Geschichte der Philosophie im Überblick. Band 3. Neuzeit 9783787324682, 9783787317035

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Geschichte der Philosophie im Überblick. Band 3. Neuzeit
 9783787324682, 9783787317035

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Franz Schupp

Band 3 Neuzeit

Geschichte der Philosophie im ¾berblick

Meiner

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet Über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 Felix Meiner Verlag 2003 Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der ¾bersetzung vorbehalten. Dies betrifft auch die VervielfÇltigung und ¾bertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und ¾bertragung auf Papier, Transparente, Filme, BÇnder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrÜcklich gestatten.

Satz: H&G Herstellung, Hamburg Druck und Bindung: Westermann Druck, Zwickau Gestaltung: Jens-SÙren Mann Gedruckt auf Alster Werkdruckpapier: alterungsbestÇndig, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff Printed in Germany

Inhalt

I. Philosophische Bewegungen des Humanismus und der Renaissance ............

1

1. Der Wechsel des Zentrums: Italien ...............................................

1

2. Anthropologie, Ethik und Politik ..................................................

10

3. Der Platonismus .........................................................................

22

4. Die Platon-Aristoteles-Diskussion .................................................

28

5. Aristotelismus ............................................................................

30

6. »Humanistische Logik« - Logik zur Zeit des Humanismus .............

35

7. Nicht-aristotelische Naturphilosophie ............................................

39

II. Der Beginn des neuen Weltbildes ..........................................................

41

1. Die Welt des Kopernikus ..............................................................

41

2. Giordano Bruno ..........................................................................

45

III. Francis Bacon ...................................................................................

56

1. Die historische Situation ..............................................................

56

2. Erkenntnisfortschritt durch experimentelle Wissenschaft ................

59

3. Hindernisse des Erkenntnisfortschritts ..........................................

68

4. Die zukÜnftige technologisch-wissenschaftliche Welt ......................

78

IV. Galileo Galilei ..................................................................................

82

1. Der Wissenschaftsbegriff .............................................................

82

2. Der philosophische Begriffsrahmen ..............................................

98

3. Der »Fall Galilei« ........................................................................

101

V. Ren’ Descartes .................................................................................

110

1. Zweifel und BegrÜndungskritik ....................................................

112

2. Die rationalistische Methode ........................................................

118

3. Die rationalistische Methode und das praktische Leben ...................

125

4. Der Leib-Seele-Dualismus ............................................................

130

5. Der Cartesianismus als kulturelles PhÇnomen ...............................

131

Inhalt

VI. Blaise Pascal .................................................................................

134

1. Pascals Leben und Werke – ein Interpretationsproblem ................

134

2. Die vollkommene und die realisierbare Methode .........................

136

3. Die Wahrscheinlichkeit ............................................................

144

4. Die Mitte bei unbekannten Außenpunkten .................................

151

VII. Baruch de Spinoza .........................................................................

155

1. Die Niederlande: LiberalitÇt in Grenzen ......................................

155

2. Die Gewißheit und die absolute Methode ....................................

160

3. Definition und Beweis ..............................................................

163

4. Spinoza und die jÜdische Philosophie des Mittelalters ..................

167

VIII. Thomas Hobbes ............................................................................

173

1. Der verschiedene Ausgangspunkt ..............................................

173

2. Philosophie als Rechnen ...........................................................

174

3. Die Staatstheorie: Selbsterhaltung, Zwang und Furcht .................

179

4. Hobbes und Pufendorf .............................................................

189

IX. John Locke ...................................................................................

194

1. Rationalisten und Empiristen ....................................................

194

2. Ein Weltmann .........................................................................

196

3. Die Naturgeschichte des menschlichen Denkens .........................

200

4. Das natÜrliche Gesetz, der Staat und der Privatmann ...................

209

X. Isaac Newton ................................................................................

214

1. Newton, der GrÙßte unter allen .................................................

214

2. Experimentalphilosophie ..........................................................

219

3. Der absolute Raum und die absolute Zeit ...................................

226

4. Newton, Wissenschaftsentwicklung und AufklÇrung ....................

231

XI. Gottfried Wilhelm Leibniz ................................................................

236

1. Die Barockfigur des »Universalgelehrten« ..................................

236

2. Das Projekt der Allgemeinen Wissenschaft (Scientia generalis) ......

237

3. Wahrheit – Wahrscheinlichkeit .................................................

249

4. Die »Logik« des Handelns .........................................................

253

5. Die beste aller mÙglichen Welten ...............................................

255

6. Bilanz des Rationalismus ..........................................................

259

Inhalt

XII. David Hume ...............................................................................

267

1. Die Philosophie des alltÇglichen Lebens ...................................

267

2. Das Erfahrungsurteil des alltÇglichen Lebens und der Wissenschaft .............................................................

269

3. Bilanz der empiristischen Erkenntnistheorie .............................

275

4. Sittlichkeit und Rechtsordnung ...............................................

278

5. Das Uhrmacherargument .......................................................

284

XIII. Die Philosophie der Aufkl›rung .......................................................

289

1. Die Philosophie der AufklÇrung in Frankreich ...........................

289

2. Die Philosophie der AufklÇrung in Deutschland ........................

305

XIV. Die Philosophie des 19. Jahrhunderts. Einleitung und •berblick ...............................................................

316

1. Die ’quivokation des Philosophiebegriffs das (vorlÇufige) Ende der philosophischen Kommunikationsgemeinschaft ................................................

317

2. Systeme und Kritik der Systeme ..............................................

328

XV. Immanuel Kant ...........................................................................

332

1. Der formale Charakter der Philosophie .....................................

332

2. Der »sichere Gang einer Wissenschaft« ....................................

334

3. Formale und transzendentale Logik .........................................

339

4. Erkenntniskritik als Transzendentalphilosophie ........................

343

5. Die Vernunftideen und der transzendentale Schein ...................

345

6. Die Vernunftideen im Gebrauch der praktischen Philosophie ...........................................................................

350

7. Die Autonomie der praktischen Vernunft .................................

353

XVI. Der fr¹he Deutsche Idealismus: Fichte, Schelling ................................

362

1. Die Spannung von Reflexion und konkretem Handeln ...............

362

2. Die Ich-Handlung als radikaler Ausgangspunkt .........................

364

3. Der Çsthetische Standpunkt im Systemfragment .........................

371

4. Sittlichkeit, Gewissen und Staat ...............................................

376

5. Die Erhebung zum Absoluten .................................................

378

Inhalt

XVII. Georg Wilhelm Friedrich Hegel .......................................................

380

1. Praxis, Geschichte, Religion und Philosophie (Jugendschriften)

380

2. System: Die Untrennbarkeit von Methode und Gehalt ................

384

3. Spekulative Erkenntnis, Negation, Dialektik ..............................

389

4. Geschichte und System ..........................................................

396

5. Das Ziel der Geschichte und der Staat ......................................

403

XVIII. Die Sp›tphilosophie Schellings .......................................................

410

1. Der Mythos als Interpretationsproblem ....................................

410

2. Mythos – Offenbarung – Vernunft ...........................................

412

3. Die Kritik der historischen Vernunft: Schelling und Comte ........

421

XIX. Ludwig Feuerbach ..........................................................................

425

1. Sinnlichkeit, Natur .................................................................

425

2. Die Kritik an Hegel ................................................................

429

3. Feuerbach und Schleiermacher ...............................................

437

XX. Karl Marx ...................................................................................

442

1. Marx und der Marxismus ........................................................

442

2. Kritik und Praxis ....................................................................

444

3. Die Aufhebung der Entfremdung ............................................

451

XXI. S³ren Kierkegaard ........................................................................

460

1. Der Schriftsteller ...................................................................

460

2. Paradox gegen Synthese ..........................................................

462

3. Die drei Stufen der Existenz ....................................................

466

4. Zur Problematik der Existenzphilosophie .................................

469

XXII. Arthur Schopenhauer ....................................................................

473

1. Ein Außenseiter .....................................................................

473

2. Die Welt als Wille und Vorstellung ..........................................

474

3. Leiden und ErlÙsung ..............................................................

482

XXIII. Friedrich Nietzsche .......................................................................

488

1. Die tragische und die theoretische Daseinsform ........................

488

2. Nihilismus ............................................................................

494

3. Die ¾berwindung des Nihilismus ............................................

496

Inhalt

XXIV. Charles Sanders Peirce ..................................................................

503

1. Wissenschaftsoptimismus ......................................................

503

2. Die pragmatische Maxime - Wissenschaft als Handlung ............

505

3. Erkenntnis und Evolution .......................................................

508

4. Die Theorie der Zeichen .........................................................

511

5. Pragmatismus und Pragmatizismus ........................................

515

XXV. Gottlob Frege ..............................................................................

518

1. Die Begriffsschrift ..................................................................

518

2. Sinn und Bedeutung ..............................................................

523

3. Funktion und Begriff, Begriff und Gegenstand ..........................

529

4. Frege und das Leibniz-Programm ............................................

536

XXVI. Ludwig Wittgenstein .....................................................................

538

1. Wittgenstein in der Wiener Kultur der Jahrhundertwende ..........

538

2. Sagen und Zeigen ..................................................................

548

3. Alle Philosophie ist Sprachkritik ..............................................

554

4. Sagen und das Unsagbare .......................................................

557

Literaturverzeichnis ......................................................................

569

-I-

Philosophische Bewegungen des Humanismus und der Renaissance

1. Der Wechsel des Zentrums: Italien Die Verwendung der Begriffe »Humanismus« und »Renaissance« in der Geschichte der Philosophie ist nicht unproblematisch. Als Periodenbezeichnung wurde» »Renaissance« zunÇchst in der Kunst- und Literaturgeschichte verwendet. Seine ¾bertragung auf die Geschichte der Philosophie ist daher nicht selbstverstÇndlich - Entwicklungen in verschiedenen Bereichen verlaufen nicht automatisch synchron. Dazu kommt noch die bekannte Diskussion Über frÜhere Renaissancen, also etwa die karolingische. Gab es Überhaupt frÜhere »Renaissancen«? Wenn ja, dann wÇre dieser Begriff als Bezeichnung einer bestimmten Periode kaum geeignet. Der Begriff »Humanismus« wiederum ist eigentlich zunÇchst gar kein Perioden-, sondern ein Sachbegriff, und zwar bezogen auf das Studium der klassischen Autoren (also weit entfernt von dem, was heute unter »Humanismus« verstanden wird, aber verwandt mit dem, was wir noch heute unter »humanistischer Bildung« verstehen). Entsprechend wurde dieser Begriff auch auf andere Perioden angewendet. So sprechen zahlreiche Historiker z. B. vom »Humanismus des zwÙlften Jahrhunderts«. Im 15. und 16. Jhd. nannte man »Humanisten« die Lehrer der vor allem auf die Sprache bezogenen Allgemeinbildung, ein Wortgebrauch, der sich seit dem 15. Jhd. in Italien findet und der im 16. Jhd. in ganz Europa Verbreitung fand. Von da aus wurde »Humanismus« zur Periodenbezeichnung. - Wir kÙnnen uns vielleicht auf folgenden Minimalnenner einigen: Wir nennen »Philosophie des Humanismus und der Renaissance« einfach die philosophischen Bewegungen der Zeit von der zweiten HÇlfte des 14. bis zum Ende des 16. Jhd.s, ohne den Begriffen »Humanismus« und »Renaissance« schon irgendeine philosophische Bedeutung zuzusprechen. Zur Zeit des Humanismus und der Renaissance verlagert sich das kulturelle Zentrum der fÜr Philosophie maßgeblichen Orte. Waren bis zur ersten HÇlfte des 14. Jhd.s Paris und Oxford, zunÇchst und vor allem also Frankreich und dann England, der Schauplatz der wichtigsten kulturellen und philosophischen Entwicklungen gewesen, so Übernahmen zur Zeit des Humanismus und der Renaissance Italien und in etwas geringerem Maße die Niederlande die FÜhrung. Die GrÜnde dafÜr

1

Philosophische Bewegungen des Humanismus und der Renaissance

waren vielfÇltig und kÙnnen hier nicht analysiert werden. Wichtig war jedenfalls, daß in der Periode seit dem 14. Jhd. die Stadtstaaten Italiens - vor allem Florenz und Venedig - die modernen wirtschaftlichen Systeme der industriellen Warenherstellung, der Banken und des Handels entwickelten und so Italien Über eine wirtschaftlich wesentlich bessere Grundlage verfÜgte als die LÇnder des Nordens, mit Ausnahme der Niederlande. Auch waren die kleinen, teils demokratisch organisierten Stadtstaaten Italiens besser geeignet, neue Entwicklungen aufzunehmen als etwa das schon damals wesentlich zentralistischere und auf Paris konzentrierte Frankreich. Zwischen diesen Stadtstaaten bestand auch im kulturellen Bereich ein starkes KonkurrenzverhÇltnis, so daß sich fÜr KÜnstler und Literaten gÜnstige Bedingungen boten. Als dann an vielen Orten die demokratischen Ordnungen durch FÜrstenherrschaften ersetzt wurden, wurden die FÜrsten, zu denen auch die PÇpste zu zÇhlen sind, zu konkurrierenden MÇzenen.

a) Universit›ten, Schulen und Akademien

2

FÜr die weitere Entwicklung im Bereich der Philosophie war es nicht unerheblich, daß die Universit›ten Italiens eine andere Struktur aufwiesen als die von Paris oder Oxford. In Italien gab es seit dem Mittelalter zwei bedeutende UniversitÇten: Salerno und Bologna. Salerno war das Zentrum medizinischer, Bologna das Zentrum juristischer Studien. Salerno hatte allerdings seine fÜhrende Rolle lÇngst verloren, Montpellier war inzwischen als medizinische Schule wesentlich bedeutender. Aber auch die medizinische und naturwissenschaftliche Schule von Padua hatte an Bedeutung gewonnen. Bologna hingegen war weiterhin die fÜhrende Rechtsschule nicht nur Italiens. Kennzeichnend fÜr Italien war, daß die UniversitÇten keine theologischen FakultÇten besaßen. Dies war u.a. darauf zurÜckzufÜhren, daß die PÇpste keine Konkurrenz zu Paris und Oxford wÜnschten. Die Theologie war in Italien primÇr in den StudienhÇusern der Orden angesiedelt und wurde erst spÇt und nie besonders einflußreich in manchen UniversitÇten als Studienfach eingefÜhrt. Die seit dem 14. Jhd. in Italien einsetzende Entwicklung der Philosophie hatte also einen ganz anderen Bezugspunkt als dies in Paris oder Oxford der Fall war. In Italien, wo die UniversitÇt von Bologna zum Zentrum und Modell wurde, waren Jurisprudenz und Medizin die entscheidenden Bezugspunkte. Zu Beginn des 14. Jhd.s bildeten sich in Bologna durch Trennung zwei UniversitÇten heraus: die juridische (die Çltere) und die medizinische (die jÜngere) UniversitÇt. Die Philosophie war diesen beiden FakultÇten (oder UniversitÇten) themen- bzw. disziplinmÇßig verschieden zugeordnet. Der Hauptteil der Philosophie wurde im Zusammenhang mit der medizinischen FakultÇt gelehrt. Die wichtigsten GegenstÇnde waren dabei, wie nicht anders zu erwarten, Logik und Naturphilosophie. Metaphysik und Ethik hingegen waren auch fÜr den philosophischen Doktorgrad nur WahlfÇcher. Ganz Çhnliches gilt fÜr die etwas jÜngere, aber

Der Wechsel des Zentrums: Italien

zunehmend wichtiger werdende UniversitÇt Padua. FÜr die UniversitÇten wurde sehr viel Geld ausgegeben, Bologna verwendete zeitweilig die HÇlfte (!) der gesamten der Stadt jÇhrlich zur VerfÜgung stehenden finanziellen Mittel fÜr die UniversitÇt. Und auch Venedig konnte es sich leisten, erhebliche BetrÇge in die ihr zugehÙrige UniversitÇt Padua zu investieren. Die Entwicklung der humanistischen Studien brachte in den Lehrbetrieb der UniversitÇten Modifikationen ein, ohne ihn aber prinzipiell in Frage zu stellen. Die manchmal vertretene Ansicht, die humanistischen Studien stellten eine rein außeruniversitÇre Entwicklung dar, lÇßt sich aber nicht halten. Schon die Bezeichnung humanista stammte zunÇchst aus dem Studentenjargon, in dem Lehrer dieser Disziplin so bezeichnet wurden. Das Interesse an den klassischen Autoren, das durchaus auch außeruniversitÇre Wurzeln hatte, nahm ebenso seinen ganz prÇzisen Ort im System der UniversitÇt ein, und zwar in der Rhetorik. Die Rhetorik hatte, vor allem in Verbindung mit der Jurisprudenz, einen wichtigen Platz in der universitÇren Ausbildung. Bei der Rhetorik ging es, ebenso wie bei Medizin und Jus, um ein ganz konkretes, berufsbezogenes Studium. Wer diese Ausbildung abgeschlossen hatte, wurde entweder Kanzler oder Notar. Der Kanzler oder FÜrstensekretÇr war fÜr die Abfassung politischer Dokumente und Reden zustÇndig, der Notar fÜr zivile Dokumente. Die in der Stadtverwaltung oder an den HÙfen - also außerhalb der UniversitÇt - tÇtigen Humanisten hatten also ihre humanistische Bildung durchaus schon an den UniversitÇten erworben. Die Zahl der Menschen, die UniversitÇten besuchten, nahm im 15. Jhd. in allen LÇndern stark zu, wÇhrend gleichzeitig die UniversitÇten - mit Ausnahme der italienischen - zusehends langweiliger wurden, denn die interessantesten Leute waren in der Mehrzahl nicht in UniversitÇten tÇtig vgl. u.a. Nikolaus von Kues, Bessarion, Agrippa von Nettesheim, Pico della Mirandola, Machiavelli, Marsilio Ficino, Erasmus von Rotterdam, Montaigne. Die zahlreichen neugegrÜndeten UniversitÇten im Norden und Osten Europas gingen auf die Initiative von FÜrsten und KÙnigen zurÜck und sollten somit der Ausbildung der FÜhrungskrÇfte ihrer Staaten dienen, was keine gÜnstige Umgebung fÜr intellektuelle Neuentwicklungen war. Auch die schon frÜher erwÇhnten Schulbildungen (vgl. 2. Teil, Kap. XV, 3) waren nicht dazu angetan, im Bereich der Philosophie ein besonders anregendes geistiges Klima herzustellen. Es ist daher verstÇndlich, daß fÜr die begabtesten und gebildetsten Leute die HÙfe der FÜrsten und PÇpste attraktiver waren als die UniversitÇten. Auch hier hatte Petrarca den Anfang gesetzt, aber auch Marsilius von Padua, der von der TÇtigkeit an der UniversitÇt in Paris an den Hof Ludwigs von Bayern Übersiedelte (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 6), zeigte die Richtung an. Neben den UniversitÇten gab es eine große Anzahl anderer Bildungsinstitutionen, die manchmal rasch entstanden und ebenso rasch wieder verschwanden. Dies ging nicht zuletzt darauf zurÜck, daß die Lehrer - nicht nur an den UniversitÇten sehr mobil waren und der Bestand einer Schule oft von der Anziehungskraft eines

3

Philosophische Bewegungen des Humanismus und der Renaissance

solchen Lehrers abhing. FÜrsten, StÇdten und einzelnen Privatleuten bot sich hier die Gelegenheit, Initiative zu ergreifen, was natÜrlich auch dem Ruhm des Initiators dienen sollte. Auf die Florentiner Platonische Akademie und die in Neapel gegrÜndete Accademia Cosentina wird noch zurÜckzukommen sein. Es gibt aber noch zahlreiche andere Beispiele, von denen nur eines angefÜhrt sei: Am Hof der Gonzagas in Mantua war der Humanist Vittorino da Feltre (um 1378–1446) tÇtig, der zunÇchst die Kinder der FÜrstenfamilie erzog, seit 1445 aber in einer vom FÜrsten dafÜr zur VerfÜgung gestellten Villa eine von den Gonzagas finanzierte Schule fÜr begabte Kinder aus allen StÇnden leitete, wo u.a. Naturwissenschaften, Philosophie und Musik, aber auch griechische Grammatik unterrichtet wurden.

b) Texte

4

Die humanistische GelehrtentÇtigkeit entwickelte ihr eigenes Schwergewicht. Aus dem genauen Studium der antiken, schon bekannten Texte ergaben sich Hinweise auf weitere, bisher nicht zur VerfÜgung stehender Schriften. Es begann also eine gezielte Suche nach Handschriften. Poggio Bracciolini (1380–1459) z. B. entdeckte in Cluny 1415 zwei Reden Ciceros, ebenso fand er Quintilians Institutiones oratoriae (in St. Gallen, 1416/1417) und von Lukrez De rerum natura (1417, mÙglicherweise in Fulda). Vor allem kam die - allerdings nur auf eine verhÇltnismÇßig kleine Gruppe beschrÇnkte - BeschÇftigung mit griechischen Texten und deren •bersetzungen hinzu. Fast alle dem Mittelalter bekannten klassischen Schriften der griechischen Antike wurden neu Übersetzt, dazu noch etliche dem Mittelalter nicht bekannte Texte. Im Rahmen der Rezeption griechischer Autoren seit dem 12. Jhd. waren die Texte der griechischen Dichtung und Geschichtsschreibung nicht Übersetzt worden. Erst jetzt wurden unter anderem die Epen von Homer, die TragÙdien des Aischylos, Sophokles und Euripides und die historischen Schriften von Herodot und Thukydides Übersetzt und damit eigentlich erst bekannt. FÜr die Philosophie wurde besonders wichtig, daß jetzt erstmals - ein eigentlich fast unglaubliches Faktum der Geschichte - der gesamte Text der Dialoge Platons außerhalb von Byzanz bekannt und Übersetzt wurde. Dasselbe gilt fÜr die Enneaden Plotins. Bis 1600 wurde so ziemlich der gesamte Bestand der antiken griechischen Literatur zugÇnglich gemacht. Nach der Mitte des 15. Jhd.s begann der Einfluß dieser TÇtigkeit auch Über den engeren Bereich des Rhetorikunterrichts hinaus spÜrbar zu werden, so daß nun auch die klassischen Texte der Medizin und Jurisprudenz nach MaßstÇben humanistischer Philologie bearbeitet wurden, ebenso wie die im Rahmen des Medizinstudiums verwendeten Texte der Naturphilosophie und Logik.

