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German Pages [470] Year 2019
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PHILOSOPHIE DER TIERFORSCHUNG
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Die Tierphilosophie ist eines der lebendigsten Felder der Gegenwartsphilosophie. Im Mittelpunkt stehen bislang die Frage nach dem Geist der Tiere, das Problem des Tier-Mensch-Unterschiedes und die Themenfelder der Tierethik. Die auf drei Bände angelegte »Philosophie der Tierforschung« wirft einen neuen Blick auf dieses Gebiet und ergänzt es durch eine stärkere Berücksichtigung des gesamten Kontextes der naturwissenschaftlichen Tierforschung, inklusive der philosophischen Hintergrundannahmen, der Forschungsverfahren und -orte, der Handlungslogiken, Denkstile und Sprachspiele der Forscherkollektive sowie der jeweils ausgewählten Modellorganismen. Stellten die ersten beiden, bereits erschienenen Bände der Reihe die Methoden und Programme sowie die Maximen und Konsequenzen der Tierforschung in den Mittelpunkt, widmet sich der dritte Band unter dem Leitgedanken der Forschungsumwelten den Milieus und Akteuren. Im Ausgang von der Tier-Mensch-Relationalität der Tierforschung werden dabei die verschiedenen Rollen der Forschenden und der erforschten Tiere mit dem Ziel einer Neukonfiguration des Untersuchungsfeldes herausgearbeitet.
Die Herausgeber: Martin Böhnert ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Theoretische Philosophie der Universität Kassel; Kristian Köchy ist Leiter dieses Fachgebietes; Matthias Wunsch ist Gastprofessor für Philosophie am Humboldt-Studienzentrum der Universität Ulm. Alle drei Herausgeber sind Mitglieder des vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst geförderten interdisziplinären LOEWE Schwerpunkts »Tier – Mensch – Gesellschaft« an der Universität Kassel.
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Matthias Wunsch / Martin Böhnert / Kristian Köchy (Hg.)
Philosophie der Tierforschung Band 3
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Der Band ist im Zusammenhang mit den Forschungen des LOEWESchwerpunkts »Tier – Mensch – Gesellschaft: Ansätze einer interdisziplinären Tierforschung« an der Universität Kassel entstanden. Die Drucklegung wurde durch Mittel der Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz (LOEWE) des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst sowie der Universität Kassel unterstützt.
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Matthias Wunsch / Martin Böhnert / Kristian Köchy (Hg.)
Philosophie der Tierforschung Band 3:
Milieus und Akteure
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Einbandgestaltung: Martin Böhnert Satz: Frank Hermenau, Kassel Herstellung: CPI books Gmbh, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-495-48743-3 E-ISBN 978-3-495-81133-7 https://doi.org/10.5771/9783495811337 .
Inhalt
Matthias Wunsch, Kristian Köchy, Martin Böhnert Einleitung: Philosophie der Tierforschung – Milieus und Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Kristian Köchy Von der Ökologie der Forschung zu Forschungsumwelten. Bedingungen und Möglichkeiten einer erweiterten Lesart der Wechselbeziehung zwischen Forschenden und ‚Forschungsgegenständen‘ in der Tierforschung . . . . . . . . . . . . . . . 25 Mieke Roscher Tiere sind Akteure. Konzeptionen tierlichen Handelns in den Human-Animal Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Ralf Becker „Leben erfaßt hier Leben“. Zur Bedeutung von Leiblichkeit und kultureller Praxis in der Tierforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Christopher Hilbert Das Problem des Anthropomorphismus in der Tierforschung. Eckpunkte der methodologischen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . 139 André Krebber Washoe: Das Subjekt in der Tierforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Axel C. Hüntelmann Mäuse, Menschen, Menagerien. Laborchimären und ihre wechselvolle Beziehung im Königlich Preußischen Institut für experimentelle Therapie nach 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Robert Meunier Tiermodelle und die Ökologie des Wissens: Das Beispiel des Zebrafisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
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Inhalt
Oliver Lubrich und Katja Liebal Gorillas im Zwielicht. King Kong und die Primatologie . . . . . . . 299 Martin Böhnert und Nina Kranke Riot Grrrl Primatology. Über Forscherinnen, Feminismus und feministische Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Sophia Efstathiou Im Angesicht der Gesichter: Technologien des Gesichtsverlusts in der Tierforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Christophe Boesch Ökologie und Evolution des Sozialverhaltens und der sozialen Kognition bei Primaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461
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Matthias Wunsch, Kristian Köchy, Martin Böhnert
Einleitung: Philosophie der Tierforschung – Milieus und Akteure
In den letzten Jahren hat die philosophische Auseinandersetzung mit Tieren – das, was inzwischen unter dem Namen „Tierphilosophie“1 rangiert – wachsende Aufmerksamkeit erfahren. Neben dem Problem des Tier-Mensch-Unterschiedes stehen dabei unter theoretischen Vorzeichen die Frage nach dem Geist der Tiere und unter praktischen Vorzeichen die Themenfelder der Tierethik im Fokus.2 Unter Beteiligung der Philosophie hat parallel dazu eine rege Diskussion in den Geistes- und Sozialwissenschaften insgesamt eingesetzt, die unter dem Titel „Human-Animal Studies“ ein interdisziplinäres Profil gewonnen hat. Das Forschungsinteresse richtet sich hier auf die historische, kulturelle und soziale Bedeutung von Tieren sowie auf die gesellschaftliche Dimension von Mensch-TierVerhältnissen.3 Mit dem auf drei Bände angelegten Projekt einer 1 M. Wild, Tierphilosophie zur Einführung, 3. korrigierte Aufl., Hamburg 2013. 2 Einen Überblick über die Debatten bieten: D. Perler, M. Wild (Hrsg.), Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion, Frankfurt a. M. 2005; S. Hurley, M. Nudds (Hrsg.), Rational Animals?, Oxford 2006; H. W. In gensiep, H. Baranzke, Das Tier, Stuttgart 2008; U. Wolf (Hrsg.), Texte zur Tier ethik, Stuttgart 2008; R. W. Lurz (Hrsg.), The Philosophy of Animal Minds, Cambridge 2009; H. Grimm, C. Otterstedt (Hrsg.), Das Tier an sich. Diszipli nenübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tier schutz, Göttingen 2012; K. P. Liessmann (Hrsg.), Tiere. Der Mensch und sei ne Natur, Wien 2013; K.-P. Rippe, U. Thurnherr (Hrsg.), Tierisch menschlich: Beiträge zur Tierphilosophie und Tierethik, Erlangen 2013; F. Schmitz (Hrsg.), Tierethik. Grundlagentexte, Berlin 2014. 3 Vgl. die Bibliographie auf (http://www.animalstudies.msu.edu/bibliography. php), zuletzt abgerufen am 09.12.2017; ebenso das Archiv auf (http://www. animalsandsociety.org/human-animal-studies/society-and-animals-journal/ society-animals-archive/), zuletzt abgerufen am 09.12.2017; vgl. auch J. A. Ser pell, In the Company of Animals. A Study of Human-Animal Relationships (1986), New York 2008; C. P. Flynn (Hrsg.), Social Creatures. A Human and Animal Studies Reader, New York 2008; M. DeMello (Hrsg.), Teaching the Ani mal. Human-animal Studies across the Disciplines, New York 2010; Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hrsg.), Human-Animal Studies. Über
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Philosophie der Tierforschung werden die bislang geführten Diskurse durch eine stärkere Berücksichtigung des gesamten Kontextes der naturwissenschaftlichen Tierforschung ergänzt. Zu diesem Kontext gehören die Handlungslogiken, die Denkstile und die Sprachspiele der Forschungskollektive, ebenso die philosophischen bzw. ethischen Hintergrundannahmen und Implikationen, maßgeblich aber auch die jeweils ausgewählten Modelltiere. Im Einzelnen geht es in dem Projekt, dessen dritter und abschließender Band hier vorliegt, um Methoden und Theorieprogramme der Tierforschung (Band 1), um deren praktische Maximen und kulturelle Konsequen zen (Band 2) sowie um die Milieus der Tierforschung und die Rollen der Tiere und Forschenden in ihnen (Band 3). Wie bereits die ersten beiden Bände deutlich machten, hat der spezifische Zugang unseres Projekts Konsequenzen: So ist offensichtlich, dass sich eine Philosophie der Tierforschung nicht nur begrifflich, sondern auch in der konzeptionellen Ausgestaltung und inhaltlichen Umsetzung durch ihren mittelbaren Zugang von einer Tierphilosophie im engeren Sinne unterscheidet. „Mittelbar“ meint dabei, dass sich die philosophische Reflexion in diesem Projekt nicht den Tieren direkt zuwendet, um sie dann zum Objekt einer vergleichenden, geistbezogenen oder ethischen Analyse zu machen, sondern dass sie Tiere vielmehr stets im Zusammenhang mit deren methodischer Erfassung in den Ansätzen und Verfahren der Tierforschung untersucht. Obwohl in dieser Hinsicht prozedural akzentuiert und insofern von einer genuin methodologischen Ausrichtung können dann sekundär philosophische Fragen nach der anthropologischen Differenz, der Beschaffenheit von animal minds und tierethischen Beurteilungen durchaus auch den Gegenstand der Philosophie der Tierforschung bilden.4 Darüber hinaus kann die
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die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld 2011; C. Freeman, E. Leane, Y. Watt, Considering Animals. Contemporary Studies in Hu man-Animal Relations, Farnham 2011; L. Birke, J. Hockenhull (Hrsg.), Crossing Boundaries: Investigating Human-Animal Relationships, Boston, Leiden 2012; N. Taylor, Humans, Animals, and Society. An Introduction to Human-Animal Studies, New York 2013; A. Ferrari, K. Petrus (Hrsg.), Lexikon der Mensch-TierBeziehungen, Bielefeld 2015; R. Borgards (Hrsg.), Tiere. Kulturwissenschaftli ches Handbuch, Stuttgart, Weimar 2016; S. Wirth et al. (Hrsg.), Das Handeln der Tiere. Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies, Bielefeld 2016. Hinsichtlich der Tierethik und der Philosophie des Geistes der Tiere vgl. vor allem Band 2 der Philosophie der Tierforschung und in Bezug auf die an thropologische Differenz siehe M. Wunsch, „Was macht menschliches Denken einzigartig? Zum Forschungsprogramm Michael Tomasellos“, in: Interdiszi
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Einleitung: Philosophie der Tierforschung – Milieus und Akteure
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Philosophie der Tierforschung ein Instrumentarium bereitstellen, um die methodischen Zugänge zu Tieren in den genannten tierphilosophischen Fragestellungen und Problemlagen zu reflektieren. Vor diesem Hintergrund geht es dem vorliegenden Projekt primär um diejenigen Arten und Weisen des menschlichen Zugangs zu Tieren, welche sich in den Formen methodischen wissenschaftlichen Handelns der Tierforschung äußern. Diese Akzentuierung der methodischen Erfassung und Behandlung von Tieren bedeutet allerdings nicht zugleich, dass Tiere aus dem Aufmerksamkeitsfeld der Untersuchung verschwinden oder an dessen Peripherie gedrängt werden. Ein Interesse des vorliegenden Projekts ist es vielmehr im Gegenteil, deutlich zu machen, dass die Seins- und Verhaltensweisen der Tiere auch in der philosophischen Reflexion der Tierforschung eine entscheidende Rolle spielen müssen. Gerade in diesem speziellen Feld der Interaktion zwischen Menschen und Tieren scheint es, wie etwa in der Laborforschung, nahezuliegen, dass von Interaktion kaum die Rede sein kann. Aufgrund einseitig vom Menschen aus gerichteter Forschungsinteressen, eindeutiger Abhängigkeitshierarchien im instrumentalisierenden Eingriff oder einer objektivistischen Konzeptualisierung des Forschungsgegenübers ‚Tier‘ als bloßer Gegenstand erscheint es auf den ersten Blick überflüssig oder zumindest unergiebig, der Rolle der Tiere besondere philosophische Aufmerksamkeit zu schenken. Genauer betrachtet muss jedoch die Anerkennung, dass die Tiere im Forschungszusammenhang einen eigenen Ort einnehmen, als ein Schlüssel zur Philosophie der Tierforschung gelten.5 Diesen Ort, den kein Setting der Tierforschung völlig eingemeinden kann, der aber ebenso wenig durch etwas wie ein „Tier an sich“ konstituiert wird, gilt es philosophisch zu reflektieren. Mit dem gewählten Ansatz werden somit zwar Relationsgefüge betont, aber es wird nicht zugleich eine anthropozentrische oder metaphysische Akzentuierung dieser Relationsgefüge vorgenommen. Aus dem mittelbaren Zugang einer Philosophie der Tierforschung ergibt sich demnach die relationale Ausrichtung des vorgelegten Projekts. Gemeinsame Leitlinie der versammelten Arbeiten ist in gewisser Hinsicht eine Relationslogik. Was die Tiere sind und worin ihre Eigenschaften sowie Fähigkeiten bestehen, hängt dabei
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plinäre Anthropologie, Jahrbuch 3/2015: Religion und Ritual, S. 259-288 (doi: 10.1007/978-3-658-10978-3_22). Vgl. dazu schon D. Haraway, When Species Meet, Minneapolis, London 2008, S. 70.
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wesentlich von dem Relationsgefüge ab, in dem sie stehen. Dieses umfasst verschiedene Arten von Relationen: Beziehungen zu ihrer Umgebung und zueinander, aber auch Beziehungen zu Menschen, die immer soziokulturell, politisch, historisch und dann auch wissenschaftlich und forschungspraktisch geprägt sind. Ebenso sind umgekehrt die Identität von uns Menschen im Allgemeinen, aber auch die menschlichen Selbst- und Weltverständnisse in der Tierforschung abhängig von der Präsenz von Tieren oder der Imagination über sie. Was daher den Maßstab für die erfolgreichen oder scheiternden, die erlaubten oder verbotenen methodischen Handlungen von forschenden Menschen gegenüber erforschten Tieren mitkonstituiert, sind – das zeigten etwa die Analysen der Forschung Fabres in Band 1 unserer Reihe – auch die animalen Mit- oder Gegenspieler dieser Handlungen selbst. Tiere sind nicht lediglich Objekte eines kontemplativen Entwurfs oder einer distanzierten Beobachtung, sondern sie erweisen sich in Beobachtung und Eingriff als widerständige Materialien,6 eigensinnige Akteure,7 zurückblickende Subjekte8 oder sind interagierende Glieder von Experimentalaufbauten.9 Gerade wegen der sich in der Tierforschung zeigenden Aktivität oder Spontaneität der Tiere ergeben sich dann nicht nur faktische Einschränkungen in geplanten methodischen Einflussnahmen, sondern es begründen sich auch normativ-ethische Einwände, die auf diese sich in Formen der Aktivität äußernden tierlichen Interessen Bezug nehmen. Der sich in der Rücksicht auf die Relationen der Forschung niederschlagende mittelbare Ansatz der Philosophie der Tierforschung führt somit zu einer kontextsensitiven und für die situative Verfasstheit von Wissenschaft offenen Form der philosophischen Metaanalyse. Eine methodologische Grundlage dieses Ansatzes ist das bereits in Band 1 dieser Reihe erprobte Schlüsselkonzept der ‚me6 K. Knorr Cetina, Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wis sensformen, Frankfurt a. M. 2002, S. 132. 7 R. E. Kohler, „Drosophila. A Life in the Laboratory“, in: Journal of the History of Biology, 26(2)/1993, S. 281-310, hier S. 287. 8 D. Haraway, Primate Visions: Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science, New York 1989, S. 168 f., S. 176 ff., S. 371 ff. 9 F. Holmes, „The Old Martyr of Science: The Frog in Experimental Physiology“, in: Journal of the History of Biology, 26(2)/1993, S. 311-329; vgl. auch B. Hüpp auf, Vom Frosch. Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie, Bielefeld 2011, hier S. 277 f.
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Einleitung: Philosophie der Tierforschung – Milieus und Akteure
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thodologischen Signatur‘ von Forschungsprogrammen.10 Eine solche Signatur umfasst eine Reihe von Kenngrößen, die einen Ansatz der Tierforschung identifizieren und ihn mit anderen Ansätzen vergleichbar machen. Dazu gehören die bevorzugten Referenztiere, deren primär untersuchte Leistungen, kategoriale Vorentscheidungen (etwa bezüglich der Konzeption des Tierlichen oder der MenschTier-Beziehung), die verwendeten Forschungsmethoden, die gewählten Forschungsorte, das zugrunde liegende Wissenschaftsideal, die Positionierung zu anderen Forschungsansätzen und die philosophischen Hintergrundannahmen und Implikationen. Dem die methodisch/methodologische Seite der Forschungsrelation akzentuierenden Konzept der ‚methodologischen Signatur‘ steht – besonders hier in Band 3 unserer Reihe – das eher ontisch/ ontologische Konzept der ‚Umwelt‘11 oder des ‚Milieus‘12 zur Seite. In der Weise, wie es in unserem Vorhaben verwendet wird, betrifft es verschiedene Aspekte und Ebenen der Untersuchung: Erstens wird damit hinsichtlich der Tiere zum Ausdruck gebracht, dass diese stets in sphärischer Einbindung in ihre Umgebungen betrachtet werden. Der Fokus dieser Betrachtung liegt nicht auf der Binnenbeschaffenheit des Organismus, sondern vielmehr auf den Aktionen und Interaktionen der Tiere in natürlichen oder künstlichen Situationen, letztlich also auf ganzen Lebenswelten der Tiere. Zweitens und in Hinblick auf die Tierforschung konstituieren die zuvor genannten Momente, zusammen mit den jeweiligen Lebens-, Handlungs- und Wissenschaftskontexten der Forschenden, eine Forschungsumwelt. Das Konzept der Umwelten von Tieren wird auf 10 Siehe dazu die Beiträge von Köchy, Böhnert und Hilbert sowie Wunsch in Band 1 der Philosophie der Tierforschung; vgl. auch K. Köchy, M. Wunsch, „Zu me thodischen Aspekten der Philosophie der Tierforschung anhand von Jean-Henri Fabre und Henri Bergson“, in: Forschungsschwerpunkt „Tier – Mensch – Gesell schaft“ (Hrsg.), Den Fährten folgen. Methoden interdisziplinärer Tierforschung, Bielefeld 2016, S. 73-87. 11 Vgl. J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909), 2. vermehrte und verbesserte Aufl., Berlin 1921; vgl. dazu auch M. Merleau-Ponty, Die Natur. Vorlesungen am Collège de France 1956–1960, München 2000, S. 232 ff.; vgl. auch zum philosophischen Rahmen B. Buchanan, Onto-Ethologies. The Animal Environments of Uexküll, Heidegger, Merleau-Ponty and Deleuze, New York 2008. Zu Uexküll vgl. auch den Beitrag von Brentari in Band 1 der Philosophie der Tierforschung. 12 Vgl. G. Canguilhem, „Das Lebendige und sein Milieu“ (1946/47), in: G. Can guilhem, Die Erkenntnis des Lebens, Berlin 2009, S. 233-279; vgl. auch G. Gandolfo, „Le concept de milieu dans les sciences du vivant“, in: Noesis, 14/2008, S. 237-247.
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dieser Ebene also zum Konzept der Forschungsumwelten von TierMensch-Beziehungen in der Tierforschung weiterentwickelt. Das hat drittens Konsequenzen für die Philosophie der Tierforschung. Denn in der Metaperspektive der philosophischen Untersuchung wird eine Analyse von Forschungsumwelten und ihrer Strukturelemente benötigt. Dazu gilt es, die vielfältigen wechselseitigen Bezüge zwischen Menschen und Tieren im Feld der Tierforschung zu würdigen, zu deuten und zu systematisieren. Dabei müssen über die verschiedenen Aspekte der Forschungsmethoden hinaus auch die Interdependenzen zwischen diesen Methoden, den Eigenschaften der Tiere und den materialen Forschungskontexten in den Blick kommen. Der Fluchtpunkt dieser Überlegungen liegt in einer materialen Wissenschaftsphilosophie der Tierforschung. Die skizzierte wissenschaftsphilosophische Forschungsagenda ist prioritär einer Ebene tierlichen Daseins gewidmet, die nicht bloß in anatomischen Strukturen oder physiologischen Funktionen besteht (auch wenn diese im Labor den Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung bilden können), sondern sich vor allem im Verhalten von Tieren ausdrückt. Originärer Ausgangspunkt einer solchen Betrachtung – quasi das ‚für uns Erste‘ – ist die Perspektive auf das „ganze“ Tier und zugleich ein mit dem Umweltgedanken über den Organismus und einzelne Lebewesen hinaus erweiterter Standpunkt. Es werden Organismus-Umwelt-Beziehungen betrachtet, insbesondere auch die sozialen Beziehungen von Tieren. Durch diese Herangehensweise rücken einige klassische Positionen in den Blick, die aber die philosophische Methode unserer Philoso phie der Tierforschung als solche nicht festlegen, sondern die ihr lediglich als Orientierungsgrößen dienen.13 Zu nennen wäre zunächst der aus dem frühen 20. Jahrhundert stammende Ansatz Jakob von Uexkülls, mit dessen Umweltkonzept sich auch ein bestimmtes Bild der Lebewesen ergibt.14 Nach anfänglicher Orientierung an objek13 Zum Umweltbegriff in der Theoriegeschichte der Biologie siehe G. Toepfer, „Umwelt“, in: ders., Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Band 3 (P – Z), Stuttgart, Weimar 2011, S. 566-607; und zur Umweltlehre, ihren Hintergründen in der neuzeitlichen Naturphilosophie (Leibniz, Schelling, Hegel) sowie ihren Bezügen zur philoso phischen Anthropologie siehe R. Langthaler, Organismus und Umwelt. Die bio logische Umweltlehre im Spiegel traditioneller Naturphilosophie, Hildesheim, Zürich, New York 1992. 14 J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt. – Zur englischsprachigen Tradition des Nachdenkens über die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt, die vor
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tivistischen Idealen hatte sich Uexküll in seinen späteren Arbeiten für die Annahme eines Subjektstatus von Tieren ausgesprochen.15 Uexkülls Auffassung, dass Tiere ihre Umwelten aktiv verändern, hat nicht nur ökologische, sondern auch evolutionäre Konsequenzen. Denn adaptive Passungen können sich nun auch durch tierliche Aktivitäten der Veränderung von Umgebungsbedingungen mit Selektionsdruck ergeben.16 Zudem zieht mit dem Umweltgedanken eine epistemische17 oder zeichentheoretische18 Dimension in die Betrachtung ein, die auch eine Berücksichtigung nichträumlicher Innenhorizonte erlaubt. Schon in den 1920er Jahren ist der Umweltgedanke auch in Hinblick auf die Tiere als intentionale Akteure ausgewertet worden. Maßgeblich dafür war ein Aufsatz von Helmuth Plessner und Frederik J. J. Buytendijk, der eine Konzeption der Umweltintentionalität von Tieren entwickelt.19 Sie besagt, dass sich im Verhalten eine sinnvolle Beziehung von Tieren auf ihre Umgebung verkörpert, die einem möglichen epistemischen Zugang auf die ‚Innenwelt‘ der Tiere den Weg ebnen könnte.20
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allem über H. Spencer, C. L. Morgan und J. Dewey läuft, siehe T. Pearce, „The Origins and Development of the Idea of Organism-Environment Interaction“, in: G. Barker, E. Desjardins, T. Pearce (Hrsg.), Entangled Life. Organism and En vironment in the Biological and Social Sciences, Dordrecht et al. 2014, S. 13-32. Vgl. etwa J. v. Uexküll, „Die Rolle des Subjekts in der Biologie“ (1931), in: J. v. Uexküll, Kompositionslehre der Natur, hrsg. von T. v. Uexküll, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1980, S. 343-356; J. v. Uexküll, „Vorschläge zu einer subjektbezo genen Nomenklatur in der Biologie“ (1935), in: J. v. Uexküll, Kompositionslehre der Natur, S. 129-142. Siehe dazu R. Lewontin, „Gene, organism and environment“, in: D. S. Bendall (Hrsg.), Evolution: From molecules to men, Cambridge 1983, S. 273-285, und J. Odling-Smee, K. N. Laland, M. W. Feldman, Niche Construction. The Neglected Process in Evolution, Princeton 2003. C. Brentari, The Discovery of the Umwelt. Jakob von Uexküll between Bio semiotics and theoretical Biology, Dordrecht 2015. M. Tønnessen, R. Magnus, C. Brentari, „The Biosemiotic Glossary Project: Um welt“, in: Biosemiotics, doi: 10.1007/s12304-016-9255-6. H. Plessner (und F. J. J. Buytendijk), „Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs“ (1925), in: H. Plessner, Gesammelte Schriften, hrsg. von G. Dux et al., Darmstadt 2003, Bd. 7, S. 71-129. Vgl. auch R. Becker, „Der Sinn des Lebens. Helmuth Plessner und F. J. J. Buy tendijk lesen im Buch der Natur“, in: K. Köchy, F. Michelini (Hrsg.), Zwischen den Kulturen. Plessners ‚Stufen des Organischen‘ im zeithistorischen Kontext, Freiburg, München 2015, S. 65-90. Zur Bezugnahme von Plessner auf Uexküll vgl. K. Köchy, „Helmuth Plessners Biophilosophie als Erweiterung des Uexküll-Programms“, in: K. Köchy, F. Mi chelini (Hrsg.), Zwischen den Kulturen, S. 25-64.
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Diese philosophischen Überlegungen verweisen auch darauf, dass mit dem Umweltgedanken die Relation zwischen mensch lichen Forschenden und den von ihnen als ‚Forschungsgegenstände‘ gewählten Tieren in einer besonderen Weise zum Thema wird. Betrachtet man diese Beziehung von der Seite der Tiere aus, dann ist zu konstatieren, dass die Tierforschung zumeist eine jenseits natürlicher Umweltbeziehungen liegende, invasive, den künstlichen Zielen naturwissenschaftlicher Untersuchung gehorchende, Konfrontation der Tiere mit menschlichen Interessen impliziert. Da der Umweltgedanke Uexkülls bedeutet, dass Tiere ihre Umwelten jeweils selbständig (epistemisch oder körperlich-aktiv) gestalten, wäre mit dieser Situation möglicherweise eine von aller natürlichen Beziehung grundsätzlich unterschiedene pathologische Situation verbunden, wie es vor allem George Canguilhem kritisiert.21 Zumindest ist jedoch davon auszugehen, dass die Tiere hier Einflüssen von Menschen ausgesetzt sind, die sie passiv hinnehmen oder aktiv beantworten können – wobei in ‚Zulassen‘ oder ‚Verweigern‘ jeweils Aktionsformen der Tiere zum Ausdruck kommen. Zugleich wird gerade im Zusammenhang dieser Intervention deutlich – so machten es schon die Untersuchungen in Band 1 deutlich –, dass von Seiten der Menschen aus betrachtet, das Gegenüber eben nicht in allen Hinsichten ein passives Material der Forschung im Sinne eines bloßen Forschungsgegenstandes ist oder sein darf, sondern als Lebewesen mit eigenen Interessen Berücksichtigung erfordert. Die Tierforschung erweist sich – ähnlich wie es Hans Jonas für die Ingenieurbiologie formuliert hatte – als „kollaborativ mit der Selbständigkeit eines aktiven ‚Materials‘, dem von Natur aus funktio nierenden biologischen System.“22 Die epistemischen Strategien der Forschenden, deren experimentelle Herangehensweisen,23 deren praktische Handlungsabläufe sind dann – wie es Karin Knorr Cetina aus der Perspektive der Wissenschaftssoziologie für die biologische Laborforschung formuliert hat – Verfahren, die „in der Praxis mit 21 G. Canguilhem, „Das Lebendige und sein Milieu“, S. 264 f.; Vgl. auch den Bei trag von Köchy in diesem Band. 22 Vgl. H. Jonas, „Laßt uns einen Menschen klonieren: von der Eugenik zur Gen technologie“, in: ders., Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verant wortung, Frankfurt a. M. 1985, S. 162-203, hier S. 165. 23 Vgl. dazu K. Köchy, „Lebewesen im Labor. Das Experiment in der Biologie“, in: Philosophia naturalis. Schwerpunkt Natur im Labor, 43(1)/2006, S. 74-110. Siehe auch A. Hüntelmann, „Geschichte des Tierversuchs“, in: R. Borgards (Hrsg.), Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart, Weimar 2016, S. 160-173.
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widerständigen Materialien und Lebewesen ausgehandelt werden müssen.“24 Der Beitrag zur Philosophie der Tierforschung, auf den Band 3 abzielt, betrifft die für die Analyse von Forschungsumwelten und ihrer Strukturelemente grundlegende Kategorie der Relation und damit die kontextabhängigen Beziehungen zwischen den Tieren und ihren Umgebungen sowie die wechselseitigen Tier-MenschBezüge im Feld der Tierforschung. Unsere philosophische These ist, dass solche Relationen nicht ihren Relaten äußerlich sind und dass diese Relate nicht zu trennbaren Bereichen gehören, die sich im Stile einer cartesianischen Opposition gegenüberstünden. Dem dualistischen Raster der Forschungsrelation zufolge ergäbe sich eine unvermittelte Gegenstellung von vernünftigen Subjekten (Menschen) auf der einen Seite und bloß materiellen Objekten (Tiere) auf der anderen Seite. Es ist ein zentrales Anliegen von Band 3, den fundamentalen Charakter dieser Oppositionen von verschiedenen Angriffspunkten her aufzulösen.25 Mit diesem Anliegen verbindet sich auch die Kritik an einer Reihe traditioneller Hintergrundtheorien der Tierforschung, die von problematischen Annahmen bezüglich der forschenden Menschen und der erforschten Tiere ausgehen. Diese Theorien konzipieren die Forschenden implizit als reine und vernünftige Geistwesen, die in gewissem Sinn außerhalb des Forschungssettings verortet26 und lediglich als Individuen tätig sind. 24 Vgl. K. Knorr Cetina, Wissenskulturen, S. 132. 25 Eine solche Strategie, dualistische Oppositionen zu entfundamentalisieren, ist bereits bei Helmuth Plessner zu beobachten. Siehe das zweite Kapitel seines Hauptwerks Die Stufen des Organischen. Einleitung in die philosophische An thropologie (1928), Berlin, New York 1975; vgl. dazu V. Schürmann, „Der Car tesianische Einwand und die Problemstellung“, in: H.-P. Krüger (Hrsg.), Hel muth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch („Klassiker Aus legen“, hrsg. v. O. Höffe, Bd. 65), Berlin, Boston 2017, S. 55-70. Unser Anliegen ist es, diese Entfundamentalisierung von der Philosophie des Lebendigen auf die Philosophie der Tierforschung auszuweiten. Familienähnliche Projekte verfolg ten später u. a. auch M. Merleau-Ponty (Phänomenologie der Wahrnehmung (1945), Berlin 1974, zum Verhältnis von Dualismus und Lebendigem u. a. S. 100 ff.; zu Descartes’ Theorie des Lebendigen u. a. S. 234 f.; M. Merleau-Ponty, Die Natur, zu Descartes’ Theorie des Lebendigen u. a. S. 30 ff., S. 177 ff., S. 285 ff.), G. Canguilhem (Die Erkenntnis des Lebens, zu Descartes’ Theorie des Le bendigen u. a. S. 199 ff.), H. Jonas (Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, zum Verhältnis von Dualismus und Lebendigem vor allem S. 25 ff., zu Descartes’ Theorie des Lebendigen S. 81 ff.). 26 M. Merleau-Ponty (Das Sichtbare und das Unsichtbare, hrsg. von C. Leford, München 32004, S. 31 ff.) hatte dieses Verständnis von objektiver Wissenschaft
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Auf der anderen Seite werden Tiere als passive Forschungsobjekte mit uniformen Rollen konzipiert, auf die ein weitgehend unabhängig von ihnen entwickeltes Frage- oder Experimentalschema appliziert wird. In kritischer Abgrenzung dazu liegt der systematische Fluchtpunkt von Band 3 der Philosophie der Tierforschung in der anticartesianischen Rekonfiguration des Untersuchungsfeldes vom Leitgedanken der Umwelt oder des Milieus her. In den Forschungsumwelten sind cartesianische Dualismen fehl am Platze. Auf der Seite der forschenden Menschen ist vielmehr zu betonen, dass sie nicht reine Vernunftwesen, sondern selbst Lebewesen sind, deren Körperleiblichkeit in eine Analyse der Forschungsprozesse einzubeziehen ist.27 Sie sind zudem nicht neutrale Beobachtende, sondern emotional in die Tierforschung engagiert, mit vielfältigen und näher zu untersuchenden Konsequenzen für die Forschung selbst. Insofern haben sie nicht die Qualität „weltexterner Beobachter“, sondern sind in einer Weise Teil des Forschungsgeschehens, die näher zu reflektieren ist. Weiterhin greifen sie in einer womöglich unabwendbaren, in jedem Fall aber zu diskutierenden Weise auf anthropomorphe Deutungsmuster zurück, um Tiere und ihr Verhalten zu erklären. Sie entwickeln und verfolgen Forschungsperspektiven, die nicht zuletzt mit den Mitteln der Gender Studies zu analysieren sind. Auch dabei wird deutlich, dass sie nicht isolierte Subjekte sind, sondern in kooperative Forschungsprozesse involviert, deren Struktur und gesellschaftliche wie historische Bedingtheit es zu klären gilt. Anadurch das epistemische Programm des „Kosmotheoros“ charakterisiert, das der Ontologie des „Großen Objekts“ huldigt. Wissenschaftliche Welterfassung befindet sich demnach auf der Suche nach dem Objektiven. Als objektiv gilt, was aufgrund eines Maßstabes oder aufgrund festgelegter Operationen fixiert werden kann. Wissenschaftliche Welterfassung folgt zudem dem Ideal des un beteiligten Zuschauers. Der ideale Wissenschaftler besitzt in diesem Sinne die uneingeschränkte Fähigkeit, die gesamte bestehende Welt vermittels einer un bestimmten Reihe eigener Operationen zu konstruieren oder zu rekonstruie ren. Zur Kritik an diesem Modell vgl. auch L. Fleck, „Über wissenschaftliche Beobachtung und die Wahrnehmung im allgemeinen“, in: ders., Erfahrung und Tatsache, Frankfurt a. M. 1983, S. 59-83, hier S. 59. 27 Nach H. Jonas (Organismus und Freiheit, S. 124) ist die körperlich-leibliche Verfasstheit der menschlichen Beobachtenden sogar die Bedingung der Möglichkeit der Erfassung des Lebendigen: „Kraft der unmittelbaren Zeugenschaft unseres Leibes können wir sagen, was kein körperloser Zuschauer zu sagen imstande wäre […] – der Punkt des Lebens selber: daß es nämlich selbst-zentrierte Individualität ist, für sich seiend und in Gegenstellung gegen alle übrige Welt, mit einer wesentlichen Grenze zwischen Innen und Außen […]“.
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log dazu ist mit Blick auf die Seite der erforschten Tiere zu betonen, dass diese in verschiedenen und grundsätzlich zu bestimmenden Hinsichten als Akteure gelten können, wenngleich dem in weiten Teilen der Tierforschung komplexe Strategien der Verdinglichung der Tiere gegenüberstehen. Darüber hinaus nehmen die Tiere in der Forschung ganz unterschiedliche Rollen ein, drohen Forschungsprojekte durch vielfältige Arten des „Widerstandes“ zum Scheitern zu bringen, gewinnen in einer Reihe von Forschungsprogrammen selbst eine Paradigmenfunktion und bestimmen, etwa beim Jagdverhalten von Schimpansen, ihre Rollen in einer Weise selbst, die Teil des zu untersuchenden Phänomens ist. Die Beiträger unseres Bandes gehen einzelnen dieser Aspekte detaillierter nach. Um den konzeptionellen Rahmen des Buches aufzuspannen fragt Kristian Köchy nach Bedingungen und Möglichkeiten einer Erweiterung des in der Wissenschaftsforschung etablierten ecologi cal approach durch einen umwelten approach. Letzterer betrachtet, orientiert an den Gedanken Uexkülls, die Beziehungen von Tieren und Menschen in der Tierforschung als Forschungsumwelten. Beiden Ansätzen gemeinsam ist eine kontextuelle Metaanalyse mit Blick auf lokale Situiertheiten. Forschung gilt als komplexes Beziehungssystem. Während der naturwissenschaftlich verstandene Ökologiebegriff jedoch eine Beschränkung auf Materie- und Energieflüsse nahelegt, akzentuiert die Bezugnahme auf Umwelten epistemische und methodische Dimensionen. Erst damit wird die Zuschreibung von Subjektivität für Tiere oder deren Behandlung als Koakteure der Forschung nachvollziehbar. Zugleich erweisen sich menschliche Beobachtungssubjekte als relevante Glieder der untersuchten Relation. Am Beispiel der Schimpansenversuche Wolfgang Köhlers demonstriert Köchy die Analysedimensionen des Umweltenansatzes und weist den Erkenntnisgewinn für drei Felder nach: die mit Anerkennung der Subjektnatur von Tieren veränderte epistemische Konstellation, die methodischen Konsequenzen dieser Änderung sowie die Folgen für ein theoretisches Setting zur Erfassung von Fremdbewusstsein in der Tierforschung. In Mieke Roschers Beitrag wird deutlich, dass sich die HumanAnimal Studies insbesondere darin von einer cartesianischen Forschungsagenda unterscheiden, dass sie Tiere nicht als passive Objekte, sondern als Akteure, und nicht abstrakt, sondern in sozialen und historischen Kontexten untersuchen. Roscher bringt eine ganze Reihe von (nicht-disjunkten) Konzeptionen des tierlichen Handelns in den Blick: Handeln als vernetzte Agency, als ein die Akteure erst
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konstituierendes relationales Zusammenspiel, als symmetrisches Zusammenspiel von Entitäten verschiedenster Existenzweisen, als situiertes Zusammenspiel, als performativ und praxeologisch zu fassendes Zusammenspiel, als materiell-distributives Zusammenspiel oder als Zusammenspiel von Subjekten. Wie vor dem Hintergrund dieser Konzepte die Wirkmächtigkeit von Tieren in konkreten Kontexten zu verstehen ist und sich weiter erforschen ließe, exemplifiziert Roscher jeweils am Beispiel einer 1903 in London durchgeführten Vivisektion eines Hundes, die Anlass zu weitreichenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gab. In seiner Untersuchung zur Bedeutung von Leiblichkeit und kultureller Praxis wendet sich Ralf Becker der Besonderheit der Erkenntnisgegenstände in der Tierforschung zu. Tiere als leibliche Wesen – Körper, die Innenleben in Verhalten ausdrücken – stellen die Forschung vor besondere Herausforderungen. Diese betreffen auf der Sprachebene das Verhältnis von Zuschreibung und Beschreibung (Anthropomorphismusverdacht). Sie ergeben sich auf der Handlungsebene aus der Wechselbeziehung von menschlichem und tierlichem Verhalten (Akteur-Netzwerk). In Rückgriff auf Apel, Habermas und Plessner greift Becker zur Analyse dieser Herausforderungen auf das Konzept einer Erkenntnis durch Engagement (Leibapriori) zurück. Mit Apels Typologie der Erkenntnisinteressen wird die Tierforschung als Hybriddisziplin erkennbar, in der technische Interessen an experimenteller Manipulation, hermeneutische Interessen an Verhaltensdeutung und emanzipatorische Interessen zusammen fließen. Der Schwerpunkt von Beckers Analyse liegt auf der Wechselbeziehung der ersten beiden Interessenarten. Vor dem Hintergrund des Aufweises eines dialektischen Verhältnisses von Forscherleib und Tierkörper klärt Becker die methodologischen Voraussetzungen einer hermeneutischen Lebenswissenschaft, erinnert an die Abhängigkeit der Tierforschung von kultureller Praxis (Lebensweltapriori) und thematisiert abschließend das Anthropomorphismusproblem in der Tierforschung. Dem Problem des Anthropomorphismus in Tierforschung und wissenschaftshistorischer Reflexion widmet sich auch Christopher Hilbert. Während es innerhalb der gewöhnlichen Erfahrung der meisten Menschen evident sei, dass Tiere Subjektivität besitzen, gilt es in der Tierforschung bis heute nicht nur als problematisch, sondern als Kardinalfehler, Tieren menschliche Merkmale zuzuschreiben. Der Grund dafür liegt nach Hilberts historischer Analyse darin, dass die Gegnerschaft zum Anthropomorphismus ein kon-
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stitutiver Bestandteil der im Zeichen eines cartesianischen Erfahrungsdualismus stehenden Gründungsgeschichte der Tierforschung im 19. und 20. Jahrhundert ist. Hilbert zeigt allerdings auch, wie in jüngerer Zeit die Revision der gewöhnlichen Erfahrung nicht nur theoretisch, etwa durch das Aufkommen der Kognitiven Ethologie herausgefordert wird, sondern auch in Konflikt mit dem politischen Auftrag der Tierschutzforschung steht, in dem das Bestehen einer den Tieren eigenen Perspektive bereits unterstellt ist. André Krebber stellt in seinen Überlegungen zum „Subjekt in der Tierforschung“ das Fallbeispiel der sprachprimatologischen Untersuchungen der in menschlicher Obhut aufgezogenen Schimpansin Washoe ins Zentrum. Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem cartesianischen Erkenntnisdualismus von Subjekt und Objekt in den Human-Animal Studies zielt Krebbers Beitrag insbesondere darauf ab, die mit Latours Akteur-Netzwerk-Theorie intendierte „Abwendung vom Subjekt-Objekt-Verhältnis einer kritischen Evaluation“ zu unterziehen. Latour gehe zwar von einer Symmetrie der Aktanten des Netzwerks aus, doch zum einen erhalte sich de facto auch bei ihm die klassische Idee vom Vorrang des menschlichen Erkenntnissubjekts und zum anderen gelinge es mit den Ressourcen seines Ansatzes nicht, die Sprachfähigkeit als innere, eigene kognitive Leistung Washoes zu würdigen. Krebber sucht daher abschließend im Rückgriff auf T. W. Adornos negative Dialektik nach Möglichkeiten, die Kategorien des Subjekts und Objekts der Tierforschung weder antithetisch aufrechtzuerhalten noch post-dualistisch preiszugeben. Die möglichen Rollen, die Mäuse in den Kontexten therapeutisch relevanter Laborforschung einnehmen, zeigt im Detail Axel Hüntelmann in seiner wissenschaftshistorischen Studie zu dem von Paul Ehrlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts geleiteten Königlich Preußischen Institut für experimentelle Therapie. Im Gegensatz zur cartesianischen Konzeption erweisen sich Tiere hier nicht nur als maßgebliche Akteure experimenteller Versuchsanordnungen, es werden auch die verschiedenen Ebenen der Tier-Mensch-Beziehung zugänglich. Deutlich wird, wie sich mit geänderten Forschungsumwelten auch der ontologische Status von Tieren im relationalen Wechselspiel des epistemologischen Prozesses der Wissensproduktion wandelt. Weiter zeigt sich, wie sich umgekehrt mit geändertem ontologischen Status auch zentrale Einstellungen der Forschenden ändern, von deren epistemischen Grundhaltungen bis hin zu den praktischen Routinen des Laboralltags. Vor allem wird klar, dass
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die Re-Aktion der Tiere nicht nur die erfolgreiche Durchführung experimenteller Handlungen in Frage stellen kann, sondern im Kontext der Erforschung von Krankheiten künstlich infizierte Tiere selbst zur Bedrohung für menschliche Forschende werden. Dem Gedanken der Ökologie des Wissens folgend, beschäftigt sich auch Robert Meunier mit der Geschichte der Interaktion von Mensch und Tier. Am konkreten Beispiel des Zebrafischs identifiziert er die Strukturen der Forschungsumgebungen, in denen Wissen über Zebrafische entsteht und sie zu Modellorganismen embryologischer und genetischer Forschung werden. Als materielles Medium der Beziehung rückt das Aquarium ins Zentrum der Aufmerksamkeit – nicht nur Umwelt der Tiere oder Ort der Begegnung von Mensch und Fisch, sondern auch Vermittlungsmedium von außerwissenschaftlicher Züchtung und experimenteller Forschung. Das Wissen von Liebhabern der Aquaristik, das Fähigkeiten und Bedürfnisse der Fische einbezieht, wird zum Garant erfolgreicher Forschung und erweist sich als materielle Bedingung der Möglichkeit experimentellen Wissens. Thematisch werden dabei nicht nur die instrumentellen Merkmale der Fische, sondern auch deren spezifische Lebensvollzüge, die sie nicht nur zum (Über-)Leben im Labor befähigen, sondern auch als standardisierte Modelle der Forschung empfehlen. Oliver Lubrich und Katja Liebal vertreten die These, dass im Gegensatz zu einer cartesianischen Forschungslogik, Emotionen eine wesentliche Rolle im Forschungs- und Erkenntnisprozess spielen. Hierzu vergleichen sie zwei auf den ersten Blick deutlich verschiedene Texte über Gorillas: den aus der empirischen Wissenschaft stammenden Beitrag Gorillas in the Mist von Dian Fossey und den aus der fiktionalen Horrorliteratur stammenden Roman King Kong von Delos W. Lovelace. Beiden Texten sei gemein, dass sie das Affenbild des Alltags maßgeblich beeinflusst hätten, obgleich auf konträre Weise. Um die Wechselbeziehung von Wissenschaft und Popkultur mit Blick auf unser Affenbild und in diesem Kontext auch die Rolle von Emotionen innerhalb der Diskurse nachvollziehen zu können, analysieren Lubrich und Liebal ihre beiden Quellen aus der jeweils entgegengesetzten Perspektive. Die Fiktion wird aus Sicht der Primatologie untersucht, der Forschungsbericht aus Sicht der Literaturwissenschaft, um so die Frage nach der Emotionalität der Feldforschung und der Wissenschaftlichkeit der Populärphantasie zu beantworten. Auch der Beitrag von Martin Böhnert und Nina Kranke hat die Primatologie zum Thema. Unter gendertheoretischen Vorgaben
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geht es um die Rolle von Frauen innerhalb dieses Feldes. Böhnert und Kranke gehen davon aus, dass im Gegensatz zum traditionellen Verständnis von Wissenschaftlichkeit, Geschlecht eine relevante Größe von Forschungsrelationen ist. Sie zeigen, wie sich durch die Arbeiten von Forscherinnen Methodologien und Forschungspraktiken auf relevante Weise ändern. Die erkenntnistheoretische Standardkonstellation von männlichem Forschungssubjekt und männlichem Forschungsobjekt habe spezifische Stereotype reproduziert, die unter dem Leitbild der Ursprünglichkeit gar traditionelle Rollenbilder menschlicher Gesellschaften zu bestätigen scheinen. Bei angemessener Berücksichtigung von Geschlechtlichkeit auf beiden Seiten der Forschungsrelation erweisen sich diese Traditionalismen jedoch als Fehlschlüsse. Abschließend würdigen Böhnert und Kranke kritisch die Rede von der Primatologie als feministischer Wissenschaft und fragen nach Ausrichtungen, Konzepten und Theorien feministischer Wissenschaften. Die Relation zwischen Forschenden und Tieren in der Tierforschung wird von Sophia Efstathiou unter dem Leitkonzept des „Gesichts“ betrachtet. „Gesicht“ steht dabei zunächst für die sinnlich erfahrbare, expressive Oberfläche eines Lebewesens. Efsthatiou geht davon aus, dass die menschliche Konzeptualisierung von Tieren durch das im Spannungsfeld von gesichtslosen Objekten einerseits und mit Gesicht versehenen empfindenden und sich verhaltenden Subjekten andererseits erfolgt. Die Tierforschung wird dann durch fünf Techniken künstlichen Gesichtsverlustes geprägt, welche sich sowohl auf die zu untersuchenden Tiere, als auch auf die untersuchenden Menschen auswirken. Die Autorin vertritt die These, diese Technologien seien performative Strategien, um Tiere in rein analytische Größen zu transformieren. Gerade dadurch jedoch, dass diese Strategien niemals restlos aufgingen, erweise sich das vorausgesetzte cartesianische Forschungsideal selbst unter den restriktiven Bedingungen der Forschung als nicht haltbar. Hieraus ergäben sich nicht nur methodisch-methodologische Konsequenzen, sondern vor allem die Notwendigkeit neuer humanimaler Forschungsethiken, welche die im Forschungsprozess involvierten Tiere und Menschen umgreifen. In seiner Betrachtung der unterschiedlichen Entwicklungen des Sozialverhaltens und der sozialen Kognition von Menschenaffen vertritt Christophe Boesch die These, dass die Ausprägung dieser Fähigkeiten von den sozio-ökologischen Herausforderungen der tierlichen Lebenswelt abhingen. Diese Annahme grenze sich stark
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von einem innerhalb der kognitiven Verhaltensforschung und vergleichenden Psychologie verbreiteten Zugang ab, der sich an einer cartesianisch geprägten, situationsunabhängigen Forschungsagenda orientiere, welche die Rolle von Erfahrung und Ökologie herunterspiele und daher Studien in Gefangenschaft denen im Freiland bevorzuge. Boesch versucht hingegen anhand verschiedener Studien zu zeigen, dass etwa die Entwicklung von Kooperation, Altruismus und Reziprozität innerhalb sozialer Gruppen in hohem Maße von ihrer Wichtigkeit für das Überleben der Individuen abhängen. Laborversuche mit weniger komplexen Herausforderungen beförderten im Gegensatz dazu weniger anspruchsvolle sozial-kognitive Entwicklungen bei vielen Primatenarten.
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Kristian Köchy
Von der Ökologie der Forschung zu Forschungsumwelten Bedingungen und Möglichkeiten einer erweiterten Lesart der Wechselbeziehung zwischen Forschenden und ‚Forschungsgegenständen‘ in der Tierforschung
1. Der ökologische Ansatz in der Wissenschaftsforschung Ein Strang der aktuellen, kontextuell ausgerichteten Wissenschaftsforschung beschreibt seinen Ansatz als ecological approach. So versteht beispielsweise Robert E. Kohler seine Untersuchung zur methodologischen und sozialen Funktion des Modellorganismus Drosophila als ökologische Untersuchung.1 In Kohlers Konzept ist von einem ökologischen Ansatz sowohl in einem konkreten als auch in einem übertragenen Sinne die Rede. Konkret meint die ökologische Herangehensweise die metatheoretische Berücksichtigung des Laboratoriums als eines von Menschen gemachten künstlichen Raumes zur wissenschaftlichen Untersuchung von Lebewesen, der – wie etwa auch Landschaften als menschliche Kulturräume – unter ökologischen Vorzeichen betrachtet werden kann, also als möglicher Lebensraum von Menschen und anderen Lebewesen. Insofern die Forschungskontexte im Labor sich entwickeln und verändern, kann dann zusätzlich von einer Naturgeschichte des Laboratoriums (als dem Lebensraum von Drosophila und DrosophilaForschenden) gesprochen werden. Weil besondere Bedingungen insofern vorliegen als die Labororganismen domestiziert sind und das Labor ein von Menschen gestaltetes räumliches Arrangement ist, könnte konkretisierend und spezifizierend berücksichtigt werden, dass in diesem Fall nicht von einer „ersten“ Natur auszugehen ist, sondern diese durch die „zweite Natur“2 ersetzt wurde. Ein Wechsel in der methodischen Verwendung von Modellorganismen im Zuge 1 R. E. Kohler, „Drosophila: A Life in the Laboratory“, in: Journal of the History of Biology, 26(2)/1993, S. 281-310, hier S. 281. 2 Vgl. K. Köchy, „Der Naturbegriff und seine Wandlungen“, in: A. M. Wobus, U. Wobus, B. Parthier (Hrsg.), Der Begriff der Natur. Wandlungen unseres Natur verständnisses und seine Folgen, Halle 2010, S. 59-17 (in: Nova Acta Leopoldina NF, 376(109)/2010, S. 59-17); K. Köchy, „Natur“, in: R. Konersmann (Hrsg.), Handbuch Kulturphilosophie, Stuttgart, Weimar 2012, S. 227-233; N. Rath, „Na
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der Entwicklung von Wissenschaft und ihren Theorien wäre dann ebenfalls unter ökologischen Vorzeichen zu betrachten und stellte einen Eintritt von Labororganismen in den neuen Lebensraum, das domestizierte Ökosystem des Labors (domestic ecosystem of the laboratory),3 dar. Dieser Eintritt würde mit einer Diversifizierung des Lebensraums einhergehen, welcher durch unterschiedliche experimentelle Praxen quasi in Nischen unterteilt ist. Diese Betrachtung ist ebenfalls sinnvoll, wenn man berücksichtigt, dass die im Labor Verwendung findenden Lebewesen (natürlicherweise) außerhalb des Labors leben und wegen bestimmter Umstände den Übergang in ein neues Lebensumfeld vollzogen oder toleriert haben. Zudem könnten sie, wenn die Laborgrenzen nicht künstlich etwa aus Sicherheitsgründen verschlossen sind, auch wieder ins Freiland entfliehen. In dieser Betrachtungsweise kann dann auch davon gesprochen werden, dass Labororganismen, die durch eine bestimmte Ausrichtung der wissenschaftlichen Arbeit zu paradigmatischen Modellen des Forschungsansatzes werden, eine neue Nische in der Ökologie des Labors (ecology of the lab) kolonisieren.4 Berücksichtigt man die vielfältigen Relationen in solchen ökologischen Gefügen, in denen die Labororganismen (hier der Art Drosophila) nicht nur passive Gegenstände der methodischen Untersuchung sind, sondern Lebewesen, die in diesem Bereich leben und deren lebendige Aktivitäten selbst im Forschungsvollzug vor ausgesetzt, provoziert oder aber toleriert werden, dann kann man in einem solchen Ansatz sogar davon sprechen, die Tiere seien „active players“, „capable of unexpectedly changing the conventions of experimental practice“5 oder sie seien gar „fellow laborer“.6 In gewisser Weise wäre diese Interaktion zwischen den menschlichen Forschenden und den Lebewesen, an denen sie ihre Forschung betreiben, gar als „symbiotic relationship“7 zu bezeichnen. Damit wird ausgedrückt, dass die neu im Labor lebenden Lebewesen in
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tur, zweite“, in: R. Konersmann (Hrsg.), Handbuch Kulturphilosophie, Stuttgart, Weimar 2012, S. 360-365. R. E. Kohler, „Drosophila: A Life in the Laboratory“, S. 290. Ebd., S. 304. Ebd., S. 282. Ebd., S. 285. Ähnlich Donna J. Haraway, When Species meet, Minneapolis, Lon don 2008, S. 80: „In the idiom of Labor, animals are working subjects, not just worked objects.“ Zum Themenfeld ‚Labor und Umwelt‘ vgl. ebd., S. 89 f. R. E. Kohler, „Drosophila: A Life in the Laboratory“, S. 308; vgl. zum ökologischen Ansatz auch den Beitrag von Meunier in diesem Band.
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eine domestizierte Lebensform verändert werden, die nicht mehr in der Natur existieren kann und nur noch im Rahmen der besonderen Ökologie der spezifischen wissenschaftlichen Forschungsrichtung lebensfähig ist. Verändert werden zugleich aber auch die Forschenden, die wegen der neuen Labororganismen und den mit ihnen möglich werdenden Forschungen zu einer neuen Varietät von experimentellen Biologen werden. Der Übergang von der konkreten Rede vom Labor als einem Ökosystem, die tatsächlich das Laboratorium als einen möglichen Lebensraum neben anderen (Freiland) meint, zur übertragenen Rede, die die methodische Relation zwischen Laborexperimenten und den von ihnen betroffenen Lebewesen, die soziale Dynamik des akademischen Lebens oder den Wandel von theoretischen oder methodologischen Systemen in Analogie zu ökologischen Verhältnissen deutet, indem sie die Konzepte „Ökologie“, „Naturgeschichte“ oder „Evolution“ auf sie anwendet, ist offensichtlich fließend. Im übertragenen Sinne wird die Rede von einer ökologischen Herangehensweise an Fragen der Wissenschaftsforschung etwa gebraucht, wenn der natürliche Lebenszyklus der Labororganismen im Zusammenhang mit den Zyklen und Rhythmen der „Naturgeschichte“ des akademischen Lebens betrachtet wird, nach dessen Erfordernissen und Fragestellungen die Labororganismen untersucht werden. Der vorgestellte Ansatz einer Ecology of Knowledge8 ist im Zusammenhang der spatialen,9 topografischen10 oder kontextuellen11 8 C. Rosenberg, „Toward an Ecology of Knowledge: On Discipline, Contexts and History“, in: A. Oleson, J. Voss (Hrsg.), The Organization of Knowledge in Modern America 1869–1920, Baltimore (MD) 1979, S. 440-455; S. L. Star, J. R. Griesemer, „Institutional Ecology, ‚Translations‘, and Coherence: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertrebrate Zoology, 1907–1939“, in: Social Studies of Science, 19/1989, S. 387-420; S. L. Star (Hrsg.), Ecologies of Knowledge. Work and Politics in Science and Technology, New York 1995. 9 J. Agar, C. Smith (Hrsg.), Making Space for Science. Territorial Themes in the Shaping of Knowledge, London, New York 1998; Zu den historischen Vorläufern dieser Raumdebatte vgl. J. Dünne, S. Günzel (Hrsg.), Raumtheorie. Grundlagen texte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006; Für das Thema der Tierforschung einschlägig wären u. a. C. Philo, C. Wilbert (Hrsg.), Human Spaces. Beastly Places. New Geographies of Human-animal Relations, London, New York 2000; R. E. Kohler, Landscapes & Labscapes. Exploring the Lab-Field Border in Biology, Chicago, London 2002. 10 Vgl. S. Weigel, „Zum ‚topographical turn‘ – Kartographie, Topographie und Raum konzepte in den Kulturwissenschaften“, in: KulturPoetik, 2(2)/2002, S. 151-165. 11 So etwa in K. Knorr Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1984.
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Wende der Wissenschaftsforschung entstanden, deren Forschung sich u. a. auf Räume des Wissens12 konzentrierte. Diese Richtung nimmt eine räumlich-materiale Erweiterung klassischer Wissenschaftskonzepte vor und ist so durch eine Akzentverschiebung der wissenschaftsphilosophischen Aufmerksamkeit weg von rein ideal-kognitiven Momenten (Begriffe, Formeln, Gesetze, Theorien) der Methodologie und hin zu real-materialen gekennzeichnet. Damit spielen bildlich-anschauliche Elemente wie Diagramme, Fotos, Modelle oder aber auch apparativ-materiale wie Instrumente, Versuchsaufbauten, Laboranordnungen, Architekturen eine neue Rolle in der wissenschaftsphilosophischen Rekonstruktion. Mit dieser Ausrichtung entfernt man sich zunehmend von denjenigen Momenten der Wissenschaft, die psychische oder logische Einheiten betreffen und die insofern „nirgendwo“ situiert sind, und bewegt sich auf solche zu, die immer (auch) von physischer Natur sind und folglich räumlich situiert.13 Mit dieser Verschiebung wird auch unterstrichen, dass die „lokale Situiertheit“ und der jeweilige historische Kontext der Wissensproduktion Bedeutung haben.14 In dieser Hinsicht bezieht sich dann ein ecological approach zunächst nur darauf, dass „Ökologie“ für ein systemisches und kontextuelles Verständnis von Wissenschaft steht – ohne dass darüber hinaus auch die obige Perspektive und Akzentsetzung auf Lebewesen im Lebensraum (Labor) eine Rolle spielen müsste. Ja, bezüglich des Status von Lebewesen in diesem Systemgefüge Wissenschaft wäre eher nach diesem Verständnis des ecological approach – ähnlich wie in den Konzepten der Akteur-Netzwerk-Theorien im Anschluss an Bruno Latour15 – die Zurückweisung klassischer Dichotomien wie 12 M. Hagner, H.-J. Rheinberger, B. Wahrig-Schmidt (Hrsg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1977. 13 Offensichtlich ist dieses bei einer Ausweitung des methodologischen Blicks auf ganze Laboranordnungen, vgl. dazu etwa O. Hannaway, „Laboratory Design and the Aim of Science. Andreas Libavius versus Tycho Brahe“, in: ISIS, 77 (4)/1986, S. 584-610; S. Shapin, „The House of Experiment in Seventeenth-Century England“, in: ISIS, 79/1988, S. 373-404. Vgl. dazu K. Köchy, „Labor, Experiment“, in: P. Sarasin, M. Sommer (Hrsg.), Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Weimar 2010, S. 171-175. 14 M. Hagner, H.-J. Rheinberger, „Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur“, in: M. Hagner, H.-J. Rheinberger, B. Wahrig-Schmidt (Hrsg.), Räume des Wissens, Berlin 1977, S. 7-21, hier S. 8. 15 Vgl. etwa die Überlegungen zur Übereinkunft der Modernen in B. Latours Die Hoffnung der Pandora (Frankfurt a. M. 2002, S. 23). In unserem Zusammenhang ist auch seine eigene „ökologische“ Studie zur zirkulierenden Referenz anhand
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„natürlich“/„künstlich“ oder „sozial“/„technisch“ zentrale Intention des ökologischen Ansatzes.16 Gegenüber der Anwendung der ökologischen Perspektive auf den Laborkontext (in unmittelbarer oder in analogischer Verwendung) könnte vor allem der Einwand erhoben werden, dass Laboratorien insofern keine Ökosysteme im üblichen Sinne sind, als sie „gesteigerte Umwelten“17 darstellen, die ein künstliches, ausschließlich nach den Vorstellungen und Bedürfnissen von Menschen kultürlich geformtes Milieu repräsentieren. Dieses liefe auf die Pointierung des obigen Hinweises auf die „zweite Natur“ des Labors hinaus und würde die genannte Absicht, die Unterscheidung von „natürlich“ und „künstlich“ mit einem ecological approach zu unterlaufen, kritisch hinterfragen. Berücksichtigt man, dass die „gesteigerte Umwelt“ des Labors allein auf menschliche Zwecke zugerichtet ist und insofern dadurch charakterisiert ist, dass die natürliche Ordnung einer extremen Modellierung und Veränderung unterworfen wird, dann wäre die Rede vom „Leben“ der Labororganismen im künstlichen Milieu des Labors als einem Ökosystem ein Euphemismus.18 Der mögliche Einwand gegen die Künstlichkeit und Lebensfeindlichkeit dieser Bedingungen beträfe verschiedene Aspekte des Laborgeschehens. Er meinte erstens die Stabilisierung der epistemischen Tugenden und der Feldstudie zu botanischen und bodenkundlichen Fragen zum Amazonas Ur wald von Interesse (B. Latour, „Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas“, in: ders., Die Hoffnung der Pandora, S. 36-95). Vgl. zu Latour auch den Beitrag von Krebber in diesem Band. 16 S. L. Star (Hrsg., Ecologies of Knowledge, S. 1 f.) kennzeichnet ihren Ansatz wie folgt: „[…] examining science as a radically contextual, problematic venture with a very complicated social mandate […]. Our purpose here is more than polemics; rather than valorizing or denigrating science as a monolith, we are taking an eco logical view of work and politics. […] Ecologies of knowledge here means trying to understand the systemic properties of science by analogy with an ecosystem, and equally important, all the components that constitute the system. […] Thus by ecological we mean refusing social/natural or social/technical dichotomies and inventing systematic and dialectical units of analysis.“ (Ebd., S. 1 f.) 17 K. Knorr-Cetina, Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wis sensformen, Frankfurt a. M. 2002, S. 45. 18 D. J. Haraway (When Species meet, S. 73 ff.) hat versucht, diesen Schritt trotz der prinzipiellen Ungleichheit der Akteure im Labor sowie der dort herrschenden hierarchischen und einseitig gerichteten Relationen zu rechtfertigen, wobei sie insbesondere auf den Ersatz der Kategorie der Rechte durch die Kategorie der Arbeit verwies: „Taking animals seriously as workers without the comforts of humanist frameworks for people or animals is perhaps new and might help stem the killing machines.“ (Ebd., S. 73) Die vehemente Kritik an ihren Überlegungen zeigte allerdings auch die Problemlagen dieser Überlegung an.
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der handwerklichen Forschungspraxen der menschlichen Forschenden (etwa deren Neutralisierungsversuche gegenüber individuellen Vorlieben oder deren antrainierte Forschungsroutinen), zweitens die methodischen Arrangements zur Forschung (deren Standardversuche oder experimentelle „Paradigmen“) und schließlich drittens die Labororganismen selbst (in Form von Modellorganismen mit standardisierten Eigenschaften).19 Gegen den Einwand der Künstlichkeit des Labors wurde unter Rückbezug auf Bruno Latours Überlegungen zum Setup der Forschung erwidert, Laboratorien seien Dispositive, die Experimentatoren, Institutionen, Apparate, Daten, Konzepte, Theorien und Labororganismen zusammenbringen, um „Inskriptionen“ zu erzeugen.20 Mit „Inskriptionen“ bezeichnet man die visualisierten Ergebnisse von Experimenten, die losgelöst von der spezifischen Umwelt eben dieses Laborkontextes und im Zusammenhang mit anderen Daten und Kontexten dasjenige erzeugen, was wir Wissenschaft nennen. Die Modifikation und Variation, die Lebewesen im Kontext solcher Setups erfahren, wäre nach dieser Erwiderung eben die Voraussetzung dafür, dass Lebewesen und ihr Verhalten überhaupt zum Gegenstand der Forschung werden können. Einerseits erscheinen damit die Lebewesen zwar durch die Veränderung in einer bestimmten Weise – etwa nicht mehr als individuelle Organismen mit spezifischen Besonderheiten, sondern als standardisierte Forschungsgegenstände –, andererseits jedoch ist es genau diese Transformation und Standardisierung, die es ihnen überhaupt erst ermöglicht, eine „Rolle“ im Vollzug der Wissenschaft zu spielen. Dabei gilt zudem die gleiche transformative Tendenz auch für solche Untersuchungskontexte, die, wie das Freiland etwa, scheinbar deutlich weniger invasiv sind als das Labor. In allen Fällen werde eine Veränderung im Dienste der wissenschaftlichen Untersuchungsabsicht vorgenommen, die darauf hinaus läuft, die Potentiale der Lebewesen zur Geltung zu bringen. Ohne ein solches Setup würde das Lebewesen gar keine Möglichkeit haben „to show what it can do in a way that can enter scientific debate“.21 Gegen diese Erwiderung, die Transformationen zwar eingesteht, in ihnen aber die Bedingungen der Möglichkeit für ein „wissen19 N. Rose, J. M. Abi-Rached, Neuro. The New Brain Sciences and the Management of the Mind, Princeton, Oxford 2013, S. 85. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 87.
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schaftliches Leben“ der Labororganismen sieht, ist allerdings die grundlegende Kritik gerichtet, die auf die Besonderheiten des Labors als Forschungsumgebung abhebt und die den Aspekt des „Lebens“ der Lebewesen im Laborkontext stark macht. Sie wurde in ihrer klassischen Formulierung von Georges Canguilhem (1904–1995) erhoben. Auch dessen Überlegung ist mit der Vorstellung verbunden, Lebewesen (und deren Untersuchung durch die Wissenschaft) seien in stetem Bezug auf ihr Milieu zu betrachten.22 Unter Verweis auf die Thesen Kurt Goldsteins (1878–1965) und die Theorie Jakob von Uexkülls (1864–1944) erklärt Canguilhem jedoch die Untersuchungssituation im Labor für einen grundsätzlich pathologischen Zustand. Da sich die Relation zwischen Lebewesen und deren Umwelten normalerweise darin äußere, dass sich die Lebewesen harmonisch in ihre Umwelten einfügten, wobei sie nach Uexküll diese Einbindung als Subjekte selbst generierten, sei die ausschließlich von außen (über das von Menschen künstlich hergestellte Milieu des Labors) bestimmte Situation des Lebewesens im Labor das „Urbild der Katastrophensituation“:23 „Ein Tier in einer Versuchssituation ist in einer anormalen Situation, nach der es seinen eigenen Normen zufolge kein Bedürfnis hat, die es nicht gewählt hat und die ihm aufgezwungen wird.“24 Mit diesem Punkt ist nun ein Übergang markiert, der eine Alternative zum ökologischen Ansatz durch ein bestimmtes Verständnis von Umwelt andeutet. Betrachten wir deshalb diese Opposition zum ecological approach auf das Labor durch Verwendung des Umweltgedankens von Uexküll etwas genauer.
2. Der Umwelten-Ansatz und die Idee der Forschungsumwelten Für die folgenden Überlegungen ist Canguilhems Einwand nicht primär wegen der mit ihm verbundenen Kritik am Labor als Untersuchungsort von Relevanz (wiewohl auch dieser Aspekt für die Forschungsumwelten der Tierforschung von Bedeutung ist). Uns geht es vielmehr vorrangig um die generellere Frage nach der sich aus dem Bezug auf Uexküll ergebenden besonderen Perspektive auf die 22 G. Canguilhem, „Das Lebendige und sein Milieu“, in: ders., Die Erkenntnis des Lebendigen (frz. 1965), Berlin 2009, S. 233-280. 23 Ebd., S. 265. 24 Ebd., S. 264.
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Rolle von Lebewesen in ihren Umwelten und das aus diesem Ansatz resultierende neue Verständnis von Forschungskontexten. Gedacht ist dabei an ein Ergänzungsverhältnis, das aus dem ecological ap proach insbesondere dessen spatiale und kontextuelle Ausrichtung übernimmt. Was passiert aber, wenn solche Forschungskontexte nicht ausschließlich unter den Vorzeichen des ecological approach, sondern zudem im Sinne eines (mit Uexküll gedachten) umwel ten approach betrachtet werden? Was könnte das Spezifikum eines solchen umwelten approach sein; worin unterschiede er sich von dem skizzierten ecological approach? Welche neuen Aspekte des Forschungszusammenhanges träten unter dem modifizierten Ansatz hervor? Um diesen Wandel und das mit ihm verbundene neue Bild der Forschungssituation würdigen zu können, gilt es (trotz der letztlich verbindenden Absicht), die Unterschiede zwischen beiden Ansätzen zu akzentuieren und dazu deren (gleichfalls existierende) Gemeinsamkeiten zunächst in der Betrachtung zurück zu stellen. Nach unserer Auffassung liefert der Umweltansatz etwas, das der Ökologieansatz nicht liefert. Dazu ist vorauszusetzen, dass nach den gängigen Definitionen „Ökologie“25 eine Naturwissenschaft 25 Vgl. G. Toepfer, „Ökologie“, in: ders., Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, 3 Bde., Stuttgart, Wei mar 2011, Bd. 2, S. 681-714, hier S. 684, Tab. 199. Obwohl die Definitionen und Konzepte von Ökologie vielfältig sind, entspricht dieses auf materielle und en ergetische Ereignisse in Raum und Zeit konzentrierte (naturwissenschaftliche) Verständnis von Ökologie doch den gängigen Lehrbuchauffassungen. Dazu zwei Beispiele als pars pro toto. E. P. Odum (Grundlagen der Ökologie. Band 1: Grund lagen (engl. 1971, 3. Aufl. 1973), Stuttgart, New York 1980, S. 3 ff.) zitiert zunächst die tradierten Definitionen von Ökologie – etwa die, Ökologie sei die „Lehre von den Wechselbeziehungen der Organismen oder Gruppen von Organismen zu ihrer Umwelt“ (ebd., S. 4) –, um dann unter dem Gesichtspunkt der Organisa tionsstufen und der Funktionssysteme vor allem die Bedeutung von Stoffkreis läufen und Energieflüssen zwischen Organismen und Ökosystemen hervorzu heben (S. 6). Auch M. Begon, J. L. Harper, C. R. Townsend (Ökologie. Individuen, Populationen, Lebensgemeinschaften (engl. 1990), Basel, Boston, Berlin 1991, S. XXIII ff.) nennen die gängigen Definitionen – etwa die von Krebs, nach der Ökologie „die wissenschaftliche Untersuchung jener Wechselbeziehungen“ ist, „welche Verbreitung und Häufigkeit von Organismen bestimmen“ –, um dann unter „Umwelt“ die Faktoren und Phänomene außerhalb eines Organismus zu verstehen (abiotische und biotische), die die Organismen in dieser Hinsicht be einflussen. Auf der Ebene von Lebensgemeinschaften gilt hier: „Die Ökologie von Lebensgemeinschaften behandelt deren Zusammensetzung oder Struktur, und interessiert sich für den Fluß von Energie, Nährstoffen und anderen chemi schen Stoffen durch die Lebensgemeinschaften, also mit ihrem Funktionieren.“ (Ebd., S. XXIII f., Hervorhebungen im Original) „Umwelt“ meint unter diesen
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von den sich im Fluss von Materie und Energie äußernden Wechselbeziehungen zwischen Lebewesen und deren Umgebungen ist. Die sich in Struktur und Funktion niederschlagenden Interaktionen finden so zwischen Lebewesen (Organismen) als natürlichen Bildungen und den physikalischen und biologischen Faktoren ihrer Umgebung statt. Erst mit der Bezugnahme auf Uexkülls Umweltkonzept – und nicht bereits mit dem Verweis auf diesen ökologischen Zusammenhang im naturwissenschaftlichen Sinne oder mit dem Verständnis der Forschungssituation als einem „ökologischen“ System interagierender Glieder im technischen oder soziologischen Sinne – wird die oben von Kohler (und Haraway) unterstellte Funktion der Lebewesen als „aktive Spieler“ oder als „Mitarbeitende“ im Forschungsprozess legitim. Erst im Uexküllschen Rahmen des Umweltgedankens – und nicht im Rahmen des Gedankens von Ökosystemen unter naturwissenschaftlichen Vorzeichen – kann von einem Subjektstatus von Lebewesen ausgegangen und gesprochen werden. Erst im Rahmen des Umweltkonzepts werden die menschlichen Beobachtenden als körperlich-leiblich verfasste Beobachtende in die metatheoretische Betrachtung mit einbezogen: „Ein wesentlicher Unterschied der Umweltforschung gegenüber allen anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen betrifft ihre Forderung, den Standpunkt des Beobachters in das Bezugssystem der Forschung mit einzusetzen.“26 Erst im Rahmen des Umweltkonzepts wird es zudem möglich, die besondere Relation zwischen diesen menschlichen Forschenden als Beobachtende und als Lebewesen und den von ihnen erforschten Lebewesen in ihrer wechselseitigen Verwobenheit als ein Lebenszusammenhang angemessen zu erfassen. Mit „Lebenszusammenhang“ ist hier nicht allein die auch in ökologischer Ausrichtung erfassbare Tatsache gemeint, dass Voraussetzungen also eine immer auch physikalisch definierbare Umgebung der Lebewesen (ebd., S. 5 ff.). Zugleich liefert diese Umgebung die Rahmenbe dingungen evolutionärer Entwicklung: „Die Ökologie ist das Umfeld, in dem sich die Evolution vollzieht.“ (Ebd., S. 7) Wichtigstes Caveat für diesen Ansatz: „Wenn wir die Diversität der Natur betrachten, dann ist es schwierig, nicht von Gefühlen der Bewunderung und Verzauberung überwältigt zu werden, da alles so perfekt erscheint. Wir müssen uns jedoch daran erinnern, daß die Fähigkeit sich zu wundern und zu bewundern Ausdruck unserer eigenen Natur ist. Als Wissenschaftler sucht der Ökologe nach Ursachen und Wirkungen […].“ 26 So die Anmerkung von T. v. Uexküll, „Die Umweltforschung als subjekt- und objektumgreifende Naturforschung“, in: J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen (1934), Frankfurt a. M. 1970, Einleitung S. xxx.
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Forschende und Erforschte biologisch betrachtet Lebewesen sind, die in stofflicher und energetischer Beziehung zu ihrer Umgebung stehen, sondern zudem die epistemische und methodische Tatsache, dass auf der Seite der Forschenden das Wissen über diese geteilte ontologische Qualität im Forschungsvollzug eine Rolle spielt und dass auf der Seite der Erforschten die Tatsache der Lebendigkeit auch mit Blick auf die von Uexküll betonte „Subjektivität“ (je nach Organisationshöhe der Lebewesen und deren Verhalten) zu Buche schlägt. Dieses ist letztlich auch die wesentliche Einsicht einer Philosophie der Biologie, die ihren Gegenstand „Biologie“ mit einem ecological-historical approach erfassen möchte, wie es Marjorie Grene und David Depew propagieren. Auch diese beiden Autoren beziehen sich für ihr metatheoretisches Konzept auf einen Befund aus der Biologie, allerdings ist dieser der Tendenz nach etwas anders gelagert als die bisherigen Beispiele es zum Ausdruck bringen (und ist damit mehr als ein ökologischer Befund). Grene und Depew konstatieren nämlich: „[…] it is difficult for biologists to deny the reality of living things. Given this insight, moreover, they can more easily recognize that they are themselves living things among living things. […] We find ourselves as living things in an environment that […] has permitted life.“27 Eine Metaperspektive auf die Tierforschung einzunehmen, die nicht mehr dem ecological approach entspricht, sondern dem um welten approach und die folglich nicht mehr von einer Ökologie des Labors, sondern von einer Forschungsumwelt des Labors ausgeht, hat also bei Beibehaltung bestimmter konzeptioneller Vorannahmen deutliche Verschiebungen in anderen Bereichen der Rahmen annahmen zur Folge. Beibehalten wird insbesondere die Annahme aller kontextuellen und spatialen Programme, Wissenschaften seien stets auch unter Rücksicht auf deren je situative Verfasstheit als Formen kollektiver Praxis zu verstehen, deren immer auch materiale Ausprägung bestimmte Konstellationen von Dingen, Ereignissen und Relationen in Raum und Zeit erzeugt. Die mit der situativen Verfasstheit einhergehende Pluralisierungstendenz haben ecologi cal und umwelten approach ebenfalls gemeinsam, wobei diese Tendenz allerdings durch die Referenzkonzeption Uexkülls im Umwelten-Ansatz besonders akzentuiert wird. Da es zu diesen materialen Ausprägungen im Fall der Tierforschung gehört, dass Forschende 27 M. Grene, D. Depew, The Philosophy of Biology. An Episodic History, Cambridge 2004, S. 351.
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und Forschungsobjekte solche materielle Einheiten sind, die näherhin als Lebewesen zu bestimmen sind, hat die räumliche Situierung in diesem Fall Qualitäten, wie sie auch in Ökosystemen zwischen Lebewesen bestehen. Auch die Interaktion von Forschenden und Erforschten in der Tierforschung kann deshalb als eine Form der ökologischen Interaktion zwischen Lebewesen verstanden werden. Das Novum des Ansatzes der Forschungsumwelten ergibt sich dann insbesondere dahingehend, so sollen es die folgenden Ausführungen zeigen, dass mit dieser spezifischen materiellen oder ontologischen Konstellation auch epistemische oder methodologische Momente einhergehen, die angemessen vor allem mit einem an Uexküll angelehnten Umweltmodell erfasst werden können, dem naturwissenschaftlichen Ökologiemodell aber weitgehend entgehen müssen. Etwas überpointiert formuliert heißt das: Forschende als Lebewesen qua Subjekt-Objekte der Forschungshandlung treffen in ihrer Forschungshandlung auf erforschte Lebewesen, die als Forschungsgegenstände mit Subjektivität Objekt-Subjekte derselben Forschungshandlung sind. Die sich aus dieser besonderen Konfrontation von menschlichen Forschenden mit erforschten Tieren als Selbst-Anderen ergebenden Rückbezüglichkeiten und Dialektiken sucht das Konzept der Forschungsumwelt zu erfassen. Um die angedeutete konzeptionelle Verschiebung beim Übergang vom ökologischen zum umweltbezogenen Ansatz plausibel zu machen und sie weiter zu erläutern, sind zwei vorbereitende Schritte angebracht. In einem ersten Schritt ist anhand von Canguilhems ideengeschichtlicher Untersuchung zwischen verschiedenen Konzepten von Milieu zu differenzieren, um so das Spezifikum von Uexkülls Ansatz herauszustellen. Dieses kann anschließend in einem zweiten Schritt unter Bezug auf Uexkülls eigene Verwendung des Begriffes „Umwelt“ weiter konkretisiert werden,28 um so auch das mit diesem Begriff arbeitende Konzept der Forschungsumwelten näher zu erläutern. Auf der Basis einer solchen Vorbereitung kann dann anhand eines historischen Beispiels aus der Verhaltensforschung (das in engem Bezug zu Uexkülls Ideen steht) dieses Konzept mit Leben gefüllt werden und es können drei zentrale Aspekte des Ansatzes deutlicher hervorgehoben werden (dieses geschieht in Abschnitt 3 dieses Beitrags). 28 Vgl. dazu auch M. Tønessen, R. Magnus, C. Brentari, „The Biosemiotic Glossary Project: Umwelt“, in: Biosemiotics, Online 15.03.2016, DOI 10.1007/s12304016-9255-6.
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Zunächst ist in einem ersten Schritt mit Canguilhem die Besonderheit der Anwendung des Milieugedankens auf die Umweltrelation von Lebewesen herauszustellen.29 Canguilhem verweist darauf, dass „Milieu“ als umfassende Kategorie des zeitgenössischen Denkens eine wechselvolle Ideengeschichte durchlaufen hat, in deren Abfolge der Milieugedanke eine ganze Reihe von Umkehrungen und Umdeutungen erfuhr. Seine historische Rekonstruktion bildet für Canguilhem selbst Grundlage einer synoptischen Untersuchung, die letztlich das Konzept des Milieus für eine Naturphilosophie fruchtbar machen soll. Für unseren Zweck müssen wir hier jedoch diese Rekonstruktion nur in den für unser Anliegen wichtigen Etappen und Einsichten darlegen. Insbesondere ist für die folgenden Überlegungen von Bedeutung, dass die historischen Umdeutungen nach Canguilhem auch eine Umkehrung des Verhältnisses zwischen Organismen und dem Milieu zur Folge haben – aus einer milieuzentrierten Betrachtung entwickelt sich eine organismuszentrierte. Bedeutsam ist zudem, dass der Begriff des Milieus ursprünglich aus der mechanischen Sphäre physikalischer Konzepte entstammt und erst nachträglich auf die Biologie übertragen wird. Bereits in seiner ursprünglichen mechanisch-physikalischen Verwendung besitzt „Milieu“ jedoch die für unsere Absicht wichtige relationale Charakteristik – „Milieu“ ist ein Relationsbegriff und steht schon bei Newton für ein „Zwischen-zwei-Zentren“ sein, ist als Fluidum die Mitte und Vermittlung von physikalischen Körpern. Immer wieder im Verlauf der Ideengeschichte wird dieser relationale Sinn allerdings aufgehoben und „Milieu“ wird zu einer absoluten, an sich seiende Größe umgedeutet – eine Entwicklung die Canguilhem in ihren Folgen kritisiert30 und die auch für unsere Verwendung des Gedankens auszuschließen wäre. Die ursprünglich kosmologisch-physikalische Verwendung wird dann historisch bei Buffon – und dieses ist der Übergangspunkt zu einer biologischen Verwendung des Begriffes für Beziehungen zwischen Organismen und deren Umgebung – mit anthropogeographischen Überlegungen verwoben.31 Dabei ist jedoch festzustellen, dass die mechanische 29 G. Canguilhem, „Das Lebendige und sein Milieu“. 30 Ebd., S. 236. 31 Ebd., S. 238. Canguilhem nimmt diese Fusion zum Anlass für die Frage: „Muss die Tatsache, dass sich zwei oder mehrere Leitideen zu einem gegebenen Moment in ein und derselben Theorie [hier von Buffon, K. K.] zusammenfügen, nicht als Zeichen dafür interpretiert werden, dass sie, so verschieden sie auch im Moment der Analyse erscheinen mögen, am Ende der Analyse einen gemeinsamen Ur
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Note zunächst auch im neuen Anwendungsbereich erhalten bleibt, etwa wenn im 19. Jahrhundert bei Comte das Milieu zum universalen und abstrakten Erklärungsbegriff in der Biologie erklärt wird. Jedoch deutet sich in dessen Überlegung bereits eine Ablösung von der Annahme einer gerichteten Bezugnahme von Seiten des Milieus auf den Organismus an und eine dialektische Konzeption der Beziehungen wird erkennbar – eine Erweiterung, die Comte selbst allerdings noch, weil er nach einer quantifizierbaren und mathematisch fassbaren Form der Beziehung sucht, für das Lebendige im Allgemeinen als unerheblich erachtet.32 Diese absolute und unbestimmte Verwendung des Milieubegriffs führt auch dazu, dass das Äquivalent des Milieus die „cirçonstances“, also die äußeren und materiellen Umstände der Umgebung, werden. Eine weitere Modifikation ist von Bedeutung: Weisen die Überlegungen von Lamarck und St. Hilaire noch auf die Intuition einer zentrierten Organisation hin (nach dem Vorbild des Kreises oder der Kugel), so kommt es im Zuge der Verallgemeinerung des Milieus als einem reinen Beziehungssystem zur Vorstellung einer kontinuierlichen, homogenen, unendlich ausgedehnten Ausbildung des Milieus (nach dem Vorbild der Fläche). Dieser absolut gesetzte Milieubegriff anonymisiert alle in Beziehung stehenden Elemente und Bewegungen. Für die Relation zwischen Organismus und Umwelt resultiert eine Deutung der Einflussnahme etwa als äußere Konditionierung oder aber ein Verständnis der Entwicklungen von Lebewesen und deren Umgebungen als lediglich asynchrone und unverbundene Ereignisreihen. Noch im Ansatz Darwins wird in dieser Weise die Rolle des Milieus darauf reduziert, mittels eines Mechanismus zur Infragestellung der Unterschiede (Selektion) das Schlechte zu eliminieren, ohne Anteil an der Erzeugung neuer Wesen zu haben, die in diesem Konzept ebenfalls als Mechanismus gedeutet wird (Variation).33 In den Programmen der Konditionierung (Behaviorismus) oder der Selektionierung (Darwinismus) bleibt für Canguilhem jedoch die Frage offen, „wo hier das Lebendige ist. Wir sehen zwar Individuen, doch sie sind Objekte; wir sehen Gesten, doch sie sind Bewegungen; wir sehen Zentren, doch sie sind Umgebungen; wir sprung haben, dessen Sinn und oft sogar dessen Existenz vergessen wird, wenn man die einzelnen Teile der Theorie getrennt betrachtet?“ (Ebd., S. 239) 32 Ebd., S. 240. 33 Ebd., S. 249.
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sehen Maschinisten, doch sie sind Maschinen.“34 Bereits in anthropogeographischer Hinsicht, vor allem jedoch bei einer auf biologische Phänomene gerichteten Betrachtung, erweist sich wegen der Komplexität der Verhältnisse und deren qualitativer Verfasstheit die quantifizierende und absolut gesetzte Konzeption des Milieus als verfehlt. Zusätzlich kehrt sich die Beziehung zwischen Milieu und Lebewesen um.35 Diese Umkehrung – und dieser Aspekt betrifft nun direkt unser Thema – hat sich für Canguilhem insbesondere im Bereich der Tierpsychologie und der Verhaltensforschung vollzogen. Bei Jacques Loeb (1859–1924), Herbert Spencer Jennings (1864–1947), John B. Watson (1878–1958), Robert Jacob Kantor (1888–1984) und Edward C. Tolman (1886–1959) wird demnach der Organismus zunächst nach dem Vorbild der Maschine als einem von außen bedingten Determinismus unterworfen verstanden. Zunehmend wächst jedoch die Einsicht, dass dem Organismus „nicht alles aufgezwungen werden kann, weil seine Existenz als Organismus darin besteht, sich zu den Dingen gemäß bestimmten ihm eigenen Orientierungen in Beziehung zu setzen.“36 Lebewesen reagieren als Ganze auf Objekte in ihrer Ganzheit. Im Kontext der Gestalttheorie und insbesondere mit den Überlegungen Jakob von Uexkülls kommt es dann zu einer Umkehrung der Verhältnisse von Organismen und Milieu – nicht mehr wird die Umgebung als den Organismus bestimmende Summe von Außeneinflüssen verstanden, sondern der Organismus als determinierendes Zentrum aller Bezogenheiten auf das Milieu. Vom biologischen Standpunkt aus betrachtet – so Canguilhem – ist der Zusammenhang zwischen dem Lebendigen und seinem Milieu vergleichbar mit dem Zusammenhang zwischen den Teilen und dem Ganzen des Organismus. Dieser biologische Zusammenhang ist ein funktionaler und folglich ein beweglicher. Die Umwelt eines Tieres ist das Milieu, „das in Bezug auf jenes Subjekt vitaler Werte zentriert ist, das im Wesentlichen das Lebewesen ausmacht.“37 Das Lebendige erscheint in dieser Perspektive nicht als ein Objekt, sondern als ein Charakter in der Ordnung der Werte. „Leben heißt ausstrahlen und das Milieu ausgehend von einem Bezugszentrum organisieren, das selbst nicht auf etwas bezogen werden kann, ohne 34 35 36 37
Ebd., S. 255. Ebd., S. 257. Ebd., S. 258. Ebd., S. 262.
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seine ursprüngliche Bedeutung zu verlieren.“38 Für Canguilhem besteht die naturphilosophische Bedeutung dieser Einsichten in der Tatsache, dass eine wechselseitige Beziehung existiert: Das Milieu, „von dem der Organismus abhängt“, wird „durch diesen selbst strukturiert und organisiert.“39 Lebewesen werden zu Zentren der von ihnen ausgehenden Beziehungen zum Milieu. Diese Einsicht wird durch den Anspruch der Wissenschaften, die Zentren der Organisation, Anpassung und Erfindung – also die Lebewesen – in der Anonymität der physikalischen und chemischen Umgebung aufzulösen, verkannt. Für uns ist dieser naturphilosophische Hintergrund insbesondere in methodologischer Hinsicht von Bedeutung. Mit diesem Ergebnis entsteht ein fließender Übergang zum zweiten Schritt der vorbereitenden Rekonstruktion: der Darlegung des Umweltkonzeptes bei Uexküll und dessen Anwendung auf die Wissenschaft als Forschungsumwelt. Betrachten wir die Überlegungen von Uexküll im Detail, dann formuliert er seinen Begriff der „Umwelt“ in deutlicher Abgrenzung zum Begriff der „Umgebung“.40 Verständlich wird Uexkülls Unterscheidung, wenn man an die Konstellation und das Bezugssystem eines wissenschaftlichen Beobachtungsvorganges denkt, bei der menschliche Beobachtende von ihnen beobachtete Tiere in deren Beziehung auf bestimmte Momente einer beide Glieder des Beobachtungsvorgangs umfassenden (wie immer gearteten) ‚natürlichen‘ Wirklichkeit untersuchen. In dieser Konstellation ist dann die Umwelt eines Tieres deshalb etwas anderes als die Umgebung (nämlich nach Uexküll nur ein Ausschnitt von dieser), weil die Umgebung eben der Umwelt der menschlichen Beobachtenden entspricht. „Umgebung“ meint die mit menschli chen Erkenntnismitteln erfassbaren (etwa biologischen Untersuchungsverfahren zugänglichen) Faktoren der die Lebewesen umgebenden Wirklichkeit, die wir im biologischen Beobachtungsprozess als „Reizquellen“ deuten, welche auf die Sinnessysteme von Tieren einwirken und bestimmte Verhaltensweisen als Reaktionen zur Folge haben. „Umwelt“ steht im Gegensatz dazu für die von den Tieren selbst erlebte (den menschlichen Beobachtenden entzogene) Dimension „innerer“ Ereignisse, mit der aus dem Außenmedium 38 Ebd., S. 266. 39 Ebd., S. 276. 40 Vgl. J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin 1909, S. 249; J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, S. 15; J. v. Uexküll, Die Lebenslehre, Potsdam 1930, S. 129 ff.
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einwirkende Einflüsse (Reize) von den Tieren erfahren werden und dann ebenfalls „innere“ Prozesse zur Folge haben, welche wiederum Handlungen (Reaktionen) der Tiere veranlassen, die schließlich Veränderungen im Außenmedium erzeugen. Für Uexküll sind die von menschlichen Beobachtenden konstatierbaren („objektiven“) Faktoren des Außenmediums der Tiere (Reizquelle und Reaktionsbezug) in Begriffen der Umwelt quasi durch die Tiere aus sich selbst ins Außenmedium hinausverlagerte Merk- und Wirkmale. Zudem sind beispielsweise bereits durch die Bauart der Rezeptoren diejenigen Faktoren (durch die Tiere) ausgewählt, die auf sie überhaupt wirken können.41 Uexküll verwendet „Umwelt“ somit als technischen Begriff für diejenigen Eigenschaften (Merkmale oder Wirkmale) einer ab strakten Wirklichkeit, die für das infrage stehende Lebewesen (arttypisch) relevant sind. Umwelt ist ein subjektives Erzeugnis dieser Lebewesen.42 Uexküll investiert hierfür eine idealistische Deutung43 41 J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 55. 42 Wie es M. Merleau-Ponty (Phänomenologie der Wahrnehmung (frz. 1945), Ber lin 1974, S. 102) ausdrückt, ist dieses der zentrale Unterschied in den Beziehun gen zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt und zwischen unbelebten Objekten mit dem sie umgebenden Medium: „Der Unterschied ist […], daß der Öltropfen sich gegebenen äußeren Kräften anpaßt, indessen das Lebewesen selbst die Nor men seiner Umwelt entwirft und selbst die Bedingungen seiner Lebensprobleme setzt; allerdings handelt es sich bei ihm um ein Apriori der Spezies, nicht um einen personalen Entschluß.“ Zur Bezugnahme von Merleau-Ponty auf Uex küll vgl. auch dessen Vorlesung Die Natur. Vorlesungen am Collège de France 1956–1960, München 2000, S. 232 ff. sowie B. Buchanan, Onto-Ethologies. The Animal Environments of Uexküll, Heidegger, Merleau-Ponty, and Deleuze, New York 2008. 43 Vgl. zu Uexkülls Bezügen insbesondere auf die Philosophie Kants G. v. Uexküll, Jakob von Uexküll. Seine Welt und seine Umwelt, Hamburg 1964, S. 45, S. 220 ff. In den Streifzügen (J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, S. 14) betont Uexküll, mit der Lehre vom Funktions kreis habe „die Biologie endgültig Anschluß an die Lehre Kants gewonnen, die sie in der Umweltlehre durch Betonung der entscheidenden Rolle der Subjekte naturwissenschaftlich ausbeuten will.“ Auch nach der Theoretischen Biologie (J. v. Uexküll, Theoretische Biologie, S. 9 f.) besteht die Aufgabe der Biologie darin, „die Ergebnisse der Forschungen Kants nach zwei Richtungen zu erwei tern: 1. Die Rolle unseres Körpers, besonders unserer Sinnesorgane und unseres Zentralnervensystems mit zu berücksichtigen und 2. die Beziehungen anderer Subjekte (der Tiere) zu den Gegenständen zu erforschen.“ Für Uexküll ergänzt seine Lehre von der Umwelt die zwei Mannigfaltigkeiten Kants (räumliche und zeitliche) durch eine dritte „Mannigfaltigkeit der Umwelten“ (ebd., S. 340 f.). Vgl. auch J. v. Uexküll, Der Sinn des Lebens. Gedanken über die Aufgaben der Biologie, Godesberg 1947, S. 6 f. Allerdings gibt Uexküll („Der Organismus und
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des Bezugs von Lebewesen auf deren jeweilige Umwelten, wonach jedes Tier ein intentionales Subjekt ist und diese Tiersubjekte planmäßig (quasi apriorisch) in ihre Umwelten eingepasst sind; eine Einpassung, die schematisch der so genannte Funktionskreis beschreibt.44 Für unsere Verwendung des Uexküllschen Modells in Ergänzung und Erweiterung des ecological approach ist diese auf lebendige Subjekte gerichtete Perspektive von besonderer Relevanz. Stellen wir deshalb Uexkülls Überlegungen dazu genauer vor. Wie er an vielen Stellen seines Werks betont, ist für ihn die Hervorhebung der Subjektnatur der Organismen das zentrale Kennzeichen seiner umweltwissenschaftlichen Biologie. Sie unterscheidet diese von der naturwissenschaftlich-physiologisch ausgerichteten Biologie (die auch dem ecological approach zugrunde läge): „Für den Physiologen ist ein jedes Lebewesen ein Objekt, das sich in seiner Menschenwelt befindet. […] Der Biologe hingegen gibt sich davon Rechenschaft, daß ein jedes Lebewesen ein Subjekt ist, das in seiner eigenen Welt lebt, deren Mittelpunkt es bildet.“45 Nach Uexküll besteht das grundlegende Kennzeichen dieses Subjektstatus in der (vom passiven Objektstatus unterschiedenen) aktiven Bezugnahme auf die Umwelt. Diese Aktivität äußert sich bereits in Situationen, in denen Außeneinflüsse auf das biologische System wirken (in der Merksphäre etwa bei Reizaufnahme) und nicht erst, wenn sich Lebewesen durch eigene Bewegungen aktiv mit der Umwelt auseinandersetzten (in der Wirksphäre). Schon im ersten Fall ist die Reaktion lebender Systeme dem Wesen nach unabhängig von der Ursache. Die Geschichte dieses Gedankens führt in die Philosophie und Biologie des frühen 19. Jahrhunderts zurück und findet ihren Ausdruck auch in Johannes Müllers (1801– 1858) sinnesphysiologischem Gesetz der spezifischen Sinnesenergie
die Umwelt“, in: H. Driesch, H. Woltereck (Hrsg.), Das Lebensproblem im Lichte der modernen Forschung, Leipzig 1931, S. 189-227, hier S. 195) auch zu bedenken, dass die Biologie nicht die direkte Fortsetzung der Lehren Kants darstellt, „denn Biologie ist keine Philosophie, sondern Naturwissenschaft“. 44 J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Men schen, S. 11. 45 Ebd., S. 7. Es ist zu beachten, dass die Bezugnahme auf Uexkülls Gedanken zum Subjektstatus von Lebewesen für unseren Zweck nicht unter fachwissenschaftlich-biologischen, sondern allein unter metatheoretisch-methodologischen Ge sichtspunkten relevant ist. Nicht favorisieren wir eine Biologie à la Uexküll, sondern eine Wissenschaftsforschung unter der Leitidee von Uexkülls Umweltbegriff.
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(1826),46 welches wiederum Hermann von Helmholtz’ (1821–1894) Begriff der Empfindungsqualitäten beeinflusst hat.47 Zuvor hatte in der Philosophie bereits Arthur Schopenhauer in seiner Schrift Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (1813) betont, man müsse hinsichtlich der determinierenden Qualität der Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen „Ursache“, „Reiz“ und „Motiv“ unterscheiden. „Reiz“ sei die typische Form der Verursachung im Bereich des Lebendigen.48 In gleicher Weise gilt auch für Uexküll – der sich dazu direkt auf Johannes Müller bezieht und diesen zitiert –, dass im Bereich der lebendigen Bildungen „das Ursächliche in dem, auf das es wirkt, immer nur eine Qualität des letzteren zur Erscheinung bringt, die dem Wesen nach unabhängig ist von der Art der Ursache. Die Dinge, die sich so gegen ihre Ursachen als gegen Reize verhalten, sind die organischen Wesen.“49 Da solche Unabhängigkeit von äußeren Ursachen für Uexküll bereits auf der Zellebene existiert, ist ihm schon die Zelle ein „Autonom“.50 Zellen beantworten demnach äußere Einwirkungen im Sinne ihrer eigenen Systembedingungen, d. h. als individuelle Ganzheiten mit ihrer spezifischen Gegenwirkung. „Sie alle verhalten sich wie Subjekte, welche alle objektiven Einwirkungen wie den gleichen subjektiven Reiz behandeln.“51 Dieser Rückbezug organischer Reaktionen auf die eigenen innewohnenden Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten zeigt eine planvolle Abstimmung einzelner Ereignisse auf den Gesamtzusammenhang des Lebewesens und des46 J. v. Müller, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes, Leipzig 1826. Zu Uexkülls Rezeption von Müller vgl. J. v. Uexküll, Der Sinn des Lebens. Ge danken über die Aufgaben der Biologie mitgeteilt in einer Interpretation der zu Bonn 1824 gehaltenen Vorlesung des Johannes Müller, Godesberg 1947. Zu Müller vgl. auch T. Lenoir, „Helmholtz, Müller und die Erziehung der Sinne“, in: M. Hagner, B. Wahrig-Schmidt (Hrsg.), Johannes Müller und die Philosophie, Berlin 1992, S. 207-222. 47 H. v. Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grund lage für die Theorie der Musik, Braunschweig 1863. Vgl. dazu J. v. Uexküll, Theoretische Biologie, S. 7 ff. 48 Vgl. A. Schopenhauer, „Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“ (21847), in: A. Schopenhauer, Werke in fünf Bänden, hrsg. von L. Lüd gehaus, Zürich 1988, Bd. 3, S. 7-168, hier S. 59. 49 J. v. Uexküll, „Die Rolle des Subjekts in der Biologie“ (1931), in: J. v. Uexküll, Kompositionslehre der Natur. Biologie als undogmatische Naturwissenschaft. Ausgewählte Schriften, hrsg. von T. v. Uexküll, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1980, S. 343-355, hier S. 346. 50 Ebd. 51 Ebd., S. 347.
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sen Bedürfnisse. Dieses kann durchaus in Analogie zur planvollen und nützlichen Gestaltung menschlicher Artefakte gedeutet werden. In seiner eigenen Terminologie spricht Uexküll diesbezüglich von einem „Nutzton“ (der spezifiziert werden kann – etwa im Sinne eines „Sitztons“ bei einem Stuhl)52 und unterscheidet: „Der Unterschied zwischen den menschlichen und den biologischen Mechanismen besteht nun darin, daß die menschlichen Erzeugnisse einen menschlichen Nutzton, die biologischen Erzeugnisse hingegen einen Eigenton besitzen. Soweit es sich um individuell abgetrennte Subjekte handelt […] kann man direkt von einem biologischen IchTon reden.“53 Die aus dem Gesetz der spezifischen Sinnesenergie abgeleitete (und auf Phänomene des Stoffwechsels und des Verhaltens übertragene) Unabhängigkeit biologischer Reaktionen von den Außeneinflüssen ist die Basis für Uexkülls – im Funktionskreis ausgedrücktes – gerichtetes Verständnis der Lebewesen-Umwelt-Beziehungen, was maßgeblich durch die Einführung des Subjektes in biologische Überlegungen bestimmt ist. Auch hier gilt wieder: „Durch die Einführung des Subjektes als eines integrierenden Bestandteiles des organischen Bauplanes trennt sich die Biologie scharf von der Physiologie. Das Subjekt ist der neue Naturfaktor, den die Biologie in die Naturwissenschaft einführt.“54 Insofern sind die Reaktionen von Lebewesen auf Umwelteinflüsse keine Reflexe, sondern stets planvolle Funktionskreise, „die zugleich Tier und Umwelt in einen sinnvollen Zusammenhang zueinander bringen.“55 Ein solcher Ansatz, der „jedes Tier als ein[en] Mittelpunkt seiner Welt stehendes Subjekt betrachtet“,56 eröffnet der Biologie – anders als bei der Behandlung von Lebewesen als bloße Objekte, wie sie die Theorie der Tropismen von Jacques Loeb oder der auf reine Bewegungsanalyse festgelegte Behaviorismus vornehmen – zumindest einen Deutungsrahmen, in dem die qualitative Dimension des Innenlebens von Organismen eine Rolle spielen kann. Ein unmittelbarer sensorischer Zugang auf diese Erfahrungswelt anderer Lebewesen liegt zwar für Uexküll jenseits der menschlichen Möglichkeiten (auch der naturwissenschaftlich-methodischen). Diesbezüglich ist nur der vermittelte Zugang 52 Ebd., S. 348. 53 Ebd., S. 348 f. 54 Ebd., S. 353. 55 Ebd. 56 Ebd., S. 355.
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legitim: Wir können feststellen, welche Eigenschaften eines Objekts dem Tiersubjekt als Merkmalsträger dienen und so erfahren wir, „welche Qualitäten unserer Umwelt in die Umwelten der Tiere Eingang finden und in welchem Zusammenhange das geschieht.“57 Mit diesem Ansatz grenzt sich Uexküll vom alternativen Konzept einer „Einfühlung in die Tierseele“58 ab – für ihn verlegen wir mit dem skizzierten Ansatz den Sinn der von uns beobachteten Handlung nicht unmittelbar in das handelnde Subjekt, sondern ohne weiteres in das Objekt, an dem die Handlung durchgeführt wird. Aus der Handlung selbst schließen wir auf die Bedeutung, die das Objekt für das handelnde Subjekt besitzt.59 Wenn wir das tun, dann gibt uns der Bauplan Aufschluss über die aktive und die passive Rolle, die Lebewesen in ihrer Umwelt spielen.60 Ein Bauplan ist insofern kein rein morphologisches oder strukturelles Schema, sondern vielmehr ein funktionelles.61 „Der Bauplan zeigt uns, in welcher Form die Prozesse innerhalb des untersuchten Gegenstandes ablaufen.“62 Dieser Bauplan schafft selbsttätig die Umwelt der Tiere.63 Bauplan und Umwelt bedingen einander wechselseitig – insofern wäre die theoretische Isolation der Tiere von ihrer Umwelt durch die Forschenden eine fehlgeleitete Abstraktion.64 Somit schlägt sich die Subjektivität der Lebewesen und die über sie möglich werdende Einpassung in eine Umwelt – und das erlaubt nach Uexküll einen methodischen Zugang auf das Umweltapriori vermittels naturwissenschaftlicher (anatomischer oder physiologischer) Verfahren – im Bauplan der Tiere nieder. Mit dieser Überlegung versucht Uexküll, die durch sein Konzept der Umwelt entstehende subjektivistische Note – im Laufe seiner 57 Ebd. 58 J. v. Uexküll, „Vorschläge zu einer subjektbezogenen Nomenklatur in der Bio logie“ (1935), in: J. v. Uexküll, Kompositionslehre der Natur. Biologie als un dogmatische Naturwissenschaft. Ausgewählte Schriften, hrsg. von T. v. Uexküll, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1980, S. 129-142, hier S. 132. 59 Ebd., S. 133. 60 J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 5. 61 J. v. Uexküll, Theoretische Biologie, S. 136. Insofern steht der Bauplan für Uexküll auch für einen immateriellen Faktor, der sich sowohl in der (morphologischen) Anordnung der Teile in einem Ganzen als auch die (funktionellen) Leistungen der Teile im „Gesamtgetriebe“ niederschlägt (ebd., S. 157). 62 J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 12. 63 Ebd., S. 5. 64 Ebd., S. 196: „Man kann sich aber nicht ein Tier [i]soliert von seiner Umwelt denken, […]“.
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eigenen intellektuellen Entwicklung mit variierenden Mitteln und Konzepten65 – mit dem Anspruch einer wissenschaftlich allgemeingültigen („objektiven“) Zugangsweise zu versöhnen.66 Insofern gilt auch nach Uexkülls Theoretischer Biologie,67 dass beim Menschen der „subjektive Standpunkt“ und der „objektive Maßstab“ gleichermaßen auftreten können. Meine menschliche Umwelt, die sich dem Inhalt und der Form nach aus meiner Person als „Weltmittelpunkt“ bildet und die Welt, wie ich sie mir „ohne Rücksicht auf meine Person, in Gedanken vorstelle“, existieren nach Uexküll beim Menschen neben einander, auch wenn sie miteinander in Widerspruch treten können. Der Versuch jedoch, „eine von allen subjektiven Zutaten befreite absolute objektive Welt in der Vorstellung zu erbauen“, habe „sich totgelaufen“.68 Auf dieser Basis wendet schon Uexküll – wenn er auch die Konsequenzen dieser Übertragung nicht in allen Hinsichten bedenkt – den Gedanken der Umwelt auf die Naturwissenschaften an und spricht von den „Umwelten der Naturforscher“.69 Für die Wissenschaft ergibt sich damit die Aufgabe, das „Universum aus den Umwelten neu aufzubauen“70 und somit die verschiedenen „Umweltbühnen“ und die mit ihr verwo65 Vgl. den Beitrag von Brentari in Band 1 der Philosophie der Tierforschung. Aus sagekräftig dazu ist die vergleichende Lektüre der beiden Beiträge J. v. Uexkülls „Vorschläge zu einer objektivierenden Nomenklatur in der Physiologie des Nervensystems“ (1899) und „Vorschläge zu einer subjektbezogenen Nomenkla tur in der Biologie“ (1935), beide in: J. v. Uexküll, Kompositionslehre der Natur, S. 92-100 und S. 129-142. 66 J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 211: „Obgleich die Umwelt vom Standpunkt des Tieres aus rein subjektiver Art ist […], so ist sie doch vom Standpunkt des Beobachters aus ein objektiver Faktor, der in objektiven Bezie hungen zum beobachteten Objekt steht.“ Uexküll – und das weist auf das The ma unseres Beitrags voraus – verbindet diese Überlegung mit einer Warnung vor anthropomorphen (hier psychologischen) Fehldeutungen, denn er fährt fort: „Alle subjektiven Spekulationen, die die Seele des Beobachters in dieses objek tive Bild hineinziehen, fälschen seinen wahren Charakter und machen es wert los.“ 67 J. v. Uexküll, Theoretische Biologie, S. 334 ff. (Abschnitt ‚Welt und Umwelt‘). Im Vorgriff auf die Überlegungen Schelers und anderer heißt es hier: „Bezeichne ich nun sämtliche mich umgebenden objektiven Wirklichkeiten als Welt und sämtliche mich umgebenden subjektiven Wirklichkeiten als Umwelt, so wird sich Schritt für Schritt zeigen lassen, worin diese beiden Welten sich widersprechen.“ (Ebd., S. 334) 68 Ebd., S. 339. 69 Vgl. J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, S. 101 ff. 70 J. v. Uexküll, Theoretische Biologie, S. 339.
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benen Planmäßigkeiten der Lebewesen aufzusuchen.71 Diese Übertragung ist insofern konsistent mit dem geschilderten Umweltverständnis als Uexküll auch im Reich der Lebewesen ein geschachteltes System postuliert, bei dem die Umwelten einiger (höherer) Tiere die Umwelten anderer (niederer) Tiere mitumfassen.72 Nach diesem Gedanken kann man die oben geschilderte Konstellation eines Beobachtungsvorgangs nicht nur auf den wissenschaftlichen Fall anwenden, bei dem menschliche Beobachtende Tiere beobachten, sondern eben auch auf die Interaktionen von Tieren untereinander. Auch Tiere sind demnach Beobachter.73 Mit diesem Zugeständnis ist, ebenso wie mit der Idee einer naturwissenschaftlichen Transzendierung und Kombination der Umwelten,74 die Affinität von Uexkülls Überlegungen zu Leibniz’ Monadenlehre75 relativiert. Trotz der Vorstellung prinzipiell disjunkter subjektiver Umwelten, die bei Anwendung des Monadenmodells „fensterlos“ wären, also dem epistemischen Zugang durch einen ebenfalls in seiner eigenen Umweltmonade befangenen äußeren Beobachtenden verschlossen, ist damit ein Weg eröffnet, Umwelten aufeinander zu beziehen und miteinander zu verflechten. Für diese Möglichkeit der Bezugnahme und Überführung spricht letztlich auch die von Uexküll selbst gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Emanuel Sarris entwickelte Methode des umweltbezogenen Trainings von Blindenhunden,76 die 71 Ebd., S. 340. 72 Dabei bleibt allerdings zu berücksichtigen, dass die Metapher eines rein quan titativen Umfassens den bleibenden qualitativen Unterschieden in den Umwelten der Tiere und des Menschen nur bedingt gerecht wird. 73 J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 252: „Daher umfaßt die Um welt des nächst höheren immer wieder die Umwelt des nächst niederen. Und wenn man sich die Tiere als Beobachter denkt, so wird jedesmal die Umwelt des höheren Tieres als die Umgebung des niederen Tieres gelten können, in der es von diesem beobachtet wird.“ 74 J. v. Uexküll, Theoretische Biologie, S. 334 ff., insbesondere S. 339: „Die Be trachtung der objektiven Welt darf uns aber nie mehr den Blick ablenken von der Aufgabe, das Universum aus den Umwelten neu aufzubauen. Das Universum besteht aus Subjekten mit ihren Umwelten, die durch Funktionskreise zu einem planvollen Ganzen verbunden sind.“ 75 So der Leseeindruck der ‚Bedeutungslehre‘ bei Uexkülls Sohn Gösta (vgl. G. v. Uexküll, Jakob von Uexküll seine Welt und seine Umwelt, S. 212), so auch die Deutung von Uexkülls Lehre als biologische Monadenlehre durch Plessner (vgl. H. Plessner, Elemente der Metaphysik. Eine Vorlesung aus dem Wintersemester 1931/32, hrsg. von H.-U. Lessing, Berlin 2002, S. 114). 76 J. v. Uexküll, E. G. Sarris, „Das Duftfeld des Hundes“, in: Zeitschrift für Hun deforschung, 1/1931, S. 55-68; J. v. Uexküll, E. G. Sarris, „Der Führhund der Blinden“, in: Die Umschau, 35/1931, S. 1014-1016; J. v. Uexküll, „Die Umwelt
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auf dem Abgleich der Umwelten von Hund und Mensch beruht. Insofern wäre die Umwelt menschlicher Beobachtender zwar wie die Umwelt der Tiere durch die spezifisch menschlichen sensorischen Fähigkeiten oder intellektuellen Vermögen beschränkt, die Menschen wären wie die Tiere ostentativ in ihre Umweltbezüge eingebunden. Zugleich jedoch öffnete die genannte Verschachtelungs- und Verflechtungsmatrix von Umweltbezügen aber auch einen Weg in Richtung auf eine nicht mehr im engeren Sinne umwelthafte (subjektive, perspektivische), sondern vielmehr weltoffene (objektive, allgemeingültige) Dimension menschlichen Wissens. Ergänzend zu Uexküll ist anzuführen, dass die im Umweltgedanken ausgedrückte situative Konstellation von Menschen und Tieren als Lebewesen in Umwelten trotz der Sonderform wissenschaftlicher Vollzüge zu konstatieren ist, die diese von anderen Vollzügen von Lebewesen in ihren Umwelten unterscheiden. Wissenschaft stellt ohne Zweifel eine spezielle Form der Auseinandersetzung von menschlichen Forschenden mit ihren jeweiligen Umwelten dar (und zwar in Dimensionen, die Uexkülls Reflexion nur unzureichend wiedergibt). Obwohl es Vorformen wissenschaftsähnlicher Umwelterkundung möglicherweise auch im Tierreich gibt,77 setzt menschliche Wissenschaft spezielle Vermögen der wissenschaftstreibenden Wesen voraus und ist durch Eigenschaften des Hundes“, in: Zeitschrift für Hundeforschung, 2/1932, S. 157-170; J. v. Uex küll, E. G. Sarris, „Dressur und Erziehung der Führhunde für Blinde“, in: Der Kriegsblinde, 16/1932, S. 93-94; J. v. Uexküll, „Das Führhundproblem“, in: Zeit schrift für angewandte Psychologie, 45/1933, S. 46-53; J. v. Uexküll, „Der Blin denführer“, in: Forschungen und Fortschritte, 10/1934, S. 117-118. Vgl. auch B. Hassenstein, „Jakob v. Uexküll“, in: I. Jahn, M. Schmitt (Hrsg.), Darwin & Co. Eine Geschichte der Biologie in Portraits, Bd.2, München 2001, S. 344-364, hier S. 356 f.; G. v. Uexküll, Jakob von Uexküll seine Welt und seine Umwelt, S. 145 f.; R. Magnus, „Training guide dogs of the blind with the ‚fantom man‘ method. Historic background and semiotic footing“, in: Semiotica, 198/2014, S. 181-204. 77 So vermutete es schon E. Mach in seinem speziellen Ansatz einer evolutionären Erkenntnistheorie (Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der For schung, 5. Auflage (1926), Berlin 2002, S. 37; S. 180): „So schließt das wissen schaftliche Denken die kontinuierliche biologische Entwicklungsreihe, welche mit den ersten einfachen Lebensäußerungen beginnt.“ Und: „Das Experiment kann als die selbsttätige Aufsuchung neuer Reaktionen, bzw. neuer Zusammen hänge derselben bezeichnet werden. […] Auch eine gelegentliche auffallende Beobachtung kann instinktiv zu einem besonderen motorischen Verhalten An laß geben, durch welches wir zur Kenntnis neuer Reaktionen oder deren Zu sammenhänge gelangen. Solche Fälle können wir bei Tieren und bei genügender Aufmerksamkeit auch an uns selbst wahrnehmen. Wir können in solchen Fällen von einem instinktiven Experimentieren sprechen.“
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charakterisiert, die von einem engeren mit Uexküll verstandenen Umweltbegriff nur bedingt erfasst werden können. Trotz dieser sprachlichen, kognitiven oder instrumentell-praktischen Formen der Transzendierung situativer Gebundenheit, die gerade wissenschaftliche Vollzüge auszeichnen und die eine gewisse Ablösung vom Umweltgedanken nahelegen, wie ihn die philosophische Anthropologie im Begriff der „Welt“ fasst,78 um mit ihm eine grundsätzliche Opposition zum Begriff der „Umwelt“ auszudrücken, ist nach unserem Dafürhalten davon auszugehen, dass statt klarer Opposition eine komplexe und in sich möglicherweise widersprüchliche Verschränkung und Verschachtelung der beiden Dimensionen „Umwelt“ und „Welt“ herrscht, wie sie etwa Helmuth Plessner betont hat.79 Diese Verschränkung betrifft zudem nicht nur anthropologische Größen, sondern eben auch methodologische. In diesem Sinne verweist der oben erwähnte Robert Kohler darauf, dass Laboratorien zwar immer situativ an bestimmten Orten platziert sind, ihrem wissenschaftlichen Anspruch nach jedoch eben nicht durch diese Platzierung bestimmt sind, sondern vielmehr Nicht-Orte oder Überall-Orte (placeless places) repräsentieren.80 Neben spezieller methodischer Traditionen, Situationsgebundenheit der Forschung und „Indexikalität“ sozialer Praktiken, die sich aus den jeweiligen Laborroutinen eben dieses Laborzusammenhanges ergeben (practi ces of place),81 sollen deshalb, gesichert durch die oben erwähnten Verfahren der Normierung und Standardisierung, idealiter Laborhandlungen an allen möglichen Orten der Welt nachvollziehbar sein und deren Ergebnisse prinzipiell an allen möglichen Orten gelten. 78 Der Locus classicus dieser Auffassung ist sicher M. Schelers Überlegung in Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928, hrsg. von M. S. Frings, 14. unverän derte Auflage, Bonn 1998, S. 38). Für Scheler ist erst diese „Umweltfreiheit“ oder „Weltoffenheit“ – und damit die Lösung aus den Bindungen an situative Bezüge und lebensdienliche Zwecke Ermöglichungsgrund für die spezielle Form der Sachlichkeit, Gegenständlichkeit und logischer Abstraktion, die die „Fern stellung“ (ebd., S. 40) von Wissenschaft zur Umwelt auszeichnet. Nach dieser Argumentationslinie ist das Tier „weltarm“ (M. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. Freiburger Vorlesung Winter semester 1929/30, hrsg. von F.-W. v. Herrmann, Frankfurt a. M. 2010, S. 261 ff.). 79 Vgl. H. Plessner, „Über das Welt-Umweltverhältnis des Menschen“ (1950), in: H. Plessner, Conditio humana. Gesammelte Schriften, hrsg. von G. Dux et al., Frankfurt a. M. 1980, Bd. 8, S. 77-87. 80 Vgl. R. Kohler, „Place and Practice in Field Biology“, in: History of Science, 40(128)/2002, S. 198-210. Vgl. auch K. Köchy, „Labor, Experiment“. 81 Vgl. K. Knorr Cetina, K. Knorr Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis, S. 63 ff.
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3. Zum Beziehungsnetzwerk in Forschungsumwelten Konkretisieren wir den so programmatisch entworfenen Ansatz der Forschungsumwelten an drei miteinander verbundenen Aspekten der Forschungssituation in der Tierforschung, die an einem historischen Fallbeispiel erläutert werden sollen. Das Fallbeispiel entstammt einem miteinander verwobenen Komplex von Fragestellungen aus Philosophie und biologischer Tierforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der ebenfalls unter Rückbezug auf Uexkülls Gedanken entstanden ist und bei dem der einzelwissenschaftlichen Forschung ihrerseits ein bestimmtes Verständnis der Beziehung von Lebewesen auf deren Umweltverhältnis zugrunde liegt. Das Fallbeispiel dient uns in der Metaperspektive dazu, bestimmte Aspekte und Relationen der Forschungssituation hervorzuheben, die nach unserer Ansicht angemessen wieder nur mittels eines an Uexküll angelegten Modells der Forschungsumwelten zu erfassen sind und die dem ecological approach wenn auch nicht gänzlich entgehen, so doch zumindest mit dessen konzeptionellen Voraussetzungen nicht angemessen erfass- und darstellbar sind. Dabei werden die genannten Aspekte für die Tierforschung auch jenseits eines Uexküllschen Programms der Verhaltensforschung relevant – dieses sollen vor allem knappe Exkurse und Ausblicke auf allgemeine Fragen und aktuelle Problemlagen andeuten. Zudem haben die folgenden Überlegungen lediglich sondierenden Charakter und dienen dazu, die philosophisch relevanten Stränge dieses Kontexts aufzuzeigen. Es wird nicht der Anspruch erhoben, bereits endgültige Antworten auf die angedeuteten Problemkontexte vorlegen zu können. Auch sollte die Fixierung auf einen historischen Vorläufer der aktuellen Debatte – wie er bei Bezugnahme auf Uexküll auch zeitlich naheliegt – nicht den falschen Eindruck erwecken, man plädiere für einen Rückgang an den Anfang der Tierforschung und wolle diesen als ideale Forschungssituation auszeichnen, sehe also die nachfolgenden Entwicklungen in diesem Gebiet als Fehlentwicklungen an. Vielmehr geht es lediglich darum, auf der Basis eines geeigneten historischen Fallbeispiels grundlegende systematische Einsichten in den Ansatz der Forschungsumwelten zu gewinnen und damit zu demonstrieren, dass dieser metatheoretische Rahmen auch für aktuelle Fragestellungen gewinnbringend sein könnte, selbst wenn Erkenntnisstand und Methodenentwicklung der biologischen Tierforschung seit den Zeiten Uexkülls deutlich vorangeschritten sind.
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Dazu setzen wir an einem bestimmten Strang der komplexen und gefügeartigen Verschränkung unterschiedlicher methodologischer Momente an, den auch der ecological approach erfasst hätte. Wir gehen insofern kontextuell vor und setzen eine enge Beziehung zwischen verschiedenen Momenten voraus, die die methodo logische Signatur von Forschungsprogrammen ausmachen.82 Wir versuchen durch dieses kontextuelle Vorgehen die Spezifität der Konstellation in den Forschungsumwelten der biologischen Tierforschung aufzuzeigen. Dabei berücksichtigen wir zudem die von Nikolaas Tinbergen (1907–1988) als grundlegend behauptete methodologische Tatsache, dass insbesondere biologische Verhaltensforschung auf Beobachtung gründet. Diese Einsicht findet sich in der programmatischen Schrift On aims and methods of Ethology (1963),83 einer Würdigung der Lebensleistung von Konrad Lorenz (1903–1989), die zugleich zu einer systematischen Grundbestimmung der biologischen Verhaltensforschung wird (und die in der Zukunft unseres folgenden historischen Fallbeispiels liegt). Tinbergen erkennt das Verdienst von Lorenz darin, dass er die biologische Methode in die Wissenschaft vom tierischen Verhalten eingeführt und so die Verhaltensbiologie begründet hat. Zentral ist hierfür die Annahme, Verhalten sei ein Vermögen, das Lebewesen so besitzen, wie ihre Organe. Damit sei die neu entstandene Wissenschaft durch ihre Gegenstände (d. h. Verhalten als Bewegung in Raum und Zeit) und durch ihre Methode (eine biologische Methode) eindeutig bestimmt. Weil es nun genauer zu erläutern gilt, was unter biologi scher Methode zu verstehen ist, ergibt sich die zweite Funktion von Tinbergens Überlegung, die Einheit der Ethologie als Wissenschaft zu begründen.84 Fragt man nach dem kennzeichnenden Merkmal eines biologischen Ansatzes (biological approach) oder des biologischen Denkens (biological thinking), dann ist man nach Tinbergen auf eine Kombination von vier Fragen verwiesen, deren Beantwortung die biologische Arbeit bestimmt. Diese „Tinbergen Vier“85 ge82 Vgl. dazu auch den Beitrag von Köchy in Band 1 der Philosophie der Tierforschung. 83 N. Tinbergen, „On aims and methods of Ethology“, in: Zeitschrift für Tierpsycho logie, 20/1963, S. 410-433. 84 Vgl. auch den Beitrag von Wunsch in Band 1 der Philosophie der Tierforschung, S. 330 ff. 85 Vgl. dazu etwa P. Bateson, K. N. Laland, „Tinbergen’s four questions: an appre ciation and an update“, in: Trends in Ecology & Evolution, 28(12)/2013, S. 1-7; R. M. Nesse, „Tinbergen’s four questions, organized: a response to Bateson and La land, in: Trends in Ecology & Evolution, 28(12)/2013, S. 681-682; zu Tinbergen
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hören heute zu den methodologischen Säulen der biologischen Verhaltensforschung. Es geht demnach um die Kombination der Fragen nach der Verursachung des Verhaltens (causation), nach dessen Überlebensfunktion (survival value), der phylogenetischen Entwicklung (evolution) und der ontogenetischen Ausformung (onto geny). Für unser Fallbeispiel bedeutsam ist allerdings eine in den meisten Rekapitulationen dieses Fragenkatalogs unberücksichtigte Grundtatsache: Bevor die Beantwortung dieser vier Fragen erfolgen kann, bevor wir uns also im theoretischen Kontext der Rechtfertigung, der Erklärung und theoretischen Deutung befinden, muss eine vorgängige Phase der Datenerhebung, der Erfassung von Befunden erfolgen – der praktische Kontext der wissenschaftlichen Entdeckung. Vor aller Theoretisierung und Formalisierung liegt so die Phase der Beobachtung und Beschreibung des Verhaltens in konkreten Untersuchungssituationen. Wir fragen auf dieser Basis nach der typischen Beobachtungssituation in der biologischen Verhaltensforschung. Unser historisches Fallbeispiel liegt zeitlich etwa vierzig Jahre vor dem von Tinbergen verfassten Programm der Verhaltensforschung, steht also deutlich am Beginn einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Verhalten von Lebewesen im Übergang von der Tierpsychologie zur Verhaltensforschung.86 Es liefert aber für unsere Fragestellung umfängliches Material, das gerade auch wegen seiner Bezugnahme auf die spezifischen Beobachtungskontexte bedeutsam ist und insofern in das von Tinbergen mit seinem Verweis angesprochene konkrete Kontaktfeld von menschlichen Forschenden und den von ihnen erforschten Tieren fällt – in eine Forschungsumwelt im konkreten Sinne. Unser Fallbeispiel liefern die Verhaltensexperimente an Affen, die der Psychologe Wolfgang Köhler (1887–1967) durchgeführt und deren Ergebnisse er in seinem Buch Intelligenzprüfungen an Menschenaffen (1921) niedergelegt hat.87 Die methodologische Signatur dieses Ansatzes war vgl. auch R. W. Burkhardt, Patterns of behavior. Konrad Lorenz, Niko Tinbergen, and the founding of ethology, Chicago 2005. Vgl. den Beitrag von Hilbert in diesem Band. 86 Vgl. D. A. Dewsbury, „Comparative psychology and ethology“, in: American Psychologist, 47/1992, S. 208-215; R. B. Lockard, „Reflections on the fall of com parative psychology: Is there a message for us all?“, in: American Psychologist, 26/1971, S. 168-179. 87 W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen (1921), unveränderter Nach druck der zweiten Auflage, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1963.
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bereits Gegenstand in unserer ‚Philosophie der Tierforschung‘.88 Hier sind einige Erinnerungen und Ergänzungen zum Kontext dieser Forschungen anzufügen: Köhler, Assistent des Psychologen Carl Stumpf (1848–1936) in Frankfurt von 1910–1913, entwickelte gemeinsam mit Max Wertheimer (1880–1943) und Kurt Koffka (1886–1941) den Ansatz der Gestaltpsychologie,89 dessen naturphilosophische Implikationen er 1920 in seinem Buch Die physischen Gestalten in Ruhe und Bewegung ausbuchstabierte.90 Diese Überlegungen bilden den metatheoretischen Rahmen von Köhlers empirischer Forschung und machen deutlich, dass die oben angedeutete Vorstellung von einer ganzheitlichen Feldstruktur der LebewesenUmwelt-Relation auch für Köhlers Verhaltensuntersuchungen vorausgesetzt ist. Seine Naturphilosophie zeigt zudem, dass für Köhler (im Sinne des oben von Canguilhem kritisierten Ansatzes) die Physik als ideale Wissenschaft gilt (Milieu oder Feld also für ihn als formale und absolute physikalische Größe vorausgesetzt sind), die eigentlich auch in der Verhaltensforschung umzusetzen wäre.91 88 Vgl. den Beitrag von Hartung und Wunsch in Band 1 der Philosophie der Tier forschung. 89 S. Jaeger, „Wolfgang Köhler“, in: H. E. Lück, R. Miller (Hrsg.), Illustrierte Ge schichte der Psychologie, 2. Auflage, Weinheim 1999, S. 85-89; V. Sarris, „Wolf gang Köhler (1887-1967) – ein großer Psychologe des 20. Jahrhunderts“, in: G. Böhme (Hrsg.), Die Frankfurter Gelehrtenrepublik: Neue Folge, Idtein 2002, S. 183-198. Zum disziplinären Kontext vgl. auch R. A. Kressley-Mba, „On the failed Institutionalization of German Comparative Psychology to 1940“, in: His tory of Psychology, 9(1)/2006, S. 55-74. 90 W. Köhler, Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand. Eine naturphilosophische Untersuchung, Braunschweig 1920. Diese naturphiloso phische Arbeit entstand ebenfalls auf Teneriffa. 91 Das Verständnis Köhlers über die Rolle der Physik wird u. a. in dessen Brief wechsel mit seinem ehemaligem Lehrer, dem Physiker Hans Geitel deutlich (vgl. S. Jaeger (Hrsg.), Briefe von Wolfgang Köhler an Hans Geitel 1907–1920. Reihe: Passauer Schriften zur Psychologiegeschichte 9, Passau 1988). In dem anhal tenden Briefgespräch der beiden über eine angemessene Fassung der Einleitung zu Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand wird immer wieder die Beziehung zwischen Philosophie, Psychologie und Physik gestreift. In diesem Zusammenhang unterstreicht Köhler, der u. a. Experimentalphysik und Mathematik studiert hat, seinen Versuch, „an Hand der Physik zu schärferen Begriffen zu gelangen“ (an Geitel 22.10.1919, ebd., S. 71). Allerdings ist Köhler – so im deutlich früheren Kontext der gemeinsamen Erörterung eines geeigne ten Themas für die Promotion – von seiner „mässigen, naturwissenschaftlichen Vorbildung“ überzeugt und verweist auf seine nicht weit reichende physika lische Erfahrung (an Geitel 31.05.1908, ebd., S. 21 f.). Anlässlich der Lektüre eines gegen Haeckel und den Materialismus gerichteten Beitrags von Geitels Schüler, dem Physiker H. Witte, in Ostwalds Annalen der Naturphilosophie
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Die im Folgenden dargestellten Abstriche, die Köhler in seiner konkreten Forschung an Lebewesen von diesem Ideal machen muss, die Momente, in denen er von seinem Vorbild der exakten Wissenschaft abrückt und die Hinsichten, in denen sich das Forschungsmilieu dann doch in seiner relativen Verfasstheit im Sinne Uexkülls erweist, verweisen uns auch auf die von Canguilhem betonten Besonderheiten, die sich insbesondere im Rahmen eines metatheoretischen Ansatzes der Forschungsumwelten erfassen lassen. Skizzieren wir vorab den weiteren Kontext von Köhlers Forschung: Von 1914–1920 war Köhler Leiter der Anthropoidenstation der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf Teneriffa,92 an der er die für unseren Ansatz wichtigen Untersuchungen zur Intelligenz an Schimpansen durchführte.93 Diese klassischen Versuche haben nicht nur die biologische Tierforschung der Zeit beeinflusst, sondern auch eine umfängliche Wirkung in der philosophischen Anthropologie entfaltet, so etwa bei Max Scheler oder Helmuth Plessner.94 Insbesondere Plessners Ansatz wird uns im Folgenden kritisiert Köhler allerdings dessen „einheitliches System der Physik, das alle Naturvorgänge auf elektrische Zustandsänderungen zurückführte“ und das in einen Materialismus münden müsse (an Geitel 08.05.1909, ebd., S. 33). Es bleibt allerdings Köhlers bleibende Hoffnung, dass die Psychologen es erleben mögen, „dass unser Forschungsfeld so wundervoll aufgeklärt [werden mag] wie zur Zeit des physikalische es tut!“ (an Geitel 16.07.1913, ebd., S. 42). Eben diese Hoff nung wird als Unterschied zwischen Psychologie und Physik (wie der Abschnitt 3.2 zeigen wird) noch in Köhlers Intelligenzprüfungen an Menschenaffen (S. 133) thematisiert. 92 Vgl. G. Ruiz, „Wolfgang Köhlers ‚The Mentality of Apes‘ and the Animal Psy chology of his Time“, in: Spanish Journal of Psychology, 17/2014, S. 1-25. 93 Köhler publizierte über die Psychologie der Schimpansen, die aus den For schungstätigkeiten auf Teneriffa resultierten: W. Köhler, Aus der Anthropoiden station auf Teneriffa. II. Optische Untersuchungen am Schimpansen und am Haushuhn, Akademie der Wissenschaften, Physikalisch-mathematische Klasse, No. 3, Berlin 1915; W. Köhler, „Aus der Anthropoidenstation auf Teneriffa. Intel ligenzprüfungen an Anthropoiden I“, in: Abhandlungen der Preussischen Aka demie der Wissenschaften, 1917, S. 1-213; W. Köhler, Aus der Anthropoidenstation auf Teneriffa. IV. Nachweis einfacher Strukturfunktionen beim Schimpansen und beim Haushuhn. Über eine neue Methode zur Untersuchung des bunten Farbensystems, Akademie der Wissenschaften, Physikalisch-mathematische Klasse, No. 2, Berlin 1918; W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, Berlin 1921. Vgl. auch den Abdruck von Köhlers Manuskript „Intelligenzprü fungen am Orang“, in: S. Jaeger (Hrsg.), Briefe von Wolfgang Köhler an Hans Geitel, S. 132-183. 94 Zur philosophischen Reaktion auf Köhlers Versuche vgl. u. a. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 33 ff.; H. Plessner, Die Stufen des Orga nischen und der Mensch, Berlin, Leipzig 1928, S. 266 ff.; Vgl. dazu G. Hartung,
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auch bei unserem Blick auf die philosophische Deutung der Versuche leiten, die ebenfalls wesentliche Momente des Konzepts der Forschungsumwelten betreffen. Auch Plessner ist für uns durch seinen Bezug auf Uexküll von Bedeutung.95 Sowohl Köhlers Zugehörigkeit zum Kreis der Gestaltpsychologie96 als auch die Ausrichtung seiner Forschung am Leitbild der Physik oder seine Wirkung auf die philosophische Debatte seiner Zeit wären bereits in einem ecological approach als Momente des Forschungsprogramms zu würdigen und sie wären in diesem Rahmen als abstrakt-theoretische oder gesamtgesellschaftlich-soziale Elemente des Forschungsumfeldes relevant. Wir wollen uns im Folgenden jedoch auf diejenigen Elemente konzentrieren, die die spezifische epistemische Relation in Köhlers Untersuchungen bestimmen und die in ihrer vollen Ausprägung nur unter Anwendung der Idee der Forschungsumwelten in den Blick geraten können. Damit diese hervortreten, sind im Sinne des kontextuellen Vorgehens zur Spezifizierung der Beobachtungssituation und des Anliegens Köhlers weitere Details zum Fallbeispiel anzuführen. Beginnen wir dazu mit Köhlers Forschungsfrage: Köhlers Versuche fallen in die Debatte um die Intelligenz von Menschenaffen. Zur Klärung der Frage, ob Schimpansen intelligent sind, schlägt Köhler eine möglichst neutrale Bestimmung des zu untersuchenden Vermögens „Intelligenz“ vor, die eine wissenschaftliche Untersuchung dieses Phänomens erlaubt. Für Köhler – der sich mit seiner Auffassung gegen die Lerntheorien mittels Gewohnheit von Edward Thorndike (1874–1949)97 abgrenzt – ist Intelligenz durch einsichtiges Verhal-
„Gestalt und Grenze. Helmuth Plessner und die Gestalttheorie“, in: K. Köchy, F. Michelini (Hrsg.), Zwischen den Kulturen. Plessners ‚Stufen des Organischen‘ im zeithistorischen Kontext, Freiburg, München 2015, S. 161-192; E. Cassirer, An Essay on Man (1944), New Haven, London 1992, S. 38, S. 54; H. Jonas, „Kundschafter im Niemandsland der Ethik. Ein philosophischer Spaziergang mit Hans Jonas in Salzburg“ (1990), in: H. Jonas, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von D. Böhler, B. Herrmann, Freiburg, Berlin, Wien 2017, Bd. I/2, S. 257-271, hier S. 258. 95 K. Köchy, „Helmuth Plessners Biophilosophie als Erweiterung des Uexküll Pro gramms“, in: K. Köchy, F. Michelini (Hrsg.), Zwischen den Kulturen, Freiburg, München 2015, S. 25-64. 96 M. Ash, Gestalt Psychology in German Culture 1890–1967. Holism and the quest for objectivity, Cambridge 1995. 97 E. L. Thorndike, Animal intelligence. An experimental study of the associative processes in animals, New York 1898; E. L. Thorndike, „The mental life of monkeys“, in: Psychological Monograph, 3/1901.
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ten bestimmt, das zu einer sinnvollen Problemlösung führt.98 Dieses einsichtige Verhalten unterscheidet sich durch seine spontane Charakteristik von einem aufgrund von Versuch und Irrtum entwickelten Lernverhalten. Köhler betont, dass sich beide Verhaltensweisen bereits von einem naiven Beobachtenden bei der Betrachtung der Bewegungsabläufe der Tiere ohne Schwierigkeiten klar voneinander unterscheiden lassen. Für diese These investiert er die Überzeugungen der Gestaltpsychologie und bezieht sich auf eine topologische Charakteristik des Verhaltensablaufs. Demnach existiert ein wahrnehmbarer Gestaltunterschied im Verhalten zwischen der zufällig erlernten und der einsichtig erzeugten Lösung eines Problems. Der Zufallserfolg des Trial und Error Verfahrens zeichnet sich durch ein Agglomerat von Einzelbewegungen aus, „die auftreten, ablaufen, neu einsetzen, dabei nach Richtung und Geschwindigkeit voneinander unabhängig bleiben“.99 Die echte, einsichtige Lösung hingegen setzt abrupt und spontan ein und verläuft dann „in einer einzigen geschlossenen Bewegung“.100 Diese „echten Lösungen“ – die plötzlich entstehen, sich in stockungsfreien Bewegungen in Form einer „Lösungskurve“ darstellen – sind zudem der Situation angemessen. Das „Entstehen der Gesamtlösung in Rücksicht auf die Feldstruktur“ gilt Köhler als Kriterium für Einsicht.101 Dieser quasi-behavioristischen oder objektivistischen (d. h. auf durch externe Beobachtende als Bewegungsablauf in Raum und Zeit erfassbare Phänomene gerichteten) terminologischen Bestimmung der zu untersuchenden Eigenschaft von Tieren entspricht auf der methodischen Seite die Entscheidung Köhlers für einen bestimmten Typ von Untersuchung. Köhler setzt auf das Paradigma der so genannten „Umwegversuche“ – er unterscheidet diese von den Hindernisversuchen Armin Tschermaks (1870–1952), die zur Untersuchung von Verhaltensautomatismen dienen, oder den Labyrinthversuchen der amerikanischen Schule der Tierpsychologie, die Lernverhalten erfassen sollen. Die Grundannahme eines Umwegversuchs ist, dass ein Verstellen des geraden Weges, der eine unmittelbare Lösung der gestellten Aufgabe ohne Schwierigkeiten repräsentiert, eine vermittelte Lösungsstrategie erfordert und vom Tier komplexere Vermögen abruft. Beide Überlegungen – die De98 Vgl. W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 12, S. 71, S. 133 ff. 99 Ebd., S. 12. 100 Ebd. 101 Ebd., S. 136 f.
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finition der zu untersuchenden psychologischen Fähigkeit vermittels des diese Fähigkeit begleitenden Verhaltens sowie die Wahl einer dieser Definition entsprechenden methodischen Vorgehensweise – folgen insofern den Vorgaben einer naturwissenschaftlichen Untersuchung nach dem Leitbild der Physik, als erstens der Untersuchungsgegenstand allein in physikalischen Größen (d. h. Bewegungen in Raum und Zeit) bestimmt wird und zweitens die Untersuchungsmethode allein mit physischen Mitteln (d. h. Anordnung von Gegenständen in Raum und Zeit und materielle Blockierung bestimmter Wege und Relationen) erfolgt. Die bekannten Versuche, die Köhler etwa zum Werkzeuggebrauch durchgeführt hat, laufen dann so ab, dass das Ziel (eine Belohnung, z. B. eine Banane) an der Decke des Untersuchungsgeheges so angebracht ist, dass es nur über den Einsatz eines Hilfsmittels erreichbar ist. Hierzu wird etwa ein Stab angeboten (dem Tier sichtbar präsentiert), mit dessen Hilfe die Belohnung erreichbar wäre. Varianten sind die Überwindung der Höhendistanz durch die Einschaltung von Kisten oder anderen Stufen. Vom Tier eine Umkehr des Einsatzes von Werkzeugen (als die Einschaltung materieller Mittel zur Überwindung einer Distanz) erfordert schließlich der Versuchsaufbau, bei dem die Forschenden den Zugang zu einer Belohnung durch einen beweglichen Gegenstand versperren, und die geforderte Lösung somit in der Ausschaltung (Wegräumen) eines materiellen Hindernisses besteht. Eine Vielzahl von Varianten solcher einfacher Versuche wird von Köhler zur Untersuchung seiner Versuchstiere eingesetzt. Die genaue Analyse der in diesem Fall mit Blick auf die Beobachtung sich abzeichnenden Forschungsumwelt der Köhlerschen Versuche wird exemplarisch für andere Fälle der Tierforschung drei miteinander verwobene Aspekte der Forschungskonstellation hervorheben: Erstens ist das Verhältnis von menschlichen Beobachtenden und beobachteten Tieren ein besonderes. Unter Rückbezug auf die Idee der Forschungsumwelten erweist es sich als eine Relation zwischen Lebewesen, die insofern spezifische Züge aufweist, als sie gleichzeitig als „wissenschaftlich“ charakterisiert ist. Dieses hat eine spezifische Dialektik zur Folge. Einerseits beinhaltet der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit der Beziehung ein Moment der Distanzierung und methodischen Fremdstellung, andererseits jedoch ist auch diese Beziehung durch die bleibende Nähe und Gemeinsamkeit geprägt, die sich aus der Lebendigkeit beider Glieder der Beobachtungssitua-
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tion ergibt. Darüber hinaus ist in Rechnung zu stellen, dass vor dem Hintergrund der Idee der Forschungsumwelten nach dem Obigen gilt, dass Lebewesen stets auch in ihrer Subjektnatur zu berücksichtigen sind. Die Relation zwischen beobachtenden Menschen und beobachteten Tieren ist deshalb auch als eine Beziehung zwischen zwei Subjekten (genauer Subjekt-Objekten) zu betrachten. Zweitens resultiert aus eben dieser besonderen Relation nicht nur eine ontologische Gemeinsamkeit der Relationsglieder (die beide Lebewesen sind), sondern diese schlägt sich auch in den epistemischen oder methodischen Beziehungen nieder. Sie führt etwa zu einem Rückbezug des menschlichen Beobachtenden auf sich selbst im Kontext der Beobachtung anderer Lebewesen. Obwohl sich die methodologische Maxime der Fremdstellung in der biologischen Tierforschung auch in Form eines Verbots anthropomorpher Deutungen des Beobachteten und seines Verhaltens äußert (sich die menschlichen Beobachtenden also bei der Wahl des Deutungsprozesses der Ergebnisse ihrer Beobachtung für ein Verfahren der Fremdstellung entscheiden), werden an zentralen Stellen des Beobachtungsprozesses solche Rückbezüge nicht nur epistemisch unvermeidlich, sondern erweisen sich auch als methodisch fruchtbar. Dieser Aspekt betrifft etwa die in der Tierforschung nach wie vor virulente Frage nach der Bedeutung oder Vermeidung anthropomorpher Rück- oder Fehlschlüsse. Drittens ergeben sich aus den beiden ersten Punkten Fragen nach den angemessenen Verfahren für einen methodischen Zugang oder eine epistemische Grundhaltung, die uns das „Fremdseelische“ im Fall der Tierforschung aufschließen kann. Dieser Aspekt betrifft den methodischen und epistemologischen Rahmen einer auf Umweltintentionalität basierenden Theorie des Fremdseelischen. Alle drei Aspekte haben zudem nicht nur ontologische, epistemische oder methodische Konsequenzen, sondern sie ergeben auch insgesamt einen für ethische Fragen relevanten Rahmen. 3.1 Forschende und Erforschte als in Wechselbeziehung stehende Lebewesen Ein besonderer Aspekt des Umweltgedankens und seiner Übertragung auf den Forschungskontext als einer Forschungsumwelt, so sahen wir, besteht in der Einsicht, dass hier im Sinne der Überlegungen von Grene und Depew eine Relation vorauszusetzen ist,
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bei der die menschlichen Forschenden als Lebewesen in einer (wissenschaftlichen) Beziehung zu ihren Forschungsgegenständen stehen, die ebenfalls Lebewesen sind. Diese auch durch den ecological approach thematisierbare Präsenz und Interaktion von Lebewesen in einem gemeinsam geteilten Milieu hat in epistemischer Hinsicht eine besondere Note, die zunächst jenseits methodischer Fragen liegt. Diese meinen Grene und Depew, wenn sie davon ausgehen, für Forschende in der Biologie sei es selbstverständlich, sich als Lebewesen zwischen Lebewesen zu verstehen und sich in Umgebungen zu befinden, die Leben hervorgebracht haben. Die besondere Situation in solchen Forschungsumwelten der Tierforschung ist also die, dass die wissenschaftlich beobachtenden und forschenden Menschen und die von ihnen beobachteten und erforschten Lebewesen als Lebewesen grundsätzliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Die Rahmenbedingungen biologischer Existenz gelten somit für beide Glieder der Beobachtungsrelation.102 Humberto Maturana hat in seiner Ontologie des Beobachtens103 auf die daraus resultierenden Rückbezüglichkeiten hingewiesen. Der Beobachtende ist für ihn in jedem Fall ein menschliches Wesen, d. h. ein lebendes System, und alles was lebende Systeme kennzeichnet, kennzeichnet auch ihn.104 Darüber hinaus ist diese gemeinsame Eigenschaft, Lebewesen zu sein, in umwelttheoretischer Hinsicht allerdings nicht nur deshalb interessant, weil die Umwelten der Forschenden und der Erforschten (nach Uexküll) voneinander abweichen, so dass die im Folgenden zu thematisierenden epistemischen Sonderwelten und die sich aus ihnen ergebenden Vermittlungsprobleme resultieren; das Umweltkonzept liefert darüber hinaus durch die Einsicht in die Möglichkeit geschachtelter Überlagerung von Umwelten eine Möglichkeit der konzeptionellen Erfassung der wechselseitigen Interaktion von Lebewesen. Schließlich ist mit dem Umweltmodell zum Ausdruck gebracht, dass solche Kontaktnahmen immer in situativen Kontexten erfolgen, sie eine räumliche und zeitliche Überschneidung der Präsenz dieser Lebewesen voraussetzen. Auch hierin kommt der ebenfalls im ecological approach herausgestellte Punkt zum Aus102 Vgl. dazu auch K. Köchy, „Selbstreferentialität. Die methodologischen Vorga ben der kognitiven Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem“, in: J.-C. Heilinger (Hrsg.), Naturgeschichte der Freiheit, Berlin 2007, S. 179-208; K. Köchy „Osservazione“, in: F. Michelini, J. Davies (Hrsg.), Frontiere della biolo gia. Prospettive Filisofiche sulle Scienze della Vita, Milano 2013, S. 279-294. 103 H. Maturana, Biologie der Realität, Frankfurt a. M. 1998, S. 145. 104 Ebd., S. 25.
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druck, dass auch die forschenden Menschen Lebewesen sind, die mit den Erforschten einen Lebensraum teilen. Die uns interessierenden Experimente zum Verhalten der Schim pansen finden – folgt man den Darstellungen von Ruiz105 – seit 1912 unter dem ersten Direktor Eugen Teuber (1889–1958) zunächst auf dem etwa 1000 m2 großen Gelände „La Costa“ auf Teneriffa statt. Ausgesucht wurde der Forschungsort Teneriffa, neben politischen und ökonomischen Gründen, auch unter Rücksicht auf die für die zu untersuchenden Primaten klimatisch günstigen Bedingungen. Das grasbewachsene Gelände der Station war mit Bäumen bestanden, die zum Aufenthalt und zur Beschäftigung der Menschenaffen dienten. Zudem wies dieses als Übergang von Labor und Freiland106 verstehbare, mit Maschendraht umzäunte Untersuchungsareal an der südlichen Längsseite ein Affenhaus für Verhaltensversuche und für die Schlafplätze der Schimpansen auf, sowie ein kleines 3 x 6 m großes als Dunkelkammer unterkellertes Labor, das auch der Herstellung audiovisueller Aufzeichnungen107 des Primatenverhaltens diente. Köhlers Versuche finden nahezu sämtlich im ersten Halbjahr 1914 statt108 (dieses auch aus den geopolitischen Gründen des ersten Weltkrieges; Köhler muss bis 1920 auf Teneriffa verbleiben, die Station wegen politisch begründeter Kündigung des Pachtvertrags einmal umziehen). Das gesamte Versuchsareal ist mit einem Drahtkäfig umgeben und teilweise überdacht, der die Flucht der Tiere verhindern soll, bei manchen Versuchen jedoch von den Tieren auch als möglicher Weg (auch zur Erreichung des Ziels in den Verhaltensversuchen) genutzt wird.109 Solche Wege zu verbieten, ist Teil des Versuchsdesigns von Köhler und bestimmt damit auch die Aufgaben der experimentierenden Menschen mit (s. u.). In einigen Versuchen spielt der Übergang vom Außenraum (Spielplatz) über eine Tür und einen Korridor zu einem Innenraum (mit der Mög105 G. Ruiz, „Wolfgang Köhlers ‚The Mentality of Apes‘ and the Animal Psy chology of his Time“, S. 2 ff.; Zur Beschreibung der Umstände und des For schungsgeländes vgl. auch S. Jaeger (Hrsg.), Briefe von Wolfgang Köhler an Hans Geitel, S. 97 ff., Fußnote 53. 106 Vgl. dazu auch die Überlegungen von Köchy in Band 1 der Philosophie der Tierforschung. 107 S. Jaeger (Hrsg., Briefe von Wolfgang Köhler an Hans Geitel, S. 98, Fußnote 53) verweist auf folgende apparative Ausrüstung für die Versuche und für Do kumentationszwecke: Stoppuhr, Grammophon, Fotoapparat, Kinematograph und ein Edinson-Phonograph. 108 W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 5. 109 Ebd., S. 8.
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lichkeit für die Primaten, von außen die Geschehnisse im Innenraum durch ein Fenster zu beobachten), eine Rolle.110 Die Versuche Köhlers finden damit in einem von Menschen für die Erfordernisse der Verhaltensversuche (und des Lebens der Versuchstiere) zugerichteten Versuchsareal statt, das sich, von heutigen Laboratorien unterschieden, aber für die Primatenforschung nach wie vor typisch, als Mischung aus Freilandgehege, zoologischem Affenhaus und biologischer Station darstellt. Die Tiere nutzen die Bedingungen dieses Lebensraums für ihre Bedürfnisse. Die methodische Vorgehensweise von Köhlers Experimenten schlägt sich dann auch in räumlichen Eingriffen in diese „Lebenswelt“ der Affen nieder. Diese künstlichen Restriktionen des Lebens seiner Menschenaffen durch die Versuchsanordnungen sind Köhler bewusst;111 andererseits übt er jedoch auch Kritik an den Theorien des assoziativen Lernens von Thorndike, indem er dessen Versuchsanordnung in Käfigen kritisiert, die es den untersuchten Tieren unmöglich machten, die Gesamtsituation visuell zu erfassen und die damit von vornherein bestimmte Verhaltensleistungen und Lösungsstrategien für Versuchsaufgaben verstellten.112 Betrachten wir vor diesem Hintergrund die gemeinsame Präsenz der lebenden Forschenden mit ihren lebenden Untersuchungsgegenständen in der Forschungsumwelt von Köhlers Experimenten: Nicht nur durch die Art der Versuchsdurchführung ist der menschliche Beobachtende in diesen Experimenten kein weltexterner Zuschauer, sondern ein teilnehmendes und interagierendes Lebewesen, das stets in die Untersuchung unmittelbar involviert ist. Man sieht in den noch heute zugänglichen Filmdokumenten zur Versuchssituation in der Antropoidenstation nicht zufällig die menschlichen Experimentierenden häufig gemeinsam mit ihren Versuchstieren im Bild. Der methodische Ansatz von Köhlers Versuchen ist ohne die Präsenz der menschlichen Beobachtenden gar nicht denkbar, weil diese keineswegs nur Protokollierende eines auch ohne sie ablaufenden Geschehens sind. Nicht nur sind die Umwegversuche selbst konzeptionell als topologische Struktur verfasst (so wie etwa
110 Ebd., S. 15; hier Beschreibung des Hauses und Skizze 5. 111 Ebd., S. 48. Köhler betont allerdings, dass die neuen Gegenstände, die die Tiere in Gefangenschaft kennenlernen kaum mannigfaltiger sind „als die in Kameruner Wäldern vorkommenden.“ 112 Ebd., S. 16 f.; vgl. auch G. Ruiz, „Wolfgang Köhlers ‚The Mentality of Apes‘ and the Animal Psychology of his Time“, S. 10.
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Labyrinth- oder Orientierungsversuche auch), sondern in ihnen ist zudem auch der menschliche Beobachtende stets präsent und dieses in negativer Weise. Er ist für die Tiere „dasjenige Wesen, welches die bequemsten Methoden […] fortwährend verbietet“.113 Insofern kommen in Köhlers speziellem Arrangement der Umwegversuche den menschlichen Beobachtenden zwei verschiedene methodologische Funktionen zu, die von ihnen diametral entgegen gesetzte Haltungen gegenüber den zu untersuchenden Tieren abfordern: Erstens haben sie die Aufgabe, das im Verhaltensversuch ablaufende Verhalten der Tiere zu beobachten und zu beschreiben. Zweitens haben sie die Funktion, bestimmte Lösungsverfahren und Lösungswege auszuschließen respektive zu verstellen. Während die Beobachtenden in der ersten Funktion scheinbar als neutrale Protokollierende des Verhaltens fungieren, haben sie in der zweiten Funktion eindeutig die Rolle von eingreifenden Experimentierenden. Grundsätzlich jedoch soll der Beobachtende – so das dem Neutralitätsgebot folgende Ideal Köhlers – beim Lösungsversuch der Tiere nicht eingreifen. Allerdings ist auch dieses Gebot bei hochkomplexen Aufgaben, die die Tiere stark ermüden, nicht in aller Strenge durchzuhalten. Köhler gesteht folglich aus methodischen Gründen Eingriffe zur „Zielverschönerung“,114 d. h. zur Aufrechterhaltung der Motivation der Tiere, zu. Die Präsentation der Ergebnisse in Köhlers Text prägt dann gemäß der Distanz und Objektivierung des context of justification erneut eine möglichst umfassende und neutrale Beschreibung des Beobachteten. Jedoch (und auch dieses ist aufschlussreich) sind in Köhlers wissenschaftliche Darstellung reflexive Passagen eingestreut, die Erläuterungen, Interpretationen und Zusatzverweise in kleinerer Schrifttype enthalten. Auch in diesen reflexiven Anteilen bleibt der individuelle Beobachtende in einer Art „Gedankenspur“ im Text der wissenschaftlichen Darstellung der Forschungsergebnisse präsent. Den im Untersuchungskontext anwesenden, leiblich präsenten Forschenden stehen die ebenfalls präsenten Lebewesen gegenüber, die und deren Verhalten den „Gegenstand“ der Forschung bilden. Hierbei handelt es sich nach Köhlers Aussagen neben den vorrangig untersuchten Schimpansen auch um Hunde und Hühner für Vergleichsstudien.115 Köhler nennt seine Versuchstiere – den Gepflo113 W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 29, Fußnote. 114 Ebd., S. 30. 115 Ebd., S. 3.
