makellosem Glück besteht darin, an einem heißen Julitag von morgens bis abends an einem Heideufer mitten im Moor ausgestreckt zu liegen, inmitten von träumerisch summenden Bienen und singenden Lerchen. Diesem hingebungsvollen Verhalten stellt Cathy ein Traum der Bewegung in luftiger Höhe gegenüber: »That was his most perfect idea of heaven’s happiness: mine was rocking in a rustling green tree, with a west wind blowing, and bright white clouds f litting rapidly above. […]«1 Effi Briest hat ein ›stürmisches Naturell‹ und empfindet ein Freiheits- und Glücksempfinden, wenn sie auf dem Schaukelbrett durch die Luft f liegt. Das Gefühl, man stürze in die Tiefe, erfasst sie wie ein luftiger Schauer der Gefahr. Beim Erklimmen eines Mastbaumes, hoch oben in der Luft packt sie ein Freiheitsbedürfnis und ein Verlangen nach Luft. Die Luft ist ein ganzheitliches Lebenselixier, zugleich Atemluft und Lebensluft, aber auch Luft im physikalisch-klimatischen Sinne. Diese metaphorischen Dimensionen liefern eine ganz andere Lesart der geschlechtsspezifischen Seite des Windes als die zuvor diskutierte Verbindung zum Wahnsinn. Das Weibliche wird hier mit Losgelöstheit und Freiheit verbunden, mit Revolte, Entgrenzung und Auf bruch sowie dem Versuch einer möglichen Selbstdefinition. Neben den befreienden Momenten des Atmens taucht aber auch die Metapher des Erstickens auf. Effi ist in den weiblichen Denk- und Handlungsmustern und in der stickigen und beengenden sozialen und kulturellen Umgebung ihrer Zeit, die ihr beide gleichermaßen den Atem rauben, zutiefst verfangen. Die frische Luft dient darüber hinaus der Wiederherstellung des Ehefriedens. Ein mildes Lüftchen löst dabei das eheliche Sturmtief ab. Die außereheliche Affäre mit Crampas wird von allen möglichen Wetterlagen begleitet. Zu Beginn ist das Wetter noch schön und mild, dann aber zusehends stürmischer. Der Nordwestwind treibt Wolkenmassen heran und steigert sich zum Sturm, was zu einem Wetterumschlag führt. Mit dieser Beziehung beginnt auch die Atemnot. Die kommende Katstrophe wird von sich senkenden grauen Wolkenmassen begleitet. Die frühe Sehnsucht nach Freiheit auf der Schaukel weicht der Sehnsucht nach Befreiung durch den Tod. Ein Flug in den Himmel:

1 Brontë, Wuthering Heights, S. 279-280.

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»Proportional, wie ihr die Lebensluft den Atem raubt, wächst Effis ›Luftbedürfnis‹ im Freien, ein Bedürfnis freilich, das einem hektischen Ringen nach Luft gleicht. […] so zeigt die ›Luft‹, die Effi einatmet, um sich freier zu fühlen, ebenfalls ihre toxische Wirkung. […] Effi Briest stirbt an ihrem Verlangen, atmen zu wollen. […] Mit dem Einsaugen der Nachtluft verschafft sie sich als Individuum im selbst gewählten Tod die einzige Möglichkeit, ihren Freiheitsanspruch durchzusetzen und sich aus den Verstrickungen zu erlösen, die ihr die Luft zum Atmen nahmen.«2 Diese Spannungen spielen auch in Charlotte Brontës Texten eine wichtige Rolle. In ihrer Jugend assoziierte sie die stürmischen Winde mit der Vorstellung eines intensiven Lebens in der Imagination und Kreativität zusammen mit ihren beiden Schwestern. Der kühle Wind kalter Nächte hingegen drohte mit Erkältungen und Tuberkulose und der Ostwind verursachte ihr Kopfschmerzen. Während der Wind an den Fensterscheiben rüttelt, notiert sie in ihr Tagebuch: »›There is a voice […] there is an impulse which wakens up that dormant power which in its torpidity I sometimes think dead. […]. That wind, pouring in impetuous current through the air, sounding wildly, unremittingly from hour to hour […]. O! It has wakened a feeling that it cannot satisfy! A thousand wishes rose at its call which must die with me, for they will never be fulfilled.«3 Brontës Wettermetapher geht über die modische Kultivierung atmosphärischer Sensibilität weit hinaus. Sie schreibt als eine Frau, die sich durch die Erfahrung des Windes bewusst wird, wie gefangen sie eigentlich in der damaligen Gesellschaft ist, »a woman who must rein in her natural feelings.«4 Im Werk Fontanes kommt die Luft auch als kollektive politische Metapher vor. So hat die Berliner Luft mit dem Wesen der Stadt zu tun. Die Luft ist eine Metapher der sozialen Unterschiede, so ist sie wärmer in den höheren Schichten der Gesellschaft und kälter in deren Niederungen. Damit ist eine Raummetapher verbunden, die das Äußere dem Inneren, die frische Luft der stickigen Stubenatmosphäre und das Öffnen dem Schließen der Fenster 2  K  . Tebben, »Effi Briest, Tochter der Luft: Atem, Äther, Atmosphäre – zur Bedeutung eines Motivs aus genderspezifischer Sicht«, in: New German Review. A Journal of Germanic Studies 17 (2001-2002), S. 100. 3 Zitiert in Harris, Weatherland, S. 288. 4 Ebd., S. 289.

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gegenüberstellt. Dieser räumliche Kontrast, der mit dem Gegensatz von Freiheit und sozialer Kontrolle verbunden ist, spielt auch in der Geschichte vom f liegenden Robert aus dem Struwwelpeter eine zentrale Rolle. Die Luft hat eine therapeutische Wirkung und soll hereinströmen, denn es kann nie zu viel davon geben. Eine Figur in Fontanes Irrungen und Wirrungen, beklagt sich laut über die mangelnde Luft und reißt neben dem schon offenstehenden Mittelf lügel auch noch die Seitenf lügel auf, um den Wind hineinströmen zu lassen, »so daß von dem Zuge der ging, die Gardinen und das Tischtuch ins Wehen kamen.«5 Im Stechlin ist die Luft mit der Vorstellung einer neuen glücklicheren Zeit verbunden: »eine Zeit mit mehr Sauerstoff in der Luft, eine Zeit, in der wir besser atmen können. Und je freier man atmet, je mehr lebt man.«6 Winde artikulieren einen Wunsch nach plötzlicher radikaler Änderung. Im Prolog zu seinem Reisebericht, der den Titel »Blown Away« trägt, berichtet Hunt von dem befreienden Gefühl, sich dem Wehen des Windes auszuliefern: »[…] what I remember above all else is standing on the mountainside and the wind filling the coat I was wearing – many sizes too large for me – and my feet actually leaving the ground before my mother grabbed my legs and dragged me back to earth. […] Could it have actually blown me away, across the foam-f lecked Irish Sea? I’m not sure, but for years part of me secretly wished it had […].«7 Eine ähnliche Erfahrung beschreibt Hans Magnus Enzensbergers Gedicht Der Fliegende Robert (1970), das sich kritisch mit Heinrich Hoffmanns 1845 publiziertem Klassiker der Kinderliteratur Struwwelpeter auseinandersetzt. »Die Geschichte vom f liegenden Robert«, die ein Beispiel der schwarzen Pädagogik des 19. Jahrhunderts darstellt, operiert mit einer Reihe von Gegenüberstellungen: Kultur und Natur, innen und außen, Disziplin und Ungehorsam (vgl. Abb. 25). Obwohl es daheim in der Stube sicher ist und draußen der Regen niederbraust und das Feld durchsaust, möchte Robert ins Offene, denn draußen muss es herrlich sein. So beginnt er mit aufge5  Z  itiert in W. Wülfing: »›Luft ist kein leerer Wahn.‹ Theodor Fontane und die Berliner Luft als Metapher für das politisch-gesellschaftliche Klima im nachmärzlichen Preußen, unter besonderer Berücksichtigung des Briefwechsels mit Theodor Storm im Jahre 1853«, in: Formen der Wirklichkeitserfassung nach 1848. Deutsche Literatur und Kultur vom Nachmärz bis zur Gründerzeit in europäischer Perspektive, Bd. 1, hg. von H. Koopmann und M. Perraudin, Bielefeld 2003, S. 176. 6 Zitiert in ebd., S. 188. 7 Hunt, The Wild Winds, S. 3.

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Abbildung 25: Heinrich Hof fmann, Die Geschichte vom f liegenden Robert spanntem Regenschirm im Felde umherzupatschen, während der Sturm keucht und pfeift, bis sich die Bäume niederbeugen. Plötzlich erfasst der heulende Wind den Regenschirm und trägt Robert weg: »Und der Robert f liegt geschwind / Durch die Luft so hoch, so weit; / Niemand hört ihn, wenn er schreit. / An die Wolken stößt er schon, / Und der Hut f liegt auch davon.

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/ Schirm und Robert f liegen dort / Durch die Wolken immerfort. / Und der Hut f liegt weit voran, / Stößt zuletzt am Himmel an. / Wo der Wind sie hingetragen, / Ja! das weiß kein Mensch zu sagen.«8 Die trügerische Freiheit schlägt abrupt in Unfreiheit um. In Roberts Fall ist ein totaler Kontrollverlust. Aus der Sicht des Erzählers, der die moralische Instanz vertritt, verschwindet er in der Ferne, ohne jede Chance, je wieder gefunden zu werden. Der Hut als Zeichen der Vernunft ist ihm, wie in der in Kapitel acht schon erwähnten Filmszene, vom Kopf gerissen worden und treibt wie Robert und der Regenschirm durch die Lüfte. Der Wind steht hier im Zeichen der Dissoziation und Durchwirbelung. Ganz anders Enzensbergers Gedicht, das die Natur und die Gefahren des Windes in einem politischen Sinne deutet und dabei in ihr Gegenteil wendet. Der Wind ist hier eine befreiende Kraft, die den Erzähler, der hier zugleich die Hauptfigur ist, aus seiner kläglichen Lage befreit. Diese Entführung ist eine bewusst herbeigeführte Selbstbefreiung, die nicht ins Leere führt, sondern in eine andere bessere Welt. Das schlechte Wetter wird im Sinne repressiver politischer Zustände gedeutet und dem vollständigen Kontrollverlust in Hoffmanns Gedicht steht hier eine bewusst vollzogene Handlung gegenüber. Der vom Erzähler aufgespannte Schirm dient als Werkzeug der Flucht. »Eskapismus, ruft ihr mir zu, / vorwurfsvoll. / Was denn sonst, antworte ich, / bei diesem Sauwetter! –, / spanne den Regenschirm auf / und erhebe mich in die Lüfte. / Von euch aus gesehen, / werde ich immer kleiner und kleiner, / bis ich verschwunden bin. / Ich hinterlasse nichts weiter / als eine Legende, / mit der ihr Neidhammel, / wenn es draußen stürmt, / euern Kindern in den Ohren liegt, /damit sie euch nicht davonf liegen.«9 Der Wind ist in seiner überwältigenden, alles mitreißenden Kompaktheit und Wucht ebenfalls als Metapher des Gesellschaftlichen und der Geschichte verwendet worden.

8  H. Hoffmann, Der Struwwelpeter, Köln 2017, ohne Seitenangabe. 9  H  .-M. Enzensberger, »Der fliegende Robert«, http://www.planetlyrik.de/lyrikkalender/ hans-magnus-enzenbergers-gedicht-der-fliegende-robert/.

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Der Wind als politische Metapher des Kollektiven In Aristoteles’ Politik wird die Genese der unterschiedlichen Staatsformen über den Umweg der Musik und in Analogie zu den Winden beschrieben. Dieser Deutung liegt der Gegensatz von regelmäßigen und unregelmäßigen Winden aus der damaligen Meteorologie zugrunde. Der Staat ist eine Gemeinschaft von Bürgern, deshalb kann er nicht mehr derselbe sein, wenn sich die Art der Staatsverfassung ändert. Ebenso kann der Chor in einer Komödie nicht derselbe sein wie in einer Tragödie, obwohl die Menschen immer dieselben sind. Die Art ihrer Verbindung ist eine grundsätzlich andere und daher auch der Zusammenklang derselben Töne. Aristoteles unterscheidet zwischen einer dorischen und einer phrygischen Tonalität. Sokrates lässt im platonischen Staat zu Unrecht beide gelten, »obgleich er von den Instrumenten die Flöte verwirft; denn die phrygische hat unter den Tonarten dieselbe Bedeutung, wie die Flöte unter den Instrumenten; beide sind wildbegeisternd und aufregend, wie deren Benutzung zeigt, denn für alle bacchantischen und alle diesen gleiche Gemütsbewegungen werden von allen Instrumenten am meisten die Flöten benutzt […].« Die dorische Weise hingegen ist die »gemessenste« und besitzt »am meisten einen männlichen Character.« Aus diesem Grund empfiehlt Aristoteles, dass man die jungen Männer vorzugsweise in der Kunst der dorischen Gesänge unterrichte. Die beiden Gesänge verkörpern eine jeweils andere Nachahmung der sittlichen Gefühle: die ausgelassenen Tonarten der phrygischen Tonart haben einen bewegten Charakter und erwecken dadurch Begeisterung, während die dorischen einen ruhigeren und festeren Sinn hervorbringen. Es besteht »eine Art Verwandtschaft zwischen den Ton- und Taktarten in der Seele.« Dies zeigt, auf welche Art und Weise die Musik »das Sittliche in der Seele bewirken kann.«10 Diese erste auf der Musik beruhende Unterscheidung zwischen Exzess und Maß wird in einem zweiten Schritt auf die Staatskonstitution bezogen. Dabei werden Musik und Politik im Zeichen unterschiedlicher Winde zusammengeführt. Die musikalische Inspiration, die den Körper erfasst und gestaltet, entspricht dabei dem Geist, der die staatliche Verfassung durchweht und belebt. Für Aristoteles gibt es grundlegend zwei mögliche Verfassungsarten, so wie es zwei Hauptwinde gibt, den Nord- und den Süd-Wind. Hinzu kommen zwei Abweichungen, wie bei den Winden der West- und der 10 Aristoteles, Politik, https://www.projekt-gutenberg.org/aristote/politik/.

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Ost-Wind. Daraus lassen sich zwei Verfassungsformen und deren jeweilige Abweichungen ableiten. »Die Verfassung besteht nämlich in der Ordnung und Feststellung der Staatsämter und diese werden überall entweder nach der grösseren Macht der Betheiligten oder nach einer gewissen Gleichheit, welche unter ihnen besteht, zugetheilt, also entweder nach Reichthum und Armuth oder nach einer beiden gemeinsamen Bestimmung […].« Gemeint sind damit die »Herrschaft des Volkes und die Herrschaft von Wenigen.« Die beiden Abweichungen sind die Aristokratie, eine Art der Oligarchie, und der Freistaat, eine Form der Demokratie. Diese ordnet man den ersten beiden zu, »so wie man bei den Winden den Westwind zu dem Nordwinde und den Ostwind zu dem Südwinde rechnet.« Diese Unterscheidung wird abschließend auf die Musik zurückbezogen. »Ähnlich verhält es sich, wie Einige sagen, auch mit den Tonarten; auch da werden nur zwei Hauptarten angenommen, die dorische und die phrygische, und die übrigen werden theils zu der dorischen, theils zu der phrygischen gerechnet. In dieser Weise pflegt man gewöhnlich auch die Verfassungen aufzufassen; indes ist meine Unterscheidung wohl besser und richtiger, wonach ein oder zwei als die gut eingerichteten und die anderen als Ausartungen, dort von der richtig eingetheilten Tonart, hier von der besten Verfassung gelten, und zwar die strafferen und despotischeren als oligarchische und die milderen und gelinderen als demokratische Ausartungen.«11 Winde sind auch als Metaphern unterschiedlicher Nationen verwendet und mit gewissen Landschaften und den darin lebenden Menschen gleichgesetzt worden. »Where does wind actually go?«, fragt sich Hunt, am Ende seines Buches. »Where does it end or begin? It travels but it never arrives; it goes everywhere and nowhere. We swim in an invisible sea of atoms, and asking where one wind ends and another begins is like asking to see the point where two oceans meet. In this way winds are unlike walks, for which endings and beginnings are fundamental dividing lines.«12 Dieser treffenden Einsicht, die eine Grunderfahrung im Zusammenhang mit dem Wind wiedergibt, widerspricht jedoch das gesamte Buch. So präsentieren die dem Text beigegebenen Landkarten ein in verschiedene Winddomänen eingeteiltes 11 Aristoteles, Politik, https://www.projekt-gutenberg.org/aristote/politik/. 12 Hunt, The Wild Winds, S. 246.

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Europa, mit unterschiedlichen abgegrenzten und eigenständigen Räumen, die von einem einzigen Wind geprägt werden, eine Psychologie der Winde, wie Hunt es nennt: »I have met the characters of the winds, and know the qualities they bring: the Bora strength and clarity; the Foehn destruction and depression; the Sirocco debilitation; the Mistral beauty and madness.«13 Hunt verbindet die einzelnen Winde mit der Landschaft, durch die sie wehen und mit den Menschen, die darin leben: ein problematischer meteorologisch-geographischer Determinismus, der in einer langen europäischen Tradition steht, welche Klima, nationales Territorium, Nationalcharakter und Nationallandschaft ineinander spiegelt. Mit einer Ausnahme. Nachdem er die engen Schweizer Bergtäler des Berner Oberlandes verlassen hat und in die breite Ebene des Rhonetals, die sich zum Genfersee hin öffnet, gelangt ist, drängt sich ihm eine ganz andere plurale, kosmopolitische Vorstellung auf. Die mehrsprachige Stadt Genf, in der insgesamt sechsmal der Esperanto-Weltkongress stattfand, und der Genfersee mit seinen zahlreichen sich bekämpfenden Winden, sind der Verbindungspunkt zwischen der Ostsee und dem Mittelmeer. »Beyond the Foehn’s sphere of inf luence, then, it seemed to be a free-for-all; I had the image of competing forces tussling for control of the lake like rival claimants to the throne in a power vacuum – Such a conf luence of winds suited Geneva’s cosmopolitan soul. It went with the easy intermingling of European languages, the United Nations headquarters […].«14 Die Windkarte des Genfersees mit seinen vielen sich kreuzenden Grenzlinien vergleicht Hunt mit einer butcher’s chart, einer Metzger-Tabelle, einer jener großformatigen Illustrationen, die die verschiedenen Fleischstücke, auf English meat cuts, eines Schweins oder eines Rindes zeigen und den Kunden bei ihrer Wahl helfen sollen. Diese Metapher deutet das Ensemble der Winde erneut als klar abgegrenzte Teile eines organischen Ganzen, was zwar Pluralität zu versprechen scheint, aber die f ließenden Grenzen, die gerade bei Winden so wichtig sind, unterschlägt.

13  Ebd., S. 252. 14 Ebd., S. 192.

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Der Wind als Masse In Masse und Macht beschreibt Elisas Canetti den Wind, das Meer und den Fluss15 als Massensymbole, imaginäre kollektive Einheiten, die wesentliche Eigenschaften von Menschenmassen aufweisen. Wie die Masse kombiniert das Meer Einheit mit Mannigfaltigkeit. Das Eindrucksvollste am Meer ist dessen Zähigkeit. Es ist allumfassend, ein Vielfaches aus unzähligen Wellen, die nie ganz zur Ruhe kommen und deren Richtung vom Wind bestimmt wird. Das Meer ist stetem Wandel unterworfen, aber durch die Gleichförmigkeit seiner Bewegung wirkt es dennoch kompakt und vermittelt durch den Zusammenhang aller Teile ein Kraftgefühl. Das Meer kennt keine inneren Grenzen, es ist eine Sprache, die überall dieselbe ist. Es hat eine Stimme, die nach tausend Stimmen klingt, ein einziges vielköpfiges Geschöpf, das in der Zeit und im Raum beharrt, wodurch es den geheimen Wunsch der Masse nach Einheit und Bestehenbleiben artikuliert. Im Gegensatz zum Fluss, der von der Quelle her auf seinem Weg zur Mündung ständig wächst, ist das Meer immer dasselbe. Das Auffallendste am Fluss ist seine Gerichtetheit, seine Entschlossenheit auf das Meer hin. Flüsse wirken unerschöpf lich, da immer weiteres neues Wasser nachdrängt. Sie ziehen zwischen festen Ufern vorbei, die ihr Vorüberziehen sichtbar machen. Sie gleichen Demonstrationen, die sich ebenfalls aus verschiedenen Zuf lüssen nähren und dadurch kontinuierlich anschwellen. Der Wind, der in der westlichen Tradition immer wieder mit dem Meer und dem Fluss assoziiert wurde, teilt mit diesen einige wesentliche Eigenschaften, die ihn ebenfalls zu einer Metapher der Masse machen. Wie das Meer besitzt er eine und zugleich viele Stimmen. »Seine Stärke wechselt und mit ihr seine Stimme. Er kann winseln oder heulen, leise, laut, es gibt wenige Töne, deren er nicht fähig ist. So wirkt er als etwas Lebendes […]«, wie das Meer und der Fluss, deren Beharrlichkeit und Entschlossenheit sie zu agierenden Personen machen. Die Stimme verbindet den Wind mit dem Meer, die Ausgerichtetheit mit dem Fluss. Die Einwirkung des Windes auf den Körper bezieht Canetti auf das Gefühl der Zugehörigkeit und Aufgehobenheit, das man in einer großen engzusammenstehenden Menschenmenge empfinden kann. Die Luft umgibt einen ganz und die Stöße, die der Wind austeilt, nimmt man ganzkörperlich wahr. Auf die gleiche Art und Weise wird man in einer dichten Masse von den anderen berührt und an15 Vgl. Canetti, Masse und Macht, S. 92-100.

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gestoßen. »Man fühlt sich ganz im Wind, er hat etwas Zusammenfassendes […].«16 Während das Geheimnis des Meeres in der Summe all dessen besteht, was er unter seiner Oberf läche in den Tiefen verbirgt, so ist das Geheimnis des Windes seine Unsichtbarkeit. Beide sind eine Metapher der verborgenen Masse, aus der die Teilnehmenden Kraft und Zuversicht schöpfen.