Der Wechsel des Zentrums: Italien

c) Geschichte Ausgehend von der Rhetorik ergab sich fÜr die Humanisten ein weites Arbeitsgebiet, zu dem Geschichtswissenschaft ebenso gehÙrte wie Moralphilosophie. Dieser Zusammenhang ist durchaus verstÇndlich: Das Studium der Geschichte hatte lange Zeit, eigentlich noch bis zum Ende des 17. Jhd.s, nur zwei Funktionen: (1) die Legitimation von HerrschaftsansprÜchen, daher das Interesse an Chroniken, Urkunden und Genealogien, also ein wichtiges Gebiet der FÜrsten- und StadtsekretÇre, und (2) die Exemplifizierung von Handlungsnormen, von Moral, also ein wichtiges Gebiet der Rhetoriker als Verfasser von Festreden usw. Es gab jedoch auch, wie sich bei Machiavelli zeigen wird, AnsÇtze zu einer Verwendung historischer Fakten zur Gewinnung allgemeiner und fÜr politisches Handeln relevanter GesetzmÇßigkeiten. Diese Verwendung stand aber eher am Rand der BeschÇftigung mit Geschichte. Die meisten begnÜgten sich mit den zwei genannten Funktionen. Die Hofhistoriographen wurden zu einer festen Institution; seit der zweiten HÇlfte des 15. Jhd.s waren italienische Humanisten in dieser Funktion bei den KÙnigen in Frankreich, England, Spanien, Polen und beim Deutschen Kaiser tÇtig. Die BeschÇftigung mit Geschichte wurde auch im polemischen Zusammenhang mit der Ablehnung der scholastischen Philosophie eingesetzt. So kritisierte z. B. der bedeutende Florentiner Humanist und Politiker Coluccio Salutati (1331–1406) in der Nachfolge Petrarcas die mittelalterliche Philosophie, weil sie seiner Ansicht nach fÜr die Vervollkommnung des individuellen und gesellschaftlichen Lebens nichts beitrÇgt. DemgegenÜber kÙnnten individuelle sowie institutionelle Beispiele richtigen Handelns aus der Geschichte gewonnen werden. FÜr Salutati ist natÜrlich Athen das Beispiel fÜr Florenz - Florenz sollte das neue Athen werden. Dazu bedurfte es allerdings gar nicht dieses Vorbilds, denn Florenz war zu dieser Zeit tatsÇchlich das kulturelle Zentrum Europas. Eher wurde nachtrÇglich der schon vorhandene Glanz durch die historische Parallelsetzung literarisch ÜberhÙht. Ein wirklich historisches Bewußtsein ist jedoch auch in der Zeit des Humanismus und der Renaissance noch nicht entwickelt worden. Zu sehr war noch in Kunst, Literatur und Philosophie die Suche nach Überzeitlichen idealen MaßstÇben vorherrschend.

d) Theorie der Kunst Die Renaissance ist fÜr uns in ganz besonderer Weise mit den Namen großer KÜnstler verbunden: Brunelleschi (1377–1446), Donatello (1386–1466), Masaccio (1401–1428), Ghiberti (1378–1455), Botticelli (1444–1510), Piero della Francesca (1416–1492), Leonardo da Vinci (1452–1519), Michelangelo (1475–1564), Tizian (1488/90–1576) usw. FÜr die Prachtentfaltung in Kommunen wie an den FÜrstenhÙfen waren die KÜnstler noch wichtiger als die humanistischen Rhetoriker. Die

5

Philosophische Bewegungen des Humanismus und der Renaissance

6

KÜnstler erhielten in dieser Periode entsprechend auch eine gesellschaftliche Stellung, die sie bisher nicht innegehabt hatten. Der Unterschied zwischen dem Handwerker und dem Maler, Bildhauer und Architekten war unÜbersehbar geworden. Die meisten KÜnstler besaßen auch eine gute humanistische Bildung. Schon Brunelleschi hatte auch Studien der Mathematik betrieben und sich zu verschiedenen theoretischen Fragen, so z. B. zu der der Perspektive, geÇußert. Nichtsdestoweniger war es noch nicht klar, wie ganz allgemein der KÜnstler und sein Werk eingeordnet werden sollten. Die Werke dieser KÜnstler und diese selbst wurden bewundert, aber es gab eigentlich keinerlei theoretischen Hintergrund fÜr die Beurteilung von Kunstwerken. WÇhrend die Dichtung und die Musik seit der Antike einen eigenen theoretischen Status und entsprechende Behandlung in speziellen Traktaten gefunden hatten, war ein solcher Status fÜr GemÇlde, Skulpturen und Bauwerke noch nicht vorhanden. Es ist daher nicht verwunderlich, daß diese »LÜcke« zur Zeit der Renaissance entdeckt wurde. Der einzige Anhaltspunkt aus der Antike war der auch im Mittelalter bekannte Traktat Vitruvs Decem libri architecturae (verfaßt zwischen 33 und 22 v. Chr.), der aber seit dem 11. Jhd. nicht mehr herangezogen worden war und der jetzt von Humanisten gleichsam neu entdeckt wurde, nachdem Poggio Braccolini eine Abschrift davon in St. Gallen aufgefunden hatte. Bei Vitruv fand man die Çsthetischen Grundbegriffe von Ordnung, Maß, Proportion und Harmonie. Den entscheidenden Anstoß fÜr die weitere Entwicklung der Theorie der Architektur und Malerei gab dann Leon Battista Alberti (1404–1472). Alberti war nicht nur Theoretiker, sondern hat sich in spÇteren Jahren auch als Restaurator antiker Bauten und als Architekt betÇtigt. Es kommt die Zeit, in der die KÜnstler selbst »ihre« Philosophie entwickeln, so wie es die Musiker schon im 14. Jhd. begonnen hatten (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 7). Alberti hatte eigentlich Jus studiert und war dann als SekretÇr bei einigen PÇpsten tÇtig gewesen, hatte sich aber auch intensiv mit Mathematik, Physik und Optik befaßt. Als Papst Eugen IV. gezwungen wurde, Rom zu verlassen, ging er nach Florenz, und Alberti war in seinem Gefolge, und als das Konzil von Ferrara nach Florenz verlegt wurde, war Alberti wiederum dabei. Er hatte also wiederholt Gelegenheit, im Zentrum der Renaissance-Kunst mit KÜnstlern und Gelehrten in Kontakt zu treten. Aus diesen Kontakten sind zwei wichtige Schriften hervorgegangen, eine ¾ber die Malerei und eine weitere ¾ber die Architektur. Es handelt sich hier nicht um Traktate zu einer Philosophie der Kunst, sondern um solche zu einer Theorie der Kunst. Im Traktat Über die Malerei wird der Perspektive eine auf den mathematischen Gesetzen der Optik beruhende BegrÜndung gegeben. Hier wird also eine Theorie der Malerei in eine eindeutige Beziehung zu einer wissenschaftlichen Theorie gesetzt. Alberti geht von dem Prinzip aus, daß der Maler nicht die Natur »an sich« darstellen soll, sondern die Natur, so wie wir sie sehen. Die Optik ist ja nicht eine Disziplin, die die Natur als solche wiedergeben soll, sondern eine, die die Sicht des Menschen (Õptein = sehen) dieser Natur analysieren soll. Im Sehen stellt sich der Mensch aus den Sinnesempfindungen ein Bild her, so wie der KÜnstler ein

Der Wechsel des Zentrums: Italien

»SchÙpfer« seines Bildes ist. Jede SchÙpfung ist jedoch regelgeleitetes Handeln. Hier ist die Theorie der Renaissance ganz weit entfernt von nominalistischen Vorstellungen von »SchÙpfung« als unbegrÜndbarer Setzung des Willens und denkt viel eher pythagoreisch-platonisch: Der ganze Kosmos wird vorgestellt als aufgebaut aus geometrischen Grundformen. Entscheidende Elemente der Theorie der Kunst werden dabei aus der mathematik-orientierten Theorie der Musik Übernommen, auch wenn dort die Arithmetik maßgebend ist, wÇhrend in der Malerei, Bildhauerei und Architektur die Geometrie die entscheidende Rolle spielt. So wie in der Musik die richtigen Proportionen der Grund der Harmonie sind, so sind auch in der Malerei und in der Architektur die Proportionen entscheidend fÜr die SchÙnheit des Kunstwerks, eine SchÙnheit, die in Albertis Kunstauffassung als eine objektive aufgefaßt wird, auch wenn der KÜnstler sie in der Malerei aus seiner Sicht, also perspektivisch, darstellt. Die Komposition eines Bildes wird daher Regeln unterworfen, die auch wieder denen der Rhetorik Çhnlich sind: Es handelt sich um den Aufbau eines Ganzen aus kleinen Einheiten, so wie eine Rede aus WÙrtern und SÇtzen zu einem geordneten Ganzen geformt wird. Die Wirkung eines Kunstwerks eines Bildes oder einer Skulptur - wird dann entsprechend der poetischen und musikalischen Affektenlehre analysiert: Maler und Komponist versuchen, Affekte in das Bild bzw. in die Melodie zu Übersetzen, um dann wieder entsprechende Affekte hervorzurufen. Es ist also im ganzen deutlich, daß Alberti sich beim Aufbau der Theorie der Kunst an schon vorhandenen Disziplinen orientiert: Mathematik, Musik, Poetik, Rhetorik.

e) Abkehr von der scholastischen Philosophie Von den italienischen Humanisten ging eine ablehnende Haltung gegenÜber der scholastischen Philosophie aus. Dies hatte schon im 14. Jhd. bei Petrarca (1304–1374) eingesetzt. Die Lebensdaten Petrarcas sind interessant, weil sie uns zeigen, wie fließend der ¾bergang vom Mittelalter zur Renaissance ist. Die Studienzeit Petrarcas liegt noch vor dem Bekanntwerden der großen Schriften Ockhams und Petrarca ist ein Zeitzeuge der Auseinandersetzungen um die Folgen Ockhams im sogenannten Pariser Nominalistenstatut von 1339/1340 (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 4). Petrarca verbrachte den grÙßten Teil seines Lebens in Frankreich, er hatte aber nichts Übrig fÜr »das streitsÜchtige Paris« (¾ber seine und vieler anderer Unwissenheit. S. 105). Und das heißt: Die Ablehnung der spÇtmittelalterlichen Philosophie beginnt nicht nach dieser, sondern fÇllt mit der letzten großen Periode der mittelalterlichen Philosophie zeitlich zusammen. Petrarca wollte mit RÜckgriff auf Sokrates, Platon, Cicero und Augustinus eine politisch-ethische, lebensbezogene Wahrheit zur Neugestaltung des persÙnlichen und gesellschaftlichen Lebens finden. Er konstruiert dabei eine Wertungsskala von Wissenschaft und Lebenspraxis - »Besser aber ist es, Gutes zu wol-

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len, als das Wahre zu erkennen« (Ebd. S. 109) -, die zwar ihre sachliche Geltung haben mag, die jedoch problematisch wird, wenn daraus eine GeringschÇtzung der Wissenschaft abgeleitet wird. Petrarca hatte den Eindruck, daß fÜr die von ihm gesuchte Reflexion auf das Subjekt und dessen Handeln die Pariser Logik und Physik nichts zu bieten hatte. Damit hatte er recht, nur war diese Logik und Physik auch gar nicht fÜr einen solchen Zweck entworfen worden. Bei Petrarca liegt daher auch gar keine Kritik der Pariser aristotelischen Naturphilosophie vor, sondern einfach deren Ablehnung. Petrarca bringt sehr deutlich zum Ausdruck, daß er an die Philosophie andere Erwartungen herantrÇgt, und dies sind tatsÇchlich solche, die dann von den Philosophen der Renaissance aufgenommen werden. Petrarca geht es um die konkreten Lebensprobleme, aber auch hier erwartet er sich anderes als das, was bisher im Anschluß an die Schriften des Aristoteles geliefert worden ist. Er kennt die aristotelische Ethik:

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Er lehrt, ich leugne es nicht, was Tugend ist; doch enth›lt seine Schrift keine oder nur sehr wenige Worte, die uns anspornen und anfeuern, Worte, die unseren Geist zur Liebe gegen¹ber der Tugend und zum Haß gegen das Laster treiben und entflammen. Wer das sucht, wird es bei unseren Schriftstellern, vor allem bei Cicero und Annaeus finden [...]. (Ebd. S. 105) Dies zeigt ganz deutlich, daß Petrarca etwas von der Philosophie des Aristoteles erwartete, was dieser selbst sich gar nicht zum Ziel gesetzt hatte. Aristoteles wollte eine Analyse sittlichen Handelns liefern, er wollte aber weder »anspornen« noch »anfeuern« und hatte auch keinerlei Ambitionen, als Moralprediger aufzutreten. Es ist ebenso klar, daß bei den Erwartungen Petrarcas Cicero und Augustinus in den Vordergrund treten mußten und daß im Vergleich zu Aristoteles Platon als der fÜhrende Philosoph (philosophie princeps [Ebd. S. 112]), bezeichnet wird, was er ja dann in gewisser Hinsicht auch tatsÇchlich in der Philosophie der Renaissance sein wird. Der literarisch wirksamste Kritiker der scholastischen Philosophie war Lorenzo Valla (1406/1407–1457). Manche Humanisten lehnten die mittelalterliche Philosophie ab, weil die Sprache derselben ihnen im Vergleich zum Latein eines Cicero unbeholfen und »verknÙchert« erschien. Dieses philologische Element der Kritik fehlt auch bei Valla nicht. Aber bei Valla ist die Analyse doch auch sachbezogen, und zwar in einer durchaus relevanten Weise, und dabei gelangte er zu Ergebnissen, die philosophiegeschichtlich sehr bedeutsam sind. Im Grunde sagt Valla nÇmlich, daß die Grundkonzeption der mittelalterlichen Philosophie, die mit dem Anspruch angetreten ist, der »christlichen Weisheit« Ausdruck und Form zu geben, einer historischen ¾berprÜfung nicht standhÇlt. Sein Ansatzpunkt ist die Rolle, die die Philosophie des Boethius fÜr die Entwicklung der mittelalterlichen Philosophie gespielt hat, und dabei hat er ganz recht - die Bedeutung von Boethius’ Trost der Philosophie fÜr die christliche Tradition braucht nicht unterstrichen zu werden. Zweifel an der

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»Christlichkeit« dieser Schrift waren schon sehr alt (vgl. 2. Teil, Kap. V, 4, a–c), die Textbasis fÜr die BegrÜndung dieser Zweifel war aber ziemlich dÜrftig gewesen, und diese Zweifel fanden auch nur wenig GehÙr. Valla brachte die Analyse auf eine wesentlich hÙhere Ebene. Er zeigte, daß die Consolatio rein stoisch-platonisch konzipiert und in ihr nichts Christliches enthalten ist. Mit seinem Dialog ¾ber den freien Willen (De libero arbitrio) richtet er sich gegen das fÜnfte Buch der Consolatio, mit dem Dialog ¾ber das wahre und falsche Gut (De vero falsoque bono) gegen die ersten vier BÜcher. In dieser Schrift zeigt er auch, in welcher Weise die Philosophie Epikurs bisher mißverstanden und verzerrt dargestellt worden ist, und wie die Lust (voluptas) durchaus in Unterscheidung von der stoischen und epikureischen Konzeption - auch als christliches Ziel des Lebens aufgefaßt werden kann. Was Valla nachweisen wollte, ist folgendes: Der auf Boethius basierende Versuch der mittelalterlichen Philosophie, stoisch-platonische Metaphysik und christlichen Glauben in eine Einheit zu bringen, ist in zentralen Punkten gescheitert - und er meint, diese Einsicht nÜtze beiden, den Vertretern des Christentums sowie auch den Philosophen. Diese korrekte kritische Einsicht wurde von spÇteren Humanisten wie vor allem von Ficino (vgl. weiter unten 3) allerdings nicht beherzigt. Mit einer Çhnlichen Kritik setzte Valla an der boethianischen Logik und ihren mittelalterlichen Weiterentwicklungen an. In diesem Zusammenhang geht es Valla aber nicht mehr um historische Einzelfragen, sondern um einen grundsÇtzlichen Neuaufbau des gesamten Systems der Philosophie und der Wissenschaften. Dies ist das Thema seiner Dialecticae disputationes, die er in verschiedenen Versionen vorlegte. Die zentrale Disziplin, die sich mit der Sprache befaßt, sollte nicht mehr die Logik sein, sondern die Rhetorik im antiken Sinn, also die auf Recht, Politik und Erziehung bezogene Kunst der richtigen und wirkungsvollen Rede. Valla ist Überzeugt, daß dem Menschen in der Sprache die Wirklichkeit begegnet und daß es daher nicht die Aufgabe der Philosophie sein kann, - wie es im Nominalismus geschehen ist - den Abstand von Sprache und Wirklichkeit zu vergrÙßern, sondern aus dem Ineinander von Wort und Ding heraus zu denken. Valla war philologisch bestens geschult, und bei ihm werden philologische Methoden auch als historisch-kritisches Instrument eingesetzt. Sein grÙßter Erfolg bei dieser Arbeit war der Nachweis, daß die sogenannte Konstantinische Schenkung - die offizielle Basis der politischen Stellung des Papstes - eine FÇlschung ist. An der politischen RealitÇt Çnderte diese Erkenntnis allerdings nichts. Auch wenn Italien das Zentrum der humanistischen Bewegung war, so war es doch nicht das einzige Land, in dem sie Fuß faßte. In den Niederlanden war Erasmus von Rotterdam (1469–1536) tÇtig, durch den die philologische und sprachgeschichtliche Bearbeitung der Texte der Bibel zur Norm wurde. Erasmus hatte zwar in Paris studiert, wandte sich aber dann von der scholastischen Philosophie ab und stellte sich - vor allem unter dem Einfluß von Rudolf Agricola (vgl. weiter unten 6) - auf die Seite der humanistischen Ideale. In seinen Schriften entwickelte er keine eigene Philosophie, trat aber immer wieder - so z. B. in seiner bekannten Schrift Lob der

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Torheit - fÜr einen autoritÇtsfreien Gebrauch der natÜrlichen Vernunft ein. In Çhnlicher Weise arbeitete Lefvre d’Etaples (um 1469–1536) in Frankreich, der zwar hauptsÇchlich durch seine - in Frankreich zunÇchst auf heftigen Widerstand gestoßenen - textkritischen Arbeiten zur Bibel bekannt geworden ist, der sich aber frÜher sehr intensiv u. a. auch mit der philologisch genauen Interpretation von AristotelesTexten befaßt hatte. Auf Petrus Ramus (Pierre de la Ramµe), der in Paris tÇtig war, und Michel de Montaigne wird gleich noch eingegangen werden.