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genheiten einer naturwissenschaftlichen Untersuchung entsprechend – im Anschluss an seine methodischen Ausführungen (quasi als „Material und Methode“ Teil seiner Arbeit). Ebenfalls in Übereinstimmung mit diesen Gepflogenheiten wird auch die Herkunft der Tiere (etwa als Verweis auf sieben Tiere, die den alten Stamm der Versuchstiere der Anthropoidenstation von 1912–1920 darstellten und zwei neu erworbene Tiere), soweit sie ihm bekannt ist, erwähnt. Deutlich von dieser üblichen Darstellung des „Forschungsmaterials“ im Sinne eines objektivierenden Ansatzes weicht dann jedoch die Tatsache ab, dass Köhler seine Versuchstiere nicht als anonymisierte Objekte der Forschung präsentiert, sondern als individuelle Lebewesen mit je eigenem Charakter. Wie Köhler selbst betont: „Ich beschreibe kurz ihre Wesensart, um einen Eindruck davon zu geben, wie vollständig verschiedene ‚Persönlichkeiten‘ unter Schimpansen vorkommen.“116 Individuelle Menschenaffen werden nicht nur mit Verweis auf biologische Größen wie Geschlecht und vermutliches Alter vorgestellt, sondern vor allem auch mit ihren je individuellen „Charakterzügen“: Die freundlich milde Nueva mit ihrem naiven Zutrauen und ihrer stillen Klarheit, der sich chronisch empörende Koko oder Sultan, ein Egoist par excellence.117 Köhler wechselt manches Mal in Verallgemeinerungen („der Schimpanse kann im allgemeinen eine kleine Dämpfung vertragen“118; „Leider scheint es nicht möglich, aus einem von Natur fahrigen und wüsten Schimpansen durch Erziehung ein liebenswürdiges Wesen zu machen“119), aber auch diese Verweise enthalten Bezugnahmen auf die Charakterzüge von Schimpansen – also auf deren jenseits biologischer Eigenschaften liegende psychologische Qualitäten. Die individuellen Tiere werden von Köhler auch bei ihren Versuchen zur Lösung der gestellten Aufgaben stets individualisiert erwähnt und ihr Verhalten wird en détail beschrieben, wobei auch anthropomorphe Wendungen zum Einsatz kommen. Mit diesem single-case-Verfahren reagiert Köhler auf die von ihm benannten individuellen Unterschiede in der Fähigkeit der einzelnen Tiere, im Versuch die geforderten einsichtigen Lösungen herbeizuführen. Zugleich begründet
116 Ebd., S. 4. 117 Ebd., S. 4 f. Zu dem Verweis auf die Schimpansen-Persönlichkeiten bei Köhler unter geschlechtsspezifischen Vorzeichen vgl. auch den Beitrag von Böhnert und Kranke in diesem Band. 118 Ebd., S. 4. 119 Ebd.
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sich daraus für Köhler die Maxime, „daß niemals Beobachtungen an nur einem Schimpansen als maßgebend für die Tierform überhaupt angesehen werden dürfen“.120 Köhlers Vorgehen ist somit die methodische Antwort auf eine große Variabilität und Dynamik des Verhaltens121 der Tiere in komplexen Untersuchungssituationen,122 eine Variabilität, die Köhler auch mit seiner Feststellung von Moden des Verhaltens unterstreicht, etwa von wechselnden Spielen,123 die in der Gruppe tradiert werden. Dieses macht deutlich, dass sich Köhler aus sachlichen Gründen für die Beibehaltung der in der späteren Verhaltensforschung vehement abgelehnten Anekdote entscheidet (obwohl er selbst die anekdotische Forschung anderer ablehnt124). All diese Verweise auf die individuelle Charakteristik, auf die „Persönlichkeiten“ der Schimpansen, belegen, dass für Köhler selbst (entgegen seines physikalischen Ideals) die von ihm zu untersuchenden Lebewesen keinesfalls nur biotische Größen eines unter ökologischen Vorzeichen zu fassenden Forschungszusammenhangs darstellen, sondern dass hier Mitlebewesen in ihrer je individuellen Verfasstheit, Subjekte der Forschung, eine Rolle spielen – ein Aspekt, den insbesondere der Umweltenansatz angemessen erfassen kann. Versuchen wir die für die Seite des Beobachtungsgegenstandes „Lebewesen“ geltenden Bedingungen theoretisch zu würdigen und dabei dem Gedanken der Forschungsumwelten zu folgen, dann ist die Besonderheit der Beobachteten durch den Subjektstatus von Lebewesen bedingt, die diese zu körperlichen Dingen und zu „Gegenständen“ der Erkenntnis machen, welche – von einem rein auf physikalische Größen ausgerichteten Ansatz nicht zu erfassende – zusätzliche Eigenschaften oder Qualitäten besitzen. Es kommt hier eine Phänomendimension zum Tragen, die Helmuth Plessner in seinen Stufen des Organischen und der Mensch (1928) (ebenfalls 120 Ebd., S. 5. 121 Dieses gilt auch (in abgestufter Form) für andere Versuchstiere: „Verschiedene Hühner verhalten sich nicht ganz gleich […]“ (ebd., S. 11). 122 Wobei Köhler seine Versuche bereits aus komplexeren Vorformen ableitete und sie als „ganz elementare[n] Aufgaben“ (ebd., S. 7) ansah. 123 Ebd., S. 49 ff., S. 61 ff. 124 Köhler (ebd., S. 16) kritisiert etwa an Thorndikes Versuchen mit Katzen und Hunden, die der Überprüfung von „Wundergeschichten“ über die Vermögen dieser Tiere dienten, dass die Methoden der Prüfung den „Tieranekdoten“ gemäß sei. Hier würden vorschnelle Verallgemeinerungen aus speziellen Ver suchen gezogen, die zudem aus den Befunden der Prüfungen nicht folgten. Zu seinen eigenen Beobachtungen bemerkt er deshalb, dass sie „fortwährend nachgeprüft“ (ebd., S. 61) wurden.
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in Bezugnahme auf Uexkülls Programm) als Doppelaspektivität bestimmt hat.125 Simpel formuliert meint dieses hochanspruchsvolle philosophische Konzept, dass es zu den Eigenschaften von Lebewesen als physikalischen Körpern der Wahrnehmung gehört, dass sie den Übergang vom räumlich ausgedehnten Körperlichen zum nicht ausgedehnten „Inneren“ als eines ihrer bestimmenden Merkmale besitzen. Mit dem antidualistischen Konzept Plessners richtet sich der philosophische Blick auf die „Grenze“ von Lebewesen. Mit ihr werden Lebewesen zu Zentren eines auf die Umwelt bezogenen Geschehens, das zugleich die immaterielle Dimension des Lebendigen anzeigt. Im Unterschied zur wechselseitigen Begrenzung bei anorganischen Körpern gehört nach Plessner die Grenze von Lebewesen ihnen selbst an. Lebewesen besitzen Integrität, weil sie grenzrealisierend sind, ihre Grenze ist reell. Zu berücksichtigen ist, dass Plessner die grundsätzliche Qualität von Lebewesen nicht insgesamt mit dem für höher organisierte Lebensformen reservierten Begriff des „Subjekts“ bezeichnet – seine Überlegung also einer Stufung von „Ding“, „Wesen“, „Subjekt“, „Selbst“ und „Person“ folgt. Betrachtet man (ohne diese hier zu weit führenden Spezifizierungen näher zu berücksichtigen) die mit dem Ansatz von Forschungsumwelten vorausgesetzten Bedingungen genauer, dann zeigt sich die „Doppelaspektivität“ für die Seite der beobachteten Lebewesen auch darin, dass im biologischen Versuch der Tierforschung eben nicht ein passiv allen Manipulationen ausgesetztes Untersuchungsobjekt vorliegt, sondern vielmehr im obigen Sinne ein aktives „Subjekt“, das variable und stimmungsabhängige Reaktionen auf gegebene Reize zeigen kann. In vielen biologischen Forschungsvollzügen erweisen sich die vermeintlichen Beobachtungsgegenstände als aktives (in manchen Fällen gar intentionales) Gegenüber. Damit wird deutlich, dass im biologischen Experiment in vielen Fällen nicht nur die menschlichen Experimentierenden Akteure gegenüber einem passiven Material sind. Biologische Technik ist vielmehr – so hatte es schon Hans Jonas formuliert – auf Kollaboration mit der Selbsttätigkeit aktiver biologischer Systeme angewiesen.126 Fehlt diese Kooperationsbereitschaft der Lebewesen – das machen vor allem die diesbezüglich hinsichtlich der vorausgesetzten mentalen Vermögen 125 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 89 ff.; Vgl. K. Köchy, „Positionalität“, in: J. Fischer (Hrsg.), Plessner Handbuch, Berlin 2017 (im Druck). 126 H. Jonas, „Laßt uns einen Menschen klonieren“, S. 165.
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der Tiere anspruchsvollen Versuche Köhlers deutlich –, dann wird die Versuchsdurchführung in vielen Fällen unmöglich. Köhler erwähnt, dass eine Gruppe von Tieren gemeinsam in das Untersuchungsareal gelassen wurde, da sie anfänglich viel zu ängstlich waren, um isoliert werden zu können.127 Die Motivation der Tiere, an den Verhaltensversuchen teilzunehmen, hängt dann von deren körperlichen Zuständen (wie Hunger128, Ermüdung129) oder mentalen Fähigkeiten (Erinnerung130) ab. Ohne Kooperationsbereitschaft der Tiere muss der Versuch unterbleiben: „Der Versuch wird abgebrochen, da Sultans Verhalten von Anfang an den Eindruck von Unlust und von Gleichgültigkeit gegen das Ziel macht.“131 Mit dem Konzept der Forschungsumwelten unterstreicht man also einerseits die lebendige Verfasstheit der forschenden Menschen nicht als eine nebensächliche immer auch mit zu berücksichtigende Größe, sondern vielmehr als Basis und Fundierung jeglichen Forschungsvollzuges. Andererseits berücksichtigt man auch, dass die Forschenden gerade in der biologischen Tierforschung mit ihren Untersuchungsgegenständen eben die fundamentale Eigenschaft teilen, Lebewesen zu sein, die in Umwelten leben.132 Diese Grundkonstellation hat für den Ansatz der Forschungsumwelten auch dann noch Relevanz, wenn man eben auch die oben erwähnte Kritik am invasiven und artifiziellen Setup des Labors anerkennen muss, die unterstreicht, dass Wissenschaft insgesamt eine methodische Ausrichtung fordert, die Separation, Isolierung, Rekonfiguration, Transformation oder Reduktion natürlicher Konstellationen bedingt. In extremer Form kann es damit im Zuge des Forschungsvollzugs zu einem Verlust des Lebens der „Forschungsgegenstände“
127 128 129 130 131 132
W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 14, Fußnote 1. Ebd., S. 22, S. 44. Ebd., S. 30. Ebd., S. 31. Ebd., S. 43. Vgl. auch Nashs Konzept der ‚entangled agency‘, das ebenfalls hervorhebt, dass die hier einschlägigen Relations- und Interaktionssysteme zwischen Tie ren und Menschen dadurch bestimmt sind, dass jedes Lebewesen eben als „organism-in-its-environment“ zu fassen ist und insofern die hier relevanten Relationen durch die Körperlichkeit der Relationsglieder und die materiale Ausprägung ihrer Praxen bestimmt sind (L. Nash, „The Agency of Nature or the Nature of Agency?“, in: Environmental History, 10(1)/2005, S. 67-69, hier S. 68).
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kommen.133 Bei dieser extremen Folge ist dann die zu betrachtende Relation nicht mehr als Auseinandersetzung mit lebendigen, sondern vielmehr nun mit unlebendigen (und deshalb nicht mehr mit Blick auf deren Umwelt relevanten) Teilen oder Prozessiermateria lien zu verstehen. Bei dieser extremen Konsequenz wären dann allerdings die für uns hier thematischen Verhaltensversuche auch nicht mehr umsetzbar. Hält man trotz dieser richtigen und wichtigen Betonung der Spezifika wissenschaftlicher Umwelten am Ansatz der Forschungsumwelten fest, dann vor allem wegen der epistemischen Konsequenzen, die ein solches Modell hat. Da man mit diesem Ansatz würdigen kann, dass in der Tierforschung Lebewesen auf beiden Seiten der Beobachtungsrelation stehen, macht man durch diese Perspektive auf wichtige Änderungen in den resultierenden epistemischen Konstellationen aufmerksam. Diese werden schon in den pragmatistischen Überlegungen von John Dewey angedeutet: Er betont, bei Einnahme einer technisch-instrumentellen Perspektive auf die Wissenschaften und bei gleichzeitiger Berücksichtigung, dass auch Bewusstsein und Erkenntnis Prozesse von Organismen sind, die den Bedingungen von Organismus-Umwelt-Relationen unterliegen, wandelt sich das Konzept des unfehlbaren und unparteiischen Zuschauers in Richtung auf das Konzept des Teilnehmers (partaker). Wissenschaftliche Wahrnehmung wird so zu einer Form der Teilnahme.134 Diese Einsicht ist auch für die weitere Erörterung unseres historischen Fallbeispiels von Bedeutung (vgl. Abschnitte 3.2 und 3.3). Die bereits erwähnte Position von Donna Haraway liefert für diese Einsicht eine aktuelle Variante, die ebenfalls Befunde aus der Primatenforschung einbezieht.135 Haraway, die mit ihrem Konzept der companion species nach Antwort auf die Bedeutung von Tier-Mensch-Interaktionen sucht, entwirft, den Gedanken von Alfred N. Whitehead und Maurice Merleau-Ponty folgend, ein relationales Szenario der Beziehungen zwischen Menschen und Tieren in Umwelten. Sie deutet die hier stattfindenden Intra- und Interaktionen als gemeinsame Aktivität von leiblichen und sterblichen Wesen, „zur Welt zu sein“ (world-making entang 133 Vgl. K. Köchy, „Tod im Labor. Zur Dialektik von Methode und Leben“, in: A. Joachimides, I. Müllner, S. Milling, Y. Thöne (Hrsg.), Opfer – Beute – Haupt gericht. Tiertötungen im interdisziplinären Diskurs, Bielefeld 2016, S. 265-289. 134 J. Dewey, Erfahrung und Natur, 1929, Frankfurt a. M. 1995, S. 324 ff. 135 D. J. Haraway, When Species Meet.
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lements136). Die forschungspraktischen Konsequenzen zeigt das von ihr erwähnte Beispiel aus der Freilandforschung an Pavianen, die die Arbeitsgruppe um Barbara Smuts umsetzte.137 Haraways Darstellung macht deutlich, dass sich auch in diesem Fall die Forschenden von ihrer methodologischen Tugend, neutrale Beobachter zu sein, verabschieden mussten, wollten sie die sozialen Interaktionen der von ihnen beobachteten Tiere überhaupt erfassen. Die Forschenden mussten auch in diesem Fall ihrer Verfassung als (soziale) Lebewesen im Forschungsvollzug Rechnung tragen. Verhielten sich die Forschenden hingegen „wie Steine“, dann irritierte dieses Fehlen sozialen Verhaltens die erforschten Tiere in weit stärkerem Maße, als würden die Menschen aktiv am sozialen Geschehen der Tiere mitwirken. Die Forschungsfrage kehrte sich quasi um: Nicht mehr war es die menschliche Frage danach, ob Paviane soziale Lebewesen sind (die ein „Gesicht“ haben, wie Haraway es ausdrückt),138 sondern vielmehr nun war es die Frage der Paviane, ob die forschenden Menschen soziale Lebewesen sind. Forschende werden somit nach Haraways Deutung in den „Tanz der Relationen“ (dance of relating)139 hineingezogen. Gleiches gilt auch für die untersuchten Tiere. Selbst für die instrumentellen Relationen zwischen Tieren und Menschen, wie sie die Laboratorien der Wissenschaft bestimmen, konstatiert Haraway einen vergleichbaren Wandel. Wendet man nach ihr auf die Beziehungen im Labor nicht die (ethische) Kategorie der Rechte an, sondern betrachtet sie vielmehr unter der praktisch-technischen Kategorie der Arbeit (category of labor),140 dann wird die oben bereits von Kohler erwähnte Tatsache deutlich, dass auch die Tiere mehr sind, als lediglich Objekte der Forschung: „In the idiom of labor, animals are working subjects, not just worked objects.“141
136 Ebd., S. 4. 137 Ebd., S. 23 ff. 138 Vgl. zur Bedeutung der Zuschreibung eines Gesichts in der Tier-Mensch-Be ziehung auch den Beitrag von Efstathiou in diesem Band. 139 D. J. Haraway, When Species Meet, S. 25. 140 Ebd., S. 73. 141 Ebd., S. 80.
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3.2 Der notwendige Rückbezug vom Erforschten auf die Forschenden Wie gesehen ist die besondere Relation der Tierforschung eine solche, bei der auf beiden Seiten der Relation Lebewesen stehen. Dieses ist nicht nur wegen der ontologischen Gemeinsamkeit der Relationsglieder relevant, sondern vor allem auch wegen der durch diese Konstellation möglich (oder notwendig) werdenden epistemischen oder methodischen Rückbezüge auf den menschlichen Beobachtenden im Kontext der Beobachtung. Mit den oben zitierten Worten Thure von Uexkülls ist dieses der Ansatzpunkt auch für die mit dem Umweltgedanken verbundene Forderung, den „Standpunkt des Beobachters“ in das Bezugssystem der Forschung mit einzusetzen. Obwohl die Tierforschung wie alle Wissenschaft unter der methodischen Vorgabe der Fremdstellung steht, die sich auch in Form eines Verbotes anthropomorpher Deutungen des Beobachteten äußert, werden deshalb in zentralen Teilen des Beobachtungsprozesses solche Rückbezüge nicht nur epistemisch unvermeidlich, sondern erweisen sich möglicherweise auch methodisch als fruchtbar. Betrachten wir diesen Punkt erneut mit Blick auf unser Fallbeispiel und konzentrieren uns dazu weniger auf die untersuchten Tiere und stärker auf den untersuchenden Forscher (Köhler selbst). Köhler legt im Sinne des Ideals der methodischen Fremdstellung zunächst großen Wert auf eine möglichst neutrale Beobachtung und Beschreibung der Verhaltensleistungen „seiner“ Menschenaffen. Das zeigt sich etwa in der immer wieder bekundeten Absicht, zunächst auf eine theoretische Deutung seiner Versuche zu verzichten. Dem Leitbild eines neutralen Protokolls des Geschehens folgend, will er die je konkreten und individuellen Abläufe der Versuche nur möglichst exakt und vollumfänglich aufzeichnen.142 Sei142 Hierzu sind allerdings die Einsichten in die theoriengeleitete Beobachtung zu beachten. Für den Fall der Verhaltensbeobachtung hat deshalb Robert A. Hinde (Das Verhalten der Tiere, Frankfurt a. M. 1973, 2 Bde., B. 1, S. 19) herausgestellt, dass wir, in dem Moment, „in dem wir anfangen, das Verhalten zu beobachten“ auch damit beginnen „zu abstrahieren“. In der philosophischen Debatte hat aus diesem Grund Ruth G. Millikan („Verschiedene Arten von zweckgerichtetem Verhalten“, in: D. Perler, M. Wild (Hrsg.), Der Geist der Tiere, Frankfurt a. M. 2005, S. 201-212, hier S. 202) darauf hingewiesen, dass die Frage, welche Beobachtungen als Daten für eine bestimmte Wissenschaft zählen, nie unab hängig von einer Theorie beantwortet werden kann. Angesichts der unend lichen Möglichkeiten, Verhalten zu beschreiben und Parameter dafür auszu wählen, ist diejenige Beschreibungsform festzulegen, die als wissenschaftlich
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nen betonten Verzicht auf theoretische Deutung begründet Köhler interessanterweise auch mit den Abweichungen der Tierpsychologie vom Leitbild der Physik. Allerdings resultieren diese Abweichungen nach Köhler nicht aus dem Charakter der zu untersuchenden Phänomene (etwa komplexe Verhaltensleistungen von höher entwickelten Lebewesen), sondern vielmehr aus dem geringen Ent wicklungsstand der diese Phänomene untersuchenden Wissenschaft. Die Tierpsychologie sei eben noch keine so „hochentwickelte Erfahrungswissenschaft wie [die] Physik“.143 Während die Physik bereits über ein System „nicht mehr verlierbaren Wissens“ verfüge, in das sich auch neue Befunde problemlos integrieren ließen, besitze die Tierpsychologie lediglich „recht ungefähre Theorien“, denen es an Strenge und Konsistenz mangele. Die theoretische Deutung der Beobachtungen münde deshalb häufig in „Streit“ und „Glaubenskampf“.144 An vielen Stellen von Köhlers Untersuchung ist diese betonte Zurückhaltung in der theoretischen Deutung der Beobachtungen feststellbar. Hierzu sind allerdings zwei Anmerkungen wichtig: Erstens fungiert die Behauptung einer zunächst rein auf die Beobachtung setzenden Enthaltung von theoretischer Deutung bei Köhler auch als strategisches Argument gegen die wissenschaftliche Gegenposition Thorndikes. Auf den möglichen Einwand von dieser assoziationspsychologischen Seite, die von ihm vorgenommene Untersuchung setze vor aller Beobachtung bereits die Prämissen der Gestalttheorie voraus, antwortet Köhler, schon die unbefangene Beobachtung des Alltags müsse einen Assoziationspsychologen von der Existenz einer eindeutig in der Wahrnehmung entscheidbaren Differenz zwischen erlerntem und einsichtigem Verhalten überzeugen.145 Zweitens – und das ist für unseren Ansatz bedeutsam – resultiert aus der Betonung neutraler Beobachtung nicht eo ipso ein Verzicht Köhlers auf eine Beschreibung des beobachteten Verhaltens mittels Begriffen und Redewendungen, die eine anthropomorphe Note haben. Im Gegenteil, gerade die in der menschlichen Erfahrung im Umgang mit den Mitmenschen belegte Fähigkeit, in
gelten soll (ebd., S. 204). Millikan konkretisiert dann „wahres Verhalten“ als solche Bewegungsabläufe, denen ein biologischer Zweck unterstellt wird und biologischen Zweck näherhin als „biologischen Überlebenswert“ (ebd., S. 202). 143 W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 133. 144 Ebd. 145 Ebd., S. 2.
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der Wahrnehmung wegen der Gestaltqualitäten (d. h. die jeweilige „Umwelt“ oder „Situation“ berücksichtigenden Eigenschaften) dieses Geschehens eindeutig zwischen zufälligem und einsichtigem Verhalten zur Lösung einer Aufgabe unterscheiden zu können, legitimiert für Köhler eine Beschreibung des tierlichen Verhaltens in Begriffen, die aus der menschlichen Sphäre entstammen. Damit wird jedoch von ihm statt eines behavioristischen ein kognitives respektive intentionales Vokabular eingesetzt. So ist im Fall des Wegräumens von Kisten oder anderer Hindernisse für Köhler eine intentionale Deutung des Verhaltens der Tiere durch die Forschenden im Sinne von „Kiste hier aus dem Weg vor dem Ziel!“ angebrachter als deren mechanistisch-behavioristische Deutung im Sinne von „Die und die Serie von Bewegungen!“146 (Wir kommen auf diesen Aspekt unten in Punkt 3.3 noch einmal zurück.) Der Gesamteindruck des Verhaltens sichert also nach Köhler vor dem Vorwurf des Anthropomorphismus.147 Wenn das Verhalten in der Wahrnehmung als sinnvoller, lösungsorientierter Ablauf erkannt wird, dann können intentionale Begriffe eben gerade zum Ausdruck bringen, dass man „von der Einstellung auf Menschenähnlichkeit schlechthin abgekommen ist und sich auf die Eigennatur des beobachteten Verhaltens selbst richtet“.148 Auch Fehlleistungen der Tiere verweisen dann nicht sofort auf deren grundsätzliche Unfähigkeit, überhaupt intentionale Akte im Sinne einsichtigen Verhaltens vollziehen zu können, sondern erlauben vielmehr eine Unterscheidung von Fehlerkategorien, bei denen – im Gegensatz zu „Fehlern aus Nichtverstehen“ und groben „Gewöhnungstorheiten“ – auch „gute Fehler“ im intentionalen Regime eine Rolle spielen können. Diese Überlegungen Köhlers sind vor einem historischen Hintergrund zu würdigen, bei dem Vorbehalte gegenüber anthropomorphen Deutungen tierlichen Verhaltens etwa durch die Debatten um den Klugen Hans, das scheinbar rechnende Pferd des Wilhelm von Osten,149 extrem hoch waren. Es war der ursprünglich zur 146 147 148 149
Ebd., S. 45, Fußnote. Ebd., S. 73. Ebd., S. 140. J. Abresch, H. E. Lück, „Der kluge Hans, Oskar Pfungst und die Hirnrinde“, in: H. Gundlach (Hrsg.), Arbeiten zur Psychologiegeschichte, Göttingen 1994, S. 83-94; H. Baranzke, „Nur kluge Hänschen kommen in den Himmel. Der tierpsychologische Streit um ein rechnendes Pferd zu Beginn des 20. Jahrhun derts“, in: F. Niewöhner, J.-L. Seban (Hrsg.), Die Seele der Tiere, Wiesbaden
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Leitung der Station vorgesehene Stumpf-Schüler Oskar Pfungst (1874–1933), der für die Preußische Akademie der Wissenschaften die wissenschaftliche Untersuchung dieses Phänomens umsetzte.150 Köhler ist sich solcher Einwände gegen einen möglichen Anthropomorphismus seiner Schlussfolgerungen also sehr wohl bewusst und er wehrt sie an vielen Stellen seiner Arbeit mit Bezug auf das beobachtete Tierverhalten oder die Biologie der Tiere ab.151 Er weist deshalb die Etikettierung seiner Deutung als „Anthropomorphismus“ im Sinne eines „Hineinlegen in das Tier“ vehement zurück.152 Es handele sich bei den auf den Gesamteindruck eines Verhaltensablaufs beruhenden Interpretationen des Affenverhaltens zwar um vergleichbare Vollzüge, wie „bei Beobachtung von Menschen“, jedoch enthalte diese Bezugnahme auf den Menschen (als Bezugnahme auf biologische Merkmale des Verhaltens) ebenso wenig einen Anthropomorphismus, wie er mit der Aussage, „Der Schimpanse hat die gleiche Zahnformel wie der Mensch“ verbunden sei.153 Bei allen vorausgesetzten Gemeinsamkeiten, die die Möglichkeit (oder Notwendigkeit) von epistemischen Rückbezügen eröffnen, betont Köhler allerdings zugleich auch seine Rücksichtnahme auf die spezifischen Fähigkeiten und Vermögen der Schimpansen. Dieses wird relevant bei der Gestaltung von Versuchsdesigns. Köhler belegt hiermit die (aus der Perspektive eines umwelten approaches bedeutsame) Einsicht in die möglichen Abweichungen in den Umwelten von Menschen und anderen Lebewesen. Deshalb kann beispielsweise ein Unterschied bestehen zwischen den Vermutungen der Forschenden über den Schweregrad der von ihnen gestellten experimentellen Aufgaben und den tatsächlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten der Tiere.154 Man muss sich also stets davor hüten, „die Leistungen der Tiere (und ihre Fähigkeiten) im voraus durch 2001, S. 333-379; H. Baranzke, „Der kluge Hans. Ein Pferd macht Wissenschafts geschichte“, in: J. Ullrich, F. Weltzien, H. Fuhlbrügge (Hrsg.), Ich das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte, Berlin 2008, S. 197-214. 150 O. Pfungst, Der kluge Hans. Ein Beitrag zur nichtverbalen Kommunikation (1907), Frankfurt a. M. 1983. 151 W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 33, Fußnote. Hier wird der Verweis auf den Anschein, Sultan würde im Zuge seiner Versuche, eine Aufgabe zu lösen, die Distanz zum Ziel messen, begleitet mit der Anmerkung: „Das ist kein ‚Anthropomorphismus‘: […] als Baumtier, das mitunter gewaltig springt, muß er ja so schätzen können […].“ 152 Ebd., S. 73. 153 Ebd. 154 Ebd., S. 6.
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bloße Reduktion aus dem Bilde menschlicher Leistungen (Fähigkeiten) zu konstruieren […].“155 Damit sind wir an einen Punkt der Darstellung unseres Fallbeispiels gelangt, an dem deutlich wird, dass die Unterschiede im methodisch-methodologischen Vorgehen zwischen biologischer Verhal tensforschung und der Physik möglicherweise doch andere Gründe haben, als sie Köhler selbst mit dem Verweis auf die unterschiedliche Entwicklungshöhe der Disziplin vermutet. (Oder aber, dass die unterschiedliche Entwicklungshöhe der beiden Wissenschaften in der Exaktheit und Eindeutigkeit ihrer Erklärungsformen eben ihrer seits auf diese Unterschiede in den jeweils wissenschaftlich zu behandelnden Phänomenen zurückführbar ist). Sie verweisen uns vor dem Hintergrund der Idee von Forschungsumwelten vielmehr auf eine besondere epistemische Struktur, die auch eine Rückbeziehung der gemachten Beobachtung an Tieren auf die menschlichen Beob achtenden erlaubt oder befördert, für die es in physikalischen Kon stellationen kein Analogon gibt. Betrachtet man die Beobachtungs situation in Köhlers Versuchen und die Rolle der menschlichen Beobachtenden in ihr genauer, dann stellt man fest, dass es unvermittelt zu einem Wandel von dessen Status kommt. Aus den neutralen werden teilnehmende und anteilnehmende Beobachtende. Dieser Umschlag verläuft folgendermaßen: Im Kontext der Versuche zum Werkzeuggebrauch erlangen für das Tier nach Köhler alle Gegenstände des von ihm einsehbaren Feldes, die als langgestreckt wahrgenommen werden, eine einheitliche funktionelle Bedeutung. Köhler nennt dieses den „Funktionswert“. Alle Gegenstände werden für das Tier zu Werkzeugen zum Ergreifen des Zieles, das sich außerhalb seines direkten Zugriffs befindet. Angesichts dieser intentionalen Bezugnahme des Tieres auf Elemente seiner Umwelt, die sich für den externen Beobachtenden in der praktischen Verwendung der vorhandenen Gegenstände äußert und in den Versuchen der Tiere, alle langgestreckten Objekte (auch Decken) in ähnlicher Weise zu verwenden, kommt es zu einer Deutung des beobachteten Verhaltens der Tiere als intentionalem Akt (ein Befund, der sich nicht vom Forschenden direkt beobachten lässt). Hierzu schaltet der menschliche Beobachtende von der Fremdbeobachtung (der Tiere in ihrer Versuchssituation) auf eine Selbstbeobachtung um. Unvermittelt lenkt sich die Richtung seiner Aufmerksamkeit um: War sie bisher auf die Geschehnisse im Außenmedium gerich155 Ebd., S. 47.
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tet (intentio recta), wird sie nun von den Phänomenen im Umfeld des Beobachtenden (den sich verhaltenden Lebewesen in ihrer Umwelt) auf Phänomene der eigenen Vorstellungswelt umgelenkt oder umgebogen (intentio obliqua). Dieses wiederum verursacht für den menschlichen Beobachtenden eine gerichtete Wahrnehmung des Außenfeldes (und der in ihr agierenden Lebewesen) im Sinne seiner eigenen Vorstellungswelt: „Noch ehe das Tier auf Verwendung von Stöcken oder ähnlichem verfallen ist, wird dergleichen natürlich vom Zuschauer erwartet; sieht man nun den Affen eifrig, aber ohne Erfolg bemüht, die Distanz zum Ziel zu überwinden, so geht infolge der Spannung ein Wechsel im Gesichtsfeld vor sich; längliche und bewegliche Gegenstände sieht man nicht mehr indifferent und streng statisch an ihrem Ort, sondern wie mit einem ‚Vektor‘, wie unter einem Druck nach der kritischen Stelle hin.“156 Diese Rückbezüglichkeit wie sie im Fall von Köhlers Forschung vom Verhalten der Tiere (als anderen Lebewesen in der Umwelt des Forschenden) auf das Verhalten und die sie begleitenden Intentionen des Forschenden erfolgt (und umgekehrt von diesen Intentionen auf diejenigen anderer Lebewesen), entspricht nun exakt den zyklischen Rückbeziehungen und Deutungen, die Menschen im Kontakt mit ihren Mitmenschen vornehmen. Dieses war bereits eine zentrale Einsicht der frühen Formen der Tierpsychologie, wie es etwa die für das Fach programmatischen Überlegungen von Conwy Lloyd Morgan (1852–1936) zeigen.157 Nach Morgan prägen die Methodologie der vergleichenden Psychologie zwei sich ergänzende Induktionsweisen. Die subjektive Induktion wird durch die persönliche Erfahrung des Forschenden über sein eigenes Bewusstsein legitimiert, die objektive Induktion hingegen durch die Wahrnehmung externer Phänomene im Umfeld des Forschenden. Die damit verbundene epistemische Herausforderung besteht darin, die beobachtbaren Phänomene der Außenwelt (in unserem Fall sich verhaltende Lebewesen in deren Umwelten) im Lichte der eige nen Erfahrungen der Innenwelt zu interpretieren. Für diese fragile Schlussfolgerung von beobachtbaren Verhaltensweisen in Zeit und Raum auf ein mögliches Bewusstsein bei anderen Lebewesen kommt der berühmte ‚Morgan Kanon‘158 als methodische Siche156 Ebd., S. 25. 157 C. L. Morgan, An Introduction to Comparative Psychology, London 1894, S. 47 f. Zu Morgan vgl. den Beitrag von Hilbert in diesem Band. 158 Ebd., S. 53.
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rung gegen ungerechtfertigte anthropomorphe Fehlschlüsse zum Einsatz. Der Ausgangspunkt aller vergleichenden Psychologie ist aber auch für Morgan die methodische Introspektion des menschlichen Beobachtenden. Nur sie vermittelt ihm first-hand knowledge über die eigenen bewussten Prozesse. Alles Wissen über Fremdpsychisches bleibt nach dieser Überlegung notwendig hypothetisch (second-hand knowledge).159 Berücksichtigen wir den Kontext der Forschungsumwelt von Köhlers Forschungsansatz, dann wird die implizite Bezugnahme auf die Rückbezüglichkeitsschleifen im Fall von Kontakten zwischen Menschen deutlich, sobald wir den Horizont erweitern und andere Mitglieder des von ihm vertretenen Forschungsprogramms berücksichtigen. Zu den Berliner Kollegen von Wolfgang Köhler gehört auch der Psychologe Kurt Lewin (1890–1947), dessen philosophischer Hintergrund u. a. durch Ernst Cassirer geprägt ist. Kurt Lewins wissenschaftliche Reputation als Psychologe im Umfeld der Gestalttheorie ist auch durch seine feldtheoretische Interpretation von Verhaltensleistungen und deren psychologischer Grundlagen begründet. Diese hat er schon früh in dem Beitrag Vorbemerkungen über die psychischen Kräfte und Energien und über die Struktur der Seele (1926) entworfen.160 Lewin hat seinen Ansatz auch topologische Psychologie, Vektorpsychologie oder eben „Feldtheorie“ genannt. Der Begriff des Feldes, der auch in Köhlers Forschungen eine prominente Rolle spielt, verweist uns darauf, dass Lewin mit Köhler das mathematisch-physikalische Erkenntnisideal teilt. Den philosophischen Hintergrund für diese Orientierung Lewins belegt dessen Beitrag Der Übergang von der aristotelischen zur gali leischen Denkweise in Biologie und Psychologie (1930/31).161 Aus diesem Ideal resultieren Formalisierungen, mit denen Lewin das Verhalten theoretisch beschreibt und deutet. Auch hier wird ein Milieu (im Sinne der von Canguilhem kritisierten Position) nach physikalischem Vorbild als formaler Zusammenhang entworfen, 159 Vgl. auch den Beitrag von Böhnert und Hilbert in Band 1 der Philosophie der Tierforschung. 160 K. Lewin, „Vorsatz, Wille und Bedürfnis, mit Vorbemerkungen über die psy chischen Kräfte und Energien und über die Struktur der Seele“, in: Psycholo gische Forschung, 7/1926, S. 294-399; Vgl. auch H. E. Lück, Kurt Lewin. Eine Einführung in sein Werk, Weinheim 1996. 161 K. Lewin, „Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie“, in: Erkenntnis, 1/1930–31, S. 421-466. (Wieder abdruck Darmstadt 1971)
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wobei allerdings die relationale Note des Umweltgedankens erhalten bleibt. In der modernen Physik, so Lewin, beruhe das Auftreten physikalischer Vektoren auf einem „Zueinander mehrerer physikalischer Fakten, insbesondere auf einer Beziehung des Gegenstandes zur Umgebung“.162 Damit trete „neben den Gegenstand durchaus gleichwertig die Situation, in der er sich befindet. Erst durch die konkrete, Gegenstand und Situation umfassende Gesamtsituation sind die Vektoren bestimmt, die die Dynamik beherrschen“.163 Überträgt man diesen Gedanken einer situativen Verfasstheit nach physikalischem Vorbild auf das Verhalten, dann lässt sich nach Lewin eine universelle Verhaltensgleichung aufstellen [V = f (P, U)]. Verhalten (V) wird hier als Funktion des Lebensraums oder der Umwelt (U) und der Person (P) erfasst wird. Die (auch aus dem Uexküllschen Funktionskreis abgeleitete) Vorstellung von agierenden Lebewesen in einer Umwelt führt bei Lewin zu der Annahme, dass sich das aktuell zeigende Verhalten stets als Summe der Faktoren (und deren Richtungen) in einer bestimmten Situation ergibt. Die enge Beziehung zum Umweltgedanken Uexkülls demonstriert vor allem Lewins frühe phänomenologische Reflexion zur Kriegslandschaft (1917), nach der Landschaften auf die subjektive Stimmungslage gerichtete Gebilde sind.164 Die Maxime Lewins war deshalb: „Wir müssen die konkrete Situation in ihrer Gesamtheit einbeziehen, statt uns an die größtmögliche historische Sammlung von Wiederholungen zu halten.“165 Köhlers tierpsychologische und Lewins humanpsychologische Untersuchungen verbindet auch ein weiteres methodologisches Element der methodologischen Signatur ihres Forschungsprogramms:166 Ab 1923 hat Lewin – inspiriert wohl durch Köhlers Dokumentation
162 Ebd., S. 452; zum Konzept der Vektoren bei Lewin vgl. auch E. C. Tolman, „Lewin’s Concept of Vectors“, in: Journal of General Psychology, 7/1932, S. 3-15. 163 K. Lewin, „Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie“, S. 454. 164 K. Lewin, „Kriegslandschaft“ (1917), in: J. Dünne, S. Günzel (Hrsg.), Raum theorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frank furt a. M. 2006, S. 129-140. 165 Zitiert nach A. J. Marrow, Kurt Lewin. Leben und Werk (engl. 1969), Weinheim, Basel 2004, S. 82. 166 Vgl. die Beiträge in W. Schönpflug (Hrsg.), Kurt Lewin – Person, Werk, Umfeld. Historische Rekonstruktionen und aktuelle Wertungen, Frankfurt a. M. 22007.
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seiner Menschenaffenversuche167 – seine Verhaltensbeobachtungen an Menschen mit dem neuen Medium des Films168 festgehalten. Die für Lewins Konzept paradigmatischen Filmaufnahmen, die auch seinen wissenschaftlichen Ruhm maßgeblich befördert haben,169 zeigen etwa die Bewegungsabläufe eines kleinen Mädchens (Hanna, die Nichte seiner Frau) bei ihrem ersten Versuch, sich auf ein Objekt (einen Stein) hinter ihr zu setzen. Dieses Verhaltensbeispiel einer Konfliktsituation diente Lewin zur Illustration seines theoretischen Konzepts zur Deutung des Verhaltensablaufs. Das Geschehen lässt sich für Lewin im Sinne eines „Geschehensdifferentials“170 als Wechselbezug psychischer Feldkräfte darstellen. Dabei ist es bedeutsam, dass es nach Lewin dann zu Fehldeutungen des Verhaltens kommt, wenn man nur die Feldkräfte, nicht aber die Gesamtsituation berücksichtigt. Bei Kräften nämlich, die in ihrer Richtung von einander abweichen (etwa zweier konkurrierender Ziele – bei Kindern die Lockungen eines Spielzeugs oder einer Schokolade), müsste es nach dem theoretischen Modell der Feldkräfte stets zu einer wie auch immer gearteten Resultante kommen. Diese würde allerdings zwischen beiden realen Zielen verlaufen – beide Ziele würden also verfehlt. Im wirklichen Handlungsablauf jedoch geschieht so etwas selten, denn angesichts der Gesamtsituation ist er stets flexibel abgestimmt und angesichts der historischen Reaktionsbasis aller biologischen Abläufe veränderbar. Wendet man nun das theoretische Modell der Feldkräfte auf den Fall der sich hinsetzen wollenden Hanna an, dann hätte man ähnliche Vektoren zu unterstellen. Es würden nach den theoretischen Modellvorstellungen Lewins von den Objekten der Umwelt (als den Zielen der Wünsche und Handlungen von Hanna) bestimmte Aufforderungen ausgehen. Der positive Aufforderungscharakter (Valenz) ist topologisch als Vektor darstellbar. Offenbar kommt es im Fall des erstmaligen Setzens auf ein Objekt, das im Rücken der Person liegt, zu Konflikten, die sich in Schwierigkeiten des Handlungs167 H. E. Lück, „Kurt Lewin“, in: H. E. Lück, R. Miller (Hrsg.), Illustrierte Ge schichte der Psychologie, Weinheim 1999, S. 90-95, hier S. 93. 168 Zum Einfluss dieser Filme auf Sergej Eisenstein vgl. O. Bulgakowa, „Sergej Eisenstein und Kurt Lewin“, in: W. Schönpflug (Hrsg.), Kurt Lewin – Person, Werk, Umfeld. Historische Rekonstruktionen und aktuelle Wertungen, S. 155166. 169 Vgl. A. J. Marrow, Kurt Lewin. Leben und Werk, S. 107. 170 K. Lewin, „Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie“, S. 456 ff.
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ablaufs und im Unvermögen des Kindes äußern, sich tatsächlich hinzusetzen. Das Kind ist nämlich einerseits bestrebt, den Gegenstand seines Wunsches (Sitzplatz), im Blick zu behalten (direkter Augenkontakt auf das Ziel hin). Um sich jedoch tatsächlich erfolgreich setzen zu können, muss es andererseits diesen Augenkontakt aufgeben und dem Ziel den Rücken zuwenden. Auch in diesem humanpsychologischen Fall haben wir es mit einer Art von Umwegsituation zu tun, wie sie analog auch den Hintergrund von Köhlers Umwegversuchen bildete. Die Gegenläufigkeit der Vektoren führt zu Unsicherheiten und Konflikten, die sich in den Störungen des Handlungsablaufes des Kindes äußern. Wichtig ist nun für die obige Behauptung einer Analogie zwischen Köhlers tierpsychologischen Versuchen und Lewins humanpsychologischem Ansatz die Einsicht, dass in beiden Fällen die physikalische Auffassung des Mediums, die sich bei Lewin im Modell der Vektordarstellung äußert, dazu tendiert, einen wesentlichen Faktor der Gesamtsituation außer Acht zu lassen. Angemessen ist das Modell nur dann, wenn man den Beobachtenden der Szene in seiner theoretischen Deutung mitberücksichtigt. Die Bedeutung des Beobachtenden wird beim Betrachten der Filme Lewins deutlich. Ist man in der Situation des Zuschauers, dann kann man in der Selbstbeobachtung folgendes feststellen: Sobald man die dargestellten Abläufe als Versuche eines Kindes erfasst, das die Absicht hat, sich zu setzen und daran scheitert, erfolgt eine emotionale Reaktion. Diese kann sich darin äußern, dass die Fehlversuche und Unsicherheiten Hannas Belustigung erzeugen. Es kann aber auch eine implizite Unterstützungsabsicht resultieren. Dabei entsteht beim Zuschauenden eine analoge Grundstimmung, wie sie auch Köhler bei seinen Verhaltensversuchen an Schimpansen erfährt. Wie bei den Fehlversuchen der Menschenaffen in der Verwendung ihrer Werkzeuge, erzeugen auch die Fehlversuche und inneren Bewegungskonflikte von Hanna beim Zuschauenden ein Moment der Teilnahme. Man versteht die Versuche des Kindes als intentionalen Akte eines intentionalen Akteurs (vgl. dazu auch den Abschnitt 3.3), „versetzt“ sich in die Lage des Kindes, deutet dessen Bewegungen als Resultate einer Absicht, die scheitert, erfährt eine (im Sinne der Zielsetzungen des Kindes) gerichtete Wahrnehmung und vollzieht (im Geiste oder gar real) analoge Körperbewegungen mit oder nach. Diese und ähnliche Übertragungsphänomene haben – über Alexander Lurija (1902– 1977) vermittelt – den russischen Filmemacher Sergei Eisenstein
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(1898–1948)171 inspiriert (der die Filme Lewins 1929/1930 sah): Eisenstein hat diese Befunde nicht nur als filmisches Mittel zur gezielten Erzeugung von Emotionen beim Zuschauenden eingesetzt, sondern auch eine entsprechende Ausdruckstheorie formuliert. Nach dieser Theorie sollte nicht nur der Schauspielende erleben, sondern parallel zu ihm auch der Zuschauende. Der Schauspielende führt dazu bestimmte Bewegungen in bestimmten Situationen aus, was den Zuschauenden „ansteckt“ und bei ihm gerichtet bestimmte Emotionen auslöst. Auch in Lewins eigener Theorie findet sich ein Niederschlag dieser Einsichten in die fundamentalen Rückbezüglichkeiten vom Beobachteten auf den Beobachtenden. Er hat ihn hinsichtlich dieses wichtigen Aspekts des Relationsgefüges im betrachteten Milieu vom eigentlich vorausgesetzten physikalischen Vorbild weg geführt. Auf der metatheoretischen Ebene seiner Wissenschaftstheorie Über Idee und Aufgabe der vergleichenden Wissenschaftslehre (1925–1928)172 wird dieses darin deutlich, dass Lewin seinen pluralistischen Anspruch mit Blick auf die Wissenschaften unterstreicht.173 Lewin hebt die Vielheit der gegebenen Wissenschaften hervor und verspricht eine Berücksichtigung der den „verschiedenen Seinssphären korrelativen ‚Betrachtungsweisen‘“174 der einzelnen Disziplinen. Daraus resultiert auch für Lewin eine Perspektive auf die Wissenschaft, die wissenschaftliche Erkenntnisprozesse in ihr „erkenntnistheoretisches Umfeld“175 einbinden muss. Wendet man diese epistemologische Leitlinie unter den Maßgaben einer Konzeption von Forschungsumwelten auf Lewins eigene psychologische Forschungen an, dann zeigt sich zunächst, dass mit der Verabschiedung vom Anspruch der Einheitswissenschaft auch ein Verzicht auf die Fiktion der Einheitsmethode einhergeht. „Methoden haben sich nach den Eigenschaften der speziellen Forschungsgegenstände zu richten“, so schreibt Lewin im zwischen 171 O. Bulgakowa, „Sergej Eisenstein und Kurt Lewin“, S. 159. 172 K. Lewin, „Über Idee und Aufgabe der vergleichenden Wissenschaftslehre“ (1925), in: K. Lewin, Wissenschaftstheorie I, hrsg. von A. Métraux, KurtLewin-Werkausgabe Bd.1, Bern, Stuttgart 1981, S. 49-80. 173 Vgl. K. Köchy, „Vielfalt der Wissenschaften bei Carnap, Lewin und Fleck. Zur Entwicklung eines pluralen Wissenschaftskonzepts“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 33(1)/2010, S. 54-80. 174 K. Lewin, „Über Idee und Aufgabe der vergleichenden Wissenschaftslehre“, S. 51. 175 Ebd., S. 68.
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1925–1928 entstandenen Manuskript seiner Wissenschaftslehre.176 In der Psychologie gehören zur großen Zahl von Spezialmethoden dann auch die Methoden der „Selbstbeobachtung“ und der „Fremdbeobachtung“.177 Lewin ist sich weiter im Klaren darüber, dass manche Versuche eine besondere Schulung der zu beobachtenden Versuchspersonen notwendig machen. Dieses Thema hatte ihn bereits in seiner ersten Promotionsschrift Die Erziehung der Versuchsperson zur richtigen Selbstbeobachtung und die Kontrolle psychologischer Beschreibungsangaben (1914) beschäftigt.178 Für unseren Kontext bedeutet dieses, dass Rückbezüge auf das innere Erleben der im wissenschaftlichen Vollzug Beobachteten in Form von introspektiven Berichten der Probanden eine nicht zu vernachlässigende Informationsquelle für die experimentelle Psychologie sind. Dabei sucht Lewin – wie auch Uexküll und Köhler – dem Leitbild naturwissenschaftlicher Beobachtung treu zu bleiben. Wie er in seiner Arbeit Psychologische und sinnesphysiologische Be griffsbildung (1918)179 betont, ist Selbstbeobachtung Ausdruck für besondere Beobachtungsgegenstände, die nur ein Individuum direkt wahrnehmen kann, ansonsten stünde jedoch der „Beobachter psychischer Wahrnehmungsgegenstände […] zu seinen Beobachtungsobjekten in keinem anderen Verhältnis als der physikalische Beobachter zu seinen Wahrnehmungsgegenständen“.180 Einen Aspekt der geschilderten Konstellation zwischen Beobachtendem und Beobachtetem scheint Lewin allerdings mit dieser Behauptung epistemologisch zu unterschätzen: Die von ihm selbst immer wieder betonte Tatsache, dass im Fall der psychologischen Beobachtung, die Beobachtenden „zugleich auch die eigentlichen
176 K. Lewin, „Wissenschaftslehre“ (1925–1928), in: K. Lewin, Wissenschafts theorie II, hrsg. von A. Métraux, Kurt-Lewin-Werkausgabe, Bern, Stuttgart 1981, Bd. 2, S. 319-471, hier S. 371. 177 Ebd., S. 372; vgl. dazu auch L. Sprung, U. Linke, „Kurt Lewin als Methodologe und Methodiker“, in: W. Schönpflug (Hrsg.), Kurt Lewin – Person, Werk, Um feld, S. 105-120, hier S. 113. 178 K. Lewin, „Die Erziehung der Versuchsperson zur richtigen Selbstbeobachtung und die Kontrolle psychologischer Beschreibungsangaben“ (1914), in: K. Lewin, Wissenschaftstheorie I, hrsg. von A. Métraux, Kurt-Lewin-Werkausgabe, Bern, Stuttgart 1981, Bd. 1, S. 153-212. 179 K. Lewin, „Psychologische und sinnesphysiologische Begriffsbildung“ (1918), in: K. Lewin, Wissenschaftstheorie I, hrsg. von A. Métraux, Kurt-LewinWerkausgabe, Bern, Stuttgart 1981, Bd. 1, S. 127-152. 180 Ebd., S. 134.
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Objekte der Untersuchung sind“.181 Diese selbstreferentielle Bezugnahme finden sich in einer Modifikation auch, die auf der Ebene der Versuchspersonen beobachtete und sich selbst beobachtende Lebewesen sind und so quasi in ihrer epistemischen Doppelnatur als Subjekte und Objekte des Geschehens relevant werden.182 Das deutet auf Relationen hin, die gegen Lewins Intentionen die Analogie zum physikalischen Milieu sprengen und angemessen nur mit dem Modell der Forschungsumwelt zu erfassen sind. Mit den Worten von Merleau-Ponty gilt: „Denn der Physiker oder Chemiker ist nicht selbst der Gegenstand, von dem er zu reden hat, der Psychologe hingegen ist grundsätzlich selbst die Tatsache, von der er zu handeln hat.“183 In analoger Form prägen die Rückbeziehungsschleifen (nun zwischen Beobachtetem und Beobachtendem als zwei verschiedenen Lebewesen) auch den tierpsychologischen Forschungskontext Köhlers, wobei sich die Bezugnahmen ebenfalls umdrehen können, sobald die beobachteten Tiere die sie beobachtenden Menschen zurück beobachten, die Tiere also wie in dem von Haraway berichteten Fall auf die sie erforschenden Menschen zurück schauen. Wieder ist auch eine korrespondierende Bezugnahme im Beobachtenden selbst (als die Versuchsperson oder das Versuchstier beobachtend und sich dabei zugleich selbst beobachtend) festzustellen. Wie es Herbert Fitzek formuliert hat, kommt es hier zu der „Selbstentdeckung des Forschers im Forschungsfeld“.184 Beobachtende und Beobachtete sind trotz der physikalischen Grundidee der Feldtheorie lebendige Teilnehmer und damit sich gegenseitig beeinflussende Größen in einem gemeinsamen Wirkungsfeld zwischen Lebewesen, das eher den Charakter einer Forschungsumwelt hat. Die menschlichen Forschenden sind in den Kontext der Untersuchungssituation eingebunden, sie sind wesentliches Glied der hier wirkenden Kräfte. Die Analogie, die diesbezüglich zwischen der humanpsychologischen Forschung Lewins und der tierpsychologischen Forschung Köhlers besteht, unterstreicht abschließend auch die Auflistung der Rollen des Versuchsleiters in humanpsychologischen Versuchen durch die Lewin-Schülerin Tamara Dembo (1902–1993). Der Ver181 K. Lewin, „Die Erziehung der Versuchsperson zur richtigen Selbstbeobachtung und die Kontrolle psychologischer Beschreibungsangaben“, S. 153. 182 H. Fitzek, „Kurt Lewin und die Aktionsforschung – Die Selbstentdeckung des Forschers im Forschungsfeld“, in: Gestalt Theory, 33(2)/2011, S. 163-174, hier S. 163. 183 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 121. 184 Ebd., S. 166.
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suchsleiter ist nach ihr entweder „1. die treibende Kraft für die Lösungsbemühungen um die Aufgabe: für ihn wird die Aufgabe ‚aus Gefälligkeit‘ übernommen. […] 3. Er bestimmt das Aufgabenziel, aber versperrt es zugleich; er hat also die Stellung einer Innenbarriere. 4. Er ist die Barriere um das Feld herum, die das Weggehen verhindert. 5. Er ist ein mögliches Werkzeug. […] 6. Er ist der ärgererregende ‚Stein des Anstoßes‘, ein sich veränderndes, reagierendes und provozierendes Wesen, das in den Versuchsablauf aktiv eingreift, sich als ein ‚Feind‘ erweist.“185 Diese am historischen Fallbeispiel deutlich werdende typische mehrfache Selbstreferentialität im Beobachtungszusammenhang und die damit einhergehende gerichtete Wahrnehmung der menschlichen Beobachtenden macht die besonderen Beobachtungsbedingungen nicht nur in verhaltensbiologischen Ansätzen aus, sondern bestimmt in gewissen Hinsichten die epistemische Grundsituation der Biologie insgesamt. Dieses gilt zumindest so lange, wie man sie als eine Wissenschaft von lebendigen Systemen versteht, wobei je nach Organisationshöhe der beobachteten Phänomene und je nach dem Vermittlungsgrad der Beobachtungsinstrumente dieser Aspekt in unterschiedlicher Weise zum Tragen kommt. Dass zur Deutung des Geschehens nicht unbedingt das von Lewin, Uexküll und Köhler favorisierte Erklärungsmodell des Analogieschlusses – als vermittelte Reflexion auf unmittelbar nicht zugängliche Phänomene (intentionale Akte) – investiert werden muss, sondern es bei Einbezug der Idee der Forschungsumwelten auch eine Alternative dazu geben kann, soll der nächste Abschnitt zeigen. 3.3 Umweltintentionalität als Verbindung zu Tieren als Selbst-Andere Wie eingangs betont, ergeben sich vor dem Horizont der Idee der Forschungsumwelten und der mit ihr erfassten engen Wechselbeziehung zwischen lebendigen Forschenden und ebenfalls lebendigen Erforschten auch Hinweise auf das angemessene Verfahren (und dessen theoretische Hintergründe) für einen methodischen Zugang oder eine epistemische Grundhaltung, die uns das „Fremdseelische“ im Fall der Tierforschung aufschließen könnte. 185 T. M. Dembo, „Der Ärger als dynamisches Problem“, in: Psychologische For schung, 15/1931, S. 1-144, hier S. 73.
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Betrachten wir rückblickend – vor allem unter Rücksicht auf die genannten Übereinstimmungen mit den Untersuchungen an Menschen durch Kurt Lewin – die Konzeption des intelligenten Verhaltens der Menschenaffen durch Wolfgang Köhler, dann wird der Gestaltaspekt des Verhaltens offensichtlich. „Echte Lösungen“ für gestellte Aufgaben in der Versuchssituation unterscheiden sich demnach von zufällig gefundenen durch die sich in ihrem gestalthaften Ablauf zeigende sinnvolle Struktur. Sie sind Lösungen in Rücksicht auf die Feldstruktur der jeweiligen Situation.186 Während bei zufälligen Lösungen die Abfolge der Einzelbewegungen keinesfalls dem sachlichen Aufbau der Situation adäquat ist und sie vollkommen inkohärent (in „molekularer Unordnung“187) zusammenkommen, ergeben sich bei echten Lösungen alle Bewegungsmomente eben aus dem Aufbau der Situation. Diese Lösungen sind unter Rücksicht auf die Gegebenheiten der Situation von den Tieren konzipiert und basieren im Fall der Schimpansen auf einer visuellen Erfassung des Gegenstandes in Relation zu seiner Umgebung.188 In ihrem Ablauf belegen sie diese sinnvolle (in diesem Fall intelligente) auf die Lösung einer Aufgabe resp. die Erlangung eines Zieles hin angelegte Konzeption. Für diesen Zusammenhang – so gibt auch Köhler zu – haben „die Physiker kein Wort […], das hier paßte“.189 Dieser Formunterschied zeigt sich nach Köhler bereits unmittelbar in der Beobachtung, „die hier allein zu entscheiden“ hat,190 und ist nicht erst das Resultat nachträglicher logischer Schlussfolgerung (wie sie etwa einem Analogieschluss von der Übereinstimmung der bekannten Merkmale zweier Einheiten auf eine vergleichbare Übereinstimmung in bisher unbekannten Merkmalen zugrunde läge). Wie erwähnt hat diese anschaulich bemerkbare sinnvolle Grundstruktur des Verhaltens – als eines solchen, das zur Erreichung eines Zieles dient – auch zur Folge, dass beim Zuschauenden des Ablaufs eines solchen Verhaltens Rückbezüge auf seine eigene Erwartungshaltung und seine eigene Ausrichtung auf das Ziel hin entstehen.191 Unterstützt wird diese Wirkung, die die Form und der Situationsbezug des Verhaltens haben, im Fall der Verhaltensweisen bei Schim-
186 187 188 189 190 191
W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 137. Ebd., S. 135. Ebd., S. 79. Ebd., S. 137, Fußnote 1. Ebd., S. 12. Ebd., S. 25.
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pansen durch deren Mimik.192 Schimpansen und Menschen haben demnach zudem eine Reihe von „Reaktionen und Ausdrucksbewegungen“ miteinander gemeinsam.193 Diese Ausdrucksbewegungen sind von den Zuschauenden lesbar: Wo wir sprechen, drückt sich der Sinn bei den Menschenaffen in ihrer Körperbewegung aus: Bei uns „beginnt unser Mund zu reden; bei Rana [eine Schimpansin, K. K.] reden die Glieder“.194 Im Kontext der auf eine Situation (Umwelt) bezogen sinnvollen Handlung können dann gerade auch Pausen und Unterbrechungen des Verhaltens den intelligenten Eindruck der Leistung unterstützen.195 Eine theoretische Reflexion über diese mit dem Gedanken der Forschungsumwelten ausgesprochene Wechselbeziehungen zwischen menschlichen Beobachtenden und beobachteten Tieren bezüglich der Frage nach der intentionalen Qualität des Verhaltens haben in zeitlicher Nähe zu Köhlers Versuchen auch der Ethologe Frederik J. J. Buytendijk (1887–1974) und der Philosoph Helmuth Plessner im Rahmen ihres konzeptionellen Beitrags Die Deutung des mimischen Ausdrucks (1925) vorgelegt.196 Ihre philosophische Analyse der epistemologischen Bedingungen bei der Erforschung von „Fremdseelischem“, wie sie im Fall biologischer Tierforschung (im Sinne des frühen Ansatzes der Tierpsychologie oder der heutigen kognitiven Ethologie) vorliegen, haben die beiden Autoren ebenfalls auf eine jenseits des Analogieschlusses liegende Voraussetzung gegründet. Nach dieser auf dem Umweltbegriff basierenden Überlegung ist ein unmittelbarer Zugang zum intentionalen Gehalt von Verhaltensäußerungen möglich. In Übereistimmung mit Köhlers Schlussfolgerungen aus der Gestalttheorie sind uns auch für Buytendijk und Plessner die Verhaltensäußerungen als 192 Ebd., S. 52; hier verweist Köhler auf den „gescheiten Ausdruck“, den begabte Schimpansen nicht selten zeigen. 193 Ebd., S. 59. 194 Ebd., S. 84. 195 Ebd., S. 138: „An mir selbst und an anderen habe ich gesehen, daß besonders aufklärend über den Schimpansen die erwähnten Pausen der Ruhe wirken. […] nichts machte auf den Besucher so großen Eindruck wie danach eine Pause, in der Sultan langsam seinen Kopf kratzte und übrigens nichts bewegte als die Augen und leise den Kopf, während er die Situation ringsum auf das genaueste betrachtete.“ 196 H. Plessner (und F. J. J. Buytendijk), „Zur Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ich“ (1925), in: H. Plessner, Gesammelte Schriften, hrsg. von G. Dux et al., Frankfurt a. M. 1980, Bd. 7, S. 67-130.
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„Bewegungsgestalten bildhaft“197 in der Wahrnehmung zugänglich. Der ganzheitliche, gestalthafte Charakter umgreift dabei – entsprechend des Modells der Forschungsumwelten – das sich verhaltende Lebewesen und dessen jeweilige Umgebung (oder Situation). Das Verhalten wird so gemäß des Ansatzes von Uexküll als je auf eine bestimmte Umwelt und seine Bedingungen sinnvoll abgestimmt angenommen. Für diese Bezugnahme finden die Autoren die Bezeichnung „Umweltintentionalität“.198 Damit ist das Verhalten jedoch mehr als nur eine Bewegung eines Körperdinges in Raum und Zeit, die als solche einem externen Beobachtenden in dritter Person-Perspektive zugänglich und als physikalische Größe beschreibbar wäre. Der Verhaltensablauf ist unter Rücksicht auf die ihn veranlassende Motivation des Tieres immer auch ein gerichtetes, vom Lebewesen intendiertes Geschehen, das einen bestimmten Zweck verfolgt. Diese intentionale Qualität ist dem menschlichen Beobachtenden, weil er selbst ein intentionales Lebewesen in einer Umwelt ist, bereits in der ersten Person Perspektive verstehbar. Nach der phänomenologischen und hermeneutischen Lesart von Buytendijk und Plessner ist diese intentionale Deutung nun allerdings nicht nur nicht privat, sondern öffentlich, d. h. von wissenschaftlicher Aussagekraft,199 sie ist zudem auch früher als die wissenschaftliche Erklärung in Begriffen von Raum und Zeit. Erst im Zuge der nachträglichen Zerlegung dieser prioritär erfassbaren Verhaltensgestalt, die beide Autoren mit J. v. Uexküll als „Bewegungsmelodie“ bezeichnen, erst mit der Zerlegung also dieser ganzheitlichen Bildung in Teilstrukturen und -funktionen wird das Verhalten zum Gegenstand wissenschaftlicher Erklärung. Mit der Bezugnahme auf das Verhalten in diesem Sinne ist also eine vermittelnde Schicht angesprochen. Verhalten gilt als Verbindungszone zwischen der Subjektivität des menschlichen Beobachtenden einerseits und der des beobachteten Tieres andererseits sowie der Objektivität physikalischer Ereignisse in Raum und Zeit. Unter Rekurs auf diese Schicht oder Sphäre des Verhaltens wird dem intentionalen Lebewesen Mensch eine intentionale Deutung 197 Ebd., S. 78. 198 Ebd., S. 79. 199 Vgl. zum Problemfeld der Erfassung dieser Qualität auch K. Köchy, „Erkennen und Erleben. Zur historischen Entwicklung der Forschungsprogramme in den Neurowissenschaften“, in: S. Schaede, R. Anselm, K. Köchy (Hrsg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd. 3, Tübingen 2016, S. 357-400.
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tierlichen Agierens möglich. Bezieht man sich auf diese Ebene von Umweltbezügen, dann sind Beschreibungen in intentionalem Vokabular im Sinne der obigen Feststellungen Köhlers keine anthropomorphen Fehlschlüsse. Wie Plessner und Buytendijk formulieren: „Nicht ich projiziere meine sinnlichen Erlebnisweisen in das Tier hinein und treibe, indem ich solche Modalformen zuspreche, anthropomorphe Kryptopsychologie, mache dabei über sein Erleben Aussagen, ‚die doch eigentlich nur nachprüfbar wären, wenn ich in dem Tier drinstecken könnte‘, sondern ich stelle damit den Modalcharakter seines rezeptiven Verhaltens fest, der mir anschaulich gewiß ist“.200 Unter Berücksichtigung der Umweltintentionalität – als einer vom Tier aus gerichteten sinnvollen Beziehung zur Umwelt – leben menschlicher Beobachtende und beobachtete Tiere in der gleichen Schicht oder Sphäre des Verhaltens. Sie teilen als Lebewesen ihre Umweltintentionalität, was Sinnhaftigkeit und Verständlichkeit des Geschehens garantiert. Einen analogen Befund formuliert unter den Vorzeichen der französischen Phänomenologie auch Maurice Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrneh mung201 für den eine leibliche Interaktion mit einer Umwelt stets mehr ist als die passive Aufnahme von Reizen, nämlich die „Art und Weise […], den Reizen zu begegnen und auf sie Bezug zu nehmen“. Um die leibliche Interaktion in dieser Weise deuten zu können, sind wir nach Merleau-Ponty gezwungen, den Standpunkt des externen Beobachtenden, den Standpunkt der dritten Person also, zu verlassen. Um die Gestimmtheit, im Sinne einer Bereitschaft zu einer aktiven, intentionalen Auseinandersetzung mit der Umweltsituation, angemessen erfassen zu können, müssen wir zur Perspektive der ersten Person wechseln: „Die Funktionen des lebendigen Leibes kann ich nur verstehen, indem ich sie selbst vollziehe, und in dem Maße, in dem ich selbst dieser einer Welt sich zuwendende Leib bin.“202 Mit Merleau-Ponty ist zudem festzuhalten, dass dieser spezifische Zugang mittels des zur-Welt-seienden Leibes einerseits die Voraussetzung jeder Beobachtung von Gegenständen und der Handlung an ihnen ist, dass er selbst jedoch andererseits sich der Beobachtung im Sinne der Betrachtung eines äußeren Gegenstandes aus verschiedenen Perspektiven und in verschiedenen Hin200 H. Plessner (und F. J. J. Buytendijk), „Zur Deutung des mimischen Ausdrucks“, S. 80 f. 201 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 90. 202 Ebd.
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sichten entzieht. Der Leib selbst ist, da Voraussetzung, Instanz und latenter Horizont aller Beobachtung, nicht beobachtbar, „wenn Beobachten heißt, den Gesichtspunkt abwandeln, den Gegenstand aber festhalten“.203 Mit dieser Überlegungen ist, um eine letzte philosophische Stimme zum Thema zur Sprache zu bringen, für die ebenfalls phänomenologisch-hermeneutisch inspirierte Biophilosophie von Hans Jonas die wesentliche Grundbedingung der Erfassung von biologischen Phänomenen als Ausdrucksformen des Lebendigen bestimmt. Auch für Hans Jonas ist die volle Qualität biologischer Phänomene – vor allem wenn es um Verhaltensweisen und deren Motivationen geht – aus der mathematisch-physikalischen Außenperspektive von Bewegungen in Raum und Zeit (unter Voraussetzung eines an der Physik orientierten Milieubegriffs) nicht zu erfassen. Nur unter Rücksicht auf die Tatsache, dass wir selbst als Beobachtende und Erklärende des Geschehens leibliche, lebendige Wesen sind, erschließt sich das Geschehen in dieser Dimension: „Kraft der unmittelbaren Zeugenschaft unseres Leibes können wir sagen, was kein körperloser Zuschauer zu sagen imstande wäre […], daß es nämlich selbst-zentrierte Individualität ist, für sich seiend und in Gegenstellung gegen alle übrige Welt“204, die das Phänomen des intentionalen Lebens ausmacht. Die Relevanz dieser historischen Überlegungen demonstriert ein abschließender kurzer Blick auf die aktuelle Erforschung der kognitiven Fähigkeiten von nichtmenschlichen Primaten. Einerseits findet sich hier die über den engeren Fachdiskurs vernehmbare Stimme Michael Tomasellos, der in seinen frühen Überlegungen zur kulturellen Entwicklung des menschlichen Denkens die These vertritt, genuin menschliches Imitationslernen, und nur dieses, basiere auf der Fähigkeit einzelner Lebewesen, Artgenossen als ihnen ähnliche Wesen zu verstehen, „die ein intentionales und geistiges Leben haben wie sie selbst“.205 Tomasello setzt diese Überlegung fort: „Trotz verschiedener Beobachtungen, die nahelegen, daß manche nichtmenschliche Primaten manchmal in der Lage sind, ihre Artgenossen als intentionale Akteure zu verstehen und von ihnen auf Weisen zu lernen, die an bestimmte Formen kulturellen Lernens erinnern, spricht die überwältigende Mehrzahl empirischer 203 Ebd., S. 116. 204 H. Jonas, Organismus und Freiheit, Göttingen 1973, S. 124. 205 M. Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evo lution der Kognition (engl. 1999), Frankfurt a. M. 2002, S. 17.
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Belege dafür, daß nur Menschen ihre Artgenossen als intentionale Akteure wie sich selbst verstehen, und somit nur Menschen kulturelle Lernprozesse vollziehen.“206 Tomasello hat diese Überlegung später revidiert207 und gegen seine frühe Einschätzung sprechen auch empirische Feldstudien jüngeren Datums, die (unter der Voraussetzung einer philosophischen Begriffsbestimmung von „Intentionalität“ durch Daniel Dennett) zu dem Ergebnis gelangen, auch Schimpansen zeigten in ihrer Reaktion auf Bedrohungen durchaus Hinweise darauf, dass sie ihre Artgenossen als intentionale Akteure wahrnehmen.208 Für die unter dem Umweltansatz von uns herausgehobenen Aspekte einer solchen Forschung finden sich viele Hinweise, die einer weiteren Bearbeitung harren, hier aber summarisch erwähnt seien: So entstammt der Kriterienkatalog für das Vorhandensein von Intentionalität (neben der philosophischen Quelle, die ein bestimmtes, auf Operationalisierbarkeit angelegtes, Intentionalitätskonzept liefert) auch bei diesen Versuchsansätzen aus psychologischen Studien an noch nicht sprachfähigen Menschenkindern;209 auch diese Untersuchungen an Schimpansen erfolgen in Feldstudien, die eine gemeinsame Präsenz von forschenden Menschen und erforschten Schimpansen erfordern;210 die Tiere sind trotz üblicher Standardisierung (als eine zahlenmäßig genannte und Geschlechtern zugeordnete Gruppe von individuals211) den Forschenden notwendig als individuelle Lebewesen mit ihren spezifischen – sich auch aus der Rangstellung in der Primatengruppe ergebenden – individuellen Charakteristik bekannt; die Intentionalität der Tiere wird auch in diesem Fall von den menschlichen 206 Ebd., S. 17 f. 207 J. Call, M. Tomasello, „Does the Chimpanzee have a Theory of Mind. 30 Years later“, in: Trends in Cognitive Science, 12(5)/2008, S. 187-192, hier S. 192: „All of the evidence reviewed here suggests that chimpanzees understand both the goals and intentions of others as well as the perception and knowledge of others. Moreover, they understand how these psychological states work to gether to produce intentional action; that is, they understand others in terms of a relatively coherent perception-goal psychology in which the other acts in a certain way because she perceives the world in a certain way and has cer tain goals of how she wants the world to be.“ 208 A. M. Schel, S. W. Townsend, Z. Machanda, K. Zuberbüler, K. E. Slocombe, „Chimpanzee Alarm Call Production Meets Key Criteria for Intentionality“, in: PLOS one, 8(10)/2013, S. 1-10. [www.plosone.org] 209 Ebd., S. 2. 210 Ebd., S. 4; vgl. auch das Diagramm des experimentellen Setup in Figur 2. 211 Ebd., S. 3 f. (dort ‚Study Side‘ und ‚Experimental Design‘).
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Beobachtenden aus den Körperpositionen, den Verhaltensabläufen, der Mimik und Gestik und den Vokalisationen unter Rückbezug auf bestimmte Situationen (einer experimentellen Bedrohung der Primatengruppe durch einen Fressfeind) im Freiland abgeleitet;212 für diese Ableitung werden zwar elektronische Aufzeichnungsgeräte eingesetzt, die Überprüfung der Stimmigkeit der Interpretation der aufgezeichneten Daten von Filmsequenzen oder Tonaufnahmen erfordert jedoch stets zusätzliche spezielle Fähigkeiten und Erfahrungen der Beobachtenden im Umgang mit den Schimpansen, deren Nennung sogar im Methodenteil der Untersuchung erfolgt.213
4. Resümee und Ausblick Am Fallbeispiel von Köhlers Schimpansenforschung sollten die Effekte einer Erweiterung des ecological approach durch den umwel ten approach und des damit verbundenen Konzeptwandels zu den Forschungsumwelten deutlich geworden sein. Zunächst erlaubt dieser Ansatz – ebenso wie der ecological approach – eine kontextuelle Betrachtung von Tierforschung in ihren je spezifischen situativen Konstellationen. Dabei werden diese Räume der Tierforschung in ihrer Verwobenheit von ideellen (epistemischen, theoretischen, methodologischen) und materiellen (ontologischen, instrumentalpraktischen, apparativen) Momenten erfassbar. Die bereits im eco logical approach betonte Tatsache, dass diese Art der Forschung maßgeblich dadurch bestimmt ist, dass Lebewesen auf beiden Seiten der Forschungsrelation stehen – die Forscher also living things among living things sind –, wird mit dem umwelten approach auch in ihren jenseits physikalisch-materieller Qualitäten liegenden Dimensionen konzipierbar – nach der etwa auch die zu untersuchenden Lebewesen zu fellow laborer werden. Die aus dem Uexküllschen Umweltmodell entnommene Vorstellung vom Subjektstatus aller Lebewesen kann – mit zusätzlicher Graduation dessen, was jeweils unter „Subjekt“ zu verstehen ist – dazu verwendet werden, cartesianische Dualismen zu vermeiden, die die Forschungsgegenstän212 Ebd., S. 2. 213 Ebd., S. 5. Die Beobachtenden Anne Marijke Schel (AS) und Katie E. Slocombe (KS) werden mit ihrer dreijährigen resp. zehnjährigen Beobachtungserfah rung genannt.
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de nur als materielle Dinge der Außenwelt verstehen und die die Forschenden nur als Subjekte der Forschungshandlung in den Blick nehmen. Unter Rücksicht auf die klassischen Konzepte der „Doppelaspektivität“ und der „Umweltintentionalität“ (Plessner) ergeben sich statt der unvermittelten Opposition von Subjekt (Mensch) und Objekt (Tier) – so zeigte das Fallbeispiel – komplexe SubjektObjekt-Übergänge und Konstellationen, bei denen Subjekt- und Objektstatus auf beiden Seiten der Mensch-Tier-Relation relevant werden. Diese Auffassung verspricht konzeptionelle Antworten auf eine Reihe noch heute virulenter methodischer und methodologischer Problemlagen der Tierforschung. Das Fallbeispiel verwies u. a. auf die Frage nach den angemessenen Verfahren zur Erfassung des Fremdseelischen im Fall der Tiere, das Anthropomorphismus Problem oder aber die Rolle der Forschenden in Forschungsvollzügen. Unter Anwendung des Umwelt-Gedankens wird klar, dass die Forschenden stets „mit im Bild“ sind und dass den Erforschten nie nur die Rolle passiver Objekte der Forschung zukommt. Nicht nur wandelt sich die epistemische Grundhaltung der Forschenden in den von uns untersuchten Fällen der Tierforschung selbst von externen Beobachtenden zu praktisch Teilnehmenden, auch metatheoretisch verlagert sich das Gewicht in Richtung auf das par taker-Modell (Dewey) und es entsteht so ein theoretischer Zugang zu dem Faktum, dass biologische Handlung stets auf Kooperation mit dem Behandelten angewiesen bleibt (Jonas). Mit diesem Punkt eröffnet sich dann auch eine ethische Seite dieser epistemischmethodologischen Veränderung. Bereits unter methodischen oder methodologischen Erwägungen resultiert insofern eine Dialektik im Tier-Mensch-Bezug als man Konrad Lorenz folgend als ersten Grundsatz wissenschaftlicher Tierbeobachtung die Maxime bestimmen kann, dem Tier so nahe zu kommen, wie es irgend möglich ist, aber eben nicht näher, als zur Vermeidung wesentlicher und in ihrem Ausmaße nicht kontrollierbarer Störung des Verhaltens nötig. Diese methodologische Spannung zwischen der Forderung nach kontrollierten Bedingungen einerseits und der Forderung nach Vermeidung der Beeinflussung des Verhaltens andererseits besitzt dann ein ethisches Pendant in den vergleichbaren Forderungen nach Nähe (Mitleid mit dem Leiden anderer) und Distanz (Respekt vor der Autonomie anderer). Der Übergang zwischen beiden Sphären – der methodischmethodologischen und der ethischen – wird erneut unter dem Gesichtspunkt des umwelten appproach erfassbar. Entscheidet man
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sich aus methodischen Gründen zwischen einer Beobachtung in der Forschungsumwelt des Freilands oder der des Labors, dann hat dieses weitgehende Konsequenzen im Umgang der Forschenden mit den erforschten Tieren. So muss man beispielsweise im Freiland die Beschränktheit der Möglichkeit zum Experiment in Kauf nehmen oder im Labor in eine aufwendige Tierhaltung investieren. In der natürlichen Forschungsumwelt des Freilands muss man als Kompensation für die begrenzte Kontrolle Beobachtungssituationen schaffen, die ein langjähriges Zusammenleben mit den zu beobachtenden Lebewesen beinhalten. In der künstlichen Forschungsumwelt des Labors muss man umfängliche Erfahrungen mit der Tierhaltung sammeln. In beiden Fällen sind als Konsequenz dieses kontinuierlichen Umgangs mit den Tieren affektive Bindungen der Forschenden kaum zu vermeiden. Ein Moment der Vertrautheit mit den zu untersuchenden Lebewesen entsteht. Diese Haltung, die zunächst rein technischer oder gar methodologischer Natur sein kann, lediglich dazu dienend, die Effizienz des Forschungsverfahrens zu steigern, instantiiert dennoch eine neue, innige Form der Interaktion zwischen menschlichen Beobachtenden und beobachteten Tieren. Damit ergeben sich Verschiebungen im Netzwerk der Rahmenannahmen, die für die normativen Voreinstellungen zu uns selbst und zu anderen Lebewesen bedeutsam sind. Betrachtet man die Relationsgefüge in den Forschungsumwelten, dann haben sowohl die Wirkungen der Beobachtenden als auch die Gegenwirkungen des Beobachteten stets Qualitäten von Anerkennung und Unterwerfung (auch insofern die Rolle der Beobachtenden in den Köhler-Versuchen darin bestand, bestimmte Wege oder Lösungen der Beobachteten zu verbieten). Die Anwesenheit der Beobachtenden in der Forschungsumwelt kann also einen verändernden Einfluss auf das Verhalten der Beobachteten haben – das gilt nicht nur für den Fall, dass auf beiden Seiten der Beobachtungsrelation Menschen stehen. In methodischer Hinsicht aktualisieren die menschlichen Beobachtenden mit ihren wissenschaftlichen Verfahren möglicherweise kein natürliches und unverfangenes Geschehen, sondern eben ein experimentelles, erzwungenes, Verhalten. In ethischer Hinsicht ist vor allem bedeutsam, dass dieser Zwang sich in Graden bis zur realen Abtötung der beobachteten Entität steigern kann. Diese Fälle, die theoretisch als Übergang von mit Reetablierung des vorhergehenden Organisationszustandes beantwortbaren „Störungen“ (Perturbationen) zu „destruktiven Veränderungen“ bestimmt werden, haben offensichtlich ethisches Gewicht. Wenn
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jede Form der Beobachtung – sei sie distanziert oder teilnehmend – ein Element der Unterwerfung beinhaltet, ja möglicherweise sogar die Abtötung des ursprünglichen Phänomens bedeutet, dann ist dieses nicht nur methodologisch relevant, sondern stets auch ethisch. Dieses ist der ethische Hintergrund von Hans Jonas’ Feststellung, biologische Versuche seien stets wirkliche Taten am Original. Jonas hat auch deutlich gemacht, dass bei der auf Nutzung ausgerichteten technischen Perspektive der Wissenschaften immer die Gefahr besteht, alle Beobachtungsobjekte umzudeuten und nur noch in der Nutzungsperspektive zu erfassen. Objekte des Wissens werden als unter-dem-Mensch-stehende Sachen interpretiert.214 Dieses ist in seinem ethischen Gewicht aus der Forschung in den Humanwissenschaften bekannt. Auch hier besteht der zentrale Konflikt zwischen den Vorgaben naturwissenschaftlicher Distanz einerseits (neutraler Beobachterstatus) und den interpersonellen Regeln für Distanz und Nähe im sozialen und moralischen Kontext andererseits (Mitspielerstatus). Wenn ein Mensch zum Objekt der Forschung eines anderen wird, dann unterscheidet sich diese Relation wesentlich von allen zwischenmenschlichen Relationen des Alltags, die unter den Normen der Reziprozität stehen. Diese Regeln werden in der naturwissenschaftlichen Beobachtung methodisch unterlaufen. Deshalb sind unter ethischen Hinsichten neue Regeln gefordert, die Humanexperimente begleiten und ethisch „abfedern“. Unser Fallbeispiel und die Perspektive des umwelten approach erwies, dass Analoges auch in der Tierforschung gilt. Auch hier kann das Moment der Vertrautheit oder Anteilnahme, die affektive Bindung zwischen Partnern des Beobachtungsprozesses, zugunsten des wissenschaftlichen Ideals einer auf Objektivität gerichteten distanzierten Beobachtung vernachlässigt sein. Dann werden menschliche Beobachtende zu weltexternen Zuschauenden (ohne Bindung und Verpflichtung gegenüber dem Beobachteten) und beobachtete Tiere werden zu Sachen. Vor allem unter ethischen Vorzeichen wird deshalb im Kontext des umwelten approach deutlich, wie bedeutsam die Konzeption des Mitspielers (partaker) sowie die mit ihr verbundene Teilnahme, das Engagement und Sich-zur-Verfügung-Stellen als Korrektur des Ideals der neutralen Beobachtung sind.
214 H. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 274.
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Mieke Roscher
Tiere sind Akteure Konzeptionen tierlichen Handelns in den Human-Animal Studies
„Ist es nicht offensichtlich, daß es empirisch keinen Sinn macht, sich zu weigern, auf Existenzformen zu stoßen, die die Menschen dazu bringen, Dinge zu tun“1
Einleitung 2008 hatte Donna Haraway postuliert, dass „Menschen und Tiere in Laboratorien gegeneinander Subjekte und Objekte in fortlaufender Intra-aktion“ und dass Tiere in diesen Laboratorien mit „Graden von Freiheit“ obgleich der im Labor vorherrschenden Machtstrukturen ausgestattet wären.2 Tiere, so sagte sie weiter, seien arbeitende Subjekte, nicht bloß Objekte, an denen gearbeitet werde.3 Mit diesen Äußerungen zog Haraway den Unmut von Forscher_innen aus dem Gebiet der Critical Animal Studies auf sich: sie bagatellisiere die Gewalt an Tieren und suggeriere mit der Übertragung von subjektivierten Handlungsoptionen auf Tiere quasi das Einverständnis der Tiere zum Prozess des Tierversuchs.4 Ihr Anliegen war jedoch genau das Gegenteil: Sie wollte Tiere aus ihrer reinen Objektposition befreien, indem sie ihr Verhalten nicht als „Reaktion“, sondern als „Response“ apostrophierte. Damit rekurrierte sie indirekt auf die Unterscheidung, die Ernst Cassirer ganz prominent zwischen Menschen und Tieren vorgenommen hatte, wobei letztere eben
1 B. Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2010. 2 D. Haraway, When Species Meet, Minneapolis 2008, S. 71 [Übersetzung der Verfasserin]. 3 Ebd., S. 80. Vgl. dazu den Beitrag von Köchy in diesem Band. 4 S. Wirth, „‚Laborratte‘ oder ‚Worker‘ im Vivisektionslabor? Zur Kontroverse um Donna Haraways Konzeptionen von Agency und ihrer Kritik an Tierrechten“, in: S. Wirth et al. (Hrsg.), Das Handeln der Tiere. Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies, Bielefeld 2016, S. 115-135.
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nur zu Reaktion fähig seien.5 Diese Differenzierung hob Haraway auf. Indem sie weiterhin das Handeln der Tiere, ihren Eigensinn, als zentralen Bestandteil des Versuchs betrachtete, der eben nicht berechenbar sei, machte sie Tiere zu Akteuren.6 Ausgehend von der Diskussion darüber, ob Tiere als Co-Worker in der Tierforschung angesehen werden können, sollen in diesem Aufsatz handlungs- und praxistheoretische Zugänge Darstellung finden, die von den Human-Animal Studies fruchtbar gemacht werden, um Tiere als Handelnde zu skizzieren. Diese Zugänge sollen aber nicht im luftleeren Raum verbleiben, sondern empirisch getestet werden. Als Beispiel dient die Kontroverse um Tierversuche, die Anfang des 20. Jahrhunderts das viktorianische England erschütterte. Hier ging es um die Vivisektion eines kleinen Hundes, der Anstoß nicht nur für Änderungen im biomedizinischen Versuchsaufbau, sondern auch für eine nachhaltige Kampagne von Vivisektionsgegnern und -gegnerinnen war. Damit möchte ich zeigen, dass die Annahme, Tiere seien Akteure, im Moment der historischen Kontextualisierung eine neue Ebene erhält, die in der Kritik an Haraways Proklamation der „Mittäterschaft“ ignoriert wird, nämlich dass sie Historiker_innen erlaubt, Quellen neu zu lesen. Tiere als Akteure zu konzeptualisieren, die mit einer ihnen eigenen Agency ausgestattet sind, ist eine der zentralen Herangehensweisen der Human-Animal Studies an ihre Forschungsobjekte. Diese erweiterte Perspektive wird als notwendig erachtet, um Tiere in ihrer spezifischen Wirkmächtigkeit als im historischen Verständnis Handelnde zu konzipieren. Diese Perspektive legt den Fokus auf die „stummen Arbeiter“, die die menschliche Welt des Labors und seines diskursiven Umfeldes als Akteure mitgestalten.7 Zwar basieren auch noch radikalere posthumanistische Konzeptionen, in denen der Mensch lediglich als ein Teil der koevolutionären Materie beschrieben wird, letztendlich auf dem Agency-Konzept,8 werden jedoch in E. Cassirer, An Essay on Man. An Introduction to a philosophy of human culture (1944), New Haven, London 1992, S. 27-41. 6 D. Haraway, When Species Meet, S. 83. Vgl. auch den Beitrag von Krebber in diesem Band. 7 Bei einem sozialhistorischen Zugriff ließe sich der Begriff der „stummen Arbei ter“ freilich auch auf die vielen Menschen anwenden, die den Laboralltag mit strukturieren, ohne in den Ergebnispräsentationen zu erscheinen. Vgl. dazu auf die menschlichen Arbeiter im Labor bezogen der Beitrag von S. Shapin, „The invisible technician“, in: American Scientist, 77(6)/1989, S. 554-563. 8 C. Wolfe, What is Posthumanism?, Minneapolis 2010. 5
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diesem Beitrag aufgrund der hier verfolgten historischen Ausrichtung nur am Rande erwähnt. Der hier privilegierte Ansatz geht von einer relationalen Form von Agency aus, in der Akteure erst im Tun bzw. in der Praxis herausgebildet werden. Dass bei diesem Tun eine Vielzahl von potentiellen Akteuren in Frage kommt, die sich durch die historische Kontextualisierung materialisieren, wird als spezifisch historischer Zugriff verstanden.9 Daneben werden in diesem Aufsatz jedoch auch andere Akteurszuweisungen vorgestellt und in den Rahmen der aktuell wieder aufgegriffenen Debatte um den Practice Turn und den New Materialism eingebettet.
Handeln Tiere? Ein kleiner brauner Hund als historischer Akteur? Tierversuche, vor allem in Form der Vivisektion, wurden Ende des 19. Jahrhunderts in Westeuropa, insbesondere aber in Großbritannien, zum Gegenstand öffentlicher wie auch politischer Debatten. Die Parlamente verhandelten über die Rechtmäßigkeit der Versuche und darüber, wem es gestattet sein sollte, Tierversuche durchzuführen.10 Die Herausbildungen eines neuen (und bürgerlichen) Tätigkeitsfeldes in der Forschung und die Etablierung von Biologie, Anatomie und Physiologie als wissenschaftliche Disziplinen beförderten die Ablösung der Naturgeschichte als vorherrschendes wissenschaftliches Feld11 und schufen auch spezifische neue For9 Vgl. M. Roscher, „Zwischen Wirkungsmacht und Handlungsmacht. Sozialge schichtliche Perspektiven auf tierliche Agency“, in: S. Wirth et al. (Hrsg.), Das Handeln der Tiere, S. 43-66. 10 Vgl. dazu: R. D. French, Antivivisection and medical science in Victorian society, Princeton, London 1975; R. Preece, „Darwinism, Christianity, and the great vivisection debate“, in: Journal of the History of Ideas, 64(3)/2003, S. 399-419; B. Harrison, „Animals and the state in nineteenth-century England“, in: The Eng lish Historical Review, 88(349)/1973, S. 786-820; H. Kean, Animal rights: Politi cal and social change in Britain since 1800, London 1998; P. White, „Sympathy under the knife: Experimentation and emotion in late Victorian medicine“, in: F. Bound Alberti (Hrsg.), Medicine, emotion and disease, 1700–1950, London 2006, S. 100-124; M.-A. Elston, „The anti-vivisectionist movement and the science of medicine“, in: J. Gabe, D. Kelleher, G. Williams (Hrsg.), Challenging medicine, London 1994, S. 160-180. Für das Deutsche Reich vgl. P. Eitler, „Ambivalente Urbanimalität: Tierversuche in der Großstadt (Deutschland 1879–1914)“, in: In formationen zur modernen Stadtgeschichte, 2/2009, S. 80-93. 11 Vgl. B. Lightman, „The ‚History‘ of Victorian Scientific Naturalism: Huxley, Spencer and the ‚End‘ of natural history“, in: Studies in History and Philosophy
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schungsorte, in erster Linie das Labor.12 Um das, was in diesen Laboratorien vonstatten ging, entwickelten sich aufgrund der Exklusivität des Ortes spezifische Formen der Narration, die auch im viktorianischen Schauerroman einen Nachklang fanden.13 Die Angst, selbst Opfer der als skrupellos gezeichneten Experimentatoren zu werden, war von Anfang an Teil der Erzählung um das Labor.14 Die ersten gewalttätigen Ausschreitungen im Protest gegen diese Laboratorien und das, was dort vermutet wurde, waren das Ergebnis einer öffentlichen Auseinandersetzung über die Vivisektion und den Tod eines kleinen braunen Hundes im University College London. Dieser Versuch war 1903 unter Anleitung des bekannten Physiologen William Bayliss durchgeführt und von den zwei Antivivisektionsaktivistinnen Louise Lind-af-Hageby und Leisa Schartau aufgedeckt worden. Sie veröffentlichten ihre Beobachtungen noch im selben Jahr in The Shambles of Science.15 Die beiden Schwedinnen, die also die „Schlachthäuser der Wissenschaft“ ins Visier nahmen, hatten sich für ein Medizinstudium entschlossen, nachdem sie 1900 das Pasteur-Institut in Paris besucht hatten und Zeuginnen eklatanter Tierquälerei geworden waren. Ihr Ziel war die Bekämpfung der Vivisektion. Die Veröffentlichung ihrer Beobachtungen, die weitläufig rezensiert und rezipiert worden war und in der sie Bayliss u. a. vorwarfen, das Tier nicht ordnungsgemäß narkotisiert zu haben, zog eine Verleumdungsklage nach sich und wurde
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of Science Part C: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences, 58/2016, S. 17-23; G. L. Geison, Michael Foster and the Cambridge School of Physiology: The scientific enterprise in late Victorian society, Princeton 1978. Zum Labor als Ort gibt es eine umfassende Diskussion. Vgl. P. H. Smith, „Labo ratories“, in: W. Applebaum (Hrsg.), Encyclopedia of the Scientific Revolution from Copernicus to Newton, New York, London 2000, S. 351-353; P. H. Smith, „Laboratories“, in: K. Park, L. Daston (Hrsg.), The Cambridge History of Science, Bd.3 Early Modern Science, Cambridge 2006, S. 290-305; R. Kohler, „Lab His tory. Reflections“, in: ISIS, 99/2008, S. 761-768. Vgl. A. DeWitt, Moral Authority, Men of Science, and the Victorian Novel, Cambridge 2013; L. Penner, Victorian Medicine and Popular Culture, London 2015; K. Waddington, „Death at St Bernard’s: Anti-vivisection, medicine and the Gothic“, in: Journal of Victorian Culture, 18(2)/2013, S. 246-262. Vgl. C. Li, „An unnatural alliance? Political radicalism and the animal defence movement in late Victorian and Edwardian Britain“, in: EurAmerica: A Journal of European and American Studies, 42(1)/2012, S. 1-43. L. Lind-af-Hageby, L. Schartau, The shambles of science. Extracts from the diary of two students of physiology, London 1903. Dies Buch galt aufgrund seiner wissenschaftlichen Authentizität als Meilenstein der Antivivisektionsliteratur. Vgl. auch The Humanitarian, 1(19)/1903, S. 150.
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damit zur öffentlichen Sensation. Die Verleumdungsklage richtete sich gegen Stephen Coleridge, den Vorsitzenden der National AntiVivisection Society, der die Beobachtungen in einem Buch veröffentlicht hatte. Zwar wurde er verurteilt – ein Kapitel musste aus nachfolgenden Ausgaben des Werkes gestrichen werden –, jedoch zog der Prozess die Öffentlichkeit derart in ihren Bann, dass dieses Ereignis die Aufmerksamkeit auf den Fall des Brown Dog lenkte und eine öffentliche Auseinandersetzung um das Thema Vivisektion ermöglichte bzw. neu entfachte. Schließlich führte er auch zur Einsetzung einer Parlamentarischen Kommission 1906, die die Wirksamkeit des Vivisection Acts von 1876 überprüfen sollte, jenes Gesetzes, das die Auseinandersetzung um die Vivisektion erst angeheizt hatte. Die Hauptkritik der Vivisektionsgegner_innen richtete sich gegen die fehlende Anästhesie und kaprizierte sich ferner darauf, dass der Hund nicht als Individuum angesehen und seine Reaktionen und Resonanzen auf die Versuche überhaupt nicht berücksichtigt worden seien. Der aus der Aufdeckung der Missstände resultierende Protest richtete sich gegen die verantwortlichen Vivisektoren und die Trägerschaft der Universität.16 Im Gedenken an diesen einen kleinen braunen Hund, der in der Narration stets namenlos blieb, wurden ein symbolischer Gedenkstein sowie ein Denkmal des Hundes vor dem Latchmere Estate in Battersea errichtet. Eine Gravur, die den Umstand des Todes des Hundes wiedergab, endete mit der Frage: „Men and women of England, how long shall these Things be?“17 Lind-af-Hageby, die zu einer der einflussreichsten und schillerndsten Personen im Kampf gegen die Vivisektion werden sollte, verurteilte im Laufe ihrer Karriere die hier praktizierten Versuche vor allem wegen des aus ihrer Sicht nicht gegebenen medizinischen Erkenntnisgewinns.18 Besonderen Einfluss hatten die Auseinander-
16 Vgl. dazu ausführlich M. Roscher, Ein Königreich für Tiere. Die Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung, Marburg 2008, hier insbesondere S. 198-206; C. Lansbury, The old brown dog: Women, workers, and vivisection in Edwardian England, Madison 1985; H. Kean, „An Exploration of the Sculptures of Grey friars Bobby, Edinburgh, Scotland, and the Brown Dog, Battersea, South London, England“, in: Society & Animals, 11(4)/2003, S. 353-373; P. Mason, The brown dog affair: The story of a monument that divided a nation, London 2005. 17 Rechtschreibung im Original. 18 Vgl. A.-K. Wöbse, M. Roscher, „Louise Lind-af-Hageby als Galionsfigur im Tier schutz: Nur eine einsame Frauenfigur am Bug des Bewegungsschiffes?“, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte, 64/2013, S. 26-35.
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setzung und ihr Engagement auch auf die Frauenwahlrechtsbewegungen der Zeit. Hier waren es nun einmal Frauen, die offensiv die Definitionsmacht der Tierexperimentatoren anzweifelten.19 Auch 100 Jahre nach dem Vorfall um den Brown Dog bleibt der Fall selbst Bestandteil der Konfrontation zwischen Antivivisektionsaktivist_innen und der biomedizinischen Lobby. 2003 veröffentlichte Steve Jones, Professor für Genetik am University College London, einen Beitrag für die konservative Zeitung Daily Telegraph, der die Bedeutung der Erkenntnisse aus eben diesem Versuch für den Fortschritt der Forschung heraushob. „The brown canine in question contributed to a great breakthrough in biology. Bayliss and his colleagues had found that when food comes into contact with a dog‘s small intestine, a chemical messenger is released that travels in the blood to the pancreas and persuades it to pour out its juices. Secretin, as they called it, was the first hormone (another word coined by them) to be discovered.“20 Der kleine braune Hund war also einflussreich: sowohl in der Debatte, die sich um den Nutzen und den Stand von Tierversuchen um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert entzündet hatte, als 19 Dies ist gut erforscht. Vgl. für Großbritannien: H. Kean, „The ‚Smooth Cool Men of Science‘: The feminist and socialist response to vivisection“, in: History Workshop Journal, 40(1)/1995, S. 16-38; L. Williamson, Power and Protest: Frances Power Cobbe and Victorian Society, London 2005; M. Roscher, „En gagement und Emanzipation. Frauen in der englischen Tierschutzbewegung“, in: D. Brantz, C. Mauch (Hrsg.), Tierische Geschichte. Die Beziehungen von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn 2010, S. 286-304; I. Mil ler, „Necessary torture? Vivisection, suffragette force-feeding, and responses to scientific medicine in Britain c. 1870–1920“, in: Journal of the history of medi cine and allied sciences, 64(3)/2009, S. 333-372. Für die Vereinigten Staaten vgl. C. J. Bittel, „Science, suffrage, and experimentation: Mary Putnam Jacobi and the controversy over vivisection in late nineteenth-century America“, in: Bulletin of the History of Medicine, 79(4)/2005, S. 664-694; C. Buettinger, „Women and an tivivisection in Late Nineteenth-century America“, in: Journal of Social History, 30(4)/1997, S. 857-872. Im Deutschen Reich gab es keine vergleichbare Über schneidung zwischen Tierschutzbewegung und Frauenwahlrechtsbewegung, al lerdings wurde auch hier die Debatte über Geschlechterdifferenzen geführt. Vgl. C. Sachse, „Von Männern, Frauen und Hunden. Der Streit um die Vivisektion im Deutschland des 19. Jahrhunderts“, in: Feministische Studien, 24(1)/2006, S. 9-28. Zur Rolle von Frauen und Männern in der Tierforschung vgl. den Bei trag von Böhnert und Kranke in diesem Band. 20 S. Jones, „View from the lab: Why a brown dog and its descendants did not die in vain“, in: The Daily Telegraph, 12. November 2003. Zur Rolle von Frauen und Männern in der Tierforschung vgl. den Beitrag von Böhnert und Kranke in diesem Band.
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auch in der Fortsetzung dieser Debatten zum Ende des Jahrhunderts. Er beeinflusste weiterhin die Auseinandersetzung um den Platz der Frau in der Gesellschaft, den Kampf um das Wahlrecht und letztlich auch um die Rechte der Tiere und hier insbesondere der Hunde in Laboratorien. Wie kann er aber als historischer Akteur konzipiert werden?
Handeln als kollektives Zusammenspiel: Akteur-Netzwerke und tierliche Agency Ausgehend von der oben empirisch dargelegten Vermutung, dass der Hund eine Rolle spielte, sowohl beim Versuchsaufbau21 als auch – und sehr viel umfangreicher dokumentiert – in der Agitation gegen Experimente an lebenden Tieren, soll in den folgenden Abschnitten in die in den Human-Animal Studies prävalenten Handlungstheorien eingeführt werden. Dabei gehe ich gewissermaßen genealogisch vor. Denn auch wenn die hier vorgestellten Ansätze insgesamt als Teile einer Handlungstheorie angesehen werden können, ist die Entwicklung der Bezugnahmen relevant. Deshalb sollen die mehr oder weniger linearen Abstufungen dieser distributiven Handlungstheorie Darstellung finden.22 Den Anfangspunkt bildet eindeutig die von Bruno Latour mitentwickelte Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Latour hatte aus dem Einfluss, den Milchsäurebakterien auf den Prozess der Pasteurisierung haben, abgeleitet, dass nicht nur Menschen als Handlungsträger Beachtung finden müssten.23 Diese von der Soziologie und der Wissenschaftsforschung angeregte Frage danach, wer eigentlich Handlungsträger, also Akteur – auch im historischen Prozess – sei, betrifft ein zentrales Problem, dem sich auch die historische Forschung immer wieder stellt und gestellt
21 W. Bayliss, E. Starling, „The mechanism of pancreatic secretion“, in: The Jour nal of Physiology, 28(5)/1902, S. 325-353; W. Bayliss, Principles of General Physiology, London 1924; H. C. Ernst, „Animal Experimentation“, in: Journal of Social Science, Proceedings of the American Association, XLII/1904, S. 98-109. 22 Ich möchte mich für Anregungen und Kommentare bei der Sozialwissenschaft lichen Theoriewerkstatt von Tanja Bogusz und Jörn Lamla bedanken, wo ich eine frühere Version dieses Papers vorstellen durfte. 23 B. Latour, Les microbes: guerre et paix suivi de irréductions, Paris 1984.
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hat.24 Ging es der Sozialgeschichte der 1970er und 1980er Jahre vor allem darum, die auch historiographisch unterdrückte Arbeiterklasse oder Frauen zu emanzipieren,25 so hat die Inklusion neuer Akteure seit der Jahrtausendwende besondere Fahrt aufgenommen. Den Dingen folgten hier letzterdings neben der Umwelt auch die Tiere als mögliche Akteure bzw. Aktanten resp. als Bestandteile des Akteur-Netzwerks.26 Wie Markus Schroer sagt: „Der Kern der Akteur-Netzwerk-Theorie besteht sicher in der Ausdehnung des Akteursbegriffs auf nicht-menschliche Entitäten. Handlungen sind demnach nicht mehr länger als Privileg des Menschen anzusehen. Auch Mikroben, Muscheln, Mäuse, Mischwesen und Maschinen können handeln.“27 Aktion als historisierbares Handeln wird von Latour als etwas Unkontrolliertes, Nicht-Intentionales verstanden, welches „andere Entitäten“, über die keine direkte Kontrolle besteht, dazu bringt, „Dinge zu tun“. Menschen bringen Tiere dazu, Dinge zu tun, aber eben auch vice versa. Er versteht sie damit als soziale Akteure bzw. Aktanten in einem Mensch-Tier-Ding-Beziehungsgeflecht, wobei die Handlungen nicht vorhersehbar sind und erst in der Vermittlung entstehen. Dazu sagt Latour: „Jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht, [ist] ein Akteur.“28 Die Eigenschaften der beteiligten Natur und die der betreffenden sozialen Akteure sind nach dieser These alle Gegenstand und Resultat der wechselseitigen Relationen im Netzwerk. Tiere können damit als historische Handlungsträger fungieren, ohne dass ihnen ein autonom agierender Subjektstatus nachgewiesen werden 24 Vgl. W. Johnson, „On agency“, in: Journal of Social History, 37(1)/2003, S. 113124; A. Callinicos, Making history: Agency, structure, and change in social theory, Leiden 2004. 25 Hierfür wegweisend E. P. Thompson, The Making of the English Working Class, London 1963; S. Rowbotham, Hidden from History: 300 Years of Women’s Op pression and the Fight Against it, London 1977. 26 In seiner Schrift Die Hoffnung der Pandora sagt Latour zum Aktantenbegriff: „Weil es im Falle von nichtmenschlichen Wesen etwas ungewöhnlich klingt von ‚Agenten‘ zu sprechen, sagen wir besser Aktanten“. Es ist also keine qualitative Unterscheidung, sondern eine Benennungsfrage. Vgl. B. Latour, Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a. M. 2002, S. 219. 27 M. Schroer, „Vermischen, Vermitteln, Vernetzen. Bruno Latours Soziologie der Gemische und Gemenge im Kontext“, in: G. Kneer et al. (Hrsg.), Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a. M. 2008, S. 361-400, hier S. 386. 28 B. Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 123.
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muss: „Agencies will be unified by our accounts of them, more by the physical and narrative contexts than by understanding the actors’ inner natures.“29 Der kleine braune Hund ist somit also aufgrund der narrativen Strukturen, die das Netzwerk abbilden, zum Akteur geworden. Ich möchte diese Art der Akteurseigenschaft, die vom Tier ausgehend Einfluss auf bestimmte diskursive Strukturen innerhalb des Netzwerkes ausübt, als vernetzte Agency, als Entangled Agency fassen. Diese Vernetzung umfasst demnach menschliche und nichtmenschliche Wesen. An dieser Stelle muss deshalb angemerkt werden, dass sich Latour und die ANT in ihrer Definition vom NichtMenschlichen keineswegs auf Tiere beziehen. Tiere sind lediglich eine mögliche Manifestation des Nicht-Menschlichen.30 Wichtig ist zudem, dass das Nicht-Menschliche für die ANT zwar als Teil der Gesellschaft gelten kann, nicht aber separat gesellschaftsfähig ist. Das bedeutet in der Konsequenz, dass die anthropozentrische Konzeption von Gesellschaft zwar geöffnet wird, sich jedoch immer noch um den Menschen zentriert. Tiere werden also nur deshalb zum Teil der Gesellschaft bzw. des Kollektivs, wenn man bei Latour bleibt,31 weil sie in Beziehungen zu Menschen stehen, ob nun als Haustier, Zootier oder Labortier, bzw. weil sie Mitwelten, Umwelten und Ökologien haben, die Mensch-Tier-Beziehungen einschließen. Die von Bruno Latour inspirierte ANT, die er selbst heute eher als „Soziologie der Gemenge und Gemische“ bezeichnet,32 ist somit forschungspraktisch der bisher vermutlich einflussreichste Ansatz in den Human-Animal Studies, Akteursqualitäten der beteiligten Tiere zu behaupten. Gerade weil es sich bei der ANT weder um eine vollgültige theoretische Schule noch um ein mustergültiges methodisches Programm handelt, zeigt sie sich extrem adaptionsfähig für Interpretationen und bietet sich für das theoretische Experimentieren mit Tieren als Akteuren geradezu an. Wie der Soziologe Richie Nimmo, der die ANT auf die speziellen Produktionsverhältnisse von Milch in der britischen Milchwirtschaft angewendet hat, zusammenfasst: „At the most general level, ANT provides a correc29 D. G. Shaw, „The Torturer’s Horse, Animals and Agency in History“, in: History and Theory, 52(4)/2013, S. 146-167, hier S. 155. 30 Zur Definition vgl. E. Sayes, „Actor–Network Theory and Methodology: Just what does it mean to say that nonhumans have agency?“, in: Social Studies of Science, 44(1)/2014, S. 134-149, hier S. 136. 31 B. Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 32. 32 Vgl. M. Schroer, „Vermischen, Vermitteln, Vernetzen“, S. 362.
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tive to the usual social scientific focus upon human beings and the ‚social‘ domain of human ‚subjects‘, by directing attention to the significance of nonhumans in social life.“33 Hieran anschließend fokussiert sich die ANT in ihrer Analyse sozialer Welten auf Kollektive menschlicher und nichtmenschlicher Akteure und widmet sich der Erforschung dieser Netzwerke. Allerdings offenbart sich im Falle der ANT vielleicht auch am deutlichsten die Eigenständigkeit der spezifischen Theoriebildung in den Human-Animal Studies. So sehr mit der ANT Einflüsse von Objekten auf die Realitätsproduktion ernst genommen werden könnten, so sehr zeigt die Anwendung in den Human-Animal Studies die Blindheit von Latours Forschungsprogramm gegenüber Herrschafts- und Zurichtungsverhältnissen und den spezifischen Handlungskompetenzen von Akteuren. Sie bleibt auch dabei, dass Menschen bestimmen, was und wer Akteur ist.34 So merken die beiden Politikwissenschaftler_innen Erika Cudworth und Stephen Hobden an, dass die Tendenz zu horizontalen Perspektiven bestehe, zu flachen, nicht-hierarchischen Netzwerken, da die ANT eben nicht in der Lage sei, zwischen Tieren und Dingen zu unterscheiden: „In both hybridity and vitalism, there is a tendency to horizontals – relations are not understood to exist in a context of hierarchies of power. The flat, non-hierarchical networks for ANT cannot deal with power because it cannot make distinctions between nature and society, or between humans, other animals, plants and objects. In theorizing power, we consider that need such distinction [sic!] between different kinds of being and objects in the world in order to recognise, for example that distinction such as those between humans and all other ‚animals‘ are forged through and continue to carry, relations of inequality and domination.“35 Auch die spezifische Lebendigkeit von Tieren wird nicht ausreichend theoriebildend berücksichtigt, Tiere kommen im Œuvre von Latour selbst kaum vor, konzentriert wird sich hier auf technische Arte33 R. Nimmo, „Actor-network theory and methodology: Social research in a morethan-human world“, in: Methodological Innovations Online, 6(3)/2011, S. 108119, hier S. 109. 34 G. Lindemann, „Die Akteure der funktional differenzierten Gesellschaft“, in: N. Lüdtke, H. Matsuzaki (Hrsg.), Akteur – Individuum – Subjekt: Fragen zur Personalität und Sozialität, Wiesbaden 2011, S. 329-350. 35 E. Cudworth, S. Hobden, „Liberation for Straw Dogs? Old materialism, new ma terialism, and the challenge of an emancipatory posthumanism“, in: Globaliza tions, 12(1)/2015, S. 134-148.
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fakte. Latours Ansatz wird dennoch von den Human-Animal Studies genutzt, um Beziehungsgeflechte zwischen Menschen und Tieren sichtbar zu machen und ihre Produkte – Latours Hybride – zu analysieren. Diese Hybriden können alle möglichen menschlichen und tierlichen Aktanten sowie technische Artefakte sein. Somit wird die ANT weiterentwickelt, um diesem Beziehungsgeflecht inhärente, historisch gewachsene Herrschaftsverhältnisse zu berücksichtigen und tierlichen Akteuren so gerecht zu werden.36 Attraktiv ist die ANT für die Human-Animal Studies außerdem, weil bei diesem Ansatz keine Intention der historischen Akteure nachgewiesen werden muss. Subjekttheoretische Handlungsmodelle, die diesen Nachweis verlangen, grenzen den Menschen deshalb per se vom Tier ab. Das Tier funktioniert in der soziologischen Handlungstheorie genau als das, was der Mensch nicht ist: instinktgeleitet und reaktiv. Insbesondere die distributiven Handlungstheorien gehen also über den subjektzentrierten und dabei immer anthropozentrischen Fokus hinaus. Zwar ist intentionales Handeln weiterhin mit abgedeckt, stellt jedoch eben nur eine mögliche Form von Handlung dar.37 Die spezifische Produktion des Akteurs „kleiner brauner Hund“ liegt also in seinen Lautäußerungen, die andere dazu brachten, sich für ihn einzusetzen, bzw. in den Funktionen, die er für die Erforschung der Wechselwirkungen zwischen dem Nervensystem und dem Pankreas lieferte. Diese „Äußerungen“ versammelten spezifische Netzwerke von Aktivist_innen und Physiolog_innen, von Journalist_innen und Publizist_innen von Frauenwahlrechtsaktivist_innen und den ausschließlich männlichen Medizinstudenten, die den Hund jeweils zu einem spezifischen Teil des Netzwerks werden ließen. Welche genauen Beziehungen dies jeweils sind bzw. welche Qualitäten sie haben, ist in diesem Stadium nicht relevant für die grundlegende Annahme des Hundes als Akteur bzw. Aktant.
Handeln als relationales Zusammenspiel: Relationalität als Marker von (tierlicher) Agency Ein erweiterter Zugang zu tierlicher Agency innerhalb der HumanAnimal Studies findet sich im Werk der bereits erwähnten Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway. Auch Haraways Augen36 Vgl. M. Roscher, Zwischen Wirkungsmacht und Handlungsmacht, S. 43. 37 E. Sayes, „Actor–Network Theory and methodology“, S. 141.
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merk liegt auf dem kollektiven Zusammenspiel von Mensch und Tier. Sie geht aber dezidiert historisch vor und spricht von einer Ko-Evolution, an der Tiere genauso wie Menschen auch kulturell beteiligt seien, weswegen sie auch eine gemeinsame Co-History hätten.38 Sowohl Tier als auch Mensch verändern sich in ihren gegenseitigen Beziehungen und eigenen Verfasstheit durch solche lange dauernden Prozesse, wie jenen der Domestikation oder der Zuchtauswahl. Diese Co-History wurde insbesondere mit Blick auf die Ko-Evolution von Mensch und Hund breit erforscht,39 deshalb ist das Wissen über bzw. die Akzeptanz von Hunden als historische Akteure sicherlich anders gelagert als bei anderen Tieren. Die Beziehungen zwischen Mensch und Tier sind für Haraway gleichwohl generell nicht eindimensional, sondern stets verwoben. Sie definiert insbesondere die Beziehung des Menschen zu seinem Haustier als ko-konstitutiv. Beziehungen müssten jeweils neu formuliert und ausgehandelt werden: Die Teilhaber_innen an der Beziehung konstituierten sich erst durch sie. Sie verweist damit ganz explizit auf die „Reziprozität der Mensch-Tier-Beziehung“40 und auf die Beziehung als kleinste Analyseeinheit.41 In When Species Meet sowie in ihrem pamphletartigen Companion Species Manifesto argumentiert sie, dass einzelne Spezies nur in Beziehung zu anderen existierten und es die reziproke Vermischung sei, die menschliche und tierliche Partner hervorbringe. „Relations are constitutive; dogs and people are emergent as historical beings, as subjects and objects to each other precisely through the verbs of their relating”.42 Tiere, bzw. in diesem Fall Hunde, werden hier zu historischen Akteuren durch ihre Relation zum Menschen. Interessant wäre aber auch zu überprüfen, ob nicht auch Menschen erst durch ihre Beziehung zum Hund zu historischen Akteuren werden bzw. wurden. Im Prinzip haben wir es hier also mit einem „Mit-Erleben“ zu tun.43 38 D. Haraway, The Companion Species Manifesto, Chicago 2003, S. 12. 39 Vgl. C. Pearson, „Dogs, history, and agency“, in: History and Theory, 52(4)/2013, S. 128-145, hier S. 132. 40 A. Steinbrecher, „‚They do something‘–Ein praxeologischer Blick auf Hunde in der Vormoderne“, in: F. Elias et al. (Hrsg.), Praxeologie. Beiträge zur interdiszi plinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwis senschaften, Berlin 2014, S. 29-52. 41 D. Haraway, Companion Species Manifesto, S. 24. 42 D. Haraway, When Species Meet, S. 62. 43 R. Hitzler, „Ist der Mensch ein Subjekt? Ist das Subjekt ein Mensch? Über Dis krepanzen zwischen Doxa und Episteme“, in: A. Poferl, N. Schröer (Hrsg.), Wer oder was handelt? Wiesbaden 2014, S. 121-141, hier S. 133-135.
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Auch Erica Cudworth und Stephen Hobdon sprechen sich für eine relationale Fassung von Agency aus, die sie wiederum als Affective Agency beschreiben. Cudworth und Hobdon argumentieren nun: „We need a situated and differentiated notion of agency that understands the ability of creatures and things to ‚make a difference in the world‘ as a question of situated relations rather than intrinsic capacity alone.”44 Damit referenzieren sie auch Haraways Arbeiten, insbesondere das Konzept der „naturecultures”, in dem nicht nur Binaritäten aufgelöst werden, sondern vor allem das materielle, situierte Wesen der Akteure in den Vordergrund gestellt wird. Körper und Bedeutungen sind in Relation zueinander zu denken. Da diese Beziehungen sowohl biologische wie kulturelle Aspekte umfassen, spricht Haraway von „naturalcultural contact zones“45 bzw. von „mortal world-making entanglement“,46 die alle Subjekte/ Objekte einer Geschichte verändern. Ich möchte dies als Relationale Agency bezeichnen. Hier wird Sozialität als gegenüber den Praktiken emergent begriffen, Agency als durch die Relationen zwischen den Akteuren bzw. Aktanten konstruiert aufgefasst. Für die historische Rekonstruktion ist dies wiederum von besonderer Relevanz, da es Historiker_innen darauf verweist, ihre Quellen in diesen Kontaktzonen zu suchen, ja sogar noch weiter zu gehen und die zumeist textlichen Quellen selbst als Bestandteil des Netzwerkes zu begreifen: „Thus texts as mobile and material inscriptions are active agents which assemble, shape and connect practices, and in doing so enact objects, constitute subjects, and inscribe relations, ontological boundaries and domains“.47 Dies bedeutet, zweigliedrig vorzugehen und zunächst die Quellen einer klassischen Quellenkritik zu unterziehen und sie auf die empirische Aussage hin zu untersuchen. In einem zweiten Schritt ist dann genealogisch der Beitrag der Quelle zur Konstituierung und Produktion von Subjekten und Objekten zu befragen, also zu schauen, welche Perspektive zu einem bestimmten Zeitpunkt und aus einem spezifischen Blickwinkel auf Objektbzw. Subjekteigenschaften eingenommen wurde. Dies ist auch die Methode, die Bruno Latour bei seiner Arbeit über die Pasteurisie-
44 E. Cudworth, S. Hobden, „Of parts and wholes: International relations beyond the human“, in: Millennium-Journal of International Studies, 41(3)/2013, S. 430-450. 45 D. Haraway, When Species Meet, S. 7. 46 Ebd., S. 4. 47 R. Nimmo, „Social research in a more-than-human world“, S. 114.
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rung verwendet hat, in der er drei zeitgenössische Journals befragt und dabei alle Akteure, eben auch die Mikroben, zu Wort kommen lässt: „For each of the relevant articles, I sketched the interdefinition of the actors and the translation chains, without trying to define a-priori how the actors were made up and ranked.“48 Wenn man jetzt also die spezifischen Beziehungen hinzuzieht, die zwischen dem Hund (als dem Archetyp eines Gefährtentiers des Menschen) in seiner Rolle als Labortier und Bayliss, dem Vivisektor, zwischen Lind-af-Hageby und dem Hund bestanden, und die jeweiligen Beschreibungen, die in den von ihnen verfassten Texten zu dem Hund, seinem Verhalten und zur Beziehung zu Tage treten, ohne vorab eine Abstufung der Akteurseigenschaft vorzunehmen, wird man erkennen, dass die Zuschreibungen Vielfältiges aufscheinen lassen, das von der jeweiligen situierten Beziehung abhängig ist.
Handeln als symmetrisches Zusammenspiel: Jenseits des Natur/Kultur-Dualismus Gehen wir jetzt weiter vom Akteur über die Relation zum Netzwerk. Das Geflecht, das Netzwerk, das Kollektiv – dieses alles sind Kategorien, die für die historischen Human-Animal Studies von Relevanz und gleichsam in der ANT von zentraler Bedeutung sind. Vermittels der Ausrichtung auf die Beziehungen erfahren wir sehr viel über den Menschen, aber schließlich auch über das Tier. Dieser vernetzte Ansatz erlaubt uns zudem, auf vom Menschen produzierte Quellen zurückzugreifen, die uns darüber Auskunft geben, wie sich das Zusammenleben gestaltet bzw. wie sich der Mensch als Akteur in dieser Beziehung, diesem Kollektiv im Verhältnis zum Tier bewertet. Das Tier fungiert dann als ein Mittler, der aktiv in den Prozess eingreift, indem er Elemente „übersetzt, erstellt, modifiziert und transformiert“.49 Gesellschaft und Dinge sind dabei miteinander verwoben, ja nach Latour ist das Kollektiv sozusagen die um das Nicht-Menschliche erweiterte Gesellschaft, wobei es sich um mehr als eine bloße Koexistenz handelt. Agency setzt damit immer Interagency voraus, Aktion ist immer als Interaktion gedacht. Das heißt, dass am Handeln immer verschiedene Akteure 48 B. Latour, The Pasteurization of France, Cambridge (MA) 1988, S. 11. 49 B. Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 70.
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unterschiedlicher Existenzweisen beteiligt sind.50 „Simply put, nonhumans do not have agency by themselves, if only because they are never by themselves.“51 Insoweit müssen im Sinne einer symmetrischen Herangehensweise, die Latour uns vorschlägt, also beide untersucht werden. So auch das Plädoyer der Tiergeschichte: Mensch und Tier gilt es damit im Zusammenhang ihrer jeweiligen Beziehungen und Handlungspraxen, insbesondere unter dem Aspekt der historischen Veränderung, zu beleuchten. Es geht also auch darum, im Sinne der symmetrischen Anthropologie die Verflechtungen von Natürlichem und Kultürlichem, von Natur und Gesellschaft zusammen zu betrachten bzw. die binäre Konstruktion von Natur und Kultur aufzulösen. „Symmetrisch zu sein“ bedeutet in diesem Zusammenhang „nicht a priori irgendeine falsche Asymmetrie zwischen menschlichem intentionalem Handeln und einer materiellen Welt kausaler Beziehungen anzunehmen“.52 Latour spricht sich hiermit insbesondere gegen eine Unterscheidung in Subjekte und Objekte aus: „Die nicht-menschlichen Wesen haben wahrlich Besseres verdient, als auf unbestimmte Zeit die recht unwürdige, vulgäre Rolle des Objekts auf der großen Bühne der Natur zu spielen“.53 Das „Ensemble der nichtmenschlichen Wesen“ dürfe nicht länger „unter den Auspizien der Natur gefangengehalten“ werden.54 Für die historische Konstruktion des Falles des kleinen braunen Hundes heißt dies, sich alle an der Debatte beteiligten Akteure anzuschauen und ihr jeweiliges Handeln in den unterschiedlichen Beziehungen zu untersuchen. Das bedeutet auch, Augenmerk auf die materiellen Umgebungen, die Räume und Orte zu legen.
50 B. Latour, „On interobjectivity“, in: Mind, Culture, and Activity, 3(4)/1996, S. 228-245, hier S. 239. 51 E. Sayes, „Actor–Network Theory and methodology“, S. 144. 52 B. Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 131. Hervorhebung im Original. 53 B. Latour, Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt a. M. 2009, S. 71. 54 Ebd., S. 88.
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Handeln als situiertes Zusammenspiel: Situated Knowledges Mit Begrifflichkeiten der „naturecultures“, des „cyborgs“ und der „messy entanglements“ weist das Werk Donna Haraways deutliche Ähnlichkeiten mit dem Verständnis der ANT von sozialer Realität als einem gemeinsamen Produkt von menschlichen und nichtmenschlichen Produzenten auf. Trotz dieser Gemeinsamkeit zeigen sich jedoch insbesondere im Vergleich mit Haraways Konzept der „situated knowledges“ auch deutliche Unterschiede. Sie lassen sich auf die andersgearteten Arrangements zurückführen, die den Ausgangspunkt der jeweiligen Theorie bilden. Während die ANT ihren Ursprung in der Laborforschung hat, erwuchs Haraways Forschungsperspektive aus der Beschäftigung mit der Freilandforschung, hier vor allem der Primatologie,55 auch wenn sie sich letztlich wieder dem Labor zuwendet. Entsprechend problematisiert Haraway die lokalen Grenzen der Wissensproduktion und regt eine Hinwendung zur Analyse von Produktionsprozessen lokaler Wissenskontexte an.56 In Haraways Konzept des Situierten Wissens ist auch das Wissensobjekt Akteur, und Wissen wird erst im Interaktionsprozess aller am Herstellungsprozess von Wissen Beteiligten gewonnen. Natur als Sammelbegriff für alles nicht Menschengemachte ist in dieser Perspektive keine der Gesellschaft entgegengesetzte Ressource, die beliebig angeeignet werden kann. Sie ist aktives Subjekt in der Herstellung von Wissen. Erkenntnis wiederum findet nur in der Auseinandersetzung mit anderen am Prozess Beteiligten statt. „To be one is always to become with many“.57 Was Haraway hiermit meint, lässt sich vielleicht am besten an ihren späteren Arbeiten zeigen, in denen sie den Hundesport Agility exemplarisch als einen Ort und eine Praxis der gemeinsamen Wissensproduktion von Mensch und Tier reflektiert. Im Mittelpunkt steht die fehlerfreie Bewältigung eines Parcours durch den Hund unter Anleitung des Menschen in einer vorgegebenen Zeit. Um die Parcours zu meistern, sind Mensch und Hund darauf an55 D. Haraway, Primate visions: Gender, race, and nature in the world of modern science, London 1989; D. Haraway, „Animal sociology and a natural economy of the body politic, Part II: The past is the contested zone: Human nature and theories of production and reproduction in primate behavior studies“, in: Signs, 4(1)/1978, S. 37-60. 56 D. Haraway, „Situated knowledges: The science question in feminism and the privilege of partial perspective“, in: Feminist studies, 14(3)/1988, S. 575-599. 57 D. Haraway, When Species Meet, S. 4.
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gewiesen, gemeinsam ein Wissenssystem zu erarbeiten.58 Obwohl die konzeptuelle Ebene von Haraways Arbeiten dabei sehr fruchtbar für die Human-Animal Studies war und weiterhin ist, werfen ihr Kritiker_innen, die den Ansatz vor allem der Critical Animal Studies vertreten, vor, ähnlich der ANT die in gesellschaftliche Praxen eingelassenen gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse vorschnell aus dem Blick verschwinden zu lassen.59 Dies trifft insbesondere für den Fall ihrer Konturierung von Laborratten als Arbeiter_innen zu.60 Die gemeinsame Herstellung von Wissen erfolge hier, so der kritische Einwand, doch unter für die Ratten sehr unfreien Bedingungen. Allerdings ist Haraways Hinwendung zum Labor, die auch innerhalb der Human-Animal Studies nachvollzogen wird, durchaus paradigmatisch für den gesamten „Versuchsaufbau“ zur Überprüfung tierlicher Agency. Dies liegt einerseits daran, dass man in diesem modernen Arbeitsfeld der Forschung sehr eindrücklich die vermeintlichen Vorlieben und die vermeintlichen Widerständigkeiten61 von nicht-menschlichen Akteuren in den Ergebnissen wiederfindet. Die Wissensproduktion hängt hier viel direkter von den Tieren ab. Zwar haben auch in diesem Forschungsumfeld die Akteure verschiedene Existenzweisen, „multiple Ontologien“, wie Susanne Bauer sie nennt, die relationalen Gefüge sind aber gradliniger. Es sind zudem sehr spezifische und sehr isolierte Räume, mit Robert E.
58 Ebd. Zum Agility Sport besonders S. 205-246, Vgl. auch T. Jordan, „Troubling companions: companion species and the politics of inter-relations“, in: NORA – Nordic Journal of Feminist and Gender Research, 19(4)/2011, S. 264–279; E. Cudworth, „Walking the dog: Explorations and negotiations of species differ ence“, in: PAN: Philosophy Activism Nature, 8/2011, S. 14-22. 59 Z. Weisberg, „The broken promises of monsters: Haraway, animals and the hu manist legacy“, in: Journal for Critical Animal Studies, 7(2)/2009, S. 22-62; A. Potts, D. Haraway, „Kiwi chicken advocate talks with Californian dog compan ion“, in: Feminism & Psychology, 20(3)/2010, S. 318-336. 60 Vgl. Z. Weisberg, „The broken promises of monsters“. Dagegen aber Tora Holm berg, die argumentiert, dass alle Arbeitsbeziehungen durch Machtasymmetrien geprägt seien, dass es hier also zunächst einmal um die Anerkennung der Arbeit gehe. Vgl. T. Holmberg, „Mortal love: Care practices in animal experimentation“, in: Feminist Theory, 12(2)/2011, S. 147-163. Zur Debatte generell: S. Wirth, „‚Laborratte‘ oder ‚Worker‘ im Vivisektionslabor?“; E. Giraud, „‚Beasts of Bur den‘: Productive Tensions between Haraway and radical Animal Rights Activ ism“, in: Culture, Theory and Critique, 54(1)/2013, S. 102-120. 61 S. Bauer, „Verteilte Handlungsmacht im Experiment“, S. 341.
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Kohler „placeless places“,62 in denen Handeln kontrollierbarer analysiert werden kann.63 Deshalb wird auch dafür argumentiert, die Denomination von Tieren als Arbeiter_innen situations-, orts- und tierabhängig vorzunehmen.64 Anders als im Zoo ist der Zutritt zum Labor auch im 20. Jahrhundert noch sehr reguliert, auch was die menschlichen Akteure betrifft. Der kleine braune Hund wurde hier also auch deshalb zum Akteur, weil der Ort ein vielfach umstrittener war, per se mit spatialer Inklusion und Exklusion belegt, und weil die „Response“, um bei Haraway zu bleiben, unterschiedlich interpretiert wurde.
Handeln als praxeologisches Zusammenspiel – Agency als Performanz Um die Verbundenheit von menschlichem und tierlichem Handeln herauszustellen, sind vor allem Praxistheorien als Handlungstheorien zuletzt in den Fokus der Human-Animal Studies gerückt, um mittels dieses Zugangs die Akteure zu fassen zu bekommen. Hier ist nicht die intentionale Qualität einer Handlung, sondern der Handlungsfluss von Bedeutung. Beziehungen und Akteure werden demnach performativ hergestellt. Haraway beschreibt Relationen auch als „Beziehungstanz“65 bzw. als „Begegnungstanz“66, der in einem „verwobenen Dasein“67 mündet, und zeigt damit einen Weg auf, der von Tierhistoriker_innen beschritten wird: den der performati62 R. E. Kohler, „Place and practice in Field Biology“, in: History of Science, 40/ 2002, S. 189-210, hier S. 189. 63 Nach Karin Knorr Cetina sind Labore „gesteigerte Umwelten“, in denen natür liche Ordnungen in Relation zu sozialen Ordnungen im Hinblick auf die an stehenden Anliegen „verbessert“ erscheinen (Vgl. K. Knorr Cetina, Wissens kulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt a. M. 2002, S. 45). Zudem stehen Labore für eine Bemächtigung der Natur. Vgl. dazu: B. Latour, „Give me a laboratory and I will raise the world“, in: K. KnorrCetina, M. Mulkay (Hrsg.), Science observed. Perspectives on the Social study of Science, New Delhi 1983, S.141-170. 64 J. L. Clark, „Labourers or lab tools? Rethinking the role of lab animals in clinical trials“, in: N. Taylor, R. Twine (Hrsg.), The rise of critical animal studies, from the margins to the center, London u. a. 2014, S. 139-163, hier S. 159. 65 D. Haraway, When Species Meet, S. 25. 66 Ebd., S. 4. 67 Ebd., S. 72.
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ven und praxeologischen Annäherung. Der Tanz als performativer Akt, der von mehreren Handelnden gemeinsam aufgeführt wird, erweitert damit die von Jakob von Uexküll ebenfalls der Sphäre der Musik entlehnte Metapher der Bewegungsmelodie für die harmonische, d.h. angepasste und vollkommene Gestaltstruktur des Verhaltens (von Tieren).68 Beim „Begegnungstanz“ in der harawayischen Lesart geht es um die Aushandlungsprozesse, die Praxen, die die Beziehung zwischen Mensch und Tier strukturieren und somit analytisch fassbar machen. Die soziale Praxis wird damit als Ausdruck gemeinsamer Handlung gefasst, nicht etwa als eine vorherige Kommunikation.69 Dies wird insbesondere beim Hundespaziergang evident, der häufig herangezogen wird, um geteilte Praxen als Zusammenspiel tierlicher und menschlicher Akteure zu beschreiben.70 Es ist eine Aktivität, die das Gemeinsame performativ hervorhebt. Bei Haraway ist dies aber abstrakter gefasst. Ihr geht es um die Performanz heterogener Entitäten in belebten oder unbelebten soziotechnischen Netzwerken. Tiere – bzw. im Falle von Haraways Analyse eigentlich spezifischer Hunde – würden nicht nur ihre eigene Welt konstruieren, sondern auch an der Konstruktion der menschlichen, kulturellen Welt aktiv beteiligt sein. Bedeutung wird erst in der Verhandlung hergestellt: „[…] it is all the fruit of becoming with.“71 Performativität ist hier als ein „Werden im Tun“72 zu verstehen, und dabei als stets relational und praxeologisch zu fassen. 68 J. von Uexküll, Bausteine zu einer biologischen Weltanschauung: Gesammelte Aufsätze, München 1913. Vgl. dazu R. Becker, „Der Sinn des Lebens. Helmuth Plessner und F. J. J. Buytendijk lesen im Buch der Natur“, in: K. Köchy, F. Michelini (Hrsg.), Zwischen den Kulturen: Plessners „Stufen des Organischen“ im zeithistorischen Kontext, Freiburg, München 2015, S. 65-90, hier S. 77. 69 Für einen Versuch auch kommunikationstheoretisch Mensch-Tier-Beziehungen zu erfassen, vgl. R. Wiedenmann, Moral und Gesellschaft. Elemente und Ebenen humanimalischer Sozialität, Wiesbaden 2009, hier Kapitel 3. Für Performativi tät in den Human-Animal Studies vgl. J. Parker-Starbuck, L. Orozco (Hrsg.), Per forming Animality: Animals in Performance Practices, London 2015; L. Birke, M. Bryld, N. Lykke, „Animal Performances. An Exploration of Intersections between Feminist Science Studies and Studies of Human/Animal Relationships“, in: Feminist Theory, 5(2)/2004, S. 167-183; G. S. Szarycz, „The representation of animal actors: theorizing performance and performativity in the animal king dom“, in: N. Taylor, T. Signal (Hrsg.), Theorizing Animals: Re-thinking Hum animal Relations, Leiden 2011, S. 149-173. 70 A. Steinbrecher, „They do something“. 71 D. Haraway, When species Meet, S. 17. 72 S. Bauer, „Verteilte Handlungsmacht im Experiment“, S. 345.
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„All the actors become who they are in the dance of relating, not from scratch, not ex nihilo, but full of the patterns of their some times-joined, sometimes-separate heritages both before and lateral to this encounter. All the dancers are redone through the patterns they enact“.73 Bei Latour klingt das dann so: „Das Wort ‚Akteur‘ zu verwenden bedeutet, dass nie ganz klar ist, wer und was handelt, wenn wir handeln, denn kein Akteur auf der Bühne handelt allein“.74 Der Bezug zum Theater ist hier sicherlich nicht zufällig gewählt. Performanz und Handeln sind hier zwar durchaus absichtsvoll, jedoch auch durch Improvisation und Pannen geprägt. Zwar hatte sich Latour in seiner Schrift Die Hoffnung der Pandora in der Abwägung verschiedener Redefiguren zur angemessenen Darstellung des Verhältnisses von Pasteur und Michsäurebakterium noch von der Metapher der Bühne distanziert, da diese aus der Welt der Kunst stammende Metapher das Werk der Wissenschaft zu sehr ästhetisiere und deren Wahrheitsanspruch schwäche,75 jedoch scheint der erweiterte Einfluss des „practice turns“ hier durchaus eine neue Perspektive aufgeworfen zu haben.76 Auch in der Performanz spielen die jeweiligen Machtverhältnisse eine Rolle. Der „Dance of Relating“77 kann sehr unterschiedlich mächtige Beziehungspartner zusammenführen, wie im Versuchslabor sehr klar gezeigt werden kann, wobei sich dort, und das macht das Spannende aus, die Beziehungskonstellation und damit auch die Machtkonstellation innerhalb kürzester Zeit ändern kann. In diesem Sinne, so fügen Eitler und Möhring an, „geht es Haraway um eine um andere Spezies erweiterte Geschichte der Subalternen, die nicht geschrieben werden kann, ohne die eigene Verstricktheit in den ungleichgewichtigen Machtbeziehungen zu reflektieren.“78 Allerdings sind diese Machtbeziehungen nicht immer schematisch und sollten nicht nach dem passiven und deshalb unterdrückten Tier und dem aktiven und deshalb dominierenden Menschen, dem „passiven Wissensobjekt und aktiven Wissenssubjekt“79 differenziert werden: D. Haraway, When Species Meet, S. 25. B. Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 81. B. Latour, Hoffnung der Pandora, S. 164. K. Knorr Cetina, T. Schatzki, E. v. Savigny (Hrsg.), The practice turn in contem porary theory, London 2001. 77 D. Haraway, When Species Meet, S. 26. 78 P. Eitler, M. Möhring, „Eine Tiergeschichte der Moderne: Theoretische Perspek tiven“, in: Traverse, 15(3)/2008, S. 91-106, hier S. 95. 79 S. Wirth, „‚Laborratte‘ oder ‚Worker‘ im Vivisektionslabor“, S. 118. 73 74 75 76
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„Our modern knowledge-practices constantly inscribe these dualist categories upon phenomena in an ongoing ‚work of purification‘, which meticulously disentangles the social from the natural so that each seems ‚pure‘ and uncontaminated by the other.“80 Die Frage ist nun, ob sich diese Ausführungen der Prozesshaftigkeit der Wissensproduktion auch auf historische Prozesse übertragen lassen, also etwa darauf, inwieweit der kleine braune Hund auch aktiv an der Formierung (und an der Kritik) eines neuen Naturwissenschaftsverständnisses beteiligt war. Wenn man den Fokus auf die Prozesshaftigkeit legt, auf das Werden von Tieren zu ganz bestimmten Tieren, sehe ich dafür durchaus die Möglichkeit. Dafür bedarf es aber des erweiterten Blicks auf das soziale Kollektiv, das von Mensch und Tier gebildet wird und das Grundlage ist für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, die überlagert sind von sozialen Aktivitäten.81 Das Soziale wird hiermit zur zentralen methodischen Kategorie, in der die jeweiligen Umwelten mitgedacht werden müssen. Es geht um Ko-Produktion einzelner, in unterschiedlichen Netzwerken verhafteten Akteure. „Subjekte und Objekte werden erst in den Konstellationen verteilt handelnder Akteure bzw. Aktanten performativ hervorgebracht.“82 Dazu sagt Andreas Reckwitz, dass jede Praktik auch eine körperliche Performance sei. „Die praxeologische Kulturtheorie [betont], daß eine soziale Praktik identisch ist mit einer implizit und sorgfältig organisierten Hervorbringung eines Komplexes von Kör perbewegungen.“83 Haraways Agility Sport als eine eingeübte Routine zwischen Mensch und Tier entspricht dieser Definition genauso wie jeder Versuchsablauf, an dem Tiere beteiligt sind. Tatsächlich bedarf es einer habituellen Aneignung bestimmter Handlungsabläufe, damit bestimmte Experimente mit Tieren funktionieren, Tiere müssen dies verstanden haben. Mit diesem Schritt lassen sich die konkreten Relationen, die in der materiellen, alltäglichen Arbeit 80 R. Nimmo, „Social research in a more-than-human world“, S. 111. 81 R. Wiedenmann, „Soziologie. Humansoziologische Tiervergessenheit oder das Unbehagen an der Mensch-Tier-Sozialität“, in: R. Spannring et al. (Hrsg.), Diszi plinierte Tiere? Perspektiven der Human-Animal Studies für die wissenschaftli chen Disziplinen, Bielefeld 2015, S. 257-286, hier S. 268. 82 S. Bauer, „Verteilte Handlungsmacht im Experiment“, S. 345. 83 A. Reckwitz, „Die Entwicklung des Vokabulars der Handlungstheorien: Von den zweck- und normorientierten Modellen zu den Kultur- und Praxistheorien“, in: M. Gabriel (Hrsg.), Paradigmen der akteurszentrierten Soziologie, Wiesbaden 2004, S. 303-328, hier S. 321.
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mit Tieren, ob nun im Zoo oder im Labor, nachzeichnen und historisieren.84 Es lassen sich aber eben auch die Praktiken beschreiben, die anders ablaufen als gedacht oder in denen die Wahrnehmungen über Abläufe auseinandergehen. Der kleine braune Hund wurde auch deshalb zum Akteur erklärt, weil die Wahrnehmungen seiner Äußerungen unterschiedlich interpretiert wurden und werden, er wurde zum Akteur, weil die sozialen Aktivitäten, die um ihn herum geschahen, die Proteste, die Gerichtsverhandlungen, die Modifikation von Versuchsabläufen ihn zum zentralen Thema machten und weil dies ein Prozess war, der bis in die jüngste Vergangenheit anhielt.
Handeln als materiell-distributives Zusammenspiel: New Materialism und verteilte Handlungsmacht Auch die Schule des New Materialism begreift Zuschreibungen des Akteursstatus als Ergebnisse prozessualer Aushandlungen. Das Materielle wird hier als mehr denn als bloße Dinghaftigkeit verstanden. Gerade in der Relation zu anderen Dingen würden „modes of self-transformation“ entstehen, so Diana Coole und Samantha Frost, neben Karen Barad und Rosi Braidotti zwei zentrale Pro tagonistinnen des New Materialism.85 Damit setzt sich der New Materialism ganz klar von einer Hinwendung zum Materiellen ab, der in der breiteren Kulturgeschichte zu entdecken ist. Wie Hans Schouwenburg ausführt: „Thus, while the material turn in cultural history is characterized by an increased engagement with objects as ‚new‘ historical sources, new materialism is a new way of developing theory.”86 Und auch Cudworth und Hobdon beziehen sich in ihrer Theoriebildung auf die Schule des New Materialism: „For new materialists, accounts of agency that are human centred 84 S. Bauer, „Verteilte Handlungsmacht im Experiment“, S. 346. 85 D. Coole, S. Frost, New Materialisms, Durham, NC 2010, S. 9; vgl. auch K. Barad, „Posthumanist performativity: Toward an understanding of how matter comes to matter“, in: Signs, 28(3)/2003, S. 801-831; R. Braidotti, „Posthuman, all too human towards a new process ontology“, in: Theory, culture & society, 23(78)/2006, S. 197-208. 86 H. Schouwenburg, „Back to the future? History, material culture and new Materialism“, in: International Journal for History, Culture and Modernity, 3(1)/2015, S. 59-71, hier S. 63.
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and human exclusive fail to attend to the powers of the non-human world in making and remaking our shared world.“87 Auch hier sind es also die Effekte, die durch Materialität generiert werden. New Materialism sieht Agency also weniger in den Individuen, sondern vielmehr in den Netzwerken, an denen verschiedene Entitäten jeweils beteiligt sind.88 Damit nehmen sie den Faden von Latour und Haraway auf, radikalisieren ihn aber posthumanistisch, indem sie die Intentionalität von Handlung, als vermeintlich menschliches Attribut, als noch irrelevanter für die Handlung selbst postulieren.89 Weniger radikale Hinwendungen zum Materiellen und zur Materialität der tierlichen Körper sind in körpersoziologischen und körperhistorischen Ansätzen zu finden.90 Mit Blick auf das Materielle, Körperliche spreche ich deshalb andernorts auch von einer Embodied Agency.91 Erschließen lässt sich dies über die Verbindung einer historischen Ontologie mit einer materiellen Semiotik,92 in der der Körper eine zentrale Rolle einnimmt. Ganz klar wird hier die „Performativität von den Sprechakten und Texten auf materielle Praktiken aus[ge]dehnt.“93 So hat auch die Erinnerungskultur an den Hund eine klar materielle Komponente. Ihm zu Ehren wurden zwei Denkmäler errichtet. Neben dem bereits erwähnten, 1906 errichteten, das 1910 nach den heftigen Auseinandersetzungen zwischen Medizinstudenten und Antivivisektionsaktivist_innen entfernt wurde, stellte die Londoner Stadtregierung 1983 an gleicher Stelle ein neues Denkmal auf. Hilda Kean, die Tierdenkmäler als Teil der gelebten Beziehungen und der Vergesellschaftung von Tieren begreift, sagt dazu: „The monument did not give him fame but portrayed him in a different way as a nonhuman animal worthy of being remembered.“94 Dies ist ein feiner Unterschied. Die Personifizierung jedoch ist durchaus Bestandteil der Genese eines historischen Akteurs.
87 E. Cudworth, S. Hobden, „Liberation for Straw Dogs“, S. 134-148. 88 S. Wirth, „‚Laborratte‘ oder ‚Worker‘ im Vivisektionslabor“, S. 132. 89 Vgl. M. Rossini, „To the dogs: Companion speciesism and the new feminist materialism“, in: Kritikos, 3(9)/2006, S. 1-25. 90 Vgl. P. Eitler, „Animal History as Body History: Four Suggestions from a Genealogical Perspective“, in: Body Politics, 2(4)/2014, S. 259-274. 91 M. Roscher, „Zwischen Wirkungsmacht und Handlungsmacht“, S. 59. 92 S. Bauer, „Verteilte Handlungsmacht im Experiment“, S. 341. 93 Ebd., S. 346. 94 H. Kean, „Exploration of the Sculptures“, S. 355.
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Handeln als Zusammenspiel von Subjekten: Subjektorientierte Handlungstheorien Was ist nun mit den subjektzentrierten Handlungstheorien? Können sie auf Tiere angewendet werden? Dazu sei gesagt, dass sich Handlungstheorien, die auf Rationalität und Intellektualität des Handelnden abzielen, zunehmend sowohl von der Praxistheorie als auch dem New Materialism herausgefordert sehen.95 Dies trifft sowohl für die soziologischen Handlungstheorien als auch für die Akteurszuschreibungen der Sozialgeschichte zu. Tatsächlich tauschen Praxistheorien die Intentionalität einer Handlung gegen deren Routine aus: „Für die Praxistheorie ist es nicht die vorgebliche Intentionalität, sondern die wissensabhängige Routinisiertheit, die das einzelne ‚Handeln‘ ‚anleitet‘“.96 Zudem wird kritisiert, dass Handeln niemals atomistisch sei, sondern immer vernetzt stattfinde, eine Individualisierung von Handlungen bzw. der Versuch des Nachweises isolierter Handlungen sei deswegen wenig sinnvoll. Dennoch gibt es innerhalb der Human-Animal Studies durchaus Versuche, sich dem Subjekt zu nähern. Diese Art der Annäherung an Akteure hat vor allem mit der biographieorientierten Tierforschung Auftrieb bekommen.97 Dies trifft vor allem auf die Betrachtung jener Tiere zu, „denen eine primärsoziale Du-Evidenz“ zukommt und die den „Status von biographiefähigen Akteuren besitzen.“98 Auch subjektbezogene Umwelttheorien in Anlehnung an Jakob von Uexküll sind hier zu erwähnen, ebenso wie der Versuch, bestimmte Tiere als „skillful agents“ herauszuheben: „Certain animals are agents not just because they have shaped history but also because they display varying degrees of subjectivity and intentionality, and are not solely governed by instinct. At this point, the differences between animals are crucial. Apes possess far greater
95 Vgl. I. Schulz-Schaeffer, „Praxis, handlungstheoretisch betrachtet/Practice“, in: Zeitschrift für Soziologie, 39(4)/2010, S. 319-336. 96 A. Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive“, in: Zeitschrift für Soziologie, 32(4)/2003, S. 282–301, hier S. 293, zitiert nach I. Schulz-Schaeffer, „Praxis, handlungstheoretisch betrachtet“, S. 323. 97 Vgl. T. Hoquet, „Animal individuals: A plea for a nominalistic turn in animal studies?“, in: History and Theory, 52(4)/2013, S. 68-90; M. deMello, Speaking for animals: animal autobiographical writing, London 2012. 98 R. Wiedenmann, Moral und Gesellschaft, S. 137.
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capacity to settle how their needs are met than are, say, worms […]. Agency therefore differs within, as well as between, species“.99 Subjektivität wird weitergehend verstanden als eigene Identität im Sinn einer namentlichen und biographischen Differenz. Sue Donaldson und Will Kymlicka haben in ihrem weit rezipierten Buch Zoopolis nun argumentiert, dass auch Subjektivität erst in der Relation mit anderen hergestellt wird. Deshalb müsse die enorme Bandbreite von Handlungsmacht in verschiedenen Spezies auch jeweils relational betrachtet werden. Zu beachten sei ebenso, dass sich die Kapazität zu Subjektivität im Laufe der Zeit ändere und auch durch menschliche Aktivitäten verstärkt oder minimiert werden könne.100 Wie David Gary Shaw schreibt: „Taking agents as potential combinations rather than inevitably autonomous helps to show the advantages of integrating the study of animals within a richer and wider historiographical framework.“101 Auch hier heißt es also wieder, das Laboratorium als einen historischen Ort mit all seinen Beziehungen und möglichen Beziehungen zu untersuchen. Dennoch ist es bei der Hinwendung zum einzelnen Tier, und sei es der kleine braune Hund, schwierig, aus der Falle des Anekdotenhaften herauszukommen. Die Konzentration auf Individuen scheint einfach, hierfür hat die Geschichtswissenschaft das passende methodische Werkzeug parat. Jedoch besteht die Gefahr der Privilegierung bestimmter Spezies und bestimmter Individuen. Allerdings können die Anekdoten die Sinne dafür schärfen, dass es Handlungsoptionen gibt, die durchaus different genutzt werden. Die Sozial- und Tierhistorikerin Hilda Kean verweist etwa darauf, dass in zahlreichen Quellen individuelle Tiere auftauchen und dass dies einerseits auf ihre Einwirkung auf den Verfasser der Quelle zurückzuführen sei und andererseits darauf, dass sie „einmalige und herausstehende Eigenschaften“ an den Tag legten.102 Der kleine braune Hund konnte also auch deshalb so wirkmächtig werden, weil er für Lindaf-Hageby und Schartau aus der Menge der anderen Tiere im Versuchslabor herausstach.
99 C. Pearson, „Dogs, history, and agency“, in: History and Theory, 52(4)/2013, S. 128-145, hier S. 135. Hervorhebung im Original. 100 S. Donaldson, W. Kymlicka, Zoopolis: A political theory of animal rights, Ox ford 2011, S. 122. 101 D. G. Shaw, „The Torturers Horse“, S. 165. 102 H. Kean, „Challenges for historians writing animal–human history: What is really enough?“, in: Anthrozoös, 25(3)/2012, S. 57-72, hier S. 61.
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Tiere als Akteure in historischen Narrativen – zurück zum kleinen braunen Hund Die Beziehungen zu Tieren, über die wir Geschichte schreiben können, umfassen Beziehungen zu einem kunterbunten Haufen verschieden situierter Spezies, die Menschen und Tiere gleichermaßen umschließen. Manchmal machen es uns die Quellen einfach, indem sie zwei individualisierbare Mitglieder von Spezies zusammenbringen, die sogar Namen haben. Haraway hat dies als „komfortable Narrative von Spezies in Begegnung“ bezeichnet.103 Viel öfter haben wir es aber mit anderen Zusammenkünften zu tun, die komplexere Beziehungsknoten aufweisen, die erst gelöst werden müssen, etwa weil es mehrere verschiedene Relationen gibt, so zwischen Vivisektor_innen und Hunden, Aktivist_innen und Hunden, Aktivist_innen und Vivisektor_innen usw.. Häufiger haben wir es bei Labortieren außerdem mit nicht-individualisierten Tieren zu tun. Auch kann man nicht von einer Face-to-face-Beziehung im Sinne der „companion species“ sprechen, die durchaus andere Narrative produziert. Tiere sind eben nicht gleich Tiere, und dies birgt durchaus methodische und theoretische Probleme, insbesondere für Historiker_innen, die auf das Quellenmaterial angewiesen sind, das immer nur vergangene Beziehungen darstellt. Hier kommt der Einsatz historischer Ontologien zum Tragen, in denen auf die Relationen, die in der materiellen Verbindung mit dem Tier entstehen, hingewiesen werden kann, die im alltäglichen Umgang zum Beispiel zwischen Labortier und Vivisektor_in jeweils hergestellt werden bzw. hergestellt werden könnten und konnten. Es geht also um die „verschränkte[n] Ökologien von Tieren und Menschen in historisch spezifischen materiell-raum-zeitlichen Konfigurationen.“104 Es lässt sich festhalten, dass bestimmte Tiere unter bestimmten Umständen eindeutig zu wirkmächtigen historischen Akteuren werden. Diese Geschichte lässt sich erzählen, insbesondere durch eine Darstellung, die den Raum, wie den des Laboratoriums, als zentralen Ausgangspunkt begreift. Dabei ist jedoch ein Problem zu beachten, welches es methodisch und theoretisch erst noch zu lösen gilt, nämlich dass in der Dokumentation von günstigen Handlungsketten, also zum Beispiel einem reibungslosen, vorhersehbaren und ungestörten Versuchsablauf, die Agency der Tiere nur schwer zu 103 D. Haraway, When Species Meet, S. 42. 104 S. Bauer, „Verteilte Handlungsmacht im Experiment“, S. 348.