Die Macht des Milieus Christian untersucht den Wind als vielfache Metapher des Kollektiven in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften. Das semantische Feld umfasst das meteorologische Wetter, das geistige Klima des Reiches, die vorherrschende Ideenatmosphäre eines bestimmten Zeitalters, den Zeitgeist, kurz all das, was in der Luft liegt, aber auch das Gespenstische, atmosphärisch Unbestimmte und Diffuse sowie das geschichtlich Unwägbare, Irrationale, Unvernünftige und Unfeste. Musil geht es darum, »das Luftgesicht einer Epoche dar[zu]stellen«17, das heißt, eine unsichtbare kollektive Erscheinung einzufangen und dem Formlosen eine Form zu geben, »also genau das, was seit jeher das Darstellungsproblem des Windes ausmacht.«18 Die Metapher des Gesichts suggeriert einen einheitlichen Charakter. Der Wind tritt dabei sowohl als Subjekt der untersuchten Zeit auf als auch als deren Haupteigenschaft: die Beweglichkeit. »Somit umspannt die Bedeutung des Windes im Roman natürliche Luftmassen und soziale Menschenmassen – ein physisches Medium und ein geschichtliches Milieu. […] Der Wind, als äußere Luftströmung und innerer Atem, vermittelt nicht nur zwischen Natur und Mensch, sondern er unterläuft die Natur-Kultur Dichotomie an sich.«19 Dass gerade der Wind aufgrund seiner unbestimmten ungreif baren Natur und seiner unbegrenzten Beweglichkeit Gegensätze unterläuft, Disparates zusammenführt und weit Auseinanderliegendes verbindet, macht ihn zu einer idealen Metapher, um das Verhältnis von Natur und Kultur zu diskutieren. 16 Ebd., S. 99. 17 M. I. Christian, »Wind. Turbulenzen der Zeit. Klimatographie in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften«, in: Phänomene der Atmosphäre. Ein Kompendium Literarischer Meteorologie, hg. von U. Büttner und I. Theilen, Stuttgart 2017, S. 410. 18 Ebd., S. 416. 19 Ebd., S. 412-413.

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Der Wind vermittelt zwischen Gegensätzen. Christian spricht von einem ›Oszillieren‹. Neben der Spannung zwischen »einer kollektiv-bestimmenden Klimaerscheinung« und einem »individuell-befreienden inspirativen Einf luss«20, zwischen inneren und äußeren Winden, der physischen Natur und der menschlichen Seele, spielt die doppelte Natur des Windes als global verbindende Luftströmung und individueller regionaler Wind eine wichtige Rolle. Dieses stete Oszillieren findet in einer Zwischenzone statt, in der klare Grenzen aufgehoben und die Bereiche miteinander verwoben werden. Musils Projekt lebt von der Aporie zwischen individueller subjektiver Abweichung und kollektiver historischer Gleichschaltung, zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelfall. Dies wird im Roman in einem Hinweis auf Äolus’ Windsack explizit thematisiert. Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist eine ›neue Zeit‹. »Es ist das ein Wort wie ein Sack, in dem man die Winde des Äolus fangen möchte.«21 Für Musil ist dies ein zum Scheitern verurteilter Versuch, die widersprüchliche Pluralität der Erscheinungswelt in einem einzigen Sammelausdruck zusammenzufassen, der Versuch, die vielen divergierenden Winde in einem einzigen Behälter unterzubringen. Die Singularität und das »Individuum werden dabei prinzipiell übergangen« und einer alles »umfassenden Ordnung subsumiert.«22 Die moderne statistisch argumentierende Meteorologie versucht etwas Ähnliches. Die ›neue Zeit‹ läutet in mehrfacher Hinsicht den Anfang der Vorherrschaft des Kollektiven ein und verabschiedet sich dabei von der früheren Vorstellung eines subjektiv bedeutsamen inspirativen Einf lusses. Schon in ihrem Essay zu Warburgs BotticelliInterpretation kommt Christian zu einem vergleichbarem Schluss, den sie im Zusammenhang mit Musil wieder aufnimmt. »Laut Warburg lässt sich Botticelli von den Luftströmungen seiner Zeit zu sehr verbiegen.«23 Hier ist das Individuelle jedoch noch zugelassen, während es in Musils Roman vollständig verschwunden ist. Christian verweist dazu auf zwei Passagen, in denen der Wind als kollektive, anonyme und entindividualisierende Kraft auftritt. In der ersten Passage geht es um die vielen unterschiedlichen Assoziationen, Genossenschaften, Bürgerklubs, Vereine und Grüppchen, »die dem Übergang vom Individualismus zum Kollektivismus vorauslaufen wie Kehricht20 Ebd., S. 416. 21  Zitiert in ebd., S. 414, nach R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 2007, S. 458. 22 Ebd., S. 412. 23 Ebd., S. 417.

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häufchen einem wirbelnden Wind.«24 Der Wind des Gesellschaftlichen macht alle individuellen Ansprüche zunichte. Indem er sie vor sich hertreibt, macht er auch deren Unbedeutsamkeit und Vergänglichkeit sichtbar. In der zweiten Passage schwingt Warburgs Metapher des Verbiegens mit. »Durch das Gewirr von Glauben ging damals etwas hindurch, wie wenn viele Bäume sich in einem Wind beugen, ein Sekten- und Besserergeist, das selige Gewissen eines Auf- und Anbruchs, eine kleine Wiedergeburt und Reformation, wie nur die besten Zeiten es kennen, und wenn man damals in die Welt eintrat, fühlte man schon an der ersten Ecke den Hauch des Geistes um die Wangen [Hervorhebung d. A.].«25 Wie in der ersten Passage dient paradoxerweise gerade der unsichtbare Wind der Sichtbarmachung eines kollektiven Prozesses. Geht es im ersten Zitat um die Beziehung zwischen der Individualität kleinerer Verbände und der Übermacht der Gesamtgesellschaft, so steht im zweiten der Wind als Metapher von übergreifenden vereinheitlichenden Denkprozessen im Mittelpunkt. Die Gegenüberstellung des ersten zarten Hauchs und des alles umfassenden verbiegenden Windes deutet auf eine mögliche Spannung zwischen individueller Begeisterung und kollektiver Anpassung hin. Musils Verwendung der Windmetapher beschränkt sich nicht aufs rein Kollektive. Eine weitere metaphorische Schicht ist mit den Worten ›Hauch‹, ›anhauchen‹ und ›überhauchen‹ verbunden, die vor allem das subjektive Gefühl und die Einmaligkeit einer Situation hervorheben. Der Hauch steht für das Unfertige, Changierende und ändert mit jedem Atemzug seine Gestalt. Ein ungreif barer Hauch liegt über den Dingen. Die Seele ist ein Lufthauch und der eigene gefühlsmäßige Zustand eine unsichere ›Hauchartigkeit‹. Der Wind steht auch für einen f luiden unentscheidbaren Übergangszustand, eine turbulente Zwischenzone. »Aber es war kein Denken mehr […] und auch kein Fühlen […]; es war ein ›ganz Begreifen‹ und doch auch wieder nur so, wie wenn der Wind eine Botschaft fern herüberträgt, und sie kam ihm weder wahr noch falsch, weder vernünftig noch widervernünftig vor […].«26 An einer anderen Stelle geht es um die Betrachtung eines geliebten Körpers, dessen Abbild aus der Stille emportaucht und sich wie ein schweigsamer Hauch ausdehnt. Die Erregung überträgt sich auf den anderen Körper, der sich wie eine Fahne öffnet und dabei auf der ambivalenten Grenze von Bewusstheit 24  Zitiert in ebd., S. 417, nach Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 224. 25  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 56. 26  Ebd., S. 255.

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und Unbewusstheit verharrt: »die liebliche Körperlichkeit dieses Bilds, der sich augenblicks ausbreitenden Stille entsprungen […] ging so unvermittelt und unmittelbar in den Körper Ulrichs über, daß dieser seinen Platz verließ und, nicht ganz so bewußtlos, wie ein Fahnentuch vom Wind entrollt wird, aber auch nicht mit bewußter Überlegung.«27

Der Wind der Geschichte In einem Gespräch, das am 18.11.1988 in der NZZ erschien, deutet Joris Ivens den Wind als durchgehenden Strom der Geschichte, der die Erinnerung an Vergangenes mit sich trägt und zugleich eine bessere Zukunft verspricht. Dieser Wind verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft. »Der Wind ist das Gedächtnis der Dinge. Für mich ist er der grosse Strom, auf dem sich die Menschheit fortbewegt, unabhängig von den kleineren Strömungen von Kaiserreichen, von Faschismus, von Zivilisationen, die untergehen. Ein Sturm, der sich, wie ich glaube, auf etwas Besseres hinbewegt.«28 Eine weitaus ambivalentere Bedeutung, die das Kollektive mit dem Persönlichen und das Destruktive mit dem Kreativen verbindet, kommt dem Wind in Walter Benjamins Werk zu. Der Wind ist hier eine Metapher für die dialektische Denkarbeit des Philosophen und den zerstörenden Sturm des Fortschrittes, zugleich der Wind des Absoluten und die frische Brise des Fleißes. Im Passagen-Werk wird die Metapher hauptsächlich für die Arbeit des Dialektikers verwendet. Es geht um den »Wind des Absoluten in den Segeln des Begriffs«. Dabei ist »das Prinzip des Windes« das Zyklische und die »Segelstellung« das Relative. Die Priorität scheint somit bei den Dingen selbst zu liegen. In zwei weiteren Passagen wird dies zusätzlich präzisiert. »Für den Dialektiker kommt es darauf an, den Wind der Weltgeschichte in den Segeln zu haben. Denken heißt bei ihm: Segel setzen. Wie sie gesetzt werden, das ist wichtig. Worte sind seine Segel. Wie sie gesetzt werden, das macht sie zum Begriff.«29 Und weiter: »Dialektiker sein heißt den Wind der Weltgeschichte in den Segeln zu haben. Die Segel sind die Begriffe. Es genügt aber nicht, über die Segel zu verfügen. Die Kunst, sie setzen zu können, 27 Ebd., S. 1082. 28 Zitiert in Filmstelle VS ETH, Wind im Film, S. 68, nach Joris Ivens in der NZZ 18.11.1988, 29  W. Benjamin, Das Passagen-Werk, Bd. 1, Frankfurt am Main 1983, S. 591.

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ist das Entscheidende.«30 Worte sind noch keine Begriffe. Die Worte sind zwar Segel, können aber den Wind erst dann erfolgreich einfangen, wenn man sie richtig setzt. Erst das richtige Setzen macht die Worte zu dialektischen Begriffen. Der Wind hat Priorität. In der Logik der Metapher des Segels bedeutet dies, dass man gedanklich nur dann weiterkommt, wenn man sich dem Wind aussetzt und diesen richtig einfängt. Erst dann kann sich das Gedankenschiff des Dialektikers bewegen. Das richtige Setzen impliziert dabei aber nicht unbedingt ein gradliniges Vorwärtstreiben mit dem Wind im Rücken. Man kann auch gegen den Wind segeln. Der Wind als Metapher taucht an verschiedenen anderen Stellen des Passagen-Werkes auf, sowohl in Zitaten wie in Kommentaren. Es ist ein befreiender klärender frischer Wind, der »das Gewölk des Mythos« vertreibt und den »Blick auf die Menschen und wie sie es treiben«31 freilegt. Es ist ein revolutionärer Wind, der eine neue Welt ankündigt.32 Im folgenden Zitat durchbricht der Wind die falsche ununterbrochene lineare Kontinuität des Fortschritts und kündigt das Auftauchen von etwas Unerwartetem, Neuem an. »In jedem wahren Kunstwerk gibt es die Stelle, an der es den, der sich dareinversetzt, kühl wie der Wind einer kommenden Frühe anweht. […] Fortschritt ist nicht in der Kontinuität des Zeitverlaufs, sondern in seinen Interferenzen zu Hause: dort wo ein wahrhaft Neues zum ersten Mal mit der Nüchternheit der Frühe sich fühlbar macht.«33 Das Meteorologische wird ebenfalls als Metapher der individuellen Denkund Schreiberfahrung verwendet. Das äußere Klima dringt bis in die Gedanken des f lanierenden Philosophen vor und bringt diese durcheinander wie ein Sturm die Wellen des Meeres.34 In einer weiteren Passage schildert Benjamin seine Forschungsarbeit in der Pariser Nationalbibliothek durchgehend in meteorologischen Metaphern. Drinnen und draußen durchdringen sich. Die Luft und der Wind tauchen in verschiedenen Gestalten auf: als frische Brise, schwerfälliger Atem, Sturm und träges Lüftchen.

30  Ebd., S. 592. 31 Ebd., S. 344. 32 Vgl. dazu ebd., S. 218 (»den Stürmen der Revolution«) und 398 (»einen Nachklang der Revolutionstürme, die über Paris dahingegangen sind«). 33  Ebd., S. 593. 34  Vgl. ebd., S. 567.

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»Diese Niederschrift, die von den pariser Passagen handelt, ist unter freiem Himmel begonnen worden wolkenloser Bläue, die überm Laube sich wölbte und doch von den Millionen von Blättern, in denen die frische Brise des Fleißes, der schwerfällige Atem des Forschers, der Sturm des jungen Eifers und das träge Lüftchen der Neugier rauschten mit vielhundertjährigem Staube bedeckt worden. Denn der gemalte Sommerhimmel, der aus Arkaden in den Arbeitssaal der Pariser Nationalbibliothek hinuntersieht, hat seine träumerische, lichtlose Decke über ihr ausgebreitet.«35 Eine weitere Passage, die den Wind ins Subjektive übersetzt, findet sich in Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. In »Ein Weihnachtsengel« wird der Engel mit dem Wind verbunden. Während die Eltern den Christbaum schmücken, steht der Erzähler im Nebenzimmer und wartet, bis die Kerzen entzündet worden sind. Er spürt eine fremde Gegenwart im Raum und rezitiert die rituelle Formel. »Es war nichts als ein Wind, sodaß die Worte, die sich auf meinen Lippen bildeten, wie Falten waren, die ein träges Segel plötzlich vor einer frischen Brise wirft: ›Alle Jahre wieder, kommt das Christuskind, auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind‹ - mit diesen Worten hatte sich der Engel, der in ihnen begonnen hatte, sich zu bilden, auch verf lüchtigt.«36 Die Passage nimmt die Metaphorik des Windes und der Segel aus dem Passagen-Werk vorweg, aber im Sinne eines Scheiterns. Die frische, aber schwächelnde Brise zeichnet auf den trägen Segeln der Lippen nur ein paar wenige Falten ein. Die Inspiration bleibt aus. Die Figur des Windengels steht hier wie im nächsten Beispiel ganz im Zeichen der Vergeblichkeit. 1921 erwarb Benjamin von Paul Klee eine kleine aquarellierte Ölfarbzeichnung auf bräunlichem Papier mit dem Titel Angelus Novus. Das Bild zeigt ein vogelartiges Mischwesen, halb Mensch halb Tier, mit kurzen Beinen, die in Vogelfüßen enden. Die Flügel weisen es als Egel aus, auch wenn diese nicht auf dem Rücken angebracht sind, sondern seitlich, und ausgebreitet wie Arme oder die Schwingen eines Vogels. Der überdimensionierte Kopf ist von gelocktem Haar umgeben, das wie aufgerolltes Pergament aussieht. Der offene Mund ist voller spitzer Zähne. Seine weitgeöffneten mandelförmigen schwarzen Augen scheinen auf etwas weit Entferntes zu starren. Der ›Neue 35  Ebd., S. 571. 36  W  . Benjamin, »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert«, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, Frankfurt am Main 1980, S. 283.

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Engel‹, wie ihn Benjamin nennt, verweist auf eine Vorstellung der jüdischen Angelologie, nach der immer wieder neue Engel entstehen und sogleich wieder verschwinden. Ihr Daseinszweck liegt allein darin, für kurze Zeit Gottes Lob zu singen. Dieser ephemere und hybride Engel ist dem Wind hilflos ausgesetzt und setzt sich damit von den christlichen Engeln ab, welche die stürmischen Winde im Namen Gottes in ihre Schranken verweisen und als Winde dafür sorgen, dass die göttliche Ordnung des Kosmos aufrechterhalten wird. In Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen singt der Engel auch keine Hymnen mehr und sein göttlicher Ursprung ist gänzlich verdunkelt. Es ist ein vollkommen ohnmächtiger Engel, der den geschichtlichen Fortschritt mit Entsetzen betrachtet, während er sich immer weiter von seinem göttlichen Ursprungort entfernt und in völliger Passivität verharrt. Selbst die Kontrolle über seine Flügel hat er verloren. Benjamin spielt in seiner Beschreibung auf den kabbalistischen Begriff des ›Tikkun‹ an, welcher die Entstehung der Welt mit dem Bruch der Gefäße, ein Symbol für die in Ungleichgewicht geratene Welt durch den Einzug des Bösen in eins setzt. Die daran geknüpfte messianische Wiederherstellung am Ende der Zeit kann Benjamins Engel jedoch nicht mehr erfüllen. Er ist machtlos und kann seine erstarrten Flügel nicht mehr schließen, geschweige denn fürs Fliegen benutzen. Benjamin distanziert sich im weiteren Textverlauf dezidiert vom Geschichtsverständnis der Moderne und deren sturem Fortschrittsglauben. Darin nähert sich sein Denken demjenigen Serres’ an. In der neunten These aus »Über den Begriff der Geschichte« steigert sich der Wind zum Sturm. Darin werden zwei Perspektiven unterschieden. Aus unserer in die Zukunft gerichteten Sicht präsentiert sich die Geschichte als Abfolge von Begebenheiten, aus der rückgewandten, dem Paradies zugewandten Sicht des Engels hingegen ist es eine endlose Aneinanderreihung von Katastrophen. Der Wind weht heftig vom Paradies her, und transportiert damit auch die Botschaft des Sündenfalles und des verlorenen Paradieses mit sich. Der Engel möchte vergebens das Zerschlagene wieder zusammenfügen und die Zerstörung doch noch ins Gute wenden. Wir hingegen missdeuten den Sturm als Fortschritt. »Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken

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und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt. Während der Trümmerhaufen zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm«37 In den folgenden Abschnitten verlagert sich das Narrativ von der Ambivalenz der Winde zu deren Fähigkeit, die sozialen Zustände grundlegend zu verändern.

Der Tauwind der Freiheit Die Windmetapher und die Beweglichkeit, für die sie einsteht, artikulieren wesentliche Aspekte von Nietzsches Philosophie. Im Zentrum seines Denkens steht die grundlegende Fluidität des Daseins, der Fluss der Dinge und des Geschehens, der auch die Sprache erfasst. Diese kann durch Metaphorisierungen davor bewahrt werden, im rein Begriff lichen zu erstarren. Begriffe sind erstarrte Metaphern, die sich im Fluss weiterer Metaphern verf lüssigen lassen. In diesem Zusammenhang spricht Nietzsche vom Tauwind der Freiheit. Im fünften Buch von Die fröhliche Wissenschaft wird der warme unheimliche Atem des Tauwindes dem kalten Eis gegenübergestellt. Der Fluss der Sprache, die hier in der Metapher des Wassers eingefangen wird, ist zu Eis erstarrt. Diese Schicht wird zugleich als die gegenwärtige uns tragende, aber aufzugebende Realität gedeutet und der Tauwind mit den nomadischen wurzellosen Menschen, die sich in ihr nicht mehr zurechtfinden, in eins gesehen. Im Abschnitt 377, der den Titel Wir Heimatlosen trägt, schreibt Nietzsche dazu: »Wir Kinder der Zukunft, wie vermöchten wir in diesem Heute zu Hause sein! Wir sind allen Idealen abgünstig, auf welche hin Einer sich sogar in dieser zerbrechlichen zerbrochenen Übergangszeit noch heimisch fühlen könnte; was aber deren ›Realitäten‹ betrifft, so glauben wir nicht daran, dass sie Dauer haben. Das Eis, das heute noch trägt, ist schon sehr dünn geworden: der Thauwind weht, wir selbst, wir Heimatlosen, sind Etwas, das Eis und andere allzu dünne ›Realitäten auf bricht‹. […] 37  W  . Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt am Main 1980, S. 697-698.

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wir arbeiten nicht für ›Fortschritt‹.«38 Die vom Tauwind teilweise aufgelöste Eisschicht wird durch die Heimatlosen zerbrochen. Im Abschnitt 380 ist die Rede vom Wanderer, der die Realität der Gegenwart und deren moralische Schwere verlässt, um eine Stellung außerhalb zu beziehen. Dazu muss man sehr leicht sein, steigen, klettern, f liegen und sich »von Vielem losgebunden haben, was gerade uns Europäer von Heute drückt, hemmt, niederhält, schwer macht.«39 Auch in Also sprach Zarathustra begegnet man der Metapher des warmen Windes des Auf bruchs. Zarathustra, der nomadische Wanderer, ist selbst dieser Wind. Erneut taucht die Metapher des Tauwindes im Zusammenhang mit der grundlegenden Fluidität der Wirklichkeit auf. Wind und Wasser sind auch bei Nietzsche eng miteinander verbunden. Der Tauwind predigt gegen den Stillstand. Er ist »ein Stier, der kein pf lügender Stier ist – ein wüthender Stier, ein Zerstörer, der mit zornigen Hörnern Eis bricht! […] Wehe uns! Heil uns! Der Tauwind weht!‹«40 Im Gegensatz zu Serres und Flusser, welche die Metaphern des Windes und der Wolke als zwei zusammengehörende komplementäre Seiten betrachten, stellt Nietzsches die beiden einander gegenüber. Im Anhang zu Die Fröhliche Wissenschaft, der den Titel »Lieder des Prinzen. Vogelfrei« trägt, findet sich das Gedicht »An den Mistral. Ein Tanzlied«, welches die Metapher des Windes um diejenige des Tanzes erweitert und die Wolke als Gegner des Windes einführt. Die Erzählfigur wird mit einem wilden Wind gleichgesetzt, der Staub aufwirbelt und Wolken verjagt. »Mistral-Wind, du Wolken-Jäger, / Trübsal-Mörder, Himmels-Feger, / Brausender, wie lieb‹ ich dich! […] Hier auf glatten Felsenwegen / Lauf‹ ich tanzend dir entgegen, / Tanzend, wie du pfeifst und singst […] Wer nicht tanzen kann mit Winden […] Fort aus unsrem Paradeis! / Wirbeln wir den Staub der Strassen / Allen Kranken in die Nasen, / Scheuchen wir die Kranken-Brut! […] Jagen wir die Himmels-Trüber, / Welten-Schwärzer, Wolken-Schieber, / Hellen wir das Himmelreich! […]«41 Als sich Nietzsche vom Einf luss Wagners lossagte, beschrieb er seinen neuen Standpunkt als einen wolkenlosen: an die Stelle des feuchten Nordens 38  F . Nietzsche, Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft, Kritische Studienausgabe, Bd. 3, hg. von G. Colli und M. Montinari, München 1988, S. 628-629. 39 Ebd., S. 633. 40 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Kritische Studienausgabe, Bd. 4, hg. von G. Colli und M. Montinari, München 1988, S. 252. 41  Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 649-651.