2. Anthropologie, Ethik und Politik

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Anthropologie und Ethik waren das eigentliche Gebiet der Humanisten, da ja, wie schon gesagt, die Moralphilosophie die einzige eigentlich philosophische Disziplin war, die sie im Bereich der UniversitÇt vertraten. Viele Humanisten, die durch diese Schule gegangen waren und dann im Dienst von FÜrsten oder StÇdten tÇtig waren, befaßten sich auch in diesen Stellungen mit Vorliebe mit Themen der Moralphilosophie und der darin jeweils enthaltenen Anthropologie. Da sie sich berufsmÇßig - als Lehrer wie als Kanzlisten - mit der klassischen Literatur beschÇftigten, wurde diese in ihrer ganzen Breite herangezogen. Die Ethiken des Aristoteles spielten - auch bei den Humanisten - eine bedeutende Rolle, ebenso die Dialoge Platons. Es wurden nun aber auch Schriften der Epikureer, Stoiker und Skeptiker herangezogen, von denen einige Texte jetzt erstmals seit der Antike dem Westen wieder zugÇnglich wurden. Im Grunde konnte jeder Humanist die ethischen Auffassungen, die er vertreten wollte, durch genÜgend antike Autoren belegen. Und tatsÇchlich finden wir auch so ziemlich alle diese ethischen Konzeptionen in der Zeit der Renaissance wieder vertreten. Eine »humanistische Ethik« gibt es ebensowenig wie eine »humanistische Anthropologie«. Es gehÙrte zu den Kennzeichen der Kultur der Humanisten, daß sie nicht durch eine einheitliche Theorie verbunden waren, sondern durch eine allen gemeinsame »Methode« - diese in einem sehr weiten Sinn gefaßt - der philologischen und historischen Forschung sowie durch einige sehr allgemeine gemeinsame Grundanliegen, die sich vor allem um die Fragen der Bildung des Einzelnen gruppierten. Die Humanisten und die Philosophen der Renaissance waren ganz bewußt Individualisten und wollten auch wieder solche heranbilden. Um ein solches Individuum heranbilden zu kÙnnen, muß aber der »Ort« des Menschen in der Welt bestimmt werden, und da die »Welt« des Mittelalters zu einem Ende gekommen war, mußte man diesen Ort neu suchen. Nichtsdestoweniger wirkten mittelalterliche Gedanken weiterhin nach. Einer der wichtigsten stammte von Augustinus, auch wenn er jetzt in anderer, »sÇkularisierter« Form aufgenommen und weitergefÜhrt wurde. In der ErbsÜndenlehre Augustins (vgl. 2. Teil, Kap. III, 5) war sehr deutlich die Vorstellung eines idealen Menschen, eines unverdorbenen Urmenschen, also Adams vor dem SÜndenfall, enthalten, der dann im weiteren Verlauf der Geschichte

Anthropologie, Ethik und Politik

korrumpiert worden war. Aus derselben Tradition stammte die Vorstellung eines »Bades der Wiedergeburt«, durch das die ursprÜngliche Natur des Menschen wiederhergestellt werden sollte. Der Gedanke des Wiedergeboren-Werdens (renascita) war also primÇr an der Natur und nur sekundÇr an der Antike orientiert, in der man vor allem in der bildenden Kunst diesen idealen Menschen als am besten abgebildet annahm. Der Mensch wird jetzt nackt dargestellt, so wie er es im Paradies war - wir erinnern uns an die berÜhmte Darstellung Masaccios in der Brancacci-Kapelle in Florenz, einem GrÜndungsdokument der Renaissancemalerei. Gesucht wurde aber gleichzeitig der »pneumatische«, geisterfÜllte Mensch - ein wichtiger Anhaltspunkt dafÜr war das Paulus-Wort: »Der geisterfÜllte Mensch urteilt Über alles, ihn aber vermag niemand zu beurteilen« (2 Kor. 2, 15). Dieses Wort war allen in guter bzw. schlechter Erinnerung, seit es Papst Bonifaz VIII. (1294–1303) in seiner berÜchtigten Bulle Unam sanctam von 1300 verwendet hatte (DS 873), um seinen eigenen Machtanspruch zu rechtfertigen. Dieser Machtanspruch wurde wirksam bestritten, der Gedanke dieses pneumatischen Menschen, der Über alles urteilt, blieb aber lebendig. Bonifaz VIII. hatte auch mit der Erfindung des JubilÇumsjahres 1300 das Programm einer Wiederherstellung des Menschen durch einen »vÙlligen Ablaß« erfunden, das dann allerdings zu einer Bereicherungs-Unternehmung mit FÙrderung des Aberglaubens verkommen ist (einer Tradition, die sich bis zum Jahre 2000 erhalten hat). Auch bei einem seiner Nachfolger, Clemens VI. (1342–1352), stand offiziell - er brauchte auch Geld fÜr seine verschwenderische Hofhaltung in Avignon - der Gedanke der Wiederherstellung im Vordergrund, als er auf Anregung Cola di Rienzos (gest. 1354) hin fÜr 1350 ein JubilÇumsjahr fÜr alle 50 Jahre vorsah, das nach der Vorstellung des alttestamentlichen Sabbatjahres - wo nach Verschuldung die ursprÜnglichen EigentumsverhÇltnisse wiederhergestellt werden sollten - geformt war. Weiter lebendig war auch die Vorstellung eines »Zeitalters des Geistes«, das Joachim von Fiore verkÜndet hatte (vgl. 2. Teil, Kap. XII, 2), die von den franziskanischen Spiritualen hochgehalten wurde - die Leitfiguren der Renaissance Dante, Petrarca und Cola die Rienzo waren von den Idealen der Spiritualen beeinflußt. Cola di Rienzo, selbst ein bedeutender Humanist, wußte um die Symbolkraft dieser Traditionen: Es ist sicher kein Zufall gewesen, wenn er den Pfingstsonntag - die Ankunft des Geistes - als das Datum im Jahre 1347 wÇhlte, um das Kapitol einzunehmen. Er ließ sich dann - antikisierend - zum Tribunus Augustus ausrufen, aber gleichzeitig - zukunftstrÇchtig - zum Miles Spiritus Sancti, also zum Soldaten des Heiligen Geistes. Ebenso symboltrÇchtig war sein bei dieser Zeremonie vorgenommenes Bad im Taufbecken des Kaisers Konstantin, wodurch die durch ihn initiierte Wiedergeburt Roms, Italiens und der Welt dargestellt werden sollte. ¾berall also geht es um die Suche nach einem Neubeginn, der an einem idealen Urbild orientiert war. Diese Vorstellung eines idealen Urmenschen wurden von den Renaissancephilosophen mit ziemlich Çhnlichen Vorstellungen aus der gnostischen, hermetischen und kabbalistischen Tradition verbunden, die z. B. fÜr Ficino und Pico della Mirandola eine wichtige Quelle

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der Inspiration darstellte. Nach dieser Vorstellung ist in jedem Menschen dieser Urmensch als das hÙhere, pneumatische, Element enthalten, das nur der ErlÙsung bedarf. All dies ist eigentlich gar nicht neu. Wie sehr aber die Sicht der Stellung des Menschen auch wieder von jener verschieden war, die der Mensch im geordneten Kosmos des Mittelalters innegehabt hatte, zeigt sich sehr gut in der berÜhmten Rede des Pico della Mirandola (1463–1494) ¾ber die WÜrde des Menschen. Der Baumeister der Welt hat die Welt geschaffen, und nun geht es um die Erschaffung des Menschen:

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Es gab aber unter den Archetypen keinen, nach dem er einen neuen Sproß bilden konnte, unter den Sch›tzen auch nichts, was er seinem neuen Sohn als Erbe schenken konnte, und es gab unter den Pl›tzen der ganzen Erde keinen, den der Betrachter des Universums einnehmen konnte. Alles war bereits voll, alles den oberen, mittleren und unteren Ordnungen zugeteilt. Aber es h›tte nicht der v›terlichen Allmacht entsprochen, bei der letzten Sch³pfung gewissermaßen aus Ersch³pfung zu versagen; es h›tte nicht seiner Weisheit entsprochen, aus Ratlosigkeit in einer unumg›nglichen Angelegenheit unschl¹ssig zu sein; nicht h›tte es seiner wohlt›tigen Liebe entsprochen, daß der, der die g³ttliche Großz¹gigkeit an den anderen loben sollte, gezwungen w›re, sie in Bezug auf sich selbst zu verurteilen. Endlich beschloß der h³chste K¹nstler, daß der, dem er nichts Eigenes geben konnte, Anteil habe an allem, was die einzelnen jeweils f¹r sich gehabt hatten. Also war er zufrieden mit dem Menschen als einem Gesch³pf von unbestimmter Gestalt, stellte ihn in die Mitte der Welt und sprach ihn so an: »Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest. Die Natur der ¹brigen Gesch³pfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschr›nkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gestellt, damit du dich von dort aus bequemer umsehen kannst, was es auf der Welt gibt. Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, sch³pferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum H³heren, zum G³ttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.« (S. 5 und 7) Der Schritt, der hier Über Cusanus und auch Über den Lehrer Mirandolas, Ficino, hinaus getan wird, ist offensichtlich. Der Mensch wird aus jeder Seinshierarchie herausgenommen, er ist nicht mehr wie im Mittelalter als »nach dem Bilde Gottes« gebildet, sondern er ist nur noch von seiner Freiheit her konzipiert, durch welche er sein eigener Bildhauer ist. Mirandola vertritt hier nicht eine von ihm erfundene Auf-

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fassung, sondern formuliert nur in unÜbertrefflicher Weise eine, die sich zur Zeit der Renaissance immer mehr durchsetzte. Wird der Mensch als sein eigener Bildhauer angesehen, so muß Bildung einen ganz hohen Stellenwert erhalten, allerdings nicht primÇr als Nachahmung - die Mimesis war traditionell zentral fÜr die Paideia -, sondern als Selbstformung. Der Humanist war Erzieher par excellence. Die pÇdagogische Literatur der Zeit ist daher auch sehr reichhaltig. Als Autoren finden wir unter vielen anderen so bedeutende wie Enea Silvio Piccolomini (1404–1464, seit 1458 Papst Pius II.), Erasmus von Rotterdam und Juan Vives (1492–1540). Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß diese und viele andere Humanisten Bildungsprogramme mit strengem ethischen Anspruch aufstellten. Auch Ficinos Programm der von ihm erfundenen und spÇter oft verdreht wiedergegebenen »platonischen Liebe« steckte hohe ethische Ziele: Durch die von jedem einzelnen angestrebte Kontemplation des GÙttlichen sind die Menschen, die diesem Ziel nachstreben, auch untereinander in Freundschaft verbunden. Allerdings wurde die Kontemplation als hÙchstes Ziel, ein ehrwÜrdiges Relikt der Antike und des Mittelalters, kaum noch wirklich in diesem Sinn verstanden und akzeptiert. Die Menschen der Renaissance wollten handeln. Pomponazzi (vgl. zu diesem weiter unten 5) hat dies deutlich gespÜrt. FÜr ihn liegt das hÙchste Ziel des Lebens im Handeln, und der Aristoteliker Pomponazzi wußte ganz genau, daß er hier eine ganz und gar unaristotelische Auffassung vertrat. Das Modell des Menschen der Renaissance kÙnnen wir plastisch im Moses des Michelangelo bewundern, der ein gebÜndelter Ausdruck des Handlungswillens ist. Und so sollte auch die Erziehung der Humanisten nicht zur Kontemplation, sondern zum gesellschaftlichen Handeln hinfÜhren. Dies gilt jedenfalls fÜr die erste Generation, spÇter unter der Herrschaft der RenaissancefÜrsten steckten sie teilweise ihre Ziele zurÜck und hoben wieder wie Ficino die Kontemplation hervor. Es muß aber auch die Ambivalenz gesehen werden, die diesem Programm der Selbstbestimmung und seiner literarischen Grundlage, den Autoren der Antike, zugrundelag. Schon Pico della Mirandola hat es sehr deutlich ausgesprochen: Es steht dem Menschen frei, sich auf die Ebene des GÙttlichen zu erheben oder aber sich auf der Ebene des Viehs festzusetzen. Die Frage, die auftreten mußte, war, woher denn nun konkrete Maßst›be oder Kriterien des Handelns genommen werden sollten. Das naheliegendste waren die Beispiele aus der Geschichte. Besondere Bedeutung erhielten natÜrlich die von antiken Autoren bereitgestellten Beispiele. Damit aber ging auch das der antiken Geschichtsschreibung zugrundeliegende Bewertungsprinzip in die Darstellung humanistischer Exemplifizierung ein. Obwohl dies nicht explizit ausgesprochen wurde, lag es doch in der antiken und dann entsprechend auch in der humanistischen Darstellung nahe, Gr³ße zum Bewertungsmaßstab zu machen. Wie aber sollte man »GrÙße« feststellen? Wohl am ehesten, dachten die Humanisten, indem man den als »groß« ansieht, dem allgemein Ehre entgegengebracht wird. Dies entsprach auch einem zentralen Begriff der realen kulturellen und gesellschaftlichen Umgebung, wo die »Ehre« im Alltagsleben des Volkes und vor allem bei den

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herrschenden Adeligen eine große Rolle spielte. Und diese »Ehre« wiederum war gar nicht weit entfernt von der Vorstellung des »Ruhmes«. Der Ruhm war ja auch fÜr die Humanisten selbst ein ganz wichtiges Anliegen. Der zur DichterkrÙnung - die berÜhmteste war die Petrarcas in Rom im Jahre 1341, aber auch die Enea Silvio Piccolominis durch Kaiser Friedrich III. 1442 in Frankfurt hinterließ einen bleibenden Eindruck - verwendete Lorbeerkranz hatte hohen Symbolwert. Eine DichterkrÙnung war tatsÇchlich die KrÙnung eines Dichterlebens. Traten solche Kriterien in den Vordergrund, so war die Entwicklung vorgezeichnet, Handlungsunterweisung an ³ffentlicher Anerkennung und Effizienz zu orientieren. Der Unterschied zwischen wirkungsvollem und sittlichem Handeln wurde dabei oft recht undeutlich. Diese Orientierung wurde weniger von jenen Humanisten verfolgt, die im Rahmen der UniversitÇten lehrten, als vielmehr von jenen, die als SekretÇre und Kanzler im Bereich des politischen Lebens tÇtig waren. Dies ist mehr als verstÇndlich: In den Kanzleien wurde Effizienz aus der tÇglichen politischen Erfahrung abgelesen, und die Erfahrung zeigte, daß sich Effizienz keineswegs immer aus sittlichem Handeln ableitete, sondern hÇufig aus ganz und gar unsittlichem Verhalten - dies galt fÜr FÜrstenhÙfe ebenso wie fÜr den Hof der PÇpste. Es wÇre allerdings zu einfach, zu sagen, es handle sich bei den Abhandlungen vieler Humanisten eben nur um Beschreibungen des Faktischen, nicht aber um moralische Werturteile. Denn bis hin zu dem radikalsten und konsequentesten Vertreter dieser Richtung, NiccolÔ Machiavelli (1469–1527), lag doch in dieser Anerkennung des Faktischen als Norm des Handelns zwar nicht die ausdrÜckliche Behauptung, daß es auch so sein soll, aber doch jedenfalls das EingestÇndnis, daß ¾berlegungen darÜber, was ethisch »richtig« oder »unrichtig« wÇre, im Bereich des realen, an Effizienz gemessenen Handelns, nicht viel weiterfÜhren. Machiavelli nennt im FÜrsten seinen Ausgangspunkt ganz offen: Aber da es meine Absicht ist, zum Nutzen derer zu schreiben, die mich verstehen, schien es mir richtiger, mich an die tats›chliche Gestalt der Dinge zu halten als an ein Phantasiebild. Viele haben sich Republiken und F¹rstent¹mer ausgemalt, von deren Existenz man nie etwas gesehen noch vernommen hat. Denn zwischen dem Leben, wie es ist und wie es sein sollte, ist ein so gewaltiger Unterschied, daß, wer das, was man tut, aufgibt f¹r das, was man tun sollte, eher seinen Untergang als seine Erhaltung bewirkt; ein Mensch, der immer nur das Gute tun wollte, muß zugrunde gehen unter so vielen, die nicht gut sind. (Der F¹rst XV. S. 95) Dies bedeutet dann aber, daß die Theorie politischen Handelns nicht aus irgendwelchen Normen, sondern aus Verallgemeinerungen einer deskriptiven Analyse abgeleitet wird. Machiavellis Traktat ist auch tatsÇchlich eine scharfe analytische Beschreibung, wie Macht gewonnen und erhalten werden kann. Die Anerkennung des Faktischen als handlungsbestimmend erlaubt die Ableitung von Regeln: Danach folgen die Menschen dem StÇrksten, dieser wieder lenkt die Triebe und Affekte der

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Menschen so, daß dies der Erhaltung der Staatsmacht dient. Da der Herrscher jedoch ebenso der Korruption unterworfen ist, folgt auf den Alleinherrscher, der schon korrumpierte Nachfolger (Erben) hinterlÇßt, die Aristokratie, das heißt die Herrschaft mehrerer, die aber durch Machtgier so in Feindschaft untereinander geraten, daß sie sich schließlich gegenseitig ausschalten, so daß das Volk die Herrschaft Übernehmen kann. Die Demokratie jedoch wandelt sich bald in Anarchie, so daß wieder der StÇrkste zur Herrschaft kommt. Das ganze ist eine permanente Verfallsgeschichte, auch wenn sich nichts einfach und automatisch wiederholt. Im Grunde sind alle Formen der Herrschaft schlecht: In diesem Kreislauf haben sich die Regierungen aller Staaten bewegt und tun es immer noch, doch kehren sie selten zu den gleichen Regierungsformen zur¹ck; denn kaum ein Staat besitzt so viel Lebenskraft, daß er solche Umw›lzungen mehrmals ¹berstehen k³nnte, ohne zugrunde zu gehen. [...] Nach meiner Meinung sind daher alle diese Staatsformen verderblich [...]. (Discorsi. Gedanken ¹ber Politik und Staatsf¹hrung I, 2. S. 15) Die ganze Staatskunst besteht daher darin, den Verfall des Staates aufzuhalten, d. h. zu verlangsamen. Gelegentliche LÜge gehÙrt wie vieles andere zu den dafÜr erforderlichen Mitteln, wer hier Skrupel hat, sollte sich besser nicht in den Umkreis der Macht begeben. Genauso gehÙrt es zur erforderlichen Strategie des Herrschers, seine GÜnstlinge mit Wohltaten gefÜgig und abhÇngig zu halten, wÇhrend er dem Volk gegenÜber eher knauserig sein, dies aber als verantwortungsvolle Finanzgebarung ausgeben sollte. Die einzelnen Beobachtungen und Analysen der Machtmechanismen, die Machiavelli vorlegt, sind nicht unbedingt neu, neu ist aber, daß sie ohne irgendeinen ideologischen ¾berbau, ohne von SÜnde, Sorge um eine hÙhere Gerechtigkeit oder um das ewige Seelenheil der Untergebenen usw. zu reden, dargelegt werden. Die Meinung, daß der Mensch nach dem Guten strebt, wie es die antiken und die mittelalterlichen Philosophen angenommen hatten, hÇlt er fÜr naiv: Alle, die ¹ber Politik schrieben, beweisen es, und die Geschichte belegt es durch viele Beispiele, daß der, welcher einem Staatswesen Verfassung und Gesetze gibt, davon ausgehen muß, daß alle Menschen schlecht sind und daß sie stets ihren b³sen Neigungen folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben. [...] Dies ist ein Beweis f¹r meine obige Behauptung, daß die Menschen nur von der Not gezwungen etwas Gutes tun. Wenn ihnen freie Wahl bleibt und sie tun k³nnen, was sie wollen, ger›t alles sofort in Verwirrung und Unordnung. (Discorsi. Gedanken ¹ber Politik und Staatsf¹hrung I, 3. S. 17 f.) Allerdings kann Machiavelli auch nicht auf einen weisen Herrscher setzen, der die Menschen zu gutem Handeln zwingt - dazu kennt er die Geschichte zu gut. Wenn er

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aber dem Herrscher sagt, daß er sich nur an der Macht halten kann, wenn er das Volk auf seiner Seite hat (Der FÜrst IX. S. 71–75) - »Die beste Festung, die es gibt, ist ein Volk, das den FÜrsten nicht haßt« (Ebd. XV. S. 123) -, so steht dahinter aber vielleicht doch mehr als eine reine Maxime des Machterhalts. Machiavelli rechnet mit so etwas wie mit einer - aristotelischen - Einsicht des Volkes, nach der das Volk das erfaßt, was ihm auch im Sinn der Anpassung an historische und politische VerÇnderungen nÜtzlich ist:

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Was die Klugheit und Best›ndigkeit anlangt, so behaupte ich, daß das Volk kl¹ger und best›ndiger ist und ein richtigeres Urteil hat als ein Alleinherrscher. Nicht ohne Grund vergleicht man die Stimme des Volkes mit der Stimme Gottes; denn die ³ffentliche Meinung prophezeit so wunderbar richtig, was geschehen wird, daß es den Anschein hat, als s›he sie verm³ge geheimer Kr›fte ihr Wohl und Wehe voraus. [...] Ferner sieht man, daß das Volk bei der Besetzung von mtern eine viel bessere Auswahl trifft als ein Alleinherrscher. Nie wird man das Volk ¹berzeugen k³nnen, daß es von Vorteil sei, einen minderwertigen, verderbten Menschen mit einer hohen W¹rde zu bekleiden, w›hrend man einen Alleinherrscher leicht und mit tausend Mitteln dazu ¹berreden kann. Das Volk empfindet noch Abscheu vor etwas und bewahrt viele Jahrhunderte hindurch die gleiche Gesinnung. Bei einem Alleinherrscher kommt dies nicht vor. [...] Außerdem ist zu beobachten, daß Staaten, in denen das Volk regiert, in k¹rzester Zeit außerordentliche und viel gr³ßere Fortschritte machen als solche, die immer unter einem Alleinherrscher gelebt haben. (Discorsi. Gedanken ¹ber Politik und Staatsf¹hrung I, 58. S. 151 f.) Wer Machiavellis Schriften zur Politik grÜndlich studiert hat, braucht fÜr den Rest seines Lebens keine politischen Kommentare mehr zu lesen. Machiavellis Traktat ist nur der berÜhmteste einer ganzen Literaturgattung - Werke, mit denen versucht wird, Verhaltensregeln aus empirischen Sachverhalten abzuleiten. Ein fÜr die Humanisten wichtiges Gebiet war dabei die Erforschung der effizienten Verhaltensregeln der HÙflinge - sie waren ja nicht selten selbst solche. Die berÜhmteste Abhandlung darÜber ist der Cortegiano (Der HÙfling) von Baldassare Castiglione (1478–1529), in der sich die Erfahrungen des Autors am Hof des Herzogs von Urbino niederschlugen: Es geht darum, im Interesse des FÜrsten zu arbeiten, aber ebenso darum, daß dies den eigenen Interessen - dazu gehÙren Ruhm und Geld - dient. Sehr deutlich wird dabei, wie vieldeutig die »Natur« war, von der die Humanisten sprechen konnten: Die »NatÜrlichkeit«, mit der sich Castigliones HÙfling bewegt, ist eine auf Effizienz hin und durch strenge ¾bung einstudierte »Natur«, also in Wirklichkeit genau kalkulierter Schein. Da die Adressaten dieser Art von Traktaten ja nicht nur die fÜhrende (mÇnnliche) Oberschicht war, finden wir auch entsprechende Abhandlungen Über die Hofdame, Über die Handwerker, Über die Architekten usw. Was an Ethik darin jeweils enthalten war, hing dann weithin von dem ab, was faktisch in der jeweiligen Umgebung fÜr richtig angesehen wurde.