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erkennen ist, weswegen sich viele Studien innerhalb der HumanAnimal Studies auch eher auf scheinbar widerständiges Verhalten konzentrieren.105 Auch dies ist auf Latour zurückzuführen, wenn er sagt: „Menschliche und nicht-menschliche Akteure erscheinen zunächst als Störenfriede. Ihr Handeln läßt sich vor allem durch den Begriff der Widerspenstigkeit definieren.“106 Dies ist jedoch historiographisch durchaus problematisch. Zwar scheint es Sinn zu ergeben, sich zunächst jener Quellen anzunehmen, die beispielsweise eindeutige Widerstände dokumentieren, um darüber überhaupt so etwas wie einen Handlungsstatus für Tiere zu generieren. Dies führt allerdings allzu leicht dazu, alle anderen Handlungsweisen und Spielräume zu vernachlässigen. Deshalb ist es wichtig, wie Martina Schlünder gezeigt hat, zu beschreiben, wie weit Handlungsketten reichen, und auch die Komplexität der Verbindungsformen auszuleuchten.107 Auch Richie Nimmos Studie über die Entwicklung des Milchkonsums und der Milchproduktion zwischen 1865 und 1940 ließ ihn zu ähnlichen Erkenntnissen gelangen: „Viewed in terms of the historical processes themselves, the agency of humans and that of nonhumans was not different in kind – each could be equally efficacious in making a difference to a given situation. Moreover the agency of humans in many cases could not be comprehended in isolation from the agency of various nonhumans, and indeed vice-versa.“108 Es sind also historisch kontingente Verhandlungen zu beobach ten, bei denen die Tiere „oft schwierige Verhandlungspartner“ sind.109 Eigenschaften, die den Kollektiven zugeschrieben werden, können sich ändern und genau hier setzt die historische Rekonstruktion an. Diese Rekonstruktion basiert auf „promiskuitiven Materialien“, wie Haraway ihre Mischung aus naturwissenschaftlichen 105 Vgl. M. Roscher, „Machen Tiere nur ‚Scherereien‘? Alternative Lesarten von Animal Agency in historischen Quellen“, in: A. Deiss, I. Neddermeyer (Hrsg.), Katalog zur Ausstellung #catcontent, Erlangen 2016, S. 144-153. 106 B. Latour, Das Parlament der Dinge, S. 115. 107 M. Schlünder, „Wissens-Hunger im Stall. Die Entstehung von Knochen-Scha fen als Versuchstiere in der Unfallchirurgie“, in: Berichte zur Wissenschafts geschichte, 35/2012, S. 322-340, hier S. 336. 108 R. Nimmo, „Social research in a more-than-human world“, S. 112. 109 Sehr schön anschaulich zeigt Werner Krauss die Einbeziehung von Tieren in die Akteurs-Netzwerke anhand des Konfliktes im nordfriesischen Wattenmeer, vgl. W. Krauss, „Die ‚Goldene Ringelgansfeder‘. Dingpolitik an der Nordsee“, in: G. Kneer et al. (Hrsg.), Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Ent grenzung des Sozialen, Frankfurt a. M. 2008, S. 425-456, hier S. 452.
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und kulturwissenschaftlichen Quellen bezeichnet.110 Dabei gilt es, das Ganze in den Blick zu nehmen oder, wie Latour es ganz salopp fasste, man müsse den „ganzen Laden“ untersuchen.111 Dieser ganze Laden ist auch Gegenstand des Ansatzes des New Materialism, zu dem sowohl Latours wie Haraways Ausführungen gerechnet werden. Tatsächlich eröffnet uns ein solcher Zugriff auch erweiterte Möglichkeiten in der Geschichtsschreibung, da die Rollen, die die Entitäten einnehmen, nicht von vornherein festgelegt sind.112 Wie Sayes zur ANT schreibt: „ANT furnishes us with the tools to better attend to the minute displacements, translations, practices, riots, processes, protests, arguments, expeditions, struggles, and swapmeets – no matter what the actors involved may look like.“113 Ist damit die Frage beantwortet, ob Tiere auch Handelnde sind, Akteure sind? Nein, es konnte lediglich gezeigt werden, dass bestimmte Tiere, hier der kleine braune Hund, an bestimmten Orten in bestimmten historischen Kontexten wirkmächtig werden. Und dies ist wahrscheinlich auch das Ergebnis, zu dem ich gelangen würde, sollte ich die menschliche Agency historisch befragen. Wieso sollte man sich trotzdem der Herausforderungen stellen, sich mit der Wirkmächtigkeit tierlicher Akteure für historische Prozesse zu befassen? Relevant für die Tiergeschichte könnte sein, dass das Herausredigieren der Tiere die historische Narration zu schlechten Texten werden lässt: „In einem schlechten Text werden nur eine Handvoll Akteure als die Ursachen all der anderen bestimmt, die keine andere Funktion haben, als den Hintergrund oder das Relais für die Ströme kausaler Wirkungen zu bilden.“114 Texte, die die Geschichte der Konflikte um die Vivisektion und Tierforschung, um die Stellung der Naturwissenschaften während der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert, die Entwicklung des Tierexperiments wiedergeben, ohne sich mit den Tieren selbst und ihren Netzwerken und Relationen, ihren Einflüssen und Beeinflussungen zu beschäftigen, sind solche Texte – und wer will schon schlechte Texte lesen?
110 D. Haraway, Modest_Witness@Second_Millennium.FemaleMan©Meets_Onco Mouse™: Feminism and Technoscience, New York 1997, S. 68. 111 B. Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Ant hropologie, Frankfurt a. M. 2002, S. 135. 112 Vgl. R. Nimmo, „Social research in a more-than-human world“, S. 112. 113 E. Sayes, „Actor–Network Theory and methodology“, S. 145. Hervorhebung im Original. 114 B. Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 226.
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„Leben erfaßt hier Leben“ Zur Bedeutung von Leiblichkeit und kultureller Praxis in der Tierforschung
Tiere sind besondere Erkenntnisgegenstände. Im Unterschied zu leblosen Objekten und selbst zu Pflanzen sind Tiere, wie wir Menschen, leibliche Wesen. Das heißt, sie sind Körper, die Innenleben in Verhalten ausdrücken. Es ist gerade diese Ähnlichkeit zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, die die Tierforschung vor Herausforderungen stellt. Zwar können wir auch bei Mitmenschen streng genommen nicht wirklich wissen, wie es ist, dieses Individuum zu sein, aber immerhin wissen wir aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, ein Leben als Mensch zu führen. Genau diese spezifische Innenperspektive fehlt uns aber bei Tieren. Wir wissen zwar, wie sich Lebendigsein anfühlt, nicht aber, um die berühmte Formulierung Thomas Nagels aufzugreifen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Die erste Herausforderung betrifft somit das Verhältnis von Zuschreibung (Askription) und Beschreibung (Deskription) auf der Sprachebene (Anthropomorphismusverdacht).1 Die zweite gründet in der Wechselbeziehung zwischen menschlichem Handeln und tierischem Verhalten auf der Handlungsebene (Akteur-Netzwerk): Wie andere Menschen reagieren auch Tiere auf unsere Handlungen, da sie uns ebenfalls als Leibwesen erleben. Gerade dann, wenn Tier und Mensch einen gemeinsamen artifiziellen Lebensraum teilen, wie dies bei Haus-, Nutz-, Labor- oder Zootieren der Fall ist, kommt es nicht nur leicht zu anthropomorphen Zuschreibungen durch den Menschen, sondern auch zu anthropogenen Verhaltensweisen beim Tier, wenn nicht gar, wie bei Hund, Katze oder Hausrind, zu einer Evolution durch Züchtung. Ob man so weit gehen muss wie Bruno Latour,2 der die Erkenntnisrelation in einem Kollektiv von Akteuren und Aktanten wechsel 1 2
Vgl. dazu den Beitrag von Hilbert in diesem Band. Vgl. B. Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, übers. von G. Roßler, Frankfurt a. M. 2000. Vgl. dazu die Beitrage von Krebber und Roscher in diesem Band.
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seitiger Zuschreibungsakte auflöst, soll hier nicht weiter diskutiert werden. Stattdessen möchte ich die instruktive Idee einer erkenntnisanthropologischen Wissenschaftsphilosophie aufgreifen, die Karl-Otto Apel in Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas und Helmuth Plessner entwickelt. Mit Habermas teilt Apel den Begriff des erkenntnisleitenden Interesses, von Plessner übernimmt er den Gedanken, dass der menschliche (exzentrisch positionale) Verstand wissenschaftliche Theorien nur als ein leiblich (zentrisch) in der Welt engagiertes Bewusstsein entwickeln kann: „Um zu einer Sinnkonstitution zu gelangen, muß das – seinem Wesen nach ,exzentrische‘ – Bewußtsein sich zentrisch, d. h. leibhaft, im Hier und Jetzt engagieren: Jede Sinnkonstitution weist z. B. auf eine individuelle Perspektive zurück, die einem Standpunkt, u. d. h. wieder: einem Leibengagement des erkennenden Bewußtseins, entspricht.“3 Für eine solche „Erkenntnis durch Engagement“ prägt Apel den Begriff des Leibapriori, das in einem „komplementären Verhältnis zum Bewußtseinsapriori“ der „Erkenntnis durch Reflexion“ steht: „Alle Erfahrung – auch und gerade die theoretisch angeleitete, experimentelle Erfahrung der Naturwissenschaft – ist primär Erkenntnis durch Leibengagement, alle Theoriebildung ist primär Erkenntnis durch Reflexion.“4 Das Leibapriori richtet Erkenntnis an Interessen aus: „Der Art des leibhaften Engagements unserer Erkenntnis entspricht ein bestimmtes Erkenntnisinteresse.“5 Menschliche Erkenntnis ist keine Erkenntnis von Gegenständen eines „Bewußtseins überhaupt“, „sondern nur Erkenntnis eines leibhaft engagierten und praktisch interessierten Wesens“.6 Apel unterscheidet mit Habermas im ganzen drei Interessen, die je eine Art der wissenschaftlichen Erkenntnis methodisch leiten: das technische Interesse neuzeitlicher naturwissenschaftlicher Erkenntnis an der Möglichkeit der operativen Prüfung von Hypothesen, das hermeneutische Interesse geisteswissenschaftlicher Erkenntnis an der Sinnverständigung „über Möglichkeit und Normen eines sinnvollen menschlichen In-der-Welt-
3 K.-O. Apel, „Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. Entwurf einer Wissen schaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht“ (1966/1968), in: ders.: Trans formation der Philosophie, Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemein schaft, Frankfurt a. M., 7. Aufl. 2005, S. 96-127, hier S. 98. 4 Ebd., S. 99. 5 Ebd., S. 100. 6 Ebd., S. 101 Anm.
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seins“7 und das emanzipatorische Interesse einer Ideologiekritik an der „,Aufhebung‘ der vernunftlosen Momente unseres geschichtlichen Daseins“.8 Jedes dieser drei Erkenntnisinteressen entspricht einem spezifischen, vor- bzw. außerwissenschaftlichen Leibapriori: Das technische Interesse korrespondiert dem physischen Eingriff in die Natur durch Werkzeuge, das hermeneutische Interesse entspricht der „Gebundenheit der intersubjektiven Manifestation des Sinns an den sinnlich wahrnehmbaren ,Ausdruck‘“9 und das leitende Erkenntnisinteresse der Ideologiekritik „entspricht dem Leib apriori einer psychosomatischen Selbstdiagnose und Selbsttherapie des Menschen.“10 Die drei Wissenschaftstypen sind drei Arten leiblichen Engagements in der Welt: die Manipulation (Entwickeln, Aufstellen, Inbetriebnehmen, Ablesen, Verbessern) von Apparaten im Experiment, die Rezeption von (stets den Sinnen vermitteltem) Sinn in der Deutung und die Analyse eines Unbehagens in der Kultur. Die Fragestellung einer jeden Wissenschaft ist auf diese Weise immer schon vorgängig gebunden an ein Sein zwischen den Erkenntnisobjekten (inter-esse). Diese Mittelstellung des Erkenntnissubjekts kann man auch mit Husserl die Paradoxie der menschlichen Sub jektivität nennen: Der Mensch ist, als Leibwesen, ebensowohl sinnkonstituierendes Subjekt für die Welt wie Objekt in derselben.11 Apels erkenntnisanthropologische Wissenschaftslehre zeigt, dass diese Paradoxie unauflöslich ist: Ein leibloses Bewusstsein wäre ein desinteressiertes Bewusstsein und hätte, wenn überhaupt, jedenfalls gänzlich andere Wissenschaften als die uns bekannten. Vor dem Hintergrund der getroffenen Unterscheidungen kreuzen sich in der Tierforschung mindestens zwei, gelegentlich auch alle drei Erkenntnisinteressen, so dass sie als eine Hybriddisziplin erscheint: In Tierexperimenten (technisches Interesse an operativer Verifikation) wird der Sinn eines Verhaltens gedeutet (hermeneutisches Interesse an Sinnverständigung). Außerdem findet sich auch eine Ideologiekritik an bestehenden Tier-Mensch-Verhältnissen 7 8 9 10 11
Ebd., S. 112 f. Ebd., S. 127. Ebd., S. 113. Ebd., S. 127. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, in: E. Husserl, Husserliana. Gesammelte Werke, Bd. 6, hrsg. von W. Biemel, Haag 1954, S. 182-185.
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(emanzipatorisches Interesse). Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Verschlingung des technischen mit einem hermeneutischen Erkenntnisinteresse, weil das emanzipatorische Erkenntnisinteresse nicht die gesamte Tierforschung leitet. In einem ersten Schritt soll eine Beschreibungsform für das dialektische Verhältnis von Forscherleib und Tierkörper gefunden werden (1). Anschließend wird an die methodologische Voraussetzung einer hermeneutischen Lebenswissenschaft (2) sowie an die Abhängigkeit der Tierforschung von einer kulturellen Praxis (Lebensweltapriori) zu erinnern sein (3). Ein kurzer Ausblick verweist auf das Anthropomorphismusproblem, dem jede Tierforschung sich stellen muss (4).
1. Der Schatten des Körpers des Forschers In seiner Studie Der Naturwissenschaftler und sein Körper. Die Rolle der ,inneren Natur‘ in der experimentellen Naturwissen schaft der frühen Neuzeit unterscheidet Werner Kutschmann mit Horkheimer und Adorno zwischen der inneren (eigenen) und der äußeren (fremden) Natur des Menschen: Die innere Natur ist demnach die Natur, die wir als Körperwesen selbst sind, die äußere Natur die Welt der uns umgebenden und nicht von uns selbst geschaffenen Körper.12 Die Geschichte der neuzeitlichen Naturwissenschaft rekonstruiert Kutschmann als eine Geschichte der Zurückdrängung der inneren Natur im Dienste der Erforschung der äußeren Natur. Die Körperwissenschaft muss von der Beschaffenheit des Körpers des Naturwissenschaftlers (als Leib) unabhängig sein, genau darin besteht ihre Wissenschaftlichkeit. Die neuzeitliche Naturwissenschaft löst die Paradoxie der menschlichen Subjektivität durch Verdrängung der Subjektseite auf. Die fortschreitende Aneignung der Natur fremder Körper macht systematisch aus dem eigenen Leib des Forschers einen Fremdkörper.13 Kutschmann beschreibt diese Entwicklung, die in der frühen Neuzeit einsetzt und zu der „selbstlosen und selbstvergessenen
12 Vgl. W. Kutschmann, Der Naturwissenschaftler und sein Körper. Die Rolle der ,inneren Natur‘ in der experimentellen Naturwissenschaft der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1986, S. 13. 13 Ebd., S. 20.
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Wissenschaft“ führt, „als die wir sie heute erfahren“,14 prägnant in den folgenden Sätzen: „Der Körper [des Wissenschaftlers, R. B.] soll störungsfrei, gleichläufig und gleichmütig Denktätigkeit ermöglichen. Soll materieller Träger oder ,Basis‘ dieser Tätigkeit sein, ohne daß Beeinträchtigungen oder Verzerrungen von seiner Seite zu gewärtigen wären. Der Körper tritt also nicht ab, er tritt nur zurück. Er tritt zurück, insofern er seine Bedeutung als originärer Bezugspunkt der Anschauung, Erkenntnis und Deutung der Welt verliert. Er tritt zurück, insofern er angehalten wird, seine physische Präsenz aus dem Geschehen des Experiments, aus der ,Physikalität‘ herauszuhalten. Und er tritt zurück, insofern ihm zugemutet wird, die Empfindungen der sympathetischen Teilnahme, der Mit-Empfindung an Natur, zu unterdrücken oder zumindest doch auf die stille und unmerkliche antizipatorische Begleitung der Naturvorgänge zu reduzieren. Der Körper tritt zurück – das heißt, er verleugnet seine physische Präsenz, verdünnt sich auf eine bloß noch hypothetische, imaginative Präsenz: aber er ist damit nicht verschwunden.“15 Der Forscherleib führt fortan ein Schattendasein hinter dem physikalischen Geschehen. Die „angemessenste Weise der Leiblichkeit“ ist diejenige, „nicht aufzufallen, nicht störend ins Gewicht zu fallen.“16 Distanziert und detachiert, beschränkt sich die Rolle des Wissenschaftlerkörpers auf die „subsidiäre Dienstbarkeit“17 des Instrumentenbaus und der Experimentaltechnik; von den fünf Sinnen wird mehr und mehr nur das Sehen benötigt, das wiederum auf Lese- und Ablesevorgänge reduziert wird: „das Auge hat nur noch bloße Daten, Numeri und Symbole zu erfassen“.18 Am Ende dieser Entwicklung sind sich innere und äußere Natur, die Natur des Menschen und die Natur der Erkenntnisgegenstände, „fremd geworden und kennen sich von Angesicht zu Angesicht nicht mehr. Sie stehen nebeneinander, verständnislos und starr, versammelt durch immer gigantischer werdende Apparaturen von Meß- und Experimental anordnungen, die die Vermittlung von ,Subjekt‘ und ,Objekt‘ jetzt betreiben. Der Körper ist zu einem folgsamen Anhängsel dieser Apparaturen geworden“.19 Der Erfinder Thomas Alva Edison bringt
14 15 16 17 18 19
Ebd., S. 13. Ebd., S. 329. Ebd., S. 330. Ebd., S. 398. Ebd., S. 399. Ebd., S. 410.
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diese Entfremdung auf den Punkt: „Ich brauche meinen Körper nur, um damit mein Gehirn herumzutragen“.20 Kutschmann verfolgt den Prozess, wie der Körper des Forschers in den Schatten seiner Wissenschaft tritt, zwar am Beispiel der Physik (namentlich Keplers und Newtons). Aber indem die Physik zum Vorbild aller Naturwissenschaften wurde, lässt sich die „verschwiegene Dialektik von innerer und äußerer Natur, von wissenschaftskonstitutiver menschlicher Natur und wissenschaftskonstituierter Objekt-Natur“21 auch für die Biologie nachvollziehen. Freilich hat es hier andere Konsequenzen, wenn der Forscherleib seine Position als ,originärer Bezugspunkt der Anschauung, Erkenntnis und Deutung der Welt‘ einbüßt. In der Behandlung des Tierkörpers spiegelt sich das Körperverständnis des Menschen. In den Lebenswissenschaften wirkt sich der dialektische Umschlag von der Beherrschung der äußeren Natur auf die der inneren sozusagen unvermittelter aus als in der Physik: Ist Leben nichts anderes als Zellchemie, dann ist auch menschliches Leben nichts anderes; ist tierische Kognition nichts anderes als neuronale Reizverarbeitung, dann ist auch menschliches Denken nichts anderes als das. Daher kann und sollte die philosophische Beschäftigung mit der Tierforschung durchaus auch ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse leiten, indem sie die rückwirkende Naturalisierung des Menschen nach Maßgabe einer von jeder inneren gereinigten äußeren Natur ins Bewusstsein hebt. Die Frage nach dem Forscherleib in der Tierforschung bietet die Chance, der überschießenden Externalisierung einen Riegel vorzuschieben.22 Die folgenden beiden Abschnitte sollen alternative Ansätze skizzieren, die der Tierforschung die wissenschaftskonstitutive menschliche Natur zurückzugeben versuchen und zugleich der menschlichen Natur die falsche Reinternalisierung entseelter Körperlichkeit ersparen helfen.
20 Ebd., S. 411. 21 Ebd., S. 127. 22 In der Sprache der Dialektik der Aufklärung könnte man die Dynamik, um die es geht, auch so ausdrücken: Wenn Aufklärung Entseelung animistisch begeg nender Natur ist, dann droht die „Mimesis [...] ans Tote“ den Menschen „vorm Menschen zum Anthropomorphismus“ (M. Horkheimer, T. W. Adorno, Dialek tik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: T. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M. 2003, S. 76) zu machen, indem die Naturauffas sung auf den Menschen zurückschlägt: Ist die Natur unbeseelt, der Mensch aber ein Naturwesen, dann ist die Vorstellung von seiner Beseeltheit eine Einbildung, ein ,Anthropomorphismus‘.
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2. Verständigungsloses Verstehen: Tierforscher und Tier als Leibwesen Ein alternativer Ansatz in dem beschriebenen Sinne leitet erstens die Zusammenarbeit des Philosophischen Anthropologen Helmuth Plessner mit dem Tierforscher Frederik Jacobus Johannes Buytendijk.23 In dem gemeinsam verfassten und 1938 unter dem Namen Buytendijks veröffentlichten Aufsatz „Tier und Mensch“ gehen die Autoren von dem merkwürdigen Missverhältnis aus, in dem das Vertrauen des Menschen in seine Fähigkeiten zur eigenen Wertschätzung steht: Je größer demnach die Macht, desto geringer das Selbstwertgefühl. „Die Entgötterung des Lebens, im Zeichen der Erhöhung des Menschen begonnen, rächt sich an ihm, da sie im Zeichen seiner Erniedrigung endet.“24 Das Freiheitsbewusstsein tritt hinter ein bloßes Könnensbewusstsein zurück, und dies führt schließlich zur „dämonische[n] Abwertung der Menschenidee zugunsten der untermenschlichen Kräfte“.25 Die Abwertung besteht genau darin, dass die Idee des Menschen mit der „Idee des menschlichen Körpers gleichgesetzt“ wird. „Als Körper wird der Mensch Tier.“26 Problematisch ist die Reduktion des Menschen auf seine physischen Merkmale deshalb, weil damit zugleich seine kognitiven Fähigkeiten auf technische Intelligenz beschränkt werden. Darauf zielt auch die Kritik am ökonomistischen Prinzip des Darwinismus, der „alles dazu getan hat, die Sapientia zur Prudentia, zum technisch-rechnerischen Verstande zu verarmen“.27 Einem solchen rein technisch-ökonomischen Paradigma stellt Plessners Naturphilosophie das hermeneutische Paradigma einer verstehenden Biologie an die Seite, für das er auf die Lebensphilosophie der Dilthey-Schule zurückgreift. Wenn Dilthey den „herrschenden Impuls“ seines philosophischen Denkens darin sieht, „das Leben aus ihm selber verstehen zu
23 Vgl. dazu R. Becker, „Der Sinn des Lebens. Helmuth Plessner und F. J. J. Buy tendijk lesen im Buch der Natur“, in: K. Köchy, F. Michelini (Hrsg.), Zwischen den Kulturen. Plessners ‚Stufen des Organischen‘ im zeithistorischen Kontext, Freiburg, München 2015, S. 65-90. 24 F. J. J. Buytendijk, „Tier und Mensch“, in: Die neue Rundschau, 49(10)/1938, S. 313-337, hier S. 313. 25 Ebd., S. 315. 26 Ebd., S. 316. 27 Ebd., S. 325.
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wollen“,28 dann meint er einzig und allein das Erleben des menschlichen Geistes, das in Werke der Kultur, vor allem Schriftdokumente, einfließt. Die Natur hingegen, die belebte eingeschlossen, „ist uns stumm [und] fremd. Denn sie ist uns nur ein Außen, kein Inneres. Die Gesellschaft ist unsere Welt.“29 Den Abgrund zwischen einem Innen und einem Außen überbrückt der Ausdruck, paradigmatisch der sprachliche Ausdruck, durch den sich ein Inneres (Gefühl oder Gedanke) nach außen kundzutun vermag. Bedingung für das Verstehen von Ausdrücken ist die Gleichartigkeit des sich ausdrückenden Inneren, das heißt die „Identität der Vernunft“, der im Äußeren ein objektiv(iert)er Geist korrespondiert. Dilthey nennt diese objektive, expressive „Sphäre von Gemeinsamkeit“ „geistige Welt“.30 Sie definiert den Objektbereich der Geisteswissenschaften, in denen das Subjekt des Wissens eins ist mit seinem Gegenstand. „Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er.“31 Der Inbegriff dessen, was der Mensch nicht geschaffen hat: die Natur, „kann nur konstruiert, aber nie verstanden werden.“ Oder in einer anderen bekannten Formulierung: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“32 Verstehen heißt Rückübersetzen („Transposition“) des werkgewordenen, zeichenhaften in das lebendige Erleben, des Objektiven in das Subjektive, des Gemachten in den schöpferischen Prozess der Hervorbringung. Erklären heißt Hinzufügen (Konstruktion) von Begriffen und Sätzen, Apparaten und Prozeduren zu einem unabhängig von uns stattfindenden Naturverlauf. Die Naturwissenschaft Biologie erfasst vormenschliches Leben daher nur von außen und „nach der Analogie der psychologischen Tatsachen“, während der Gegenstand der Psychologie auch „von in nen gegeben“ ist.33 Die Möglichkeit des Verstehens knüpft Dilthey an das Vorliegen eines geistigen Selbst, von dem Tiere lediglich ein 28 W. Dilthey, „Vorrede“ (1911), in: ders., Gesammelte Schriften (GS), Bd. 5, hrsg. von G. Misch, Stuttgart, Göttingen 61974, S. 3-6, hier S. 4. 29 W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Erster Band (1883), in: ders.: GS, Bd. 1, hrsg. von B. Groethuysen, Stuttgart, Göttingen, 6. Aufl. 1966, S. 36. 30 W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), in: ders., GS, Bd. 7, hrsg. von B. Groethuysen, Stuttgart, Göttingen, 4. Aufl., 1965, S. 147; W. Dilthey, Beiträge zum Studium der Individualität (1895/96), in: ders., GS, Bd. 5, S. 241-316, hier S. 250. 31 W. Dilthey, Der Aufbau, S. 148. 32 W. Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894), in: ders., GS, Bd. 5, S. 139-240, hier S. 144. 33 Ebd., S. 173.
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Analogon besitzen. Das Objekt des Wissens muss mit seinem Subjekt eins sein, um durch seine Werke verstanden werden zu können. Genau diese Bedingung, die Verstehen an die sprachliche Äußerung eines geistigen Selbst in Werken bindet, wirft Plessner über Bord. Diltheys Aperçu „Leben erfaßt hier Leben“ gibt er damit eine völlig neue Bedeutung.34 Geht es bei Dilthey um die Deutung von Texten, hat Plessner vielmehr Wahrnehmungsvermögen und Verhalten von Lebewesen im Auge. An die Stelle der geistigen Welt tritt die Umwelt. Einen Gewährsmann für seine naturphilosophische Expansion des ,Dilthey-Programms‘ sieht Plessner in Georg Misch. Misch tritt seinerseits für eine „Erweiterung der logischen Fundamente“ ein. Damit meint er zunächst eine Logik des Ausdrucks. Das Ausdrucks phänomen begründet die logische Eigenart der Geisteswissenschaften. Deren Aufgabe ist es, Objekte, die von sich aus zu uns sprechen können, „zur Aussprache dieses ihres Wissens von sich selber, des Wissens des Lebens von sich selber“ zu bringen.35 Auch Misch bindet also das Ausdrucksverstehen an kulturelle Werke einerseits und geistige Subjekte andererseits. Aber er interpretiert Diltheys Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften als Spiegel einer „zweiseitige[n] Wirklichkeit“, deren geistige Seite eben die Geistes- und deren „Naturseite“ die Naturwissenschaften ergründen.36 Die Antithese des Lehrers will der Diltheyschüler in einer Synthese aufheben und die logischen Fundamente „so breit“ anlegen, „daß der uns quälende Gegensatz von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft [...] nicht mehr die Wissenschaftslehre zerreißt.“ Es scheint Misch vielmehr so zu sein, „daß auch dieser Gegensatz [...] ein bloß zeitläufiger, also vorübergehender ist“, den es „produktiv [...] zu überwinden“ gelte.37
34 W. Dilthey, Der Aufbau, S. 136. Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von G. Dux, O. Marquard und E. Ströker, 10 Bde., Frankfurt a. M. 1980–1985 (GS), Bd. 4, S. 42, S. 59. 35 G. Misch, „Die Idee der Lebensphilosophie in der Theorie der Geisteswissen schaften“ (1924), in: ders., Vom Lebens- und Gedankenkreis Wilhelm Diltheys, Frankfurt a. M. 1947, S. 37-51, hier S. 49. 36 G. Misch, „Vorbericht des Herausgebers“, in: W. Dilthey, GS, Bd. 5, S. XCIX, S. CV. 37 G. Misch, „Die Idee der Lebensphilosophie“, S. 47 f., S. 51; Vgl. dazu Mischs Göttinger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens aus den Jahren 1927 bis 1934, die nun vorliegen unter dem Titel G. Misch, Der Aufbau
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Plessners Naturphilosophie setzt genau bei der Innen-AußenDifferenz an, von der Dilthey ausgeht. In einem Brief an seinen Freund Josef König formuliert Plessner die Problemstellung so: „Welcher Sachverhalt [...] bedingt, daß das Angeschaute im Doppelaspekt [von Außen und Innen, R. B.] erscheint –, ohne die Einheit des Blicks zu zerstören – ohne also [eine] alternative Blickstellung (äuße re und Selbstwahrnehmung) zu fordern?“ Plessners Antwort: „das Lebendige.“38 Der lebendige Körper bringt die Unterscheidung eines Inneren und eines Äußeren anschaulich, das heißt in unmittelbarer Erscheinung zum Austrag. Nach Dilthey haben es die Naturwissenschaften mit einem bloß dinglichen Außen ohne Innendimension und die Geisteswissenschaften mit einer rein menschlichen, geistigen Innerlichkeit zu tun, die allerdings auf dem Umweg über kulturelle Werke, in denen sie sich vornehmlich schriftlich artikuliert, zu haben ist. Für Plessner hingegen ist das Lebendige genau der Fall, der eine einheitliche „Erfahrungsstellung“39 erlaubt, in dem Innen und Außen nicht allererst zusammengebracht werden müssen, sondern immer schon die gegenständliche Einheit von Aspekten bilden. Eine solche einheitliche Erfahrung machen wir in der Beobachtung von Verhalten eines Leibwesens in und gegenüber seiner Umwelt. In ihrer ersten Gemeinschaftsarbeit sprechen Plessner und Buytendijk von der Umweltintentionalität des Leibes bzw. der umweltintentionalen Schicht des Verhaltens: „In solcher psychophysisch neutralen oder gegen eine derartige Antithese [von Psychischem und Physischem, R. B.] noch gleichgültigen Schicht leben wir selbst als Leibwesen wie auch die Tiere. In verschiedenem Grade, in verschiedener Art nehmen Mensch und Tier an der Sphäre der sensomotorischen Verhältnisformen teil, so daß ein Lebewesen das andere erblicken und anblicken, ergreifen und angreifen kann. Die Gegensinnigkeit der Leib-Umgebungsrelation ist dafür vielleicht ein nicht weniger wichtiges Merkmal wie ihre psychophysische Indifferenz.“40 Der Tierforscher ist als Leibwesen über die Umwelder Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, hrsg. von G. Kühne-Bertram und F. Rodi, Freiburg, München 1994. 38 J. König, H. Plessner, Briefwechsel 1923–1933, hrsg. von H.-U. Lessing und A. Mutzenbecher, Freiburg, München 1994, S. 130 (Brief von Plessner an König vom 8. April 1926). 39 H. Plessner, Die Stufen des Organischen, S. 49. 40 F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, „Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs“ (1925), in: H. Plessner, GS, Bd. 7, S. 67-130, hier S. 81.
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tintentionalität mit tierischem Leben verbunden, nicht in derselben Weise, aber in Analogie zum Geisteswissenschaftler, der über den sprachlichen Ausdruck mit gegenwärtigem oder vergangenem menschlichen Leben verbunden ist. Umweltintentionalität heißt im Sinne Uexkülls ein Doppeltes: sensomotorisch mit einer Umwelt zu interagieren sowie kinästhetisch Wahrnehmung und Bewegung in einer Innenwelt zusammenzuschließen (das ,zentralistisch organisierte‘ Tier empfindet seinen eigenen Körper in einem milieu inter ne, in dem die Umwelt leiblich vermittelt gegeben ist). Tierisches Verhalten nicht bloß physiologisch erklären, sondern auch ethologisch verstehen zu wollen, bedeutet nicht automatisch dasselbe wie „anthropomorphe Kryptopsychologie“, weil bereits die „einfachste Wahrnehmung des Lebendigen“ sich auf der „Anschauungsgewißheit“ aufbaut, dass Tiere sich nicht nur bewegen, sondern auch verhalten. Jeder, der ein Lebewesen „nicht als ein bloß sich Bewegendes, sondern als ein sich Verhaltendes auffaßt“, nimmt wahr, dass eine Katze nicht nur davonläuft (Bewegung), sondern ängstlich flieht (Verhalten) oder dass ein Hund nicht bloß an mir emporspringt (Bewegung), sondern mich freudig begrüßt (Verhalten).41 Tiere erleben ihre Umwelt und drücken ihr Erleben im Verhalten aus. Dem Beobachter tierischen Verhaltens ist es grundsätzlich möglich, diesen Ausdruck zumindest der sensomo torischen Verhältnisform nach zu verstehen. „Was das Tier sieht, riecht und ob es das überhaupt kann, ermittelt in allen Zweifelsfällen das Experiment. Aber daß es, wenn die quaestio facti gelöst ist, in der Weise des Hörens, Sehens usw. die Umgebung dann gegenwärtig hat, ist mir in der anschaulichen Vergegenwärtigung der Leibumweltrelation deutlich.“42 An dieser Stelle tritt die Verschlingung von technischem und hermeneutischem Erkenntnisinteresse in der Tierforschung zutage: Das Experiment sorgt für die operative Überprüfung sinndeutender Verhaltenszuschreibungen. Aufgrund ihrer inneren Natur als umweltintentionale Leibwesen ist es Menschen möglich, Tiere auch ohne Verständigung durch Sprache, zumindest in bestimmten Grenzen, zu verstehen: „Ich lebe mit Menschen und Tieren zusammen, ich weiß und behandle sie als Wesen, die Gefühle, Gedanken, Willensregungen wie ich haben. Ich verstehe sie, auch ohne daß wir uns durch Sprache der Zeichen 41 Ebd., S. 80 ff. Zur Umweltintentionalität vgl. auch den Beitrag von Köchy in diesem Band. 42 Ebd., S. 81.
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und Laute untereinander verständigen.“43 Dieses verständigungslose Fremdverstehen erstreckt sich zumindest auf diejenigen Spezies, mit denen wir zusammenleben, also Haus- und Nutztiere. Der Begriff der Umweltintentionalität verweist daher auf ein über das Leibapriori hinausgehendes Lebensweltapriori: Nicht nur unsere Natur als Leibwesen ist für eine experimentierende und gleichzeitig sinndeutende Tierforschung konstitutiv – sondern auch eine kulturelle Praxis, in der uns Tiere jeweils spezifisch als Haus-, Nutz-, Labor-, Zoo-, Schad-, Fabel- oder Wildtiere begegnen.
3. Geteilte Kulturgeschichte: Erkenntnis als Praxis Der Gedanke des Zusammenlebens führt zum zweiten Ansatz. Bevor sie zu Objekten wissenschaftlicher Betrachtung werden, begegnen uns Tiere in unserer menschlichen Lebenswelt, die somit zum unhintergehbaren Sinnfundament jeder Objektivierung wird. Dies gilt es umso mehr zu berücksichtigen, wenn das Ziel ist, tierisches Verhalten aus sich selbst – also unabhängig von uns – erklären zu wollen. Die Rede von Naturfaktoren setzt zumeist Kulturfaktoren voraus, von denen niemals gänzlich abzusehen ist. Vielmehr dient die spezifisch menschliche ,Umweltintentionalität‘ als Quellbereich von Modellen und Metaphern, die in die Erklärung tierischer Verhaltensweisen durch Naturfaktoren investiert werden müssen. Modelle haben die Funktion, das uns Unbekannte mittels eines uns Vertrauten verständlich zu machen. Naturfaktoren kennen wir nicht aus eigener Erfahrung, da Natur der Inbegriff des nicht menschlich Hervorgebrachten ist. Daher stellen wir häufig Strukturanalogien zwischen menschlichen Tätigkeitsformen und natürlichen Prozessen her, die unabhängig von unseren Handlungen ablaufen. Modelltheoretische Argumentationen basieren auf Analogieannahmen, die Erfahrung ermöglichen, indem sie die präsumierte Strukturgleichheit unterstellen.44 In der Logik der Forschung bleiben die empirisch gewonnenen Erkenntnisse eo ipso hypothetisch, d. h. sie gelten nur unter der Prämisse des angenommenen 43 H. Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: ders., GS, Bd. 3, S. 7-315, hier S. 152. 44 Vgl. dazu H. Tetens, Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung, München 4 2014, S. 175 ff.
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Als-ob. So bleiben beispielsweise evolutionsbiologische Erklärungen aufgrund des Selektionsprinzips von der Analogie abhängig, Artbildungsprozesse (die wir nicht kennen) so zu betrachten, als ob eine Auslese stattfinde, die strukturell derjenigen entspricht, die menschliche Züchter anwenden. Die in der menschlichen Lebenswelt gepflegte kulturelle Praxis (z. B. der Domestikation) ist mithin nicht nur der Bereich, aus dem Wissenschaftler ihre Anregungen für Erklärungen (Explanans) entnehmen, sondern viel mehr der Wirklichkeitsausschnitt, aus dem Strukturen und Tätigkeitsformen auf die Natur (Explanandum) selbst übertragen werden. Auch in diesem Sinne schreibt der Verstand der Natur ihre Gesetze vor. Der Geltungsanspruch wissenschaftlicher Hypothesen lässt sich operativ nur dann einlösen, wenn die a priori normierte Handlungsanweisung („Betrachte das tierische Verhalten unter dem Aspekt der Nützlichkeit!“) a posteriori zu einer Erfahrung führt, die das Modell nachträglich stärkt (Merkmalsverteilung unter Individuen). Dieses Begründungsverhältnis ist unumkehrbar: Man muss nichts von natürlicher Zuchtwahl wissen, um Tiere domestizieren zu können (und in der längsten Zeit der Kulturgeschichte scheint dies ja auch so gewesen zu sein); aber man muss ein Vorwissen über künstliche Zuchtwahl besitzen, um das Prinzip der natürlichen Selektion als erklärenden Naturfaktor einsetzen – und entsprechende Daten in dessen Lichte interpretieren zu können. Die naturgeschichtliche Erklärung tierischen Verhaltens naturalisiert menschliches (Zucht-)Handeln zu einem Modell, dessen Eignung empirisch zu überprüfen ist. Da die Antwort, die die Erfahrung gibt, von der Form der Frage abhängt und die Form hier die Strukturanalogie zwischen Natur und Kultur ist, hat das „Apriori der Lebenswelt“ für den Gegenstandsbereich der Wissenschaften die Funktion der „Geltungsfundierung“.45 Eine Naturgeschichte des Menschen ist daher nur sinnvoll, wenn man gerade von seiner Kulturseite absieht. Ansonsten droht eine petitio principii: Zuerst werden kulturelle Handlungsmuster naturalisiert, um sie dann aus den so abgeleiteten (und begrifflich bzw. metaphorisch abhängigen) Naturfaktoren zu erklären. Der These Peter Janichs ist deshalb zu-
45 E. Husserl, Die Krisis, S. 143.
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zustimmen, dass es eine Naturgeschichte der Kultur nicht geben kann. „Der Kulturanfang ist kein Naturereignis.“46 Um den Zusammenhang zwischen dem Lebensweltapriori und dem Leibapriori zu beschreiben, bietet sich Wilhelm Schapps Konzeption des In-Geschichten-verstrickt-seins an. Für Schapp „tritt an die Stelle des Lebens das In-Geschichten-Verstricktsein. In Geschichten verstrickt sind Menschen, Götter, Dämonen, Teufel, Tiere, Pflanzen.“47 Leben heißt, in Geschichten verstrickt zu sein – leblose Gebilde wie Werkzeuge und Steine kommen in Geschichten nur vor, sind aber nicht in sie verstrickt. Hinsichtlich des Leblosen unterscheidet Schapp zwischen den instrumentellen Wozudingen und dem Auswas der Wozudinge, dem Stoff, aus dem sie gefertigt sind. Die Verstrickung in eine Geschichte setzt eine Beteiligung durch Verhalten, Handeln (zu dem auch Unterlassen gehört) bzw. Interaktion voraus. Zuletzt sind alle Geschichten menschliche Geschichten, in die Götter, Dämonen und Teufel, Tiere und Pflanzen verstrickt sind und in denen Wozudinge vorkommen.48 Das Besondere an Schapps Geschichtenphilosophie ist, dass die an einer Geschichte Beteiligten und das in Geschichten Vorkommende nur durch Geschichten und in Geschichten identifizierbar ist. Es hat keinen Sinn, Gebilden ein von Geschichten unabhängiges Einzelwesen zuzusprechen. Die Naturwissenschaften gewinnen ihre Erkenntnisgegenstände, indem sie von den Geschichten absehen, in die Gebilde ursprünglich eingebettet sind. Der Gegenstand von Physik und Chemie ist der Stoff, das Auswas der Wozudinge, die in Geschichten vorkommen; der Gegenstand der Biologie ist der Leib der Lebewesen, die in Geschichten verstrickt sind. Um das Herauslösen der Gegenstände aus den Geschichten zu charakterisieren, greift Schapp auf die Metapher der Abblendung zurück. Nehmen wir als Beispiel ein Gebilde aus Gold. Der Chemiker blendet konsequent sowohl die Wozudinglichkeit als auch die Geschichte ab, in der das Objekt vorkommt, und blendet lediglich seine stoffliche Beschaffenheit auf. Es geht ihm nicht darum, dass es sich um ein Schmuckstück handelt, das Person X von Erblasser Y vermacht wurde, oder dass es die Grabbeigabe für einen ägyptischen Pharao gewesen ist oder ähnliches. Auch teilt 46 P. Janich, Der Mensch und andere Tiere. Das zweideutige Erbe Darwins, Berlin 2010, S. 181; vgl. S. 51, S. 66. 47 W. Schapp, Philosophie der Geschichten (1959), Frankfurt a. M. 1981, S. 218. 48 Vgl. W. Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Hamburg 1953, S. 179.
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der Chemiker nicht das Interesse des Goldschmieds, der möglichst reines Gold kunstmäßig verarbeiten möchte und den Feingehalt des Edelmetalls durch Königswasser überprüft usw. All diese Zusammenhänge, die erst die Frage nach dem „Auswas“ aufkommen lassen, bleiben „in Dämmerung oder Dunkelheit“ abgeblendet.49 Die Abblendung macht aus dem Edelmetall ein chemisches Element und aus dem Königswasser ein Gemisch aus Salzsäure und Salpetersäure. Ganz entsprechend verfährt der Biologe mit Lebewesen: „Der sogenannte Gegenstand der Biologie, Leib und Leben im Sinne der Biologie, ist eine Abblendung.“50 Für Schapp hat der Leib ebenso wenig eine eigenständige Existenz wie der Stoff der Wozudinge. Ein Leib tritt ursprünglich nur in Geschichten auf, z. B. indem uns ein Gesicht etwas erzählt: eine Lebensgeschichte, einen Kummer oder eine durchzechte Nacht. Auch tote Körper erzählen noch Geschichten, z. B. über ein Verbrechen. Der Leib des Menschen, wie auch der tierische Leib, ist „ein Ausdrucksfeld für Geschichten“.51 An die Stelle des Menschen „von Fleisch und Blut [...] drängt sich uns seine Geschichte auf als sein Eigentliches.“ „Die Geschichte steht für den Mann.“52 Entsprechend steht die Geschichte auch für das Tier: Wir sind mit Tieren in Haus-, Nutz-, Labor-, Zoo-, Schad-, Fabeloder Wildtiergeschichten verstrickt, die sich in einer menschlich geprägten Lebenswelt zutragen. Das Leibapriori ist in das Lebensweltapriori eingebettet: Den Leib bloß als Ausdrucksfeld eines Innenlebens aufzufassen, führt allzu schnell in den von William James beschriebenen psychologist’s fallacy:53 Der Beobachter überträgt seine Beschreibung auf den Beobachtungsgegenstand, im Falle der Tierforschung: auf das tierische ,Seelenleben‘. Fasst man den Tierleib hingegen als Ausdrucksfeld von Mensch-Tier-Interaktionen auf, so hat man es nicht mit einem leiblich eingekapselten Inneren zu tun, sondern mit tierischen Verhaltensweisen und menschlichen Handlungsformen, die miteinander korrelieren (,verstrickt‘ sind). Die Abblendung des Ausdrucksfelds erreicht ihr Maximum in der Physiologie und ihr Minimum in einer narrativen Beschreibung konkreter Begegnungen zwischen Menschen und Tieren, wie sie 49 50 51 52 53
Ebd., S. 195. Ebd., S. 194. Ebd., S. 193. Ebd., S. 105, S. 100. W. James, Principles of Psychology, London 1901, Bd. 1, S. 196 f.
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beispielsweise Donna Haraway in ihrer Schrift When Species Meet schildert.54 So wenig aber, wie die physiologische Tierforschung die Makroebene des umweltintentionalen Verhaltens aus dem Blick verlieren darf, auf der das Bestehen mikroskopischer Prozesse erst erklärt werden kann, so sehr muss die Rede von responsiven „companion species“ beachten, dass es ein menschlich normierter Handlungsraum ist, in dem Tiere als Haus-, Nutz-, Labor- oder Wildtiere auf Menschen treffen. Das hermeneutische Erkenntnisinteresse verbindet sich im Falle Haraways mit der emanzipatorischen Kritik an der Haltung von Tieren, z. B. in Laboren. Die ethische Anerkennung tierischer Responsivität in Gestalt eines verantwortlichen Umgangs betrifft jedoch einzig und allein die Wertorientierung menschlichen Handelns. Forderungen ergehen nur an Menschen, und nur Menschen sind in der Lage, sich zu verpflichten. Die Tiergeschichten der Tierforschung werden zwar nicht von Menschen erdacht, aber sie werden von Menschen (auf)geschrieben.
4. Ohne Furcht vor dem Tadel des Anthropomorphismus Wer über Tierbeobachtung schreibt, darf über den Anthropomorphismus nicht schweigen. Die zuletzt genannte Falle des psychologischen Fehlschlusses betrifft den askriptiv-hermeneutischen Anthropomorphismus, Tieren ein Innenleben in menschlichen Begriffen von Gefühlen, Bedürfnissen, Begierden, möglicherweise auch Willensregungen oder Kognitionen, zuzuschreiben, das sich in ihrem Verhalten ausdrückt. Daneben gibt es aber auch den me thodisch-praktischen Anthropomorphismus, der sich aus der Abhängigkeit der Erfassung tierischen Verhaltens von menschlichen Handlungszusammenhängen ergibt, die für jene Verhaltensweisen allererst einen symbolischen Repräsentationsraum öffnen.55 Beide Typen des Anthropomorphismus sind unvermeidlich: Der askriptiv-hermeneutische ist durch das Leibapriori und der 54 D. J. Haraway, When Species Meet, Minneapolis, London 2006. 55 Man könnte es in Hans-Jörg Rheinbergers Terminologie auch so formulieren: Epistemische Dinge erkennen wir nur mittels technischer Dinge. Vgl. H.-J. Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 22002. Vgl. außerdem R. Becker, Der menschliche Standpunkt. Perspektiven und Formationen des Anthropomor phismus, Frankfurt a. M. 2011.
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methodisch-praktische durch das Lebensweltapriori begründet. Daher kann es gar nicht darum gehen, Tierforschung nichtanthropo morph zu betreiben, sondern nur darum, den naiven durch einen kritischen Anthropomorphismus zu ersetzen. Eine in diesem Sinne kritisch anthropomorphe Tierforschung erkennt erstens die Geltungsfundierung ihrer Erkenntnisse in menschlichen Praxisformen an, mögen diese unmittelbar den räumlich-situativen Interaktionskontext oder vermittelt das investierte begriffliche Modellinventar bestimmen (transzendentale Dimension). Eine kritische Tierforschung unterscheidet zweitens zwischen dem Explanandum als dem erklärungsbedürftigen Tierverhalten und dem Explanans als dem Ensemble der eingesetzten Erklärungsmittel (methodologische Dimension): Die sprachlichen, theoretischen und praktischen Mittel der Erklärung in der Tierforschung können nicht ihrerseits durch Tierforschung erklärt werden. Gerade mit Blick auf die Popularisierung von Erkenntnissen aus Tierexperimenten gilt es daher, den Ergebnisteil einer wissenschaftlichen Publikation nicht gegen den Methodenteil auszuspielen. Erst wenn nachvollziehbar bleibt, was genau seitens der Experimentatoren gemacht wurde, lässt sich das gezeigte Tierverhalten angemessen einordnen. Schließlich bemüht sich eine kritisch anthropomorphe Tierforschung drittens um Kriterien für eine möglichst objektive Beschreibung tierischer Verhaltensweisen und Vermögen (kriteriologische Dimension). Ein hermeneutischer Ansatz legt die Analogie zur Textinterpretation nahe: Auch bei Texten gibt es zwar nicht nur eine richtige, wohl aber falsche und Über-Interpretationen. Gerade weil Mehrdeutigkeit hier oft nicht in Eindeutigkeit aufzulösen ist, erscheint jede Interpretation vorzugswürdig, die am sparsamsten mit dem Vorliegenden (Text hier, Verhalten dort) auskommt. Eine Tierforschung, die in diesem dreifachen Sinne kritisch ist (transzendental, methodologisch, kriteriologisch), kann „ohne Furcht vor dem Tadel des Anthropomorphismus“ auftreten.56 Darüber hinaus vermag eine kritisch-anthropomorphe Tierforschung hinsichtlich der eingangs unterschiedenen Erkenntnisinteressen neben einem besseren Verständnis tierischen Verhaltens (das seinerseits ja praktischen Interessen wie der Haltung, Zucht, Auswilderung usw. dienen kann) zweierlei zu leisten. Auf das emanzipatorische Interesse wurde bereits hingewiesen: In unserem Um56 H. Jonas, Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frank furt a. M. 1997, S. 64.
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gang mit der äußeren Natur spiegelt sich ein Umgang mit unserer inneren Natur. Hinter den Lebensverhältnissen von Tieren unter Menschen stehen solche von Menschen unter Menschen. Aber auch das hermeneutische Interesse der Tierforschung an Sinnverständigung muss sich nicht auf Tiere beschränken, trägt doch jede Bemühung um Fremdverstehen zugleich zum besseren Verständnis des Eigenen bei. Mitunter kann ein einziger tierischer Blick einen ganzen Prozess der Selbstverständigung in Gang setzen, wie Derri das L’animal que donc je suis exemplarisch vorführt.57 Als Leibwesen, die wir sind, sind wir in unseren Begegnungen mit Tieren immer schon engagierte, beteiligte Beobachter. Wir sind mit Tieren in unseren Geschichten verstrickt. Aus dieser Verstrickung geht die Tierforschung hervor. Aufgabe einer Philosophie der Tierforschung ist es, daran zu erinnern.
57 J. Derrida, Das Tier, das ich also bin, übers. von M. Sedlaczek, Wien 2010.
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Das Problem des Anthropomorphismus in der Tierforschung Eckpunkte der methodologischen Entwicklung
„Anthropomorphism is like Satan in the Bible – it comes in many guises and can catch you unawares!“1
1. Einleitung Irgendwie muss es sich anfühlen, ein Tier zu sein, hat Thomas Nagel in den 1970er Jahren in seinem weithin bekannten Aufsatz „What is it like to be a bat“2 festgehalten. Gleichzeitig hat er dargelegt, dass uns Menschen dieses ‚irgendwie‘ nicht zugänglich ist, da wir keinen direkten Zugang zur tierlichen Subjektivität besitzen. Wer einen solchen behauptet, muss sich zumindest in der Tierforschung darauf vorbereiten, mit dem Vorwurf des Anthropomorphismus konfrontiert zu werden. Unter den Vorwurf des Anthropomorphismus fällt jedwede Vermenschlichung des Tieres. „Anthropomorphism is the attribution of human characteristics (including the projection of subjective states and feelings) to non-human entities“.3 Die Kritik an der Vermenschlichung, die mit dem Vorwurf des Anthropomorphismus vorgetragen wird, lässt sich bildlich gesprochen in eine Peripherie und einen Kernbereich unterteilen. Peripher erstreckt sich der Vor-
1 J. Rivas, G. M. Burghardt, Crotalomorphism, „Crotalomorphism: A Metaphor for Understanding Anthropomorphism by Omission“, in: M. Bekoff, C. Allen, G. M. Burghardt (Hrsg.), The cognitive Animal. Empirical and Theoretical Per spectives on Animal Cognition, Cambridge 2002, S. 9-17, hier S. 15. 2 T. Nagel, „What Is It Like to Be a Bat?“, in: The Philosophical Review, 83(4)/1974, S. 435-450. 3 D. B. Morton, G. M. Burghardt, J. A. Smith, „Critical Anthropomorphism, Ani mal Suffering, and the Ecological Context“, in: S. Donnelley, K. Nolan (Hrsg.), The Hastings Center Report. Special Supplement: Animals, Science, and Ethics, 20(3)/1990, S. 13-19, hier S.13.
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wurf auf Praktiken und kulturelle Leistungen, in denen Tiere etwa in der medizinischen Versorgung durch spezifische Nahrung oder aber durch Beerdigungsriten in Weisen behandelt werden, die in der Regel Menschen vorbehalten sind.4 Den Kern der Anthropomorphismuskritik bildet jedoch die Kritik an der Übertragung von mentalen, emotionalen und psychischen Vermögen des Menschen auf das Tier. In der Entwicklung der Tierforschung ist dieser Kern der Anthropomorphismuskritik bis in die Gegenwart weitestgehend stabil geblieben. In der frühen Ethologie und komparativen Psychologie des ausgehenden 19. Jhds., ebenso wie im Behaviorismus und der kontinentaleuropäischen Verhaltensforschung im 20. Jhd., ist die Kritik an der Vermenschlichung immer auch mit reflexiven Bemühungen um die Analyse der epistemologischen und methodischen Grenzen und Möglichkeiten verbunden, unter denen Aussagen über das tierliche Verhalten im Allgemeinen und über das Fremdpsychische des Tieres im Besonderen erfolgen können. Diese methodischen und epistemologischen Reflexionen erweisen sich in der Entwicklung der Tierforschung immer auch als Forderung nach einer nicht-anthropomorphen Perspektive auf das tierliche Verhalten. Unter dieser Forderung hat in der Tierforschung seit ihrem Übergang aus der Naturgeschichtsschreibung eine methodische und methodologische Disziplinierung eingesetzt, die gleichermaßen den Forschenden wie den Forschungsgegenstand umgreift. Diese Disziplinierung wurde vor allem in den vergangenen Jahren vielfach besprochen und für ihre theoretischen wie praktischen Konsequenzen kritisiert.5 Im Fokus der Kritik steht im Wesentlichen die mit ihr verbundene konzeptionelle Mechanisierung des Tieres in der Tierforschung.6 Die Kritiker der Tierforschung argumentieren, dass diese durch die Forderung nach einer anti-anthropomorphen Perspektive ein mechanistisches Weltbild konstruiert hätte, innerhalb dessen die Subjektivität des Tieres überhaupt nicht denkmöglich wäre. Dadurch wäre die epistemologische und methodische Frage 4
Vgl. J. A. Serpell, „Anthropomorphism and Anthropomorphic Selection – Be yond the ‚Cute Response‘“, in: Society & Animals, 11(1)/2003, S. 83-100. 5 Eine Aufsatzsammlung, welche die verschiedenen Kritiken zum Themenkom plex Anthropomorphismus in der Tierforschung versammelt, ist etwa R. W. Mit chell, N. S. Thompson, M. H. Lyn (Hrsg.), Anthropomorphism, Anecdotes, and Animals, New York 1997. 6 So etwa P. v. Gall, Tierschutz als Agrarpolitik. Wie das deutsche Tierschutzgesetz der industriellen Tierhaltung den Weg bereitete, Bielefeld 2016, S. 148 f.; E. Crist, Images of Animals Anthropomorphism and Animal Mind, Philadelphia 1999.
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nach der Erforschbarkeit der tierlichen Subjektivität in eine quasiontologische Auffassung des Tieres überführt worden, weshalb die Forschenden aufgehört hätten, zu glauben, dass Tiere eine Subjektivität haben.7 Diese Kritiken sind nicht nur von außen an die Tierforschung herangetragen worden, sondern wurden auch innerhalb der Tierforschung erhoben. Spätestens seit D. Griffins Buch Animal Awareness8 führte dies zu einer Öffnung der Forschung in Richtung tierlicher Subjektivität. Allerdings bedeutet das nicht, dass der Vorwurf des Anthropomorphismus verschwunden wäre. Im Gegenteil, dieser besteht weiterhin und es hat den Anschein, als stünden sich mechanomorphe und anthropomorphe Konzeptionen der Tiere und der Deutungen des tierlichen Verhaltens unversöhnlich gegenüber. Diese Unversöhnlichkeit spricht für den besonderen Stellenwert, den die Anthropomorphismuskritik innerhalb der Tierforschung hat. Veranschaulicht wird dieser Stellenwert dadurch, dass die anthropomorphe Deutung des tierlichen Verhaltens sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart nicht als Irrtum unter Irrtümern, sondern als „cardinal crime“,9 „dangerous pit“10 oder als „Todsünde“11 betrachtet wird. Nach meinem Verständnis gründet diese Bewertung des Anthropomorphismus als Kardinalfehler darauf, dass die Abwehr und Reflexion des Anthropomorphismus zu den wesentlichen Kennzeichen der wissenschaftlichen Konsolidierung und Etablierung der Tierforschung im 19. und 20. Jhd. gehört hat. Die Anthropomorphismuskritik hatte in diesen methodischen und methodologischen Entwicklungsphasen der Tierforschung eine doppelte Funktion, die es historisch nachzuvollziehen gilt, um die Unversöhnlichkeit zwischen den mechanomorphen und den anthropomorphen Tierkonzeptionen in der Gegenwart zu verstehen. Sie diente einerseits der Reflexion der Grenzen und Möglichkeiten der Erforschbarkeit der tierlichen Subjektivität und andererseits der sozialen und methodologischen Distinktion gegenüber der gewöhn7 Vgl.: R. Mitchell, „Wie wir Tiere betrachten. Der Anthropomorphismus und seine Kritiker“, in: D. Brandtz, C. Mauch (Hrsg.), Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn 2010, S. 341-363, hier S. 354. 8 D. R. Griffin, The Question of Animal Awareness. Evolutionary Continuity of Mental Experience, New York 1976. 9 P. L. Broadhurst, The Science of Animal Behaviour, Baltimore 1964, S. 12. 10 K. Breland, M. Breland, Animal Behavior, Toronto 1966, S. 3. 11 H. Hediger, Tiere verstehen. Erkenntnisse eines Tierpsychologen, München 1984, S. 86.
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lichen Erfahrung tierlicher Subjektivität von Tierpraktiker_innen, vermeintlichen Laien und solchen Wissenschaftler_innen, deren Methodik auf der subjektiven Evidenz tierlicher Subjektivität aufbaute.12 Die reflexive Komponente, die in der Anthropomorphismuskritik eingelassen war, ist in der methodologischen Entwicklung der Tierforschung zunehmend verloren gegangen. In der Gegenwart hat sich der Vorwurf des Anthropomorphismus daher regelrecht auf seine sozial und methodologisch distinktive Funktion reduziert. Gegenüber Wissenschaftler_innen, Laien und Tierpraktiker_innen fungiert der Vorwurf des Anthropomorphismus heute vor allem als ritualisierter Ordnungsruf, durch den die Wissenschaftsgemeinde aufgerufen wird, die Wissenschaftlichkeit der Tierforschung nicht an die gewöhnliche Erfahrung tierlicher Subjektivität preiszugeben: „If the study of animal behaviour is to mature as a science, the process of liberation from the delusions of anthropomorphism must go on“.13 Aus wissenschaftshistorischer Perspektive soll im Folgenden untersucht werden, welche Stellung die methodologische Erfahrung der Wissenschaft im Verlauf der Entwicklung der Tierforschung gegenüber der gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität eingenommen hat. Dadurch soll der Hypothese nachgegangen werden, dass die Unversöhnlichkeit der mechanomorphen und anthropomorphen Perspektive auf das tierliche Verhalten vornehmlich auf die sozial und methodologisch distinktive Funktion gegenüber der gewöhnlichen Erfahrung zurückgeht, welche die Anthropomorphismuskritik für die Tierforschung eingenommen hat und einnimmt. Unter gewöhnlicher Erfahrung soll an dieser Stelle zunächst nicht mehr verstanden werden, als die im praktischen Lebensvollzug für die meisten Menschen bestehende subjektive Evidenz, dass Tiere über Subjektivität verfügen. Den Ausgangspunkt der folgenden wissenschaftshistorischen Untersuchung wird die Darstellung der Konsolidierung der Ethologie und der komparativen Psychologie in der Debatte zwischen Morgan und Romanes im ausgehenden 19. Jhd. bilden. In der Geschichtsschreibung der Tierforschung gilt 12 Auf die allgemeine Funktion des Begriffes „Anthropomorphismus“ als Kampfund Reflexionsbegriff verweist auch R. Becker, Der menschliche Standpunkt, Frankfurt a. M. 2011. Unter dem Stichwort „Kampfbegriff“ schreibt er: „Der Kampfbegriff ‚Anthropomorphit‘, der Anfang des fünften nachchristlichen Jahrhunderts im Umlauf ist, dient dazu, eine Personengruppe zu diffamieren, die aus Sicht ihrer Gegner die falsche theologische Anthropologie vertritt“ (ebd., S. 336). 13 J. S. Kennedy, THE NEW Anthropomorphism, New York 1992, S. 5.
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diese Debatte als Geburtsstunde der objektiven Verhaltensforschung. In diesem Aufsatz soll sie daher für eine erste Verhältnisbestimmung zwischen gewöhnlicher Erfahrung und methodologischer Erfahrung der Tierforschung dienen. Durch einen Sprung ins 20. Jhd. wird daran anschließend in dem Gründungsmanifest des Behaviorismus von Watson sowie in programmatischen Schriften der Ethologie Tinbergens die Wandlung und Radikalisierung dieser methodologischen Erfahrung nachvollzogen werden. Was auf diese Weise rekonstruiert wird, ist die methodologische Reinigungsarbeit zwischen objektiven und subjektiven Aussagen, beobachtbaren und nicht-beobachtbaren Phänomenen sowie zwischen Wissen und Spekulation, die in der Tierforschung durch die Anthropomorphismuskritik, als Vehikel der methodologischen und methodischen Emanzipation von der gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität, vorgenommen wurde und vor deren Hintergrund sie noch in der Gegenwart zur repetitiven Distinktion gegenüber der Lebenswelt dient.
2. Auf dem Weg zur objektiven Verhaltensforschung oder die „Entzauberung des Tieres“ In Lehrbüchern14 und wissenschaftshistorischen Abhandlungen15 zur Entwicklung der Tierforschung wird die Konsolidierung der komparativen Psychologie mit zwei Forschern des ausgehenden 19. Jhds. in Verbindung gebracht. Dies ist einerseits der an der Universität Bristol beheimatet gewesene Zoologe Conwy Lloyd Morgan (1852–1936)16 und andererseits der kanadische Physiologe Georg John Romanes (1848–1894), ein ehemaliger Freund und Schüler Darwins. Von den 1880er bis in die 1890er Jahre haben diese beiden Wissenschaftler eine Debatte über die Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Fremdpsychischen von Tieren ausgetragen. Diese Debatte mündete in dem in der Tierforschung weithin be14 Beispielsweise D. Mc Farland, Biologie des Verhaltens. Evolution, Physiologie, Psychobiologie, Weinheim 1985, S. 472. 15 Vgl. W. H. Thorpe, The Origins and Rise of Ethology, London 1979, S. 25 ff.; V. Schurig, Problemgeschichte des Wissenschaftsbegriffs Ethologie. Ursprung, Funktion und Zukunft eines Begründungsspezialisten, Rangsdorf 2014, S. 110 ff. 16 Vgl. dazu den Beitrag von Böhnert und Hilbert in Band 1 der Philosophie der Tierforschung.
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kannten Regelsatz: „In no case may we interpret an action as the outcome of the exercise of a higher psychical faculty, if it can be interpreted as the outcome of the exercise of one which stands lower in the psychological scale.“17 Mit diesem Regelsatz reagierte Morgan in An Introduction to Comparative Psychology (1894) auf die Problematik von Analogieschlüssen und naiven Anthropomorphisierungen in der Interpretation der mentalen und psychischen Vermögen von Tieren. Für Morgan war die sparsame Attribution mentaler und psychischer Vermögen ein wesentlicher methodischer Mechanismus, der es der Wissenschaft erlauben sollte, ad äquatere Aussagen über die mentalen und emotionalen Vermögen von Tieren zu treffen. Dieser Regelsatz, der unter der Bezeichnung „Morgan’s Canon“ bekannt geworden ist, gilt als einer, wenn nicht als der am häufigsten zitierte und diskutierte Ausspruch in der Geschichte der komparativen Psychologie.18 Der Canon war in der Tierforschung nie unumstritten und hat bis in die Gegenwart hinein gänzlich verschiedene metatheoretische und wissenschaftshistorische Bewertungen erfahren: Er wird als Ausdruck eines Anti-Anthropomorphismus und eines mechanistischen Tierbildes verstanden,19 in Anlehnung an Occam’s Razor als Sparsamkeitsprinzip (Parsimonie-Prinzip)20 oder als zweifelhafter Regelsatz, der lediglich festhält, „dass mit guten Gründen höhere psychische Vermögen zugeschrieben werden können“.21 Schließlich wird er aus dem entstehungsgeschichtlichen und werkimmanenten Kontext heraus auch als Anweisung an die Wissenschaftsgemeinde gelesen, sich in der Deutung des Fremdpsychischen über den eigenen epistemischen Standpunkt gewahr zu werden.22 In der Tierforschung 17 C. L. Morgan, An Introduction to Comparative Psychology, London 1894, S. 53. 18 Vgl. D. Dewsbury, Comparative Psychology in the twentieth Century, Strouds burg 1984, S. 187. 19 Vgl. P. S. Silverman, „A Pragmatic Approach to the Inference of Animal Mind“, in: R. W. Mitchell, N. S. Thompson, H. L. Miles (Hrsg.), Anthropomorphism, Anecdotes and Animals, New York 1997, S. 170-185, hier S. 172. 20 Vgl. R. W. Mitchell, „Anthropomorphism and Anecdotes: A Guide for the Per plexed“, in: R. W. Mitchell, N. S. Thompson, H. L. Miles (Hrsg.), Anthropomor phism, Anecdotes and Animals, New York 1997, S. 407-427, hier S. 413. 21 M. Wild, „Tierphilosophie“, in: Erwägen, Wissen, Ethik, 23(1)/2012, S. 21-33 und S. 108-131, hier S. 25. 22 M. Böhnert, C. Hilbert, „C. Lloyd Morgan’s Canon. Über den Gründervater der komparativen Psychologie und den Stellenwert epistemischer Bedenken“, in: M. Böhnert, K. Köchy, M. Wunsch (Hrsg.), Philosophie der Tierforschung. Bd. 1. Methoden und Programme, Freiburg, München 2016, S. 149-182, hier S. 175 f.
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findet der Canon als Anweisung, in der Interpretation und Attribution des mentalen und psychischen Leistungsvermögens von Tieren sowohl skeptisch als auch sparsam zu verfahren, noch in der Gegenwart Anwendung. In diesem Sinne hält Marc Naguib in seinem Lehrbuch Methoden der Verhaltensbiologie (2006) zur Einhegung anthropomorpher Erklärungsansätze dazu an, dass bei der Interpretation tierlichen Verhaltens „von dem einfachsten Erklärungsmodell ausgegangen [werden muss], bevor den Tieren komplizierte Leistungen unterstellt werden“.23 In der Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Ethologie und komparativen Psychologie gilt die Debatte zwischen Morgan und Romanes ebenso wie der Canon als Datum, von dem ausgehend sich die Tierforschung durch einen qualitativen Sprung gegenüber der Naturgeschichtsschreibung emanzipiert und als moderne Wissenschaft konstituiert hat.24 In der Geschichtsschreibung der Tierforschung werden Morgan und Romanes jeweils als Galionsfiguren zweier unterschiedlicher Idealtypen von Forschung aufgefasst. Während Romanes der anekdotischen und anthropomorphen Naturgeschichtsschreibung zugerechnet wird, gilt Morgan als der Gründungsvater der Ethologie und komparativen Psychologie, der den (unkontrollierten) Anthropomorphismus der Naturgeschichtsschreibung methodologisch erkannt und methodisch durch seinen Canon überwunden hat.25 Für die Tierforschung des 20. Jhds. hat die Debatte zwischen Romanes und Morgan als Datum des Überganges in die moderne, methodisch und methodologisch disziplinierte Wissenschaft eine paradigmatische Bedeutung. Unter einem Paradigma der Wissenschaften hat Kuhn eine Musterlösung verstanden, die einem „Präzedenzfall[] im Rechtswesen“26 vergleichbar wäre, der von nachfolgenden Wissenschaftler_innen als stabiler Bezugspunkt für ihr methodologisches und methodisches Vorgehen aufgerufen wird und durch den sie sich als wehrhafte Normalwissenschaft gegenüber anderen wissenschaftlichen und lebensweltlichen Weltbildern etabliert. Die Debatte zwischen Morgan und Romanes ist die Geschichte eines solchen Präzedenzfalles und die erste Etappe der mo-
23 M. Naguib, Methoden der Verhaltensbiologie, Berlin, Heidelberg 2006, S. 17. 24 Vgl. B. G. Galef, „The Making of a Science“, in: L. D. Houck, L. C. Drickamer (Hrsg.), Foundations of Animal Behavior, Chicago 1996, S. 5-12, hier S. 9. 25 W. H. Thorpe, The Origins, S. 26. 26 T. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 1969, S. 37.
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dernen Tierforschung auf dem Weg zu einer Normalwissenschaft, ohne Anthropomorphismus und in Verneinung der gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität.27 2.1 Die Konfrontation von zwei Wissenschaftstypen? Für Romanes und Morgan galt es auf der Grundlage der gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität gleichermaßen als gesichert, dass Tiere über ein subjektives Erleben verfügen und zu verschiedenen mentalen und emotionalen Leistungen in der Lage sind. In dem Aufsatz „On the study of Animal Intelligence“ (1886) schreibt Morgan diesbezüglich: „I am […] fully persuaded that my four-footed friends have feelings and emotions distantly akin to dimly foreshadowing my own“.28 Während die gewöhnliche Erfahrung für Morgan und Romanes die Evidenz dafür bietet, dass Tiere über ein subjektives Erleben verfügen, betrachten beide Forscher das Wissen über die tierliche Subjektivität, das sie aus der gewöhnlichen Erfahrung beziehen können, allerdings als defizitär.29 Als Wissenschaftler verlangt es sie danach, die „true nature“ dieses subjektiven Erlebens der Tiere zu verstehen. Vor dem Hintergrund der noch jungen Evolutionstheorie Darwins erachten sie als Forschungsgegenstände der Wissenschaft einerseits „the facts of animal intelligence in their relation to the theory of Descent“30 und andererseits „the relation of the psychology of man to that of the higher animals“.31 Auf der Grundlage der solchermaßen bestimmten Forschungsgegenstände forderten Morgan und Romanes eine methodische und methodologische Uniformierung für die wissenschaftliche Untersuchung des Fremdpsychischen von Tieren. Für beide Wissenschaftler war es zentral, sich durch die Uniformierung der Forschungsgegenstände und der Forschungsmethodik von dem lebensweltlich, spekulativen Vorgehen der Naturgeschichtsschreibung abzugrenzen. 27 Von der Geschichte eines Präzedenzfalles zu sprechen, ist in diesem Fall keine sprachliche Unachtsamkeit, sondern eine Notwendigkeit, die in Rechnung stellt, dass der Debatte zwischen Morgan und Romanes keineswegs die Eindeutigkeit innewohnt, die ihr in der Geschichtsschreibung der Tierforschung zugeschrieben wird. 28 C. L. Morgan, „On the Study of Animal Intelligence“, in: Mind, 11(42)/1886, S. 174-185, hier S. 185. 29 Dazu auch C. L. Morgan, An Introduction, S. 52. 30 G. J. Romanes, Animal Intelligence, New York 1884, S. vi. 31 C. L. Morgan, An Introduction, S. ix.
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2.1.1 Romanes in Animal Intelligence Aus ‚wissenschaftspolitischen‘ Gründen hat Romanes für die methodische und methodologische Konsolidierung der komparativen Psychologie einen schweren Stand vorausgesehen. In seinem Buch Animal Intelligence (1882), das er als ersten Aufschlag für die methodologische und methodische Uniformierung der komparativen Psychologie verstand, befürchtet er, dass die „phenomena of mind in animals“32 viel zu lange „the theme of unscientific authors“, wie etwa von „popular writers“33 und „naturalists“34 gewesen seien, weshalb das Phänomen tierlicher Subjektivität selbst als „unworthy of serious treatment by scientific methods“35 erachtet werden könnte. Romanes ahnte zu diesem Zeitpunkt nicht, dass das Gegenteil eintreten sollte. Während sich die komparative Psychologie als veritables Forschungsfeld etablierte, ist er mit Animal Intelligence für seine Zeitgenossen und in der Geschichtsschreibung der Tierforschung „ein Präzedenzfall dafür [geworden], wie man Verhaltensforschung wissenschaftlich nicht betreibt“.36 Wie aber hat Romanes in Animal Intelligence die Grenzen und Möglichkeiten der komparativen Psychologie diskutiert? Animal Intelligence ist im Wesentlichen eine umfangreiche Sammlung von Beobachtungen und Interpretationen tierlichen Verhaltens. Die Untersuchung des Fremdpsychischen von Tieren ist für Romanes durch das epistemologische Problem gekennzeichnet, dass es keinen unmittelbaren oder direkten Weg gibt, die mentalen und psychischen Vermögen von Tieren zu ermitteln. Deshalb könne die Forschung „only infer the existence and the nature of thoughts and feelings from the activities of the organisms which appear to exhibit them“.37 Romanes äußert sich, wie die meisten der in diesem Aufsatz zu behandelnden Wissenschaftler_innen, nicht dezidiert zu seinen metaphysischen und erkenntnistheoretischen Grundannahmen. Da er allerdings angibt, dass auf die tierliche Subjektivität nur indirekt über das Verhalten des Tieres geschlossen werden kann, weil sich diese innerhalb des Lebewesens befindet, wird dennoch deutlich,
32 G. J. Romanes, Animal Intelligence, S. vi. 33 Ebd., S. v. 34 Ebd., S. vi. 35 Ebd. 36 V. Schurig, Problemgeschichte Ethologie, S. 114. 37 G. J. Romanes, Animal Intelligence, S. 1.
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dass er das Phänomen des Lebendigen in cartesianischer Tradition auffasst. Er geht von einem Erfahrungsdualismus aus, in dem das Verhalten des Tieres allein als physische Erscheinung beobachtbar und die tierliche Subjektivität räumlich different innerhalb des Lebewesens verortet ist. Dass er gleichfalls das Verhalten des Tieres als Ausdruck dieser inneren Subjektivität versteht, verdeutlicht allerdings, dass in seiner Konzeption Physis und Psyche auf irgendeine Weise nicht absolut voneinander getrennt sein können. Methodisch schlägt er für die indirekte Untersuchung des Fremdpsychischen eine Kombination aus Introspektion und Analogieschluss vor: „Start ing from what I know subjectively of the operations of my own mind, and the activities which in my own organism they prompt, I proceed by analogy to infer from the observable activities of other organisms what are the mental operations that underlie them“.38 Über diese wenigen methodischen und methodologischen Angaben hinaus hat Romanes in Animal Intelligence keine weiteren Verfahrensbestimmungen, die für die Erforschung des Fremdpsychischen befolgt werden müssten, vorgesehen. Während Romanes demnach die Auffassung vertreten hat, dass das subjektive Erleben von Tieren (und Menschen) einerseits nicht direkt beobachtbar ist, hat er es andererseits für weitestgehend unproblematisch gehalten, dieses nach Maßgabe der Motive menschlicher Handlungen zu interpretieren. Der Problematik des Anthropomorphismus war sich Romanes dabei allerdings bewusst. Er hält die Deutung des tierlichen Verhaltens nach Maßgabe menschlicher Motive schlicht für unvermeidbar: „The mental states of an insect may be widely different from those of man, and yet most probably the nearest conception that we can form by assimilating them to the only mental states with which we are actually aquainted.“39 Romanes antizipiert in Animal In telligence, dass seine Methodik nicht nur auf Zustimmung in der Wissenschaftsgemeinde treffen und vor allem diejenigen, die an der Existenz der tierlichen Subjektivität zweifeln, nicht befriedigen wird. Grundsätzlich hält er den Skeptikern entgegen, dass es „clearly impossible“ ist, „to satisfy any one who may choose to doubt the validity of inference, that in any case other than his own mental processes ever do accompany objective activities.“40 Es stellt sich allerdings die Frage, warum Romanes nicht zu diesen Skepti38 Ebd., S. 1 f. 39 Ebd., S. 11. 40 Ebd., S. 6.
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kern gehört, obwohl er das Verhalten des Tieres als allein physische Erscheinung konzipiert. Eine explizite Antwort auf diese Frage bleibt er schuldig. Diese Antwort ist möglicherweise in Romanes’ Überzeugung zu finden, dass es, nach Darwins Evolutionstheorie, eine psychologische Kontinuität in der Reihe der Lebewesen geben muss.41 Darüber hinaus ist es vor allem aber die gewöhnliche Erfahrung tierlicher Subjektivität, der sogenannte „common sense“42, der für ihn die Evidenz tierlicher Subjektivität darlegt. In Animal Intelligence formuliert Romanes zwar neben der geforderten Kombination aus Introspektion und Analogieschluss keine weiteren methodischen Vorgaben darüber, wie die tierliche Subjektivität erforscht werden soll, er schränkt allerdings gemäß seiner oben angeführten wissenschaftspolitischen Befürchtung den Personenkreis ein, der für eine solche Forschung überhaupt erst infrage kommt. Er kommt auf dieses Thema im Rahmen der Begründung der Auswahlkriterien zu sprechen, auf deren Basis er die verschiedenen Beobachtungen und Interpretationen von tierlichem Verhalten in seine Sammlung aufgenommen hat. Sein Auswahlkriterium bezeichnet er als „critical method“. Diese basiert auf drei Prinzipien, durch die die wissenschaftliche Güte der Verhaltensbeobachtungen und -interpretationen gesichert werden soll: „First, never to accept an alleged fact without the authority of some name. Second, […] carefully to consider whether, from all the circumstances of the case as recorded, there was any considerable opportunity for malobservation; […] Third, to tabulate all important observations recorded by unknown observers, with the view of ascertaining whether they have ever been corroborated by similar or analogous observations made by other and independent observers.“43 Auffällig an diesen Prinzipien ist, dass die Güte der wissenschaftlichen Beobachtung nicht durch spezifische Verfahrensweisen, wie etwa den Einsatz einer technischen Apparatur, oder durch einen besonderen Typus von experimenteller Beobachtung bestimmt wird, sondern vielmehr daran bemessen wird, ob sie von einer namhaften Autorität stammt. Er bezieht sich, um nur einige zu nennen, auf Charles Darwin, John Stuart Mill und Georg Büchner; er zitiert aus Alfred Brehms Thierleben und einer Reihe wissenschaftlicher Journale wie Nature, Quarterly Journal of Science, Journal of Nervous and Mental Di 41 Ebd., S. 10. 42 Ebd., S. 6. 43 Ebd., S. viii f.
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seases, Journal of the Linnean Society und dem deutschsprachigen Zoojournal Der zoologische Garten. Darüber hinaus bedient er sich verschiedener Bücher, die sich mit tierlicher Intelligenz beschäftigen, und greift auf zahlreiche Berichte von Freunden und anderen Personen zurück, mit denen er in Verbindung steht. Da die „critical method“ keine spezifische Verfahrensweise vorschreibt, durch die eine wissenschaftliche Beobachtung zu erfolgen hat, entspringen die Berichte, die Romanes in Animal Intelligence aufgenommen hat, gleichermaßen Beobachtungen im Experiment, Freilandbeobachtungen wie auch Beobachtungen in alltäglichen Situationen. Ohne weitere Qualifikation ist die Unterscheidung zwischen Laie und Wissenschaftler_in oder – wie Romanes sich ausdrückt – namhafter Autorität, vor allem durch den sozialen Status bestimmt.44 Ungeachtet dessen, dass Romanes sich der Gefahr des An thropomorphismus bewusst war und er in Animal Intelligence keinesfalls gänzlich unkritisch die Frage nach den Möglichkeiten der Erforschung des Fremdpsychischen von Tieren aufwirft, hat er in seine Sammlung von Berichten und Interpretationen eine Reihe von anthropomorphen Verhaltensinterpretationen aufgenommen: „Mrs. Hubbard tells me of a cat which she possessed, and which was in the habit of poaching young rabbits to ‚eat privately in the seclusion of a disused pigsty.‘ One day this cat caught a small black rabbit, and instead of eating it, as she always did the brown ones, brought it into the house unhurt, and laid it at the feet of her mistress. ‚She clearly recognized the black rabbit as an unusual species, and apparently thought it right to show it to her mistress.‘ Such was ‚not the only instance this cat showed of zoological discrimination‘, for on another occasion, ‚having caught another unusual animal – a stoat – she also brought this alive into the house for the purpose of exhibiting it.‘“45 In Animal Intelligence finden sich mehrere solcher eindeutig anthropomorphen Verhaltensinterpretationen, die jenseits der Idee eines strukturellen Unterschiedes im Umweltbezug zwischen den Lebewesen, wie sie etwa Anfang des 20. Jhds. von Uexküll46 in seiner Umweltlehre formuliert hat, das tierliche Verhalten nach mensch44 Vgl. R. Boakes, From Darwin to behaviourism. Psychology and the minds of animals, Cambridge 1984, S. 26. 45 G. J. Romanes, Animal Intelligence, S. 414. 46 Vgl. J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin 1909. Vgl. den Beitrag von Brentari in Band 1 der Philosophie der Tierforschung.
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lichen Motiven interpretieren. Romanes’ Interesse am tierlichen Verhalten hat nicht der Biologie gegolten, sondern der Psychologie. Gleichfalls bedeutet das aber nicht, dass alle Verhaltensinterpretationen in Animal Intelligence eindeutig anthropomorpher Natur sind. In Mental Evolution in Animals (1884) hat Romanes manche der Berichte aus Animal Intelligence aufgenommen, um aus diesen entlang der schon in Animal Intelligence umrisshaft diskutierten Kategorien „Reflex“, „Instinkt“, „Bewusstsein“ (und „Geist“) die mentale und psychische Evolution im Tierreich zu deduzieren.47 2.1.2 Morgan und der Weg zur Tierpsychologie Die anekdotischen Berichte und anthropomorph psychologisierenden Deutungen tierlichen Verhaltens in der Naturgeschichtsschreibung und in Romanes’ Animal Intelligence bildeten für Morgan in den 1880er Jahren den Anstoß, eine disziplinierte Methodik und Methodologie für die Erforschung des Fremdpsychischen zu fordern.48 Die methodische und methodologische Position, die Morgan dabei für die Erforschung des Fremdpsychischen begründet, unterliegt von den 1880er Jahren bis zur Veröffentlichung von An Introduction to Comparative Psychology (1894) allerdings einer 47 In Animal Intelligence heißt es zu Reflex, Instinkt und Bewusstsein: „Reflex action is non-mental neuro-muscular adjustment, due to inherited mechanism of the nervous system, which is formed to respond to particular and often recur ring stimuli, by giving rise to particular movements of an adaptive though not of an intentional kind. Instinct is reflex action into which there is imported the element of consciousness. The term is therefore a generic one, comprising all those faculties of mind which are concerned in conscious and adaptive action, antecedent to individual experience, without necessary knowledge of the rela tion between means employed and ends attained, but similarly performed under similar and frequently recurring circumstances by all the individuals of the same species. Reason or intelligence is the faculty which is concerned in the inten tional adaption of means to ends. It therefore implies the conscious knowledge of the relation between means employed and ends attained, and may be exercised in adaption to circumstances novel alike to the experience of the individual and to that of the species“ (G. J. Romanes, Animal Intelligence, S. 17; Hervorhebung C. H.). Eine Diskussion dieser Kategorien in Animal Intelligence und Mental Evolution in Animals bietet: R. Boakes, From Darwin to behaviourism, S. 27 ff. 48 Eine detailliertere Diskussion von Morgans Auseinandersetzung mit der Er forschung des Fremdpsychischen und der methodologischen wie methodischen Konsolidierung findet sich in: M. Böhnert, C. Hilbert, „C. Lloyd Morgan’s Canon“.
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kontinuierlichen Wandlung. Diese Wandlung orientiert sich unter anderem an der Frage, ob introspektive Analogieschlüsse ein zulässiges wissenschaftliches Verfahren zur Erforschung des Fremdpsychischen darstellen können oder ob sie grundsätzlich als anthropomorph einzustufen sind. Die skeptische Haltung, die Morgan in den 1880er Jahren dazu veranlasst hat, in einer Reihe von Artikeln in Nature mit Romanes in einen Disput über die Grenzen und Möglichkeiten einer komparativen Psychologie einzutreten, ist durch diese Wandlung seiner Position unberührt geblieben. Sein grundlegender Einwand gegen die komparative Psychologie lautete in unterschiedlichen Formulierungen, dass Berichte und Deutungen, wie sie Romanes in Animal Intelligence vorgelegt hatte, auf anthropomorphen und subjektivistischen Schlüssen beruhen, weshalb gelte, dass „all we can ever hope to see in the mirror of the animal mind is a distorted image of our own mental and emotional features“.49 In allen Phasen der Ausbildung seines theoretischen Konzepts ging Morgan für die empirische Untersuchung des Fremdpsychischen von dem auch bei Romanes auffindbaren cartesianischen Erfahrungsdualismus eines räumlich differenten Innen und Außen aus und hat allenfalls eine indirekte Möglichkeit gesehen, das Fremdpsychische zu erforschen. Auf der methodologischen Grundlage dieses Erfahrungsdualismus forderte Morgan eine Disziplinierung der Methodik durch die Unterscheidung zwischen objektiven Fakten und subjektiven Schlüssen.50 Im Folgenden wird anhand von drei programmatischen Veröffentlichungen die Wandlung in Morgans Position hinsichtlich der Frage nach der Möglichkeit der Untersuchung des Fremdpsychischen nachgezeichnet. Im Jahr 1884 ist Morgan der Untersuchung des Fremdpsychischen auf der Grundlage von Introspektion und Analogieschluss noch in besonderem Maße abgeneigt. Die prinzipiellen Voraussetzungen für eine komparative Psychologie hält Morgan grundsätzlich gegeben durch „modern scientific investigations“,51 welche nahelegen, dass sich in allen Lebewesen ein „parallelism of psychosis and neurosis“ auffinden lässt. Die Idee einer komparativen Psychologie ist für ihn dennoch abwegig. Seiner Ansicht nach kann diese methodisch nicht von Erfolg gekrönt sein, da allein in der Humanpsychologie durch den Dialog zwischen dem Untersuchenden und 49 C. L. Morgan, Animal Life and Intelligence, Boston 1891, S. 399. 50 Vgl. C. L. Morgan, „On the study“, S. 174. 51 C. L. Morgan, „Instinct“, in: Nature, 14.02.1884, S. 371-374, hier S. 371.
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dem Untersuchten eine „direct verification“ der psychologischen Deutung möglich sei. Wenn überhaupt, ließen sich allenfalls spekulative Aussagen über das Fremdpsychische von ‚höheren‘ Tieren treffen: „We may speculate as to the character – and in the case of higher mammalia our speculations are probably by no means worthless – but we cannot construct a science of these psychoses because the results we obtain ejectivly [(subjectively)] are incapable of direct verification.“52 Anstelle einer komparativen Psychologie plädiert Morgan deshalb für eine „science of ‚objective psychology‘“,53 welche, wie noch zu sehen sein wird, in mancher Hinsicht an die „objectivistic Ethology“54 des Mitbegründers der Ethologie Niko Tinbergen erinnert. Diese objektive Psychologie habe „every right to be termed a science“, insoweit sie auf den „objective phenomena of physiology“55 gründe. Der Hauptgegenstand dieser Wissenschaft wäre die Untersuchung „of the nervous system plus a comparative study of the corresponding adjustive actions”. Im Speziellen sollen die „instinctive actions“56 der verschiedenen Tierarten untersucht werden. Im Unterschied zu Romanes sind Instinkthandlungen bei Morgan allerdings nicht mehr „reflex action into which there is imported the element of consciousness“.57 Im Sinne der modernen Ethologie des 20. Jhds. versteht Morgan unter Instinkthandlungen vielmehr „actions performed by the individual in virtue of his possession of a special type of nervous organisation, that is, a type of organisation common to his species“.58 Während Morgan 1884 die komparative Psychologie noch zugunsten einer komparativen Physiologie umgedeutet wissen wollte, öffnet er sich bereits 1886 in dem Aufsatz „On the Study of Animal Intelligence“ gegenüber der Möglichkeit einer komparativen Psychologie. Diese Wandlung bedeutet allerdings keineswegs, dass Morgan sich in gleichem Sinne auch gegenüber den anthropomorph, psychologisierenden Deutungen tierlichen Verhaltens der 52 Ebd. 53 Ebd., S. 372. 54 N. Tinbergen, An Objectivistic Study of the Innate Behaviour of Animals, Bib liotheca Biotheoretica, Vol. 1(2), Leiden 1942, S. 39-92, hier S. 40. 55 C. L. Morgan, „Instinct“, S. 371. 56 Ebd., S. 374. 57 G. J. Romanes, Animal Intelligence, S. 17. 58 C. L. Morgan, „Instinct“, S. 374.
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Naturgeschichtsschreibung geöffnet hätte. Im Gegenteil ist für Morgan eine direkte Untersuchung des mentalen und psychischen Vermögens von Tieren weiterhin ebenso ausgeschlossen wie eine naive Analogisierung und Interpretation des tierlichen Verhaltens nach Maßgabe menschlicher Motive. In seinem Plädoyer für eine komparative Psychologie ist die inhaltliche und methodische Ausrichtung seines Vorschlages einer komparativen Physiologie aufbewahrt. Entsprechend soll das tierliche Verhalten entlang der adaptiven Funktion der Kategorien „Instinkt“, „Reflex“ und „Intelligenz“ in der Evolution den Untersuchungsgegenstand der komparativen Psychologie bilden.59 Für die Definition der Kategorien „Reflex“, „Instinkt“ und „Intelligenz“ diskutiert Morgan die von Romanes eingeführten Kategorien.60 Da sich Bewusstsein nicht allein anhand des physischen Verhaltens beobachten und verifizieren lasse, geht er davon aus, dass die Wissenschaft „shall do well to endeavour to frame definitions in which the element of consciousness shall be disregarded“.61 Morgan ist sich bewusst, dass es sich bei seinen Definitionen nicht um natürliche Kategorien handelt. Im Gegenteil räumt er in Erweiterung seiner Anthropomorphismuskritik ein: „All that enters the mind of man becomes at once clothed with human conceptions“.62 Gleichfalls vertritt er dennoch die Ansicht, dass es sich bei der Deutung des tierlichen Verhaltens unter Bezugnahme auf diese vom Bewusstsein befreiten Kategorien nicht mehr um subjektive Schlüsse, sondern um „objective inferences“63 handelt. Im Unterschied zur Naturgeschichtsschreibung (aber nicht unbedingt im Unterschied zu Romanes) bietet Morgan der Wissenschaftsgemeinde für die Untersuchung des Fremdpsychischen damit ein Forschungsprogramm an, das nicht auf der spekulativen Interpretation des Verhaltens nach menschlichen Motiven aufbaut, 59 C. L. Morgan, „On the study“, S. 182. Im Weiteren bestimmt Morgan die Ka tegorien „Intelligenz“, „Instinkt“ und „Reflex“ wie folgt: „Intelligent actions are those which are performed by the individual, in virtue of his individuality, in special adaption to special circumstances. Instinctive actions are those which are performed, through the influence of inherited habit, by the individual in com mon with all the members of the same more or less restricted group, in adaption to certain oft-recurring circumstances. Reflex actions are those which are of the nature of organic responses to more or less definite stimuli, and which involve rather the organs of an organism that the organism as a whole.“ (Ebd., S. 184) 60 Siehe Fußnote 47. 61 C. L. Morgan, „On the study“, S. 184. 62 Ebd., S. 40. 63 Ebd., S. 175.
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sondern dessen Interpretationsrahmen an der Evolutionstheorie ansetzt und dazu Kategorien verwendet, die empirisch, im Sinne von sicht- und messbar, bestätigt werden können. Als vermeintlicher Bruch mit diesem ‚objektiven‘ Forschungsprogramm kann allerdings Morgans Plädoyer für introspektive Analogieschlüsse angesehen werden, die als methodisches Verfahren ab 1886 eine immer zentralere Rolle in seinen Überlegungen einnehmen. Ohne seine grundlegende Skepsis gegenüber diesen Schlüssen abzubauen, erscheinen sie ihm für die Untersuchung des Fremdpsychischen und für das Studium tierlichen Verhaltens unvermeidlich: „I venture to suggest that we should only make use of ejective inferences in so far as they may aid us in the scientific study of the habits and activities of animals. We cannot get on without occasional reference to motives and underlying mental states. But let us use them as sparingly as possible, remembering the inherently untrustworthy nature of our inferences“.64 Die Öffnung für introspektive Verfahren bedeutet aber keinesfalls, dass Morgan die Gefahr anthropomorpher Deutungen des tierlichen Verhaltens ausblenden würde. Im Gegenteil bleibt ihm durchgehend bewusst, dass die tierliche Psyche „has to be interpreted not only by, but in terms of, human consciousness“.65 In An Introduction to comparative Psychology findet die Diskussion um die Grenzen und Möglichkeiten, das Fremdpsychische zu untersuchen, ihren Abschluss in einer Einführung in die komparative Psychologie. Gegenüber den besprochenen Aufsätzen zeichnet sich diese Monographie dadurch aus, dass Morgan sie mit einem metaphysischen Prolegomenon einleitet. Während er in „On the study of Animal Intelligence“ noch die Auffassung vertrat, dass „the study of Animal Intelligence is scarcely out of the metaphysical stage“, geht er nun in An Introduction davon aus, dass die komparative Psychologie nicht ohne eine metaphysische Konstitutionsanalyse des Verhältnisses von Körper und Geist auskomme: „I do not think that the metaphysics of the subject can be avoided in any such inquiry. It is not a question of metaphysics or no metaphysics, but of good metaphysics or bad“.66 In dem Prolegomenon macht er deutlich, dass er kein Dualist ist, der eine absolute Trennung von Physis und Psyche voraussetze, sondern vielmehr ein Monist, für 64 Ebd., S. 180. 65 Ebd., S. 178. 66 C. L. Morgan, An Introduction, S. 376.
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den der praktische Lebensvollzug ausschlaggebend ist und der daher die substantialisierte Trennung von Körper und Geist lediglich als analytisch zu trennende Aspekte des einen Lebensprozesses auffasst. „What is practically given is the man; and this man is one and indivisible, though he may be polarized in analysis into a bodily aspect and a conscious aspect.“67 Dieses metaphysische Vorspiel von An Introduction hat allerdings keine Auswirkungen auf Morgans Einschätzung dessen, was sich an der Erscheinung des Lebendigen beobachten lässt und was nicht. Das Prolegomenon und der Monismus des Lebendigen dienen Morgan nicht dazu, den cartesianischen Erfahrungsdualismus, welcher streng genommen der gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität und der prinzipiellen wissenschaftlichen Erforschbarkeit des Fremdpsychischen entgegensteht, auf phänomenaler Ebene in Frage zu stellen. Ganz im Gegenteil hält Morgan auf dieser Ebene am Dualismus als Grundlage wissenschaftlicher Beobachtung fest, wenn er auf den anschließenden Seiten angibt, dass „the bodily aspect is that of which alone we can have objective knowledge“.68 Während Morgan solchermaßen phänomenal am cartesianischen Erfahrungsdualismus festhält, offeriert ihm die Idee eines Monismus des Lebendigen allerdings die Möglichkeit, diesen Erfahrungsdualismus ontologisch zu unterlaufen und die Erforschbarkeit des Fremdpsychischen zu legitimieren. In einem ersten Schritt führt er dazu den sogenannten „scientific monism“69 ein, um durch diesen die Existenz entweder eines Pa rallelismus oder70 aber die Identität von Physis und Psyche des Lebendigen zu postulieren. In Verbindung mit der These, dass in der 67 68 69 70
Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Ebd., S. 36. Morgan zieht sowohl einen Parallelismus als auch die Identität von Psyche und Physis in Betracht und hält die Entscheidung zwischen diesen Optionen vor dem Hintergrund, dass letztlich allein die Physis objektiv beobachtet werden kann, lediglich für ein „matter of general philosophy“ (C. L. Morgan, An Introduction, S. 30). In der Entwicklung der Methodologie der nachfolgenden Tierforschung mögen Morgans Überlegungen zwar keine Auswirkungen etwa auf die Kon zeption des Beobachtbaren und Nichtbeobachtbaren gehabt haben, dennoch ist diese Unentschiedenheit Morgans für sein eigenes Anliegen einer Tierpsycholo gie höchst problematisch, da ein Parallelismus, wie wir es später am Beispiel Tinbergens erörtern werden, die Inkommensurabilität von Psyche und Physis voraussetzt, wodurch das introspektive Analogieschlussverfahren, das Morgan in An Introduction für die Tierpsychologie vorschlägt, logisch nicht haltbar wäre.
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Evolution die Entwicklung der Psyche und die Entwicklung des Organismus korrelieren,71 bietet ihm der „scientific monism“ in einem zweiten Schritt die Rechtfertigungsgrundlage, um gegenüber der Skepsis von Philosoph_innen72 und Naturwissenschaftler_innen eine ontologisch strukturelle Vergleichbarkeit aller Lebewesen und damit gleichfalls die prinzipielle Erforschbarkeit des Fremdpsychischen bei allen höheren Wirbeltieren73 zu behaupten. Das Kernstück der methodischen Überlegungen Morgans bildet in An Introduction der sogenannte „doubly inductive process“.74 Nach Morgan erlaubt dieses Verfahren unter der Prämisse evolutionärer Entwicklung und eines kontinuierlichen Parallelismus oder der kontinuierlichen Identität von Psyche und Physis eine methodisch transparente Untersuchung des Fremdpsychischen auf der Grundlage des tierlichen Verhaltens. Das Verfahren ist in zwei Schritte geteilt, die einerseits die Untersuchung der menschlichen Psyche und andererseits das Studium des tierlichen Verhaltens umfassen: „First the psychologist has to reach, through induction, the laws of mind as revealed to him in his own conscious experience. Here the facts to be studied are facts of consciousness, known at firsthand to him alone among mortals. [...] The [second] is more objective. The facts to be observed are external phenomena, physical occurrences in the objective world. [...] Both inductions, subjective and objective, are necessary. Neither can be omitted without renouncing the scientific method. […] The inductions reached by the one method have to be explained in the light of inductions reached by the other method.“75 Die Verfahrensregel schreibt vor, in einem ersten Schritt die Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Geistes zu untersuchen und diese in einem zweiten Schritt mit dem beobachtbaren Verhalten abzustimmen. Unter der Bedingung, dass die Physis von Mensch und Tier das Produkt eines evolutionären Prozesses sind, sei es schließlich möglich, per Analogie auf das mentale und psychische Vermögen der Tiere zu schließen. Da Morgan allerdings nichts-
71 Vgl. C. L. Morgan, An Introduction, S. 37. 72 Vgl. C. L. Morgan, „On the study“, S. 178. 73 Explizit ausgeschlossen werden von Morgan allein Insekten (Vgl. C. L. Morgan, An Introduction, S. 41). 74 C. L. Morgan, An Introduction, S. 47. 75 Ebd., S. 47 f.
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destotrotz gegenüber introspektiven Schlüssen auf das Fremdpsychische skeptisch ist, formuliert er als Gebot der Vorsicht vor naiv anthropomorphen Schlüssen seinen berühmten Canon: „In no case may we interpret an action as the outcome of the exercise of a higher psychical faculty, if it can be interpreted as the outcome of the exercise of one which stands lower in the psychological scale“.76 2.2 Morgan als Vater der modernen Tierforschung In der Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Ethologie und komparativen Psychologie gilt Morgan als derjenige Wissenschaftler, durch den die Naturgeschichtsschreibung in die moderne Tierforschung übergegangen ist.77 Vor dem Hintergrund der naiven Anthropomorphisierung tierlichen Verhaltens durch die Naturgeschichtsschreibung drückt sich dieser Übergang in der Konstellation zwischen Romanes und Morgan in einer methodologischen Rationalisierung der Tierforschung aus. Diese wird von Morgan wegweisend in dreierlei Hinsicht angestoßen: a) durch die Festlegung des objektiv beobachtbaren Phänomenbereichs auf die Physis, b) durch die biologische, d. h. die physiologisch funktionale und auf evolutionär adaptive Zwecke ausgerichtete, Deutung des tierlichen Verhaltens, sowie c) durch das Primat experimenteller Forschung.78 Mit diesen drei methodologisch-methodischen Richtlinien hat Mor gan ein Forschungsparadigma in der modernen Tierforschung (mit) initiiert, durch das sowohl der Interpretationsrahmen, innerhalb dessen tierliches Verhalten gedeutet werden kann, als auch die methodische Durchführung der Verhaltensbeobachtung selbst weithin festgelegt ist. Durch diese methodologischen Richtlinien hat Morgan dazu beigetragen, dass sich die wissenschaftliche Tierforschung von den lebensweltlichen Deutungen des tierlichen Verhaltens abgrenzen kann, da sie durch diese Richtlinien überhaupt erst über diskriminierbare Kriterien verfügt, deren Einhaltung oder Missachtung es erlauben, zwischen wissenschaftlicher und lebensweltlicher Deutung zu unterscheiden. Im Horizont dieses 76 Ebd., S. 53. 77 Vgl. W. H. Thorpe, The Origins, S. 30. 78 Vgl. C. L. Morgan, „Animal Intelligence: An Experimental Study?”, in: Nature, 14.07.1898, S. 249.
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Forschungsparadigmas wird die methodologische Erfahrung der Tierforschung zur objektiven Erfahrung und die gewöhnliche Erfahrung der Alltagswelt wird zur subjektiven Erfahrung. Das Unterfangen von Morgan (und wohl auch von Romanes) war es allerdings nicht, einem rigiden Anti-Anthropomorphismus das Wort zu reden und der gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität ihren Gegenstandsbezug abzusprechen. In der Geschichtsschreibung der Tierforschung wird dieser Sachverhalt häufig übergangen und die Rolle von Morgan für die Konsolidierung der wissenschaftlichen Tierforschung in der Regel auf seinen Canon und auf seine angeblich rigide Anthropomorphismuskritik reduziert. Dabei wird unterstellt, dass er gegenüber dem „anthropomorphen Ansatz“ von Romanes79 „energischen Widerstand“80 geleistet habe und für einen „Untersuchungsansatz ohne jegliche Spekulation über subjektive Gedanken und Gefühle der Tiere“81 eingetreten sei. Wie die vorliegende historische Aufarbeitung gezeigt haben dürfte, sind diese Aussagen wissenschaftshistorisch betrachtet nicht haltbar. Im Gegenteil, die Anthropomorphismuskritik, die Morgan formuliert hat, war nicht grundsätzlich gegen die Übertragung von Gedanken und Gefühlen, geschweige denn gegen die gewöhnliche Erfahrung tierlicher Subjektivität gerichtet, sondern gegen die unkontrollier te Übertragung von Eigenschaften des Menschen auf das Tier. Die Herausforderung, vor der Morgan (und auch Romanes) standen, war es, die naiv anthropomorphe und anekdotisch verfahrende Naturgeschichtsschreibung zu überwinden, ohne dabei die tierliche Subjektivität als Forschungsgegenstand preiszugeben. Für Morgan hat das vor allem bedeutet, unsere gewöhnliche Erfahrung von tierlicher Subjektivität zu disziplinieren und sie ontologisch zu legitimieren. Jeglicher Skepsis, die zur Enthaltung in der Frage nach den mentalen und psychischen Vermögen von Tieren aufforderte, wie sie etwa durch die „strict rules of positive philosophy“82 formuliert wurde, hat sich Morgan unter dem Verweis verweigert,
79 In der Regel und so auch bei den an dieser Stelle zitierten Textpassagen von Mc Farland wird mit Romanes auch immer Darwins Der Ausdruck der Gemütsbe wegungen bei dem Menschen und den Tieren (1872) genannt. Insofern hätte auch Darwins Schrift exemplarisch als einer der Anfänge der Ausdrucksfor schung in diesem Aufsatz behandelt werden können. 80 D. Mc Farland, Biologie des Verhaltens, S. 471. 81 Ebd., S. 472. 82 C. L. Morgan, „On the study“, S. 177.
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dass dies „contrary to an almost universal belief“83 wäre. In der Disziplinierung der gewöhnlichen Erfahrung waren Morgan und Romanes allerdings unterschiedlich konsequent. Während Romanes diese vor allem über den sozialen Status desjenigen Personenkreises bewerkstelligen wollte, der seiner Ansicht für legitimierte Tierbeobachtung in Frage käme, hat Morgan mit den dargelegten Forschungsrichtlinien eine zweifellos weitreichendere methodologische und methodische Disziplinierung vorgenommen, durch die er die gewöhnliche Alltagserfahrung von tierlicher Subjektivität in einen wissenschaftlichen Untersuchungskontext überführt hat. Unter der Leitfrage nach der Stellung der gewöhnlichen Erfahrung und der Anthropomorphismuskritik in der Tierforschung ist es allerdings wissenschaftshistorisch relevant, dass die methodologische Disziplinierung der gewöhnlichen Erfahrung für Morgan weder deren grundsätzliche Verneinung noch die Identifikation von gewöhnlicher Erfahrung und Anthropomorphismus bedeutet hat. Im Gegenteil, die gewöhnliche Erfahrung tierlicher Subjektivität bildet für Morgan das Ausgangsmoment, von dem aus er die Untersuchung des Fremdpsychischen aufnimmt und vor dessen Hintergrund er an der Introspektion und dem Analogieschluss als wissenschaftlichen Verfahrensweisen festgehalten hat. Auf der Grundlage der gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität war er anders als viele der Wissenschaftler_innen des 20. Jhds. davon überzeugt, dass das Tier mehr ist als ein physiologischer Mechanismus. Was am Säbelrasseln der Geschichtsschreibung der Tierforschung gegenüber Romanes und unter Verweis auf Morgan deshalb deutlich wird, ist die paradigmatische Funktion, die die Konstellation zwischen Romanes und Morgan in den tradierten Überlieferungen der Tierforschung einnimmt. Unter Bezugnahme auf diese Konstellation tradiert die Tierforschung ihr wissenschaftliches Selbstbildnis als objektive Normalwissenschaft, welche sich im ausgehenden 19. Jhd. insbesondere durch die Kritik am Anthropomorphismus von der gewöhnlichen Erfahrung des Alltags emanzipiert hat.
83 Ebd., S. 178.
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3. Die Verstetigung eines erkenntnistheoretischen Ideals Die Konsolidierung der Tierforschung als objektive Wissenschaft war im Übergang vom 19. in das 20. Jhd. an die Überwindung des Anthropomorphismus und der anekdotischen Tradition der Naturgeschichtsschreibung gekoppelt. Unter den dargestellten methodologischen Gesichtspunkten hat Morgan durch die Disziplinierung der gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität diese Konsolidierung der wissenschaftlichen Tierforschung eingeleitet. Während seine Methodologie allerdings allein auf die Vermeidung unkontrollierter Übertragungen zwischen Mensch und Tier abzielte, war die nachhaltige Überwindung des Anthropomorphismus und der mit diesem identifizierten gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität für viele andere Wissenschaftler_innen in diesem Zeitraum nachgerade die Voraussetzung für die Wissenschaftlichkeit der Tierforschung. In diesem Sinne forderten etwa T. Beer, A. Bethe und J. v. Uexküll in einem programmatischen Aufsatz eine neutrale Wissenschaftsperspektive, durch die der „Stempel des Subjektiven“84 in der Erforschung der Tiere vermieden werden sollte. Diese Forderung mündete in der Gegenüberstellung einer „Method of Anecdote“85 und einer „Method of Experiment“86, der Disziplinierung der Beobachtungsperspektive unter dem cartesianischen Erfahrungsdualismus auf die Physis sowie in der Konzeptualisierung des Tieres als physiologische Maschine: „Es hat naturwissenschaftlichen Wert, die Tiere mit Maschinen zu vergleichen, nicht aber ihnen menschliches beizulegen“.87 Durch die Fokussierung auf Experiment, Physis und physiologischen Mechanismus beabsichtigten die Wissenschaftler_innen einen Standpunkt einzunehmen, welcher die menschliche Subjektivität sowie den Anthropomorphismus weitestgehend hinter sich ließe. Im angloamerikanischen Raum setzte sich diese, im Verhältnis zu Morgan methodisch und methodologisch radikalisierte, Perspektive bereits ab 1914 in Watsons Behaviorismus und in Kontinentaleuropa in den 1930er und
84 T. Beer, A. Bethe, J. v. Uexküll, „Vorschläge zu einer objektivierenden Nomen klatur in der Physiologie des Nervensystems“, in: Centralblatt für Physiologie, 13(6)/1899, S. 517-521, hier S. 517. 85 M. F. Washburn, The Animal Mind. A Textbook of Comparative Psychology, New York 1917, S. 4. 86 Ebd., S. 9. 87 T. Beer et al., „Vorschläge“, S. 518.
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1940er Jahren in der Ethologie Tinbergens allmählich als normalwissenschaftliche Form der Tierforschung durch. Diese methodologische Entwicklung ist in der Tierforschung allerdings nicht ohne Widerstände vollzogen worden. Noch bevor sich die Ethologie als Normalwissenschaft etablieren sollte, fragte der niederländische Tierpsychologe Bierens de Haan in einem Aufsatz, der gleichermaßen den Behaviorismus der Watsonschen Schule wie auch die kontinental europäische Ethologie Lorenzscher und Tinbergenscher Prägung betrifft: „[…] what may be the psychological reason why so many students of animal behaviour cling to this objectivism and deliberately refuse to go a step further and try to penetrate into the psychic life of the animals the behaviour of whom they are studying. They cannot ignore the fact that, if such inner experiences do exist in animals, these must certainly influence their behaviour“.88 Die Ausblendung der tierlichen Subjektivität im tierlichen Verhalten zugunsten eines rein objektiv verstandenen Studiums des lebendigen Körpers erscheint de Haan als Mechanismus, welcher „the student of animal behaviour [cures] of a kind of minority-complex that makes him adopt a too sub-missive attitude towards physics and chemistry and sciences which, like physiology, aim at reducing the functions of the animal body to physical and chemical phenomena“.89 Die Polemik, die sich in den Worten de Haans ausdrückt, galt der Hoffnung, dass die Tierpsychologie einen Mittelweg zwischen dem „childish Anthropomorphism“90 der Naturgeschichtsschreibung und der ‚objektiven Verhaltensforschung‘ methodologisch begründen und einnehmen könnte. Diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Im Gegenteil kommen sowohl der Behaviorismus als auch die Ethologie darin überein, dass ein solcher Mittelweg, der die tierliche Subjektivität erforscht, nicht möglich ist. Dabei handelt es sich um eine radikalisierte Fassung der methodologischen Prämissen, die Morgan in die Tierforschung eingeführt hat. Diese Radikalisierung wird im Folgenden exemplarisch an programmatischen Schriften des Behaviorismus Watsons und der Ethologie Tinbergens verdeutlicht.
88 B. d. Haan, „Animal Psychology and the Science of Animal Behaviour“, in: Behaviour, 1/1947, S. 71-80, hier S. 77. 89 Ebd., S. 78. 90 B. d. Haan, Animal Psychology for Biologists, London 1929, S. 19.
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3.1 Der Behaviorismus von Watson In seinem als Manifest des Behaviorismus geltenden Aufsatz „Psychology as the behaviorist views it“ (1913) führt Watson programmatisch das Forschungsprogramm der behavioristischen Psychologie aus. „Psychology as the behaviorist views it“, heißt es dort zunächst, „is a purely objective experimental branch of natural science. Its theoretical goal is the prediction and control of behavior. Introspection forms no essential part of its methods, nor is the scientific value of its data dependent upon the readiness with which they lend themselves to interpretation in terms of consciousness“.91 Watsons Forschungsprogramm richtet sich gegen die Fokussierung der Psychologie auf das Bewusstsein und erhebt den Anspruch, eine psychologische Verhaltenslehre zu etablieren, die frei von Bezügen zu mentalen und psychischen Phänomenen ist. Die Notwendigkeit für eine solche „Psychologie ohne Bewusstsein“92 besteht seiner Ansicht nach deshalb, weil die bisherige Psychologie qua Introspektion und Analogieschluss über kein überzeugendes methodologisches und methodisches Verfahren verfügt, das Fremdpsychische adäquat zu erfassen. Watson kritisiert, dass die psychologischen Bemühungen, die mentalen Vermögen und das psychische Erleben von Tieren (aber auch von Menschen) durch Introspektion und Analogieschluss zu erforschen, die Wissenschaft in die absurde Situation bringt, das zu konstruieren, was sie neutral zu erforschen beabsichtigt.93 Daher richtet sich seine Kritik an die produktive Theorieabhängigkeit der Psychologie: Allein im Horizont der Theorie würde es möglich, das beobachtbare Verhalten zu klassifizieren, während die widerstreitenden Theoriekonzepte kenntlich machen würden, dass es nicht möglich sei, positiv zu entscheiden, ob das beobachtete Verhalten Bewusstsein anzeigt oder ob es eine rein physiologische Reaktion ist.94 Watson beansprucht vor diesem Hintergrund, ein objektives, an den Fakten orientiertes Forschungsprogramm aufzustellen, das seine Kriterien aus der Sache selbst und nicht aus theoretischen Konzepten ableitet.95 Im Gegensatz zur kritisierten Psychologie gel91 J. B. Watson, „Psychology as the Behaviorist views it“, in: Psychological Review, 20/1913, S. 158-177, S. 158. 92 K.-J. Bruder, Psychologie ohne Bewusstsein. Die Geburt der behavioristischen Sozialtechnologie, Frankfurt a. M. 1982. 93 Vgl. J. B. Watson, „Psychology“, S. 159. 94 Ebd., S. 161. 95 Ebd.
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te es für den Behavioristen, sich allein auf das beobachtbare physische Verhalten zu beschränken und Fragen nach dem Fremdpsychischen auszuklammern. Die behavioristische Psychologie „can be done in terms of stimulus and response, in terms of habit formation, habit integrations and the like“.96 Die Untersuchung des Verhaltens soll im Weiteren allein unter kontrollierten experimentellen Bedingungen und entlang des Schemas von (Umwelt-)Reiz und Reaktion vorgenommen werden. Durch dieses Untersuchungssetting soll es schließlich möglich werden, die Verhaltensweisen vorauszusagen und zu kontrollieren. Durch die Ausklammerung der Frage nach dem Fremdpsychischen aus dem Untersuchungshorizont der behavioristischen Psychologie, ebenso wie durch den Primat experimenteller Untersuchung, beansprucht Watson, einen objektiven Standpunkt für die wissenschaftliche Untersuchung des Lebendigen zu gewinnen, durch welchen diese neben der Physik und Chemie in die Naturwissenschaften eingegliedert sei.97 Unter dem Gesichtspunkt der Anthropomorphismuskritik meint Watson, dass die Verhaltensbeobachtung durch sein Forschungsprogramm der Gefahr des Anthropomorphismus entgeht, da das Verhalten des Tieres im Behaviorismus allein im vermeintlich neutralen Schema von Reiz und Reaktion behandelt wird.98 Watson versteht seine Skepsis und Kritik gegenüber den behaupteten Zugängen auf das Fremdpsychische von Tieren (und Menschen) in der Tradition des cartesianischen Erfahrungsdualismus als „Zurückweisung des Nichtbeobachtbaren“.99 Der cartesianische Erfahrungsdualismus ist für Watson allerdings anders als für Morgan kein Instrument, innerhalb dessen die gewöhnliche Erfahrung methodologisch diszipliniert wird, ohne dass dabei deren Gegenstandsbezug infrage gestellt würde; stattdessen bildet dieser Erfahrungsdualismus für Watson die einzig mögliche Erfahrung, an der die gewöhnliche Erfahrung tierlicher Subjektivität gemessen und als bloßes Meinen disqualifiziert wird. In der Konsequenz führt diese Zurückweisung der gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität einerseits zu einer quasi-ontologischen Entsubjektivierung des Lebendigen und andererseits zur Verstetigung der Physis als alleinigem Gegenstandsbezug der methodologischen Erfahrung 96 97 98 99
Ebd., S. 167. Ebd., S. 176. Ebd., S. 166 f. K.-J. Bruder, Psychologie ohne Bewusstsein, S. 29.
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der Wissenschaft. Dadurch, dass Watson die von ihm kritisierte Unbestimmtheit in der Frage, ob das tierliche Verhalten als Physis oder als Psyche erscheint, auflöst, indem er das Lebendige als physikalischen Mechanismus von Reiz und Reaktion bestimmt, legt er die methodologische Erfahrung des Lebendigen wie das Lebendige selbst auf diesen physikalischen Mechanismus fest. 3.2 Die Ethologie von Tinbergen (und Lorenz) In ihren methodischen und methodologischen Rahmenannahmen geht die kontinentaleuropäische Ethologie auf Konrad Lorenz und Niko Tinbergen zurück.100 Bei allen methodischen und konzeptionellen Differenzen und Abgrenzungen zum Behaviorismus101 nimmt die Ethologie gegenüber der Frage nach der Untersuchung des Fremdpsychischen bezeichnenderweise eine ähnliche Position ein wie der Behaviorismus Watsons.102 Nach Tinbergen und Lorenz ist die tierliche Subjektivität ebenfalls einerseits wissenschaftlich nicht 100 Der Fokus der folgenden Ausführungen liegt auf den Schriften von Niko Tin bergen. Gelegentlich wird darauf hingewiesen, dass Tinbergen und Lorenz der Erforschbarkeit der tierlichen Subjektivität einen unterschiedlichen Stellen wert in der Tierforschung zugestanden hätten (vgl. R. W. Burkhardt, „The founders of ethology and the problem of animal subjective experience“, in: M. Dol et al. (Hrsg.), Animal Consciousness and Animal Ethics. Perspectives from the Netherlands, Assen 1997, S. 1-16, hier S. 4). Meiner Ansicht nach ist dies nicht zutreffend. Wenn Lorenz etwa in dem Aufsatz „Haben Tiere ein subjek tives Erleben?“ (1963) ausführt, dass er wie viele andere Menschen glaube, Tiere hätten ein subjektives Erleben, dann ergänzt er ebenfalls, einschränkend, dass Wissenschaft nicht Glauben ist, sondern die Untersuchung der „Gesetz lichkeiten der Reizsummation“ und prinzipiell all dessen, „was Dinge vor aussagbar macht“ (K. Lorenz, „Haben Tiere ein subjektives Erleben?“, in: K. Lorenz, Über tierisches und menschliches Verhalten. Aus dem Werdegang der Verhaltenslehre. Gesammelte Abhandlungen, Bd. II, Stuttgart, Hamburg 1965, S. 359-374, hier S. 360). 101 Vgl. dazu den Beitrag von Wunsch in Band 1 der Philosophie der Tierforschung. 102 In seiner Problemgeschichte des Wissenschaftsbegriffes Ethologie (S. 164 ff.) macht Volker Schurig darauf aufmerksam, dass der Wissenschaftsbegriff „Etho logie“ in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung zwar auf Lorenz und Tinber gen zurückgeführt werde, welche jene Bezeichnung aber selbst nur spärlich ein gesetzt hätten. Während Lorenz sein Arbeitsgebiet vor allem als „vergleichende Verhaltensforschung“ bezeichnet habe, hätte Tinbergen von „Instinktlehre“ gesprochen. Da der Fokus dieses Aufsatzes nicht auf der begriffsgeschichtlichen Aufarbeitung des Wissenschaftsbegriffes „Ethologie“ liegt, wurde auf eine historisch kritische Verwendung dieses Begriffs verzichtet.
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zu erforschen und andererseits für das Verständnis des tierlichen Verhaltens nicht zwingend erforderlich. Ungeachtet dieser Gemeinsamkeit zwischen Behaviorismus und Ethologie unterscheiden sich aber beide Konzeptionen der Verhaltensforschung in verschiedenen Punkten grundlegend: Während der Behaviorismus geradezu eine Forschungsindustrie aufgebaut hat, die weitestgehend durch Laborstudien über das Verhalten von weißen Ratten geprägt war, haben die Ethologen Tinbergen und Lorenz ein deutlich größeres Spek trum von Tieren untersucht. Sie haben zudem vermehrt Wildtiere beobachtet und ihre Forschung im Freiland oder unter vermeintlich natürlichen Bedingungen betrieben.103 Ein entscheidender Unterschied in der theoretischen Ausrichtung der Verhaltensforschung war zudem, dass Watson sich entlang des Reiz-Reaktion-Schemas auf Lernvorgänge fokussierte, wohingegen die Ethologen die Erforschung des Instinkts und der Instinkthandlungen ins Zentrum ihrer Forschung stellten.104 Vereint sind Behaviorismus und Ethologie allerdings in der Absicht, die Verhaltensforschung als einen rein objektiven Wissenschaftszweig zu etablieren. Dies erreichen die Ethologen Tinbergen und Lorenz ebenfalls durch die Ausklammerung der tierlichen Subjektivität und die Etablierung einer methodologischen Erfahrung, in der für die gewöhnliche Erfahrung tierlicher Subjektivität kein Ort vorgesehen ist. In der von Tinbergen und Lorenz gemeinsam vorgenommenen Untersuchung zur „Taxis und Instinkthandlung in der Eirollbewegung der Graugans“ (1938) erhält die tierliche Subjektivität zunächst noch eine prominente Rolle. Im theoretischen Teil der Studie schreiben beide Forscher: „Das subjektiv lustbetonte Erleben der Instinkthandlung schreiben wir grundsätzlich jedem mit einer solchen begabten Organismus zu, und zwar nicht nur auf Grund eines Analogieschlusses, sondern weil wir in diesem Erleben einen der wichtigsten Träger arterhaltender Zweckmäßigkeit erblicken.“105 Das tierliche Erleben hat für sie an dieser Stelle einen evolutionären Funktionswert, es sei „keine zufällige Begleiterscheinung, kein ‚Epiphänomen‘ physiologischer Vorgänge“. Allerdings zeichnet sich 103 Vgl. R. W. Burkhardt, „The founders of ethology and the problem of animal subjective experience“, S. 2. 104 Ebd. 105 K. Lorenz, N. Tinbergen, „Taxis und Instinkthandlung in der Eirollbewegung der Graugans“ (1938), in: K. Lorenz, Über tierisches und menschliches Verhal ten. Aus dem Werdegang der Verhaltenslehre, Bd. 1, München 1965, S. 343379, hier S. 352.
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bereits in dieser frühen gemeinsamen Arbeit ab, dass das tierliche Erleben – seine Subjektivität – kein Gegenstand der Verhaltensforschung sein wird, insofern „das Eingeschaltet sein von Subjektivem in die Kausalkette arterhaltender physiologischer Vorgänge […], die größten philosophischen Schwierigkeiten“106 bereitet, und somit vermeintlich außerhalb der Verhaltensforschung liegt. In kontinuierlicher Referenz auf Lorenz entwirft Tinbergen in den 1940er Jahren in den programmatischen Schriften An objecti vistic study of the innate behaviour of animals (1942) und in seiner Instinktlehre (1953)107 das Forschungsprogramm der Ethologie. Als Haupthindernis für die kontinuierliche ethologische Forschung betrachtet Tinbergen die mangelnde methodische und methodologische Uniformität des Verhaltensstudiums. Seine Absicht ist es, in diesen Arbeiten das methodische und methodologische Fundament für eine „objectivistic Ethology“108 zu legen. Ein wesentliches Charakteristikum des verhaltenswissenschaftlichen Studiums ist für Tinbergen, dass dieses im Unterschied zur Tierpsychologie das Verhalten nicht nach Gesichtspunkten der tierlichen Subjektivität untersucht. Für die Ethologie fordert Tinbergen im Geiste des cartesianischen Erfahrungsdualismus, der schon bei Morgan und Watson eines der Charakteristika der methodologischen Erfahrung der Tierforschung dargestellt hat, die methodische und methodologische Selbstbegrenzung auf die Physiologie. In der Instinktlehre begründet er diese Selbstbegrenzung im Sinne einer Enthaltung der Wissenschaft gegenüber dem, was sich nicht beobachten lasse: „Weil Subjektives sich am Tier nicht objektiv beobachten läßt, ist es untunlich, sein Vorhandensein zu behaupten oder zu leugnen“.109 Eingebettet in die Unterscheidung zwischen objektiv beobachtbarer Physis und subjektiv nur zu vermutender Psyche entzieht Tinbergen mit dieser Enthaltung der gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität im Allgemeinen und der Tierpsychologie im Besonderen den Gegenstandsbezug. Für Tinbergen handelt es sich bei Psyche und Physis um zwei inkommensurable Gegenstandsbereiche: „Gewiß leugnet […] der Ethologe keineswegs, daß Tiere Psychi-
106 Ebd., S. 353. 107 Laut Vorwort handelt es sich bei der Instinktlehre um die in Buchform ge brachten Manuskripte einer Vortragsreihe, die Tinbergen 1947 in den USA gehalten hat. 108 N. Tinbergen, An Objectivistic Study, S. 40. 109 N. Tinbergen, Instinktlehre, Berlin, Hamburg 1972, S. 4.
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sches erleben mögen, aber er lehnt mit Schärfe die Behauptung ab, psychische Vorgänge könnten Ursache physiologischer Vorgänge sein“.110 Für die wissenschaftliche Erforschung der tierlichen Subjektivität bleibt damit allein die Spekulation über einen imaginären Gegenstand, da das Verhalten des Tieres im Sinne Tinbergens Physis ist und aufgrund der Inkommensurabilität von Psyche und Physis die tierliche Subjektivität in dieser Dimension nicht kausal wirksam werden und damit auch nicht zur Erscheinung kommen kann. Wer „den subjektiven Hunger als objektive Ursache des Beutesuchverhaltens auffasst, der verwirrt Physiologisches mit Psychologischem“.111 Während Tinbergen in An Objectivistic Study die Tierpsychologie, vermutlich aus wissenschaftspolitischen Gründen, noch als gleichberechtigte Disziplin neben der aufkommenden Ethologie gelten ließ,112 spricht er ihr in der Instinktlehre nicht nur den Gegenstandsbezug, sondern mit diesem implizit auch die Wissenschaftlichkeit ab. Der Untersuchungsgegenstand der Ethologie ist nach Tinbergen die Physiologie des Gesamtverhaltens der Tiere. Untersucht werden sollen die kausalen Wirkmechanismen, d. h. die objektiv nachweisbaren internen, hormonellen sowie neurophysiologischen Faktoren und die externen Umweltreize, die das Verhalten des Tieres ursächlich bedingen würden. Innerhalb weniger Jahre ist damit die tierliche Subjektivität, die in der gemeinsamen Arbeit von Lorenz und Tinbergen noch auf rätselhafte Weise in das tierliche Verhalten eingeschaltet war, unter die internen und externen Faktoren subsumiert worden. Um diese Faktoren zu ermitteln, sieht das Forschungsprogramm Tinbergens vor, dass die Verhaltensforschung in einem ersten Schritt Ethogramme des Gesamtverhaltens erstellt. Das Verhalten des Tieres wird in der Forschungsperspektive Tinbergens zuvorderst „als koordinierte Muskeltätigkeit analysier[t]“.113 Für die Erstellung von Ethogrammen weist er die Forschenden entsprechend programmatisch an, dass es gelte, „die Bewegungsformen objektiv zu registrieren und möglichst in Steh110 Ebd., S. 5. 111 Ebd. 112 „Once attention has been focused on the problem ‚which subjective phenomena can be detected in the animal?‘, research has to follow this line of thought, applying the appropriate methods necessary to obtain the appropriate answers. Both [the objectivistic and the subjectivistic], and the others too, can enrich our picture of Nature, and I cannot see the use of an a-priori-rejection of one of them“ (N. Tinbergen, An Objectivistic Study, S. 93). 113 N. Tinbergen, Instinktlehre, S. 7.
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und Laufbildern festzuhalten“ und „zudem alle dabei mitbeteiligten Muskeln nach ihrer Wirkungsweise zu untersuchen“.114 Ausgehend von Ethogrammen des Gesamtverhaltens, sollen im Anschluss einzelne Verhaltenselemente („behavior pattern“) identifiziert und auf ihre internen und externen Einflussfaktoren untersucht werden. Schließlich sollen dadurch die Triebe und Instinkthandlungen herauskristallisiert werden, die den einzelnen Verhaltenselementen ursächlich zu Grunde liegen. Ein Fragenkatalog, der unter der Bezeichnung Tinbergen Vier bekannt geworden ist, und den Tinbergen sowohl in der Instinktlehre als auch später in „On aims and methods of Ethology“ (1963) ausgeführt hat, soll dafür den übergeordneten, synthetisierenden Interpretationsrahmen bilden, in dem die einzelnen Verhaltenselemente untersucht werden. Das Verhalten des Tieres soll auf seine Funktion in der Phylogenese („evolution“), seinen evolutionären Anpassungswert („survival value“), seine Entwicklung im Rahmen der Ontogenese („ontogeny“) sowie nach seiner unmittelbaren, physiologischen Verursachung („causation“) befragt werden. In diesem Interpretationsrahmen und unter der Zielsetzung, die ursächlichen Instinkte und Triebe des Verhaltens zu identifizieren, wird der tierlichen Subjektivität in diesem Forschungsprogramm der Ethologie kein eigener Stellenwert mehr eingeräumt: „The behaviour of an animal at a given moment is controlled by one of a limited number of drives and that drive urges the animal to perform appetitive behaviour [Appetenzverhalten] which is continued until the animal is exhausted, or until another drive gets control of the animal.“115 In den späten 1950er Jahren betont Tinbergen anlässlich eines Symposiums, das zu Ehren von Darwin in Chicago abgehalten wird, dass das physiologische und dadurch seiner Ansicht nach objektive Verhaltensstudium für ihn „a matter of principle with no compromise possible“116 darstellt. Auf dem gleichen Symposium hält er allerdings ebenso selbstkritisch fest, dass „some may say our view is very narrow. All right, it is narrow; but we feel we must recognize that science is a limited occupation and is only one way of meeting nature“.117
114 Ebd., S. 7 f. 115 N. Tinbergen, An Objectivistic Study, S. 62. 116 N. Tinbergen, „PANEL four: the Evolution of Mind“, in: S. Tax, C. Callender (Hrsg.), Evolution after Darwin. The University of Chicago Centennial, Chi cago 1960, S. 175-207, hier S. 185. 117 Ebd.
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4. Die Wiederentdeckung der tierlichen Subjektivität Von Morgan zum Behaviorismus Watsons und zur Ethologie Lorenz’ und Tinbergens war es unserer Untersuchung möglich, nachzuzeichnen, dass die Auseinandersetzung mit der gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität einen der wesentlichen Momente der Konsolidierung der modernen Tierforschung als Wissenschaft darstellt. Im Verlauf der Entwicklung der Tierforschung verschiebt sich diese Auseinandersetzung inhaltlich, von der bloßen Disziplinierung bis hin zur radikalen Verneinung der gewöhnlichen Alltagserfahrung von tierlicher Subjektivität. Wegen dieser Verneinung zeichnen sich vor allem die Gründungsfiguren der Ethologie und des Behaviorismus durch ihre ambivalente Haltung im Umgang mit der subjektiven Evidenz tierlicher Subjektivität aus. Während sie diese lebensweltlich zumindest nicht leugnen, sehen sie sich als Wissenschaftler dazu genötigt, die tierliche Subjektivität methodisch zu übergehen. Ein Schlüssel, um diese Ambivalenz zu verstehen, ist die in der Tierforschung von Anfang an bestehende Furcht vor der anthropomorphen Deutung tierlichen Verhaltens und damit nicht zuletzt vor der eigenen Subjektivität.118 Vor dem Hintergrund von Romanes’ Animal Intelligence, der anekdotischen Naturgeschichtsschreibung und der cartesianischen sowie positivistischen Wissenschaftstradition wurde die menschliche Subjektivität vor allem als willkürliche Fehlerquelle in der Deutung tierlichen Verhaltens betrachtet, die nicht als verlässlicher Partner wissenschaftlicher Forschung auftreten kann. Vor diesem Hintergrund wurden die Ethologie und der Behaviorismus, darin durchaus vergleichbar zur wissenschaftlichen Entwicklung der frühen Neuzeit,119 als dezidiert erfahrungskritische Wissenschaften begründet, welche die gewöhnliche Erfahrung einer methodischen und methodologischen
118 G. Devereux, Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, Frankfurt a. M. 1984. 119 Vgl. W. Kutschmann, Der Naturwissenschaftler und sein Körper, Frankfurt a. M. 1986, S. 156 f. In vielerlei Hinsicht lässt sich die Emanzipation der Tierfor schung von der gewöhnlichen Erfahrung mit der Emanzipation der Physik von der gewöhnlichen Erfahrung vergleichen, die Kutschmann beschreibt. Aller dings hat die Tierforschung anders als die Physik in erster Linie keine techni sche Apparatur im engen Sinne, durch die sie ganz offensichtlich am Forscher zwischen Körper und Leib unterscheidet. In der Tierforschung, so könnte die Hypothese lauten, nimmt die Anthropomorphismuskritik diese technische Funktion im Sinne einer Disziplinierungstechnik ein.
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Disziplinierung unterwerfen. Ausgehend von Morgans Forderung, subjektive Schlüsse von objektiven Fakten zu unterscheiden, sind deren wesentliche Bestandteile: das Primat des Experiments, die Determination des beobachtbaren Verhaltens auf die Physis und die Etablierung eines ethologischen sowie eines behavioristischen Interpretationsrahmens, in dem das tierliche Verhalten entweder weitestgehend als Funktionswert innerhalb der evolutionären Entwicklung oder als einfaches Verhältnis von Reiz und Reaktion betrachtet werden soll. Wie die schlaglichtartige Rekonstruktion der historischen Entwicklung der objektiven Verhaltensforschung gezeigt hat, ist die Furcht vor der eigenen Subjektivität und vor anthro pomorphen Deutungen tierlichen Verhaltens im Verlauf der Entwicklungsgeschichte der Tierforschung allerdings nicht konstant geblieben. In der methodologischen Entwicklung der Tierforschung lässt sich vielmehr die Radikalisierung der Skepsis gegenüber der gewöhnlichen Erfahrung feststellen. Während Morgan, trotz aller epistemologischen Skepsis, der subjektiven Evidenz tierlicher Subjektivität durch die Kopplung von Introspektion und Analogieschluss noch einen methodisch erforschbaren Status eingeräumt hat, verabschieden Tinbergen und Watson auch diese Methodik und mit ihr ebenfalls die gewöhnliche Erfahrung tierlicher Subjektivität aus der Wissenschaft. Ursächlich dafür ist, dass sie für diese keinen gesicherten Angriffspunkt im methodologischen Rahmen der Wissenschaft sehen. Unter der erkenntnistheoretischen Prämisse, dass das Verhalten des Tieres allein als physische Erscheinung beobachtbar ist und/oder, dass Psyche und Physis fernerhin inkommensurabel sind, ziehen Watson und Tinbergen die Konsequenz, dass die Subjektivität des Tieres nicht nur nicht beobachtbar ist, sondern, dass es geradezu unbestimmt bleiben muss, ob Tiere überhaupt über Subjektivität verfügen. Für die Stellung der tierlichen Subjektivität in der Tierforschung bedeutet diese Verneinung der gewöhnlichen Erfahrung im Weiteren, dass sie nicht länger eine epistemologische Herausforderung darstellt, sondern dass sie durch eine quasiontologische Setzung aus der methodologischen Erfahrung der Tierforschung ausgeschlossen wird. Unter den Verdacht des Anthropomorphismus fallen nun nicht mehr nur unkontrollierte Übertragungen des Menschlichen auf das Tierliche, sondern jegliche Formen der mentalen oder psychischen Analogiebildung zwischen dem Menschlichen und dem Tierlichen. Deutlich wird an dieser Stelle, dass der Anthropomorphismus im Nachgang auf Tinbergen und Watson kein bloßer partikularer oder situationeller Irrtum ist,
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der auftritt, wenn das tierliche Verhalten unabhängig von seiner Umweltsituation im Horizont menschlicher Motive gedeutet wird, sondern vielmehr ein Kategorienfehler oder aber Kardinalfehler. Von einem solchen handelt der Anthropomorphismus seit Tinbergen und Watson in der Tierforschung allerdings nicht deshalb, weil diese davon ausgegangen wären, dass Tiere grundverschieden vom Menschen sind. Im Gegenteil, die unzähligen Rattenversuche des Behaviorismus unterstellen ebenso eine Vergleichbarkeit zwischen Tier und Mensch, wie sie auch in der Ethologie Tinbergens für das Triebgeschehen und das Instinktverhalten angenommen wird.120 Als Kategorienfehler gilt der Anthropomorphismus vielmehr deshalb, weil die methodologische Erfahrung, die Watson und Tinbergen für die Tierforschung formuliert haben, auf der Idee basiert, dass in jedweder Beobachtung nur die Physis des Lebendigen erfahren werden kann. Ein Kategorienfehler besteht dementsprechend nicht in der Verwechslung von Tier und Mensch, sondern der gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität mit der methodologischen Erfahrung der Tierforschung. Diese Ausklammerung der tierlichen Subjektivität aus dem Forschungskontext der Tierforschung ist jedoch im 20. Jhd. keineswegs von allen Forscher_innen akzeptiert worden. Wenn es auch bis in die 1970er Jahre gedauert hat, bis durch Griffins Buch Animal Awareness der tierlichen Subjektivität als Forschungsgegenstand wieder ein größerer Stellenwert in der Forschungsgemeinde eingeräumt wurde, hat unter anderem bereits der Verhaltensforscher Otto Koehler, als Übersetzer der deutschen Ausgabe von Tinbergens Instinktlehre, beklagt, dass dieser der tierlichen Subjektivität keinen Untersuchungsraum zugestanden hat.121 Die Restaurierung der tierlichen Subjektivität in der kognitiven Ethologie ab den 1970er Jahren stellt allerdings keinen grundlegenden Bruch mit der methodologisch und methodisch etablierten Verhaltensforschung dar, sondern räumt vor allem die Möglichkeit ein, dass zumindest manche Tiere über mentale und psychische Vermögen verfügen. Für die Forschungsgemeinde selbst ist dieser Schritt Griffin zufolge allerdings dennoch „a crucial one that requires a significant departure from the current Zeitgeist of the behavioral sciences“.122 Griffin geht davon aus, dass insoweit mentale und psychische Vermögen 120 N. Tinbergen, Instinktlehre, S. 198 ff. 121 O. Koehler, „Vorwort des Übersetzers“, in: N. Tinbergen, Instinktlehre, S. XV. 122 D. Griffin, Animal Awareness, S. 71.
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von Tieren als Denkmöglichkeit in der Forschung Einzug erhalten, es gleichfalls möglich werde, durch „careful ethological analysis of preceding and subsequent behavior […] some indications of the possible mental experience that may exist within a given animal under particular cirumstances“123 zu erforschen. Darüber hinaus beansprucht er, dass die Erforschung der tierlichen Subjektivität auch bedeute, neue Methoden in der Verhaltensforschung einzubeziehen, wie etwa eine „science of participartory research“,124 die er in den seinerzeit keineswegs methodisch unumstrittenen Primatenstudien von Jane Goodall zu entdecken meinte. Bei allem Enthusiasmus warnt allerdings auch Griffin vor der Gefahr des Anthropomorphismus in der Deutung tierlichen Verhaltens. Diese Gefahr besteht seiner Ansicht nach vor allem dann, wenn das Verhalten von Tieren vorschnell durch komplexe mentale Phänomene erklärt wird. Dennoch rechtfertige diese Gefahr nicht, in die „conventional reductionst position that animals have no mental experiences at all, or that any they may have are hopelessly inaccessible to our investigations“125 zu verfallen. Griffins Werben um die Denkmöglichkeit tierlicher Subjektivität und die Aufforderung, diese nicht a priori aus der Wissenschaft auszuschließen, hat unter anderem in der Primatologie, der kognitiven Ethologie und der Tierschutzforschung zu einer allmählichen methodologischen und methodischen Öffnung und Liberalisierung des Forschungsfeldes der Verhaltensforschung beigetragen.126 Die Vorstellung, dass das Verhalten des Tieres allein als physische Erscheinung erfahren werden kann, erhält sich allerdings unabhängig von dieser Liberalisierung als normalwissenschaftliche Perspektive und alternativloser Weg der Wissenschaft bis in die Gegenwart hinein. Durch diese Annahme erzeugt die Tierforschung eine Fundamentalopposition zwischen Lebenswelt und Wissenschaft, Glauben und Wissen, anthropomorpher Deutung und objektiver Forschung. In der Tierschutzforschung spiegelt sich in vielen Veröffentlichungen diese normalwissenschaftliche Perspektive in der methodischen Anweisung, dass die Bewertung der emotionalen und psychischen
123 Ebd. 124 Ebd., S. 95. 125 Ebd., S. 72. 126 Exemplarisch für die Tierschutzforschung: L. Desiré, A. Boissy, I. Veissier, „Emotions in farm animals: a new approach to animal welfare in applied ethology“, in: Behavioural Processes, 60/2002, S. 165-180.
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Befindlichkeiten der Tiere allein indirekt – von außen nach innen – keinesfalls aber direkt erfolgen könne. Im Kontrast zu dieser methodologischen Alternativlosigkeit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in der Tierschutzforschung allerdings der Stellenwert der gewöhnlichen Erfahrung zumindest teilweise gewandelt, wie ein abschließender Blick auf die Konzeptionen des sogenannten Qualitative Behaviour Assessment (QBA) zeigen wird.
5. Die Rehabilitierung der gewöhnlichen Erfahrung im Qualitative Behaviour Assessment127 Für die Tierschutzforschung ist die Trennung von gewöhnlicher und methodologischer Erfahrung ein Problem, da das subjektive Erleben von Tieren ein bedeutsames Element ihres Forschungsauftrages darstellt. In Deutschland hat diese angewandte Forschungsrichtung ihren Forschungsauftrag durch die Tierschutzgesetzgebung von 1972 erhalten. Unter anderem wurde die Tierschutzforschung beauftragt, die psychischen Auswirkungen der jeweiligen Haltungsumgebung auf die verschiedenen Nutztiere zu qualifizieren.128 Im Unterschied zur klassischen Ethologie von Lorenz und Tinbergen ist die Subjektivität des Tieres damit kein allein möglicher, aber letztlich nicht wissenschaftlich zu erforschender Gegenstand, sondern das tierliche Erleben ist vielmehr durch eine Setzung zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung erklärt worden. Dieses zieht selbstverständlich methodologische Schwierigkeiten nach sich: „Wann empfindet […] ein Tier Schmerzen, wann leidet es? […] Die naturwissenschaftliche Bearbeitung dieser Frage steht vor einem grundsätzlichen Problem. Schmerzen und Leiden sind nicht un-
127 Vgl. dazu meinen Aufsatz „‚Gewöhnliche‘ Erfahrung in der Wissenschaft vom Tier“, in: Forschungsschwerpunkt „Tier – Mensch – Gesellschaft“ (Hrsg.), Vielfältig Verflochten. Interdisziplinäre Beiträge zur Tier-Mensch-Relation, Bielefeld 2017, S. 157-172. 128 Einen Überblick und eine kritische Diskussion zur Tierschutzgesetzgebung von 1972 sowie zur Rolle der Tierschutzforschung bietet P. v. Gall, Tierschutz als Agrarpolitik. Einen Überblick auf die (internationale) Entwicklung der Tierschutzforschung bietet U. Knierim, „Methoden und Konzepte der ange wandten Ethologie und Tierschutzforschung“, in: K. Köchy, M. Wunsch, M. Böhnert (Hrsg.), Philosophie der Tierforschung. Bd. 2. Maximen und Konse quenzen, Freiburg, München 2016, S. 87-101.
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mittelbar messbar, da sie subjektive Empfindungen bei den Tieren darstellen“.129 Um dieser Herausforderung zu begegnen, sind in der Tierschutzforschung verschiedene Verfahrensweisen entwickelt worden.130 Eine herausragende Stellung kommt unter diesen Verfahrensweisen dem durch Françoise Wemelsfelder initiierten Qualitative Be haviour Assessment (QBA) zu: Im Unterschied zur Methodologie der etablierten Tierforschung erkennt Wemelsfelder die gewöhnliche Erfahrung tierlicher Subjektivität als distinkte Wissensquelle der Tier(schutz)forschung an. Im Forschungskontext der Tierschutzforschung ist es für Wemels felder entscheidend, „the animal’s point of view“131 in der Erforschung des Tierlichen zu berücksichtigen. Untersuchen ließe sich dieser ihrer Ansicht nach zwar nicht auf der Grundlage der methodologischen Erfahrung der Tierforschung, in der das Verhalten durch die Inkommensurabilität von Psyche und Physis ausgezeichnet ist, dafür aber am Verhaltensausdruck des Tieres, wie er in der gewöhnlichen Erfahrung wahrgenommen wird. Die gewöhnliche Erfahrung entspricht für Wemelsfelder, durchaus vergleichbar zu den Überlegungen, die Morgan in seinem Prolegomenon in An In troduction vorgenommen hat, einem Monismus des Lebendigen, in welchem das sich verhaltende Tier als „integriertes Ganzes“132 erscheint und erfahren wird. Unter dieser Prämisse betrachtet sie Verhalten nicht allein als physikalisches Geschehen, sondern als affektives Ausdrucksverhalten. Das Ausdrucksverhalten der Tiere und deren subjektives Erleben sind ihrer Ansicht nach isomorph. Diese 129 L. Schrader, „Methoden der Nutztierethologie“, in: M. Naguib (Hrsg.), Metho den der Verhaltensbiologie, Berlin, Heidelberg, New York 2006, S. 210-214, hier S. 210. 130 Vgl. für einen Überblick und weiterführende Literatur: B. Benzing, U. Knie rim, „Die Erforschung tierlichen Wohlbefindens als Spiegel der MenschTier-Beziehung“, in: Forschungsschwerpunkt „Tier – Mensch – Gesellschaft“ (Hrsg.), Vielfältig Verflochten. Interdisziplinäre Beiträge zur Tier-MenschRelationalität, Bielefeld 2017, S.173-188. 131 F. Wemelsfelder, „Investigating the animal’s point of view. An enquiry into a subject-based method of measurement in the field of animal welfare“, in: M. Dol et al. (Hrsg.), Animal Consciousness and Animal Ethics. Perspectives from the Netherlands, Assen 1997, S. 73-89, hier S. 73. 132 F. Wemelsfelder, „Wie fühlt man sich als Sau in Anbindehaltung? Die wissen schaftliche Messung subjektiver Erfahrung von Nutztieren“, in: KTBL (Hrsg.), Aktuelle Arbeiten zur artgemäßen Tierhaltung 1994, KTBL-Schrift 370, Darm stadt 1994, S. 9-19, hier S. 14.
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Perspektive erlaubt ihr anzunehmen, dass der Verhaltensausdruck eine „psychological dimension that is immediately present“133 darstellt, welche es den Beobachter_innen ermögliche, „to judge the quality of an animal’s experience directly and in considerable detail“. In der qualitativen Verhaltensbeurteilung des QBA soll der Verhaltensausdruck der Tiere durch frei gewählte Empfindungsqualitäten wie etwa Freude, Langeweile oder Angespanntheit bezeichnet werden. Eine von Wemelsfelder für ihre Forschungsprogrammatik nicht genannte, aber auf der Grundlage ihrer Überlegungen unverkennbare inhaltliche Überschneidung ergibt sich mit den theoretischen Überlegungen der Frühphänomenologen Max Scheler, Helmuth Plessner, des Psychologen Erwin Straus und des Physiologen Frederik J. J. Buytendijk. Diese haben von den 1920er bis in die 1940er Jahre, ebenfalls im Kontrast zur methodologischen Entwicklung der Tier- und Humanforschung, am Ausdrucksverhalten als Gegenphänomen zur Alternativlosigkeit des Cartesianismus in den Wissenschaften festgehalten. Die deutlichste Überschneidung zeigen die Überlegungen Wemelsfelders mit den Grundannahmen des von Plessner und Buytendijk gemeinsam verfassten Aufsatzes „Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs“ (1925). Im Unterschied zu Wemelsfelder betrachten diese das Verhalten allerdings nicht als irgendwie geartete psychologische Dimension, sondern als „psychophysisch neutral“.134 Ungeachtet135 dieses Unterschiedes stimmen sie mit Wemelsfelder allerdings darin überein, dass das Lebewesen im Verhalten ursprünglich nicht als lebendiger Körper, sondern als lebendige Ganzheit wahrgenommen wird. Als solche ist das Lebewesen in seinem Verhalten immer schon in einen sinnhaften Umweltbezug eingebettet. In dieser Verschränkung von Lebewesen und sinnhaftem Umweltbezug sind für Plessner und Buytendijk „Anschaulichkeit und Verständlichkeit [des Verhaltens] untrennbar gegeben […], so daß Verhalten nicht wahrgenommen werden kann, ohne im An133 F. Wemelsfelder, „How animals communicate quality of life: the qualitative assessment of behavior“, in: Animal Welfare, 16(S)/2007, S. 25-31, hier S. 28. 134 H. Plessner, F. J. J. Buytendijk, „Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs“, in: H. Plessner, Ausdruck und menschliche Natur. Gesammelte Schriften, Bd. VII, Frankfurt a. M. 2003, S. 67-129, hier S. 81. 135 Der Unterschied zwischen den Perspektiven ist durchaus wesentlich, muss aber an anderer Stelle ausgeführt werden.
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satz wenigstens (ev. falsch) gedeutet zu werden“.136 An der Methodologie der Tierforschung kritisieren Plessner und Buytendijk demgemäß, dass diese die wahrnehmbare Sinnhaftigkeit der Umweltrelationalität zwischen Lebewesen und Umwelt zumindest gedanklich verworfen hätte, weshalb für diese „bloß ein lebendiger Körper in Bewegung zurück [bleibt], dessen Verhalten objektiv eine ‚eigentlich unverständliche‘ Kette von Ortsveränderungen zeigt“.137 Würden Tiere und Mensch dagegen „als ‚sich verhaltende‘ und nicht als bloße Bewegungen ausführende Lebewesen“138 wahrgenommen, sei es möglich, ihr Verhalten als drohend, ängstlich, suchend oder fliehend sinnhaft zu verstehen, ohne, dass ein solches Verständnis einer anthropomorphen Projektion gleichkäme. Die qualitative Verhaltensbeobachtung macht sich diese phä nomenologische Behauptung einer „ursprünglichen Verständlich keit“139 des Verhaltens als sinnhafter Lebewesen-Umweltrelation von Plessner und Buytendijk unverkennbar zu eigen. Entsprechend geht auch Wemelsfelder davon aus, dass das subjektive Erleben des Tieres als „body language“,140 durch die und in der sich das Lebewesen bedeutungsvoll auf seine Umwelt beziehe und mit dieser interagiere, verständlich werde. Im Sinne der Kritik von Plessner und Buytendijk will Wemelsfelder die ‚body language‘ nicht komplementär zu den Untersuchungsgegenständen verstanden wissen, welche die klassische Ethologie als ‚behavioural styles‘ oder ‚behavioural signals‘ in Ethogrammen erfasst.141 Ihrer Ansicht nach werde in diesen das Verhalten der Tiere lediglich in quantifizierbare „pattern[s] of movement“142 zergliedert, welche allein hinsichtlich ihrer evolutionären Funktion betrachtet würden. Das klassische Ethogramm erfasse somit gerade nicht das subjektive Sinngefüge der Interaktion zwischen Lebewesen und Umwelt und könne deshalb auch das Verhalten nicht als Ausdruck des subjektiven Erlebens
136 137 138 139 140
Ebd., S. 83 f. Ebd., S. 79. Ebd., S. 82. Ebd., S. 82. F. Wemelsfelder, „A Science of Friendly Pigs … Carving out a Conceptual Space for Addressing Animals as Sentient Beings“, in: L. Birke, J. Hockenhull (Hrsg.), Crossing Boundaries. Investigating Human-Animal Relationships, Leiden 2012, S. 223-249, hier S. 235. 141 Vgl. F. Wemelsfelder, „Investigating“, S. 84. 142 F. Wemelsfelder, „How animals communicate“, S. 28.
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der Tiere qualifizieren. Genau wie Plessner und Buytendijk143 bestreitet allerdings auch Wemelsfelder die evolutionären Funktionen tierlichen Verhaltens nicht; im Gegenteil unterbreitet sie durch die Subjektivierung der Kategorie des Verhaltens ebenso wie durch die Kritik am klassischen Ethogramm der Tierforschung ein Angebot, durch welches der Status des Tieres vom passiven Objekt zum lebendigen Subjekt verschoben werden könne.144 Der Untersuchungsgegenstand wäre dann nicht mehr das Verhalten des Tieres, sondern das sich verhaltende Tier. Wird das Verhalten des Tieres als Ausdrucksbewegung betrachtet, dann, so Wemelsfelder, werde das Tier zum „‚behaver‘, an agent, who performs ‚behaviour‘ in a certain manner, with a certain expression“.145 Wemelsfelders QBA rehabilitiert auf der Grundlage der gewöhnlichen Erfahrung das Verständnis des tierlichen Verhaltens als Ausdruck des subjektiven Erlebens von Tieren. In ihrem Vertrauen auf die Verständlichkeit des Verhaltens in der gewöhnlichen Erfahrung scheint sie im Verhältnis zur etablierten methodologischen Erfahrung der Tierforschung dem Umstand Rechnung zu tragen, dass „die Totalität dessen, was Gegenstand von Wissenschaft werden kann, […] eben nicht mit der Totalität menschlicher Erfahrung zusammen[fällt]“.146 In der Tierschutzforschung hat die qualitative Verhaltensforschung unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. In einer der wenigen ausführlichen Besprechungen, die es zu diesem Verfahren gibt, wird es, wenn auch vorsichtig und skeptisch, als Verfahren gewürdigt, das „einen möglichen Zugang zur Erfassung der Gestimmtheit von Tieren in spezifischen Situationen bzw. zur Beschreibung des allgemeinen emotionalen Status dar[stellt]“.147 Neben dieser positiven Würdigung wird die qualitative Verhaltensforschung allerdings auch unter Verweis auf die Anfänge der Tierforschung als ein „Rückfall in das Archaikum der Ethologie“148 diskreditiert. Angesichts der dargestellten Konfliktlinie zwischen 143 144 145 146 147
H. Plessner, F. J. J. Buytendijk, „Die Deutung“, S. 76 f. Vgl. F. Wemelsfelder, „Wie fühlt man sich als Sau“, S. 9 f. F. Wemelsfelder, „How animals communicate“, S. 28. M. Jung, Gewöhnliche Erfahrung, Tübingen 2014, S. 3. C. Winckler, „Qualitative Verhaltensbeurteilung in der Tierschutzforschung“, in: KTBL (Hrsg.), Aktuelle Arbeiten zur artgemäßen Tierhaltung 2015, KTBLSchrift 510, Darmstadt 2015, S. 13-25, hier S. 13. 148 K. Zeeb, „Vorwort“, in: KTBL (Hrsg.), Aktuelle Arbeiten zur artgemäßen Tier haltung 1994, KTBL-Schrift 370, Darmstadt 1994, S. 3.
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gewöhnlicher Erfahrung und methodologischer Erfahrung kann es nicht verwundern, dass ihr Verfahren darüber hinaus als „highly vulnerable to anthropomophism“149 angesehen wird. Während diese Warnung kaum überraschen kann, ist die Behauptung erstaunlich, dass die qualitative Verhaltensforschung davon ausgehe, dass „on-farm assessments of animal welfare could simply be carried out by careful introspection“.150 Introspektion gehört meines Wissens nach nicht zu den methodischen Verfahren der qualitativen Verhaltensforschung. Allerdings – und in diesem Sinne soll die Kritik an Wemelsfelder wahrscheinlich auch ihre Wirkung entfalten –, stellt Introspektion in der historischen Konstellation zwischen Romanes und Morgan ein Element der Tierpsychologie dar, von dem sich die objektive Tierforschung, ebenso wie von der gewöhnlichen Erfahrung, auf dem Weg zur wehrhaften Normalwissenschaft gelöst hat.