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mit seinen diffusen Nebelschwaden setzte er die klare trockene Luft des warmen Südens: »eine spöttische, leichte, f lüchtige, göttlich unbehelligte« Kunst, die »wie eine helle Flamme in einen unbewölkten Himmel hineinlodert!«42 In Also sprach Zarathustra steht gerade die Zweideutigkeit der Wolke, ihr hybrider Charakter für die Unentschlossenheit und mangelnde Tatkraft einer an Trübsal erkrankten Kultur. Ein weiterer Unterschied zu Serres, Flusser und Reed. »Den ziehenden Wolken bin ich gram […] Diesen Mittlern und Mischern sind wir gram, den ziehenden Wolken: diesen Halb- und Halben […]. Denn lieber noch will ich Lärm und Donner und Wetter-Flüche, als diese bedächtige zweifelnde Katzen-Ruhe; und auch unter Menschen hasse ich am besten alle Leisetreter und Halb- Halben und zweifelnde, zögernde Zieh-Wolken. […] Gut und Böse aber sind nur Zwischenschatten und feuchte Trübsale und Zieh-Wolken.«43 Und weiter: »[…] es ekelt mich aller Halben des Geistes, aller Dunstigen, Schwebenden. Schwärmerischen.«44

Der Sturm der Befreiung Der Strom, das Meer und das Gewitter sind in der politischen Metaphorik des Jakobinismus und Vormärz von Bedeutung.45 Die Fluidität des reißenden Wassers und der ungebundenen Winde findet hier im Zeichen kollektiver Revolutionsmetaphorik zusammen. Die Freiheit gleicht einem Strom, der seine Fesseln sprengt. Die Revolution ist eine Flut, der kein Wehr und kein Damm Einhalt gebieten kann. Sie fegt wie ein Sturm die morsche gesellschaftliche Struktur hinweg und bringt die zerbrechlichen Fassaden zum Einstürzen. Der übermütige Strom steht zum stehenden modernden Sumpf, wie der frische Luftzug zur trostlosen Flaute. Er hält sich nicht an sein Flussbett, sondern tritt zerstörend über die Ufer und überschwemmt die Umgebung. Die konterrevolutionären Versuche wollen den »freien Strom ins alte Bett lenken« und »zurück zum Quell«46 drängen. Der Strom wird, wie bei 42  Ebd., S. 351. 43 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 208-209. 44 Ebd., S. 312. 45 H.-W., Jäger, Politische Metaphorik im Jakobinismus und Vormärz, Stuttgart 1971, S. 2032. 46  Zitiert in ebd., S. 24-5.

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Canetti, mit dem Volk und der revolutionären Masse in eins gesehen. Dieser mächtige Fluss durchbricht alle Eindämmungen und reißt alles mit sich, was sich in seinen Weg stellt. Er gleicht darin dem empörten Meer, ein Menschenund Volks-Ozean, in dem alle Ströme zusammenf ließen. Hans-Wolf Jäger verweist zwar in seiner Darstellung der Gewitter-Metaphern nicht direkt auf den Wind, aber viele der erwähnten metaphorischen Entsprechungen eignen sich auch für diesen. Die Revolution liegt in der Luft, man kann das herannahende Gewitter spüren, das einer Krise gleichkommt, welche die Luft reinigen wird. Auf die schwüle Atmosphäre folgt ein stürmischer Windzug, der das, was noch in der Tiefe verborgen liegt, durch die Lüfte f liegen lässt. Zur Zeit der Französischen Revolution wurde in der Darstellung des Windes auf eine weibliche Personifizierung zurückgegriffen. Der Windmonat Ventôse (19.-21. Februar – 20.-21. März) war der sechste Monat des neuen republikanischen Kalenders, der von 1792 bis 1805 Gültigkeit hatte. Die allegorische Darstellung (vgl. Abb. 26) zeigt eine junge am Ufer sitzende Frau – eine Küstennymphe (nymphe du rivage) – die Krieg gegen die Fische führt (aux poissons fait la guerre), welche von den entfesselten Winden (les vents déchainés) in die Flüsse zurückgedrängt werden, wie es in dem begleitenden Vierzeiler heißt. Diese trockenen Winde geben dem Land die Wiesen zurück und die darauf sprießenden Blumen führen zu einer Rückkehr der Vögel. Sie sind zwar entfesselt, aber nicht zerstörerisch und bereiten den kommenden Frühling vor. Das Haar der jungen Frau ist gef lochten und durch ein Band fixiert, dennoch hat der Sturm einige Haarsträhnen losgelöst, die vom heftig wehenden Wind erfasst worden sind. Dieser kann ihr jedoch im Gegensatz zu anderen hier diskutierten weiblichen Figuren47 nichts anhaben. Standfest und dezidiert blickt sie zurück in den andrängenden Wind, der ihre kämpferisch anmutende Entschlossenheit zu unterstützen scheint. In der rechten erhobenen Hand hält sie ein weißes f latterndes den Wind einfangendes Tuch, das sich an ihrem Hals verfängt und dessen Funktion vor allem darin besteht, die Sichtbarkeit des Windes zu verstärken. Im Hintergrund ist die Meeresküste sichtbar. Zu ihrer Rechten wiegt sich Schilfgras im Wind, dessen Blätter auch ihr Haar schmücken. Die Sonne steht im Zeichen der Fische, was durch eine Fischerrute, an deren Ende sich ein Wimpel mit dem astrologischen Zeichen der Fische befindet, und einen Korb voller Fische zum Ausdruck gebracht wird. Die Illustration übernimmt einige Elemente aus der Tradition (die wehenden Haare, das 47 Vgl. dazu die Figuren der Letty Mason und der Kate (Kapitel acht).

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Abbildung 26: Der Windmonat Ventôse f latternde Tuch, die bewegten Schilfgräser), kombiniert diese aber mit völlig neuen Details, was wohl auch die Absicht einer radikalen Erneuerung der politischen Bildsprache während der Französischen Revolution wiederspiegelt. Das Motiv des befreienden Wirbelsturmes wird zu Beginn von Victor Flemings Filmmusical The Wizard of Oz (1939) eingesetzt. Der Film beginnt

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mit einer schwarz-weiß gehaltenen traumartigen Einführungssequenz, die in der weiten Ebene von Kansas spielt. Dorothy, gespielt von Judy Garland, lebt bei ihrer Tante und ihrem Onkel auf einer Farm. Plötzlich zieht ein Wirbelsturm am Horizont auf. Während es den anderen gelingt, sich in einem Schutzkeller in Sicherheit zu bringen, sucht Dorothy im Bauernhaus nach Schutz. Der Sturm aber reißt die Tür weg und ein Fenster trifft Dorothy auf dem Kopf und wirft sie ohnmächtig auf das Bett. Die Windhose transportiert das Haus in die Höhe. Als Dorothy wieder zu sich kommt und durch das Fenster schaut, sieht sie neben entwurzelten Bäumen und einem Stall voller Tiere auch verschiedene Personen an ihr vorbeif liegen. Eine alte strickende Dame auf einem Sessel, zwei Rudernde in einem Boot und eine junge Frau auf einem Fahrrad, die f leißig in die Pedale tritt. Alle lächeln und grüßen recht freundlich. Dann fällt das Haus wieder zu Boden und landet in einer neuen magischen Realität, die konsequenterweise auch farbig ist. Auch in Keatons Stummfilmkomödie Steamboat Bill, jr.48 wird der Sturm auf humoristische Art und Weise eingesetzt. Wie in The Wizard of Oz überführt er in eine andere Wirklichkeit und transportiert die Figuren in eine veränderte Umgebung. Hier geht es allerdings weniger um den Unterschied zwischen einer prosaischen und einer poetischen Welt und die Träume einer Adoleszenten als um die Überwindung sozialer Unterschiede und die Versöhnung zwischen den Generationen. Der alte Kapitän William ›Steamboat Bill‹ Canfield Sr. und der neureiche Bankier Mr. King betreiben beide ein Schiff auf dem Mississippi und liefern sich deswegen einen heftigen Konkurrenzkampf. Canfields Sohn William, der in Boston aufgewachsen ist, kommt zu Besuch und trifft dort auf Kitty, die Tochter des Rivalen seines Vaters, in die er sich verliebt. Im zweiten Teil des Filmes trifft ein zerstörerischer Wirbelsturm auf die Kleinstadt. Dieser wird von einem sintf lutartigen Regenfall angekündigt. Die Straßen sind überf lutet. William versinkt in einem vom Wasser gefüllten Loch. Nachdem der Wind die Fassaden zum Einsturz gebracht und die Hauptfigur auf einem Baum durch die Luft weggetragen hat, gelingt es William, Kitty, seinen Vater und Mr. King aus dessen inzwischen untergegangenem Dampfschiff zu retten. Die beiden Väter versöhnen sich. William und Kitty finden zueinander. Der Wind wirbelt alle sozialen Kategorien durcheinander, die Unterschiede zwischen Alt und Jung, reich und arm, Vergangenheit und Gegenwart, Tradition und Erneuerung. 48 Vgl. McKim, Cinema as Weather, S. 12-16.

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Der Film 300 von Zack Snyder und dessen Fortsetzung 300: Rise of an Empire, bei der Snyder für das Skript verantwortlich zeichnete, kamen 2006 bzw. 2014 in die Kinos. In beiden Filmen wird der Wind als Metapher der politischen Freiheit eingesetzt, allerdings auf unterschiedliche Art und Weise. Am Anfang des ersten Filmes gelangen die Botschafter Persiens nach Sparta und verlangen die kampf lose Unterwerfung unter den König Xerxes. Leonidas, König von Sparta zögert, als plötzlich eine zarte Brise auf kommt, die kaum merklich den Saum seines Gewandes und darauf hin auch die Haare der Königin Gorgo bewegt, was auf ein unsichtbares Einverständnis zwischen den beiden Figuren hinweist. Erst als Gorgo Leonidas zunickt, stößt dieser den Unterhändler mitsamt seiner Begleitung in einen Brunnen hinunter. Der Wind kommt auch im zweiten Film zum Einsatz, diesmal aber eher plakativ und mit einem deutlichen Anf lug von Pathos. Der Kampf zwischen der Flotte Athens unter der Führung von Themistokles und der persischen unter Artemisia wogt hin und her, bis die Schiffe der anderen griechischen Poleis unter der Führung von Gorgo ins Kampgeschehen eingreifen. Die sanft aufziehende Brise offenbart sich zuerst in den leicht bewegten Haaren der Artemisa und der vibrierenden Schiffstakelage. Zur Verdeutlichung wird das bildhafte Geschehen von einer Stimme im Off begleitet: »It begins as a whisper. The lightest of breezes.« Es ist Gorgo, die in der Rückblende den Ausgang der Schlacht berichtet. »A wind of sacrifice, a wind of freedom, a wind of justice, a wind of vengeance.« Der Wind bläht die aufgespannten Segel der griechischen Galeeren und führt den Wendepunkt der Schlacht herbei. Die auf kommende Brise signalisiert das erste Auf keimen des Widerstandes, der sich abrupt zum unkontrollierbaren Sturm steigert. Spielt in der zweiten Szene eine Logik der Steigerung mit, so verbleibt die erste im Anspielungshaften, eine Spannung in der Verwendung der Windmetapher, auf die schon an verschiedenen Stellen hingewiesen wurde.

Luftmenschen Im Werk Flussers und Serres’, auf die ich nun abschließend zu sprechen komme, ist der Wind zugleich eine Metapher des Kollektiven und Individuellen. Im Mittelpunkt steht dabei die Vision einer neuen auf Kommunikation und Dialog beruhenden Gesellschaft. Serres geht von der Figur des Engels aus, ein Sinnbild globaler umfassender Kommunikationsströme, und Flusser von der bo-

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denlosen Existenz des Nomaden. Während Serres’ Wind in kleine Brisen zerfällt, die überallhin gelangen und alles mit allem verbinden, ist Flussers Wind der Kommunikation eine gewaltige Kraft, die bis ins Innere der Häuser dringt. Serres und Flusser betonen die dynamischen, befreienden und verbindenden Eigenschaften des Windes. Für beide ist der Wind ein Prinzip der Fluidität und Verwandlung, das territoriale Eingrenzungen spielend überwindet. Der Wind ist ein rastloser Wanderer, ein Landstreicher und Nomade. Francis Bacons Winde sind nicht nur Händler, die über Grenzen hinweg operieren, sondern auch Vagabunden. »It is plain that winds are ubiquitary, especially the mildest of them. Which is likewise manifest by this, that there are few days and hours wherein some gales do not blow in free places, and that inconstantly and variously enough. For winds which do not proceed from greater Nurseries are vagabond and voluble, as it were playing one with the other; sometimes driving forward, and sometimes f lying back [Hervorhebung d. A.].«49 So wie Flussers Nomaden im Wind leben, richten sich Serres’ Matrosen im Instabilen ein. Sie machen sich ihr Bett in der Luft, die mit dem Meer macht, was sie will. Matrosen lösen sich von der Erde und überlassen sich dem Wind: »ein Seemann f liegt.«50 Nomaden leben meteorologisch und Sesshafte astronomisch. Für Nomaden ist der Wind das, was für Sesshafte der Grund ist. Flussers Nomaden verkehren in Ingolds weather-world und existieren im Zeichen von Serres’ Meteore. Flusser deutet Serres’ epistemologische Gegenüberstellung von Astronomie und Meteorologie, der Gegensatz zwischen einer stabilen mechanischen Deutung der Realität und einer neuen Hyperkomplexität zwischen Ordnung und Unordnung existenziell um. Was ihn mit Serres verbindet, ist die Betonung der mit den neuen digitalen Medien möglich gewordenen Kommunikationsprozesse, die sich für Flusser prinzipiell in einem zwischenmenschlichen dialogischen Bereich abspielen. Serres hingegen sieht darin die Verwirklichung eines allgemeinen Prinzips, das zwar die Menschen miteinander und mit der Welt verbindet, aber auch Pf lanzen mit Tieren und Steinen. Die metaphorischen Landschaften, in denen sich dies abspielt, unterscheiden sich. Sind es bei Serres der Ozean, die Wellen und die Strömungen, so geht es bei Flusser um die Wüste, die Dünen und den Sand.

49 Bacon, History of the Winds, S. 82-83. 50  M. Serres, Ablösung. Eine Lehrfabel, Grafrath 2015, S. 45.

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Die Engel der Kommunikation In Serres’ Die Legende der Engel, welches der Metapher des Engels als Verkörperung des Windes und der Kommunikation gewidmet ist, geht es auch um eine Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart im Zeichen eines nicht rein linearen Verständnisses von Geschichte. »In my book about angels«, so Serres in einem Interview mit James Flint, »I try to put a short circuit between the very ancient tradition of angels in monotheistic or polytheistic traditions and the jobs now about messages, messenger and so on. […] The problem is to think about the historic link between ancient time and the new world because this link is cut and many people think about our time without reference to traditions. But if you read the amount of books about angelology in the middle ages, if you translate certain words into modern language you see that all the problems were about translation, about messages. These are exactly our problems. When you put a short circuit, you obtain sparkles and these sparkles give light to the traditions and our jobs. […] If you read medieval angelology you find exactly the same demonstrations because all the problems for angelology – what is a message? who are the messengers? what is the messenger’s body? – like Saint Thomas Aquinas, the early church fathers, the Pseudo-Dionysius, and so on. In the beginning of my book, I quote the problem of the sex of the angels. Everybody smiles about this problem, but it is a serious one, a problem about transmission.«51 Engel und Winde sind unsichtbare Übersetzer, weil sie sich auf lösen und verschwinden müssen, um die Botschaften durchzulassen. Die Engel der Tradition wurden mit dem Wind identifiziert. Sie agierten lokal und hatten Flügel wegen ihrer Geschwindigkeit. Bei Serres sind nicht nur die Winde Engel, sondern alle anderen Flüsse und Ströme auch. Engel sind Teil eines weltumspannenden Netzwerks globaler Boten, die ihre unterschiedlichen Botschaften rund um die Welt transportieren: »Die Engel sind die Botschaften […].«52 Serres geht es um die Formulierung einer allgemeinen Theorie der Relationen, in welcher wie in einer Theologie, die Angelologie das wichtigste 51 M. Serres, »Remembering Michel Serres (1930-2019). On angels, messages, and television sets«, Interview von James Flint (10.1.1995). 52  Serres, Aufklärungen, S. 178.

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Element wäre, »ein turbulentes Ensemble von Boten.«53 Es geht dabei nicht um ein System, sondern um eine Syrrhese, »ein mobiler Zusammenf luss von Strömen. Turbulenzen, Tiefdruckgebiete, die sich über Hochdruckgebiete schieben, wie auf der Wetterkarte. Knoten aus Stroh. Ein Beziehungsgef lecht. Wolken vorbeiziehender Engel.«54 Eine Syrrhese ist ein Ensemble von kontinuierlich sich verändernden, mutierenden und expandierenden Linien, aus denen immer wieder neue Konstellationen hervorgehen. Die Legende der Engel ist als ein Dialog zwischen den beiden allegorischen Figuren Pantope und Pia konzipiert, die für eine wissenschaftliche und eine poetische Lebenseinstellung stehen. Pantope, der, wie sein Name schon andeutet, die ganze Welt bereist hat, trifft Pia am Gepäckkarussell eines Fluges aus Osaka auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle. In ihrem Gespräch geht es zu Beginn um die Ambivalenz des Windes. Winde sind Engel oder Dämonen, »Überbringer guter oder schlechter Nachrichten […] sie geben oder nehmen«, sind »pausbäckige Putten oder Teufel.«55 Im Abschnitt »Souff les«, der in der deutschen Übersetzung treffend mit »Wind, Hauch, Atem« übersetzt wurde, wohl um die verschiedenen Dimensionen des französischen souff les hervorzuheben, die vom menschlichen Körper bis hin zum Körper der Welt reichen, ist die Rede von den verschiedenen Engeln, die sich »in den Strömen der Natur« verbergen, »in f ließenden Gewässern, in den Sonnenstrahlen … oder im Wind […].«56 Pia überführt, übersetzt, Pantopes wissenschaftliche Bemerkungen ins Leibliche und Persönliche: »Der Wind lässt mich erschauern, aber ich kann mich ihm nicht entziehen; meine Haut badet darin […]; er ist beglückend und beängstigend, aber ich lebe von ihm. Ohne Vorwarnung schlägt er um, aus einer sanften Brise wird ein kalter Nordost (de la brise à la bise); […] mütterlich streichelt und wärmt er; sinnlich schmeichelt und verführt, erfrischt und inspiriert er …, doch dann, wie eine Rabenmutter, reißt er die Haut aus ihrem Wohlgefühl, er vergewaltigt, ohrfeigt, plündert, stößt, verbreitet Angst und Schrecken, wie ein losgelassener Dämon.«57 53 Ebd., S. 161. 54 Ebd., S. 182. 55 Serres, Die Legende der Engel, S. 29. 56  Ebd., S. 25. 57 Ebd., S. 26.

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Der Wind ist eine Übersetzungsinstanz und ein Strom in einem weltumspannenden Strömungssystem, ein Ensemble gewaltiger Kommunikationsräume. In Serres’ Vision sind nicht nur die Winde Ströme, sondern auch alle anderen Austauschsysteme. Der Wind und sein Fließen werden dadurch zu einem allgemeinen Deutungsmodell. »Kein System ohne Übertragungsvorgänge. – Also ohne Wind keine Welt? – Zumindest nicht ohne die Gesamtheit aller Strömungen. […] Denn die Winde sind Ströme von Luft, die durch den Luftraum ziehen; die Flüsse sind Ströme von Wasser auf dem Land; die Gletscher Ströme fester Materie […]; Regen, Schnee und Hagel sind Bäche von Wasser in der Luft; die Meeresströmungen sind Wasserströme im Wasser; die Vulkane Feuerströme, die senkrecht aus der Erde in die Luft und ins Meer aufsteigen; die Lavaströme und Schlammlawinen sind Fluten kalter und heißer Erde auf der Erde; und die driftenden Kontinente sind ein riesiges Förderband aus Erde, die auf Feuer schwimmt; und ganz tief unten ahnen wir sogar Wirbelstürme aus Feuer in diesem Feuer … und hoch oben Ströme aus Wärme und Licht durch den leeren Raum oder den Äther.« 58 Dieses globale Austauschsystem umfasst Ströme unterschiedlicher Gestalt und Zusammensetzung, die sich gegenseitig durchdringen und voneinander durchdrungen werden, die sich tragen und gegenseitig transportieren. »Diese einander durchdringenden Fluida bilden ein so vollkommenes Gemisch (mélange ou malaxage), daß fast jeder Ort vom Zustand des anderen weiß […].«59 Serres benutzt neben dem allgemeineren mélange, ›Gemisch‹, auch malaxage, ein Prozess, bei dem ein Material, z. B. Lehm, durch Beimischung von Wasser aufgeweicht wird. Man verwendet das Wort auch für die letzte Phase der Teigzubereitung, in der durch intensives Kneten der Teig Luft aufnimmt und die einzelnen Teile besser verteilt werden. Die verwandte Bäcker-Gleichung, auf die Serres wiederholt hinweist, beschreibt das wiederholte Falten einer Teigf läche, welches dazu führt, dass das Allernächste plötzlich weit entfernt zu liegen kommt und das Weit-Entfernte sich in unmittelbarer Nähe wiederfindet. Dieses kontinuierliche Kneten und Durchmischen führt nicht nur zu einem zusammenhängenden System, sondern sorgt ebenfalls dafür, dass neue Beziehungen auftauchen. Auch Winde verbinden das Nahe mit dem 58 Ebd., S. 26. 59 Ebd., S. 26-28.