Anthropologie, Ethik und Politik

Nicht alle aber wollten sich dem Diktat des Faktischen beugen. In der Zeit der Renaissance sind auch drei große Staatsutopien entstanden, also Alternativen zu bestehenden gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten. Auf Atlantis, die Utopie Bacons, wird in einem spÇteren Zusammenhang eingegangen werden (vgl. Kap. III, 4). Die erste stammt von Thomas Morus (1477/1478–1535), einem hochgebildeten Humanisten, der mit anderen bedeutenden Humanisten wie Erasmus, Vives und Lefvres d’Etaples in Kontakt war. Morus war selbst in wichtigen politischen Funktionen tÇtig gewesen, wurde aber schließlich unter dem Vorwurf des Verrats hingerichtet. Der eigentliche Grund seiner Verurteilung war aber sicher nicht seine Vorstellung eines idealen Staates, sondern sein Widerstand gegen bestimmte AnsprÜche des ganz konkreten Herrschers Heinrichs VIII., vor allem gegen den des KÙnigs, auch Oberhaupt der Kirche zu sein. Er richtete - anders als Machiavelli seine Schrift Utopia (gedruckt 1516) nicht an einen Herrscher, denn er wußte sehr wohl, daß KÙnige niemals den RatschlÇgen der Philosophen zustimmen werden (Utopia I. S. 28 f.). Auch Morus kannte und beschrieb das Faktische: Wenn ich daher alle unsere Staaten, die heute irgendwo in Bl¹te stehen, im Geiste betrachte, und dar¹ber nachsinne, so stoße ich auf nichts anderes, so wahr mir Gott helfe, als auf eine Art Verschw³rung der Reichen, die den Namen und Rechtstitel des Staates mißbrauchen, um f¹r ihren eigenen Vorteil zu sorgen. Sie sinnen und hecken sich alle m³glichen Methoden und Kunstgriffe aus, zun›chst um ihren Besitz, den sie mit verwerflichen Mitteln zusammengerafft haben, ohne Verlustgefahr festzuhalten, sodann um die M¹he und Arbeit der Armen so billig als m³glich sich zu erkaufen und zu mißbrauchen. (Ebd. II. S. 111) Seine Beurteilung der Lage ist dann auch ganz eindeutig: »Wo alle Menschen alle Werte am Maßstab des Geldes messen, da wird es kaum jemals mÙglich sein, eine gerechte und glÜckliche Politik zu treiben« (Ebd. I. S. 38). Bei der Frage der Strategie der Verwirklichung eines idealen Staatswesens zieht Morus in der Diskussion sogar auch einen »realistischen« Standpunkt in ErwÇgung, auch wenn er meint, daß er dann dabei, wÇhrend er »die Tollheit anderer Leute zu heilen versuchte, selber mit ihnen toll wÜrde« (Ebd. I. S. 36): Kannst du verkehrte Meinungen nicht gleich mit der Wurzel ausreißen und vermagst du herk³mmlich eingewurzelte •bel nicht nach deiner innersten •berzeugung zu heilen, so darfst du deshalb doch nicht gleich den Staat im Stiche lassen und im Sturm das Schiff nicht deshalb preisgeben, weil du den Winden nicht Einhalt gebieten kannst! Du mußt auch nicht den Menschen eine ungewohnte und maßlose Rede mit Gewalt aufdr›ngen, die ja doch, wie du weißt, bei Andersdenkenden kein Gewicht haben kann, sondern es lieber auf Umwegen versuchen, dich bem¹hen, nach besten Kr›ften alles recht geschickt zu behandeln, und was du nicht zum Guten wenden

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Philosophische Bewegungen des Humanismus und der Renaissance

kannst, wenigstens vor dem Schlimmsten zu bewahren. Denn es ist ausgeschlossen, daß alle Verh›ltnisse gut sind, solange nicht alle Menschen gut sind, worauf wir ja wohl noch eine h¹bsche Reihe von Jahren werden warten m¹ssen. (Ebd. I. S. 36)

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Die Einzelheiten der VorschlÇge des Morus fÜr den idealen Staat brauchen hier nicht dargestellt zu werden. Die Grundthese, daß dort, wo es Privateigentum gibt, keine Hoffnung auf ein besseres Staatswesen besteht (Ebd. I. S. 40), sollte eine große, wenn auch nicht unbedingt erfolgreiche Zukunft haben. Morus war nicht der einzige, der zur Zeit der Renaissance radikale VerÇnderungen in der Gesellschaft forderte. Dies zeigt ein weiterer utopischer Entwurf, der von Tommaso Campanella (1568–1639) stammt, der sich dabei bewußt von Machiavelli distanzierte. ZunÇchst hatte Campanella, der aus dem unter spanischer Herrschaft stehenden Kalabrien stammte, auf den spanischen KÙnig gesetzt, der ein neues universales und von HÇretikern gereinigtes Reich errichten sollte. 1599 war aber in SÜditalien ein Jahr von Naturkatastrophen, wodurch das Elend der armen LandbevÙlkerung noch gesteigert wurde. Die Maßnahmen des KÙnigs in dieser Notsituation waren alles andere als Überzeugend. Campanella wollte zusammen mit anderen, zu denen auch Adelige und Kleriker gehÙrten, die spanischen Herrscher vertreiben und eine Republik ausrufen. Die VerschwÙrung wurde aber entdeckt und Campanella wurde in Neapel in einen Kerker gesteckt, in dem er die folgenden 27 Jahre verbrachte. Er durfte dort allerdings weiter schreiben und ein Großteil seiner sehr umfangreichen Schriften ist dort entstanden. Das Werk, durch das er in die Geschichte eingegangen ist, ist Die Sonnenstadt (La città del sole), in dem er die Gesellschaft schildert, die er hatte errichten wollen. Seine Leitvorstellung war die Natur und dabei gelangte er zu sehr radikalen Vorstellungen, so z. B. zu der, daß sowohl Privateigentum wie Monogamie nicht in der Natur des Menschen begrÜndet sind, sondern nur historisch gewordene Strukturen darstellen. AusdrÜcklich verwirft er die gesellschaftlichen Implikationen der aristotelischen ¾berordnung der Theorie Über das herstellende Tun, und so gelangt er zu einer positiven Bewertung der Arbeit. Als er aus dem Kerker entlassen wurde, lebte er zunÇchst in Rom, mußte dann aber wegen der NÇhe der spanischen Herrschaft nach Paris fliehen. Er sah zwar scharfsichtig das kommende Ende der Macht der Spanier, setzte dann aber auf die franzÙsischen KÙnige. Zur Geburt des spÇteren Ludwig XIV. verfaßte er ein Preisgedicht - daß das Reich dieses SonnenkÙnigs nichts mit seiner Sonnenstadt gemeinsam haben wÜrde, konnte er nicht voraussehen. Manche Humanisten erwarteten sich allerdings nur wenig von politischem Schrifttum - Ficino z. B. wußte wohl von seiner politischen Einflußlosigkeit und Çußerte sich nicht zu solchen Fragen. Andere reflektierten ihren RÜckzug aus dem Ùffentlichen Leben. Das beste Beispiel dafÜr ist Michel de Montaigne (1533–1592), der von seinem Vater ganz im Geiste des italienischen Humanismus erzogen worden war. Montaigne studierte Rechtswissenschaft und hatte dann auch verschiedene

Anthropologie, Ethik und Politik

Ùffentliche ’mter inne. Als er nach dem Tode seines Vaters das Erbe zur alleinigen VerfÜgung hatte, zog er sich auf Schloß Montaigne zurÜck, um sich nur noch dem Studium zu widmen, nahm aber doch spÇter die Wahl zum BÜrgermeister von Bordeaux an. Die berÜhmten Essais Montaignes entstanden teilweise wÇhrend der Zeit des vÙlligen RÜckzugs und teilweise wÇhrend der letzten Periode seiner Ùffentlichen TÇtigkeit. Montaigne sah ganz klar die Differenz zwischen dem, was die Gesellschaft mit ihren Regeln von ihm erwartete, und dem, was er durch Eigenbestimmung sein konnte und wollte. Er orientierte sich an der spÇtantiken Philosophie: Stoa, Epikureismus, Skeptizismus. Der fÜr ihn wichtigste Autor war Seneca. Schon im Zusammenhang der Darstellung dieser Bewegungen der spÇtantiken Philosophie ist darauf hingewiesen worden, in welch großem Maße die historischen und gesellschaftlichen Bedingungen die Problemstellung der Suche nach einem inneren, unverletzlichen »Selbst« mitbestimmt hatten (vgl. 1. Teil, Kap. XI, 2). Diese Çußeren Bedingungen wurden dort allerdings nicht zum ausdrÜcklichen Gegenstand der Reflexion: Das Allgemeine, dem der Einzelne bzw. seine Seele gegenÜbergestellt wurde, blieb der Kosmos, auch wenn die Physik, also die Naturphilosophie, selbst nur noch in groben ZÜgen behandelt wurde - das Allgemeine der politisch-gesellschaftlichen RealitÇt wurde nicht thematisiert. Bei Montaigne ist die Reflexionsrichtung jetzt eine andere: Das Allgemeine, dem sich der Einzelne gegenÜbergestellt sieht, ist nicht mehr eine allgemeine, letztlich kosmologisch bestimmte Natur des Menschen, sondern es ist das Allgemeine der Gesellschaft, dem gegenÜber er sich behaupten muß. In moderner Terminologie kÙnnte man sagen: Die Gesellschaft gibt Rollen, also allgemeine Verhaltensmuster, vor, und Montaigne ist durchaus bereit, etwa als BÜrgermeister, den diesen Verhaltensmustern entsprechenden Erwartungen zu entsprechen. Daneben aber gibt es fÜr ihn eine andere, ganz pers³nliche Identit›t, die diesen Mustern nicht folgt. Montaigne hofft, die Natur zum Leitfaden fÜr die Suche nach dieser IdentitÇt nehmen zu kÙnnen, er sieht die MÙglichkeiten des Menschen als Naturwesen jedoch sehr nÜchtern. Schon die Natur selbst setzt dem Menschen deutliche Grenzen. Die gesamte Philosophie Montaignes ist von einer skeptischen Haltung getragen - er war ja von den Schriften des Sextus Empiricus sehr beeindruckt. Es ist aber keine pyrrhonische Skepsis, in der das Suchen nach Erkenntnis selbst aufgegeben werden soll, es ist auch nicht die Skepsis der enttÇuschten platonischen Dogmatiker, sondern es ist eher eine sokratische Skepsis, die sich der Begrenztheit allen menschlichen Wissens bewußt ist. Vom Pathos des Selbstentwurfs bei Pico della Mirandola und von all den Vorstellungen des idealen Archetyps des Menschen ist bei Montaigne nicht viel Übriggeblieben. Die RealitÇt holt das PlÇnemachen ein: Keiner beginnt am Nullpunkt, und wenn er dort beginnt, wo er ist, ist der Moment fÜr den idealen Entwurf schon vorbei.

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Die anderen formen, wie die bildenden K¹nstler, den Menschen als Einheit; ich erz›hle nach, wie er ist. Und zwar stelle ich ein schlecht gegl¹cktes Einzelexemplar dar; h›tte ich dieses neu zu gestalten, so w¹rde ich es ganz anders machen, als es ist. Aber jetzt ist es zu sp›t dazu. Die Linien meines Selbstbildnisses sind nicht falsch gezogen, obwohl sie sich immer ›ndern und voneinander abweichen: die Welt ist eine ewige Schaukel; ... selbst die Best›ndigkeit ist weiter nichts als ein langsameres Hin und Her. (Essais III, 1. S. 285) Montaigne durchschaut scharfsichtig und selbstkritisch die Funktion all der großen Idealtypen: Das Idealbild ist nicht etwas, das verwirklicht werden kann, sondern nur etwas, an dem das gemessen werden kann, was faktisch erreicht bzw. nicht erreicht worden ist: Wir kleinen Leute, die ein Privatleben f¹hren, das sich nur vor uns abspielt, wir m¹ssen in unserem Inneren ein Idealmodell haben, an dem wir die Echtheit unsrer Handlungen pr¹fen k³nnen, und je nach dem Ergebnis dieser Pr¹fungen k³nnen wir dann uns innerlich streicheln oder m¹ssen uns in Zucht nehmen. (Ebd. III, 2. S. 288) 20

Statt Platon, der die Idealformen in der Wirklichkeit realisiert sehen will, wird Sokrates, der auf der Suche nach der Erkenntnis der Idealformen ist, zur Leitfigur. Aus den unendlichen MÙglichkeiten der Verwirklichung im ’ußeren wird eine unendliche Suche im Inneren: Ich bekenne mich zu keinem anderen Ziel, als mich selbst zu erkennen; dieses Suchen f¹hrt mich in so unendliche Tiefen, zu so unendlich verschiedenen Fragestellungen, daß mein Lernen keinen anderen Erfolg hat, als daß ich f¹hle, wieviel mir zu lernen bleibt. Immer wieder werde ich mir der Unvollkommenheit meiner Selbsterkenntnis bewußt; diesem Umstand verdanke ich die Hinneigung zur Bescheidenheit [...]. Meine Erfahrung hat mich dazu gebracht, daß ich dem menschlichen Verstand seine Unzul›nglichkeit vorwerfe; diese Erkenntnis ist, meiner Ansicht nach, das sicherste Ergebnis dessen, was die Welt uns lehrt. Wer sich innerlich zu dieser Schlußfolgerung nicht durchringen kann, weil mein Beispiel oder sein eigenes ihm dazu nicht ausreicht, der mag sie deshalb anerkennen, weil Sokrates, der Meister aller Meister, das Nichtwissen gelehrt hat. (Ebd. III, 13. S. 363 f.) Die ganz persÙnliche Natur des Einzelnen ist von nirgends her abzuleiten, sie kann nur vom Einzelnen selbst aufgefunden werden. Nicht eine vorgestellte Idealform, sondern die aufgefundene je eigene, individuelle und unverwechselbare Eigenform ist entscheidend. Montaigne meint, daß jeder Mensch sein Eigenes in sich entdecken kÙnne, daß es aber fÜr ein gelungenes Leben entscheidend sei, dieses Eigene nicht nur zu entdecken, sondern auch wirksam werden zu lassen, es also zu »kultivieren«.

Anthropologie, Ethik und Politik

Jeder, der in sich hineinhorcht, entdeckt in sich eine eigene Form, eine Grundgestalt; alles, was zu dieser nicht paßt, versucht man abzuwehren, mag die Beeinflußung von außen oder vom Sturm der inneren Leidenschaften kommen. Ich f¹hle mich selten von ihr weggestoßen; ich bleibe beinahe immer da, wohin ich geh³re, wie das bei schwer beweglichen K³rpern so ist: wenn ich auch nicht immer ganz nahe bei meinem Ich bin, so bin ich doch immer nahebei. (Ebd. III, 2. S. 289) Der Weg Montaignes, in dem sich ein Einzelner nÜchtern distanziert und selbstkritisch und manchmal auch ironisch betrachtet, war nicht jener, dem die Mehrzahl folgte. Aber auch das von Pico della Mirandola idealistisch verkÜndete Programm der Selbstbestimmung stieß an deutliche faktische Grenzen. Sehr viele bestimmten sich selbst, aber eben weithin nach dem, wie es sie in ihrer Umgebung und nach den dort geltenden Regeln am ehesten weiterbrachte und ihnen eine geachtete Stellung und ein angenehmes Leben sicherte - Selbstbestimmung als bewußte und gewollte Akzeptanz der Fremdbestimmung. Dies schien der Weg des sicheren Erfolgs. Allerdings war diese Sicherheit bei den oft wechselnden Herrschern und bei den dauernden Intrigen zwischen den herrschenden Familien und deren GÜnstlingen keineswegs außer Gefahr. TatsÇchlich gehÙrten ja, ganz abgesehen von Kriegen und Revolutionen, Dolch und Gift zu den gewÙhnlichen Mitteln der Tagespolitik. Das Problem des »GlÜcks«, das auch als das Problem des Zufalls erschien, mußte daher große Bedeutung annehmen. Und so wird die antike GÙttin Fortuna wieder in ihr altes antikes Recht eingesetzt und spielt eine nicht unbedeutende Rolle in der ethischen Literatur der Renaissance: Zu Erfolg gehÙrt eben auch Gl¹ck - der Kluge weiß sein GlÜck zu nutzen. Sittliches Handeln ohne GlÜck fÜhrt zu nichts. Und es gab dann auch jene, die Über eine am Zufallsbegriff orientierte GlÜcksvorstellung hinausgingen und die den antiken Schicksalsglauben wieder aufgriffen - ein Schicksalsglaube, der aber durch keinen Glauben an eine gÙttliche Vorsehung »erlÙst« ist, ist gewÙhnlich pessimistisch. Es ist daher nicht verwunderlich, daß wir - gleichsam als einen zu keiner Harmonie zusammenbringbaren Kontrapunkt zu Mirandolas Selbstbestimmungsideal - in der Renaissance auch einen pessimistischen Schicksalsglauben antreffen. Bracciolini verfaßte Schriften mit den kennzeichnenden Titeln De varietate fortunae und De miseria humanae conditionis, und er war nicht der einzige, der sich mit der Frage des wechselnden Schicksals und dem Elend des menschlichen Lebens auseinandersetzte. Ebenso ist es nicht verwunderlich, daß die Astrologie in dieser Umgebung wieder großen Zulauf erhielt. Daß ein Pico della Mirandola, wie es ja einzig konsequent fÜr ihn war, die Astrologie kritisierte und verurteilte, ist selbstverstÇndlich. Es gab aber andere Humanisten, zu denen auch Ficino selbst zÇhlte, die die Astrologie verteidigten. Der Glaube an die Selbstbestimmung wie der an die Unvermeidlichkeit des Schicksals sind eben beide zur Zeit der Renaissance einflußreich gewesen, und es ist nicht leicht zu sagen, was denn eigentlich wichtiger war. Das große Ansehen, das die Astrologie genoß, lÇßt jedenfalls Zweifel aufkommen,

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ob die Selbstbestimmung das vorherrschende Leitbild gewesen ist. Der Einfluß der Astrologen bei Herrschern wie beim Volk war jedenfalls groß. Auch die Kirche hielt hier durchaus mit. Der Humanisten-Papst Pius II. bildete dabei eher die Ausnahme. Ein Papst wie Paul III. (1534–1549), aus der bedeutenden Familie der Farnese stammend und humanistisch bestens gebildet, hingegen hielt keine wichtige Versammlung mit seinen engsten Mitarbeitern (Konsistorium) ab, ohne sich die richtige Zeit dafÜr von seinen Astrologen festlegen zu lassen. Als »Aberglaube« wurde dies alles damals trotz mancher Kritik einiger Humanisten nicht aufgefaßt, denn man richtete vom 14. bis zum 16. Jhd. auch regelrechte LehrstÜhle fÜr Astrologie an UniversitÇten ein. Auch Campanella, durchaus ein Gegner von allem Aberglauben, verfaßte ein umfangreiches Werk zur Astrologie. Im Schicksalsglauben begegnen wir so einer Konstante, die schon in der Antike wirksam war und die die Renaissance nicht nur mit der Antike, sondern auch mit dem Mittelalter verbindet. Und auch der Empiriker Machiavelli wußte (auch aus eigener Erfahrung), daß es auch bei aller Einhaltung der Regeln mÙglich und gar nicht so selten ist, daß einen das GlÜck verlÇßt. Dies gilt mit und ohne astrologischen Glauben. FÜr den Machterhalt gibt es Regeln, fÜr den GlÜckserhalt gibt es keine. - Dem Interesse an der Astrologie entsprachen auch zwei weitere Çhnliche Gebiete, die in der Renaissance Hochkonjunktur hatten: die hermetische Literatur (vgl. den folgenden Punkt) und die »natÜrliche Magie«, so u. a. bei Agrippa von Nettesheim und Giordano Bruno (vgl. Kap. II, 2).