6. Resümee In der Wissenschaftstheorie und in der Geschichtsschreibung der Tierforschung existiert die Überzeugung, dass Wissenschaft „langsam aus [der] vorwissenschaftlichen Lebenshaltung heraus“151 entstehen würde. Auf der Grundlage der vorliegenden wissenschaftshistorischen Untersuchung der Entwicklung der Tierforschung von den Überlegungen C. L. Morgans zum Behaviorismus Watsons und der Ethologie Tinbergens wurde entgegen dieser wissenschaftstheoretischen Überzeugung ersichtlich, dass die Tierforschung vielmehr ihre Methodik und Methodologie im 20. Jhd. als ein Gegenstück zur gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität und der Lebenswelt verstanden hat. Die „subjektiv-relativen Erfahrungen“152
149 H. Würbel, „Ethology applied to animal ethics“, in: Applied Animal Behaviour Science, 118/2009, S. 118-127, hier S. 121. 150 Ebd. Während der methodologischen Erfahrung die gewöhnliche Erfahrung tierlicher Subjektivität als Anthropomorphismus verdächtig bleibt, lässt sich vielleicht im umgekehrten Sinne erst aus der gewöhnlichen Erfahrung heraus Argwohn gegenüber der biologistischen Aussage empfinden, dass „not only how animals should be protected, but also why we want to do this in the first place, […] a biological question“ (ebd., S. 119) sei. 151 A. Portmann, Das Tier als soziales Wesen, Frankfurt a. M. 1953, S. 138. 152 E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzenden tale Phänomenologie, Hamburg 2012, S. 135.
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der Lebenswelt sind für die Tierforschung Tinbergens und Watsons damit, anderes als es Husserl in seiner Krisis-Schrift nahelegt, nicht „das wirkliche Erste“153 oder gar die „Evidenz[-]“ und „Bewährungsquelle“154 für die objektive Wissenschaft, sondern der Phänomen- und Gegenstandsbereich, von dem sich die Tierforschung methodologisch losgesagt zu haben meint. Diese Opposition zur gewöhnlichen Erfahrung und zur Lebenswelt bestand allerdings nicht durchgehend in der modernen Tierforschung. In den konzeptionellen Überlegungen zu den Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Fremdpsychischen, die Morgan im ausgehenden 19. Jhd. als einer der Gründerväter der Ethologie und komparativen Psychologie vorgenommen hat, bildet die gewöhnliche Erfahrung tierlicher Subjektivität noch den Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Untersuchung des Fremdpsychischen. In dieser Konsolidierungsphase der Tierforschung ging es deshalb vielmehr darum, die gewöhnliche Erfahrung methodisch und methodologisch zu disziplinieren. Wie gezeigt werden konnte, radikalisierte sich diese Emanzipation der Wissenschaft von der gewöhnlichen Erfahrung allerdings im Behaviorismus Watsons und in der Ethologie Tinbergens, indem diese der gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität jeglichen Gegenstandsbezug absprachen. Für Watson und Tinbergen stellten diese Nivellierungen der gewöhnlichen Erfahrung eine methodologische Notwendigkeit dar, weil sie das Verhalten des Tieres allein als rein physische Erscheinung konzipierten und somit die auf die Physis reduzierte Erfahrung als einzig mögliche Erfahrung des Tierlichen hypostasierten. Dadurch haben sie sowohl die Idee des Tieres als bloß physiologischem Mechanismus als auch korrelierend damit die auf die Physis begrenzte methodologische Erfahrung als Gegenstück zur gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität in die Tierforschung eingeführt. Für das wissenschaftliche Selbstverständnis der Tierforschung war diese Negierung der gewöhnlichen Erfahrung folgenreich, da sich mit ihr eine Fundamentalopposition zwischen Lebenswelt und Wissenschaft, Glauben und Wissen, anthropomorpher Deutung und objektiver Forschung als normalwissenschaftliche Perspektive in der Tierforschung etablierte. Vor dem Hintergrund der Gegenüberstellung von wissenschaftlicher Erfahrung und lebensweltlicher Erfahrung hat der Anthropomorphismus in der Tierforschung im 20. Jhd. den Stellenwert eines 153 Ebd. 154 Ebd., S. 136.
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Kardinalfehlers erhalten. Vom Standpunkt objektiver Wissenschaft aus gilt er nicht als ein Irrtum unter anderen, sondern als gänzlich falscher Typus der Deutung tierlichen Verhaltens, weil er mit der gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität identifiziert wird, von der sich die Tierforschung losgesagt hat. In diesem Sinne übernimmt der Vorwurf des Anthropomorphismus in der Tierforschung bis in die Gegenwart, wie insbesondere an der Kritik an der qualitativen Verhaltensforschung sichtbar wird, eine wichtige Funktion für die Stabilisierung und Verteidigung der methodologischen Erfahrung vom Tier. Nach Innen fungiert dabei die Angst vor dem Anthropomorphismus als Disziplinierung der Wissenschaftsgemeinde155 und nach Außen dient er als Vorwurf, um die Exklusivität des eignen methodisch-methodologischen Gegenstandsbezuges gegenüber der gewöhnlichen Erfahrung zu behaupten.156 In dieser gleichermaßen einschließenden wie ausschließenden Funktion ist der Vorwurf des Anthropomorphismus „a term of ideological abuse“,157 der in Diskussionen und Auseinandersetzungen, wie andere ideologische Kampfbegriffe, in den seltensten Fällen auf seine historische Entwicklung oder seine metaphysischen oder weltanschaulichen Grundannahmen hin untersucht wird. Die scharfe Gegenüberstellung der methodologischen Erfahrung der Tierforschung und der gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität, die durch den Vorwurf des Anthropomorphismus angezeigt wird, ist unter dem Gesichtspunkt der Forschungsrealität der Tierforschung allerdings mehr als unbefriedigend. In der Tierschutzforschung stellt sich aus der Perspektive der methodologischen Erfahrung zurecht die Frage, wie die Haltungs- und Lebensbedingungen der Tiere aus der tierlichen Perspektive qualifiziert werden können. Vor dem Hintergrund der methodologisch reduzierten Forschungsperspektive, auf der die Tierforschung im Nachgang auf Tinbergen und Watson gründet, lässt sich zumindest im strengen Sinne die tierliche Perspektive 155 Vgl. E. S. Paul, A. L. Poderscek, „Veterinary education and students’ attitudes towards animal welfare“, in: Veterinary Record, 146(10)/2000, S. 269-272. 156 Vgl. C. Hilbert, „‚Anthropomorphismus!‘ als Totschlagargument. Anthro pomorphismuskritik und Methodologie der Tierforschung“, in: Forschungs schwerpunkt „Tier – Mensch – Gesellschaft“ (Hrsg.), Den Fährten folgen. Methoden interdisziplinärer Tierforschung, Bielefeld 2016, S. 277-292. 157 J. A. Fischer, „Disambiguating Anthropomorphism: An Interdisciplinary Re view“, in: P. P. G. Bateson, H. Klopfer (Hrsg.), Perspectives in Ethology, Vol. 9, New York 1991, S. 49-85, hier S. 49.
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nicht repräsentieren. Wenn Psyche und Physis inkommensurabel sind und es als Verwirrung von Physiologischem und Physiologischem gilt, „den subjektiven Hunger als objektive Ursache des Beutesuchverhaltens“158 aufzufassen, wie es Tinbergen in seiner Instinktlehre angenommen hat, dann steht diese Perspektive dem Forschungsauftrag der Tier(schutz)forschung entgegen, da sie nicht in der Lage ist, die Lebensbedingungen in ihrer Bedeutung für das Tiere zu qualifizieren. Wenn die Tier(schutz)forschung eine wissenschaftstheoretisch, rationale Begründung für einen Forschungsstandpunkt anstrebt, welcher die tierliche Perspektive repräsentieren kann, wird es nicht ausreichen, die methodologisch-methodische Prämissen der Tierforschung im Nachgang auf Watson und Tinbergen beizubehalten und sie durch eine Setzung um den Faktor tierliche Subjektivität zu bereichern. Vielmehr wäre es nötig, in einem ersten Schritt die Exklusivität des methodologisch-methodischen Vorgehens wissenschaftstheoretisch zu reflektieren, und in einem zweiten Schritt die Fundamentalopposition zwischen Lebenswelt und Wissenschaft unter Bezugnahme auf die gewöhnliche Erfahrung tierlicher Subjektivität zu revidieren. Unter dem Gesichtspunkt der methodologisch-methodischen Entwicklungsgeschichte der Tierforschung und des nach wie vor bestehenden Anthropomorphismusvorwurfes wird dieser erste Schritt in der Tier(schutz)forschung notwendig, damit sie sich die Möglichkeiten und Grenzen, innerhalb derer sie als Erfahrungswissenschaft159 ihre Forschung aufnimmt, vergegenwärtigen kann. Im Ergebnis müsste diese Vergegenwärtigung die kritische Anerkennung des menschlichen Standpunktes in jedweder Forschung nach sich ziehen. Als naturwissenschaftliches Vorbild kann dabei Max Planck dienen, der zu Beginn des 20. Jhds. die „Emanzipation [der Physik] von den anthropomorphen Elementen“160 forderte und gleichfalls zu bedenken gab, dass es gelte „das Mißverständnis auszuschließen, als ob das Weltbild von dem bildenden Geist überhaupt losgelöst werden sollte; denn das wäre ein widersinni158 N. Tinbergen, Instinktlehre, S. 5. 159 Nach meinem Dafürhalten handelt es sich bei der Tierforschung um eine Er fahrungswissenschaft, deren objektive Aussagen den gleichen Bedingungen unterliegen wie die Sozialwissenschaften. Dazu L. Daston, „Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität“, in: O. G. Oexle (Hrsg.), Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit – Gegensatz – Komplemen tarität?, Göttingen 1998, S. 9-40. 160 M. Planck, Die Einheit des physikalischen Weltbildes, Leipzig 1909, S. 11.
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ges Beginnen“.161 Die wissenschaftstheoretische Reflexion auf die Bedingungen einer Erfahrungswissenschaft müsste im besten Falle das produktiv kritische Eingeständnis nach sich ziehen, dass empirische Untersuchungen immer nur das jeweilige Modell, Weltbild oder die zugrundeliegende Idee bestätigen können. Allein die Idee des Tieres, die Idee des Verhaltens oder die Idee des Organismus ermöglicht eine empirisch verifizierbare und falsifizierbare Untersuchung des Tieres, des Verhaltens oder des Organismus. Die Wissenschaft hat in der Moderne vor allem die Aufgabe, diese Ideen theoretisch kongruent und plausibel zu konstruieren.162 Die Hoffnung von Bierens de Haan, dass es einen Mittelweg zwischen dem kindischen Anthropomorphismus der Naturgeschichtsschreibung und dem wissenschaftlichen Selbstverständnis reiner naturwissenschaftlicher Forschung in der Tierforschung geben könnte, könnte durch diese wissenschaftstheoretische Reflexion auf die Möglichkeit und Grenzen der Tierforschung als Erfahrungswissenschaft wieder hergestellt werden. Für die Reformulierung der Gegenüberstellung von Lebenswelt und Wissenschaft wird es in der Tier(schutz)forschung darüber hinaus notwendig werden, sich über den Wahrheitsgehalt des Anthropomorphismus jenseits von ideologischen Grabenkämpfen und auch über seine Verwendung als heuristische Methode hinaus, Gedanken zu machen.163 Diese Forderung richtet sich auf die Überwindung des cartesianischen Erfahrungsdualismus und nicht auf die Unterminierung der biologischen Interpretationsstandards der modernen Tier(schutz)forschung. Notwendig wäre diese Überwindung des cartesianischen Erfahrungsdualismus da die Tier(schutz) forschung für die Qualifizierung der tierlichen Lebensbedingungen 161 Ebd., S. 36. 162 Grundsätzlich ist das natürlich keine Unbekannte in der Tier(schutz)for schung. Die Reaktionen auf die qualitative Verhaltensforschung machen allerdings deutlich, dass sich die Tierschutzforschung zumindest mit solchen Ideen schwer arrangieren kann, die ein anderes Paradigma, wenn man denn die gewöhnliche Erfahrung als ein solches bezeichnen kann, anwenden. 163 Als heuristische Methode firmiert der Anthropomorphismus als ‚kritischer Anthropomorphismus‘ in der Philosophie aber auch in der Evolutionsbiologie. Vgl.: M. Wild, Tierphilosophie zur Einführung, Hamburg 2008, S. 69 ff. und G. M. Burghardt, „Cognitive Ethology and Critical Anthropomorphism: A Snake with Two Heads and Hog-Nose Snakes that Play Dead“, in: C. A. Ristau (Hrsg.), Cognitive Ethology. The Minds of Other Animals. Essay in Honor of Donald R. Griffin, New York, London 1991, S. 53-90. Siehe auch die Fußnoten 1 und 3.
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immer auf die Deutung tierlichen Verhaltens auf der Grundlage der gewöhnlichen Erfahrung tierlicher Subjektivität zurückgreifen muss. Während es eine „akzeptable Hypothese“164 sein mag, dass „subjektive Empfindungen einen adaptiven Wert, d. h. einen Nutzen haben könnten“,165 lässt sich dieser Nutzen im evolutionären Interpretationsschema aber auch nur dann für das Tier als subjektiv empfindendes qualifizieren, wenn das Verhalten des Tieres als sinnhafte Umweltbeziehung – eine Beziehung, die für das Tier Bedeutung hat – verstanden wird. Während die gewöhnliche Erfahrung tierlicher Subjektivität phänomenal von einer solchen Sinnhaftigkeit der Umweltbeziehung ausgeht und damit auch das Verhalten des Tieres zumindest logisch als mehr als Physis betrachten muss, lässt sich das Verhalten des Tieres unter der Prämisse des cartesianischen Erfahrungsdualismus formal nur als physische Erscheinung auffassen. Aus „naturwissenschaftlicher Sicht“166 sind deshalb für die Beurteilung der Empfindungen eines Tieres „nicht die objektive[n] Tatsache[n] des Kontrollverlustes [sic!] sondern dessen Empfindungen ausschlaggebend“.167 Das Verhalten des Tieres ist unter der cartesianischen Prämisse im strengen Sinne lediglich eine Bewegung in Raum und Zeit. Phänomenal lässt sich das Tier dadurch nicht von einem Stein, einem Ball oder einer Papierschlange unterscheiden. Aus den Bewegungen in Raum und Zeit lassen sich keine Rückschlüsse auf irgendeine sinnhafte Beziehung des Tieres mit seiner Umwelt ziehen. In der gewöhnlichen Erfahrung stellt die phänomenale Unterscheidung zwischen der Bewegung eines Steines und den Bewegungen eines Schweines dagegen für wenige Menschen eine Herausforderung dar. In den naturphilosophischen Arbeiten von Plessner, und auch in seiner schon genannten Gemeinschaftsarbeit mit Buytendijk, führt dieser diese alltägliche Unterscheidung darauf zurück, dass das Lebendige im Unterschied zum Unbelebten immer auch als übersummative Ganzheit und nie nur als räumlich konturierte Gestalt wahrgenommen wird.168 Diese Unterscheidung kann er allerdings nur deshalb vornehmen, weil der Ausgangspunkt 164 G. Manteuffel, B. Puppe, „Ist die Beurteilung der subjektiven Befindlich keit von Tieren möglich? Eine kritische Analyse aus naturwissenschaftlicher Sicht“, in: Archiv Tierzucht, 40(2)/1997, S. 109-121, hier S. 116. 165 Ebd. 166 Ebd., S. 109. 167 Ebd., S. 112. 168 Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin, New York 1975, S. 81 ff.
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seiner theoretischen Arbeit ein anderer ist als in der methodologisch-methodischen Entwicklungsgeschichte der Tierforschung. Plessners Ausgangspunkt ist das empirisch Wahrnehmbare; er setzt am Phänomen an, „wie es im vorproblematischen Leben da ist“.169 Vor dem Hintergrund der mentalistischen Deutungen tierlichen Verhaltens in der Naturgeschichtsschreibung und in späteren Jahren aus Argwohn gegenüber der Tierpsychologie, bildete dagegen die „fundamental isolation of the individual mind“170 den wesentlichen theoretisch-analytischen Ausgangspunkt der Tierforschung. Auf diesem aufbauend wurde das empirisch Wahrnehmbare auf die Physis als einzig mögliche Erfahrung begrenzt und das Verhalten nach den Vorgaben des cartesianischen Erfahrungsdualismus in Innen und Außen analytisch unterschieden. Welche phänomenalen und theoretischen Komplikationen diese Auffassung des Verhaltens als rein physio-physikalisches Geschehen in Raum und Zeit für die moderne Tierforschung birgt, wird daran deutlich, dass Tinbergen, als er das Verhalten als Muskelkontraktion bestimmte, genau genommen den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht hat. Unter seiner methodologischen Prämisse wird überhaupt nicht einsehbar, wie er überhaupt auf die Idee kommen konnte, er habe es mit den Muskelkontraktionen eines Lebewesens zu tun, wenn er nicht zuvor auf die gewöhnliche Erfahrung einer übersummativen Ganzheit zurückgegriffen hat. Plausibilität konnte diese Auffassung allein dadurch erlangen, dass Tinbergen als Kind seiner Zeit das Lebewesen als physiologischen Mechanismus konzipierte und die Subjektivität des Tieres konsequent aus seiner Konzeption ausklammerte. Wenn die Bestimmung dieser Subjektivität allerdings den Forschungsauftrag bildet, wie es in Teilen der Tierschutzforschung der Fall ist, dann geht kein Weg daran vorbei, sich auch die Frage zu stellen, was einen Stein von einem Schwein, phänomenologisch, d. h. in diesem Fall vor allem jenseits seiner räumlich messbaren Eigenschaften unterscheidet. In der Tierschutzforschung ist mit der qualitativen Verhaltensforschung ein erster Ansatz entwickelt worden, die Gegenüberstellung von methodologischer Erfahrung der Tierforschung und gewöhnlicher Erfahrung der Lebenswelt herauszufordern. Es kann sich dabei jedoch nur um den Anfang einer methodologischen Dis169 H. Plessner, F. J. J. Buytendijk, „Die Deutung“, S. 76. 170 C. L. Morgan, „On the study“, S. 175; darüber hinaus G. J. Romanes, Animal Intelligence, S. 1; N. Tinbergen, „PANEL four: the Evolution of Mind“, S. 185.
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kussion handeln, in der die objektive Verhaltensforschung nicht an der Behauptung der Alternativlosigkeit ihrer Perspektive festhalten darf und in der die qualitative Verhaltensforschung ihren Gegenstandsbezug positiv darlegen muss. Auf diese Weise könnte die Möglichkeit entstehen, dass sich die methodologische Erfahrung der Tierforschung und die gewöhnliche Erfahrung der Lebenswelt nicht ausschließend gegenüberstehen, sondern sich gegenseitig bereichern.
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Das Subjekt steht im cartesianischen Erkenntnisdualismus seinen Objekten bekanntlich streng getrennt gegenüber. Als Erkennendes nimmt es die Position eines Vorrangigen, Ersten ein, das zum Maß aller Dinge wird. Nicht das Objekt, sondern das Subjekt, Descartes’ hyperbolischem Zweifel folgend, steht am Anfang jeder Erkenntnis. Epistemologisch konstituiert das Subjekt dabei die Dinge durch seine Erkenntnis und greift auf eine Welt zu, die in sich abgeschlossen, wenn auch nicht durch und durch, so doch zumindest hinreichend erschöpfend und verbindlich zu entschlüsseln ist. Nichts ist danach im Objekt, das das Subjekt nicht irgendwann erkennen könne. Implizit ist dieser philosophischen Position ein epistemologisch stabiles Erkenntnisobjekt. Bereits in der quantenphysikalischen Forschung der frühen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts stellte sich allerdings empirisch die Einsicht ein, dass die einzelnen Teile eines Versuchsaufbaus – Apparate, Materialbeschaffenheit, Beobachtungsinstrumente, etc. – einen wesentlichen Einfluss auf die Ergebnisse der Experimente haben, indem sie auf die physikalische Struktur der zu untersuchenden Phänomene und Gegenstände einwirken und diese verändern.1 Der Sozialkonstruktivismus und insbesondere die feministische Wissenschaftskritik der 1980er Jahre2 hat diese Erkenntnis auf die Konstruktionsleistung der Forschenden überhaupt übertragen und geht davon aus, dass Forschungsergebnisse durch subjektive Vorannahmen, eigene Interessen, gesellschaftliche Bedingungen und solche des Wissenschaftssystems vorstrukturiert sind.3 Die damit einhergehende epistemologische Instabilität bleibt W. Heisenberg, Das Naturbild der heutigen Physik, Hamburg 1955; vgl. auch U. v. Winterfeld, Naturpatriarchen: Geburt und Dilemma der Naturbeherrschung bei geistigen Vätern der Neuzeit, München 2006, S. 17 f. 2 Zur feministischen Wissenschaftskritik siehe auch den Beitrag von Böhnert und Kranke in diesem Band. 3 Z. B. K. Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis: Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1984; D. Haraway, „Situated knowledges: 1
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jedoch durchgehend bezogen auf den Erkenntnisobjekten äußerlichen Bedingungen der Erkenntnisproduktion. In der heutigen Verhaltensforschung an nicht-menschlichen Tieren springt solche Instabilität auf das Objekt über. Wendet man sich ihr mit der Erwartung zu, Verbindliches und Eindeutiges über speziestypische Lebens- und Verhaltensweisen von Tieren zu erfahren, wird man enttäuscht. Stattdessen rücken im ethologischen Diskurs gruppenspezifische Fähigkeiten, singuläre Vorlieben und eigenwillige Idiosynkrasien von Tieren in den Vordergrund. Die Annahme von feststehenden Größen, etwa von individuell oder speziestypisch konstantem Verhalten, rückt dagegen immer mehr in den Hintergrund. Große Tümmler informieren sich gegenseitig über die An- und Abwesenheit einzelner Mitglieder ihrer sozialen Verbände durch individuell von diesen entwickelte und jenen referenzierte Pfeifsignaturen.4 Die Erinnerung an Pfeifsignaturen von Weggefährtinnen kann sogar für bis zu 20 Jahre nachgewiesen werden.5 Angedeutet ist damit ebenso die Möglichkeit des Vergessens. Selbst das Verhalten von Insekten, „often regarded as highly stereotyped and under tight control of genetically programmed neural circuits“,6 erweist sich als hochgradig flexibel. Hautflügler der Ordnung Hymenoptera lernen Geruch, Farbe und Form von Blüten durch Erfahrung und bilden entsprechend ihre individuellen Repertoires aus. Schwertwal-Populationen entwickeln verschiedene Jagdtechniken, die von Einzelnen auf andere Gruppenmitglieder und Neugeborene übergehen, sodass sich lokale Jagdkolorite ergeben.7 Wie dies ethologisch zu bewerten ist, wie also diese Fähigkeiten und Kenntnisse erworben werden, ob durch Nachahmung, The science question in feminism and the privilege of partial perspective“, in: Feminist studies, 14(3)/1988, S. 575-599. 4 S. L. King, V. M. Janik, „Bottlenose dolphins can use learned vocal labels to address each other“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 110(32)/2013, S. 13216-13221. 5 J. N. Bruck, „Decades-long social memory in bottlenose dolphins“, in: Proceed ings of the Royal Society B: Biological sciences, 280(1768)/2013, doi: 10.1098/ rspb.2013.1726. 6 M. Hammer, R. Menzel, „Learning and memory in the honeybee“, in: The journal of neuroscience: The official journal of the Society for Neuroscience, 15(3)/1995, S. 1617-1630, hier S. 1617. Zu den Debatten um die kognitiven Leis tungen von Bienen vgl. auch den Beitrag von Menzel in Band 1 der Philosophie der Tierforschung. 7 I. N. Visser et al, „Antarctic peninsula killer whales (Orcinus orca) hunt seals and a penguin on floating ice“, in: Marine mammal science, 24(1)/2008, S. 225-234.
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assoziatives oder kognitives Lernen, Habituation oder etwa Reflexion, ist dabei umstritten.8 Unabhängig von der qualitativen Ursache dieser Prozesse deutet die damit verbundene Variabilität, individuelle Plastizität und Versatilität tierlichen Verhaltens jedoch auf eine (biographische) Instabilität der Forschungsobjekte selbst hin. Mit den Möglichkeiten sich abzugrenzen, zu lernen und zu vergessen, geht die Potenzialität einher, anders zu werden. Aus den Tieren selbst heraus wirksam, scheint epistemische Instabilität als ein den Erkenntnisobjekten intrinsisches Moment auf. Dies hat Folgen für die Stellung des Subjekts im Erkenntnisprozess, wie sie die Feldforschung zu sozialen Dynamiken von Primaten verdeutlicht. Ihre eigene Position als Erkenntnissubjekt in der Erforschung von Pavianen in Kenia reflektierend, weist die Primatologin Barbara Smuts auf die disruptive Wirkung ihrer Versuche hin, sich entsprechend der methodischen Ideale ihrer naturwissenschaftlichen Ausbildung im Forschungsprozess als Beobachterin durch alle Mechanismen der Neutralisierung und Zurückhaltung quasi unsichtbar zu machen. Anstatt ihre Forschungsobjekte durch diese Versuche jedoch langsam an ihre Anwesenheit zu gewöhnen, um so einen geeigneten Platz zur unbeteiligten Beobachtung von deren Sozialverhalten einzunehmen, provozierte ihre hölzerne Anwesenheit nur umso mehr Irritationen bei den Pavianen. Anstatt einen von ihrer Gegenwart möglichst unverfälschten Eindruck des Verhaltens zu erhalten, war es gerade die versucht teilnahmslose Eingliederung in das soziale Gefüge, mit der sie die Beziehungen störte und die Paviane aus der Ruhe brachte. Erst als sie begann, die sozialen Zeichen ihrer Forschungsobjekte zu registrieren und entsprechend auf sie zu reagieren, kehrte die Gruppe zu einem ungestörten Verhalten zurück.9 Dabei stellt die soziale Anteilnahme der Forscherin ein Mittel zur Erkenntnis dar, das zudem eine Verbesserung der Beobachtungsstrategie in Form pavian-spezifischer sozialer Interaktion ermöglicht. Notwendig war hierzu allerdings die Dezentralisierung des menschlichen Forscherinsubjekts durch 8
9
Vgl. etwa die Kontroverse zwischen den Verhaltensforschern Michael Tomasello und Christophe Boesch. (M. Wunsch, „Was macht menschliches Denken einzig artig?“, in: G. Hartung, M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie: Jahrbuch 3/2015: Religion und Ritual, Wiesbaden 2016, S. 259-288.) Zur Aus einandersetzung mit einer cartesianischen Perspektive in den vergleichenden Ver haltens- und Kognitionsstudien siehe auch den Beitrag von Boesch in diesem Band. B. Smuts, „Encounters with animal minds“, in: Journal of consciousness studies, 8(5/7)/2001, S. 293-309.
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Angleichung an die sozialen Verhaltensmuster ihres Gegenübers.10 Verwiesen ist mit solch einer ethologischen Perspektive außerdem auf Grenzen in der Aneignung des Objekts durch das Subjekt, die sowohl den Erkenntnisprozess als auch das Erkenntnissubjekt affizieren. Das Erkenntnisobjekt selbst nimmt Einfluss auf die Erkenntnis, die damit zu einem Prozess der Aushandlung wird. Erst als Smuts ihre Anwesenheit den Affen gegenüber explizit macht, kommt sie zu fruchtbaren Beobachtungen. Eine von ihren Objekten unabhängige Positionierung der Forschenden verliert damit jegliche Legitimation. Ganz im Gegenteil erweist Erkenntnis selber sich als ein von ihren Objekten mit vermittelter Prozess. Diesem Umstand versuchen die Wissenschaftsforschung der letzten Jahre und insbesondere die Human-Animal Studies mit ihrer Neuevaluation von Tieren Rechnung zu tragen. Dabei lässt sich der einflussreiche Trend verzeichnen, die Kategorien von Subjekt und Objekt zur Analyse von Erkenntnisvorgängen grundsätzlich zurückzuweisen. Die Konzepte werden als menschliche Herrschaftsinstrumente zur epistemologischen Kontrolle von nichtmenschlichen Entitäten und deren Einfluss auf Erkenntnisprozesse identifiziert, indem sie Aktivität in der Wissensproduktion allein dem Menschen vorbehalten und nicht-menschliche Entitäten als passiv festschreiben. Um solcher Unwucht cartesianisch-dualistischer Ordnung etwas entgegenzusetzen, wird stattdessen die Betrachtung von Erkenntnisprozessen und die Produktion von Wissen als Netzwerk (ANT, Latour und andere) oder durch Knotenpunkte (Haraway) menschlicher und nicht-menschlicher, lebendiger und nicht-lebendiger, organischer und anorganischer Akteurinnen neu strukturiert und gedacht. Indem nicht-menschliche Entitäten als Co-Konstituenten in der Erkenntnis Berücksichtigung finden, werde nicht nur die Wissensproduktion empirisch treffender beschrieben, sondern auch der zur Bedrohung gewordenen menschlichen Zurichtung der Welt Einhalt geboten. Das Leben der Schimpansin Washoe, die in Reno, NV, in den 1960er Jahren Teil von Experimenten zur Erforschung der Fähigkeit von Primaten war, menschliche Sprache zu erlernen, dient im Folgenden sowohl zur Überprüfung solcher Kritik am Dualismus als auch zur Untersuchung der Stellung von Subjekt und Objekt im Erkenntnisvorgang. Im Vergleich zu den Freilandbeobachtungen von Smuts nimmt Washoe dabei als Erkenntnisobjekt eine Sonderstellung ein: Nicht nur soll, wie im 10 D. Haraway, When species meet, Minneapolis 2008, S. 23-25.
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Falle Smuts, der Einfluss auf das Erkenntnisobjekt durch die Haltung des menschlichen Subjekts erkenntnispraktisch minimiert werden, sondern die Aneignung einer neuen Fähigkeit soll künstlich im Kontext eines Versuchslabors durch gezieltes Einwirken provoziert oder doch mindestens stimuliert werden. Hier soll eine Reaktion des tierlichen Gegenübers geradezu erzwungen und nicht abgemildert werden. Dabei ist es eben der bewusste und gezielte Eingriff der menschlichen Forschenden in ihrer Interaktion mit Washoe, der das Schema des cartesianischen Dualismus in Bewegung bringt. Anhand der Wissenschaftskonzeption Bruno Latours wird in den ersten beiden Teilen der folgenden Darstellung vor dem Hintergrund der sprachprimatologischen Untersuchungen mit Washoe zunächst die Abwendung vom Subjekt-Objekt-Verhältnis einer kritischen Evaluation unterzogen. Der dritte und abschließende Teil versucht sich daraufhin im Verhältnis zu Washoe an einer Vermittlung der Position des Subjekts unter Einbezug der Konzeption einer negativen Dialektik im Sinne Theodor Adornos.
1. Im Netzwerk primatologischer Sprachforschung Nicht zuletzt in den Human-Animal Studies hat sich als Ausweg aus dem cartesianischen Erkenntnisdualismus die Rede von AkteursNetzwerken etabliert, die der Agency der Erkenntnisgegenstände Rechnung tragen soll. Kein anderer ist damit so sehr verbunden wie Bruno Latour. Mit seinem breit angelegten Forschungsprogramm will Latour den Dualismus nicht nur ablösen, sondern als Fiktion erklären. Er stützt dieses Vorhaben auf die Ergebnisse seiner empirisch-ethnographischen Wissenschaftsforschung. Angelehnt an die Bibelexegese legen diese Untersuchungen eine exegetische Dimension von wissenschaftlicher Praxis frei, die laut Latour die Grundlage für den Objektivitätsanspruch von Wissenschaft (rechtmäßig) bereitstelle.11 Damit beansprucht Latour sowohl die Einflussnahme und Konstruktionsleistung nicht-menschlicher Akteure auf den Erkenntnisprozess freigelegt zu haben, als auch eine Methode gewonnen zu haben, der eine objektive Produktion von Wissen und eine
11 Vgl. B. Latour, Science in action: How to follow scientists and engineers through society, Cambridge (Mass.) 1987.
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wahrheitsgemäße Beschreibung ihrer Objekte gelinge.12 Ihr Drehund Angelpunkt liegt gleichwohl nicht in der erfolgreichen Entschlüsselung eines Objekts durch ein Subjekt, sondern in der Einsicht, dass der wissenschaftliche Erkenntnisprozess die an seinem Ende erkannten Tatsachen in einer kollektiven Anstrengung erst hervorbringe: Anstatt auf eine Dichotomie von Erkennendem und Erkanntem zurückzugehen, werde gemeinsam durch menschliche und nicht-menschliche Akteure erst produziert, was am Ende wissenschaftlicher Arbeit als erkanntes Phänomen Gestalt annimmt. Das primatologische Sprachlabor der Psychologinnen Allen und Beatrix Gardner scheint Latours Analyse wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse zu bestätigen. 1966 bezog die Babyschimpansin Washoe einen eigens für sie ausgestatteten Wohnwagen im Garten der Gardners in einem Vorort von Reno am Rande der Wüste Nevadas. Um herauszufinden, ob Washoe in der Lage sei, sich menschliche Sprache anzueignen und zu verwenden, wurde die Schimpansin über die nächsten vier Jahre unter Bedingungen aufgezogen, die vergleichbar mit denen eines menschlichen Kleinkindes waren. Ähnliche Projekte zur Erforschung der Sprachfähigkeit von Schimpansinnen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts waren an dem Versuch gescheitert, an Tieren die Fähigkeit zu menschlicher Lautsprache nachzuweisen. Auf die Probleme und Einsichten dieser Vorläuferstudien reagierten die Gardners, indem sie der primatologischen Sprachforschung einen neuen methodischen Impuls gaben und zur American Sign Language (ASL) als Kommunikationsmedium wechselten. Ziel ihrer Studie war dabei, nicht lediglich zu untersuchen, ob Washoe lernen könne, spezifische Zeichen zu übernehmen und sie Objekten zuzuordnen; dies wäre nicht mehr als der vielbeschworene, in die ethologische Forschung übertragene, Zirkustrick. „We wanted Washoe not only to ask for objects but to answer questions about them and also to ask us questions. We wanted to develop behavior that could be described as conversation.“13 Um sicherzustellen, dass ein möglicher Misserfolg des Ansatzes nicht darauf zurückginge, dass ihr Versuchsobjekt eventuell ein 12 B. Latour, „Coming out as a philosopher“, in: Social studies of science, 40(4)/2010, S. 599-608, hier insb. S. 601 f.; vgl. auch T. Schlechtriemen, „Akteursgewimmel. Hybride, Netzwerke und Existenzweisen bei Bruno Latour“, in: U. Bröckling et al. (Hrsg.), Das Andere der Ordnung: Theorien des Exzeptionellen, Weilerswist 2015, S. 149-168. 13 R. A. Gardner, B. T. Gardner, „Teaching sign language to a chimpanzee“, in: Science, 165(3894)/1969, S. 664-672, hier S. 665.
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kritisches Alter für die Aneignung der Sprachfähigkeit verpasst hat, legten die Gardners Wert darauf, ein möglichst junges Tier für ihr Projekt zu beschaffen. In Laboren gezüchtet waren Neugeborene schwer zu beziehen, und das jüngste Tier, das sie fanden, war bereits zwei Jahre alt. Als Konsequenz wichen sie auf einen in Freiheit gefangenen Säugling aus. Bei diesem wiederum war das genaue Alter aufgrund der aufwendigen Transport- und Importbestimmungen nur schwer zu bestimmen. Washoe sei vermutlich zwischen 8 und 14 Monaten alt gewesen, als sie über die Zwischenstation eines medizinischen Forschungslabors des US-Militärs in New Mexico in Reno eintraf. In jedem Fall war sie so jung, „[that] apart from making friends with her and adapting her to the daily routine, we could accomplish little during the first few months.“14 Das Umfeld, das für die geplante Untersuchung geschaffen wurde, war durch eine Vielzahl von Spielen und Aktivitäten auf eine intensive, anregende und vielfältige Interaktion zwischen Washoe und ihren menschlichen Begleiterinnen ausgelegt, die ein freundschaftliches Verhältnis zu ihr einnehmen sollten. Während Washoes Wachphasen leistete ihr durchgehend wenigstens eine Person Gesellschaft. Jegliche Kommunikation mit und in Anwesenheit von Washoe erfolgte durch den bewusst extensivierten Einsatz von ASL. Versuche zur Kommunikation in englischer Lautsprache unterblieben völlig, um die Übernahme der Zeichensprache nicht zu behindern, ohne dabei jedoch gänzlich auf Laute in der Interaktion zu verzichten. „The human beings can vocalize in many ways, laughing and making sounds of pleasure and displeasure. […] The rule is that all meaningful sounds, whether vocalized or not, must be sounds that a chimpanzee can imitate.“15 Das eigentliche Erlernen der Zeichen erfolgte in dieser experi mentellen Anordnung, indem Washoe die Gesten bereitwillig imi tierte und hierüber einübte, unterstützt durch verschiedene Aktivitäten der Wiederholung und Bestätigung, ähnlich wie dies im Verhältnis zu einem menschlichen Kleinkind der Fall ist.16 „Routine activities – feeding, dressing, bathing, and so on – have been highly ritualized, with appropriate signs figuring prominently in the rituals. Many games have been invented which can be accompanied by appropriate signs. Objects and activities have been named as often as 14 Ebd. 15 Ebd., S. 666. 16 Ebd., S. 665.
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possible, especially when Washoe seemed to be paying particular attention to them. New objects and new examples of familiar objects, including pictures, have been continually brought to her attention, together with the appropriate signs.“17 Washoes inhaltliche Verwendung der Zeichen wurde dabei ebenso bestätigt, korrigiert und aktiv ermutigt wie ihre Gesten, etwa über das Formen von Washoes Händen durch ihre menschlichen Tutorinnen. Die Feststellung der Aneignung von neuen Wörtern durch Washoe erfolgte in einem mehrstufigen Verfahren. Bestätigten drei unterschiedliche Beobachter die Verwendung eines Zeichens, wurde es zu einer Kontrollliste hinzugefügt, „in which its occurence, form, context, and the kind of prompting required were recorded.“18 Täglich wurden zwei solcher Listen ausgefüllt. Erst wenn Washoe ein Zeichen über einen Zeitraum von 15 aufeinanderfolgenden Tagen pro Tag jeweils einmal angemessen und einmal spontan verwendet hatte, galt es als angeeignet.19 Auf diese Weise hatte sie 132 Zeichen zum Ende der Studie im Herbst 1970 erlernt und war in der Lage, verlässlich auf Reaktionen erfordernde W-Fragen (wie, was, wann, warum, wo, wer, wozu) zu antworten. So bestätigte sich für die Gardners, dass Washoe die Zeichen verstanden habe, ihre Bedürfnisse ausdrückte, deren Befriedigung einforderte und insofern mit ihren Betreuerinnen kommunizierte.20 Diese und ähnliche sprach-primatologische Ergebnisse sind in der zugehörigen Fachdisziplin freilich hochgradig umstritten. Ein Großteil der wissenschaftlichen Kontroversen dreht sich dabei um die Qualitäten des Erlernens und des Erlernten, häufig im Vergleich zur Sprachaneignung von Kindern, und davon ausgehend um Fragen potenzieller Eigenschaften und Formen geistiger Fähigkeiten bei nicht-menschlichen Tieren, der Evolution von Sprache sowie um Grundpositionen zur so genannten anthropologischen Differenz. Herbert Terrace bezweifelte bekanntermaßen schon früh, dass der Erwerb distinkter Zeichen auch bereits einen Nachweis von Washoes Fähigkeit zu deren semantischer Verknüpfung bedeute. Die Diskussion darüber, ob Affen menschlicher Sprache fähig sind oder nicht, und wenn ja, in welchem Maße, ob die Zeichenaneig17 Ebd., S. 667. 18 Ebd., S. 670. 19 Ebd. 20 M. D. Hixson, „Ape language research: A review and behavioral perspective“, in: The analysis of verbal behavior, 15/1998, S. 17-39, hier S. 19 f.
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nung auf höhere kognitive Fähigkeiten der Tiere hindeutet und ob ihre Zeichenverwendung eine Form von Sprache darstellt, hält bis heute unvermindert an.21 Solche linguistischen und neurowissenschaftlichen Kontroversen lassen die Frage nach den Besonderheiten der epistemologischen Konstellationen im Labor der Gardners allerdings gänzlich unberührt. Folgt man Latours Ansatz, dann können in dem gezeichneten Bild der Versuchsanordnung verschiedene Akteure ausgemacht werden, die zu einem Netzwerk zusammengesponnen erst zur „Entdeckung“ von Washoes Sprachfähigkeit führten: das Schimpansenmädchen Washoe, die Gardners, ihre Assistentinnen, die mit Washoe interagierten und das neu angeeignete Vokabular festhielten, die Objekte, an denen Washoe ihre Zeichen erlernte und übte, sowie die Rituale zur Verfestigung der Zeichen, die Kontrolllisten, mit denen die neu erlernten Wörter validiert, aber auch wieder ausradiert werden konnten, und so fort. Geht man noch weiter zurück, dann lassen sich bereits bei der Beschaffung von Washoe Akteure festmachen, die einen Einfluss auf das Netzwerk und seine Erkenntnisproduktion ausübten: der Umstand, dass in Forschungslaboren kein Schimpanse unter zwei Jahren aufzutreiben war etwa; oder die Bedürfnisse einer Babyschimpansin, die das Projekt zunächst in Wartestellung brachten; aber auch die gesetzlichen Bestimmungen und ökonomischen Bedingungen, die die Verschiffung eines Schimpansensäuglings in die Vereinigten Staaten regeln, sowie ihr administratives Zustandekommen, auf das wiederum eine Folge von politischen und diplomatischen Aushandlungsprozessen Einfluss nahmen. Hätte das Experiment etwa nicht zu eindeutigen Befunden geführt, wäre kaum zu bestimmen gewesen, ob Washoe nicht tatsächlich ein für die Sprachaneignung kritisches Alter bereits überschritten hatte, oder ob die Experimente (noch) erfolgreicher verlaufen wären, wenn Washoe unmittelbar nach ihrer Geburt zu den Gardners gekommen wäre. Nicht einmal eine zuverlässige Bestimmung des Alters zur Sprachaneignung wäre möglich gewesen, da die Gardners Washoes Alter auf allgemeine Annahmen über Verschiffungswege und Quarantänezeiten stützten.
21 Vgl. H. Lyn, „Apes and the evolution of language: Taking stock of 40 years of research“, in: T. K. Shackelford, J. Vonk (Hrsg.), The Oxford handbook of comparative evolutionary psychology, Oxford 2012, S. 1-48; kritisch zu Terrace siehe auch M. D. Hixson, „Ape language research“, S. 21 ff.
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Was Latour in seinem Netzwerk-Konzept nun als Agency der Objekte verstanden wissen will, geht an einer Eigendynamik, Selbstständigkeit oder Widerständigkeit der verschiedenen Akteure vorbei. Erst durch das spezifische Zusammentreffen der Akteure innerhalb des Netzwerkes kommt es überhaupt zur Herstellung der zuletzt gewonnenen Erkenntnisse. Nicht steht am Anfang eine zu gewinnende Erkenntnis, die durch Forschung lediglich bestätigt, entdeckt oder „gefunden“ würde, sondern das Wissen wird erst durch den Prozess und sein Zusammenwirken der Akteure erfunden. Hätten die Gardners aufgrund des Zusammenspiels der verschiedenen Akteure in der Beschaffung Washoes ein kritisches Alter für die Sprachaneignung verpasst, dann wäre das vom Netzwerk hergestellte Wissen ein gänzlich anderes gewesen. Wie die Hefe in Latours Studie über Pasteurs Erklärung der Milchsäuregärung22 wird die sprachkompetente Washoe erst durch das Akteurs-Netzwerk im Laufe des Experiments hergestellt, anstatt zu Beginn des Experiments schon vorhanden gewesen zu sein; ebenso, wie es den sprechenden Schimpansen zu Beginn der Studie der Gardners noch nicht gab, gab es auch die Hefe im Ausgang von Pasteurs Experimenten noch nicht. Beide gehen erst aus dem Akteurs-Netzwerk hervor, das die Bedingungen für die Produktion der Erkenntnisse bereitstellt. Wie Pasteur „dem Ferment dazu [verhilft], seine Standfestigkeit zu beweisen, und das Ferment […] Pasteur zu einer seiner vielen Medaillen“23 verhilft, erlaubt das primatologische Netzwerk in einem Renoer Garten, die Sprachforschung an Tieren zu revolutionieren und Washoe zur Sprache zu führen. In solch einem Szenario, so Latour, kommt ein Erkennender, der einem zu Erkennenden gegenübersteht, nun gar nicht erst vor.24 Stattdessen zeige sich das Phänomen der zirkulierenden Referenz oder Referenzketten, nach denen der Erkenntnisprozess eine Abfolge von Übersetzungsleistungen darstellt, die das Objekt der Erkenntnis schrittweise durch seine textliche Repräsentation ersetzen.25 Während dieses Ersetztwerden zunächst wie eine Verarmung der tatsächlichen Erfahrung des Objekts erscheine, würde diese von
22 B. Latour, The pasteurization of France, Cambridge (Mass.) 1988. 23 B. Latour, Die Hoffnung der Pandora: Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 2002, S. 150. 24 J. Tresch, B. Latour, „Existenzweisen der Moderne“, in: Zeitschrift für Ideen geschichte, 7(4)/2013, S. 65-78, hier S. 74. 25 B. Latour, Pandora, S. 36 ff.
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einer Zunahme des Wissens über das Objekt ausgeglichen, die letztendlich eine reichere Erfahrung des Objekts erlaube. Zudem sei zu verzeichnen, dass das Objekt diesen Prozess der Übersetzung sowohl initiiert als auch prägt. Vor allem aber sei das Erkenntnisobjekt durchgehend bei jedem Übersetzungsschritt nur eine Ebene von seiner textlichen, begrifflichen Abstraktion entfernt. Wenngleich damit ein Bruch zwischen dem Erkenntnisgegenstand und seiner Repräsentation bestehe, sei diese Distanz vernachlässigbar, sobald man die Gesamtheit der Übersetzungsschritte in den Blick nimmt. So kann Latour in seinem Forschungsbericht über den Regenwald im brasilianischen Staat Roraima behaupten, dass die Forscherinnen „sich einen Weg durch die Vielfalt der Formen/Materien [bahnen]. Die Reduktion, die Kompression, die Spur, die Kontinuität, die Reversibilität, die Standardisierung, die Kompatibilität mit dem Geschriebenen und der Chiffre, all das zählt unendlich mehr als die bloße adaequatio. Keine Etappe – bis auf eine – ähnelt der vorhergehenden, und doch halte ich am Ende, wenn ich den Expeditionsbericht lese, den Urwald von Boa Vista in meinen Händen, und es spricht ein Text wahrhaftig von der Welt.“26 Obgleich Latour mit diesem Bericht freilich kein tatsächliches Stück des Waldes in seinen Händen hält, repräsentiert die Textprobe aufgrund ihres Entstehungsprozesses und des für Latour bestehenden Faktums, dass seine einzelnen Aussagen jeweils nur einen Grad von seinem Referenzobjekt entfernt seien, für ihn wahrheitsgemäß den Wald von Boa Vista. Der im Forschungsprozess zum Einsatz kommende Pedokomparator – ein hölzerner Rahmen mit einer segmentierten Schublade, in der Bodenproben gesammelt, sortiert und gepflegt werden – stellt für Latour ein Pars pro Toto seiner Behauptung dar. Ist die Vorrichtung unbefüllt sinnfrei, vermehrt sie mit Bodenproben beladen unser Verständnis des Erkenntnisgegenstandes und gewährleistet gleichzeitig eine ständige Prüfbarkeit der Repräsentation, da die in ihr enthaltenen Bodenproben eine kontinuierliche Nähe und Verfügbarkeit für die Prüfung der textlichen Repräsentation sicherstellen würden. Der Forscher „lädt seinen Pedokomparator mit der Bedeutung eines Erdklumpens – er leitet sie ab, er artikuliert sie […]. Was allein zählt, ist die Substitutionsbewegung“,27 die den Erdklumpen durch das Messinstrument Pedokomparator beredt werden lasse. Folglich sind „die 26 Ebd., S. 76. 27 Ebd., S. 64 (Hervorhebung i. Orig.).
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Welt des Sinns und die Welt des Seins […] ein und dieselbe Welt“28 für Latour, da die Dinge ihre symbolischen Repräsentationszeichen im Zusammenwirken miteinander quasi selbst hervorbringen. Damit aber ließen sie sich weder auf das zu repräsentierende Ding noch auf dessen wissenschaftlichen Entdecker zurückführen, sondern nur auf den im Netzwerk sich vollziehenden Werdungsprozess ihrer Bezeichnung.29 Die dementgegen in der neuzeitlichen und modernen Philosophiegeschichte ständig unterstellte unüberbrückbare Distanz zwischen Objekt und Repräsentation sei stattdessen das Resultat einer wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Ignoranz gegenüber den empirischen Forschungsprozessen und ihren Ergebnissen, die die empirischen Resultate entlang der Linie von Subjekt und Objekt und ihrer Derivate Natur und Kultur, Tier und Mensch, Passivität und Aktivität kategorisieren. Damit würde Philosophie allerdings die der Wissenschaft eigenen Praktiken samt ihrer „projects, assemblies, gatherings, that is Dinge“,30 mit denen sie agieren, untergraben, und unsere Fähigkeit zum Wissen oder Nicht-wissen der Welt fälschlicherweise überzeichnen. Subjekt und Objekt seien in diesem Spiel „polemische Entitäten und keine unschuldigen metaphysischen Bewohner der Welt“, während die Distanz zwischen ihnen „dazu gemacht [ist], nicht überwunden werden zu können“.31 Als Konsequenz werden ihm die Begriffe von Subjekt und Objekt nicht nur obsolet, sondern sie versperren gänzlich den Blick auf die tatsächlichen Vorgänge in der Erkenntnis und ihre Gegenstände. Anders als Kritikerinnen behaupten und Verfechter nicht müde werden zu betonen, will Latour also nicht die Relativierung wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse vorantreiben: „Die große Überraschung kam, als ich, ziemlich schmerzlich, lernen mußte, daß das, was ich für eine eher unschuldige Methode gehalten hatte [die Referenzketten, AK], um die Wahrheitsbedingungen der Wissenschaft zu erforschen (genauso wie ich die exegetische Methode positiv verstanden hatte, um die anderen Wahrheitsbedingungen religiöser Äußerungen zu studieren), von meinen Lesern unmittelbar so aufgefaßt wurde, als wollte ich die 28 B. Latour, Nie modern gewesen, S. 172. 29 Vgl. G. Kneer, „Hybridizität, zirkulierende Referenz, Amoderne? Eine Kritik an Bruno Latours Soziologie der Assoziationen“, in: G. Kneer, M. Schroer, E. Schüttpelz (Hrsg.), Bruno Latours Kollektive, Frankfurt a. M. 2008, S. 261-305, hier S. 289-295. 30 B. Latour, „Coming out“, S. 602. 31 B. Latour, Pandora, S. 361 f. (Hervorhebung i. Orig.)
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Ansprüche der wissenschaftlichen Vernunft auf Objektivität als falsch entlarven. […] Ich hielt sie [die Methode, AK] vielmehr, ganz im Gegenteil, für die einzige wirkliche Zugangsweise, die es gab, um Entitäten zu erreichen, die ansonsten unsichtbar, weit entfernt und unzugänglich waren.“32 Ausgehend von Akteurs-Netzwerken und Referenzketten wird das Verhältnis von Erkennendem und Erkanntem, Subjekt und Objekt bei Latour einer Neudeutung unterzogen, in der Wissenschaft zwar objektives Wissen hervorbringt, dieses aber nicht auf die Leistung eines Forscher-Subjekts zurückzuführen ist, das ein Objekt entschlüsselt, sondern auf einen, in einem Netzwerk verschiedener Akteure ablaufenden, gemeinsamen Herstellungsprozess. Werden nun die Empirie-geleiteten Übersetzungsketten wieder sichtbar gemacht, anstatt sich mit theoretischen, epistemologischen Diskursen über wissenschaftliche Ergebnisse zufrieden zu geben, bleibt das Ding der Erkenntnis stets in Sichtweite und im Text gegenwärtig, anstatt den Text als eine exakte Kopie eines Objekts misszuverstehen. Ein wissenschaftliches Vorgehen, das die individuellen Übersetzungsschritte sichtbar hält, würde das tatsächliche, empirische Ding endlich als aktiv teilnehmendes, als Akteurin bzw. Aktantin,33 unserem Wissen unausweichlich einschreiben. Dabei soll durch die gerade auch terminologische Wendung hin zu menschlichen und nicht-menschlichen sozialen Akteuren vermieden werden, bereits vor der Untersuchung festzulegen, „wer oder was Subjekt und Objekt des beobachteten Prozesses ist“.34 Erkenntnis würde dann endlich zu der Wirklichkeit finden, die spätestens seit dem Aufkommen der europäischen Aufklärung immer gegenwärtig war und die einem falschen Humanismus, der sich des Menschseins durch die Gegenüberstellung zu allem Anderen versicherte, geopfert wurde: die Welt als Netzwerk, an dem sowohl menschliche als auch nichtmenschliche Aktanten gemeinsam weben. Wer den umsichtig eingesetzten Prozeduren, Methoden, Technologien, Werkzeugen und Praktiken empirischer Forschung achtsam folgt, der „schlägt eine 32 B. Latour, „Coming out“, S. 601 f. 33 Um die Beschränkung des Begriffs der Akteurin auf Menschliches aufzuheben und auch Nicht-menschlichem Raum in seiner Definition zu gewähren, führt Latour zusätzlich den der Aktantin ein (B. Latour, Pandora, S. 372). Im Weiteren werden beide Begriffe äquivalent verwendet. 34 M. Wieser, Das Netzwerk von Bruno Latour: Die Akteur-Netwerk-Theorie zwischen science & technology studies und poststrukturalistischer Soziologie, Bielefeld 2012, S. 175.
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Brücke, legt einen Steg, zieht eine Verbindungslinie, wirft ein Seil über den Abgrund zwischen Materie und der Form“35 und macht die Dinge als quasi Handelnde wieder sichtbar. Zeitgleich werde mit diesem Perspektivwechsel auf Netzwerke der Wissensproduktion auch das Subjekt zu einem Akteur unter vielen und die Subjekt/ Objekt-Dichotomie samt der ihr eingeschriebenen Herrschaft ausgehebelt.
2. Erkenntnisunwucht Latour hat, das zeigen seine Popularität und die Auseinandersetzungen, die sein Werk und die mit ihm verbundene ANT angestoßen haben, einen historischen Nerv getroffen. Kritik an seinem Hang zu großen Thesen und zur Generalisierung in der Auslegung von Wissenschafts- und Ideengeschichte, aus dem er kaum einen Hehl macht, wenn er die ANT (in selbstkritischer Koketterie) als „monomanisches Prinzip“36 beschreibt, verfehlt dabei den Kern seines Projektes, so berechtigt sie auch sein mag.37 Mitunter nimmt sie sich eher als kleinbürgerliche Empörung eines gekränkten, da sich allmächtig wähnenden, Subjekts aus, anstatt Latours Aussagen an seiner eigenen Programmatik zu messen. Ohne Latours Wissenschaftsprojekt im engeren Sinne den Boden zu entziehen, stellt diese Kritik einen unbeabsichtigten (und ironischen) Beleg seiner Thesen dar. Er kann ihr deshalb zurecht gelassen begegnen. Mit dem Hinweis auf Latours einebnende Gesten trifft der erhobene Einwand gleichwohl eine Ungenauigkeit in der Sache. Die Sprachexperimente mit der Schimpansin Washoe machen diese Blindstelle, die im Nachleben des Projekts der Gardners noch deutlicher hervortritt, im Besonderen sichtbar – und zwar nicht trotz, sondern gerade 35 B. Latour, Pandora, S. 74. 36 J. Tresch, B. Latour, „Existenzweisen der Moderne“, S. 67. 37 M. C. Jacob, „Reflections on Bruno Latour’s version of the seventeenth century“, in: N. Koertge (Hrsg.), A house built on sand: Exposing postmodernist myths about science, New York 1998, S. 240-254; J. A. Schuster, „Bruno’s (no history required) tour of the past“, in: University of Wollongong. Science and Tech nology Analysis Research Programme (Hrsg.), Deconstructing Bruno Latour, Wollongong 1991; A. Wilding, „Naturphilosophie redivivus: On Bruno Latour’s ‚Political Ecology‘“, in: Cosmos and History: The journal of natural and social philosophy, 6(1)/2010, S. 18-32.
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durch ihre artifizielle Herstellung hindurch. Oberflächlich sieht es in der Tat so aus, als stelle Latours These Symmetrie in der Beziehung zwischen den Erkenntnisentitäten her. Anstatt von vornherein Forschende als aktive Erkenntnissubjekte und Gegenstände als passiv erkannte Materialien zu differenzieren, betrachtet Latour das Zustandekommen von Wissen zunächst unvoreingenommener, um die gegenseitigen Wirkungen zwischen den am Erkenntnisprozess beteiligten Entitäten besser in den Blick zu bekommen. Dinge38 regen darin, auf niedrigster Schwelle durch ihre Existenz, den Forschungsprozess an und geben die Parameter der Untersuchung sowie die Ergebnisse durch ihre materielle Anwesenheit, an welcher der Erkenntnisprozess sich abarbeitet, vor. Mehr noch meint Latour mit der Annahme von Referenzketten aufzuzeigen, dass am Zustandekommen des Zeichensystems, in das Wissenschaft empirische Erkenntnisgegenstände transferiert, nicht allein Menschen beteiligt sind, sondern seine Referenzialität von allen beteiligten Dingen im Netzwerk gemeinsam hergestellt und verbürgt wird.39 Washoe tritt demnach als bedeutende Akteurin auf, die in ihrer Vernetzung mit all den anderen Akteurinnen zur wahrheitsgemäßen Repräsentation und Sichtbarmachung tierlicher Sprachfähigkeit beiträgt. Auch die menschlichen Forschenden erscheinen in diesem Prozess symmetrisch als Partnerinnen. Zunächst ist damit jedoch nicht mehr gesagt, als dass wissenschaftliche Erkenntnissuche nicht jenseits der materiellen (und nicht-materiellen) Dinge operieren kann, über die etwas auszusagen oder die zu erforschen sie sich vorgenommen hat, während sich Spuren derselben unweigerlich in jeder Erkenntnis sedimentieren. Latours Annahme besagt jedoch nichts darüber, wie diese Ablagerung vonstattengeht und vor allem nicht, welche Verfügungsmomente Erkennende mitunter aktivieren, um damit der Eigenständigkeit von Dingen Herr zu werden. Der Versuch, die Sedimentation durch das Phänomen der Referenzketten – dem Fundament von Latours Wissenschaftskonzept40 – zu klären, verschleiert solche Momente mehr, als er sie zwischen Subjekt und Objekt meint aufzuheben. In Latours Netzwerken sind Wissenschaftlerinnen nicht mehr besonders als Erkennende ausgezeichnet, sondern sie sind mit und neben anderen Aktanten des Netzwerks Gestaltende und Proto38 B. Latour, „Coming out“, S. 602. 39 G. Kneer, „Hybridizität“, S. 290 f. 40 Ebd., S. 288, Anm. 13.
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kollierende, durch die diese anderen Aktanten zur Repräsentation als Akteure finden. Analysieren und repräsentieren die Forschenden aber die Handlungseffekte von Aktanten, bleiben sie dennoch jene besonderen, koordinierenden und subordinierenden Akteure des Netzwerks, die Eigensinn und Aktivität anderer Glieder der Beziehung auf spezifische Weise attestieren, die Netzwerke kartieren, und die Qualitäten, Effekte und Beziehungen identifizieren. Indem Forschende nun in homogenisierender Absicht als Teil des Netzwerkes ausgewiesen werden, sie aber zugleich als Vermessende sowohl seiner einzelnen Glieder als auch seiner Topographie insgesamt eine ausgezeichnete Bedeutung erlangen, erhält sich die klassische Vorstellung vom Vorrang des Subjektes gegenüber dem Objekt in Latours Konzeption auf doppelte Weise: Einerseits auf der konkreten Ebene fachwissenschaftlicher Sacharbeit zwischen den von Latour betrachteten Forschenden und ihren Untersuchungsgegenständen, sowie andererseits auf der Ebene der Metaanalyse zwischen Latour und seinem Untersuchungsgegenstand, also den Forschenden und deren Netzwerken der Forschung. Der Dualismus von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt verschwindet so keinesfalls mit Latours Intervention aus der Erkenntnisleistung. Stattdessen wird das Subjekt vielmehr unsichtbar.41 Die Latours Expeditionsbericht in den brasilianischen Dschungel analog zu den Bodenproben im Pedokomparator als empirisches Material zur Illustration seiner Rekonstruktion der Übersetzungsketten beigefügten Fotografien lassen dieses sinnfällig werden. Während die anderen Akteurinnen von Latours Netzwerk in den Fotografien zu sehen sind, bleibt Latour selbst als Wissenschaftsforscher abwesend und unsichtbar. Er muss sich selber erst nachträglich in den Bericht hineinschreiben.42 So nivelliert Latour in seiner Umschreibung zwar das Verhältnis zwischen den von ihm beobachteten Wissenschaftlern und ihren Erkenntnisobjekten – seine eigene Position als Wissenschaftsforscher bleibt von dieser Einebnung allerdings ebenso unberührt wie die Übersetzungsleistung der von ihm beobachteten Wissenschaftlerinnen.
41 C. Gransee, „Über Hybridproduktionen und Vermittlungen: Relektüren der kri tischen Theorie im biotechnischen Zeitalter“, in: G. Böhme, A. Manzei (Hrsg.), Kritische Theorie der Technik und der Natur, München 2003, S. 187-197, hier S. 191 f. 42 B. Latour, Pandora, S. 37-93.
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Washoes doppelte Eigenschaft als nicht, wie Pasteurs Hefeferment, schlicht aktivem, sondern zudem mit Bewusstsein ausgestattetem Forschungsobjekt macht unabhängig von der Qualität, die man diesem Bewusstsein zuzuschreiben bereit ist, deutlich, was dabei abhanden kommt. In einer symmetrischen Netzwerk-Analyse des Labors in Reno, entsprechend der Idee Latours, fundiert das zu beschreibende Netzwerk das hybrid von menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten, Washoe unter ihnen, hergestellte Phänomen tierlicher Sprachfähigkeit. Dieses Ergebnis der Netzwerkleistung realisiert sich gleichwohl nur und erst durch Washoe hindurch und in ihr. Die tierliche Sprachfähigkeit ist von ihr nicht abzusondern. Eine derartige Sonder- oder Doppelstellung ist in Latours Netzwerk-Symmetrie aber nicht vorgesehen, und in der Abwendung von der Möglichkeit einer Abwägung eines Subjekt-Objekt-Verhältnisses sogar aktiv unterbunden. Im Netzwerk sind alle gleichermaßen beteiligt an der Herstellung und Repräsentation der Phänomene, wenngleich vermittels je spezifischer Fähigkeiten. Als Folge tritt Washoe als ein Nebenprodukt auf, als Substrat, auf dem die Netzwerkleistung fassbar wird. Die innere, eigene kognitive Leistung Washoes zu würdigen, ist mit Latours Netzwerkuntersuchung hingegen unmöglich geworden. Nicht mehr kann Washoe als sprechende Schimpansin sich selbst hervorgebracht haben, sondern sie wurde als solche durch das Netzwerk hergestellt. Latour würde hier sicher einwenden, eben dieses mit seiner Egalisierung bezweckt zu haben; ebenso wenig wie die Gardners Washoes Fähigkeit zur Sprache allein bestätigt haben, wäre Washoe in der Lage gewesen, alleine Sprachfähigkeit mit Hilfe der ASL zu erlangen. Agency liegt für Latour streng genommen nicht bei den Akteurinnen, sondern bei dem Netzwerk.43 So werde nicht nur einer Privilegierung des Subjekts, sondern auch einer des Objekts vorgesorgt. Washoe zeigt hingegen, wie sie als Akteurin in eben diesem Schritt der Egalisierung ihre Selbstständigkeit und ihr Für-sich-sein, das sich in ihrer eigenständigen Vermittlung der ASL äußert, Preis zu geben hat. Zwar wird sie als sprechendes Artefakt erst hergestellt – gleichwohl ist bei aller notwendigen und künstlichen Unterstützung von außen der eigentliche Vorgang der Transformation in Washoe zu lokalisieren und dann an ihr zu bestimmen. Es ist die Verarbeitung, die 43 E. Schüttpelz, „Der Punkt des Archimedes. Einige Schwierigkeiten des Denkens in Operationsketten“, in: G. Kneer, M. Schroer, E. Schüttpelz (Hrsg.), Bruno Latours Kollektive, Frankfurt a. M. 2008, S. 234-258, hier S. 243.
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in ihr stattfindet, die Washoe die Gesten reproduzieren, sie Gegenständen zuordnen und zur Kommunikation mit anderen einsetzen lässt und an der sie sich so materialisieren und feststellbar werden.44 Nicht zufällig vielleicht ist die ANT insbesondere bezüglich ihres Verhältnisses zu Tieren kritisiert worden – diesen vielleicht spontansten und eigensinnigsten Dingen von allen.45 Mit seinem Schritt weg von der Reflexion, wie die Akteurinnen empirisch verstanden werden (könnten) – sowohl durch die von ihm betrachteten Forschenden als auch von ihm selber – hin zur Beschreibung von Netzwerken, hat das von ihm problematisierte Ungleichgewicht von Erkennendem und Erkanntem Latours Erkenntnisprojekt nie verlassen. Latour gibt lediglich den Anspruch preis, die Akteurinnen in ihrem eigenen Sein zu bestimmen. Wenn er beschreibt, dass sein Projekt darauf hinausläuft, „die Stellung des Objekts zu verändern, um es vom Ding an sich wegzubringen und hin zum Kollektiv zu verschieben, ohne es jedoch der Gesellschaft anzunähern“46 (was auf seine Einverleibung hinausliefe), offenbart sich das bestehen bleibende Subjekt-Objekt-Verhältnis samt seiner Hierarchisierung bereits in der grammatikalischen Konstruktion: Verändert, weggebracht, verschoben wird das Objekt von einem Subjekt. Freilich ist es Latours Anliegen, an dieser Stelle darauf aufmerksam zu machen, dass alles Nicht-menschliche nicht im Sinne der modernen, cartesianischen Epistemologie in sich selbst gefangen voneinander abgeschnitten sei, sondern in einem Netzwerk von wechselseitigen Verhältnissen zueinander stehe. Jede Entität, inklu44 Dies gilt gerade, wenn Callon und Latour die symmetrische Berücksichtigung von nicht-menschlichen Akteurinnen methodologisch verstanden wissen wol len, ist damit doch angedeutet, dass eine empirisch bestehende Asymmetrie nicht beachtet werden solle. (M. Callon, B. Latour, „Don’t throw the baby out with the bath school! A reply to Collins and Yearley“, in: A. Pickering (Hrsg.), Science as practice and culture, Chicago, London 1992, S. 343-368, hier S. 356.) Vielleicht spricht Latour in seinem Beitrag zur Primatologie deswegen auch nie mals eigentlich von den Affen, sondern von der Primatologie und von Schafen. (B. Latour, „A well articulated primatology. Reflexions of a fellow traveller“, in: S. Strum, L. Fedigan (Hrsg.), Primate encounters, Chicago 2000, S. 358-381.) 45 Vgl. z. B. J. Emel, J. Urbanik, „Animal geographies: Exploring the spaces and places of human-animal encounters“, in: M. DeMello (Hrsg.), Teaching the ani mal: Human-animal studies across the disciplines, New York 2010, S. 202-217, hier S. 204 f.; M. Roscher, „Zwischen Wirkungsmacht und Handlungsmacht: So zialgeschichtliche Perspektiven auf tierliche Agency“, in: S. Wirth et al. (Hrsg.), Das Handeln der Tiere: Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies, Bielefeld 2016, S. 43-66. Vgl. auch den Beitrag von Roscher in diesem Band. 46 B. Latour, Nie modern gewesen, S. 111.
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sive das erkennende Subjekt selbst, manifestiere sich, gar nicht so uncartesianisch im Übrigen, in ihren Effekten auf andere, die sich wiederum gegenseitig affizieren, und werde so sichtbar und registrierbar, auch wenn wir nicht in sie hineinzublicken vermögen. Tatsächlich erklärt Latour damit allerdings alle Elemente der Akteure, die unser Wissen oder unsere Wahrnehmung übersteigen, für irrelevant – gleichgültig wie sehr er betont, dass unsere technischen Vorrichtungen zur Analyse der Gegenstände unser Wissen von den Gegenständen erweitern und vertiefen. Er spaltet die Akteure so in einen wahrzunehmenden Teil – die von uns registrierten Effekte, die menschliche wie nicht-menschliche Entitäten in ihren Netzwerken aufeinander ausüben, unabhängig davon, wie sie zustande kommen – und einen nicht registrierbaren Rest – als Differenz zwischen der empirischen, materiellen, historischen Akteurin und ihrer wissenschaftlichen Repräsentation –, um dann eben dieses Mehr als vernachlässigbar zu erklären. Dadurch wird zum einen die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit jeder einzelnen Akteurin auf eine allgemeine Differenz verkürzt. Latours Akteure sind nicht mehr individuell verschieden, sondern die Verschiedenheit wird zum Merkmal ihrer Identität, ohne spezifische Qualifikation ihrer je eigenen Partikularität. Zum anderen werden sie auf die Perspektive der erkennenden Forschenden reduziert, welche die Netzwerke und Akteurinnen zu einer spezifischen Zeit nachzeichnen, sowie auf eben die Effekte, die die im Netzwerk Zusammengeschlossenen an einander entfalten. Damit ist jeder Akteur in Latours Assemblage allerdings nicht mehr als seine (negative wie positive) Funktion und sein Wert für andere. Der Fall Washoe macht dementgegen sichtbar, wie die von Latour als diskursiv hergestellt beklagten Asymmetrien der Erkenntnis wirklich sind, und verdeutlicht, dass sie nicht einfach individuelle Differenzen in symmetrischen Netzwerken sind, die sich in einem gemeinsamen Patchwork durch ihre unterschiedlichen Fähigkeiten komplementieren. Nicht nur webt Washoe mit am Netzwerkprodukt tierlicher Sprachfähigkeit. Sie ist es vielmehr, und nur sie, die sich die Sprache aneignet, wenngleich unter bereitgestellter Hilfe, und ist damit der Erkenntnisproduktion immer voraus. Das verarbeitende Erlernt-sein neuer Vokabeln, im Gegensatz zur schlichten Imitation, wird von den Forscherinnen immer erst erkannt, nach dem Washoe es bereits vollzogen hat. Genau diese spezifische Eigen ständigkeit blendet Latour aus, indem Washoe nicht mehr als zu erkennendes Objekt wahrnehmbar ist, sondern sie in das Akteurs-
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Netzwerk tierlicher Sprachfähigkeit einzureihen ist und ihr Eigensinn damit in den Prozess hinein verlagert wird. Das hergestellte Artefakt Washoe ist im prozessualen Geschehen dann nur insofern relevant, als es als Teil des Netzwerks an der hybriden Herstellung des Phänomens tierlicher Sprachfähigkeit beteiligt ist. Das Ende des Projekts verdeutlicht dies. Vertraut man dem Bericht von Roger Fouts, der seit Abschluss der Untersuchungen mit Washoe zusammen lebte, endete das Vorhaben, als Washoe aufgrund ihres Alters für die Forschenden unkontrollierbar zu werden drohte und die Laborbedingungen zu ihrer Abschottung vor menschlicher Lautsprache nicht mehr gesichert werden konnten.47 Dies wiederholte sich im Folgeprojekt der Gardners, einer 1972 initiierten Studie, die die ursprüngliche Anordnung auf vier Schimpansinnen – Moja, Tatu, Dar und Pili48 – erweiterte, die schrittweise und nur wenige Tage nach ihrer Geburt in das Projekt eintraten. Das gestaffelte Eintreten sollte den jüngeren Tieren erlauben, von den älteren zu lernen. Der Aufbau des Experiments folgte ansonsten der ersten Studie mit Washoe, und lieferte ähnliche Ergebnisse. Zum Zeitpunkt ihrer Umsiedlung hatten die neuen Probandinnen zwischen 122 und 168 Zeichen erlernt.49 Als sie zu groß, unberechenbar und unkontrollierbar wurden, übergaben die Gardners auch sie schrittweise in Fouts Obhut. Dass die Entscheidung, wann die Wissensproduktion in einem Kontext abgeschlossen ist, jedoch bei denen liegt, die die Erkenntnisinteressen definieren, verdeutlicht die Privilegierung der Perspektive eines (des menschlichen) Erkenntnissubjekts vor denen anderer Akteure. Zwar formierten sich im Anschluss weitere Netzwerke, in denen die Wissensproduktion mit Washoe fortgeführt wurde, die sich dann als Verschiebung, Aufbrechen und Neuformieren von Netzwerken beschreiben ließe – eine Anerkennung von Washoes Eigensinn und Einbeziehung ihrer Wandelungen, mitunter eine Anerkennung ihrer ‚Agency‘ stellt das jedoch nicht dar. Interpretation und Bewertung von Washoes Verhalten und auch das anderer Akteure sind vielmehr allein abhängig von deren Wirken auf die Funktionalität des Netzwerks und seines Zweckes, gesetzt durch jene, die es als ein solches aus der Einzigartigkeit empirischer Realität herauszeichnen. Eben in der Abwendung von einem Objekt 47 R. S. Fouts, S. Tukel Mills, Unsere nächsten Verwandten: Von Schimpansen ler nen, was es heisst, ein Mensch zu sein, München 1998, S. 138-143. 48 Pili erkrankte an Leukämie und starb im Laufe des Experiments. 49 M. D. Hixson, „Ape language research“, S. 19.
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hin zu einer Pluralität manifestiert und materialisiert sich jedoch der Hoheitsanspruch des (menschlichen) Erkenntnissubjekts, das die Eigenständigkeit dieses einen Objekts, von dem es absieht, verwirft und sie dem ‚mit anderen‘ unterwirft. Anstatt entsprechend der sich ändernden Bedürfnisse (und Fähigkeiten) Washoes das Netzwerk und seinen Zweck neu zu fassen, sind es die Gardners, die es auflösen, da es den von ihnen gesetzten Sinn nicht mehr erfüllen kann, und Washoes Eigensinn damit ihrem subordinieren. Zwar hat diese Subordination immer auch ihre Grenze in der materiellen Kontrolle der Versuchsbedingungen. Selbst die Feststellung jedoch, in der schwindenden Kontrolle äußere sich Washoes Agency bleibt bezogen auf den von den Gardners gesetzten und beständig im Verlauf des Experiments fortgeschriebenen Sinn und Zweck. Mit Latour ließe sich argumentieren, dass es gerade die moderne Trennung in Subjekt und Objekt sei, die die Gardners blind für die Akteurinnen machte, und dass eine von den Zwängen moderner Epistemologie befreite amoderne Wissenschaft gleichzeitig mehr und weniger Verantwortung bei der Konstitution der Netzwerke würde walten lassen – mehr, weil sie die nicht-menschlichen Akteure ernst nehmen würde, weniger, weil sie sie nicht mehr bevormunden würde. Der Punkt scheint hier jedoch ein anderer zu sein. An Latours Unterstellung, wir seien nie modern gewesen, ist sicher richtig, dass die widerstandslose Unterwerfung des Objekts nie ganz erfolgreich war. Bei aller Missachtung und Gewalt, die dem Objekt durch die Geschichte hindurch widerfahren ist und die in der Moderne zu einer neuen (technischen) Qualität gefunden hat – Latours geforderter Schritt liefert das Objekt dem Subjekt doch nur wieder aufs Neue aus. Tatsächlich beschränkt sich sein Versuch der Herstellung von Symmetrie auf eine Vorstrukturierung des Forschungsgegenstandes und lässt das Verhältnis von Erkennendem und Erkanntem, von Erkenntnissubjekt und -objekt unberührt. In der spezifischen Erkenntnisrolle der Wissenschaftsforscherinnen und ihrem Verhältnis zu den von ihnen untersuchten Netzwerken bleibt die Asymmetrie von Erkennendem und Erkanntem weiter vorherrschend. Und auch in Latours Referenzketten bleibt der Erkenntnisakt eine Vermittlung von Akteuren. Stattdessen entzieht sich das Subjekt mit der Preisgabe der Reflexion der Subjekt-Objekt-Dichotomie der Verantwortung, seine Aneignung des Objektes zu reflektieren, umgeht diese Aneignung aber nicht. In der Tat sind nicht alle in gleicher Weise am Erkenntnisprozess beteiligt, sondern ihre unterschiedlichen Positionen im Netzwerk produzieren Asymmet-
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rien, die durch keine Egalisierung aufzuheben sind. Anders, als dies von den meisten Kritikern bemängelt wird, erweist sich als Problem nicht, dass Latour keine Symmetrie herstellen würde, sondern dass er die Asymmetrie (nicht Differenz!, darauf weist er immer wieder hin) extern symmetrisiert und im Erkenntnisprozess überschreibt, und so Symmetrie letztendlich gewaltvoll gegen die Asymmetrie von Subjekt und Objekt durchsetzt. „So sehr die Radikalität Latours die Probleme der Vermittlung und Verbindung auch deutlich macht – sie selbst scheint sich den Weg zu verstellen, der aus dem vertrackten Labyrinth von sprechenden Menschenwesen und stummer Dingwelt herausführen könnte. Gerade im Blick auf die Vermittlungsprobleme, die immer auch praktische sind, zeigt sich, was Latour in Klärung dieser Frage fehlt: eine theoretische Anstrengung, die bei der Symmetrisierung nicht stehen bleibt, die Vermittlungs-, Übersetzungs- und Delegationsprozesse vielmehr als eine Bewegung begreift, deren reflexive Schleifen die symmetrisch gesetzten Verhältnisse immer wieder aufbricht und von neuem in Frage stellt.“50 Latour stellt diese Frage nicht mehr, sondern er ersetzt sie durch Affirmation empirischer Erkenntnispraktiken, die die Übermacht einzelner Netzwerkakteure in Schach halten sollen. Dabei setzt er voraus, dass die empirische Vermittlung von tatsächlichem, materiellem Objekt und erkanntem Erkenntnisobjekt, wenn nicht einen komplett unvermittelten, so doch einen ausreichend direkten Zugriff auf das Objekt darstellt, während er Momente der Verfügung und Herrschaft über das Objekt in den Verhältnissen von Kultur und Natur tatsächlich verschleiert.51 Hieran ändert auch Latours letztes Projekt An Inquiry into the Modes of Existence (AIME) nichts, das die Arbeit der ANT mit den Referenzketten auf andere Erkenntnisweisen ausweitet.52 Vielmehr scheint sich zu bestätigen, was Max Horkheimer konstatiert: „Auf der Einheit von Natur und Geist bestehen, heißt mit einem ohnmächtigen coup de force aus der gegenwärtigen Situation ausbrechen, anstatt geistig über sie hinauszugehen in Überein50 G. Gamm, „Menschliche und nichtmenschliche Wesen: Zur Wissenschafts- und Technikforschung von Bruno Latour“, in: Rechtshistorisches Journal, 20/2001, S. 136-161, hier S. 152. 51 Vgl. B. Noys, The persistence of the negative: A critique of contemporary conti nental theory, Edinburgh 2012, S. 86. 52 J. Tresch, B. Latour, „Existenzweisen der Moderne“; T. Schlechtriemen, „Akteurs gewimmel“.
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stimmung mit den Möglichkeiten und Tendenzen, die ihr innewohnen […] Die bloße Tendenz, Einheit zu fordern, stellt einen Versuch dar, den Anspruch des Geistes auf totale Herrschaft zu stützen, selbst wenn diese Einheit im Namen des absoluten Gegenteils des Geistes, der Natur, gesetzt wird: denn nichts soll außerhalb des allumfassenden Begriffs verbleiben.“53 Auch Latour entkommt diesem Dilemma nicht. Erkennt er auch die Bedeutung von Dingen für die Realitätsproduktion an, sein epistemologisches Programm fällt doch hinter diese Einsicht zurück.54 So fungiert es viel eher als Verschleierungstaktik. Weder wird die Dichotomie von Subjekt und Objekt von ihm umgangen noch ausgehebelt, sondern zusammen mit dem „Herrschaftsproblem aus der Welt herausgedacht“.55 Latour verspricht, die Welt sowohl der Zurichtung durch das sich überlegen wähnende moderne als auch der Relativierung durch das postmoderne Subjekt, die bei ihm letztendlich derselben erkenntnistheoretischen Überheblichkeit entspringen, zu entreißen. Hierzu erklärt seine „praktische Epistemologie“ oder „empirische Philosophie“ auf der Ebene empirischer Wissenschaft zu verbleiben. Diese nachepistemologische Wende zum nicht-menschlichen Akteur soll die Autonomie eben dieser Akteure versichern.56 Damit entledigt sich Latour allerdings weder des Problems noch bietet er einen nachhaltigen Ausweg als seine Lösung an. Vielmehr liefert sein Erkenntnisprogramm die Rationalisierung der sich den menschlichen Gesellschaften immer deutlicher in Erinnerung drängenden Verbundenheit des menschlichen Subjekts mit und dessen Angewiesenheit auf das ihm Äußerliche (Natur, Materie, Körper, Tier, Ding, Objekt).57 53 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft: Aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende, Frankfurt a. M. 1967, S. 158 f. 54 Vgl. G. Kneer, „Hybridzität“, S. 301. 55 U. v. Winterfeld, Naturpatriarchen, S. 367; vgl. auch L. Zuidervaart, Social philosophy after Adorno, Cambridge, New York 2007, S. 115. 56 Vgl. B. Latour, Pandora, S. 360 ff.; B. Latour, Existenzweisen: Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2014. 57 Zur Auseinandersetzung mit der Kritik an Latour und der kritischen Aneignung und Weiterentwicklung von Latours Ansatz siehe vor allem A. Cordella, M. Shaikh, From epistemology to ontology: Challenging the constructed ‚truth‘ of ANT, Dept. of Information Systems, LSE (https://www.researchgate. net/profile/Anton io_Cordella/publication/301295219_From_Epist emo logy_to_Ontology_Challenging_the_Constructed_Truth_of_ANT/links/ 57109b2908aefb6cadaaad9b.pdf), zuletzt abgerufen am 26.09.2017; G. Har man, Prince of networks: Bruno Latour and metaphysics, Melbourne 2009; G. McOuat, „The latest Latour: Realism and hope in science studies“, in: Canadian journal of history, 36/2001, S. 305-310; L. Lewowicz, „Materialism, symmetry
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Sein Programm geht in der Tat nicht über den Versuch hinaus, den Herrschaftsanspruch des menschlichen Subjekts den historischen, ökologischen Bedingungen anzugleichen, in denen die Grenzen dieser Verfügungsgewalt allerdings unübersehbar werden.58
3. Verselbstständigung des Objekts Entgeht die post-dualistische Kritik der Konstellation von Subjekt und Objekt nicht, dann stellt sich umso drängender die Frage, wie der Verflechtung des Subjekts mit dem Objekt Rechnung getragen werden kann, ohne hinter die in der Tierforschung hervorbrechende Brüchigkeit einer subjektiven Hoheit über den Erkenntnisprozess zurückzufallen. Für Latour sind „die Dialektiker“ freilich „unsere größten Modernisierer“,59 vertieft die Dialektik doch „noch den Graben, der den Subjektpol vom Objektpol trennt, aber da sie ihn zuletzt überwindet und aufhebt, glaubt sie tatsächlich, über Kant hinausgegangen zu sein! Sie spricht nur von Vermittlungen, und doch sind die unzähligen Vermittlungen, mit den sie ihre grandiose Geschichte bevölkert, nur Zwischenglieder, die die reinen ontologischen Qualitäten weiterleiten, sei es den Geist in der rechten Variante, sei es die Materie in der linken. Am Ende steht ein Gegensatzpaar, das niemand mehr versöhnen kann, nämlich der Pol der Natur und der Pol des Geistes; denn gerade ihr Gegensatz wird ‚aufgehoben’, d. h. abgeleugnet.“60 Gleichwohl stellt gerade der ‚Vorzeigedialektiker‘ Adorno sich – im Widerspruch zu verbreiteten Lesarten seiner Philosophie – gegen „das Denken in blanken Alternativen“,61 gegen Dualismen als starre Antithesen und gegen eine absolute Trennung von Erkennendem
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and eliminativism in the latest Latour“, in: Social epistemology, 17(4)/2003, S. 381-400; W. Wheeler, „Bruno Latour: Documenting human and nonhuman associations“, in: G. J. Leckie, L. M. Given, J. Buschman (Hrsg.), Critical theory for library and information science: Exploring the social from across the disci plines, Santa Barbara 2010, S. 189-203. Vgl. hierzu auch die ähnlich gelagerte, wenngleich am soziologischen Gehalt von Latours Werk orientierte Kritik von G. Kneer, „Hybridzität“, hier vor allem S. 301 f. B. Latour, Nie modern gewesen, S. 79. Ebd. T. W. Adorno, Einführung in die Dialektik (1958), Berlin 2010, S. 262.
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und Erkanntem in der Erkenntnistheorie. Vielmehr ist ihm solch ein Bruch Instrument zur Durchsetzung des europäischen Herrschaftsanspruchs über die Welt.62 Latours Urteil über die Dialektik deutet so auf eine verkürzte Rezeption des dialektischen Diskurses hin. So spezifiziert Adorno: „Zwar ist die Trennung, die das Objekt zum Fremden, zu Beherrschenden macht und es aneignet, subjektiv, Resultat ordnender Zurüstung. Nur bringt die Kritik des subjektiven Ursprungs der Trennung [wie sie auch gegenwärtig firmiert, AK] das Getrennte nicht wieder zusammen, nachdem es einmal real sich entzweite.“63 Stattdessen dürfe, um den Stellungen von Subjekt und Objekt gerecht zu werden, „die gewordene Trennung nicht hypostasiert, nicht zur Invarianten verzaubert werden […]. Zwar können sie als getrennte nicht weggedacht werden“64 – Latours, von Michel Serres entlehnte Rede von „Quasi-Objekten“ und „Quasi-Subjekten“ mag exemplifizierend hierfür einstehen65 – „das ψεῦδος der Trennung jedoch äußert sich darin, daß sie wechselseitig durcheinander vermittelt sind, Objekt durch Subjekt, mehr noch und anders Subjekt durch Objekt.“66 Was die post-dualistische Kritik übersieht, ignoriert oder außer Acht lässt, ist das historische Geworden-sein der Trennung von Subjekt und Objekt und der Vernunft überhaupt als Instrument menschlicher Herrschaft über die Natur.67 So sehr Adorno nun aber seinerseits von einer realen Trennung ausgeht, so wenig ist, wie Latour aller Dialektik unterstellt, das Subjekt in Adornos Denken dabei vom Objekt abgeschnitten. Vielmehr ist es auf das Engste mit ihm verbunden, während Vermittlung nicht auf Trennung zielt, sondern Rechenschaft ablegt über die gegenseitige Anteilnahme des Abgesonderten. Auf den ersten Blick stellt Washoe nicht mehr als ein wissenschaftliches Artefakt subjektiver, menschlicher Zurichtung dar. Gerade indem sie eine Sprache künstlich sich aneignen soll, die für Schimpansen unter sich unwirklich bleibt, bricht jedoch das starre 62 Vgl. T. W. Adorno, Ontologie und Dialektik (1960/61), Frankfurt a. M. 2002, S. 109 ff. 63 T. W. Adorno, Negative Dialektik, in: T. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 6, hrsg. von R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1984, S. 7-412, hier S. 177. 64 T. W. Adorno, „Zu Subjekt und Objekt“, in: T. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, hrsg. von R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1977, S. 741-758, S. 742. 65 B. Latour, Nie modern gewesen, S. 71. 66 T. W. Adorno, „Zu Subjekt und Objekt“, S. 742. 67 T. W. Adorno, M. Horkheimer, Dialektik der Aufklärung: Philosophische Frag mente, Frankfurt a. M. 1981.
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cartesianische, einseitige epistemologische Verhältnis von Subjekt und Objekt auf, ohne völlig ineinander zu stürzen. Zweifelsohne sind es die forschenden menschlichen Subjekte, die Washoes Schicksal in der Hand halten. Die Forschungsassistentinnen etwa, die mit ihrer anteilnehmenden und protokollierenden Tätigkeit Washoes Erfolge wie Misserfolge verifizieren.68 Mehr noch die Gardners, die, ermächtigt durch das US-amerikanische Militär, ein Schimpansenmädchen aus dem raumfahrtmedizinischen Labor einer Militärbasis in New Mexico nach Reno überführten,69 um sie schließlich nach Oklahoma zu verschicken. Allerdings bleibt, was untersucht werden soll – ob Washoe in der Lage ist, Sprache sinnhaft zu verwenden – bei aller gezielten Stimulation darauf angewiesen, dass Washoe als Objekt sich selbst, durch subjektive Aneignung und Vermittlung rekonstituiert. In dem Aneignungsprozess werden nun gleichzeitig die Forscherinnen-Subjekte zu Objekten Washoes, an denen sie ihre Gesten studiert, imitiert und die neu erlernten Möglichkeiten zur Kommunikation mit ihrem menschlichen Gegenüber probt und festigt.70 Sowohl Washoe als auch die Forscherinnen treten im Projekt so gleichzeitig als Objekte und Subjekte auf. Dies geschieht einerseits durch die subjektive Leistung Washoes, mit der sie sich die ASL aneignet, und drückt sich andererseits in den Idiosynkrasien ihres Wortschatzes aus. Darüber hinaus bleibt das Subjekt auf beiden Seiten der Speziesgrenze angewiesen auf das jeweilige Objekt, Washoe, indem sie die Gardners und ihre Assistentinnen braucht, um ihr Vokabular zu erweitern, und die Gardners, um überhaupt ihre Hypothesen formen, testen und belegen zu können. Der sprachprimatologische Forschungsprozess selbst erweist sich demnach als Wechselverhältnis, in dem der Erkenntnisprozess von einem aktiven Miteinander der gegenseitigen Auseinandersetzung vorangetrieben wird. Die Zuordnung von Subjekt und Objekt verdoppelt sich darin komplementär, gleichwohl ohne zu verschwinden. Studieren die Forschenden Washoe, ist der Erkenntnisprozess unweigerlich angewiesen auf Washoes gleichzeitiges Studium der 68 So meint Fouts zum Beispiel: „Die neu hinzugekommenen Doktoranden brach ten für das Projekt Washoe weniger Begeisterung auf als Greg [Gausted], Susan [Nichols] und ich.“ (R. S. Fouts, S. Tukel Mills, Unsere nächsten Verwandten, S. 141.) 69 Ebd., S. 61. 70 B. T. Gardner, R. A. Gardner, „Two-way communication with an infant chim panzee“, in: A. M. Schrier, F. Stollnitz (Hrsg.), Behavior of nonhuman primates: Modern research trends, Bd. 4, New York, London 1971, S. 117-184.
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Forschenden. Auch wenn weitere Dinge diesen Prozess ermöglichen und (wie Latour es nennt) „stabilisieren“ – zum Beispiel Washoes Wohnwagen, Dinge, an und mit denen sie ihre Vokabeln lernt, die Spiele, die sie zur Verwendung und Wiederholung der Zeichen animieren sollen, die Kontrolllisten, in denen das Erlernte festgehalten wird – sind für den Fortgang des Forschungsprozesses dennoch die Lernbereitschaft und -fähigkeit Washoes einerseits sowie die Kon trolle des Projekts durch die Forschungsleiterinnen andererseits vorrangig. Adorno entwickelt die sich hier andeutende Verdoppelung von Subjekt und Objekt begrifflich: „Vermöge der Ungleichheit im Begriff der Vermittlung fällt das Subjekt ganz anders ins Objekt als dieses in jenes. Objekt kann nur durch Subjekt gedacht werden, erhält sich aber diesem gegenüber immer als Anderes; Subjekt jedoch ist der eigenen Beschaffenheit nach vorweg auch Objekt. Vom Subjekt ist Objekt nicht einmal als Idee wegzudenken; aber vom Objekt Subjekt. Zum Sinn von Subjektivität rechnet es, auch Objekt zu sein; nicht ebenso zum Sinn von Objektivität, Subjekt zu sein. Das seiende Ich ist Sinnesimplikat noch des logischen ‚Ich denke, das alle meine Vorstellungen soll begleiten können‘, weil es Zeitfolge zur Bedingung seiner Möglichkeit hat und Zeitfolge nur ist als eine von Zeitlichem. Das ‚meine‘ verweist auf ein Subjekt als Objekt unter Objekten, und ohne dies ‚meine‘ wiederum wäre kein ‚Ich denke‘. Der Ausdruck Dasein, synonym mit Subjekt, spielt auf solche Sachverhalte an. Von Objektivität ist hergenommen, daß Subjekt sei; das leiht diesem selber etwas von Objektivität; nicht zufällig mahnt subiectum, das zugrunde Liegende, an eben das, was die Kunstsprache der Philosophie objektiv nannte. Objekt dagegen wird auf Subjektivität erst in der Reflexion auf die Möglichkeit seiner Bestimmung bezogen.“71 Dieser Überlegung folgt, dass so sehr sich das Subjekt auch vom Objekt zu befreien sucht und eine Bestätigung des eigenen Primats als Erkenntnis konstituierend unternimmt, welcher mit Descartes an der Schwelle des Erscheinens des modernen Subjekts in die Epistemologie eingeschrieben wird, so sehr bleibt es doch letztlich auf das Objekt angewiesen, um überhaupt zu sein. Wenngleich so durcheinander vermittelt, dürfen beide dennoch nicht als identisch angenommen werden. Vielmehr reklamiert Adorno in Abkehr vom Primat des Subjekts nunmehr einen Vorrang des Objekts im Er71 T. W. Adorno, Negative Dialektik, S. 184 f.
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kenntnisprozess, der jedoch keinesfalls die Hierarchie zwischen Subjekt und Objekt lediglich umkehrt, um jetzt das Subjekt dem Objekt zu unterwerfen. Betont ist in Adornos Ansatz stattdessen, dass die Erkenntnis, die das Subjekt vom Objekt hat, diesem immer unterlegen ist. Die Validierung von Washoes Vokabular demonstriert dieses anschaulich. Sind die Kontrolllisten ein instrumentelles Mittel, um die Aneignung von Gesten sichtbar zu machen, so stellen sie diese Fähigkeit doch nicht allererst her, sondern attestieren das neue Vokabular immer erst nachdem sich Washoe das neue Zeichen längst angeeignet hat.72 Solch epistemologischer Vorrang des Objekts speist sich laut Adorno aus einer Spannung innerhalb der Erkenntnisobjekte, nach der sie sich empirisch als in sich selbst zwischen Identität und Nichtidentität vermittelt erweisen, und damit nicht schlicht verschieden voneinander, sondern nichtidentisch mit sich selbst sind. Das Objekt ist getrieben von einer Spannung zwischen dem, was sich an ihm von dem unterscheidet, was es gemeinsam hat mit anderen; zwischen dem Allgemeinen und sich Gleichenden – und dem Partikularen und sich Unterscheidenden; zwischen dem Exemplarischen einer Spezies – und der davon abweichenden Individualität. „So scheint ein Nashorn, das stumme Tier, zu sagen: ich bin ein Nashorn.“73 Jedes empirische Nashorn ist immer und unvermeidlich gleichzeitig ein nichtidentisches Individuum, das seiner singulären Individualität in seinem Einzigartig-sein Ausdruck verleiht und das sich an die allgemeinen und typischen Charaktere seiner Spezies, die Pate stehen für unsere Ordnungskategorien, gebunden erweist.74 Abseits von Fragen, ob die Verwendung menschlicher Zeichen von Schimpansinnen als Sprache zu werten ist oder ob die Erforschung der Vermittlung und des Gebrauchs solcher Zeichen etwas über den Ursprung von Sprache als Phänomen auszusagen vermag, manifestiert das Zur-Sprache-finden der sprachprimatologischen Objekte diese Spannung von spezies-typischer Identität und individueller Nichtidentität. Ließ vor den Versuchen der Gardners die vergleichende Sprachforschung mit ihrem Fokus auf die Vokalsprache physiologische Unterschiede und Spezieseigenheiten außer Acht, konnten deren Forschungsexemplare folglich nicht durch 72 Vgl. R. A. Gardner, B. T. Gardner, „Teaching sign language to a chimpanzee“, S. 670. 73 T. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1973, S. 171 f. 74 Vgl. G. Kaiser, Benjamin. Adorno. Zwei Studien, Frankfurt a. M. 1974, S. 138.
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subjektive Vermittlung durch die Aneignung neuer Kommunikationsfähigkeiten aus sich heraustreten. Erst die Berücksichtigung der arteigenen Beschaffenheit erlaubte es Washoe, nun gleichsam gegen die Gemeinsamkeit mit anderen Schimpansinnen, als individuelles Subjekt sich Geltung zu verschaffen. Adornos Nichtidentisches erweist sich so weder als ein Widerspruch eines Individuums zu anderen noch als Inkommensurabilität des mit sich selbst identischen, empirischen Objekts mit dem Begriff, den das Subjekt sich von ihm macht, sondern fasst eine dialektische Spannung und Bewegung innerhalb der Objekte selbst: Das Nichtidentische drückt die Potenzialität von Objekten aus, etwas anderes zu werden, als sie zu einem spezifischen Zeitpunkt und an einem konkreten Ort sind.75 Diese Spannung teilt sich uns in der heutigen Tierforschung mit. Auf die Notwendigkeit, in der Erforschung sozialer Kognition von Primaten die mit dem Aufwachsen von juvenilen Forschungsobjekten verbundene Veränderung der psychologischen Ausstattung zu berücksichtigen, um fehlerhafte Verallgemeinerungen zu vermeiden, ist in der vergleichenden Psychologie bereits hingewiesen worden.76 Die Tragweite der Entwicklungen im Ausgang primatologischer Sprachstudien geht jedoch über die Korrektur von Interpretationsfehlern hinaus. Bleibt Washoe zunächst eine durch die Vormachtstellung und Gewalt des menschlichen Subjekts im Labor hergestellte Anomalie, beginnt die Abnormität mit dem Folgeprojekt der Gardners von Washoe abzubröckeln: auf vier multipliziert, beginnen die neu hinzugekommenen Artefakte zudem, ihre erlernte Fähigkeit, wenngleich rudimentär, auch in der Kommunikation untereinander zu nutzen.77 Darin deutet sich ein Eindringen der angelernten Fähigkeiten in das spezieseigene Verhaltensrepertoire an, das gleichwohl auf den artifiziell konstruierten, abgeschlossenen und unablässig gesicherten Laborraum in einem Renoer Garten be-
75 T. W. Adorno, Einführung in die Dialektik, S. 19 ff.; A. Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung: Zur Rationalität des Nichtidentischen bei Adorno, Frankfurt a. M. 1989, S. 213 ff. 76 Vgl. K. A. Bard, D. A. Leavens, „The Importance of development for comparative primatology“, in: Annual review of anthropology, 43(1)/2014, S. 183-200, hier S. 193. 77 R. A. Gardner, B. T. Gardner, „A cross-fostering laboratory“, in: R. A. Gardner, B. T. Gardner, T. E. van Cantfort (Hrsg.), Teaching sign language to chimpanzees, Albany 1989, S. 1-28, hier S. 24; R. S. Fouts, D. H. Fouts, D. Schoenfeld, „Sign Language Conversational Interaction between Chimpanzees“, in: Sign language studies, 42/1984, S. 1-12, hier S. 5 f.
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schränkt bleibt. In Norman, OK, wo Washoe nach ihrer Zeit bei den Gardners 1970 zusammen mit deren Assistenten Roger Fouts in das Institute for Primate Studies (IPS) einzog, kündigt sich jedoch ein qualitativer Umschlag an. In Reno hatte Washoe ausschließlich Kontakt mit Menschen. Im IPS traf sie hingegen auch auf andere Schimpansen und verbrachte ihre Tage in Gemeinschaft mit vier von ihnen, Thelma, Cindy, Booee und Bruno, auf einer Insel in einem zum Institutsgelände gehörenden See. Keines dieser Tiere im IPS war mit der Zeichensprache ASL vertraut, und laut Fouts kommunizierte Washoe mit ihnen auch unter Zuhilfenahme von unter Schimpansen üblichen Gesten und Lauten. Keineswegs verzichtete sie dabei aber auf die ASL, sondern band sie, sogar bevorzugt, in ihre Kommunikation mit den anderen Schimpansinnen ein: „Wenn Cindy aufgeregt war, forderte Washoe sie mit Gebärden auf: KOMM UMARMEN, KOMM UMARMEN. Cindy hatte keine Ahnung, was das heißen sollte, aber sie begriff die Botschaft, als Washoe sie in den Arm nahm, sie groomte und sie tröstete. […] Booee, Bruno, Thelma und Cindy teilten einander durch die natürlichen Gesten, Gesichtsausdrücke und Laute der Schimpansen mit, was sie wollten. […] Washoe hingegen drückte ihre Botschaften durch explizite Gebärden aus, wie etwa KOMM KITZELN FANGEN. Blieb die Reaktion der anderen aus, wiederholte sie ihre Gebärden sehr langsam und deutlich […] Wurde sie dann immer noch nicht begriffen, teilte sie ihre Botschaft auf dieselbe Weise mit wie die anderen, nämlich durch Laute und Gesten.“78 In dieser Gemengelage, in der die künstlich anerzogene Sprache, die Washoe zu einer Anomalie machte, in die spezies-interne Kommunikation einsickert, beginnt sich die Grenze zwischen dem, was in der gezielten menschlichen Einflussnahme auf ein Tier hergestellt wurde, und dem, was dessen speziestypische Fähigkeit ist, zu verwischen. Stattdessen scheint das Subjekt Washoe die ASL selbstverständlich zu seiner eigenen gemacht zu haben. Bleiben diese Szenen weitgehend anekdotisch, validiert die folgende Genealogie der Projekte der Gardners, die sukzessive von Fouts übernommen, weitergeführt und -entwickelt wurden, die darin aufscheinende kategoriale Instabilität weiter. Fouts hatte seit dem Wegzug aus Reno bereits in weitergehenden Untersuchungen gezeigt, dass die Ergebnisse der Studie mit Washoe mit
78 R. S. Fouts, S. Tukel Mills, Unsere nächsten Verwandten, S. 169 f.
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anderen Schimpansinnen reproduzierbar sind.79 Im Frühjahr 1979 machten Fouts und seine Partnerin Debbie nun Washoe mit dem Schimpansenjungen Loulis bekannt.80 Loulis wurde in Washoes Obhut gegeben, um sie über den Tod ihres eigenen Babys Sequoia hinwegzutrösten und Fouts eingeworbenes Forschungsprojekt zur Erforschung der Frage, ob neugeborene Schimpansen die ASL auch von anderen Schimpansen lernen würden, zu sichern.81 Um feststellen zu können, ob Loulis Zeichen von nicht-menschlichen Zeichengeberinnen übernahm, reduzierten Fouts und seine Forschungs assistentinnen ihr Repertoire an Gesten im Umgang mit Washoe, Loulis und einem weiteren mit Washoe lebenden Schimpansen mit dem Namen Ally82 auf sieben. Bereits nach kurzer Zeit begann Loulis verschiedene Gesten zu verwenden, um seinen Bedürfnissen nach Essen, Zuneigung und Beschäftigung Ausdruck zu verleihen.83 Wenige Monate nach Beginn von Fouts Studie erweiterte sich die Gruppe um die von den Gardners aus ihrem zweiten Projekt ausgegliederte Schimpansin Moja. 1980 schließlich zog Fouts mit Washoe, Moja und Loulis vom IPS an die Central Washington University nach Ellensburg, WA, wo 1981 Tatu und Dar, die zwei noch übrig gebliebenen Schimpansinnen der Gardners, eintrafen. Diese Konstellation ermöglichte es Fouts nun, die Kommunikation der Schimpansinnen untereinander ausgiebig zu studieren. Darin erwies sich, dass alle fünf – Washoe, Moja, Tatu, Dar und Loulis – beträchtlichen Gebrauch von der Zeichensprache machten.84 „For example, in one Feeding/Eating HAI [high arousal interaction, A. K.] Loulis repeatedly signed HURRY to Dar while Dar attempted to 79 Vgl. etwa R. S. Fouts, „Acquisition and testing of gestural signs in four young chimpanzees“, in: Science, 180(4089)/1973, S. 978-980. 80 R. S. Fouts, S. Tukel Mills, Unsere nächsten Verwandten, S. 290 f. 81 Ebd.; zur Geschichte Washoes siehe auch M. D. Hixson, „Ape language research“, S. 18-21. 82 R. S. Fouts, B. Chown, L. Goodin, „Transfer of signed responses in American Sign Language from vocal English stimuli to physical object stimuli by a chimpanzee (Pan)“, in: Learning and Motivation, 7(3)/1976, S. 458-475. 83 R. S. Fouts, A. D. Hirsch, D. H. Fouts, „Cultural transmission of a human lan guage in a chimpanzee mother-infant relationship“, in: H. E. Fitzgerald, J. A. Mullins, P. Gage (Hrsg.), Studies of development in nonhuman primates, New York 1982, S. 159-193; R. S. Fouts, D. H. Fouts, „Loulis in conversation with the cross-fostered chimpanzees“, in: R. A. Gardner, B. T. Gardner, T. E. van Cantfort (Hrsg.), Teaching sign language to chimpanzees, Albany 1989, S. 293-307. 84 R. S. Fouts, D. H. Fouts, D. Schoenfeld, „Conversational interaction between chimpanzees“.
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crack open a coconut. When the coconut was finally cracked open, Dar climbed up to Loulis, Loulis signed HURRY again, and Dar shared a piece of coconut with Loulis.“85 Das Repertoire, das Loulis sich dabei von ihren arteigenen Kommunikationspartnerinnen im Laufe von Fouts Studie aneignete, war mit 51 Zeichen „considerably less than that acquired by the other chimpanzees in the Gardners’ projects, but the acquisition of signs through exposure to the signing of other chimpanzees was an important demonstration that language could be acquired without direct human intervention.“86 Diese Übernahme der Zeichensprache in das soziale Kommunikationsverhalten der Schimpansinnen lässt nun das, was ein Schimpanse ist oder sein soll, nicht unberührt. Zwar wurde das Verhalten in der Beziehung mit Menschen hergestellt. Indem sich jedoch andeutet, dass sich die Tiere diese neue Fähigkeit zu eigen machen, kommt darüber jene Klassifikation, die mit der zoologischen Bestimmung „Schimpanse“ festgeschrieben wird, qualitativ in Bewegung. Unabhängig davon, ob nicht-menschliche Primaten ohne menschliche Kultivierung oder ohne engen und extensiven Kontakt mit Menschen eigenständig neue Vokalisierungen oder Zeichen erfinden würden:87 In der Überführung dieser im Austausch mit Menschen neu eingeführten Kommunikationsfähigkeiten in kontext- und spezies-spezifische soziale Interaktionen und in deren Übernahme durch eine folgende Generation manifestiert sich eben das Potenzial von Erkenntnisobjekten, zu einem Anderen zu werden als sie zu einem historisch konkreten Zeitpunkt sind und ihre kategoriale Bestimmung zu diesem Zeitpunkt erfasst. Bleiben Washoe, Moja, Tatu, Dar und Loulis damit zwar Schimpansinnen, so gehen sie doch gleichwohl nicht mehr in der begrifflichen Definition auf. Dabei handelt es sich nicht einfach um die Entdeckung einer schon immer dagewesenen, bisher lediglich nicht von menschlichen Beobachtenden registrierten oder erkannten Eigenschaft, sondern eben 85 S. N. Cianelli, R. S. Fouts, „Chimpanzee to chimpanzee American Sign Language: Communication during high arousal interactions“, in: Human evolution, 13(34)/1998, S. 147-159, hier S. 153. 86 M. D. Hixson, „Ape language research“, S. 21. 87 Vgl. hierzu etwa L. W. Smith, R. A. Delgado, „Considering the role of social dynamics and positional behavior in gestural communication research“, in: American journal of primatology, 75(9)/2013, S. 891-903, hier S. 892 f.; vgl. des Weiteren kritisch H. Lyn, „Evolution of language“; außerdem V. J. Chalcraft, R. A. Gardner, „Cross-fostered chimpanzees modulate signs of American Sign Language“, in: Gesture, 5(1/2)/2005, S. 107-134.
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Washoe: Das Subjekt in der Tierforschung
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um eine fundamental neue, sich von den beobachteten Tieren angeeignete Fähigkeit. Nistet sich das künstlich provozierte und hergestellte Verhalten im bisher Gegebenen ein, dann deuten Washoe, Tatu, Dar, Loulis und Moja gerade in ihrer gezielt hergestellten Abweichung darauf hin, wie das Objekt in einem historischen Prozess mit seinem Begriff sowie mit sich selbst auseinanderfällt. In dem, was als „Schimpanse“ zu bezeichnen ist, deutet sich damit ein qualitativer Sprung an. Die Kategorie, besser das, worauf sie verweist, wird dadurch vakant und ihr Objekt historisch bewegt. Eine zoologische Erkenntnis, die sich selbst gerecht werden will, hätte diese Bewegung des Objekts anzuerkennen. Adornos negativdialektische Erkenntnisweise stellt sich dieser Herausforderung. Ihr Ziel ist es gleichwohl nicht, eine umfassende und erschöpfende, eine abschließende Bestimmung von Objekten durch die Einführung einer Kategorie des Nichtidentischen vorzunehmen. Vielmehr weist die Nichtidentität im Dasein von Tieren Erkenntnisobjekte als durch und durch historisch bewegt und offen aus. Als solche sind sie niemals endgültig zu fixieren.88 Vorrang des Objekts bedeutet stattdessen „die fortschreitende qualitative Unterscheidung von in sich Vermitteltem, ein Moment in der Dialektik, nicht dieser jenseitig, in ihr aber sich artikulierend.“89 Als Folge der Platzierung der Dialektik nicht nur im Verhältnis von Subjekt und Objekt, wobei dem erkennenden Subjekt in einem dialektischen Abgleichungsprozess des Begriffs mit dem empirischen Objekt lediglich eine immer angemessenere Einverleibung des Objekts in den Begriff in Aussicht stünde, erweist sich der Erkenntnisprozess für Adorno als ein endloses Nachspüren der Spannung zwischen Identität und Nicht identität innerhalb der Objekte, ohne diese in Synthesen aufzulösen. „Erkenntnis, die durch den Vorrang des Objekts des Nichtidentischen eingedenken will, läßt sich mit Adorno auch als eine spezifische Form von Erfahrung auffassen. […] Gemeint ist eine diskursive, d. h. reflexionsgeleitete und reflexionsbestimmte Erfahrung, die aus einer Weise der Aneignung von möglichen Gegenständen der Reflexion gewonnen wird, die das Unauflösliche des Objekts als dessen Freiheit [oder Spontaneität, AK] bewahrt.“90
88 T. W. Adorno, Einführung in die Dialektik, S. 19 ff.; A. Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung, S. 213 ff. 89 T. W. Adorno, Negative Dialektik, S. 185. 90 A. Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung, S. 213.
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Das Subjekt muss gleichsam gegen sich selbst gewandt das hervorheben und vor der Unterordnung unter die Gemeinsamkeiten allgemeiner Begriffe beschützen, was die partikularen Dinge voneinander unterscheidet und einzigartig macht. Anstatt das denkende, erkennende Subjekt als Urbedingung für eine Bestimmung des Objekts zu setzen, habe es sich der Entwicklung und Potenzialität des Objekts anzuvertrauen.91 Entfaltet diese sich in einer Dialektik von Nichtidentität, so hat man sich einem definitiven und positiven Abschluss dieser Dialektik zu widersetzen. Entsprechend strebt Adorno „weder die ununterschiedene Einheit von Subjekt und Objekt noch ihre feindselige Antithetik“92 an. Stellt Latour der Dialektik noch die Möglichkeit einer Versöhnung gänzlich in Abrede, so strebt Adornos negative Dialektik eben diese Versöhnung an, ohne dabei jedoch dem Versuch einer immer falsch gearteten Gleichmacherei zu verfallen. „Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt, so ließe in ihm […] eher die Kommunikation des Unterschiedenen [sich vorstellen]. Dann erst käme der Begriff von Kommunikation, als objektiver, an seine Stelle. Der gegenwärtige ist so schmählich, weil er das Beste, das Potential eines Einverständnisses von Menschen und Dingen, an die Mitteilung zwischen Subjekten nach den Erfordernissen subjektiver Vernunft verrät. An seiner rechten Stelle wäre, auch erkenntnistheoretisch, das Verhältnis von Subjekt und Objekt im verwirklichten Frieden sowohl zwischen den Menschen wie zwischen ihnen und ihrem Anderen. Friede ist der Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander.“93 Das Subjekt ist hier weder ein Isoliertes noch ein, selbst auch nur zeitweise, mit dem Objekt Identisches. Stattdessen erkennt es seine objektive Vermitteltheit und den Vorrang des Objektiven an, ohne es durch beherrschende Zurichtung unter das Einheitsprinzip eines sauber und abschließend definierten Begriffs pressen zu wollen. Erkenntnis käme so als fortwährende Konversation des Subjekts mit dem Objekt zu sich selbst.
91 Ebd., S. 208 ff. 92 T. W. Adorno, „Subjekt und Objekt“, S. 743. 93 Ebd.
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Axel C. Hüntelmann
Mäuse, Menschen, Menagerien Laborchimären und ihre wechselvolle Beziehung im Königlich Preußischen Institut für experimentelle Therapie nach 19001
Ende 1911 oder Anfang 1912 besuchte ein Reporter der New York Times den Lebenswissenschaftler Paul Ehrlich im Königlich Preußischen Institut für experimentelle Therapie (IET) in Frankfurt am Main. Seit über einem Jahr war das von Ehrlich entwickelte Salvarsan im Handel erhältlich, die Heilerfolge bei Syphilis und anderen Spirillosen hatten weltweit Aufmerksamkeit erregt und das Interesse an Ehrlich und seiner Forschung war groß. Der Artikel in der New York Times lockte mit der Überschrift „Solving medical mysteries by help of animals“ und dem Untertitel „Dancing mice of special value in experiments – mules produce anti-toxin for glanders after horses fail – the canary only bird free from malaria – 5,000 Marks spent for mice“. Der Reporter schien fasziniert von Vielfalt der im Institut lebenden Tierarten und er leitete seinen Artikel mit einer Analogie zum Zoo ein: „It is a far cry from a zoo to the realms of science, where the fate of mankind is being settled; yet upon the denizens of the forest the advancement of medical theory and practice depends. […] On the ground floor is a section which resembles a menagerie. Japanese dancing mice whirl round and round in never-ceasing revolution, while common house mice, harvest mice, field mice and other members of the family Muridae, white rats, guinea pigs, rabbits, cats, dogs, calves, cows, horses and mules keep up such an incessant clatter that the solemn apes which decorously blink at the noisy crew occaisionally give vent to guttural grunts of disapprobation. Above all the din can be heard the singing of sweet-voiced canaries which, although used for experimental purposes, continue their melodious warbling. Every inhabitant of this room plays his part in the search
1 Für hilfreiche Kommentare möchte ich den Herausgebern sowie besonders Klaus Cußler, Paul-Ehrlich-Institut, Langen, für die Diskussion einer früheren Vortragsversion danken.
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Axel C. Hüntelmann
for sera and other curative and preventive agents, which will in time do away with human ills.“2 Die Einleitung des Zeitungsartikels ist in mehrerlei Hinsicht aufschlussreich. Erstens hebt der Autor in der New York Times die Bedeutung von Tieren in der lebenswissenschaftlichen Forschung hervor. Zweitens präsentiert der Artikel eine ganze Bandbreite von Tieren, die für Versuche verwendet werden. Die Vielfalt der aufgezählten Tiere im „Laborzoo“ verweist auf mehrere Besonderheiten: Bemerkenswert schien dem Autor, dass für die wissenschaftlichen Arbeiten im IET verschiedene Tierarten notwendig waren, Mäuse und Ratten genauso wie Schweine und Pferde – eine Bandbreite, die durch die Spezifizität der bakteriologischen und immunologischen Forschung notwendig wurde. In der Reihe der aufgezählten Labortiere gibt es jedoch eine Leerstelle: Die Spezies Frosch, als ranae exploratae lange Zeit der „Märtyrer der Wissenschaft“3 in den Laboratorien der Physiologen, hat als Kaltblüter seine Bedeutung als Labortier par excellence eingebüßt. Diese Rolle hat offensichtlich die Maus übernommen, die nicht nur als japanische Tanzmaus, gemeine Hausmaus oder Feldmaus genannt wird, sondern die als Tierfamilie Muridae in Erscheinung tritt. Die Mannigfaltigkeit der für die Versuche verwendeten Tierarten, aber vor allem die Einbeziehung von Haus- und Feldmaus in die Menagerie zeigt, dass sich bislang noch kein standardisiertes Labortier, kein uniformes Versuchstier per se herausgebildet hatte. Diese fehlende Vereinheitlichung oder anders formuliert, die noch bestehende Fülle von Lebewesen unterschiedlicher Artzugehörigkeit macht Ehrlichs IET zu einem aussagekräftigen Exemplum für eine Geschichte der Versuchstiere. Überdies waren die Tiere nicht allein maßgebliche Akteure in den experimentellen Versuchsanordnungen des Instituts, sondern erfüllten eine ganze Reihe weiterer Funktionen auf den verschiedenen fluktuierenden Ebenen der Tier-Mensch-Beziehung. In dem vorliegenden Beitrag werden die Rolle der (Labor-)Tiere und ihre Beziehung zu den Menschen in den Laboratorien des IET und des Georg Speyer-Hauses (GSH) in Frankfurt untersucht. Es wird danach gefragt, was die Tiere und die Menschen an den ge2 3
Vgl. H. A. Metz, „Solving medical mysteries by help of animals“, New York Times, 28.01.1912. Vgl. K. E. Rothschuh, „Laudatio ranae exploratae“, in: Sudhoffs Archiv, 57/1973, S. 231-244; F. L. Holmes, „The Old Matyr of Science. The Frog in Experimental Physiology“, in: Journal of the History of Biology, 26/1993, S. 311-328.
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nannten Orten machten, wie Tiere und Menschen miteinander interagierten und in welcher Weise sich der ontologische Status der Tiere im relationalen Wechselspiel und innerhalb des epistemologischen Prozesses der Wissensproduktion veränderte. Einleitend wird die Labor-Menagerie des IET und des GSH skizziert, um die Geschichte der dort lebenden Labortiere zu historisieren und zu kontextualisieren. Weiterhin werden die einzelnen Labortiere kurz vorgestellt und die methodischen Schwierigkeiten einer Geschichte der Tier-Mensch-Beziehung (im Labor) erörtert. Anschließend wird exemplarisch in einzelnen Episoden die wechselhafte Rolle der Maus in den Laboratorien rekonstruiert, um am Ende die Maus-Mensch-Beziehung und den in ihr zu Tage tretenden ontologischen Status der Maus zusammenfassend zu würdigen. Tier-Heim 1896 wurde in Steglitz (bei Berlin) das Königlich Preußische Institut für Serumforschung und Serumprüfung gegründet. Zum Leiter des Instituts wurde der Lebenswissenschaftler Paul Ehrlich ernannt, ein interdisziplinärer Grenzgänger zwischen Medizin, (Mikro-)Biologie, Pharmakologie und Chemie.4 Bereits drei Jahre später wurde die staatliche Einrichtung nach Frankfurt am Main verlegt und in Königlich Preußisches Institut für experimentelle Therapie (IET) umbenannt. Die Umbenennung brachte eine Verlagerung des Arbeits- und Forschungsschwerpunktes zum Ausdruck: Bis dahin bestand die Hauptaufgabe der im Institut tätigen wissenschaftlichen Mitarbeiter in der Prüfung und Wertbestimmung von Human- und Veterinärseren bzw. allgemeiner von Arzneimitteln und Diagnostika biologischen Ursprungs sowie der Entwicklung und Verbesserung von Methoden zur Prüfung dieser Mittel. Nach der Verlegung und Umbenennung des Instituts erhielt die experimentelle Entwicklung neuer Heilmittel größere Bedeutung. Dieser Forschungsbereich wurde 1906 mit der Gründung des aus privaten Spenden finanzierten GSH verselbständigt, einem chemotherapeutischen For schungsinstitut, in dem chemische Präparate synthetisiert, modifiziert und auf ihre biologischen und therapeutischen Eigenschaften auf Krankheitserreger getestet wurden. Bereits 1901 war das wissen4
Vgl. A. C. Hüntelmann, Paul Ehrlich. Leben, Forschung, Ökonomien, Netzwerke, Göttingen 2011.
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schaftliche Arbeitsfeld um die experimentelle Krebsforschung erweitert worden. Insgesamt umfassten die Arbeitsabläufe und Aufgaben der in Personalunion von Paul Ehrlich geleiteten Einrichtungen verschiedene Forschungsfelder der Lebenswissenschaften wie Krebsforschung, Pharmakologie, Serumprüfung und immunologische Forschung.5 Labor-Zoo Wie in anderen Laboratorien, in denen um 1900 auf dem Gebiet der experimentellen Medizin geforscht wurde und die zumeist an Universitäten angesiedelt waren, finden wir auch im IET und im GSH eine Reihe von gebräuchlichen Versuchstieren aus dem Bereich der Wirbeltiere vor: Mäuse, Ratten, Meerschweinchen und Kaninchen. Für die Krebsforschung wurden zudem auch Hunde – vor allem alte Hunde – verwendet. In seltenen Fällen kamen für chemotherapeutische Versuche auch Affen zum Einsatz. Für experimentelle Arbeiten zu durch Trypanosomen oder Spirochaeten verursachten Erkrankungen oder Spirillosen, wie Mal de Caderas oder die Geflügelspirillose, aber auch für die Verbesserung einer Methode zur Wertbestimmung des Geflügelcholera-Serums wurden in beiden Einrichtungen auch Hühner, Tauben oder die in der New York Times beschriebenen Kanarienvögel gehalten. Darüber hinaus – vor allem zur Erfüllung der eigentlichen Aufgabe der Serumprüfung – lebten im Institut Pferde, Esel, Ziegen, Schafe und andere Nutztiere. Neben den sichtbaren Tieren bevölkerten auch unsichtbare Organismen wie Bakterien, Trypanosomen und andere mikrobiologische Parasiten die Laboratorien, Inkubatoren und Reagenzgläser der Institute. In den Wohn- und Arbeitsräumen lebten die Menschen in enger Lebensgemeinschaft mit Fliegen, Wanzen und anderen Insekten sowie mit Hausmäusen zusammen. Schließlich verbrachte „Männe“, der Dackel der Familie Ehrlich, den Tag im Institut. Morgens begleitete Männe den Direktor in das Institut und abends kehrte er wieder in die Privatwohnung der Familie Ehrlich zurück. 5
Vgl. zur Geschichte der beiden Einrichtungen zuletzt A. C. Hüntelmann, „Eigen artige Sonderstellung in der Welt. Das Königlich Preußische Institut für Expe rimentelle Therapie und das Georg Speyer-Haus im Deutschen Kaiserreich“, in: A. C. Hüntelmann, M. C. Schneider (Hrsg.), Jenseits von Humboldt. Wissen schaft im Staat, 1850–1990, Frankfurt a. M. 2010, S. 189-215.
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Abb. 1: Die Labor-Menagerie – Tier-Mensch-Beziehungen im IET, um 1903
Von den MitarbeiterInnen wurde Männe als Institutsmaskottchen betrachtet und als Familienmitglied. Aus dieser Vielzahl von Tieren und Organismen konzentriert sich der Beitrag auf Labortiere im engeren Sinne, insbesondere auf die Familie Muridae. Chimären und Hybride In den letzten Jahren sind zahlreiche Studien zur Geschichte der Tiere veröffentlicht worden. Doch nur ein vergleichsweise geringer Anteil der Animal Studies beschäftigt sich mit der Geschichte der Versuchs- und Labortiere, wenngleich die Zahl der Veröffentlichungen auch auf diesem Gebiet wächst.6 Die Geschichte von Labortieren bzw. von Tier-Mensch-Beziehungen im Labor wurde vor allem unter der epistemologischen Fragestellung erörtert; es ging vor allem darum, welchen Anteil Versuchstiere als Akteure (oder im Kontext der Actor-Network-Theorie als Aktanten) an der Produktion von Wissen hatten, wobei die Labortiere historiographisch das Schicksal 6
Siehe hierzu den Überblick in A. C. Hüntelmann, „Geschichte des Tierversuchs“, in: R. Borgards (Hrsg.), Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2016, S. 160-173. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Studien, die sich mit der Ethik von Tierversuchen und Animal Welfare beschäftigen. Diese auf die Gegenwart bezogenen und auf politische Veränderung abzielenden Aspekte bleiben sowohl in der Literaturübersicht als auch in diesem Aufsatz unberücksichtigt. Vgl. dazu den Beitrag von Ferrari in Band 2 der Philosophie der Tierforschung.
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anderer, an der Versuchsanordnung beteiligter Objekte teilten.7 In den wissenschaftshistorischen Untersuchungen steht oft nicht das Labortier als eigenständiger Akteur im Vordergrund des Interesses, sondern das Labortier wurde mit Bezug zu einer epistemologischen Fragestellung als Modell bzw. als Modellorganismus untersucht.8 In diesem Kontext wird das Versuchstier oder der Modellorganismus als epistemisches Objekt festgeschrieben, das sich zwar innerhalb der Versuchsanordnung – also im Rahmen der dem Tier zugedachten Rolle – verändert (und verändern soll), wobei durch die beobachtete und indizierte Veränderung Differenz und aus der Differenz Wissen generiert wird, aber das Tier gleicht in seiner statischen Qualität als Versuchstier eher einem lebenden Apparat, den man wie andere Apparate regulieren kann.9 Bezieht man jedoch den sozialen Kontext, alltägliche Praktiken im Labor wie die Pflege und Versorgung der Tiere, kulturelle Zuschreibungen und emotionale Bindungen in der (Versuchs- und Labor-)Tier-Mensch-Beziehung mit ein10 und erweitert diese um eine historisch ontologische Per spektive, so zeigt sich, dass eine Beschreibung des im Labor lebenden 7 Einen weiteren Strang einer Wissens- und Wissenschaftsgeschichte von Tieren stellt die Geschichte der Veterinärmedizin und die Geschichte von Tierkrankhei ten dar, siehe z. B. L. Wilkinson, Animals and Disease. An Introduction to the History of Comparative Medicine, Cambridge 1992; A. Woods, A Manufactured Plague? The History of Food and Mouth Disease in Britain, London 2004; S. R. Schrepfer, P. Scranton (Hrsg.), Industrializing Organisms. Introducing Evolu tionary History, New York 2004; K. Brown, D. Gilfoyle (Hrsg.), Healing the Herds. Disease, Livestock Economies, and the Globalization of Veterinary Medi cine, Athens 2010; sowie die Beiträge in den Studies in History and Philosophy of Science Part C, 38(2)/2007. Im deutschsprachigen Kontext C. Stühring, Der Seuche begegnen. Deutung und Bewältigung von Rinderseuchen im Kurfürs tentum Bayern des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2011; K. Engelken u. a. (Hrsg.), Beten, Impfen, Sammeln. Zur Viehseuchen- und Schädlingsbekämp fung in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2008; D. Hünniger, Die Viehseuche von 1744–52. Deutungen und Herrschaftspraxis in Krisenzeiten, Neumünster 2011. 8 Vgl. beispielsweise R. E. Kohler, Lords of the Fly. Drosophila Genetics and the Experimental Life, Chicago 1994; H.-J. Rheinberger, Epistemologie des Konkre ten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt a. M. 2006; A. N. H. Creager, E. Lunbeck, M. N. Wise (Hrsg.), Science without Laws. Model Sys tems, Cases, Exemplary Narratives, Durham, London 2007; S. de Chadarevian, N. Hopwood (Hrsg.), Models. The Third Dimension of Science, Stanford 2004. 9 Dies kritisiert deutlich B. Latour, „A Textbook Case Revisited – Knowledge as a Mode of Existence“, in: E. J. Hackett u. a. (Hrsg.), The Handbook of Science and Technology Studies, Cambridge 2007, S. 83-112. 10 Wie dies beispielsweise die Studie von B. Hüppauf, Vom Frosch. Eine Kultur geschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie, Bielefeld 2011 zeigt.
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Tieres als Versuchstier ungenügend ist, weil sie der Vielzahl von Beziehungen zu seiner Umwelt und dem ontologischen Status des Tieres nicht gerecht wird.11 Gerade in den vielfältigen Beziehungen und Funktionszuschreibungen zeigen sich die Asymmetrien, Ungerichtetheiten und Verwobenheiten der Tier-Mensch-Relationen, die eine einfache Zuschreibung als Versuchstier nur ungenügend wiedergibt.12 Ziel des vorliegenden Beitrages ist es deshalb, die im Labor lebenden Tiere und hier insbesondere die Mäuse in ihren vielfältigen Beziehungen zu Menschen und anderen Tieren darzustellen. Die Anregungen Bruno Latours aufgreifend, sollen mit der Beschreibung alltäglicher Praktiken in den Laboratorien des IET und des GSH Mäuse als eigenständige Akteure in ihrem Verhältnis zum menschlichen Beziehungspartner stärker in den Fokus gerückt werden.13 Genau genommen sind bereits die plurale Sammelbezeichnung 11 Ursula Klein und Wolfgang Lefèvre schreiben z. B. bezugnehmend auf Ian Ha cking eine historische Ontologie chemischer Substanzen und deren Klassifika tion im 17. und 18. Jahrhundert, indem sie verschiedene konzeptionelle Stränge in der Wissenschaftsgeschichte und ‑philosophie zusammenführen: Über die „ontologies of materials“, „practices of making“, „material knowledge“ und „science of materials“ wird die Konstituierung natürlicher Materialien zu wissenschaftlichen, „multidimensional objects“ und deren „ontological shift“ im historischen Prozess dargestellt, siehe U. Klein, W. Lefèvre, Materials in Eigh teenth-Century Science. A Historical Ontology, Cambridge 2007, S. 1-10, S. 6668, S. 295-305; I. Hacking, Historische Ontologien. Beiträge zur Philosophie und Geschichte des Wissens, Zürich 2006. Aus der zunehmenden Anzahl von Publikationen zur (historischen) Ontologie in Science and Technology Studies siehe A. Pickering, „New Ontologies“, in: A. Pickering, Keith Guzik (Hrsg.), The Mangle in Practice. Science, Society, and Becoming, Durham 2008, S. 1-14. 12 Ein zentrales Anliegen von Studien im Kontext der Actor-Network-Theorie ist die Überwindung einer anthropozentrischen Perspektive und des Dualismus – und den damit einhergehenden Asymmetrien – zwischen Subjekt und Objekt sowie der Trennung von Natur und Kultur, siehe z. B. M. Schlünder u. a., „Cakes und Candies. Zur Geschichte der Ernährung von Versuchstieren“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 35/2012, S. 275-285; J. Law, A. Mol, „The ActorEnacted. Cumbrian Sheep in 2001“, in: C. Knappett, L. Malafouris (Hrsg.), Material Agency. Towards a Non-Anthropocentric Approach, New York 2008, S. 57-77. 13 Siehe B. Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995; B. Latour, Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a. M. 2000; B. Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007; „Textbook Case Re visited“; einführend P. Eitler, „In tierischer Gesellschaft. Ein Literaturbericht zum Mensch-Tier-Verhältnis im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Neue Politische Literatur, 54/2009, S. 207-224. Vgl. auch den Beitrag von Roscher in diesem Band.
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„Mäuse“ oder die Gattungsbezeichnung „Maus“ unpräzise, denn eine Maus kann unterschiedliche Daseinsformen haben. Bei Mäusen handelt es sich um Hybride, denen mal dieser oder jener ontologische Status zugeschrieben wird und die eine eigene Wirkungsmacht (agency) entfalten können; es handelt sich aber zugleich auch um Chimären: um wie aus einer Fabelwelt stammende Wesen, die sich als Maus-Ratte oder Kaninchen-Maus jedweder Kategorisierung entziehen.14 Wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, verändern sich die Beziehungen zwischen den beteiligten Akteuren abhängig von der jeweiligen Situation und entsprechend der Rolle oder der Funktion, die die Akteure in dem Beziehungsgefüge einnehmen.15 Aus Sicht des Menschen verändert sich der ontologische Status, die Existenzweise des Tieres: ein Tier ist ungleich anderen Tieren oder der ontologische Status ein und desselben Tieres verändert sich in dieser Beziehung. Die Veränderung der Existenzweise eines Tieres und des Beziehungsgefüges zwischen Mensch und Tier im Labor ist insofern bemerkenswert, als die Veränderung des ontologischen Status mit der Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis einhergeht oder diese bedingt. Die Geschichte einer Tier-Mensch-Beziehung im Labor ist – wie jede Studie zur Tier-Mensch-Beziehung – mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass alle Quellen (und Beobachtungen) aus menschlicher Hand stammen und durch die menschliche Perspektive auf das Tier gefiltert sind. Somit kann eine historische Untersuchung zwangsläufig nur aus Sicht der beteiligten menschlichen Akteure geschrieben werden. Das Agieren der Tiere wird durch die menschlichen Beziehungspartner wahrgenommen, nach ihrer Wirkung auf die Tier-Mensch-Beziehung von diesen beurteilt und überliefert. Aktuelle Tierstudien, beispielsweise im Rahmen der Animal Studies, der Actor Network-Theorie oder der Science and TechnologyStudies, die das Verhalten von (Labor- oder Versuchs-)Tieren untersuchen, können gezielt das Verhalten der Tiere in ihrer Beziehung und Interaktion zum Menschen in alltäglichen Situationen und experimentellen Settings beobachten und dokumentieren. Demgegen14 Vgl. auch die Beiträge in J. Law (Hrsg.), A Sociology of Monsters. Essays on Power, Technology and Domination, London 1991. 15 Analog wie die menschlichen Akteure in ihren Beziehungen untereinander in ihren Rollen variieren und entsprechend der Lebenssituation eine bestimmte Rolle einnehmen, siehe E. Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstel lung im Alltag (1959), München 2001. Zur Geschichte der Tier-Mensch-Bezie hung siehe den Literaturbericht von P. Eitler, „In tierischer Gesellschaft“.
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über unterliegen historische Arbeiten der Einschränkung, dass nur vorhandenes Quellenmaterial ausgewertet (und nicht im Rahmen der Untersuchung generiert) werden kann.16 Archivalische Nachweise von einzelnen, individuellen Tieren sind meist auf nur wenige Sätze und kurze Beschreibungen in wissenschaftlichen Protokollen, Berichten, Gutachten oder Artikeln beschränkt, als knappe Bemerkungen oder Einträge in Tabellen und Abbildungen. Weiterhin dokumentiert die Überlieferung meist einen bestimmten Zweck bzw. erfolgt sie in Hinblick auf eine bestimmte Intention: Verhalten sich die Tiere gemäß den (menschlichen) Erwartungen? Widersetzen sich die Tiere den Handlungen anderer Subjekte? Aufgrund der Serialität der im IET und im GSH ausgeführten Experimente und den daraus folgenden Aufschreibungen in Notiz- und Laborbüchern sowie den daraus resultierenden Veröffentlichungen können jedoch die in den Quellen getroffenen Aussagen zu bestimmten, einzelnen Tieren gesammelt, akkumuliert und generalisiert werden, um die Geschichte einer bestimmten Gruppe von Tieren in einem eng definierten Zeit-Raum-Gefüge zu schreiben.
Die Familie Muridae in den Laboratorien des IET und des GSH Wie der eingangs zitierte Artikel aus der New York Times vermuten lässt, waren Mäuse im IET und GSH omnipräsent. Zu Tausenden bevölkerten sie um 1910 die von Paul Ehrlich geleiteten Institute und waren dort auf jeder Etage anzutreffen: im Keller lebten sie in größeren Käfigen, wo sie wild durcheinander wuselten; in den Laboratorien im Erdgeschoss und in den oberen Stockwerken waren sie 16 Detaillierte Beobachtungen über Tier-Mensch-Interaktionen, über unmittelbar wahrgenommene oder aufgezeichnete Reaktionen der Akteure, über alltägli che Praktiken (die historisch oft nicht erläutert oder für überlieferungswürdig erachtet werden), wie sie beispielsweise John Law und Annemarie Mol („The Actor-Enacted“) oder Donna Haraway beschreiben, können in historischen Ar beiten oft nur mühselig (und zuweilen mit notwendig spekulativen Interpre tationen) ex post hermeneutisch erschlossen werden. Studien wie D. J. Hara way, When Species Meet, Minneapolis 2008, insbesondere Kap. 3, können zwar einerseits den Fokus auf historische Forschungsfragen schärfen helfen oder neue Sichtweisen auf die Interpretation von Quellen bieten; andererseits bergen sie die Gefahr, dass der Blick auf die Vergangenheit verstellt wird, indem sie dazu verleiten, gegenwärtige Beobachtungen in einem bestimmten (zeithistorischen Forschungs-)Setting auf die Vergangenheit zu projizieren.
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Abb. 2: Frida Leupold, Mitarbeiterin im GSH, Eintragungen ins Laborbuch vornehmend, und Labormäuse (Quelle: Berliner Illustrierte Zeitung, ca. 1910, RAC PEC.)
isoliert in Glasbehältern – den so genannten Mäusegläsern – untergebracht oder auf Labortischen in Apparaten fixiert; oder sie versteckten sich im Boden, in Möbeln oder zwischen den Wänden. Die Fotografie eines Artikels aus der Berliner Illustrierten Zeitung aus dieser Zeit zeigt eine Mitarbeiterin des GSH vor einem Regal mit „Mäusegläsern“. Die Bildunterschrift lautet: „Hundert Mäuse, die zu Versuchszwecken mit Krankheitsstoffen aller Art infiziert wurden. In dem Ehrlichschen Institut gibt es Säle, die 5-6.000 infizierte Mäuse beherbergen.“17 Und die New York Times titelte erstaunt, dass über 5.000 Mark allein für Mäuse aufgewendet wurden. Mäuse waren für das Forschungsgebiet der Bakteriologie die idealen Versuchstiere: sie hatten eine hohe Populationsrate, ließen sich leicht züchten, hatten einen schnellen Wachstumszyklus, waren günstig im Unterhalt, durch ihren Ruf als Schädlinge drohte keine emotionale Korruption des wissenschaftlichen und technischen Laborpersonals und nicht zuletzt waren sie deshalb geeignet, weil sie für eine Vielzahl von Krankheiten anfällig waren und als Warmblüter dem Menschen ähnliche Lebensprozesse modellieren konnten.
17 Vgl. Berliner Illustrierte Zeitung, ca. 1910, Rockefeller Archive Center, Paul Ehrlich Collection 650 Eh 89 (RAC PEC).
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Kellermäuse – Eine Maus ohne Eigenschaften Wenngleich Hermann A. Metz in seinem Artikel mehrere Mitglieder der Familie Muridae aufzählt, so wurden um 1900 überwiegend weiße Mäuse und graue Hausmäuse in den beiden Einrichtungen gehalten. Hausmäuse und Feldmäuse waren allerdings scheu mit einem ausgeprägten Fluchtverhalten und sie waren bissig, so dass Ludwig Heim in seinem Lehrbuch der bakteriologischen Untersuchung zum Ergreifen der Mäuse eine Pinzette oder eine der Schmelztiegelzange ähnliche so genannte Mäusezange empfahl.18 Überdies konnten die „noch unbändiger[en]“ Feldmäuse aus dem Stand hoch springen und so aus den Behältnissen, in denen sie untergebracht waren, flüchten.19 Feldmäuse schienen auch deshalb weniger geeignet als Labor- und Versuchstiere, weil sie gegen eine Reihe von Erkrankungen weniger anfällig war als ihre Verwandten, die Hausmäuse.20 Haus- und Feldmäuse könnten jedoch selbst gefangen werden und seien leicht zu beschaffen, während andere Versuchstiere wie Meerschweinchen oder weiße Mäuse schwieriger zu beziehen seien. Für größere Versuchsreihen empfahl Heim die eigene Züchtung der Tiere, wobei die Zucht weißer Mäuse am besten gelänge.21 Die von Metz eingangs zitierten japanischen „Tanzmäuse“, von der vermutlich auch die weiße Maus abstammt, galten als ideale Versuchstiere: Sie wurden von Heim als „weit bequemer“ im Umgang und „zahmer“ beschrieben.22 18 L. Heim, Lehrbuch der bakteriologischen Untersuchung und Diagnostik. Eine Anleitung zur Ausführung bakteriologischer Arbeiten und zur Einrichtung bak teriologischer Arbeitsstätten, Stuttgart 1894, S. 145 f. 19 Z. B. L. Heim, Lehrbuch, S. 146, S. 150; und A. E. Brehm, E. Pechuel-Lösche, W. Haake (Hrsg.), Brehms Tierleben. Allgemeine Kunde des Tierreichs. Die Säuge tiere. Bd. 2: Raubtiere, Robben oder Flossenfüßler, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, 2. Aufl., Leipzig 1900, S. 508-515. 20 Siehe L. Heim, Lehrbuch, S. 146. Hierauf verwies bereits Robert Koch (Unter suchungen über die Aetiologie der Wundinfectionskrankheiten, Leipzig 1878, S. 40 bzw. S. 46). 21 L. Heim, Lehrbuch, S. 146. 22 Ebd.; vgl. auch A. Ortleb, G. Ortleb, Die Zucht und Pflege kleiner Haustiere wie Hund, Katze, Meerschweinchen, weiße Maus, Eichhörnchen, Kaninchen, Ham ster, Ziegenbock, Tauben, Hühnern, Papageien etc. Nebst Anleitung zum Anfer tigen von Tierzwingern und Käfigen (Der emsige Naturforscher und Sammler, Bd. 11), Berlin [1895]; sowie den unveröffentlichten Vortrag von K. Cussler, „Wie kam die weiße Maus ins Glas? Zur Geschichte unseres bekanntesten Ver suchstiers“, gehalten in: 45. Seminar über Versuchstiere und Tierversuche der Gesellschaft für Versuchstierkunde, Berlin 13. und 14.09.2016.
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Aufgrund des hohen Bedarfs an Versuchs- und Prüftieren im IET und im GSH wurden Mäuse überwiegend selbst gezüchtet. Die ‚auf Vorrat‘ gezüchteten Mäuse waren in größeren Gruppen im Keller der Institute in Holz- und Drahtkäfigen untergebracht. Die Mäuse wurden unter rationellen Gesichtspunkten versorgt, d. h. die Nahrung musste günstig sein und sich zeitökonomisch optimiert in den Ablauf der Institutsorganisation einfügen lassen. Die Mäuse wurden mit in Wasser getränkten Brotwürfeln oder eingeweichtem Getreide gefüttert. In seinem Lehrbuch schlägt Heim vor, den Boden der Käfige mit Sägespäne zu bedecken, die mindestens einmal pro Woche erneuert werden sollte. In regelmäßigen Abständen müssten die Käfige mit warmer Soda- und Karbolsäurelösung gescheuert und grundgereinigt werden. Heim empfahl, auf dem Boden Stroh oder Holzwolle auszulegen, in denen die Mäuse nisten und brüten könnten.23 Das Wissen, wie Mäuse gezüchtet, unterhalten und gepflegt wurden, beschränkte sich um 1900 zum einen auf die wenigen Hinweise, wie sie in dem Lehrbuch zur bakteriologischen Untersuchung von Ludwig Heim, oder in populärwissenschaftlicher Literatur wie Brehms Tierleben oder in Ratgebern für „Naturforscher“ oder zur Aufzucht kleiner Haustiere gegeben wurden.24 Zum anderen wurde das Wissen zur Aufzucht und Pflege der Mäuse aus der Erfahrung durch den alltäglichen Umgang im Labor, die Interaktion zwischen den Mäusen und dem wissenschaftlichen und technischen Personal gesammelt. Dieses Erfahrungswissen wurde nicht nur täglich neu validiert, ergänzt oder angepasst, in die Arbeitsroutinen der Mitarbeiter des IET und des GSH eingeschrieben und an neue Mitarbeiter weitergegeben,25 sondern die Erfahrungen wurden auch, wie im Falle von Ludwig Heim, zur Information eines wissenschaftlichen Publikums veröffentlicht.26 In bakteriologischen 23 Vgl. L. Heim, Lehrbuch, S. 147 f. 24 Siehe neben Heim und Brehms Tierleben vor allem A. Ortleb, G. Ortleb, Die Zucht und Pflege; S. O. Beeton, H. Weir, The Book of Home Pets. Showing How to Rear and Manage, in Sickness and in Health, Birds, Poultry, Pigeons, Rabbits, Guinea-pigs, Dogs, Cats, Squirrels, Fancy Mice, Tortoises, Bees, Silkworms, Ponies, Donkeys, Goat, Inhabitants of the Aquarium, etc. etc. With a Chapter on Ferns, London [1862]. In der englischen Literatur gab es zudem Ratgeber speziell zu Tanzmäusen, siehe C. Blake, L. Williams, Fancy Mice. Their Varieties, Management, and Breeding, London [1896]. 25 Zur Bedeutung von Erfahrungswissen M. Polanyi, Implizites Wissen, Frankfurt a. M. 1985. 26 Vgl. L. Heim, Lehrbuch; siehe auch H. F. O. Haberland, Die operative Technik des Tierexperiments, Berlin 1926.
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und immunologischen Handbüchern gab es seit den 1910er Jahren Kapitel zur Aufzucht und Haltung von Versuchstieren.27 Die Tier-Mensch-Beziehung beschränkte sich auf dieser Ebene auf die Überwachung der Umwelt (Ventilation, Heizung, Licht) sowie die Fütterung und gelegentliche Reinigung der Käfige durch technische Hilfskräfte. Die Mäuse im Keller hatten nur wenig soziale Kontakte zum Menschen und waren überwiegend sich selbst überlassen. Für den Menschen im Labor war die Kellermaus ohne besondere Merkmale und beliebig austauschbar. Die geringe Beziehungsdichte korrespondierte wiederum zur Beliebigkeit der Tiere im Keller, denn dort wurden die Versuchstiere mit dem Zweck der Normierung und Vereinheitlichung produziert. Idealiter wurden Mäuse unter gleichen Bedingungen aufgezogen, um ‚standardisierte‘ Tiere mit dem gleichen Gesundheitszustand zu erhalten, die sich eben nicht voneinander unterscheiden sollten. Allein Alter, Gewicht und Geschlecht der Tiere bildeten für den Wissenschaftler Kriterien, die ein Tier von dem anderen abhoben und die als Entscheidungshilfe dienten, ob ein Tier für Versuche verwendet wurde. Aufstieg zur Labormaus Die Entnahme von Mäusen aus den Kellerräumen des Instituts war für die technischen AssistentInnen und Wissenschaftler des IET und des GSH ein alltäglicher Vorgang. Für die Maus dagegen hatte dieser Vorgang elementare Bedeutung und auch die Beziehung zum Menschen änderte sich grundlegend. Zuerst einmal stieg die auserwählte Maus durch diesen Vorgang rein physisch-räumlich auf: die als zahmer geltenden weißen Mäuse konnten in die hohle Hand genommen werden, ansonsten wurde die graue Hausmaus mit der Mäusezange am Schwanz gepackt und aus dem Kellerraum in das Erdgeschoss oder den ersten Stock des Gebäudes gebracht, wo sich die Laboratorien befanden. Mit diesem räumlichen Umzug änderte sich auch der ontologische Status der Maus: die Kellermaus wurde 27 Vgl. z. B. als Separatabdruck E. Beintker, Apparate und Arbeitsmethoden der Bakteriologie, Bd. II (Handbuch der mikroskopischen Technik VI), Stuttgart 1914; [E.] Friedberger, F. Schiff, „Die Methoden des Tierversuchs“, in: W. Kolle u. a. (Hrsg.), Handbuch der pathogenen Mikroorganismen. Bd. 10, Jena 1930, S. 187-294; T. Laanes, „Die Züchtung und Pflege von Laboratoriumsmäusen“, in: E. Abderhalden (Hrsg.), Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. 9, Teil 7, Heft 4, Berlin 1936, S. 593-609.
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Abb. 3: Mäuse und Ratten im Mäuseglas (Quelle: RAC PEC.)
zur Labormaus. Als Wohnstatt diente der Labormaus ein beengtes Glasbehältnis, ähnlich einem Einmachglas, mit nur wenigen Zentimetern Durchmesser. Auf dem Boden des Gefäßes waren Holzspäne ausgelegt und oben wurde das Behältnis mit einem Drahtgeflecht geschlossen (und ggf. beschwert), damit die Maus nicht aus dem Glas springen konnte. Während die Kellermaus in einer relativ dunklen Umgebung in einer größeren Gruppe mit anderen Mäusen zusammenlebte, war die Labormaus isoliert. Die Labormaus konnte sich auch nicht in einem Bau aus Heu oder Holzwolle verbergen, sondern war dem Licht und den Blicken der anderen Laborbewohner schutzlos ausgeliefert. Sie hatte nur noch indirekten Blickkontakt mit den Mäusen in anderen Gläsern. Ihr direkter Bezugspartner war nun das wissenschaftliche und technische Personal, an dessen Tagesrhythmus sich die Maus anpassen musste. Das Labor wurden zum ‚natürlichen‘ Habitat der (Labor-)Maus. Aus der Perspektive der im Labor tätigen menschlichen MitarbeiterInnen erhielt die Labormaus nun eine eigene Individualität und bekam eine eigene Bedeutung zugeschrieben, wodurch sich das Verhältnis zwischen Maus und Mensch grundlegend veränderte bzw. überhaupt neu definierte. Die Labormaus unterlag, sobald sie als Akteur in eine Experimental- oder Prüfanordnung eingebunden war, einer besonderen Ökonomie der Aufmerksamkeit, in der ihr
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Körper, ihre Bewegungen, ihr Fressverhalten und ihr Stoffwechsel beobachtet und in Laborbüchern registriert wurde.28 Lebendes Messinstrument – Bio-Indikator Mäuse, Meerschweinchen und andere Nagetiere nahmen als BioIndikatoren eine Schlüsselstellung bei der Wertbestimmung von Seren und anderen Arzneimitteln und Diagnostika biologischen Ursprungs ein. Serum – z. B. Tetanusheilserum – wurde zumeist mit Hilfe von Pferden ‚produziert‘. Entsprechend vorbehandelten und immunisierten Pferden wurden dazu mehrere Liter Blut abgenommen. Das Blut wurde kurz zwischengelagert, damit sich das Serum von den roten Blutkörperchen absetzten konnte und nach der Koagulation wurde das Serum abgeschöpft, gefiltert und in kleine Fläschchen abgefüllt. Tetanusheilserum wurde sowohl Menschen als auch Pferden präventiv nach einer offenen Verletzung injiziert, um sie vor Tetanuserregern und dem zumeist tödlich verlaufenden Wundstarrkrampf zu schützen.29 Die Produktion und der Vertrieb von Tetanusheilserum waren im Deutschen Reich staatlich reguliert, insbesondere der Prozess zur Bestimmung des Immunisierungswertes unterlag einer strengen und genau festgelegten Kontrolle. Die Wertbestimmung basierte auf einem komplexen Referenzsystem aus Standardtoxin, einem vakuumgetrockneten Standard- oder Normalserum, dem zu testenden Serum und zwei Reihen von Mäusen als Bio-Indikatoren. Eine Serie bestand jeweils aus acht Mäusen, denen eine Mischung aus Standardtoxin und Serum injiziert wurde. Dabei enthielt die Mischung der einen Serie das Standardserum, der anderen Serie wurde das zu testende Serum beigemengt. Während die Menge des Standardtoxins stets konstant gehalten wurde, variierte in beiden Serien jeweils die Serum- bzw. die Antitoxin-Dosis, die innerhalb der Serie gesteigert wurde. Bei der ersten Maus war die beigemischte Menge so gering bemessen, dass die Maus innerhalb eines bestimmten Zeitabschnittes sterben sollte. Die Menge des beigefügten Serums stieg dann innerhalb der Serie graduell von Maus zu Maus an, so dass jede Maus entsprechend der steigenden 28 Vgl. zur durch die Tierpflege intensivierte Beziehungsdichte D. Haraway, When Species Meet, S. 82-85. 29 In diesem Fall konnte ein Pferd sowohl Produzent von Serum und somit ein Wirtschaftsgut als auch Patient sein.
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Menge Serum geringere Symptome aufzeigen sollte. Bei der achten Maus der jeweiligen Serie war die Mischung zwischen Tetanustoxin und Serum bzw. Antitoxin so bemessen, dass die Maus keinerlei Krankheitsanzeichen mehr zeigte. Einer Kontrollmaus wurde nur Tetanustoxin injiziert, um die Toxizität des Giftes zu prüfen. Beide Serien mit Testtieren, also diejenige, die das Standardserum und diejenige, die das zu prüfende Serum erhalten hatte, sollten in der gleichen Weise reagieren. Bei Reaktionsabweichungen zwischen beiden Serien, also wenn zum Beispiel in der Prüfserie die erste Maus früher starb oder die Mäuse mit einem ausgewogeneren Mischungsverhältnis stärke Krankheitszeichen zeigten als ihre Leidensgenossen in der Standardserie, wurde das zu prüfende Serum abgelehnt bzw. nicht zum Vertrieb zugelassen. Verliefen beide Serien hingegen identisch, dann wurde das Serum als staatlich geprüft zertifiziert und der vom Serumhersteller angegebene Wert an Immunisierungseinheiten bestätigt. Ursprünglich ging diese Tiere als Bio-Indikator verwendende Methode auf das Verfahren zur Wertbemessung des Diphtherieheilserums zurück, wobei dazu nur die Reaktion von zwei Meerschweinchen beobachtet wurde. Mit jedem neuen Serum jedoch, das zur staatlichen Prüfung zugelassen wurde, wurde das Prüfungsverfahren komplexer und waren mehr und mehr Akteure involviert. Für die Wertbemessung des Rotlaufserums etwa waren 154 Mäuse erforderlich.30 Die Bio-Indikatoren hatten entscheidenden Einfluss und somit eine enorme Wirkungsmacht auf die Wertbestimmung von Serum. Im Rahmen des Prüfungssettings mit einer Variablen – dem zu prüfenden Serum – sollte jedes Versuchstier auf die definierte Toxin-Antitoxin-Mischung stets in der gleichen Weise reagieren und insofern möglichst standardisiert sein. Doch traten bereits bei der Wertbemessung des Diphtherieheilserums, das eine überschaubare Anzahl an Akteuren umfasste, trotz aller eingebauten Kontrollmechanismen und detaillierter Prüfinstruktionen,31 Missverständnisse 30 Vgl. R. Otto, Die staatliche Prüfung der Heilsera, Jena 1906 (zugleich: Arbeiten aus dem Königlichen Institut für experimentelle Therapie zu Frankfurt a. M., Bd. 2), S. 22-56, S. 66-69. 31 Zur Entwicklung der Prüfinstruktionen im Königlich Preußischen Institut für Infektionskrankheiten und im Reichsgesundheitsamt siehe die Vorschläge zur Prüfung des Diphtherieserums, 25.10.1894, Bundesarchiv Berlin (BAB), R 86/1646; die Instruktionen für den Betrieb der Controllstation, 19.02.1897, PaulEhrlich-Institut (PEI), Abteilung Va, Nr. 1, Bd. 1; sowie im Hoechst Archiv Ak te GL 18.1/3; Bestimmungen zur Änderung der Prüfung 1897, Hoechst Archiv
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und Unterschiede bei der Wertbestimmung des Serums zwischen der Prüfeinrichtung und dem Produzenten auf.32 Diese Differenzen hatten auch ökonomische Gründe, denn die Ablehnung eines Serums durch die Prüfeinrichtung bedeutete für den Serumhersteller einen hohen finanziellen Verlust. Im Fall des Diphtherieserums sollte ursprünglich die Mischung einer aufeinander abgestimmten Menge von Serum und Standard-Toxin, die einem Meerschweinchen injiziert wurde, so beschaffen sein, dass dieses weder Krankheitssymptome zeigte noch sollten sich Infiltrationen an der Injektionsstelle bilden. Als Krankheitszeichen wurden Appetitlosigkeit ausgedrückt in Gewichtsverlust oder Apathie gewertet. Allerdings unterschieden sich – besonders in den ersten Jahren nach Gründung des Instituts für Serumforschung und Serumprüfung bzw. des IET – die Meerschweinchen in Bezug auf ihre Konstitution in Alter, Gewicht und Geschlecht und damit variierte auch die Reaktion auf die Serumprobe. Darüber hinaus bestand generell das Problem, wie man die Reaktion des Meerschweinchens bewerten sollte. Wie etwa konnte man eine Schwellung an der Injektionsstelle ertasten? Auch im Fall eines Gewichtsverlustes war nie auszuschließen, dass dieser durch andere Ursachen wie Fieber, jahreszeitliche Abweichungen oder Kreuzinfektionen bedingt war. Gegenüber einem befreundeten Kollegen in Marburg konzedierte Ehrlich in einem Brief, dass die Methode der Wertbestimmung von (Tetanus-)Serum oft nicht einfach und nicht wirklich exakt war – insbesondere im Winter.33 Weitere Probleme konnten sich aus technischen Ungenauigkeiten ergeben, weil die Injektion des Toxin-Antitoxin-Gemischs unterschiedlich erfolgen konnte: sowohl die Applikationsform (subkutan, intramuskulär, intraperitoneal), der verwendete Bakterienstamm bei der Produktion des Toxins oder des Serums, oder die verwendeten Akte GL 18.1/4; und die Berichte des Prüfbeamten in den Farbwerken Hoechst, Hoechst Archiv Akte GL 18.1/5. Vgl. ferner P. Ehrlich, „Die Wertbemessung des Diphtherieheilserums und deren theoretische Grundlagen“, in: Klinisches Jahrbuch, 6/1897, S. 299-326; R. Otto, Staatliche Prüfung der Heilsera; K. E. Boehncke, „Die Serumprüfung und ihre theoretischen Grundlagen“, in: H. Apolant u. a. (Hrsg.), Paul Ehrlich. Eine Darstellung seines wissenschaftlichen Wirkens. Festschrift zum 60. Geburtstage des Forschers, Jena 1914, S. 292-331; C. Throm, Das Diphtherieserum. Ein neues Therapieprinzip, seine Entwicklung und Markteinführung, Stuttgart 1995. 32 Vgl. A. I. Hardy, „Paul Ehrlich und die Serumproduzenten. Zur Kontrolle des Diphtherieserums in Labor und Fabrik“, in: Medizinhistorisches Journal, 41/ 2006, S. 51-84. 33 Paul Ehrlich an Angelo Knorr, 21.02.1897, PEI, Abt. Va, Nr. 1, Bd. 1.