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Fernen und das Ferne mit dem Nahen. Jeder Ort weiß dadurch von allen anderen, weil die unterschiedlichen Flüsse und Ströme durch eine gemeinsame Sprache verbunden sind, die für globale Verteilung sorgt. »[…] an jedem Ort finden wir durch sie den Widerhall des ganzen Raumes. Ein Hauch trägt und verkündet das Universum.«60 Der Wind erzählt der ganzen Welt, von all dem, was sich in ihr ereignet. Zu diesem Zweck zerfällt er in unendlich viele kleine Brisen, in Legionen von Engeln. Die Fraktalität des Windes wird dadurch in den Dienst der Kommunikation und Übersetzung gestellt. »Jeder Strom zerfällt in viele winzige Ströme, aber alle zusammen bilden sie die Welt. Jeder trägt nur Kleines, aber zusammen bilden sie das Große. […] In jeder Sekunde des Tages erzählt der Wind auf meiner Wange, vielfältig verschlüsselt, von der Welt. Er schafft ein ganzes Universum (le corps du monde), aber umgekehrt zerfällt auch das Universum in kleine Brisen (une raison universelle souff le en petits grains), in Legionen von Engeln […].«61 Winde schreiben ihre Botschaften auf die Oberf läche der Welt ein und »lesen die Botschaften der anderen Ströme, filtern sie, treffen eine Auswahl, setzen sie zu ihren eigenen Botschaften zusammen, übersetzen sie, schreiben sie auf die Erde oder das Wasser, speichern sie für lange Zeit, äußern sich in Explosionen, Brüllen, Murmeln, Raunen, Sausen und Plätschern. … Ihr Wehen braucht keinen Inspirator, denn sie selbst sind Inspiration. […] Die Überlieferung stellt die Engel über uns. Und wenn wir nun mit ihr sagten: Auch Flüsse und Winde sind uns überlegen?«62 In Pias abschließender Vision, die an Flusser gemahnt, beschließen die nomadischen Beduinen eines Tages, auch noch die letzten Gegenstände, die sie mit sich tragen, loszuwerden und das alles, was sie noch mit den Sitten der Sesshaften verbindet, zurückzulassen, um unbeschwert zu leben. Ihre Worte und ihr Gesang sprechen vom Wind und der Luft. »Der Windhauch in der Wüste, der die dünne Wand des Zeltes erzittern läßt; die leichte Brise auf hoher See, die das Besansegel strafft; die durchsichtige Luft, die [sie] auf dem Gipfel der höchsten Berge über den Boden erheben 60 Ebd., S. 29. 61 Ebd., S. 29. 62 Ebd., S. 30-31.

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läßt; das feinste Element, Flocke, Rauch, Dunst, Atom, Kugel, kleiner Strom, winziger Wirbel; die allerkleinste Neigung, unsichtbar, ungreifbar, kaum hörbar, unendlich schwach und zerbrechlich, ein Hauch, ätherisch, luftig – schöpferischer Odem […]. Die Intelligenz glänzt noch von den Tränen, die der Wind ihr abrang.«63

Die Winde der Entropie und Negentropie Auf ihre eigene langjährige nomadische Existenz als Kind und Jugendliche anspielend und die damit verbundene Schwierigkeit, sich irgendwo zu Hause zu fühlen, schreibt Ilma Rakusa: »Im Wind ist ein schwieriges Wohnen […]. Doch wer spricht von Wohnen? Sind wir nicht immer umgezogen, windisch?«64 Windisch sind auch Flussers Nomaden. Windisch ist ebenfalls unsere gegenwärtige Lebensweise. Den Nomaden stellt Flusser die Sesshaften gegenüber, so wie Ingold die occupants oder exhabitants, die sich auf einem abgegrenzten Territorium festmachen und es für sich beanspruchen, den inhabitants, die den Wind und das Wetter bewohnen, gegenüberstellt. Im Gegensatz zu Sesshaften, die zwischen privat und öffentlich hin und her pendeln, sind Nomaden Leute, »die hinter etwas herfahren, etwas verfolgen. […] Alle Ziele sind Zwischenstationen, sie liegen neben dem Weg […] und als Ganzes ist das Fahren eine ziellose Methode […] ein offenes Schweifen. […] Wir Sesshaften haben die Pendelgesetze, aber nicht die Gesetze der Ausschweifung berechnet. Etwa so wie wir die Gesetze des freien Falls der Steine, aber nicht das Wehen des Windes berechnet haben. Mag sein, daß der nomadische Lebensweg durch Steppe und Wüste die gleiche Struktur hat wie die Wolke und der Wind, und das seßhafte Lebenspendeln die gleiche Struktur hat wie Sommer und Winter.«65 Das Pendeln der Sesshaften folgt dem Wechsel der Jahreszeiten. Das Schweifen der Nomaden hingegen hat mit der Flüchtigkeit der Wolke und des Windes zu tun. »Der seßhafte Lebensrhythmus kann in hergebrachten, der nomadische muß in fraktalen Algorithmen ausgedrückt werden. […] Für uns 63  Ebd., S. 35. 64 I. Rakusa, Mehr Meer, Graz 2013, S. 320. 65 Flusser, Nomadische Überlegungen, S. 60-61.

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Seßhafte ist am Wind ungemütlich, daß er zwar wahrgenommen, gehört, erfahren, aber nicht gefaßt werden kann, daß er unbegreif lich ist.«66 Flusser operiert mit einer Reihe von Gegenüberstellungen. Dem Pendeln, das durch die Gesetze der Gravitation geregelt ist, stehen hier das freie Schweifen und die Logik des Fraktalen gegenüber. Für Flusser besteht die menschliche Würde in einer selbstgewählten Wurzellosigkeit, einer Existenz, die sich im Bodenlosen, Vorübergehenden einrichtet und es ist gerade der unfassbare unsichtbare immaterielle Wind, der dies sichtbar macht. »Der Wind ist, was erfahren wird, und alles, was im Wind weht, ist nachträglich aus ihm abstrahiert, herausgezogen worden.«67 Der Wind ist auch eine Metapher der Entropie. War der Wind im Essay »Stürme« eine rufende und mahnende Stimme, so ist er in den späteren Texten zum Nomadismus ein gewaltiger Sturm, der uns erfasst und in unsere Häuser und Körper eindringt, eine entropische Kraft, die »den faßbaren, besitzbaren Grund in Körner zerreibt (kalkuliert), diese zerstreut (dispersiert), um sie dann zu Dünen zu häufen (zu komputieren). Der Wind dieses gespenstige Unfaßbare, der die Nomaden vorantreibt und dessen Ruf sie gehorchen, ist eine Erfahrung, die für uns als Kalkül und Komputation darstellbar wurde. Wir beginnen zu nomadisieren nicht nur, weil der Wind durch unsere zerlöcherten Häuser braust, sondern vor allem auch, weil er in uns hineinfährt.« Das Haus und der Mensch sind gleichermaßen porös und vom Wind durchweht. Die zerkörnende, zerstreuende und wieder anhäufende Aktivität des Windes ist eine »meteorologische, ›selbstähnliche‹, fraktale Tatsache«68, der man schon im Christentum begegnet. Dort ist es der logos spermatikos, das samenstreuende Wort, das in der jüdischen Mystik galuth leschechinah (die Zerstreuung des Geistes) genannt wird. In der Gegenwart aber ist der Begriff der Zerstreuung, der auf die jüdische Diaspora, vom altgriechischen διασπορά, zurückgeht zu einem »Zentralbegriff des ontologischen und des anthropologischen Denkens« geworden. »Die Welt erscheint uns als Streuung von Körnern, die vom Wind der Entropie immer gleichmäßiger gestreut werden, aus denen sich zufällig Dünen bilden können, und der Mensch erscheint uns als jener Wind, der absichtlich zer66 Ebd., S. 61 67  Flusser, Nomaden, S. 153. 68 Flusser, Nomadische Überlegungen, S. 61.

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streute Körner rafft, um unwahrscheinliche Klumpen Kultur herzustellen. Der Wind hat sich nicht nur um uns herum orkanartig erhoben und unsere Dörfer hinweggefegt, er hat sich auch gewaltig in uns selbst erhoben, so sehr, daß wir ihn als Prinzip der Welt und unseres Lebens erfahren. Die Welt um uns herum ist zu einer unbewohnbaren Wüste geworden, in welcher der Wind des Zufalls notwendigerweise Dünen häuft. Wir selbst wollen diesen Zufall, und wir häufen Dünen, um uns selbst dabei zu raffen. Wir sind Nomaden geworden.«69 Wir, unser Denken und die Welt haben sich nicht nur zu im Nichts schwebenden Nebelschwaden aufgelöst. Im gleichen Zug hat sich auch der Wind in uns und um uns herum erhoben. Der Wind der Entropie zerrreibt und häuft ziellos neue zufällige Dünen an. Der Wind der Negentropie dagegen, der sich diesem Vorgang bewusst verweigert, und den Flusser hier mit sinnstiftendem menschlichem Handeln gleichsetzt, rafft die zerstreuten Körner wieder zusammen und häuft seinerseits unstabile und kurzlebige Dünen um sich herum an. Dieser Prozess der Raffung wirkt strukturierend auf den Menschen und seine Identität zurück, die sich dadurch als genauso vergänglich erweist und jederzeit vom Wind der Entropie wieder in alle Richtung verstreut werden kann. In »Wie schön sind deine Zelte, Jakob« erweitert Flusser seine Ref lexionen über Bodenlosigkeit, Immaterialität und Nomadismus um die architektonische Metapher des Zeltes, eine Hausform, die auch für Serres ganz im Zeichen des Windes steht und sich für unsere heutige digitale Gesellschaft deutlich besser eignet als das traditionelle Haus mit Mauern und Dach, Fenster und Türen. Zelte erinnern an Segel. Ein Zelt ist ein wändeloses Dach, »ein schirmartiger Unterschlupf, den man im Wind aufschlägt, gegen den Wind benutzt, um ihn dann wieder im Wind zu falten.« Das Segel ist jene »Form des Zelts, bei welcher der Wind erst richtig in den Griff kommt. Das Zelt als Schirm versucht, sich gegen den Wind zu stemmen, aber das Zelt als Segel versucht, die Kraft des Windes auszubeuten. So dumm der Schirm, so klug das Segel: ein richtig gebautes Segelschiff kann beinahe gegen den Wind fahren und ist nur bei Windstille ohnmächtig, und ein Segelf lugzeug kann den Wind nicht nur horizontal, sondern auch vertikal manipulieren.«70 Ein Zelt »sammelt Erfahrung, und diese Erfahrung verzweigt und verästelt sich durch die Zeltwand.« Die Zeltwand ist ein Netz und Gewebe, das sich dem Wind, 69 Ebd., S. 62. 70 V. Flusser, »›Wie schön sind deine Zelte, Jakob‹«, S. 73.

9. Der Wind des Nomadischen: Politik und Kommunikation

dem Geist, öffnet und diese Erfahrung speichert. Ein Zelt ist ein von Windwänden umhülltes Nest zum Sammeln, Prozessieren und Aussenden von Erfahrungen in sich verästelnde Kanäle. Damit vergleichbar ist die telematische Gesellschaft, in der »die materiellen und immateriellen Kabel sich zu zeltähnlichen Sammelpunkten verknoten.«71 Anhand von zwei völlig unterschiedlichen Zelten, der überdimensionierten imperialen Jurte des Dschingis Kahn und den bescheidenen Zelten Jakobs, verdeutlicht Flusser die mit Zelt und Wind assoziierbaren politischen und kommunikativen Alternativen. Wir werden in Zukunft mobile Hallen haben, sollten dabei aber nicht die Hoffnung auf Jakobs Zelte aufgeben. Die Jurte ist »von langen und schmalen farbigen Fahnen umgeben. Diese im Wind sich schlängelnden Fahnen und die an ihnen angebrachten im Winde klingenden Glocken sind die eigentliche Zeltwand.« Vergleichbar mit den Standarten der Nationalsozialisten beschwören sie die Geister, damit diese dem Willen des Herrschers dienen mögen. »Die Winde wehen ums Zelt, damit dieses auf dem Wind reiten möge, damit es ein Luftschloß werde« und den Himmel erobere. Die Jurte ist ein Segelschiff, das auf den Wellen des Windes emporsteigt. Anstatt dem Wind zuzuhören, geht es hier darum, den Wind und seine Kraft zu beherrschen. Die bescheidenen unscheinbaren Zelte Jakobs dagegen ducken sich im heißen Steppenwind. »Aber in Wirklichkeit ist dieses Ducken ein Horchen.«72 Dieses Ducken und Hinhorchen hat mit der Erfahrung der Zeltbewohner im Wüsten- und Steppenwind zu tun. Das Zelt gewährt Schutz gegen den Wind, und bläht sich auf, dabei wirkt es wie »ein Verstärker der Windesstimme«, dem sich der Zeltbewohner nicht entziehen kann. Er muss ihr zwar nicht unbedingt gehorchen, aber wenn er dies tut, »wird der Ruf des Windes sein Beruf, seine Berufung.« Schön sind die Zelte des Jakob, weil dieser der Stimme des Windes folgt, und dafür Verantwortung übernimmt. »Jakobs Zeltwand ist jenes Gewebe, dank welchem Unerhörtes erhört wird und durch welches hindurch die Antwort auf die Stimme geboten, die Verantwortung übernommen wird.«73 Ein Zelt ist ein sensibles im Wind f latterndes Segel, welches die Welt in sich aufnimmt und prozessiert. Im Gegensatz zur Hauswand, die zwischen innen und außen und dem Hausdach, das zwischen oben und unten unterscheidet, und damit dem sess71  Ebd., S. 75. 72 Ebd., S. 76. 73 Ebd., S. 77.

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haften Hausbewohner ermöglicht sich zu identifizieren, verleiht das Zelt »dem Nomaden keine Adresse, er ist nicht definierbar.«74 Das Zelt unterscheidet nicht deutlich zwischen innen und außen oder oben und unten. Ein Zeltdach weht im Wind zwischen oben und unten, in einer undefinierbaren grauen Zone, und zwingt den Nomaden, »sich mit dem Wind und im Wind zu identifizieren. Er ist, was er ist, und er ist so, wie er ist, weil er zum Sosein vom Wind aufgerufen wurde. So ein windiges Dasein« nennt man nomadisch. Was dem Haus der Grund und Boden ist, ist dem Zelt der Wind. Der Sesshafte sitzt, er be-sitzt und bewohnt ein Haus, das ihn zwar schützt, aber auch gefangen hält. Flusser drückt dies in einem Wortspiel aus. Der Sesshafte ist in Sess-haft. Der Wind ist nun gerade diejenige Kraft, die den fassbaren, besitzbaren Grund in Körner zerreibt und damit die Zugehörigkeiten des Sesshaften auflöst und davonträgt. Der Wind ist immateriell und nicht fassbar, insofern kann man ihn auch nicht be-sitzen. Er ist weich und doch zerreibt und zerstreut er alles. Die zersetzende zerstörerische Seite des Windes wird hier in ihr Gegenteil gewendet. Sie ist eine Befreiung aus sozialen und kulturellen Verstrickungen und zugleich eine schöpferische Kraft, welche die losen Körner zu neuen Dünen anhäuft. Das mobile den Wind aufnehmende Zelt bietet sich als eine Alternative zu den Hausmauern an, auch weil diese nicht mehr von der Welt draußen abschirmen. »Das heile Haus wurde zur Ruine, durch deren Risse der Wind der Kommunikation bläst.«75 Der Wind der Kommunikationsrevolution, der durch die Kabel strömt, dringt überall ein und verbindet die Menschen miteinander. In den posthum erschienenen Bochumer Vorlesungen spricht Flusser vom Wind der Kommunikationsrevolution, der durch unsere Häuser braust und spielt dabei auf die schon erwähnte Passage aus dem Johannes-Evangelium (3, 8). an. »Im Raum des Nomaden weht der Geist, wo er will. Die Menschen wehen mit dem Geist mit.«76 Flusser deutet die Passage, welche die souveräne Ungebundenheit des Heiligen Geistes meint, im Sinne einer individuell und zugleich kollektiv erlebten politischen Freiheit, die in einem Dialog erreicht wird, in dem der andere als solcher erkannt und anerkannt wird. Die Kommunika-

74 V. Flusser, »Einiges über die besonderen Vorzüge des Zeltens«, in: Basler Zeitung (8.8.1990). 75 V. Flusser, »Durchlöchert wie ein Emmentaler«, in: Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design, Göttingen 1997, S. 80-81. 76 V. Flusser, Kommunikologie weiter denken. Die Bochumer Vorlesungen, Frankfurt am Main 2009. S. 155.

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tionsrevolution hat Kanäle geschaffen, welche die Menschen in ihren Privaträumen quer durch den öffentlichen Raum hindurch miteinander verbinden, sodass der Wind der Kommunikation, der ›Kabelwind‹, wie ihn Flusser nennt, wie ein Orkan durch diese hindurchwehen kann. »Meine These ist, dass der Orkan der Kommunikationsrevolution durch alle Mauern und durch alle Dächer hindurchbläst, alles Heimische, Heimatliche, Nationale, Private hinwegbläst.«77 Der Wind der Kommunikation ist ein verbindender Wind, der über alle Grenzen hinwegfegt und alles miteinander verbindet. Man könnte dies als die politische Seite von Serres’ globalen Kommunikationsströmen deuten. In »Nomaden« stellt Flusser eine Reihe von flattrigen Überlegungen zum Nomadismus an. Man »merkt sofort, dass die Werte bei Wänden umgekehrt gelagert sind wie bei Zelten.« Wie schon im früheren Text »Stürme«, in dem das Visuelle anhand des Auditiven durch einen Hinweis auf die jüdisch-christliche Tradition fremdgestellt wurde, verweist Flusser auch hier darauf, dass gerade durch die Bibel »unsere Nomadentradition zu uns« spricht, die »sonst kaum artikuliert wird.« Jakobs windige Zelte sind Modelle einer anderen Existenzform, sie »sind Fahrzeuge (Vorrichtungen zum Erfahren) […]. Sie haben etwas, das Flügeln verwandt ist. Sie werden entfaltet, um im Wind gebläht zu werden. Im Gegensatz zum Haus ist das Zelt nicht geerdet, sondern windig […].«78 Jude sein bedeute für Flusser, Modelle vorzuschlagen und danach zu leben. Für diejenigen, die mit beiden Füssen auf dem soliden Boden der Realität stehen, sind die bodenlosen und daher nach Modellen lebenden Juden ein Dorn im Auge. Flusser sieht darin auch einen der Hauptgründe für den Antisemitismus. Er verbindet die aus dem alphanumerischen Code ausgewanderten Zahlen, welche die Grundlage der neuen kalkulierbaren Welt sind, mit dem Exodus der Juden und deren langjähriger Wanderschaft in der Wüste Sinai. Die Existenzweise der nomadisierenden, im Wind und mit dem Wind lebenden Juden79 wird somit zu einem Lebensmodell für die Gegenwart. Wände unterscheiden nicht nur zwischen Innen und Außen, sondern auch zwischen Einwohnern und Ausländern, zwischen heimisch/heimatlich und fremd/befremdend. Wände wehren den Wind prinzipiell ab und lassen ihn nur begrenzt hinein. Ganz anders das Zelt. Das Zelt vibriert im Wind 77 Ebd., S. 190. 78 Flusser, Nomaden, S. 148. 79  V  gl. dazu die Geschichte der Metapher des Luftmenschen, N. Berg, Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, Göttingen 2008.

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und nimmt diesen in sich auf. Das Zeltdach »weht in jener undefinierten Zone zwischen Immanenz und Transzendenz […] während das Hausdach vom Wind zerstört wird, bläht sich das Zelt im Wind wie ein Segel, um auf und davonzuf liegen.«80 Die post-moderne Architektur müsste zeltartig sein und Ähnlichkeiten mit dem Flugzeug- und dem Schiff bau haben. Der Wind der Kommunikationsrevolution hat unsere Dächer abgetragen, und unsere Wände durchlöchert. »Wir beginnen tatsächlich unbehaust, obdachlos, undefiniert und undefinierbar dahinzuleben. Auf der Suche nach Zelten.«81 Das nomadische Winderlebnis des Zeltes ist »der Kern des Judenchristentums, aber solange wir sesshaft waren, konnten wir ihn nicht fassen«82 Abschließend kommt Flusser auf die Metapher der Wüstenlandschaft zurück und die Winde der Entropie und Negentropie. Es ist eine aus Sand, Wolken, Wind und Nebelschwaden bestehende punktuelle Welt. Flusser beginnt mit einem Wortspiel. Wir können uns nicht einfach ›aus dem Staub machen‹, »wir beginnen, uns auf und davon in den Staub zu machen […] Die objektive, physikalische Welt zerfällt zu Staub, zu Partikeln. Die Lebewesen darin zerfallen zu Staub, zu Genen. Unser Denken zerfällt zu Staub, zu Informationsbits. Unsere Entscheidungen zu Staub, zu Dezidemen. Unsere Handlungen zu Staub, zu Aktomen. Und alles drum und dran wird staubig, zum Beispiel die Kultur ein Staubhaufen von Kulturemen, und die Sprache ein Staubhaufen von Phonemen. Und in dieser Saharalandschaft von sich im Wind ständig verschiebenden Dünen schweifen wir gespenstisch […].«83 Diese Verwüstung der Welt, die durch eine wolkenähnliche, vom entropischen Wind verursachte Zerkörnerung und Zersandung erreicht wird, kann durch Komputationen und Kalkulation neu eingebildet und durch Zusammenfügung und dialogische Vernetzung wieder zum Blühen gebracht werden. »Wir können aus den abstrakten Staubkörnern (abstrakt, weil nulldimensional) irgend etwas konkretisieren. Anders gesagt: wir machen uns in den Staub ›auf‹, um ›davon‹ zu kommen.«84 80 Ebd., S. 149. 81  Ebd., S. 150. 82  Ebd., S. 152. 83  Ebd., S. 155. 84  Ebd., S. 155.