3. Der Platonismus Das philosophische Leitbild der Humanisten war zunÇchst Cicero gewesen, und zwar dieser als politischer Redner. Es ging dabei um den Aufbau einer um die Interessen des Menschen zentrierten, freien bÜrgerlichen Gesellschaft. Gegen Ende des 15. Jhd.s trat jedoch die Philosophie Platons immer stÇrker in den Vordergrund und wurde dann vor allem bei den nicht in der UniversitÇt tÇtigen Philosophen beherrschend. Diese Entwicklung hatte auch Çußere GrÜnde: Die sich durchsetzende Herrschaft der FÜrsten ließ den BÜrgern nur wenig Spielraum zur Gestaltung der Gesellschaft. FÜr die an den HÙfen tÇtigen Philosophen, die keinerlei politischen Einfluß hatten, bot sich die religiÙs und metaphysisch interpretierte Philosophie Platons als Ausweg an. FÜr das Studium der Schriften Platons lag jetzt eine mit humanistischer Gelehrsamkeit bearbeitete Textgrundlage vor. Die Bedeutung dieser Textgrundlage wird sofort deutlich, wenn man bedenkt, daß die mittelalterlichen Philosophen vom gesamten Werk Platons zunÇchst nur Teile des Timaios und seit dem 13. Jhd. dann auch die Dialoge Menon und Phaidon kannten (auch die islamischen Philosophen hatten nur den Timaios und den Phaidon in ¾bersetzungen zur VerfÜgung, vgl. 2. Teil, Kap. IX, 2, a). Dies ist jedoch fÜr die Kenntnis der Philosophie Platons eine sehr dÜrftige Basis. Der Platonismus des Mittelalters kam noch aus vielen anderen

Der Platonismus

Quellen, vor allem natÜrlich aus den Schriften des Augustinus, aber im ganzen Mittelalter konnte »Platonismus« durch TextbezÜge philosophisch nur ungenau identifiziert werden, ganz im Unterschied zu »Aristotelismus« (der allerdings durch die pseudo-aristotelischen Schriften neuplatonisch »kontaminiert« war). Der Unterschied der Lehren des Platonismus und des Neuplatonismus war Überhaupt nicht greifbar. Erst jetzt erlaubte es die Textgrundlage, die platonischen Lehren systematisch zu erfassen und von anderen abzugrenzen. Petrarca war vermutlich der erste Gelehrte des Westens, der eine Abschrift von Platon-Texten im griechischen Original besaß. Petrarca selbst war kein Kenner der Philosophie Platons, aber in seiner Polemik gegen Aristoteles und die Scholastik tritt Platon erwartungsgemÇß in den Vordergrund (vgl. weiter oben 1). Im 15. Jhd. wurden dann verschiedene Werke Platons aufgrund byzantinischer Manuskripte Übersetzt. Der Einfluß griechischer Gelehrter auf Humanismus und Renaissance ist im Bereich des Platonismus stÇrker gewesen als im Bereich des Aristotelismus, was eben schon damit zusammenhÇngt, daß die Humanisten Italiens bezÜglich der Textgrundlage platonischer Schriften vÙllig von byzantinischen Abschriften und von der Vermittlung durch byzantinische Gelehrte abhÇngig waren. In Byzanz waren Platons Werke praktisch immer - deutlich rekonstruierbar seit dem 9. Jhd. - abgeschrieben, textkritisch bearbeitet und in EinzelfÇllen auch studiert worden (vgl. 2. Teil, Kap. V, 5), und Abschriften dieser Texte gelangten jetzt nach Italien. Das Zentrum des Platonismus wurde zur Zeit der Renaissance Florenz. Der Ursprung ist etwas legendÇr, aber in der Legende ist doch ein historischer Kern enthalten. Zum Konzil von Florenz (1438/1439), das veranstaltet worden war, um eine Wiedervereinigung der rÙmischen mit der griechischen Kirche zu erreichen, waren auch etliche griechische Gelehrte gekommen. Der bedeutendste von diesen, Gemistos Plethon (vor 1360–1452), hielt bei dieser Gelegenheit Vorlesungen Über die platonische Philosophie, von denen Cosimo de’Medici so beeindruckt gewesen sein soll, daß er beschloß, in Florenz ein Zentrum platonischer Philosophie zu errichten. So jedenfalls wollte Marsilio Ficino (1433–1499) die Sache sehen. Plethon hatte in Mistra (in der NÇhe von Sparta) eine Platonische Akademie gegrÜndet, in der die Mitglieder nicht nur Platon studierten, sondern auch in einer Art platonischer Bruderschaft lebten. Der Platonismus wurde dort also nicht nur als Philosophie studiert, sondern lieferte auch eine Lebensform, deren gemeinschaftliche Verwirklichung allerdings nicht von Platons Staat, sondern eher von der Inspiration stoischer Freundschafts-Gruppen mit monastischem Einschlag geprÇgt war. Eine Platonische Akademie sollte also auch in Florenz ins Leben gerufen werden. Das neue Athen brauchte natÜrlich eine neue Akademie! Allerdings konnte das Vorbild der Plethon-Gemeinschaft nur bedingt herangezogen werden, da in Florenz kein Platz fÜr eine quasi-monastische Bruderschaft war - der ausgeprÇgte Individualismus der Renaissance-Menschen forderte eine andere, lockerere Gesellschaftsform. Historisch sicher ist, daß Cosimo de’Medici um 1458 eine Platonische Akademie unter der Leitung Ficinos ins Leben rief (die bis 1522 bestand), fÜr die er 1463 in Careggi

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eine Villa zur VerfÜgung stellte. Ficino wurde zum intellektuellen Mittelpunkt von Florenz. Seine Akademie war keine Schule, sondern setzte sich aus einem Kreis von Gelehrten, Intellektuellen und KÜnstlern zusammen, zu denen u.a. Pico della Mirandola, Leon Battista Alberti und Angelo Poliziano zÇhlten. Der Einfluß der Florentiner Platonischen Akademie reichte sehr weit. Johannes Reuchlin (1455–1522) besuchte 1482 und 1490 Florenz, traf mit Ficino und Pico della Mirandola zusammen und war von diesen tief beeindruckt. Der Platonismus der Akademie wurde so nach Deutschland gebracht. Außerdem unterhielt Ficino Korrespondenzen mit Humanisten in ganz Europa - die Briefliteratur war eine ganz charakteristische literarische Ausdrucksform der Humanisten -, so daß sein Einfluß in verschiedener Weise in ganz Europa spÜrbar war. Obwohl also zu seiner Zeit der Platonismus im Prinzip »rein« faßbar war, war die Philosophie Ficinos alles andere als ein »reiner« Platonismus. Ficino war ursprÜnglich in eine durchaus aristotelische Schule gegangen und hatte sich dann auch mit der ganz und gar unplatonischen Philosophie des Lukrez befaßt. Die Hinwendung zu Platon hatte sicher auch etwas mit den Çsthetischen und literarischen Interessen seines Dienstherrn zu tun: Cosimo de’Medici beauftragte Ficino mit einer ¾bersetzung der gesamten Werke Platons. Um 1468 hatte Ficino diese ¾bersetzung abgeschlossen. Ficino beschÇftigte sich aber auch mit ganz anderen Texten. Noch vor der ¾bersetzung der Platonischen Schriften schloß er zunÇchst einmal 1463 eine ¾bersetzung des Corpus Hermeticum ab. Diese ¾bersetzung, die 1471 gedruckt wurde, wurde ein großer Erfolg. Das Corpus Hermeticum ist eine im 2. und 3. Jhd. wahrscheinlich in ’gypten entstandene Sammlung von Texten, die sich als Offenbarung des Hermes Trismegistos prÇsentiert. Diese Schriften leben aus dem Synkretismus von griechischem und orientalischem Denken, dem wir schon im Mittel- und im Neuplatonismus begegnet sind (vgl. 1. Teil, Kap. XVI, 3, a und 4, b). Das erste Buch, der Poimandres (Menschenhirt) ist eine rein gnostische Schrift. Ficino legte dieses Werk aber nicht nur als ¾bersetzer vor, sondern grÜndete auf diese und Çhnliche Schriften zusammen mit platonischen Gedanken, ganz im Sinne Cosimo de’Medicis, eine ganze Weltanschauung. Die Ficino leitenden Interessen zeigen sich auch an weiteren ¾bersetzungen, die er nach Abschluß der Platon-¾bersetzung anfertigte. Es handelt sich um eine NeuÜbersetzung der Schriften des Dionysios Areopagita und um ¾bersetzungen der Schriften Plotins und Jamblichos’. Das ganze sich aus diesen Quellen ergebende »System« faßte er 1482 dann in seiner Platonischen Theologie (Theologia Platonica) zusammen. Die grÙßte und nachhaltigste - nicht nur die Philosophie, sondern die gesamte Renaissance-Literatur betreffende - Wirkung Übte aber sein Kommentar zu Platons Symposion aus. Die Lehre Ficinos war also kein historisch »reiner« Platonismus - den gab es damals Überhaupt nicht. FÜr Ficino war der Platonismus ebenso wie fÜr Zabarella der Aristotelismus kein einfacher Gegenstand historischer Interpretation, sondern eine lebendige Grundlage, in die auch andere Elemente eingehen sollten und die

Der Platonismus

weiterzudenken war. Philosophie wurde nicht historisierend betrieben, sondern als gegenwÇrtige Lebensform konzipiert. Dieses Weiterdenken und Weiterleben auf platonischer Grundlage zeigt sich z. B. schon in der Form von Ficinos Kommentar zu Platons Symposion (also einem Gastmahl mit Reden): Der Kommentar zum Gastmahl wird selbst in der Form eines Gastmahls (mit Reden) dargestellt, das zu Ehren Platons an dessen angeblichem Geburtstag-Todestag (7. November) abgehalten wird (wobei hier eine bis in die SpÇtantike reichende Tradition solcher Platon-GedÇchtnisFestessen aufgenommen wird). Platon wird also »verlebendigt«. Aber auch Platon sollte nur als, wenn auch autoritativer, Vermittler einer noch ursprÜnglicheren Weisheit verstanden werden. Ficino suchte ganz so wie die Neuplatoniker eine bis weit in die Zeit vor Platon reichende ¾berlieferung einer philosophischen Theologie aufzuspÜren, die er in den hermetischen Schriften, in den chaldÇischen Orakeln, in orphischen Hymnen, bei Pythagoras, bei Zoroaster, bei Platon und den Neuplatonikern finden wollte. Man wird dabei vor allem an Jamblichos erinnert (vgl. 1. Teil, Kap. XVI, 4), dessen Schriften Ficino sicher nicht nur Übersetzt, sondern sich auch lesend angeeignet hatte. Er bereitete so den - sachlich sehr problematischen - Begriff einer philosophia perennis, also einer »immerwÇhrenden Philosophie«, vor, der auch wenig spÇter unter dem Eindruck dieser Traditionslinie gebildet wurde. Wir sehen hier also die RÜckkehr der antiken Vorstellung einer »Weisheit«, einer alles umfassenden sapientia, deren Wurzeln noch vor der Entstehung der Philosophie liegen sollen. Man muß dabei aber sehen, daß das, was hier in der Renaissance in Florenz als die große antike Tradition angesehen wurde, von der man wieder ausgehen wollte, eigentlich gar nicht das darstellte, was wir unter »klassischer« antiker Philosophie verstehen, sondern viel eher die spÇtantike hellenistische Philosophie des 2. bis 5. Jhd.s, in die zahlreiche gnostische und orientalische Elemente nicht nur nebenbei, sondern maßgeblich eingegangen waren. Mit dieser RÜckkehr zu einer einheitlichen »Weisheit« ist auch eine Abkehr von jener Ein- und Aufteilung des Wissens in Bereiche gegeben, wie sie die großen Philosophen-Theologen des 13. und 14. Jhd.s, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Duns Scotus, Ockham u.a., vorgenommen hatten (vgl. 2. Teil, Kap. XIII, 3). Diese Entwicklung, eigentlich eine RÜck-Entwicklung, ist nicht unproblematisch, denn sie gab den Hintergrund fÜr Konflikte wie die um Galilei, die wissenschaftstheoretisch und wissenschaftsgeschichtlich eigentlich schon lÇngst Überholt waren. Man kann sich fragen, woher die große Resonanz kam, die Ficino und sein »Platonismus« in der Renaissance fand. Der Grund liegt vermutlich zunÇchst einmal, abgesehen von allen einzelnen Lehren, in der Grundthese Ficinos, daß diese philosophische Tradition mit der etwas jÜngeren Tradition des Christentums Übereinstimme. So jedenfalls Ficinos Meinung. Die ¾bereinstimmung erklÇrt sich historisch viel eher dadurch, daß es eben genau dieselbe Periode des 2. und 3. Jhd.s war, in der das Christentum - unter genau denselben kulturellen Bedingungen und im Rahmen genau derselben EinflÜsse - seine erste theoretische Form gefunden hatte

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(vgl. 2. Teil, Kap. I, 1). Ganz Çhnlich wie Augustinus - der ja in der Renaissance eine große Rolle spielte - gemeint hatte, die Platoniker mÜßten eigentlich alle unverzÜglich Christen werden (vgl. 2. Teil, Kap. III, 1), so dachte Ficino, daß alle Christen eigentlich Platoniker sein sollten. So ergab sich fÜr Ficino auch keine Schwierigkeit, in Florenz in der Kirche Santa Maria degli Angeli Ùffentliche Kurse Über Platon, Plotin und Paulus abzuhalten - so als ob all dies problemlos in den »Raum der Kirche« hineingehÙre. Faktisch ergab sich daraus so etwas wie die Vorstellung einer allgemeinen Religion, die sich unter verschiedensten Formen in den verschiedenen mythologischen, religiÙsen und philosophischen Traditionen wiederfindet. Ficino war nicht der einzige, der dieser Vorstellung anhing, Pico della Mirandola vertrat eine ganz Çhnliche ¾berzeugung, und sie waren nicht die einzigen. Um die GrÜnde darzulegen, die Pico della Mirandola zu einer »eingehenden BeschÇftigung mit der Philosophie nicht nur ermutigt, sondern gedrÇngt haben« (¾ber die WÜrde des Menschen. S. 33) beginnt er mit den »mosaischen und christlichen Mysterien« sowie der »Theologie der Alten« und fragt sich, wer denn nicht begehren wÜrde, »in solche heiligen Riten eingeweiht zu werden« (Ebd. S. 23), wird dann »fortgerissen durch die sokratischen VerzÜckungen«, »die Platon im Phaidros preist«, die ihn zum himmlischen Jerusalem tragen (Ebd. S. 25), kommt dann auf die »heiligen Namen Apolls« zu sprechen, die zeigen, »daß jener Gott nicht weniger Philosoph als Seher ist« (Ebd. S. 27), befragt weiterhin den »weisen Pythagoras« (Ebd.), wendet sich in der Folge den Schriften der ChaldÇer zu, wobei er auch auf Zarathustra zu sprechen kommt (Ebd. S. 29), und erwÇhnt schließlich die doch recht bunte Gruppe von David, Augustinus und den Kabbalisten (Ebd. S. 31). Er kannte Aristoteles und die Araber, Jamblichos und Plotin, Thomas von Aquin und Duns Scotus (Ebd. S. 43 und 45), beschÇftigte sich eingehend mit allen, »damit durch diese Vergleichung mehrerer Lehren und die Diskussion der vielgestaltigen Philosophie jener Glanz der Wahrheit, den Platon in seinen Briefen erwÇhnt, uns heller erleuchte, wie die aus der Tiefe emporsteigende Sonne« (Ebd. S. 45 und 47). Wie nicht anders zu erwarten, war das Resultat dieses Vorgehens weder bei Pico della Mirandola noch bei Ficino eine begrifflich allzu klare »Theorie«. Gerade darin lag jedoch ihre kulturelle Wirksamkeit. Viele Gebildete der Renaissance sahen sich außerstande, dem dogmatischen Christentum weiter zu folgen, waren aber ebensowenig richtige »Heiden«. Ficinos platonische Theologie, besonders in der Form des SymposionKommentars - selbst ein literarisches Meisterwerk - gab ein Hilfsmittel an die Hand, zunÇchst unvereinbar scheinende Vorstellungen miteinander zu verbinden und Konflikte zu umgehen: Man konnte gleichzeitig Nicht-Christ und Christ sein, philosophisch »aufgeklÇrt« und doch auch wieder »fromm«, »antik« und »modern«, usw.; Über alles legte sich ein literarisch-Çsthetischer Glanz, ganz undogmatisch, aber auch ziemlich unverbindlich. Scholastische SchÇrfe der Distinktionen hatte hier keinen Platz - die Ablehnung der mittelalterlichen Philosophie war eben nicht nur sprachlich, sondern auch »ideologisch« motiviert.

Der Platonismus

Diese Art des »Philosophierens« fand auch in hÙchsten kirchlichen Kreisen seine Zustimmung, nicht wenige Mitglieder dieser Schicht wollten ja selbst zugleich Christen und Nicht-Christen sein. Francesco Patrizi (1529–1597) verfaßte 1591 eine dem Papst Gregor XIV. gewidmete Neue Philosophie (Nova de universis philosophia), die natÜrlich ganz ausdrÜcklich die alte Weisheit wieder zur Geltung bringen, die Philosophie des Aristoteles ersetzen und christlich annehmbar sein sollte. Das Wohlwollen, das Patrizis Philosophie entgegengebracht wurde, lÇßt sich daraus ersehen, daß er 1592 zum Professor fÜr Platonische Philosophie an der rÙmischen UniversitÇt Sapienza ernannt wurde. Daß dieser Lehrstuhl fÜr Platonische Philosophie nach seinem Tod nicht wieder besetzt wurde, ist allerdings kennzeichnend fÜr den weiteren Gang der Geschichte. Die gesuchte Weisheit fand Patrizi ganz im Sinne Ficinos in den mythologischen ¾berlieferungen, die von Platon und den Neuplatonikern aufgenommen wurden. Patrizi stellte selbst eine Edition und ¾bersetzung der Elementatio theologica des Proklos her. Entsprechend der Konzeption des Proklos (vgl. 1. Teil, Kap. XVII, 4) rÜckt jetzt auch bei Patrizi der Parmenides in den Mittelpunkt der Platon-Interpretation. Proklos hatte ganz bewußt versucht, eine »heidnische«, d. h. nicht-christliche Philosophie und Religion zu verteidigen. Diese Intention wurde von Patrizi selbstverstÇndlich nicht Übernommen, und das ganze System des Proklos erhÇlt nun eine christliche Deutung. Die ausdrÜcklich nicht-christliche Philosophie des Proklos wurde also nach der ¾bernahme durch Dionysios Areopagita in der spÇten Antike und der im Liber de causis im Mittelalter nun also nochmals in der Renaissance christlich »vereinnahmt«. - Anders als Ficino ging Patrizi aber auf eine ausfÜhrliche Aristoteleskritik ein, die, wie zu erwarten, zwar vor allem am Gottesbegriff und an der Seelenlehre des Aristoteles ansetzte, aber doch auf eine prinzipielle Kritik der Metaphysik des Aristoteles abzielte. Andererseits Übernahm er im letzen Teil seiner Philosophia nova, der Physik, doch wieder aristotelische Thesen, die ganz Çhnlich auch bei den Paduaner Aristotelikern vertreten wurden - er selbst hatte ja zunÇchst Medizin in Padua studiert. Auch diese Strategie war von den Neuplatonikern der SpÇtantike vorgezeichnet: Aristotelische Prinzipien dÜrfen fÜr die »niedere«, physische und empirisch erfaßbare Welt gelten, wÇhrend fÜr die »hÙhere«, transempirsche Welt die platonische Metaphysik gilt. Der vollstÇndige Titel des Werkes von Patrizi war ein Programm: Neue Philosophie ¹ber das All, in der mit aristotelischer Methode zur ersten Ursache aufgestiegen wird, und dann auf eine neue und besondere platonische Weise die Gesamtheit der Dinge aus dem Sch³pfer-Gott abgeleitet wird. (Nova de universis philosophia, in qua aristotelica methodo ad primam causam ascenditur, deinde nova ac peculiari modo platonica rerum universitas a conditore Deo deducitur). Ferrara 1591. Es ist kaum mÙglich zu sagen, ob und, wenn ja, welche Zukunft eine solche theosophische Philosophie/Theologie im Sinne Ficinos oder Patrizis gehabt hÇtte. Am

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Beginn des 16. Jhd.s war mit Leo X. (1513–1521) ein Mitglied der Familie der Medici Papst geworden, und dieser war, erzogen von den besten Humanisten seiner Zeit, sicher mehr an Kunst und glÇnzenden Festen als an diffizilen Fragen der Auslegung von Glaubenswahrheiten interessiert. Am ehesten lag vermutlich tatsÇchlich eine ja auch sehr Çsthetisch ausgerichtete Philosophie wie die eines Ficino oder Patrizi auf der Linie dessen, was Leo X. und die weiteren Renaissance-PÇpste sich vorstellten. Die Dinge kamen aber ganz anders. Daß gerade Leo X. mit den Problemen der Reformatoren konfrontiert werden sollte, lag außerhalb von allem, was ihn eigentlich interessierte, und weder er noch einer seiner Nachfolger hat die jetzt einsetzende Diskussion um ein »authentischeres« Christentum verstanden. Es ist hier nicht der Ort, die Reformation zu behandeln. Philosophiegeschichtlich ist nur festzustellen, daß das, was in der Zeit der Renaissance im Bereich der Philosophie diskutiert worden war, dann in den Auseinandersetzungen mit den Reformatoren nicht nur in den Hintergrund gedrÇngt wurde, sondern dort eigentlich gar keine Rolle spielte. Am Konzil von Trient (1545–1563) wurde eine schon ziemlich erstarrte Form des scholastischen Thomismus zur offiziellen Lehre der Kirche erhoben, und in den spÇteren protestantischen UniversitÇten setzte sich eine Schulphilosophie durch, in der auch wieder nicht wenige Elemente aus der scholastischen Philosophie Übernommen wurden. Obwohl sich die Diskussionen und einzelne Konflikte mit den offiziellen Vertretern der verschiedenen Konfessionen noch sehr lange hinziehen sollten - selbst Kant mußte sich in seinem Streit der FakultÇten noch damit auseinandersetzen -, ist die weitere Entwicklung der Philosophie doch nicht mehr vom GegenÜber zum christlichen Glauben bestimmt. Die nach-scholastische Philosophie der verschiedenen Kirchen war fÜr den weiteren Gang der Philosophie von keiner Bedeutung. Aber die fÜr die weitere Entwicklung der Philosophie entscheidenden Fragen wurden auch nicht von Pico della Mirandola, Ficino und Patrizi, also den fÜr das allgemeine Bewußtsein im Vordergrund stehenden Philosophen der Renaissance, gestellt, sondern von deren weniger bekannten Zeitgenossen Zabarella und Telesio (vgl. weiter unten 5 und 6). Außerdem sollten wir nicht vergessen, daß auch Francis Bacon (vgl. Kap. III) noch ein Philosoph der Renaissance ist, und dort sind wir bereits auf dem Weg in eine andere »Welt«. Geblieben ist trotz aller ErnÜchterung der Aufruf der frÜhen Philosophen der Renaissance, wie er am besten in Pico della Mirandolas Rede zum Ausdruck kommt, sich nicht mehr von vorgegebenen Ordnungen bestimmen zu lassen, sondern die Gestaltung des Lebens selbst in die Hand zu nehmen.