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Tierspezies beeinflussten den Evaluationsprozess. So tauchten beispielsweise Probleme bei der Wertbestimmung des Rotlaufserums auf, weil Mitarbeiter der Firma Ruete & Enoch in Hamburg graue Mäuse bei der Wertbestimmung des Serums verwendet hatten, während im IET weiße Mäuse zum Einsatz kamen, deren Organismus die Antitoxine schneller absorbierte.34 Die alltägliche Prüfung und standardisierte Wertbestimmung von Seren setzte das Vorhandensein einer stabilen Methode zur ‚objektiven‘ Beurteilung des Wirkungsgrades des zu testenden Serums voraus. Bei den umfangreichen Arbeiten zur Entwicklung einer solchen Methode veränderte sich der Status des Labortieres, wobei die Grenze zwischen Prüf- und Versuchstier fließend verlief. In der Regel wurde eine Methode zur Bemessung der Immunwirkung parallel mit dem Serum entwickelt. Eine solche Methode war notwendig, um den Erfolg oder Misserfolg eines Versuchs abschätzen zu können. Das Verfahren wurde im IET oftmals in langwierigen Versuchsserien so verbessert, dass es stabil immer gleiche Ergebnisse – unabhängig von der ausführenden Person oder dem Ort – produzierte und als ‚sicher‘ definiert werden konnte. Für die Prüfung eines Serums gegen Geflügelcholera beispielsweise suchte man nach geeigneten Tieren. „Am idealsten wäre gewiss die Verwendung der Tiere, die man in der Praxis mit dem Serum gegen die betreffende Infektion behandeln will.“35 Die Verwendung von Hühnern zur Bestimmung des Immunisierungswertes wurde jedoch verworfen, da diese je nach Rasse und Herkunft eine je unterschiedliche Immunität und Anfälligkeit gegen den Erreger aufwiesen. Als Alternative wurde der Einsatz von Tauben als Prüftiere in Betracht gezogen, doch nach umfangreichen Versuchen stellten sich diese gleichfalls als ungeeignet heraus. Zwar schienen Tauben besonders für den Erreger der Gefügelcholera anfällig, doch die Ergebnisse der Prüfung der Serumwirkung fielen bei ihnen sehr unterschiedlich aus. Als brauchbar empfahl Alfred Braun schließlich die Maus36 und im IET wandelte man die bestehende Methode zur
34 Vgl. R. Otto, Staatliche Prüfung der Heilsera, S. 66 f. 35 Vgl. A. Braun, Ist die Taube als Testobjekt für die Prüfung eines Geflügelimmun serums tauglich? Veterinärmedizinische Dissertation der Universität Bern 1906, S. 6. 36 Ebd. Die Taube schien Braun aufgrund der „eigenartigen Komplementverhält nisse“ (S. 65) als unbrauchbar, d. h. aufgrund der Zusammensetzung der von der Taube generierten Antikörper.
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Wertbestimmung des Rotlaufserums ab.37 Während der Entwicklung einer stabilen Methode zur Wertbestimmung wurden die dort verwendeten Mäuse als Versuchstiere im Rahmen eines experimentellen Settings behandelt. Die Reaktionen der Tiere wurden in Laborbüchern notiert (und noch nicht in Prüfbüchern), und die aus diesen Versuchen gewonnenen Informationen wurden Teil einer fest definierten Methode der Wertbestimmung für ein bestimmtes Serum, das schließlich in die Arbeitsinstruktionen des Instituts (die auch für die Serumhersteller bindend waren) eingeschrieben wurde.38 Die später routinemäßig ausgeführten Serumprüfungen wiederholen die experimentell herausgearbeitete Methode, wobei auch die Standard-Methode immer wieder Anpassungen erfuhr. Im Zuge der Entwicklung eines standardisierten Verfahrens zur Wertbemessung konnte eine Maus als Versuchstier für ein bestimmtes experimentelles und exploratives Setting fungieren, während eine andere Maus, nachdem sich das Verfahren etabliert hatte und in die staatlichen Prüfvorschriften eingeschrieben war, als Prüftier in einem technischen Kontrollverfahren im Sinne eines Bio-Indikators diente, um den Wirkungswert eines zur Prüfung eingesandten Serums zu bestimmen. Darüber hinaus wurden Mäuse auch zu Versuchstieren, wenn es um Forschungen zum theoretischen Verständnis immunologischer Prozesse ging. Immunologische Forschung – Chimären zwischen Prüf- und Versuchstier Zur Erklärung körpereigener Abwehrprozesse, die der Organismus als Reaktion auf eine Infektion durch Krankheitserreger initiiert, ließ Paul Ehrlich im Kontext der von ihm entwickelten Seitenkettentheorie unzählige Versuchsserien im IET ausführen. In der Seitenkettentheorie postulierte Ehrlich, dass sich vitale und patholo37 Siehe die Akten und Notizen in PEI, Abt. IX, Nr. 7; sowie R. Klett, „Die Serum therapie der Geflügelcholera“, in: M. Klimmer, A. Wolff-Eisner (Hrsg.), Hand buch der Serumtherapie und Serumdiagnostik in der Veterinär-Medizin, Leipzig 1911, S. 244-254. Ausführlich A. C. Hüntelmann, K. Cussler, „Die Geflügelcho lera um 1900. Eine Epizootie im Schnittpunkt von Biopolitik, Landwirtschaft, Tierheilkunde und Humanmedizin”, in: Johann Schäffer (Hrsg.), Mensch – Tier – Medizin. Beziehungen und Probleme in Geschichte und Gegenwart, Gießen 2014, S. 55-67. 38 Vgl. R. Otto, Staatliche Prüfung der Heilsera.
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gische Prozesse auf der Ebene von Zellen auf ihre (bio-)chemische Natur reduzieren lassen: So würden sich Tetanusgift und Tetanusserum bzw. Toxin und Antitoxin gegenseitig chemisch neutralisieren, vergleichbar einer chemischen Reaktion von Säure und Lauge.39 Ehrlich nahm an, dass die Körperzellen spezifische Fangarme (später bezeichnete er sie als Rezeptoren) besäßen, die in der Lage waren, die lebensnotwendigen Ernährungsstoffe (Sauerstoff- und Kohlenstoffmoleküle) an die Zelle zu binden und so Seitenketten zu bilden. Allerdings wiesen die Bakteriengifte eine ähnliche molekulare Struktur wie die Nahrungsstoffe auf, so dass sich auch diese mit der Zelle verbinden und Seitenketten bilden könnten, was schließlich zum Untergang der Zelle führte. In der körpereigenen Reaktion würde dann die Produktion von Antikörpern aktiviert und nicht benötigte Antikörper würden in die Blutbahn abgegeben, das so genannte Antitoxin, das im Serum nachweisbar war.40 Die Seitenkettentheorie hatte, ohne hier weiter in die Details zu gehen, aus zwei Gründen besondere Bedeutung für Ehrlichs Beziehung zu Versuchstieren. Erstens erklärt sein biochemisches Verständnis vitaler Prozesse, warum er nur wenig Unterschiede zwischen Tier- und Menschenversuchen machte bzw. warum der Übergang vom Tier- zum Menschenversuch für ihn kein epistemologisches Problem darstellte.41 Er war der Auffassung, dass auf bioche39 Vgl. P. Ehrlich, „Zur Kenntniss der Antitoxinwirkung“, in: Fortschritte der Me dizin, 15/1897, S. 41-43. 40 Vgl. P. Ehrlich, „Wertbemessung des Diphtherieheilserums“; ausführlich L. Aschoff, Ehrlichs Seitenkettentheorie und ihre Anwendung auf die künstlichen Immunisierungsprozesse. Zusammenfassende Darstellung, Jena 1902; P. Römer, Die Ehrlichsche Seitenkettentheorie und ihre Bedeutung für die medizinischen Wissenschaften, Wien 1904; J. Parascandola, „The Theoretical Basis of Paul Ehrlich’s Chemotherapy“, in: Journal of the History of Medicine, 36/1981, S. 1943; E. Jokl, „Paul Ehrlich – Man and Scientist“, in: Bulletin of the New York Academy of Medicine, 30/1954, S. 968-975; A. M. Silverstein, Paul Ehrlich’s Receptor Immunology: The Magnificent Obsession, San Diego 2002; C.-R. Prüll, „Part of a Scientific Master-Plan? Paul Ehrlich and the Origins of his Receptor Concept“, in: Medical History, 47/2003, S. 332-356. 41 Dies erklärt auch Ehrlichs spätere Überraschung, als es bei der Übertragung vom Tierversuch zum Humanexperiment bei der klinischen Erprobung von Präpara ten zu Schwierigkeiten kam, siehe z. B. die Aussage Ehrlichs in einem Brief an Joseph Jadasohn, der für ihn die therapeutische Wirkung des Farbstoffes Neu tralrot klinisch getestet und Nebenwirkungen festgestellt hatte: „Ich kann mir momentan die unerwünschten nebenerscheinungen des Neutralroths gar nicht erklären, da dieser farbstoff nach meinen – ich möchte sagen 1000fachen erfah rungen in der ganzen thierreiche [sic] – von der fliege, frosch bis zum warmblü ter – ein ganz unschädlicher stoff ist u die thiere noch sehr gut leben u func
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mischer Ebene bei Mensch und Tier die gleichen Prozesse ablaufen.42 Zweitens handelte es sich bei den Seitenketten um ein abstraktes theoretisches Konzept, das in der Praxis der empirisch orientierten Bakteriologie skeptisch aufgenommen, vielfach kritisiert und zuweilen als naturphilosophische Spekulation abgetan wurde.43 Die Seitenketten waren für die bestehenden optischen Instrumente unsichtbar, so dass deren Existenz in aufwendigen Tierversuchsreihen belegt werden musste. Ehrlich hob die Notwendigkeit hervor, bei der Durchführung von Experimenten sehr genau zu arbeiten und er ließ Versuche von LaborassistentInnen und Wissenschaftlern am IET so lange wiederholen, bis eineindeutige Ergebnisse erzielt worden waren. In dieser Hinsicht war Ehrlich berühmt und berüchtigt für seinen verschwenderischen Materialverbrauch und die exzessive Verwendung von Versuchstieren.44 Um die Zusammensetzung der von ihm postulierten Seitenketten – bestehend aus Ambozeptoren, Komplementen und Rezeptoren – zu beweisen, wurde zum Beispiel das Blut von Mäusen in Kaninchen oder Ratten injiziert, die daraufhin Mäuseblut-Antikörper entwickelten. Anschließend wurde das Blut der behandelten Ratten oder Kaninchen wiederum in die Maus zurückinjiziert, der ursprünglich das Blut entnommen worden war. Im Blut dieser Maus verursachten die Mäuseblut-Antikörper eine nachweisbare Hämolyse. Diese Experimente wurden in unterschiedlicher Weise variiert, beispielsweise sollten durch Erhitzung des Blutes bestimmte Bestandteile der Seitenketten neutralisiert, und später durch Hinzufügung „frischen“ Blutes wieder reaktiviert werden.45 Auch in diesem Prozess änderte das Tier seine Identität
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tionren, wenn die mehrzahl der lebenswichtigen organe schon geröthet sind.“ Ehrlich an Jadasohn, 17.05.1899, RAC PEC Box 5, Kopierbuch III. Vgl. J. Parascandola, „Theoretical Basis of Paul Ehrlich’s Chemotherapy“; E. Jokl, „Paul Ehrlich – Man and Scientist“; C.-R. Prüll, „Part of a Scientific MasterPlan?“. C.-R. Prüll, „Part of a Scientific Master-Plan?“. Die Notwendigkeit zu ausführlichen Tierversuchen betonte Ehrlich vor allem in seinen immunologischen und chemotherapeutischen Arbeiten, siehe auch die Hinweise in M. Marquardt, Paul Ehrlich als Mensch und Arbeiter. Erinnerungen aus dreizehn Jahren seines Lebens (1902-1915), Stuttgart 1924, S. 85. In der bio graphischen Skizze von Paul de Kruif wird die verschwenderische Verwendung von Labortieren betont, siehe P. de Kruif, Mikrobenjäger (OA engl. 1926, dt. 1927), 9. Aufl., Zürich 1941, S. 324-346. Die Ergebnisse der zahlreichen, zwischen 1899 und 1902 von Ehrlich und sei nen Mitarbeitern ausgeführten Versuche, sind zusammengefasst in P. Ehrlich (Hrsg.), Gesammelte Arbeiten zur Immunitätsforschung, Berlin 1904.
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und seinen ontologischen Status: die Maus wurde zu einem Hybrid, zu einer Chimäre. Dieser Wandel drückt sich auch in der veränderten Bezeichnung der Tiere aus. Nach der Injektion des Blutes von einem anderen Tier erhielten die Tiere in den Arbeitsanweisungen und Labornotizen neue Bezeichnungen wie Ziegen-Schaf, Pferd-Ziege, Kaninchen-Hund, Maus-Ratte oder Ratten-Igel.46 Aus den Arbeitsanweisungen kann man nur schwer ableiten, ob es sich bei dem in den Texten etwa als „Maus-Ratte“ bezeichneten Hybrid ursprünglich um eine Ratte oder um eine Maus gehandelt hat. In Kombination mit den Aufzeichnungen in den Laborbüchern erhält der Hybrid, die Chimäre eine neue Identität und eine neue in den Laborbüchern dokumentierte Geschichte. Über die terminologische Änderung hinaus ist der veränderte Status auch körperlicher Natur: das Tier, dem Blut von einem anderen Tier injiziert wurde, bildet Antikörper gegen das Blut des Spendertieres; und wird das Blut des Empfängertieres dem Spendertier zurück injiziert, löst dies wiederum eine körperliche Reaktion aus. Tumormäuse in der Krebsforschung Ähnliche Verwandlungen und Hybridisierungen bei der Überschneidung von Forschungsfeldern lassen sich auch in der experimentellen Krebsforschung beobachten. Ein Forschungsschwerpunkt im IET war seit 1901 die experimentelle Erforschung von Krebs und die „Züchtung“ von Tumoren. Ein Ziel dieses Arbeitsfeldes war die „Produktion“ oder „Generierung“ standardisierter Tumoren als Basis für die weitere Tumorforschung, um Aufschluss über die physiologischen Eigenschaften und pathologische Struktur der Tumoren zu erhalten oder darüber, wie sich mit zunehmender Fortzüchtung die Malignität bzw. die Virulenz der Tumoren veränderte.47 Besonders in den ersten Jahren der Forschung, als die Züchtung von Tumoren mannigfache Schwierigkeiten aufwarf, wurden spontan auftretende Tumoren Hunden, Mäusen oder Ratten eingepflanzt, 46 Vgl. z. B. die Arbeitsanweisung Paul Ehrlich an Wilhelm Röhl, 01.10.1908, RAC PEC Box 31. 47 Siehe H. Apolant, „Ergebnisse der experimentellen Geschwulstforschung (mit Ausschluß der athrepischen Immunität)“, in: H. Apolant u. a. (Hrsg.), Paul Ehr lich, S. 361-378; H. Löwe, Paul Ehrlich. Schöpfer der Chemotherapie, Stuttgart 1950, S. 160-173; J. Hurwitz, Paul Ehrlich als Krebsforscher, Diss. med., Univer sität Zürich, 1962.
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und diese, nach erfolgreicher Fortzüchtung, wiederum weiterverpflanzt. Die Fort-Pflanzung der Tumoren, die semantisch wie eine botanische oder vitale Tätigkeit anmutet, hatte für die Versuchstiere fatale Folgen. Die Tumoren der Versuchstiere wurden herausgeschnitten und direkt weiterverpflanzt, oder – je nach Versuchsplan – zu Brei verarbeitet und injiziert. Die operativen Eingriffe an den kleinen Tierkörpern erforderten besonderes Geschick, das die wissenschaftlichen und technischen MitarbeiterInnen sich mühselig im praktischen Umgang mit den Mäusen erarbeiten mussten. Die dabei gesammelten Erfahrungen flossen mitunter in die Entwicklung besonderer Instrumente und Apparate ein, in denen sich quasi Objekt-gewordenes Erfahrungswissen manifestierte, und die auf Gattung und Größe der Tiere abgestimmt waren.48 Die bereits oben beschriebenen so genannten Mäusezangen, Klemmbretter, Opera tionstische oder andere Apparate zur Fixierung der Tiere lassen die Widerständigkeiten erahnen und verweisen erstens darauf, dass sich die Tiere meist gegen die Behandlung wehrten, ihren Körper nicht passiv still hielten und zu fliehen versuchten; und zweitens, dass die (Labor-)Tier-Mensch-Beziehung durch eine wesentliche Macht-Asymmetrie gekennzeichnet ist.49 Weiterhin kann man annehmen, dass den wissenschaftlichen und technischen Mitarbeiter 48 Die steigende Anzahl an Tierversuchen zwischen 1880 und 1910 hatte dazu ge führt, dass Instrumenten- und Apparatebauer wie die Firmen F. & M. Lauten schläger oder Paul Altmann spezielle Instrumente und Apparate zur Züchtung und Haltung von und für operative Eingriffe an Tieren im Angebot führten, vgl. z. B. den Katalog Nr. 100, hrsg. von F. M. Lautenschläger, Königl. Hoflieferant Berlin N39, Frankfurt a. M., undatiert [ca. 1910]. Namensgebend waren oft die Wissenschaftler, die die Instrumente entwickelt hatten. In der Namensgebung drückt sich auch die Akkumulation kulturellen Kapitals aus. So gab es Mäusehal ter nach Ehrlich und Morgenroth, Operationstische für Ratten und Mäuse nach Kitasato etc. Für Mäuse und Ratten gab es z. B. Stoffwechselkäfige für Mäuse und Ratten (Artikel Nr. 6075-8, 6083-4); Behälter für Mäuse in verschiedenen Größen (Nr. 6079-81); Isolierkäfige für Ratten und Mäuse (Nr. 6082); Käfig zur Mäusezucht nach Heim (Nr. 6085); Transportkäfig für Meerschweinchen, Ratten und Mäuse (Nr. 6085a); Dampfsterilisator für Tierkäfige nach M. Neißer [Mit arbeiter IET] (Nr. 6103); Trinkgefäß für Mäuse (Nr. 6108); Waagen für Mäuse nach Ehrlich und Morgenroth [Mitarbeiter IET] (Nr. 6120-21); Operationstische, -bretter und -halter für Mäuse und Kleintiere, sowie zahlreiche Seziertische und -bretter für Kleintiere (Nr. 6148-53, 6156-61). 49 Bei Donna J. Haraway werden Versuchstiere im Labor auch als „work com panions“ und die Beziehung zwischen Menschen und Tieren im Labor als „work companionship“ dargestellt, die miteinander agieren (müssen). In dieser Beziehung ist der Mensch auf die Kooperation seines animalischen Gefährten angewiesen (und vice versa), um Experimente erfolgreich ausführen zu können,
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Innen über das Einstudieren von Bewegungsabläufen – beispielsweise die Entnahme von Blut bei der Maus durch das Kupieren der Schwanzspitze oder das Injizieren von Flüssigkeit in die Bauchhöhle der Maus, oder die Fixierung der Tiere in die entsprechenden Apparaturen – gleichzeitig auch eine Emotionalität und Fähigkeit zum Mitleid abtrainiert wurde. In seinen „experimentellen Karzinomstudien“ berichtete Ehrlich über einige Hundert Tumorpassagen (eines Tumors), und der Imperial Cancer Research Fund in London führte zwischen 1907 und 1913 211.319 Experimente aus50 – nur um die Größenordnung der an den Versuchen beteiligten Tiere anzudeuten. Später wurden speziell für die experimentelle Krebsforschung gezüchtete Ge schwulstmäuse verwendet. Die Wissenschaftler im Institut mussten jedoch die Vor- und Nachteile der extern zu beschaffenden, teuren Geschwulstmäuse – oft von zweifelhafter Herkunft – gegenüber der aufwendigen eigenen Züchtung, die anfangs nur schwer gelang, abwägen.51 Staatliche Einrichtungen begannen jedoch früh mit der Zucht eigener Tiere,52 einerseits aus Kostengründen, um Geld zu sparen, andererseits um die Versorgung mit einheitlichen, standardisierten Versuchstieren von gleicher Beschaffenheit sicherzustellen, wie sie für die normierten Prüfverfahren als erforderlich vgl. D. J. Haraway, When Species Meet. Dabei ist aber die Macht-Asymmetrie und Ungleichheit dieser „Arbeits-Beziehung“ zu betonen. 50 Siehe beispielsweise die Artikel in den Arbeiten aus dem Königlichen Institut für experimentelle Therapie zu Frankfurt a. M. Heft 1. Die Zahlen zu den Tier versuchen im Imperial Cancer Research Fund in: J. Austoker, A History of the Imperial Cancer Research Fund 1902-1986, Oxford 1988, S. 47. 51 Eine gewöhnliche Maus kostete 1910 ca. 40 Pf. während eine Geschwulstmaus mit 5 Mark berechnet wurde, siehe Hugo Apolant, Mitarbeiter des IET, an Heinrich Meyer, Berlin, betr. mangelhafter Lieferung und ausstehender Posten, Staatsbibliothek Berlin, Sammlung Darmstädter, 3d1905 (23). Den Preis für ein Paar Ratten beziffert L. Heim, Lehrbuch, S. 146 mit einer Mark, ein trächtiges Rattenweibchen koste 1,20 Mark. 52 Siehe den stenographischen Bericht im Preußischen Herrenhaus, Sitzung vom 16.04.1883, Wortmeldung des Preußischen Kultusministers Gustav von Goßler. Zur Standardisierung von Versuchstieren, vor allem in Bezug auf die Krebsfor schung, genetische und endokrinologische Forschung, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts siehe C. A. Logan, „Before there were Standards. The Role of Test Animals in the Production of Empirical Generality in Physiology“, in: Jour nal of the History of Biology, 35/2002, S. 329-363; K. A. Rader, Making Mice. Standardizing Animals for American Biomedical Research, 1900-1955, Prince ton 2004; R. G. W. Kirk. „‚Wanted-Standard Guinea Pigs‘: Standardization and the Experimental Animal Market in Britain, ca. 1919-1947“, in: Studies in His tory and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences, 39/2007, S. 280-291.
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erachtet wurden. Kurzum: Labortiere waren wertvoll und wurden entsprechend kalkuliert und effektiv eingesetzt. Daher wurden auch Mäuse aus der Krebsforschung für chemotherapeutische Versuche weiterverwendet, so veranlasste Ehrlich einen Laborassistenten, Versuchstiere im Rahmen chemotherapeutischer Versuche mit Krankheitserregern zu infizieren, die ursprünglich für die Krebsforschung verwendet worden waren.53 Maus-Spirochaeten-Hybride in der Chemotherapie Die enge Beziehung zwischen experimenteller Therapie, Tierversuchen und Standardisierung wird besonders in dem von Ehrlich geleiteten GSH deutlich. In der chemischen Abteilung wurden chemische Präparate entwickelt, die in der biologischen Abteilung auf ihre Toxizität und ihre therapeutische Wirkung getestet wurden. Nach ersten in vitro Versuchen wurde die Minimal- und die letale Maximaldosis sowie die therapeutische Dosierung an Versuchstieren getestet.54 Das Präparat interagierte dabei mit verschiedenen 53 „Bitte mich auch freundlich daran zu erinnern, dass Ferox oder ein bestimmter Recidivstamm – wir müssen darüber noch sprechen – bei einer serie abnormer oder abnorm gefütterter mäuse durchpassieren. Ich denke 1) an hungermäuse mit wenig Cakes oder reis, 2) an spärlich ernährte Sarcom-mäuse, 3) an mäuse mit beschränkter fett- und eiweissreiche-cohlehydrat arme nahrung, (Diabetis cakes)“, Paul Ehrlich an Wilhelm Röhl/Frl. Gulbranson, 13.08.1908, RAC PEC Box 31. 54 Die Bezeichnungen markieren das Spektrum eines Wirkstoffes, wobei die Dosis relational ermittelt wurde und die Reaktion eines Labortieres den minimalen und maximalen Wert bestimmte. In der Regel bestimmte die Minimaldosis die Menge eines Wirkstoffes, bei der überhaupt eine Wirkung registriert wurde. Das entgegensetzte Ende der Skala markierte die dosis letalis, also die tödliche Do sis einer Substanz, bei der das Versuchstier an der verabreichten Menge soeben starb. Innerhalb dieser Skala lag die therapeutische Dosis, ab der eine Heilung erzielt wurde. Ferner konnte die therapeutische Dosis zur weiteren Differen zierung im (Tier-)Versuche in dosis curativa und dosis tolerata unterschieden werden, wobei die dosis curativa die Dosis darstellte, ab der das Versuchstier als geheilt galt, während die dosis tolerata die Menge eines Wirkstoffes dar stellte, der soeben noch vom Versuchstier toleriert wurde, bei dem aber zahlrei che schädliche durch die Substanz bedingte Nebenwirkungen auftraten. Dosis tolerata und dosis letalis waren zwar ungleich, aber nur minimal voneinander getrennt. Die chemotherapeutischen Versuche zielten beispielsweise darauf ab, einen Wirkstoff dahingehend zu verändern, dass die dosis curativa möglichst niedrig lag (und die Substanz somit besonders wirksam war) und ein modifi zierter Wirkstoff dahingehend beurteilt wurde, ob die Differenz zwischen dosis
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Akteuren (verschiedene Typen von Spirochaeten wie Rekurrens/ Wechselfieber, Hühnerspirillose, Syphilis) bzw. mit verschiedenen Erregerstämmen sowie mit unterschiedlichen Tierspezies.55 Die Ma trix der Akteursverbindungen56 lässt sich exemplarisch an der Arbeit des Japaners Sahachiro Hata darstellen, der zwischen Frühjahr 1909 und Herbst 1910 als Gastwissenschaftler am GSH tätig war. Hata war ein Mitarbeiter von Shibasaburo Kitasato, der 1885 zur medizinischen Fortbildung nach Deutschland gereist und u. a. am Institut für Hygiene der Friedrich Wilhelms-Universität bzw. am Institut für Infektionskrankheiten tätig war. Dort hatte er auch Paul Ehrlich kennengelernt und mit ihm zusammengearbeitet und den Kontakt nach seiner Rückkehr nach Japan 1892, wo Kitasato ein ähnliches bakteriologisches Forschungsinstitut gründete, aufrechterhalten. An diesem Institut forschte Hata, u. a. zur Pest und zur Syphilis, bevor er 1907 zur Intensivierung seiner Studien nach Deutschland reiste.57 Nach einigen Zwischenstationen gelangte er an das GSH, wo er u. a. für „die Wartung und Pflege der erkrankten Tiere“ zuständig war.58 Zudem betraute Ehrlich ihn mit der Aufgabe, die Wirkung der bisher im GSH entwickelten Präparate auf Spirochaeten zu prüfen. Zuvor hatte man die Präparate vor allem in ihrer Wirkung auf Trypanosomen getestet, allerdings musste bei diesen die therapeutische Dosis so hoch bemessen sein, dass schwere Nebenwirkungen auftraten.59 Hata begann nun, die Wirkung der Präparate auf Wechselfieber verursachende Spirochaeten
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curativa und tolerata möglichst vergrößert wurde (bezeichnet als Verhältnis von C/T), siehe z. B. S. Hata, „Experimentelle Grundlage der Chemotherapie der Spi rillosen“, in: S. Hata, P. Ehrlich (Hrsg.), Die experimentelle Chemotherapie der Spirillosen (Syphilis, Rückfallfieber, Hühnerspirillose, Frambösie), Berlin 1910, S. 1-85, passim, z. B. S. 19, S. 25-28, S. 35 f., S. 38, S. 42, S. 49-57. S. Hata, „Experimentelle Grundlage“. Zu Akteurs-Netzwerken siehe B. Latour, S. Woolgar, Laboratory Life. The Con struction of Scientific Facts, Princeton 1979; B. Latour, Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers through Society, Cambridge 1987; und zuletzt vor allem B. Latour, Soziologie für eine neue Gesellschaft. Vgl. E. Bäumler, „Sahachirô Hata: Arbeiten mit dem Nobelpreisträger“, in: E. Kraas (Hrsg.), 300 Jahre deutsch-japanische Beziehungen auf dem Gebiet der Medizin, Tokyo 1992, S. 141-143. M. Marquardt, Paul Ehrlich als Mensch und Arbeiter, S. 85. So zusammenfassend S. Hata, „Experimentelle Grundlage“, S. 1. Dies geht auch aus früheren Publikationen Paul Ehrlichs und seiner Mitarbeiter hervor (und den Arbeitsanweisungen und Notizen Ehrlichs im RAC PEC), in denen über Versuche zu Mal de Caderas (Trypanosoma evansi) und der Schlafkrankheit (Trypanosoma brucei) berichtet wurde.
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zu testen. Zu diesem Zweck hatte Hata von befreundeten Wissenschaftlern je einen europäischen und einen afrikanischen ErregerStamm erhalten, die er erfolgreich weitergezüchtet und auf Mäuse und Ratten „überimpft“ hatte (siehe auch Abb. 3). Erfahrungswerte lehrten, dass „das Bild und der Verlauf des Rückfallfiebers bei Mäusen und Ratten von der Virulenz des Erregers und der Anzahl der eingespritzten Keime“ abhängt. „Außerdem spielt die individuelle Empfänglichkeit der einzelnen Tiere eine Rolle.“60 Die variierenden Faktoren stellten Hata vor die Schwierigkeit, dass die Heilung eines an Wechselfieber erkrankten Tieres, dem man im Versuch ein Präparat zur Prüfung der therapeutischen Wirkung verabreicht hatte, nur schwer zu beurteilen war – das Ergebnis konnte zwar einerseits die Wirksamkeit eines Präparates belegen, andererseits könnte das Tier auch deshalb geheilt worden sein, weil der Erreger schwach oder abgeschwächt worden war61 oder das Tier über eine robuste Gesundheit verfügte. Eine Beurteilung der Experimente wurde schließlich noch schwieriger oder gar unmöglich, wenn die Versuchsergebnisse variierten. Hata beabsichtigte die Probleme dadurch zu lösen, indem er die variierenden, den Krankheitsverlauf beeinflussenden Faktoren in vivo zu standardisieren versuchte. Bei Erreger-Stämmen, die „verschieden schwere Erkrankungen“ erzeugten, wäre es unerheblich, „ob man mit schwerer oder leichter Infektion arbeitet“ – es sei nur notwendig, „daß man stets eine gleichmäßig starke Infektion“ produziere. Er habe daher „davon Abstand genommen, Infektionen hervorzurufen, die der menschlichen Krankheit entsprechen“ und „den Verlauf des menschlichen Recurrens im Tierversuch nachzuahmen und die Beeinflussung dieses Verlaufes durch die verschiedenen Medikamente zu studieren.“62 Eine künstliche Laborinfektion generierte Hata, indem er jeden zweiten Tag einer gesunden Maus 60 Hata, „Experimentelle Grundlage“, S. 4, siehe auch Tab. 1: „Verlauf des Mäuse recurrens bei verschieden starker Infektion.“ 61 Eine Schwächung der Spirochaeten könne sich auch ergeben, wenn die Objekt träger oder Deckgläser nicht richtig gereinigt worden seien, denn die Spirillen reagierten sehr empfindlich gegen Alkalien und „die dem Glase vielleicht an haftenden Alkalireste“ könnten die Spirochaeten schwächen, was man dann ggf. irrtümlich dem zu prüfenden chemotherapeutischen Präparate zuschreibe, siehe S. Hata, „Experimentelle Grundlage“, S. 3. 62 S. Hata, „Experimentelle Grundlage“, S. 6. Das „natürliche“ Wechselfieber der Tiere, das beim Menschen zudem einen anderen Verlauf nahm, hatte gegenüber der künstlich erzeugten Laborinfektion auch den Nachteil, dass die Erkrankung weitaus unregelmäßiger verlief.
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das Blut einer bereits infizierten Maus übertrug. Das Blut wurde durch einen winzigen Schnitt in den Schwanz oder durch kupieren der Schwanzspitze entnommen63 und, wenn es mikroskopisch untersucht werden sollte, auf ein Deckglas aufgetragen, um es anschließend unter dem Dunkelfeld-Mikroskop zu untersuchen. Bei einer Übertragung der Krankheit auf eine andere Maus wurde das Blut der infizierten Maus in einem bestimmten Verhältnis mit physiologischer Kochsalzlösung verdünnt und der gesunden Maus intraperitoneal injiziert. Nach einigen Monaten hatte der Krankheitserreger 230 Tiere passiert, wobei die Virulenz der Spirochaeten ständig stieg.64 Der steigenden Virulenz wurde dahingehend Rechnung getragen, dass nach einer bestimmten Passagenzahl die Verdünnung erhöht wurde. Das Krankheitsbild und der Verlauf – und somit die variierenden Faktoren Virulenz und die Anzahl der Erreger – wurden mittels Dunkelfeld-Mikroskopie dahingehend vereinheitlicht, dass nur die Blutproben einer infizierten Maus, die drei Tage nach der Infektion zwanzig bis dreißig Spirochaeten per Sichtfeld enthielten, zur Übertragung und Generierung einer Standardinfektion verwendet wurden.65 Eine weitere Unwägbarkeit stellte der individuelle Gesundheitsstatus der Tiere dar. Hata konstatierte diesen individuellen Gesundheitszustand einfach nur ohne näher zu erläutern, was genau er darunter verstand. Er machte diese Individualität offensichtlich daran fest, dass bei Mäusen, die gleichzeitig mit einem schwächeren Erreger-Stamm oder mit einer „hohen Verdünnung des spirillenhaltigen Blutes“ infiziert wurden, „die Krankheit bei den einzelnen Tieren sehr ungleichmäßig“ auftrat, d. h. der zeitliche Verlauf verzögerte sich oder es war eine unterschiedliche Anzahl von Parasiten im mikroskopischen Befund nachweisbar. Individuelle Koinzidenzen bei den Versuchstieren versuchte Hata zu nivellieren, indem er mög-
63 Vgl. E. Beintker, Apparate und Arbeitsmethoden, S. 18 f.; H. F. O. Haberland, Operative Technik des Tierexperiments, S. 158-162. Die Maus konnte entwe der in einen speziellen Mäusebehälter eingespannt werden oder man setzte die Maus auf das Gitter des Mausbehälters und drehte das Gitter schnell herum, so dass sich die Maus am Gitter festhalten musste und fixierte den Schwanz zwi schen Gitter und Behältnis, so dass man den Schwanz in die Länge ziehen und in die Schwanzvene injizieren konnte. 64 Vgl. S. Hata, „Experimentelle Grundlage“, S. 3, sowie Tab. 2 (Mäuse) und 3 (Rat ten) zum Verlauf der Erkrankung bei der Überimpfung verschiedener Passagen (13, 35, 58, 84, 103). 65 Vgl. ebd., S. 5-11.
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lichst gleichartige Versuchstiere mit gleichem Gewicht, Gesundheitsstatus, Geschlecht und Alter verwandte. Die Herstellung einer standardisierten Wechselfieber-Infektion war ein aufwendiger Prozess, an dem die Erreger in variierendem Zustand, Hata und weitere humane Institutsmitarbeiter, verschiedene Apparate wie Spritzen, Mäusezangen oder das Dunkelfeld-Mikroskop und natürlich die Maus und andere Versuchstiere beteiligt waren. Die Entwicklung einer standardisierten Infektion hatte Monate in Anspruch genommen und während dieser Zeit wurde Erfahrungswissen generiert, das sich in den späteren Herstellungsprozess, also in die Prozedur der standardisierten Infektion von Mäusen mit Spirochaeten einschrieb. Die mit Wechselfieber infizierte Maus stellte nicht (oder nicht nur) eine kranke Maus dar, sondern Maus und Spirochaete bildeten eine Symbiose, ein Maus-Spirochaeten-Hybrid (MSH), der bestimmte Eigenschaften aufweisen und sich vorhersehbar und berechenbar verhalten bzw. definierte Krankheitsmerkmale und -ausprägungen in einem definierten Zeitfenster ausbilden sollte. Diese Status-Veränderung wird auch in der Publikation Hatas deutlich: Nachdem Hata auf den ersten zehn Seiten den „Infektionsmodus“ beschrieben hatte, treten im späteren Teil der Untersuchung die MSH überwiegend nurmehr als „verdünntes Spirillenblut“ oder überhaupt nur als „Spirillen“ in den Tabellen in Erscheinung.66 Zwar beschrieb Hata nur die Versuche, die zu positiven Ergebnissen geführt hatten. Allerdings lassen die vielfachen Schleifen, Prüfprozesse und überhaupt die Notwendigkeit, ein Krankheitsbild zu standardisieren darauf schließen, dass der eigentliche Verlauf der dargestellten Versuche verworren war. Hinweise im Text, die zur Vermeidung von Fehlern dienen sollen, sind dahingehend zu deuten, dass diese Fehler auch vorher aufgetreten sind.67 66 Vgl. ebd., S. 10, die Bezeichnung „Spirillenblut“ z. B. S. 12. 67 Die Darstellung Hatas ist gradlinig auf den späteren Erfolg – das „Auffinden“, die ‚Erfindung“ eines Präparates, das Spirochaeten abzutöten in der Lage war und Spirillosen zu heilen – hingeschrieben. Hata müsse beschränkt durch die literarische Darstellung „auf eine erschöpfende Beschreibung der Versuche“ verzichten. Er könne nur die „Experimente näher besprechen, die entweder positive Resultate ergaben oder in theoretischer Hinsicht“ von Interesse seien, vgl. S. Hata, „Experimentelle Grundlage“, S. 1. D. h., dass die Darstellung um die fehlgeschlagenen Experimente, Fehlversuche oder zweifelhafte und unklare Forschungsergebnisse – wie sie Karin Knorr Cetina in ihrer teilnehmenden Be obachtung eines Doktoranden zeigt, der erfolglos versuchte, Keimbläschen von Mäusen zu entnehmen und diese einer anderen Maus zu reimplantieren – berei
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Im nächsten Schritt wurde die Wirkung von mehr als zweihundert Farbstoffen und Arsenpräparaten in vitro und in vivo an unzähligen MSH getestet. In vitro wurde das Blut des MSH mit dem zu prüfenden Präparat vermischt und die Mischung zeitlich verzögert (meist eine Stunde später) unter dem Dunkelfeld-Mikroskop untersucht. Als Kriterium für eine Wirkung galt die Immobilität oder die Bewegungsunfähigkeit der Spirochaeten. Doch auch wenn sich die Spirochaeten unbeweglich zeigten und besonders wenn die Ergebnisse unklar waren, wurde das Blut mit den vermeintlich unbewegliche Erregern einer gesunden Maus zur Kontrolle injiziert und über einen längeren Zeitraum beobachtet, ob die Maus doch noch an Wechselfieber erkrankte oder später Spirochaeten im Blut der Kontrollmaus nachgewiesen werden konnten.68 Weiterhin wurden die Präparate in vivo getestet. Um individuelle Koinzidenzen ausschließen zu können, wurden die Versuche in Serien mit acht, zehn oder mehr MSH durchgeführt, ähnlich wie in der Serumprüfung, um einzelne Abweichungen aus der Reihe der Ergebnisse abgrenzen zu können. Zuvor hatte Hata für jedes Präparat die dosis tolerata für die jeweiligen Versuchstiere ermittelt.69 Das Präparat wurde in einer Trägerflüssigkeit (die je nach Präparat variierte) aufgelöst und den MSH unter die Haut oder in die Bauchhöhle70 injiziert, wobei das Versuchstier auf einem Klemmbrett oder in einer
nigt wurde, siehe K. Knorr Cetina, Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissen schaftlicher Wissensformen, Frankfurt a. M. 2002, S. 126-132. 68 Vgl. S. Hata, „Experimentelle Grundlage“, S. 11, allgemein zur Vorsicht mah nend, dass die Unbeweglichkeit der Erreger nicht unbedingt bedeuten müsse, dass diese tot seien. Auf S. 12 wird die Einspritzung von im Reagenzglasversuch unbeweglich gemachten Spirillen im Rahmen der Prüfung von Farbstoffen der Thiazinreihe vermerkt. 69 Vgl. ebd., S. 10. Siehe das Laborbuch „Dos. Tolerat“ von S. Hata, in dem er für jedes Präparat die maximal verträgliche Dosis für die Maus (Ms), Ratte (R), Meerschweinchen (M), Kaninchen (K), Hund und Huhn im Verhältnis zu einem Kilogramm Körpergewicht (bzw. bei der Maus im Verhältnis zu 20 Gramm) und unterschieden nach der Applikationsform des Präparates, also, ob das Präparat subcutan, intraperitoneal, intramuscular oder intravenös verabreicht wurde, geprüft hatte, siehe das Laborbuch in der Bibliothek des PEI. Dort sind auch entsprechende Laborbücher zur Ermittlung der „Dos. Tox“ enthalten, also der toxischen Dosis, die zum Tod des Versuchstieres führte. 70 Hata schreibt, dass die Substanz intrastomachal (in den Magen) eingespritzt wurde, aber vermutlich meinte er intraperitoneal, also dass das Präparat in die Bauchhöhle injiziert wurde.
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„Spargelbüchse“ fixiert wurde, um keine Organe zu verletzen.71 Den so behandelten MSH wurde täglich Blut abgenommen und auf vorhandene Spirochaeten untersucht. Auch wenn die Erreger nach ein oder zwei Tagen nicht mehr nachweisbar waren, wurde die Blut-Entnahme und -Untersuchung bis zu sechzig Tage fortgesetzt, um den langfristigen Erfolg des Präparates zu dokumentieren und das Auftreten von Rückfällen auszuschließen. Mit dem Dioxydiamidoarsenobenzol schien man ein Präparat gefunden zu haben, das im Tierversuch die Spirochaeten abzutöten in der Lage war und sich bei der Heilung von Rekurrens als wirksam erwies. Parallel zu den Versuchen mit Mäusen hatte Hata zu Vergleichszwecken das experimentelle Setting auch auf Ratten ausgedehnt, um die therapeutische Wirksamkeit des Präparates zu bestätigen. Die Matrix wurde nun um weitere Tierarten und Krankheiten bzw. parasitäre Krankheitserreger erweitert: ähnliche Versuchsreihen zur therapeutischen Prüfung der als wirksam erachteten Arsenikalie wurden zur Hühnerspirillose, zur Frambösie und zur Syphilis durchgeführt, wobei das Erscheinungsbild und der Verlauf der Krankheiten erneut standardisiert und eine geeignete Versuchstierspezies gefunden wer den musste.72 Bei den in vitro- und in vivo-Versuchen stellte Hata fest, dass einige Präparate wie die Farbstoffe der Thiazinreihe die Spirochaeten nur im Reagenzglas abzutöten in der Lage waren, im Tierversuch jedoch nur eine geringe „parasiticide“ Wirkung entfalteten; wohingegen Arsenikalien im Reagenzglas kaum oder keine die Parasiten beeinträchtigende Wirkung zeigten, während im Tierversuch alle Parasiten getötet wurden.73 Bezugnehmend auf Ehrlich erklärte Hata das unterschiedliche Verhalten der Präparate dadurch, 71 Vgl. H. F. O. Haberland, Operative Technik des Tierexperiments, S. 151-153; E. Beintker, Apparate und Arbeitsmethoden, S. 19. 72 Die Generierung einer einheitlichen Syphilisinfektion warf weitaus größere Probleme auf. Da es hier viel schwieriger war, die Stämme künstlich und ste ril zu kultivieren, entwickelte Hata eine Methode zur Züchtung der Kulturen im Augenwasser von Kaninchen, die sich sicherer übertragen und über die sich Kreuzinfektionen vermeiden und somit eine wesentlich regelmäßigere Infektion erzeugen ließ, siehe S. Hata, „Experimentelle Grundlage“, S. 60-63; A. C. Hün telmann. „Seriality and Standardization in the Production of Salvarsan”, in: His tory of Science, 48(3/4)/2010, S. 435-460. Zur Standardisierung von Versuchs tieren K. A. Rader, Making mice; C. A. Logan, „Before there were Standards“. 73 Beispielsweise hatten die Farbstoffe im Reagenzglas eine hohe „Abtötungskraft“, während sie im infizierten Tierkörper ganz versagten (S. Hata, „Experimentelle Grundlage“, S. 12 f.). Anders verhielt es sich mit dem Dioxydiamidoarsenobenzol,
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dass die Farbstoffmoleküle „stärker organotrop“ als „parasitotrop“ seien und durch die Verbindung mit den Körperzellen der Maus wirkungslos würden, da die Rezeptoren des Farbstoffes, die sich im Reagenzglas an diejenigen des Parasiten andocken würden, in vivo durch die Körperzellen gebunden seien.74 Genau umgekehrt verhielt es sich mit dem Dioxydiamidoarsenobenzol: hier schien das Präparat erst in Verbindung mit den Körperzellen und der sich dadurch verändernden Molekülstruktur in der Lage, eine Verbindung mit dem Parasiten einzugehen und diesen unschädlich zu machen. Die Versuchsergebnisse zur Herstellung eines standardisierten MSH sowie zur therapeutischen Wirkung der Präparate auf die Rekurrens-Erreger wurden von den Wissenschaftlern und Laborassistenten in Notiz- bzw. Laborbüchern aufgezeichnet (siehe Abb. 2) und tabellarisch zusammengefasst. Die Interaktion zwischen den Versuchstieren, den Krankheitserregern, den Präparaten, dem wis senschaftlichen und technischen Personal und den administrativen Laboraufzeichnungen im Sinne von Aktanten war notwendig, um die Versuche bewerten zu können, ihnen Sinn zuzuschreiben, sie erneut in einen narrativen Text umzuwandeln und um sie objektiv mit anderen wissenschaftlichen Arbeiten vergleichen zu können.75 Im Rahmen der Versuche wurde den Mäusen unterschiedliche Rollen zugeschrieben und dementsprechend veränderten sich ihr ontologischer Status in der Tier-Mensch-Beziehung und ihre Wirkungsmacht. Für das jeweilige Experiment bzw. den Ausgang des Versuchs hatten die Symptome, die Reaktionen der Tiere (und der so genannten Parasiten) und die Veränderung durch die Maus-Spirochaeten-Beziehung eine fundamentale Bedeutung. Die Reaktionen wurden aufgeschrieben, in Zahlen umgewandelt und in einer ‚Dadas im Tierversuch die Spirochaeten abzutöten in der Lage war, jedoch nicht im Reagenzglas, siehe ebd., S. 21 f. und Tabelle 12. 74 Vgl. ebd., S. 14. Unter parasitotrop (bzw. analog organotrop) verstand Ehrlich Stoffe, die eine chemische Verwandtschaft mit den Parasiten hatten und eine Verbindung mit ihnen eingehen – an sie „verankert werden“ – konnten, vgl. P. Ehrlich, „Schlußbemerkungen“, in: P. Ehrlich, S. Hata (Hrsg.), Experimentelle Chemotherapie, S. 114-164. 75 Vgl. zur Bedeutung der Laborbücher im experimentellen Setting F. L. Holmes, „Laboratory Notebooks and Investigative Pathways“, in: ders. u. a. (Hrsg.), Reworking the Bench. Research Notebooks in the History of Science, New York 2003, S. 295-308; zur Praxis und Technologie der Aufschreibung im Prozess der Wissensgenerierung V. Hess, J. A. Mendelsohn, „Paper Technology und Wissensgeschichte“, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin, 21/2013, S. 1-10.
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tenbank‘ kumuliert, wobei das Laborbuch und die Maus eine virtuelle Einheit bildeten. Ohne die zugehörigen Informationen über den Versuchsablauf und den Stand des Versuchs handelte es sich nur um eine Maus, ggf. um eine kranke Maus. Zu diesem Zweck wurde die Maus im Labor „individualisiert“: sie erhielt eine Nummer (respektive auf dem Mausglas wurde die Nummer kenntlich gemacht bzw. an dem Glas befestigt) oder auf ihrem Fell erfolgte eine eindeutige Kennzeichnung.76 Mit dem Aufstieg von der Keller- zur Labormaus wandelte sich auch die Ökonomie der Aufmerksamkeit,77 der wiederum ein verändertes Pflege- und Ernährungsregime78 entsprach: Während der Versuche wurden die Tiere von den Mitarbeitern des GSH ständig beobachtet, gewogen, besonders gepflegt und das Verhalten genau registriert. Der Gesundheits-/Krankheitsstatus des Tieres galt als wesentliches Kriterium, um den therapeutischen Effekt eines neu entwickelten Präparates beurteilen zu können und das den Erfolg oder Misserfolg eines Experiments definierte. In zahlreichen Versuchen traten Schwierigkeiten auf, weil die Tiere anders als von den Wissenschaftlern erwartet reagierten: Bei den geschilderten chemotherapeutischen Versuchen zum Wechselfieber zeigten einige Mäuse nach der Infektion mit Krankheitserregern offensichtlich kaum Krankheitssymptome oder im Blut waren nur wenige Erreger nachweisbar; oder umgekehrt, trotz einer Infektion 76 Tanzmäuse hatten eine individuelle Fellfärbung, an denen man sie erkennen konnte. Ebenfalls dienten die Fellmerkmale von Meerschweinchen als „individu elles“ Charakteristikum oder zumindest Kennzeichnung. Andererseits bot sich die Möglichkeit, weiße Mäuse farblich zu kennzeichnen, siehe auch L. Heim, Lehrbuch, S. 149. 77 Je wertvoller die Tiere waren oder im Verlauf einer Versuchsanordnung wurden, weil beispielsweise der Erfolg eines Experiments zunehmend an bestimmte Tiere als Träger von Informationen gebunden war, desto mehr Aufmerksamkeit und Pflege erhielten sie. Tiere, die teuer in der Anschaffung waren oder zu denen ggf. eine emotionale Beziehung aufgebaut wurde und die damit emotional wertvoller erschienen wie z. B. Hunde, oder Tiere, die länger im Institut verblieben, erhiel ten eine höhere Aufmerksamkeit als Mäuse oder Ratten, die gemeinhin als Plage und als unnütz wahrgenommen wurden; vgl. die Beschreibung von Ratten und Mäusen als Plage in Brehms Tierleben sowie J. Burt, Rat, London 2006; S. A. Bar nett, The Story of Rats. Their Impact on Us, and Our Impact on Them, Sydney 2001. Zur emotional engen Hund-Mensch-Beziehung u. a. E. Oeser, Hund und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung, Darmstadt 2004; K. M. Rogers, First Friend. A History of Dogs and Humans, New York 2005. 78 „Bitte Frl. Müller und Blothner bitten, auf starke Induration und Nekrosen so wie Verelendung der Tiere aufmerksam zumachen und diese ins Buch einzutra gen. Diese thiere müssen ganz besonders gut gefüttert werden.“ Paul Ehrlich an Carl Browning, 20.05.1907, RAC PEC Box 28.
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mit stark verdünntem „Spirillenblut“ erkrankte die Maus schwer; oder eine Maus verstarb aufgrund idiosynkratischer Reaktion auf eine der chemischen Substanzen; oder eine als geheilt erachtete Maus zeigte vier Wochen nach dem Versuch plötzlich Krankheitserscheinungen. Die wissenschaftlichen und technischen MitarbeiterInnen im Labor mussten daher gelegentlich intervenieren, um den Versuchsablauf zu justieren oder zu korrigieren.79 Eine Kreuzinfektion konnte nicht nur einen einzelnen Versuch ruinieren – der dann wiederholt werden musste –, sondern mitunter eine ganze Versuchsanordnung oder andere Tiere bedrohen.80 Ehemals harmlose Kellermäuse stellten als veränderte MSH auch eine Bedrohung für den Laborwissenschaftler dar, der mit den Tieren vorsichtig hantieren musste. So mahnte Ludwig Heim in seinem Lehrbuch: „Man vergesse aber niemals, dass man es nach der Impfung mit kranken Tieren zu thun hat, deren Ausscheidungsstoffe infektiös, deren Haare mit infektiösem Materiale besudelt sein können – z. B. bei Vorhandensein äusserlicher Geschwüre – und die, selbst wenn sie sich nicht direkt für den Impfstoff empfänglich zeigen, doch mit Infektionsstoffen in Berührung gekommen sind […]“.81 Der Umgang mit infizierten Tieren könne nicht vorsichtig genug sein und auch Auswurfstoffe und Kot der Tiere müssten vor der Entsorgung desinfiziert werden.82
79 Vgl. beispielsweise Ehrlichs Bitte an den Mitarbeiter Wilhelm Röhl, „die Pa raninfütterung mit 0,005 (gleichzeitig mit injection) nochmals anzulegen! Die bisherigen resultate mit der 0,05 paraninfütterung sind sehr unangenehm und stellten den vorzug der Dichlorverbindung sehr in zweifel. Eventuell müsste man noch weiter arbeiten, um die Sache aufzuklären!“ Paul Ehrlich an Wilhelm Röhl, 30.06.1908, RAC PEC Box 31. 80 „Wegen der Versuchsführung sprechen wir noch – evtl. müsste Frl. Gulbranson mithelfen. „Vorsicht wegen der seuchen! Thiere nicht oft wiegen, höchstens alle 8 tage. Die blutuntersuchung bei den behandelten – alle 8 tage durch mäusever suche. Hauptsache vermeidung von infectionen!“ Paul Ehrlich an Carl Brow ning, 19.12.1906, RAC PEC Box 27. 81 Vgl. L. Heim, Lehrbuch, S. 145. 82 „Nicht genug Vorsicht kann dem empfohlen werden, der mit infizierten Tieren umzugehen hat; die Auswurfstoffe, Urin, Kot etc. können die krankheitserre genden Keime enthalten; ganz besonders gefährlich aber sind Tiere mit offenen, eiternden Wunden, wie sie nach subkutaner Impfung mit tuberkulösem oder rotzigem etc. Material fast regelmäßig vorkommen. Der ganze Pelz ist verdäch tig, und wer ein solches Tier angefasst hat, muss sich sofort, ehe er mit einem anderen Gegenstande (Thürklinken! u. dgl.) in Berührung kommt, aufs pein lichste desinfizieren.“ L. Heim, Lehrbuch, S. 150, Hervorhebung im Original.
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Insgesamt hatte sich die Beziehung zwischen Maus und Mensch im Labor intensiviert. Das Verhalten der Maus wurde genau beobachtet, sie wurde ständig in die Hand genommen, auf eigens für Mäuse und andere Kleintiere entwickelte Operationstische geschnallt oder auf anderen Vorrichtungen eingeklemmt. Auch körperlich veränderte sich die Maus. Ihr wurden Krankheitserreger oder chemische Präparate in die Bauchhöhle injiziert oder ihr wurden in Operationen Gewebsteile implantiert oder Organ- und Gewebsteile entnommen. Demgegenüber wurde in besonderen Fällen zum Schutz der Menschen eine künstliche Distanz zur Maus geschaffen, wenn die Maus in ihrem Mäuseglas zusätzlich in einem Digestorium untergebracht war, einer durch Glas abgesonderten Abdampfkapelle, die Dämpfe und Gerüche absaugte, das Personal aber auch vor einer Infektion über die Atemwege schützen sollte.83 Eine infizierte Maus bzw. ein MSH, der aus seinem Behälter entkommen war, bedrohte nicht nur das Ergebnis eines Versuchs, sondern auch andere Tiere, ganze Versuchsordnungen und die im Labor beschäftigten Menschen. Umwelt, Lagerung, Passage, Transport Zwar hatten der Tierversuch und die Maus als Modellorganismus in den geschilderten Versuchsanordnungen eine bedeutende Funktion, die Hauptrolle nahm jedoch der Krankheitserreger ein. In der Bakteriologie wurden durch die Injektion des Versuchstieres mit übertragbaren Krankheitserregern zwar eine Krankheit und deren Symptome, und in der Immunologie und Chemotherapie wiederum die künstliche oder körpereigene Bekämpfung dieser Erkrankung im Versuchstier modelliert, im Fokus stand jedoch der zu beobachtende und zu beschreibende Krankheitserreger und dessen Auswirkungen auf den Organismus. Das Tier, machen Ernst Friedberger und F. Schiff in ihrem Handbuchartikel zu den „Methoden des Tierversuchs“ deutlich, dient zum einen „als Nährboden“ der Bakterien und zum anderen als „Testobjekt zur Erforschung gewisser Bakterienqualitäten“.84 Das Labor- und im eigentlichen Sinne eben nicht das Versuchstier dient nur als Umwelt, als natürlicher Lebensraum der Bakterien. Dies zeigt sich insbesondere in der Krebsfor83 Ein Mäuse-Digestorium ist abgebildet im Katalog 100 der Firma F. M. Lauten schläger. 84 Vgl. E. Friedberger, F. Schiff, „Methoden des Tierversuchs“, S. 187.
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schung und in der Chemotherapie. In der Krebsforschung fungieren Labortiere als „Passage“, um die Tumorzellen nach Untergang des Wirtstieres zu erhalten und fortzuzüchten oder um die Virulenz der Tumorzellen mit der Passage zu steigern. In der Chemotherapie geht es ganz ähnlich darum, die Virulenz eines Krankheitserregers zu steigern bzw. die Reaktion des Krankheitserregers auf ein bestimmtes chemisches Präparat zu testen. Die Passage und das ‚passagieren‘ verweist darauf, dass der Erreger durch das Tier hindurch reist und die Maus lediglich ein „Durchgang“ ist. Die Maus oder andere Labortiere dienen dem ‚durchreisenden‘ Bakterium oder den Zellkulturen nicht nur als Umwelt und Passage, sondern die Labortiere gehen selbst auf Reisen. Im Frühsommer 1905 beabsichtigte der Direktor des IET, seinem US-amerikanischen Kollegen William T. Councilman „einige Mäuschen, die mit Carcinom behaftet sind“ zu Forschungszwecken zukommen zu lassen.85 Die administrative Organisation der Versendung der Tiere war aufwendig. Ende Mai 1905 stellte der Direktor des IET eine Anfrage an die Direktion der HAPAG (Hamburg-Amerikanische Packetfahrt AG), ob die Reederei den Transport der Tumor-Mäuse übernehmen könne. Mit dem Transport allein war es jedoch nicht getan, denn es sei „notwendig, dass die Tierchen unterwegs von fachmännischer Seite etwas observiert und regelmässig gefüttert werden. Vielleicht würde von den Herren Aerzten Ihrer Schiffe einer oder der andere geneigt sein, die Aufsicht über die Tierchen zu übernehmen und die richtige Expedition zu überwachen.“ Ehrlich versicherte, „dass der Transport dieser Mäuse vom hygienischen Standpunkte aus unbedenklich ist, da die Affektion nicht übertragbar ist, ausserdem erfordern die Tierchen kaum irgend welchen Platz.“86 Der darauf folgende Schriftverkehr mit der Reederei war jedoch erst der Anfang. Am 10. Juli informierte Ehrlich seinen Freund Councilman über den Stand der Reiseplanung: er habe die Einführung der Mäuse in die USA beim amerikanischen Generalkonsul beantragen und ein Attest einbringen müssen, ob der Import der Tumormäuse überhaupt erlaubt sei. Nach Rücksprache mit dem New Yorker HafenGesundheitsbeamten sei die Angelegenheit im „Staatsministerium für Landwirtschaft in Washington“ erörtert und genehmigt worden. Gleichwohl erfolgte die Versendung der Mäuse erst Ende Juli 85 Paul Ehrlich an die Direktion der HAPAG, 29.05.1905, RAC PEC Box 24, Copy Book XVII. 86 Ebd.
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1905, da der Transport bis zum Hafen und in den USA von New York bis nach Cambridge (Mass.), dem endgültigen Bestimmungsort, organisiert werden musste.87 Die Mäuse, denen zuvor Tumoren „mit schönem Impferfolg“ eingepflanzt worden waren, wurden in zwei Käfigen versandt.88 Ehrlich wies den Präparator des IET in der Arbeitsanweisung „Karcinomsendung an Councilman gut vorbereiten“ an, in die Käfige auch eine Mohrrübe zu legen, „damit die Tiere nicht Durst leiden“.89 Gegenüber Councilman bedauerte Ehrlich, dass durch die „Bummelei solche Unannehmlichkeiten entstehen“, aber der lange bürokratische Vorlauf hätte den Vorteil, dass man „nach dem Modus, nach dem jetzt das Material verschickt wird, später immer verfahren“ werden könne90 – was auf die Häufigkeit dieses Vorgangs verweist.91 In den Abteilungen des IET und des GSH wurden Bakterien und Zellkulturen fortgezüchtet, vorrätig gehalten, zu Forschungszwecken verwendet und versendet. Die Labortiere erfüllten in diesen alltäglichen Tätigkeiten verschiedene Funktionen und hatten entsprechend unterschiedliche Existenzweisen, wobei es sich letztlich um Varianten eines Status handelt – dem der Umwelt für die Krankheitserreger. In ihrer Beziehung zum Krankheitserreger sichern die Labortiere diesem die Fortpflanzung und stellen die für das Überleben notwendige Umwelt dar. Für den Wissenschaftler dienen die Labortiere zum einen als Lagerstätte. Die Tiere müssen für diesen einfachen Zweck nicht einmal besonders standardisiert sein, sondern es gilt lediglich, die Überimpfung des Erregers sicherzustellen, ohne dass der Erreger sich verändern soll oder muss. Die Überimpfung kann weiterhin natürlich auch mit einem bestimmten Zweck erfolgen, beispielsweise, um die Virulenz eines Erreger- oder 87 Die Mäuse wurden Ende Juli mit einem Salomon Fuller verschickt, den Schrift wechsel im Juni und am 10.07.1905 und zwischen dem 25. und 27.07.1905 mit Councilman in RAC PEC Box 24, Copy Book XVII. 88 Siehe hierzu den Transportkäfig für Ratten und Mäuse (Nr. 6085a) im Katalog 100 der Fa. F. & M. Lautenschläger. 89 Vgl. die Arbeitsanweisung an Präparator Göldner, undat. ca. Juni 1905, RAC PEC, Box 12. 90 Paul Ehrlich an William Councilman, 10.07.1905, RAC PEC, Box 24, Copy Book XVII. 91 Siehe z. B. die Versendung von Mäusen für Prof. Wendelstadt, 03.12.1907; oder von zwei Karzinom-Mäusen an Wolfgang Weichardt, 08.11.1907; oder die Übersendung eines überimpften Mäusetumors an Alessandro Bruschettini, 18.11.1907; oder die Bitte an Simon Flexner, Rockefeller Institute New York, um Übersendung eines Tumors, alles RAC PEC, Box 25.
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Zellstammes zu steigern oder abzuschwächen. Das Labortier stellt letztlich nur eine Passage der Erreger oder der Zellen auf dem Weg zu einer bestimmten Entwicklung dar. Schließlich dienen die Labortiere in ihrer Eigenschaft als Umwelt als Transportmedium. In der Arbeitsanweisung betreffend die „Karcinomsendung an Councilman“ wird besonders deutlich, dass vornehmlich ein Tumorgeschwulst versendet werden soll und die Maus hier das Medium ist, über das der Tumor verschickt wird. Währung Die Sendung der Krebs-, Karzinom- oder je nach Namensgebung Geschwulst-Maus an den mit Ehrlich befreundeten Professor für Pathologie in Harvard, William T. Councilman, verweist auch auf eine weitere Daseinsform der Maus bzw. des Labortieres. Ehrlich und seine zeitgenössischen Kollegen sandten sich gegenseitig Labortiere, Präparate oder Bakterienkulturen zu.92 Der Austausch diente einer seits dazu, Versuchsergebnisse nachzuprüfen oder Experimente fortzusetzen. Andererseits diente die gegenseitige Zusendung von Bakterienkulturen, Versuchstieren, aber auch von Sonderdrucken oder Informationen der gegenseitigen Anerkennung der jeweiligen Forschungsleistung und es stellte zugleich einen Vertrauensbeweis dar, wenn man den Empfänger in seine aktuelle Forschungsarbeit einbezog. Die Präparate, Sonderdrucke oder eben Labortiere stellen in dieser Hinsicht eine Währung dar, mittels derer diese wissenschaftliche Anerkennung ausgedrückt wurde.
92 Z. B. Dank für zugesandte Farbstoffe und Bitte um „Ziegenserum“, Maurizio Ascoli an Paul Ehrlich, 28.11.1900, RAC 650.3 Eh 89 Martha Marquardt Coll ection, Box 1; Richard Pfeiffer betrachtet Ehrlichs Arbeiten als Fortsetzung seiner eigenen und übersendet eine Milzbrandkultur an Paul Ehrlich, 06.06.1899, ebd., Box 2; Dank für die Übersendung des Giftes, das Ehrlich als Zeichen der freundschaftlichen Gesinnung deutet, Ehrlich an Albert Calmette, Institut Pasteur Lille, undat. Jan. 1903, RAC PEC, Box 22; Dank für Übersendung der Katze mit „wunderschönem Mama-Carcinom“, Ehrlich an Prof. Dr. Regenbo gen, Kgl. Tierarzneischule Berlin, 16.01.1903, (ähnlich auch Dank für Katze an Ferdinand Blum), RAC PEC Box 22; Rückfrage, ob die atoxylfeste Maus ange kommen ist und Bitte um Zusendung einer Hornhautlues der Kaninchen, Ehr lich an Constantin Levaditi, Institut Pasteur Paris, 19.11.1908, RAC PEC Box 25.
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Mausetot – das postmortale Leben der Labormaus Eine Maus kann auch dann noch in den Instituten präsent sein, allerdings in veränderter Daseinsform und Existenzweise, wenn sie im Labor gestorben ist. Sie führt dann die Existenz einer Nummer oder Merkmalsbeschreibung in Laborbüchern,93 sie fungiert als Fallbeispiel in einer Veröffentlichung, als Markierung in einer graphischen Darstellung, als Zahl in einer Tabelle94 oder als photographische Abbildung in einer Publikation.95 Darüber hinaus verblieben Körperteile oder Zellen der Mäuse in den Instituten und dienten als materielle Grundlage für weitere Experimente. Wie oben beschrieben wurde z. B. Blut im Rahmen von immunologischen Experimenten aufbewahrt, im Prozess der Standardisierung von Krankheiten anderen Mäusen injiziert, auf Glasplättchen präpariert oder Zellen von Organen wurden im Rahmen der Krebsforschung anderen Labortieren überimpft und transplantiert.
Eine Maus ist eine Maus, ist eine Maus Eine Maus im IET lebte in den ersten Monaten ihres Daseins in größeren Gruppen im Keller, bis sie, sofern sie dort nicht zu Züchtungszwecken verblieb, von einem Mitarbeiter des Instituts in die Laboratorien verbracht wurde. Mit dem Aufstieg änderte sich die Umwelt und der ontologische Status der Maus: sie wurde zu einer Labormaus, die isoliert in einem Mäuseglas untergebracht und gekennzeichnet wurde. Im Labor konnte sich der ontologische Status der Maus und ihre Beziehung zum Menschen mehrfach verändern: im Prüfverfahren konnte sie zu einem Bio-Indikator werden, als Teil eines Experiments konnte sie zu einem Versuchstier oder zu einer Tumormaus, zu einer Tumorpassage werden oder als Träger eines spezifischen Krankheitserregers dienen. Die als Tumorpassage 93 Beispielsweise in den zahlreichen Labor- und Notizbüchern der beiden Institute, siehe z. B. die Laborbücher Tox. XI, Dos. Tolerat. in der Bibliothek im PEI. 94 Vgl. z. B. Tab. I und II in P. Ehrlich, K. Shiga, „Farbentherapeutische Versuche bei Trypanosomenerkrankungen“, in: Berliner Klinische Wochenschrift, 41/1904, S. 329-332, S. 362-365. 95 Siehe die Abbildungen sezierter Mäuse in P. Ehrlich, „Ueber ein transplantables Chondrom der Maus“, in: Arbeiten aus dem Königlichen Institut für experi mentelle Therapie zu Frankfurt a. M., 1/1906, S. 63-73, hier Taf. 1.
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dienende Maus konnte als Schiffspassagier über den Ozean reisen, wo der sie kennzeichnende Tumor die Grundlage einer neuen Zellkultur bildete. Schließlich war die Maus in Verbindung mit einem Laborbuch, das Niederschriften über diese Maus enthielt, ein Hybrid aus organischer Information. Die Veränderung war jedoch nicht auf eine Daseinsweise und auch nicht in eine Richtung beschränkt, sondern abhängig von der Tier-Mensch-Beziehung veränderte sie ihre Existenzweise: Eine Tumormaus konnte gleichzeitig Labormaus und Versuchstier, Währung und Passage sein. Ging sie jedoch auf Reisen, war sie keine Labormaus mehr, sondern ein Passagier, der von Schiffsärzten oder anderem Schiffspersonal mit Karotten gefüttert und betreut wurde und dessen Reise ein erheblicher administrativer Aufwand vorausging. Am Ende der Reise konnte der Passagier aber wieder zu einer Labormaus (oder seziert und fotografiert das Abbild einer Maus) werden. In seltenen Fällen konnte eine Labormaus wieder eine Haus- oder Kellermaus werden, wenn sie, nachdem sie eine Prüfung oder ein Experiment überlebt hatte, in den Keller zurückgebracht wurde oder wenn ihr die Flucht gelungen war. Martha Marquardt, die Sekretärin und spätere Biographin von Paul Ehrlich, berichtet anekdotisch von der Jagd nach geflüchteten Mäusen durch Mitarbeiter des Instituts und von einer Mäuseschar, die sich in der hintersten Ecke von Ehrlichs Schreibtisch eingenistet hatte und von ihm verschont wurde.96 Die Maus veränderte ihr Dasein jedoch nicht einfach so und von allein. Eine Hausmaus, die sich in den Wänden oder im Boden eines Hauses eingenistet hatte und der ein Geschwulst wuchs, war einfach nur eine Maus, deren Wohlbefinden beeinträchtigt und die krank war – und keine Tumormaus. Erst in ihrer Beziehung zum Menschen veränderte sich der ontologische Status der Maus. Zum einen bedingte die Tier-Mensch-Beziehung die ontologische Statusveränderung der Maus, indem der Wissenschaftler die Maus aus dem Keller in das Labor verbrachte, wo sie durch Laborpersonal operiert, ihr ein Tumor eingepflanzt oder ein Krankheitserreger injiziert wurde. Zum anderen veränderte sich die Tier-Mensch-Beziehung wiederum durch die Veränderung des ontologischen Status. Die Kellermaus war größtenteils sich selbst überlassen und stellte eine Maus ohne Eigenschaften dar. War die Maus im Labor jedoch Teil eines experimentellen Settings, so wurden ihre individuellen Eigenschaf96 Vgl. M. Marquardt, Paul Ehrlich, Berlin 1951, S. 50, S. 52, S. 139.
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ten und Reaktionen wahrgenommen und in Laborbüchern festgehalten. Überdies wurde ihr als Labormaus große Aufmerksamkeit durch die im Labor tätigen MitarbeiterInnen zuteil: Die Labormaus wurde besonders gepflegt und gefüttert (was im Falle von Fütterungsexperimenten nicht immer zum Besten der Maus sein musste), denn die Reaktion der Maus im Rahmen der Versuchsanordnung hatte entscheidenden Einfluss auf das Ergebnis der Versuche und konnte somit eine große Wirkungsmacht entfalten im Prozess der Wissensproduktion. Durch diese agency drohte eine Maus in ihren Re-Aktionen nicht nur die erfolgreiche Durchführung eines Versuchs zu durchkreuzen, sondern eine mit Krankheitsstoffen infizierte Maus konnte für den Menschen im Labor selbst eine Bedrohung darstellen. Aufgrund dieser Wirkungsmacht waren Wissenschaftler wie Hata bestrebt, die individuellen Eigenschaften der Maus und ihre Reaktionen in einem Versuch berechenbar zu machen, sie als Umwelt für einen Krankheitserreger zu standardisieren, um im Rahmen eines Experiments andere Einflussfaktoren als die modellierten auszuschließen und unabhängig von Ort und Zeit reproduzierbare Versuchsergebnisse zu erhalten und so eine kausale Aussage über eine im Versuch erzeugte Wirkung treffen zu können. Die Schwierigkeit für die Wissenschaftler lag darin, dass sie einerseits das Tier als lebenden Organismus benötigten, um im Modell vitale Prozesse nachzustellen, andererseits jedoch sollte dieses unkalkulierbare Versuchsobjekt wie ein technischer Apparat, möglichst berechenbar und regulierbar sein.
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Tiermodelle und die Ökologie des Wissens: Das Beispiel des Zebrafisches1
„58th Species. — CYPRINUS RERIO. A Cyprinus of the Danio kind, with several blue and silver stripes on each side; with the body much compressed, and with four tendrils, of which two are a little longer than the head. This beautiful fish I found in the Kosi river, where it grows to about two inches in length.“2
Mit diesen Worten wurde der Zebrafisch der westlichen, wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgestellt.3 Der schottische Arzt und Universalgelehrte Francis Hamilton (vormals Buchanan) beschrieb die Spezies in seinem Band An account of the fishes found in the river Ganges and its branches (1822) im Rahmen seiner ausgiebigen naturhistorischen und ethnographischen Erkundungen und Beschreibungen der Bevölkerung, Kultur, Flora und Fauna der kolonialen Territorien, welche teils auf eigene Initiative, teils im Auftrag der East India Company erstellt wurden.4 Wie so viele Objekte der Naturgeschichte findet der Zebrafisch also im imperialen Kontext Eingang in die Geschichte der Wissenschaften.5 In der Nachfolge Hamiltons wird die Spezies verschiedentlich erwähnt, etwa in wei1
Ich danke Christian Reiß, Staffan Müller-Wille sowie den Herausgebern für wert volle Hinweise, die zur Verbesserung dieses Aufsatzes beigetragen haben. Der Beitrag wurde am ICI Berlin verfasst (affiliated fellow 2016/17, Term III - 2017/18, Term I). 2 F. Hamilton, An account of the fishes found in the river Ganges and its branches, Edinburgh 1822, S. 323. 3 Die in Deutschland übliche Bezeichnung ist „Zebrabärbling“. Im Laborkontext, um den es hier jedoch in erster Linie geht, wird in Anlehnung an die englisch sprachige Fachliteratur häufiger der Ausdruck „Zebrafisch“ gebraucht. Die taxo nomische Bezeichnung ist Danio rerio Hamilton, 1822. 4 Zu Hamilton siehe M. F. Watson, H. J. Noltie, „Career, collections, reports and publications of Dr Francis Buchanan (later Hamilton), 1762–1829: natural history studies in Nepal, Burma (Myanmar), Bangladesh and India. Part 1“, in: Annals of Science, 73/2016, S. 392-424. 5 Zu Wissenschaft und Kolonialismus siehe M. A. Osborne, „Acclimatizing the world: a history of the paradigmatic colonial science”, in: Osiris, 15/2000, S. 135-151.
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teren Beschreibungen der Fische Indiens sowie in ichthyologischen, naturhistorischen Kompendien, wie etwa Georges Cuviers Histoire naturelle des poissons.6 Auch in Form konservierter Exemplare scheint der Fisch seinen Weg nach Europa gefunden zu haben, so wird er etwa im Katalog der Fische in den Beständen des British Museum erwähnt.7 Der Zebrafisch war ein Gegenstand der naturhistorischen Art zu wissen: Man wusste, dass es ihn gibt, wo er vorkommt, und wie er sich im taxonomischen Sinne zu den anderen Naturdingen verhielt, von deren Existenz man Kenntnis hatte.8 Dieses Wissen stellt eine neue Beziehung zwischen dem Fisch und dem Menschen dar. Es soll im Folgenden nicht darum gehen, die Geschichte des Zebrafisches als Gegenstand des Wissens zu schreiben, also eine Geschichte, die vom naturhistorischen Wissen des 19. Jhds., von den Charakteristika und der Herkunft des Fisches, über physiologisches und embryologisches Wissen im frühen 20. Jhd., bis hin zu den zahllosen Erkenntnissen reicht, die einzelne Moleküle des Fisches und ihre Interaktion betreffen und die sich in wissenschaftlichen Journalen und spezialisierten Datenbanken in den letzten Jahrzehnten angesammelt haben.9 Es soll vielmehr darum gehen, zunächst eine Geschichte der Interaktion von Mensch und Zebrafisch zu schreiben, um sich dann den daraus resultierenden Strukturen der Forschungsumgebungen zuzuwenden, in denen Wissen über den Zebrafisch entsteht. Das Aufzeigen der Genealogie der ökologischen Verbindungen zwischen dem Zebrafisch und dem Menschen macht deutlich, wie Wissen im Kontext historisch gewachsener Konstellationen entsteht. Diese sind zugleich die Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis und grenzen die Möglichkeiten der weiteren Entwicklungen ein.10 Dabei spielt das Aquarium eine 6 J. McClelland, Indian Cyprinidae, Calcutta 1839, S. 397; G. Cuvier, M. A. Va lenciennes, Histoire naturelle des poissons, Band 16, Paris 1842, S. 406. 7 A. Günther, Catalogue of the fishes in the British Museum, London 1868, S. 292. 8 J. V. Pickstone, Ways of knowing: A new history of science, technology, and medicine, Chicago 2000, Kap. 3. 9 Siehe https://zfin.org/, eine Online-Datenbank, in der sich Informationen über, unter anderem, Mutationslinien, Reagenzien, genetische Marker sowie Publika tionen finden, die für die Zebrafischforschung relevant sind (zuletzt abgerufen am 09.08.2017). 10 Will man die Veränderungen auf der Ebene der Kultur, von der die Wissenschaf ten Teilbereiche sind, analog zu evolutionären Prozessen verstehen, so reicht es hier wie dort nicht aus, nur die differentielle Selektion von Einheiten (Genen oder Memen) zu betrachten. So wie in der Evolutionstheorie heute der Ontoge
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besondere Rolle, indem es eine Umwelt darstellt, die beiden Seiten der Beziehung zugänglich ist, und die somit als materielles Medium der Vermittlung dieser Tier-Mensch Beziehung fungiert. Der Beitrag orientiert sich somit an einem ökologischen Zugang zur TierMensch Beziehung in der Wissenschaftsgeschichte.11 Anhand des Beispiels des Zebrafisches und der Aquariumshaltung wird deutlich, wie Experimentalsysteme als Forschungsumwelten, in denen der Fisch zu einem Modell wird, aus einer historisch gewachsenen materiellen Kultur entstehen. Nichtsdestotrotz stellen Experimentalsysteme, die lebende Tiere beinhalten, besondere Konstellationen dar, die sich nicht nur von anderen Experimentalsystemen, sondern auch von anderen Tier-Mensch Konstellationen unterscheiden. Im letzten Abschnitt dieses Aufsatzes wird diese Besonderheit in Bezug auf einen semiotischen Umweltbegriff charakterisiert.
nese und Ökologie ein höherer Stellenwert eingeräumt wird, so muss auch eine zeitgemäße Theorie kultureller Evolution die materiellen Verkörperungen und Beziehungen, welche die Kultur ausmachen und welche die weiteren Entwick lungen ermöglichen und mit berücksichtigen. Siehe dazu den Ansatz von Griesemer und Wimsatt, die eine solche Theorie der Kultur (und der organi schen Evolution) unter Rückgriff auf die Begriffe scaffolding und generative entrenchment entwickeln. W. C. Wimsatt, J. R. Griesemer, „Reproducing en trenchments to scaffold culture: The central role of development in cultural evolution“, in: R. Sansome, R. Brandon (Hrsg.), Integrating evolution and development: From theory to practice, Cambridge (MA) 2007, S. 228-323. Zu dem verlaufen die Prozesse der kulturellen und organischen Evolution natürlich nicht getrennt voneinander, sondern sind vielmehr stark verschränkt; siehe E. Jablonka, M. J. Lamb, Evolution in four dimensions: Genetic, epigentic, behav ioral and symbolic variation in the history of life, Cambridge (MA) 2005; K. N. Laland, J. Odling-Smee, M. W. Feldman, „Niche construction, biological evolution, and cultural change“, in: Behavioral and Brain Sciences, 23(1)/2000, S. 131-146. 11 Der Ausdruck „Ökologie“ wird hier wörtlich genommen: Es geht um die In teraktion von Lebewesen untereinander und mit der physikalischen Umwelt in deren Vollzug Wissen entsteht. Die Lebewesen umfassen dabei nicht nur die for schenden und die beforschten Tiere, sondern auch andere Lebewesen, die nicht Gegenstand der Forschung sind, diese aber dennoch beeinflussen, die in sym biotischer oder pathogenetischer Beziehung zu den Labortieren (und den For schenden) stehen. „Ökologie des Wissens“ bezieht sich demnach nicht auf eine quasi ökologische Beziehung zwischen Ideen, wie etwa in S. Toulmin, Human Understanding, Princeton 1972. Vgl. zum Aspekt einer Ökologie des Wissens auch die Überlegungen von Kristian Köchy in diesem Band.
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1. Ökologische Verbindungen und geographische Verbreitung Schon das naturgeschichtliche Wissen beruht auf vielfältigeren Interaktionen, als es die beobachtende Sprache der Artbeschreibung vermuten lässt. Es ist mit einer Art zu handeln und zu arbeiten verbunden, d. h. mit bestimmten Praktiken.12 Dieses Wissen setzt nicht nur eine Praxis des Sezierens, Beobachtens und Vergleichens, des Erstellens naturgeschichtlicher Texte und Zeichnungen sowie der Konservierung von Exemplaren dieser Lebewesen voraus. Dem Beschreiben geht vor allem das Sammeln voran, eine Praxis, die eine Kenntnis der Umwelt der Organismen, im Fall des Zebrafisches der Gewässer, und der anzunehmenden Verhaltensweisen dieser biologischen Art voraussetzt, oder aber ein Wissen über die Gepflogenheiten der indigenen Bevölkerung und die Art und Weise, wie deren Wissen nutzbar gemacht werden kann. So schreibt Hamilton: „fishing is not a favourite art among the people of that country [Nepal], so that my opportunities of investigation were not great“.13 Er scheint sich somit, zumindest teilweise, in seiner Sammlungstätigkeit auf die Praxis des Fischens, und damit letzten Endes auf eine bestehende ökologische Beziehung zwischen Mensch und Fisch als Jäger und Gejagtem, verlassen zu haben (auch wenn der Zebrafisch, falls er überhaupt in die Hände der Fischer geriet, wohl nicht zur Nahrung diente). Die taxonomische Beschreibung der Spezies beschränkt sich auf die biogeographische Angabe des Fundortes, spart aber die Beschreibung der ökologischen Umwelt des Fisches aus; seine Nahrung, seine bevorzugten Verstecke oder seine Feinde werden nicht erwähnt.14 Man könnte allerdings sagen, dass diese Beschreibungen 12 J. V. Pickstone, Ways of Knowing, Kap. 3. 13 F. Hamilton, An account of the fishes found in the river Ganges, S. v. 14 Dies trifft natürlich nicht auf die beschreibende Praxis der Naturgeschichte im 19. Jhd. im weiteren Sinne zu. Insbesondere Werke, die einzelne Arten oder Gat tungen beschreiben, enthalten detaillierte Informationen über die Lebensweise und das Verhalten der Organismen (Darwins Monographie über Cirripedia aus dem Jahr 1851 ist ein Beispiel hierfür; C. R. Darwin, Living Cirripedia, A mono graph on the sub-class Cirripedia, with figures of all the species. The Lepadidæ; or, pedunculated cirripedes, Band 1, London 1851). Werke wie das Hamiltons hingegen, deren Motivation sich eher als inventarisch beschreiben ließe, bieten, gerade auch wegen der großen Anzahl der beschriebenen Arten, wenig Raum für „ökologische“ Informationen und konzentrieren sich auf die morpholo gische Beschreibung (wobei der Ausdruck „Ökologie“ erst 1866 von Haeckel geprägt wird; im 19. Jhd. wurde der Ausdruck „Biologie“ häufig verwendet,
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selbst eine ökologische Beziehung konstituieren. Will man keine prinzipielle Grenze ziehen zwischen Natur und Kultur, und will man diese Grenze vor allem nicht zwischen indigenen Praktiken und denen der imperialen Naturforschung ziehen, dann erscheint das Sammeln und Beschreiben als eine, neben Jagen und Verbrauchen, neue Verbindung im ökologischen Netzwerk, das Menschen mit anderen Lebewesen verbindet. Diese Verbindung führt, ähnlich wie andere ökologische Beziehungen, etwa die zwischen Parasiten und ihren Wirten oder die zwischen Pflanzen und den Tieren, die sich von ihren Samen ernähren, dazu, dass sich die geographische Verteilung der gesammelten und beschriebenen Organismen ändert. Der Mensch, der die Organismen aus naturhistorischen, aber wie wir sehen werden auch aus kommerziellen Motiven heraus sammelt, wird so zum ökologischen Ausbreitungsvektor. So werden die Organismen aus den kolonialisierten Gebieten bald nicht mehr nur in konservierter Form, sondern auch lebend nach Europa verbracht. Man versucht, verschiedene Pflanzen und Tiere fernab ihrer ursprünglichen Lebensräume nutzbar zu machen, entweder, indem ihre Habitate nachgebildet werden, oder aber, indem man versucht, ihre Vermögen, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen, im Sinne einer Akklimatisierung zu nutzen. Dies etabliert neue ökologische Beziehungen zwischen Mensch und Tier in Form der Nutzung zur Nahrungsproduktion oder zu anderen wirtschaftlichen Zwecken. Interessanterweise ist es gerade der Kontext, in dem ein Organismus von seinem ursprünglichen Lebensraum isoliert und in einen anderen übertragen wird, in dem das Wissen über den ursprünglichen Lebensraum relevant wird, um die Anbau- und Haltungsbedingungen der in solcher Art in Bewegung versetzten Organismen zu optimieren. In Bezug auf Fische zeigt sich dies in der Praxis der Aquarienhaltung. um auf die Lebensweise der Organismen zu verweisen (E. Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen- Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie, Band 2, Berlin 1866, S. 286; zur Verwendung von „Bio logie“ siehe G. Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie: Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Band 1, Stuttgart 2011, S. 261)). Darüber hinaus hatte Hamilton, gerade wenn er sich auf das verließ, was die Fischer ihm zutrugen, wenig Möglichkeiten, das Leben im Wasser zu beobachten. Allerdings finden sich auch bei Hamilton Klassifikationen von Lebensräumen (z. B. Flüsse, Tümpel, Flussmündungen) und Hinweise auf die ökonomische Verwertbarkeit (z. B. Essbarkeit), siehe z. B. F. Hamilton, An account of the fishes found in the river Ganges, S. 6 und S. 12.
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2. Von der natürlichen zur künstlichen Umwelt: Das Aquarium Das naturhistorische Wissen wird in der zweiten Hälfte des 19. Jhds. von einer neuen Art zu wissen, wenn auch nicht verdrängt, so doch in seiner Bedeutung in den Schatten gestellt: der experimentellen Form, wissenschaftliches Wissen zu gewinnen, wie sie in der Biologie insbesondere von der experimentellen Physiologie und später der experimentellen Morphologie (Entwicklungsmechanik), der Genetik und anderen experimentellen Forschungsprogrammen favorisiert wird.15 Diese neue Form der Wissensproduktion setzt voraus, dass lebende Organismen in großer Zahl im Labor gehalten werden. Eine Reihe von Vorrichtungen wird zu diesem Zweck den Bedürfnissen des Labors angepasst. Sie stellen die räumlichen Strukturen dar, innerhalb derer sich die experimentelle Untersuchung vollzieht. Im Fall von Tieren im Labor werden etwa besondere Ställe, Käfige, Terrarien oder Aquarien entwickelt.16 Durch diese Haltungsarchitekturen und -apparate finden die Tiere Eingang in den Raum des Labors. Zugleich sind diese Umgebungen aber auch Instrumente, die zur Manipulation und Untersuchung der Eigenschaften und Verhaltensweisen der Organismen dienen. Zudem setzen sie voraus, etwas über die Beziehung der Organismen zu ihrer Umwelt außerhalb des Labors in Erfahrung zu bringen, und ermöglichen es als künstliche Naturräume ebenfalls, bestimmte Aspekte der Organismus-Umwelt Beziehung unter kontrollierten Bedingungen zu erforschen. Christian Reiß weist auf diese dreifache Funktion (gate
15 G. E. Allen, Life science in the twentieth century, New York 1975; J. V. Pickstone, Ways of Knowing, Kap. 6. 16 Zu Aquarien siehe C. Reiß, „Gateway, instrument, environment“, in: NTM, 20/2012, S. 309-336; C. Wessely, „Wässrige Milieus. Ökologische Perspekti ven in Meeresbiologie und Aquarienkunde um 1900“, in: Berichte zur Wissen schaftsgeschichte, 36/2013, S. 128-147; zu Ställen siehe M. Schlünder, „Wissens- Hunger im Stall: Die Entstehung von Knochen-Schafen als Versuchstiere in der Unfallchirurgie“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 35/2012, S. 322-340; allgemeiner zur Rolle von Käfigen und Tierhäusern in der Laborhaltung, sie he A. Arluke, M. Michael, The sacrifice: How scientific experiments transform animals and people, West Lafayette 2007, Kap. II. Auch für Mikroorganis men wurden spezielle Behältnisse entwickelt, die es erlauben, die Organismen im Labor zu züchten und zu manipulieren; siehe M. Grote, „Petri dish versus Winogradsky column. A longue durée perspective on purity and diversity in microbiology, 1880s–1980s“, in: History and Philosophy of the Life Sciences, im Erscheinen, 2017.
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way, instrument, environment) von Aquarien hin und bezeichnet sie als „techno-natural assemblages“.17 „These assemblages […] functioned as hybrid spaces that made it possible to bring nature into urban and domestic spaces. They became artificial environments [künstliche Naturräume]. The emergence of these assemblages had diverse origins and was located in an intermediary realm between science, enthusiasm, and commerce. The life sciences, and zoology in particular, were but one part of this realm, both relying and contributing to it. This both reflected and facilitated the practical changes from collection-based work with preserved specimens in the tradition of natural history to laboratory-based work with living animals. It thereby transformed zoological spaces into spaces of animal husbandry and ultimately animal experimentation.“18 Aquarien und ähnliche Vorrichtungen werden somit zur materiellen Bedingung der Möglichkeit experimentellen Wissens. Das Aquarium verdankt seine Entwicklung dem Aufkommen der Freizeit und ihrer spezifischen Nutzung durch die entstehende bürgerliche Mittelschicht Englands in der ersten Hälfte des 19. Jhds. Das Hobby (der Begriff entstammt in seiner heutigen Bedeutung ebenfalls dieser Epoche) diente nicht allein dem Vergnügen, sondern war verbunden mit den Idealen der wissenschaftlichen Bildung und des ästhetischen Geschmacks. David Allen beschreibt, wie sich das Aquarium in den 1840er Jahren als Mode (aquarium craze) etab liert (nicht allein auf der Grundlage der Gewohnheiten der Mittelschicht, sondern auch bedingt durch die Abschaffung der Steuer auf Glasprodukte).19 Das viktorianische Hobby bestand zunächst darin, die heimische Meeresflora und -fauna, die man bei Erkundungen in den Seebädern sammelte, oft unter Anleitung von speziell für diesen Zweck verfassten Naturführern, ins urbane Heim zu bringen.
17 Reiß übernimmt den Begriff „assemblage“ aus H.-J. Rheinberger, Epistemologie des Konkreten: Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt a. M. 2006, S. 12. Letzterer bezieht sich auf Paul Rabinow, der schreibt: „However, from time to time, new forms emerge that have something significant about them, something that catalyzes previously present actors, things, institutions into a new mode of existence, a new assemblage, an assemblage that made things work in a different manner.“ (P. Rabinow, „Epochs, presents, events“, in: M. Lock, A. Young, A. Cambrosio (Hrsg.), Living and working with the new medical technologies: Intersections of inquiry, Cambridge 2000, S. 31-46, hier S. 44) 18 C. Reiß, „Gateway, instrument, environment“, S. 312. 19 D. E. Allen, The naturalist in Britain: A social history, Princeton 1976, Kap. 6.
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Während die Mode, wie alle Moden, so schnell wieder verschwand, wie sie entstanden war, führte sie doch dazu, dass sich das Wissen und die Technik der Aquaristik entwickelten und etablierten. Dieses Wissen kam dann auch wissenschaftlichen Institutionen zu Gute, wie etwa zoologischen Gärten oder den entstehenden zoologischen und meeresbiologischen Versuchsstationen, die mit Schau- und Forschungsaquarien ausgestattet wurden.20 Zudem, wenn es auch den Zenit seiner Popularität in Großbritannien bereits überschritten hatte, breitete sich das neue Hobby in Kontinentaleuropa und den USA aus. In der zweiten Hälfte des 19. Jhds. wurden dann auch Süßwasser-Aquarien populärer und vor allem entwickelte sich eine Vorliebe für exotische und tropische Fische.21 Eine wichtige Rolle spielte dabei die Akklimatisierungsbewegung in Deutschland, aber besonders auch in Frankreich. Ziel der unter diesem Begriff zusammengefassten Bemühungen war es, optimierte Bedingungen für den Anbau und die Haltung der zunehmend zwischen den kolonialen Gebieten und Europa transferierten Organismen in ihrer neuen Umgebung zu erzeugen, oder sie durch Zucht an die Bedingungen ihres neuen Lebensraumes anzupassen.22 In diesem Kontext wurden auch Techniken der Aquakultur eingeführt. Waren diese Praktiken auch vorrangig auf die kommerzielle Nutzbarmachung von Lebewesen ausgerichtet, so führten sie doch ebenfalls zu einem verstärkten wissenschaftlichen Interesse an der Beziehung zwischen Organismen und ihrer Umwelt.23 Als sowohl in den öffentlichen Schauaquarien als auch in Liebhaberaquarien „fremdländische Zierfische“ Einzug hielten, etablierte sich also eine neue Verbindung zwischen einer Gruppe von Tieren, denen auch der Zebrafisch angehörte, und dem Menschen.24 Wie bei anderen Formen der kommerziellen Nutzung auch, etwa solchen zur Nahrungsproduktion, aber im Gegensatz zu dem Vor-
20 Siehe dazu J. Maienschein, „History of American marine laboratories: Why do research at the seashore?“, in: American Zoologist, 28(1)/1988, S. 15-25; C. Wessely, „Wässrige Milieus“. 21 J. Endersby, A guinea pig’s history of biology, London 2007, Kap. 11. 22 M. A. Osborne, „Acclimatizing the world“. 23 Für einen Vergleich zwischen Großbritannien, Frankreich und Deutschland hin sichtlich der verschiedenen Traditionen, die für die Aquarienkultur relevant sind, siehe C. Reiß, „Gateway, instrument, environment“. 24 B. Dürigen, Fremdländische Zierfische. Winke zur Beobachtung; Pflege und Zucht der Makropoden, Guramis, Gold-, Teleskop-, Hundsfische u. a., Lankwitz-Süd ende bei Berlin 1886.
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gehen der Naturgeschichte, die unterschiedslos alles sammelte und beschrieb, basierte die Beziehung, die sich durch die Zucht, den Verkauf und den Erwerb zwischen Zierfischen und Menschen etablierte, auf bestimmten Eigenschaften der Organismen, die als relational und kulturell bedingt aufgefasst werden müssen. Das sind in diesem Fall jene Eigenschaften, die in den Augen der europäischen Liebhaber als schön oder spektakulär erschienen, wie etwa bestimmte Färbungsmuster, und die dem Aquarium und dem es umgebenden bürgerlichen Wohnzimmer zur Zierde gereichten. Dass lebende Zebrafische vor dem Jahrhundertwechsel nach Großbritannien gelangten, wie es die koloniale Verbindungslinie vermuten lässt, ist zwar durch keine bekannte Quelle belegt. Der bedeutende Zierfischzüchter und -händler Paul Matte (1854–1922) aus Lankwitz führte jedoch diverse Zierfische zuerst in Deutschland ein und verkaufte sie dann auch in andere Länder. Er wird auch als derjenige genannt, der den Zebrafisch im März 1905 zuerst in Deutschland und damit wahrscheinlich auch in Europa einführte.25 In Deutschland war die Aquaristik mit größerer Konstanz populär und institutionalisierte sich seit den 1870er Jahren zunehmend in entsprechenden Vereinen und Zeitschriften. Wie Reiß beobachtet, spielten diese Institutionen eine große Rolle in der Entwicklung, Stabilisierung und Verbreitung des relevanten Wissens und der Technologien im Umgang mit Fischen, die häufig aus einem Prozess des Improvisierens und Bastelns hervorgingen. Diese Institutionen spiegelten auch die enge Verschränkung von Liebhaberei und Wissenschaft wider. Die in Deutschland besonders etablierte experimentelle Physiologie erforderte die Haltung vor allem von Amphibien, aber auch von anderen wasserlebenden Tieren im Labor. Während hier oft nur das Überleben bis zum Zeitpunkt des Experiments gewährleistet werden musste, war es in der zoologischen Forschung oft notwendig, die Tiere in ihrem Lebensvollzug zu beobachten und das Aquarium oder Terrarium wurde eingesetzt, um bestimmte Aspekte der Umwelt des Organismus im Labor zu reproduzieren. Während Liebhaber wissenschaftlich relevante Kenntnisse über die Tiere, ihre Eigenschaften, Verhaltensweisen und ihre Beziehungen zur natürlichen oder künstlichen Umwelt beitrugen, waren viele Zoologen auch außerhalb des Lehr- und Forschungsbetriebs als Tierhalter aktiv, engagierten sich in den Vereinen und pu25 B. Dürigen. Fremdländische Zierfische, Vorwort; K. Stansch, Die exotischen Zierfische in Wort und Bild, Braunschweig 1914, S. 161.
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blizierten in den Periodika der Aquaristik.26 Zebrafische gelangten in das Labor, weil bereits eine ökologische Beziehung zwischen dem Menschen und dieser Spezies in Form der Zierfischhaltung bestand. In Bezug auf die Fruchtfliege schreibt Robert Kohler: „Drosophilas entered laboratories from nature; more precisely, from a domesticated or semidomesticated ‚second nature‘“.27 Im Gegensatz zum Fall der Fruchtfliege, die zwar in der zweiten Natur, also in der Welt der menschlichen Artefakte ihr Habitat gefunden hat, aber dort dennoch „wild“ lebt, ist der Zebrafisch bereits domestiziert, wenn er die Grenze zum Labor übertritt. Nichtsdestotrotz stellt der Übergang vom Wohnzimmer zum Labor im Sinne Kohlers einen Übergang von einem Ökosystem zu einem anderen dar, „with different rules of selection and survival“. Neben dem ökologischen Übergang von den Liebhaberaquarien in die Aquarien der Laborforschung führten die neuen Verbindungen zwischen Mensch und Fisch in Aquaristik und Forschung auch zur weiteren geographischen Verbreitung des Zebrafisches, so dass er bald auch Aquarien und Labore in den USA bevölkerte. Seit den 1930er Jahren finden sich zunehmend embryologische, teratologische und toxikologische Studien, die Zebrafische als Forschungsgegenstand und -instrument nutzen.28 Insgesamt wurden seit der 26 C. Reiß, „Gateway, instrument, environment“, S. 316-322; siehe auch A. W. Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914, München 2002. 27 R. E. Kohler, „Drosophila: A life in the laboratory“, in: Journal of the History of Biology, 26(2)/1993, S. 281-310, hier S. 282. Kohler übernimmt den Begriff „second nature“ von Donald Worster, der schreibt: „Defined in the vernacular then, environmental history deals with the role and place of nature in human life. It studies all the interactions that societies in the past have had with the nonhuman world, the world we have not in any primary sense created. The technological environment, the cluster of things that people have made, which can be so pervasive as to constitute a kind of ‚second nature‘ around them, is also part of this study, but in the very specific sense that technology is a product of human culture as conditioned by the nonhuman environment.“ (D. Worster, „Transformations of the earth: Toward an agroecological perspective in history“, in: Journal of American History, 76(4)/1990, S. 1087-1106, hier S. 1089) 28 C. W. Creaser, „The technic of handling the zebra fish (Brachydanio rerio) for the production of eggs which are favorable for embryological research and are available at any specified time throughout the year“, in: Copeia, (4)/1934, S. 159-161; H. W. Laale, „The biology and use of zebrafish, Brachydanio rerio in fisheries research. A literature review“, in: Journal of Fish Biology, 10(2)/1977, S. 121-173.
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zweiten Hälfte des 19. Jhds. verschiedene wasserlebende Tiere zum Untersuchungsgegenstand der zoologischen Forschung.29 Sie waren besonders geeignet für embryologische Studien auf Grund ihrer häufig oviparen Reproduktion und der damit einhergehenden Produktion großer Mengen von Eiern. In Bezug auf den Zebrafisch wird eine Reihe von Eigenschaften immer wieder genannt, die diese Spezies für die Laborarbeit auszeichnet.30 Dieses sind etwa die geringe Größe der Tiere, deren kurze Generationszeit, die schnelle Entwicklung der Individuen, die häufige Eiablage das ganze Jahr hindurch sowie deren Robustheit gegenüber Umwelteinflüssen. Bei den genannten Eigenschaften, die eine Nutzung im Labor befördern, handelt es sich zum großen Teil um solche, die den Fisch auch in der Heimhaltung zu einem einfach zu handhabenden Organismus machen. Man kann bezüglich solcher Eigenschaften von instrumentellen Merkmalen sprechen.31 In Bezug auf beide Nutzungsformen, häusliche Liebhaberhaltung und wissenschaftliche Forschung, sind die Eigenschaften jedoch relativ. Zebrafische sind z. B. gigantisch im Vergleich zur Fruchtfliege, aber sie sind durchaus klein im Vergleich zu vielen anderen Fischen und vor allem im Vergleich zu anderen Wirbeltieren, die im Labor genutzt werden, wie etwa Meerschweinchen, Ratten oder Mäuse. Darüber hinaus treffen die als förderlich für die Laborforschung genannten Eigenschaften auch auf etliche andere Fischarten zu. Dass sich insbesondere der Zebrafisch im Labor angesiedelt und etabliert hat, basiert deshalb letzten Endes, wie jede ökologische Ausbreitung, auf Zufällen. Die instrumentellen Merkmale sind aber nicht nur relativ, sondern sie sind auch relational. So wie der dekorative Charakter der Zeichnung der Tiere nur in Bezug zu den ästhetischen Kriterien und den sich daran anknüpfenden Züchtungsinteressen der Aquarianer besteht, so werden einige Merkmale der Tiere instrumentell relevant im Kontext je spezifischer Forschungsinteressen. Ein wichtiges instrumentelles Merk29 J. M. Oppenheimer, „Historical introduction to the study of teleostean develop ment“, in: Osiris, 2/1936, S. 124-148. 30 Siehe etwa R. Spence, G. Gerlach, C. Lawrence, C. Smith, „The behaviour and ecology of the zebrafish, Danio rerio“, in: Biological Reviews of the Cambridge Philosophical Society, 83(1)/2008, S. 13-34, hier S. 14. 31 R. Meunier, „Stages in the development of a model organism as a platform for mechanistic models in developmental biology: Zebrafish, 1970–2000“, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences, 43(2)/2012, S. 522-531.
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mal, das weniger Fischarten auszeichnet, wäre die Durchsichtigkeit der Eier und Larven, die es ermöglichte, die Organentwicklung der Tiere unter einem Lichtmikroskop zu beobachten. Während dieses Merkmal für embryologische Studien besonders wichtig ist, wurden mit der Ausbreitung der Genetik andere Eigenschaften relevant. So etwa die Anzahl der Chromosomen, die dann jeweils positiv oder negativ bewertet wurden, relativ zu den speziellen Zielen eines Forschungsprogramms. Wie bei anderen Versuchstieren auch, unterliegen die instrumentellen Vor- oder Nachteile der Zebrafische den Kontingenzen des historischen Gangs der wissenschaftlichen Entwicklung und waren nicht alle bereits offensichtlich, als der Fisch für die Arbeit im Labor ausgewählt wurde. Diese Vor- und Nachteile wurden vielmehr erst nach und nach, im Zuge der Veränderung der Experimentalkultur, als solche erfahrbar. Für manche Nachteile wurde ein Behelf gefunden; manchmal wurde jedoch auch einfach die experimentelle Strategie geändert, anstatt einen neuen für die gegebene Strategie geeigneteren Organismus einzuführen. Zum Teil dienten die Organismen den verfolgten Zielen der Forschenden nur deshalb besonders gut, weil die Forschung die Gelegenheiten aufgriff, die der Organismus bot.32 Das charakteristische Farbmuster, dem die Spezies ihren Trivialnamen verdankt, und das zu seiner Verbreitung in der Aquaristik führte, wurde z. B. auch schnell selbst zum Gegenstand entwicklungsbiologischer Forschung und ist es bis heute geblieben.33 Die Gründe dafür, dass ein Organismus für die Arbeit im Labor ausgewählt wird, und diejenigen, die bewirken, dass er 32 Dies ist auch im Sinne der Dynamik von Möglichkeiten und Beschränkungen zu verstehen, die mit dem historischen Gewachsensein der Forschungskonstel lationen einhergehen. Zum Verhältnis von Auswahl und „Passung “ eines Or ganismus für ein bestimmtes Forschungsprogramm, siehe R. M. Burian, „How the choice of experimental organism matters: Epistemological reflections on an aspect of biological practice“, in: Journal of the History of Biology, 26(2)/1993, S. 351-367. Kohler zeigt diese Dynamik der sich wandelnden Interessen und ih rer Beziehung zu den aus der jeweiligen Perspektive hervortretenden Vor- und Nachteilen am Beispiel von Drosophila auf: R. E. Kohler, „Drosophila: A life in the laboratory“. 33 H. B. Goodrich, R. Nichols, „The development and the regeneration of the color pattern in brachydanio rerio“, in: Journal of Morphology and Physiology, 52(2)/1931, S. 513-523; C. Nüsslein-Volhard, A. P. Singh, „How fish color their skin: A paradigm for development and evolution of adult patterns – Multipo tency, plasticity, and cell competition regulate proliferation and spreading of pigment cells in Zebrafish coloration“, in: Bioessays, 39(3)/2017, doi: 10.1002/ bies.201600231.
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sich letzten Endes erfolgreich in der Ökologie des Labors etabliert, stimmen somit nicht immer überein.34
3. Geschichte der Zebrafischhaltung 1: Vom künstlichen Naturraum der Aquaristik zur Laborhaltung Im Übergang von der Aquaristik zur Haltung von Fischen im Labor hat sich das Verständnis des Aquariums als Lebensraum verändert. Mit der Verbreitung genetischer und später molekulargenetischer Forschungsansätze in der Biologie ging ebenfalls ein Wandel in der Größenordnung der Bestände und Standardisierung der Haltungsbedingungen einher. Um dies zu verdeutlichen, werde ich in diesem und dem folgenden Abschnitt fünf Beschreibungen von Haltungs- und Fortpflanzungsbedingungen aus den Jahren 1914, 1934, 1974, 1994 und 2014 miteinander vergleichen, die somit ein Jahrhundert Zebrafischhaltung repräsentieren. Die erste Beschreibung der Zebrafischhaltung und -paarung stammt von K. Stansch aus dessen Handbuch Die exotischen Zierfische in Wort und Bild (1914), herausgegeben von den Vereinigten Zierfisch-Züchtereien in Rahnsdorfer Mühle: „Bei 22-25°C beginnen die Tiere zu treiben. In blitzschnellen Wendungen, daß das Auge kaum zu folgen vermag, geht es durch das Pflanzendickicht (Myriophyllum). Plötzlich stößt das Weibchen 6-8 fast stecknadelgroße Eier aus, die langsam zu Boden sinken. […] Um die Eier vor den Alten zu schützen, bedecke man den Boden mit feinblättrigen Pflanzen, die man feststeckt oder mit Steinen beschwert. Die Entwicklung der Eier ist verschieden. Aus manchen entschlüpfen die Jungen bereits nach 24 Stunden, aus andern erst nach mehreren Tagen. Sie hängen wie Komma zuerst an Pflanzen und Glasscheiben und machen nach kurzer Zeit Jagd auf Infusorien
34 Diejenigen Eigenschaften, die zur einfachen Handhabung im züchterischen Um gang beitragen (hohe Reproduktivität) und solche Eigenschaften, die bestimmte Forschungsansätze erlauben (Durchsichtigkeit), sind es auch, die dazu führen, dass der Fisch sich, wie Kohler es auch für Drosophila gezeigt hat, in einer weite ren Nische ansiedeln konnte, dem Klassenzimmer. R. H. Ingersol, „Comparative data on exotic fish embryos suitable for classroom and laboratory demonstra tions and experiments“, in: Proceedings of the Oklahoma Academy of Science, 1949, S. 206-209; R. E. Kohler, „Drosophila: A life in the laboratory“.
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(Aufstreuen von staubfein zerriebenen, getrockneten Salatblättern oder Jungfischfutter).“35 Es fällt zunächst auf, dass das Aquarium ein komplexes Ökosystem darstellt, das neben den Fischen (in verschiedenen Phasen ihres Lebenszyklus) mindestens zwei Pflanzenarten, Mikroorganismen sowie Steine, aber eben auch das Glas des Aquariums selbst als Elemente enthält. Myriophyllum, das Tausendblatt, ist beispielsweise eine weit verbreitete Pflanze in der Aquaristik und wird in Dürigens Buch über Zierfischhaltung empfohlen.36 Zur Fütterung kann bereits auf für die Aquarienhaltung kommerzialisierte Produkte zurückgegriffen werden. Zudem werden zwei Aspekte der Fortpflanzung genannt: der Kannibalismus „der Alten“, sowie die ungleichmäßige Entwicklung der Eier, wobei nur ersteres hier ein Problem darstellt, dem aber im Rahmen der Aquariengestaltung begegnet werden kann. Beide Aspekte stellen jedoch in der Laborliteratur immer wiederkehrende Themen dar, die Schwierigkeiten benennen, welche die Arbeit mit den Fischen behindern und technische Lösungen erfordern. Charles W. Creasers kurzer Artikel „The technic of handling the zebra fish (Brachydanio rerio) for the production of eggs which are favorable for embryological research and are available at any specified time throughout the year“ (1934) stellt eine der ersten Beschreibungen der Zebrafischhaltung und Vermehrung im Labor dar: „Ordinarily the laboratory stock can be kept in a large aquarium at room temperature (70°F), or preferably higher, at about 80°F. We keep as many as 50 in a covered balanced aquarium of a size 6 x 9 x 26 inches. A little plant life is desirable but not necessary. […] They will live, grow, and spawn on a diet of flake food but better results are obtained if some live food is furnished. […] The pair is placed in a spawning jar for breeding. The conventional type is simply a glass jar, preferably square, of a size about 6 x 4 x 3 inches, on the bottom of which is placed several layers of small stones or marbles. […] The stones serve as a secure lodgement for the eggs and a protection from the cannibalistic parents.“37 In seiner Abhandlung nimmt Creaser noch auf die Aquaristikliteratur Bezug, um relevantes Haltungswissen zu beziehen. Pflanzen können noch verwendet werden, ohne die kontrollierten 35 K. Stansch, Die exotischen Zierfische in Wort und Bild, S. 163-164. 36 B. Dürigen, Fremdländische Zierfische, S. 2. 37 C. W. Creaser, „The technic of handling the zebra fish“, S. 160-161.
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Bedingungen zu verfälschen, aber sie sind bereits verzichtbar. Für die Fütterung kann ebenfalls auf die Produkte aus dem Aquaristikhandel zurückgegriffen werden, aber bessere Ergebnisse werden mit Lebendfutter erzielt. Die Ausführungen zu den Fütterungsbedingungen deuten darauf hin, dass die Erwartungen an Häufigkeit und Umfang der Eiablage in der Forschung deutlich höher sind als bei der Zierfischhaltung.38 Um Resultate zu erhalten, die als verlässlich gelten, muss eine große Anzahl von Individuen beobachtet werden, die sich unter gleichen Bedingungen und nach Möglichkeit gleichzeitig entwickeln. Die Paarung und Eiablage wird in einem separaten Gefäß vorgenommen, nicht nur um eine Lösung für das Problem des Kannibalismus, vor allem bei Abwesenheit von Pflanzen, zu bewerkstelligen, sondern auch, damit zu jeder Zeit nachvollziehbar bleibt, welche Individuen sich verpaart haben. Die beiden Artikel „Spawning cycle and egg production of zebrafish, Brachydanio rerio, in the laboratory“ und „Growth and the reduction of depensation of zebrafish, Brachydanio rerio, reared in the laboratory“ von Robert C. Eaton und Roger D. Farley, aus dem Jahr 1974, berichten von einer Reihe von Experimenten, die darauf ausgerichtet sind, die Reproduktions- und Entwicklungszyklen im Labor zu optimieren und zu synchronisieren. Es handelt sich also um präparative Experimente, die eine Voraussetzung dafür bilden, andere Experimente durchzuführen, die auf das Testen von Hypothesen oder die Untersuchung von Mechanismen ausgerichtet sind.39 38 Interessanterweise empfiehlt Creaser, die Fische mit „vestigial winged“ Droso phila zu füttern: „The latter is the ordinary mutant genetic strain of fruit fly, raised in pint milk bottles in the manner recommended by the geneticists. It has the advantage of being unable to fly.“ (ebd., S. 160). Das Forschungsobjekt der Genetiker wird hier mitsamt des genetischen und praktischen Wissens und der materiellen Kultur zu einem Hilfsmittel der effizienten Fischhaltung. 39 Marcel Weber charakterisiert präparative Experimente wie folgt: „As paradig matic cases of preparative experimentation, I take the production of a collection of well-defined mutant strains of an experimental organism such as Neuro spora, E. coli, or Drosophila; the cloning of specific DNA fragments containing genes or other sequences of interest; and the production of genetically modified organisms for further research. This kind of experimental work is not directly aimed at testing a specific hypothesis, nor do biologists necessarily need a guid ing theory for conducting this kind of research. This does not mean that they do not need any theoretical knowledge. Clearly, developing experimental organisms and other research materials requires some knowledge of genetic mechanisms, chemical properties of biomolecules such as DNA or protein, and so on. […] The results of preparative experimentation include both research materials (strains,
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„Fish used in this study were the third generation of a line reared in an environmental chamber […] in complete isolation from any seasonal temperature or light cycles. […] Pairs or groups of fish were kept in transparent plastic containers (20 x 27 x 15 cm deep), half-filled with water (4 liters) and partially covered with a glass top. Suspended in each aquarium was a nylon net basket (2 mm mesh) which closely fit the sides of the aquarium but was held 1 cm above the bottom. This allowed the demersal eggs to fall to the bottom of the tank where they could not be eaten by the adults.“40 Die erwähnten Experimente zielen auf die regelmäßige Verfügbarkeit großer Mengen von Eiern ab, aber vor allem darauf, die Bedingungen des Wachstums (der ontogenetischen Entwicklung der Fische) zu kontrollieren. Dies geschieht zum einen durch Inzucht, um die genetische Uniformität der Organismen zu gewährleisten. Zweitens werden die Umweltbedingungen stärker kontrolliert als bei der einfachen Aquarienhaltung, indem die Aquarien selbst in einem Raum („environmental chamber“) aufbewahrt werden, dessen Bedingungen in Bezug auf Temperatur, Licht und andere Parameter gesteuert werden können. Somit werden die Entwicklungsund Paarungszyklen der Fische zum Beispiel vom natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus abgekoppelt, der durch einen gleichförmigen 14/10 Stunden hell/dunkel Rhythmus ersetzt wird.41 Auch in diesem Fall wird eine technische Lösung gefunden für das den Experimentalverlauf behindernde kannibalistische Verhalten. Der zweite Artikel adressiert das Phänomen, das schon in der ersten aquaristischen Beschreibung genannt wird, sich aber erst im Kontext der embryologischen Untersuchung zu einem Problem entwickelt: die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der gleichzeitig abgelegten Eier und zudem die Tatsache, dass die Larven, zumindest unter den Lacells, isolated DNA, purified proteins, etc.) and knowledge about these material objects. Research materials, for example, a fly strain or a cloned DNA fragment, would be absolutely useless for research without knowledge of at least some of the properties of these materials.“ (M. Weber, Philosophy of experimental bio logy, Cambridge 2005, S. 174) 40 R. C. Eaton, R. D. Farley, „Spawning cycle and egg production of zebrafish, Brachydanio rerio, in the laboratory“, in: Copeia, (1)/1974, S. 195-204, hier S. 196. 41 Bei dem „environmental chamber“ handelt es sich um ein standardisiertes kom merzielles Produkt der Firma Controlled Environments Inc. Dies deutet auch an, wie der wissenschaftliche Bedarf an großen Mengen von standardisierten Appa raturen und das Interesse von Firmen, Forschungsinstitute als Kunden zu gewin nen, zusammenwirken in der historischen Entwicklung der Laborumgebungen.
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borbedingungen, eine hohe Mortalitätsrate aufweisen.42 Während die Problematik des zweiten Punktes mit der bereits genannten Notwendigkeit der hohen Anzahl von beobachteten Individuen zusammenhängt, ist die Gleichzeitigkeit relevant, damit die einzelnen Phasen der Entwicklung bei verschiedenen Individuen verglichen werden können. Eaton und Farleys Experimente bieten eine Lösung für beide Probleme, indem sie ein Fütterungsregime spezifizieren, unter dem sich die Tiere gleichmäßig und mit geringer Mortalität entwickeln. Diese Studien, die allein darauf ausgerichtet sind, die Haltung und Reproduktion sowie die Mortalität der Labortiere zu kontrollieren, machen etwas deutlich, das spezifisch ist für die Biologie. Lebewesen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sterben können. Sie sind nicht indifferent gegenüber Handhabung und Intervention, indem sie etwa bloß entweder auf die eine oder andere Art physikalisch reagieren würden. Georges Canguilhem macht dies deutlich, wenn er schreibt: „Wenn ein Lebewesen auf eine Verletzung, auf Befall durch Parasiten oder auf eine Funktionsstörung mit Krankheit reagiert, so zeugt dies nur von dem grundsätzlicheren Tatbestand, daß das Leben den Bedingungen gegenüber, unter denen es möglich ist, nicht indifferent bleibt, daß es vielmehr eine Polarität und damit eine unbewußte Wertsetzung enthält, mit anderen Worten, daß das Leben letztlich eine normative Aktivität ist.“43 Der folgende Abschnitt thematisiert den Wechsel von der gelegentlichen Nutzung des Zebrafisches als Versuchstier in embryologischen oder toxikologischen Studien, zur Nutzung als Modellsystem in der Genetik und Genomik unter Rückgriff auf weitere Beschreibungen der Haltungsbedingungen. Auch in diesen Beispielen wird deutlich werden, welche Voraussetzungen die Erhaltung des Lebens im Laborzusammenhang hat. Diese Voraussetzungen werden unsichtbar, sobald ein System etabliert und kalibriert ist, aber sie zeigen sich deutlich in den Situationen, in denen ein neues Experimentalsystem und seine begleitende Infrastruktur etabliert wird.
42 R. C. Eaton, R. D. Farley, „Growth and the reduction of depensation of zebrafish, Brachydanio rerio, reared in the laboratory“, in: Copeia, (1)/1974, S. 204-209. 43 G. Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, Berlin 2012, S. 126 f.
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4. Geschichte der Zebrafischhaltung 2: Von der Laborhaltung zu standardisierten Fischtanksystemen George Streisinger (1927–1984) wird in der Regel als der Begründer der Zebrafisch-Genetik betrachtet, das heißt als derjenige, dessen Arbeit in den 1970er Jahren dazu geführt hat, dass sich der Zebrafisch als genetisches Modellsystem neben anderen, wie Drosophila, Maus oder dem Fadenwurm C. elegans etabliert hat. Was dies impliziert, darüber wird unten noch mehr zu sagen sein. Hier soll es zunächst darum gehen, darzustellen, welche institutionellen, aber auch biologischen Hindernisse es zu überwinden galt, um den Zebrafisch als Modellsystem zu entwickeln. Streisingers Labor war nicht so gut ausgestattet wie dasjenige von Eaton und Farley; er verfügte nicht über „environmental chambers“. Dies hätte aber in seinem Fall auch ungleich höhere Kosten verursacht, denn Streisinger schwebte ein ganz anderer Maßstab vor, was die Zahl der Fische anging, die er für seine Forschung einzusetzen gedachte. Er hatte seine Karriere in der Phagengenetik begonnen. Phagen sind Viren, die Bakterien befallen und jedes Experiment umfasst Millionen von E. Coli Bakterien, die auf dem begrenzten Raum einer Petrischale Platz finden. So klein der Zebrafisch für ein Wirbeltier auch sein mag, allein ein Exemplar benötigt weitaus mehr Raum als eine Petrischale (wobei die Larven durchaus in großer Zahl in einer Petrischale oder einer Mikrotiterplatte Platz haben). Die Laborhaltung im kleineren Maßstab war etabliert und in der Tat wurden die Zebrafische aus Streisingers Zucht bereits sehr früh erfolgreich von Biologen aus der Entwicklungs- und Neurophysiologie genutzt.44 Aber Streisinger benötigte für seine geplanten Experimente eine große Anzahl von Tieren, um die statistische Signifikanz seiner Daten zu gewährleisten. Sein Institut, das Institute of Molecular Biology an der University of Oregon in Eugene – eines der ersten Institute, das die Bezeichnung der neuen Disziplin, „Molecular Biology“, im Namen trug –, stellte Streisinger alte Militärhütten aus dem zweiten Weltkrieg, so genannte Quonset huts, für seine Fischzucht zur Verfügung. Lotte Streisinger berichtet, dass die Hütten im Sommer zu heiß wurden und durch Wasser von außen gekühlt werden mussten, während sie im Winter zu kalt wurden, so dass elektrische 44 C. B. Kimmel, J. Patterson, R. O. Kimmel, „The development and behavioral characteristics of the startle response in the zebra fish“, in: Developmental Psy chobiology, 7(1)/1974, S. 47-60.
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Heizkörper installiert werden mussten, die regelmäßig zu Bränden führten. Das größte Problem waren Parasiten und Infektionen, die dazu führten, dass die Fischbestände eingingen.45 Wieder tritt hier die Besonderheit der Lebensvollzüge als Forschungsgegenstände genau dort hervor, wo das Leben abstirbt, wo sich also seine inhärente Normativität im Sinne Canguilhems zeigt. Die Schwierigkeiten, das Leben zu erhalten, verweisen auch auf eine weitere Eigenschaft dieser Prozesse, ihre Komplexität und Verschränkung. Die Ökosysteme des Labors umfassten eben mehr Organismen als es auf den ersten Blick scheint, nämlich auch etliche unter Umständen pathogene Mikroorganismen. Je stärker Streisinger diesem Problem entgegen zu wirken suchte, indem er dem Wasser Chemikalien zufügte, umso mehr litten die Fische unter diesen Veränderungen. Zudem konnten die Ergebnisse der Mutagenese und Zuchtversuche womöglich durch die eingesetzten Chemikalien beeinflusst werden.46 Obwohl Streisinger schon in den frühen 1970er Jahren damit begann, Zebrafische zu Laborzwecken zu züchten, erschien der erste Artikel aus Streisingers Labor, der über Ergebnisse der Arbeit mit dem Fisch berichtete, erst 1981. Es waren nicht allein die Haltungsbedingungen für große Bestände, die es zu entwickeln und zu kalibrieren galt. Auch die genetischen Methoden, von der Mutagenese bis zu Techniken der genetischen Analyse und Kartierung konnten nicht ohne weiteres aus der Phagen- oder Drosophila-Genetik in das neue Arbeitsfeld der Zebrafisch-Genetik übernommen werden. Stattdessen mussten die bestehenden Techniken an den neuen Organismus 45 L. Streisinger, From the sidelines: A personal history of the Institute of Mo lecular Biology at the University of Oregon, Eugene 2004, S. 60; J. Endersby, A guinea pig’s history of biology, S. 389 f. 46 Eine entscheidende Rolle bei der Lösung dieser Probleme und der Entwicklung geeigneter Massenhaltungsbedingungen spielte die Laborassistentin Charline Walker. Die wichtige, aber häufig unsichtbare Arbeit von Laborassistenten und -assistentinnen ist ein prominentes Thema der Wissenschaftsgeschichte gewor den. Siehe etwa K. Hentschel (Hrsg.), Unsichtbare Hände - Zur Rolle von Labor assistenten, Mechanikern, Zeichnern u. a. Amanuenses in der physikalischen Forschungs- und Entwicklungsarbeit, Diepholz 2008. In diesem Fall war die Ar beit jedoch nicht unsichtbar – Walker erscheint als Co-Autorin in vielen Pub likationen aus Eugene. Man kann jedoch festhalten, dass dieser Personenkreis eine besondere Rolle spielt, nicht nur in der Produktion, sondern in der Erhal tung und Weitergabe von Praxiswissen bezüglich des Umgangs mit den Tieren und der Haltungsvorrichtungen und -bedingungen und für den Transfer dieses Wissens zwischen Gruppen an einer Institution. Da Streisinger früh und über raschend verstarb, spielte Walker vermutlich eine große Rolle bei der weiteren Etablierung des Modellsystems an der University of Oregon.
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angepasst und Lösungen für auftretende Schwierigkeiten gefunden werden. Die erste Veröffentlichung Streisingers betraf dann auch ein durchaus spektakuläres, aber dennoch eher mit Blick auf experimentaltechnische Fragen interessantes Resultat.47 Es gelang Streisinger und seinem Team, diploide, homozygote klonale Linien der Fische durch künstliche Parthenogenese zu erzeugen. Dies war zwar eine wichtige Voraussetzung für die genetische Analyse, aber die genannte Untersuchung fällt wiederum eher in die Kategorie der präparativen Experimente. Die erste Studie zur Entwicklung des Nervensystems erschien erst 1988.48 Sie ging aus einer Kooperation Streisingers mit Biologen aus der Entwicklungs- und Neurophysiologie hervor, die früh von Streisingers Fischen Gebrauch machten. Letztere charakterisierten die betreffenden Mutationen phänotypisch, d. h. hinsichtlich der Verhaltens-, der neurophysiologischen und der histologischen Eigenschaften, während Streisingers Team die Fische genetisch analysierte.49 Während Streisinger den Zebrafisch, wenn auch nicht als erster im Labor genutzt, so doch als genetischen Modellorganismus in dieses Forschungsumfeld eingeführt und zudem die grundlegenden Werkzeuge der Forschung wie Mutagenese und Genkartierungstechniken für diesen Organismus entwickelt hat, war es Christiane Nüsslein-Volhard, die durch die Initiierung von großangelegten Mutagenesescreens in den 1990er Jahren der Etablierung des Modellsystems Zebrafisch in Genetik und aufkommender Genomik enormen Vorschub geleistet hat. Nüsslein-Volhard hatte, zusammen mit Erich Wieschaus, Ende der 1970er Jahre die Gene, die für die frühe Embryonalentwicklung der Fruchtfliege verantwortlich sind, sowie deren Zusammenwirken aufgedeckt. Sie beabsichtigte nun, die verfolgte Forschungsstrategie auf die Zebrafischgenetik zu
47 G. Streisinger, C. Walker, N. Dower, D. Knauber, F. Singer, „Production of clones of homozygous diploid zebra fish (Brachydanio rerio)“, in: Nature, 291(5813)/1981, S. 293-296. 48 D. J. Grunwald et al., „A neural degeneration mutation that spares primary neurons in the zebrafish“, in: Developmental Biology, 126(1)/1988, S. 115-128. Streisinger selbst war allerdings bereits 1984 verstorben. 49 R. Meunier, „Stages in the development of a model organism“. Zu der zuneh menden Verschränkung molekulargenetischer Methoden und der Untersuchung physiologischer Prozesse in multizellulären Organismen seit 1960, siehe M. Morange, „The transformation of molecular biology on contact with higher or ganisms, 1960–1980: From a molecular description to a molecular explanation“, in: History and Philosophy of the Life Sciences, 19(3)/1997, S. 369-393.
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übertragen.50 Diese erforderte die Mutagenese einer großen Anzahl von Tieren, so dass nach Möglichkeit alle in die untersuchten Prozesse involvierten Gene getroffen werden (dieser Screen zielte nicht allein auf die frühen Phasen der Ontogenese, sondern auch auf die Entwicklung einzelner Organe). Die größere Zahl der Tiere macht eine größere Anzahl von Aquarien nötig, die wiederum einen größeren Bedarf an Pflege und Wartung erfordern und somit weitere Standardisierung und Automatisierung befördern. Dies machte erneut die Weiterentwicklung von Aquariensystemen notwendig. In dem Artikel „Large-scale mutagenesis in the zebrafish: in search of genes controlling development in a vertebrate“ (1994), der die Methoden des geplanten Screens spezifizierte und die Resultate eines Pilotscreens berichtete, schrieben Nüsslein-Volhard und ihr Team: „Our systems were designed to cope with the high feeding regimes we use to minimize generation times and allow for high fecundity. […] Common to both systems [an overflow system for raising fish fry and a serial tank system to keep larger numbers of fish] is that the water from many aquaria is collected and recycled after being regenerated by running through one large biological filter. […] [B]oth systems are more-or-less self cleaning […].“51 Dem „Big Screen“, wie das Ereignis in der Zebrafisch-Commu nity genannt wird, kommt insofern eine zentrale Bedeutung für die Etablierung der Spezies als Modellorganismus zu, als nun viele neue Mutationslinien vorhanden waren, die sich zur weitergehenden Forschung anboten. Viele Postdocs, die an den Screens beteiligt waren, konzentrierten sich auf eine Gruppe von Mutationen, die denselben Prozess betrafen und gründeten eigene Labore, so dass 50 Die wissenschaftliche Bedeutung dieses Ansatzes spiegelt sich in folgender re trospektiver Betrachtung wider: „[T]he work of Nüsslein-Volhard and Eric Wie schaus revolutionized the study of all biology, by showing that collections of fly mutant phenotypes could be woven into broader contexts, elucidating the regu latory logic and cell behaviours that are involved in executing a developmental programme. These ideas were reinforced by the spectacular success of research with C. elegans. Moreover, the link between phenotype and the action of indi vidual genes had been bridged in Drosophila by molecular biology, and many felt confident that it was only a hurdle of technology that separated mutant phenotypes in zebrafish from an understanding of their molecular nature.“ (D. J. Grunwald, J. S. Eisen, „Headwaters of the zebrafish – emergence of a new model vertebrate“, in: Nature Reviews Genetics, 3(9)/2002, S. 717-724, hier S. 722) 51 M. C. Mullins, M. Hammerschmidt, P. Haffter, C. Nüsslein-Volhard, „Largescale mutagenesis in the zebrafish: in search of genes controlling development in a vertebrate“, in: Current Biology, 4(3)/1994, S. 189-202, hier S. 198.
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sich das Zebrafischsystem von Oregon, Tübingen und Boston weiterverbreitete.52 Bald fanden sich an vielen Universitäten weltweit Labore, die mit Zebrafisch arbeiteten. Umso mehr sich der Fisch in der Forschungslandschaft etablierte, umso lohnenswerter war es auch für Laborausstatter, standardisierte Lösungen anzubieten. Die Aquariensysteme, die, gerade weil sie auf Massenhaltung abzielten, als geschlossene Ökosysteme mit biologischen Filtern konzipiert wurden (denn so ließen sich Arbeit und Ressourcen sparen), wurden in Kooperation mit einer Firma entwickelt, die bis heute große Fischtanksysteme anbietet. In einem aktuellen Handbuch Haltungs bedingungen für Zebrabärblinge (2014) heißt es: „Für Forschung, die Fische in kleinen Kolonien benötigt, können Fischtanksysteme (inklusive Filtersystem, Licht und Hitzeregulation) kommerziell erworben werden. Ein professionelles Aquariumssystem ist vonnöten, wenn größere Mengen an Mutanten und transgenen Linien gehalten werden sollen. Es gibt einige Firmen, die solche Systeme vertreiben […].“53 Der Überblick über die Geschichte der Zebrafischforschung durch die Linse scheinbar so nebensächlicher Aspekte wie der Aquarientechnik und der Haltungs- und Vermehrungsbedingungen im Allgemeinen, zeigt auf, wieviel Arbeit und gegenseitige Anpassung die Etablierung einer Spezies im Ökosystem des Labors erfordert. Die Anpassung des Fisches an die Erfordernisse der Laborumwelt geschieht durch Züchtung. Während diese vor allem auf genetische Vereinheitlichung der Zuchtlinien abzielt, werden doch indirekt auch jene Fische ausgewählt, die robuster sind oder höhere Reproduktionsraten aufweisen, so dass eine fortschreitende Domestikation stattfindet. Zudem kann man davon ausgehen, dass sich die Fische auch bezüglich phänotypisch plastischer und epigenetischer Merkmale an den Lebensraum anpassen, z. B. was das Verhalten oder den Metabolismus angeht. Die materiellen Praktiken, durch die eine Anpassung der Laborumgebung an den Fisch realisiert wird, wurden durch die gegebenen Beispiele illustriert. So aufwendig die techno-natural assemblages auch sind, sie führen doch letzten Endes dazu, dass die spezifischen Eigenschaften der Spezies praktisch unsichtbar werden. Zum Beispiel wird die zunächst problematische 52 R. Meunier, „Stages in the development of a model organism“. 53 H. Baier et al., Haltungsbedingungen für Zebrabärblinge, 2014, https://www. eufishbiomed.kit.edu/downloads/Haltungsbedingungen_fuer_Zebrabaerblinge_ neu.pdf (zuletzt abgerufen am 09.08.2017), S. 11.
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Eigenschaft des Kannibalismus (Eltern fressen die abgelegten Eier) durch die Einführung besonderer Legebehälter ausgeglichen. Darüber hinaus kann man sagen, dass die Tatsache, dass der Fisch im Gegensatz zur Maus oder zur Fliege ein wasserlebendes Tier ist, zunächst große Herausforderungen mit sich bringt. Ist die Labor umwelt aber einmal darauf eingestellt, wird die Tatsache irrelevant und man kann mit dem Fisch – zumindest in Bezug auf bestimmte genetische und physiologische Fragestellungen – in derselben Weise verfahren, wie mit anderen Labortieren.
5. Vom Versuchstier zum Modellorganismus Der Übergang von der sporadischen Haltung von Zebrafischen im Labor zu standardisierten Haltungssystemen für große Fischbestände markiert den Übergang vom Zebrafisch als Versuchstier zum standardisierten Modellorganismus. Im Folgenden sollen einige Aspekte der wissenschaftlichen Praxis hervorgehoben werden, welche die Arbeit mit Modellorganismen bestimmen. Nach Rachel Ankeny und Sabina Leonelli sind Modellorganismen im Gegensatz zu anderen Organismen, die in Experimenten eingesetzt werden, in erster Linie durch zwei Kriterien gekennzeichnet:54 Zum einen sind sie standardisiert, vor allem im Sinne der Verfügbarkeit genetisch gut charakterisierter Zuchtlinien (d. h. verschiedener „Wildtypen“, sowie diverser Mutationslinien), aber auch im Hinblick auf die Haltungsbedingungen.55 Zum anderen sind sie in eine materielle und institutionelle Infrastruktur eingebettet. Diese beinhaltet Plattformen des Austauschs, die eine Community organisieren, die sich um einen Organismus formiert und Wissen und materielle Ressourcen austauscht und akkumuliert. Dazu gehören stock centers, über die Zuchtlinien, aber auch bestimmte für die 54 R. A. Ankeny, S. Leonelli, „What’s so special about model organisms?“, in: Studies in History and Philosophy of Science, 42(2)/2011, S. 313-323. 55 Was die genetische Standardisierung bedeutet, zeigt sich vielleicht am deutlich sten daran, dass auch ein Labor am Ganges, das Zebrafischforschung betreibt, die Fische aus einem stock center in den USA oder Europa bestellen muss, um rele vante, vergleichbare Forschungsergebnisse zu erzeugen. Zum Begriff des Wild typs, siehe T. Holmes, „The wild type as concept and in experimental practice: A history of its role in classical genetics and evolutionary theory“, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences, 63/2017, S. 15-27.
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Arbeit mit dem jeweiligen Organismus optimierte Reagenzien bezogen werden können.56 Zudem bilden sich wissenschaftliche Gesellschaften, werden regelmäßige Konferenzen abgehalten und spezialisierte Journale und Newsletter herausgegeben, sowie Datenbanken kollektiv mit Inhalt gefüllt. Nicht zuletzt bestimmen die Communities auch Vertreter, die ihre Interessen gegenüber Förderinstitutionen und der Politik artikulieren.57 Als einer der wichtigsten Faktoren für die Etablierung von einzelnen zu Laborzwecken genutzten Organismen als bevorzugte Modellorganismen hat sich die Sequenzierung der Genome von diversen Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren im Zuge des Human Genome Project (HGP) erwiesen. Ziel dieser Initiativen war es, die Erforschung des menschlichen Genoms in einen komparativen Kontext zu stellen und die Möglichkeit zu eröffnen, von der Untersuchung der Funktion einzelner Gene in Modellorganismen auf die Genfunktion beim Menschen zu schließen.58 Abgesehen davon, dass diese Ergebnisse in Bezug zur menschlichen Physiologie und Pathologie gesetzt werden können, was den Forschungsergebnissen größere Relevanz verleiht, bietet die Verfügbarkeit der Sequenzdaten viele experimentelle Vorteile.59 So können Gene identifiziert werden, die dann zum Gegenstand gezielter Mutationen werden können (re verse genetics) und DNS oder RNS basierte Reagenzien können zur gezielten Manipulation hergestellt werden. In der Interaktion zwischen Mensch und, im hier besprochenen Fall, Zebrafisch hat sich also eine spezifische materielle Struktur herausgebildet. Auf diese Weise werden die Techniken und das akkumulierte Wissen selbst zu instrumentellen, relationalen Merk56 Insofern diese Communities einen relativ großen und stabilen Markt darstellen, werden die Tiere, Reagenzien und wie wir sahen vor allem standardisiertes La borequipment für die Haltung und Manipulation der Tiere von spezialisierten Firmen angeboten. 57 Einige dieser Aspekte werden in Bezug auf die Zebrafischforschung in R. Meunier, „Stages in the development of a model organism“ ausgeführt. 58 Siehe dazu B. M. Weinstein, „Big fish in the genome era“, in: Briefings in Functional Genomics & Proteomics, 7(6)/2008, S. 411-414. Das Zebrafish Ge nome Project wurde im Jahr 2001 begonnen (siehe http://www.sanger.ac.uk/ Projects/D_rerio, zuletzt abgerufen am 09.08.2017). Zu den Voraussetzungen, die der Rede von „dem menschlichen Genom“ zu Grunde liegen, siehe A. Bo stanci, „Two drafts, one genome? Human diversity and human genome re search“, in: Science as Culture, 15(3)/2006, S. 183-198. 59 Diese Relevanz ist relativ zu den gegebenen, aber durchaus historisch kontin genten Interessen westlicher Gesellschaften und zu den Überzeugungen bezüglich der Übertragbarkeit von physiologischem Wissen zwischen verschiedenen Arten.
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malen, die den Organismus gegenüber anderen auszeichnen. Der Zebrafisch ist beispielsweise nicht nur im Larvenstadium transparent, sondern er verfügt auch über ein Genom, das in einer Online-Datenbank repräsentiert ist, und dies unterscheidet ihn von anderen Fischen, die unter Umständen auch schon im Laborkontext Verwendung fanden. Umso mehr sich also ein Organismus in der Ökologie des Labors etabliert, umso weniger ist es möglich, ihn durch einen anderen zu ersetzen. Dadurch, dass der Zebrafisch so gut an die Laborumgebung, einschließlich der Forschungsinteressen, angepasst ist – zum großen Teil, weil sich diese an ihn angepasst haben –, verdrängt die Art auch andere Arten aus dem Ökosystem der Laborforschung. Insofern die Forschung mit Modellorganismen nicht nur praktische Vorteile bietet, sondern darüber hinaus auch stärker gefördert wird, werden Forschungsinstitutionen und -gruppen dazu gedrängt, mit einem der etablierten Modellorganismen zu arbeiten.60 Die Forschungspolitik, die den Verdrängungsprozess begünstigt, basiert in erster Linie auf der Überzeugung, dass sich alle Organismen in Bezug auf grundlegende Mechanismen ähnlich sind. In der Tat hatte es sich gegen Ende des 20. Jhds. herausgestellt, dass Organismen in weitaus höherem Maße Homologien auf der Ebene der Gensequenz und genetischer Regulationsmechanismen aufweisen, als dies erwartet wurde.61 Es besteht aber dennoch berechtigte Kritik an der Annahme grundlegender Ähnlichkeit. Während die gemeinsame Abstammung der Organismen die biologische Grundlage für diese Ähnlichkeiten bildet, ist der Prozess der Evolution doch zugleich dadurch gekennzeichnet, dass er Diversität auf allen Ebenen der organismischen Organisation erzeugt, und es lässt sich nicht aus der phylogenetischen Nähe zweier Arten vorhersagen, wo die Unterschiede auftreten.62 Es ist zudem möglich, dass 60 Ein Vergleich bietet sich auch in Bezug auf die Nutztierhaltung oder die Sorten wahl bei landwirtschaftlich genutzten Pflanzen an, bei denen sich eine Konzen tration auf wenige, stark standardisierte Arten beobachten lässt, wobei jedoch hier ökonomische Erwägungen im Vordergrund stehen, während der Reduzie rung der Forschungsorganismen auch epistemische Überzeugungen zu Grunde liegen können. 61 S. F. Gilbert, J. A. Bolker, „Homologies of process and modular elements of em bryonic construction“, in: Journal of Experimental Zoology, 291(1)/2001, S. 1-12. 62 Werden Organismen in biomedizinischen Forschungskontexten eingesetzt, um von den Ergebnissen auf physiologische und pathologische Prozesse im Men schen zu extrapolieren, so wirft diese Tatsache die Frage auf, ob diese Versuche epistemisch gerechtfertigt sind. Diese Frage hat dann auch Konsequenzen für die Frage nach der ethischen Rechtfertigung von Tierversuchen. Vgl. dazu N.
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gerade die Eigenschaften, welche die Organismen zur Nutzung im Labor geeignet machen, wie etwa ihre Robustheit gegenüber Umwelteinflüssen (durch die sowohl die einfache Haltung als auch die Vergleichbarkeit der Auswirkungen von Mutationen gewährleistet wird), eher untypisch sind für die Klasse von Organismen, die durch den Modellorganismus repräsentiert werden.63 Andererseits sind bestimmte physiologische Phänomene oft besonders gut in Organismen zu untersuchen, die in einer bestimmten Weise Extremformen darstellen (so kann Wärmeregulation bei Tieren, die unter extremen Temperaturbedingen leben, besonders aufschlussreich sein).64 Oft verfügen Organismen auch über Eigenschaften, die nur wenigen Arten zukommen, die aber zu neuen technischen Anwendungen führen können.65 Aus den letztgenannten Gründen kann es sinnvoll sein, die Untersuchung einer möglichst großen Zahl von Arten zu fördern. Nachdem die Diversität der etablierten Modellorganismen durch die Förderung im Zuge des HGP im ersten Jahrzehnt des 21. Jhds. stark eingegrenzt war (neben Zebrafisch gab es nur wenige Tiere, deren Genom sequenziert war, wie etwa Droso phila, C. elegans und Maus), kehrt sich der Trend seit einigen Jahren wieder um. Die Genomsequenzierung wird zunehmend günstiger und bestimmte materielle und institutionelle Aspekte, die Modellorganismen auszeichnen, werden ebenfalls zunehmend auch auf andere Organismen übertragen.66
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Shanks, R. Greek, J. Greek, „Are animal models predictive for humans?“, in: Philosophy, Ethics, and Humanities in Medicine, 4(2)/2009. DOI: 10.1186/17475341-4-2; D. Steel, Across the boundaries: Extrapolation in biology and so cial science, Oxford 2007. In Bezug auf die Erforschung allgemeiner Prinzipien im Sinne der allgemeinen Physiologie ist die Frage hingegen weniger relevant, insofern diese Forschung ohnehin darauf abzielt, von den jeweils spezifischen Details der Mechanismen zu abstrahieren. Siehe W. Bechtel, „Generalization and discovery by assuming conserved mechanisms: Cross-species research on circadian oscillators“, in: Philosophy of Science, 76(5)/2009, S. 762-773. Dazu J. A. Bolker, „Model systems in developmental biology“, in: Bioessays, 17(5)/1995, S. 451-455. Man spricht hier vom „Krogh-Prinzip“: „For a large number of problems there will be some animal of choice or a few such animals on which it can be most conveniently studied.“ (A. Krogh, „The progress of physiology“, in: American Journal of Physiology, 90/1929, S. 243-251, hier S. 247) Ein Beispiel sind die molekularen Mechanismen in thermophilen Mikroorganis men, die Verwendung in der PCR-Technologie fanden, siehe P. Rabinow, Making PCR: A story of biotechnology, Chicago 1996. Wobei die Diversität der Organismen, selbst im begrenzten Bereich der biome dizinischen Forschung größer ist und war, als es auf den ersten Blick erscheint.
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Labororganismen finden, sobald sie sich in einem Forschungsbereich etabliert haben, häufig auch Anwendung in anderen Bereichen, die dann von dem bereits akkumulierten Wissen profitieren. Ebenfalls ist es nicht selten, dass Organismen von der Nahrungsmittelproduktion ihren Weg ins Labor gefunden haben oder auch umgekehrt.67 Nicht zuletzt motiviert die Erforschung der Modell organismen im Labor auch deren Erforschung in ihrem natürlichen Lebensraum. Die Betonung der Artifizialität der standardisierten Zuchtlinien relativ zu den wildlebenden Vertretern der Art durch Kommentatoren der Wissenschaftsforschung erscheint häufig übertrieben.68 Die biologische Verwandtschaft zu wildlebenden Tieren ist relevant; ökologische und phylogenetische Studien liefern wichtige Hinweise zur Einordnung der Laborerkenntnisse und profitieren zugleich als eigenständige Forschung von den Laborerkenntnissen, etwa der Verfügbarkeit genomischer Daten, die diese Studienobjekte gegenüber anderen wildlebenden Tieren auszeichnen.69
6. Tiermodellsysteme: Interferenz von Experimentalsystem und Umwelt Das Aquarium fungiert in zweifacher Hinsicht als Medium. Zum einen verkörpert es „das den Organismus gänzlich umhüllende ‚wässrige Medium‘, das auf ein scheinbar stabiles, auf seine Materialität reduziertes Ambiente verweist.“ Das „wässrige Medium“ stellt Dennoch haben Fördermaßnahmen eine deutliche Fokussierung auf wenige Or ganismen bewirkt. B. R. E. Peirson, H. Kropp, J. Damerow, M. Laubichler, „The diversity of experimental organisms in biomedical research may be influenced by biomedical funding“, in: BioEssays, 39(5)/2017, 10.1002/bies.201600258. 67 Erbsen- und Bohnenpflanzen, die in besonders in der Frühphase der Genetik in Experimenten eingesetzt wurden, sind ein offensichtliches Beispiel für den ersten Fall. Der zweite Fall manifestiert sich z. B. darin, dass Algen, die im Kon text der Photosyntheseforschung in das Labor eingeführt wurden, später auch als Nahrungsmittel beworben wurden; siehe K. Nickelsen, „The organism stri kes back: Chlorella algae and their impact on photosynthesis research, 1920s– 1960s“, in: History and Philosophy of the Life Sciences, 39:9/2017, S. 1-22. 68 Siehe etwa K. Amann, „Menschen, Mäuse und Fliegen – Eine wissenssoziologi sche Analyse der Transformation von Organismen in epistemische Objekte“, in: Zeitschrift für Soziologie, 23(1)/1994, S. 22-40. 69 Eine Übersicht zu Untersuchungen der natürlichen Ökologie des Zebrafisches bieten R. Spence, G. Gerlach, C. Lawrence, C. Smith, „The behaviour and ecology of the zebrafish“.
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ein Milieu dar, aber wie Christina Wessely beobachtet, bezieht sich dieser Milieubegriff „auf dessen physikalische Tradition, in der die Umwelt eines Körpers im Wesentlichen als dessen stoffliche Umgebung (also dessen ,medium‘) verstanden wurde.“70 Ein anderer Milieubegriff, der dem Umweltbegriff Jakob von Uexkülls nähersteht, wird weiter unten aufgegriffen. Der zweite Medienbegriff, der hier eine Rolle spielt, bezieht sich hingegen darauf, dass das Aquarium ein Medium ist, insofern es eine vermittelnde Funktion hat. Es stellt die materielle Basis der Vermittlung der Tier-Mensch Beziehung dar. Wessely zitiert aus Guido Findeis, Das Aquarium und seine Bewoh ner. Eine Anleitung zur Herstellung und Pflege desselben (1883): „Da tritt das Aquarium vermittelnd auf; was draußen in der Natur unseren Beobachtungen verborgen bleibt, hier […] in dem kleinen Behälter mit seinen Glaswänden, lebt und wächst es vor unseren Augen“.71 Wenn diese Aussage auch auf die aquaristische Fischhaltung bezogen ist, so trifft sie doch ebenfalls auf die Forschung zu. Das Aquarium (als Einzelbehälter, Aquariensystem, Legebehälter oder Petrischale, in der die Fische im Larvenstadium gehalten werden) im Labor vermittelt das epistemische Interesse der Menschen mit den vitalen Interessen des Fisches. Es erlaubt dem Menschen, Fragen zu stellen und es ermöglicht, dass sich die Lebensäußerungen des Fisches (die Entwicklung, die physiologischen Prozesse, das Verhalten) in einer Weise vollziehen, die für den Menschen wahrnehmbar ist. Zugleich bietet das Aquarium auch die Möglichkeit der Manipulation. So können beispielsweise Verhaltensstimuli oder Mutagene unter kontrollierten Bedingungen eingebracht werden.72 Komplementär zu dieser Exponierung des Tieres durch das Aquarium hat sich der Zebrafisch, wie erwähnt, gerade aufgrund seiner Eigenschaft, im Larvenstadium nahezu transparent zu sein, in der
70 C. Wessely, „Wässrige Milieus“, S. 137. 71 G. Findeis, Das Aquarium und seine Bewohner. Eine Anleitung zur Herstellung und Pflege desselben, Wien 1883, S. 2; zitiert aus C. Wessely, „Wässrige Milieus“, S. 133. 72 Natürlich werden die Tiere auch getötet, um sie zu sezieren und histologische Schnitte anzufertigen oder um biochemische Analysen durchzuführen. Sie wer den dann ihrem stofflichen Medium entnommen, welches unter Umständen durch fixierende Chemikalien ersetzt wird. Aber selbst für nicht lebenserhalten de Experimente ist die Reproduktion und Beobachtung der Tiere in den verschie denen Behältern eine unverzichtbare Bedingung.