10. Windanmut: Klima und Kultur »Der Wind ist die Bewegung der Luft als eines der vier Elemente: Erde, Wasser, Feuer und Luft. Ihre konkrete Erscheinungsformen, und somit die Erfahrungen mit ihnen, sind in sehr verschiedener Weise erfahren und erzählt worden. So ist auch der Wind, der an sich als Bewegung der Luft überall weht, in der Art und Weise des Wehens jedes Mal anders.« Ryōsuke Ōhashi, Japan im interkulturellen Dialog In diesem Kapitel geht es um zwei wesentliche, miteinander verknüpfte Fragen: Inwiefern kann die Verwendung des Windes als Metapher in außereuropäischen Kulturen einer kritischen Kontextualisierung westlicher Windvorstellungen dienen und wie ließe sich diese einsetzen, um das Verhältnis von Natur und Kultur grundlegend zu überdenken? In Moores The Weather Experiment über die Pioniere der naturwissenschaftlichen Meteorologie stößt man ganz zu Beginn auf einen programmatischen Satz, der die Grundhaltung der westlichen Kultur der Moderne zum Wettergeschehen zusammenfasst: »A long process of civilising the sky had begun.«1 Der Himmel wird hier als ein mit den Kolonien vergleichbares Territorium gedacht, das der Kultur diametral gegenübersteht. Es ist ein unordentlicher wilder Bereich, der in kriegsähnlicher Manier erobert und zivilisiert werden muss, oder ein naturähnliches offenes Gebiet, das einen von den Zwängen der Zivilisation befreit. »Once again«, schreibt dazu Hunt,

1 Moore, The Weather Experiment, S. 38.

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»the path of the wind led, quite literally, away from civilization.«2 Diesen beiden komplementären Vorstellungen der europäischen Tradition – die anarchische Bedrohung und das uneingelöste Freiheitsversprechen – stehen die nun folgenden Überlegungen zum Wind gegenüber. In den beiden Beispielen, die hier stellvertretend für viele andere außereuropäische Kulturen stehen, der japanischen Kultur und der Navajo-Kultur, spinnt der Wind ein dichtes Beziehungsnetz zwischen Natur und Kultur, das den Menschen mit seiner kulturellen, geographischen und klimatischen Umgebung versöhnt. Anfangen möchte ich mit dem Werk des japanischen Anime-Regisseurs Hayao Miyazaki, in dem der Wind eine zentrale Stelle einnimmt. Obwohl der Wind nur im ersten und letzten Film Nausicaä aus dem Tal der Winde (1984) und Wie der Wind sich hebt (2013) (vgl. Abb. 27) explizit erwähnt wird, weht er in unterschiedlichster Form durch sämtliche Filme Miyazakis, manchmal im Zusammenhang mit dem Thema des Fliegens, meist aber in anderer Form, und dies selbst in den Filmen, die vordergründig nichts mit ihm zu tun haben. J. D. Ho untersucht die verschiedenen Metamorphosen, die der Wind in sieben Filmen Miyazakis durchläuft. Der Wind ist eine proteische wechselhafte unbeständige Figur. In Nausicaä aus dem Tal der Winde ist er untrennbar von der Identität der Menschen und sorgt für die Gesundheit der Bewohner und ihr Wohlbefinden. Winde treiben die Windmühlen an und zerstreuen krankmachende Erreger in der Luft. In Mein Nachbar Totoro (1988) ist der Wind eine magische Kraft und zugleich ein emotionales und spirituelles Element, das sich der Technologie verwehrt. »Wind does not power anemometers or lift human-made f lying machines. Instead, it is the realm of magical tree spirits, who seem to create the wind […] wind weaves its way into daily life, but also into dreams and emotional experiences […].«3 Als der Wind aus dem Tal verschwindet, ist es, als ob einer der Einwohner gestorben wäre. Alles bleibt stehen. In Kikis kleiner Lieferservice (1989) ist der Wind einer der Hauptcharaktere. Man hört und sieht ihn von Anfang an: Wolken jagen durch den Himmel, die Oberf läche des Sees kräuselt sich, das Gras und die Blumen schwanken und rascheln. »The wind incites the action […] is an obstacle […] an adversary in addition to an instigator. […] Thus, wind is both important to our senses and to the story, operating on many levels to create our experience of the 2 Hunt, The Wild Winds, S. 236. 3  J. D. Ho, »Science and Magic. Wind in Seven Hayao Miyazaki Films«, in: The Offing (2017), S. 4.

10. Windanmut: Klima und Kultur

Abbildung 27: Hayao Miyazaki, Wie der Wind sich hebt characters and their world.«4 In Ponyo – Das grosse Abenteuer am Meer (2008) ist der Wind das Bindeglied zwischen den Menschen: »[…] the wind is a physical manifestation of an emotional bond […] connecting the characters […].«5 In Miyazakis Filmen sind fantastische Flugmaschinen und Luftschiffe ein durchgängiges Motiv, das in Porco rosso (1992) und Das Schloss im Himmel (1986) eingesetzt wird. Dies hat unter anderem mit einem biographischen Moment zu tun. Miyazaki wurde 1941 als zweites Kind des Flugzeugunternehmers Katsuji Miyazaki in Tokio geboren, dessen Firma Querund Seitenruder für Kampff lugzeuge baute. Der Wind steht in Miyazakis Filmen für das Widersprüchliche und Vielfältige. »Wind is both tangible and intangible […] connecting […] abstract ideas to the concrete product those ideas create. […] Wind embodies opposites, it embodies all directions. […] it is invisible and weightless, yet it has so much power.«6 Das Entscheidende ist dabei die Tatsache, dass dem Wind in den Filmen keine romantische Bedeutung zukommt. Es ist ein unsichtbares kosmisches Prinzip, das den Menschen mit der Welt und die Menschen miteinander verbindet. Ein wesentliches Moment des spezifisch japanischen Verständnisses von Wind ist dessen Bedeutung für eine Definition des Verhältnisses von Subjekt und Objekt. Damit besteht ein erster Bezugspunkt zu Serres, Ingold und Reed. 4 Ebd., S. 6. 5 Ebd., S. 8. 6 Ebd., S. 9.

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Zum Zusammenhang von Klima und Kultur Ōhashi diskutiert das Verhältnis von Subjekt und Objekt, Mensch und Natur im Zeichen der Sinnesvergessenheit. Vor der Berührung mit der Hand kommt das, was Ōhashi das ›In-der-Berührung-mit-der-Welt-Sein‹ nennt. »Bevor man eigens mit der ›Hand‹ etwas berührt, findet man sich je schon in der physikalisch-körperlichen Berührung mit den Dingen wie Kleid, Stuhl, Bett, Boden, Luft usw. Dieses ›In-der-Berührung-mit-der-Welt-Sein‹ sollte der allererste Ausgangspunkt allen Tastsinns sein, aber er bleibt im Alltagsbewusstsein verdeckt, und der ›Tastsinn‹ […] bleibt meistens auf den ›Tastsinn der Hand‹ beschränkt. Das ›In-der-Berührung-mit-der-Welt-Sein‹ bleibt vergessen. Damit verbindet sich auch, dass die Dinge wie Kleid, Stuhl, Bett, Boden, Brille usw. nicht eigens als solche ins Bewusstseinsfeld kommen. Sie umgeben uns, ohne dass sie jedes Mal als solche objektiviert und als Gegenstände erkannt werden.«7 In der Philosophie der Kyoto-Schule Kitarô Nishidas und Keiji Nishitanis, auf die Ōhashi sich explizit bezieht, sind Subjekt und Objekt noch nicht getrennt. Um das ›In-der-Berührung-mit-der-Welt-Sein‹ zu veranschaulichen, benutzt er die Erfahrung des Windes. Der Wind ist nicht nur unsichtbar, sondern auch ungegenständlich, man kann ihn nicht mit der Hand fassen, aber man ist stets vom Wind umgeben. Alle Versuche, die Stärke und Richtung des Windes zu messen, verwandeln diesen in einen Gegenstand. Der Wind verweigert den Objektstatus und verwandelt dadurch auch den Status des Wahrnehmenden. Man steht dem Wind nicht gegenüber, wie einem Tisch oder einem Baum. Es geht vielmehr darum, mit dem Wind eins zu sein. Ōhashi verwendet in seinen Überlegungen zum Wind das Beispiel der Kälte. »Wenn man z. B. fühlt: ›Der Wind ist kühl‹, so ist der Wind kein Gegenstand für mich. In dieser Wind-Erfahrung bin ich in eins mit dem Wind. Sie könnte aber auch der Ausgangspunkt der Analyse der Wahrnehmung des Windes und der Messung der Stärke desselben sein, wodurch der Wind zu meinem Gegenstand wird. Es könnte auch vorkommen, wenn auch selten, dass unversehens im Be7  R  . Ōhashi, »Die ›Sinnesvergessenheit‹ und die Compassion. Versuch einer Weiterführung der Philosophie der Kyoto-Schule«, in: fiph-Journal 23 (2014), S. 3.

10. Windanmut: Klima und Kultur

rührt-Werden durch den Wind das mich bindende Ich-Bewusstsein abfällt und ich zum klaren Erwachen, zum eigentlichen und freien ›Selbst‹ komme.«8 Auf diese Umdefinierung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt im Zeichen des Windes, die anstatt einer Gegenüberstellung von einem f ließenden Übergang ausgeht, trifft man auch in Watsuji Tetsurôs Fûdo – Wind und Erde. Der Zusammenhang zwischen Klima und Kultur. Tetsurô geht nicht von einem Gegensatz zwischen Natur und Kultur, Geschichte und Klima, Subjekt und Objekt aus. Er betont den Doppelcharakter eines geschichtlichen Klimas und einer klimatischen Geschichte, wodurch ein radikal anderer Zugang zum Wetter möglich wird. Die Lebensweise der Menschen ist immer geschichtlich und klimatisch zugleich. Klimatische Muster sind immer auch geschichtliche Muster. Tetsurôs Werk ist schwer einzuordnen und lebt von einer Reihe von ungelösten Widersprüchen, die zwischen radikalen theoretischen Vorentscheidungen und deren eingeschränkter Umsetzung im Buch schwankt. Tetsurô hielt sich zwei Jahre in Europa auf und besuchte auf einer Schiffsreise dorthin Indien, Aden und den Sinai. Im Frühsommer 1927 begegnete er in Berlin Martin Heideggers Sein und Zeit. Tetsurô, dessen Werk ein gewisses nationalistisches Pathos nicht abzusprechen ist, betont den Sonderweg Japans im Verhältnis zur europäischen Kultur. Von Heidegger ausgehend und in Abgrenzung von diesem hebt er den zweifachen Doppelcharakter von Zeitlichkeit und Räumlichkeit sowie die Doppelnatur des Menschen als Individuum und soziales Wesen hervor. In Tetsurôs Buch geht es nicht darum zu zeigen, wie das Leben der Menschen durch ihre natürliche Umgebung bestimmt wird. Dies wäre ein europäischer Standpunkt und würde einen falschen Dualismus voraussetzen und aus der lebendigen natürlichen Umgebung einen objektiven Sachverhalt machen und damit zugleich auch das menschliche Leben vergegenständlichen. Man konstruiert zwei Objekte, die nichts mehr mit dem subjektiven Dasein des Menschen zu tun haben. Die klimatischen Phänomene sind immer ein Ausdruck der subjektiven menschlichen Existenz (shutaiteki). Das komplexe Wechselverhältnis von Natur und Kultur betrifft auch dasjenige von Raum und Zeit. So wie die klimatischen Phänomene ein Ausdruck der subjektiven menschlichen Existenz und nicht der natürlichen Umgebung sind, ist »Zeitlichkeit ohne Räumlichkeit […] 8 Ebd., S. 3.

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nicht wirklich Zeitlichkeit […] Erst wenn [das Dasein] in diesem konkreten Doppelcharakter verstanden wird, können Zeitlichkeit und Räumlichkeit in einen Zusammenhang gebracht werden, erst dann zeigt sich die Geschichtlichkeit menschlichen Daseins […] die enge, unzertrennliche Beziehung, […] zwischen Klimatischem und Geschichtlichem […].«9 Trotz dieser wesentlichen theoretischen Vorentscheidung lebt das Buch aber letztlich von einem oberf lächlichen Determinismus des Bezugs von Mensch und natürlicher Umgebung. Nicht nur der individuelle, sondern auch der gesellschaftliche Charakter, ja die gesamte Kultur und Geschichte, werden vom jeweilig vorherrschenden Klima bestimmt. Die einleitenden Prämissen stehen somit in krassem Gegensatz zur Darstellung der drei grundlegenden Klimaformen, mit Ausnahme des differenzierteren Kapitels zur Monsunkultur Japans. Hier gelingt es Tetsurô dem einfachen Determinismus zu entgehen und den monokausalen Diskurs aufzubrechen. Das sino-japanische Wort fūdo bedeutet wörtlich ›Wind-Erde‹, was in der Regel als ›Klima‹ übersetzt wird, dieses ist aber nicht deckungsgleich mit fūdo. Auch der erklärende Untertitel in der deutschen Übersetzung, der auf den Zusammenhang von Klima und Kultur hinweist, trifft es nicht ganz, geht es doch um einen Doppelcharakter, ein Dazwischen. In seiner Übersetzung ins Französische präzisiert Augustin Berque die theoretische Relevanz und zugleich die problematischen Seiten von Tetsurôs innovativem Ansatz. Ein erstes Missverständnis, an dem wohl Tetsurô selbst eine Mitverantwortung trägt, hat die Rezeption des Buches, auch die japanische, von Anfang an begleitet. Man sah und sieht das Buch vor allem als ein Versuch, die Einmaligkeit der japanischen Kultur im Verhältnis zum Westen zu behaupten. Dessen wesentlicher Beitrag ist jedoch im Bereich des Ontologischen anzusiedeln. Das zweite Missverständnis betrifft den schon erwähnten Determinismus, der zwischen Umwelt und Kultur ein einfaches Ursache-Wirkung-Verhältnis annimmt.10 Auch in diesem Fall liegt das Problem im Buch selbst begründet. Die Schwierigkeiten beginnen eigentlich schon beim Titel. Das Wort fûdo und der damit verbundene Begriff fûdosei sperren sich gegen eine einfache Übersetzung. In der englischen Übersetzung ist die Rede von 9  W  . Tetsurô, Fūdo – Wind und Erde. Der Zusammenhang zwischen Klima und Kultur, Darmstadt 1992, S. 4-5. 10 Vgl. W. Tetsurô, Fûdo, le milieu humain, commentaire et traduction par Augustin Berque, Paris 2011, S. 13-14.

10. Windanmut: Klima und Kultur

der Funktion des Klimas (function of climate) als einem Faktor innerhalb der Struktur menschlicher Existenz (a factor within the structure of human existence), und in der deutschen Übersetzung vom Klimatischen als Teil der Struktur des menschlichen Daseins. In beiden Fällen wird das Klimatische von der Kultur und der Geschichte grundsätzlich getrennt und dadurch objektiviert. Berque übersetzt fûdo deswegen mit milieu und fûdosei mit médiance. In beiden Fällen liegt die Betonung auf dem Verbindenden, auf dem, was Tetsurô das ›Zwischen‹ nennt, das, was Klima und Geschichte, Individuum und Gesellschaft in eine Einheit zusammenführt. Berque führt als Illustration seiner innovativen Interpretation ein Beispiel aus Tetsurôs Buch an. Die Berge von Aden werden dort mit dem Wort seizan umschrieben. Dies wurde als ›bläuliche bewaldete Berge‹ übersetzt. Tetsurô verwendet den Begriff jedoch bewusst in einem anderen, weniger objektivierenden Sinne. Eine treffendere Übersetzung wäre ›menschlich blau-bergig‹, was die Berge untrennbar mit der subjektiven Wahrnehmung verknüpft.11 Diese Überlegungen sind von wesentlicher Bedeutung für den Umgang mit dem Phänomen Wind, der gerade wegen seinem schwer fassbaren Wesen, für ein Dazwischen steht, für das Hin und Her von Subjekt und Objekt, Kultur und Natur, Geschichte und Klima. Der Begriff milieu und der Neologismus médiance bezeichnen ein vielschichtiges komplexes Bedeutungsbündel, das Berque als »relation éco-techno-symbolique d’une société à son environnement«, die ökologischtechnisch-symbolische Beziehung einer Gesellschaft zu ihrer Umgebung, umschreibt.12 Die Definition, die Tetsurô ganz am Anfang des Buches einführt, enthält auch das Wort keiki, welches zwar als ›Moment‹ übersetzt werden kann, aber im Sinne eines dynamischen Verhältnisses zwischen zwei Hälften des Seins zu verstehen wäre: auf der einen Seite der Mensch als Individuum (hito) und auf der anderen die Beziehungen zwischen den Menschen und den Dingen (aidagara) in ihrer Umgebung (fûdo).13 Um das Eingebettet-Sein des Menschen in seine subjektive klimatische Welt zu umschreiben, geht Tetsurô wie Ōhashi von der Wahrnehmung der Kälte aus. »Was aber ist die Kälte, die wir empfinden?« Ist es die Lufttemperatur, die Kälte als physikalisches Objekt, eine Reizung der Sinnesorgane oder ein physiologischer Zustand? »Wenn dem so wäre, dann folgte daraus, 11 Vgl. ebd., S. 17, Fußnote 12. 12 Vgl. ebd., S. 21, Fußnote 19. 13  Vgl. ebd., S. 25-26.

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daß die ›Kälte‹ und ›wir‹ getrennt und unabhängig voneinander bestünden […] So gesehen wäre es richtig, von einem Einf luß der Kälte auf uns zu sprechen.«14 Aber können wir von der Kälte als solche etwas wissen, bevor uns kalt ist? Denn wir entdecken die Kälte erst dann, wenn wir sie verspüren. Das Subjekt ist aber dann bereits auf etwas Umfassendes, Diffuses und Windartiges gerichtet, und tritt nicht zu einem Objekt in Beziehung, das von außen herandrängt. Wie verhält sich dabei unser Empfinden von Kälte zur Kälte der Luft draußen? »In dem Augenblick, in dem wir Kälte verspüren, sind wir ja schon der kalten Luft ausgesetzt. In Beziehung zur Kälte geraten heißt nichts anderes, als daß wir selber schon in die Kälte hinausgetreten sind. […] Wir sagen also, daß wir als diejenigen, die hinausgetreten sind, uns selbst gegenüberstehen. […] wir selbst sind dieses ›draußen Seiende‹. […] Kälte empfinden ist eine intentionale Erfahrung, in der wir uns selbst als bereits in die Kälte Hinausgetretene erkennen.«15 Auf das Wetter im Allgemeinen und den Wind im Besonderen bezogen hieße dies, dass wir in den Wandlungen des uns umgebenden Wetters unseren eigenen Wandlungen begegnen. »So wie wir unser fröhliches oder trauriges Selbst in einem Wind, der die Kirschblüten zerstreut, finden, so verstehen wir unser Welken in [der] lähmenden sommerlichen Hitze […]. Wir finden uns selbst – uns selbst, als ein Element im ›Zwischen‹ – im Klima.«16 Der Mensch gelangt im Klima zu einem Verständnis seiner selbst. In diesem Sinne gibt es »kein von der Geschichte losgelöstes Klima und auch keine vom Klima losgelöste Geschichte.«17 Der klimatisch-geschichtliche Doppelcharakter des Menschen zeigt, dass Klima geschichtliches Klima und Geschichte klimatische Geschichte ist. Dieser Doppelcharakter, dieses Zwischen, finden sich in einer Reihe von verwandten Unterscheidungen wieder. Der Mensch und die Gesellschaft, das Ich und das Wir sind nicht getrennt. Das Individuum ist immer zugleich auch Gesellschaft. Der individuell-gesellschaftliche Doppelcharakter des Menschen entspricht seinem leiblich-seelischen Doppelcharakter. Auch das Klima gehört daher zum Leib des Menschen. Dieser lebt im vielgestaltigen Zwischen, einem Zwischen zwischen dem Selbst und dem Anderen. 14 Tetsurô, Wind und Erde, S. 7. 15 Ebd., S. 8. 16 Ebd., S. 9. 17 Ebd., S. 12.

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»Die Frische als solche ist eine Daseinsweise des Menschen, weder ist sie ein ›Ding‹ noch ›Eigenschaft eines Dings‹. Zwar gehört sie zu dem ›Ding‹, genannt ›Luft‹, ist aber weder die Luft selbst noch eine Eigenschaft der Luft. […] Daß die Luft sich in einem Zustande der Frische befindet, heißt nichts anderes, als daß wir uns selbst in einem Zustand der Frische befinden, daß wir uns selbst in der Luft finden. Die Frische der Luft ist jedoch nicht gleichzusetzen mit der Frische unserer seelischen Verfassung […]. Wir verstehen uns selbst in dieser Frische der Luft, wobei nicht unsere psychische Verfassung frisch ist, sondern die Luft.«18 Dasselbe ließe sich von der Erfahrung des Windes sagen. Tetsurô unterscheidet drei Klimatypen: das europäische Wiesenklima, das Wüstenklima und das Monsunklima, welches für die asiatischen Landmassen und den Indischen Ozean typisch ist. Ein viertes Klima, die amerikanische Steppe, war zwar vorgesehen, wurde aber nicht weiter ausgearbeitet. Im Monsunklima alternieren im Sommerhalbjahr und im Winterhalbjahr die Monsunwinde, die von Südwesten her zum Festland bzw. aus nordöstlicher Richtung zum Meer hin wehen, was in den Sommermonaten zu einer starken Luftströmung mit sehr hohem Feuchtigkeitsgrad führt. Im Gegensatz zu den kalten Zonen und den Wüstenregionen, die dazu anregen, sich gegen die extreme Kälte und Hitze zu schützen, d.h. diesen Widerstand zu leisten, führt das heiß-feuchte Monsunklima zu einem passiven ›Sich-Fügen‹. Tetsurô sieht den Grund für diese Haltung in der Natur der Feuchtigkeit selbst, die im Menschen kein Bedürfnis, sich gegen die Natur zu stellen erzeugt. Das Monsunklima führt zu einem üppigen Pf lanzenwuchs, und die »Welt wird zu einem Ort, der überquillt von Leben. Hier bedeutet die Natur nicht Tod, sondern Leben schlechthin.« Den sintf lutartigen Regenfällen, die für dieses Klima typisch sind, kann man sich nicht entgegenstellen, man kann sie nur über sich ergehen lassen. Es ist eine Kraft, die jedoch den Menschen nicht mit dem Tod bedroht, wie dies in der Wüste der Fall ist, sondern ihm immer wieder neues Leben schenkt. Die Bedrohung wird hier zu einer lebensspendenden Macht. Der Mensch der Monsunzone lässt sich daher als ein Wesen bestimmen, das »durch Passivität und Resignation«19 charakteri-

18 Ebd., S. 18. 19 Ebd., S. 22-23.

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siert ist, eine Haltung, die zwar vom Kampf gegen die Natur absieht, aber nicht mit Untätigkeit und Entsagung gleichzusetzen ist. Der Wind wird in einem Kapitel zu den besonderen Formen des Monsunklimas untersucht. Tetsurô spricht dort vom Taifuncharakter Japans und leitet daraus wesentliche Momente der japanischen Geschichte und Kultur ab. Der Taifun ist ein stürmischer plötzlich einbrechender tropischer Wirbelsturm, der mit hoher Geschwindigkeit über das Land hinwegfegt und mit heftigen Regengüssen verbunden ist. Die monsunhafte Lebensweise macht die Menschen in Japan zwar empfänglich-resignativ, diese Kategorie allein reicht aber nicht aus, um den Charakter der Japaner zu erklären. Im Gegensatz zu Indien, wo die Monsunregen mit großer jahreszeitlicher Regelmäßigkeit stattfinden, wird Japan von äußerst wechselhaften jahreszeitlichen Winden heimgesucht. In beiden Fällen steigen große Mengen Wasser aus dem Meer hoch und gehen über dem Land nieder. »Diese Wassergüsse brechen über Japan jedoch in Form von Taifunen herein, die zwar jahreszeitlich bedingt, doch so jäh und gewaltsam sind, daß sie sich mit keinem ähnlichen Witterungsereignis auf der Welt vergleichen lassen. […] Mit seinen heftigen Regen- und Schneefällen stellt Japan also einen Sonderfall innerhalb des Monsunklimas dar. Es hat eine Art Doppelcharakter, da es sowohl tropische Elemente wie solche der Kältezonen in sich vereint.«20 Aus diesem Grund werden in Japan tropische Gemüsesorten, aber auch Weizen und Früchte aus kälteren Zonen angebaut. Der entscheidende Punkt ist hier die jähe Plötzlichkeit des Taifuns, sein unerwartetes Hereinbrechen, zugleich ein wesentliches Attribut von Winden allgemein, insbesondere von Böen. Exzess und Plötzlichkeit sind Attribute des Windes, die auch in der europäischen Kultur eine Rolle spielen, allerdings geht es dort um eine abrupte Abweichung vom Alltäglichen, die zwar positiv konnotiert werden kann, meistens aber eher als Problem aufgefasst wird. Der Wind beunruhigt hier gerade durch seine Unregelmäßigkeit und Unvorhersehbarkeit. Ganz anders in Japan. Das Plötzliche ist hier Teil eines sich stets wiederholenden und daher auch voraussagbaren Musters. Diesem jähen Wechsel der Jahreszeiten entspricht ein jäher Stimmungswechsel in der Person, die vor dem Hintergrund der doppelten Beschaffenheit des japanischen Charakters stattfindet: Plötzlichkeit und Jahreszeitlichkeit verkörpern den Doppelcharakter des japanischen Lebens. Zum Empfänglichen und Resignativen gesellt sich somit auf komplementäre Art und Weise das Unerwar20 Ebd., S. 118.