4. Die Platon-Aristoteles-Diskussion Die scholastische Philosophie wurde zur Zeit des Humanismus und der Renaissance als aristotelisch geprÇgt aufgefaßt. Dies ist zwar philosophiegeschichtlich nur sehr bedingt korrekt, als Ansatzpunkt der damaligen Diskussion aber durchaus verstÇnd-

Die Platon-Aristoteles-Diskussion

lich. Aufgrund der im 15. und 16. Jhd. vorhandenen Textgrundlage der Werke Platons konnte die Frage nach dem VerhÇltnis von Platonismus und Aristotelismus in einer frÜher gar nicht mÙglich gewesenen Weise gestellt werden. Diese Frage wurde allerdings nicht in Richtung der Analyse einer historischen Lehrentwicklung, sondern als Geltungsfrage diskutiert. Da die Platonischen Dialoge zunÇchst aber noch nicht in einer lateinischen Gesamt-¾bersetzung vorlagen, ist es nicht verwunderlich, daß diese Diskussion vom griechischen Bereich ausging. Die ganze Fragestellung ist aber doch eher eine der lateinischen als eine der griechischen Philosophie. In dieser Diskussion spielte der schon genannte Gemistos Plethon eine entscheidende Rolle. Plethon verfaßte nach 1439 eine, allerdings fÜr lateinische Leser verfaßte, Streitschrift De differentiis Aristotelis et Platonis, in der er die ¾berlegenheit der platonischen Lehren gegenÜber den aristotelischen beweisen und gleichzeitig Platon gegen Aristoteles fÜr eine theologische Verwendung empfehlen wollte. Dabei vertrat er aber keineswegs die vorherrschende Meinung der byzantinischen Gelehrten, bei denen es eine gute aristotelische Tradition gab. Georgios Scholarios griff auch sofort (1443) Plethons Auffassung an und verteidigte die auch im byzantinischen Bereich traditionelle Verwendung aristotelischer Philosophie in der Theologie (vgl. 2. Teil, Kap. V, 5). Um die Mitte des 15. Jhd.s verfaßte dann Georgios Trapezuntios (1396–1484), ein Grieche, der aber in Italien lebte, die Schrift Comparationes philosophorum Platonis et Aristotelis, in der er auch wieder die Vorrangstellung des Aristoteles gegenÜber Platon verteidigte. FÜr eine sachgerechte Diskussion war aber diese rein polemische Schrift nicht geeignet und mußte eine Entgegnung hervorrufen. Die kam auch prompt von dem berÜhmten Kardinal Bessarion (1403–1472). Dieser war als Bischof der griechisch-orthodoxen Kirche am Konzil von Ferrara/Florenz (1438/1439) in leitender Funktion tÇtig gewesen, war dann zur katholischen Kirche Übergetreten und unverzÜglich zum Kardinal ernannt worden. Sein Haus in Rom wurde ein Treffpunkt von Gelehrten - genannt Academia Bessarionis -, und er stand im Briefwechsel mit Nikolaus von Kues, Marisio Ficino und anderen. Bessarion wurde zum wichtigsten Kontakt- und Schnittpunkt lateinischer und griechischer Philosophie. Er hatte eine große Anzahl griechischer Handschriften nach Italien mitgebracht und erweiterte seinen BÜcherbestand stÇndig, so daß er schließlich die grÙßte Bibliothek griechischer Texte im lateinischen Westen besaß (die heute grÙßtenteils in der Marciana in Venedig erhalten ist). Bessarion hatte bei Plethon studiert und war somit als Platonkenner ausgewiesen, er hatte sich aber auch intensiv mit Aristoteles befaßt, von dessen Metaphysik er eine neue lateinische ¾bersetzung hergestellt hatte. In seiner ursprÜnglich griechisch abgefaßten, umfangreichen Schrift In calumniatorem Platonis verteidigte er die Lehre Platons gegenÜber Georgios Trapezuntios. Seine Arbeit hatte aber eine weit Über diesen konkreten Anlaß hinausgehende Bedeutung, insofern in ihr zum ersten Mal eine zusammenh›ngende Darstellung der Lehre Platons geliefert wurde. Erst durch diese Darstellung wurde es mÙglich, von »Platonismus« als einem philosophischen System zu sprechen, das somit einem anderen, also dem

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aristotelischen, gegenÜbergestellt werden konnte. In der Bestimmung des VerhÇltnisses der Lehren der beiden Philosophen blieb Bessarion im Rahmen der spÇtantiken, vor allem neuplatonischen, Auffassung, daß die Philosophie des Aristoteles fÜr die Fragen der Physik gut geeignet sei, daß aber in der Metaphysik doch Platon der Vorrang zukÇme. Bessarion ging auch in sehr sachkundiger Weise auf die Frage ein, in welcher Weise die beiden Philosophen fÜr eine Darstellung der christlichen Lehre gebraucht werden kÙnnten. Daß er hier eine NÇhe von Platonismus und Christentum meinte feststellen zu kÙnnen, ist nicht verwunderlich, da er sich dabei auf Dionysios Areopagita bezog, der zu seiner Zeit ja immer noch als autoritativer Autor des FrÜhchristentums angesehen wurde, obwohl Lorenzo Valla schon seine Zweifel an dieser Zuschreibung und Datierung geÇußert hatte und Valla zum Freundeskreis um Bessarion gehÙrte. Das Werk Bessarions war eines der ersten, das in Italien gedruckt wurde, und fand schon deshalb große Verbreitung, wie ja Überhaupt die Erfindung des Buchdrucks fÜr den Einfluß des Humanismus von ganz entscheidender Bedeutung war. Der Streit um Platon und Aristoteles setzte sich noch ins 16. Jhd. hinein fort. Er wurde aber hauptsÇchlich von Literaten gefÜhrt, die besten Aristoteliker der Zeit beteiligten sich nur wenig daran. Der Streit um den Vorrang von Platonismus oder Aristotelismus hatte aber eine weit Über den Humanismus und die Renaissance hinausgehende Bedeutung, insofern durch ihn das Bewußtsein dafÜr geschÇrft wurde, daß in der griechischen philosophischen Tradition Richtungen vorlagen, die keineswegs auf einen Nenner zu bringen waren. Sogar AnsÇtze zu einer Historisierung waren vorhanden, so etwa, wenn Bessarion, dem es durchaus klar war, daß Platons Staat (Politeia) fÜr aufgeklÇrte italienische StadtbÜrger erhebliche Probleme aufwerfen mußte, »entschuldigend« auf ZeitumstÇnde hinwies und auch darauf, daß Platon selbst in den Gesetzen (Nomoi) Korrekturen vorgenommen habe. Bessarions Werk stellt in Hinsicht auf eine »objektive« Darstellung der Lehren Platons und Aristoteles’ zweifellos einen HÙhepunkt dar und hÇtte eigentlich Anlaß zu weiteren Studien in dieser Richtung geben kÙnnen. Daß es dazu aber dann in der Zeit der Renaissance doch nicht kam, hÇngt damit zusammen, daß wiederum versucht wurde, aus der platonischen Philosophie eine Überzeitlich gÜltige Weltanschauung zu machen - und damit sind wir wieder bei Marsilio Ficino.

5. Aristotelismus Es wurde eben gesagt, daß verschiedene bedeutende Vertreter des Humanismus und der Renaissance wie z. B. Petrarca oder Valla sich mit ziemlicher SchÇrfe gegen die Scholastik gewendet hatten. Der Ausdruck »Scholastik«, d. h. Philosophie der Schule, entstand ja erst zu dieser Zeit und zwar als bewußt polemischer Ausdruck, und Aristoteles galt als der Lehrmeister dieser Schulphilosophie. Die Huma-

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nisten strebten aber gerade keine Philosophie der Schule an, sondern eine des individuellen wie des gesellschaftlichen - Lebens. Daraus kÙnnte der Eindruck entstehen, die Periode des Humanismus und der Renaissance sei eine Zeit der Abkehr von der Scholastik und damit von Aristoteles gewesen. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstÇrkt, daß bei der Darstellung der Philosophie der italienischen Renaissance gewÙhnlich die Platonische Akademie von Florenz als typische Institution dieser Periode hervorgehoben wird, so daß dann Renaissance-Philosophie mit Platonismus fast gleichgesetzt wird. Dieser Eindruck tÇuscht jedoch. Es gibt einen Aristotelismus der Renaissance, der einerseits spÇtmittelalterliche ¾berlieferungen aufnimmt, der aber andererseits auch ganz und gar in die Bewegung des Humanismus hineingehÙrt. Die BeschÇftigung mit Aristoteles fand hauptsÇchlich an den Universit›ten statt, von denen die von Padua inzwischen die wichtigste geworden war. Die UniversitÇt von Padua war eigentlich die des Kleinstaates Venedig und die traditionell engen Beziehungen Venedigs zu Byzanz wurden wichtig fÜr die Beschaffung griechischer Handschriften von Aristoteles-Texten. Seit dem 14. Jhd. erlebte der Aristotelismus in Italien sogar einen großen Aufschwung, gerade zu der Zeit also, zu der in Paris und Oxford die Bearbeitung und Diskussion Aristotelischer Schriften zurÜckging. Dieser Aristotelismus entwickelte sich wÇhrend der ganzen Periode der Renaissance kontinuierlich weiter und wirkte sogar weit Über Italien hinaus. Zeitlich reichte sein Einfluß bis ins 17. Jhd. hinein. Entsprechend den besonderen BedÜrfnissen vor allem der medizinischen FakultÇt wurde besonders die aristotelische Naturphilosophie aus Paris und die aristotelische Logik aus Oxford Übernommen. Der Aristotelismus war im 14. und 15. Jhd. in Italien keineswegs ein schon immer bearbeitetes Gebiet, sondern weithin echte Neuentdeckung. Wichtig dafÜr war, daß unter humanistischem Einfluß eine bessere Textgrundlage erarbeitet wurde. Die humanistischen Aristotelesbearbeiter stÜtzten sich dabei auch auf eine von der mittelalterlichen arabischen Aristotelesrezeption verschiedene TextÜberlieferung, nÇmlich die byzantinische. Diese TextÜberlieferung war besser als jene, die die Araber zur VerfÜgung gehabt hatten, sie war weniger neuplatonisch gefÇrbt und brachte so einen »authentischeren Aristoteles« ans Licht. Die Texte kamen entweder durch Abschreiben nach Italien oder sie wurden im Zusammenhang mit den TÜrkenkriegen geraubt. Nach dem Fall von Byzanz im Jahre 1453 flÜchteten griechische Gelehrte auch mit ganzen Bibliotheken nach Italien. Dieser »reinere« Aristoteles kam den mehr empirisch interessierten Medizinern der Paduaner UniversitÇt entgegen. Die »weltliche« bzw. jedenfalls theologiefreie Interpretation der Schriften des Aristoteles setzte sich hier durch, die Aufteilung des Wissens in Bereiche war hier eine SelbstverstÇndlichkeit. Die Vorstellung einer Übergreifenden, Religion und Wissenschaft zusammenfassenden »Weisheit« in der Art Ficinos lag diesen Aristotelikern ganz fern. Es gab einige aufsehenerregende Diskussionen, so etwa die um den Aristoteliker Pietro Pomponazzi (1462–1525), der die Sterblichkeit der menschlichen Seele lehrte. Er stÜtzte sich dabei auf die spÇtantike Aristoteles-Interpretation des Alexander von

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Aphrodisias (2./3. Jh. n. Chr.), was ihn zur Ablehnung der averroistischen Annahme einer Überindividuellen unsterblichen Seele (vgl. 2. Teil, Kap. IX, 2, i) fÜhrte. Diese These bedeutete aber, daß die menschliche Seele als Ganze sterblich ist, was wiederum die Kritik anderer Aristoteliker - vor allem die des Agostino Nifo (1473 – nach 1538) hervorrief. Dieser Streit, der an sich nicht besonders bedeutend ist, schÇrfte jedoch das Bewußtsein um die Verschiedenheit der spÇtantiken alexandrinischen und der arabischen Aristotelesinterpretation, und dies war nicht unerheblich fÜr ein, allerdings sehr langsam wachsendes historisches VerstÇndnis der Philosophie. Aber auch Bessarion hatte in dieser Hinsicht ja nur einen kleinen Beitrag leisten kÙnnen. Es folgte, wie zu erwarten war, eine kirchliche Verurteilung (DS 1440), und Pomponazzi vertrat dann - er hatte seinen Averroes doch gut gelesen die Auffassung, die Vorstellung der Unsterblichkeit mit Lohn und Strafe sei fÜr das Volk erforderlich, um es zu einem sittlichen Leben zu bringen. Und im Übrigen betonte er seine RechtglÇubigkeit, was wiederum den Verdacht hervorrufen mußte, er vertrete die Lehre von der doppelten Wahrheit. (Es ist schon erstaunlich, mit welcher Konstanz sich Über gut ein halbes Jahrtausend die Argumentationsfiguren zwischen den Offenbarungsreligionen Islam/Judentum/Christentum und aristotelischer Philosophie wiederholten.) Die Diskussion um die Seelenlehre und andere Thesen Pomponazzis setzte sich bis ins 17. Jhd. und weit Über die Grenzen Italiens hin fort. FranzÙsische AufklÇrer beanspruchten ihn gerne als einen ihrer VorlÇufer. Kennzeichnend fÜr diese Sicht ist z. B. das Dictionnaire historique et critique von Pierre Bayle (1647–1706). Ob diese Rolle Pomponazzi wirklich zukommt, hÇngt natÜrlich von der Frage ab, ob seine Versicherungen der RechtglÇubigkeit nur Taktik waren oder nicht, eine Frage, die aber der Historiker wieder einmal kaum beantworten kann. Pomponazzi, der in Padua und spÇter in Bologna lehrte, konnte aber trotz heftiger Angriffe seine LehrtÇtigkeit fortsetzen. In Hinsicht auf die Naturwissenschaften vertrat er rigoros die Auffassung, daß dort alle ÜbernatÜrlichen ErklÇrungen wie z. B. gÙttliche Wunder ausgeschlossen werden mÜssen, weshalb sein Werk ¾ber die Ursachen der natÜrlichen Wirkungen (De naturalium effectuum causis), das er klugerweise nicht verÙffentlicht hatte und das erst 1556 gedruckt wurde, noch 1590 von der Kirche auf den Index (= Liste der verurteilten BÜcher) gesetzt wurde. In einem weiteren - ebenfalls zu seinen Lebzeiten unverÙffentlichten, in seinem Inhalt aber doch bekannten - Werk ¾ber das Schicksal, den freien Willen und die Vorherbestimmung (De fato, de libero arbitrio et de praedestinatione) stellte er sich gegen Aristoteles auf die Seite des stoischen Schicksalsglaubens mit der dementsprechenden Leugnung des freien Willens, worauf man ihn beschuldigte, die lutherische Lehre von der PrÇdestination zu verteidigen. Die Situation war ziemlich unÜbersichtlich geworden: Wer mit der katholischen Lehre nicht Übereinstimmte, wurde in Beziehung zu den Reformatoren gesetzt, ganz gleich, ob er irgend etwas mit diesen zu tun hatte oder nicht. Die UniversitÇt Padua wurde, wie schon gesagt, zu einem Zentrum aristotelischer Wissenschaft. Der bedeutendste Aristoteliker war Giacomo Zabarella (1533–1589),

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der aus Padua stammte und an der dortigen UniversitÇt Logik und spÇter auch Naturphilosophie lehrte. Ausgangspunkt war fÜr Zabarella selbstverstÇndlich die 2. Analytik des Aristoteles, zu der er auch einen umfangreichen Kommentar verfaßte. Zabarella betrachtete die 2. Analytik aber nicht als autoritative Vorgabe, sondern als Ausgangspunkt weiterer ¾berlegungen. FÜr ihn ist der Aristotelismus zwar der allgemeine und gÜltige Rahmen, innerhalb dessen aber sehr wohl Weiterbildungen, Vervollkommnungen und auch Korrekturen vorgenommen werden kÙnnen und mÜssen. Zabarella behandelte den Methodenbegriff der Wissenschaft vÙllig metaphysikfrei. Eine wissenschaftliche Theorie ist ein geordnetes GefÜge von SÇtzen. Der Begriff des ordo, der Ordnung, ist zunÇchst rein methodologisch gefaßt und kann dann auf verschiedenste Gebiete angewandt werden. Wichtig fÜr die weitere Entwicklung wurde seine klare Unterscheidung zwischen ordo compositivus (syntheticus) und ordo resolutivus (analyticus) (vgl. z. B. Opera logica. Sp. 230e–231a). Der ordo resolutivus beschreibt die anzuwendende Strategie bei der Forschung, es ist dies der Weg von den Wirkungen zu den Ursachen, der ordo compositivus ist die systematische Darstellung gewonnener Forschungsergebnisse, also der Weg von den Ursachen zu den Wirkungen. Nur die synthetische (compositive) Darstellung kann von Prinzipien ausgehen, von denen dann weiteres abgeleitet wird. Diese Form der Darstellung fÜhrt allerdings zu keinen neuen Ergebnissen. Forschung fordert jedoch ein Ausgehen von bekannten Einzelfakten, von deren Zusammensetzung dann zu allgemeineren Prinzipien fortgeschritten werden kann. Die Induktion (im modernen Sinn des Wortes), also die Verallgemeinerung von Beobachtungsergebnissen von EinzelfÇllen, gehÙrt nach Zabarella zur resolutio, da auch sie von Wirkungen auf Ursachen schließt (Ebd. Sp. 268b–270e). Die systematische Darstellung, d. h. die compositio, mag dann durchaus umgekehrt sein; macht man jedoch aus dieser systematischen Darstellung den Begriff der wissenschaftlichen Methode, so hat man keinen fÜr Forschung geeigneten Methodenbegriff. Nichtsdestoweniger hÇlt Zabarella daran fest, daß das letzte Ziel der Wissenschaft in der compositio zum Ausdruck kommt, da nur in ihr eine Erkenntnis stattfindet, in der ausgehend von Prinzipien FolgesÇtze logisch abgeleitet werden. Das Methodenideal ist also auch noch bei Zabarella bestimmt von dem Modell der Geometrie, in der es eine resolutio Überhaupt nicht gibt (Ebd. Sp. 265f–267d). Der Weg von der resolutio zur compositio liefert jedoch nicht nur zwei verschiedene Darstellungsweisen, sondern bringt auch einen Erkenntnisfortschritt: Unsere Begriffe gehen dabei vom Konfusen zum Distinkten Über (Ebd. Sp. 488d– 489e). Die spÇter, z. B. bei Descartes und Leibniz, so wichtige Unterscheidung von konfusen und klaren Ideen, stellt also bei Zabarella nicht eine dar, die Begriffe in verschiedene Klassen einteilt, sondern bringt einen Erkenntnisfortschritt zum Ausdruck. - Solche Unterscheidungen erscheinen uns heute recht simpel, dabei Übersehen wir aber den historischen Abstand: Wir bemÇngeln, daß es in dieser Methodologie noch nicht klar war, daß alle empirische Forschung (analytisch im Sinn Zabarellas) von einer Theorie geleitet sein muß (synthetisch im Sinn Zabarellas). Man

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muß jedoch sehen, daß der traditionelle Wissenschaftsbegriff - orientiert an metaphysischer Prinzipienerkenntnis - der ordo syntheticus gewesen war und man so kaum zu einem geeigneten Methodenbegriff empirischer Forschung gelangen konnte. Zabarella verbindet nun den empirischen Forschungsbegriff, der analytisch gedacht ist, mit dem systematischen Theoriebegriff, der synthetisch (deduktiv) gedacht ist, wobei der letztere fÜr die logische Beweisstruktur entscheidend ist. Die Relevanz der Empirie fÜr die Forschung ist hier schon ziemlich deutlich erfaßt, was noch fehlt, ist der ausdrÜcklich eingefÜhrte Begriff des Experiments, d. h. der zur ¾berprÜfung einer Theorie planvoll aufgesuchten Erfahrung. Zabarellas WissenschaftsverstÇndnis blieb traditionell theoretisch. Dies zeigt auch seine Einordnung der Medizin, was ihn auch in eine gewisse Spannung zu seinen Kollegen von der in Padua sehr ausgebauten und fortschrittlichen FakultÇt der Medizin brachte. Die Medizin gehÙrte nach der Auffassung Zabarellas nicht zu den Wissenschaften, sondern zu den KÜnsten. SelbstverstÇndlich anerkannte Zabarella, daß die Mediziner mit der resolutio, also dem Suchen nach allgemeineren Ursachen aufgrund von Beobachtungsdaten arbeiteten, und ohne Zweifel ist einiges von dem, was er an Forschungsmethoden bei den ’rzten beobachten konnte, in seine Beschreibung des resolutiven Verfahrens eingegangen. Aber er vertrat dann doch die Auffassung, daß die Medizin keine Wissenschaft sei, weil sie kein theoretisches, sondern ein praktisches Ziel, nÇmlich die Heilung des Kranken, hat (Ebd. Sp. 60c–62a). Die systematische Rekonstruktion der in der medizinischen Forschung gewonnen Ergebnisse, also die compositio, wird seiner Meinung nach aber nicht mehr in der Medizin, sondern in der Naturphilosophie geleistet. Zabarella hat nicht erkannt, daß es der Weg der Methodologie sein wird, daß jedenfalls ein Teil der Naturphilosophie an die Theorie der empirischen Wissenschaften »abgegeben« werden wird. Letztlich steht hinter dieser Einordnung Zabarellas auch die traditionelle aristotelische Auffassung der wertenden ¾berordnung der Theorie gegenÜber der Praxis, was somit vermutlich der eigentliche Grund dafÜr ist, daß er das Experiment, das immer noch als etwas eher Handwerkliches, also als eine tµchne, angesehen wurde, in seiner Relevanz fÜr den Forschungsund Wissenschaftsbegriff nicht in seiner prinzipiellen Rolle erkennen konnte. Und damit sind wir bei Zabarellas Nachfolger und dessen Kollege. Der Nachfolger Zabarellas war Cesare Cremonini (1550–1631) und mit diesem war Galilei, der seit 1592 in Padua tÇtig war, befreundet. Es gibt sicher gewisse Gemeinsamkeiten zwischen den Auffassungen der Paduaner Aristoteliker und denen Galileis. Die Unterscheidung in metodo resolutivo und metodo compositivo spielt eine zentrale Rolle in der Wissenschaftstheorie Galileis (vgl. Kap. IV). Trotzdem ist es kaum richtig, Zabarella und Cremonini als VorlÇufer Galileis anzusehen. ZunÇchst gilt, daß bei Galilei die beiden metodi nicht nebeneinander stehen, sondern Elemente an einem Forschungsprozeß werden: Der metodo resolutivo wird zur ¾berprÜfung einer im metodo compositivo aufgestellten Hypothese. Und weiterhin ist zu sagen, daß Galilei die methodologische Rolle der Mathematik als konstitutiv fÜr Naturwissenschaft auffaßte, was keine For-

»Humanistische Logik«

derung der aristotelischen Wissenschaftslehre darstellte. In historischer Hinsicht gilt, daß fÜr die Beziehung von Physik und Mathematik nicht der Aristotelismus, sondern der Platonismus maßgebend wurde. - Der Paduaner Aristotelismus blieb auf lange Zeit hin einflußreich. Die deutschen protestantischen UniversitÇten waren bis weit in das 17. Jhd. hinein geprÇgt von dieser Form des Aristotelismus.