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Ökologie des Labors etabliert, weil dieses instrumentelle Merkmal es erlaubt, Prozesse im lebenden Organismus zu verfolgen.73 Wenn das Aquarium auch eine Voraussetzung für die wissenschaftliche Beobachtung der Tiere ist, so ist es dennoch nicht hinreichend. Um einen Aspekt im Lebensvollzug des Fisches sichtbar zu machen und aus der Gesamtheit der biologischen Prozesse hervorzuheben, ist eine bestimmte Art der materiellen Konstellation notwendig, eine Forschungsumwelt, die zugleich eine Umwelt des Fisches und des Menschen ist und in der die Aspekte des Lebens sich in einer selektiven und für den Menschen beobachtbaren Weise zeigen.74 Eine solche selektive und bedeutungserzeugende Umwelt ist durch ein Experimentalsystem gegeben, in das Fische und Menschen im Forschungskontext eingebunden sind. Experimentalsysteme beinhalten neben den Tieren auch Instrumente und Apparate zur Manipulation von Aspekten des Tiers oder seiner Umgebung und zur Messung von Effekten, diverse Formen von Inskriptionen, die diese hervorbringen, Reagenzien und weitere Elemente. In bestimmten Konstellationen solcher heterogener Elemente zeigen sich bestimmte Aspekte des Lebensvollzugs als epistemische Dinge, um auf einen Begriff von Hans-Jörg Rheinberger zurückzugreifen, also als solche Forschungsobjekte, die zwar im Vollzug der Forschungshandlung in einem Experimentalsystem sichtbar und zugänglich gemacht werden, zugleich aber das „verkörpern […], was man noch nicht weiß“ und was im Laufe der fortschreitenden Forschung näher, und doch nur vorläufig bestimmt wird.75
73 Die Einführung fluoreszierender Proteine bietet auch die Möglichkeit der Be obachtung molekularer Prozesse im lebenden Organismus; siehe H. Landecker, „The life of movement: From microcinematography to live-cell imaging“, in: Journal of Visual Culture, 11(3)/2012, S. 378-399. 74 Nikolas Rose und Joelle M. Abi-Rached greifen in ihrer Diskussion neuro-physi ologischer Mausmodelle den Begriff des setup von Bruno Latour auf: „We devise different setups to make visible, to elicit, features of the lives and potentialities of the animals that were previously invisible or hard to discern. […] we ‚give the mouse the opportunity to show what it can do,‘ we give it a chance to show us something, perhaps even give it a chance to enter into behavior in which it would not otherwise engage.“ (N. Rose, J. M. Abi-Rached, Neuro: The new brain sciences and the management of the mind, Princeton 2013, S. 86) 75 H.-J. Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge: eine Ge schichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001, S. 25. Rheinber ger hält fest, „dass mit einem Experimentalsystem ein Repräsentationsraum für Sachverhalte aufgespannt wird, die auf andere Weise nicht als Objekte des epi stemischen Vorgehens dingfest gemacht werden können.“ (Ebd., S. 115)
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Im Gegensatz zu den im vorhergehenden Abschnitt besprochenen materiellen und institutionellen Strukturen, die Modellorganismen auszeichnen, möchte ich hier also auf die semiotischen Aspekte hinweisen, die durch den Modellbegriff angesprochen sind. Diese Überlegungen treffen auf alle Versuchstiere (bzw. die in Versuchen verwendeten Pflanzen und Mikroorganismen) zu und nicht nur auf jene Organismen, welche nach Leonelli und Ankeny als Modellorganismen im engeren Sinne gelten können, da sie Teil einer Kultur und Struktur des Austauschs von Wissen und Material in einer Community geworden sind. Der Ausdruck „Modell“, wie er sich in den Komposita „Modellorganismus“ oder „Tiermodell“ findet, wird von Biologen, Wissenschaftsphilosophen und Historikern häufig dahingehend gedeutet, dass er besagt, ein entsprechender Organismus (also z. B. Zebrafisch) stehe stellvertretend für alle Mitglieder einer höheren taxonomischen Klasse (z. B. Wirbeltiere) oder für eine bestimmte Spezies (z. B. Homo sapiens). Die damit angesprochene Repräsentationsrelation ist die der Analogie mit dem Modellorganismus als Quell- und den anderen Arten als Zieldomäne in der Analogiebildung. Insbesondere in der Wissenschaftstheorie liegt der Fokus somit auf den logischen und kognitiven Aspekten einer Form induktiven Schlussfolgerns und seiner Rechtfertigung. Zum großen Teil dreht sich die Diskussion darum, ob Homologien, insbesondere die evolutionäre Konservierung physiologischer Prozesse, derartiges Schlussfolgern rechtfertigen.76 Während Repräsentation qua Stellvertretung eine wichtige Bedeutung des Modellbegriffs in der biomedizinischen Forschung darstellt, deuten Formulierungen wie „Zebrafish have proven to be an excellent model of early vertebrate development“ darauf hin, dass Modellorganismen nicht nur andere Organismen repräsentieren, sondern zudem Teil von Modellsystemen sind, durch die bestimmte Phänomene repräsentiert werden.77 Organismen basierte Modellsysteme umfassen neben dem Organismus und der Haltungs- und Züchtungsinfrastruktur, die in eine soziale Struktur des Austauschs eingebunden ist, auch ein oder mehrere Experimental76 Siehe M. Weber, Philosophy of experimental biology, Kap. 6; J. A. Bolker, „Ex emplary and surrogate models: two modes of representation in biology“, in: Per spectives in Biology and Medicine, 52(4)/2009, S. 485-499; sowie die in Fußnote 62 angeführten Beiträge. 77 H. William Detrich III, M. Westerfield, L. Zon (Hrsg.), Methods in cell biology, Volume 101, The zebrafish: Cellular and Developmental biology, Part B, Third Edition, San Diego 2011, S. 20; Hervorhebung R. M.
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systeme. Ein Experimentalsystem erlaubt es, bestimmte Aspekte des Lebensvollzugs (Teile, Strukturen, Funktionen, Mechanismen, Prozesse, Verhaltensweisen) zu repräsentieren, indem es sie für die Wahrnehmung und weitere Untersuchung aus der Gesamtheit der kausalen Zusammenhänge isoliert und damit zugänglich macht. Modellorganismen sind demnach solche Organismen, die in Modellsystemen eingesetzt werden. Eine bestimmte materielle Konstellation im Kontext des Modellsystems stellt ein experimentelles Modell des fraglichen Aspektes des Organismus dar. Natürlich wird der Aspekt exemplarisch repräsentiert, d. h. er wird zum stellvertretenden Teil, Mechanismus etc., für Bildungen, die sich in Organismen derselben oder anderer Arten finden. Leonelli und Ankeny unterscheiden zwischen representational scope (also z. B. die Klasse der Wirbeltiere) und representational target (also z. B. die frühe Embryonalentwicklung).78 Allerdings ist es zum einen strenggenommen nicht der Organismus, der von Forschern in diesem Kontext als Modell angesprochen wird, sondern der Organismus als Teil eines Modellsystems. Zum anderen ist die Repräsentation eines Teilaspektes des Organismus in einem Experimentalsystem logisch unabhängig von der Repräsentation anderer Individuen oder Spezies durch den Organismus. Auch wenn die Verallgemeinerbarkeit oder Extrapolation des Ergebnisses ein Experiment motiviert, so stellt die fragliche Konstellation in einem Modellsystem doch auch dann ein Modell (im Sinne der Sichtbar- und Zugänglichmachung) des jeweiligen Aspektes dar, wenn es sich dabei um eine idiosynkratische, also nicht verallgemeinerbare, Eigenschaft des Modellorganismus handelt.79 Der selektive Charakter des Experimentalsystems, seine Eigenschaft, bestimmte Aspekte in der Umgebung des forschenden Subjektes hervorzuheben, und für die weiteren Erforschung zugänglich zu machen, wird von Uexküll betont, wenn er die „Umwelten der Naturforscher“ beschreibt.80 Gleichzeitig ist der Gegenstand der Forschung im Falle der Tierforschung im Sinne Uexkülls ebenfalls 78 R. A. Ankeny, S. Leonelli, „What’s so special about model organisms?“, S. 315. 79 R. Meunier, „Stages in the development of a model organism“. 80 J. v. Uexküll, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten, Hamburg 1956. Eines seiner Beispiele ist die „Umwelt des Astronomen“: „Auf einem hohen Turm, möglichst weit entfernt von der Erde, sitzt ein menschliches Wesen, das seine Augen durch riesige opti sche Hilfsmittel so verändert hat, daß sie geeignet wurden, den Weltraum bis zu den letzten Sternen zu durchdringen.“ (ebd., S. 100 f.)
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als ein Subjekt aufzufassen, das nicht nur eine Umgebung, sondern eine Umwelt hat, in der selektiv bestimmte Aspekte der materiellen Welt hervortreten und Bedeutung haben. In seiner Diskussion des Milieubegriffs – und hiermit ist dann auch ein anderer Begriff des Milieus angesprochen als der oben genannte der stofflichen Umgebung – hält Georges Canguilhem unter Rückgriff auf Uexkülls Umweltbegriff fest, dass die Umwelt von Mensch und Tier jeweils durch den Organismus als Zentrum organisiert ist und selektiv Elemente der Umgebung hervortreten lässt.81 „Die Umwelt* ist also ein ausgewählter Ausschnitt aus der geographischen Umgebung*. Doch die Umgebung ist genau genommen nichts anderes als die Umwelt* des Menschen, das heißt die gewohnte Welt seiner perspektivischen und pragmatischen Erfahrung. So wie diese dem Tier äußerliche geographische Umgebung* in gewissem Sinne durch ein menschliches Subjekt – das heißt durch einen Schöpfer von Techniken und von Werken – zentriert, geordnet, ausgerichtet ist, so ist die Umwelt* des Tieres nichts anderes als ein Milieu, das in Bezug auf jenes Subjekt vitaler Werte zentriert ist, das im Wesentlichen das Lebewesen ausmacht.“82 Die Eigenschaften der Umgebung werden nicht nur durch die mannigfaltigen Wahrnehmungsvermögen der Lebewesen selektiv hervorgehoben, sondern sie bestehen als Elemente der Umwelt einer Art nur relativ zu den Wahrnehmungs- und Reaktionsmöglichkeiten des entsprechenden Organismus. Das heißt, sie sind als Elemente der Umwelt nicht allein die derart hervorgehobenen physikalischen Eigenschaften, sondern sie sind auch in Bezug auf die Lebensvollzüge eines Organismus bestimmt. Während Uexküll hier von Bedeutung spricht, und dabei die Rollen der Aspekte der Umgebung für das Verhalten und die physiologischen Funktionen betont, weist Canguilhem, der von Normen und Werten spricht, darüber hinaus darauf hin, dass es relativ zu den Bedürfnissen des Organismus positive und 81 Zur Signifikanz von Uexkülls Umweltbegriff und Canguilhems Milieubegriff in diesem Kontext, vgl. auch den Beitrag von Köchy in diesem Band. 82 G. Canguilhem, Die Erkenntnis des Lebens, Berlin 2009, S. 262; der Stern zeich net die Ausdrücke als termini technici Uexkülls aus. In Analogie zu den je spe zifischen Umwelten der Organismen betont Uexküll die Tatsache, dass Forscher verschiedener Disziplinen (sowie auch Menschen in verschiedenen Professionen oder Lebensabschnitten) jeweils spezifische Umwelten haben. Umgekehrt nutzt Canguilhem den Verweis auf die Zentriertheit der menschlichen, durch schöpfe rische Tätigkeit geformten Umwelt, um deutlich zu machen, dass auch die Um welt des Organismus durch Werte ausgerichtet und geordnet ist.
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negative Aspekte der Umwelt gibt. Wie oben bereits angeführt, ist es aus seiner Sicht ein wesentliches Kennzeichen des Lebendigen, dass es auf Störungen genau wie auf positive Verhaltens- oder Interaktionsgelegenheiten auf eine je spezifische Weise reagiert.83 Aus den Überlegungen zum Modellorganismus als Teil von Experimentalsystemen, sowie Uexkülls und Canguilhems Umweltbegriff, ergibt sich damit folgendes Bild der Tier-Mensch Beziehung in Forschungsumwelten. Das Tiermodellsystem ist ein System mit zwei (oder mehreren) organisierenden Zentren, dem Menschen (oder einer Gruppe, die bemüht ist eine geteilte Perspektive einzunehmen), sowie dem Tier (oft mehrere einzelne Exemplare – komplizierter wird der Sachverhalt, wenn die Reaktion einer Gruppe als solche untersucht wird). Das Experimentalsystem hat in diesem Fall die Funktion, die Umwelt des Menschen in einer Weise zu organisieren, die es erlaubt, das Tier als Zentrum einer organisierten Umwelt hervortreten zu lassen. Es geht darum, selektiv den selektierenden Charakter der Lebensvollzüge darzustellen. Das Wissen vom Tier (aber dies gilt ebenso für Pflanzen oder Mikroorganismen) entsteht also aus der Interferenz zweier oder mehrerer Systeme, die eine Umwelt aus den Gegebenheiten ihrer Umgebung erzeugen, indem sie selektiv Aspekte der Umgebung hervorheben.84 Während das Tier, relativ zu seinen vitalen Interessen, die Umgebung selektiv wahrnimmt (und auf sie einwirkt) und in dem Sinne eine Umwelt hat, hebt das Experimentalsystem als technische Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeiten, die sich eine bestimmte Gruppe von Menschen angeeignet hat, relativ zu den jeweiligen Forschungsinteressen bestimmte Aspekte des Tieres (z. B. das Wachstum eines bestimmten Organs) selektiv hervor oder wirkt auf sie ein.85
83 G. Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, Kap. 2. IV. 84 Diese epistemische Interferenz stellt vielleicht eine Instanz dessen dar, was Don na Haraway als Diffraction bezeichnet „Diffraction does not produce ‚the same‘ displaced, as reflection and refraction do. Diffraction is a mapping of interfer ence, not of replication, reflection, or reproduction. A diffraction pattern does not map where differences appear, but rather maps where the effects of differ ence appear.“ (D. Haraway, „The Promises of monsters: A regenerative politics for inappropriate/d others“, in: L. Grossberg, C. Nelson, P. A. Treichler (Hrsg.), Cultural studies, London 1992, S. 295-337, hier S. 300) 85 Das Aufzeigen der Symmetrie auf der Ebene der Subjektivität (in dem Sinne, dass Mensch und Tier eine Umwelt haben), verkennt nicht die Asymmetrie in den Machtverhältnissen. Im Gegenteil macht es deutlich, dass es bei dem Tier
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Zum einen müssen die Modellsysteme, die auch die Züchtungsund Haltungsbedingungen umfassen, so gestaltet sein, dass das Tier überlebt (zumindest solange es für das Experiment notwendig ist) und die den Interessen des Forschungsprogramms entsprechenden Lebensprozesse ablaufen können. Zum anderen muss das Experimentalsystem aber genau jene Aspekte des Organismus, oder besser, die Aspekte als solche, hervortreten lassen, die Ansatzpunkte der Interaktion des Organismus (oder des Organs, der Zelle oder des Moleküls) mit seinem Milieu ausmachen. Je nach Experiment können dies physiologische oder pathologische Reaktionen sein.86 Vor allem dann, wenn der in Frage stehende Aspekt des Tieres ein Aspekt seines Verhaltens ist, interferieren die selektive Hervorhebung und Einwirkung des Experimentalsystems in Bezug auf das Tier und die selektive Wahrnehmung und Einwirkung des Tieres in der Umgebung des Experimentalsystems. So kann das Tier etwa nur auf einen Stimulus reagieren, wenn es diesen auch wahrnehmen kann. Dies illustriert, wie der selektive Fokus des Experimentalsystems auf die selektive Wahrnehmung des Tiers eingestellt werden muss. Dasselbe gilt für die Möglichkeit des Tiers, eine Reaktion zu zeigen. In anderen Fällen hingegen, etwa bei der selektiven Hervorhebung von molekularen Prozessen im Organismus, setzt das Experimentalsystem die Zerstörung des Lebensprozesses voraus. Dies geschieht jedoch häufig nur, um eine Reaktion festzustellen, die im lebenden Organismus stattgefunden hat. Zudem kann man experiment um eine Kontrolle der tierischen Subjektivität geht, was überhaupt erst die Voraussetzung ist, um von Machtverhältnissen zu sprechen. 86 Canguilhem charakterisiert die Beziehung zwischen Organismus und Milieu im Labor als grundlegend pathologisch, insofern der Organismus keine Möglichkeit hat, zu wählen; er wird vielmehr von außen beherrscht. G. Canguilhem, Die Erkenntnis des Lebens, S. 265. Selbst wenn man dieser Einschätzung folgt, so schließt dies nicht aus, dass relativ zu bestimmten Forschungsinteressen rele vantes Wissen erzeugt wird. Konrad Lorenz beschränkt sich in einem Kapitel zur Tierhaltung als Methode der vergleichenden Verhaltensforschung darauf festzustellen, dass im Experiment eben nur jene Reizantworten erfolgen, die das Experiment vorsieht. K. Lorenz, Die Naturwissenschaft vom Menschen. Eine Einführung in die vergleichende Verhaltensforschung. Das „russische Manu skript“ (1944–1948), München 1992, Kap. 15. Was hier über Experimentalsyste me gesagt wird, trifft jedoch auch auf Beobachtungssituationen zu wie diejeni gen, die Lorenz im Rahmen der Tierhaltung herbeizuführen versucht und selbst auf Freilandversuche. Alle diese Forschungssituationen beruhen auf bestimmten Entscheidungen und Hilfsmitteln und können somit als Beobachtungssysteme angesprochen werden, die genau wie Experimentalsysteme selektiv sind bezüg lich der Aspekte des Organismus, die sie repräsentieren können.
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sagen, dass auch ein Organ, eine Zelle oder ein Molekül selektiv eine Umwelt aus der Umgebung erzeugt. Geht es um das „Verhalten“ eines Moleküls im Kontext des Organismus, so kann man mit Canguilhem sagen, dass sich die Teile des Organismus zu diesem verhalten, wie der Organismus zu seinem Milieu.87 Selbst dort, wo die Bestandteile des Organismus in ein in vitro System überführt werden, wird ein Teil des Milieus der Moleküle rekonstruiert, was es erlaubt, selektiv die selektiven Reaktionen des Moleküls darzustellen (sie sind dann ähnlich wie das Verhalten des Tieres im Labor begrenzt auf die Reaktionen, die das Experiment zulässt).88 Auch hier entsteht Wissen also in der Interferenz zweier selektiver Systeme. 87 Canguilhem schreibt: „Der biologische Zusammenhang zwischen dem Leben digen und seinem Milieu ist ein funktionaler und folglich beweglicher Zusam menhang, dessen Elemente sukzessive ihre Rollen tauschen. Die Zelle ist ein Milieu für die infrazellulären Elemente, sie lebt selbst in einem inneren Milieu, das bald die Dimensionen des Organs, bald die des Organismus besitzt; dieser Organismus lebt selbst in einem Milieu, das für ihn gewissermaßen das ist, was der Organismus für seine Bestandteile ist.“ (G. Canguilhem, Die Erkenntnis des Lebens, S. 260-261) Canguilhem nutzt die Teil-Ganzes Beziehung von Organ und Organismus, um analog die Beziehung des Organismus zu seiner Umwelt als Teil-Ganzes Beziehung auszuweisen. Das Argument lässt sich aber demnach auch umkehren, um zu betonen, dass die Bestandteile des Organismus eine Um welt haben insofern sie selektiv zu anderen Teilen ihrer organismischen und außer-organismischen Umgebung in Beziehung stehen. 88 Die Rede vom Verhalten des Moleküls, das selektiv seine Umwelt in der Umge bung der Zelle konstituiert, legt es nahe, z. B. auch von anorganischen Molekülen in diesen Begriffen zu sprechen. Und in der Tat geht es bei allen Experimenten darum, den Fokus auf spezifische Eigenschaften des untersuchten Objektes ein zustellen, die nichts Anderes sind, als die Dispositionen zu speziellen Beziehun gen des Objektes zu anderen Objekten. Es besteht also die Möglichkeit, alle Din ge als Subjekte anzusprechen und nicht allein Organismen (Uexküll deutet einen solchen Pansubjektivismus zumindest an), oder, alternativ, den Organismus als Objekt, das wie andere Objekte auch in je spezifischen kausal-dispositionalen Beziehungen zu anderen Objekten steht. Keine dieser Alternativen stellt die Be sonderheit des Organismus im Forschungskontext heraus; jedes Ding hat dann eine kausal relevante Umgebung, ob man diese als Umwelt im Sinne Uexkülls bezeichnen möchte oder nicht. Eine Möglichkeit, die Besonderheit des Lebendi gen zu fassen, ist die von Canguilhem betonte Tatsache, dass der Organismus in einer positiven oder negativen Relation zur Umwelt stehen kann. Die dynami sche Polarität und Normativität des Lebens, so Canguilhem, erklärt die wissen schaftstheoretische Tatsache, dass es eine biologische, aber keine physikalische, chemische oder mechanische Pathologie gibt (G. Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, S. 127). Eine andere Möglichkeit – und die Frage soll hier nicht abschließend geklärt werden – besteht darin, die Umweltbeziehung von Organismen lediglich als komplexer (d. h. sowohl dynamisch sich ändernd, als auch vielseitiger) aufzufassen. In Bezug auf die Bestandteile des Organismus gilt
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Der Zebrafisch ist nicht nur ein Modell in der biologischen und biomedizinischen Forschung, sondern kann auch als Modell gelten, um die Tier-Mensch Beziehung in Forschungskontexten zu untersuchen. Das naturhistorische Wissen über den Fisch stellte eine neue Beziehung zwischen dem Zebrafisch und dem Menschen dar. Sie resultierte zunächst in einer Verbreitung des Wissens von und über den Fisch. Insofern sie aber darüber hinaus dazu führte, dass sich der Lebensraum des Fisches ausweitete, kann man sie als eine ökologische Beziehung auffassen. Der Fisch verbreitete sich zunächst durch die Zierfischhaltung vom Ort seines natürlichen Vorkommens in Südostasien nach Europa und später die USA. Zudem übertrat er die Schwelle von der Heimtierhaltung zur Laborhaltung. Das Aquarium als künstlicher Naturraum, der die vitalen Interessen des Fisches mit den ästhetischen oder epistemischen Interessen des Menschen vermittelt, spielte hier eine besondere Rolle. Der Übergang von der Haltung in einfachen Aquarien im Kontext der sporadischen Nutzung im Labor hin zu standardisierten und dem Bedarf an großen Mengen von Tieren angepassten Haltungsbedingungen markiert den Übergang zum Modellorganismus im engeren Sinne, um den sich eine Community von Forschenden bildet, die Wissen und Material austauscht. Die Einbindung in ein Modellsystem, das neben dem Fisch und der ihn begleitenden materiellen und sozialen Strukturen ein oder mehrere Experimentalsysteme umfasst, führt auch dazu, dass bestimmte Aspekte des Lebens, mögen sie spezifisch für den Zebrafisch, alle Wirbeltiere oder gar alle Lebewesen sein, modelliert werden können. Auf diese Weise wird das Tier im Kontext des Experimentalsystems nicht nur zum Modelltier, das exemplarisch für andere Tiere steht, sondern auch zu einem Tiermodell für den fraglichen biologischen Sachverhalt. Dies geschieht, indem der selektive Fokus eines Experimentalsystems die Teile, Prozesse oder Verhaltensweisen des Lebewesens als solche Aspekte isoliert, zugänglich macht und so repräsentiert, welche die selektive Interaktion des Organismus mit seiner Umgebung hervorbringen, also als umwelterzeugende Aspekte des Organismus.
in jedem Fall, dass sie in der Regel in Bezug auf den Organismus, der ihr Milieu darstellt, überhaupt von Interesse sind.
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Gorillas im Zwielicht King Kong und die Primatologie
Affen faszinieren. Sie sind Objekte der Furcht, aber auch der Fürsor ge. Sie fordern uns psychologisch und existentiell heraus. Denn wie der Mensch sich selber versteht, hängt eng damit zusammen, wie er seine nächsten Verwandten wahrnimmt. Im zwanzigsten Jahrhun dert hatten zwei Schlüsseltexte eine außerordentliche Wirkung, die beide dieselbe Art beschreiben: den Gorilla. Sie stehen zueinander in einem augenscheinlichen Gegensatz: als triviale Fiktion und als empirische Wissenschaft. Die Bilder der Affen könnten kaum un terschiedlicher sein. Aggressiver Monstrosität widerspricht sympa thische Friedfertigkeit. Die Rede ist von Delos W. Lovelaces King Kong (1932),1 dem Roman zum 1933 erscheinenden Film, und von Dian Fosseys Gorillas in the Mist (1983), worin die Autorin sowohl über ihre wissenschaftlichen Ergebnisse als auch über ihre persön lichen Erlebnisse mit den Gorillas berichtet.2 Beide Erzählungen er reichten durch populäre Filme und mediale Berichterstattung eine internationale Öffentlichkeit. Sie prägten unsere Vorstellungen vom Gorilla, vom Affen und von uns selbst.3 Dian Fossey setzt sich ausdrücklich mit King Kong auseinander. Sie verwirft dessen Darstellung als „Mythologie“, der sie die von ihr beobachtete Wirklichkeit entgegensetzt. Sie beruft sich dabei auf die vermeintliche Sanftmut der Tiere: „The extraordinary gentle ness […] dispels all the King Kong mythology“ (DF 64). Einer ihrer Lieblingsaffen, den sie „my gentle Digit“ nennt, ist für sie sogar mit gefletschten Zähnen alles andere als „a King Kong monster“ (DF
D. W. Lovelace, King Kong (1932), New York 2005. Nachweise mit der Abkürzung KK. 2 D. Fossey, Gorillas in the Mist (1983), London 2001. Nachweise mit der Abkür zung DF. Kursive Hervorhebungen in den Zitaten wurden jeweils hinzugefügt. 3 King Kong in den Filmen von Ernest B. Schoedsack und Merian C. Cooper (1933), John Guillermin (1976), Peter Jackson (2005) und zuletzt Jordan VogtRoberts (2017); Gorillas in the Mist im Film von Michael Apted (1988). 1
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199). Die Gorillas, so Fosseys Annahme, seien Opfer übler Nachrede aus der Populärkultur („maligned“, DF xv). Aber ist King Kong tatsächlich so eindimensional, wie die Wis senschaftlerin annimmt? Und ist ihre eigene Wahrnehmung wirk lich so objektiv? Was erfahren wir über die bekannten Affenbilder, wenn wir beide Texte miteinander vergleichen? Und wenn wir sie jeweils aus der Perspektive einer anderen Disziplin lesen – King Kong aus der Sicht der Primatenforschung und Gorillas in the Mist aus der Sicht der Literatur- und Kulturwissenschaft?4 Was ist die Emotionalität der Feldforschung – und die Wissenschaftlichkeit der Populärphantasie? Die Grundlage für diese interdisziplinäre Zusammenarbeit ist das gemeinsame Projekt „Die Affekte der Forscher“, in dem die Emotionen von Akteuren im Feld (Ethnologen, Primatologen, Rei seschriftsteller) den Gegenstand und die Schnittstelle der beteilig ten Disziplinen (Ethnologie, Primatologie, Literaturwissenschaft) bilden. Die leitende Annahme des Projekts ist, dass Emotionen, die während eines Feldaufenthalts auftreten, unweigerlich und oft unbewusst den Wahrnehmungs- und Forschungsprozess beeinflus sen: von der Erhebung der Daten bis zur Darstellung der Ergebnis se. Im Gegensatz zur Ethnologie, in der es eine gewisse Tradition der (wenn auch methodisch und theoretisch noch nicht systemati schen) Auseinandersetzung mit dem emotionalen Erleben der For scher gibt, fordern die Naturwissenschaften, wie die Verhaltensfor schung und auch die Primatologie, eine neutrale, objektive Rolle der Wissenschaftler. Ein Ziel des vorliegenden Beitrages ist daher, das emotionale Erleben in der Begegnung mit einem unserer nächsten Verwandten, dem Gorilla, abzubilden und am Beispiel von Fosseys einflussreichem Buch Gorillas in the Mist im Vergleich mit der po pulären King Kong-Fiktion zu verdeutlichen, dass Emotionen eine wesentliche Rolle im Forschungsprozess ebenso wie im kulturellen Diskurs spielen.
4
Die meisten Beiträge zu King Kong beziehen sich auf die Filme, nur wenige auf den Roman: z. B. H.-J. Gerigk, Der Mensch als Affe in der deutschen, franzö sischen, russischen, englischen und amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Hürtgenwald 1989, S. 148-152. Zur Wechselwirkung zwischen naturwissenschaftlichen und kulturellen Bildern vgl. J. Voss, Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837–1874, Frankfurt a. M. 2007; sowie H. W. Ingensiep, Der kultivierte Affe. Philosophie, Geschichte und Gegenwart, Stutt gart 2013.
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1. Koloniale Phantasien Auf den zweiten Blick haben die populäre Fiktion und die prominen te Feldforschung überraschende Gemeinsamkeiten. Das gilt bereits für die Gattungen. King Kong, der Roman zum Hollywood-Film, ist exotische Abenteuer- und Kolonialliteratur. Eine Expedition dringt vor in unerforschte Wildnis. Dabei wird eine Liebesgeschichte an gedeutet. Ein schwarzes Untier entwickelt Gefühle für eine weiße Frau. Der Text ist jedoch auch lesbar als fiktionale Schilderung einer Forschungsreise, die ein unerwartet differenziertes Bild des Affen hervorbringt. King Kong ist Proto-Primatologie. Seine Protagonis tin, die in die Gewalt des Gorillas gerät, wird zu einer Feldforscherin wider Willen und avant la lettre. Gorillas in the Mist hingegen, das Buch der Primatologin, ist ein durch Empirie ausgewiesener Forschungsbericht. Es vereint Elemen te des Feldtagebuchs, der Autobiographie und der Reiseerzählung. Dabei handelt es sich auch um einen Familienroman, wenn Fossey die Verwandtschaftsverhältnisse und die Entwicklungen der von ihr beobachteten Berggorilla-Gruppen beschreibt. Und außerdem, da wir wissen, dass die Autorin am Schauplatz ermordet werden wird, um den Auftakt zu einem Kriminalfall. Aber wie King Kong liegt Fosseys Bericht ebenfalls ein koloniales Narrativ zugrunde. Aber mals begeben sich westliche Beobachter in den Lebensraum von Gorillas. Sie übernehmen die Verantwortung für eine fremde Natur und schreiben den Einheimischen vor, wie diese mit ihr umzugehen haben. Im Vordergrund steht die eigene Beziehung zum Affen, die Eingeborenen werden ihr untergeordnet. In diesem kolonialen Sze nario durchläuft Gorillas in the Mist die konventionelle Sequenz von Entdeckung („discover“, DF 20), Erschließung („As a pioneer“, DF 25), Benennung („I named“, DF 60), Gründung („I established the Karisoke Research Centre“, DF 25) und Herrschaft (über „loyal and dedicated assistants“, DF 25) durch eine weiße Protagonistin in der Fremde. Auch inhaltlich gibt es zahlreiche Übereinstimmungen. King Kong ist selbst eine Art Berggorilla, er lebt auf Skull Mountain Is land. Fosseys Forschungsgebiet zwischen Ruanda, Tansania und Za ire, das sie als „man-locked mountain island“ (DF 238) bezeichnet, hat mit seinem Habitat durchaus Gemeinsamkeiten. So wie eine Mauer die von Menschen unberührte Zone von Kongs Insel als Re servat abgrenzt, verteidigt Fossey den Nationalpark, der den Affen als „heartland“ und „last stronghold“ dient (DF 38). Sie schützt die
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ses Refugium gegen eindringende Wilderer („poachers“, DF 26), die den Tieren nachstellen, um sie zu töten oder als lebende Trophäen ins Ausland zu verschleppen. Auf ganz ähnliche Weise stoßen die Menschen in King Kongs Territorium vor, um ihn zu verfolgen und in die USA zu entführen. Ohne sie wäre seine Monstrosität nie zu tage getreten. King Kong ist, so gesehen und ganz im Sinne von Dian Fossey, ein Plädoyer für Artenschutz, für die Bewahrung des natürlichen Lebensraums einer bedrohten Spezies. Als Aktivistin setzt sich Fos sey dagegen ein, dass die Tiere zur Schau gestellt werden („exhibit“, DF xvii). Zwei ihrer Gorillas, die in den Kölner Zoo gebracht wer den, kommen dort ums Leben – wie King Kong in Manhattan.5 Sie beschreibt, wie ein gefangener Gorilla mit Draht an ein Gestell aus Bambusrohren gefesselt wird („wired onto bamboo poles“, DF 108) –, so dass er an King Kong erinnert, der in Ketten vorgeführt wird. Und sie beschwört die Fähigkeit der Tiere, sich aus Fallen, die man ihnen stellt, zu befreien („break free“, DF 30) – ganz wie King Kong vor seinem spektakulären Finale. Fossey inszeniert die Gorillas als noble savages, indem sie Voka beln gebraucht, die auf „Aristokratie“ hindeuten: „nobility“, „ma jesty“, „noble“, „majestic“, „regal“ (DF 139, 150, xi, xv, 139). Der Adel der Tiere ist ihr offenbar derart wichtig, dass sie sogar einen Pleonasmus in Kauf nimmt, wenn sie einen Silberrücken einen „re gal monarch“ nennt (DF 149). Die Phantasie vom ‚edlen Wilden‘ ist aus der Ethnographie in die Primatographie übergegangen. Dieses Stereotyp entspricht der Charakterisierung des Hollywood-Mons ters, wie sie bereits in seinem Titel zum Ausdruck kommt: King Kong. Paradoxerweise bestätigt gerade das Attribut „gentle“, mit dem Fossey den Mythos zu widerlegen und ‚ihre‘ Affen zu nobili tieren versucht, da es ‚sanft‘ ebenso wie ‚vornehm‘ bedeutet, eben seine Darstellung als König der Wildnis. Und wie in King Kong die Reise auf die Insel eigentlich eine FilmExpedition ist, spielt auch bei Dian Fossey der Film eine wichtige Rol le. Schon bei der ersten Begegnung erweckt die Kamera die Neugier der Tiere. Sie scheinen sich für das technische Medium in Szene zu setzen: „As if competing for attention, some animals went through a series of actions that included yawning, symbolic-feeding, branchbreaking or chest-beating. After each display the gorillas would look 5
Berggorillas werden im Unterschied zu Flachlandgorillas nicht in Zoos gehalten, da sie in Gefangenschaft nicht überleben.
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at us quizzically as if trying to determine the effect of their show“ (DF 4). Aber Fossey vermenschlicht und verharmlost die Gorillas, während Lovelace vor Augen führt, was es bedeuten kann, wenn sie zum Objekt der Medien gemacht werden.6 Als ihn die Blitzlichter der Photographen blenden, sprengt Kong seine Ketten. Schließlich ist es in beiden Fällen eine Frau, die ein besonderes Verhältnis zu den Tieren entwickelt. Und es ist jeweils ein Mann, der ihre Reise initiiert. Die Schauspielerin Ann Darrow wird von dem Regisseur Carl Denham in die Wildnis gebracht, so wie die Pri matologin Dian Fossey von ihrem Mentor, Louis Leakey. Gorillas in the Mist ist King Kong sehr viel näher, als es der Autorin anschei nend bewusst war.7
2. Die Affekte der Forscherin Die Art, wie wir Affen verstehen, ist nicht zu trennen von den Emo tionen, mit denen wir ihnen begegnen. Wie also beschreiben die bei den Primatographien, die popkulturelle und die wissenschaftliche, die emotionalen Reaktionen der Menschen auf die Gorillas?8 Die Frage, wer terrorisiert wen, scheint jeweils eindeutig beantwortet zu werden. In King Kong versetzt der Affe den Menschen in Schre cken, bei Dian Fossey der Mensch den Affen. Zu erwarten wäre, dass die Hollywood-Phantasie auf einfache Affekte setzt, während die Wissenschaft sie entweder zu vermeiden sucht oder aber sorgfältig differenziert und kritisch durchdenkt. Bietet jedoch die wissenschaftliche Perspektive tatsächlich eine objektive Wahrnehmung der Wirklichkeit? Dian Fossey bezieht sich wiederholt auf das Postulat von Distanz und Neutralität: „the obser ver should not interfere“ (DF 121). Sie gesteht indes ein, dass ihre Emotionen diese Haltung in Frage stellen, wenn nicht unmöglich machen: „It was difficult to control my excitement“; „my scientific 6
Die Anweisungen für Touristen, die zu den Berggorillas reisen wollen, enthalten die Aufforderung, beim Photographieren kein Blitzlicht zu verwenden. Siehe die „Gorilla-Regeln“ unter (http://www.berggorilla.org/de/extras/downloads/ tourismus/), zuletzt abgerufen am 31.05.2017. 7 Vgl. zu diesem Punkt den Beitrag von Böhnert und Kranke in diesem Band. 8 Zur literarischen Primatographie vgl. R. Borgards, „Affen. Von Aristoteles bis Soemmering“, in: G. Oesterle, R. Borgards, C. Holm (Hrsg.), Monster. Zur ästhetischen Verfasstheit eines Grenzbewohners, Würzburg 2010, S. 239-253.
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detachment dissolved“; „My intentions to remain a detached scientific observer dissolved“ (DF 40, 182, 225). Die Wahrnehmung der Feldfor scherin wird bedingt und gefärbt durch Emotionen: durch ihre Nähe zum Tier, ihre Einsamkeit in der Wildnis, ihren Zorn auf die Wilderer. Hinzu kommen klimatische Beschwernisse und politische Gefährdun gen. Die Einheimischen erkennen ihre Einsamkeit und Exzentrizität. Sie nennen sie Nyiramachabelli: „The old lady who lives in the forest without a man“ (DF 91). Bereits die Paratexte von Gorillas in the Mist zeigen an, dass die Verfasserin ein überaus emotionales Verhältnis zu ihrem Forschungsgegenstand hat. Der Klappentext bezeichnet die Go rillas als „shy“, „affectionate“ und „beloved“. Die Zueignung widmet das Buch namentlich genannten Tieren. Und die „Acknowledgments“ sprechen ihnen einen besonderen Dank aus: „my deepest gratitude to the gorillas“ (DF xi). Vorab macht Fossey einige Andeutungen zur schwierigen Psychologie ihrer Wissenschaft. Sie spricht von trau matischen Erfahrungen während ihrer Feldaufenthalte („traumas in Africa“) und von deren langfristigen Folgen („withdrawal symp toms on my return to civilization“, DF xi). Ihre Assistenten leiden in der Isolation auf der Forschungsstation unter Depressionen, die sie ironisch als „astronaut blues“ bezeichnet (DF 156). Vor allem aber haben sie permanent Gefühle, „feelings“, „sensitivity“ (DF 164), die sich auf ihre Tätigkeit auswirken. Ihren eigenen Forschungsaufenthalt schildert Fossey als Abfolge vielfältiger Emotionen. In Bezug auf die Gorillas beschreibt sie ihre Éducation sentimentale: ihre Sehnsucht nach der Ferne („longing“, „land of my dreams“, DF 1), Erregungen („exhiliration“, „elation“, „thrill“, DF 18, 21, 95, 158), Glücksgefühle („most fortunate“, DF xviii, 125), die Entbehrungen der Einsamkeit („tears“, „panic“, DF 7), aber auch diverse Freuden („pleasure“, „joy“, „enjoyable chal lenge“, „humor“, „giggles“, „gales of laughter“, DF 93, 158, 122, 223, 44, 10, 63), ihre Sorge um die Affen („fear“, DF 228), Enttäu schungen („I was bitterly disappointed“, DF 40), Trauer und Kum mer („distressing“, „depressed“, „deeply saddened“, „sorrow“, DF 40, 150, 216, 71, 242), Schuldgefühle („Hugging them to me, I felt like a traitor.“, „sense of guilt“, „I felt I no longer deserved“, DF 122, 115, 209) und schwer auflösbare „mixed feelings“ (DF 183). „I find myself“, resumiert Fossey, „somewhat overwhelmed by the mosaic of memories – humorous, perplexing, sad, tender, loving“ (DF 105).9 9 Die publizierte Darstellung der Affekte in Gorillas in the Mist wäre mit Dian Fosseys persönlichen Aufzeichnungen zu vergleichen. Auszüge aus ihrem Tage
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Die Zuneigung zu den jungen Gorillas steigert sich zu regelrech ten Muttergefühlen. So bezeichnet Fossey einen Affen als Baby und vergleicht sich selbst mit einer Mutter („the baby and I“, DF 110; „I reached for her almost as instinctively as a mother reaches out to protect her child from danger“, DF 225). Affen, die sie bei sich aufzieht, werden zu ihrer Ersatzfamilie. Sie nimmt ein Tier nicht nur „onto my lap“ (DF 110), sondern auch „to bed with me“ (DF 111), und zwischen Mensch und Tier findet der Austausch von Zärtlichkeiten statt: „I badly wanted to hug her“, „the three of us exchanged good morning hugs“, „I lay my head on Digit’s lap“, „my lovable Digit“ (DF 110, 119, 199, 183). Zu einigen Tieren entwickelt die Forscherin ein besonders in niges, liebevolles Verhältnis: „I was overwhelmed by the extraor dinary depth of our rapport“ (DF 201). Eine solche Beziehung be zeichnet sie sogar als ‚Freundschaft‘: „My beloved Rafiki, a friend for seven years“ (DF 149). Die Identifikation ist so intensiv, dass sie Fremdscham beinhalten kann („I was embarrassed for my no ble friend“, DF 200). Hinzu kommt eine – immerhin mit leichter Ironie so genannte – „Liebesbeziehung“ („love affair“, DF 129) zu einem kleinen Tieraffen. Ihre eigenen Regungen findet Fossey in denen der Tiere gespiegelt, und zwar genauestens: „The behavior of the two youngsters […] epitomized my own feelings exactly“ (DF 121). Die Wissenschaftlerin kümmert sich um das körperliche und seelische Wohlergehen ihrer Gorillas zum Beispiel dadurch, dass sie ihnen „Trost“ spendet („comfort“), indem sie beruhigende Tier laute nachahmt („make reassuring gorilla vocalizations“, DF 109). Die Belohnung ihrer Tätigkeit ist ebenfalls emotional, sie besteht in unvergesslichen Gefühlen („I’ll never forget the feeling“, „an ex traordinary feeling“, „the most rewarding experience“, „each hour with the gorillas provides its own return and satisfaction“, DF 227, 54, 140, 141). Fossey hat das Bedürfnis, Teil der Gruppe der Affen zu werden: „the urge to join“ (DF 199). („Their excitement was contagious and […] I wanted to join in their escapades“, DF 172.) Sie fühlt sich durch die Tiere im doppelten Sinn berührt. Sentimental berichtet sie von „the first gorilla ever to touch me“ (DF 141), und sie schil dert eine Szene, in der sich ihre und seine Hand berührten: „[I] ex tended my hand“, „[he] extended his hand“ (DF 141). Die Feldfor buch und aus Briefen erschienen posthum in F. Mowat, Woman in the Mists: The Story of Dian Fossey and the Mountain Gorillas of Africa, New York 1987.
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scherin ist weniger im Begriff, das bekannte going native zu erleben, als vielmehr die Grenze zwischen den Spezies zu überschreiten: „I felt I might have crossed an intangible barrier between human and ape“ (DF 141). In Großbuchstaben steht der pathetische Satz: „I’VE FINALLY BEEN ACCEPTED BY A GORILLA“ (DF 141). Die Lebenswelt der Berggorillas inszeniert Fossey als Paradies („ethereal“, „heaven“, DF 36, 159), als Utopie („utopian“, „promi se“, DF 20), als Idyll („nearly idyllic“, DF 204). Gorillas in the Mist bedient die Motive der bukolischen Dichtung: den locus amoenus („ideal location“, DF 21), die Motive des Friedens und des Einklangs der Natur („peaceful“, „harmonious“, DF 204). Die Begegnungen mit den Tieren stehen im Zeichen gemeinsamen Naturgenusses: „seeing a lone gorilla male sunbathing on a horizontal tree trunk“; „I was contentedly sharing the sun and the peacefulness in the midst of Group 4“; „as satisfied with the sun and the seclusion as the gorillas were“ (DF 8, 192, 203). Die Expedition zu den Affen wird zur Zeitreise in eine unschuldige Vergangenheit: „I had the impression of having flown through a million years“ (DF 41). In dieses Paradies brechen Menschen als Wilderer ein, und Fos seys Text nimmt eine religiöse Dimension an. Die Gorillas werden für heilig erklärt (etwa als „Buddha“, DF 205), die Taten der Men schen an ihnen zum Frevel („sacrilege“, DF 150), und die Tiere er scheinen als Opfer („sacrificial victim“, DF 207) in einem sakralen Trauerspiel („tragedy“, DF 216). Als zwei Tiere in einen Zoo nach Deutschland abtransportiert werden, löst dies bei der Erzählerin eine emotionale Überforderung aus: „That was all I could endure.“ (DF 124). Ihre Trauer scheint unbeschreiblich zu sein: „There is no way to describe the pain of their loss, even now, more than a decade later“ (DF 124); „Many months were to pass before I could get over the emptiness felt“ (DF 193). Gleichwohl hat sie den Schmerz des Abschieds auch rhetorisch in Szene gesetzt und alliterativ verstärkt, indem sie vom „dreaded departure day“ spricht (DF 123). Mit höchstem Pathos beschwört Fossey ihre Trauer um verstorbene Tie re. Besonders folgenschwer ist der Verlust des Gorillas „Digit“: „I came to live within an insulated part of myself“, „unable to accept the finality“ (DF 206, 209). Die eigene seelische Integrität steht auf dem Spiel: „There are times when one cannot accept facts for fear of shattering one’s being“ (DF 206). Ihre Trauer stilisiert Fossey so gar zu einer nachempfundenen Nahtoderfahrung: „all of Digit’s life […] passed through my mind“ (DF 206). Mensch und Tier scheinen empathisch eins zu werden.
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Gorillas in the Mist ist eine Sentimental Journey. Die gesam te Handlung wird in den Gefühlen der Forscherin abgebildet. Mit einer bezeichnenden Ausnahme: Abstoßendes Verhalten von Affen bleibt ohne entsprechende Reaktionen. Ein ganzer Bereich des Af fektspektrums wird ausgeblendet. Denn in ihrer jahrelangen Feld forschung registriert die Primatologin durchaus Verhaltensweisen ihrer geliebten Affen, die Ekel, Abscheu oder Grauen hervorrufen könnten. Affen verzehren ihre Exkremente („Coprophagy“, DF 46, 198), sie leben in Polygamie („harems“, DF 64) und begehen Inzest („inbreeding“, DF 72, 230); so dass es von einem nach einem Kom ponisten benannten Alphatier absurderweise heißen kann: „Beet hoven bred with his daughter“ (DF 75). Immer wieder kommt es zu Gewalt innerhalb einer Gruppe („intragroup aggression“, DF 86), wenn einzelne Individuen aus gegrenzt („social ostracism“, DF 70, „scapegoat“, DF 84, 195) und misshandelt werden („abuse“, DF 100, 101), oder auch zwischen Gruppen („aggression between groups“, DF xviii), wenn die Rivali tät um Weibchen oder Territorien sich in Kämpfen entlädt. Gorillas verhalten sich feindselig („xenophobia“, DF 228) oder sogar grau sam („xenophobic brutality“, DF 227) gegen fremde Artgenossen. Viele Tiere tragen Zeichen solcher Brutalität: Wunden, Narben, ver sehrte Augen, abgebrochene Zähne. Gorillas schänden Leichname (in „ritualistic attacks“ auf den Körper einer Verstorbenen, DF 104). Sie quälen Kranke und zei gen dabei, wie Fossey annehmen muss, einen lustvollen Sadismus („they wanted to extend her suffering as long as possible for their own sport“, DF 226). So wird ein durch Krankheit geschwächtes Weibchen immer wieder von seinen Artgenossinnen attackiert. „The weaker Quince grew, the more frequently she became the recipient of runs, kicks, and pig-grunts“ (DF 100). Gorillas foltern sogar Babies („torture“, „combined attack on the baby“, DF 225, 226). „The brutality of Group 5’s two females“, so gesteht Fossey an einer Stelle, „was agonizing to watch, the infant’s cries unbeara ble“ (DF 225). Wenn ein neues Gorillamännchen eine Gruppe über nimmt, tötet es – ähnlich wie bei Schimpansen – den Nachwuchs des früheren Alphamännchens („infanticide“, DF 150). Obwohl es im Gegensatz zu Berichten über andere Menschenaffen (Orang utans, Schimpansen, Bonobos)10 für Gorillas keine Beweise gibt, äu 10 Zum Beispiel: A. Fowler, G. Hohmann, „Cannibalism in wild bonobos (Pan panis cus) at Lui Kotale“, in: American Journal of Primatology, 72(6)/2010, S. 509-514;
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ßert Fossey den Verdacht, dass diese getöteten Jungtiere zumindest im Einzelfall sogar gefressen werden („cannibalism“, DF 77). Gewalt, Infantizid und Kannibalismus gefährden ein wohlwol lendes Affenbild. Fossey erkennt das Problem („I was chilled“, DF 77) und bedient sich, um damit umzugehen, mehrerer Strategien der Affektvermeidung. Zunächst reagiert sie apologetisch. Sie wei gert sich, grausame Verhaltensweisen als solche anzuerkennen: „In my opinion the concept of ‚cruelty‘ could not be ascribed to the treatment Quince received because both her ‚attackers‘ and she were acting anomalously during the terminal stages of her illness“ (DF 101). Sie bietet Erklärungen an für die Rationalität der Gewalt: „By killing Frito, Beetsme would be destroying an infant sired by a competitor, and Flossie would again become fertile“ (DF 218). Oder sie deutet an, dass solche Erklärungen zumindest denkbar seien: „It is possible that there is a likely explanation for what to a human appears as unreasonable and heartbreaking abuse“ (DF 100 f.). Menschen werden von Gorillas eigentlich nicht angegriffen, es sei denn, sie fühlen sich bedroht („Charge anecdotes do the goril la an injustice“, DF 57).11 Aber Fossey hat sie durchaus als Gefahr in Erwägung gezogen („the men were certain I had been torn to shreds“; „I dramatically whispered to myself, ‚I‘ll never get out of this alive!‘“, DF 55, 63). Das Problem der Gewalt zwischen Gorillas delegiert sie, durch aus nicht völlig zu Unrecht, an die Menschen. Konflikte zwischen Gorilla-Gruppen seien bedingt durch „human encroachment“ (DF xviii). Als eigentliche Verursacher der problematischen Hand lungen von Affen erscheinen so die Wilderer: „The younger silver back’s sole progeny, Mwelu, was a victim of infanticide when killed by Nunkie […]. Actually, the eight-month-old female’s death was caused by poacher encroachement“ (DF 238). So kann Fossey die verstörenden Kindstötungen als Ergebnis menschlicher Taten be klagen: „the devastation poachers create by killing the leader of a gorilla group“ (DF 218). Nur wenn sie tierische Grausamkeit auf menschliches Verbrechen zurückführen kann („Four months after
D. F. Dellatore, C. D. Waitt, I. Foitova, „Two cases of mother-infant cannibalism in orangutans“, in: Primates, 50(3)/2009, S. 277-281; J. Goodall, „Infant killing and cannibalism in free-living chimpanzees“, in: Folia Primatologica, 28(4)/ 1977, S. 259-282. 11 Es sind tatsächlich keine Fälle bekannt, in denen Gorillas Menschen getötet hätten.
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the shootings“, DF 220), gestattet sie sich Trauer und Entrüstung („To my deepest sorrow, Mwelu, Digit’s only offspring, was killed by Nunkie“, DF 220). Schrecken („Horrified“, „horror“, „shock“, DF 31, 212, 106, 212) und Abscheu („revolted“, „repugnant“, DF 150, 21) beziehen sich so letztlich immer auf die Handlungen von Menschen. Während sie zum Beispiel erfreut festhält, dass eine Gruppe ihr Reisetempo aus Rücksicht auf erkrankte Tiere verlang samt, blendet Fossey bei Gewalttaten von Affen ihre emotionalen Reaktionen aus und enthält sich einer moralischen Wertung. Sie lässt, mit einer Ausnahme, keine negativen Affekte gegen die Af fen zu. Nur „Beetsme“ ist ihr unsympathisch („disliking Beetsme“, DF 219), allerdings nicht, weil er ein Jungtier tötet, sondern weil er das harmonische Bild einer beobachteten Gruppe stört.12 Um die Beobachtungen tierischer Gewalt auch rhetorisch zu be wältigen, wechselt Fossey, wenn sie von ihnen berichtet, das Stilre gister. Sie neutralisiert die Ereignisse durch eine dezidiert nüchter ne, sachliche Schilderung: „transfers make younger females three times more likely to lose their infants from infanticide“ (DF 176). „Like most cases of infanticide this one also occurred after the death of the silverback leader“ (DF 190). Latinismen filtern das Geschehen in die Abstraktion („infanticidal“, „eliminated“, „unrelated“, DF 190; „evolved strategies of transfers between groups, or even infan ticide, may serve as means of dissemination of genetic variability throughout the small remaining population“, DF 238), und PassivKonstruktionen bringen es zusätzlich auf Distanz („infant loss may be strongly associated with new pair-bonding“, DF 177; „infanticide […] should […] be considered as an evolved mechanism functio ning for genetic perpetuation“, DF 196). Diese rhetorischen Verfahren kommen desto konzentrierter zum Einsatz, je abstoßender das zu verhandelnde Phänomen zu sein droht. So schreibt Fossey über den Verdacht, Infantizid könnte mit Kannibalismus einhergehen, doppelt passivisch, mit parallelen romanischen Adverbien, in auffälliger Lakonie: „Should another infant disappear, dung washing must be undertaken immediately.
12 Im Rahmen des Projekts Die Affekte der Forscher verfasst Mira Shah (Bern) eine Dissertation über Affen und Affekte. Die Rhetorik der Primatologie. In dem interdisziplinären Projekt, gefördert von der VolkswagenStiftung (2013–2017), wird das emotionale Erleben von Forschenden während ihres Feldaufenthaltes interdisziplinär aus den Perspektiven der Ethnologie, Primatologie und Litera turwissenschaft untersucht.
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Perhaps then the question of the existence of cannibalism among go rillas might be answered satisfactorily“ (DF 78). Die Untersuchun gen bringen dann in der Tat „slivers of bone and teeth“ im Gorillakot zutage (DF 77), insgesamt „one hundred and thirty-three fragments of bone and teeth“ (DF 78). Dennoch erklärt Fossey die Frage nach Kannibalismus bei Gorillas – zumindest in diesem Buch – für unge löst. In der Verfilmung wird sie gar nicht erst gestellt.
3. Die Affekte Hollywoods Der Begegnung mit dem wilden Riesengorilla auf der Insel geht in King Kong das Zusammenleben mit dem zahmen Tieraffen „Ignatz“ an Bord des Schiffes voraus (KK 20 ff.). Hier wird nicht nur das Ste reotyp vom Seemann mit Äffchen bedient, sondern vor allem die Affinität der Protagonistin Ann Darrow zu Affen eingeführt. Ignatz ist die domestizierte Variante der Primatenbegegnung. Das Äffchen wird als „sensitive monkey“, „peaceable and friendly“, wenn auch „jealous“, vermenschlicht (KK 65, 23, 40). Nähe und Freundschaft zwischen Mensch und Tier werden betont – wie bei Dian Fossey. King Kong dagegen löst durchaus Angst, Terror, Schrecken aus, und zwar in allen Schattierungen („stupor“, „hysteria“, „panic“, „black apelike horror“, „deadly fear“, KK 70, 45, 78, 98, 37). Aber diese Affekte haben eine doppelte Vorgeschichte. Die Bestie greift die Menschen erst an, nachdem sie selbst von ihnen provoziert wor den ist. Und die Menschen fürchten das Tier bereits, bevor sie ihm überhaupt begegnet sind. King Kongs Schrecken ist in zweifachem Sinn menschengemacht. Woher kommt überhaupt die Furcht vor dem Pflanzenfresser? Der Roman ist in diesem Punkt bemerkenswert selbstreflexiv. Auf dem Weg zu Kongs Insel probt die Schauspielerin, wie sie vor Ort auf den Affen zu reagieren hat (KK 27). Der Regisseur weist sie ein in die Phasen und Facetten der Furcht: „You are amazed. […] It’s horrible. But you are fascinated“ (KK 27). Dieses Studium künstlich induzierter Emotionen ruft – als psychagogisches Method Acting – tatsächliche Emotionen hervor: „Ann was not simulating fear. She was afraid“ (KK 27). Das heißt: Sie kennt die vorgeschriebenen Gefühle bereits, bevor sie den Gorilla erlebt. Der Roman führt die Angst vor seiner Bestie als kulturell codiertes Verhalten vor. Diese affektive Disposition wird dann umgesetzt, aber auch überschritten.
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Denn in der tatsächlichen Interaktion kommt nicht nur die antrai nierte Furcht zur Geltung. King Kong ist nämlich keineswegs bloß eine Figur des Schre ckens. Der Affe ist Gegenstand der Bewunderung („Wonder“, „wonderful“, KK 137, 45),13 der Neugier („I want to know“, KK 60), der Eifersucht („[Jack] could scarcely contain himself“, KK 101), ein gefährlicher Reiz („stimulant of danger“, KK 107), unwiderstehlich („Driscoll could not resist staring“, KK 37). Aufgrund der Emoti onen, die sie erlebt („her overtaxed emotions“, KK 101), erleidet Ann einen Zusammenbruch. Aber auch Humor wird als Strategie der Bewältigung ins Feld geführt („jocularity“, KK 83). King Kong kann sogar Sympathien wecken – die der Leser wie die seiner Anta gonisten. Wenn er mit anderen Tieren kämpft, seien es Dinosaurier, Wasserschlangen oder Spinnen, identifizieren sich die Menschen mit ihm: „[Ann] wanted Kong to win“ (KK 100). „[Jack] was no more than a breath away from a supporting shout“, „the mate could have cried out in thanks“ (KK 116). In solchen Situationen sehen sie ihn „without terror“ (KK 116). Die Expeditionsteilnehmer durchlaufen eine komplexe Affekt dramaturgie: Furcht, Schrecken, Schauder, Ekel und Aggression, Staunen, Bewunderung, Eifersucht, Sympathie und Mitgefühl. Die Bandbreite ihrer Reaktionen entspricht jener der Eingeborenen. Das Ritual, in dem diese den Gorilla beschwören, dient der Regulierung widerstrebender Zustände: „Ecstatic. Triumphant. Awed. Fearful“, „All these emotions were conveyed by turns“ (KK 51). Entsprechend vielfältig wie die Affekte für Kong sind auch die Affekte von Kong. Der Text beschreibt im Einzelnen: Wut („rage“, „fury“, KK 100, 101), Hass („loathing“, KK 117), einen gewaltigen Ausbruch („cataclysmic emotion which surged from his inmost being“, KK 146), aber auch kühle Selbstbeherrschung („his rage was in check“, KK 100), ekstatischen Triumph („wild ecstasy“, KK 118) und vorsichtige Scheu („distaste for water“, KK 122), Freu de („pleasure“, „satisfaction“, KK 101) und Enttäuschung („disap pointment“, KK 135). Für seine weibliche Beute zeigt der Affe ein gewisses Begehren („Kong […] touched Ann solicitously“, „the inviting whiteness“, „he felt it excitedly“, „touched the smooth revelation“, KK 101, 13 Vgl. S. Greenblatt, Marvelous Possessions. The Wonder of the New World, Chi cago 1991. Das ‚Wunderbare‘ wird ästhetisch genossen oder kolonisiert und zerstört.
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118, 118), aber auch rührende Fürsorge („caution“, „care“, „with Ann’s bright head cradled in one arm“, „[c]arefully“, „anxiously“, „gently“, KK 87, 75, 102). Ist Kongs Interesse für Ann doch nur behavioristisch zu erklären? Verhält sich der Affe bloß wie eine von fremdem Glanz angezogene Elster, „[o]nly as a magpie is attracted by a shining stone“, „only because it was strange“ (KK 111)? Oder zeigt der Gorilla einen Sinn für Schönheit? Hat er ästhetische Emo tionen? „Beauty softens and attracts and in the end encompasses the destruction of the Beast“, erklärt Denham; „he’ll never again be quite the same king of the forest. Brute strength will have yielded to something higher“ (KK 111). „His instinct, the instinct of the Beast, is telling him to stay safe in his mountain. But the memory of Beau ty is in him. That’s stronger than instinct“ (KK 133). Die Worte des Impresarios, mit denen der Roman schließt, bilden das Epitaph für King Kong: „Beauty killed the Beast“ (KK 156). Emotionen verän dern. Sie machen verletzlich. Gerade seine Humanität wird Kong zum Verhängnis. Dies ist der Kern dieses tragischen Märchens von der ‚Schönen‘ und der ‚Bestie‘. Ist das Tier sogar zur Liebe fähig? Der Regisseur Denham ist sich sicher: „Ann means something to him.“ Denn: „when he looked on her something inside him gave way.“ Metaphorisch ist die Rede von einem Funken: „in that huge head of his is a spark“ (KK 110). Dasselbe Wort, „spark“, gebraucht Dian Fossey, um bestimmte kog nitive Eigenschaften ihrer Affen zu bezeichnen („Pucker showed a spark of interest“, DF 113). Wie ein tragischer Liebender endet King Kong, als man ihm ebenso tödlich wie symbolisch ins Herz schießt („into his heart“, KK 155). Den gleichen Tod stirbt der Gorilla mit dem menschlichen Namen „Uncle Bert“ in Fosseys Memoiren. Am Ende jedenfalls ist nicht die Liebe, sondern die Furcht die Emo tion, die Kong von den Menschen zu lernen hat: „He’s got something to learn. Something man can teach any animal. That’s fear!“ (KK 137) Macht Furcht den Menschen – und auch den Affen – zum Menschen?
4. Was sieht man im Nebel? Texte und Filme wie King Kong und Gorillas in the Mist haben un ser Verhältnis zu Gorillas bestimmt. Sie haben unsere Affekte für Affen beeinflusst. Welches Affenbild und welches Menschenbild haben sie dabei jeweils vermittelt?
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Dian Fossey geht von einer festen Voraussetzung aus: dass die Natur gut sei, insbesondere die der Gorillas. Ihr Axiom ist „the benevolence of nature“ (DF 158). Die Affen sind für sie genuin „gentle“, „harmonious“ und „tender“ (DF xv, 214). Sie vertritt of fenbar eine vorgefasste Überzeugung, die sie, anstatt ergebnisoffen zu forschen, empirisch bestätigen will: „I have always been con vinced of the intrinsically gentle nature of gorillas“ (DF 56). Diese uneingeschränkt positive Haltung ist umso bemerkenswerter, da bis dahin vor allem King Kong das Bild des Gorillas bestimmt hatte. Nur wenige Jahre bevor Dian Fossey selbst ihre Beobachtungen an den Gorillas begann, hatte die Pionierforschung von Georg Schaller (1963, 1964) erstmals Zweifel an der rohen, gewalttägigen Natur der Gorillas geweckt. Während der Erstkontakt in King Kong aus der Sicht der ge opferten Frau als Bedrohung durch ein fremdes Monster beschrie ben wird, hebt Fossey ihre Gorillas von Anfang an auf eine men schenähnliche („humanlike“) oder sogar menschengleiche Stufe („equally“) und schreibt ihnen menschliche Neigungen zu (zum Beispiel neugierig zu sein, „curious“). Ihre erste Begegnung schil dert die Forscherin wie folgt: „I shall never forget my first encounter with gorillas. Sound pre ceded sight. Odor preceded sound in the form of an overwhelming musky-barnyard, humanlike scent. The air was suddenly rent by a high-pitched series of screams followed by the rhythmic rondo of sharp pok-pok chest beats from a great silverback male obscured behind what seemed an impenetrable wall of vegetation. […] Pee king through the vegetation, we could distinguish an equally curi ous phalanx of black, leather-countenanced, furry-headed primates peering back at us. Their bright eyes darted nervously from under heavy brows as though trying to identify us as familiar friends or possible foes. Immediately I was struck by the physical magnifi cence of the huge jet-black bodies […]“ (DF 3). „[I]t was their in dividuality, the shyness of their behaviour that remained the most captivating impression of this first encounter with the greatest of the great apes“ (DF 4). Die Gorillas erscheinen zunächst als unbekannte Wesen, die je doch von Anfang an respektiert werden. Fossey folgt ihnen nicht, wenn sie fortgehen, sie wahrt Distanz (DF 61). Sie bemüht sich um eine Beziehung zum Affen, die nicht durch Herrschaft oder Angst bestimmt, sondern von Achtung und Erkenntnis geleitet ist. Go rillas lehren den Menschen etwas, das Machtverhältnis kehrt sich
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um: „From them I learned to accept the animals on their own terms and never to push them beyond the varying levels of tolerance they were willing to give. Any observer is an intruder in the domain of a wild animal and must remember that the rights of that animal supersede human interests“ (DF 14). Die Tiere werden zunehmend zu Vertrauten, womöglich sogar zu Artgenossen. So erhalten die Gorillas ab dem vierten Kapitel Namen, sogar genuin menschliche wie Beethoven oder Brahms, die Kultur symbolisieren und Individualität ausdrücken sollen. „The gorillas’ names seemed to fit their personalities“ (DF 169). Fossey entwirft, wie in der Primatologie üblich, Familien-Stammbäume. Sie rekonstruiert die Lebensläufe einzelner Tiere. Und sie spricht sogar von einer „Geschichte“, „history“ (DF 105), der Affen-Grup pen. Affen zu benennen und damit zu personalisieren, wurde zu dieser Zeit als unwissenschaftlich und vermenschlichend angese hen, wie Fosseys Kollegin, die Schimpansenforscherin Jane Goodall, die ihrerseits mit diesem Vorwurf konfrontiert wurde, in Interviews erklärte.14 Die neutrale Rolle des Beobachters, der das Verhalten der Be obachteten nicht beeinflusst und das beobachtete Verhalten nicht vorschnell interpretiert, gilt als Voraussetzung der Verhaltensfor schung.15 Die Umsetzung in der wissenschaftlichen Realität, beson ders bei der Beobachtung mit dem Menschen nah verwandter Arten wie der Gorillas, ist jedoch, wie Fosseys autobiographisch konzipier ter Bericht zeigt, nicht uneingeschränkt möglich. Menschen inter pretieren Affenverhalten zwangsläufig aus ihrer Perspektive. Und sie vermenschlichen es dabei. An einer Stelle markiert Fossey, dass sie sich der Problematik der Anthropomorphisierung sehr wohl be wusst ist: „Humanizing […], albeit tempting, is a serious error“ (DF 105).16 Aber diese Einsicht bleibt ohne Folgen. Die Wissenschaft lerin humanisiert konsequent. Sie schreibt den Affen menschliche Empfindungen und Vermögen zu, zum Beispiel „laughter and smi les“, „love“ und „originality“ (DF 121, 72, 232). Gorillas in the Mist vergleicht die Affen in zahlreichen Hinsichten mit Menschen: „like 14 „Chimps with everything: Jane Goodall’s 50 years in the jungle“, in: The Guard ian, 27.10.2010, (http://www.theguardian.com/science/2010/jun/27/jane-good all-chimps-africa-interview), zuletzt abgerufen am 31.05.2017. 15 P. Martin, P. Bateson, Measuring Behaviour. An Introductory Guide, Cambridge 2007. 16 Zum Anthropomorphismus vgl. die Beiträge von Hilbert und Köchy in diesem Band.
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a human child“, „like children“, „spoiled human children“, „boys at a summer camp“, „similar to that of a human parent“, „resembling a gracefully aging old married couple“, „like tourists“, „resembled a drunk person“, „drunken-sailor moods“, „clown“, „jester“ (DF 84, 118, 116, 145, 88, 140, 118, 94, 205, 101). Bisweilen genügt es sogar nicht, gewisse Ähnlichkeiten nur festzustellen, sondern sie werden noch dazu als „genau“ („just“) oder „stark“ („much“) hervorge hoben: „just as humans eat a strand of grapes“; „much as human beings scratch their head“; „The scapegoat Tuck reacted much like a human child being treated unfairly. […] Tuck was resolving her inner conflict much as human beings […] in disturbing situations“ (DF 24, 84, 84). Anthropomorphe Metaphern unterstützen solche Vergleiche. In der Welt der Affen gibt es „TV dinners“ (DF 46) und ein „Hors d’œuvre menu“ (DF 129), einen „rabblerouser“ (DF 196) und eine „summer vacation“ (DF 196), „square-dance“ und „pirouettes“ (DF 173, 197) sowie eine „mini-minstrel band“ (DF 197). Die Affen er scheinen als Figuren der Geschichte oder der Forschung, aus einem Comic oder einem Spielfilm: „Admiral Nelson“, „Marie Curie“, „Bugs Bunny“ oder „a young silverback without a cause“ (DF 80, 80, 94, 194, vgl. 205). „Digit“ wird regelrecht zu einem Helden ver klärt: „he gave his life to save his family“, in seiner „last battle“ stirbt er „tragically“ (DF 206, 208). Fossey unterstellt den Tieren menschliche Gedanken oder Ge spräche – in der rhetorischen Technik der Sermocinatio. So denkt sie sich aus, wie sie einander zu einer Wanderung auffordern: „Okay guys, let’s just see what’s on the other side of this next little hill!“ (DF 51, vgl. 97f.) Der Affe der Affenforscherin ist eigentlich menschlich. Im Nebel ist man immer allein mit sich selbst.
5. Wer ist King Kong? King Kong aus der Perspektive der Primatologie zu lesen, erscheint zunächst weit hergeholt. Aber es gibt durchaus hinreichende An haltspunkte. Als Ann Darrow ungewollt zu einer Feldforscherin wird, muss sie wie eine Ethologin das Verhalten des bedrohlichen Tieres verstehen, seine Reaktionen auf ihre eigenen Handlungen begreifen. Verhaltensbeobachtungen, vor allem in den natürlichen Lebensräumen von Primaten, bilden die wichtigste Methode zu de
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ren Verständnis. Affen können keine Interviews geben, keine Frage bögen ausfüllen. Nur durch systematische Beobachtungen, die ihren gesamten Tagesablauf abbilden, oft über mehrere Jahre hinweg, kann der menschliche Forscher Regelmäßigkeiten in ihrem Verhalten er kennen und deren Funktionen erfassen.17 Auch die anderen Figuren in King Kong beobachten den Affen, sie deuten ihn, um ihn über wältigen zu können. Als er King Kong verfolgt, um Ann zu retten, denkt Driscoll darüber nach, wie er dessen Temperament („Kong’s temper“) manipulieren kann („not provoke him“, KK 101). Mit den biologischen Fakten geht der Roman zum Teil sehr sa lopp um: King Kong lebt bei Sumatra (nicht in den Grenzgebie ten zwischen Ruanda, Uganda und der Demokratischen Republik Kongo, wie die wirklichen Berggorillas), er schläft in einer Höhle (nicht in selbstgebauten Nestern), und er tötet Menschen (statt ge gen andere Männchen um die Übernahme einer Gruppe von Weib chen zu kämpfen). Das mag darauf zurückzuführen sein, dass zur Zeit der Entstehung von Roman und Film über Gorillas noch sehr wenig bekannt war. Der französische Afrikaforscher Paul Belloni Du Chaillu (1835–1903) war wahrscheinlich der erste Europäer, der einem wilden Gorilla begegnete. Durch seine Berichte18 nahm das Interesse an dieser Art in Europa und in den USA zu. Die ersten wissenschaftlichen Arbeiten von George Schaller erschienen jedoch erst ein Jahrhundert später.19 King Kong ist kein naturalistisches Tier. Der Roman berührt in des zentrale Forschungsfelder der Primatologie: das Verhalten der Affen, ihren Affektausdruck und ihre Kommunikation durch Ges tik, Mimik und Vokalisation. Im Hinblick auf die Schimpansen wird ein Vergleich mehrerer Arten angestellt. Und einige Verhaltenswei sen werden durchaus zutreffend beschrieben: das Trageverhalten, das Gorillas zum Transport ihres Nachwuchses einsetzen (wie King Kong beim Tragen der Frau), das Meiden von tiefem Wasser (King Kong kann nicht schwimmen) und das Brusttrommeln (auch wenn es als Ausdruck von Aggression bzw. als Zeichen des Angriffs nicht ganz korrekt interpretiert wird, da es bei Gorillamännchen vor al 17 J. Altmann, „Observational study of behaviour: Sampling methods“, in: Be haviour 49/1974, S. 227-267. 18 P. Belloni Du Chaillu, Explorations and Adventures in Equatorial Africa: With Accounts of the Manners and Customs of the People, and of the Chase of the Gorilla, the Crocodile, Leopard, Elephant, Hippopotamus, and Other Animals, London 1861. 19 G. B. Schaller, The Mountain Gorilla: Ecology and Behavior, Chicago 1963.
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lem Teil des Imponierverhaltens ist und bei jüngeren Tieren auch dazu dient, eine spielerische Interaktionen einzuleiten). Das eigent liche Merkmal der Dominanz fehlt King Kong jedoch, denn er ist kein „Silberrücken“. Er hat keine Gruppe, die er anführen würde. Er ist der letzte seiner Art – wie James Fenimore Coopers Last of the Mohicans. Das heißt: King Kong ist, so oder so, dem Untergang geweiht. Er stirbt aus. Der Roman macht seine Leser immer wieder darauf aufmerksam, dass der Status des Gorillas prekär ist. Wer ist King Kong? Ist er Tier, Bestie, Monster, Teufel, Gott, Ding oder Mensch? Bezeichnet wird er zum Beispiel als „ape“, „ogre“, „Thing“ oder „monstrous“ (KK 143, 119, 76, 37). Seine Art wird biologisch als Spezies („species“, KK 117), aber auch anthropologisch als Volk („people“, KK 122) eingestuft. Die Identität der Titelfigur ist rätselhaft vieldeutig. Vage Formulierungen oder Fragen, Adverbien und Konjunktive zeigen diese Ungewissheit an: „Some kind of a gorilla“, „A God, or devil, or something?“, „neit her man nor beast“, „If he really is all beast“, „more than beast“ (KK 110), „he was nearly not an error“, „as a man might have raised a doll“, „almost human“ (KK 139, 37, 37, 126, 110, 110, 102, 87). Kongs hybride Natur wird weiterhin dadurch kenntlich, dass ihn, wie bereits im Titel, so auch im Text, häufig Wort-Kombinationen beschreiben, in verschiedenen Zusammensetzungen, mal mit und mal ohne Bin destrich: „beast king“, „ape-beast“, „beast-god“, „beast god“ (KK 177, 116, 75, 80 et passim). King Kong ist ein Kompositum: das mis sing link zwischen Affe und Mensch. Die Verwandtschaft mit dem Menschen ist nicht zu leugnen, auch wenn eigentlich der Schimpanse und nicht der Gorilla der ge netisch nächstverwandte Menschenaffe wäre. Die geopferten Frau en werden Kong nicht explizit zum Fraß oder zur Tötung vorge worfen, sondern als „Bräute“ zugeführt („the girl is the bride of Kong“, KK 55), als gehe es um die Zwangsheirat mit einem fremden Mann. Auch narratologisch wird King Kong den Menschen gleich gestellt. Der Roman erzählt – in interner Fokalisierung – aus den Perspektiven sowohl der menschlichen Protagonisten wie auch des Gorillas: „His primitive brain valued this strange possession for reasons it could not understand“, „to touch the curious, golden crest“, „explore the amazing being who drooped across his arm“, „his fingers discovered endless mystery“, „a challenging figure […] shot a whistling something past his ear“ (KK 87, 73, 74, 74, 74); nicht aber aus denen der übrigen Arten (Saurier, Insekten etc.). Die anderen Tiere haben kein erzählerisches Bewusstsein.
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Als Kong aus dem Busch auftaucht, ist das Erste, was er zu tun scheint, dass er ‚liest‘: „as though reading the meaning of the thousand hands which gestured from the rampart“ (KK 73). Aus gerechnet bei ihrem gefürchteten ersten Auftritt werden der Bestie metaphorisch Fähigkeiten zugeschrieben, die exklusiv menschlich sind. Dass Kong mit dem Menschen kognitive und affektive Ver mögen teilt, wird angedeutet, aber gleich wieder zurückgenommen: „his primitive brain valued this strange possession [Ann] for rea sons it could not understand“. Das neutrale Pronomen („it“) ist hier doppeldeutig: Es kann sich im engeren Sinn auf das Gehirn oder aber auf Kong insgesamt beziehen, der zuvor noch mit dem persön lichen Pronomen („his“) bezeichnet worden war und nun von einer Person zu einem Ding werden würde. Aus der Perspektive der ge fesselten Ann auf dem Altar (KK 73) erschien die aus dem Dickicht hervortretende Bestie zunächst als Monstrum, „it“, dann jedoch, bei genauerer Betrachtung und unter Berücksichtigung ihrer Fä higkeiten, als Person, „he“. So kann der Erzähler noch auf derselben Seite über Kong vielsagend feststellen: „he found the reason.“ Aus der Sicht der männlichen Verfolger erscheint der Primat im folgen den Kapitel dann jedoch wieder als „it“ bzw. als „Thing“ (KK 76). Obwohl King Kong, ähnlich wie bei Dian Fossey, zum Teil men schenähnliche Fähigkeiten zugeschrieben werden, wird er zugleich vom Menschen abgegrenzt: „Kong […] is the one thing outside the wall that is something more than a beast. He’s one of nature’s er rors, like all the others, but he was nearly not an error. And in that huge head of his is a spark“ (KK 110). In der seltsamen Wendung „nearly not“ kommt die Angst des Menschen zum Vorschein, ande re Lebewesen könnten so sein oder werden wie er. King Kong muss ein Irrtum der Evolution sein, weil es nicht hinnehmbar ist, dass er uns gleichen könnte. King Kongs Ambivalenz zwischen Animalität und Humanität wird an mehreren Stellen pointiert: „as hairy as any simian creatures of an African jungle whom he resembled in all but size, the fact that he picked his way with a slow almost human caution, made him all the more incredible“ (KK 87). King Kong ist, in den Worten Homi Bhabhas, „almost the same, but not quite“.20 Den populären Roman, King Kong, scheinen ideologische Ge gensätze zu organisieren: zwischen Zivilisation und Natur (New York und Skull Mountain Island), Moderne und Primitivität (die 20 H. Bhabha, „Of mimicry and man: The ambivalence of colonial discourse“, in: ders., The Location of Culture, London, New York 1994, S. 85-92, hier S. 86.
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Leuchtreklamen der Großstadt und die Fackeln des indigenen Ri tuals), Kälte und Wärme (hier Schnee, dort tropische Wärme), Helligkeit und Dunkelheit (die Lichter des Dorfes, die Dunkelheit des Waldes), Reinheit und Schmutz („dirty little witch doctor“, KK 109), Weiß und Schwarz (die blonde Amerikanerin, der dunkle Affe), Frau und Mann, Mensch und Tier, Gut und Böse. Diese An tithesen werden jedoch subtil in Frage gestellt. Der Roman deutet zahlreiche Äquivalenzen an, die das Gegensätzliche gleichsetzen. So gibt es in der Wildnis „Asphalt“ (KK 85), während die Flugzeuge als Kolibris („humming bird“, KK 155) erscheinen. Wie zuvor gegen Flugsaurier, so kämpft der Gorilla zuletzt gegen fliegende Maschi nen. Das Empire State Building ersetzt seine Berghöhle (KK 150 ff.), er findet sich dort wieder in „the same regal loneliness“ (KK 156). Und auch Ann hat in der Großstadt das Gefühl, wieder auf der Insel zu sein („being back there“, KK 148). Am Ende steht Kong sogar symbolisch über der Zivilisation, die ihm zum Verhängnis wurde: „high above the civilization which had destroyed him“ (KK 156). Carl Denham wäre bereit gewesen, seinerseits eine Frau zu ent führen („kidnap“, KK 11), um sie auf die Insel zu bringen, wie der Gorilla sie entführen wird, um sie mit in sein Reich zu nehmen. Als würde er musizieren, trommelt („drummed“) Kong auf seine Brust wie die Eingeborenen auf ihre Instrumente (KK 73). So wie ihm Ann am Altar geopfert wurde (KK 72, 142), wird der Affe in New York im Theater ausgestellt. Und während er für die Menschen ein „Thing“ und ein Tier ist, sind auch sie für ihn „man-things“ und „man-animal[s]“ (KK 102, 114). Insbesondere Jack Driscoll hat mit der Bestie vieles gemeinsam, vor allem seine Zuneigung zu Ann („he went soft“, „in only one spot“, KK 34, 64). Er trägt Ann („carry you“, „[s]ecurely cradled“, KK 126f.), wie Kong sie getragen hat, und in den Beschreibungen wird sogar dasselbe Vokabular gebraucht. Das Wort „mate“, das Jack bezeichnet, ist ebenso polyvalent: Jack erscheint als „Seemann“ oder als „Kumpel“, d. h. als Kongs Rivale oder Kumpan (KK 102) bzw. als Anns „Partner“. Kong „berührt“ Jack, wie er dessen Gelieb te berührt hat („the huge, curving fingers touched him“, KK 96). Und um Ann wiederzugewinnen, unternimmt er, wie zuvor sein Gegenspieler, eine „methodical quest“ (KK 135). Die Verwirrung der Gegensätze kommt in einem visuellen Paradox zum Ausdruck: als „white shadow“ (KK 126); oder im Grenzphänomen des „twilight“ (KK 3). King Kong befindet sich weder im scharfen Kontrast von Schwarz und Weiß noch im wohl
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wollenden Weichzeichner des Nebels, sondern in einem unheimli chen Zwielicht.
6. Die Bestie als Mensch, der Mensch als Bestie Die zwielichtige Beziehung des Affen zum Menschen bzw. des Go rillas zur Frau wird in einer Szene auf besonders beunruhigende Weise zur Anschauung gebracht. King Kong zieht Ann Darrow aus: „he began to pluck her clothes away as a chimpanzee might clum sily undress a doll“ (KK 118). Die Entronnene erinnert sich daran später mit Grauen: „Jack! It was horrible being in his hands. You can’t imagine such hands, unless they have really touched you… felt you, as though trying to puzzle you out“; „And sometimes, from the way he looked at me… from the way he carried me care fully up in the crook of this arm instead of dragging me along, as he did at the start… I wondered… I thought…“ (KK 126 f.). Wofür stehen die Auslassungszeichen? Sind sie Indizien der Verstörung oder Symptome der Verdrängung? Und was würde hier verdrängt werden? Geht es um Kongs überraschende Mensch lichkeit? Oder deutet sich eine Vergewaltigung an? In den Worten des Erzählers allerdings verhielt sich King Kong eher unbeholfen („clumsily“), in Anns eigenen vorsichtig („carefully“); von Verlan gen ist nicht die Rede, eher besah er sich seine Beute mit Neugier („puzzle you out“). Liest Ann Kongs Berührungen also falsch? Oder erschauert sie über ihre eigenen Empfindungen? Hat das Tier in ihr eine animalische Begierde geweckt? Anns Rede bricht ab in einem Schrei, dessen Sinn unklar bleibt: „Her voice went up on a note of hysterical terror“ (KK 127). Grauen wovor? Erschrickt sie vor der Bestie oder vor sich selbst? Wenn Jack zu Ann sagt, er sei ebenso „scared for you“ wie „sca red of you“ (KK 40), scheint er ihre dunkle Neigung zu ahnen. Ann selbst beschreibt ihre Gefühle im Angesicht des Gorillas noch in New York sehr andeutungsreich: „It makes me feel the way I did that awful day on the island“ (KK 139). „Derartige“ Gefühle („feel the way“) können vieles bedeuten. Auffälligerweise muss Anns Unberührtheit am Ende bekräftigt werden. Sie kleidet sich in ein „Paris gown […] of shimmering vir ginal net“ (KK 139). Wobei „Paris“, die ‚Stadt der Liebe‘, zugleich das Gegenteil dieser Jungfräulichkeit konnotiert. Die Phantasie ei
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ner animalischen Sexualität zwischen der schwarzen Bestie und der weißen Frau scheint jedenfalls eher die des Menschen als die des Affen zu sein.21 Warum aber vergleicht der Erzähler King Kongs Verhalten mit dem eines Schimpansen? „[H]e began to pluck her clothes away as a chimpanzee might clumsily undress a doll“ (KK 118). Auch Fossey bezieht sich, als sie nach Kannibalismus fragt, auf die Schimpansen: „such behavior has been recorded among free-living chimpanzees“ (DF 77). Soll die Vorstellung eines schrecklichen Verhaltens auf eine andere Art verschoben werden?22 Aber warum dann nicht auf die Menschen? Unterscheidet sich das, was Kong der Frau antun könn te, sofern es sich um eine (verschlüsselte) Vergewaltigung handelt, denn von dem, was auch Menschen tun? Durch den Verweis auf eine weitere Affenart wird der Unterschied zwischen Mensch und Tier gerade dort forciert, wo er nicht vorhanden ist. Dabei legt der Vergleich mit anderen Primaten den Vergleich mit dem Menschen eigentlich nahe. Ist die Erkenntnis, die vermieden werden soll, aber zutage treten muss, gerade die, dass sich King Kong auch hier wie ein Mensch verhält – als Vergewaltiger? Nähert sich King Kong der Einsicht, dass gerade die Grausamkeit der Bestie menschlich wäre? Der Roman nähme so eine avancierte Erkenntnis der Primatologie vorweg, die in den 1990er Jahren just an Schimpansen entwickelt wurde.23 Affen sind keine bösartigen Bestien (was dem landläufi gen Verständnis von King Kong entspräche); aber auch keine ‚edlen Wilden‘ (wie Dian Fossey sie gerne sehen möchte). Gerade in ihren primitiven Verhaltensweisen gleichen sie uns. Was in King Kong auf dem Spiel steht, ist die Menschenähn lichkeit des Menschenaffen in seiner Brutalität: „‚If he really is all beast‘, Ann said in a low tone. ‚If?‘“, entgegnet ihr Jack fragend (KK 126). Psychoanalytisch gelesen ist das schreckliche Tier nicht ‚dort draußen‘, sondern in uns. Die alptraumhafte Expedition „beyond the horrors of dreams“ (KK 69) führt zu King Kong und als Kö nigsweg in die eigenen Abgründe. Die Insel ist ein Symbol. Ihr Berg 21 Die Phantasie vom Affen, der eine weiße Frau überwältigt, kommt bereits in den Skulpturen von Emmanuel Frémiet zum Ausdruck, v. a. „Gorille enlevant une femme“ aus dem Jahr 1887 (vgl. Voss, Darwins Bilder, S. 313 f.). 22 Eine Vergewaltigung einer Frau durch einen männlichen Orangutan wurde be schrieben in: B. Galdikas, Reflections of Eden: My years with the Orangutans of Borneo, Boston 1995. 23 R. Wrangham, D. Peterson, Demonic Males. Apes and the Origins of Human Violence, New York 1996.
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hat die Form eines Schädels. Der Schauplatz wird durch eine Mauer in zwei Bereiche geschiedenen: Totem und Tabu, Bewusstsein und Unbewusstes, Neocortex und Amygdala. Ihr verbotener Bereich steht für die Zone verdrängter Triebe, für den archaischen Teil der menschlichen Psyche, für den ältesten Kern des Gehirns der Pri maten. Der Eigenname „Kong“ ist eine Metonymie für den Kongo, das „Herz der Finsternis“ im dark continent, und eine Synekdoche für alles Fremde. King Kong repräsentiert die menschliche Angst vor dem Unbekannten, Bedrohlichen, Phantastischen. Das unheim lich Unbekannte aber ist das heimlich Bekannte. King Kong ist der monströse Ausdruck menschlicher Gewalt, der Zerrspiegel mensch licher Grausamkeit. Der Gorilla wurde als vieldeutige Allegorie oder Projektion gelesen: für Pathologie und Perversion, Kolonial phantasien, Rassismus und Faschismus.24 So ist es kein Zufall, wenn die Bestie am Ende an den Eingeborenen ein „Massaker“ verübt, als wäre sie eine europäische Expeditionsstreitmacht; eine Art Pogrom, wie es sich 1933, als der Film in die Kinos kam, in größtem Maßstab in Europa ankündigte: „Insensate massacre followed“ (KK 135).
7. Wissenschaft und Popkultur Wieviel Gorilla steckt also in King Kong? Und wieviel King Kong steckt im Menschen? Dian Fossey betont die positiven menschli chen Eigenschaften der Tiere, während sie negative Erfahrungen neutralisiert oder bagatellisiert. Gorillas in the Mist vereindeutigt. Und enthält doch Beschreibungen, die denen der abgelehnten „King Kong-Mythologie“ ungewollt entsprechen. King Kong dagegen handelt von einem irritierenden Zweifel. Der Roman zeichnet eine überraschend vielschichtige Figur, die vielfältige Reaktionen aus löst: eine Bestie, die auch Menschliches hat, gerade als Bestie. Um die Bedeutung von Gorillas in the Mist einschätzen zu kön nen, muss der zeitliche Kontext von Fosseys Forschung berücksich tigt werden. Gemeinsam mit Jane Goodall und Birute Galdikas war 24 Zum Beispiel: N. Carroll, „King Kong: Ape and Essence“, in: B. K. Grant (Hrsg.), Planks of Reason. Essays on the Horror Film, London 1984, S. 215-244; J. D. Bellin, „Killing the Beast. King Kong in Black and White“, in: ders., Framing Fantasies. Fantasy Film and Social Alienation, Carbondale 2005, S. 21-47.
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sie eine der „trimates“, einer Gruppe von Frauen, die ohne fundier te Ausbildung in der Verhaltensforschung und nur mit begrenzten Kenntnissen über Primaten einen unermesslichen Beitrag zu un serem heutigen Verständnis von Menschenaffen geleistet haben.25 Damals gab es nur wenige wissenschaftliche Publikationen zum Verhalten von Menschenaffen. Erst 1974 erschien die maßgebliche Publikation von Jeanne Altmann, welche die Standards der Beobach tungsmethoden festlegte. Fossey war also keine „schlechte Forsche rin“, aber sie war eine umstrittene Persönlichkeit, deren Umgang mit ihren Mitarbeitern, vor allem aber mit der lokalen Bevölkerung und insbesondere mit Wilderern ihren wissenschaftlichen Beitrag oft in den Schatten stellte.26 Fröhlich schreibt über Gorillas in the Mist, dass „[a]n occasional lack of scientific objectivity, in what is largely an anecdotal and almost ethnographic case study […], pos sibly explains why the extensive data contained in the book have been largely and wrongly ignored by the scientific community.“27 Fossey wurde nicht ernstgenommen, die Bedeutung ihrer Arbeit nicht anerkannt. Wurde ihre Emotionalität als Ausdruck ihrer feh lenden wissenschaftlichen Seriosität interpretiert? Dass sie in den Gorillas zunehmend ihre Verbündeten sieht und sich ihnen näher als den eigenen Artgenossen fühlt, erscheint in diesem Kontext jedenfalls nicht wirklich überraschend. Sie verliert die vom For scher geforderte Objektivität und Distanz, sowohl räumlich als auch emotional. Beide Texte lassen sich interdisziplinär ‚gegen den Strich‘ lesen. Der populäre Roman scheint sensationalistisch auf Emotionen zu setzen, er ist aber durchaus auch als proto-primatologische Verhal tensstudie zu verstehen. Er entwickelt ein komplexeres Bild des Affen bzw. Verhältnis zum Affen, als man erwarten könnte. Das wissen schaftliche Sachbuch hingegen erweist sich als selektiv emotional. Es zeichnet sich durch eine große Nähe der Forscherin zu ihren Forschungsgegenständen aus, die sich aus dem Setting ergibt, womit es eine wichtige und oft vernachläsigte Dimension der Feldfor schung transparent macht.
25 Vgl. den Beitrag von Böhnert und Kranke in diesem Band. 26 F. Mowat, Woman in the Mists: The Story of Dian Fossey and the Mountain Gorillas of Africa, London 1988. 27 J. M. Fröhlich, B. M. F. Galdikas, „Gorillas demystified: A retrospective review of Dian Fossey’s book“, in: American Journal of Primatology 14/1988, S. 295297.
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Um das jeweilige Affenbild zu verstehen, muss die Emotionslo gik der Texte reflektiert werden. Fossey weicht einer solchen Refle xion weitgehend aus. King Kong nicht. Ist die Fiktion also angemes sener als die Wissenschaft? Zumindest die Art und Weise, wie der Gorilla beschrieben und bewertet wird, ist in King Kong komplexer und kritischer. Die Narration des Romans ist differenzierter und selbstreflexiver. Dian Fossey vertritt ein entschieden idealisiertes Affenbild. King Kong stellt essentialistisch-eindeutige Annahmen in Frage. Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Populärkultur scheint komplizierter zu sein, als wir gemeinhin annehmen.
Danksagung Der vorliegende Beitrag entstand im interdisziplinären Projekt Die Affekte der Forscher, gefördert von der Volkswagen Stiftung. Er beruht auf dem englischen Artikel von Lubrich & Liebal, „Travel, Knowledge, and Emotion“, in: KulturPoetik 16(1)/2016, S. 49-63.
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Riot Grrrl Primatology Über Forscherinnen, Feminismus und feministische Wissenschaften1
In einer Buchbesprechung in der New York Times aus dem Jahr 19842 ermutigt der US-amerikanische Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould Frauen aufs Deutlichste dazu, wissenschaftliche Forschung zu betreiben: „we need as many good scientists as we can get.“3 Doch hegt er klare Zweifel daran, ob ein weiblicher oder feministischer Zugang einen besonderen Blick auf Wissenschaften ermöglichen könne, der sich vom traditionellen wesentlich unterscheide. Dieses traditionelle Selbstverständnis von Wissenschaften setzt voraus, dass Geschlechtlichkeit schlicht irrelevant für den Erkenntnisgewinn ist und keinerlei Einfluss auf wissenschaftliche Tatsachen oder wissenschaftliches Wissen hat oder gar haben darf. Die Möglichkeit eines spezifisch weiblichen Blicks erscheint vor dieser Annahme zumindest erklärungsbedürftig, wenn sie nicht sogar der Vorstellung einer möglichst objektiv verfahrenden Forschung widerspricht. Einer hiervon abweichenden Perspektive bediente sich vermutlich der Paläoanthropologe Louis Leakey, als er in den 1960er Jahren Jane Goodall, Dian Fossey und Birutė Galdikas dazu auserwählte, die drei großen Menschenaffenarten Schimpansen, 1 „Riot Grrrl“ ist die Selbstbezeichnung zahlreicher Musikerinnen v. a. aus den Genres des Punk, Rock, Indie und Pop. Beginnend mit den ausgehenden 1980er Jahren etablierten die sich selbst als Riot Grrrls identifizierenden Musikerinnen eine aufständisch-rebellierende Haltung und damit einhergehend eine dezidiert feministische Perspektive innerhalb eines stark männlich dominierten, hetero normativen Arbeitsbereiches. Siehe hierzu etwa K. Peglow, J. Engelmann, Riot Grrrl Revisited!: Geschichte und Gegenwart einer feministischen Bewegung, 2. Aufl., Mainz 2013. 2 Es handelte sich um eine insgesamt sehr positiv ausfallende Kritik zu R. Bleier, Science and Gender: A Critique of Biology and Its Theories on Women, New York 1984. Siehe: S. J. Gould, „Similarities between the sexes“, in: New York Times Book Review, 12.08.1984, S. 7. 3 Ebd.
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Gorillas und Orang-Utans zu erforschen. Eine der großen Kompetenzen der „Trimates“, wie Leakey die drei Forscherinnen kollektiv bezeichnete,4 läge explizit in ihrem Geschlecht begründet. Frauen seien, so Leakey, geduldigere, ausdauerndere und einfühlsamere Beobachtende als Männer.5 Beide kurz skizzierten Ansätze stecken den Rahmen eines ersten Spannungsfeldes ab, in dem die Frage nach der Rolle von Geschlechtlichkeit innerhalb der Wissenschaften beleuchtet wird: Goulds Ideal einer objektiv verfahrenden Wissenschaft steht Leakeys essentialistische Auffassung von Geschlechterunterschieden gegenüber. In dem vorliegenden Artikel möchten wir der Frage nach den Möglichkeiten eines weiblichen bzw. feministischen Zugangs zu wissenschaftlicher Forschung in verschiedenen Hinsichten beleuchten. Wir werden uns dem Thema exemplarisch anhand des Forschungsfeldes der Primatologie zuwenden, wobei die Antwort auf die Frage, weshalb wir uns gerade für diese Disziplin entschieden haben, sehr eng mit den Beobachtungen und Befunden der einzelnen Kapitel verwoben ist und sich im Verlauf des Artikels klären wird. Ein Teil der Antwort ergibt sich so beispielsweise bereits aus einem rein statistischen Phänomen der Beschäftigungszahlen innerhalb dieser Disziplin, da hier im Verhältnis zu anderen naturwissenschaftlichen Forschungsfeldern ungewöhnlich viele Frauen beschäftigt sind. Es lässt sich daher fragen, 1) weshalb so viele Frauen im Feld der Primatologie arbeiten, was diese Wissenschaft besonders attraktiv für Forscherinnen macht, bzw. inwiefern sie besonders frauenfreundlich ist. Zudem lässt sich vor diesem Hintergrund überlegen, 2) ob, und falls ja, wie sich die Arbeit von Forscherinnen gegenüber der ihrer männlichen Kollegen auszeichnet. Anders formuliert, gilt es zu untersuchen, was ein spezifisch weiblicher Zugang im Unterschied zu dem mit Gould skizzierten traditionellen Selbstverständnis von Wissenschaft leisten kann und inwiefern dies über eine essentialistische Rollenzuschreibung im Sinne Leakeys hinausgeht. Da die Primatologie in dem von uns untersuchten Diskurs als „feministische
4 B. M. Galdikas, „The Vanishing Man of the Forest“, in: New York Times, 06.01. 2007, S. A15, (http://www.nytimes.com/2007/01/06/opinion/06galdikas.html?), zuletzt abgerufen am 04.04.2017. 5 V. Morell, „Called ‚Trimates‘, Three Bold Women Shaped Their Field“, in: Science, 260(5106)/1993, S. 420-425, hier S. 420 f.
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Wissenschaft“6 oder „Goddess’s Discipline“7 bezeichnet wird, bzw. die feministischen Kritiken der Primatologie als eine der „erfolgreichsten Interventionen innerhalb der Biologie“8 wahrgenommen werden, wenden wir uns ebenfalls der Frage zu, ob es sich 4) bei der Primatologie um eine feministische Wissenschaft handelt. Zuvor muss jedoch geklärt werden, was man 3) unter diesem Begriff und den ihm an- und abgrenzenden Konzepten verstehen kann. Bei unseren Betrachtungen konzentrieren wir uns maßgeblich auf die anglo-amerikanische Forschung der 1980er und 90er Jahre, in welcher ein nachhaltiger Wandel innerhalb der Primatologie stattfand. In diesen Zeitraum fallen zudem der Übergang des so genannten Second Wave Feminism zu dessen dritter Welle.9 Die teilweise als Anstoß der Third Wave betrachteten Riot Grrrl-Bewegungen10 hatten ihren Ursprung ebenfalls in den USA und lösten einen gesellschaftlichen Wandel aus, der die Theorien und Ansätze der zweiten feministischen Welle kritisierte und erweiterte. Aufgrund dieser Parallelen zwischen Musikerinnen und Primatologinnen und ihres jeweiligen gesellschaftlichen und professionellen Einflusses, halten wir es für angebracht, die Protagonistinnen unseres Beitrags ebenfalls als „Riot Grrrls“ zu bezeichnen. Um diesen Punkt zu verdeutlichen, diskutieren wir exemplarisch Beiträge einzelner Forscherinnen zum Umbruch in der Primatologie, der als wissenschaftliche Revolution im kuhnschen Sinn verstanden werden kann. Mit unserer Auswahl relevanter Arbeiten erheben wir weder einen Anspruch auf Vollständigkeit noch ist diese als repräsentativ für die gesamte Breite weiblicher und feministischer Forschung anzusehen. Die hier beschriebenen Fallstudien sollen vor allem einen Eindruck der verschiedenartigen Arbeiten weiblicher Forschender vermitteln. 6 L. M. Fedigan, „Is Primatology a Feminist Science?“, in: L. D. Hager (Hrsg.), Women in Human Evolution, New York 1997, S. 56-75. 7 H. Rose, Love, Power, and Knowledge. Towards a Feminist Transformation of the Sciences, Bloomington 1994. 8 K. Palm, „Biologie: Geschlechterforschung zwischen Reflexion und Interven tion“, in: R. Becker, B. Kortendiek (Hrsg.), Handbuch Frauen- und Geschlech terforschung: Theorie, Methoden, Empirie, 2. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 843-851, hier S. 848. 9 Vgl. etwa R. Baxandall, L. Gordon, „Second-wave feminism“, in: N. A. Hewitt (Hrsg.), A Companion to American Women’s History, Massachusetts, Oxford, Carlton 2005, S. 414-432. 10 Vgl. etwa R. Munford, „‚Wake Up and Smell the Lipgloss‘: Gender, Genedartion and (A)politics of Girl Power“, in S. Gillis, G. Howie, R. Munford (Hrsg.), Third Wave Feminism – A critical Exploration, 2. Aufl., New York 2007, S. 266-283.
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Die in diesem Aufsatz aufgeführten Riot Grrrls der Primatologie hinterfragten normalwissenschaftliche Praktiken und Theorien, unter anderem, indem sie Kritik auf methodologischer Ebene übten, weibliche Primaten als Forschungsgegenstände ins Zentrum rückten und etablierte Theorien durch „neue“ Beobachtungen revidierten. Wie die Musikerinnen der Riot Grrrl Bewegungen brachten sie durch ihre Arbeit neue inhaltliche Themen in ein bisher männlich geprägtes Feld ein und kritisierten Geschlechterstereotype, Sexismus und Patriarchat. Da allerdings nicht alle weiblichen Forschenden durch feministische Bewegungen inspiriert wurden – so wenig, wie alle Musikerinnen der 1980er und 90er Jahre durch die Riot Grrrl-Bewegung inspiriert wurden – und feministische Ansätze eine starke Heterogenität aufweisen, bemühen wir uns um eine differenzierte Darstellung, um dieser Diversität Rechnung zu tragen ohne dabei für eine bestimmte Position zu argumentieren. Mit dieser Arbeit möchten wir einen Überblick über feministische Theorien geben und diskutieren, wie feministische Bewegungen die Theorien und Forschungspraktiken der Primatologie beeinflusst haben. Dabei liegt der Fokus auf Akteurinnen, die durch ihr Wirken das Forschungsmilieu innerhalb der Primatologie kritisieren und unter anderem zeigen, dass Geschlechtlichkeit – der Forschenden und der zu erforschenden Primaten – im Forschungsprozess eine entscheidende Rolle spielt.
1 Frauen in der Primatologie 1994 fragt Linda Marie Fedigan, weshalb so viele Frauen innerhalb der Primatologie arbeiteten.11 Fedigan zeigt auf Basis von Mitgliederstatistiken verschiedener naturwissenschaftlicher Fachgesellschaften auf, dass im Verhältnis zu anderen, noch immer männlich dominierten naturwissenschaftlichen Disziplinen allgemein, aber auch zu anderen biologischen Subdisziplinen, auffällig viele Frauen im Feld der Primatologie tätig seien: Machten Forscherinnen 1991 im Schnitt etwas weniger als 20 Prozent der Mitglieder der amerikanischen Gesellschaften für Säugetier-, Vogel-, oder Insektenkunde aus, so stellten sie bei den beiden ältesten primatologischen 11 L. M. Fedigan, „Science and the successful female: Why there are so many women primatologists“, in: American Anthropologist, 96(3)/1994, S. 529-540.
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Gesellschaften, der International Primatological Society (IPS) bzw. American Society of Primatologists (ASP), 38 bzw. 48 Prozent der Mitglieder.12 Zieht man Statistiken der ASP aus dem Jahr 2002 hinzu, so erhöht sich diese Zahl kontinuierlich weiter auf knapp 58 Prozent.13 Von 1991 bis 2002 machten Forscherinnen rund 75 Prozent aller ASP-Mitglieder aus, die innerhalb dieses Zeitraumes promoviert wurden.14 Zudem waren sieben der zwölf seit 2006 mit dem Distinguished Primatologist Award ausgezeichnete Forschende ebenfalls Frauen15 und mit Blick auf den wissenschaftlichen Nachwuchs wurden seit 2006 doppelt so viele Frauen wie Männer mit dem Student Prize Award für ihre jeweiligen Projekte ausgezeichnet.16 Die Zahlen der Beschäftigten am Deutschen Primatenzentrum (DPZ) in Göttingen weisen ein ähnliches Bild auf: Unter den insgesamt 242 Beschäftigten sind derzeit 56,6 Prozent Frauen.17 Ausgehend von diesen Zahlen diskutiert Fedigan sechs verschiedene Erklärungsversuche für das ungewöhnlich hohe Aufkommen von Frauen innerhalb der Primatologie. Zunächst weist sie jedoch die ihrer Einschätzung nach am häufigsten hervorgebrachte und gleichzeitig unglaubwürdigste Erklärung zurück: Diese von ihr als „big brown eye hypothesis“18 betitelte Annahme für das hohe Aufkommen von Forscherinnen lege ein zweifaches Stereotyp zugrunde: Zum einen, dass Frauen sich für Primatologie interessierten, da sie mit „niedlichen, flauschigen Tieren mit großen Augen“ arbeiten wollten. Und zweitens, dass es sich bei Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans und Bonobos um „niedliche, flauschige Tiere mit
12 Ebd., S. 531. 13 S. J. Schapiro, „Membership characteristics of the American Society of Primato logists through 2002“, in: American Journal of Primatology, 61(2)/2003, S. 4552, hier S. 46. 14 Ebd., S. 49. 15 Siehe ASP’s Distinguished Primatologist Award Winners, (https://asp.org/ grants/ awards/distinguishedprimatologist.cfm), zuletzt abgerufen am 04.04.2017. 16 Siehe ASPS’s Student Prize Award Recipients, (https://asp.org/grants/student prizeawards/recipients.cfm), zuletzt abgerufen am 04.04.2017. 17 Deutsches Primatenzentrum. Leibniz-Institut für Primatenforschung, Mitarbei terliste, (http://www.dpz.eu/de/kontakt/personen.html), zuletzt abgerufen am 04.04.2017. Diese Zahlen beinhalten alle in der „Mitarbeiterliste“ aufgeführten Mitarbeitenden inklusive Verwaltungspersonal, technisches Personal und Hilfs kräfte. 18 L. M. Fedigan, „Science and the successful female“, S. 533.
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großen Augen“ handele.19 Dieser auf naiven Rollenzuschreibungen zurückzuführenden Annahme stellt sie plausiblere Erklärungsversuche entgegen. Zunächst hebt sie 1) den disziplinhistorischen Kontext hervor: Da es sich bei der Primatologie um ein noch junges Forschungsfeld handele, böte es Frauen eine größere Möglichkeit, dieses mit ihren Forschungsarbeiten nachhaltig zu prägen. Diesem historischen Kontext stellt sie 2) einen thematischen gegenüber und versucht, den Zusammenhang zwischen Primatologie und den mit ihr verwandten, ebenfalls mit einer großen Beteiligung weiblicher Forschender besetzten Disziplinen der Anthropologie, Psychologie und Ethologie zu beleuchten, und attestiert diesen Forschungsfeldern sämtlich ein für weibliche Forschende offeneres und insgesamt teamorientierteres Arbeitsklima. Eine weitere Erklärungsmöglichkeit sieht Fedigan darin, dass 3) innerhalb der Primatologie bereits etablierte Frauen – nicht zuletzt die bereits erwähnten Goodall und Fossey – eine Art Vorbildfunktion darstellen könnten, an denen sich junge Forscherinnen orientierten. Auch 4) der Einfluss medialer Berichterstattungen über eben diese Primatologinnen im Fokus von Zeitschriftenartikeln und Fernsehdokumentationen – Fedigan zufolge der „National Geographic Effect“20 – könne bei jungen Mädchen schon früh das Interesse an diesem Feld wecken. Zudem gäbe es 5) viele Fälle von wohlgesonnenen, einflussreichen Männern innerhalb der Disziplin, die Frauen dazu ermutigten, in diesem Feld zu forschen – Leakey ist hierfür sicherlich ein überzeugendes Beispiel. Schließlich seien 6) die Primaten selbst eine mögliche Erklärung für die große Zahl an Primatologinnen. Bei diesem Erklärungsversuch stünden jedoch nicht wie bei der big brown eyes-Hypothese vermeintliche Äußerlichkeiten im Vordergrund, sondern die Möglichkeit, das Sozialverhalten und hier insbesondere die Rolle weiblicher Primaten zum Untersuchungsgegenstand zu machen, um so ein evolutionäres Verständnis menschlichen Sozialverhaltens zu erlangen.21 Sicher ist, dass diese Liste möglicher Erklärungen nicht als umfassend und abschließend zu verstehen ist. Doch zeigt sich eindringlich, dass es für diese Befundlage keine einfache Erklärung gibt: Die möglichen Gründe für Frauen als Primatologin zu arbeiten sind weitaus komplexer als eine rein geschlechtsspezifische Zuschreibung, wie sie bei der Annahme Leakeys durchschimmert. Ein 19 Ebd., S. 533. 20 Ebd., S. 536. 21 Ebd., S. 534-536.
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verzweigtes Zusammenspiel verschiedenster biographischer, wirtschaftlicher und soziokultureller Aspekte muss herangezogen werden, um angemessen erklären zu können, weshalb so viele Frauen gerade in diesem Feld tätig sind. Vielleicht bietet die Primatologie im Kontrast zu verwandten Disziplinen auch auf der je individuellen Ebene ein breites Zusammenspiel von Anknüpfungsmöglichkeiten an mehrere dieser Aspekte, die letztlich für die Berufswahl relevant sind. Nicht zuletzt auch aufgrund dieser Zahlen lässt sich begründet fragen, wie Forscherinnen dieses Gebiet beeinflusst haben und inwiefern ihre Arbeiten sich von denen ihrer männlichen Kollegen unterscheiden.
2 Der Einfluss von Forscherinnen auf die Primatologie Wenn es darum geht, einen spezifisch weiblichen Zugang zu einer Disziplin zu untersuchen, muss zunächst klar sein, dass es sich nicht um einen einzigen Standpunkt handeln kann. Wie Maria Lugones und Elizabeth Spelman bereits 1983 herausstellten,22 sind Frauen zu vielfältig und ungleich, um ihnen ein einzelnes Bezugssystem zuzuschreiben: Dementsprechend sind auch weibliche bzw. feministische Perspektiven, wie wir in Kapitel 3 zeigen werden, keinesfalls einheitliche Theorien, Modelle oder Praktiken. Dies wird bereits durch die Unterschiede der in diesem Abschnitt untersuchten Ansätze deutlich. Gemein ist allen feministischen Zugängen hingegen – so können wir vorläufig festhalten –, dass Geschlechtlichkeit innerhalb der Forschung als relevant erachtet wird, sowohl hinsichtlich der je untersuchten Gegenstandsfelder als auch hinsichtlich der Forschenden. Die US-amerikanische Philosophin Elizabeth Anderson betont, dass bereits für unser Alltagsverständnis von Wissenschaft Geschlecht eine Rolle spiele. So würden hierarchische Ordnungen unterschiedlicher Wissensformen anhand eines binären Konzepts von Geschlechtlichkeit aufgestellt.23 Die Rede von den „harten“ Naturwissenschaften und den „weichen“ Geisteswissenschaften – 22 M. Lugones, E. Spelman, „Have we got a Theory for you: Feminist Theory, Cultural Imperialism, and the Demand for ‚The Women’s Voice‘“, in: Women’s Studies International Forum, 6(6)/1983, S. 573-581. 23 E. Anderson, „Feminist Epistemology: An Interpretation and Defense“, in: Hypatia, 10(3)/1995, S. 50-84.
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mittlerweile ein Gemeinplatz – orientiere sich an der Gegenüberstellung von Zuschreibungen männlicher und weiblicher Körperlichkeit und hebe die Naturwissenschaften als prestigeträchtiger hervor. Die Wissenschaftsphilosophin und -historikerin Evelyn Fox Keller zeigt entsprechend, dass „Objektivität“, „Wissenschaftlichkeit“, und „wissenschaftliches Denken“ mit Männlichkeit in Verbindung gebracht würden.24 Sie sieht in dieser Konnotation sogar eine Ursache für den hohen Anteil von Männern in den Wissenschaften, insbesondere den Naturwissenschaften. Die enge semantische Verbindung von „Wissenschaftlichkeit“ mit „Männlichkeit“ sei zudem eine Erklärung für das wiederum hohe Prestige von Wissenschaftlichkeit und Männlichkeit innerhalb unserer Gesellschaften: „Nicht nur unsere Charakterisierung der Wissenschaft ist durch die Vorurteile von Patriarchat und Sexismus gekennzeichnet, sondern auch unsere Bewertung von Männlich und Weiblich ist durch das Ansehen der Wissenschaft beeinflusst. Es besteht ein Kreislauf gegenseitiger Bestärkung, in dem das, was wissenschaftlich genannt wird, eine besondere Wertschätzung erfährt durch die kulturelle Bevorzugung dessen, was männlich genannt wird, und umgekehrt wird das, was weiblich genannt wird – sei es ein Wissenszweig, eine Denkweise, oder die Frau selbst –, weiterhin entwertet […].“25 Auch auf methodologischer Ebene zeige sich nach Anderson eine geschlechterorientierte Hierarchisierung, bei der sich die aktive Kontrollausübung auf Untersuchungsgegenstände im Experiment einer als passiv erachteten Beobachtung oder Interpretation gegenüberstehe: „experimental subfields in biology and psychology are coded masculine and command more cognitive authority than observational subfields of the same disciplines. […] interpretive anthropology is designated less masculine, scientific, and rigorous than physical anthropology, which deals with ‚hard’ facts like fossil bones. Social interpretation is thought to be a feminine skill.“26 Gerade dieser letzte Gedanke motivierte vermutlich Leakey zu seiner Entscheidung, Frauen für die Beobachtung von Primaten einstellen zu wollen. Die in solchen Beschreibungszusammenhängen aufgegriffenen Dichotomien männlich/weiblich, aktiv/passiv, 24 E. F. Keller, Reflections on Gender and Science, New Haven, London 1985, Ka pitel 4. 25 E. F. Keller, Liebe, Macht und Erkenntnis. Männliche oder weibliche Wissen schaft?, Wien, München 1986, S. 98. 26 Ebd., S. 65.
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hart/weich, stark/schwach, unabhängig/abhängig, etc. erlauben es, geschlechtskodierte Modelle von eigentlich ungeschlechtlichen Phä nomenen zu konstruieren. Wissenschaften, so Anderson, spiegelten vor dem Horizont eines solchen Sprachgebrauches das patriarchale Rollenverhältnis einer heterosexuellen Partnerschaft: „the masculine science is autonomous from and exercises authority over the female science, which is supposedly dependent on the former’s pronouncements to know what it should think next.“27 Gemein sei dieser traditionellen Haltung auch die weitverbreitete androzentrische Perspektive, welche das „Männliche“ als den keine weiteren Erklärungen benötigenden, vermeintlich objektiven Standard betrachtet, von welchem das „Weibliche“ als unüblich abweicht und daher problematisch und entsprechend erklärungsbedürftig sei.28 Diese traditionelle Haltung schimmert letztlich auch durch die eingangs erwähnte und fraglos wohlgemeinte Überlegung Goulds durch. Wollen wir demnach einen vom üblichen Standard abweichen den, feministischen Standpunkt innerhalb der Primatologie beleuchten, so kann hierfür etwa der Ansatz von Sarah Hrdy herangezogen werden. In ihrem Buch „The Woman That Never Evolved“ von 1981 formuliert sie pointiert ihr Bestreben: „to correct a bias within evolutionary biology, to expand the concept of ‚human nature‘ to include both sexes.“29 Das im ersten Teil des Satzes angesprochene „Bias“30 hob als eine der ersten Forschenden 1973 be-
27 Ebd. 28 Ebd., S. 70 f. 29 S. Blaffer Hrdy, The Woman that never evolved, Cambridge (Mass.), London 1981, S. 189. 30 Der englische Begriff „bias“ hat in deutschsprachigen Übersetzungen wie „Voreingenommenheit“ oder „Tendenz“ keine umfängliche Entsprechung, die sämtliche mit dem englischen Begriff aufgerufenen Konnotationen umfasst. So hebt der Duden als Beleg für den üblichen Sprachgebrauch von „Bias“ als Anglizismus in der deutschen Sprache zwar „falsche Untersuchungsmethoden (z.B. Suggestivfragen)“ und eine „Verzerrung des Ergebnisses einer Repräsen tativerhebung hervor“ (siehe Duden online, Lemma „Bias“, http://www.duden. de/rechtschreibung/Bias), zuletzt abgerufen am 04.04.2017). Doch umfasst der englische Sprachgebrauch zudem Dimensionen einer impliziten soziokulturell geprägten Voreingenommenheit, einer systematischen Wahrnehmungsver zerrung, sowie eines tendenziösen blinden Flecks. (Vgl. Merriam-Webster‘s Collegiate Dictionary online, 11. Aufl., Lemma „bias“, (https://www.merriam- webster.com/dictionary/bias), Oxford English Dictionary online, Lemma „bias“, (https://en.oxforddictionaries.com/definition/bias), sowie Wikipedia, the free Encyclopidia, Lemma „bias“, (https://en.wikipedia.org/wiki/Bias), alle zuletzt
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reits Jane Lancaster in einem viel beachteten Aufsatz hervor31 und beide Autorinnen beziehen sich damit auf die Auswirkungen der speziellen erkenntnistheoretischen Rolle, die der Primatologie im Allgemeinen zugeschrieben wird: Vor dem Hintergrund der evolutionären Kontinuitätsthese bestreitet gerade die Erforschung von Primaten, insbesondere von den großen Menschenaffen, eine Sonderstellung. Ungleich stärker als bei der Erforschung aller anderen nicht-menschlichen Tiere wird die wissenschaftliche Beschäftigung insbesondere mit Schimpansen und Gorillas als eine indirekte Möglichkeit erachtet, etwas über unsere eigenen evolutionären Ursprünge, kognitiven Fähigkeiten und gesellschaftlichen Verhaltensmuster als Menschen zu erfahren. Der britische Kognitionsbiologe Richard W. Byrne bringt diese Vermutung auf den Punkt, wenn er auf die Frage, weshalb man sich der Erforschung von Primaten widme, antwortet: „I would assert, with exception of those biologists who are interested in seed dispersal or guts, everyone who studies specifically primates does so for only one good reason… to know more about humans.“32 Bereits in den frühesten Anfängen der Erforschung von Primaten bei Wolfgang Köhler (1887–1967) wird dieses Motiv in dessen „Intelligenzprüfungen an Menschenaffen“33 aus dem Jahr 1921 deutlich.34 In der Einleitung hebt er hervor, dass „in den etwaigen Intelligenzleistungen von Anthropoiden […] der natürliche Ausgangspunkt theoretischen Verstehens“ sichtbar werde und somit durch die Erforschung von Schimpansen die „Natur von Intelligenzleistungen“ hervortrete.35 Dieser erkenntnistheoretische Zugang lässt sich bis in die Gegenwart verfolgen: In einer Studie der Arbeitsgruppe von Anne Marijke Schel zu Alarmrufen
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abgerufen am 04.04.2017.) Wir werden daher im Folgenden „Bias“ im Sinne des englischen Sprachgebrauchs verwenden. Siehe J. Lancaster, „In Praise of the Achieving Female Monkey“, in: Psychology Today, 7(4)/1973, S. 30-36 und 99-100. Bei der Betrachtung des Artikels entgeht einem nicht, dass mehrere der Werbeanzeigen, die den Text aufbrechen, jene stereotype Rollenzuschreibungen stabilisieren, deren sich die Autorin versucht zu erwehren. S. C. Strum, L. M. Fedigan, „Email Exchanges“, in: S. C. Strum, L. M. Fedigan (Hrsg.), Primate Encounters – Models of Science, Gender, and Society, Chicago, London 2000, S. 138-144, hier S. 138. W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen (1921). Mit einem Anhang zur Psychologie des Schimpansen, Berlin, Heidelberg, New York 1973. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Hartung und Wunsch in Band 1 der Philosophie der Tierforschung. Ebd., S. 1.
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von Schimpansen aus dem Jahr 2013 wird zunächst das Themenfeld der „evolutionary origins of language, one of humankind‘s defining features“36 eröffnet, um dann die Arbeit mit Primaten, hier Schimpansen, als einen gangbaren Weg zur Erforschung des Ursprungs unserer Sprache zu charakterisieren: „One important line of evidence comes from comparative research on closely related species, which enables us to identify elements of language that are unique to the human lineage and elements that are shared with our primate relatives and that were therefore likely present in our common ancestors.“37 Im Fokus dieser Übertragungen liegen neben kognitiven Fähigkeiten und dem Gebrauch sprachlicher Äußerungen auch Verhaltensmuster: Richtet sich der Blick der Forschenden auf soziale Gefüge und gesellschaftliche Ordnungen innerhalb der Affengemeinschaften, verleitet der strapazierte Ursprünglichkeitstopos jedoch schnell zu einem naturalistischen Fehlschluss, der aus dem beobachteten und erforschten Ist-Zustand unserer nächsten lebenden Verwandten auf einen natürlichen Soll-Zustand menschlicher Gesellschaften schließt. Gerade mit Blick auf Geschlechtlichkeit lassen Studien, in denen stereotype Rollenbilder innerhalb von Primatengesellschaften beschrieben werden, unter der Prämisse der Ursprünglichkeit, diese Verhältnisse als natürlichen Ausgangspunkt und somit biologische Legitimation der binär-kodierten sozialen Rollenverteilung innerhalb menschlicher Gesellschaften betrachten. Dies könne, so Lancaster, zu der Vorstellung führen, es existiere „a fundamental difference between the social biology of male and female primates, including human beings, and that this difference relates to a very old and equally fundamental division of labor between them. In [this] view, the males provide sex, protection and social order, and the females focus their attention on raising infants.“38 Selbst wenn im Falle der bereits erwähnten Intelligenzprüfungen von Köhler keine Legitimierung in dieser Hinsicht angestrebt wurden, treten geschlechtsspezifische Rollenzuschreibungen über den Verlauf des gesamten Textes immer wieder deutlich hervor. Die insgesamt neun Tiere – drei männliche, sechs weibliche – 36 A. M. Schel et al., „Chimpanzee Alarm Call Production Meets Key Criteria for Intentionality“, in: PLoS ONE, 8(10)/2013, S. 1-11, hier S. 1. Hervorzuheben sei an dieser Stelle noch, dass auch in dieser Forschungsarbeit auf die Expertise von Forscherinnen zurückgegriffen wird, wenn es um die Beobachtung und Klassifizierung der von den Schimpansen geäußerten Laute geht. Ebd., S. 5. 37 Ebd. 38 J. Lancaster, „In Praise of the Achieving Female Monkey“, S. 32.
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werden bei der Bewältigung bestimmter Aufgaben von den Forschern – es handelt sich ausschließlich um Männer – beobachtet und Köhler hebt hervor, dass jedes Tier eine eigene Persönlichkeit habe, weshalb „niemals Beobachtungen an nur einem Schimpansen als maßgebend für die Tierform überhaupt angesehen werden dürfe […]“.39 Genau diese von ihm beschriebenen Eigenheiten und Charakterzüge korrespondieren stark mit den geschlechtsspezifischen Rollenverteilungen aktiver Männer und passiver Frauen seiner Zeit: der begabte, technisch versierte und interessierte, jedoch zum Egoismus neigende Sultan;40 der „mit einem ordentlichen Scheitel“ und einer „selbstverständlichen Frechheit“41 auftretende Koko, der ein „heftige[s] Trommeln beider Fäuste auf dem Boden“ verlauten lässt, wenn „es nicht genug zu essen gab, oder weil es Kinder wagten, in seine Nähe zu kommen“42; die bisweilen „mit verdrießlichem Gesicht vor sich hinstarr[ende]“,43 „dicke Tschego“,44 deren wesentliches Bedürfnis Ruhe ist;45 oder die mit einem „merkwürdigen, breiten Gesicht“ und „schlechter Haut“ beschriebene Nueva, deren „Häßlichkeit […] jedoch reichlich ausgeglichen [wurde,] durch ein Wesen so freundlicher Milde, naiven Zutrauens und […] die feine Art des Tieres, mit den einfachsten Mitteln stundenlang zufrieden zu spielen“,46 und nach der vergeblichen Bewältigung einer Aufgabe „mit bittenden Augen den Beobachter ansieht und die Hand nach ihm ausstreckt“.47 Hrdy unterstreicht Lancasters Vorwurf eines Fehlschlusses basierend auf Zuschreibungen dieser Art und hebt hervor: „Assumptions about the biological nature of men and women have frequently been used to justify submissive and inferior female roles and a double standard in sexual morality.“48 Sie führt als Beleg eine Reihe von Beispielen hierfür an, deren argumentatives Muster sich pointiert in folgendem Zitat des Soziologen Lionel Tiger widerspiegelt:
39 W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 5. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Köchy in diesem Band. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 209. 44 Ebd., S. 223. 45 Ebd., S. 209. 46 Ebd., S. 4. 47 Ebd., S. 23. 48 S. Blaffer Hrdy, The Woman that never evolved, S. 1.
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„[P]rimate females seem biologically unprogrammed to dominate political systems and, the whole weight of the relevant primates’ breeding history militates against female participation in what we can call ‚primate public life‘.“49 Die Kritik von Hrdy, Lancaster und ähnlich argumentierenden Primatologinnen könnte demzufolge an dieser Stelle ansetzen und sich argumentativ gegen eine solche normative Folgerung aus einer rein deskriptiven Prämissenmenge wenden. Doch geht sie noch einen Schritt weiter zurück: Sie hinterfragt allererst den Status des vermeintlich beschriebenen Ist-Zustandes der Befundlage einer solchen sozialen Geschlechterhierarchie innerhalb der erforschten Primatengesellschaften. Die Primatologin Thelma E. Rowell bringt die hierfür zugrundeliegende Überlegung auf den Punkt: „is our own species more than usually bound by hierarchical relationships, at least among the males, who have written most about this subject?“50 Mit dieser Hypothese wird innerhalb des Forschungsprozesses nicht nur der Geschlechtlichkeit des Gegenstandfeldes, also der erforschten Primaten, sondern auch der Geschlechtlichkeit der forschenden Menschen Relevanz zugesprochen. Es lässt sich so problematisieren, ob die beschriebenen Dominanz-Hierarchien der Geschlechterverteilung nicht zuallererst einer Übertragung menschlicher, bzw. hier explizit männlicher Perspektiven von Gender-Hierarchien auf Natur – und damit einer Vermenschlichung der Natur – unterliegen. Sollte diese Art von Bias vorliegen, so wäre es höchst problematisch, die vermenschlichten Eigenschaften der Natur anschließend als Ursprung und biologische Legitimation für Gender-Hierarchien auf menschliche Gesellschaften zurück zu übertragen. Lancaster bezieht sich in ihrem Artikel maßgeblich auf zu ihrer Zeit populäre Studien des bereits erwähnten Soziologen Tiger51 und des Anthropologen Robin Fox,52 in welchen diese die oben erwähnten gesellschaftlichen Hierarchien und geschlechtsspezifischen Rollenverteilungen biologisch zu legitimieren versuchen: „If it is so among primates, as I have already argued, a logical basis exists for the possibility that it may also be so among humans […].“53 Tiger 49 L. Tiger, „The possible biological origins of sexual discrimination“, in: Impact of Science and Society, 20(1)/1970, S. 29-44, hier S. 34. 50 T. E. Rowell, „The Concept of Social Dominance“, in: Behavioral Biology, 11(2)/ 1974, S. 131-154, hier S. 132. 51 L. Tiger, Men in Groups, New York 1970. 52 L. Tiger, R. Fox, The Imperial Animal, Toronto 1971. 53 L. Tiger, Men in Groups, S. 47.
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und Fox zufolge, so Lancaster, seien männliche Primaten dominanz orientiert und würden stabile Hierarchien und Männerbünde anstreben, während das Interesse weiblicher Primaten ausschließlich bei der Aufzucht des Nachwuchses liege und Weibchen grundsätzlich nicht dazu in der Lage seien, sich und ihre Aktivitäten ohne männliche Unterstützung zu organisieren.54 Lancaster charakterisiert die Befunde der beiden Autoren als „a scientific statement of folk beliefs about the differences between men and women“55 und wirft ihnen vor, ihre Schlüsse voreilig und vor allem voreingenommen gezogen zu haben. Sie bringt im Kern zwei methodologische Einwände gegen Tiger und Fox und ähnliche Auslegungen und Übertragungen vor. Erstens stellt sie die Aussagekraft der zugrundeliegenden Feldstudien mit Blick auf deren zeitlichen und populationsbezogenen Umfang infrage. Das Beobachtungsmaterial belaufe sich am Ende jeweils auf nur wenige hundert Stunden, wobei sie zusätzlich zu Bedenken gibt, dass erhobene Daten eines Zeitraumes von etwa hundert Stunden zu Beginn einer Studie häufig nicht verwendet werden könnten, da es eine solche Zeit benötige, um die jeweilige Affengemeinschaft und ihre einzelnen Mitglieder zuallererst kennenzulernen.56 Andererseits konzentrierten sich die Beobachtungen dieser Feldstudien nur auf einzelne Populationen. Aus diesen nicht-repräsentativen Daten generalisierende Schlüsse auf das Sozialverhalten von Primaten zu ziehen – und hieraus letztlich auch Rückschlüsse auf die evolutionäre Bedingtheit menschlichen Sozialverhaltens –, sei höchst fragwürdig. Zweitens hebt sie den verzerrten Fokus dieser Beobachtungen hervor. Obgleich männliche Primaten nur einen kleinen Prozentsatz der jeweiligen Populationen ausmachten, sei der Fokus der – männlichen – Beobachter dennoch maßgeblich auf diese gerichtet. „[Since] adult male primates often are large and their behavior conspicious […] they often receive more than their share of attention unless the observer uses careful sampling techinques.“57 Die Kritik von Lancaster lässt sich demzufolge so verstehen, dass in der Konstellation von männlichem Forschungssubjekt und männlichem Forschungsobjekt eine 54 J. Lancaster, „In Praise of the Achieving Female Monkey“, S. 32. 55 Ebd. 56 Selbst die große Beachtung erfahrene Studie zu Berggorillas von George Schaller (G. Schaller, The Mountain Gorilla: Ecology and Behavior, Chicago 1963) liefere insgesamt nicht mehr als rund 450 Stunden tatsächlicher Beobachtungen. Siehe J. Lancaster, „In Praise of the Achieving Female Monkey“, S. 32. 57 Ebd.
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– in diesem Sinne – unvorsichtige Beeinflussung und Verzerrung sowohl der Beobachtung als auch der Auswertung und Interpretation der erhobenen Daten auftritt. Es lässt sich daher fragen, wie sich Befunde und Schlüsse darstellten, wenn man weibliche Primaten als Individuen einer Population in den Fokus nimmt und diese über einen langen Zeitraum hinweg erforscht. Lancaster hebt hier die Pionierarbeit von Goodall hervor, deren mittlerweile über 50 Jahre andauernden Langzeitstudien und die Fokussierung auf einzelne – weibliche als auch männliche – Individuen nicht nur revolutionäre methodologische Veränderungen darstellten, sondern die tradierte Gegenüberstellung geschlechtsspezifischer Dichotomien wie aktiv/ passiv, aggressiv/fürsorglich, unabhängig/abhängig, dominant/unterwürfig, etc. als unterkomplex herausstellen konnte. Auch Hrdy kommt zu dem Ergebnis, dass sich durch die feministische Kritik an den primatologischen Forschungspraktiken und -methodologien unser Verständnis von weiblichen Primaten grundlegend geändert habe und wir sie als „highly competetive, socially involved, and sexually assertive individuals“58 auffassen müssten. Studien zeigten zudem, dass bestimmte Affengemeinschaften über Generationen hinweg von verwandten Weibchen geprägt würden und hierbei „female dominance relations […] far more long-term influence than […] the ephemeral power politics of males“59 hätten. Beiden Autorinnen geht es folglich nicht darum, zugunsten einer besseren gesellschaftlichen Stellung von Frauen evolutionsbiologische Perspektiven schlicht abzulehnen – letztlich sind beide Autorinnen bekennende Darwinistinnen.60 Es gehe ihnen auch nicht darum, die große Erzählung der männlichen Überlegenheit zu einer Erzählung weiblicher Überlegenheit umzuformen, oder männliche Dominanz als Mythos abzutun, denn geschlechtliche Asymmetrie charakterisiere beinahe universell das Leben von Primaten. Dennoch sei es wichtig festzuhalten, dass Biologie nicht mit Schicksal gleichzusetzen sei.61 Insbesondere dann nicht, wenn voreilige Übertragungen aus verzerrten Beobachtungen und Befunden gezogen würden. Nur ein Jahr nach der Veröffentlichung des Artikels von Lancaster löste die Primatologin Jeanne Altmann eine „leise, aber 58 S. Blaffer Hrdy, The Woman that never evolved, S. 189. 59 Ebd., S. 17. 60 Siehe S. Blaffer Hrdy, The Woman that never evolved, S. 14; J. Lancaster, „In Praise of the Achieving Female Monkey“, S. 30. 61 Ebd., S. 2.
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machtvolle methodologische Revolution“62 innerhalb der Primatologie aus. Ihr vielzitierter und einflussreicher Text „Observational Study of Behavior: Sampling Methods“ von 1974 fordert eine methodische Sorgfalt ein, welche traditionellen Idealen von Wissenschaft entspricht, was möglicherweise ein Grund für den starken Einfluss ihres Textes war. Nach Altmann zeige es sich, dass viele Forschungsergebnisse der Primatologie einer kritischen Evaluation aus methodologischer Sicht nicht standhalten konnten. Laut der Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway geht es Altmann zum einen um die Destabilisation von anerkanntem Wissen, das u. a. von namhaften und einflussreichen Primatologen hervorgebracht wurde, sowie um die Dekonstruktion der Identifikation von menschlichen Frauen mit anderen weiblichen Primaten.63 Haraway hält diese Strategie für äußerst wirkungsvoll: „Destabilizing the positions in a discursive field and disrupting categories for identification might be a more powerful feminist strategy than ‚speaking as a woman‘.“64 Als Herausgeberin der Zeitschrift Animal Behaviour nutzt Altmann ihre Position, um Forschungsergebnisse zu verhandeln und deren Autorinnen und Autoren dazu zu bewegen, die von ihnen verwendeten Kategorien (wie beispielsweise die Bezeichnung bestimmter Sexualakte als Vergewaltigung) zu hinterfragen.65 Dabei pocht sie nicht auf politische Korrektheit, sondern kann mit methodologischen Argumenten zeigen, dass deren Analysen auch ohne entsprechende Kategorien auskämen. Altmann beschreibt ihr Vorgehen wie folgt: „In other words, I made science serve me, just as other people with other points of view do […].“66 Ihre Evaluation von „sampling methods“ in der Verhaltensforschung an Primaten legt u. a. sexistische Auffassungen von männlicher Herrschaft und Kontrolle offen.67 Der bereits in der Kritik von Hrdy und Lancaster beschriebenen Konzentration von Forschern auf dominante und auffällige männliche Tiere stellt Altmann eine Methode entgegen, mit welcher auch weniger auffällige Tiere wie Weibchen oder un62 C. Fehr, „Feminist Philosophy of Biology“, in: E. N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Herbst 2011), (https://plato.stanford.edu/archives/ fall2011/entries/feminist-philosophy-biology/), zuletzt abgerufen am 04.04.2017. 63 D. J. Haraway, Primate Visions: Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science, New York, London 1989, S. 310, S. 313. 64 Ebd., S. 310. 65 Ebd. 66 Zitiert in ebd. 67 C. Fehr, „Femnist Philosophy of Biology“.
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tergeordnete Männchen stärker berücksichtigt werden.68 Altmann fasst diese Methoden unter dem Begriff „Focal-Animal Sampling“ zusammen und meint damit „any sampling method in which (i) all occurrences of specified (inter)actions of an individual, or specified group of individuals, are recorded during each sample period, and (ii) a record is made of the length of each sample period and, for each focal individual, the amount of time during the sample that it is actually in view.“69 Vor allem durch das Erfassen der Länge des Untersuchungszeitraums für jedes Individuum kann sichergestellt werden, dass alle Individuen innerhalb einer Gruppe gleich lang beobachtet werden. Durch diese repräsentativen Methoden wird Forschenden ermöglicht, die Wichtigkeit von Ereignissen anhand ihrer Frequenz und nicht auf Grundlage ihrer Auffälligkeit für die Beobachtenden zu bewerten. So werden nicht nur bisher ignorierte Tiere berücksichtigt, sondern alltägliche Aktivitäten wie Essen, Schlafen oder Körperpflege treten gegenüber dramatischen Aktivitäten wie Kämpfen und Paarungsakten in den Vordergrund.70 Im Gegensatz zu dem distanziert-sachlichen, formal gehaltenen wissenschaftlichen Duktus Altmanns, offenbart sich Hrdy in den Anmerkungen am Ende ihres bekannten Aufsatzes „Empathy, Polyandry, and the Myth of the Coy Female“ von 1986 selbst als Feministin und macht deutlich, dass ihre Forschung stark von ihrer Identifikation mit weiblichen Languren sowie dem Bewusstsein ihrer eigenen sozialen Situation als Frau in einem damals noch männlich dominierten Forschungsfeld geprägt wurde.71 Hrdy war eine der ersten Forschenden, die soziobiologische Theorien auf Primaten anwandte und sich dabei vor allem auf weibliche Tiere konzentrierte.72 In der Soziobiologie spielen unter anderem Theorien zur sexuellen Selektion eine wichtige Rolle. Charles Darwin und andere Biologen wie E. O. Wilson sind der Ansicht, dass sexuelle Selektion eher
68 L. Schiebinger, Has Feminism Changed Science?, Cambridge, London 1999, S. 7. 69 J. Altmann, „Observational Study of Behavior: Sampling Methods“, in: Be haviour, 59(3)/1974, S. 227-267, hier S. 242. 70 L. Schiebinger, Has Feminism Changed Science?, S. 7. 71 S. Blaffer Hrdy, „Empathy, Polyandry, and the Myth of the Coy Female“, in: R. Bleier (Hrsg.), Feminist Approaches to Science, New York 1986, S. 119-159, hier S. 150-153. 72 L. Schiebinger, Has Feminism Changed Science?, Kapitel 7; D. J. Haraway, Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, New York, London 1991, Kapitel 5.
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auf männliche als auf weibliche Tiere einwirkt73 und betonen daher den männlichen Konkurrenzkampf um Weibchen und die Wahl der Geschlechtspartner durch Weibchen.74 Es wird also davon ausgegangen, dass die Aktivität der Weibchen vor allem darin läge, den besten männlichen „Verehrer“ unter den Konkurrenten auszusuchen.75 Laut Hrdy basiere dieses Verständnis von sexueller Selektion auf einer stereotypen Zuschreibung von scheuen, zurückhaltenden Weibchen („coy females“) einerseits, die bei der Auswahl ihrer Partner äußerst anspruchsvoll seien und anspruchslosen Männchen andererseits, die sich mit so vielen Weibchen wie möglich paaren wollten.76 Diesen stereotypen Auffassungen lägen drei Annahmen zugrunde, nämlich, dass Männchen einen verhältnismäßig geringen Beitrag in Bezug auf Nachkommen leisten, dass es eine geringe Varianz in Bezug auf den Reproduktionserfolg von Weibchen bei gleichzeitig hoher Varianz bei Männchen gibt und dass Weibchen sich ausschließlich zum Zweck der Reproduktion paaren.77 Hrdy zeigt anschließend, dass diese Annahmen auf Untersuchungen zurückgehen, die der Biologe Angus John Bateman an Drosophila melanogaster (Taufliegen) durchgeführt hat. In ihrem Aufsatz wird deutlich, dass Batemans Ergebnisse nicht ohne Weiteres auf andere Arten übertragen werden können. Dies zeigten vor allem Hrdys eigene Beobachtungen von weiblichen Languren im indischen Rajasthan, die ein aktives und „promiskuitives“ Paarungsverhalten aufwiesen. Ihre Beobachtungen passten nicht zu den Theorien, die
73 Kritik an einer zu starken Ausrichtung an männlichen Exemplaren verschie denster Spezies innerhalb der evolutionären Biologie äußerte bereits 100 Jahre zuvor die Pastorin Antoinette Brown Blackwell. Vier Jahre nach Darwins The Descent of Man and Selection in Relation to Sex (1871) schrieb sie: „When Mr. [Herbert] Spencer argues that women are inferior to men because their de velopment must be earlier arrested by reproductive functions, and Mr. Darwin claims that males have evolved muscle and brains much superior to females, and entailed their pre-eminent qualities chiefly on their male descendants, these conclusions need not be accepted without question, even by their own school of evolutionists. […] With great wealth of detail, he [Darwin] has illustrated his theory of how the male has probably acquired additional masculine characters; but he seems never to have thought of looking to see whether or not the fe males had developed equivalent feminine characters.“ A. B. Blackwell, The Sexes throughout Nature (1875), Westport 1976, S. 14-16. 74 L. Schiebinger, Has Feminism Changed Science?, S. 132. 75 S. Blaffer Hrdy, „Empathy, Polyandry, and the Myth of the Coy Female“, S. 132. 76 Ebd., S. 131. 77 Ebd.
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sie als Studentin gelernt hatte:78 Da dem Phänomen weiblicher Promiskuität unter Primaten erst Ende der 1970er Jahre Beachtung geschenkt wurde, fehlte Hrdy der theoretische Rahmen, um ihre Beobachtungen zu erklären.79 Sie glaubt zwar nicht, dass „die weiblichen Seiten von Geschichten“80 bewusst ignoriert wurden, doch ihre Ausführungen machen deutlich, dass sich die etablierten Theorien vor allem eigneten, um männliche Verhaltensweisen zu erklären. Der Fokus auf die Konkurrenz zwischen Männchen führte unter anderem dazu, dass sowohl die Konkurrenz zwischen Weibchen sowie die Interaktionen von Männchen und Weibchen, die nicht direkt der Reproduktion dienen, übersehen wurden.81 Die Erklärung, die Hrdy für das „promiskuitive“ Verhalten von weiblichen Languren für plausibel hält, nennt sie „Manipulationshypothese“.82 Dabei wird davon ausgegangen, dass Weibchen sich auch nach der Befruchtung mit verschiedenen Männchen paaren, um die Vaterschaft zu verschleiern und so mehrere Männchen dazu zu bringen, sich nach der Geburt um den Nachwuchs zu kümmern.83 Anfang der 1980er Jahre ergaben Experimente an Drosophila pseudoobscura, dass auch weibliche Fliegen unter bestimmten Bedingungen zu promiskuitivem Verhalten in diesem Sinne neigten und diese eine höhere Anzahl von Nachwuchs hervorbringen, der bis zur Geschlechtsreife überlebt.84 Wenn sich Forschungsergebnisse einer Drosophila-Spezies nicht einmal auf eine andere Spezies der gleichen Gattung übertragen lassen, erscheint es zumindest fragwürdig, Ergebnisse der Erforschung von Drosophila melanogaster auf Primaten übertragen zu wollen. Donna Haraway zeigt in ihrer historiographischen Untersuchung der Forschung in der Primatologie, dass sich ähnliche Analogieschlüsse nicht einmal innerhalb der Ordnung der Primaten, z. B. von Pavianen auf Languren, ziehen ließen, weil Languren ein Verhalten zeigten, dass sich in vielen Aspek-
78 Ebd., S. 137: „At the time, I had no context for interpreting behavior that merely seemed strange and incomprehensible to my Harvard-trained eyes.“ 79 Ebd., S. 138. 80 Ebd., S. 138, eigene Übersetzung. 81 L. Schiebinger, Has Feminism Changed Science?, S. 133. 82 S. Blaffer Hrdy, „Empathy, Polyandry, and the Myth of the Coy Female“, S. 140, eigene Übersetzung. 83 Ebd. 84 M. E. Turner, W. W. Anderson, „Multiple mating and female fitness in Droso philia pseudoobscura, in: Evolution, 37(4)/1983, S. 714-723.
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ten von dem Verhalten von Pavianen unterscheide.85 Wie oben bereits erwähnt, werden vor allem deshalb auch Schlüsse von der Beobachtung einzelner Primatenpopulationen im Feld auf die Evolution des menschlichen Sozialverhaltens als höchst problematisch erachtet. Dieses Beispiel zeigt erneut, dass es durch die Berücksichtigung von Geschlechtlichkeit im Forschungsprozess zu einer Revision bestehender Theorien kommen kann: Viele soziobiologische Theorien basierten zunächst auf einer Fokussierung auf männliche Tiere (durch männliche Forschende) und hierdurch können Verzerrungen auftreten. Im Kontrast zur Konstellation männlicher Forscher und männliches Untersuchungstier „attestiert“ Hrdy Forscherinnen insofern eine wichtige Rolle, als dass sie die aus eigenen Erfahrungen gespeiste Auffassung vertritt, Frauen konzentrierten sich eher auf weibliche Tiere, würden sich mit diesen identifizieren und hätten ein für die Forschung relevantes, besonderes Einfühlungsvermögen für weibliche Primaten.86 Ihre eigenen Erfahrungen beschreibt sie wie folgt: „First came an unconscious process of identification with the problems a female langur confronts followed by the formulation of conscious questions about how a female copes with them. This, in turn, led to the desire to collect data relevant to those questions. Once asked, the new questions and new observations forced reassessment of old assumptions and led to still more questions.“87 Zudem wird an dem Beispiel deutlich, dass Generalisierungen von Studien an einer Art (in diesem Fall Drosophila) zu einer Etablierung fehlerhafter oder unvollständiger Theorien führen können. Laut Hrdy konnte dieses Bias solange unhinterfragt bestehen, weil die Auffassung von „scheuen Weibchen“ und „forschen Männchen“ dem gängigen Stereotyp von Männlichkeit und Weiblichkeit entspricht: „We were predisposed to imagine males as ardent, females as coy; males as polygynists, females monandrous“.88 Hrdy 85 D. J. Haraway, Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, Kapi tel 5. Ein Großteil der Studien in der Primatologie in den 1950er bis 1970er wurde an Pavianen durchgeführt, unter anderem weil diese für Menschen gut erreichbar auf dem Boden leben. Da die Ergebnisse der Untersuchung von Pavi anen auch auf menschliches Verhalten übertragen wurden, spricht Linda Fedigan von einem „‚baboonization‘ model of early human life“ (L. M. Fedigan, „The Changing Role of Women in Models of Human Evolution“, in: Annual Review of Anthropology, 15/1986, S. 25-66, hier S. 39) 86 S. Blaffer Hrdy, „Empathy, Polyandry, and the Myth of the Coy Female“, S. 148150. 87 Ebd., S. 150 f. 88 Ebd., S. 146.
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ist, ebenso wie Haraway, der Ansicht, dass Interpretationen von Forschenden innerhalb der Primatologie vor allem deren Weltbild widerspiegelten – und nimmt sich durch ihr klares Bekenntnis als feministische Primatologin hier nicht aus. Mit „Primate Visions“89 lieferte 1989 die bereits mehrfach erwähnte Donna Haraway einen vielbeachteten Beitrag zum Thema Feminismus und Primatologie. Die ausgebildete Biologin, die selbst keine Primatologin ist, zeigt mit ihrer Analyse der Geschichte der Primatologie in der Nachkriegszeit, wie Primatologinnen in diesem Zeitraum bestehende Paradigmen und Theorien in Frage stellten und alternative Konzepte und Erklärungen vorschlugen.90 Ihr Buch erregte aber vor allem aufgrund ihrer dekonstruktivistischen Perspektive auf die wissenschaftliche Praxis Aufmerksamkeit. Haraway betont insbesondere die Rolle der Sprache in Bezug auf die Konstitution eines Objekts wissenschaftlichen Wissens und versteht die Wissensproduktion in der Primatologie als „social process of producing stories“.91 Dabei begreift sie feministische Positionen als eine Suche nach neuen Geschichten in diesem Sinne92 und zeigt, wie Frauen aktiv auf die Narrative in der Primatologie eingewirkt und diese verändert haben.93 Ihr fällt auf, dass die Geschichten der Forschenden der jeweils politischen Situation ihrer Zeit, Herkunft, Klasse und Geschlechts entsprächen und sie schließt daraus, dass die jeweiligen sozialen und politischen Gegebenheiten starken Einfluss auf die Wissensproduktion haben. Die von ihr diskutierten Beispiele zeigen, dass wissenschaftliche Narrative in der Primatologie u. a. von politischen Debatten um das reproduktive Sozialverhalten von Frauen geprägt wurden (z. B. Debatten um Abtreibung). Dabei betrachtet sie das Soziale nicht als Kraft, die von außen auf die Wissenschaft einwirkt, sondern versteht die wissenschaftliche Praxis selbst als soziales – und damit politisches – Unterfangen: „Social forces and daily scientific practice both exist inside. Both are part of the process of producing public knowledge, and neither is a source of purity or pollution. Indeed, daily scientific practice is a very important social force. But such practice can only make visible what 89 D. J. Haraway, Primate Visions: Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science. 90 D. J. Haraway, Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, Kapitel 5. 91 Ebd., S. 81. 92 Ebd., S. 82. 93 Ebd., S. 106.
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people can historically learn to see.“94 Haraway vertritt die Ansicht, dass wissenschaftliches Wissen weder durch sorgfältige, objektive Wissenschaft entstehe noch eine reine Widerspiegelung von Ideologien sei.95 Obwohl sie sich mit diesen und ähnlichen Aussagen irgendwo in der Mitte des Kontinuums zwischen Objektivismus und Sozialkonstruktivismus positioniert, werden ihre Schriften häufig vorschnell als rein konstruktivistisch aufgefasst, wie sich beispielsweise an einigen Aussagen des Anthropologen Matt Cartmill erkennen lässt.96 Laut Haraway ist die Biologie ein Zweig des politischen Diskurses und entspricht damit nicht dem traditionellen Ideal von wissenschaftlicher Objektivität. Für sie bedeutet das jedoch nicht, dass biologische Forschung schlechte Wissenschaft sei.97 Es scheint so, als läge der Grund für die kritische Diskussion und Ablehnung ihrer Arbeit vor allem in Haraways Verständnis von Wissenschaft, welches die Autorität von Forschenden infrage stellt.98 Während viele Feministinnen und Feministen positiv auf „Primate Visions“ reagiert haben, fühlten sich einige Forschende aus der Primatologie und Anthropologie von Haraways Aussagen angegriffen.99 Cartmill beispielsweise reagierte ausgesprochen emotional auf Haraways Ausführungen: „This book infuriated me; but that is not a defect in it, because it is supposed to infuriate people like me, and the author would have been happier still if I had blown out an artery.“100 Fedigan begründet derartige Reaktionen wie folgt: „Her [Haraway’s] fundamental assertions that facts are relative, that science is a form of story-telling, that sociopolitical forces have a major impact on how science is done, are deeply disturbing to many scientists.“101 Außerdem schreibt sie als Außenstehende, die nicht selbst als Primatologin tätig ist, was ein zusätzlicher Grund für Skepsis sein könnte.102 Als weiterer Grund für die negativen Reaktionen wird auch Haraways Schreibstil, der nicht mit den Konventionen der Na94 Ebd., S. 92. 95 Ebd. 96 M. Cartmill, „Book Review. Primate Visions: Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science“, in: International Journal of Primatology, 12(1)/ 1991, S. 67-75. 97 D. J. Haraway, Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, S. 98. 98 L. Schiebinger, Has Feminism Changed Science?, S. 135. 99 L. M. Fedigan, „Is Primatology a Feminist Science?“, S. 56. 100 M. Cartmill, „Book Review. Primate Visions: Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science“, S. 67. 101 L. M. Fedigan, „Is Primatology a Feminist Science?“, S. 56 f. 102 Ebd., S. 57.
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turwissenschaften übereinstimmt, genannt.103 Dies wird besonders an der Rezension von Cartmill zu Haraways Buch deutlich, in der er schreibt: „This is a book full of vaporous, French-intellectual prose that makes Teilhard de Chardin sound like Ernest Hemingway by comparison; but that is not a criticism, because the author likes that sort of prose and has taken lessons in how to write it, and she thinks that plain, homely speech is part of a conspiracy to oppress the poor.“104 Trotzdem empfiehlt er Forschenden die Lektüre ihres Buches: „There are real insights and intermittent flashes of brilliance scattered through this book, and all primatologists will benefit from reading it and getting their preconceptions shaken up“.105 Halten wir fest, was sich aus unseren exemplarischen Darstellungen der Arbeiten von Fedigan, Hrdy, Lancaster, Altman und Haraway gezeigt hat: Unter der Perspektive, dass Geschlechtlichkeit innerhalb des Forschungsprozesses als relevant erachtet wurde, wichen die erwähnten Forscherinnen tatsächlich vom wissenschaftlichen Standard ab. Doch wurde durch dieses Abweichen nicht die vermeintliche Objektivität unterlaufen, sondern konnten ganz im Gegenteil, gerade durch die Einnahme dieser spezifischen Positionierung, bestehende Paradigmen einer kritischen Reflexion unterzogen werden. Das sich aus dem bis zu diesem Zeitpunkt männlich dominierten Forschungsfeld und der Konstellation „männliches Forschungsobjekt und männliches Forschungssubjekt“ ergebene Bias wurde von den Forscherinnen aufgedeckt und ihm wurde mit neuen methodologischen Zugängen begegnet. Das Aufkommen von Langzeitstudien, der Einbezug zuvor vernachlässigter Tiere, das Verzichten auf vorschnelle Generalisierungen und auch die Fokussierung einzelner Individuen innerhalb einer Population konnten die bestehenden Geschlechterdichotomien als vorschnelle und unterkomplexe Zuschreibungen offenlegen und vor allem den Legitimationsanspruch der Rückübertragung dieser vermeintlichen Phänomene auf menschliche Geschlechterrollen unter Strapazieren des Ursprünglichkeitstopos problematisieren. So wurden neue Erklärungsmodelle in den wissenschaftlichen Diskurs eingeflochten. Als Teil einer wissenschaftlichen Revolution in Kuhns Sinne wurde hierauf zunächst mit Diskreditierung seitens der (noch) bestehen103 Ebd.; L. Schiebinger, Has Feminism Changed Science?, S. 135. 104 M. Cartmill, „Book Review. Primate Visions: Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science“, S. 67. 105 Ebd., S. 71.
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den Normalwissenschaft reagiert.106 Gleichzeitig wurde durch diese Beispiele auch deutlich gemacht, dass die verschiedenen Ansätze der Forscherinnen keine einheitliche Theorie, Methodik oder Praxis aufweisen, sondern ganz unterschiedliche feministische Strömungen zum Ausdruck bringen. Doch genügen diese Hinweise dafür, bei der Primatologie von einer feministischen Wissenschaft zu sprechen?
3 Feministische Wissenschaft und feministische Wissenschaftstheorie Aufgrund des hohen Frauenanteils und der oben beschriebenen Einflüsse von Frauen auf die Primatologie könnte vermutet werden, dass es sich bei dieser Disziplin um eine feministische Wissenschaft handele, bzw., dass die Forschung innerhalb der Primatologie in vielen Fällen von feministischen Positionen beeinflusst wurde. In einem ihrer Aufsätze formuliert Linda Fedigan daher explizit die Frage „Is primatology a feminist science?“107 Wir werden dieser Frage in Kapitel 4 nachgehen. Zuvor muss jedoch die Frage geklärt werden, was unter einer feministischen Wissenschaft verstanden werden kann und wie sich feministische Positionen als politische Bewegungen zu den Wissenschaften verhalten. Alltagssprachlich bezeichnet „Feminismus“ „sowohl eine akademische als auch eine soziale Bewegung, die für Gleichberechtigung, Menschenwürde, die Selbstbestimmung von Frauen sowie gegen Sexismus eintritt. Daneben verweist Feminismus auf politische Theorien, die – über einzelne Anliegen hinaus – die Gesamtheit gesellschaftlicher Verhältnisse, einen grundlegenden Wandel der sozialen und symbolischen Ordnung und der Geschlechterverhältnisse im Blick haben. Gleichzeitig
106 So spricht Jane Goodall etwa über ihre ersten Erfahrungen mit der Publikation ihrer wissenschaftlichen Arbeiten: „When I began observing chimpanzees in 1960, the concept of individuality in nonhuman animals was unpopular in scientific circles. In fact, the first technical paper I submitted for publication was returned by a major periodical with the suggestion that a few alterations be made: where I had written ‚he‘, ‚she‘, or ‚who‘, these had been crossed out and ‚it‘ or ‚which‘ substituted.“ J. Goodall, The chimpanzees of Gombe: patterns of behaviour, Cambridge (Mass.) 1986, S. 60. 107 L. M. Fedigan, „Is Primatology a Feminist Science?“
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erlauben sie Deutungen und Argumente zur Gesellschaftskritik.“108 Da gesellschaftliche Normen sich auch in der wissenschaftlichen Praxis, in Erkenntnisprozessen und wissenschaftlichen Aussagen, Theorien und Strukturen niederschlagen, ist Wissenschaft ein gesellschaftlicher Bereich, der kritisch aus feministischer Sicht untersucht werden kann. Feministische Wissenschaftskritik wurde in ihren Anfängen vor allem von praktizierenden Wissenschaftlerinnen, z. B. Biologinnen und Psychologinnen, geübt, um auf androzentrische und sexistische Konzepte und Praktiken aufmerksam zu machen.109 Es gibt allerdings auch Wissenschaftsphilosophinnen und -historikerinnen, die einschlägige Beiträge zur feministischen Wissenschaftskritik geleistet haben, darunter Donna Haraway, Londa Schiebinger und Sandra Harding. Da Feminismus, anders als der Begriff im Singular suggeriert, eine heterogene Strömung ist und verschiedene, sich teilweise widersprechende feministische Positionen bestehen, gibt es auch nicht die eine feministische Theorie, bzw. feministische Methodologie. Feministische Theorien liefern daher weder ein einheitliches Rahmenkonzept zur Erforschung der Wissenschaften noch resultiert aus dem Feminismus eine einheitliche Form wissenschaftlicher Praxis. Es existieren verschiedene Ansätze, um feministische Theorien zu klassifizieren und so deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Im Folgenden werden wir drei Ansätze beschreiben, um einen Überblick über feministische Wissenschaftsforschung, bzw. feministische Wissenschaftspraxis zugeben: 1) Sandra Harding beschreibt fünf Forschungsprogramme feministischer Kritik, die unterschiedliche Ziele verfolgen und verschiedene Forschungsgegenstände aufweisen. Diese Klassifikation resultiert aus der Perspektive einer Wissenschaftsforscherin, die sich vor allem mit feministischen Epistemologien befasst und selbst eine solche entwickelt. 2) Sue Rosser hingegen, nimmt eine andere Einteilung vor, die von den verschiedenen feministischen Strömungen ausgeht und anschließend nach feministischen Methodologien fragt, die aus diesen Strömungen hervorgehen. 3) Die bereits erwähnte Linda Fe-
108 Siehe Wikipedia, die freie Enzyklopädie, Lemma „Feminismus“, (https:// de.wikipedia.org/wiki/Feminismus), zuletzt abgerufen am 04.04.2017. 109 E. Anderson, „Feminist Epistemology and Philosophy of Science“, in: E. N. Zal ta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Frühling 2017), (https:// plato.stanford.edu/archives/spr2017/entries/feminism-epistemology/), zuletzt abgerufen am 04.04.2017.