10. Windanmut: Klima und Kultur

tete und Plötzliche. Beständigkeit und Wechsel setzen einander voraus. Ein »Gefühl, das sich voll verströmt und dennoch in allen Wechselfällen beständig bleibt.« Anstelle einer ausgewogenen Gelassenheit geht es hier um eine emotionale Vitalität und Empfindsamkeit, die zwar leicht ermüdet und nicht von fester Dauer ist, sich aber durch den steten Wechsel der Gefühle wiedererholt, d.h. sich durch neue Reize und Ablenkungen regeneriert. Diese Empfänglichkeit hat zwar jahreszeitlichen Charakter und unterliegt ständigen Schwankungen, sie ist aber im Grunde genommen stets dieselbe. Das Gefühl wird »im Augenblick des Wechsels mit der ihm innewohnenden Plötzlichkeit zu einem neuen Gefühl, welches durch das vorherige bestimmt ist. Wie der jahreszeitlich bedingte Taifun kann auch der Wechsel von einer Stimmung zur anderen mit unverhoffter Heftigkeit stattfinden. Derartige Gefühlsaufwallungen äußern sich oft in jähen Ausbrüchen.« Tetsurô vergleicht das japanische Gemüt mit dem Erblühen von Kirschblüten, die »plötzlich und mit großer Pracht« erblühen, »beinahe etwas zu aufwendig. Doch diese Pracht ist nicht von langer Dauer […].«21 Der nowaki, der Taifun des Spätsommers und Frühherbsts reißt alles mit sich. Sein abruptes Erscheinen ist dabei auch eine Metapher der Geschichte. In gleichem Maße ereignen sich die gesellschaftlichen Änderungen in der japanischen Geschichte immer als Folge eines plötzlichen Umsturzes. Die mit dem jähen Einbruch eines Taifuns assoziierte Plötzlichkeit wirkt sich auch auf die spezifische Art der japanischen Empfänglichkeit und Resignation aus. Diese ist zwar entsagungsvoll, aber zugleich auf begehrend, hartnäckig und ungeduldig. Die Gewalt der Stürme lässt den Menschen zwar resignieren, »doch der Taifuncharakter dieser Stürme erregt zugleich eine kämpferische Stimmung.«22 Es geht dabei aber nicht darum, die Natur zu beherrschen oder sich ihr zu widersetzen. Es ist eine Entschlossenheit aus Verzweif lung, ein immer sich wiederholendes jähes umfassendes Resignieren, eine »taifunbedingte Resignation.«23 Dieses Auf begehren »bricht oft so heftig los wie ein Taifun, doch sobald der Gefühlssturm sich gelegt hat, setzt ebenso unvermittelt stille Entsagung ein.«24 Tetsurô beschreibt diesen Doppelcharakter in spannungsvollen Kontrasten, als sanfte Leidenschaft und als ein steter Wechsel zwischen Veränderung und Erdulden, der immer jäh hervorbricht. 21 Ebd., S. 119. 22 Ebd., S. 120. 23 Ebd., S. 121. 24 Ebd., S. 120.

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Wie schon im Falle des Verhältnisses von Natur und Kultur, Klima und Geschichte kann man auch in diesem Falle nicht von einem Gegensatz, einer Dichotomie sprechen. Es geht um ein Zwischen, das sich in allen anderen gesellschaftlichen Formen der Zusammengehörigkeit zeigt. Dies äußert sich im Verhältnis von Mann und Frau als heftige Leidenschaft, die zugleich selbstlos, entsagungsvoll und kämpferisch ist. Auch dieses Verhältnis steht im Zeichen des jähen Umschlages und der taifunartigen Plötzlichkeit. Dieses Zwischen ist eine Nicht-Zweiheit, was in der japanischen Lebensweise besonders deutlich wird. So ist das japanische Haus eine »Verschmelzung von traurig-sanfter Liebe und kämpferischer Selbstlosigkeit.«25 Tetsurôs Überlegungen eröffnen eine Zwischenzone, in der sich Kultur und Klima begegnen, vermischen und ergänzen und in der der Wind nicht einfach eine ›natürliche‹ meteorologische und daher objektivierbare Erscheinung ist, sondern ein zugleich subjektives und objektives Phänomen. Der mehrfach behauptete Doppelcharakter der japanischen Kultur kommt auch in der spannungsvollen Verbindung von Empfänglichkeit und Resignation und der belebenden Wirkung der jähen Plötzlichkeit des Taifuns zum Ausdruck. Ōhashi geht in Hinblick auf eine Philosophie des Windes noch einen Schritt weiter. Er untersucht Tetsurôs Begriff des Zwischens anhand der japanischen Sprache selbst, die wie die japanische Lebensweise grundsätzlich im Zeichen des Windes steht.

Der Wind als Kulturbegriff Der in Europa weitverbreiteten Vorstellung eines zwingenden vielfachen Analogieverhältnisses von natürlicher Umgebung und Mensch, von Makround Mikrokosmos, die von der Antike bis ins 18. Jahrhundert reicht, stellt Ōhashi die Feststellung gegenüber, dass die kulturellen Phänomene des sozialen Lebens in Japan erstaunlicherweise oft mit dem Wort ›Wind‹ benannt werden. »Dies ist merkwürdig, wenn man bedenkt, daß Japan eigentlich ein Land des Reisanbaus gewesen ist, insofern also das Wasser und die Erde und

25 Ebd., S. 127.

10. Windanmut: Klima und Kultur

nicht in erster Linie der Wind die Vorstellung der kulturellen Phänomene prägen müßte.«26 Das aus Europa stammende Wort ›Kultur‹ wurde in Japan ab dem späten 19. Jahrhundert rezipiert und mit bunka übersetzt. Bun, lateinisch littera, bedeutet ›Buchstabe, Satz, Muster‹ und ka, ›bilden, belehren, auf klären‹. ›Kultur‹ hingegen stammt vom lateinischen cultura ab und vom Verb colere, ›bebauen, pf legen, urbar machen‹. Das deutsche Wort ›Kultur‹, das ab dem 17. Jahrhundert verwendet wird, hat mit der Urbarmachung von Land zu tun, mit der Bearbeitung und Bestellung eines Ackers und im metaphorischen Sinne auch mit geistiger Pf lege und der Ausbildung intellektueller Fähigkeiten. Kultur ist Ackerbau, d.h. ein Eingriff in die natürliche Umgebung und im metaphorischen Sinne auch eine aktive Veränderung der geistigen und intellektuellen Gegebenheiten einer Person oder einer Gesellschaft. Die japanische Übersetzung, so Ōhashi, trifft daher die eigentliche Bedeutung des Wortes ›Kultur‹ nur bedingt. Der Begriff bunka deckt zwar die metaphorische Verwendung des Begriffes ab, enthält aber keinen Bezug zur Erde. Dass die japanische Übersetzung von ›Kultur‹ gerade diesen entscheidenden Aspekt nicht mitberücksichtigt, ist ein mögliches Indiz für einen grundlegenden Unterschied. Die Frage ist, ob der etymologische Unterschied »auf eine ursprünglichere Dimension zurückführt […], in der der Ursprung der Kultur- und Naturerfahrung« in Europa und Japan »verborgen liegt.«27 Windbegriffe durchziehen die gesamte japanische Sprache. Man braucht sie im Zusammenhang mit Mimik, Gestik, sprachlichem Ausdruck, Charakter, Verhalten und Wirkung einer Person. Man spricht von Windgesicht und Windgestalt in einem durchaus positiven Sinne. In Europa überwiegen dabei meist, besonders was die Assoziationen zwischen dem Wind und dem Charakter einer Person angehen, negative Konnotationen. Ein windiger Charakter deutet auf Unzuverlässigkeit hin und ein Windbeutel ist eine oberf lächliche prahlerische Person. In der japanischen Kultur hingegen ist das Flair einer Person, der Wind, der in ihm weht. Während fūbō, ›Wind-Gesicht‹, und fūshi, ›Wind-Gestalt‹, eher dichterisch und poetisch sind, werden fūsai, ›Wind-Figur‹, und fūtai, ›Wind-Leib‹, zur Charakterisierung des normalen, gemeinen Menschen verwendet. 26   R. Ōhashi, »Der ›Wind‹ als Kulturbegriff in Japan«, in: Japan im interkulturellen Dialog, München 1999, S. 28. 27 Ebd., S. 23.

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»Sagt man z. B. über einen Mann, er habe das ›Wind-Gesicht‹ des Samurai, so heißt das, dass er zwar nicht wirklich ein Samurai ist, dass aber in seinem Gesicht irgendwie der Charakter, die Stimmung eines Samurai zum Ausdruck kommt. Diese Stimmung ist der Wind, der in ihm weht. Sein Gesicht ist zwar einerseits sein eigenes Gesicht, zugleich hat er aber etwas an sich, was daran vorbeigeht und zugleich darin anmutet. Dieses vorbeigehende Etwas ist das, was in den Ausdrücken ›Wind-Leib‹, ›Wind-Figur‹, ›Wind-Gestalt‹ usw. impliziert ist, wobei es auf verschiedene Art ›weht‹.«28 Der Wind verweist dabei nicht auf den verborgenen Charakter einer Person, sein wahres Inneres. Er signalisiert eher etwas Ephemeres, Bewegliches, das wie ein Windstoß vorbeizieht, eine f lüchtige Stimmung, die jedoch Teil der Person ist oder in seinem Verhalten zum Ausdruck kommen kann. Hinzu kommt, dass im Gegensatz zum Westen, der Wind hier nicht Ausdruck von etwas Natürlichem und Authentischem ist, sondern prinzipiell dem Bereich der Kultur zugeordnet wird. Das Innere eines Menschen kommt im Gesicht zum Ausdruck. Kifū, ›Wind-Gesinnung, Gesinnungswind, Gemütswind‹, bezeichnet den Charakter eines mutigen und tugendhaften Menschen. »Damit ist nicht nur der innere Zustand eines Menschen im Sinne des psychologischen Charakters gemeint […], sondern auch die Art und Weise, wie dieses Gemüt zutage tritt.«29 Dies suggeriert eine Kontinuität zwischen dem Inneren und dem Äußeren eines Menschen, eine Durchlässigkeit, die auch im Falle des japanischen Hauses eine Rolle spielt. Der Wind gleitet von innen nach außen und von einem Zimmer zum anderen. Ki ist auch Luft, etwas mit dem Wind Wesensgleiches. Kifū ist der erquickende Wind, die Frische und die erfrischende Art, mit der ein gebildeter Mensch auftritt. Kifū steht für Leichtigkeit, Eleganz und die natürliche Schönheit eine Geste. Fūga, Wind-Anmut, ist nicht Anmut im gewöhnlichen Sinne, geht es hier doch um einen hochgebildeten Menschen, der Gedichte liest und schreibt und sich für Musik interessiert. »Damit ist allerdings nicht Intellektuelles gemeint – das läßt schon die Verwendung des Zeichens ›Wind‹ vermuten. Dichtung und Musik sind Gebiete, für die die Natur Vorbild ist; die Bildung auf diesen Gebieten soll einen Menschen zur Natürlichkeit zurückführen, und nicht zu einer, wenn 28  Ōhashi, Morphom, S. 292. 29  Ōhashi, Kulturbegriff, S. 25.

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auch hohen, Künstlichkeit. Gerade die anmutige Natürlichkeit ist das Ziel der Bildung eines Menschen, wie es im Wort ›Wind-Anmut‹ ausgedrückt wird.«30 Wind ist Kultur, weil Kultur immer schon Natur in sich trägt und ein Vorbild für Kultur ist. Die ideale Natürlichkeit der Wind-Anmut ist eine ich-lose Gelassenheit, die sich jedem subjektiven Ich-Bewusstsein entzieht. Im Alltagsleben wird diese anmutige Lebensweise ohne Bedrängnis, ohne Zeitdruck und Zwänge auch fūryū, ›Wind-Strom‹, genannt. Das Natürliche f ließt windgleich aus der Person hervor. Das Leben als Ganzes wird in diesem Kontext zu einer Nebensache, es »wandelt sich im freien ›Windstrom‹ zur Nebensache«, auf der man »nicht mehr beharrt und der [man] nicht unbedingt verhaftet bleibt.«31 Der Wind durchdringt alles, löst alles auf und macht leicht und beschwingt. Das Leben eines solchen Menschen ist wie ein freier Windstrom. Wenn dieser Wind-Strom die alltägliche Norm weit überschreitet und man sich daran stört, so spricht man nicht mehr von fūryū, sondern von fūkyō, ›Wind-Verrücktheit‹. Man ist vom Alltag »ab-gerückt und als Ver-rückter anzusehen«32, ohne dabei aber völlig zügellos, abnormal oder exzessiv zu sein. Man ist im Gegenteil frei wie der Wind und wird zwar dafür getadelt, aber zugleich auch beneidet. Wer bittere Lebenserfahrungen gesammelt und viel gelitten hat (fūsetsu, ›der Wind-Schnee des Lebens‹), ist wie ein großer alter vom Wind gepeinigter Baum, er hat fūkaku, Wind-Persönlichkeit. Dies alles kommt in seinem Wind-Gesicht zum Ausdruck. Ein solcher Mensch besitzt fūkan, ›Wind-Ansicht, aufrichtige Weisheit und eine natürlich gewachsene Weisheit‹. Die »›Windpersönlichkeit‹ ist ein Naturprodukt, als welches ein Mensch gewachsen ist. Der Mensch mit einer ›Windpersönlichkeit‹ hat eine ›Persona‹ im Sinne einer ›Maske‹ der Natur.« Er besitzt eine natürliche Weisheit, die wie der Wind »überall durchwehen kann und durchgängig ist.«33 Natur und Kultur gehen hier stets ineinander über, so wie der Wind hin und her weht, und dadurch ein dichtes Verbindungsnetz webt. In ähnlichem Maße ist der Wind nicht etwas rein Spirituelles, sondern immer auch etwas Materielles, das sich in den Gesten, der Mimik und dem Gesicht eines Menschen zeigt.

30  Ebd., S. 25. 31 Ebd., S. 26. 32 Ebd., S. 26. 33 Ebd., S. 26.

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»In Japan und auch in China wurde ursprünglich das Zeichen ›Wind‹ für die Ausdrücke der ›Kultur‹ im Sinne der individuell-persönlichen Bildung gebraucht. Der Wind ist eigentlich weder etwas Gepflegtes noch Kultiviertes, sondern etwas Natürliches. […] Der Wind als Natürliches ist eigentlich VorKulturelles. Darin, dass dieses Zeichen trotzdem für die Pflege und Bildung des Menschen gebraucht wurde, liegt ein Hinweis darauf, wie die Natur und der Mensch im Fernen Osten aufgefasst werden.«34 Windbegriffe finden sich auch im sozialen Bereich. Ein Land hat fūzoku, ›Wind-Sitte‹, und fūshū, ›Wind-Gewohnheit‹. Die Sitten und Gebräuche eines Landes haben etwas Windartiges, Klimatisches, sie sind nicht nur das Produkt der Geschichte, sondern hängen zugleich vom Klima ab. Die jeweilige Art wie der Wind in einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit weht, nennt man fūcho, ›Wind-Flut‹, und meint damit eine gewissen soziale Tendenz, einen Trend und eine Zeit-Strömung. »Man weiß nicht, woher sie kommt und wohin sie geht und denkt nicht, dass man für die ›Wind-Flut‹ verantwortlich ist.«35 Wenn diese sich aber gegen die fūki, ›die Windnorm oder das Windmaß‹ – die öffentliche Ordnung und die Disziplin – richtet, ist sie verdorben. Es ist dabei nicht der Wind selbst, der das Problem darstellt, sondern das Maß, »das vorübergehende Wetter, die Zeitströmung.«36 Zugleich ist damit auch die Hoffnung auf eine Veränderung enthalten: »Was als verdorben gilt, ist die Art und Weise des Windes, und nicht die Norm selbst. So erwartet man: ›Diese Richtung des Windes wird sich bald ändern‹.«37 Verdorbenheit im sozialen Leben führt zu einer Krisensituation in der Politik. Dafür wird der Begriff fūun, ›Wind-Wolke‹, verwendet. Diese WindWolke steht für eine politische Lage, die sich rasch bewegt. Man erwartet, dass sie wie eine Wolke oder ein Windstoß bald vorbeigehen wird. »Hier wird die klimatische Auffassung von Politik deutlich: Wenn ein starker Wind weht und die Wolken schnell ziehen, mag sich das Wetter ändern, und ein Gewitter droht; genauso wird eine politische Krise verstanden.«38 Das Ephemere von Wind und Wolke wird hier als Versprechen einer besseren Zeit gedeu34  Ōhashi, Morphom, S. 294. 35  Ebd., S. 295. 36  Ōhashi, Kulturbegriff, S. 27. 37  Ōhashi, Morphom, S. 295. 38  Ōhashi, Kulturbegriff, S. 27.

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tet. Auch Krisen, selbst wenn sie katastrophal sind, werden in der Regel als vorübergehend betrachtet. Wolken ziehen vorbei, der Wind eilt davon und reißt die Wolken mit sich. »Der Staat oder das Land wird hier selbst als etwas Wind und Wolken-Ähnliches betrachtet, weshalb es auch eine kokufū […], eine ›Landesbrise‹ gibt, übertragen auf den familiären Bereich kafū […], einen ›Familienwind‹«39 und im Fall einer Sekte, einen Sekten-Wind, shufū. Erziehung und Bildung stehen ebenfalls im Zeichen des Windes. In diesem Zusammenhang spricht man von fūka, ›Windauf klärung‹, und fūkyō, Windbelehrung‹. Die ideale Erziehung gleicht dem Wind, in dem sich »die Gräser auf dem Feld biegen und heranbilden. Das Ideal und der Lehrer finden sich überall in der Natur selbst.«40 Die Produktion von Lebensmitteln, das colere in Kultur, wird fūbutsu, ›Wind-Dinge‹, genannt. Es handelt sich dabei um die Produkte einer Gegend, nicht nur das Produzierte und Geerntete, sondern auch die spezifischen Produkte einer Jahreszeit, und die Szenen, die damit verbunden sind, z. B. das Auf laden von Heubündeln auf Reisfeldern. Fūbutsu lässt den nahenden Winter ahnen und wird mit einer menschenleeren Landschaft, in der Möwen auf Futtersuche über einem Fluss kreisen, assoziiert. Fūbutsu ist synonym mit fūkō, ›Wind-Licht‹, und fūkei, ›Wind-Aussicht‹, den Anblick einer Landschaft, den man auch für fūdo, ›Wind-Erde‹ (Klima) verwendet. Der Wind wird darüber hinaus mit Krankheitszuständen verbunden: fūgan, ›Wind-Auge‹, ist eine Augenkrankheit, fūki, ›Wind-Luft‹, bedeutet Lähmung und chufū, ›Halb-Wind, Mittelwind‹, d.h. eine halbseitige Lähmung. Kaze, ›Wind-Böse‹, ist ein Wind von der bösen Art und wird für eine Erkältung verwendet. Ki, ›Pneuma‹, ist der innere Wind eines Menschen. Byōki, ›Wind-Böse, Erkältung‹, ist eine Erkrankung des ki. Wenn man die Krankheit überwindet, kann man sich die Kraft des Windes aneignen. Wie in der europäischen Tradition besteht in der japanischen Kultur eine grundlegende Wesensverwandtschaft zwischen dem Atem und der Luft. »Das Pneuma, das die Luft selbst ist und mit dem Wind wesensgleich, ist das, was die Außenwelt erfüllt und zugleich das Innerste des Menschen rührt; daher werden auch Phänomene dieses Innersten, die Persönlichkeit und das Gemüt […] fūkaku […], ›Windpersönlichkeit‹, und kifū […] ›Gemütswind‹ genannt.«41

39 Ebd., S. 27-28. 40 Ebd., S. 28. 41 Ebd., S. 32-33.

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Auch in der japanischen wie in der westlichen Kultur hängt der Wind mit der Religion zusammen. Allerdings weist Ōhashi auf wesentliche Unterschiede hin. »Die Religion im Osten, vor allem in China und Japan, ist die Vertiefung bzw. die Verinnerlichung der ›Natur‹, somit des ›Windes‹. […] Sie führt den Menschen zwar nicht zum transzendenten Gott, aber zu ›Natur‹ als dem eigenen, freien Wesen des Selbst, das bald ›die Buddhaheit‹, bald ›die Leere‹ genannt wird.«42 In der Bibel wird der Wind als »natürliches Vorbild« verstanden. Ōhashi verweist dabei auf die von Schmitz und Flusser zitierte Passage aus dem Johannes-Evangelium. »Die Religion als Freiheit des ›Windes‹ und vertiefte Erfahrung der ›Natur‹ ist also in der Bibel zu finden; aber auch diese biblische ›Natur‹ wird im westlichen Denken mit einem wichtigen Vorbehalt interpretiert. […] Die Natur ist insofern der Lehrmeister, als sie die unschuldige Welt vor dem Sündenfall darstellt. Die so ausgelegte Natur entzieht sich noch nicht dem Gegensatz von Natur und Geist.«43 Der Wind wird als Teil einer Natur verstanden »die zu etwas Geistigem erhoben und im Geist überwunden werden soll. Die Religion gilt [im Westen] als höchste Überwindung dieser Natur. In der Wind- bzw. der Natur-Kultur im Osten dagegen ist schon die Natur selbst überhaupt das Substanzielle der Religion.«44 Im Westen ist der Wind zuerst einmal ein natürliches Phänomen, das sich der Kultur von außen her aufdringt. Das gilt auch für den Atem, der den menschlichen Körper durchf lutet. Selbst die spirituelle Dimension des Pneumas und des Windes bestätigt den Gegensatz von Natur und Kultur. Die Kunst wurde im Westen von der Technik und der Wissenschaft weitgehend abgespalten. Als solche versucht sie, die Natur freizusetzen, die in der Technik und Wissenschaft immer mehr beherrscht und ausgebeutet wird. Im Osten gehen Kunst und Religion ineinander über und die Betrachtung der Kunst drück den Wunsch aus, in der Natur die Freiheit zu suchen. Das Wesen der japanischen Kunst, der »Freiheitscharakter des ›Windes‹ und der ›Natur‹« liegt nicht in der Konstruktion. »Das Wesentliche liegt vielmehr darin, daß am Ende dieser Konstruktion das Künstliche überhaupt verschwindet und im Innersten des Werkes das Natürliche wieder aufgeht und weht.«45 Dies zeigt sich am besten in der japanischen Gartenkunst: die Na42 Ebd., S. 33. 43 Ebd., S. 34. 44  Ebd., S. 34-35. 45 Ebd., S. 37.