6. »Humanistische Logik« - Logik zur Zeit des Humanismus Der Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit der traditionellen, d. h. der spÇtmittelalterlichen Logik, war das humanistische Bildungsprogramm, das von der klassischen, vor allem der lateinischen Antike geprÇgt war. Ein ganz zentrales Bildungsziel war die wohlgeformte Rede, fÜr die das Vorbild selbstverstÇndlich in den Schriften des berÜhmtesten Redners der rÙmischen Antike, also bei Cicero, gesucht wurde. Dazu kamen auch die wiederentdeckten Institutiones oratoriae Quintilians. Cicero hatte nicht nur Reden verfaßt, sondern sich auch mit theoretischen Fragen der korrekten und wirkungsvollen Argumentation befaßt, so vor allem in der Topik. Diese Schrift war im Mittelalter auch durch den Kommentar des Boethius dazu immer bekannt gewesen. Allerdings war dieser Boethius-Kommentar in der Philosophie des Mittelalters kaum bearbeitet worden, vermutlich deshalb, weil die mittelalterlichen Philosophen mit den vielen Beispielen aus dem rÙmischen Recht nicht viel anfangen konnten. Cicero behandelte in seiner Topik, die schon in der Antike sehr einflußreich gewesen war, auch, allerdings in sehr rudimentÇrer Weise, Probleme der Logik. Schon von da aus gehÙrte auch die Logik zu dem von den Humanisten bearbeiteten Gebiet. Daß Grammatik und Rhetorik dazugehÙrten, verstand sich von selbst. Mit dem Bildungsbereich Grammatik-Rhetorik-Logik standen die Humanisten in der mittelalterlichen Tradition der Freien KÜnste. Allerdings hatte die Rhetorik im Mittelalter nie eine fÜr die Logik formgebende Funktion gehabt. Bei den Humanisten aber stand die Rhetorik im Vordergrund. Sie suchten daher mit RÜckgriff auf Cicero eine der Bildung, und dies hieß vor allem: der literarischen Bildung, nÇherstehende Logik zu entwickeln. Dies war das Programm Vallas, wie er es in Auseinandersetzung mit der Tradition vor allem in seinen Dialecticae disputationes contra Aristotelicos von 1439 entwickelte: Die Logik sollte wieder von der gesprochenen Sprache ausgehen und sollte der wirkungsvollen Rede dienen. Im Rahmen dieser Aufgabenstellung zieht Valla eine große Anzahl von Argumenten heran, von denen nur eine kleine Gruppe in die Form formal gÜltiger Argumentationsschemata gebracht werden konnte. Man muß sich dabei vor Augen halten, daß im allgemeinen die Auffassung vertreten wurde, daß eigentlich nur die Syllogistik formal gÜltige Argumente liefert. Bei Valla wird jedoch die Topik zur Rahmentheorie des gÜltigen Argumentierens. Dies hÇtte eigentlich zu einer neuen Systematik der Logik fÜhren kÙnnen, tatsÇchlich ist aber weder Valla noch einem seiner Nachfolger ein solcher systematischer Neuaufbau geglÜckt.

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Von den italienischen Humanisten wurde nur ein allgemeines Bildungsprogramm vorgelegt, der erste Versuch einer DurchfÜhrung dieses Programms in Hinsicht auf die Logik stammt von Rudolf Agricola (1443–1485), der aus den Niederlanden stammte, aber in Italien studiert hatte. Bekannt und einflußreich wurde Agricola durch seine Schrift De inventione dialectica (abgeschlossen um 1480, gedruckt 1515), in der das Auffinden guter PrÇmissen behandelt und die Frage der Beurteilung der Argumente, also das traditionell zentrale Gebiet der Logik, nur nebenbei erwÇhnt wird. Agricola griff dabei auf die Kritik Ciceros an der stoischen Logik zurÜck. Cicero hatte kritisiert, daß die Stoiker sich zu sehr auf die formale GÜltigkeit der Ableitungen konzentriert und zu wenig die Aufgabe des Auffindens (inventio) guter PrÇmissen beachtet hatten. Das Auffinden guter PrÇmissen und deren logische Analyse stellt eigentlich jene Aufgabe der Logik dar, die Aristoteles in seiner Topik behandelt hatte. Agricola setzte dann auch ausdrÜcklich die inventio an den Anfang der Logik, so daß diese den systematischen Vorrang vor der Beurteilung der GÜltigkeit der Argumente (iudicium) erhielt (De inventione dialectica I, 1. S. 7 f., und II, 1. S. 142). Ein Grundproblem der Dialektik Agricolas liegt in dem, was er sich von der Logik erwartete: Die Dialektik soll Verfahren zur ProblemlÙsung bereitstellen, beim Syllogismus ist aber die LÙsung eigentlich schon in den PrÇmissen enthalten. Um an ProblemlÙsungen arbeiten zu kÙnnen, muß die Dialektik nach der Auffassung Agricolas vor allem PrÇmissen heranziehen, die nicht schon die LÙsung liefern, sondern die innerhalb einer Diskussion nur die MÙglichkeit geben, die wahrscheinlichere LÙsung herauszufinden. Die Dialektik wird daher bei ihm definiert als die Kunst, mit Wahrscheinlichkeits-Gr¹nden zu argumentieren (ars probabiliter de qualibet re proposita disserendi [Ebd. II, 2. S. 155]). FÜr ein solches Verfahren hat selbstverstÇndlich die Wahrheitsfindung im Gerichtsprozeß eine paradigmatische Bedeutung. Von diesem Ausgangspunkt hÇtte es nahegelegen, eine Wahrscheinlichkeitslogik als umfassende Theorie aufzubauen und dann die deduktive, syllogistische Logik als Grenzfall derselben darzustellen. Eine solche systematische Neuorientierung liegt bei Agricola jedoch nicht vor. Dabei ist allerdings zu berÜcksichtigen, daß man nicht ausschließen kann, daß Agricola nach der Schrift De inventione auch eine De iudicio plante. Er starb jedoch schon bald nach Abfassung von De inventione dialectica, und so konnte nur das schon vorliegende Werk Einfluß gewinnen. Dieser Einfluß war allerdings ziemlich groß, denn das Buch erlebte viele Auflagen. - Sowohl bei Valla als auch bei Agricola lagen also Ansatzpunkte vor, die dazu hÇtten fÜhren kÙnnen, den Begriff der Logik weiter zu fassen und eine formal strenge Theorie aufzubauen, innerhalb derer die Syllogistik dann nur als TeilkalkÜl aufgetreten wÇre. Ein solcher Neuaufbau ist aber den humanistischen Logikern nicht geglÜckt und sie haben ihn gar nicht versucht, sie blieben am Modell der Logik als Syllogistik verhaftet. FÜr einen Neuaufbau der Logik im angegebenen Sinn mÜssen wir bis Leibniz warten. Agricolas Vorstellungen waren dann auch der Ausgangspunkt fÜr Petrus Ramus (Pierre de la Ramµe, 1515–1572). Petrus Ramus wurde der fÜr die weitere Geschichte

»Humanistische Logik«

wichtigste Vertreter der neuen Richtung der Logik, der diese noch dazu in das klassische Zentrum der Logik, d. h. in Paris, einfÜhrte. Er schrieb zwar auch ziemlich viele Werke auf Latein, verfaßte aber außerdem das erste eigentlich philosophische Werk auf FranzÙsisch, die Dialectique von 1555. Ramus erregte seit seiner Magisterarbeit Aristotelicae animadversiones Aufsehen durch heftige Angriffe auf die aristotelische Philosophie. Diese Kritik ebenso wie die vielen Dichterzitate, die sich in der Dialectique finden, ließen Ramus als typischen und bedeutendsten Vertreter der humanistischen, fÜr Zwecke der Rhetorik und der literarischen Bildung entworfenen Logik erscheinen. Dieser Eindruck tÇuscht jedoch. Ramus unterschied sehr genau zwischen Rhetorik und Dialektik, d. h. Logik. Eine Unterordnung der Logik unter die Rhetorik kommt fÜr ihn nicht in Frage. Ramus verwendet tatsÇchlich viele Texte aus literarischen Quellen, diese haben jedoch eine streng logische Funktion in einem pÇdagogischen, aber auch systematischen Kontext. Ramus vertritt die im Prinzip gut aristotelische ¾berzeugung, daß die Logik ihre Regeln nicht erfindet, sondern sie schon in der Sprache vorfindet. Um diese Regeln aufzufinden, zieht also Ramus Texte jener heran, von denen er annimmt, daß sie die Regeln der Sprache besonders gut beherrschen, und dies sind eben die Dichter. Diese dienen ihm aber weder als AutoritÇt noch als nachahmenswerte Vorbilder, sondern als Beispiel korrekten Argumentierens. Die GÜltigkeit des argumentativen Vorgehens hÇngt dann nur von der GÜltigkeit der Form der Argumentation ab. Die Angriffe gegen Aristoteles und die Scholastik, mit denen sich Ramus viele Feinde geschaffen hatte, erweisen sich daher als nicht sehr aufschlußreich fÜr das eigentlich bei ihm vorliegende Vorgehen. Er liefert der didaktischen Form und Darbietung nach eine »humanistische Logik«, jedoch keine, welche die logischen Formen selbst betrifft. Soweit es die Regeln der Logik betrifft, hat Ramus durchaus aristotelisch gearbeitet. Ramus war zu seiner Zeit ein sehr bekannter, gleicherweise geschÇtzter wie angefeindeter Lehrer. Als er schließlich als Kalvinist im Zusammenhang der BartholomÇusnacht ermordet wurde, stieg seine WertschÇtzung in kalvinistischen LÇndern sehr stark, wÇhrend sein Einfluß in Paris bald wieder von den traditionellen Aristotelikern zurÜckgedrÇngt wurde. An deutschen UniversitÇten gab es noch bis ins 17. Jhd. hinein erbitterte Auseinandersetzungen zwischen AnhÇngern der ramistischen und philippischen Logik (= die von Melanchton ausgehende Logik). Vom eigentlichen Niveau logischer Untersuchungen aus gesehen wird man jedoch sagen mÜssen, daß die Logik des Petrus Ramus, so einflußreich sie auch zeitweilig war, als eher dÜrftig anzusehen ist; dasselbe gilt auch fÜr die Logik des Philipp Melanchton (1497–1560), der 1520 sein erstes Lehrbuch zur Logik verfaßte, die Compendiaria dialectices ratio. Ausgangspunkt fÜr Melanchton war ebenso wie fÜr Ramus die Dialektik Agricolas. Melanchton gelangte in der Folge aber dann doch zu der Einsicht, daß die Logik nicht auf die Topik beschrÇnkt werden dÜrfe, wenn mit ihr eine umfassende methodische Grundlegung aller Wissenschaften erreicht werden sollte. Diesem Anliegen entsprach dann ein weiteres Lehrbuch, die Erotemata dialectices, die er

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1547 verfaßte. Darin wird nicht nur die Erfindung, sondern auch die Beurteilung der Argumente behandelt, was Melanchton zur Darstellung der Syllogistik fÜhrte. Die Erotemata dialectices wurden zum wichtigsten Lehrbuch der Logik an den lutherischen UniversitÇten. - Der Streit zwischen Ramisten und Philippisten hat Überhaupt nur eine kulturgeschichtliche, in keiner Weise eine sachliche Bedeutung. Es gab damals so etwas wie eine konfessionelle Aufteilung Europas im Bereich der Logik: Lutheraner waren Philippisten, Kalvinisten waren Ramisten, und Katholiken waren traditionelle Aristoteliker. Gegen Ende des 16. Jhd.s setzten sich dann ziemlich allgemein wieder LehrbÜcher durch, die nicht viel mehr - bzw. eher weniger als die traditionelle aristotelische Logik wiedergaben. Neben dieser »humanistischen Logik« gab es jedoch in Italien auch eine ganz andere Entwicklung. WÇhrend in Oxford und Paris das Interesse an der Logik zurÜckging, wurde diese in der Nachfolge Ockhams und Buridans an den italienischen UniversitÇten, die mit ihr bisher nur am Rande in Kontakt gewesen waren, eigentlich erst jetzt aufgearbeitet und weitergefÜhrt. Besonders die Schriften der englischen Logiker der Merton-Schule (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 2, c) fanden hier eine FortfÜhrung, wobei auch in diesem Bereich die Lehrer an der UniversitÇt von Padua fÜhrend waren. So wurde, um nur eines der vielen Beispiele zu nennen, der Traktat Über die Folgerungslehre (Consequentiae) des Ralph (Radulfus) Strode (gest. 1387) 1488 und in mehreren Nachdrucken in Venedig mit Kommentaren des Cajetan von Thiene (1387–1465), des Alexander Sermoneta und des Paul von Pergula (gest. 1455) gedruckt. Letzterer hatte selbst ein Lehrbuch der Logica ganz im Sinne der englischen Logiker verfaßt, das 1489 auch wieder in Venedig im Druck erschien. Einen gewissen abschließenden HÙhepunkt erreichte diese Fortentwicklung mit Paulus Venetus (um 1370–1429), der in Oxford und Paris studiert hatte und dann in Padua Professor wurde. Seine Logica magna, die 1499 in Venedig im Druck erschien, ist das umfassendste Lehrbuch der spÇtmittelalterlichen Logik, und seine kurze Zusammenfassung, die Logica (parva) war das erste Buch der Logik, das im Druck erschien (Venedig 1472). Auf ihrem eigensten Gebiet waren die Humanisten, wenn es darum ging, einen guten griechischen Text der Schriften des Aristoteles herzustellen und dann auf dieser Textgrundlage verbesserte oder neue ¾bersetzungen zu erarbeiten. Und dies hatte auch Folgen fÜr die Texte der Logik. In den Jahren zwischen 1495 und 1498 erschien in Venedig bei dem berÜhmten Verleger Aldo Manuzio die griechische Gesamtausgabe der Schriften des Aristoteles (durch die auch die Zusammenfassung der logischen Schriften als Organon in den Textkanon eingefÜhrt wurde). Die Kenntnis des Griechischen wurde jetzt zur Voraussetzung der Kommentierung von Aristoteles-Texten. Der Einfluß der Aristoteles-Kommentare des Averroes wurde jetzt zurÜckgedrÇngt, da sich die Humanisten mehr auf die spÇtantiken Aristoteles-Kommentare des Alexander von Aphrodisias, des Themistios, des Simplikios und des Philoponos (vgl. 1. Teil, Kap. XVIII) stÜtzten. Auch strenge Aristoteliker, die nichts

Nicht-aristotelische Naturphilosophie

mit »humanistischer Logik« zu tun haben wollten, waren doch in philologischer Hinsicht Humanisten. Einer der bedeutendsten dieser Gruppe war Agostino Nifo (um 1470 – um 1540), der hauptsÇchlich in Padua als Professor der Medizin und Philosophie tÇtig war und Kommentare zu fast allen Aristotelischen Schriften verfaßte. Auf durchaus aristotelischer Grundlage stellte er die Bedeutung der Topik fÜr die Dialektik heraus. Aber auch ihm gelang es nicht, sich von der traditionellen Vorstellung frei zu machen, daß alle formal gÜltigen Argumente letztlich auf Syllogismen zurÜckgefÜhrt werden mÜßten, wie er dies in seinem Logik-Lehrbuch Dialectica ludicra, das 1520 gedruckt wurde, vertrat. Padua blieb ein Zentrum aristotelischer Logik. Der schon genannte Zabarella verÙffentlichte grÜndlich gearbeitete Kommentare zur aristotelischen Logik. FÜr ihn stellt gut aristotelisch die Logik nur ein Instrument der Wissenschaft dar, ist aber nicht selbst eine solche. Zabarella lehnte sowohl eine metaphysische Erweiterung der Logik, wie dies in der scholastischen Philosophie hÇufig der Fall war, als auch eine Funktionalisierung derselben fÜr rhetorische Zwecke ab. Rhetorik als solche lehnte er nicht ab, ordnete ihr aber die Aufgabe zu, im politischen Bereich der ¾berredung der Menschen zu richtigem Handeln zu dienen (Opera logica. S. 93–97). Zabarella ist charakteristisch fÜr den Ort, den die Logik in den italienischen UniversitÇten hatte, d. h. fÜr den Zusammenhang mit den empirischen Wissenschaften, besonders mit der Medizin. Hier waren weniger die Fragen der Logik im engeren Sinn wichtig, also die Lehre vom Syllogismus, sondern vielmehr die der wissenschaftlichen Methode (vgl. weiter oben 5).

7. Nicht-aristotelische Naturphilosophie Gleichzeitig mit dem Paduaner Aristotelismus bildete sich auch eine Naturphilosophie heraus, die nicht nur Über die scholastisch-aristotelische Physik und Kosmologie hinausging. Daß hier eine ganz andere Richtung der Fragestellung zum Durchbruch kommt, zeigt sich schon daran, daß die Frage der SchÙpfung, die die mittelalterliche Diskussion beherrscht hatte, hÙchstens noch als Randproblem aufscheint, fÜr die Naturphilosophie selbst aber irrelevant ist. Der bedeutendste Vertreter dieser neuen Sicht war Bernardino Telesio (1509–1588), der an der UniversitÇt Padua Mathematik, Astronomie und Naturphilosophie studiert hatte. Er selbst widmete sich nach TÇtigkeiten an verschiedenen HÙfen ausschließlich der Forschung. In Neapel grÜndete er die Accademia Cosentina, wo sich humanistisch gebildete, aber primÇr an naturphilosophischen und naturwissenschaftlichen Fragen interessierte Gelehrte zusammenfanden. Telesio stand in Gegensatz zu der averroistischen Aristoteles-Interpretation und griff außer auf die Schriften des Aristoteles selbst auf die vorsokratische Naturphilosophie zurÜck. Er hatte aber auch Epikur - und als guter Humanist im griechischen Originaltext - genau studiert und sich so auch mit der atomistischen

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Naturphilosophie Demokrits beschÇftigt. Aber auch die medizinischen Vorstellungen Galens spielten bei Telesio eine nicht unerhebliche Rolle. Sein wichtigstes und zusammenfassendes Werk ist De rerum natura iuxta propria principia libri IX. Einzig die sinnliche Wahrnehmung ist Ausgangspunkt der Naturerkenntnis. Naturphilosophie wird bei Telesio ohne RÜckgriff auf Metaphysik betrieben. Dies zeigt sich schon daran, daß Materie ausschließlich physikalisch aufgefaßt wird. Alles entwikkelt sich kausalursÇchlich aufgrund der GrundkrÇfte WÇrme und KÇlte. Die fÜr die aristotelische Naturphilosophie grundlegende Teleologie scheidet aus, d. h. es wird nur noch nach Wirkursachen, nicht aber nach Zielursachen gefragt. Die Definition von Raum und Zeit, die bei Aristoteles an KÙrper und Bewegung gebunden war, wird bei Telesio von diesen Bedingungen gelÙst, so daß sich ein Raum- und Zeitbegriff ergibt, der deutlich in die Richtung dessen weist, was spÇter bei Newton als »absoluter Raum« und »absolute Zeit« bezeichnet werden wird. Diese Vorstellung eines leeren Raumes ist bei Telesio nicht nur naturphilosophisch, sondern auch naturwissenschaftlich gedacht, so daß hier die Forderung aufgestellt wird, experimentell ein Vakuum herzustellen. Auch die Anthropologie wird rein nach empirischen Prinzipien aufgebaut. Die Vorstellung einer Seele als Form des KÙrpers scheidet hier aus, die Seele wird als materiell, wenngleich aus sehr feiner Materie bestehend aufgefaßt. - Telesio hatte 1565 nur zwei BÜcher von De rerum natura verÙffentlicht. Das Erscheinen des gesamten Werkes im Jahre 1586 rief eine breite Diskussion hervor, und auch die Verurteilung durch die katholische Kirche folgte 1596 erwartungsgemÇß. Daß Papst Pius IV. Telesio frÜher einmal das Amt des Erzbischofs von Cosenza angeboten hatte, zÇhlte jetzt nicht mehr. Der Einfluß des Werkes von Telesio war aber dadurch nicht aufzuhalten: Telesio wurde von Giordano Bruno ebenso genau studiert wie spÇter von Bacon, der ihn den ersten der Modernen nannte. Und auch Descartes, Gassendi, Hobbes und Leibniz kannten und schÇtzten seine Werke. Schon kurz nach dem Erscheinen des Werkes von Telesio verfaßte 1591 Campanella eine Verteidigungsschrift mit dem Titel Philosophia sensibus demonstrata. Campanella war Dominikaner, hatte aber schon wÇhrend seiner Studienzeit grÙßte Zweifel an der aristotelischen und thomistischen Philosophie, er hatte die Tradition auch der arabischen und lateinischen Aristoteles-Kommentatoren studiert, aber erst die LektÜre von Telesios De rerum natura hatte ihm einen neuen Weg aufgezeigt. Schon die Philosophia sensibus demonstrata Campanellas ist als durchgreifende Kritik der aristotelischen Naturphilosophie konzipiert, in der Folge dehnte er diese Kritik dann auch auf die aristotelische Ethik und Politik aus. Obwohl er mit Galilei in grundsÇtzlichen Punkten nicht Übereinstimmte - er nahm mit Telesio keine Bewegung der Erde an -, trat er doch 1616 fÜr Galilei ein, als es darum ging, die Freiheit der Wissenschaft zu verteidigen. Und dies tat Campanella, als er selbst wegen VerschwÙrung und HÇresie im GefÇngnis war!