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digan hat als praktizierende Primatologin einen wiederum anderen Ansatz, der sich auf die wissenschaftliche Praxis bezieht. Sie fragt nach Merkmalen einer feministischen Wissenschaft, stellt also eher Gemeinsamkeiten als Unterschiede in den Vordergrund. Diese drei Ansätze haben wir ausgewählt, weil sie den Diskurs um Feminismus und Wissenschaft in dem von uns untersuchten Zeitraum angemessen zusammenfassen und so ein guter Überblick über verschiedene feministische Ansätze dieser Zeit gegeben werden kann.110 3.1 Feministische Wissenschaftskritik Harding nennt fünf Forschungsprogramme, die aus dem Feld der feministischen Wissenschaftskritik hervorgegangen sind.111 Als erstes Forschungsprogramm beschreibt sie (1) Studien zur Gleichberechtigung. Diese zeigen u. a. wie Frauen gegenüber vergleichbar qualifizierten Männern benachteiligt werden und durch welche Mechanismen die Diskriminierung von Frauen in den Wissenschaften aufrechterhalten wird.112 Als nächstes (2) nennt sie Studien über den Ge- und Missbrauch der Biologie, der Sozialwissenschaften und von Technologien, die enthüllen, „auf welche Weise die Wissenschaft in den Dienst rassistischer, sexistischer, klassenhierarchischer und antihomosexueller Projekte gestellt werden kann.“113 Das dritte Forschungsprogramm (3) zeichnet sich durch ein Fragen nach der Existenz und Möglichkeit von reiner, objektiver, ge110 Die hier dargestellten Ansätze lassen sich zu einem großen Teil dem so ge nannten Second Wave Feminism zuordnen. Aus den Bewegungen dieser zweiten Welle heraus entstanden ab den 1990ern die Ansätze des Third Wave Feminism, die sich vor allem durch ihre Konzentration auf Verschiedenheit, Dekonstruktion und Dezentrierung auszeichnen (S. A. Mann, D. J. Huffman, „The Decentering of Second Wave Feminism and the Rise of the Third Wave“, in: Science and Society, 69(1)/2005, S. 56-91, hier S. 57). Die Feminismen der dritten Welle wurden insbesondere von Theorien über Intersektionalität, poststrukturalistischen Ansätzen sowie postkolonialen Theorien beeinflusst (siehe ebd.). Da viele dieser Ansätze jedoch erst nach unserem Untersuchungs zeitraum aufkamen, werden sie hier nicht weiter diskutiert – auch nicht da hingehend, inwiefern nennenswerte Einflüsse des Third Wave Feminism auf die Forschungspraxis bzw. Theorien innerhalb der Primatologie ausgemacht werden können. 111 S. Harding, Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissen schaft und sozialem Geschlecht, Hamburg 1990, S. 17-22. 112 Ebd., S. 18. 113 Ebd.
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schlechts- und wertneutraler Wissenschaft aus. Studien im Rahmen dieses Forschungsprogramms zeigen beispielsweise, dass bereits die Auswahl und Definition von Problemfeldern in den Wissenschaften, vor allem in der Biologie und den Sozialwissenschaften, durch männliche Wahrnehmung verzerrt werden. Im Rahmen des im Anschluss dargestellten Forschungsprogramms (4) werden durch Methoden der Literaturkritik, der historischen Interpretation und der Psychoanalyse verborgene symbolische und strukturelle Bedeutungen in wissenschaftlichen Behauptungen und Praxisformen offengelegt. Hier geht es vor allem darum, Dichotomien wie Objekt/ Subjekt, Geist/Körper und Vernunft/Emotion zu erkennen und neu zu beurteilen.114 Das letzte Forschungsprogramm (5) umfasst schließlich die feministischen Epistemologien, die allesamt Alternativen zu den herrschenden Erkenntnistheorien darstellen sollen. Obwohl sich die fünf Forschungsprogramme teilweise stark voneinander unterscheiden, lassen sich doch mindestens zwei grundlegende Gemeinsamkeiten finden. Feministische Wissenschaftskritiken scheinen davon auszugehen, dass der untergeordnete Status von Frauen in der Wissenschaft mit dem untergeordneten Satus von Frauen in der Gesamtgesellschaft zusammenhängt.115 Zum anderen sei ein geteiltes Ziel dieser Programme, das androzentrische Bias in wissenschaftlichen Theorien und Praktiken aufzudecken bzw. zu beseitigen.116 Durch feministische Wissenschaftskritik wurden verschiedene Formen von Bias aufgezeigt, die zu Ungerechtigkeit, Fehlern, Irrtümern, unberechtigten Schlüssen und schlechter wissenschaftlicher Praxis führen oder einschränkend wirken (siehe auch Kapitel 2).117 Es konnte z. B. gezeigt werden, wie Wissenschaftlerinnen der Zugang zu finanziellen und personellen Ressourcen erschwert wurde. Außerdem wurde deutlich, dass in den Wissenschaften häufig Frauen und/oder die Vergeschlechtlichung wissenschaftlicher Konzepte, Theorien und Praktiken ignoriert wurden und dass deren Berücksichtigung zur Revision von etablierten Theorien und Methoden führen kann. Feministische Wissenschaftskritik hat zudem gezeigt, dass in Studien zu Unterschieden der Geschlechter in der Biologie häufig herrschende Geschlechterstereotype reproduziert und weiter 114 Ebd., S. 21. 115 L. M. Fedigan, „Is Primatology a Feminist Science?“, S. 60. 116 Ebd. 117 E. Anderson, „Feminist Epistemology and Philosophy of Science“.
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verfestigt werden.118 Statt jedoch die akademisch institutionalisierte Forschung und deren Ergebnisse aufgrund dieser Missstände zu meiden oder abzulehnen, nutzen Feministinnen und Feministen die Institution Wissenschaft, um genderbasierte Formen von Unterdrückungen und deren Auswirkungen zu verstehen und ihnen entgegenzuwirken.119 Haraway hält es sogar für „unverantwortlich, sich am sozialen Prozeß der Produktion von Wissenschaft nicht zu beteiligen oder diesen zu ignorieren […].“120 Sofern dies in ihrer Macht steht, würde es damit für Feministinnen zur politischen Pflicht, sich aktiv an wissenschaftlicher Forschung zu beteiligen, denn wissenschaftliches Wissen habe einen großen Einfluss auf die Gesellschaft und unser alltägliches Leben. Aus den verschiedenen Ansätzen feministischer Wissenschaftskritik ergibt sich nun die Frage, was eine feministische Wissenschaft ausmacht und was sie von einer nicht-feministischen Wissenschaft unterscheidet. 3.2 Feministische Positionen und deren Bezug zu den Wissenschaften Wie Harding betont auch Rosser die Unterschiede zwischen verschiedenen feministischen Ansätzen, indem sie auf die Vielfalt und Komplexität feministischer Theorien verweist.121 Laut Rosser ist die einzige Gemeinsamkeit feministischer Theorien, dass Geschlechtlichkeit als zentrale Kategorie verstanden wird. Sie spricht in diesem Zusammenhang von der „lens of gender to view the world“.122 Neben der von Rosser verwendeten Metapher der ‚Gender-Brille‘ wird manchmal auch die Metapher der „Sonde“ verwendet, um die Untersuchung gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse zu bezeichnen.123 118 Ebd. 119 S. Crasnow, A. Wylie, W. K. Bauchspies, E. Potter, „Feminist Perspectives on Science“, in: E. N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2009), (https://plato.stanford.edu/entries/feminist-science/), zuletzt abgerufen am 04.04.2017. 120 D. J. Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt, New York 1995, S. 157. 121 S. V. Rosser, „Are there feminist methodologies appropriate for the natural sciences and do they make a difference?“, in: Women’s Studies International Forum, 15(5/6)/1992, S. 535-550. 122 Ebd., S. 537. 123 Zum Beispiel: M. Heimbach-Steins, „Gender-Perspektive und Gerechtigkeit“, in: C. Frey (Hrsg.), Gerechtigkeit – Illusion oder Herausforderung? Felder und Aufgaben für die interdisziplinäre Diskussion, Münster 2006, S. 51-66, hier S. 52.
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Rosser unterscheidet neun verschiedene feministische Theorien, die wir im Folgenden kurz beschreiben.124 Im 1) liberalen Feminismus wird davon ausgegangen, dass Frauen in der Gesellschaft unterdrückt und diskriminiert werden und es wird auf die Beseitigung dieser Diskriminierung abgezielt. In Bezug auf Wissenschaften bedeutet dies, dass Frauen insgesamt die gleichen Chancen und Möglichkeiten wie ihre männlichen Kollegen haben sollten: gleiche Chancen auf eine Karriere in der Wissenschaft, gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit und auch gleichen Zugang zu Ressourcen.125 Der liberale (Wissenschafts-)Feminismus geht allerdings über die Forderung nach Chancengleichheit hinaus, denn er zielt auch auf die Befreiung der wissenschaftlichen Theorien und Erklärungen von einem Gender-Bias ab. Dabei wird davon ausgegangen, dass durch diesen wissenschaftliche Forschung und deren Ergebnisse verzerrt werden. Um wissenschaftliche Objektivität zu ermöglichen, müsse das Bias beseitigt werden. Der liberale Feminismus weicht daher nicht besonders stark von traditionellen Auffassungen von Wissenschaft ab, die sich durch ein positivistisches Verständnis von wissenschaftlicher Forschung auszeichnen und davon ausgehen, dass Wissen unabhängig von sozialen Gegebenheiten erlangt werde und daher objektiv sei.126 Im Gegensatz zum liberalen Feminismus wird im 2) marxistischen Feminismus ein solches positivistisches Bild von Wissenschaft abgelehnt und alle Formen von Wissen werden als sozial konstruiert und situiert betrachtet. Das bedeute vor allem, dass Wissen nicht objektiv und wertfrei sein könne.127 Im Marxismus ist wissenschaftliches Wissen durch den Kapitalismus und durch die Interessen der herrschenden Klasse geprägt. Im marxistischen Feminismus wird also die Gender-Brille durch die Class-Brille ergänzt.128 Im 3) afroamerikanischen Feminismus wird die Welt durch die GenderBrille sowie durch die Race-Brille betrachtet. In einigen Spielarten des 4) sozialistischen Feminismus werden alle drei Kategorien, also Race, Class und Gender als Analysekategorien verwendet. Die in diesem Absatz beschriebenen Ausprägungen des Feminismus werden oft als Standpunkttheorien oder als Standpunkt-Denken 124 Ebd. 125 Ebd. 126 Ebd., S. 538. 127 Ebd., S. 540. 128 Ebd., S. 541.
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bezeichnet.129 Standpunktdenkerinnen und -denker gehen davon aus, dass Angehörige marginalisierter oder unterdrückter Gruppen aufgrund ihrer sozialen Situiertheit objektiveres oder zumindest umfassenderes Wissen erzeugen können als Angehörige der herrschenden oder dominierenden Gruppen, da sie andere Fragen stellen und an anderen Themen oder Aspekten von Phänomenen interessiert sind.130 Während herrschende Gruppen vor allem an der Erhaltung des Status Quo interessiert seien, um ihre Machtposition zu sichern, hinterfragten Angehörige unterdrückter Gruppen bestehende Konzepte, Theorien und Erklärungen, da sie die bestehende Situation aufgrund ihrer Unterdrückung problematisierten.131 Aus epistemologischer Sicht sind daher Positionen von Angehörigen unterdrückter Gruppen zu bevorzugen.132 Obwohl 5) essentialistischer Feminismus von vielen Feministen und Feministinnen hart kritisiert wird, lassen sich auch heute noch essentialistische Positionen, z. B. im Ökofeminismus133 finden. Im Essentialismus werden biologische Faktoren als Ursache für die Unterschiede zwischen Frauen und Männern betrachtet. Essentialis129 S. Harding, Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissen schaft und sozialem Geschlecht, S. 24; E. Anderson, „Feminist Epistemology and Philosophy of Science“. 130 Zum Beispiel: N. Hartsock, „The feminist standpoint: developing the ground for a specifically feminist historical materialism“, in: S. Harding (Hrsg.), The feminist standpoint theory reader: intellectual and political controversies, New York 2004, S. 35-54. 131 S. V. Rosser, „Are there feminist methodologies appropriate for the natural sciences and do they make a difference?“, S. 542. 132 Vgl. D. J. Haraway, „Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective“, in: Feminist Studies, 14(3)/1988, S. 575-599. 133 Der in den 1970er Jahren von der Feministin Françoise D’Eaubonne geprägte Begriff „Ökofeminismus“ bezeichnet eine politische Bewegung, die feministi sche Perspektiven und Naturschutz miteinander verbindet. Ökofeministische Philosophien behandeln unter anderem die Verbindung der Unterdrückung von Frauen und der Beherrschung der Natur (vgl. K. J. Warren, „Feminist En vironmental Philosophy“, in: E. N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Sommer 2015), (https://plato.stanford.edu/archives/sum2015/ entries/feminism-environmental/), zuletzt abgerufen am 04.04.2017. Dabei wird häufig auf die Dichotomie Natur/Kultur und deren Konnotation mit weiblich/männlich verwiesen. Ökofeministische Positionen werden von Femi nisten und Feministinnen kritisiert, da sie häufig auf der Annahme basieren, dass Frauen aufgrund ihres Frauseins eine besondere Beziehung zur Natur und „Mutter Erde“ hätten und damit essentialistische Elemente aufweisen (vgl, L. Schiebinger, Has Feminism Changed Science?, S. 135).
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tische Feministinnen und Feministen sind der Ansicht, dass Frauen aufgrund ihrer biologischen Verfasstheit Männern (zumindest in einigen Bereichen) überlegen seien.134 Es wird davon ausgegangen, dass Frauen beispielsweise aufgrund von Hormonen und bestimmten körperlichen Erfahrungen wie Schwangerschaft oder Menstruation anders Wissenschaft betreiben bzw. andere Formen von Wissen generieren oder andere Methoden entwickeln.135 Im essentialistischen Feminismus werden die Unterschiede zwischen Männern und Frauen also nicht wie bei anderen feministischen Theorien auf das soziale Geschlecht (Gender), sondern auf das biologische Geschlecht (Sex) zurückgeführt. Im 6) existentialistischen Feminismus dagegen wird die soziale Konstruktion sowohl von Geschlecht als auch von Wissenschaft betont. Aus existentialistischer Sicht sind es nicht die biologischen Unterschiede, die dazu führen, dass Frauen anderes Wissen erzeugen, bzw. anders Wissenschaft betreiben als Männer, sondern die gesellschaftliche Interpretation von Weiblichkeit und Frausein.136 Im 7) psychoanalytischen Feminismus werden psychoanalytische Theorien verwendet, um die Konstruktion von Geschlechtlichkeit und Sexualität zu analysieren.137 Hierbei wird der freudsche biologische Determinismus abgelehnt und auf die soziale Konstruktion von Geschlecht verwiesen. Die Arbeit von Evelyn Fox Keller zur Vergeschlechtlichung von Objektivität und Wissenschaft, die wir bereits in Kapitel 2 angesprochen haben, ist ein Beispiel für diesen Ansatz.138 Da der psychoanalytische Ansatz die soziale Konstruktion von Geschlecht hervorhebt, kann dies auch bedeuten, dass biologische Frauen „männliche“ Forschung betreiben, was aufgrund der gegebenen Strukturen häufig der Fall sei.139 Während der psychoanalytische Feminismus die Möglichkeit einer gender-neutralen Wissenschaft einräumt, lehnen 8) radikale Feministinnen dies ab. Der radikale Feminismus lehnt die meisten wissenschaftlichen Theorien, Daten und Experimente ab, da diese einer patriarchalen Struktur entsprängen 134 S. V. Rosser, „Are there feminist methodologies appropriate for the natural sciences and do they make a difference?“, S. 543. 135 Ebd. 136 Ebd. 137 Ebd., S. 544. 138 E. F. Keller, Reflections on Gender and Science, New Haven, London 1985, Kapitel 4. 139 S. V. Rosser, „Are there feminist methodologies appropriate for the natural sciences and do they make a difference?“, S. 545.
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und Frauen ausschlössen. Aus den gleichen Gründen lehnt er auch die meisten Epistemologien ab. Radikale Feministinnen und Feministen distanzieren sich deshalb auch von feministischen Theorien, die auf „männlichen“ Theorien oder Konzepten wie dem Marxismus, Essentialismus oder der Psychoanalyse basieren.140 Der 9) lesbische Separatismus kann als eine Form des radikalen Feminismus aufgefasst werden. Vertreterinnen dieses Ansatzes schlagen vor, dass Frauen sich von Männern abschotten sollten, um der täglichen Konfrontation mit der patriarchalen Welt und der Zwangsheterosexualität zu entkommen. Erst durch diesen Schritt werde es Frauen ermöglicht, sich des vollen Ausmaßes ihrer Unterdrückung und den daraus folgenden Verzerrungen ihrer Erfahrungen bewusst zu werden.141 3.3 Feministische wissenschaftliche Praxis Rossers Darstellung unterschiedlicher feministischer Theorien betont die Heterogenität innerhalb des Feminismus. Es wird klar, dass diese unterschiedlichen Theorien auch verschiedene Implikationen für die wissenschaftliche Praxis haben, die sich sogar gegenseitig ausschließen können. Demnach könne es also keine einheitliche feministische Methodologie geben. Fedigan versucht dagegen die Gemeinsamkeiten feministischer Positionen herauszuarbeiten. Sie fasst verschiedene Ansätze142 zusammen, indem sie die sechs häufigsten Merkmale feministischer Wissenschaftspraxis identifiziert.143 Zunächst nennt sie 1) Reflexivität, also das Erkennen, Anerkennen und Reflektieren von kontextbezogenen Werten.144 Als zweites Merkmal feministischer Wissenschaft nennt Fedigan 2) die Entwicklung einer spezifisch weiblichen Weltsicht. Dadurch könnten z. B. Theorien, die das Leben und die Erfahrungen von Frauen 140 Ebd. 141 Ebd. 142 Zum Beispiel: E. Fee, „Critiques of Modern Science: the Relationship of Femi nism to other Radical Epistemologies“, in: R. Bleier (Hrsg.), Feminist Ap proaches to Science, New York 1986, S. 42-56; H. Longino, Science as Social Knowledge, Princeton 1990; A. Wylie, „Reasoning about Ourselves: Feminist Methodology in the Social Sciences“, in: E. D. Harvey, K. Okruhlik (Hrsg.), Women and Reason, Ann Arbor 1992, S. 225-244. 143 L. M. Fedigan, „Is Primatology a Feminist Science?“, S. 61 f. 144 Ebd., S. 61.
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abwerten, erkannt und überprüft werden. Fedigan hebt zudem 3) eine Rekonzeptualisierung des Naturbegriffs als Merkmal hervor. Statt Natur als passiv und Objekt menschlicher Kontrolle, Herrschaft und Manipulation aufzufassen, schlagen Feministinnen und Feministen vor, sie als aktiv, komplex und holistisch anzusehen. Ein weiteres Merkmal, nämlich das 4) Abrücken von Dualismen und Reduktionismen, ist eng damit verbunden. Dazu gehört auch der Dualismus von forschendem Subjekt und Forschungsobjekt. Ein weiteres Merkmal feministischer Wissenschaft sei 5) die Verwendung von wissenschaftlichem Wissen als Befreiungsinstrument, statt es in den Dienst von Herrschaft und Nationalismus zu stellen. Als letztes Merkmal feministischer Modelle von Wissenschaft wird 6) eine Veränderung der Scientific Community genannt. In feministischen Modellen sei Wissenschaft weniger elitär, sondern zugänglicher, vielfältig in Bezug auf die Zusammensetzung der Scientific Community und demütig angesichts der Komplexität des Lebens.145 Londa Schiebinger kritisiert Fedigans Analyse und ist der Ansicht, dass nur das zweite und das sechste Merkmal tatsächlich feministisch seien.146 Laut Schiebinger gehen die anderen Punkte über den Feminismus hinaus und könnten eher der Umweltbewegungen oder humanitären Bestrebungen zugeschrieben werden. Ihre Kritik rührt vor allem daher, dass sie bestimmte feministische Positionen wie den Ökofeminismus für nicht vertretbar hält. Unabhängig davon, ob alle sechs oder nur einige dieser Merkmale akzeptiert werden, zeigt die Analyse feministischer Wissenschaftskonzeptionen, dass feministische Wissenschaft nicht (ausschließlich) über ihren Inhalt definiert werden kann, sondern vielmehr über das politische Interesse, durch welches bestimmte Fragen und Forderungen generiert werden. Anderson hebt entsprechend hervor, feministische Wissenschaft bedeute „‚doing science as a feminist‘ – that is, using science to answer questions generated by feminist interests.“147 Somit ist feministische Wissenschaft normativ und stellt selbst eine Art von Bias dar, denn sie ist bewusst einschränkend und macht dies auch explizit.148 Hinter dieser Einstellung steht eine pluralistische Auffassung von Wissenschaft sowie eine Ablehnung von totalisierenden Narrativen. Aus dieser Perspektive kann feministische 145 Ebd., S. 62. 146 L. Schiebinger, Has Feminism Changed Science?, S. 135, eigene Übersetzung. 147 E. Anderson, „Feminist Epistemology and Philosophy of Science“. 148 Ebd.
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Wissenschaft als Ergänzung zu anderen Formen wissenschaftlicher Praxis verstanden werden, da sie die Welt aus einer anderen Perspektive betrachtet und neues Wissen hervorbringen kann, dessen Nutzen nicht notwendigerweise auf feministische Interessen beschränkt ist. „Doing biology, primatology, anthropology, archaeology, psychology, economics, history or any other special science as a feminist has resulted in many and various local methodological innovations, discoveries of new sources of evidence, and developments of alternative theories.“149 Laut Anderson zeichne sich feministische Wissenschaft trotz der vielfältigen Positionen, Methoden und Inhalte durch geteilte kognitive Werte wie ontologische Heterogenität, Komplexität der Beziehungen und Zugänglichkeit von Wissen aus. Sie betont, dass diese Werte nicht im Widerspruch zu der Suche nach wissenschaftlichen Fakten stünden.150 Harding ist sogar der Überzeugung, dass Behauptungen, die durch eine feministische Perspektive hervorgebracht werden, plausibler scheinen als die Anschauungen, die sie ersetzen würden.151 Somit sieht sie ebenfalls keinen Widerspruch zwischen politisierter Forschung und wissenschaftlicher Objektivität. Im Gegenteil, sie plädiert für eine „starke Objektivität“ in der wissenschaftlichen Forschung, die nicht einem „Neutralitätsideal“ anhängt, sondern sich ihrer gesellschaftlichen Situiertheit bewusst ist.152 Auch Haraway betont die Situiertheit von wissenschaftlichem Wissen: „Feminist objectivity means quite simply situated knowledges“.153 Sie vertritt die Ansicht, dass nur partielle Perspektiven zu einer objektiven Sicht 149 Ebd. 150 Ebd. 151 S. Harding, Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissen schaft und sozialem Geschlecht, S. 22. 152 S. Harding, „Starke Objektivität“, in: M. Vogel, L. Wingert (Hrsg.), Wissen zwischen Entdeckung und Konstruktion. Erkenntnistheoretische Kontroversen, Frankfurt a. M. 2003, S. 162-190. 153 D. J. Haraway, „Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective“, S. 581, kursiv im Original. Siehe dazu auch B. Latour, The Pasteurization of France, Cambridge (Mass.) 1988 und B. Latour, S. Woolgar, Laboratory life: the construction of scientific facts, Princeton 1979, auf die sich Haraway mehrfach bezieht. Sie ist der Ansicht, dass Latours Schriften mit feministischen Auffassungen von wissenschaftlicher Praxis übereinstimmten: „Latour is not otherwise a notable feminist theorist, but he might be made into one by readings as perverse as those he makes of the laboratory, that great machine for making significant mistakes faster than anyone else can, and so gaining world-changing power.“ (D. J. Haraway, „Situ ated Knowledges“, S. 596).
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führen können. Feministische Objektivität, die Haraway als „positionierte Rationalität“154 versteht, ist damit das Gegenteil des „god trick of seeing everything from nowhere“,155 was dem traditionellen Ideal wissenschaftlicher Objektivität entspricht. Die verschiedenen Antworten auf die Frage, was mit „feministischer Wissenschaft“ gemeint sein könnte, zeigen, dass einige Feministinnen (neben Fedigan auch Schiebinger und Carolyn Merchant) sich eher auf feministische Werte konzentrieren, die die wissenschaftliche Forschung lenken (sollen), während es anderen Feministinnen wie Haraway und Harding eher um den sozialen Kontext wissenschaftlicher Forschung geht.156 Im ersten Fall liegt der Fokus also auf den normativen Aspekten, die durch feministische Positionen in die Wissenschaft Einzug finden, wobei im zweiten Fall die in der wissenschaftlichen Praxis inhärente Normativität hervorgehoben wird, die in den meisten Fällen unbewusst bleibt.
4 Ist die Primatologie eine feministische Disziplin? Nachdem wir die Zusammenhänge zwischen feministischen Positionen und den Wissenschaften beleuchtet und diskutiert haben, was unter feministischer Wissenschaft verstanden werden könnte, können wir nun der Frage nachgehen, ob es sich bei der Primatologie um eine feministische Disziplin handelt. Fedigan betont zu Recht, dass nur wenige Primatologinnen Feministinnen sind, bzw. feministische Ziele verfolgen.157 Im Gegenteil, viele Wissenschaftlerinnen sähen sich selbst als „old boys“ und setzten die bestehende Forschungspraxis ihrer männlichen Kollegen fort, statt sich für einen grundlegenden Wandel einzusetzen.158 Wie Haraway herausstellt, seien viele Forschende in der Primatologie der Meinung, wissenschaftliche Forschungspraxis und deren Ergeb154 155 156 157
Ebd., S. 590, eigene Übersetzung. Ebd., S. 581. L. Schiebinger, Has Feminism Changed Science?, S. 184. L. M. Fedigan, „Is Primatology a Feminist Science?“, S. 58; L. M. Fedigan, „The Paradox of Feminist Primatology: The Goddess’s Discipline?“, in: A. Creager, E. Lunbeck, L. Schiebinger (Hrsg.), Feminism in Twentieth Century Science, Medicine and Technology, Chicago, London 2001, S. 46-72, hier S. 46. 158 L. Schiebinger, „Has Feminism Changed Science?“, in: Signs, 25(4)/2000, S. 1171-1175, hier S. 1173.
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nisse nicht wesentlich von Geschlechtlichkeit beeinflusst würden.159 Sollte dies dennoch der Fall sein, handele es sich schlichtweg um schlechte Wissenschaft. Diese Auffassung zeigt nicht nur, dass viele Forschende entweder nicht mit feministischen Theorien vertraut sind oder diesen nicht zustimmen, sondern macht zudem deutlich, dass auch viele Forscherinnen an traditionellen wissenschaftlichen Idealen (wie z. B. dem Ideal des objektiven Beobachters) festhalten. Nun ist es sicherlich möglich, dass nicht alle Frauen, die mit feministischen Zielen übereinstimmen, sich offen zum Feminismus bekennen. Schließlich ist „Feminismus“ für viele noch immer ein „dirty word“, weshalb oft eher über Frauen in den Wissenschaften als über feministische Wissenschaft diskutiert und eine Erhöhung der Frauenquote mit Veränderungen innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin gleichgesetzt wird.160 Unserer Ansicht nach ist es wichtig zu erkennen, dass nicht jede Veränderung in den Wissenschaften, die mit feministischen Theorien oder Zielen vereinbar ist, auch durch feministische Überzeugungen motiviert wurde. Durch die fälschliche Gleichsetzung von Feminismus mit Weiblichkeit wird oft nicht zwischen feministischer Wissenschaft und von Frauen betriebener bzw. „weiblicher“ Wissenschaft unterschieden.161 Dabei wird vor allem außer Acht gelassen, dass, wie bereits erwähnt, die Ziele von Frauen und Feministinnen bzw. Feministen nicht automatisch übereinstimmen müssen.162 Sicherlich ist es möglich, dass Frauen entweder aufgrund von biologischen oder sozial konstruierten Unterschieden im Denken und Handeln Wissenschaft anders betreiben als Männer.163 Aufgrund ihrer lebensweltlichen Erfahrungen sei es wahrscheinlicher, dass von Frauen betriebene Wissenschaft bestimmte Charakteristika (z. B. Sinn für Details, Komplexität und Interaktionen; eine holistische, kontextbezogene Weltsicht; Geduld und Empathie) aufweise, die bei von Männern betriebener Wissenschaft bzw. „männlicher“ Wis-
159 D. J. Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, S. 156 f. 160 L. Schiebinger, „Has Feminism Changed Science?“, S. 1173. 161 Vgl. D. J. Haraway, Primate Visions, S. 151. 162 E. F. Keller, „What impact, if any, has feminism had on science?“, in: Journal of Biosciences, 29(1)/2004, S. 7-13, hier S. 12. Gerade dadurch, dass wir einerseits von Frauen und andererseits von Feministinnen und Feministen sprechen kön nen, wird diese Überlegung bestärkt. 163 L. M. Fedigan, „Is Primatology a Feminist Science?“, S. 62.
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senschaft weniger häufig zu finden sind.164 Feministische Wissenschaft ist dagegen durch eine gewisse politische Haltung motiviert. Wie oben diskutiert, fordern feministische Theorien jedoch häufig genau die Eigenschaften ein, die von einigen als weiblich angesehen werden bzw. weiblich konnotiert sind. Aus diesem Grund sei es zwar theoretisch möglich – wie oben erwähnt –, feministische Wissenschaft von weiblicher Wissenschaft zu unterscheiden, in der Praxis sei dies allerdings oft nicht umsetzbar.165 Anderson stellt heraus, dass Konzeptionen von Weiblichkeit (oder „weiblicher“ Wissenschaft) feministischen Zielen auch entgegenstehen können: „Feminists are interested in uncovering the causes of women’s oppression, revealing the dynamics of gender in society, and producing knowledge that women can use to overcome the disadvantages to which they are subject. Forms of knowledge that simply valorize the ‚feminine‘ may not be helpful to women who would be better off not having norms of femininity imposed on them.“166 Neben der Unterscheidung zwischen weiblicher und feministischer Wissenschaft kann auch zwischen gendersensibler und feministischer Wissenschaft unterschieden werden.167 Sicherlich auch aufgrund der unscharfen Grenze zwischen weiblicher und feministischer Wissenschaft ist Schiebinger der Ansicht, dass diese Kategorien durch die Kategorie „gendersensible Wissenschaft“ ersetzt werden sollten: „It is time to move away from conceptions of feminist science as empathetic nondominating, environmentalist, or ‚people-friendly‘. It is time to turn, instead, to tools of analysis by which scientific research can be developed as well as critiqued along feminist lines. I do not put forward these tools to create some special, esoteric ‚feminist‘ science, but rather to incorporate a critical awareness of gender into the basic training of young scientists and the workaday world of science.“168 Dieser Ansatz ähnelt dem in Kapitel 2 beschriebenen Ansatz von Altmann, da auch Schiebinger die Verbesserung wissenschaftlicher Genauigkeit betont und eventuelle politische Motivationen nicht explizit genannt werden. Um mögliche Fehlerquellen aufzuspüren bzw. Fehler zu vermeiden, schlägt
164 Ebd. 165 Ebd., S. 63. 166 E. Anderson, „Feminist Epistemology and Philosophy of Science“. 167 Vgl. L. M. Fedigan, „The Paradox of Feminist Primatology: The Goddess’s Discipline?“, S. 48. 168 L. Schiebinger, Has Feminism Changed Science?, S. 8.
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Schiebinger die Anwendung von „tools of gender analysis“ vor,169 von denen nicht alle explizit feministisch sind bzw. auf feministische Studien begrenzt sind: „some are simply good history, sharp critical thinking, good biology, precise use of language.“170 Im Rahmen dieses Aufsatzes können wir jedoch nicht auf die vielfältigen Weisen, in denen die Forschenden Gendersensibilität zeigen, eingehen.171 Allerdings sind auch diese beiden Kategorien in Bezug auf die wissenschaftliche Praxis keinesfalls klar auseinanderzuhalten, vor allem weil gendersensible Wissenschaft auch als Teilbereich von feministischer Wissenschaft verstanden werden kann. Die Frage nach den Verbindungen von Primatologie und Feminismus kann mindestens auf zweierlei Weise gestellt werden. Es kann gefragt werden, ob bzw. inwieweit die wissenschaftliche Praxis, die Theorien und Konzepte der Primatologie mit Merkmalen feministischer Wissenschaftskonzeptionen übereinstimmen oder man kann danach fragen, inwiefern Feminismus die Primatologie tatsächlich beeinflusst hat. Fedigan konzentriert sich auf die erste Frage und analysiert die Primatologie im Hinblick auf die von ihr herausgearbeiteten sechs Merkmale feministischer Wissenschaft, um sie mit einem vorsichtigen „ja“ zu beantworten.172 Forschende in der Primatologie seien sich zwar der Tatsache bewusst, dass sie sich nicht vollkommen voraussetzungsfrei mit ihren Forschungsobjekten auseinandersetzen könnten, insbesondere seien sie sich der Gefahren des Anthropomorphismus und Ethnozentrismus bewusst, ihre Arbeit weise jedoch keine besondere Reflexivität bezüglich der analytischen Kategorien Race, Class und Gender auf.173 Da inzwischen vermehrt weibliche Primaten erforscht werden, bezeichnet Fedigan die Primatologie als eine Wissenschaft, die einen starken weiblichen Standpunkt entwickelt hat. Bezüglich ihres dritten Punktes, der Rekonzeptualisierung des Naturbegriffs schreibt Fedigan, dass Forschende sich der Komplexität ihres Forschungsgegenstands bewusst seien und ihre Arbeit dazu diene, diesen besser zu verstehen, statt ihn zu kontrollieren und zu manipulieren.174 Zudem seien viele Forschende in der Primatologie auf Umweltschutz 169 Ebd. S. 186-190. 170 Ebd. S. 186. 171 Für eine ausführliche Diskussion dieser Frage in Bezug auf Primatologie siehe L. M. Fedigan, „The Paradox of Feminist Primatology: The Goddess’s Discipline?“ 172 L. M. Fedigan, „Is Primatology a Feminist Science?“ 173 Ebd., S. 67. 174 Ebd., S. 68.
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bedacht. Die Frage nach der Überwindung von Dualismen und der Vermeidung von reduktionistischen Sichtweisen in der Primatologie beantwortet sie mit einem klaren „ja“.175 Fedigan räumt ein, dass Forschung in der Primatologie zwar manchmal von militärischen Interessen motiviert sei bzw. diesen diene, die Erforschung von Primaten als Modelle für menschliche Probleme diene jedoch humanitären Zwecken.176 Die Primatologie-Community sei zwar in Bezug auf Geschlechterverhältnisse divers, jedoch gäbe es zumindest in Nordamerika nur wenig Diversität in Bezug auf Race und Class.177 Konzentriert man sich lediglich auf die von Schiebinger genannten Merkmale, nämlich die Fokussierung von weiblichen Tieren und die Diskussion von Partizipationspolitik, dann lässt sich die Frage, ob es sich bei der Primatologie um eine feministische Wissenschaft handelt, bejahen. Wie Haraway zeigt, wurden seit den 1970er Jahren zunehmend weibliche Primaten und deren Interaktionen miteinander und mit anderen Mitgliedern der Gruppe untersucht, was zu einer sukzessiven Veränderung auf theoretischer Ebene führte.178 Die Forschung an weiblichen Primaten wurde vor allem von Frauen durchgeführt. Somit hat der relativ hohe Frauenanteil in der Primatologie (siehe Kapitel 1) sicherlich dazu beigetragen, dass weibliche Primaten stärker erforscht wurden. Schiebinger scheint die Forderung nach der Diskussion von Partizipationspolitik lediglich auf die Partizipation von Frauen zu beziehen. Dies trifft eindeutig auf die Primatologie zu, denn die Beteiligung von Frauen an der wissenschaftlichen Forschung wird sowohl innerhalb der Primatologie als auch in der Wissenschaftsphilosophie und -geschichte diskutiert. Die Diskussion von Chancengleichheit scheint allerdings ein eher schwaches Kriterium zu sein. Trotzdem können solche Diskussionen sicherlich als Indikatoren für einen Wandel dienen. Stimmt man jedoch Anderson zu und versteht unter feministischer Wissenschaft „doing science as a feminist“, dann kann die Primatologie kaum als feministische Wissenschaft verstanden werden, da es außer Hrdy, Small, Smuts, Altmann, Fedigan, Zihlman und Lancaster nur wenige prominente Forschende gibt, die sich selbst als Feministinnen bzw. Feministen bezeichnen oder ihre feministischen Inte-
175 Ebd. 176 Ebd., S. 69. 177 Ebd. 178 D. J. Haraway, Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature.
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ressen deutlich machen.179 Die wissenschaftliche Forschung in der Primatologie scheint zumindest nicht offensichtlich von feministischen Zielen und Interessen geleitet zu sein. Das heißt jedoch nicht, dass es nicht auch einige Forschende geben kann, die feministischen Werten und Zielen zustimmen, selbst wenn die Gründe dafür nicht im Feminismus selbst wurzeln. Selbst wenn man sich von Fedigans Analyse überzeugen lässt, bleibt die Frage nach den Ursachen für die Veränderungen in der Primatologie bestehen. Fedigan selbst diskutiert zwei Alternativen, die als Ursachen für die Situation in der Primatologie in Erwägung gezogen werden könnten.180 Sie merkt an, dass andere Ansätze wie beispielsweise marxistische, afrikanische oder indische Perspektiven ähnliche Ziele verfolgten wie die feministische Wissenschaftskritik. Die Situation, die wir heute in der Primatologie vorfinden, könnte demnach das Ergebnis einer oder mehrerer anderer sozialer Strömungen neben dem Feminismus sein.181 Eine zweite mögliche Erklärung sei, dass die Primatologie – wie andere wissenschaftliche Disziplinen auch – einen Reifungsprozess durchlaufen hat, der z. B. zu komplexeren Erklärungsmodellen, weniger reduktionistischen Ansichten und dem Verwerfen von Dualismen geführt hat. Trotzdem kommt Fedigan zu dem Schluss, dass feministische Positionen die Primatologie beeinflusst und vielleicht sogar transformiert haben und ist der Ansicht, dass „at the very least, we should give credit to the feminist critique for drawing attention to androcentric bias in science, and for challenging us to develop a more balanced view in which both female and male perspectives and experiences are taken fully into account“.182 Fedigans Schluss verweist darauf, dass die eigentliche Frage vielleicht eher lauten sollte, ob feministische Theorien und Positionen die Wissenschaften, insbesondere die Primatologie, verändert oder beeinflusst haben. Diesen Fragen gehen Keller183 und Schiebinger184 nach. Keller analysiert zwar andere Felder innerhalb der Biologie, 179 L. M. Fedigan, „Is Primatology a Feminist Science?“, S. 65; L. M. Fedigan, „The Paradox of Feminist Primatology: The Goddess’s Discipline?“, S. 46; L. Schiebinger, Has Feminism Changed Science?, S. 185. 180 L. M. Fedigan, „Is Primatology a Feminist Science?“, S. 70. 181 Ebd. 182 Ebd. 183 E. F. Keller, „What impact, if any, has feminism had on science?“ 184 L. Schiebinger, Has Feminism Changed Science?; L. Schiebinger, „Has Femi nism Changed Science?“
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z. B. die Entwicklungsbiologie, doch kommt sie wie Fedigan zu dem Schluss, dass die von ihr beobachteten Veränderungen mit feministischen Zielen übereinstimmen. Im Gegensatz zu Fedigan macht Keller sehr deutlich, dass die Veränderungen in der Entwicklungsbiologie kein Resultat direkter politischer Aktivität durch feministische Forschende seien. Sie ist allerdings der Ansicht, dass der Feminismus als politische Bewegung Wissenschaften zumindest indirekt beeinflusst habe.185 Da in der Entwicklungsbiologie wie auch in der Primatologie die methodologischen und konzeptionellen Modifikationen von Wissenschaftlerinnen angestoßen wurden, geht Keller davon aus, dass eine Erhöhung des Frauenanteils in den Wissenschaften die Etablierung einer „weiblichen“ Weltsicht ermöglichte.186 Am Beispiel der Biologin Christiane Nüsslein-Volhard zeigt sie, dass auch von einer Frau, die dem Feminismus ambivalent gegenübersteht und der „männliche“ Eigenschaften wie Aggressivität und großer Ehrgeiz zugeschrieben werden, wissenschaftliche Theorien entwickelt werden können, die im Einklang mit feministischen Zielen sind. Dennoch ist Keller der Ansicht, „Gender matters to this story not because of her intent, but because of her situatedness, as a woman, in a field in which gender (now biologically, socially, and culturally) has mattered for a very long time […].“187 Sie glaubt nicht, dass körperliche bzw. biologische Unterschiede oder die Sozialisation dabei entscheidend sind, sondern „what the cultures of science bring to community perceptions of both women and gender – and in turn, because of what such perceptions bring to the communal values of particular disciplines.“188 Keller glaubt ebenfalls nicht, dass feministische Wissenschaftsforschende wie sie selbst einen starken Einfluss auf die wissenschaftliche Praxis haben, doch sie ist der Überzeugung, dass die Veränderungen in den Wissenschaften eine Folge des sozialen Wandels seien, der durch die feministische Bewegung angestoßen wurde.189 Da Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer auf der Suche nach neuen Blickwinkeln seien und die feministische Bewegung neue Blickwinkel anbiete, konnten sich feministische Positionen in den Wissenschaften etablieren. Sie ist der Meinung, „you didn’t 185 E. F. Keller, „What impact, if any, has feminism had on science?“, S. 11. 186 Ebd., S. 11. 187 Ebd., S. 12. 188 Ebd. 189 Ebd.
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have to be a woman to see or take advantage of this opportunity, and you didn’t have to read feminist scholarship. All you had to do was to be a member of a different culture, all you had to do was watch the new strong women on the TV sitcoms of the 1980’s“ – oder eben, so lässt sich ergänzen, die für uns titelgebenden Musikerinnen zu hören. Somit identifiziert Keller die sozialen Bewegungen als eine Ursache für den Wandel in der Wissenschaft und betont, dass dem Aufkommen von feministischer Wissenschaft und feministischer Wissenschaftstheorie die sozialen Bewegungen vorangegangen seien, jene also als ein „Nebenprodukt“190 der sozialen Bewegungen bezeichnet werden könnten. Kellers Analyse stimmt so mit den Positionen anderer Feministinnen und Feministen überein, die ebenfalls der Ansicht sind, dass nur ein gesamtgesellschaftlicher Wandel einen Wandel in den Wissenschaften auslösen könne, bzw. dass eine sexistische Gesellschaft auch eine sexistische Wissenschaft hervorbringe.191 Ebenso wie diese ist auch Schiebinger der Meinung, dass Frauen nicht einfach aufgrund der Tatsache, dass sie Frauen sind, die Wissenschaft veränderten.192 Dieser Mythos werde dem Erfolg der wissenschaftlichen Gender-Studies sowie feministischen Männern nicht gerecht. Anders als Keller räumt Schiebinger der Auseinandersetzung mit feministischen Theorien und Gender-Studies einen hohen Wert ein. Dennoch betont sie, dass die Unterstützung von Universitäten und Drittmittelgebern nötig sei, um neue Fragen bearbeiten und eine neue Richtung in der Forschung einschlagen zu können. Letztlich stimmt sie mit Keller überein, wenn sie schreibt: „Bringing feminism successfully into science will require difficult battles and a complex process of political and social change. Science departments cannot solve the problems themselves because the problems are deeply cultural“.193 Daher hält sie es für einfacher, Frauen in die Wissenschaft zu bringen, als wissenschaftliche Theorien und Praktiken zu verändern. Damit Feminismus in die Wissenschaften Einzug halten könne, seien Veränderungen in vielen Bereichen (wie 190 Ebd., eigene Übersetzung. 191 S. V. Rosser, „Are there feminist methodologies appropriate for the natural sciences and do they make a difference?“; L. Schiebinger, „Has Feminism Changed Science?“; E. Fee, „A feminist critique of scientific objectivity“, in: Science for the People, 14(4)/1982, S. 5-8; D. J. Haraway, Primate Visions: Gen der, Race, and Nature in the World of Modern Science. 192 L. Schiebinger, „Has Feminism Changed Science?“, S. 1173. 193 Ebd., S. 1174.
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beispielsweise in der Schulbildung, universitären Strukturen und der Beziehung von Berufs- und Privatleben) nötig.194 Ein gesellschaftlicher Wandel erklärt allerdings noch nicht, weshalb sich feministische Theorien und Praktiken in der Primatologie besser etablieren konnten, als in anderen Disziplinen und Forschungsfeldern. Beispielsweise zeigt Adrienne Zihlman, dass sich in der Evolutionsbiologie, insbesondere in der Erforschung der menschlichen Evolution, feministische Ansätze nicht durchsetzen konnten.195 Schiebinger lässt die Frage danach, warum sich in Studien der menschlichen Evolution feministische Ansätze schlechter durchsetzen konnten als in verwandten Forschungsfeldern wie der Primatologie und der Anthropologie, offen.196 In anderen Auseinandersetzungen mit feministischer Forschung in der Primatologie lässt sich ebenfalls keine Antwort auf diese Frage finden. Wenn schon unklar bleiben muss, inwiefern es sich bei der Primatologie um eine feministische Wissenschaft handelt und warum sich gerade in der Primatologie feministische Ansätze etablieren konnten, kann dennoch gefragt werden, ob in der Primatologie Chancengleichheit in Bezug auf eine wissenschaftliche Karriere von Frauen und Männern besteht. Die o. g. Zahlen (siehe Kapitel 1) lassen dies zumindest vermuten. Jüngere Daten zeigen allerdings, dass es sich trotz der hohen Anzahl von Frauen in der Primatologie keinesfalls um eine Disziplin handelt, in der Chancengleichheit herrscht.197 Schaut man sich die Statistiken genauer an, wird schnell deutlich, dass auch in der Primatologie verhältnismäßig wenig Frauen in Führungspositionen zu finden sind. Ähnlich wie Fedigan zuvor, zogen Elsa Addessi und ihre beiden Koautorinnen Mitgliederzahlen der International Primatological Society (IPS) heran, um dann jedoch nicht nur den allgemeinen Anteil an Frauen innerhalb dieser Fachgesellschaft, sondern die Frauenanteile in unterschiedlichen akademischen Positionen zu untersuchen.198 Es zeigte sich, 194 Ebd., eigene Übersetzung. 195 L. Schiebinger, Has Feminism Changed Science?, S. 139. 196 Ebd. 197 E. Addessi, M. Borgi, E. Palagi, „Is Primatology an Equal-Opportunity Dis cipline?“, in: PLoS ONE, 7(1)/2012, doi: 10.1371/journal.pone.0030458; L. A. Isbell, T. P. Young, A. H. Harcourt, „Stag Parties Linger: Continued Gender Bias in a Female-Rich Scientific Discipline“, in: PLoS ONE, 7(11)/2012, doi: 10.1371/journal.pone.0049682. 198 E. Addessi, M. Borgi, E. Palagi, „Is Primatology an Equal-Opportunity Disci pline?“
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dass, wie in vielen anderen wissenschaftlichen Disziplinen, auch in der Primatologie das so genannte „glass ceiling“ Phänomen auftritt. Hierbei handelt es sich um eine nicht sichtbare Barriere, die Frauen davon abhält, Führungspositionen einzunehmen. Während unter den Promovierenden und Postdocs signifikant mehr Frauen als Männer zu finden sind, werden 59,7 Prozent der vollen Professuren von Männern ausgefüllt.199 Angesichts des Gesamtfrauenanteils unter den wissenschaftlichen Bediensteten der IPS von 58 Prozent stellt sich die Frage, warum sich verhältnismäßig wenig Frauen in hohen akademischen Positionen finden lassen. Für die Autorinnen scheint klar zu sein, dass der Grund hierfür weder in biologischen Unterschieden noch offener Diskriminierung von Frauen liegen kann. Vielmehr sind sie der Meinung, dass die Ursache in Geschlechterunterschieden bezüglich familiärer Verantwortung, Ressourcen und Interessen liegt.200 Außerdem halten sie es für möglich, dass Frauen ihre Karriere weniger zielgerichtet angingen, nicht bereit seien, in Führungspositionen unpopuläre Entscheidungen zu treffen und sich seltener um prestigeträchtige Positionen bewürben.201 Hier schimmern essentialistische Tendenzen durch, die von anderen Autorinnen vermutlich nicht unhinterfragt mitgetragen werden. Zieht man zusätzlich Ergebnisse soziologischer Forschung zur Geschlechtersegregation auf dem Arbeitsmarkt heran, sind die Befunde von Addessi und ihren Kolleginnen wenig überraschend. Regine Gildemeister und Katja Hericks zeigen, dass Geschlechtertrennung auf dem Arbeitsmarkt sowohl eine vertikale als auch eine horizontale Dimension hat.202 Damit ist gemeint, dass Frauen und Männer in unterschiedlichen Branchen, Berufen und Tätigkeitsbereichen, aber auch in unterschiedlichen hierarchischen Positionen arbeiten, wobei Führungspositionen häufiger von Männern als von Frauen bekleidet werden.203 Diese Art der horizontalen Segregation findet sich auch unter den Beschäftigten am Deutschen Primatenzentrum. Sowohl der Direktor als auch der Administrative Geschäftsführer des DPZ sind Männer.204 Auf professoraler Ebene sind lediglich 26,7 199 Ebd., S. 3. 200 Ebd., S. 2. 201 Ebd. 202 R. Gildemeister, K. Hericks, Geschlechtersoziologie. Theoretische Zugänge zu einer vertrackten Kategorie des Sozialen, München 2012, S. 282. 203 Ebd., S. 280. 204 Deutsches Primatenzentrum. Leibniz-Institut für Primatenforschung, Über uns, (http://www.dpz.eu/de/ueber-uns/profil.html), zuletzt abgerufen am 04. 04.2017.
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Prozent Frauen, von den insgesamt 70 Postdocs sind ca. die Hälfte Frauen (48,6 Prozent) und unter den anderen Beschäftigten (Promovierende, Hilfskräfte, technisches Personal, Verwaltungspersonal) sind 63,1 Prozent Frauen.205 Auf der vertikalen Ebene gibt es viele Berufe, die klar männlich oder weiblich Konnotiert sind, so genannte „Frauen“- bzw. „Männerberufe“.206 Historische Analysen zeigen allerdings, dass sich diese geschlechtlichen Zuschreibungen auch wandeln können und so aus „Männerberufen“ „Frauenberufe“ werden oder umgekehrt.207 Bestehende „Geschlechtslabel“ bewirken wiederum, dass Personen sich gemäß ihrer eigenen Geschlechtlichkeit für entsprechende Berufe entscheiden: „Die jungen Frauen und Männer geben den von ihnen mehrheitlich gewählten Berufen also ihr Geschlecht, machen sie zu „Frauen“ – oder „Männerberufen“. Gleichzeitig aber validieren diese jungen Frauen und Männer die eigene Geschlechtszugehörigkeit durch ihre Berufswahl, denn diese findet ja auf der Grundlage des geschlechterdifferenzierten Arbeitsmarktes statt.“208 Wie oben bereits erwähnt, kann die Konnotation von Tätigkeitsfeldern und Entitäten als „weiblich“ zu einer Entwertung (De-Professionalisierung) von beruflicher Arbeit führen.209 Ob oder inwiefern aufgrund des hohen Frauenanteils in der Primatologie eine Abwertung stattgefunden hat, ist unseres Wissens nach bisher nicht untersucht worden. Es wurde ebenfalls 205 Eigene Erhebung auf Grundlage der Liste der Beschäftigten am DPZ: Deutsches Primatenzentrum. Leibniz-Institut für Primatenforschung, Mitarbeiterliste, (http://www.dpz.eu/de/kontakt/personen.html), zuletzt abgerufen am 04.04. 2017. 206 R. Gildemeister, K. Hericks, Geschlechtersoziologie. Theoretische Zugänge zu einer vertrackten Kategorie des Sozialen, S. 281. 207 Diese Verschiebungen der Geschlechterrollen innerhalb bestimmter Berufs gruppen, etwa vom Apotheker zur Apothekerin, bzw. von der Schriftsetzerin zum Schriftsetzer, haben häufig auch mit einer statusbedingenden Ausdif ferenzierung der jeweiligen Berufsfelder zu tun. So lässt sich beispielsweise zeigen, dass der Beruf der Sekretärin erst durch die Aufteilung der vormals umfassenden Büro- und Verwaltungsarbeiten entstand, indem die manuellen Anteile der Arbeit (das Schreiben mit der Schreibmaschine) den Frauen zuge wiesen wurden, während die statushöheren sachlich-inhaltlichen Anteile wei terhin Aufgabe der Männer blieben. (Vgl. B. Stiegler, „Weder Verantwortung noch Selbständigkeit – Das Beispiel Frauenarbeit in Schreibdiensten und Se kretariaten“, in: R. Winter (Hrsg.), Frauenverdienen mehr. Zur Neubewertung von Frauenarbeit im Tarifsystem, Berlin 1994, S. 197-211.) 208 R. Gildemeister, K. Hericks, Geschlechtersoziologie, S. 281, Hervorhebung im Original. 209 Ebd., S. 280.
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nicht untersucht, ob sich feministische Theorien und Praktiken in weiblich konnotierten wissenschaftlichen Disziplinen besser etablieren als in männlichen. Die „Feminisierung“ der Primatologie könnte eine mögliche Erklärung dafür sein, weshalb sich dort feministische Ansätze etabliert haben, während in der „männlichen“ Evolutionsbiologie feministische Theorien nach ihrem Aufkommen wieder verdrängt wurden. Eine weitere Untersuchung zur Chancengleichheit in der Primatologie wurde von Lynne Isbell und ihren Koautoren durchgeführt. In ihrer Studie versuchen sie herauszufinden, ob die Unterrepräsentation von Frauen auf Konferenzen auf deren Mangel an Durchsetzungsvermögen oder die fehlende Anerkennung durch ihre männlichen Kollegen zurückzuführen ist.210 Dazu untersuchen sie die Geschlechterverhältnisse bei Posterpräsentationen und wissenschaftlichen Vorträgen in der Primatologie. Ihre Analyse von 21 jährlichen Konferenzen der American Association of Physical An thropologists zeigt, dass Frauen im Gegensatz zu Männern eher Poster präsentieren als Vorträge halten. Poster werden häufig zu Beginn einer wissenschaftlichen Karriere präsentiert und werden oft geringer geschätzt als Vorträge. Der hohe Frauenanteil an Posterpräsentationen könnte ein Anzeichen von „Selbstselektion“211 sein, was bedeuten würde, dass Frauen sich eher um Posterpräsentationen bewerben als um Vorträge. Ein zusätzliches Bias gegen Frauen bei der Auswahl von Bewerbungen kann allerdings nicht ausgeschlossen werden.212 Ein weiteres interessantes Ergebnis der Studie ergab sich aus der Analyse von Symposien. Wenn diese von Frauen organisiert wurden, waren fast 64 Prozent der Vortragenden Frauen. Diese Zahl sank auf 58,8 Prozent bei einem Organisationsteam bestehend aus Frauen und Männern. Schließlich fiel sie auf nur noch knapp 29 Prozent, wenn die Organisation ausschließlich Männern oblag.213 Dieses Ergebnis reflektiert möglicherweise die fehlende Anerkennung von Primatologinnen durch männliche Kollegen und/oder eine größere Homophilie unter Männern.214 Bezüglich des „glass-ceiling“ Phänomens vertreten Isbell et al. die Meinung, dass dieses nur selten von Primatologen selbst erzeugt würde. Sie schreiben: „the glass ceiling 210 L. A. Isbell, T. P. Young, A. H. Harcourt, „Stag Parties Linger“. 211 Ebd., S. 2, eigene Übersetzung. 212 Ebd. 213 Ebd., S. 3. 214 Ebd., S. 4.
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may be something largely out of the control of primatologists because decisions on hiring and promotion are often made at the departmental level or higher.“215 Während diese Einschätzung möglicherweise auch darauf zurückzuführen ist, dass der Artikel von zwei Autoren und nur einer Autorin verfasst wurde, verweist sie auch auf die oben angesprochenen gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, die notwendig seien, um Chancengleichheit in den Wissenschaften zu erreichen und eine feministische Wissenschaft zu etablieren. Während sich mit Verweis auf gesamtgesellschaftliche Veränderungen und soziale Bewegungen die Etablierung feministischer Ansätze in der Primatologie erklären ließe, bleibt wie bereits erwähnt, die Frage, weshalb sich feministische Theorien in anderen Disziplinen kaum oder gar nicht durchgesetzt haben, bzw. überhaupt nicht aufkamen, unbeantwortet. Der geringe Frauenanteil in anderen (Natur-)Wissenschaften, wie beispielsweise der Mathematik, ist ebenfalls keine zufriedenstellende Erklärung für die Unterschiede zwischen den Disziplinen. Um dieser Frage nachzugehen, müssten einzelne Disziplinen genauer analysiert und miteinander verglichen werden, was wir im Rahmen dieser Arbeit nicht leisten können. Nun könnte vermutet werden, dass die Primatologie aus verschiedenen Gründen besonders durchlässig und deshalb offen für Einflüsse sozialer Bewegungen sei. Allerdings stellt sich dann die Frage, weshalb andere gesellschaftliche Bewegungen wie QueerBewegungen216 sich weder institutionell noch auf konzeptueller Ebene in der Primatologie niedergeschlagen haben.217 Dieser Frage wurde ebenfalls bisher nicht nachgegangen. 215 Ebd. 216 Queer-Theorien sind poststrukturalistisch geprägte Theorien, die neben den Kategorien „Sex“ und „Gender“ auch sexuelles Begehren einbeziehen. 217 Es gibt zwar einzelne Untersuchungen zu Homosexualität unter Primaten (zum Beispiel: P. L. Vasey, „Homosexual behavior in primates: A review of evidence and theory“, in: International Journal of Primatology, 16(2)/1995, S. 173-204; G. Hohmann, B. Furth, „Use and function of genital contacts among female bonobos“, in: Animal Behaviour 60(1)/2000, S. 107-120), aber von einer Etablierung von Queer-Theorien oder Queer-Studies in der Prima tologie kann nicht gesprochen werden. In anderen wissenschaftlichen Diszipli nen wie der Anthropologie und der Archäologie zeigt sich dagegen ein anderes Bild. Die institutionelle Etablierung der Queer-Bewegung drückt sich dort un ter anderem durch die Bildung von Fachgesellschaften wie der „Association for Queer Anthropology“ oder der „Queer Archaeology Interest Group“ der „So ciety for American Archaeology“ aus. Zudem lassen sich in beiden Disziplinen wissenschaftliche Arbeiten von queeren Forschenden sowie Arbeiten über Homosexualität, die auf Queer-Theorien Bezug nehmen, finden (zum Beispiel:
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Resümee Wie wir in unserem überblickshaften Durchgang zeigen konnten, ist der eingangs von uns provisorisch abgesteckte Rahmen zwischen den Aussagen von Gould und Leakey zur Frage nach der Rolle von Frauen in den Wissenschaften überholt. Weder ein Ausblenden von Geschlechtlichkeit zugunsten einer vermeintlich objektiv verfahrenden Wissenschaft noch ein Reduzieren auf stereotype Rollenzuschreibungen bei der Ausübung spezifischer Forschungsaufgaben wird den Arbeiten von weiblichen Forschenden gerecht. Bereits bei der initialen Entscheidung, als Primatologin zu arbeiten, offenbaren sich unterschiedlichste, miteinander verwobene biografische, gesellschaftspolitische und ökonomische Erklärungsmodelle. Ebenso vielfältig und möglicherweise widersprüchlich fallen dann die Theorien, Methoden und Forschungspraktiken aus, die von Forscherinnen aufgegriffen, ausgewählt und angewandt werden. Gerade aufgrund der Uneinheitlichkeit feministischer Ansätze, Standpunkte und Motivationen wird deutlich, weshalb keine umfängliche Klärung der Frage danach, ob die Primatologie exemplarisch als Identifikationsfolie einer feministischen Wissenschaft erachtet werden kann, möglich ist. Vielmehr können die unterschiedlichen Antwortmöglichkeiten die verschiedenen Standpunkte spiegeln, welche allesamt die je wissenschaftliche Forschung in einem größeren Zusammenhang kontextualisieren. Lediglich der Grundgedanke, dass Geschlechtlichkeit mit Blick auf die Wahrnehmung und das Verständnis von Verhalten und Handlungspraktiken als relevante Größe in jedem Forschungsprozess mitgedacht werden muss, lässt sich als Konstante innerhalb der verschiedenen Ansätze festhalten. Doch bereits bei der Frage, ob diese Relevanz mit Blick auf ontologische, epistemologische, methodologische, forschungspraktische oder nicht zuletzt E. Lewin, W. L. Leap (Hrsg.), Out in the field. Reflections of lesbian and gay anthropologists, Champaign (Illinois) 2008; T. Boellstorff, „Queer Studies in the House of Anthropology“, in: Annual Review of Anthropology, 36/2007, S. 17-35; U. U. Matić, „(De)queering Hatshepsut: Binary Bind in Archaeology of Egypt and Kinship Beyond the Corporeal“, in: Journal of Archaeological Method and Theory, 23/2016, S. 810-831). Diese Frage muss hier ebenfalls unbeantwortet bleiben. Doch die hier nur kurz beschriebenen Unterschiede zwischen verwandten Disziplinen wie der Anthropologie und der Primatologie legen nahe, dass es neben dem gesellschaftlichen Wandel auch andere Fakto ren geben muss, die die Etablierung bestimmter Theorien begünstigen oder hemmen. Möglicherweise sind diese Gründe auch im Forschungsgegenstand selbst zu suchen.
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politische Bezüge gefasst werden soll, hängt notwendig von den jeweiligen Autorinnen und Autoren ab. Dies darf jedoch nicht als Mangel ausgelegt werden, sondern ist vielmehr dem vermeintlich vereinheitlichenden Label „Feminismus“ zuzuschreiben, welches die facettenreichen Spielweisen ignoriert. Fraglos bleibt auch, dass Frauen – ob mit feministischer Motivation oder nicht – die Wissenschaften spätestens seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts nachhaltig geprägt haben. Dies wird gerade am Beispiel der Primatologie deutlich, welche sogar im englischsprachigen WikipediaEintrag – als Repräsentation eines alltagsgeprägten Wissensreservoirs – einen verhältnismäßig umfangreichen Abschnitt mit dem Titel „Women in Primatology“ aufweist.218 Eines der großen Verdienste dieser Frauen ist, dass sie bestehende Theorien, Modelle und Paradigmen ihrer Disziplin einer kritischen Reflexion unterziehen konnten, indem sie eine dezidiert weibliche, feministische oder gendersensible Perspektive einnahmen. Es wäre jedoch verfehlt, hier einen Essentialismus im Sinne Leakeys zu vermuten, der Forscherinnen als Frauen eine andersgeartete Sensibilität im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen attestiert. Es ließe sich eher davon sprechen, dass die von uns hervorgehobenen Forscherinnen aufgrund ihrer gesellschaftspolitischen, sozioökonomischen und biografischen Situiertheit offener für vom Standard abweichende Methodologien und Forschungspraktiken sind. So gelang es ihnen mit einem kritischen Zugang, das Forschungsmilieu innerhalb der Primatologie selbst zum Forschungsgegenstand zu machen und dadurch einen Ansatz, der von einer kontextunabhängigen, verbindlichen Bestimmung der untersuchten Tiere ausgeht, hin zu einer Perspektive, die Forschende und Erforschte als Akteure in einer Relation erfasst, zu verschieben. So konnten traditionelle Auffassungen geschlechtsspezifischer Rollenverteilungen hinterfragt und die mit diesen transportierten Muster und Narrationen einer biologisch legitimierten heteronormativen Ordnung kritisch reflektiert werden, welche durch eine systematische Verzerrung und unreflektierte Voreingenommenheit ihrer männlichen Kollegen zuvor stabilisiert und stets aufs Neue reproduziert wurden. Klar ist selbstverständlich auch, dass diese Ansätze selbst nicht frei von Voreingenommenheiten sind und sein können. Doch gelingt es feministischen Positionen 218 Wikipedia, the free Encyclopidia, Lemma „Primatology“, (https://en.wikipedia. org/wiki/Primatology#Women_in_Primatology), zuletzt abgerufen am 04.04. 2017.
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vermutlich eher, dieses aktiv eingebrachte Bias im Forschungsprozess explizit zu machen und mitzureflektieren, als es traditionellen Auffassungen gelang und gelingt, eine häufig im blinden Fleck liegende androzentrische Brille zu bemerken. Wie diese Kritik konkret formuliert wurde, wie neue Methodologien entwickelt und eingesetzt und neue Befundlagen aufgenommen und dargestellt wurden, hängt erneut stark von den verschiedenen Positionen ab, aus denen sie hervorgingen. Dass dieser Widerstand gegenüber den etablierten Standards nicht ohne Zähneknirschen seitens der Vertreter und Vertreterinnen der herrschenden Normalwissenschaft aufgenommen wurde, zeigen die Kritiken, Revisionen und Vorwürfe gegenüber einzelnen Autorinnen, wie wir sie am Beispiel von Jane Goodall und Donna Haraway exemplarisch aufgeführt haben. Vor dem Hintergrund unserer Darstellung einer nachhaltig durch widerständige und rebellierende Forscherinnen geprägten Disziplin, haben wir diese als Riot Grrrl Primatology aufgefasst.
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Im Angesicht der Gesichter: Technologien des Gesichtsverlusts in der Tierforschung
„It is probably no mere historical accident that the word person in its first meaning is a mask. It is rather a recognition of the fact that everyone is always and everywhere, more or less consciously, playing a role … It is in these roles that we know each other; it is in these roles that we know ourselves.“1
1. Einleitung Pavlo hat so einen wunderbar geschmeidigen Körper, er ist klein und herrlich pelzig. Jeden Morgen wenn ich aufwache, springt er auf das Bett und beginnt mit seiner morgendlichen Gesichtsbehandlung, leckt Nasenlöcher und Augäpfel und all die falschen Stellen – und das alles mit großer Sorgfalt. Ich betrachte es als selbstverständlich, dass Menschen enge Bin dungen mit (einigen) anderen Tieren eingehen können und dies auch tun. Vielmehr bin ich daran interessiert, wie diese Art der Kommunikation im Prozess der wissenschaftlichen Forschung ge hemmt wird – sowie an den normativen Herausforderungen, die dadurch für in der Tierforschung tätige Menschen entstehen. Das Schlüsselkonzept, welches meiner Analyse zugrunde liegt, ist das Gesicht. Aufbauend auf den Arbeiten von David Morris, Peter At terton und Emmanuel Levinas verstehe ich das Gesicht als eine Oberfläche, welche, zum Teil durch seine sensorischen Aspekte, et was jenseits des sensorisch Wahrgenommenen kommuniziert, so zusagen eine unsichtbare Tiefe: das Sein eines Anderen.2 Mein Kon 1 R. E. Park, Race and Culture, Glencoe (IL) 1950, S. 249. Zitiert in E. Goffman, The presentation of self in everyday life, Garden City (NY) 1959, S. 19. 2 D. Morris, „Faces and the invisible of the visible: Toward an animal ontology“, in: PhaenEx, 2(2)/2007, S. 124-169; P. Atterton, „Levinas and our moral respon sibility toward other animals“, in: Inquiry, 54(6)/2011, S. 633-649; E. Levinas, Totality and infinity, übersetzt von A. Lingis, Pittsburgh (PA) 1969 [1961]. – Anm. d. Übers.: Da Attertons Levinas-Lektüre eine wichtige Bedeutung für den vorliegenden Beitrag hat und sich auf die englische Übersetzung von Levinas
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zept von Gesicht erweitert die alltägliche Vorstellung des Gesichts als „Kopf-Gesicht“ um weitere körperliche oder verkörperlichte Aspekte, welche das innere Sein eines Anderen ausdrücken können: z. B. Stimmen, Gerüche und Körperbewegungen. Um der Klarheit willen werde ich dieses Konzept in Großbuchstaben als GESICHT bezeichnen. Wie also wird die Kommunikation zwischen Mensch und Tier gehemmt? Anstatt dies als einen Prozess der Objektifizierung3 (in Bezug auf Tiere) oder der Distanzierung4 (in Bezug auf Forschende) zu analysieren, formuliere ich es als einen Prozess des Gesichts verlusts, welcher im Rahmen der Forschung sowohl Tiere als auch Menschen betrifft. Ich behaupte, dass innerhalb der Tierforschung Technologien allgegenwärtig sind, welche performative (affektive und kognitive) Strategien der Analytikerwerdung5 – sprich, das Betrach ten des Tiers als ein, wie Michael Lynch sagt, „analytisches“ Ob jekt – unterstützen, denen eine moralische Dimension innewohnt.6 Meiner Ansicht nach gibt es fünf Arten von, wie ich sie nenne, Tech nologien des Gesichtsverlusts, welche der Strukturierung solcher stützt, wird im Folgenden nicht nur Atterton, sondern auch Levinas in der eng lischen Fassung zitiert. Entsprechend wird im Folgenden auch nicht der in der deutschen Levinas-Übersetzung etablierte Ausdruck „Antlitz“ (vgl. die von Wolfgang Nikolaus Krevani stammende Übersetzung: E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit: Versuch über die Exteriorität, 4. Aufl., Freiburg i. Br., München, 2002), sondern durchgehend „face“ und als Rückübersetzung „Gesicht“ ver wendet. 3 Vgl. M. C. Nussbaum, „Objectification“, in: Philosophy & Public Affairs, 24(4)/ 1995, S. 249-291. 4 Lynda Birke, Arnold Arluke und Mike Michael argumentieren, dass Forschen de und im Labor Arbeitende den Umgang mit moralischen Dilemmata lernen, welche im Rahmen von Tierversuchen auftreten, indem sie psychologische Stra tegien entwickeln, um sich von der schmerzlichen Situation zu distanzieren; sie sehen diese psychologischen Distanzierungsstrategien als Identitätstransforma tionen, die durch die wissenschaftliche Ausbildung entstehen. Vgl. L. Birke, A. Arluke, M. Michael, The sacrifice: How scientific experiments transform animals and people, Indiana 2007, S. 127; S. 78. 5 Erving Goffman versteht Performance als „all the activity of a given participant on a given occasion which serves to influence in any way any of the other partici pants“ who can thereby be characterized as an „audience“, „observers“ or „co- participants“, vgl. E. Goffman, The presentation of self in everyday life, S. 26. Im Gegensatz dazu konzentriert sich meine Analyse darauf, inwiefern Performance selbst durch kulturelle und wissenschaftliche Kontexte geprägt ist. 6 M. Lynch, „Sacrifice and the transformation of the animal body into a scientific object: Laboratory culture and ritual practice in the neurosciences“, in: Social Studies of Science, 18(2)/1988, S. 265-289.
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Begegnungen dienen: 1. Errichtete Architekturen, 2. Eingangs- und Ausgangsvorgänge, 3. Schutzkleidung und Ausrüstung, 4. Mechanis men der Identifizierung und Benennung, 5. Versuchsverfahren. Ich behaupte, dass diese Technologien die GESICHTER von Tieren und Menschen verschleiern (und ihnen dabei häufig ein neues GESICHT aufsetzen): Sie verwandeln das physische Erscheinungsbild sowie au ditive, haptische, olfaktorische und andere Sinneseindrücke und struk turieren Begegnungen im Labor so, dass an der Forschung Beteiligte ihre beruflichen Rollen und Verantwortungen erfüllen können. Nichtsdestotrotz ist der Gesichtsverlust niemals vollständig. Bei der Gestaltung von Experimenten reicht die Konzeption der betei ligten Tiere von „gesichtslos“ – im Sinne gekaufter, überprüfter und nach der Benutzung entsorgter Laborausstattung – bis hin zu einer Vorstellung von ihnen als anderen Tieren, denen Menschen „ins Gesicht sehen“ und deren Verhalten, Schmerzen und Körper Tier forschende in Bezug zu ihren eigenen setzen können und sollten. Dadurch entsteht eine Belastung für Menschen, die in der Forschung mit Tieren arbeiten. Trotz etablierter Vorgänge, die dazu dienen, eine „forschungsethische Bewilligung“ zu erhalten, gibt es innerhalb der Tierforschung immer noch distinktive normative Herausforderun gen, da empfundene Gleichwertigkeiten zwischen Tieren und Men schen – im Sinne eines Anderen mit einem GESICHT – im Rahmen der in der Tierforschung stattfindenden Begegnungen entstellt wer den. Die humanimale Forschungsethik, wie ich sie nenne, hebt diese Begegnungen, welche von den üblichen Ethikrichtlinien innerhalb der Tierforschung außen vor gelassen oder nicht beachtet werden, als entscheidenden Fokus ethischer Aufmerksamkeit hervor. Mein Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Abschnitt 2 bringt eine Schwierigkeit zur Sprache, mit der ich mich an dieser Stelle befas sen möchte: die normativen Herausforderungen, denen Menschen in der Tierforschung ausgesetzt sind. Aufbauend auf den Arbeiten von Emmanuel Levinas, Peter Atterton und David Morris stellt Abschnitt 3 ein philosophisches Verständnis des Gesichts als aus drucksstarke, verständige Oberfläche vor, welche die Existenz einer inneren Tiefe oder Lebendigkeit – eines Seins – bezeugt. Abschnitt 4 legt nahe, dass Begegnungen zwischen Menschen und Tieren im Labor über, wie ich es nenne, Technologien des Gesichtsverlusts ablaufen. Ich schließe mit der Forderung nach einer humanimalen Forschungsethik. Doch zunächst möchte ich ausführen, wie ich auf diese Fragen gestoßen bin.
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2. Hintergrund: ELSI, Ethik und implizite normative Herausforderungen in der Tierforschung 2.1 Die Philosophin im Labor Ich habe als Philosophin bei einem Projekt mitgearbeitet, in wel chem Werkzeuge für die Systembiologie entwickelt wurden. Sys tembiologie ist ein relativ junges Forschungsgebiet, von welchem (wie bei der synthetischen Biologie oder der Nanotechnologie) an genommen wird, dass es möglicherweise auf eine Art und Weise innovativ sein könnte, die von Gesellschaften antizipiert und gege benenfalls kontrolliert werden sollte. In solchen sich entwickelnden Zweigen der Wissenschaft gibt es den Anstoß, dass Forschende aus Philosophie und Sozialwissenschaft frühzeitig an der Forschung be teiligt werden sollten, mit dem Ziel, ethische, rechtliche und gesell schaftliche Aspekte von Technologien zu antizipieren, bevor diese in Produktionssysteme eingebettet werden und dadurch schwer zu verändern sind. Im Zuge eines solchen Projektes hatte ich zwischen Januar 2012 und Frühjahr 2013 ein Büro in einer medizinischen Einrichtung in Norwegen. In diesem Zeitraum konnte ich etwa sechs Monate lang Tierforschung verfolgen, inklusive des Trainings und der Opferung von Nagetieren.7 Systembiologie ist ein interdisziplinäres Fachgebiet, welches da rauf abzielt, Forschende aus angewandter Mathematik und Infor matik mit Forschenden aus der Biologie in Kontakt zu bringen, um neue Ansätze innerhalb der Biologie zu entwickeln: Dies geschieht hauptsächlich durch die Entwicklung von Berechnungsmodellen für biologische Vorgänge und Berechnungswerkzeugen für das Ver walten von biologischen Daten und Informationen, zum Beispiel Wissensdatenbanken und Ontologien. Das Fachgebiet entwickelte sich aus dem Erfolg der computergestützten Sequenzierung des menschlichen Genoms. Dasselbe gilt für die ELSA Forschung: Auch sie ist ein Nebenprodukt des ELSI-Zweigs des Humangenompro 7 Mir wurde die Erlaubnis, dieser Forschung entstammende empirische Daten, inklusive Interview- und Fotomaterial, zu verwenden, zwei Jahre nach unserer Arbeit von anderen Forschungsteilnehmenden entzogen. Dies geschah infolge einer Videopräsentation auf YouTube, welche Bedenken darüber, welches Ver fahren das Projekt anwendete, um bewilligt zu werden, auslöste, sowie darüber, dass Forschende durch kontextuelle Informationen identifiziert werden könnten. Daher teile ich hier den Kern meiner philosophischen Erkenntnisse mit, ohne dieses Material zu verwenden.
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jekts, welchem ein Teil des Budgets zugeteilt wurde, um die ethi schen, rechtlichen und sozialen Belange (Ethical Legal and Social Issues), welche im Zusammenhang mit der Bearbeitung von gene tischen Informationen stehen, für verschiedene Öffentlichkeiten zu reflektieren. Mein Interesse an Wissenschaftsphilosophie brachte mich zur Tierforschung: die Frage danach, wie und warum man von Nass labormodellen, einschließlich Zelllinien und Tiermodellen, zu Tro ckenlabor- und Rechenmodellen übergeht.8 Ich war insbesondere daran interessiert, wie ein banales Tier wie die Ratte zu einem wis senschaftstauglichen Wesen werden konnte. Ich habe darüber ge schrieben, wie einige Alltagskonzepte Eingang in die Wissenschaft fanden. In meinem Verständnis besteht dieser Vorgang daraus, Ideen in der Wissenschaft zu entdecken und zu begründen; ich konzepti onalisierte diese Art der Gewinnung als „gefundene Wissenschaft“, analog zu einer Art von Kunst, die aus alltäglichen Gegenständen erschaffen wird, dem „Objet trouvé“.9 Was im Kontext der Tierforschung jedoch mein Interesse weckte – oder vielmehr: was mich weckte – war nicht die epistemologische Dimension von Tiermodellen, sondern die praktischen Schwierig keiten des Experimentierens mit Tieren – also das, was man als die praktische, ethische Dimension der Arbeit bezeichnen könnte. Das Wort „Ethik“ leitet sich von dem griechischen Wort ethos ab, welches im Griechischen eine Doppelbedeutung hat (so wie mo res im Lateinischen). „Ethos“ kann einer Person oder einer Prak tik zugeschrieben werden und verweist dann auf den Charakter 8 Fachliteratur zu diesem Thema ist bereits in großem Umfang verfügbar – z. B. S. de Chadarevian, „Of worms and programmes: Caenorhabditis elegans and the study of development“, in: Studies in History and Philosophy of Science, 29/1998, S. 81-105; R. Meunier, „Stages in the development of a model organ ism as a platform for mechanistic models in developmental biology: Zebrafish, 1970–2000“, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences, 43/2012, S. 522-531; R. A. Ankeny, S. Leonelli, „What’s so special about model organisms?“, in: Studies in History and Philosophy of Science, 42/2011, S. 313-323. 9 S. Efstathiou, The use of ‚race‘ as a variable in biomedical research, UC San Diego: Doktorarbeit, 2009. Zugänglich unter (http://escholarship.org/uc/item/ 18s69193), zuletzt abgerufen am 07.06.2017. S. Efstathiou, „How Ordinary Race Concepts Get to be Usable in Biomedical Science: An Account of Founded Race Concepts“, in: Philosophy of Science, 79/2012, S. 701-713; S. Efstathiou, „Is it possible to give scientific solutions to Grand Challenges? On the idea of grand challenges for life science research“, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences, 56/2016, S. 48-61.
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der Person oder der Praktik; es kann aber auch auf Gewohnheiten oder übliche Verhaltensweisen einer Person oder Kultur verweisen. Man könnte in der Tat sagen, dass diese zweite Bedeutung bei der Bestimmung der ersten eine Rolle spielt. Das Wort „Charakter“ ist vom griechischen Verb charazo abgeleitet, welches „meißeln“ bedeutet. Der eigene Charakter wird also gemeißelt und durch gewohnheitsmäßige Verhaltensweisen geformt – und er wird oft von anderen auf Grundlage solcher wiederholten Verhaltensweisen bestimmt. Wenn ich am Freitag zu spät zu einem Meeting komme, am Dienstag zu spät zu einem Meeting komme und am Mittwoch ebenfalls, dann könnte die Aussage „Sophias Zeitmanagement ist nicht gut“ gerechtfertigt sein; oder man könnte ein noch härteres Urteil fällen, wie etwa: „Sie ist respektlos“. Wir charakterisieren Menschen auf Grundlage ihrer Verhaltensweisen, welche wir über einen gewissen Zeitraum beobachtet und gemustert haben, und dies erfordert, dass wir bemerken, wie sie sich gewöhnlich verhalten. Das Ethos einer Praktik zu ermitteln, wird entlang dieser Inter pretation dann also zur Frage danach, wie „wir“ (Menschen oder Gemeinschaften) uns selbst und die Welt durch gewohnheitsmä ßige Handlungen und Praktiken sowie deren Interpretationen in Form meißeln – also welchen Charakter wir gerne für uns selbst und unser Umfeld formen möchten. Das Formen der Welt durch analytisches Urteilsvermögen und klassifikatorische Praktiken – das „Zergliedern der Natur an ihren Gelenken“, welches der Wissenschaft von vielen zugeschrieben wird – umfasst wissenschaftliche Praktiken mit eigenem Charak ter, welche genauso wie die Menschen und Nicht-Menschen, die an ihnen teilnehmen, geformt wurden und einen Raum bilden, in welchem ontologisch-epistemologisch-ethische Fragen auftreten können. In der Tierforschung, wo man Wesen begegnet, deren Körper schmerzen können, wenn man sie auseinandernimmt, wird diese Dimension des analytischen Arbeitens eindrücklich – und schwie rig. Meine Frage – von der ich bemerkte, dass sie durch das Arbei ten im Tierlabor beantwortet wird – war also nicht, wie Tiere als wissenschaftliche Modelle wahrgenommen und bearbeitet werden konnten, sondern vielmehr (oder auch), wie Menschen dazu fähig werden, auf Tiere zu- und mit ihnen umzugehen, als seien sie Mo delle. Wie werden Menschen und Tiere zu Menschen und Tieren der/für die Wissenschaft?
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2.2 Ausführungen zu ethischen Prinzipien in der Tierforschung Obwohl die Verwendung von Tieren in der Forschung höchst um stritten ist, ist sie dennoch allgegenwärtig. Die Nationalen Gesund heitsinstitute der USA berichten, dass 47 % ihrer bewilligten For schungszuschüsse einen Tierforschungsanteil beinhalten und dass jedes Jahr schätzungsweise zwischen 12 und 14,5 Milliarden Dollar Steuergelder für diese Zuschüsse ausgegeben werden. In der EU wurden allein im Jahr 2011 11,5 Millionen Tiere (Fische nicht ein gerechnet) für Forschungszwecke verwendet. Tierversuche finden Anwendung in toxikologischen Untersuchungen, bei der Freigabe von tiermedizinischen und medizinischen Applikationen sowie in der Ausbildung; ein Großteil der Forschung an Tieren geschieht al lerdings in der biologischen Grundlagenforschung. Die Prinzipien der ethischen Verwendung von Tieren in der Forschung werden gegenwärtig durch Praxisstandards sowie Ge setze und Vorschriften erläutert. In den USA wird Tierforschung hauptsächlich durch die AAALAC International (Association for Assessment and Accreditation of Laboratory Animal Care) regu liert. Das Einholen einer Zustimmung der AAALAC geschieht auf freiwilliger Basis – in Wirklichkeit wird der AAALAC-Standard allerdings von allen wichtigen Forschungsförderern in den USA verlangt.10 Im Europäischen Raum hingegen ist der sorgsame Um gang mit Tieren gesetzlich durch die EU Verordnung 2010/63, ETS 123 geregelt. Nach Europäischem Gesetz muss die Forschung danach streben, Verfahren an lebenden Tieren für Wissenschafts- oder Bildungs zwecke vollständig zu ersetzen, sobald dies wissenschaftlich mög
10 Zurzeit sind über 900 Institutionen in 39 Ländern von der AAALAC anerkannt. Die erklärte Philosophie der AAALAC ist es, die nationalen Richtlinien für das Umsorgen von Tieren in den Kontexten, in denen sie operiert, zu respektieren und über diese hinauszugehen. Es wurden Bedenken hinsichtlich der höheren Anzahl an Verstößen geäußert, welche in von der AAALAC International anerkannten Institutionen im Vergleich zu staatlich finanzierten Institutionen beobachtet wurden, was nahelegt, dass die interne AAALAC Aufsicht unter Umständen nicht ausreicht – vgl. D. Grimm, „Animal welfare accreditation called into question: PETA study finds violations more often in approved labs“, in: Sci ence, 345(6200)/2014, S. 988. Diese Ergebnisse könnten mit dem Ausmaß der Tätigkeiten von durch die AAALAC anerkannten Anlagen, im Vergleich zu an deren Laboren, zu tun haben (ebd.).
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lich ist.11 Es wird von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen erwartet, dass sie nach Alternativen zu Tiermodellen suchen, etwa durch die Entwicklung von alternativen Nasslabormodellen, wie zum Beispiel Zelllinien oder Plasma, aber auch durch die Entwick lung von Trockenlabor-Rechenmodellen, welche die biologischen Phänomene, die untersucht werden sollen, simulieren. Diejenigen, die bis dahin tierbasierte Forschung betreiben, sind dazu angehalten, sich an die sogenannten „3 Rs“ des sorgsamen Umgangs mit Tieren zu halten: Das Reduzieren (Reduce) der Anzahl von Versuchstieren, die im Rahmen einer Studie verwendet werden, wobei die Anzahl und die Art der Verfahren, welche an einem einzelnen Tier durch geführt werden, verhältnismäßig sein sollen; das Ersetzen (Repla ce) von höheren Lebensformen durch weniger empfindungsfähige Organismen; das Weiterentwickeln (Refine) des Experimentalauf baus, um negative Auswirkungen auf die Tiere zu verringern und deren Lebensqualität zu verbessern.12 Diese Richtlinien wurden – hauptsächlich auf Grundlage von über institutionelle, private oder staatliche Tierforschungs-Ethikgremien durchgeführte „SchadenNutzen“-Analysen – in Form von Kriterien zur Genehmigung von Forschung anwendbar gemacht. Wie in der klinischen Arbeit erfordert die Globalisierung in der Tierforschung hinreichend simple Praxisstandards, welche über Ländergrenzen hinaus abgeglichen und vereinheitlicht werden kön nen.13 Die Globalisierung bringt die Notwendigkeit mit sich, die im plizite Ethik einer Praxis explizit zu machen.14 Was jedoch weder in den freiwilligen, noch in den rechtsverbindlichen Anforderungen für 11 Vgl. DIRECTIVE 2010/63/EU OF THE EUROPEAN PARLIAMENT AND OF THE COUNCIL of 22 September 2010 on the protection of animals used for sci entific purposes. Zugänglich unter (http://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/ TXT/?uri=celex%3A32010L0063), zuletzt abgerufen am 05.06.2017. 12 Die 3 Rs basieren auf W. M. S. Russell, R. L. Burch, The principles of humane experimental technique, 1959, zugänglich unter (http://altweb.jhsph.edu/pubs/ books/humane_exp/het-toc), zuletzt abgerufen am 05.06.2017. 13 Vgl. S. W. Glickman, J. G. McHutchison, E. D. Peterson, C. B. Cairns, R. A. Har rington, R. M. Califf, K. A. Schulman, „Ethical and scientific implications of the globalisation of clinical research“, in: New England Journal of Medicine, 360(8)/2009, S. 816-823. 14 D. Matten, J. Moon, „‚Implicit‘ and ‚explicit‘ CSR: A conceptual framework for a comparative understanding of corporate social responsibility“, in: Academy of Management Review, 33(2)/2008, S. 404-424; S. Granum Carson, Ø. Hagen, P. S. Sethi, „From implicit to explicit CSR in a Scandinavian context: The cases of HÅG and Hydro“, in: Journal of Business Ethics, 127(1)/2013, S. 17-31.
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Tierforschung artikuliert wird, ist die Frage, wie man mit mensch lichen Teilnehmenden in diesem Arbeitsfeld umgehen sollte: Was ist unsere (sozial-)ethische Verantwortung gegenüber Menschen in diesem Arbeitsfeld? 2.3 Was implizit bleibt Tierforschung ist schwierig. Ziehen wir beispielsweise die von Ni cole Nelson aufgezeichnete Aussage des Studenten „Alex“ in Be tracht: „Die Ratten, bei denen ich im Rahmen der von mir durchge führten Experimente eine Mikroinjektion durchführen musste, die waren – ich hab’ das einfach nicht ausgehalten. Ich war ihretwegen den Tränen nahe, weil sie es hassen. … Und man redet mit Leuten und die sagen einem, ‚Ach, weißt du, du solltest ein Handtuch um sie wickeln, damit du sie besser zu fassen kriegst und sie sich nicht so sehr wehren.‘ Und es ist so, naja, das Wehren ist nicht das Pro blem, oder ob sie in Handtücher gewickelt sind oder nicht; sondern die Tatsache, dass ich weiß, dass ich diesen Tieren gerade physische Schmerzen zufüge, und das macht mir echt zu schaffen. Und es macht mir nicht nur aus moralischer Sicht zu schaffen – ich weiß nicht, ob das das ist, was Sie im Sinn hatten – sondern auch [aus der Sicht] ‚Oh Gott, ich verursache diesen Tieren gerade so viel Stress und führe danach mit ihnen einen Versuch durch!‘ Wie kann ich sachlich behaupten, dass dieser immense Stress, den ich gerade ver ursacht habe – ich spreche von einer zweiminütigen Injektion, bei der sie sich die gesamte Zeit winden und quieken – und dann setze ich sie in eine Kiste und sage, ‚Hey, zeigt mal was ihr gelernt habt, aber lasst euch auf keinen Fall von dem Stress beeinflussen.‘ Das ist einfach nur lächerlich.“15 Man kann erkennen, dass Alex auf verschiedenen Ebenen mit seiner Arbeit ringt. Zunächst ist diese Arbeit sowohl emotional als auch technisch schwierig. Alex beginnt damit, über Ratten zu sprechen, welche er bei seinen Experimenten einer Mikroinjekti on unterzog, um dann von den Tieren auf das menschliche Subjekt sprechen zu kommen – „die waren – ich hab’ das einfach nicht aus 15 N. C. Nelson, „Model homes for model organisms: Intersections of animal wel fare and behavioral neuroscience around the environment of the laboratory mouse“, in: Biosocieties, 11(46)/2016, doi: 10.1057/biosoc.2015.19, S. 8-9.
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gehalten.“ Alex ist einfühlsam und kann sich in die „die gesamte Zeit“ quiekenden und sich windenden Körper der Ratten einfühlen. Er beschreibt seinen eigenen Zustand als „ihretwegen“ „den Tränen nahe“, da „sie es hassen“ – die starken emotionalen Worte „hassen“ und „Tränen“ kommunizieren dabei einen Zustand des Leidens, den er empfindet, ein Kerl, ein Forscher, der auf „diese Tiere“, mit denen er sich die Situation teilt, reagiert. Es ist belastend, die Mikroinjek tionen durchzuführen – in erster Linie auf der emotionalen Ebene: Das wiederholte Verletzen eines anderen Tieres, von dem man weiß, dass es Schmerzen hat. Die Arbeit kann allerdings auch auf einer zweiten – der sozialen/ professionellen – Ebene schwierig sein. Das gefühlte, verkörperlich te Ringen von Alex und seinen Tieren scheint bei seinen Kollegin nen und Kollegen nicht auf eine angemessene Reaktion zu stoßen. Die „Leute“, mit denen man spricht, und das, was „sie“ sagen, wird von einem „Ach, weißt du“ begleitet –, als wäre dies Teil der all täglichen Praxisroutine, welche man bereits kennt (oder kennen sollte). Diese Reaktion negiert die Bedeutsamkeit des persönlichen, gefühlten Ringens, von welchem Alex seinen Kolleginnen und Kollegen erzählt. Tatsächlich ist der Ratschlag, den Alex erhält, eine Technik anzuwenden, welche dieses mit Problemen belastete Nachempfinden und Einfühlen zum Teil hemmen soll und durch welche er stattdessen die Macht über die Tiere (und sich selbst) behält, indem er „ein Handtuch um sie wickel[t]“, damit er „sie besser zu fassen [kriegt]“ und „sie sich nicht so sehr wehren“. Alex wird geraten, sich physisch von den Tieren abzuschirmen – was ihn nicht überzeugt. Dieser Ausschnitt belegt auch eine dritte Art der normativen Herausforderung: die Art, auf welche praxisrelevante und ethi sche Fragen mit epistemologischen Fragen in der Tierforschung ineinandergreifen. Alex beurteilt den ihm gegebenen Ratschlag als schlechte Lösung für „das Problem“: „Ich weiß, dass ich diesen Tie ren gerade physische Schmerzen zufüge, und das macht mir echt zu schaffen“ und „nicht nur aus moralischer Sicht“. In der Tat be steht zusätzlich zu den emotional aufgeladenen Begegnungen und deren „professioneller“ Handhabe auch die epistemische und phy siologische Signifikanz des Stresses, welcher von den Tieren (und möglicherweise auch von den Forschenden) in solchen Szenarien erlebt wird. Was sind die physiologischen, psychologischen oder an derweitig verkörperlichten Auswirkungen der Versuchsmethoden und wie können diese von den zu untersuchenden Bedingungen
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isoliert werden? Wie Vinciane Despret argumentierte, können die Beziehungen zwischen Experimentierenden und Tieren gegenseitig beeinflussend sein, so dass sie Erwartungen auf Grundlage von ver körperlichten Interaktionen, die diese erwarteten Effekte auslösen, erschaffen und verstärken.16 Schließlich sollte man ebenfalls anmerken, dass diese ineinan dergreifenden normativen Fragen von Alex als Erfahrung einer Duplizität beschrieben werden: ein Auseinanderbrechen der Rolle des Forschenden. Einerseits verursacht er „für diese Tiere gerade so viel Stress“ und leidet auch selbst; andererseits setzt er die Tie re in eine Kiste und sagt mit einer neuen Stimme zu ihnen: „Hey, zeigt mal was ihr gelernt habt, aber lasst euch auf keinen Fall von dem Stress beeinflussen.“ Dadurch wird ein Konflikt erkennbar zwischen der Ethik des Experimentierenden als derjenigen Per son, die damit ringt, den Tieren „immense[n] Stress“ durch „ein[e] zweiminütig[e] Injektion, bei der sie sich die gesamte Zeit winden und quieken“, zu verursachen, und der Ethik eines „Professors“, dessen Aufgabe es ist, die Tiere zu überwachen und zu sehen, was die Tiere „gelernt“ haben, ungeachtet des Stresses. Ebenso werden die Tiere als kämpfend, quiekend und sich windend wahrgenom men, während paradoxerweise erwartet wird, dass sie wie Zirkus tiere den Anforderungen des Experimentierenden Folge leisten und ihm die richtigen Reaktionen auf seine Anweisungen liefern. Ein weiteres Beispiel für das Erleben von konfligierenden Iden titäten/Rollen des Forschungs- und Fachpersonals findet sich in Mette Svendsens und Lene Kochs Bericht über Tierforschung in Dänemark.17 Die folgende Unterhaltung hat während der Opferung von frühzeitig geborenen Ferkeln stattgefunden, welche der Mut ter entnommen wurden, um als Modell für die Neonatalpflege von nekrotisierender Enterokolitis (einer infektiösen Erkrankung des Darmtrakts) zu fungieren. Die Ferkel, die bei diesem Ereignis ge 16 V. Despret, „The body we care for: Figures of anthropo-zoo-genesis“, in: Body and Society, 10(2-3)/2004, S. 111-134. Despret verwendet verschiedene Beispie le, darunter auch das des „Klugen Hans“: Hans war ein Pferd, welches seinen Trainer und sein Publikum mit seiner Fähigkeit, bis zu einer genannten Zahl zu „zählen“, indem er mit dem Huf klopfte, reinlegte. Hans tat dies, indem er lern te, die Körpersprache seiner menschlichen Prüfer zu „lesen“, indem er in ihren Reaktionen erkannte, wann diese erwarteten, dass er mit dem Klopfen aufhören würde. 17 M. Svendsen, L. Koch, „Potentializing the research piglet in experimental neo natal research“, in: Current Anthropology, 54(57)/2013, S. 118-128.
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opfert wurden, waren die wenigen, die mit dieser schmerzhaften Erkrankung bis Tag 5 des Experiments überlebt hatten. „Als jemand den Raum betritt, ruft Morten [Forscher]: ‚Will kommen im Schlachthaus.‘ Eine Labortechnikerin, Tina, kommen tiert, ‚Du nennst es Schlachten. Gestern habe ich zu einer Freun din gesagt: ›Morgen ermorden wir Schweine‹, und sie hat gesagt: ›Kannst du nicht sagen, dass ihr sie einschläfert [afliver dem]?‹ ›Nein‹, habe ich gesagt, ›wir ermorden sie [dræber grise].‹‘ Lau ra [Labortechnikerin], die Teile des Darms beschriftet, unterbricht sie: ‚Nein, du hast unrecht. Was wir hier machen, ist Einschläfern.‘ Obwohl sich die drei offensichtlich uneinig sind, was die Beschrei bung der gerade geschehenen Tat betrifft, lachen sie auch. Lone [Forscherin] nimmt sich einen kleinen Behälter und bettelt Morten scherzhaft an. ‚Darf ich bitte mein Stück haben?‘ ‚Du Geier!‘, kom mentiert Laura ironisch. Lone bekommt ihr Stück Darm, steckt den Behälter in die Tasche und verlässt das Labor.“18 Dieser Austausch verweist auf die multiplen Rollen, welche Fer keln und im Labor Arbeitenden in diesem Kontext abverlangt wird: Die Tiere werden abwechselnd als Nutztiere, die „geschlachtet“ werden, Personen, die „ermordet“ werden, Haustiere, die „einge schläfert“ werden, und als Jagdbeute, die aufgeteilt wird, betrachtet. Arbeitende im Labor nehmen die vielseitigen Rollen ‚Schweine züchter‘, ‚Feind‘, ‚Vormund‘ und ‚Aasfresser‘ gegenüber den Tie ren ein und weisen sich diese auch gegenseitig zu. Die moralische Schuld, die mit diesen Rollen einhergeht, schwankt zwischen der geringsten Schuld eines Haustierbesitzers, welcher ein Tier ein schläfert, und jemandem, der vorsätzlich einen anderen tötet. Man muss ebenfalls den Einsatz von Humor in dieser Unterhaltung zur Kenntnis nehmen: Diese affektive Einstellung ermöglicht es Teil nehmenden, ihre Gefühle und Persönlichkeit auszudrücken, wäh rend sie vor den Gefühlen der Trauer geschützt sind und sich nicht mit dem Gesagten identifizieren müssen. Selbst wenn ein normativer Konflikt in den angenommenen Rollen nicht direkt berichtet oder besprochen wird, könnte ein Ar beitsumfeld diesen negativ bewerten. Neben dem innerlichen Un behagen fühlen sich Tierforschende oft „belagert“, oder nehmen es 18 Ebd., S. 125 f. [berufliche Rollen wurden hinzugefügt]. Hier ist darauf hinzuwei sen, dass Dänemark eine lange und ausgedehnte Tradition der Schweinezucht hat. Die kulturellen und historischen Beziehungen zu Ferkeln können daher in diesem Kontext ungleich bedeutender sein.
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so wahr, als seien sie dauerhafter Sozialkritik und sozialem Stigma ausgesetzt, als betrachte man sie als „gewissenlos oder schamlos“.19 Die konkrete Arbeit mit Tieren wird zwischenmenschlich oft ver schwiegen; man sagt, woran man arbeitet, z. B. „Ich arbeite an Herz erkrankungen“, und nicht, wie man daran arbeitet, z. B. unter Ver wendung von Ferkeln. Aber Kritik kann auch von anderen Wissen schaftlerinnen und Wissenschaftlern kommen, welche Forschende kritisieren die, in ihren Augen, an Aspekten des Tierwohls arbeiten, statt „Wissenschaft“ zu betreiben. Carrie Friese beschreibt den sozi alen Hohn, den die Forscherin Elspeth (Name geändert) von einem Studenten erfahren hat, mit dem sie zur gleichen Konferenz gereist ist: Mit einer Stimme, die laut genug war, um im ganzen Zugabteil gehört zu werden, behauptete der Mann seinen Freunden gegen über, dass er zu keiner einzigen „Ethik“-Veranstaltung gehen wür de, „er wäre ausschließlich an Wissenschaft interessiert“.20 Elspeths Arbeit hat zur „Ethik“ beigetragen, indem sie ein telemetrisches Messgerät entworfen hat, welches ein chirurgisch eingepflanztes ersetzt. Diese Technik stellte eine verbesserte Erfahrung des Tiers sowie eine verbesserte Übertragbarkeit von Forschungsergebnissen auf den Menschen in Aussicht. Zusammenfasend lässt sich also sagen, dass normative Heraus forderungen für die in der Tierforschung arbeitenden Menschen auf mindestens vier miteinander in Verbindung stehenden Ebenen ent stehen: Erstens auf der relationalen, emotionalen Ebene: Wie sollte man fühlen? Welche Emotionen und welche Beziehungen sollten Tiere und Menschen im Labor haben? Zweitens auf der Ebene des sozialen, professionellen Umfelds: Wie sollte man handeln? Welche Probleme sollte man in einem professionellen Kontext besprechen? Wie ist gute professionelle Praxis beschaffen? (Ist es in Ordnung, ein Handtuch darum zu wickeln?) Drittens auf der epistemischen Ebene: Wie sollte man von Tierversuchen lernen? Wie wird Wissen generiert? Was ist „Ethik“ und was ist „Wissenschaft“? Viertens, wie sollte man mit anderen über Tierforschung sprechen, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Forschungskontextes? 19 Vgl. L. Birke, A. Arluke, M. Michael, The sacrifice: How scientific experiments transform animals and people, Indiana 2007, S. 154 f.; T. Holmberg, „A feeling for the animal: On becoming an experimentalist“, in: Society and Animals, 16(4)/ 2008, S. 316-335. 20 C. Friese, „Realizing potential in translational medicine: The Uncanny emergence of care as science“, in: Current Anthropology, 54(7)/2013, S. 129-138, hier S. 134.
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Was Alex betrifft, so berichtet Nelson, dass er über sich selbst sagt, er hätte möglicherweise überreagiert, da die Testergebnisse letztlich „normal“ aussahen.21 In Nelsons Interpretation bedeu tet das Umsorgen der Tiere zusätzliche „emotionale Arbeit“ für Forschende,22 während tierwohlbedingte Änderungen im Umgang die Kontinuität von Versuchsmethoden und die Replizierbarkeit in der Wissenschaft beinträchtigen könnten. Und dennoch verordnen Aufsichtsbehörden das Umsorgen von Tieren. 2.4 Eine „Kultur der Sorge“ Tierversuchsexperten räumen immer öfter ein, dass Tierwissen schaften ohne ein Umsorgen der Tiere nicht nur ethisch schlecht, sondern auch wissenschaftlich schlecht ist. Dies ist aus zwei wesent lichen Gründen der Fall. Wie man sagt: „Glückliche Tiere erbrin gen die besseren Ergebnisse“. Als empfindsame Wesen reagieren Tiere auf Schmerz, Bedrängnis und Veränderungen in der Umwelt in einer Weise, die, wie bei Menschen auch, homöostatische Reak tionen auslösen kann, welche auf metabolische, hormonelle und neuroendokrine Reaktionen einwirken, die wiederum Testergeb nisse beeinflussen. Zweitens ist es bekanntermaßen schwierig, von Ergebnissen aus der Tierforschung Aussagen über Menschen abzu leiten. Eine mögliche Quelle von Störfaktoren sind Stressoren oder negative Bedingungen, mit denen ein Versuchstier konfrontiert ist, insbesondere, wenn diese im angestrebten, klinischen Szenario of fensichtlich anders geartet sind. Ergebnisse, welche von extrem un ter Stress stehenden, eingeengten oder schlecht behandelten Tieren gewonnen wurden, lassen sich oft nicht verlässlich auf menschliche Szenarien übertragen, da die meisten Menschen als Patienten übli cherweise gut umsorgt sind. Der EU zufolge gilt: „‚Care‘ in connection with laboratory animals kept for breeding purposes, covers all aspects of the relationship between animals and man. Its substance is the sum of material and non-material resources provided by man to obtain and maintain an animal in a
21 N. C. Nelson, „Model homes for model organisms“, S. 9. 22 A. R. Hochschild, The managed heart: Commercialization of human feeling, Berkeley 1983.
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physical and mental state where it suffers least, and promotes good science.“23 Sorge wird nicht nur in einem weiten Sinne und unter Einbezie hung von materiellen und nichtmateriellen Ressourcen verstanden, sie wird auch vermehrt von dem gesamten mit Tieren arbeitenden Personal erwartet. Wie Carrie Friese es so scharf formuliert, ist al lerdings die Berücksichtigung des Umsorgens von Tieren als Faktor, welcher die Validität von Forschungsergebnissen sicherstellen soll, „unheimlich“.24 Natürlich ist es bekannt und geläufig, dass Tiere umsorgt werden müssen; und dennoch ist Umsorgen in einer Um gebung, die dafür ausgelegt ist, Tiere auf spezifische, für Menschen relevante Arten krank zu machen und sie üblicherweise schlussend lich zu töten, befremdlich. Laut dem UK National Centre for the Replacement, Refinement and Reduction of Animals in Research (NC3Rs) soll „das gesamte Personal“ in tierärztlichen, technischen oder forschenden Funktio nen die richtige „Ausbildung, Einstellung, Motivation und Kom petenz“ erhalten, welche als „Schlüssel für die Aufrechterhaltung einer ‚Kultur der Sorge‘“ verstanden werden. Dies beinhaltet tech nische Fachkräfte, die mit Tierhaltung, Fütterung, Käfigreinigung und Tierpflege vertraut sind, veterinärmedizinisches Personal, das die Gesundheit der Tiere überwacht und Forschende, die die Tiere dazu benutzen, um wissenschaftliche Fragen zu beantworten. Das ist bemerkenswert, da diesen Berufen traditionell unterschiedliche Verantwortlichkeiten zugeschrieben wurden, wenn es um die Um sorgung von Tieren ging. Technisches und tierärztliches Personal hatte eher die Möglichkeit, umsorgende Beziehungen zu Labor tieren aufzubauen als Forschende, deren Arbeit üblicherweise das Krankmachen der Tiere beinhaltete. Es existieren empirische psy chologische Forschungen, die darauf hinweisen, dass das Unterstüt zen von umsorgenden Beziehungen zwischen Menschen und Tie ren die Erfahrung des Personals in diesen Funktionen verbessert – zusätzlich zur Verbesserung der Gesundheit und des Wohlergehens der Tiere.25 23 Empfehlung des Ausschusses 2007/526/EC Anhang; Hervorhebung im Original. 24 Vgl. C. Friese, „Realizing potential in translational medicine: The Uncanny emergence of care as science“, S. 134. 25 M. Arluke, „Sacrificial symbolism in animal experimentation: Object or pet?“, in: Anthrozoös, 2(2)/1988, S. 98-117. Der Psychologe Harold Herzog empfiehlt, dass das Personal in tierärztlichen und technischen Rollen ermutigt werden soll te, mit Tieren in ihrer Obhut Bindungen einzugehen – er bezieht allerdings kei
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Ich stelle das Konzept einer humanimalen Forschungsethik vor, um die normativen Herausforderungen, die von herkömmlichen ethischen Beschreibungen der Tierforschung ignoriert werden, zum Ausdruck zu bringen, wie etwa Konflikte, die im Zusammenhang mit dem Umsorgen der Tiere stehen. Die übliche ethische Bewer tung der Forschungssituation berücksichtigt zwar die 3 Rs, be zieht aber nicht mit ein, dass sowohl Tiere als auch Menschen in der Forschungssituation Schaden erleiden können. Selbst wenn die traditionelle Ethik die Forschenden mit einbeziehen würde, würde dies wahrscheinlich aus Perspektive der Berufsethik, in Form von Prinzipien für spezifische Berufe und spezifische Situationstypen, geschehen. Allgemeine Prinzipien sind großartig; sie können dabei helfen, Standards zu vereinheitlichen und Forschung zu überwa chen, aber sie genügen nicht – und wenn sie in einer Weise wirken, durch die tägliche Herausforderungen unsichtbar gemacht werden, werden sie zum Problem. Das Hinarbeiten auf eine humanimale Forschungsethik beinhaltet die Berücksichtigung der Tatsache, dass der Charakter der Forschungssituation durch Begegnungen und Interaktionen zwischen Menschen und Tieren in diesen Szenarien geprägt wird und dass diese Spezifika von Bedeutung sind.
3. Das Umsorgen und Technologien des Gesichtsverlusts Tierforschung ist schwierig. Sie kann normative Konflikte für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen erzeugen, welche ihre Rollen und ihren Umgang mit den von ihnen betreuten Tieren in Frage stellen. Eine Weise, in welcher diese normativen Fragen sowohl entstehen, als auch im Keim erstickt werden, ist der Einsatz von, wie ich sie nenne, Technologien des Gesichtsverlusts. Um mein Konzept des Gesichtsverlusts zu kontextualisieren und zu verdeutlichen, werde ich diese Darstellung mit drei weiteren in Verbindung setzen: a) mit der Behauptung von Michael Lynch, dass (naturalistische) Tiere
ne Stellung zu den Beziehungen zwischen Tieren und dem Forschungspersonal, welche Distanz als Bewältigungsstrategie verwenden. H. Herzog, „Ethical as pects of relationships between humans and research animals“, in: ILAR Journal, 43(1)/2002, S. 27-32.
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zu analytischen Werkzeugen gemacht werden können;26 b) mit Pe ter Attertons Vorschlag, dass Emmanuel Levinas ein Konzept des Gesichts anbietet, welches auf Tiere angewendet werden kann;27 c) mit David Morris Behauptung, dass die Vorgänge, ein Gesicht zu kennen und durch ein Gesicht zu erkennen, von einer eigenen Logik geprägt sind, welche sich von der der analytischen Wissen schaft abhebt.28 Auf diesen Ansichten aufbauend behaupte ich, dass das Schaffen von analytischem Wissen mithilfe von Tieren den Ge sichtsverlust von Tieren und der an der Arbeit beteiligten Menschen beinhaltet und dass Begegnungen zwischen Tieren und Menschen qua Anderen mit Gesicht als fundamental für die inhärent ethische Dimension dieser Arbeit anerkannt werden müssen. 3.1 Lynch über das Schaffen „analytischer“ Tiere Als Michael Lynch 1988 mit dem damals entstehenden Verfahren einer Laborethnographie arbeitete, identifizierte er zwei wichtige Auffassungen von ‚Tier‘, die in der Laborforschung vorherrschen. Die erste ist die Auffassung des Tiers als natürlichem Wesen, wel chem man Schmerzempfinden, Vorlieben, eine Subjektivität und natürliche Verhaltensmuster zuschreiben kann. Er nennt dieses Konzept das des „naturalistischen Tiers“. Über Tiere als naturalis tische Tiere zu denken, so Lynch, ist das, was Tierrechtsaktivisten oder Laien tun, wenn sie an Labortiere denken. Es gibt allerdings, so Lynch, eine weitere Auffassung des ‚Tiers‘ in der Laborforschung – eine Auffassung, die durch und auf Basis von Wissen über natura listische Tiere entsteht. Diese Auffassung ist das Ergebnis von sorg fältigen Aufbereitungen der Tiere, was Lynch eine „Umwandlung“ des naturalistischen Tiers in einen „mathematisch analysierbaren Datenkomplex“ nennt, sprich, die Überführung in ein „kulturelles Objekt“ oder „Artefakt“, welches er als „analytisches“ Tier oder Objekt bezeichnet.29
26 M. Lynch, „Sacrifice and the transformation of the animal body into a scientific object: Laboratory culture and ritual practice in the neurosciences“. 27 P. Atterton, „Levinas and our moral responsibility toward other animals“; E. Levinas, Totality and infinity. 28 D. Morris, „Faces and the invisible of the visible: Toward an animal ontology“. 29 Vgl. M. Lynch, „Sacrifice and the transformation of the animal body into a scien tific object: Laboratory culture and ritual practice in the neurosciences“, S. 273.
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Die zentrale Behauptung, welche Lynch innerhalb seines Auf satzes aufstellt, ist, dass Opferungen, welche im Rahmen wissen schaftlicher Versuche durchgeführt werden, diese Bezeichnung ver dienen, da sie drei in kulturellen Opferpraktiken üblichen Schritten erfolgen: „1. Preparing a victim in such a way as to create and sustain an orientation to coordinates in an abstract space; 2. Destroying the victim in order to establish a mediating link between visible and in visible realms; and 3. Constituting the victim as a bearer of human attributes.“30 Im Falle der Wissenschaft existiert keine religiöse Signifikanz bei diesen Vorgängen.31 Dennoch besteht die Erwartung, dass diese Vorgänge einen Zugang zu der „onto-theologischen Ordnung des, wie Heidegger sagt, ‚Mathematischen‘“ ermöglichen.32 Die Analo gie zwischen Opferungen in anthropologischen Kulturstätten und experimentellen Tieropferungen rekurriert auf, wie Lynch es nennt, ein gemeinsames Interesse an der rituellen Überschreitung des Pro fanen, um die Sphäre des Heiligen oder des Wissenschaftlichen zu erreichen. Lynch schreibt: „In order to establish and sustain the victim’s role as an inter mediary – a communication channel between visible and invisible domains – exact sequences of procedure are followed, and careful attention is focused on the victim’s place in an abstract system of coordinates.“33 Lynch bemerkt die Wichtigkeit der naturalistischen Tiere und des „unterdrückten“ Wissens über den Umgang mit Tieren bei der Schaffung des analytischen Tiers. Er erwähnt allerdings kaum, was mit den beteiligten Menschen geschieht. Lynch berichtet, dass seine Quellen wiederholt betonen, sie ver spürten Empathie und Mitgefühl gegenüber den Tieren, mit denen sie arbeiten: Forschende besprechen „offen und sogar eifrig“, wie man mit Tieren in der Praxis umgeht, auch wenn dies den Anschein eines „humorvollen Nebenschauplatz der Laboraktivitäten“ er weckt.34 Sie benötigen und entwickeln Fähigkeiten, um ihren Ver
30 Ebd., S. 276. 31 Will sagen, falls wir hier nicht eine Definition von Religion im engeren Sinn anwenden. 32 Ebd., S. 276. 33 Ebd., S. 275. 34 Ebd., S. 280.
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suchstieren nachzuempfinden, um diese gefügiger und weniger wehrhaft zu machen und um die „richtigen“ Ergebnisse von ihnen zu erlangen. Allerdings finden sich diese Informationen nach Lynch in keinem ihrer Artikel.35 Heutzutage ändert sich das: Die ARRIVEPublikationsrichtlinien (Animals in Research: Reporting In Vivo Experiments) beinhalten Unterbringungs- und Tierhaltungsbedin gungen, sowie Informationen über die Versuchs- und Abwicklungs verfahren, und werden zunehmend als für die Validität und Repli zierbarkeit von Tierforschungsergebnissen maßgebend akzeptiert.36 Allerdings bleibt die von Lynch besprochene (belustigte) Frustra tion der Forschenden über den Umgang mit und das Einfühlen in Tiere bestehen. 3.2 Tieren ins Gesicht sehen Nun haben andere – wichtige und berühmte andere – bereits über die menschliche Fähigkeit, diszipliniert und gehorsam zu werden und in bestimmten Funktionen unangenehme oder sogar mora lisch „schmutzige Arbeit“ auszuüben, geschrieben.37 Der Einfluss, welchen Autorität und der kulturelle und soziale Kontext auf das menschliche Verhalten und das damit verbundene Einordnen von Menschen, welche sich selbst einordnen, haben, wurde von Künst lern, Soziologen, Anthropologen, Psychologen und Philosophen untersucht. Stanley Milgram untersuchte berühmter- und berüch tigterweise das Konzept der Gehorsamkeit, indem er Personen dazu brachte, fälschlich anzunehmen, sie würden im Kontext einer von einem Experten an einer angesehenen Universität (Yale) geleiteten erziehungswissenschaftlichen Studie anderen Menschen Elektro schocks verabreichen. Milgrams Experimente wären heutzutage nicht mehr erlaubt. Allerdings war die Frage, wie Nazi-Funktionäre diszipliniert werden konnten, um anderen Leid zuzufügen, in der Nachkriegszeit so vordringlich, dass ihre Beantwortung das Stra pazieren und Irreführen einiger Forschungsteilnehmer rechtfer 35 Ebd. 36 C. Kilkenny, W. J. Browne, I. C. Cuthill, M. Emerson, D. G. Altman, „Improving bioscience research reporting: The ARRIVE guidelines for reporting animal research“, in: PLoS Biol, 8(6)/2010, S. e1000412. Zugänglich unter (http://www. nc3rs.org.uk/ARRIVE), zuletzt abgerufen am 06.06.2017. 37 E. C. Hughes, „Good people and dirty work“, in: Social Problems, 10(1)/1962, S. 3-11.
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tigte. (Das geläufige Empfinden darüber, welche Art von Forschung ethisch oder unethisch ist, was gerechtfertigt oder ungerechtfertigt ist, verändert sich.) Ich stelle hier keine Theorie über Gehorsamkeit vor. Ich behaup te aber, dass das Gesicht von Bedeutung ist. Disziplinierung bein haltet die Entwicklung von und die Gewöhnung an Möglichkeiten, durch welche man das eigene Gesicht und das von anderen verlieren kann – und durch welche neue, angemessene Gesichter hinzugefügt werden können. Doch zunächst möchte ich erklären, was ein Ge sicht nicht ist. In The presentation of self in everyday life (deutscher Titel: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag) bespricht Erving Goffman die Entwicklung einer Abschirmung, einer „Fas sade“, mit der wir anderen in unserem beruflichen Leben begeg nen.38 Er bespricht gezielt, wie Ärzte und Krankenschwestern vor Patienten verschiedene Fassaden annehmen.39 Damit in Verbindung stehend hat Pierre Bourdieu den Begriff des Habitus,40 als eine Art der gewohnheitsmäßigen Bewohnung unserer Körper und der Wahrnehmung der uns umgebenden Welt durch unsere Körper, vorgeschlagen. Habitus wird als durch die physische und soziale Umwelt – Klasse, Kultur – beeinflusst verstanden und beeinflusst wiederum die Art und Weise, in der Unterscheidungen und Klas sifizierungen getroffen werden: „eine strukturierte und struktu rierende Struktur“.41 Im Kontext der wissenden Berufe und der akademischen Welt wurde Bourdieus Konzept des disziplinarischen Habitus weiterentwickelt, um als epistemischer Habitus interdiszi plinäre Arbeit zu berücksichtigen: Dies zielt darauf ab, zu erfassen, inwiefern Experten verschiedener akademischer Disziplinen unter Umständen immer noch einen bestimmten Habitus, im Sinne der Arten der Methoden und der epistemologischen Paradigmen, für welche sie ausgebildet wurden, gemeinsam haben.42
38 E. Goffman, The presentation of self in everyday life, insb. S. 34 ff. 39 Ebd., S. 51 ff. 40 P. Bourdieu, Distinction: A social critique of the judgement of taste, New York, London 1984. 41 Ebd., S. 170 sowie die Abbildung auf S. 171. 42 M. Albert, S. Laberge, B. D. Hodges, „Who wants to collaborate with social scientists? Biomedical and clinical scientists’ perception of social science“, in: B. Penders, N. Vermeulen, J. Parker (Hrsg.), Collaboration across health research and medical care: Healthy Collaboration, London (UK), Burlighton (VT) 2014.
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Diese Überlegungen sind essentiell für das Verstehen der sozia len Beschaffenheit der verkörperlichten und gewohnheitsbedingten Ausführung von berufsspezifischen Überzeugungen und Praktiken. Sie unterscheiden sich allerdings von denen des Gesichts, welche ich hier untersuche. Eine wichtige Dimension eines Gesichts ist, dass dessen Betrachtung eine moralische Frage aufwerfen kann: Wie geht es dir? Dies ist nicht nur von beschreibender epistemischer Bedeutung, z. B. wie verhältst du dich, wie bewegst du dich und was sagt das über deine Funktion oder Ausbildung, deinen sozia len oder kulturellen Hintergrund aus. Das Gesicht (im Gegensatz zum eigenen Habitus oder zur Fassade) besitzt die Fähigkeit, Infor mationen zu übermitteln, welche mich ansprechen und an dich als einzigartiges – wenn auch zweifellos mehrfach charakterisierbares, klassifizierbares und konditioniertes – Tier binden. Emmanuel Le vinas hat darüber geschrieben, dass das Gesicht diese Macht besitzt, eine Reaktion von einem anderen zu erbitten, ohne dabei zu fra gen. Gesichter sprechen, wenn der Habitus zu Bruch geht; in der Tat können Gesichter den Habitus durchbrechen. Der nächste Abschnitt basiert auf Peter Attertons Lesart, dass Levinas’ Ethik des Gesichts ausgeweitet werden kann, um unsere moralische Verantwortung gegenüber Tieren mit einzubeziehen.43 3.2.1 Levinas: Das Gesicht als direkte Ausdruckskraft oder als moralische/kommunikative Qualia Levinas leistet einen ziemlich raffinierten Beitrag zur Ethik: Er be hauptet, dass die Basis für eine ethische Behauptung weder Gleich heit noch Verwandtschaft ist, sondern vielmehr absolute Anders artigkeit.44 Mit Andersartigkeit meint Levinas eine absolute Ein zigartigkeit, welche jeder Andere gegenüber jedem Anderen besitzt. Levinas nennt diese Innerlichkeit „Geheimnis“: „The real must not only be determined in its historical objec tivity, but also from interior intentions, from the secrecy that in terrupts the continuity of historical time. Only on the basis of this 43 P. Atterton, „Levinas and our moral responsibility toward other animals“. 44 Man beachte, dass Levinas selbst in einem Konzentrationslager als Teil eines totalitären Regimes gefangen gehalten wurde. Absolute Andersartigkeit bietet eine Antwort auf die potentiell totalisierenden, holistischen Theorien, welche als Vehikel für die Ideologie der Nazis fungierten.
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secrecy is the pluralism of society possible. It attests this secrecy. We have always known that it is impossible to form an idea of the human totality, for men have an inner life closed to him who does, however, grasp the comprehensive movements of human groups.“45 Sozialtheoretiker wie Goffman oder Bourdieu müssen demnach mit einem unerklärbaren oder nicht kommunizierbaren Überbleib sel ringen, wenn individuelles Verhalten als Teil einer Kultur oder eines sozialen Ganzen beschrieben wird. Für Levinas ist das Andere ein Wesen mit einem geheimen Innenleben – und Feststellungen über die Realität müssen dieses Geheimnis mit einbeziehen. Darüber hinaus ist Andersartigkeit für Levinas absolut. Sie vari iert nicht in ihrem Ausmaß. Wir können Wesen in Relation zu uns selbst nicht entlang der Frage anordnen, wie viel „andersartiger“ sie sind, da dies voraussetzt, dass es irgendeine Dimension oder eine Weise gibt, entlang welcher diese uns gleich oder wenigstens mit uns vergleichbar sind.46 „The alterity of the other does not depend on any quality that would distinguish him from me, for a distinction of this nature would precisely imply between us that community of genus which already nullifies alterity.“47 – Aber wie können wir feststellen, ob/ wann jemand ein Anderer ist? Für Levinas wird die wesentliche Beziehung zum anderen nicht durch Epistemologie, sondern durch Ethik herbeigeführt. Sich in Beziehung zu einem anderen zu setzen, ist kein epistemischer Pro zess, der durch die Sinne, wie etwa das Sehen, oder durch das Er kennen einer Ähnlichkeit im Körper einer anderen Person, welches die empirische Folgerung stützen würde, dass diese Person einen eigenen Geist hat, legitimiert ist.48 Vielmehr ist eine solche Bezie hung die direkte Erfahrung eines Selbst in der physischen oder an derweitig erfahrenen Ausdruckskraft eines Anderen. Diese primäre Ausdruckskraft, der wir begegnen, nennt Levinas „das Gesicht“: „The way in which the other presents himself, exceeding the idea of the other in me, we here name face. This mode does not consist in figuring as a theme under my gaze, in spreading itself 45 E. Levinas, Totality and infinity, S. 57 f.; Hervorhebung S. E. 46 Dies, so argumentiert Atterton, disqualifiziert Derridas Behauptung, dass Tiere „mehr“ Andere sind als Menschen. Vgl. P. Atterton, „Levinas and our moral responsibility toward other animals“, S. 634 ff. 47 E. Levinas, Totality and infinity, S. 194; zitiert in P. Atterton, „Levinas and our moral responsibility toward other animals“, S. 635. 48 P. Atterton, „Levinas and our moral responsibility toward other animals“, S. 637.
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forth as a set of qualities forming an image. The face of the Other at each moment destroys and overflows the plastic image it leaves me, the idea existing to my own measure and to the measure of its ideatum – the adequate idea. It does not manifest itself by these qualities, but kath’auto [d. h. in Person, per se]. It expresses itself.“49 Für Levinas belegt das Gesicht demnach die Unmöglichkeit des Verständnisses und der Eingrenzung – und dadurch die Innerlich keit oder das Innenleben eines Anderen. „The face is present in its refusal to be contained. In this sense it cannot be comprehended, that is, encompassed. It is neither seen nor touched – for in visual or tactile sensation the identity of the I enve lops the alterity of the object, which becomes precisely a content.“50 Obwohl ein Gesicht gesehen und angefasst werden kann, ist das, was es zu einem Gesicht macht, vielmehr das, was geschieht, wenn einem Gesicht durch Sehen oder Berühren begegnet wird, welches über das Sehen oder Berühren hinausgeht. Die Art und Weise, in der mir das Gesicht „gegeben ist“, nennt Levinas „Rede“ (parole): „The face speaks. The manifestation of the face is already discourse“.51 Man beachte, dass diese Formulie rung nicht notwendigerweise Sprache mit einschließt. Das ist ein wichtiger Punkt, wenn es um die Betrachtung von Tiergesichtern geht, wie Peter Atterton betont: „Saying opens me to the other, be fore saying something said, before the said that is spoken in this sincerity forms a screen between me and other. It is a saying wit hout words … silence speaks“.52 Eine wesentliche Weise, in der das Gesicht ohne Worte sprechen kann, ist durch die Augen. „The eyes break through the mask – the language of the eyes, impossible to dissemble. The eye does not shine; it speaks.“53 Ethik wird demnach zur Errungenschaft des Aufbrechens mei nes spontanen (wenn auch potentiell gewohnheitsmäßigen) Ver haltens durch die Präsenz eines Anderen: „The strangeness of the Other, his irreducibility to the I, to my thoughts and my possessi ons, is precisely accomplished as a calling into question of my spon
49 E. Levinas, Totality and infinity, S. 50 f.; zitiert in P. Atterton, „Levinas and our moral responsibility toward other animals“, S. 637. 50 E. Levinas, Totality and infinity, S. 194. 51 Ebd., S. 66. 52 Levinas, zitiert in P. Atterton, „Levinas and our moral responsibility toward other animals“, S. 639. 53 E. Levinas, Totality and infinity, S. 66.
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taneity, as ethics“.54 Das Levinassche Gesicht ist ein Gesicht-Wesen, ein Anderer, ein absolut Verschiedener, auf dessen Einzigartigkeit wir zwar durch das physische Gesicht oder dessen Augen aufmerk sam gemacht werden, jedoch nur um über dieses Ding oder unsere Wahrnehmung von ihm als Ding hinauszugehen, bis hin zur Un verständlichkeit darüber, wer dies ist. Auf der anderen Seite kann diese Unverständlichkeit des An deren einen negativen Ausdruck annehmen. Die Tatsache, dass das Gesicht auf ethische Fragen verweist, ist gleichermaßen der Grund, warum es Mord – totale Negierung – anregen kann. Levinas schreibt: „Murder exercises a power over what escapes power. It is still a power, for the face expresses itself in the sensible, but already im potency, because the face rends the sensible. The alterity that is ex pressed in the face provides the unique ‚matter‘ possible for total negation. I can wish to kill only an existent absolutely independent, which exceeds my powers infinitely, and therefore does not oppose them but paralyzes the very power of power. The Other is the sole being I can wish to kill.“55 Ich bin nicht sicher, wer genau Versuchstiere töten wollen wür de, aber Menschen tun dies natürlich. Es ist vielleicht dieses Fehlen eines Wunschs, einzelne Tiere zu töten, welches darauf hindeutet, dass dieses Töten das Resultat eines Gesichtsverlusts ist. Levinas legt nahe, dass das Erkennen eines Anderen im Gesicht eines Ver suchstieres, das Erkennen und möglicherweise Infragestellen des Wunschs, sie oder ihn zu töten, beinhaltet. In diesem Fall kann die in der Abhandlung von Svendsen und Koch publizierte Diskussi on darüber, ob das Töten von frühgeborenen Ferkeln Mord ist,56 als Kehrseite der Wahrnehmung eines jeden Ferkels als Anderem interpretiert werden. Wenn der Wunsch, das Andere zu negieren, nicht besteht, wird Mord zu einem Problem und wird stattdessen als Einschläfern oder Beseitigung der Reste eines von jemand anderem Getöteten wahrgenommen.
54 Ebd., S. 43. 55 Ebd., S. 198. 56 M. Svendsen, L. Koch, „Potentializing the research piglet in experimental neo natal research“, in: Current Anthropology, 54(57)/2013, S. 118-128.
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3.2.2 Morris: Das Gesicht bringt seine eigene Logik mit sich David Morris argumentiert, dass das Gesicht zentral für unseren Wissenserwerb unter Verwendung unserer tierischen Logik ist.57 Er fragt: „What would nature be like êlle-meme, as the French might say, before we conceive it as conforming to our mathematical and me chanical models? Can we find a logic in things themselves? With what sort of logic or principles does nature structure itself, its pro cesses, its interactions?“58 Die Antwort, die Morris unter Verwendung der Philosophie von Maurice Merleau-Ponty entwickelt, ist, dass wir der Welt als Tiere begegnen und sie als Tiere verstehen, durch das, was Morris eine „Logik des Gesichts“ nennt. Morris beginnt seine Analyse mit der Besprechung von Tiergesichtern und der Bedeutung von Gesich tern für das gegenseitige Verständnis. Auf Merleau-Ponty aufbau end, behauptet er, dass Gesichter die eigenartige Funktion haben, eine sichtbare Oberfläche zu sein, die etwas über die unsichtbaren, inneren, erfahrenen Aspekte des Seins eines anderen Lebewesens wahrnehmbar (sichtbar) macht. Dies ist eine andere Art von Logik, ein anderes Mittel, um ein anderes Wesen zu verstehen, ihm einen Grund oder Sprache zuzugestehen (logos), als jene, die die Natur wissenschaften vorschlagen. Morris verwendet ein schönes Beispiel, um dies zu veranschau lichen: Er behauptet, dass, selbst wenn du in der Lage wärst, durch meine Haut hindurch zu blicken und all die kleinen feuernden Neu ronen und die sich erhellenden Hirnregionen zu sehen, oder wenn du die Hormone sehen könntest, die durch meinen Körper gepumpt werden, und selbst wenn die Wissenschaft weit genug fortgeschrit ten wäre, dass du auf dieser Grundlage etwas über meine gegen wärtige Stimmung sagen könntest, würde der Blick in mein Gesicht immer noch eine andere Art des intimen, unmittelbaren Wissens darüber, wie es mir geht, hervorbringen. Diese Arten der inter subjektiven Qualia, wenn wir sie so nennen wollen, der Tier-Tier Kommunikation, die durch das Einander-ins-Gesicht-blicken wahr genommen, vermittelt oder abgerufen werden, sind anderer Natur als die Logiken der analytischen Wissenschaft. An die Levinasschen leuchtenden Augen erinnernd, schreibt Morris: 57 D. Morris, „Faces and the invisible of the visible: Toward an animal ontology“. 58 Ebd., S. 126.
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„An animal face is the face of a body, and expresses the whole of that body. This is vivid in the human case: I face all of you in your face. When I look at your face I don’t just see your face, I see you, your feelings, your thinking, your attention, a further whole of you, shining in your face.“59 Morris behauptet, dass dies auch bei anderen Tieren der Fall ist. Ich sehe sie und sie sehen mich als: „[…] something more than just a surface, their seeing of me as an animal scanning ahead, planning to move, an animal threatening or non-threatening. Of course, I see this not just in the face in the usual sense, but in the animal body as a whole – the whole body serves as what I call a ‚greater face‘“.60 Morris hält diese Argumentation ebenso wie Merleau-Ponty für paradox: „[…] the depths of your being are shown nowhere else than in the surface of your face (and greater face), but [that] these depths are nowise the same as that surface – and yet are not somewhere else“.61 Er sagt, dass die hier besprochene Tiefe in me taphysischer Hinsicht eigenartig ist. Ein Wandgemälde ist nicht auf die gleiche Weise Teil der Oberfläche der Wand, wie es Risse in der Wand sind – aber es ist auch nicht nicht Teil der Wand. Wir betrachten Gemälde nicht auf die gleiche Art und Weise, in der wir Risse betrachten: Gemälde tragen (bis zu einem gewissen Grad) eine Weise oder eine Ordnung der Betrachtung in sich; wir sehen im Sinne des Gemäldes. Morris schreibt: „Similarly with the face: if you just see it as surface, you are not really seeing a face; you have to see through the face, according to it, you have to see who it is the face of“.62 Morris erweitert diesen Punkt und argumentiert, dass Ge sichter grundsätzlich Oberflächen sind, die auf die Präsenz eines einzigartigen, individuellen Wesens hindeuten und uns Informa tionen über die uns umgebende Welt vermitteln. Ich leite die Exis tenz einer ganzen Tasse auf meinem Schreibtisch von der Tatsache 59 Ebd., S. 132. Man beachte, dass diese Einstellung von der Levinasschen Position, bei welcher das Gesicht von einem Anderen spricht, welcher nicht verstanden werden kann, abzuweichen scheint. Möglicherweise kann man an dieser Stelle eine versöhnliche Lesart von Morris und Levinas anbringen, indem man „see ing“ als ein Bezeugen, im Gegensatz zu einem verstehenden oder objektifizie renden Blick, begreift. 60 Ebd., S. 133. 61 Ebd., S. 140. 62 Ebd., S. 140.
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ab, dass ich nur einen Teil ihrer Oberfläche sehe. Meine Tierlogik füllt den Rest aus. Etwas fundierter und in Morris Worten ausge drückt: „[…] the reality and veracity of things, their truth as things, hinges on the impossibility of grasping or having them be present in their entirety. Truth hinges on a perceptual inexhaustibility. This inexhaustibility could not of course be fully presented all at once or in exhaustive detail. Yet, paradoxically, this inexhaustibility is indi cated in aspects that things do make present to us.“63 Morris stellt der Logik des Gesichts die, wie er sie nennt, „fron tale Logik“ gegenüber, welche Dinge auf ihre Vorderseite gegen über anderen Dingen reduziert, im Sinne einer fehlenden inneren Tiefe oder eines fehlenden Innenlebens. Auf Elisabeth Behnkes Konzept der „Frontalität“64 aufbauend, formuliert Morris diese als „an attitude in which nature, being, space, duration and so on are posited as objects, over-against a subject who surveys them from above or the outside, and in which nature is posited as a totality of things that are spread out outside of one another, with no internal relation“65 – eine Logik, die die Ontologien der modernen Wissen schaft durchdringt.
63 Ebd., S. 142 f. Es gibt eine Übung, welche ich diesbezüglich mit meinen Stu dierenden durchgeführt habe. Man gibt den Teilnehmenden ein Exemplar eines bestimmten Gegenstands, z. B. ein Streichholz aus einer Streichholzschachtel, und bittet sie, ihr Streichholzexemplar so gründlich zu betrachten, dass sie dazu in der Lage sind, es in einem Haufen Streichhölzer wiederzufinden. Dann bittet man sie, ihrem Streichholz einen Namen zu geben und sich eine Geschichte darüber auszudenken, wie es zu seinen identifizierenden Merkmalen kam. Dann geben sie ihr Streichholz zurück. Es ist bemerkenswert, wie häufig sie dazu in der Lage sind, ihr Streichholz in einem Haufen zu identifizieren. Diese Übung illustriert die verschiedenen Informationsebenen, die uns zur Verfügung stehen, sowie die Ansätze, welche entwickelt werden können, um diese Information zu erklären, und wie dies im Zusammenhang mit dem Begegnen/Erkennen von Wesen in der uns umgegebenen Welt steht. 64 Vgl. E. A. Behnke, „From Merleau-Ponty’s Concept of Nature to an Interspecies Practice of Peace“, in: H. P. Steeves (Hrsg.), Animal Others: On Ethics, Ontology and Animal Life, Albany 1999, S. 93-116, hier S. 95. 65 D. Morris, „Faces and the invisible of the visible: Toward an animal ontology“, S. 145.
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4. Gesichtsverlust Einerseits kann man das Gesicht in Anlehnung an Levinas als im physischen Gesicht verankert, jedoch darüber hinausgehend und über das Innenleben eines Anderen Auskunft gebend, betrachten; andererseits, in Anlehnung an Morris, kann das Gesicht ausdrucks fähige Körper und sogar Aspekte von unbelebten Wesen beinhalten, welche eine Art Qualia des Seins übermitteln, den Überschuss und die Unerschöpflichkeit dessen, was real ist. Die Gemeinsamkeit von Levinasschen und Morrisschen Gesichtern ist, dass sie wahrgenom mene Oberflächen oder Aspekte von (lebenden/unbelebten) Wesen sind, welche etwas jenseits des sensorisch Wahrnehmbaren kom munizieren – das innere, geheime Sein eines Anderen. Dies verlangt nach einer besonderen Ethik: einer Ethik des Anderen und damit einer Logik des Gesichts. Es ist verlockend, Morris’ Besprechung verschiedener „Logiken“ des Wissenserwerbs in a) holistische Methoden und b) analytische, experimentelle Methoden zu unterteilen: Beispielsweise wäre a) die „natürliche“ Beobachtung eines Organismus in seinem gesamten Verhalten, was das „Ins-Gesicht-sehen“ konstituiert; demgegen über wäre b) die Auswahl eines einzelnen Elements eines Wesens und das Konzipieren von Tests, welche spezifische Verhaltenswei sen bei verschiedenen Individuen immer wieder prüfen, was einer frontalen Begegnung entspricht. Jedoch scheint Morris eine ge wichtigere Metaphysik der autopoietischen Inter-Implikation vor zuschlagen, nach welcher selbst die „natürliche“ Beobachtung als Wissensquelle unzureichend wäre, weil auch diese inhärent ausge richtet und nicht „ausgebreitet“ ist. Dieses auszuführen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.66 Dennoch sehe ich eine banalere 66 Außerdem außerhalb des Skopus dieser Besprechung, wenn auch anregend, ist Karen Barads Metaphysik der Materie sowohl für materielle als auch für normative Dimensionen bedeutsam. Materie gilt als existierend aufgrund von Intra-Aktionen zwischen Handelnden, welche daher immer als in gegenseiti gen Reaktions-Fähigkeiten (im Engl. doppeldeutig „response-abilities“, Anm. der Herausgeber) eingebunden betrachtet werden müssen. Gemäß Joseph Rou ses Analyse unterscheidet sich Barads Sichtweise von den üblicherweise ak zeptierten naturalistischen Metaphysiken dadurch, dass sie Normativität in den Stoff der Materie einwebt, anstatt davon auszugehen, dass diese durch soziale Kräfte oder Kontingenz entsteht. Dies erinnert an Maria Puig de la Bellacasas Verständnis von „matters of fact“ als gleichzeitige „matters of care“, welches Haraways Vorstellung von mehreren existierenden Natur-Kulturen vertieft und dem Umsorgen selbst metaphysische Signifikanz verleiht – möglicherweise ist
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und konkretere Weise, in der wir Gesichter bei der Durchführung analytischer experimenteller Wissenschaft negieren. Tierforschung involviert lebendige Wesen im Rahmen wissen schaftlicher Szenarien, welche darauf beruhen, dass diese Wesen als analytische Tiere oder als analysierende Menschen fungieren. Das begegnete Gesicht als Forderung nach einer Ethik zwischen Men schen oder zwischen Menschen und Tieren wandelt sich zur Forde rung nach einem Ethos für Forschende, einander „angemessen“ zu behandeln. Dadurch wird die Ethik des Anderen durch eine Ethik des Geordneten, des wissenschaftlich Professionellen, des Bekann ten und Erkennbaren, des Gleichmäßigen und des Regulierbaren ersetzt. Eine Ratte, ihr schlagendes Herz, ihr Oberschenkelknochen und ein Objektträger mit ihrem Knochenmaterial kommen nicht auf dieselbe Art und Weise „zu Wort“, und das sollten sie vielleicht auch nicht – die Verwendung von lebenden Wesen innerhalb wis senschaftlicher Kontexte kommt der Entwicklung von neuen wis senschaftlichen Wesen mit hinzugefügten Gesichtern gleich. Viel leicht sollte das Gesicht – das Individuum und die Individualität – an dieser Stelle eliminiert oder überschritten werden, um ein Anliegen des analytischen Wissens zu unterstützen, das für uns Menschen sehr nützlich gewesen ist. Trotzdem ist dieser Prozess in meinen Augen beunruhigend, und ich möchte zum Ausdruck bringen, wie dies geschieht, um zu ergründen, warum/wann es geschehen sollte. Hierfür nähere ich meine Auffassung des Gesichts der von Levinas an und konzentriere mich auf das Gesicht von lebendigen Wesen; ich begrüße und erweitere aber auch Morris Vorschlag, das „grea ter face“ zu berücksichtigen, indem man Körper und körperbasierte Sinneseindrücke als Teil des Gesichts eines Anderen mit einbezieht. Ich verstehe das Gesicht demnach als ausdrucksfähige körperliche Oberflächen und Sinneseindrücke – Aussehen, Gerüche, Klänge, Bewegungen –, welche die Präsenz eines Anderen und seines inner lichen, geheimen Lebens bezeugen. Ich werde diese Begriffsbildung mit Großbuchstaben kennzeichnen: GESICHT.
auch dies innerhalb einer Logik des Gesichts, wie Morris sie versteht, impliziert. Doch solche Verbindungen müssten an anderer Stelle entwickelt werden. Siehe: K. Barad, „Posthumanist performativity: Toward an understanding of how mat ter comes to matter“, in: Signs, 28(3)/2003, S. 801-831; J. Rouse, „Barad’s femi nist naturalism“, in: Hypatia, 19(1)/2004, S. 142-161; M. Puig de la Bellacasa, „Ethical doings in naturecultures“, in: Ethics, Place & Environment: A Journal of Philosophy and Geography, 13(2)/2010, S. 151-169.
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Bei der Umwandlung von etwas in etwas Wissenschaftliches oder Analytisches sind Technologien des Gesichtsverlusts instru mental: Diese beinhalten Werkzeuge, Rituale, Techniken und Ar chitekturen, deren Einsatz zu einem Verlust des GESICHTS führen (und oftmals auch zur Schaffung eines neuen). Technologien des Gesichtsverlusts sind definiert durch ihren operativen Gebrauch bei der Intervention und Behinderung der direkten Erfahrung mit einem GESICHT, welche durch die Abwandlung sinnesbezoge ner, visueller, olfaktorischer, fühlbarer, auditiver oder akustischer Merkmale des GESICHTS sowie durch die de facto drehbuchartige Inszenierung der Begegnungen mit dem GESICHT eines Ande ren erwirkt werden. Technologien des Gesichtsverlusts beinhalten mindestens fünf Arten der Aufbereitung: 1. errichtete Umgebun gen, 2. Eingangs- und Ausgangsroutinen, 3. spezielle Kleidung und Ausrüstung, 4. Mechanismen der Identifizierung und Benennung, 5. Experimentelle Versuchsverfahren oder Skripte. Ich bezeichne diese als Technologien und nicht nur als Werkzeuge oder Techniken, da sie es mit „logos“ zu tun haben, in ein oder mehrere Forschungs gebiete eingebettet sind, welche Begründungen dafür liefern, war um diese Werkzeuge, Räume oder Techniken so konstruiert und verwendet werden, wie sie es werden; sie sind weiterhin in die so zialen und wirtschaftlichen Infrastrukturen eingebunden, welche diese Materialien anbieten und unterstützen.67 Wenn wir der Ar gumentation von Morris folgen, könnten wir davon sprechen, dass diese einer „frontalen“ Logik unterliegen. Jedoch haben diese Tech nologien oftmals ihre eigenen Leben und Geschichten darüber, wie und welche Frontseiten von ihnen abgebildet werden können. Was für meine Behauptung relevant ist, ist, dass der Gebrauch dieser Technologien zu einem Vorgang des Gesichtsverlusts beiträgt, was hier nicht nur als das Entfernen des GESICHTS verstanden wird, sondern als Prozess, welcher oft zu der Hinzufügung eines neuen (möglicherweise „glücklichen“, leichter verdaulichen oder ange messeneren) GESICHTS für an der Forschung teilnehmende Men schen und Tiere führt.
67 Möglicherweise könnten diese als „technomoralische“ Technologien charakteri siert werden – Tsjalling Swiestra benutzt diesen Begriff, um über die Bedeutung von Technologie für moralische Veränderung zu sprechen, und um abzubil den, wie sich Moral und Technologie gemeinsam entwickeln. Vgl. T. Swierstra, „Nanotechnology and Technomoral Change“, in: Etica & Politica/Ethics & Poli tics, 15(1)/2013, S. 200-219.
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Im Folgenden werde ich einige Beispiele für Gesichtsverlust bei Vorgängen der Tierforschung anführen, welche den zuvor genann ten Aufbereitungen entsprechen. Das Folgende basiert auf meinen eigenen Erfahrungen in diesen Räumen der Forschung. 4.1 Architektur und errichtete Umgebungen Tierlabore werden aus Angst vor Protesten und Sabotage von Akti visten oft so gebaut, dass höchste Sicherheit garantiert ist. Sie werden an nicht gekennzeichneten oder eigenartig betitelten Orten beher bergt (vgl. Vivarium, das Tierlabor der Universität Bergen), befinden sich unter der Erde oder sind auf andere Art und Weise räumlich ab gegrenzt. Der Laborraum ist oft der Ästhetik medizinischer, chirur gischer oder klinischer Räume nachempfunden und verwendet in der Innenraumausstattung kühlere grüne oder blaue Farben, welche die Rottöne von Fleisch und Blut aufheben. Die Räume haben nicht im mer Fenster und vermitteln den Eindruck eines sicheren, abgeschlos senen und exklusiven Raums. Die Ausstattung des Labors ist zum Großteil nichtorganisch und besteht aus metallenen Objekten und Oberflächen, welche leicht zu sterilisieren sind. Dies vermittelt einen Raum, der dem einer Klinik gleicht – das Zuhause von Experten und Maschinen, die dazu dienen, körperliche Innenräume zu erforschen (im Gegensatz zu einer für Mensch und Tier gesunden, ganzheitli chen Umgebung). Tiere sind außerhalb der sicheren und von Tem peratur- und Beleuchtungszyklen gesteuerten, fensterlosen Räume weder sichtbar noch hörbar. Die entsprechenden Geräuschkulissen bestehen aus metallischen oder automatisierten Geräuschen, wie etwa dem Öffnen und Schließen von Türen oder dem Piepen bei der Eingabe von Sicherheitscodes; diese können aufgrund der Intimität solcher Orte sowohl besorgniserregend als auch rückversichernd (Routine) sein, gleichzeitig schrill und dumpf, gezügelt. Errichtete Architekturen können beschränken, welchen GE SICHTERN und in welcher Weise diesen begegnet wird. Die Ei genart der architektonischen, räumlichen, visuellen Umgebung transportiert Menschen in einen besonderen moralischen Raum, in welchem gewöhnliche und spontane Gefühle und moralische Gesin nungen außer Kraft gesetzt werden.68 Durch das Strukturieren von 68 Analog zu Dantes berühmter Inschrift am Eingang zur Hölle: „Lasst, die ihr eintretet, alle Gefühle fahren!“
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Tieranlagen in einer Weise, die Tiere und Menschen vor dem äuße ren Blick „schützt“, sind diese Gebäude auch dazu in der Lage, Men schen und Tiere davon abzuhalten, zurückzuschauen oder einander „von außen“ zu reflektieren. Ich erinnere mich daran, wie glücklich ich während meines Aufenthalts im Gemeinschaftsraum der Tier anlage war, ein Fenster mit Blick auf einen Fluss – und damit ein Stück Außenwelt – zu sehen. Das Fenster war einseitig verspiegelt, so dass wir nur hinausschauen konnten. Es war ein sehnsüchtiger Blick. Im Labor sieht man die Tiere nicht um des Ansehens willen an. Anders als im Zoo, wo Tiere dazu da sind, ausgestellt, vielleicht sogar bewundert zu werden, sollen Tiere und Menschen im Labor mitei nander in Versuchsräumen arbeiten, in Form einer abgeschiedenen Interaktion und in der Weise, die durch die Versuchssituation dik tiert wird. In dieser Umgebung können Tiergeräusche – Quietschen, Schreie, Schnurren, Bellen etc. – die sonst ruhige, un-„natürliche“, will sagen, künstliche und mechanisierte Umgebung unterbrechen. In diesen Momenten kann das GESICHT des Tiers zum Vorschein kommen – durch die Stimme des Tieres oder körperliche Geräusche, wobei die Klänge innerhalb des Raums zurückbleiben, es sei denn, man bemüht sich, zu einem späteren Zeitpunkt über sie zu sprechen. 4.2 Eingangs- und Ausgangsrituale und spezielle Kleidung Für das Betreten und Verlassen von Tieranlagen sind liminale Dazwischen-Räume wesentlich. In diesen Räumen existieren das Innen und das Außen nebeneinander. Die eine Hälfte des Raums dient der Aufbewahrung des Durcheinanders aus Alltagskleidung, Schuhen, Schirmen und Schmuck der das Labor betretenden Beleg schaft; die andere Hälfte hält ordentlich zusammengelegte, saubere Arbeitskleidung und sterilisierte Ausrüstung bereit, welche das Per sonal anlegen muss, bevor es die Versuchsräume betritt. Die zwei Hälften des Raums, welche symbolisch durch einen Vorhang ge trennt sind, markieren dabei immer noch einen Übergang und eine Unterscheidung.69 Personal, welches diese Anlagen betreten will, muss im Besitz 69 Diese Routinen evozieren einen „Übergangsritus“, welcher aus Ablösung, Limi nalität und Integration besteht, auch wenn dieser üblicherweise nicht als solcher erkannt wird. Vgl. A. van Gennep, The rites of passage, übersetzt von M. B. Vizedom and G. L. Caffee, Chicago 1960.
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der entsprechenden Genehmigung sein oder von jemandem mit einer solchen Genehmigung begleitet werden. Dazwischen-Räume zielen darauf ab, den Austausch von Bakterien und anderen Erre gern zwischen dem „Außen“ und dem Rest des Labors oder des Versuchsraums und der desinfizierten Tieranlage zu minimieren. Das Personal muss sich sowohl vor dem Betreten als auch vor dem Verlassen der Tieranlage bis zu einem gewissen Grad von Keimen befreien, beispielsweise durch das Waschen und Desinfizieren der Hände oder sogar durch Duschen. Tiere, die in der Anlage beher bergt werden, sind oft daraufhin gezüchtet, bestimmte Zustände zu entwickeln, und können daher, wie auch die Belegschaft, anfällig für Infektionen und andere Erkrankungen sein. Darüber hinaus könn ten sich potentielle Probleme auf die gesamten Populationen über tragen, da die Tiere gemeinsame Genotypen haben. Daher müssen Menschen vor dem Betreten der Tieranlage ihre äußere Kleidung und vor dem Verlassen der Anlage ihre berufliche Laborkleidung ablegen. Wie hübsch die Bluse, der Schmuck oder andere charakteri sierende oder individuell ausgesuchte Gegenstände, die man an sich trägt, auch sein mögen, man legt sie vor der Arbeit in der Tieranlage ab – und legt sie erst wieder an, wenn man die Anlage verlässt. Die Belegschaft trägt stattdessen standardisierte Dienstkleidung in aus gewählten Größen, Farben und Schnitten sowie persönliche Schutz ausrüstung (PSA). Die laborspezifische Kleidung und Ausrüstung dient dazu, Men schen und Tiere vor den biologischen Kontaminanten des jeweils an deren zu schützen. Trotzdem ist der Effekt, den das Anziehen dieser Kleidung hat, ein zweifacher: Zum einen wird damit eine Schicht der persönlichen oder anderweitig individuell charakterisierenden Kleidung abgelegt; zum anderen wird diese durch Kleidung ersetzt, welche von der Verwaltung der Forschungseinrichtung für die Zwe cke der auszuübenden wissenschaftlichen Arbeit ausgewählt wurde. Dies kommuniziert mittels eines äußeren Zeichens etwas über die Absichten und die Rolle der Person, die diese trägt. Während die eigene Kleidung üblicherweise so passt, wie man es beabsichtigt, kön nen sich Kleidung und Schuhe als zu groß oder zu klein, oder auf andere Weise für das eigene GESICHT – im Verständnis dessen, was Morris als „greater face“ unter Einbeziehung des Körpers fasst – unpassend anfühlen. Das Haar und die Frisur werden durch Kopf bekleidung verschleiert, Gesichtszüge wie Nase, Mund und Augen von Masken und Brillen verdeckt, Hände und Finger in Handschu he gehüllt, Füße in die immer gleichen Plastikclogs gepackt.
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Dieser Vorgang der Entpersonalisierung/des Brandings durch Dienstbekleidung ist auch in nicht-medizinischen Arbeitsumge bungen üblich, wie beispielsweise in Fast Food Restaurants, bei be stimmtem Dienstleistungspersonal und in Justizvollzugsanstalten. In all diesen Fällen kann das Ablegen von persönlichen Gegenstän den als das Umsetzen von Hygienemaßstäben und der gleichzeiti gen Disziplinierung des Selbst wahrgenommen werden. Ein Labor kittel kann allerdings auch einen höheren Status kommunizieren. Allerdings scheint es so zu sein, dass medizinische Dienstkleidung und Laborkittel auch dann einen Status vermitteln, wenn sie tat sächlich gar nicht getragen werden müssen, wie z. B. außerhalb der Arbeitssituation. Ich erinnere mich, meinen mir für die Tätigkeit im Labor zugewiesenen Laborkittel an einem sehr kalten Tag als zusätzliche Kleidungsschicht getragen zu haben.70 Das habe ich auch während unseres gemeinsamen Mittagessens getan und wur de danach von unserem Gruppenleiter dafür gescholten, da dies, wie er sagte, ein Gesundheitsrisiko darstellte und „nur Ärzte“ ihre Kittel auch außerhalb der Arbeit tragen dürften. Ich antwortete, dass ich, wie allgemein bekannt war, keine Laborforschung betrei ben würde und fragte im Gegenzug, warum Ärzte ihre Kittel in den Gemeinschaftsräumen tragen dürften, nachdem sie in Kon takt mit Patienten gekommen waren.71 Darauf gab es keine klare Antwort; allerdings erkannten wir beide, dass diese Kleidung einen symbolischen Status hat. Tierforschungsszenarien erfordern nicht, dass Dienstkleidung eine Person gegenüber den Menschen, die sie kennen, unkenntlich macht, noch, dass sie diese unmenschlich er scheinen lässt. Jedoch besteht an diesen Orten möglicherweise die Schwierigkeit, eine Person sofort erkennen zu können, auch weil größere Teile ihres Gesichts verdeckt sind. Der Aufwand, welcher in ein einheitliches Erscheinungsbild fließt, überträgt sich auch auf die Versuchsmodelle. Es klingt absurd, überhaupt die Vorstellung 70 Ironischerweise ist einer der Gründe für die Nichteinhaltung von PSA-Richtli nien, dass es in ihr sehr warm wird – aber nicht in Norwegen. Vgl. H. Cameiro Cunha Neves, A. C. Silva e Souza, M. Medeiros, D. Bouttelet Munari, L. C. M. Ribeiro, A. Ferreira Veiga Tipple, „Safety of nursing staff and determinants of adherence to personal protective equipment“, in: Rev. Latino-Am. Enfermagem, 19(2)/2011, S. 354-361. 71 In der Tat hat eine aktuelle Studie in Indien nahegelegt, dass langärmlige Kittel die Übertragung von Krankheiten begünstigen. E. Fernandes, „Doctors and medical students in India should stop wearing white coats“, in: British Medical Journal, 351/2015, doi: 10.1136/bmj.h3855.