10. Windanmut: Klima und Kultur

tur kommt hier dank extremer Künstlichkeit, d.h. durch feinste Pf lege wieder zu sich selbst. »Das Ende der Kunst ist der Anfang der Natur, dort, wo erst geifū […], der ›Wind der Kunst‹, weht und das Kunstwerk belebt.« Jeder Künstler wird anhand seines spezifischen Windes der Kunst erkannt. Kunst ist nicht Darstellung der Natur, wie im Westen, sondern »vielmehr das Entschwinden in die Natur.«46 Am Ende soll das Künstliche verschwinden und die »Freiheit des Windes wehen. Diesem ›Wind‹ begegnen wir im Innersten des Kunstwerks, welches zugleich der Eingang in die ›Natur‹ ist.«47 Ob diese frühe Kultur des Windes im heutigen Japan überhaupt überlebt habe, so Ōhashi an, sei nicht sicher. Die japanische »Windkultur« umfasst »alle Gebiete des Menschenlebens, von den Sprachwendungen und künstlerischen Ausdrücken bis hin zu den gesellschaftlichen und lebenspraktischen Sitten.«48 Aber warum gerade der Wind? Wenn man die genannten Beispiele auf ihre metaphorische Bedeutung hin befragt, fällt folgendes auf: Der Wind ist überall, gelangt überall hin, f ließt zwischen Natur und Kultur hin und her und verbindet die beiden Bereiche. In diesem Sinne ist der Wind frei. Eine weitere mögliche Antwort auf diese Frage findet man in der japanischen Architektur. Hier verbindet der Wind das Innen mit dem Außen, indem er die Räume durchweht. Flussers Vision eines durchlöcherten vom Wind der Kommunikation durchf luteten Hauses und sein unumwundenes Lob des Zeltes als nomadische Alternative zu Sesshaftigkeit erhält dadurch eine ganz andere Bedeutung. Im Gegensatz zum europäischen Haus49 sind im traditionellen japanischen Haus Innenraum und Außenraum nicht streng voneinander getrennt. In Europa wird der Wind durch eine Tür blockiert und kann meist nur durch das Fenster hinein. Das englische window kommt von wind. Das Fenster ist ein ›Windauge‹, vom altnordischen vindauga. Im Altfriesischen ist das Fenster wörtlich eine Atem-Türe. Im japanischen Haus hingegen dürfen Schiebetür und Schiebefenster halb geöffnet bleiben, »damit der Wind ständig hinein und hinaus wehen kann. Diese halbe Durch46 Ebd., S. 37. 47 Ebd., S. 38. 48  Ōhashi, Morphom, S. 300. 49  D  iese Gegenüberstellung trifft nicht auf die Architektur der Renaissance zu, die auf vielfache Art und Weise versuchte, das Haus für den erfrischenden Durchgang des Windes zu öffnen (vgl. dazu A. Nova, The role of the winds in architectural theory from Vitruvius to Scamozzi, in: Aeolian Winds and the Spirit in Renaissance Architecture. Academia Eolia revisited, hg. von B. Kenda, London 2006, S. 70-86).

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lässigkeit in den japanischen Häusern bedeutet zunächst nur die räumliche Beschaffenheit. Sie spiegelt sich aber auch in der religiös-philosophischen Anschauung, wonach die Außennatur und der innere Geist fusionieren.«50 In Japan ist die Kultur nicht der letzte Zweck der Natur. Zwischen den beiden Bereichen gibt es keine strukturelle Trennung. Ein weiteres Beispiel, das diese Konzeption treffend illustriert, ist Tadao Andôs Kapelle des Windes in der Nähe der Hafenstadt Kôbe. Der Wind, der vom Meer zum Berg hin und umgekehrt weht, wurde als architektonisches Motiv aufgenommen: Neben einer Glaswand besitzt die Kapelle auch einen Säulengang, der an beiden Ecken geöffnet ist, ein Wind-Gang, eine Art geöffneter Wind-Sack, durch den der Wind »in die Natur hineinweht und der innere Spiritus wieder hinausweht. Der Wind-Sack wird allerdings nicht von einem Wind-Gott ergriffen. Er gehört der Wind-Kapelle.«51 Auch ShintoTempel stehen im Zeichen des Windes. Meist handelt es sich dabei um ein provisorisches, transportables Haus, das nach der Feier wieder weggetragen wird. »Das Gebäude ist wie der Wind, der vorbei- und hinwegweht.« Es ist kein steinernes dauerhaftes Monument wie die westlichen Kirchen und Kathedralen, sondern wird alle zwanzig Jahre wieder neu gebaut. »Die Gottheit ist ebenfalls wie der Wind, da sie dort nicht stets wohnt; sie wird nur während des Festes zu dieser Stätte eingeladen, nach dem Fest verläßt sie sie wieder.«52 Das japanische Verständnis von Wind stellt sich vielfach quer zur westlichen Vorstellung und macht dadurch einige ihrer wesentlichen Charakteristiken sichtbar. »Der Wind als Kulturphänomen heißt, dass es beim Wind nicht nur um die physikalisch-materielle Luftbewegung, sondern auch um die Erfahrungsweisen des Menschen selbst geht, der in seiner Lebenswelt mit dem Wind umgeht. […] Der Wind weht überall, aber die Art und Weise seines Wehens ist klimatisch je anders, und diese klimatische Differenz führt zu den kulturell differenzierten Winderfahrungen, die ihrerseits zur Weiterbildung der kulturellen Lebenswelt beitragen.«53

50  Ōhashi, Morphom, S. 301. 51 Ebd., S. 301-303. 52  Ōhashi, Kulturbegriff, S. 32. 53  Ōhashi, Morphom, S. 303.

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Im Gegensatz zur japanischen Naturvorstellung steht die europäische Natur für einen Zustand vor der Kultivierung. Damit verbunden sind die Technik und später die Wissenschaft, die die Natur zu einem Gegenstand machen. »Die europäische Techné-Kultur, die heute die ganze Welt prägt, geht von einem bestimmten Verhältnis zur Natur aus, das in den ›Wind-Kultur‹ bzw. ›Natur-Kultur‹ in Japan zunächst nicht bekannt war.«54 Auf sino-japanisch ist Natur shizen, von shi, ›sich selbst, von sich selbst aus, aus sich selbst‹, und zen, ›so‹. Shizen bedeutet somit so sein, wie es aus sich selbst ist. Der Wind ist in diesem Sinne immer so wie er ist, er weht, wie und wohin er will. In Europa ist die Natur das, was durch Technik und Wissenschaft unter Kontrolle gebracht, gezähmt und dadurch überwunden werden soll. Als solche repräsentiert sie einen Urzustand, der sich vor und gegen die Kultur positioniert. Die Natur ist zugleich eine uns beengende und bedrohende Umwelt und ein Reich der Freiheit jenseits der Kultur. Die in diesem Buch vielfach konstatierte und kommentierte Ambivalenz des Windes legt ein beredtes Zeugnis für diese Vorstellung ab. Anders in Japan. Shizen ist auch mit einer Vorstellung von Freiheit verbunden. Der Wind ist auch hier das Element, das am ehesten mit Freiheit verbunden werden kann. »Die Kultur als das gebildete Leben des Menschen hat implizit oder explizit diese Freiheit zu ihrem Ziel. Insofern ist der Begriff ›Wind‹ am geeignetsten für die Bezeichnung des menschlichen Lebens, somit der Kultur.«55

Niłch´i James Kale McNeleys Holy Wind in Navajo Philosophy, das 1981 publiziert wurde, beruht auf einer Reihe von Feldinterviews mit Navajo-Informanten, die zwischen 1970 und 1972 im zentralen Teil der Navajo-Nation im Grenzgebiet der Bundesstaaten Utah, Arizona und New Mexico durchgeführt wurden. Die ausgesprochene Originalität und der ausgeprägt poetische Charakter dieser völlig eigenständigen Wind-Philosophie ermöglicht es hier zum Schluss noch einmal, wesentliche Momente der in diesem Buch behandelten europäischen Tradition kontrastiv aufzurufen.

54  Ōhashi, Kulturbegriff, S. 29. 55 Ebd., S. 30.

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Im Vorwort betont der Autor die Wichtigkeit von Gesprächen in der Sprache der Informanten, da viele Worte keine direkte Entsprechung in den europäischen Sprachen haben. Das beginnt schon mit dem zentralen Begriff Niłch´i. Dieses Navajo-Wort bedeutet sowohl Luft und die Gesamtheit der Atmosphäre als auch die Luft in Bewegung, das heißt der Wind. Es gibt somit kein separates Wort für das Phänomen Wind, wie in den europäischen Sprachen, in denen der Unterschied von Luft und Wind, wie gesehen, ein zentrales Thema darstellt. Der Gegensatz von Einheit und Vielheit, der die griechische Naturkunde der Antike beherrschte, wird dahin gelöst, dass der Wind zwar aus vielen Winden mit spezifischen Eigenschaften besteht, die Vorherrschaft des einen dadurch aber nicht in Frage gestellt wird. Niłch´i verfügt über Kräfte, die dem Wind in der westlichen Kultur abgesprochen werden. Der heilige Wind durchf lutet die gesamte Natur, verleiht allem Leben und die Fähigkeit, zu denken und zu sprechen. Niłch´i ist zudem wie in der Philosophie Serres’ ein Kommunikationsmittel, das alle Teile des Kosmos miteinander verbindet. Es ist der zentrale Begriff im Weltverständnis der Navajo. »While the extent to which the Wind concept pervades virtually all aspects of Navajo ideology has long been intimated in published discussions of Navajo cosmology, theology, mythology, and psychology, there has been lacking a clear understanding of the Navajo view of Wind and its functions in the dynamics of the Navajo relationship to his world. […] This book is addressed to the task of further clarifying this important Navajo philosophical concept, particularly as it is applied in explanations of human thought and behavior.« 56 Um Fehlinterpretationen zu vermeiden, hält McNeley zu Beginn programmatisch fest, muss bei einer Untersuchung der Bedeutung des Windes immer auch die Gesamtheit der Weltsicht der Navajos ins Auge gefasst werden. Der persönliche innere Wind 57 wird weder als unveränderlich noch spezifisch anders als der überall wehende Wind definiert. Aus diesem Grund sollte man nicht von einer »in-dwelling Wind Soul« sprechen, die mit der Geburt in einem Menschen Platz nimmt und dessen Denken und Fühlen bis zu 56 J. K., McNeley, Holy Wind in Navajo Philosophy, Tucson 1981, S. 1-2. 57 Vgl. dazu auch C. Laderman, Taming the Wind of Desire. Psychology, Medicine, and Aesthetics in Malay Shamanistic Performance, Berkeley, Los Angeles und Oxford 1991.

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seinem Tode bestimmt. Es geht nicht um eine Gegenüberstellung von Körper und Seele, sondern um eine holistische Sicht des Menschen, so etwas wie ein »›prehuman f lux‹, a conception which expresses human kinship with all living beings […].«58 In der Psychologie der Navajos sind Denken und Verhalten nicht auf den individuellen Charakter zurückzuführen, sondern weitgehend von äußeren Faktoren bestimmt, »manifestations of similar characteristics existing in the powers of the universe, rather than as expressions of a differentiated Wind Soul dwelling within.«59 In den Entstehungsmythen gehen die vier Kardinalwinde aus einer einzigen Licht-Wolke hervor, die aus dem dunklen Inneren der Erde auftaucht. Damit ist ein radikaler Unterschied zu europäischen Konzeptionen angesprochen, in denen die Winde in der sublunaren Zone zwischen Himmel und Erde ihren Ursprung haben. Die Navajo-Kosmologie verbindet die einzelnen Winde zudem mit unterschiedlichen Farben. Auch hier geht aus dem einen durch sukzessive Metamorphosen das Vielfältige und Vielgestaltige hervor. Auf den schwarzen Wind folgte der blaue und aus diesem gingen der gelbe und der weiße hervor. Die Licht-Wolke erschuf ebenfalls den Regenbogen und als das Licht sich veränderte, entstanden die weiße Morgendämmerung, der blaue Mittags- und Abendhimmel, die gelbe Sonnendämmerung und die schwarze Nacht. Der Wind durchf lutete alle Lebewesen und bildete die Linien der Finger, der Zehen und der Haare heraus. Er spendete Kraft und blähte die Körper auf, denn zu Beginn waren sie noch schlaff und leer. Die ersten vier Kardinalwinde sind alternierend weiblich und männlich: ein weiterer Unterschied zur männlichen Vorherrschaft im Kreis der griechischen und römischen Winde. Der Ost- und der Westwind sind weiblich, der Süd- und der Nordwind männlich. Die ersten beiden Winde liegen übereinander wie Geliebte, der männliche Wind oben, der weibliche unten. Der Ostwind ist dunkel, der Südwind blau, der Westwind weiß und der Nordwind gelb. »It appears that the Wind is assigned multiple names in accordance with such criteria as the color symbolism of the direction of its origin […]; its locus (e.g., the Wind standing within one); its size (e.g., Little Wind); its appearance (e.g., Wavy Backed Wind); its character or possible effects (e.g., harmful Wind); and its direction of rotation (e.g., Wind turning sunwise). Neverthe58 McNeley, Holy Wind, S. 3. 59 Ebd., S. 4.

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less, there is only one Wind in the Navajo view, conceived to exist in these different directions and loci and to have various appearances, sizes, effects, and directions of rotation in different situations and at different times.«60 Für die Navajo sind die vielen Winde zugleich nur ein einziger Wind. Die einzelnen Winde besitzen keinen eigenständigen abgerundeten Charakter, sondern bestehen aus verschiedenen changierenden Attributen. Dies kommt dem ephemeren Wesen des Windes, seiner gleichzeitigen Vielgestaltigkeit und Gestaltlosigkeit entgegen. Weitere Winde bildeten sich an der Erdoberf läche heraus. Zwei Winde tauchten aus der Erde, zwei aus dem Wasser und zwei weitere aus den Wolken auf. Einige Informanten sprechen von sechs, andere von insgesamt zwölf Winden. Der Wind hat sechs Namen: »Dark Wind, Blue, Wind, Yellow Wind, White Wind, Glossy Wind, Wind’s child.«61 Die vier am Horizont platzierten Kardinalwinde dienen dem Schutz der Erde und sorgen für den Kommunikationsaustausch zwischen dem Erdinneren und der Erdoberf läche. Der Einf luss der Winde hinterlässt Spuren im Körper. Die vier Winde befruchten Changing Woman, wie sie ein Informant nennt, dadurch, dass sie ihren Körper von den Seiten her und vom Kopf bis zum Fuß in sukzessiven Spiralen durchdringen. Die spiralförmige Gestalt von Haarlocken wird mit den Wirbeln und Windungen der Haut und der Zehenspitzen verbunden. Dies sind die Stellen, wo die Winde in den Körper eingedrungen sind und diesen wieder verlassen haben. Die Winde verleihen zusammen mit dem Atem auch die Fähigkeit zu sprechen. Alle Gedanken sind auf Winde zurückzuführen, wobei die Navajos zwischen guten und schlechten, dunklen Winden unterscheiden. »A thought, whether for good or ill, never occurs without a cause, a Wind is always behind it. The variance in human thoughts throughout the day is accounted for by the activity of different Winds.«62 Der Wind erklärt nicht nur die Welt, sondern auch die psychologische Entwicklung des Menschen, dessen Charakter und Verhalten sowie seine gesamte Existenz bis ins kleinste Detail hinein. Die Navajos klassifizieren verschiedene Verhaltensformen aufgrund ihrer Wind-Theorie. Der Wind ist im Menschen von seiner Geburt an anwesend und kommt zugleich aus den 60 Ebd., S. 18. 61 Ebd., S. 17. 62 Ebd., S. 29.

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verschiedensten geographischen Richtungen und manifestiert sich in unterschiedlichen Momenten seiner Entwicklung. Es ist immer der eine Wind, aber mit verschiedenen Namen. Der Ostwind bestimmt das Leben, der Südwind die Bewegungsfähigkeit, der Westwind das Denken und der Nordwind spielt bei der Formulierung von Plänen eine zentrale Rolle. Wenn ein Kind geboren wird, beginnt sich der innere Wind zu entfalten. Das Wachstum eines Kleinkindes verläuft immer in direktem Zusammenhang mit den Winden. Diese beherrschen seine Sprechfähigkeit, seinen aufrechten Gang und seinen Sinn für Gleichgewicht. In der folgenden, besonders dichten Passage zeichnet ein Informant das Bild eines Leibes, der sich nahtlos in die spiralförmigen Bewegungen des Windes einfügt. Wichtig sind dabei nicht nur der Mund und die Nase, sondern auch die Extremitäten und die Weichteile, dort wo die Winde ein- und austreten, sich auf halten und uns mit der Welt verbinden: die Finger- und Zehenspitzen, die Haarwirbel und die Zungenspitze. »›We Navajo live by this Wind. […] It is only by means of the Wind that we talk. It exists at the tip of our tongues. There are whorls here at the tip of our fingers. Winds sticks out here. It is the same way on the toes of our feet, and Winds exist on us here where soft spots are, where there are spirals. At the tops of our heads some children have two spirals, some have only one, you see. I am saying that those (who have two) live by means of two Winds. These (Winds sticking out of the) whorls at the tips of our toes hold us to the Earth. Those at our fingertips hold us to the Sky. Because of these, we do not fall when we move about.‹«63 Winde umgeben den Menschen von allen Seiten, sie befinden sich in ihm und um ihn herum, sie durchlüften ihn über die Atmungsorgane und die Wirbel an der Körperoberf läche. Ein weiterer Informant verwendet dafür die Metapher des Wassers: »›[…] this is just like living in water (i.e. it is all around us). This same wind moves us […] exists within our tissues, it moves us, causes us to think.«64 Winde übermitteln Botschaften und siedeln sich deshalb auch in der Nähe der Ohrmuscheln an, um mit gutem Rat beizustehen. Manchmal nisten sich in den beiden Ohrenmuscheln unterschiedliche 63  Ebd., S. 35. 64 Ebd., S. 36.

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Winde ein, die mit sich widersprechenden Empfehlungen in das Leben einer Person eingreifen. Interessanterweise werden in der Vorstellung der Navajos die Winde nicht mit Instabilität verbunden, sondern mit Kraft und Zuversicht. Es ist wichtig, dass die Winde stark sind, damit sie den Menschen helfen können. Schwächelnde Winde werden deswegen, sobald es geht, ausgetauscht. Dabei spannen die Winde, mit denen man geboren wurde, mit denen die einen aus den vier Himmelsrichtungen erreichen, zusammen, um vor schädlichen Einf lüssen zu schützen. Zu diesem Zweck tauschen die verschiedenen Winde einer Person untereinander Informationen aus. Daneben gibt es auch bösartige und gefährliche Winde. Das Verhalten einer Person hängt von der Stärke des inneren Windes, der Stufe seiner Charakterentwicklung und dem Einf luss der schädlichen Winde ab. Menschen, die unter dem Einf luss bösartiger Winde stehen, sind grundsätzlich anders als Menschen, bei denen gute Winde vorherrschen. Manchmal sind bösartige Wirbelwinde Geister, welche die Körper der Toten verlassen haben. Diese bewegen sich im Gegensatz zu guten Winden in entgegengesetzter Richtung zum Sonnenverlauf, d.h. nicht parallel zu diesem (sunwise), sondern auf diesen zu (sunward). Böse Winde können den Charakter der inneren Winde beeinf lussen, und diese zu einem erratischen Verhalten verleiten. Dies ist besonders bei schwachen inneren Winden der Fall, aber manchmal kann dies auch bei starken inneren Winden geschehen. In diesem Zusammenhang spielen Little Winds eine wichtige Rolle. Sie warnen vor möglichen Gefahren und stoßen böse Winde ab. Diese Winde leiten das Denken des Einzelnen und überwachen ständig dessen Verhalten. Sollte ein Mensch wiederholt ihre Ratschläge ignorieren, so könnte er straucheln und die Winde könnten ihre Unterstützung zurückziehen. Umgekehrt können die Menschen auch aktiv die Hilfe der Winde einfordern. Wenn der Wind den Körper endgültig verlässt, führt dies zum Tod. Winde können bei schlechtem Verhalten auch durch einen aktiven Eingriff der Götter vorzeitig entzogen werden. Der entfernte Wind dreht sich dann auf die Sonne zu und wird zu einem gefährlichen Geist. Stirbt jemand, so versiegt auch sein Wind.

Schlusswort »But if the wind of thinking has shaken you from your sleep and made you fully awake and alive, then you will see that you have nothing in your grasp but perplexities.« Hannah Arendt, The Life of the Mind Der Wind eröffnet aufgrund seines spezifischen ontologischen Status, seiner Fluidität, Immaterialität und Unsichtbarkeit einen grundsätzlich anderen Zugang zu einer ganzen Reihe von Lebensbereichen. Mehr noch als das Wasser, mit dem sie einige Grundeigenschaften teilen, verbinden die Luft und der Wind das Gegensätzliche, Disparate und weit Auseinanderliegende. In diesem Sinne ermöglicht die Perspektive des Windes eine innovative Sicht auf einige der zentralen dualen Gegensätze der westlichen Denktradition. »Wind could […] be used as a conceptual tool to inform a fundamental set of core dichotomies, often perceived as a legacy of Greek thought, through which the conundrum of life continues to be explored […].«1 In diesem Sinne wurden hier die Beziehungen von Körper und Welt, Subjekt und Objekt, Materialität und Immaterialität, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Ordnung und Unordnung, Natur und Kultur, Klima und Geschichte im Zeichen der Überlagerung, der Vermischung und des Austausches thematisiert. Die kritische Revision dieser Denktradition, die, wie in diesem Buch aufgezeigt worden ist, bis in die Antike zurückreicht, hat in der Gegenwart auch wegen der Verschiebung hin zu künstlichen, digital erzeugten immateriellen Bildschirmwelten eindeutig Konjunktur. Steven Connor sieht im gegenwärtigen Interesse für das Immaterielle und Unsichtbare, und damit auch für den Wind, sogar so etwas wie einen Paradigmenwechsel: 1 Low und Hsu, Introduction, S. 2.

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»[…] we have taken to the air as an arena of enquiring […] in the sense in which a walker takes to the road, a duck takes to water or any creature to its native element. […] Human beings have always believed themselves to be in part airy, and have often wanted to believe that their most essential part – their spirits […] were aeriform. […] Serres proposes that we make out from the turbulence of meteorology a metaphor, more, a veritable mappamundi […]. We inhabit a kind of informational weather, in which the atlas is the territory, or the air-tory […].«2 Das philosophische Interesse für den Wind und die Luft betrifft auch die Frage nach dem Status von Grenzen und Übergängen, von Verwandlungen und Übersetzungen. Winde überwinden spielend jede Grenze und bringen alles mit allem in Verbindung. Die einzelnen Winde lassen sich nur schwer aus dem globalen Fließkontinuum herauslösen. »One of the consequences of taking to the air as a model of thinking […] is that it proves as difficult to make clean cuts between past and present, ancient and modern, as it is to make portion and partition of the air itself. If we are to understand social and cultural history as a kind of weather, and to understand the new understanding of the air as a kind of climate change, then it may be a productive time to bear on this very process a kind of meteorological perspective, which is attuned to lingerings, minglings, perturbation and precipitations.«3 Der Wind bewegt sich nicht nur zwischen Natur und Kultur, Körper und Geist hin und her, sondern auch zwischen Kunst, Philosophie und Wissenschaft und zwischen dem Metaphorischen und dem Begriff lichen. Der Wind bringt die Kategorien durcheinander und hintertreibt jeden endgültigen Klassifizierungsversuch. Er trägt dazu bei, dass die Grenzen zwischen Innen und Außen, Gegenwart und Vergangenheit sich verwischen und auf lösen. Eine Beschäftigung mit dem Wind und dem Wetter über längere Zeiträume hinweg, wie sie hier versucht wurde, zeigt, dass es neben wesentlichen theoretischen Unterschieden auch so etwas wie eine tieferliegende Kontinuität gibt und dass die gegenwärtige Meteorologie trotz eines radikal 2   C onnor, The Matter of Air, S. 9ff. 3 Ebd., S. 39.

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neuen Zugangs viele der frühen Fragestellungen weiterverfolgt. Die metaphorische Zugangsweise hat Kontinuitäten zutage gefördert und zugleich gezeigt, dass Metaphern nicht nur im früheren Wetterwissen, sondern auch in der modernen Meteorologie die Wahrnehmung von Wind und Wetter maßgebend mitbestimmen, so zum Beispiel die Kampfmetapher in der Front-Theorie der Bergener-Schule. Übergreifende theoretische Zusammenhänge lassen sich auch im Verhältnis der fünf hier untersuchten Autoren ausmachen, die zwar ganz unterschiedliche Perspektiven und Methodologien pf legen, in vielfacher Hinsicht aber zusammenfinden. Ein anschauliches Beispiel dafür, wie die Erfahrung des Windes neue Perspektiven auf die Welt eröffnen kann, ist die Ausstellung Wenn der Wind weht, die in Zusammenarbeit mit der Universität für angewandte Kunst Wien4 entstand und vom 12. März bis zum 28. August 2022 im Kunsthaus Wien, Museum Hundertwasser zu sehen war. Die unterschiedlichen Werke machen auf vielfache Art und Weise die unsichtbaren Elemente Atem, Luft und Wind sichtbar, hörbar, spürbar und riechbar. Ich möchte im Folgenden anhand des Kriteriums der unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen des Windes und der Luft auf einige dieser Werke eingehen. Dabei fällt auf, dass immer zugleich mehrere Sinne angesprochen werden und der Sehsinn nicht mehr eine unangefochtenen privilegierte Stellung einnimmt. Die Arbeit Ventilator mit Brett (2015) des Schweizer Künstlers Roman Signer besteht aus einem Ventilator, der so eingestellt ist, dass er ein Holzbrett in einem Schwebzustand auf einem konstanten unsichtbaren Windpolster hält. Dieses verhindert, dass das Brett auf den darunter platzierten Ventilator fällt oder von diesem in die Höhe getrieben wird. Eine perfekte Balance. Der schwer domestizierbare anarchische Wind ist hier zwar maschinell erfolgreich gezähmt worden, steht dabei aber nicht mehr im Dienst der Nützlichkeit, wie dies beim Wind so oft der Fall gewesen ist, sondern veranschaulicht ein ironisches absurdes Unterfangen. Emily Parsons-Lords Our Fetid Rank (Margaret Thatcher’s bottom lip and Clinton’s tongue) (2015) ist ein Videoclip, in dem unterschiedliche Ansprachen zum Klimawandel verschiedener bekannter politischer Persönlichkeiten, 4  V  gl. dazu auch F. Bettel, L. Scheffknecht und E. Strouhal (Hg.), Wind! Vom ästhetischen Nutzen der Bewegung der Luft, Seminare 2017/18-2020/21, Universität für angewandte Kunst Wien 2021 sowie den Ausstellungskatalog L. Scheffknecht und E. Strouhal (Hg.), Wenn der Wind weht. Luft, Wind und Atem in der zeitgenössischen Kunst, Berlin und Boston 2022.

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von Vladimir Putin bis hin zu George W. Bush, zusammenmontiert worden sind. Dabei wurden aber nur die kurzen Momente des Luftholens zwischen den gesprochenen Worten und am Ende der Sätze herausgeschnitten. Die unsichtbare Verbindung zwischen innerem und äußerem Klima, Luft, Wind und Atem, wird dadurch nicht nur sichtbar, sondern auch hörbar gemacht. Mehr als jedes Wort zeugen diese collagierten Fragmente von der grundsätzlichen Abhängigkeit des Menschen von seiner Umgebung und desavouieren zugleich erfolgreich den fragwürdigen Inhalt der einzelnen Reden. Dass die menschliche Stimme ein bedeutungsvoller Windhauch ist und dass wir, um zu sprechen und zu hören, auf das Medium Luft angewiesen sind, verdeutlicht auch Ana Grlics Gedicht W()ndp()()s()() (2020), das man nicht nur sehen, sondern auch hören kann. Das auf ein großes Plakat aufgetragene mehrsprachige Gedicht, welches an die Bergsequenz aus Joris Ivens’ Une histoire de vent erinnert, beruht ausschließlich aus Worten, die mit dem Wind zu tun haben, aus denen man aber alle Vokale entfernt hat. Der Text wird von den unterschiedlichen hauchenden, lispelnden, wispernden, f lüsternden und zischenden Stimmen begleitet, die in ihrem Zusammenspiel an das stakkatoartige fraktale Wehen von Winden erinnern. Julius von Bismarcks schwarzweiße Fotoserie One More Night (2016), auf denen Campingzelte durch die Luft f liegen, ist ein Bildkommentar zu Serres’ und Flussers beweglichen nomadischen Zelten und den globalen Migranten, die gezwungen sind, darin ihr prekäres Dasein zu fristen. Die Gefahr bei Zelten, so Flusser, ist nicht ihr Zusammenbruch wie bei Häusern, »sondern, vom Wind auf und davon gefegt zu werden.«5 Die Fotos artikulieren zugleich so etwas wie einen diffusen, aber spürbaren Freiheitswunsch. In Bismarcks schwarz-weißem Video Irma to Come in Earnest (2017) kann man in einer surreal anmutenden Zeitlupe nachverfolgen, wie der Sturm Irma, der am 10. September 2017 auf den Südwesten Floridas traf, Blätter, Zweige, Äste und Bäume verbiegt und ins Schaukeln versetzt. Der stürmische Wind offenbart hier in der Verlangsamung unerwartete neue Dimensionen. Karin Fisslthalers meditative, zugleich schwarz-weiße und farbige Filminstallation I Can Feel It Coming (2022) bringt Found-Footage-Material zum Wind zusammen. Fisslthaler operiert mit einem Split-Screen von insgesamt 48 Bereichen. Der Film wird von einer von Susanna Gartmayer entwickelten Tonspur begleitet. Gezeigt werden unter anderem Schmetterlinge, Vögel, 5 Flusser, »›Wie schön sind deine Zelte, Jakob‹«, S. 73.

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f liegende Drachen, Wolken, auf Besen reitende Hexen, wehende Vorhänge sowie vom Wind hin und her bewegte Äste und Gräser. Wie es beim Wind oft der Fall ist, tritt dieser zugleich als Thema und als strukturierende und animierende Kraft auf. Der Wind bewegt nicht nur die gefilmten Objekte, Tiere und Pf lanzen, sondern animiert auch das Video selbst. Die Bilder propagieren sich wellenartig von verschiedenen Punkten aus und in verschiedene Richtungen über den gesamten Bildschirm hinweg. Sie zerfallen dabei in Teilbewegungen, divergieren und finden wieder zusammen. Auf die zweifache Ausformung des Windes als Thema und strukturierendes Prinzip ist mehrfach hingewiesen worden. So spricht z. B. Theilen von der »Doppelrolle« des Windes als Thema und Erzählfigur6 und Christian von dem Wind in Musils Der Mann ohne Eigenschaften als Subjekt der Zeit und zugleich als deren wesentliche Eigenschaft.7 Ulrike Königshofers wind, recorded (2015) ist ein visueller und taktiler Kommentar zur fraktalen Natur der Winde und deren Rolle als Übersetzer. Die Installation besteht aus einem Ventilator und einem Schwarzweiß-Foto, das die Künstlerin im Wiener Naturschutzgebiet Lobau zeigt, während sie ein Windrad in der Hand hält, das mit einem Stromgenerator verbunden ist. Der eingefangene und digitalisierte Wind wird direkt auf den Ventilator übertragen, der im selben Rhythmus und mit derselben Kraft bläst wie der Wind. Manchmal weht er stärker, manchmal schwächer, manchmal länger und manchmal kürzer. Der Wahl des Aufnahmeortes kommt im Kontext Wiens eine eindeutig politische Bedeutung zu. Die Lobau ist ein östlich von Wien gelegener Teil des Auengebietes der Donau, der wegen einem umstrittenen Tunnelbau ins öffentliche Bewusstsein getreten ist. Emily Parsons-Lord ist mit einem zweiten Werk vertreten. The confounding leaving (2017) ist eine interaktive Installation, die eine olfaktorische Luftwahrnehmung von besonderer Art ermöglicht und das leiblich individuelle Empfinden des Besuchers ins Spiel bringt. Durch einen leichten Fingerdruck auf kleine an der Wand befestigte Messingdüsen wird die Luft aus drei unterschiedlichen Epochen der Geschichte des Planeten Erde freigesetzt. Durch diese Historisierung der Luft und ihrer chemischen Zusammensetzung wird auf die Untrennbarkeit von Natur und Kult hingewiesen und die Auswirkungen des Anthropozäns. Was für die Luft gilt, gilt auch 6  Theilen, El cuento, S.195. 7 Christian, Turbulenzen der Zeit, S. 414.

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für die Winde, die wie Nova hervorhebt, ihre eigene Geschichte haben.8 Damit ist nicht nur die Geschichte seiner kulturellen Repräsentationen gemeint, sondern auch die Geschichte seines Wehens. DeBlieu verweist in der Neuauf lage ihres Buches auf die Veränderungen, die in den acht dazwischen liegenden Jahren stattgefunden haben. »[…] I envisioned the winds as more or less the same through time. In retrospect I am stunned by my naivete. […] I did not consider – not in any real way – that the winds of my own world could, and would, change.«9 Das sich rapide wandelnde Klima wird, wie Hunt hervorhebt, auch die Wege der Winde verändern. »[…] air will be forced along different routes, adapting to environmental shifts as species do. In fifty or a hundred years the Mistral will have migrated further to the east or west […] and the Bora, Foehn, Tramontana and Bise channelled into different territories, like climate refugees.«10 Das Werk, das ich abschließend kurz kommentieren will, versucht, dem Besucher die Luft, den Atem und den Wind als ganzkörperliche Erfahrung näherzubringen. In Holen Sie tief Atem und tragen Sie die Luft in den nächsten Raum! (1997/2022) fordert Werner Reiterer den Besucher dazu auf, Luft einzuatmen, auf einer Treppe ein Stockwerk höher zu tragen und dort wieder auszuatmen. Dadurch wird die Luft zu einer bewussten Erfahrung des Ein- und Ausatmens, in deren Verlauf die Besucher ihre körperliche Einbindung in die sie umgebende Atmosphäre innewerden. Die Luft und damit auch der Wind werden dadurch zwar nicht sichtbar oder hörbar, aber ganzkörperlich erfahrbar.

8 Vgl. Nova, Das Buch des Windes, S. 16. 9 DeBlieu, Wind, S. XII-XII. 10 Hunt, The Wild Winds, S. 216.

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Film- und Abbildungsverzeichnis Filmverzeichnis All the Money in the World (USA 2017, R: Ridley Scott) Das Schloss im Himmel (Japan 1986, R: Hayao Miyazaki) Earthstorm: Naturgewalten auf der Spur (USA 2022, R: Adam Brown et. al.) Kikis kleiner Lieferservice (Japan 1989, R: Hayao Miyazaki) Le notti di Cabiria (Italien 1957, R: Federico Fellini) Mein Nachbar Totoro (Japan 1988, R: Hayao Miyazaki) Nausicaä aus dem Tal der Winde (Japan 1984: R: Hayao Miyazaki) Otto e mezzo (Italien 1963, R: Federico Fellini) Ponyo – Das grosse Abenteuer am Meer (Japan 2008, R: Hayao Miyazaki)

Porco rosso (Japan 1992 R: Hayao Miyazaki) Pour le Mistral (Frankreich 1965, R: Joris Ivens) Prospero’s Books (England 1991, R: Peter Greenaway) The Addams Family (USA 1991, R: Barry Sonnenfeld) Spartacus (USA 1960, R: Stanley Kubrick) Steamboat Bill, jr. (USA 1928, Buster Keaton) The Wind (USA 1928, R: Victor Sjöström) The Wizard of Oz (USA 1939, R: Victor Fleming) Une histoire de vent (Frankreich 1988, R: Joris Ivens) Wie der Wind sich hebt (Japan 2013, R: Hayao Miyazaki) 300 (USA 2006, R: Zack Snyder) 300: Rise of an Empire (USA 2014, R: Noam Murro)

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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Albrecht Dürer, Zurückhaltung der Winde, Holzschnittapokalypse, Blatt V, https://johannesoffenbarung.ch/bilderzyklen/duerer.php (besucht 9.3.2023). Abbildung 2: Petrus von Poitiers, Epitome historiae sacrae, Anfang des 13. Jahrhunderts, in: B. Obrist, »Wind Diagrams and Medieval Cosmology«, in: Speculum 72/1 (1997), S. 81. Abbildung 3: Hildegard von Bingen, Miniatur zur zweiten Schau. Der Kosmosmensch, in: Hildegard von Bingen, Das Buch vom Wirken Gottes (Liber divinorum operum), Werke, Bd. VI, Beuron 2012, Tafel 2, Der Kosmosmensch. Abbildung 4: Hildegard von Bingen, Miniatur zur zweiten Schau. Der Kosmosmensch, in: Hildegard von Bingen, Das Buch vom Wirken Gottes (Liber divinorum operum), Werke, Bd. VI, Beuron 2012, Tafel 2, Der Kosmosmensch. Abbildung 5: Robert Fludd, The Fortress of Health, in: J. Godwin, Robert Fludd, Hermetic Philosopher and Surveyor of Two Worlds, London 1979, S. 56. Abbildung 6: Robert Fludd, The Four Archangels and the Twelve Winds, in: Godwin, Robert Fludd, S. 57. Abbildung 7: Edgard Aubert de la Rüe, Fichte ohne Äste auf der Luvseite, Île de St. Pierre, in: E. Aubert de la Rüe, Man and the Winds, London 1955, S. 97. Abbildung 8: William Ferrel, Die atmosphärische Zirkulation, https://en.wikisource.org/wiki/An_essay_on_the_winds_and_the_currents_of_the_ ocean#/media/File:Ferrel_nashville_56.png (besucht am 9.3.2023). Abbildung 9: Windpfeil, https://www.tastoeffeuno.it/QUIZ/PPL/GruppiGenera.asp?DA=451&A=480&G=30>=3 (besucht am 9.3.2023). Abbildung 10: Johannes Janssonius, Tabula Anemographica seu Pyxis Nautica Ventorum Nomina Sex Linguis Repraesentans, https://commons. wikimedia.org/wiki/File:1650_Jansson_Wind_Rose,_Anemographic_ Chart,_or_Map_of_the_Winds_-_Geographicus_-_Anemographicajannson-1650.jpg (besucht am 4.4.2023). Abbildung 11: René Descartes, In Dampf umgewandeltes Wasser nimmt viel mehr Raum ein, in: R. Descartes, »Die Meteore«, in: Entwurf der Methode. Mit der Dioptrik, den Meteoren und der Geometrie, Hamburg 2013, Abb. 1, S. 206.

Film- und Abbildungsverzeichnis

Abbildung 12: René Descartes, Äolsball, in: R. Descartes, Die Meteore, Abb. 8, S. 226. Abbildung 13: Jean Goujon, Äolipile (Holzschnitt 1547), in: M. Craig, »The Aeolipile as Experimental Model in Early Modern Natural Philosophy«, in: Perspectives on Science 24/3 (2016), Abb. 2, S. 275. Abbildung 14: Edmond Halley, Wind map, in: »An Historical Account of the Trade Winds, and Monsoons«, https://royalsocietypublishing.org/doi/ pdf/10.1098/rstl.1686.0026 (besucht am 4.3.2023). Abbildung 15: Robert und Shana ParkeHarrsion, Suspension, in: Listening to the Earth (1999-2000) https://lesgrigrisdesophie.blogspot.com/2012/12/ robert-et-shana-parkeharrison.html (besucht am 3.3.2023). Abbildung 16: Vilhelm Bjerknes, Frühe Darstellung des Zyklons, Sommer und Herbst 1918, in: R. M. Friedman, Appropriating the Weather. Vilhelm Bjerknes and the Construction of a Modern Meteorology, Ithaca und London, Abb. 5, S. 127. Abbildung 17: Jacob Bjerknes, Strömungslinien (lines of f low), Zyklonenmodell Oktober 1918, in: Friedman, Appropriating the Weather, Abb. 6, S. 129. Abbildung 18: Vilhelm Bjerknes, Das Bergen-Zyklonenmodell 1919, horizontale Projektion, in: Friedman, Appropriating the Weather, Abb. 15, S. 162. Abbildung 19: Vilhelm Bjerknes, Böenoberf läche (squall surface) 1919, in: Friedman, Appropriating the Weather, Abb. 14, S. 161. Abbildung 20: Sandro Botticelli, Frühling (Ausschnitt), in: A. Nova, Das Buch des Windes. Das Unsichtbare sichtbar machen, München und Berlin 2007, S. 15. Abbildung 21: Sandro Botticelli, Die Geburt der Venus (Ausschnitt), in: Nova, Buch des Windes, S. 90. Abbildung 22: Neuer Kompaß für sensible Nasen, in: A. Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Berlin 1984, S. 85. Abbildung 23: Wolfgang von Goethe, Windskala nach Nummern (Ausschnitt), in: Schriften zur Meteorologie, in: Gesamtausgabe der Werke und Schriften in Zweiundzwanzig Bänden, hg. von H. Hölger und E. Wolf, Bd. 20, Schriften zur Geologie und Mineralogie, Schriften zur Meteorologie, Stuttgart 1963, S. 991. Abbildung 24: Wolfgang von Goethe, Windskala nach Nummern (Ausschnitt), in: Schriften zur Meteorologie, S. 993. Abbildung 25: Heinrich Hoffmann, Die Geschichte vom f liegenden Robert, in: H. Hoffmann, Der Struwwelpeter, Köln 2017, ohne Seitenangabe.

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Philosophie des Windes

Abbildung 26: Der Windmonat Ventôse, https://de.wikipedia.org/wiki/Vent% C3%B4se#/media/Datei:Ventose.jpg (besucht am 4.3.2023). Abbildung 27: Hayao Miyazaki, Wie der Wind sich hebt, in: J. D. Ho, Science and Magic. Wind in Seven Hayao Miyazaki Films, in: The Offing (2017), S. 9, https://theoffingmag.com/enumerate/science-magic-wind-seven-hayao -miyazaki-films/ (besucht am 7.6.2022).

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