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in den Raum zu stellen, dass Versuchstiere eine Schleife oder einen Pullover tragen könnten – aber solche Accessoires sind bei Haus tieren nicht ungewöhnlich. Darüber hinaus und auf einer tieferen Ebene sind die Tiere oft aus spezifischem genetischem Material ge züchtet, was zur Folge hat, dass Individuen sich sowohl genetische als auch phänotypische Merkmale teilen. Das GESICHT wird sowohl physisch, als auch über das Dämpfen der Sinne, verschleiert: der Tastsinn durch Handschuhe; Stimme, Geruchs- und Geschmackssinn durch Masken; Hörsinn durch Kopf bekleidung; Sicht durch Brillen. Die Möglichkeit, ein anderes Ge sicht unmittelbar zu erfahren, verschwindet damit nicht! Doch die Sinneserfahrung wird vermittelt; das Hören, Sehen, Berühren und Riechen von Menschen und Tieren erfolgt im Kontext eines wissen schaftlichen Vorgangs und wird über Technologien vermittelt, wel che Signale abdämpfen und symbolisch dazu dienen, Andere ent weder als Kollaborateure oder als Subjekte innerhalb eines wissen schaftlichen Vorgangs wahrzunehmen. Es ist bemerkenswert, dass – möglicherweise aufgrund der vorgeschriebenen Verschleierung des eigenen Gesichts durch die Verwendung standardisierter Kleidung – Geschlecht und Persönlichkeit an diesen Orten besonders wichtig für die Selbstinszenierung sein können und dass Menschen sich be sondere Mühe geben, nett, charmant und witzig zu sein. Das Flir ten zwischen medizinischem Personal in Akutsituationen und der Ausdruck von Teamgeist durch Singen, Tanzen oder Witze machen kann hier so verstanden werden, dass dem Arbeitsvorgang (oder dem Selbst) ein neues, fröhliches „Gesicht“ aufgesetzt wird, um die Arbeit auf diese Weise menschlicher oder für Menschen, die in die sen Situationen arbeiten, erträglicher zu machen.72 4.3 Mechanismen der Identifizierung und Benennung Wie Michael Lynch sagt, sind Mechanismen der Identifizierung und Benennung der Schlüssel, um ein natürliches Tier zu einem analyti schen Objekt zu machen: 72 K. Watson, „Gallows humor in medicine“, in: The Hastings Center Report, 41(5)/2011, S. 37-45; G. Koksvik, „Laughing in the face of clinical dirty work: Hu mor in two French intensive care units“, Unveröffentlichtes Manuskript. Siehe auch E. Goffman, The presentation of self in everyday life, S. 25, zu „Unterbrechungen“ einer Situationsdefinition, welche Witze und Humor beinhalten kann.
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„The same inscription [die Identifikationsnummer des Tiers] was previously written in a number of different places: on a tag affixed to each rat’s cage while the animal was still alive, on the rat’s tail (written with a marking pen) just prior to its sacrifice, on a jar of preservative fluid in which the decapitated head was placed, on a disk of plastic in which dissected fragments of the brain were embedded, and on the container in which electron micrographic sec tions were stored. Each of these sites marks a stage in the selection and processing of the animal’s remains.“73 Die Nummer und andere Bezeichnungen, die dem Tier zuge wiesen werden, um es von anderen zu unterscheiden, werden im Versuchsprozess als ausgewählten Containern zugehörig, in wel chen Körperteile, Organe und Gewebe aufbewahrt werden, kom muniziert. Die Zuweisung der Identität erfolgt nicht auf Grundlage von irgendetwas, was diese Ratte ausmacht, sondern nur auf Basis der Funktion des ausgewählten Tiers oder dessen Anordnung im Versuchsaufbau. Vorzugsweise erfolgt die Identifizierung der Tie re oftmals mittels Zahlen oder abstrakten grafischen Zeichen, wie etwa das Zeichnen von Linien auf den Schwanz einer Ratte, oder das Stanzen von Löchern in das Ohr des Tiers. Interessanterweise gibt es Forschungsgebiete, wie z. B. die Verhaltensbiologie oder solche, in denen man mit „höher entwickelten“ Arten wie Primaten arbeitet, in denen der Gesichtsverlust nicht notwendig und eventuell sogar unerwünscht ist. In diesen Fällen ist die Verwendung von Personen namen zur Benennung von Labortieren üblicher. Doch selbst wenn die Tiere numerisch benannt sind, könn te man sie kennenlernen und dadurch manchen Zahlen eine neue Bedeutung zuschreiben. Nichtsdestotrotz wurde auch gezeigt, dass die Verwendung von Personennamen Einfluss auf die Innigkeit der Beziehung zwischen Tierforschungspersonal und Tieren hat.74 In menschlichen Gesellschaften versieht man Andere mit einem Na men; und einen Namen zu tragen macht auf den Anspruch darauf, eine Identität und ein Gesicht zu haben, aufmerksam – hierfür sind die Namen von Haustieren oder landwirtschaftlichen Nutztieren ein gutes Beispiel. Die Wahrscheinlichkeit, dass man ein Tier als Anderen erfährt, kann sich bei verschiedenen Tiermodellen unter 73 M. Lynch, „Sacrifice and the transformation of the animal body into a scientific object: Laboratory culture and ritual practice in the neurosciences“, S. 271. 74 H. Herzog, „Ethical aspects of relationships between humans and research animals“.
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scheiden. Einige Arten sind in Versuchen leichter zu handhaben, und zwar genau aus dem Grund, dass sie alle gleich aussehen – bei spielsweise Fische oder Nagetiere; im Gegensatz dazu stehen Hunde oder Katzen, in deren Augen man die seiner heißgeliebten Haustie re wiedererkennt. Daher kann einer der Gründe für das Auswählen von Modellorganismen die Einfachheit sein, mit der man ein Mit glied der Art gesichtslos machen kann; die Leichtigkeit, mit der man das GESICHT, die Augen und den Körper des Tiers verhüllen kann und welche dazu führt, dass man einem undifferenzierten Schemen begegnet, anstelle eines absolut anderen Individuums. 4.4 Versuchsabläufe und Skripte Versuchsabläufe und Skripte dienen dazu, zu beschreiben, wann und wie die Tiere behandelt werden sollen und bieten damit eine Routine, die von Mal zu Mal und von Tier zu Tier (teilweise) repli ziert, nachbereitet und dokumentiert werden kann. Abläufe können dabei aber neben der Durchführung der wissenschaftlichen Vorgän ge auch die restliche Begegnung mit Tieren vorstrukturieren. Wenn eine Interaktion nicht im Ablauf vorgesehen ist – beispielsweise Singen, Streicheln oder das Sprechen und Spielen mit Tieren –, so wird sie höchstwahrscheinlich nicht im Laborbericht dokumentiert und könnte sogar als Störfaktor der Forschungsvalidität betrachtet werden. Darüber hinaus gibt es bei der Handhabung von Ratten be stimmte Techniken, die bevorzugt werden, da sie die Dauer und die Art der Begegnung des Forschenden mit dem GESICHT des Tiers begrenzen.75 So könnte man Ratten an ihrem Schwanz hochhe ben, anstatt sie in der Hand zu halten, obwohl die zweite Methode empfohlen wird, da die Tiere sie bevorzugen. Eine Ratte an ihrem Schwanz hochzuheben, minimiert den Kontakt zwischen dem war men Körper des Tiers und dem des Menschen und verhindert so, dass die Ratte sich mit ihren kleinen Klauen festkrallt (die Krallen könnten das Latex punktieren), während man gleichzeitig die Ratte so behandelt, als wäre sie ein Objekt mit einem Griff, eine Art Tee tasse, die man am Schwanz anfasst, und dadurch der Eindruck ent steht, die Ratte wäre körperlos – gar nicht da. Im Beispiel von Alex 75 Zu den Techniken des Umgangs mit Mäusen im Labor vgl. auch den Beitrag von Hüntelmann in diesem Band.
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in Abschnitt 2 haben wir gesehen, dass die von den Kolleginnen und Kollegen vorgeschlagene Technik, um ihm die Mikroinjektionen zu erleichtern, das Einwickeln des Tiers in ein Handtuch beinhaltet. Gemäß der Auffassung des GESICHTS als körperlich ausdrucksfä hige Oberfläche, fungiert das Handtuch hier nicht nur als materielle Abdämpfung oder beengender Zwang, sondern erzeugt auch eine materielle Barriere zwischen dem Gesicht des Forschenden und dem Tier und schirmt so das Gesicht des Anderen so ab, dass es sich nicht gegen das Festhalten aussprechen kann. In dieser Hinsicht ist es bezeichnend, dass Studierenden in nerhalb der Tierforschung beigebracht wird, dem GESICHT des Tiers auf eine „frontale“ Weise, als Bild oder Text, welchen es zu entschlüsseln gilt, zu begegnen. Man hält das „Lesen“ von Tier gesichtern gemäß verallgemeinerter Skalen, wie etwa der „MausGrimassen-Skala“ (mouce grimace scale MGS)76 oder der „RattenGrimassen-Skala“77 für möglich. Diese Skalen wurden mit dem Ziel entwickelt, Schmerzforschung leichter möglich zu machen; man verwendet Nagetiere, um deren Schmerz zu erfassen und die Er kenntnisse auf Menschen zu übertragen, anstatt Schmerzen der Na getiere selbst als signifikant anzuerkennen. Jedoch werden die Skalen verwendet, um Forschenden beizubringen, zu erkennen, wann ein Tier eingeschläfert werden sollte. Die Verwendung einer GrimassenSkala strukturiert die Begegnung mit dem GESICHT des Tiers durch einen analysierenden und kategorisierenden Blick: Dieser basiert auf der Erwartung des Vertrauten – einem Eintrag, den man irgendwo auf der Skala verorten kann. Dies unterscheidet sich von der Begeg nung mit einem absolut Anderen – einem Geheimnis. Es stimmt, dass Software ein Gesicht automatisch entlang einer solchen Skala „lesen“ kann; diese Art des Lesens umgeht den menschlichen Blick: Rodent Face Finder® „automatisiert erfolgreich den arbeitsreichsten
76 Vgl. D. J. Langford, A. L. Bailey, M. L. Chanda, S. E. Clarke, T. E. Drummond, S. Echols, S. Glick, J. Ingrao, T. Klassen-Ross, M. L. LaCroix-Fralish, L. Matsumiya, R. E. Sorge, S. G. Sotocinal, J. M. Tabaka, D. Wong, A. M. J. M. van den Maagden berg, M. D. Ferrari, K. D. Craig, J. S. Mogil, „Coding of facial expressions of pain in the laboratory mouse“, in: Nature Methods, 7(6)/2010, S. 447-449. 77 Vgl. S. G. Sotocinal, R. E. Sorge, A. Zaloum, A. H. Tuttle, L. J. Martin, J. S. Wieskopf, J. C. S. Mapplebeck, P. Wei, S. Zhan, S. Zhang, J. J. McDougall, O. D. King, J. S. Mogil, „The rat grimace scale. A partially automated method for quantifying pain in the laboratory rat via facial expressions“, in: Molecular Pain, 7(55)/2011, doi: 10.1186/1744-8069-7-55.
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Schritt im Prozess“.78 Und welcher ist das? Dieser ist „grabbing indi vidual face-containing frames from digital video, which is hampered by uncooperative subjects (not looking directly at the camera) or otherwise poor optics due to motion blurring“.79 Es ist schwierig, das Tier als Frontseite zu behandeln, wenn es nicht stillsitzt und nicht in die Kamera blickt – wenn es dich stattdessen direkt ansieht, und du den Blick erwiderst. Laborausstattung welche „Inskriptionen“ des Tiers enthält, funk tioniert auf ähnliche Weise.80 Die vorbeschrifteten Behälter, Rea genzgläser, Röhrchen oder Tabellenblätter dienen dazu, eine Er fahrung, welche das GESICHT, den Körper und die Organe des Tiers einbezieht, zu „erfassen“, zu rahmen und zu ordnen. Diese einschreibende Ausstattung ordnet den Blick und die Interaktion entlang der Frage, welches „Wissen“ als relevant erachtet wird, um von der Versuchssituation zu abstrahieren. Es gibt kein geeignetes Tabellenblatt für das Dokumentieren eines Albtraums, der Unfä higkeit, Fleisch zu essen, eines verzweifelten Blicks oder einer quä lenden Erinnerung innerhalb der Erfahrung der Menschen, die an dieser Arbeit beteiligt sind. Man soll sich von der Berührung eines weichen, warmen Körpers, von den Bewegungen, vom Geruch des Fleischs, der Härte der Knochen und der Klebrigkeit des Fleischs auf den Knochen, welche man zu trennen versucht, distanzieren – und man soll Daten und Gewebe als interpretierbar, erwartbar und be kannt konservieren, verstauen und dokumentieren. Inskriptionen dienen in diesem Verständnis nicht nur dazu, das natürliche Tier in analytische Daten umzuwandeln, welche in der symbolischen Praxis der Wissenschaft bedeutsam sind, sondern sie können auch Forschende und Tiere daran hindern, einander als geheime, absolut Andere zu begegnen – oder andernfalls die schwe re Last eines verborgenen Mordes zu tragen.
78 Ebd., S. 1. 79 Ebd., S. 2. 80 An anderer Stelle habe ich diese Art von Ausstattung als „founding tools“ be zeichnet, da sie dafür verwendet werden, ein nichtwissenschaftliches Ding als Teil der Wissenschaft zu begründen oder einzusetzen. An dieser Stelle bin ich am Verlust des Naturalistischen interessiert, im Speziellen am Verlust des Ge sichts, welcher in einem solchen Prozess stattfindet. Vgl. S. Efstathiou, The use of ‚race‘ as a variable in biomedical research.
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4.5 Hinzugefügte Gesichter Das Entfernen oder Versperren des GESICHTS eines Tiers ist nicht nur eine Negation, sondern kann auch das Ersetzen des Gesichts durch ein neues, angemesseneres GESICHT mit sich bringen. Es ist verlockend dieses, in Goffmans Terminologie, als „Fassade“ zu bezeichnen. Das analytische Objekt würde tatsächlich eine Fassade für das Versuchstier bieten. Allerdings wirkt das, worauf ich hier verweisen möchte, so, als sei es ein Gesicht: als Symbol des inneren, emotionalen oder moralischen Wesens, welches nicht sofort als im Kontext professioneller Praxis entstanden erkannt wird. Ich würde daher gerne dabei bleiben, es als „hinzugefügtes GESICHT“ zu be zeichnen. Hinzugefügte GESICHTER von Tieren können sich über alle bereits genannten Dimensionen und Aufbereitungen erstrecken. Veränderungen in der errichteten Umgebung können das Dekorie ren der Tieranlage mit Bildern oder Objekten beinhalten, welche darauf abzielen, den Raum „tierfreundlicher“ zu gestalten, um lie bende, umsorgende oder wertschätzende Empfindungen gegenüber den an der Arbeit beteiligten Tieren (und Menschen) zu kommuni zieren. In der Tieranlage, die ich besuchte, hingen beispielsweise Bilder von Tieren in freier Wildbahn an den Wänden – Nahaufnah men von Schneehasen oder Kaninchen – und kommunizierten damit das Bild eines Tiers, welches gesund, frei und wild ist – und bestaunt wird; im starken Kontrast dazu stehen die Artgenossen dieser Tiere, welche in derselben kontrollierten Anlage gezüchtet und festgehal ten werden. Vielleicht verweist dort, wo die Disziplin zu Hause ist, ein Bild der Wildnis auf die Sehnsucht nach Natur und Freiheit, sowohl für die Tiere, als auch für die Menschen – ein Versuch zu zeigen, dass Forschende außerhalb der Laborumgebung noch immer dem GESICHT eines wilden Tiers begegnen können; vielleicht ist es eine Rückversicherung, dass ihre moralischen Möglichkeiten zwar eingeklammert, aber keineswegs verloren sind;81 oder vielleicht ist es einfach nur ein Blick nach „draußen“ (Abb. 1). Hinzugefügte Gesichter könnten sich stattdessen auch auf die in den Laboren arbeitenden Wissenschaftler und Wissenschaft lerinnen richten – vielleicht durch die Hervorhebung von Kenn zeichen, welche die Wichtigkeit dieser Art von Forschung für die Gesellschaft durch die Rahmung wissenschaftlicher Referenzen unterstreichen, oder alternativ durch das Personalisieren von stan 81 Vielen Dank für diesen Vorschlag an Giovanni De Grandis.
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Abb. 1: Ein Fahrradfahrer in freier Wildbahn; Darstellung einer Sehn sucht, welche gleichermaßen eine Abwesenheit bezeugt. Fitnessraum der Universität – Bild der Autorin.]
dardisierter Dienstkleidung oder dem Arbeitsplatz. Ich habe sol che hinzugefügten GESICHTER bei Tierforschungspersonal, dem ich selbst begegnet bin, allerdings nie gesehen. Hinzugefügte Gesichter beinhalten die Verwendung von Bil dern und Comics als Hilfsmittel für die Ausübung von wissen schaftlicher Arbeit. So bringt beispielsweise ein übergroßes Abbild einer Disneyfigur aus Ratatouille mit aufgemalten Löchern in den Ohren dem Personal bei, wie (wie viele, an welcher Stelle) man Lö cher in die Ohren der Versuchsratten stanzt, um verschiedene Ko horten auseinander zu halten. Der Styroporblock, auf welchem die Extremitäten der betäubten Ratten mit Nadeln festgesteckt werden, damit der erste Einschnitt erfolgen kann, ist mit einem lachenden Gesicht bedruckt – man sieht, wie es einem ins Gesicht lacht, wäh rend man den Körper der Ratte an die nächste Person weitergibt, welche die Organe entnimmt. Wissenschaftliche Vorträge über die Ergebnisse von Tierversuchen enthalten oft Archivbilder von der Tierrasse, die verwendet wurde, auf welchen in hoher Auflösung gesunde Tiere zu sehen sind, anstelle von Bildern der tatsächlichen Tiere, welche an den Versuchsprozessen beteiligt sind. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Tiercomic oder ein Bild mit einer Sprech
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blase ein Teil des Vortrags ist. Beispielsweise könnte dies eine Ratte im Laborkittel sein, welche als „Mitarbeiter“ oder „Teilnehmer“ der Arbeit inszeniert wird und etwas Nettes und Höfliches sagt, wie z. B.: „Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!“ 4.6 Befleckende und verbleibende Gesichter Der Gesichtsverlust ist nie vollständig. Obwohl man sich an diese, genau wie an alle anderen Arten von Arbeit, gewöhnen kann, er fordert die Gewöhnung die ständige Überwindung der Berührung, des Geruchs, des Aussehens und des Klangs eines Anderen – Ethos trifft auf Ethik. Es fühlt sich schlimmer an, Käfige mit Tieren, die man kennt, in den Opferraum zu tragen. Die Berührung mit dem warmen Körper eines Tiers, dessen Organe entnommen werden, während es schrittweise stirbt; die Geräusche einer ovarektomierten Ratte, deren Bauch von einem Forscher massiert wird; das Quieken einer Ratte, welche versucht, der handschuhverpackten Hand des Mannes zu entfliehen, welcher sie in die Betäubungskammer hebt (und an dessen Händen sie womöglich das Blut ihrer Käfiggenossen riecht); das pulsierende Herz, welches in einem winzigen Plastik container getragen wird und welches auch ohne einen Körper wei terschlägt. Sobald das Tier geöffnet wurde und sein Innenleben zum Vorschein kommt, zieht die Komplexität der Organe und pulsieren den Adern die gesamte Aufmerksamkeit auf sich und das Tier wird zugunsten seiner Organe – dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Anliegen – nicht weiter beachtet. Doch wenn man auf die Tiere blickt, die sich noch im Käfig befinden, wie sie darauf warten, dass sie an der Reihe sind, kann einem das Herz schwer werden. Die Opferung fängt den unschlüssigen Blick ein: Einerseits ein genommen von dem Tier auf dem Versuchstisch, dessen Augen von der Betäubung glasig sind und dessen Körper schrittweise um flei schige, blutige Organe entleert wird – welch faszinierende Faszien! Andererseits von der Ratte vereinnahmt, welche versucht, sich aus der Hand des Mannes, der sie in die Betäubungskammer bringt, herauszukratzen. Ihr Widerstand ist zwecklos – es sei denn, dieser bringt dich dazu, dich im Angesicht der Opferung an deine eigene Sterblichkeit und Gefangenschaft zu erinnern.
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5. Fazit: In der Philosophie Gesichtern ins Gesicht sehen Ich habe zwei Hauptargumente vertreten: Erstens, dass die Arbeit mit Tieren in der Forschung mehrere normative Herausforderungen beinhaltet, welche mit emotionalen, sozialen und epistemischen Be gegnungen zwischen Menschen und Tieren im Labor verknüpft sind (Abschnitt 2). Zweitens, dass ein Konzept des Gesichts und ein Ver ständnis darüber, wie Tiere und Menschen ihr Gesicht durch „Tech nologien des Gesichtsverlusts“ verlieren, dabei helfen können, diese Herausforderungen als Spannung zwischen einer Ethik des Ande ren und einer Ethik des Geordneten, des wissenschaftlichen Ethos, zu beschreiben. Meine Hauptannahme war, dass der Wissenserwerb durch Tierforschung untrennbar mit der Möglichkeit verbunden ist, Tiere über ihr ‚Gesicht‘ – ihre Gesichter und Körper – kennenzuler nen. Diese Gesichter und Körper machen uns durch die Erfahrung von etwas jenseits des Visuellen, des Fühlbaren, des Hörbaren oder des Riechbaren auf die Präsenz eines anderen Wesens mit einem Innenleben aufmerksam. Eine humanimale Forschungsethik bein haltet das Ins-Gesicht-Sehen von sowohl Menschen als auch Tieren, die an der Tierforschung beteiligt sind, sowie die Erforschung der Wirkung des Gesichtsverlusts auf die durchgeführte Forschung und jene, die daran beteiligt sind. Vielleicht ist eine Option, um sich der Tierforschung zu nähern, das, was Donna Haraway als das „Teilen von Leid“ bezeichnet.82 Haraway geht davon aus, dass es nicht mög lich ist, die Notwendigkeit zu überwinden, Tiere zu töten, da sie tief mit den Weisen verbunden ist, wie Menschen und Tiere gemein schaftlich aufwachsen, leben und sterben. Stattdessen stellt sie sich ein Töten von Tieren vor, welches sich dagegen sträubt, Tiere „töt bar“ zu machen. Dieses Töten eines Tiers, welches nicht tötbar ist, wäre eine Tat, die ihren eigenen Anteil von Leid, Sorge und Schuld für den Menschen an der Seite des Tiers mit sich bringt. Ein Mord, dessen Bürde es vielleicht zu tragen gilt – und das, was sich aus einer Levinasschen Ethik des Gesichts ergeben würde. Eine humanimale Forschungsethik betont die relationale Natur der Tierforschung. Die relevanten Zustände (Leid/Freud) und die normativen Implikationen (welche es zu vermeiden/fördern gilt) können nicht nur für eine Seite der Forschungsrelation betrachtet werden (entweder nur die Forschenden oder nur die Tiere). Sie sind eng miteinander verknüpft und schaffen Spannungen zwischen der 82 Vgl. D. Haraway, When Species Meet, MN Minneapolis 2008, S. 69-94.
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Erfahrung der durchgeführten Forschung, dem Pathos und dem Ethos. Die Forschende kann stärker leiden, wenn die Ratte stär ker leidet, selbst dann, wenn ihr Forschungsziel erfüllt wird. Eine humanimale Forschungsethik kann also keine Ethik für nur eine Seite sein, sondern nur eine Ethik der Relation an sich.83 Ich möchte mit der Bemerkung schließen, dass das, was Ratten und Forschenden, die Ratten studieren, passiert, auch den Sozio humanisten passiert, welche die Menschen erforschen, die an Rat ten forschen. Man betrachte die Sprache der Tierforschungsethik. „RRR“, die Abkürzung für Reduce, Replace, Refine, ist das Motto, mit welchem die Schlüsselaufgaben bezeichnet werden, auf wel che zurückgegriffen werden soll, um Tierforschung auf eine ethi sche Art und Weise durchzuführen. Doch Festschreibung ethischer Prinzipien als Regeln und Verordnungen und in Formen von all gemeinen Mottos oder Schaden-Nutzen-Analysen und Checklisten kann fehlschlagen, wenn man die unmittelbare Interaktion mit dem Anderen erschwert (unwissenschaftlich, unprofessionell, albern, sentimental etc.) und die Schwierigkeiten dieser Begegnungen eher abdämpft, anstatt ihnen ins Gesicht zu sehen. Obwohl die Ethik sehr kluge Positionen und Argumente dazu entwickelt hat, wie man Beziehungen zu Tieren gestalten kann, kann diesen philosophischen Tropen in mancher Hinsicht ein Ge sicht fehlen. Wie Niklas Forsberg so wortgewandt fragt: „Is it possible that we sometimes turn to arguments to hide our own weaknesses? Do we at times turn to abstract theorizing in or der not to face reality? And, if so, how does that affect philosophy, how we do philosophy? (These are questions, not answers. I’m as king, not asserting.) This much seems to be true: philosophical clarity may require a form of writing that enables us to absorb the intimate details of our lives in language.“84 Schließen wir deshalb mit zwei Texten, die sich gegenseitig ins Gesicht sehen:
83 Vielen Dank an Robert Meunier für das Hervorheben dieses Arguments. 84 N. Forsberg, „Different forms of forms of life: A philosophical introduction“, in: N. Forsberg, M. Burley, N. Hämäläinen (Hrsg.), Language, ethics and animal life: Wittgenstein and beyond, London 2012, S. 1-15, hier S. 6.
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Technologien des Gesichtsverlusts Mein Hund hat einen kleinen warmen sanften seidenen Körper. Wenn ich aufwache, gehe ich zu ihm und knie mich auf den Boden neben seinem Kissen und umarme ihn, ich be decke seinen Körper mit meinem, mein Kopf in der Krümmung seines Bauchs, sein Kopf in der Krümmung meines Halses, sein Gesicht atmet in mein Herz. Und dort ruhen wir, glücklich, noch nicht ganz wach zu sein. Ich habe mal gelesen, dass Hunde es nicht mögen, umarmt zu werden. Doch meiner scheint stattdessen mich zum umhüllen.
419 Die orchestrierten Bewegungen der Menschen, Tiere und Organe im Opfertanz sind beindruckend, getaktet, präzise und ermüdend. Die scher zende Atmosphäre, das Zurufen von Organnamen, während diese wiederholt entnommen, gewogen und präserviert werden, das Weitermachen, Singen (anstelle von Weinen oder Schreien) ist kein Mittel gegen die Schwere, die man fühlt. Danach. Das Rot, das das Weiß überdeckt, wenn Ratten wieder und wieder aufgeschnit ten werden – das ist es, was ich sehe. Und die eine, die versuchte zu fliehen.85
Aus dem Englischen von Franz Mutschler und Murat Sezi.85
85 Anm. d. Übers.: Diese beiden Gedichte sind von der Autorin in englischer Spra che verfasst und für diese Version übersetzt worden. Die Originaltexte sind un ten aufgeführt: My dog has a small warm soft silky The orchestrated movement of body. When I wake up I go to him, and humans, animals and organs within I kneel on the floor by his pillow and the sacrificial dance is impressive, I embrace him, I cover my body over timed, precise and exhausting. The his body, my head on the crook of his joking atmosphere, the calling out of belly, his head in the crook of my neck, organ names, as they are repeatedly his face breathing into my heart. And extracted, weighed and preserved, the we rest there happy to not be fully carrying forward, singing (instead of woken up. crying or screaming) is no antidote to how heavy one feels. Afterwards. I read somewhere that dogs do not like The red that takes over the white as hugs. But mine seems to envelop me rats get cut open, again and again – instead. that is what I see. And the one who tried to escape.
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Christophe Boesch
Ökologie und Evolution des Sozialverhaltens und der sozialen Kognition bei Primaten1
Einleitung Die darwinsche Vorstellung von Kontinuität zwischen allen Lebensformen aufgrund gemeinsamer Vorfahren ist nach wie vor für manche schwer zu akzeptieren. Obschon evolutionäres Denken einen Konsens hinsichtlich Anatomie, Genetik, Entwicklung und Neurowissenschaft erreicht hat, ist es nach wie vor sehr umstritten, wenn es um kognitive und mentale Fähigkeiten geht.2 Bei komparatistischen Verhaltens- und Kognitionsstudien sind zwei Hauptansätze vorherrschend. Der erste folgt einem darwinschen Ansatz, welcher eine offene und unvoreingenommene Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen Arten, wie sie in ihren natürlichen Umgebungen leben, befürwortet. Tiere haben seit Generationen mit der Welt 1 Dieser Beitrag erschien ursprünglich unter dem Titel „The Ecology and Evolu tion of Social Behavior and Cognition in Primates“, in: T. K. Shackelford, J. Vonk (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Evolutionary Psychology, New York 2012, S. 486-503. Übersetzung und Abdruck erfolgten mit freundlicher Ge nehmigung von Oxford University Press, USA. 2 L. Barrett, P. Henzi, D. Rendall, „Social brains, simple minds: Does social com plexity really require cognitive complexity?“, in: Philosophical Transcriptions of the Royal Society, Series B, 362/2007, S. 561-575; C. Boesch, „What makes us human (Homo sapiens)? The challenge of cognitive cross-species comparison“, in: Journal of Comparative Psychology, 121(3)/2007, S. 227-240; C. Boesch, „Away from ethnocentrism and anthropocentrism: Toward a scientific understanding of ‚what makes us human‘“, in: Behavioral and Brain Sciences, 33(2-3)/2010, S. 8687; D. Cheney, R. Seyfarth, Baboon metaphysics: The evolution of a social mind, Chicago 2007; F. de Waal, The ape and the sushi master: Cultural reflections of a primatologist, New York 2001; M. Hauser, Moral minds: The nature of right and wrong, New York 2006; D. Penn, K. Holyoak, D. Povinelli, „Darwin’s mistake: Explaining the discontinuity between human and nonhuman minds“, in: Be havioral and Brain Sciences, 31(2)/2008, S. 109-178; D. Povinelli, Folk physics for apes: The chimpanzee’s theory of how the world works, Oxford (England) 2000; S. Shettleworth, Cognition, evolution and behavior, New York 1998; M. Tomasello et al., „Understanding and sharing intentions: The origins of cultural cognition“, in: Behavioral and Brain Sciences, 28(5)/2005, S. 675-691.
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interagiert und mussten erfolgreich die Struktur ihrer Umwelt nutzen, um zu überleben. Daher hat die natürliche Auslese Verhaltens- und Kognitionsmechanismen begünstigt, die es Individuen ermöglichen, das Leben in ihren jeweiligen ökologischen Nischen zu bewältigen. Demzufolge ist es wenig überraschend, dass diese andere Fähigkeiten als wir Menschen haben und in bestimmten Bereichen leistungsfähiger sind; dies schlägt sich jedoch nicht unbedingt in anderen Bereichen nieder.3 Der zweite Ansatz folgt einem cartesianischen Weltbild, welches der Ökologie und der Erfahrung weitaus weniger Wichtigkeit für die Entwicklung von sozialen Verhaltensweisen und kognitiven Fähigkeiten beimisst und sich stattdessen auf die Präsenz von menschlichen kognitiven Fähigkeiten bei anderen Tierarten, welche in von Menschen gemachten Umgebungen leben, konzentriert.4 Dies hat zu einer verwirrenden und widersprüchlichen Reihe von Behauptungen und Gegenbehauptungen in der Fachliteratur über Primaten geführt, wodurch diese für fachfremde Leser sehr schwierig zu verstehen ist. Der Unterschied zwischen einem darwinschen und einem cartesianischen Ansatz ist auch in den Einstellungen zur Kontinuität oder Diskontinuität von Verhaltens- und Kognitionseigenschaften 3
4
L. Barrett, P. Henzi, D. Rendall, „Social brains, simple minds“; C. Boesch, „What makes us human (Homo sapiens)?“; C. Boesch, „Taking ecology and develop ment seriously when comparing cognition: Reply to Tomasello and Call 2008“, in: Journal of Comparative Psychology, 122(4)/2008, S. 227-240; C. Boesch, „Away from ethnocentrism and anthropocentrism“; D. Cheney, R. Seyfarth, Baboon metaphysics; D. Cheney, R. Seyfarth, How monkeys see the world, Chi cago 1990; N. Emery, N. Clayton, „Mentality of crows: Convergent evolution of intelligence in corvids and apes“, in: Science, 306(5703)/2004, S. 1903-1907; F. de Waal, The ape and the sushi master; F. de Waal, „Putting the altruism back into altruism: the evolution of empathy“, in: Annual Review of Psychology, 59/2008, S. 279-300; F. de Waal, P. Ferrari, „Toward a bottom-up perspective on animal and human cognition“, in: Trends in Cognitive Sciences, 14(5)/2010, S. 201-207; T. Fitch, L. Huber, T. Bugnyar, „Social cognition and the evolution of language: Constructing cognitive phylogenies“, in: Neuron, 65(6)/2010, S. 795814; S. Shettleworth, Cognition, evolution and behavior. H. Moll, M. Tomasello, „Cooperation and human cognition: The Vygotskian in telligence hypothesis“, in: Philosophical Transcriptions of the Royal Society, B, 362(1480)/2007, S. 639-648; D. Penn, K. Holyoak, D. Povinelli, „Darwin’s mis take“; D. Povinelli, Folk physics for apes; T. Suddendorf, M. Corballis, „The evolution of foresight: What is mental travel and is it unique to humans?“, in: Behavorial and Brain Sciences, 30(3)/2007, S. 299-351; M. Tomasello et al., „Understanding and sharing intentions“; L. Wolpert, „Causal belief makes hu man“, in: C. Pasternak (Hrsg.), What makes us human?, Oxford (England) 2007, S. 164-181.
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im Tierreich erkennbar. Der evolutionäre Ansatz prognostiziert Kontinuität im Tierreich, auch zwischen Menschen und unseren nächsten lebenden Verwandten, den Schimpansen. Insbesondere wird bei möglicherweise einzigartigen menschlichen Eigenschaften davon ausgegangen, dass diese eine lange evolutionäre Geschichte haben und dass daher komparative Studien erforderlich sind, um zu verstehen, wie sich solche Eigenschaften entwickelt und welche Faktoren sie begünstigt haben. Darüber hinaus werden kognitive Eigenschaften als Anpassungen an bestimmte Formen des sozioökologischen Selektionsdrucks erachtet, zusätzlich zu dem, was gemäß der evolutionären Constraints, inklusive morphologischer, physiologischer und genetischer Charakteristika der untersuchten Art, möglich ist. Der cartesianische Ansatz neigt dazu, einen qualitativen Unterschied innerhalb des Tierreichs zu postulieren, durch welchen Menschen sich von allen anderen lebenden Arten hinsichtlich mehrerer wichtiger Eigenschaften unterscheiden. Descartes’ Gedanken zufolge sind Tiere rigide programmiert und der Einfluss sozio-ökologischer Umstände auf die Entwicklung von Verhaltensund Kognitionseigenschaften ist minimal bis unerheblich (siehe Abb. 1). Dies erklärt, warum Evolutionsforscher Studien an Tieren in Gefangenschaft mit großer Vorsicht und einem kritischen Auge betrachten,5 wohingegen Anhänger des cartesianischen Ansatzes die Ergebnisse von solchen Studien unkritisch akzeptieren, da diese aufgrund größerer Detailliertheit und besserer Kontrolle von potentiellen Störfaktoren als am zuverlässigsten erachtet werden.6 Tatsächlich hat sich Erfahrung für die Entwicklung von Verhaltens- und Kognitionsfähigkeiten bei vielen verschiedenen Arten als essentiell erwiesen, so zum Beispiel bei futterhortenden Vogelarten wie dem Kiefernhäher,7 Makaken und Rhesusaffen,8 Schim5
L. Barrett, P. Henzi, D. Rendall, „Social brains, simple minds“; C. Boesch, „What makes us human (Homo sapiens)?“; C. Boesch, „Away from ethnocentrism and anthropocentrism“; D. Cheney, R. Seyfarth, Baboon metaphysics; F. de Waal, The ape and the sushi master. 6 M. Hauser, Wild minds: What animals really think, New York 2000; M. Hauser, Moral minds; D. Penn, K. Holyoak, D. Povinelli, „Darwin’s mistake“; M. To masello, J. Call, Primate cognition, Oxford (England) 1997; M. Tomasello et al., „Understanding and sharing intentions“. 7 S. Shettleworth, Cognition, evolution and behavior. 8 H. Harlow, M. Harlow, „Social deprivation in monkeys“, in: Scientific Ameri can, 207/1962, S. 136-146; M. Kempes et al., „Socially deprived rhesus macaques fail to reconcile: Do they not attempt or not accept reconciliation?“, in: Animal Behaviour, 78(2)/2009, S.271-277; W. Mason, „Social experience and primate
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pansen9 und Menschen.10 Viele Studien haben den Langzeiteffekt von Früherfahrungen auf Hirnentwicklung, Hirnaktivität und kognitive Fähigkeiten dokumentiert und unterstützen damit einen darwinschen Ansatz, welcher die Wichtigkeit von sozio-ökologischen Umständen betont. Bei Indischen Hutaffen, zum Beispiel, welche in jungem Alter verschiedenen Schwierigkeitsgraden im Zugang zu Nahrung ausgesetzt waren, zeigten sich langfristige Veränderungen in der Funktion des präfrontalen Cortex sowie bei kognitiven Funktionen.11 Gleichermaßen haben sich bei Kindern, welche in jungem Alter für einen längeren Zeitraum institutionalisiert waren, Defizite bei bestimmten Aspekten der visuellen Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses sowie bei visuellem Lernen gezeigt.12 Modelle, welche die Rolle von Erfahrung für die neurale Entwicklung beschreiben, sowie wachsende Kenntnisse über die molekularen Prozesse der neuralen Plastizität weisen darauf hin, dass neurale Aktivitäten (also aktivitätsabhängige Prozesse) entscheidend für die Gehirnentwicklung sind.13 Dies impliziert, dass zusätzlich zu den in der Umwelt vorhandenen Reizen ein aktives Interagieren mit der
9 10
11 12 13
development“, in: G. M. Burghardt, M. Bekoff (Hrsg.), The development of behavior: Comparative and evolutionary aspects, New York 1978, S. 233-251; S. Mathew et al., „A magnetic resonance spectroscopic imaging study of adult nonhuman primates exposed to early-life stressors“, in: Biological Psychiatry, 54(7)/2003, S. 727-735; M. Sanchez et al., „Differential rearing affects corpus callosum size and cognitive function of rhesus monkeys“, in: Brain Research, 812(1-2)/1998, S. 38-49; M. Sanchez, C. Ladd, P. Plotsky, „Early adverse experi ence as a developmental risk factor for later psychopathology: Evidence from ro dent and primate models“, in: Development and Psychopathology, 13(3)/2001, S. 419-449. B. Gardner, R. Gardner, „Prelinguistic development of children and chimpan zees“, in: Human Evolution, 4(6)/1989, S. 433-460. J. Berry et al., Crosscultural psychology: Research and applications, 2. Aufl., Cambridge (England) 2002; P. Gordon, „Numerical cognition without words: Evidence from Amazonia“, in: Science, 306(5695)/2004, S. 496-499; S. Fox, P. Levitt, C. Nelson, „How the timing and quality of early experiences influence the development of brain architecture“, in: Child Development, 81(1)/2010, S. 28-40; C. Nelson et al., „Cognitive recovery in socially deprived young chil dren: The Bucharest early inter-vention project“, in: Science, 318(5858)/2007, S. 1937-1940; A. Smyke et al., „Placement in foster care enhances quality of attachment among young institutionalized children“, in: Child Development, 81(1)/2010, S. 212-223. M. Sanchez, C. Ladd, P. Plotsky, „Early adverse experience“; Mathew et al., „A magnetic resonance spectroscopic imaging study“. S. Pollack et al., „Neurodevelopmental effects of early deprivation in postinstitutionalized children“, in: Child Development, 81(1)/2010, S. 224-236. S. Fox, P. Levitt, C. Nelson, „How the timing and quality“.
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Abb. 1: Schematische Darstellung der Vorhersagen von zwei theoretischen Ansätzen für die Evolution sozialer Kognition. Der darwinsche Ansatz sagt voraus, dass Tiere sich den sozio-ökologischen Umständen, mit denen sie konfrontiert sind, anpassen und komplexere Fähigkeiten entwickeln, wenn sie unter herausfordernderen Umständen leben, wohingegen ein cartesianischer Ansatz sehr geringe Auswirkungen der ökologischen Umstände auf die individuelle Kognition erwartet und Studien in Gefangenschaft daher generell als valide betrachtet.
Umwelt essentiell sein könnte, damit manche Aspekte der kognitiven Entwicklung auftreten.14 Darüber hinaus wurde kürzlich auch für Vögel, Mäuse und Menschen nachgewiesen, dass Erfahrungen im späteren Leben einen wichtigen Effekt auf die allgemeine Intelligenz haben.15 Es ist wichtig, sich über diese unterschiedlichen Ansätze im Klaren zu sein, da kürzlich vorgeschlagen wurde, dass manche Eigenschaften der sozialen Kognition und des Sozialverhaltens charakteristische Eigenschaften von Menschen sind und uns von allen anderen lebenden Tieren unterscheiden. Diese Eigenschaften beinhalten erweiterte Kooperation, Altruismus, altruistisches Bestrafen,
14 P. Greenfield, „Cultural change and human development“, in: New Directions for Child and Adolescent Development, 83/1999, S. 37-59; A. Smyke et al., „Placement in foster care“. 15 N. Emery, N. Clayton, „Mentality of crows“; S. Jaeggi et al., „Improving fluid intelligence with training on working memory“, in: Proceedings of the National Academy of Science of the United States of America, 105(19)/2008, S. 68296833; K. Light et al., „Working memory training promotes general cognitive abilities in genetically heterogeneous mice“, in: Current Biology, 20(8)/2010, S. 1-6.
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Empathie und Sorge um das Wohl von anderen.16 Da die meisten Daten, auf die sich solche Behauptungen stützen, aus Studien an Tieren in Gefangenschaft stammen, in denen alle Individuen unter unnatürlichen Umständen und in künstlichen sozialen Gruppen leben, ist die unkritische Akzeptanz solcher Behauptungen seitens mancher Forscher überraschend. Eine detaillierte Besprechung solcher Behauptungen findet sich für den Aspekt des Altruismus bei Silk und House17 und für den Aspekt der Kooperation bei Warneken und Melis.18 Daher werde ich mich in meinem Beitrag darauf beschränken, die Beweislage für die Evolution sozialen Verhaltens bei in Wildnis lebenden Primatenpopulationen zu überprüfen und hervorzuheben, inwiefern ein evolutionärer Ansatz für die Frage „Was macht uns menschlich?“ unvoreingenommene und ökologisch valide Antworten hervorbringen kann. Ein evolutionärer Ansatz betrachtet Verhalten und Kognition als Anpassungsreaktionen auf die ökologischen Herausforderungen, mit denen Individuen konfrontiert sind.19 Einem solchen Ansatz zufolge werden anspruchsvollere sozio-ökologische Herausforderungen, mit denen die Individuen verschiedener Tierarten konfrontiert sind, eine Selektion von komplizierterem Sozialverhalten sowie komplizierteren kognitiven Fähigkeiten bewirken und zu einer erheblichen, konvergenten Evolution führen. Zweitens werden Arten 16 E. Fehr, S. Gächter, „Altruistic punishment in humans“, in: Nature, 415 (6868)/ 2002, S. 137-140; M. Hauser, Moral minds; S. Hrdy, Mothers and others: The evolutionary origins of mutual understanding, Cambridge (MA) 2009; D. Penn, K. Holyoak, D. Povinelli, „Darwin’s mistake“; M. Tomasello et al., „Understand ing and sharing intentions“; J. Silk et al., „Chimpanzees are indifferent to the welfare of unrelated group members“, in: Nature, 437(7063)/2005, S. 13571359. 17 Siehe J. Silk, B. House, „The Phylogeny and Ontogeny of Prosocial Behaviour“, in: T. K. Shackelford, J. Vonk (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Evo lutionary Psychology, New York 2012, S. 381-398. 18 Siehe F. Warneken, A. P. Melis, „The Ontogeny and of Phylogeny Cooperation“, in: T. K. Shackelford, J. Vonk (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Evolutionary Psychology, New York 2012, S. 399-418. 19 L. Barrett, P. Henzi, D. Rendall, „Social brains, simple minds“; C. Boesch, „Joint cooperative hunting among wild chimpanzees: Taking natural observations seri ously“, in: Behavioral and Brain Sciences, 28(5)/2005, S. 692-693; C. Boesch, „What makes us human (Homo sapiens)?“; C. Boesch, „Away from ethnocen trism and anthropocentrism“; D. Cheney, R. Seyfarth, Baboon metaphysics; D. Cheney, R. Seyfarth, How monkeys see the world; F. de Waal, The ape and the sushi master; T. Fitch, L. Huber, T. Bugnyar, „Social cognition and the evolution of language“; S. Shettleworth, Cognition, evolution and behavior.
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von Tieren, inklusive Menschen, welche vermehrt mit neuen sozioökologischen Herausforderungen konfrontiert sind, variablere Lösungen in Verhalten und Kognition erwerben. Unter den Primaten haben sich Menschen und Schimpansen der größten Vielfalt von Umweltbedingungen angepasst; daher wird für diese vorausgesagt, dass sie diversere Verhaltens- und Kognitionslösungen anwenden.20
Terminologie der Kooperation und des Altruismus Kooperation wird definiert als das gemeinsame Handeln zweier oder mehrerer Individuen, um ein gemeinsames Ziel, welches durch ein Individuum allein seltener erreicht werden würde, gemeinsam zu erreichen oder dieses zu versuchen.21 Die folgende Tabelle stellt die Kosten-Nutzen-Resultate der vier hauptsächlichen sozialen Interaktionen dar, die im Allgemeinen in der sozialen Domäne unterschieden werden: Kooperation findet statt, wenn beide Partner von einer Interaktion profitieren; Eigennutz, wenn der Akteur profitiert, aber der Empfänger verliert; Altruismus, wenn der Akteur verliert, aber der Empfänger etwas gewinnt; und Gehässigkeit, wenn beide Partner Nachteile erleiden.22
20 C. Boesch, The real chimpanzee: Sex strategies in the forest, Cambridge (Eng land) 2009. 21 R. Axelrod, W. D. Hamilton, „The evolution of cooperation“, in: Science, 211 (4489)/1981, S. 1390-1396; F. de Waal, The ape and the sushi master; F. de Waal, „Putting the altruism back into altruism“; L. Dugatkin, Cooperation among animals: An evolutionary perspective, Oxford (England) 1997; W. D. Hamilton, „The genetical theory of social behaviour (I and II)“, in: Journal of Theoretical Biology, 7(1)/1964, S. 1-32; M. Hauser, K. McAuliffe, P. Blake, „Evolving the ingredients for reciprocity and spite“, in: Philosophical Transac tions of the Royal Society, Series B, 364(1533)/2009, S. 3255-3266 ; J. R. Krebs, N. B. Davies, An introduction to behavioural ecology; J. Maynard-Smith, Evolu tion and the theory of games, Cambridge (England) 1982; C. Packer, L. Ruttan, „The evolution of cooperative hunting“, in: American Naturalist, 132(2)/1988, S. 159-198. 22 R. Axelrod, W. D. Hamilton, „The evolution of cooperation“; W. D. Hamilton, „The genetical theory of social behaviour“; J. Maynard-Smith, Evolution and the theory of games; R. L. Trivers, „The evolution of reciprocal altruism“, in: Quarterly Review of Biology, 46(1)/1971, S. 35-57, R. L. Trivers, Social evolu tion, Menlo Park (CA) 1985.
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Christophe Boesch Akteur Kooperation + Altruismus – Eigennutz + Gehässigkeit –
Empfänger + + – –
Diese ursprüngliche, von Hamilton vorgeschlagene Klassifizierung herrschte lange vor, trotz Schwierigkeiten hinsichtlich der Bestimmung von Kosten und Nutzen in der Wildnis. In letzter Zeit haben einige Ökonomen und Anthropologen damit begonnen, die Begriffe Kooperation und Altruismus synonym zu verwenden, was nahelegt, dass die maßgebliche Komponente der Interaktionen die Empfängerseite ist.23 Da eine altruistische Handlung zu einem späteren Zeitpunkt durch den Empfänger erwidert werden könnte, wird das Resultat dem einer Kooperation ähneln, wenn man das KostenNutzen-Verhältnis über einen längeren Zeitraum betrachtet. Im Zuge dessen wurde vorgeschlagen, die Begriffe Mutualismus, ge genseitig nützliche Kooperation und direkte Kooperation zu Koope ration im Sinne der oben aufgeführten Tabelle zu bündeln.24 Andere haben damit begonnen, von „nachteiliger Kooperation“ oder „altruistischer Kooperation“ zu sprechen, wenn sie „Altruismus“ im Sinne der oben aufgeführten Tabelle meinen.25 Jedoch ist es wichtig, zwischen den beiden Begriffen zu unterscheiden, da die Evolution von Kooperation im evolutionstheoretischen Sinne relativ eindeutig erklärt werden kann, während die Evolution von Altruismus weiterhin ein Rätsel bleibt.
Die Evolution sozialer Gruppenbildung Es wird von Individuen erwartet, dass sie sich an die Lebensumstände, mit denen sie konfrontiert sind, anpassen, um ihre Überlebens- und Reproduktionsleistung zu maximieren. Das Leben in 23 S. Bowles, J. Choi, A. Hopfensitz, „The co-evolution of individual behaviors and social institutions“, in: Journal of Theoretical Biology, 223(2)/2003, S. 135-147; R. Boyd et al., „The evolution of altruistic punishment“, in: Proceedings of the National Academy of Science of the United States of America, 100(6)/2003, S. 3531-3535; E. Fehr, S. Gächter, „Altruistic punishment in humans“. 24 S. West, A. Griffin, A. Gardiner, „Social semantics: Altruism, cooperation, mutu alism, strong reciprocity and group selection“, in: Journal of Evolutionary Bio logy, 20(2)/2007, S. 415-432. 25 Ebd.
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Gruppen wird als eine solche Anpassungssituation verstanden, die ein Reagieren auf Situationen ermöglicht, in denen es vereinzelten Individuen schlechter als in einer Gruppe ergehen würde. Im Allgemeinen werden zwei Arten von Faktoren vorgeschlagen, welche die Bildung von sozialen Gruppen begünstigen. Erstens wird der Druck durch Räuber als Hauptgrund dafür betrachtet, dass Tiere sich zusammenschließen, da einzelne Individuen stets einem höheren Risiko ausgesetzt sind als zwei oder mehr Individuen gemeinsam (dies wird als Verwässerungseffekt – dilution effect – bezeichnet, da zwei Individuen einem 50 Prozent geringeren Risiko erbeutet zu werden ausgesetzt sind als wenn sie allein wären, bei drei Individuen besteht bereits ein 66 Prozent geringeres Risiko usw.).26 Außerdem erlangen Individuen in Gruppen Vorteile durch die Informationen, die durch andere Gruppenmitglieder bereitgestellt werden, zum Beispiel über die Präsenz von Raubtieren oder Nahrungsvorkommen. Andererseits wird die Nahrungskonkurrenz in Gruppen immer höher sein als für einzelne Individuen, was zur Entstehung einer optimalen anstelle einer maximalen Gruppengröße führen wird.27 Dieses Zusammenspiel von ökologischen Faktoren, welches bestimmte Gruppengrößen begünstigt oder limitiert, wurde für viele Arten gezeigt und konnte durch Feldversuche nachgewiesen werden, in welchen beispielweise die Präsenz von Raubtieren oder die Verfügbarkeit von Nahrung manipuliert wurden. Ferner wird die Art der Gruppe durch die Fähigkeit der Männchen beeinflusst, die Weibchen zu monopolisieren, d. h. sie in Konkurrenz mit anderen Männchen für sich zu gewinnen. Hierbei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle: Je gleichmäßiger die Nahrungsversorgung ist, desto mehr Weibchen erreichen gleichzeitig den Östrus. Zugleich erschwert dieses jedoch den Männchen, die Weibchen gegenüber männlichen Konkurrenten zu monopolisieren. Mit anderen Worten: Nahrungsproduktionsmuster können sich unmittelbar auf die Anzahl sexuell aktiver Weibchen auswirken, was wiederum die Anzahl von Männchen sowie die Gruppenstruktur beeinflusst (Ein-Männchen-Gruppen vs. Mehr-Männchen-Gruppen). Darüber hinaus wurde die These aufgestellt, dass Kindstötung durch erwachsene Männchen bei Primaten eine wichtige Rolle für die langfristige Bindung zwischen Weibchen und Männchen spielt; 26 J. Alcock, Animal behaviour: An evolutionary approach, 4. Aufl., Sunderland (MA) 1989; J. R. Krebs, N. B. Davies, An introduction to behavioural ecology. 27 J. R. Krebs, N. B. Davies, An introduction to behavioural ecology.
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je höher das Risiko einer Kindstötung, desto wichtiger sind solche Bindungen für Weibchen, da Männchen ihre Nachkommen vor kindstötenden Männchen beschützen.28 Hierbei ist es wichtig anzumerken, dass das Begrenzen des Kindstötungsrisikos komplementär zur Raubtiervermeidung sein kann, da beides durch eine höhere Anzahl von Individuen in einer Gruppe verbessert werden kann; allerdings sollte sich das Kindstötungsrisiko zusätzlich verbessern, wenn sich die Weibchen dauerhaft an die Väter ihrer Kinder binden.29 Viele Primatenarten leben in Gruppen. Die wachsende Anzahl von Studien über verschiedene Populationen innerhalb derselben Art hat erwiesen, dass die Gruppengröße höchst variabel und vorwiegend durch die unterschiedlichen ökologischen Verhältnisse, mit denen jede Population konfrontiert ist, beeinflusst ist. Zum Beispiel wurden Bengalische Hanuman-Languren (Semnopithecus entel lus) an vielen Orten des Indischen Subkontinents erforscht, und es konnte gezeigt werden, dass Ein-Männchen-Gruppen in Umgebungen mit hoher Nahrungsverfügbarkeit, großer Übersichtlichkeit des Terrains und mit der Anzahl von Weibchen, die von einem einzelnen Männchen monopolisiert werden können, überwiegen, wohingegen Mehr-Männchen-Gruppen häufiger in Umgebungen mit vorhersagbarer Nahrung, geringerer Übersichtlichkeit des Terrains, mehr Raubtieren und einer größeren Anzahl von Weibchen beobachtet werden konnten.30 Es konnte gezeigt werden, dass solche Unterschiede in den Gruppenmustern eine unmittelbare Auswirkung auf den Fortpflanzungserfolg von sowohl Männchen als auch Weibchen haben, da Kindstötung weitaus häufiger in Ein-Männchen-Gruppen vorkommt. Bei in unterschiedlichen Bereichen des afrikanischen Kontinents lebenden Pavianen konnte gezeigt werden, dass auch sie ihre Gruppengröße auf ähnliche Weise anpassen. Das klassische Beispiel hierfür sind die Mantelpaviane (Papio hamadryas hamadryas), die nur in den trockenen Regionen Äthio28 R. Palombit, „Infanticide and the evolution of pair bonds in nonhuman pri mates“, in: Evolutionary Anthropology, 7(4)/1999, S. 117-129; C. van Schaik, „Social evolution in primates: the role of ecological factors and male behav iour“, in: Proceeding of the British Academy, 88/1996, S. 9-31; C. van Schaik, P. Kappeler, „Infanticide risk and the evolution of male-female association in pri mates“, in: Proceeding of the Royal Society London, Series B, 264(1388)/1997, S. 1687-1694. 29 C. van Schaik, „Social evolution in primates“. 30 A. Koenig, C. Borries, „Socioecology of Hanuman langurs: The story of their success“, in: Evolutionary Anthropology, 10(4)/2001, S. 122-137.
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piens und der Arabischen Halbinsel vorkommen. Sie haben ein rigides Ein-Männchen-Gruppenmuster, fügen diesem aber eine flexible Schicht für Trennungen und Verbindungen (fission-fusion) hinzu, durch welche Ein-Männchen-Gruppen sich in größeren Clans organisieren können, die zeitlich begrenzte Banden formen und sich als große Truppen an seltenen, aber raubtiersicheren Schlafklippen versammeln.31 In Habitaten, welche reich an Palmfrüchten sind, sind sowohl die Banden als auch die Clans größer und umfassen mehr Ein-Männchen-Gruppen als in anderen Regionen. Schimpansen (Pan troglodytes) scheinen einem ähnlichen Muster zu folgen, da Populationen, welche sowohl größerem Raubtierdruck ausgesetzt als auch mehr Nahrung zur Verfügung haben, in größeren Rudeln leben. Diese Bezeichnung beschreibt zeitlich begrenzte Zusammenschlüsse von individuellen Mitgliedern derselben Gemeinschaft, also der stabilen Gruppeneinheit innerhalb dieser Art.32 In manchen Populationen ist die Verfügbarkeit von Nahrung ein unmittelbarer Indikator für die Größe eines Rudels, wohingegen in anderen Populationen sexuelle Gelegenheiten, im Sinne der Anzahl der sich im Östrus befindlichen Weibchen, die Größe des Rudels unmittelbar beeinflusst. Jedoch sind Weibchen, welche abhängiger von Nahrung für das Stillen ihrer Jungen sind, feinfühliger was Nahrungsknappheit anbelangt und neigen dazu, das Revier der Gruppe in geringerem Umfang zu nutzen, wenn ihnen weniger Nahrung zur Verfügung steht.33 Der Unterschied in Bezug auf die soziale Stellung der Weibchen zwischen den eher einzelgängerischen Weibchen mit geringer Reviergröße im Gombe-Nationalpark 31 H. Kummer, Social organization of Hamadryas baboons: A field study (Biblio theca Primatology 6), Chicago 1968; A. Schreier, L. Swedell, „The fourth level of social structure in a multi-level society: Ecological and social functions of clans in Hamadryas baboons“, in: American journal of Primatology, 71(11)/2009, S. 948-955. 32 C. Boesch et al., „Factors influencing fission-fusion grouping in chimpanzees in the Taï forest, Cote d’Ivoire“, in: C. Boesch, G. Hohmann, L. Marchant (Hrsg.), Chimpanzee behavioural diversity, Cambridge (England) 2002, S. 90-101; C. Boesch, The real chimpanzee; J. Mitani, D. Watts, J. Lwanga, „Ecological and social correlates of chimpanzee party size and composition“, in: C. Boesch, G. Hohmann, L. Marchant (Hrsg.), Chimpanzee behavioural diversity, Cambridge (England) 2002, S. 102-111. 33 C. Boesch, The real chimpanzee; K. Langergraber, J. Mitani, L. Vigilant, „Kinship and social bonds in female chimpanzees (Pan troglodytes)“, in: American Journal of Primatology, 71(10)/2009, S. 1-12; J. Williams et al., „Female competition and male territorial behaviour influence female chimpanzees’ ranging patterns“, in: Animal Behaviour, 63(2)/2002, S. 347-360.
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und den höchst sozialen Weibchen mit hoher Reviergröße im Nationalpark Taï ist groß. Allerdings haben kürzlich Beobachtungen des Sozialverhaltens weiblicher Schimpansen in Ngogo und Goualougo darauf hingedeutet, dass Weibchen sogar noch flexibler sein können. Was zum Vorschein kam ist eine Art, die sehr flexibel ist und sowohl flexible Rudelgrößen als auch flexible geschlechtsspezifische Reaktionen auf lokale Umstände aufweist. Die Wichtigkeit ökologischer Faktoren für die Erklärung der Ausprägung der Parameter sozialer Organisation, die bei verschiedenen Primatenarten beobachtet wurden, stimmt mit dem biologischen Wissen überein, welches wir über diese Arten haben, wobei nicht nur das Verhalten, sondern auch die Morphologie und Physiologie eine Anpassung an Lebensumstände zeigen. Jedoch ist Sozialverhalten nicht lediglich auf Muster der sozialen Gruppenbildung beschränkt, und wir sollten erwarten, dass viele verschiedene Aspekte des Sozialverhaltens präzise Anpassungen an die Lebensumstände einer Gruppe sind. Ich werde jetzt einige Nachweise besprechen, die aus Beobachtungen von in Wildnis lebenden Primatenpopulationen stammen und illustrieren, wie komplex und subtil der Einfluss der Umwelt auf die Ausprägung verschiedener Aspekte des Sozialverhaltens, wie zum Beispiel Kooperation und Altruismus, sein kann. Solche Interaktionen wurden auch als „mutualistisch“ oder als „gegenseitiger Nutzen“ bezeichnet. Manche haben den Begriff der Kooperation erweitert, sodass dieser jegliche Form sozialer Interaktion umfasst, bei der der Empfänger einen Nutzen durch den Akteur erfährt, was in der Folge auch den Altruismus einschließen würde.34 Es gibt jedoch gute Gründe, um weiterhin zwischen den Begriffen „Altruismus“ und „Kooperation“ zu unterscheiden, da die Folgen dieser beiden Formen sozialer Interaktion für die Partner sehr unterschiedlich sind und daher zwei unterschiedliche evolutionäre Herausforderungen darstellen. Kooperation, wie oben beschrieben, wurde bei vielen Tierarten und in vielen verschiedenen Kontexten beobachtet. Diese Kontexte erstrecken sich vom Jagen in der Gruppe, wie bei Wüstenbussarden, manchen Fischen, Jagdhun-
34 T. Clutton-Brock, „Cooperation between non-kin in animal societies“, in: Na ture, 462(7269)/2009, S. 51-57; E. Fehr, S. Gächter, „Altruistic punishment in humans“; J. Henrich, N. Henrich, „Culture, evolution and the puzzle of hu man cooperation“, in: Cognitive Systems Research, 7(2)/2006, S. 220-245; J. McNamara et al., „The coevolution of choosiness and cooperation“, in: Nature, 451(7175)/2008, S. 189-192; S. West, A. Griffin, A. Gardiner, „Social semantics“.
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den, Löwen, Hyänen und Schimpansen bis hin zu Gruppenverteidigung gegen Raubtiere oder Nachbarn, wie bei vielen Vogelarten, Fleischfressern und Primaten.35 Insoweit Kooperation erfolgreich ist und zu größerem Nutzen für die Beteiligten führt, als das der Fall wäre, wenn sie es alleine versuchen würden, ist die Evolution der Kooperation leicht theoretisch erklärlich.36 Jedoch hat es sich als schwieriger erwiesen, die effektive Nutzensteigerung aus kooperativen Handlungen auch zu dokumentieren, da der Nettonutzen jeglicher Handlungen von Lebewesen in der Wildnis von den spezifischen ökologischen Umständen abhängt, mit denen die kooperierenden Individuen konfrontiert sind. Zum Beispiel wird der Jagderfolg stark von der Verfügbarkeit von Beute abhängig sein sowie von der Einfachheit, mit der die Beute überwältigt werden kann, als auch davon, wie leicht entdeckbar sowohl Jäger als auch Beute sind.37 Innerhalb derselben Art kann dies zur Folge haben, dass Jäger, sofern sie unter manchen ökologischen Umständen allein jagen, sehr erfolgreich sind, unter anderen Umständen aber nicht, oder nur dann, wenn sie im Team jagen. Afrikanische Löwen dienen als perfektes Beispiel für eine solche Situation: Auf der Basis einer geringen Anzahl von Beobachtungen wurde ursprünglich vorgeschlagen, dass diese Tiere ein gutes Beispiel für erfolgreich Kooperierende sind; George Schaller hat gezeigt, dass in der Serengeti in Tansania Löwen in Paaren erfolgreicher beim Jagen von Thomson-Gazellen sind, als einzelne Jäger.38 Dieses war lange Zeit ein Paradebeispiel für die Vorteile der Kooperation. Jedoch hat eine neuere und umfangreichere Studie über Löwen innerhalb desselben Habitats gezeigt, dass Löwen erfolgreicher wären, wenn sie alleine oder in großen Gruppen jagen würden, 35 C. Boesch, „Cooperative hunting roles among Taï chimpanzees“, in: Human Nature, 13(1)/2002, S. 27-46, C. Boesch, The real chimpanzee; R. Bshary et al., „Pairs of cooperating cleaner fish provide better service quality than singletons“, in: Nature, 455(7215)/2008, S. 964-967; L. Dugatkin, Cooperation among ani mals: An evolutioary perspective; C. Packer, L. Ruttan, „The evolution of co operative hunting“; N. Raihani, A. Grutter, R. Bshary, „Punishers benefit from third-party punishment in fish“, in: Science, 327(5962)/2010, S. 171. 36 L. Dugatkin, Cooperation among animals: An evolutionary perspective; J. May nard-Smith, Evolution and the theory of games; S. West, A. Griffin, A. Gardiner, „Social semantics“. 37 C. Boesch, H. Boesch, „Hunting behavior of wild chimpanzees in the Taï National Park“, in: American Journal of Physical Anthropology, 78(4)/1989, S. 547-573; C. Packer, L. Ruttan, „The evolution of cooperative hunting“. 38 Siehe G. B. Schaller, The serengeti lion, Chicago 1972.
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man sie aber tatsächlich vor allem in mittelgroßen Gruppen jagen sieht.39 Jedoch wurde die Situation durch einen Zuwachs an Studien über unterschiedliche Löwenpopulationen noch komplexer. Im Chobe-Nationalpark in Botswana jagen Löwen systematischer in Gruppen, um ihre erlegte Beute zu verteidigen, wenn sie im Wettbewerb mit den mächtigen Hyänen stehen.40 Eine Gruppenjagd zeigen auch Löwen im Etosha-Nationalpark in Namibia, wo das Leben in einer offenen, semi-ariden Umgebung mit hoher Übersichtlichkeit des Terrains Gruppenkoordination erfordert, um bei der Jagd erfolgreich zu sein.41 Das Löwenbeispiel eignet sich perfekt dafür, um zu illustrieren, wie vorsichtig wir sein müssen, wenn wir über die Evolution von Kooperation sprechen, da es stets möglich ist, dass innerhalb derselben Art unterschiedliche ökologische Faktoren unterschiedliche Grade von Kooperation selektieren. Wenn Löwen wie in Namibia in Teams arbeiten, überwachen individuelle Jäger die Handlungen der anderen Jäger, um den Erfolg des gemeinsamen Ziels zu sichern; zum Beispiel wird die Beute von einigen Löwen (driver) dahin getrieben, wo andere Löwen (ambusher) auf der Lauer liegen.42 Das beste Beispiel für einen jagenden Primaten ist der Schimpanse. In allen Schimpansenpopulationen, die heutzutage detailreich genug erforscht sind, wurde beobachtet, dass die Männchen Affen, Ducker (Cephalophini) und Buschschweine für ihr Fleisch jagen.43 In all diesen Populationen konnte beobachtet werden, dass 39 C. Packer, D. Scheel, A. E. Pusey, „Why lions form groups: Food is not enough“, in: American Naturalist, 136(1)/1990, S. 1-19. 40 S. Cooper, „Optimal hunting group size: The need for lions to defend their kills against loss to spotted hyenas“, in: African Journal of Ecology, 29(2)/1991, S. 130-136. 41 P. E. Stander, „Cooperative hunting in lions: The role of the individual“, in: Behavioral Ecology and Sociobiology, 29(6)/1992, S. 445-454; P. E. Stander, S. D. Albon, „Hunting success of lions in a semi-arid environment“, in: Symposium of the Zoological Society, London, 65/1993, S. 127-143. 42 Siehe P. E. Stander, S. D. Albon, „Hunting success of lions in a semi-arid environ ment“. 43 C. Boesch, H. Boesch-Achermann, The chimpanzees of the Taï Forest: Behav ioural ecology and evolution, Oxford (England) 2000; C. Boesch, The real chim panzee; J. Goodall, The chimpanzees of Gombe: Patterns of behavior, Cambridge (MA) 1986; J. Mitani, D. Watts, „Why do chimpanzees hunt and share meat?“, in: Animal Behaviour, 61(5)/2001, S. 915-924; J. Mitani, D. Watts, J. Lwanga, „Ecological and social correlates of chimpanzee party size and composition“; J. Mitani, „Cooperation and competition in chimpanzees: Current understanding and future challenges“, in: Evolutionary Anthropology, 18(5)/2009, S. 215-
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Schimpansen in Gruppen jagen und sie, wenn sie erfolgreich waren, das Fleisch in irgendeiner Weise unter den Gruppenmitgliedern teilen.44 Jedoch sind sie nicht die einzige Primatenart, bei der Jagd beobachtet wurde. Die Anubispaviane aus Gilgil in Kenia waren dafür berühmt, die einzige Pavianpopulation zu sein, bei der beobachtet werden konnte, dass sie junge Antilopen für ihr Fleisch jagten.45 Jedoch wurde die Jagd ausschließlich durch das dominante Männchen ausgeübt, das das Fleisch lediglich passiv mit anderen Individuen teilte, indem es duldete, dass diese auf den Boden gefallene Fleischreste aufsammelten. Sobald das dominante Männchen jedoch seine Position an ein jüngeres Männchen verloren hatte, begann der Neuling damit, das Fleisch gewaltsam dem ehemals dominanten Männchen zu rauben, welches danach abrupt aufhörte, zu jagen. Infolgedessen verschwand das Jagen aus dieser Gruppe.46 Dieser Befund zeigt, dass wir zusätzlich zu ökologischen Faktoren auch in Betracht ziehen müssen, dass soziale Faktoren das Vorhandensein von Kooperation beeinflussen. Der bemerkenswerteste Aspekt hinsichtlich des Jagdverhaltens von Schimpansen ist, dass Gruppenjagdtendenzen zwischen unterschiedlichen Populationen stark voneinander abweichen (siehe Abb. 2a) und dass, wenn diese in Gruppen jagen, die Organisation innerhalb der Gruppe der Jäger sich stark von Population zu Population unterscheidet (siehe Abb. 2b).47 In der Tat wurde bei Taï- und 227; T. Nishida et al., „Meat-sharing as a coalition strategy by an alpha male chimpanzee?“, in: T. Nishida, W. C. McGrew, P. Marler, M. Pickford, F. de Waal (Hrsg.), Topics in primatology: Vol. 1 Human origins, Basel 1992, S. 159-174. 44 C. Boesch, H. Boesch-Achermann, The chimpanzees of the Taï Forest; I. Gilby et al., „Ecological and social influences on the hunting behaviour of wild chimpan zees, Pan troglodytes schweinfurthii“, in: Animal Behaviour, 72(1)/2006, S. 169180; T. Nishida et al., „Meat-sharing as a coalition strategy by an alpha male chimpanzee?“. 45 S. Strum, „Processes and products of change: Baboon predatory behavior at Gilgil, Kenya“, in: R. S. O. Harding, G. Teleki (Hrsg.), Omnivorous primates: Gathering and hunting in human evolution, New York1981, S. 255-302. 46 Ebd. 47 C. Boesch, „Cooperative hunting in wild chimpanzees“, in: Animal Behaviour, 48(3)/1994, S. 653-667, C. Boesch, The real chimpanzee; C. Boesch, H. BoeschAchermann, The chimpanzees of the Taï Forest; I. Gilby et al., „Ecological and social influences on the hunting behaviour of wild chimpanzees“; I. Gilby, L. Eberly, R. Wrangham, „Economic profitability of social predation among wild chimpanzees: Individual variation promotes cooperation“, in: Animal Behav iour, 75(2)/2008, S. 351-360; J. Goodall, The chimpanzees of Gombe: Patterns of behavior; T. Nishida et al., „Meat-sharing as a coalition strategy by an alpha
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Ngogo-Schimpansen beobachtet, dass diese meist in Gruppen jagen, wohingegen Gombe- und Mahale-Schimpansen in erster Linie einzeln jagen. Der Grad der Koordination zwischen den Jägern während einer Gruppenjagd scheint sich ebenfalls zu unterscheiden: Während männliche Gombe- und Mahale-Schimpansen voneinander unabhängig, jedoch zur selben Zeit, dieselbe Beutegruppe jagen, koordinieren männliche Taï-Schimpansen ihre Handlungen, indem sie in erster Linie komplementäre und unterschiedliche Jagdrollen einnehmen.
Abb. 2: Vergleich des Grades der Gruppenjagd (a, links) und Kooperation (b, rechts) unter Berücksichtigung des Grades der Koordination zwischen Jägern, die zum gleichen Zeitpunkt agieren48 zwischen den Schimpansen des Gombe-Flusses und des Mahale-Mountains-Nationalparks in Tansania, des Nationalpark Taï der Elfenbeinküste und den Ngogo im Kibale-Nationalpark, Uganda.
Die Ngogo-Schimpansen leben in einer viel größeren Gemeinschaft, in der bis zu 25 Männchen zur gleichen Zeit jagen können, was es erschwert, den Grad der Koordination zwischen den Jägern zu bestimmen.49 Außerdem ist es faszinierend, dass männliche Schimpansen, welche unterschiedlichen Populationen angehören, Beute gemäß unterschiedlicher sozialer Regeln aufteilen.50 Die Männchen der male chimpanzee?“; D. Watts, J. Mitani, „Hunting and meat sharing by chim panzees of Ngogo, Kibale National Park, Uganda“, in: C. Boesch, G. Hohmann, L. Marchant (Hrsg.), Behavioural diversity in chimpanzees and bonobos, Cam bridge (England) 2002, S. 244-255. 48 C. Boesch, H. Boesch, „Hunting behavior of wild chimpanzees in the Taï National Park“. 49 D. Watts, J. Mitani, „Hunting and meat sharing by chimpanzees“. 50 C. Boesch, „Cooperative hunting in wild chimpanzees“; C. Boesch, „Coopera tive hunting roles among Taï chimpanzees“; I. Gilby, „Meat sharing among the
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Taï-Schimpansen teilen Fleisch in erster Linie gemäß des Beitrags, den jedes individuelle Männchen während der Jagd geleistet hat, sodass Jäger mehr Fleisch als Nicht-Jäger erhalten und diejenigen, welche wichtigere Jagdrollen erfüllen, mehr Fleisch als die anderen Jäger. Diese Regel der Verteilung des erbeuteten Fleischs unterstützt eindeutig das Kooperieren. Die Männchen der Gombe-Schimpansen hingegen scheinen dem Druck belästigender bettelnder Artgenossen nachzugeben, sodass Fleischteilen den Fleischbesitzern anscheinend aufgezwungen wird. Es wurde beobachtet, dass Bettler Fleischbesitzer vom Essen abhalten, indem sie entweder deren Mund bedecken oder den Fleischbesitzern das Fleischstück wegziehen. Solche Verhaltensmuster wurden während des Fleischessens bei Taï-Schimpansen noch nie beobachtet. Letztlich scheint es so, als ob männliche Ngogo- und Mahale-Schimpansen Fleisch als eine „politische Währung“ verwenden und Fleisch bevorzugt mit ihren sozialen Verbündeten teilen. Somit ist Kooperation bei Schimpansen im Kontext des Jagens in eine Reihe unterschiedlicher sozialer Verhaltensweisen eingebettet, welche dazu beitragen, dass die kooperative Handlung entweder nutzbringend ist oder nicht. Teamarbeit wurde bei Schimpansen auch bei der Verteidigung des Territoriums beobachtet.51 Diese Situation ist in gewisser Weise anders als beim Jagen, da es in diesem Fall bei der Kooperation weniger darum geht, den Nutzen zu erhöhen, als vielmehr darum, mögliche Nachteile des Aufeinandertreffens mit aggressiven Nachbarn zu reduzieren. Bei Schimpansen kann solche Aggression zum Tod der zahlenmäßig unterlegenen Individuen führen. Selbst zu Gombe chimpanzees: Harassment and reciprocal exchange“, in: Animal Behav iour, 71(4)/2006, S. 953-963; J. Goodall, The chimpanzees of Gombe: Patterns of behavior; J. Mitani, „Cooperation and competition in chimpanzees“; J. Mitani, D. Watts, „Why do chimpanzees hunt and share meat?“; T. Nishida et al., „Meat- sharing as a coalition strategy by an alpha male chimpanzee?“. 51 C. Boesch, The real chimpanzee; C. Boesch, H. Boesch-Achermann, The chim panzees of the Taï Forest; C. Boesch, C. Crockford, I. Herbinger, R. Wittig, Y. Moebius, E. Normand, „Intergroup conflicts among chimpanzees in Taï National Park: Lethal violence and the female perspective“, in: American Journal of Pri matology, 70(6)/2008, S. 519-532; J. Goodall et al., „Inter-community interac tions in the chimpanzee populations of the Gombe National Park“, in: D. Ham burg, E. McCown (Hrsg.), The great apes, Menlo Park (CA) 1979, S. 13-53; J. Goodall, The chimpanzees of Gombe: Patterns of behavior; D. Watts, J. Mitani, „Boundary patrols and intergroup encounters in wild chimpanzees“, in: Behav iour, 138(3)/2001, S. 299-327; D. Watts et al., „Lethal intergroup aggression by chimpanzees in the Kibale National Park, Uganda“, in: American Journal of Pri matology, 68(2)/2006, S. 161-180.
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Beginn einer Patrouille kommen erwachsene Männchen zusammen und warten, bis genug von ihnen sich angeschlossen haben, bevor sie gehen, um die Grenzen ihres Territoriums zu kontrollieren. Sobald sie Nachbarn entdecken, konfrontieren die Schimpansen diese als geschlossene Einheit, wobei das größere Team wahrscheinlicher den Sieg davontragen wird. Es ist wichtig festzuhalten, dass solche Teamarbeit eine beeindruckende Anzahl von Männchen umfassen kann. In der ungewöhnlich großen Ngogo-Gemeinschaft wurde beobachtet, dass bis zu 27 Männchen sich zusammenschlossen, um ihre Nachbarn anzugreifen (Durchschnitt: 14,6 Männchen).52 Somit kann, abhängig von den demographischen Verhältnissen, Teamarbeit bei Schimpansen beeindruckende Dimensionen erreichen. Obwohl solche Teamarbeit bei territorialen Zusammenstößen bei sämtlichen Schimpansenpopulationen beobachtet wurde, scheint die Unterstützungshilfe für zahlenmäßig unterlegene Gruppen sich von Population zu Population zu unterscheiden: Bei Taï-Schimpansen wurde beobachtet, dass diese ihre Gruppenmitglieder in 30 Prozent der Fälle bei Aufeinandertreffen zweier Gruppen unterstützen, jedoch scheint dies in anderen Schimpansenpopulationen sehr viel seltener der Fall zu sein.53 Ein dritter Kontext, in dem Kooperation bei Schimpansen beobachtet wurde, ist wenn diese Raubtieren, wie zum Beispiel Leoparden, begegnen.54 In den tropischen Regenwäldern von Afrika ist die Leopardendichte mit sieben bis zehn Individuen pro Quadratkilometer recht hoch. Beobachtungen haben gezeigt, dass Taï-Schimpansen regelmäßig von Leoparden angegriffen, verletzt und getötet werden, und dass während eines Fünfjahreszeitraums ein Individuum alle drei Jahre dem Risiko eines Angriffs ausgesetzt ist.55 Gemäß eines typischen Beute-Räuber-Wettrüstens versuchen TaïSchimpansen die Nachteile, welche mit der Prädation verbunden sind, zu reduzieren, indem sie Leoparden jedes Mal, wenn sie deren Anwesenheit bemerken, gemeinsam davonjagen oder kollektiv zurückschlagen, sobald ein Gruppenmitglied angegriffen wurde. Auch hier wird angegriffenen Gruppenmitgliedern systematisch und sehr 52 D. Watts, J. Mitani, „Boundary patrols and intergroup encounters“. 53 C. Boesch et al., „Intergroup conflicts among chimpanzees“. 54 C. Boesch, „The effect of leopard predation on grouping patterns in forest chim panzees“, in: Behaviour, 117(3-4)/1991, S. 220-242; C. Boesch, The real chim panzee. 55 C. Boesch, „The effect of leopard predation on grouping patterns“; C. Boesch, The real chimpanzee.
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schnell Unterstützung geleistet, und es konnte beobachtet werden, dass dieses den angegriffenen Individuen das Leben rettete.56 Freilandbeobachtungen an Primaten zeigen, dass Kooperation in vielen Kontexten auftritt und dass sie einige wichtige Konsequenzen für das Sozialleben der Individuen hat. Es ist so weniger, wie oftmals behauptet, die Existenz von Kooperation mit unverwandten Individuen, welche Schimpansen von Menschen unterscheidet, sondern die Tatsache, dass Kooperation beim Menschen größere Anzahlen von Individuen umfassen kann, und zwar in einem Maße, das selten, wenn überhaupt, bei anderen Primatenarten beobachtet wird. Jedoch scheint dies sowohl bei Schimpansen als auch bei Menschen unmittelbar von den herrschenden demographischen Verhältnissen beeinflusst zu sein; und weil Menschen in deutlich größeren Gruppen als Schimpansen leben, beobachten wir bei Menschen häufiger große Kooperationsgruppen von mit einander nicht verwandten Individuen.
Ein evolutionstheoretischer Ansatz für die Kooperationsforschung Vor diesem Hintergrund ist es verblüffend, dass so viele Experimentalstudien über Kooperation bei Schimpansen in Gefangenschaft negative Ergebnisse hervorgebracht haben und dass sie so viel Aufmerksamkeit erhalten haben.57 Das Hauptargument, welches man sich vergegenwärtigen muss, wenn sich ein Sinn aus den manchmal sehr widersprüchlichen Resultaten generieren lässt, die Experimentalstudien in Gefangenschaft im Vergleich zu Beobachtungen im Freiland ergeben haben, ist, dass Tiere sich den spezifischen sozioökologischen Umständen anpassen, welche sie in der Natur vorfinden, und manche Verhaltensmuster nur dann auswählen, wenn die Umstände dieses begünstigen (siehe Abb. 2). Mit anderen Worten wird Kooperation nur dann zu beobachten sein, wenn die Umstände so sind, dass sich Teamarbeit auszahlt. Um Kooperation verstehen zu können, müssen wir uns deshalb zunächst den Umständen in der
56 C. Boesch, The real chimpanzee. 57 Siehe Besprechungen von Experimentalstudien zu diesem Thema in: F. War neken, A. P. Melis, „The Ontogeny and of Phylogeny Cooperation“; M. Toma sello et al., „Understanding and sharing intentions“.
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Wildnis zuwenden, da nur die Tiere uns mitteilen können, was diese begünstigenden sozio-ökologischen Umstände sein können. Manche haben argumentiert, dass nur Experimentalstudien in Gefangenschaft Aussagen über die unmittelbaren Mechanismen erlauben, welche die Faktoren erklären, die manchen kognitiven Fähigkeiten zugrunde liegen, wie zum Beispiel jene, die für das Kooperieren oder Helfen erforderlich sind.58 Nichtsdestotrotz lautet der generelle Konsens: „fieldwork is primary. It tells us what animals do; it sets the problem“.59 Daher sollte man erwarten, dass Versuchssettings Probleme reproduzieren, die ähnlich mit jenen sind, welche in der Wildnis das untersuchte Verhalten oder die untersuchte Fähigkeit ausgelöst hätten. Leider scheint diese Vorgabe jedoch für die Mehrheit von Experimentalstudien keine Priorität gewesen zu sein. Ferner weiß man: „laboratory experiments can illuminate a species’ abilities only if their results can be placed within the context of an animal’s natural social behavior. In the absence of such grounding, they remain difficult, if not impossible, to interpret“.60 Die Resultate von Experimenten könnten also möglicherweise Produkte der verwendeten Versuchsmethoden sein, was uns dann wenig über natürliche Fähigkeiten der Tiere mitteilte. Für Menschen wurde mittlerweile demonstriert, dass Versuchspersonen sehr unterschiedlich auf die Umstände von Experimenten im Vergleich zu Situationen des echten Lebens reagieren und dass menschliche Probanden in der Regel dazu neigen, in künstlichen Laborsettings viel mehr Kooperations- oder Hilfebereitschaft zu zeigen als im echten Leben.61 58 B. Galef, „Tradition in animals: Field observations and laboratory analyses“, in: M. Bekoff, D. Jamieson (Hrsg.), Interpretation and explanation in the study of animal behavior, Boulder (CO) 1990, S. 74-95; C. M. Heyes, „Anecdotes, train ing, trapping and triangulating: Do animals attribute mental states?“, in: Animal Behaviour, 46(1)/1993, S. 177-188; D. Povinelli, Folk physics for apes; M. Toma sello, J. Call, Primate cognition. 59 Siehe M. Tomasello, J. Call, „Assessing the validity of ape-human comparisons: A reply to Boesch (2007)“, in: Journal of Comparative Psychology, 122(4)/2008, S. 451. 60 Siehe D. Cheney, R. Seyfarth, Baboon metaphysics, S. 26. 61 N. Bradsley, „Dictator game giving: Altruism or artifact?“, in: Experimental Economy, 11(2)/2008, S. 122-133; C. Lesorogol, „The role of context in experimental dictator games“, in: Current Anthropology, 48(6)/2007, S. 920-926; S. Levitt, J. List, „Homo economicus evolves“, in: Science, 319(5865)/2008, S. 909-910; J. List, „The behavioralist meets the market: Measuring social pre ferences and reputation effects in actual transactions“, in: Journal of Political
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Darüber hinaus ist es durch die Manipulation von Versuchsabläufen möglich, die bei Menschen aus unterschiedlichen Kulturen bestehende Neigung zu teilen, drastisch zu beeinflussen. Wie in den Wirtschaftswissenschaften ist es daher eine der größten Herausforderungen für psychologische Studien mit Tieren in Gefangenschaft, ihre Anwendbarkeit auf die reale Welt zu demonstrieren.62 Die generelle und oft unkritische Akzeptanz von Experimentalstudien an Primaten scheint auf einer unausgesprochen cartesianischen Annahme zu beruhen,63 nach der der Einfluss von Umweltbedingungen auf die kognitive Entwicklung von Individuen für unbedeutend angenommen wird (siehe Abb. 3). Wie wir sehen konnten, konzentriert sich Kooperation bei in Wildnis lebenden Schimpansen auf einige spezifische ökologische Situationen, wie Jagen, die Abwehr von Raubtieren und das Verteidigen des Territoriums, welche bei Studien in Gefangenschaft nicht vorkommen. Idealerweise sollten Experimentalstudien die Fähigkeit zur Kooperation bei Schimpansen in diesen drei spezifischen Kontexten messen. Jedoch wurde dieses bisher nie getan. Offensichtlich ist das Duplizieren oder Imitieren solcher Situationen in Gefangenschaft nicht gerade einfach; jedoch sollte diese starke Limitierung hinsichtlich der „ökologischen Validität“ jeglicher Kooperationsstudie in Gefangenschaft zumindest angesprochen werden. Der bei Schimpansen in Gefangenschaft vorgefundene niedrige Kooperationsgrad mag so lediglich die Unmöglichkeit der Reproduktion ökologisch valider Situationen in solchen Settings widerspiegeln, wie auch die Schwierigkeit, Umstände nachzubilden, welche aus Sicht der Schimpansen Kooperation erfordern würden.64 In letzter Zeit hat die größere BeEconomy, 114(1)/2006, S. 1-37; J. List, „On the interpretation of giving in dicta tor games“, in: Journal of Political Economy, 115(3)/2007, S. 482-493. 62 C. Allen, „A skeptic’s progress“, in: Biology and Philosophy, 17(5)/2002, S. 695702; M. Bekoff, C. Allen, „Cognitive ethology: Slayers, skeptics and proponents“, in: R. Mitchell, N. Thompson, L. Miles (Hrsg.), Anthropomorphism, anecdotes and animals: The emperor’s new clothes?, New York 1997, S. 314-334; C. Boesch, „What makes us human (Homo sapiens)?“; C. Boesch, „Taking ecology and development seriously“; F. de Waal, The ape and the sushi master. 63 D. Penn, K. Holyoak, D. Povinelli, „Darwin’s mistake“; D. Penn, D. Povinelli, „On the lack of evidence that non-human animals possess anything remotely resem bling a ‚theory of mind‘“, in: Philosophical Transactions of the Royal Society, Series B, 362(1480)/2007, S. 731-744; M. Tomasello et al., „Understanding and sharing intentions“. 64 C. Boesch, „What makes us human (Homo sapiens)?“; C. Boesch, „Away from ethnocentrism and anthropocentrism“; F. de Waal, The ape and the sushi master.
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Abb. 3: Schematische Darstellung des Einflusses sozio-ökologischer Umstände auf die Entwicklung sozio-kognitiver Fähigkeiten bei Menschen und Schimpansen, zwei Arten, die unter sehr unterschiedlichen ökologischen Bedingungen leben. Die Pfeile illustrieren zwei komparative Zugänge: Der erste (A) vergleicht Populationen zweier Arten, die unter sehr unterschiedlichen sozio-ökologischen Bedingungen leben, wie es allzu oft bei Studien von Schimpansen in Gefangenschaft getan wird; der zweite (B) zeigt einen vorzuziehenden Vergleich, zwischen Arten, welche unter vergleichbaren sozio-ökologischen Bedingungen leben.
rücksichtigung der sozialen Dimension von Kooperation zu einer besseren Leistung der Versuchstiere bei Experimenten in Gefangenschaft geführt.65 Es bleibt festzuhalten, dass die konstante und überreichliche Versorgung von Tierindividuen in von Menschen geplanten Sozialgruppen ohne lebensbedrohliche Herausforderungen möglicherweise alles andere als ideal ist für das Imitieren der sozio-ökologischen Umstände, unter denen wir Schimpansen in der Wildnis kooperieren sehen (siehe Abb. 3). Unter Bedingungen der Gefangenschaft ist die „ökologische Validität“ eine zentrale Limitation und macht die Verwendung von Studien in Gefangenschaft sehr unbefriedigend für die Erforschung von komplexen sozialen Verhaltensweisen wie Kooperation, Altruismus und Reziprozität. Die Evolutionstheorie sagt voraus, dass kognitive Fähigkeiten durch die alltäglichen Herausforderungen, auf die ein Individuum in seinem Leben trifft, geformt werden; je fordernder die Situati-
65 S. Hirata, K. Fuwa, „Chimpanzees (Pan troglodytes) learn to act with other individuals in a cooperative task“, in: Primates, 48(1)/2007, S. 13-21; A. Melis, B. Hare, M. Tomasello, „Chimpanzees recruit the best collaborators“, in: Science, 311(5765)/2006, S. 1297-1300.
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on, desto anspruchsvoller werden die kognitiven Lösungen sein.66 (siehe Abb. 3) Daher sollten wir bei allen Tierarten, inklusive Menschen, erwarten, unterschiedliche Niveaus kognitiver Leistungen zu sehen, abhängig jeweils von der Diversität der ökologischen Umstände, mit denen unterschiedliche Populationen dieser Arten konfrontiert sind. Bei unterschiedlichen menschlichen Gesellschaften, welche unter sehr diversen ökologischen und wirtschaftlichen Umständen leben, wurden erhebliche Unterschiede hinsichtlich Alltagspsychologie, Kooperation, Altruismus und Logik dokumentiert.67 Wann immer wir Vergleiche zwischen Arten ziehen, ist es essentiell, dass wir diesen Aspekt berücksichtigen und unsere Vergleiche deshalb auf Populationen beschränken, welche ähnlichen sozioökologischen Herausforderungen ausgesetzt sind (siehe Abb. 3, wo der Vergleich B dem Vergleich A vorgezogen werden sollte).68 Wenn wir dieses nicht berücksichtigen, dann gibt es keinen Weg, um zu bestimmen, ob die beobachteten Unterschiede, auf Unterschieden zwischen den beiden Arten oder auf Unterschieden innerhalb einer Art aufgrund unterschiedlicher sozio-ökologischer Umstände beruhen. Zum Beispiel wurde aufgrund von Studien, durchgeführt mit einer sehr kleinen Peer-Gruppe von Schimpansen, welche von ihren Müttern getrennt und in künstlichen Lebensumständen gehalten wurden, konstatiert, dass Schimpansen nicht-sichtbare Beziehungen nicht verstehen können.69 In der Folge wurde dieses als ein 66 L. Barrett, P. Henzi, D. Rendall, „Social brains, simple minds“; C. Boesch, „What makes us human (Homo sapiens)?“; C. Boesch, „Away from ethnocentrism and anthropocentrism“; D. Cheney, R. Seyfarth, How monkeys see the world; D. Cheney, R. Seyfarth, Baboon metaphysics; F. de Waal, The ape and the sushi master. 67 S. Atran, D. Medin, N. Ross, „The cultural mind: Environmental decision making and cultural modeling within and across populations“, in: Psychological Review, 112(4)/2005, S. 744-776; J. Henrich et al., „‚Economic man‘ in cross-cultural perspective: Behavioral experiments in 15 small-scale societies“, in: Behavioural and Brain Sciences, 28(6)/2005, S. 795-855; J. Henrich et al., „Costly punishment across human societies“, in: Science, 312(5781)/2006, S. 1767-1770; J. Henrich et al., „Markets, religion, community size and the evolution of fairness and punishment“, in: Science, 327(5972)/2010, S. 1480-1484; F. Marlowe et al., „More ‚altruistic‘ punishment in larger societies“, in: Proceedings of the Royal Society B, 275(1634)/2008, S. 587-590; R. Nisbett, Y. Miyamoto, „The influence of culture: Holistic versus analytic perception“, in: Trends in Cognitive Sciences, 9(10)/2005, S. 467-473. 68 C. Boesch, „What makes us human (Homo sapiens)?“; C. Boesch, „Away from ethnocentrism and anthropocentrism“. 69 D. Povinelli, Folk physics for apes.
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Schlüsselmerkmal zur Unterscheidung von Menschen und Schimpansen vorgeschlagen.70 Die Erfahrung dieser Tiere ist der sehr ähnlich, welche eine Gruppe sozial deprivierter Rhesus-Makaken gemacht hat. Bei dieser stellte sich heraus, dass sie im Vergleich zu Individuen, die in größeren, altersgestaffelten Sozialgruppen aufgezogen worden waren, sozial inkompetent sind.71 Darüber hinaus scheiterte die genannte Peer-Gruppe von Schimpansen an vielen Tests von Fähigkeiten, die bei in Wildnis lebenden Populationen beobachtet wurden, sowie an solchen Tests von Fähigkeiten, welche von anderen Schimpansen in Gefangenschaft, die in größeren, altersgestaffelten Gruppen leben, erfolgreich gelöst wurden. Daher ist es möglich, dass diese Beschränkung einen Unterschied in den von diesen Individuen erfahrenen Bedingungen der Aufzucht widerspiegelt und keine artspezifische Beschränkung.72 Die Diskussion über den Einfluss von Methoden, welche während der Experimente eingesetzt werden, befindet sich in der vergleichenden Psychologie nach wie vor in einem Entwicklungsstadium.73 In letzter Zeit wurde in Teilen der psychologischen Fachliteratur ein Wechsel vorgeschlagen, indem erklärt wird, dass es nicht die bloße Tatsache der Kooperation ist, von der angenommen wird, bei Menschen einzigartig zu sein, sondern vielmehr die einer solchen Handlung zugrunde liegende konkrete Motivation. Menschliche Kooperation wurzele in einer allgemeinen Neigung zu geteilten Zielen und Intentionen, wohingegen tierische Kooperation ein Akt rein individualistischer Optimierung sei.74 Detaillierte Beobachtungen kooperativen Jagdverhaltens bei Schimpansen widerlegen solche Behauptungen vollständig,75 da das Erfüllen mancher Jagdrollen, wie zum Beispiel das Treiben (driving) der Beute, nicht mit einer Interpretation im Sinne individualistischer Optimierung kompatibel ist; solche Rollen führen selten zum Beuteerfolg, und die Fleischmenge, 70 D. Penn, K. Holyoak, D. Povinelli, „Darwin’s mistake“. 71 M. Kempes et al., „Socially deprived rhesus macaques fail to reconcile“. 72 C. Allen, „A skeptic‘s progress“; C. Boesch, „Away from ethnocentrism and an thropocentrism“. 73 J. Barth, J. Reaux, D. Povinelli, „Chimpanzees’ (Pan troglodytes) use of gaze cues in object-choice tasks: Different methods yield different results“, in: Animal Cognition, 8(2)/2005, S. 84-92; F. de Waal, P. Ferrari, „Toward a bottom-up per spective“. 74 H. Moll, M. Tomasello, „Cooperation and human cognition“; M. Tomasello et al., „Understanding and sharing intentions“. 75 Siehe C. Boesch, „Cooperative hunting roles among Taï chimpanzees“; C. Boesch, „Away from ethnocentrism and anthropocentrism“.
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welche die Jäger erhalten, ist relativ gering. Das allgemeinere Problem, welches auftritt, wenn ein Unterschied hinsichtlich Motivation konstatiert wird, ist, dass eine solche Behauptung bei nichtsprechenden Tierarten unter natürlichen Bedingungen im Grunde nicht überprüfbar ist und dementsprechend mehr ein Glaubensakt denn eine wissenschaftliche Hypothese ist. Darüber hinaus: Wenn die Verfechter solcher Ideen dazu tendieren, die Aussagekraft von auf Freilandbeobachtungen beruhenden Daten in Frage zu stellen,76 dann geht es bei der Diskussion nicht um die Art der wissenschaftlichen Fragestellung, sondern um intellektuelle Präferenzen.
Die Evolution von Altruismus Altruismus wird als eine kostspielige Handlung definiert, die ein Individuum für ein anderes Individuum, welches unmittelbar von dieser profitiert, ausführt.77 Daher ist Altruismus ein im evolutionären Rahmen nicht erwartbares Rätsel, weil dieser Rahmen voraussetzt, dass Individuen stets egoistisch handeln und nur dann etwas investieren, wenn sie selbst davon Vorteile haben. Jedoch sehen viele bei Tieren beobachtete Verhaltensmuster aus, als ob sie altruistisch wären, etwa die bei vielen Tierarten beobachteten Fälle von Nahrungsteilung, Fälle der Hilfe gegenüber verletzten oder bedürftigen Individuen sowie Adoptionen. Um die Evolution von Altruismus zu erklären, wurden zwei evolutionäre Hauptmechanismen vorgeschlagen. Der erste ist Verwandtenselektion (kin selection), gemäß welcher sich Individuen nur nah verwandten Individuen gegenüber altruistisch verhalten und sich so indirekt selbst belohnen würden.78 Der zweite Mechanismus, welcher zur Evolution von Altruismus führen würde, ist reziproker Altruismus zwischen unverwandten 76 D. Povinelli, Folk physics for apes; D. Penn, K. Holyoak, D. Povinelli, „Darwin’s mistake“; M. Tomasello, J. Call, Primate cognition; M. Tomasello et al., „Under standing and sharing intentions“. 77 R. Axelrod, W. D. Hamilton, „The evolution of cooperation“; F. de Waal, „Put ting the altruism back into altruism“; W. D. Hamilton, „The genetical theory of social behaviour“; J. R. Krebs, N. B. Davies, An introduction to behavioural ecology; J. Maynard-Smith, Evolution and the theory of games; R. L. Trivers, „The evolution of reciprocal altruism“; S. West, A. Gardner, „Altruism, spite and greenbeard“, in: Science, 327(5971)/2010, S. 1341-1344. 78 W. D. Hamilton, „The genetical theory of social behaviour“.
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Individuen, bei welchem Individuen altruistische Akte gegenüber solchen Individuen erwidern würden, die sich ihnen gegenüber selbst altruistisch verhalten haben.79 Da Altruismus zwischen genetisch verwandten Individuen indirekt zur Gesamtfitness des Individuums beiträgt, ist es der Altruismus zwischen unverwandten Individuen, welcher mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Wie bei Primaten beobachtet wurde, funktioniert reziproker Altruismus in kleinen, stabilen Sozialgruppen, innerhalb derer für Individuen immer eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, miteinander in der Zukunft zu interagieren. In sehr großen und anonymen Gruppen, wie bei einigen menschlichen Gesellschaften und vielen Insekten- und Vogelarten beobachtet wurde, ist dies weniger gewiss und die Evolution von Altruismus schwieriger nachzuvollziehen. Es wurde jedoch gezeigt, dass Individuen innerhalb von Gruppen mit anderen nicht zufällig interagieren, sondern dazu neigen, ihre Interaktionen auf eine begrenzte Anzahl von Gruppenmitgliedern zu beschränken und dass dies, wie durch Modelle bestätigt, die Evolution von Altruismus sehr viel wahrscheinlicher machen würde.80 Um dies zu bekräftigen: Teilen und Helfen sind zwei Formen von Altruismus, welche sowohl bei in Wildnis lebenden Schimpansenpopulationen als auch bei anderen Primatenarten regelmäßig beobachtet wurden.81 Darüber hinaus kommt das Teilen von Fleisch zwischen unverwandten erwachsenen Männchen in allen Schimpansenpopulationen vor, wobei die Regeln für das Teilen von der sozialen Beschaffenheit der Population beeinflusst sind. Dieses suggeriert, dass der Fleischbesitzer spezifische Vorteile anstrebt. Jedoch wird Fleisch nicht nur mit den männlichen Jägern und den eigenen Verbündeten, sondern auch mit vielen anderen Individuen geteilt, darunter oftmals unverwandte Individuen. Darüber hinaus bieten 79 R. Axelrod, W. D. Hamilton, „The evolution of cooperation“; R. L. Trivers, „The evolution of reciprocal altruism“. 80 L. Barrett, D. Gaynor, P. Henri, „A dynamic interaction between aggression and grooming reciprocity among female chacma baboons“, in: Animal Behav iour, 63(6)/2002, S. 1047-1053; F. de Waal, „Putting the altruism back into al truism“; M. Nowak, „Five rules for the evolution of cooperation“, in: Science, 314(5805)/2006, S. 1560-1563. 81 C. Boesch et al., „Intergroup conflicts among chimpanzees“; C. Boesch, „Away from ethnocentrism and anthropocentrism“; F. de Waal, The ape and the sushi master; F. de Waal, „Putting the altruism back into altruism“; J. Mitani, D. Watts, J. Lwanga, „Ecological and social correlates of chimpanzee party size and composition“.
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Fleischbesitzer ihr Fleisch spontan und aktiv anderen Gruppenmitgliedern an (z. B. werden bei Taï-Schimpansen bis zu 7 Prozent des transferierten Fleisches aktiv durch den Fleischbesitzer an Unbeteiligte weitergegeben und 32 Prozent allen Zugangs zu Fleisch wird aktiv durch den Fleischbesitzer ermöglicht).82 Altruismus in Form von Waisenadoption durch erwachsene Gruppenmitglieder wurde bei vielen Primatenarten für unterschiedliche Zeitspannen beobachtet. Adoption ist ein sehr aufwändiges Verhalten, da es das Tragen, Säugen, Beschützen und Umsorgen des Pflegekinds für viele Monate umfasst.83 In vielen Fällen wird die Adoption von verwandten Gruppenmitgliedern, meist Geschwister der Waisen, vorgenommen, doch sie kommt auch bei unverwandten Gruppenmitgliedern vor. Bei Schimpansen wird Adoption regelmäßig beobachtet, und da Waisen unter dem Alter von fünf Jahren nicht allein überlebensfähig sind, ist Adoption für sie sehr wichtig. Bei Taï-Schimpansen werden die Hälfte der Waisen adoptiert, wobei die Hälfte dieser Adoptionen durch Männchen erfolgt.84 Genauer gesagt wurde bei erwachsenen Männchen beobachtet, dass diese Waisenmännchen und -weibchen adoptieren, die nicht mit ihnen verwandt sind, und dass manche dieser Adoptionen über Jahre hinweg angedauert haben. Skeptiker von Altruismus bei Tieren haben vorgeschlagen, dass Adoption auf Fehler zurückzuführen sein könnte, wobei die Männchen die Waisen fälschlicherweise als ihren eigenen Nachwuchs betrachten; jedoch lässt sich dieses Argument nicht aufrecht erhalten, wenn man die Adoptionen durch Schimpansenweibchen mit berücksichtigt, welche bei den Taï-Schimpansen 50 Prozent ausmachen. Ein weiterer Widerspruch lässt sich aus der Tatsache ableiten, dass Schimpansenmännchen ihren eigenen Nachwuchs zu erkennen scheinen.85
82 C. Boesch, H. Boesch, „Hunting behavior of wild chimpanzees in the Taï National Park“. 83 C. Boesch et al., „Altruism in chimpanzees: The case of adoption“, in: PLoS One, 5(1)/2010, doi:10.1371/journal.pone.0008901; J. Goodall, The chimpanzees of Gombe: Patterns of behavior; M. Riedman, „The evolution of alloparental care and adoption in mammals and birds“, in: The Quarterly Review of Bio logy, 57(4)/1982, S. 405-435; B. Thierry, J. Anderson, „Adoption in anthropoid primates“, in: International Journal of Primatology, 7(2)/1987, S. 191-216. 84 C. Boesch et al., „Altruism in chimpanzees“. 85 J. Lehmann, G. Fickenscher, C. Boesch, „Kin biased investment in wild chimpan zees“, in: Behaviour, 143(8)/2006, S. 525-535.
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Bei Schimpansen legen manche der altruistischen Verhaltensweisen nahe, dass diese Tiere eine Vorstellung von den Bedürfnissen anderer haben, und dass sie dazu bereit sind, ein hohes Risiko einzugehen, um anderen zu helfen.86 Wie bereits erwähnt wird Altruismus in Form von riskanter Hilfe für Individuen in gefährlichen Situationen regelmäßig beobachtet, so zum Beispiel während Raubtierangriffen oder bei intergruppalen Auseinandersetzungen.87 Es ist wichtig festzuhalten, dass Leoparden- oder Schimpansenangriffe nicht sofort tödlich sind, weshalb es immer ein Zeitfenster gibt, in dem Individuen das Opfer erfolgreich retten können. Dies mag erklären, warum solche Hilfe öfter bei großen Primaten wie Schimpansen als bei kleinen Primaten wie Pavianen, für welche Leopardenangriffe in der Regel tödlich sind, beobachtet wird.88 Es ist rätselhaft, dass solch altruistische Unterstützung anscheinend mit unterschiedlicher Häufigkeit in unterschiedlichen Schimpansenpopulationen geleistet wird.89 In der Tat wurde berichtet, dass Taï-Schimpansen Opfern in solchen Situationen regelmäßig helfen, wohingegen Hilfe dieser Art über Gombe- oder Ngogo-Gemeinschaften nur selten berichtet wird. In manchen Fällen kann solche Hilfe erst Monate oder Jahre später erwidert werden; in anderen Fällen wird hingegen die Hilfe lediglich geleistet, um andere zu unterstützen.
Ein evolutionärer Zugang zu Altruismus-Studien Einige haben vorgeschlagen, dass altruistische Handlungen gegenüber unverwandten Gruppenmitgliedern nur bei Menschen vorkommen, und dass dieses ein essentielles Kennzeichen menschlicher Sozialität sei.90 Glücklicherweise ist Homo Sapiens die meist 86 C. Boesch, The real chimpanzee; F. de Waal, „Putting the altruism back into altruism“. 87 C. Boesch, The real chimpanzee; C. Boesch, H. Boesch-Achermann, The chim panzees of the Taï Forest. 88 D. Cheney, R. Seyfarth, Baboon metaphysics. 89 C. Boesch et al., „Intergroup conflicts among chimpanzees“; C. Boesch, The real chimpanzee. 90 E. Fehr, U. Fischbacher, „The nature of human altruism“, in: Nature, 425 (6960)/2003, S. 785-791; E. Fehr, S. Gächter, „Altruistic punishment in humans“; S. Hrdy, Mothers and others; J. Silk et al., „Chimpanzees are indifferent to the
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erforschte aller Tierarten und, da Altruismus als ein Thema von zentraler Wichtigkeit gilt, haben wir Zugang zu einer Vielzahl von Studien, welche uns dabei helfen können, eine derart starke Behauptung zu relativieren. Erstens wurden detaillierte Experimentalstudien mittlerweile in vielen unterschiedlichen menschlichen Gesellschaften durchgeführt, wobei die Neigung zu teilen in allen beobachtet wurde.91 Jedoch gibt es dramatische Unterschiede in der Neigung zu teilen in verschiedenen menschlichen Gesellschaften. Beispielsweise hat sich die Art und Weise, in der westliche Universitätsstudenten untereinander teilen, welche die Grundlage für die obige Behauptung bildete, als nicht-repräsentativ für Menschen im Allgemeinen erwiesen, weil diese insgesamt weitaus weniger teilen und abgeneigt sind, jene zu bestrafen, die nicht teilen. Für Menschen wurde gezeigt, dass Teilen und altruistische Bestrafung in kleinen menschlichen Gesellschaften abnehmen92 und in sozio-ökonomisch weniger entwickelten Gesellschaften seltener vorkommen.93 Zweitens haben viele Wirtschaftswissenschaftler die „ökologische Validität“ experimenteller Arbeiten angezweifelt, und dabei sorgfältig sowohl die Auswirkungen der in den Versuchen eingesetzten Verfahren auf die Versuchspersonen als auch die Unterschiede in den Reaktionen von Individuen berücksichtigt, welche entweder im Labor oder in der echten Welt getestet wurden.94 Solche Vergleiche von Levitt und List haben gezeigt, dass Menschen im Labor anders reagieren (Versuchspersonen neigen dazu, großzügiger zu sein als im echten Leben) und dass, je nach den im Ex-
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welfare of unrelated group members“; J. Vonk et al., „Chimpanzees do not take advantage of very low cost opportunities to deliver food to unrelated group members“, in: Animal Behaviour, 75(5)/2008, S. 1757-1770; F. Warneken et al., „Spontaneous altruism by chimpanzees and young children“, in: PLoS Bio logy, 5(7)/2007, doi:10.1371/journal.pbio.0050184. J. Henrich et al. „Costly punishment across human societies“; J. Henrich et al., „Markets, religion, community size and the evolution of fairness and punish ment“; H. Gintis et al., „Explaining altruistic behaviour in humans“, in: Evolu tion and human Behaviour, 24(3)/2003, S. 152-172. F. Marlowe et al., „More ‚altruistic‘ punishment in larger societies“. H. Gintis et al., „Explaining altruistic behaviour in humans“; J. Henrich et al., „Markets, religion, community size and the evolution of fairness and punish ment“. Zur Übersicht siehe beispielsweise S. Levitt, J. List, „What do laboratory experi ments measuring social preferences reveal about the real world?“, in: Journal of Economic Perspectives, 21(2)/2007, S. 153-174; S. Levitt, J. List, „Homo eco nomicus evolves“.
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periment eingesetzten Verfahren, höchst unterschiedliche Resultate gewonnen werden können. „We believe that several features of the laboratory setting need to be carefully considered before generalizing results from experiments that measure pro-social behaviors to market settings they purport to describe [...] Such factors include both the representativeness of the situation as well as the representativeness of the population: the nature and extent of scrutiny, the emphasis on the process by which decisions are made, the artificial limits placed on the action space, the imposition of task, the selection rules into the environments, and the stakes typically at risk. In contrast to the lab, many real-world markets operate in ways that make prosocial behavior much less likely […] Because the lab systematically differs from most naturally occurring environments on these dimensions, experiments may not always yield results that are readily generalizable.“95 Levitt und List kamen zu dem Schluss, dass „perhaps the greatest challenge of behavioural economists is demonstrating its (the laboratory’s) applicability in the real world“,96 und dass „the data suggest that current interpretations of dictator game data likely need revision. Rather than representing social preferences as currently modeled in the oft-cited literature, the data are consistent with the power of changing the giver and recipient expectations“.97 Beispielsweise wurde die pro-soziale oder altruistische Neigung bei Menschen umfangreich in zahlreichen Studien unter Einsatz des Vertrauensspiels (Dictator game) dokumentiert. Ein solches Spiel, in welchem der Geber (Diktator) eine Pauschalsumme erhält und davon einem Empfänger so viel geben kann, wie er möchte, wobei sich jener nicht wehren kann, selbst wenn er nichts erhält, wurde in vielen Situationen verwendet; Menschen neigen dazu, immer etwas zu geben. Dies wurde verwendet, um Behauptungen zu stützen über die Existenz einer universalen menschlichen Neigung, sich um das Wohlbefinden anderer zu kümmern. Jedoch zeigen die Schwierigkeiten jeder gemeinnützigen Organisation, genügend Spenden für ihre Aktivitäten zu sammeln, dass diese Schlussfolgerung vollkommen unrealistisch ist. Präzisere Studien haben gezeigt, dass die95 Siehe S. Levitt, J. List, „What do laboratory experiments measuring social preferences reveal about the real world?“, S. 168 f. 96 Siehe S. Levitt, J. List, „Homo economicus evolves“, S. 909. 97 Siehe J. List, „On the interpretation of giving in dictator games“, S. 490.
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se Schlussfolgerung nur dann zutrifft, wenn der Geber weiß, dass der Empfänger etwas erwartet. Weiß der Empfänger hingegen nicht, dass ein Spiel stattfindet, ist der Geber in fast 50 Prozent der Fälle bereit, das Spiel zu beenden, ohne dem Empfänger irgendetwas zu geben.98 Solche Studien haben gezeigt, dass Geben nicht notwendigerweise eine pro-soziale Neigung zum Ausdruck bringt, sondern eventuell stark von den Erwartungen anderer geprägt sein könnte.99 Die spezifischen Auswirkungen, welche Laborexperimente auf Probanden haben, sind essentiell, wenn wir die natürlichen sozialen Verhaltensweisen von menschlichen und nichtmenschlichen Primaten verstehen wollen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es verblüffend, dass Experimentalpsychologen die „ökologische Validität“ ihrer Experimente mit Tieren in Gefangenschaft so selten hinterfragt haben. Studien zu Altruismus und Hilfe, die mit Schimpansen in Gefangenschaft durchgeführt wurden, haben zu negativen oder gemischten Ergebnissen geführt.100 Aufgrund dieser Tatsache haben vergleichende Psychologen vorgeschlagen, dass Altruismus in Form von Teilen und Helfen vereinzelt bei Experimentalsituationen in Gefangenschaft vorkommt, dass Schimpansen jedoch eigentlich nur begrenztes Interesse daran haben, entweder weil Nahrungsteilung für sie sehr schwierig ist101 oder aber weil Teilen nicht aus eigenem Antrieb spontan, sondern nur auf Aufforderung eines Partners hin 98 J. Dana, D. Cain, R. Dawes, „What you don’t know won’t hurt me: Costly (but quiet) exit in dictator games“, in: Organizational Behaviour and Human Decision Process, 100(2)/2006, S. 193-201. 99 Vgl. N. Bradsley, „Dictator game giving: Altruism or artifact?“; J. Henrich et al., „Markets, religion, community size and the evolution of fairness and punishment“ für ähnliche Schlussfolgerungen. 100 J. Silk, B. House, „The Phylogeny and Ontogeny of Prosocial Behaviour“; S. Brosnan et al., „Chimpanzees (Pan troglodytes) do not develop contingent reciprocity in an experimental task“, in: Animal Cognition, 12(4)/2009, S. 587597; K. Jensen, J. Call, M. Tomasello, „Chimpanzees are rational maximizers in an ultimate game“, in: Science, 318(5847)/2007, S. 107-109; J. Silk et al., „Chimpanzees are indifferent to the welfare of unrelated group members“; J. Vonk et al., „Chimpanzees do not take advantage“; F. Warneken, M. Tomasello, „Altruistic helping in human infants and young chimpanzees“, in: Science, 311(5765)/2006, S. 1301-1303; S. Yamamoto, M. Tanaka, „The influence of kin relationship and reciprocal context on chimpanzee’s other regarding prefer ences“, in: Animal Behaviour, 79(3)/2010, S. 595-602. 101 K. Jensen, J. Call, M. Tomasello, „Chimpanzees are rational maximizers in an ultimate game“; F. Warneken, M. Tomasello, „Altruistic helping in human infants and young chimpanzees“.
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geschieht102 oder aber weil ihnen das Wohlbefinden anderer egal ist.103 Die widersprüchlichen Ergebnisse solcher Experimente legen jedoch ein intrinsisches Problem der verwendeten Methoden nahe, wie es bereits für Menschen gezeigt wurde; Schimpansen in Gefangenschaft scheinen auf die spezifischen Methoden innerhalb der unterschiedlichen Versuchssettings zu reagieren, und nicht auf eine spezifische „Neigung mit anderen zu teilen“.104
Die Evolution von Reziprozität In stabilen sozialen Primatengruppen können Gruppenmitglieder potentiell über viele Jahre hinweg miteinander interagieren. Daher gibt es jede Menge Gelegenheiten, aggressives oder affiliatives Verhalten zu erwidern. Wiederholte soziale Interaktionen würden die Effizienz kooperativer und altruistischer Interaktionen erhöhen, da diese ermöglichen würden, zwischen potentiellen Partnern im Hinblick auf Qualität und Verlässlichkeit zu unterscheiden und dementsprechend das Problem von Betrügern zu begrenzen. Ein solcher Nutzen wäre für Tierarten, die langfristige Assoziationen zwischen bestimmten Gruppenmitgliedern aufrechterhalten, besonders wichtig, wie für manche Primatenarten gezeigt wurde.105 Dieses könnte wiederum die Überlebens- und Fortpflanzungschancen von Individuen erhöhen.106 102 S. Yamamoto, M. Tanaka, „The influence of kin relationship and reciprocal context“. 103 J. Silk et al., „Chimpanzees are indifferent to the welfare of unrelated group members“. 104 Vgl. V. Horner et al., „Spontaneous prosocial choice by chimpanzees“, in: Pro ceedings of the National Academy of Science of the United States of America, 108(33)/2011, S. 13847-13851, für ein sehr aktuelles Ergebnis, welches dies bestätigt. 105 J. Lehmann, C. Boesch, „Bisexually-bonded ranging in chimpanzees (Pan trog lodytes verus)“, in: Behavioral Ecology and Sociobiology, 57(6)/2005, S. 525535; J. Mitani, „Male chimpanzees form enduring and equitable social bonds“, in: Animal Behaviour, 77(3)/2009, S. 633-640; J. Silk, S. Alberts, J. Altmann, „Social relationships among adult female baboons (Papio cynocephalus) II. Variation in the quality and stability of social bonds“, in: Behavioral Ecology and Sociobiology, 61(2)/2006, S. 197-204. 106 J. Silk, S. Alberts, J. Altmann, „Social relationships among adult female ba boons (Papio cynocephalus) I. Variation in the strength of social bonds“, in: Behavioral Ecology and Sociobiology, 61(2)/2006, S. 183-195.
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Angesichts eines so großen potentiellen Vorteils langfristiger sozialer Reziprozität ist es verblüffend, wie schwierig es war, schlüssige Nachweise für Reziprozität bei Primatenarten zu finden.107 Für manche Arten konnten lediglich Nachweise für kurzfristige Reziprozität gefunden werden; für andere gar keine; und bei einigen wenigen etwas langfristige Reziprozität. Jedoch wurden in vielen Fällen Alternativen zu einem Rückgriff auf Reziprozität vorgeschlagen. Infolgedessen wurde angenommen, dass Reziprozität bei Tieren so selten auftritt, weil sie zu anspruchsvoll ist.108 Im Speziellen würden zeitliche Diskontierung, numerische Diskontierung und Erinnerung Reziprozität für Tiere erschweren. Jedoch unterstützen sorgfältigere Überprüfungen der Beweislage die Tatsache, dass Reziprozität eine wichtige Rolle für den Austausch gegenseitiger Pflege (grooming) bei Primaten spielt; dieses Ergebnis wird als Folge einfacherer kognitiver Mechanismen erklärt.109 Eine detaillierte Studie mit Taï-Schimpansen veranschaulicht die Frage nach Reziprozität bei Primaten; die Symmetrie von gegenseitigem Grooming innerhalb von Dyaden steigt, wenn längere Zeitrahmen berücksichtigt werden (bis zu 15 Monate) und erreicht mehr als 83 Prozent.110 Da Grooming-Interaktionen im flexiblen sozialen System der Schimpansen nur innerhalb derselben Dyaden alle sieben Tage beobachten wurden (Intervall = 2 bis 18 Tage), können solche Grade von Reziprozität nur erreicht werden, wenn auf irgendeine Weise über vergangene Interaktionen die Übersicht behalten wird. Neben dem Grooming tauschen Taï-Schimpansen mit allen erwachsen Gruppenmitgliedern Fleisch gegen Sex oder Unterstützung; außerdem erwidern sie unterstützende Interaktionen.111 Zwei proximate Mechanismen, mit dem Individuen die Übersicht über vergangene Interaktionen behalten, wurden vorgeschlagen: „Emotional vermitteltes“ Punktezählen (scorekeeping) und kalku-
107 L. Barrett, D. Gaynor, P. Henzi, „A dynamic interaction between aggression and grooming“; C. Gomes, R. Mundry, C. Boesch, „Long-term reciprocation of grooming in wild West African chimpanzees“, in: Proceedings of the Royal Society B, 276(1657)/2009, S. 699-706; M. Hauser, Moral minds. 108 J. Stevens, M. Hauser, „Why be nice? Psychological constraints on the evo lution of cooperation“, in: Trends in Cognitive Sciences, 8(2)/2004, S. 60-65. 109 G. Schino, F. Aureli, „The relative roles of kinship and reciprocity in explaining primate altruism“, in: Ecology Letters, 13(1)/2010, S. 45-50. 110 C. Gomes, R. Mundry, C. Boesch, „Long-term reciprocation of grooming“. 111 C. Gomes, C. Boesch, „Reciprocity and trades in wild West African chimpanzees“, in: Behavioral Ecology and Sociobiology, 65(11)/2011, S. 2183-2196.
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lierte Reziprozität.112 Der erste Mechanismus basiert auf der emotionalen Einstellung, welche sich zwischen Partnern als Konsequenz vorheriger affiliativer oder aggressiver Interaktionen entwickelt. Kalkulierte Reziprozität hingegen setzt ein detailliertes kognitives Bilanzieren gegebener und erhaltener Leistungen voraus. Bei der Unterscheidung dieser beiden Mechanismen ist es wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass sich die Menge des ausgetauschten Groomens und Unterstützens sowie der Tauschhandel von Fleisch und Unterstützung innerhalb und zwischen Dyaden drastisch unterschied, was voraussetzen würde, dass emotionsbasiertes Punktezählen komplex genug strukturiert ist, um es jedem Individuum zu ermöglichen, zwischen 43 und 52 erwachsenen dyadischen Interaktionen exakt zu unterschieden und diese zu aktualisieren. Ein derart strukturiertes, emotionsbasiertes Punktezählen wäre voll ausgebildeter, kalkulierter Reziprozität möglicherweise sehr ähnlich.
Diskussion Die vorliegende Darstellung sozialer Verhaltensweisen und kognitiver Fähigkeiten bei Primaten unterstützt den evolutionstheo retischen Ansatz, indem er die Schlüsselbedeutung von sozio-ökologischen Herausforderungen für die von den Individuen angewandten Lösungen demonstriert. Die konvergente Evolution von ähnlichem sozialen Verhalten und kognitiven Lösungen wurde bei so unterschiedlichen Arten wie Krähen, Raben, Buschhähern, Hunden, Fischen, Pavianen, Rhesusaffen, Schimpansen und Menschen beobachtet.113 Ebenso haben wir für Arten, welche mit verschiedenartigen ökologischen Herausforderungen konfrontiert sind, die Anwendung einer großen Anzahl unterschiedlicher Verhaltens- und 112 F. de Waal, L. Luttrell, „Mechanisms of social reciprocity in three primates species: Symmetrical relationship characteristics or cognition?“, in: Ethology and Sociobiology, 9(2-4)/1988, S. 101-118; G. Schino, F. Aureli, „Reciprocal altruism in primates: Partner choice, cognition and emotions“, in: Advances in the Study of Behavior, 39/2010, S. 45-59. 113 C. Boesch, „What makes us human (Homo sapiens)?“; D. Cheney, R. Seyfarth, Baboon metaphysics; R. Bshary et al., „Pairs of cooperating cleaner fish“; F. de Waal, „Putting the altruism back into altruism“; F. de Waal, P. Ferrari, „Toward a bottom-up perspective“; T. Fitch, L. Huber, T. Bugnyar, „Social cognition and the evolution of language“.
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Kognitionslösungen beobachtet, wobei dieser Effekt bei anpassungsfähigeren Arten ausgeprägter war.114 Solche Beobachtungen sind mit einem cartesianischen Zugang zur Evolution des sozialen Verhaltens und der sozialen Kognition nicht vereinbar, und wurden oftmals einfach ignoriert oder als Freilandanekdoten zurückgewiesen.115 Soziale Interaktionen sind Anpassungsreaktionen auf die spezifischen Umstände, mit denen Individuen innerhalb ihrer sozialen Gruppen konfrontiert sind. Wenn sich die Umstände ändern, würden wir von den Individuen erwarten, dass sie ihr Verhalten auf eine Weise anpassen, durch die sie das Beste aus den Situationen machen, mit denen sie konfrontiert sind. Langzeitstudien haben sich als einer der besten Ansätze für die Adressierung solcher Probleme erwiesen, und sie haben viele Erkenntnisse hinsichtlich der Flexibilität sozialer Verhaltensmuster von Primaten geliefert. Zum Beispiel wurde bei weiblichen Bärenpavianen gezeigt, dass diese ihre sozialen Interaktionen auf Veränderungen im Grad des Wettbewerbs anpassen.116 Eine ähnlich flexible Reaktion auf die ökologischen und sozialen Umstände wurde bei den Ausbreitungsentscheidungen von Männchen unterschiedlicher Pavianarten nachgewiesen.117 In Übereinstimmung damit hat sich Kooperation als flexibel erwiesen und wurde hauptsächlich in Situationen beobachtet, in denen das Individuum für solche gemeinsamen Anstrengungen belohnt wurde. Bei Schimpansen wurde flexible Kooperation bei der Jagd von Baum affen sowie bei der gemeinsamen Abwehr von Raubtieren und zur selben Art gehörender Nachbarn beobachtet. Gleichermaßen konzentriert sich Altruismus auf Fälle, in denen hochwertige Nahrungsmittelressourcen geteilt werden und in denen die Empfänger einen großen Nutzen, wie Unterstützung und Adoption, erhalten. Dank der steigenden Anzahl detaillierter Langzeitstudien mit unterschiedlichen Primatenarten, welche der Wissenschaft erstmals 114 C. Boesch, „What makes us human (Homo sapiens)?“; C. Boesch, The real chimpanzee; J. Henrich et al., „Markets, religion, community size and the evolution of fairness and punishment“. 115 D. Penn, K. Holyoak, D. Povinelli, „Darwin’s mistake“; D. Povinelli, Folk physics for apes; M. Tomasello, J. Call, Primate cognition; M. Tomasello et al., „Understanding and sharing intentions“. 116 L. Barrett, D. Gaynor, P. Henzi, „A dynamic interaction between aggression and grooming“. 117 S. Alberts, J. Altmann, „Balancing costs and opportunities: Dispersal in male baboons“, in: American Naturalist, 145(2)/1995, S. 279-306; P. Clarke et al., „On the road again: Competitive effects and condition-dependent dispersal in male baboons“, in: Animal Behaviour, 76(1)/2008, S. 55-63.
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Erkenntnisse darüber vermittelten, wie „Primaten die Welt sehen“, konnten vergleichende Studien über potentielle Unterschiede hinsichtlich des Sozialverhaltens und der kognitiven Fähigkeiten große Fortschritte machen.118 Gleichzeitig hat die Bestätigung wichtiger Unterschiede innerhalb derselben Art die Durchführung vergleichender Studien erheblich erschwert, da eine große Anzahl von Populationen erforderlich ist, um das Zusammenspiel zwischen sozioökologischen Einflüssen und der Expression unterschiedlicher Verhaltensmuster zu verstehen. Bis etwas Anderes nachgewiesen ist, können wir momentan sagen, dass sich bei Schimpansen Kooperation auf soziale Bereiche konzentriert, in denen Teamarbeit für die Lösung von Herausforderungen erforderlich ist. Wenn sich die Umstände allerdings ändern, kann Kooperation jedoch verschwinden und individuelle Lösungen können bevorzugt werden. Da Teamarbeit voraussetzt, dass alle Beteiligten ihr Verhalten in Raum und Zeit miteinander koordinieren, ebenso wie sie Risiken und Nutzen teilen, sollten wir erwarten, dass solche komplexen Gruppeninteraktionen nur dann ausgeführt werden, wenn sie tatsächlich notwendig sind. Anzunehmen, dass Tierarten, welche die kognitiven Fähigkeiten besitzen, um helfen oder kooperieren zu können, dies auch immer tun sollten, ignoriert die mit solchen sozialen Verhaltensweisen verbundenen Nachteile. Daher ist ökologische Validität von zentraler Bedeutung, wenn wir die Evolution sozialen Verhaltens verstehen wollen.
Ausblick Das Feld der sozialen Kognition wurde bisher von einer Debatte über den Nutzen von Experimenten mit Tieren in Gefangenschaft dominiert.119 Für die eine Seite dieser Debatte sind Experimente der einzige Weg, um Antworten auf Fragen nach Kognition zu erlangen, weil es sich um den einzigen Weg handelt, alle möglichen Fak-
118 C. Boesch, The real chimpanzee; D. Cheney, R. Seyfarth, How monkeys see the world; D. Cheney, R. Seyfarth, Baboon metaphysics; J. Goodall, The chimpan zees of Gombe: Patterns of behavior. 119 C. Allen, „A skeptic’s progress“; C. Boesch, „What makes us human (Homo sapiens)?“; C. Boesch, „Taking ecology and development seriously“; F. de Waal, The ape and the sushi master; M. Tomasello, J. Call, Primate cognition.
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toren zu kontrollieren, die Individuen innerhalb ihres natürlichen Lebens beeinflussen.120 Dieses hat einige wissenschaftliche Disziplinen, wie zum Beispiel die experimentelle und die vergleichende Psychologie, dazu gebracht, sich auf Studien in Gefangenschaft zu konzentrieren, und zwar in einem Ausmaß, dass man den Eindruck gewinnt, Tiere lebten ausschließlich in Gefangenschaft und in Wildtiere seien Sonderfälle. Um dies zu unterstreichen: Einige namhafte Experimentalstudien über Tierkognition zitieren nicht eine einzige Studie über ihre untersuchten Arten, in welcher die Tiere unter natürlichen Bedingungen leben. Es ist daher wenig überraschend, dass auf der anderen Seite der Debatte Studien in Gefangenschaft stark kritisiert wurden, da diese wenig bis gar keine ökologische Validität hätten und Tiere mit hochgradig künstlichen Situationen konfrontierten.121 Die Fachgebiete der vergleichenden und experimentellen Psychologie betrachten Studien in Gefangenschaft manchmal aus der Sicht eines cartesianischen Zugangs, für den Unterschiede hinsichtlich des Aufwachsens und der Ökologie wenig Bewandtnis für das Verstehen des Verhaltens einer Tierart haben. Jedoch: Solange die Auswirkungen von Entwicklung und Ökologie nicht eindeutig in unser Denken integriert sind, wird unser Verständnis von Artunterschieden völlig voreingenommen und unvollständig bleiben. Um bei der Auflösung dieser Debatte Fortschritte zu erzielen, scheint es wichtig zu sein, über die folgenden Punkte mehr Informationen zu erlangen: 1. Quantifizierung des Einflusses ökologischer Unterschiede auf die Entwicklung sozialen Verhaltens und sozialer Kognition von unterschiedlichen Primatenarten. Es ist auffallend, dass in den über 100 Jahren vergleichender Psychologie keine systematische Studie über die Auswirkung von Gefangenschaft auf die Entwicklung sozialen Verhaltens und sozialer Kognition entstanden ist. Die Studie, welche einem solchen Anspruch am nächsten kommt, wurde in den 1960er Jahren von 120 B. Galef, „Tradition in animals“; C. M. Heyes, „Anecdotes, training, trapping and triangulating“; D. Penn, K. Holyoak, D. Povinelli, „Darwin’s mistake“; M. Tomasello, J. Call, Primate cognition. 121 L. Barrett, P. Henzi, D. Rendall, „Social brains, simple minds“; C. Boesch, „What makes us human (Homo sapiens)?“; C. Boesch, „Away from ethnocen trism and anthropocentrism“; D. Cheney, R. Seyfarth, Baboon metaphysics; F. de Waal, The ape and the sushi master.
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Gardner und Gardner mit einer geringen Stichprobengröße durchgeführt, und verglich lediglich zwei unterschiedliche Aufzuchtbedingungen miteinander.122 Diese Studie zeigte eindeutig, dass junge Schimpansen sich in sämtlichen untersuchten Messgrößen stark voneinander unterschieden. Leider hat diese wegweisende Studie keine Folgepublikationen nach sich gezogen, und wir rätseln weiterhin über solche Effekte.123 In den Wirtschaftswissenschaften geschah dies in einem Ausmaß, sodass manche argumentieren, „behavior in the lab might be poor to real-world behavior“.124 In gewisser Hinsicht erlaubt diese wichtige Wissenslücke es Psychologen, drastisch unterschiedliche Auffassungen zu vertreten. Es ist nicht so, dass uns Daten über die dramatischen Konsequenzen von stark deprivierten Zuständen in Gefangenschaft, wie sie in den frühen 1950er Jahren noch vorherrschend waren, fehlen,125 aber direkte Vergleiche mit in Wildnis lebenden Tieren wurden nicht durchgeführt. Wir konnten sehen, dass selbst relativ kleine Deprivationen große und lang andauernde schädliche Auswirkungen auf die Entwicklung eines Individuums haben können, und uns fehlen schlicht und ergreifend mehr Informationen über deren Auswirkungen auf unterschiedliche Primatenarten. Nur durch solche Studien werden die Kognitionswissenschaften in der Lage sein, die Anwendbarkeit von Studien in Gefangenschaft auf die echte Welt wissenschaftlich zu bewerten. 2. Quantifizierung der Auswirkungen unterschiedlicher Erziehungsumstände auf die kognitive Entwicklung von Individuen. Es ist erwiesen, dass die Bedingung des Aufwachsens sehr wichtige und lang andauernde Auswirkungen auf individuelle Menschen hat, und das Feld der Sozialpsychologie hat Daten darüber geliefert, inwieweit sich schlechte sozio-ökonomische Umstände negativ auf die Entwicklung sozial-kognitiver Fähigkeiten auswirken. In letzter Zeit wurde vermehrt der Versuch unternommen, einige dieser Effekte auf Schimpansen, welche mit unterschiedlichen sozialen 122 Siehe B. Gardner, R. Gardner, „Prelinguistic development of children and chimpanzees“. 123 Siehe allerdings H. Lyn, J. Russel, W. Hopkins, „The impact of environment on the comprehension of declarative communication in apes“, in: Psychological Science, 21(3)/2010, S. 360-365. 124 Siehe S. Levitt, J. List, „Homo economicus evolves“. 125 H. Harlow, M. Harlow, „Social deprivation in monkeys“.
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Umständen in Gefangenschaft konfrontiert sind, zu quantifizieren, und diese haben starke, wenn auch spezifische, Auswirkungen gezeigt. Zum Beispiel hat sich das Erkennen im Spiegel, was oftmals als Indikator für Selbsterkenntnis verstanden wird, als stark vom mütterlichen Verhalten gegenüber Babys beeinflusst erwiesen: Mehr Stimulation durch die Mütter und unabhängige Bewegungen seitens der Kinder führt sowohl bei Menschen als auch bei Schimpansen zu früherem Erkennen im Spiegel.126 Derart wegweisende Forschung sollte repliziert und auf viele andere Verhaltensbereiche angewandt werden, um zu untersuchen, wie unterschiedliche Aspekte sozialer Kognition durch Früherfahrungen in der Erziehung beeinflusst werden. Das gesamte Fachgebiet der Kognitionswissenschaften würde davon profitieren, es den Wirtschaftswissenschaften gleichzutun, indem es Studien mit dem spezifischen Zweck konzipiert, die Rolle von Erfahrung und Konzeption im Verhalten der individuellen Subjekte zu quantifizieren. 3. Entwicklung eines Verständnisses für die spezifischen Faktoren, welche die Evolution von Kooperation und Altruismus beeinflussen. Kooperation, Altruismus und Reziprozität sind zu wichtigen sozialen Domänen für die Definition potentiell einzigartiger Unterschiede zwischen Menschen und anderen Primatenarten geworden. Jedoch ist die gesamte Diskussion durch ein fehlendes Verständnis der Umstände beeinträchtigt, unter denen sich solche Verhaltensmuster entwickeln. Die meisten Beobachtungen von Kooperation und Altruismus entstammen natürlichen sozialen Gruppen und waren auf lebenslange Gruppenmitglieder gerichtet, welche Herausforderungen ihrer Umwelt bewältigen. Auf der anderen Seite stammen die meisten Beobachtungen, welche zu dem Ergebnis führten, dass Primaten nicht oder nur teilweise dazu in der Lage sind, zu kooperieren, zu helfen oder mit anderen zu teilen, von Individuen, die
126 K. Bard et al., „Group differences in the mutual gaze of chimpanzees (Pan troglodytes)“, in: Developmental Psychology, 41(4)/2005, S. 615-624; M. Ijzendoorn et al., „Enhancement of attachment and cognitive development of young nursery-reared chimpanzees in responsive versus standard care“, in: Developmental Psychobiology, 51(2)/2009, S. 173-185; H. Keller et al., „Developmental consequences of early parenting experiences: Self-recognition and self-regulation in three cultural communities“, in: Child Development, 75(6)/2004, S. 1745-1750.
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in Gefangenschaft mit künstlichen Umständen konfrontiert sind.127 Neuere Experimente, welche die soziale Dimension von Kooperation und Altruismus berücksichtigen, haben versucht, den getesteten Individuen natürlichere Möglichkeiten zu bieten, und diese haben bereits deutliche Leistungssteigerungen gezeigt.128 Weitere Studien dieser Art werden es uns ermöglichen, ein besseres Verständnis der sozialen Dimension solcher Verhaltensmuster zu erlangen und eine Erklärung dafür bieten, warum Tiere dazu neigen, in Gefangenschaft weniger zu kooperieren und zu helfen als in der Wildnis.129 4. Erforschung nichtmenschlicher Tiere ohne Anthropozentrismus. Zu oft war das Feld der vergleichenden Psychologie von einem anthropozentrischen Ansatz geleitet, bei dem Menschen auf andere Tierarten schauen, um spezifisch menschliche Fähigkeiten zu erklären.130 Darüber hinaus sind viele dieser anthropozentrischen Ansätze ethnozentrisch, da sie nicht berücksichtigen, dass das, was okzidentale Menschen tun, kaum repräsentativ für das ist, was alle Menschen auf diesem Planeten tun.131 Schimpansen, Rhesusaffen und Raben sind keine Menschen und daher würde es mehr Sinn ergeben zu fragen, wie sie ihre spezifischen ökologischen und sozialen Probleme lösen. Auf diese Weise könnten wir ein besseres Verständnis über die Evolution von Fähigkeiten erlangen, welche in der Natur angewendet werden und auf welche unsere Vorfahren aufgebaut haben, um unsere modernen menschlichen Fähigkeiten hervorzubringen. Zu oft sind Tiere mit Herausforderungen konfrontiert, welche ihre natürlichen Vermögen nicht ansprechen, und die daraus resultierenden negativen Ergebnisse spiegeln möglicherweise unsere eigene Unfähigkeit wider, uns selbst in den Geist von anderen hineinzuversetzen. Aus dem Englischen von Franz Mutschler und Murat Sezi.
127 D. Povinelli, Folk physics for apes; M. Tomasello et al., „Understanding and sharing intentions“. 128 A. Melis, B. Hare, M. Tomasello, „Chimpanzees recruit the best collaborators“. 129 C. Boesch, „Away from ethnocentrism and anthropocentrism“. 130 C. Allen, „A skeptic’s progress“; L. Barrett, P. Henzi, D. Rendall, „Social brains, simple minds“. 131 C. Boesch, „What makes us human (Homo sapiens)?“; J. Henrich et al., „Mar kets, religion, community size and the evolution of fairness and punishment“.
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Autorinnen und Autoren
Ralf Becker ist Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau am Campus Landau. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophischen Anthropologie, der Kulturphilosophie und der Wissenschaftsphilosophie. Ausgewählte Publikationen: Sinn und Zeitlichkeit (2003), Der menschliche Standpunkt (2011), „Das Bewusstsein der Tiere“, in: H.-P. Krüger (Hrsg.), Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch (Klassiker Auslegen, Bd. 65), (2017, S. 149-162). Christophe Boesch ist Direktor der Abteilung für Primatologie am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und Honorarprofessor am Institut für Zoologie der Universität Leipzig. Schwerpunkte seiner Forschung liegen in den Bereichen der kulturellen Diversität bei Schimpansen, der Fähigkeiten technischer Intelligenz bei Menschen und Schimpansen sowie des Werkzeuggebrauchs bei freilebenden Schimpansen. Ausgewählte Monographien: Wild Cultures: A Comparison between Chimpanzee and Human Cultures (2012), The Real Chimpanzee: Sex Strategies in the Forest (2009), The Chimpanzees of the Taï Forest: Behavioural Ecology and Evolution (gemeinsam mit H. Boesch-Achermann, 2000). Martin Böhnert studierte Philosophie, Germanistik und Politikwissenschaft an der Universität Kassel und der Columbia University, New York. Derzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Kassel und Mitglied im LOEWE-Schwerpunkt ‚Tier-Mensch-Gesellschaft‘. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Tierphilosophie und die Frage nach der Kognition bei Tieren. Aktuell arbeitet er an seinem Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel „Wie wissen wir, ob Tiere denken? – Methodologische Signaturen in der kognitiven Verhaltensforschung“. Publikation: „C. Lloyd Morgan’s Canon. Über den Gründervater der komparativen Psychologie und den Stellenwert epistemischer Bedenken“ (gemeinsam mit C. Hilbert), in: M. Böhnert, K. Köchy, M. Wunsch (Hrsg.), Philosophie der Tierforschung – Methoden und Programme (2016, S. 149-183).
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Autorinnen und Autoren
Sophia Efstathiou studierte Mathematik und Physik an der Warwick University, Coventry und promovierte an der University of California, San Diego in Philosophie (Science Studies). Derzeit arbeitet sie als Postdoc im Programme for Applied Ethics der Norwegian University of Science and Technology in Trondheim. Ihr Forschungsinteresse richtet sich auf die Frage nach der Konstitution wissenschaftlicher Ideen, Praktiken und Identitäten, der sie in interdisziplinärer Arbeit und durch teilnehmende Beobachtung von Forschungsprozessen nachgeht. Zu ihren aktuellsten Publikationen zählen (mit Z. Mirmalek) „Interdisciplinarity in Action“, in: N. Cartright, E. Montuschi (Hrsg.), Philosophy of Social Science (2014, S. 233-248), „Is it possible to give scientific solutions to Grand Challenges? On the idea of grand challenges for life science research“, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences (56/2016, S. 48-61) und „Performance and Philosophy of Science. Trashfiguring epistemic cultures through the performance art of FYTA“, in: A. Anagnostopoulos, FYTA (Hrsg.), The black book of FYTA, (2017). Axel C. Hüntelmann studierte Betriebswirtschaft an der Fachhochschule für Wirtschaft und Technik in Vechta sowie Neuere und Neueste Geschichte, Mediävistik und Politikwissenschaft an der Humboldt Universität zu Berlin. Nach seiner Dissertation zur Geschichte des Reichsgesundheitsamtes an der Universität Bremen war er an verschiedenen medizinhistorischen Instituten und an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology tätig. Derzeit arbeitet er an einer Habilitation zu Rechnungswesen und Buchführung in der Medizin (1750–1950) im Rahmen des ERCForschungsprogramms Paper Technologies „Ways of Writing. How Physicians Know, 1500–1950“, das am Institut für Geschichte der Medizin (Charité Berlin) angesiedelt ist. Zudem forscht und publiziert Hüntelmann zu wissenschaftlichen Infrastrukturen, zur Geschichte bakteriologischer Forschungseinrichtungen in Europa und Nordamerika (1850–1950), zur Biographie des Mediziners Paul Ehrlich, zur Geschichte von Versuchstieren (1850–1930) und zur Geschichte des Wachstums (1770–1970). Christopher Hilbert studierte Philosophie, Soziologie und Kunstwissenschaften an der Universität Kassel. Aktuell arbeitet er an seinem Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel „Die Methodologie der Tierwohlforschung im Spannungsfeld von Lebenswelt und
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Autorinnen und Autoren
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Wissenschaft“. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehört die Philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts, die Wissenschaftsphilosophie und die Methodologie der Tierwohlforschung. Publikationen zum Thema: „‚Gewöhnliche‘ Erfahrung in der Wissenschaft vom Tier“, in: Forschungsschwerpunkt „Tier-Mensch-Gesellschaft“ (Hrsg.), Vielfältig verflochten. Interdisziplinäre Beiträge zur TierMensch-Relationalität (2017, S. 157-173). Kristian Köchy, Biologe und Philosoph, ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Biophilosophie, Bioethik und Wissenschaftsgeschichte der Biologie. Er ist Mitglied des LOEWESchwerpunkts ‚Tier-Mensch-Gesellschaft‘. Ausgewählte Publikationen: Perspektiven des Organischen (2003); Biophilosophie (2008); (Hrsg. mit F. Michelini) Zwischen den Kulturen. Plessners ‚Stufen des Organischen‘ im zeithistorischen Kontext (2015); (Hrsg. mit M. Böhnert, M. Wunsch) Philosophie der Tierforschung (Bde. 1 & 2, 2016); (Hrsg. mit S. Schaede, R. Anselm) Das Leben. Bd. 3 (2016); (Hrsg. mit T. Kirchhoff, N. Karafyllis et al.) Naturphilosophie (2017). Nina Kranke studierte Umweltwissenschaften und Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg und der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der WWU Münster und Promotionsstudentin im DFG-Graduiertenkolleg EvoPAD („Evolutionary Processes in Adaptation and Disease“). Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Philosophie und Geschichte der Biologie und Medizin. Im Rahmen ihres Dissertationsprojekts mit dem Arbeitstitel „Kinds of explanation in accounts of pathogen evolution“ befasst sie sich außerdem mit Interdisziplinarität in den Wissenschaften. André Krebber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Sozial- und Kulturgeschichte/Human-Animal Studies an der Universität Kassel. Er arbeitet als kritischer Theoretiker in den Bereichen Environmental Humanities und Human-Animal Studies sowie der Wissenschaftsgeschichte und -philosophie. Insbesondere interessieren ihn die Kritik der Naturbeherrschung, Ästhetik als Weltzugang, Objekt- und Subjekttheorien unter dem Einfluss der Umweltkrise und Tiere als Andere. Sein aktuelles Projekt widmet sich dem Naturschönen als nicht-instrumenteller Erkenntniskategorie in der Philosophie und Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Zur Zeit
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Autorinnen und Autoren
ist er Fellow am Institute for Advanced Studies in the Humanities an der University of Edinburgh, UK, wo er ein Buch zum Tier als Erkenntnisobjekt der Aufklärung beendet. Katja Liebal ist Professorin für Vergleichende Entwicklungspsychologie an der Freien Universität Berlin. An dieser Universität war sie zwischen 2009 und 2015 ebenfalls Juniorprofessorin für Evolutionäre Psychologie im interdisziplinären Exzellenzcluster „Languages of Emotion“. Ihre art- und kulturvergleichende Forschung ist motiviert von der Frage, welche kommunikativen und kognitiven Fähigkeiten einzigartig menschlich sind und welche wir mit anderen Primaten teilen. Forschungsschwerpunkte bilden die gestische und mimische Kommunikation nichtmenschlicher Primaten und deren Entwicklung in den ersten Lebensjahren sowie das prosoziale Verhalten von Affen und Kindern aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Aktuelle Forschungsprojekte beschäftigen sich mit dem multimodalen Emotionsausdruck von Schimpansen, der Entwicklung und Regulation des Emotionsausdrucks in Mutter-KindInteraktionen verschiedener Primatenarten sowie dem Einfluss der Emotionen von Forschenden auf deren Arbeitsprozess. Neben zahlreichen Artikeln in Fachzeitschriften ist sie Autorin des Buches Primate Communication – A Multimodal Approach (gemeinsam mit B. Waller, A. Burrows und K. Slocombe, 2013) und Mitherausgeberin von Gestural Communication of Human and Nonhuman Primates (2007) sowie Developments in Primate Gesture Research (2012). Oliver Lubrich ist Professor für Komparatistik an der Universität Bern. Bis 2011 war er Juniorprofessor für Rhetorik an der FU Berlin. Gastdozenturen an der University of Chicago, der California State University, am Tecnológico de Monterrey in Mexiko und an der Universidade de São Paulo in Brasilien. Monographien über Shakespeares Selbstdekonstruktion (2001) und Postkoloniale Poetiken (2004, 2009). Oliver Lubrich ist Herausgeber mehrerer Werke Alexander von Humboldts, u. a. Kosmos (2004, 2014), Ansichten der Kordilleren (2004), Ueber einen Versuch den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen (2006), Zentral-Asien (2009), Anthropologische und ethnographische Schriften (2009) sowie Alexander von Humboldt in World Literature (2012) und zuletzt Das graphische Gesamtwerk (2014). Sein Projekt einer Gesamtausgabe von Humboldts Schriften – mehr als 1000 Aufsätze, Artikel und Essays – wird vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert (zur Publikation 2019). In
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einem weiteren Forschungsprojekt dokumentiert er die Berichte internationaler Autoren, die Nazi-Deutschland besucht haben: Reisen ins Reich (2004, 2009), Berichte aus der Abwurfzone (2007), John F. Kennedy. Unter Deutschen (2013). Zusammen mit Neurowissenschaftlern unternimmt er Studien zur experimentellen Rhetorik. Robert Meunier arbeitet als Postdoktorand in dem Projekt „Narrative Science“ (NARRATIVENSCIENCE, ERC Advanced Grant nr.: 694732, -H2020, PI Prof. Mary S. Morgan) an der London School of Economics and Political Science. Zuvor war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Kassel beschäftigt. Er forschte am Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie am Institute for Cultural Inquiry und am Max-PlanckInstitut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Meunier studierte Philosophie und Linguistik an der Technischen Universität Berlin und wurde 2012 an der Università degli Studi di Milano und der European School of Molecular Medicine (SEMM) promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Wissenschaftsphilosophie und der Geschichte der Lebenswissenschaften. Zuletzt erschienen sind der Aufsatz „Epistemic Competition between Developmental Biology and Genetics around 1900: Traditions, Concepts and Causation“, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin (24(2)/2016, S. 141-167), sowie die topical collection „New Perspectives in the History of TwentiethCentury Life Sciences“, in: History and Philosophy of the Life Sciences, hrsg. mit K. Nickelsen (2018). Der Aufsatz „Project knowledge and its resituation in the design of research projects: Seymour Benzer’s behavioral genetics, 1965–1974“ ist zur Veröffentlichung in Studies in History and Philosophy of Science vorgesehen. Mieke Roscher ist Juniorprofessorin für die Sozial und Kulturgeschichte von Mensch-Tier Beziehungen (Human-Animal Studies) an der Universität Kassel. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Tierhistoriographie, die Geschichte Großbritanniens sowie Kolonial- und Geschlechtergeschichte. Insbesondere interessiert sie sich zurzeit für die Geschichte der Tiere im Nationalsozialismus. Ausgewählte Publikationen: „New Political History and the Writing of Animal Lives“, in: H. Kean, P. Howell (Hrsg.), The Routledge Handbook of Human-Animal History (2018, im Druck); „Animals as Signifiers – Re-reading Michel Foucault’s The Order
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of Things as Genealogical Working Tool for the Historical HumanAnimal Studies“, in: D. Ohrem, R. Bartosch (Hrsg.), Beyond the Human-Animal Divide: Creatural Lives in Literature, Culture, and History (2017, S. 189-214); „Das nationalsozialistische Tier: Projektionen von Rasse und Reinheit im Dritten Reich“, in: TIERethik (2(13)/2016, S. 30-48); „Zwischen Wirkungsmacht und Handlungsmacht. Sozialgeschichtliche Perspektiven auf tierliche Agency“, in: K. Balgar et al. (Hrsg.), Das Handeln der Tiere. Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies (2016, S. 43-66); Ein Königreich für Tiere: Die Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung (2009). Matthias Wunsch ist Gastprofessor für Philosophie am HumboldtStudienzentrum der Universität Ulm. Zuvor hat er an seinem DFG-Projekt „Personale Lebensform und objektiver Geist“ an der Universität Kassel gearbeitet, wo er ebenfalls Mitglied des LOEWESchwerpunkts ‚Tier-Mensch-Gesellschaft‘ war. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes und der Person, in der philosophischen Anthropologie sowie in der Kantforschung. Ausgewählte Publikationen: Einbildungskraft und Erfahrung bei Kant (2007); (Hrsg. mit I. Römer) Person: Anthropologische, phänomenologische und analytische Perspektiven (2013); Fragen nach dem Menschen. Philosophische Anthropologie, Daseinsontologie und Kulturphilosophie (2014); (Hrsg. mit K. Köchy und M. Böhnert) Philosophie der Tierforschung, Bde. 1 & 2 (2016).
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Philosophie der Tierforschung Band 1
Martin Böhnert Kristian Köchy Matthias Wunsch (Hg.) Philosophie der Tierforschung Band 1: Methoden und Programme ISBN 978-3-495-48741-9 376 Seiten | Gebunden Auch als eBook (PDF) erhältlich Band 1 der »Philosophie der Tierforschung« stellt Geschichte und Systematik der biologischen Tierforschung, insbesondere der Verhaltensforschung, in den Mittelpunkt und unterzieht die mannigfaltigen Faktoren der verschiedenen Forschungsansätze einer philosophischen Analyse. Im Fokus stehen dabei die theoretischen Grundlagen, die verwendeten Forschungsmethoden, die gewählten Forschungsorte, das zugrunde liegende Wissenschaftsideal, die Positionierung zu anderen Forschungsansätzen oder die philosophischen Hintergrundannahmen und Implikationen.
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Philosophie der Tierforschung Band 2
Kristian Köchy Matthias Wunsch Martin Böhnert (Hg.) Philosophie der Tierforschung Band 2: Maximen und Konsequenzen ISBN 978-3-495-48742-6 256 Seiten | Gebunden Auch als eBook (PDF) erhältlich Band 2 der »Philosophie der Tierforschung« öffnet das zu untersuchende Feld in Richtung auf kulturelle und ethische Aspekte, auf gesellschaftliche und politische Horizonte der Forschung. Hatte der erste Band deutlich gemacht, dass Tiere in den betreffenden Forschungsumwelten auch subjektive und aktive Qualitäten erlangen, so erweisen sich die Forschungsumwelten samt der in ihnen stattfindenden Interaktionen zwischen forschenden Menschen und erforschten Tieren unter ethischen und kulturellen Vorzeichen als Machtsysteme, deren Mechanismen der Anerkennung und Unterdrückung philosophisch zu thematisieren sind.
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