- II -

Der Beginn des neuen Weltbildes

1. Die Welt des Kopernikus Die Philosophie mußte im Mittelalter ihren Ort und ihre methodische Form in Auseinandersetzung mit einem vom Christentum bestimmten, aber im Prinzip - abgesehen von der SchÙpfungslehre - antiken und aristotelisch-ptolemÇischen Weltbild finden. Schon der Nominalismus hatte Grundvoraussetzungen dieses metaphysischen Weltbildes in erkenntnistheoretischer Hinsicht in Frage gestellt. Insofern jedoch der Nominalismus mit einer Metaphysik des absoluten gÙttlichen Willens verbunden gewesen war, konnte das Weltbild zunÇchst unangetastet bleiben, da der Kosmos eben genau so aus der gÙttlichen Willenssetzung hervorgegangen gedacht werden konnte, wie es diesem Weltbild entsprach. Im 14. Jhd. begann jedoch auch eine Kritik an grundsÇtzlichen Annahmen der aristotelischen Physik (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 2, d). Da diese physikalischen Fragen damals immer im Rahmen einer Naturphilosophie gestellt wurden, waren sie faktisch automatisch auch philosophische Fragen. Und hier begann sich jetzt, eine neue »Front« aufzutun: die Auseinandersetzung mit empirischen Wissenschaften. Philosophiegeschichtlich lÇßt sich hier der •bergang zur Neuzeit ansetzen: Das GegenÜber der Philosophie ist zunehmend nicht mehr die Theologie, sondern die Naturwissenschaft. Der oft fÜr die neuzeitliche Philosophie als charakteristisch angesehene Einsatz beim Subjekt - so bei Descartes - hingegen ist bei nÇherem Zusehen gar nicht so neu und nicht so einschneidend, jedenfalls nicht im Vergleich mit der Bedeutung, die empirische Wissenschaft fÜr das VerstÇndnis von Philosophie jetzt erhÇlt. Die erste große Auseinandersetzung auf diesem Gebiet stand im Zeichen einer der Çltesten Wissenschaften der Menschheit, der Astronomie. Der Beginn dieser Auseinandersetzung wird oft als die »kopernikanische Revolution« bezeichnet. Wie oft bei solchen historischen Schlagworten ist auch hier Vorsicht im Gebrauch geboten. Im historischen RÜckblick kann die kopernikanische Astronomie in gewisser Hinsicht als Wendepunkt angesehen werden. Im realen geschichtlichen Verlauf handelt es sich aber kaum um eine Revolution, sondern vielmehr um den Beginn eines Prozesses, der aber zunÇchst noch gar nicht eindeutig und auch noch nicht entschieden war. Vom wissenschaftlichen und methodologischen Standpunkt aus sollte man besser nicht von einer »kopernikanischen Wende« sprechen. In beiden Hinsichten liegt

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eine »Wende« eigentlich erst bei Johannes Kepler (1571–1630) vor, da erst dieser grundsÇtzliche Voraussetzungen wie z. B. die KreisfÙrmigkeit der Bewegungen der HimmelskÙrper aufgibt (vgl. Kap. IV, 2). Nikolaus Kopernikus (1473–1543) selbst betrachtete die Frage des heliozentrischen Systems als rein wissenschaftliches Problem, das als solches fÜr ihn weder besondere philosophische noch religiÙse Probleme aufwarf. Sein Problem war die Berechnung der Bahnen der Sonne und der Planeten, deren beobachtbare UnregelmÇßigkeiten von Ptolemaios (2. Jhd. n. Chr.) durch Ekzentren (d. h. mehrere Kreismittelpunkte) und Epizyklen erklÇrt worden waren. Kopernikus fand die vorgelegten ErklÇrungen fÜr unbefriedigend (das heliozentrische System des Aristarchos aus dem 4./3. Jhd. v. Chr. scheint Kopernikus nicht gekannt zu haben):

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Es reichte n›mlich nur dann aus, wenn man sich zus›tzlich bestimmte Ausgleichskreise vorstellte, auf denen der Stern sich offensichtlich weder auf seinem Abtragskreis noch um seinen ihm eigenen Mittelpunkt mit immer gleicher Geschwindigkeit bewegte. [...] Nachdem ich also dies begriffen hatte, ¹berlegte ich oft, ob nicht etwa eine vern¹nftigere Anordnung von Kreisen zu finden sei, von welchen alle erscheinende Ungleichm›ßigkeit abhinge, wobei diese aber in sich selbst alle gleichm›ßig bewegt w›ren, wie doch die Weise vollkommener Bewegung dies fordert. (Copernicus: Commentariolus. In: Das neue Weltbild. S. 3 und 5) Das methodologische Programm, innerhalb dessen Kopernikus seine Berechnungen unternahm, ist keineswegs »revolutionÇr«, sondern durchaus »konservativ«. Es ist gar nichts anderes als das unter dem Namen »Rettung der PhÇnomene« (sÕzein ta phainÕmena, lat. salvare apparentias) bekannte Programm des Eudoxos von Knidos (4. Jhd. v. Chr.). Im folgenden Zitat nennt Kopernikus ausdrÜcklich Eudoxos und bezieht sich in terminologisch eindeutiger Weise auf dieses Programm. Innerhalb dieser Methodologie sollen die astronomischen PhÇnomene mit Hilfe mathematischer Gesetze erklÇrt werden. Von »Rettung« wird deshalb gesprochen, weil die beobachteten UnregelmÇßigkeiten der Bewegungen der HimmelskÙrper »wegerklÇrt«, d. h. auf RegelmÇßigkeiten zurÜckgefÜhrt, werden sollten. Dahinter steht ein metaphysisches Postulat der antiken Kosmologie: Die HimmelskÙrper sind gÙttliche Wesen und dÜrfen daher nur vollkommene Bewegungen ausfÜhren - die UnregelmÇßigkeiten dÜrfen also nur fÜr den Beobachter von der Erde aus gelten: Es muß daher eine geometrische ErklÇrung gefunden werden, welche die scheinbaren UnregelmÇßigkeiten auf vollkommene Bewegungen zurÜckfÜhrt. Dieses Programm war erkenntnistheoretisch realistisch gedacht: Es sollte die wahre Ordnung der Dinge hinter der erscheinenden Unordnung aufgedeckt werden. Die Grundannahmen dieser Astronomie gelten auch noch bei Kopernikus: Es liegt eine Vielzahl von KreislÇufen vor, fÜr die aber gelten soll, daß es sich dabei um mittelpunktsgleiche KreislÇufe und um gleichfÙrmige Bewegungen handelt:

Die Welt des Kopernikus

Eine Vielzahl von Kreisl›ufen am Himmel haben unsere Vorg›nger angesetzt, so sehe ich, (und dies) besonders aus dem Grunde, um f¹r die erscheinende Stern-Bewegung Regelm›ßigkeit zu wahren (ut apparentem in sideribus motum sub regularitate salvarent). Es schien ja ›ußerst unsinnig (absurdum), daß ein Himmelsk³rper angesichts vollkommenster Kugelgestalt nicht immer gleichf³rmig sich bewegen sollte. Sie hatten aber bemerkt, daß es auch m³glich ist, daß durch Zusammensetzung und •berschneidung regelm›ßiger Bewegungen ein Gegenstand sich scheinbar ungleichm›ßig zu irgendeiner Stelle hinbewegen kann. Dies haben Callippus und Eudoxus mithilfe mittelpunktsgleicher Kreise herzuleiten wohl sich bem¹ht, nur brachten sie es nicht fertig, mit solchen Annahmen f¹r alle Vorg›nge bei der Gestirnbewegung eine Berechnung zu geben. (Ebd. S. 3) Auch einer der SchÜler und AnhÇnger der kopernikanischen Astronomie, Georg Joachim Rheticus (1514–1574), dessen Narratio prima aus dem Jahr 1540 die erste gedruckte Darstellung des kopernikanischen Systems lieferte, interpretiert die Lehre seines Lehrers in genau diesem Sinn einer »Rettung der PhÇnomene«: Das erste Buch enth›lt eine allgemeine Beschreibung des Weltalls und die Grunds›tze, mit deren Hilfe er es unternehmen will, die Beobachtungen und Erscheinungen aller Zeiten zu retten. (Rheticus: Narratio prima. In: Das neue Weltbild. S. 158) Innerhalb dieses traditionellen methodologischen Programms gelangte Kopernikus zum heliozentrischen System. Kopernikus selbst betrachtete dieses Ergebnis als keineswegs umstÜrzend. FÜr seine Annahme der Stellung der Sonne im Mittelpunkt des Planetensystems zog Kopernikus auch nicht nur empirische und mathematische Argumente heran - fÜr ihn galt durchaus auch die metaphysische These: Als Quelle des Lichtes und des Lebens hat die Sonne hÙchste Vollkommenheit und hÙchsten Wert, und deshalb kommt ihr angemessenerweise der Ort im Zentrum zu. Der gesamte Kosmos ist fÜr Kopernikus - ganz so wie in Ciceros Somnium Scipionis - ein Tempel Gottes, und in diesem erhÇlt die Sonne den ihr gebÜhrenden Ort, wobei Kopernikus sich sogar auf die hermetische Schrift des Hermes Trismegistos (vgl. 1. Teil, Kap. XVI, 3, a) beruft. Die ganze Argumentation bewegt sich ganz und gar im Rahmen der weitverbreiteten Auffassungen zur Zeit des Humanismus und der Renaissance. Inmitten alles dessen aber thront die Sonne. Wer denn wollte in diesem wundersch³nen Heiligtum diese Leuchte an einen anderen, besseren Ort setzen als den, von wo aus sie das Ganze gleichzeitig erhellen kann? Zumal doch bestimmte Leute sie durchaus zutreffend »Lampe der Welt« (lucernam mundi), andere ihren »Sinn« (mentem), andere ihren »Lenker« (rectorem) nennen. Trismegistos (nennt sie) »sichtbaren Gott«, die Elektra des Sophokles die »Alles-Schauende«. So wirklich, wie auf k³niglichem

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Thron sitzend, lenkt die Sonne die um sie herum t›tige Sternfamilie. (De revolutionibus I, 10. In: Das neue Weltbild. S. 137) FÜr Kopernikus paßte seine Astronomie also durchaus gut in seinen katholisch frommen Neuplatonismus. Er vermutete jedoch, daß das fÜr andere anders aussehen kÙnnte, und dies war mÙglicherweise einer der GrÜnde dafÜr, daß er sein Werk De revolutionibus orbium coelestium erst kurz vor seinem Tode herausgab (revolutio bedeutet hier »Umdrehung«). Bei der Herausgabe des Werkes des Kopernikus fÜgte der protestantische Theologe Andreas Osiander (1498–1552) eine Vorrede hinzu, in der er das kopernikanische System als kalkulatorische Beschreibung von Bewegungen von HimmelskÙrpern hinstellte, ohne daß jedoch mit diesen Berechnungen die Behauptung verbunden wÇre, daß diesem System selbst ein metaphysisch realistisch gedachter Wahrheitsanspruch zukÇme.

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Ist es doch eigent¹mliche Aufgabe des Sternforschers, wissenschaftliche Kunde von den Bewegungen am Himmel mithilfe sorgf›ltiger und kunstfertiger Beobachtung (artificiosa observatione) zu sammeln; hierauf deren Gr¹nde (causas) - oder doch wenigstens Grundannahmen (hypotheses), wenn er n›mlich die wahren Gr¹nde auf keine Weise ermitteln kann, irgendwelcher Art daf¹r auszudenken und zu ersinnen (excogitare et confingere), unter deren Voraussetzung eben diese Bewegungen aus Grunds›tzen (ex principiis) der Geometrie ebenso f¹r die Zukunft wie f¹r die Vergangenheit richtig berechnet (calculari) werden k³nnen. [...] Es ist n›mlich gar nicht notwendig, daß diese Voraussetzungen (hypotheses) wahr sein m¹ssen, nicht einmal, daß sie wahrscheinlich (verisimiles) sind, sondern es reicht schon dies allein, wenn sie eine mit den Beobachtungen zusammenstimmende Berechnung (calculum cum observationibus congruentem) darstellen. (Osiander: Vorrede zu De revolutionibus. In: Das neue Weltbild. S. 61) Dies war sicher nicht die Auffassung des Kopernikus, wie auch aus der Darstellung des Rheticus eindeutig hervorgeht. Daß eine solche einschrÇnkende Interpretation erforderlich schien, war nur das Problem des Theologen Osiander, nicht das des Kopernikus selbst. Die Protestanten waren ja der neuen Astronomie gegenÜber ebenso ablehnend eingestellt wie die Katholiken. Nichtsdestoweniger bleibt festzuhalten, daß die letztlich gut nominalistische Wissenschaftsauffassung Osianders eigentlich »moderner« ist als die realistische des Kopernikus. Das Weltbild des Kopernikus weist durchaus noch viele mittelalterliche ZÜge auf. Im Vergleich zu den kosmologischen Vorstellungen des Nikolaus von Kues (vgl. 2. Teil, Kap. XIX, 3) sind die des Kopernikus sogar recht wenig radikal, sie waren jedoch wegen ihres empirischen Gehalts ungleich folgenreicher. Dies ist eben der entscheidende Unterschied: Die Theorien des Kopernikus bezogen sich auf empirische Daten, auf Beobachtungen, die des Nikolaus von Kues hatten keine solche em-

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pirische Basis. Dies bleibt bestehen, auch wenn die philosophischen sowie die kosmologischen Ideen des Nikolaus von Kues mÙglicherweise um einiges »moderner« wirken als die des Kopernikus.

2. Giordano Bruno Der VerkÜnder des kopernikanischen Systems fand sich in Giordano Bruno (1548– 1600), der sich auch als Prophet der metaphysischen Konsequenzen verstand, die er darin aufzufinden meinte. - Bruno reprÇsentiert schon mit seinem Leben den ¾bergang und den Schritt zum Neuen. Geboren wurde Giordano Bruno in Nola in der NÇhe von Neapel. 1565 trat er bei den Dominikanern ein (mit dem Ordensnamen »Giordano«, er hieß eigentlich Filippo), und zwar im nahegelegenen Neapel, wo zwei Jahrhunderte vorher Thomas von Aquin zunÇchst studiert und spÇter auch gelehrt hatte. Die Ordensschule von Neapel war, wie nicht anders zu erwarten, auf den Thomismus und damit auf den Aristotelismus verpflichtet. Der Aristotelismus, dem Bruno hier begegnete, war primÇr averroistisch geprÇgt, und diese Grundlage wird auch spÇter bei Bruno immer wieder spÜrbar sein. Er beschÇftigte sich jedoch schon wÇhrend dieser Periode der Ausbildung auch mit der platonischen Philosophie des Marsilio Ficino und dÜrfte auch Schriften des Nikolaus von Kues und des Kopernikus gelesen haben. Neben seiner HauptbeschÇftigung mit philosophischen und astronomischen Studien fand Bruno auch Zeit und Gelegenheit zur Dichtung von Lustspielen und Allegorien. An und fÜr sich war dies aber noch nichts AußergewÙhnliches: Dichtung als literarisch-rhetorische ¾bung wurde von vielen betrieben. 1575 geriet Bruno wegen seiner Zweifel an der traditionellen Interpretation der TrinitÇtslehre in Schwierigkeiten. Er versuchte, sich im folgenden Jahr bei der Ordensleitung der Dominikaner in Rom zu rechtfertigen, wurde dort aber wegen des Besitzes »hÇretischer« Schriften - Bibelkommentare des Erasmus von Rotterdam zusÇtzlich suspekt. Bruno floh also aus Rom und verließ den Dominikanerorden. Er schlug sich nun zwei Jahre lang in Italien mehr schlecht als recht als Hauslehrer durch. WÇhrend dieser Zeit wandte er sich der Naturphilosophie Demokrits, Epikurs und Avencebrols zu. Bei letzterem interessierte ihn besonders die Auffassung, nach der die Materie als in irgendeiner Weise auch zur gÙttlichen Substanz gehÙrend aufgefaßt wurde (vgl. 2. Teil, Kap. X, 2, c). ¾ber Studien des Platonismus fand er zurÜck zu vorsokratischen Vorstellungen der Einheit und Unbegrenztheit des Kosmos. Auch beschÇftigte er sich mit kabbalistischen Schriften wie jenen des Agrippa von Nettesheim (1486–1535). Dieser war durch seine BeschÇftigung mit Fragen der Magie bekannt geworden, wie schon aus dem Titel seines Werkes De occulta philosophia (gedruckt 1531) ersichtlich ist. Dieses Werk, in dem die Magie als Mittel zur Beherrschung der Natur aufgefaßt wird, war zur Zeit der Renaissance und weit Über diese

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hinaus - bis zu Goethes Faust - sehr einflußreich. Auch Bruno wird sich in seiner spÇteren Zeit mit solchen Fragen beschÇftigen, so z. B. in der 1590 entstandenen Schriften De magia und De magia mathematica. Letztere enthÇlt Teile aus mehreren Schriften Agrippas, in denen mit kabbalistischer Magie gearbeitet wird. In Italien gab es aber fÜr Bruno keine beruflichen MÙglichkeiten, und so mußte er sich einen neuen Aufenthaltsort suchen. Er ging 1578 nach Genf, wo er, jedenfalls nach den Registern der dortigen Gemeinde, zum Kalvinismus Übertrat. Er wandte sich jedoch rasch wieder gegen den Kalvinismus, da er die Lehre von der Unfreiheit des Willens, von der PrÇdestination und von der Wertlosigkeit der Werke nicht akzeptieren konnte. Vor allem aber fand er den wÙrtlichen Schriftglauben der Kalvinisten unertrÇglich, da sich diese aufgrund von Texten der Bibel dem neuen kopernikanischen System gegenÜber sehr ablehnend verhielten. Damit war aber auch ein weiteres Bleiben in Genf nicht mehr mÙglich. Bruno ging daher nach Frankreich, zunÇchst nach Toulouse, wo er zwei Jahre blieb. Dort hielt er Vorlesungen Über De Anima des Aristoteles. Außerdem beschÇftigte er sich mit der Lullschen Kunst, vor allem in ihrer Form als Methode der GedÇchtniskunst. Dies konnte auch mit aristotelischer Psychologie in Verbindung gebracht werden - es ging um die Vervollkommnung einer der FÇhigkeiten der Seele. Bruno hat sich sein Leben lang mit der Ars lulliana beschÇftigt und hat ihr, Über die Funktion als GedÇchtniskunst, die seine ZuhÙrer meist interessierte, hinaus, eine den eigentlichen Absichten des Raymundus Lullus viel nÇher kommende grundlegend logisch-metaphysische Rolle zugesprochen. Lullus suchte nach einer Ars generalis, in der logisch-erkenntnistheoretische und kosmologische Prinzipien einander entsprachen. Daß die gÙttlichen PrÇdikate ohne Schwierigkeiten auf den Kosmos Übertragen werden kÙnnen, lag ohnedies schon in der Grundstruktur des lullschen Kombinationsverfahrens (vgl. 2. Teil, Kap. XVI, 1). Genau diese ¾bertragung war auch die Absicht Brunos. Da Bruno hÇufig nur als VerkÜnder einer neuen Kosmologie und einer entsprechenden Metaphysik gesehen wird, ist es wichtig darauf hinzuweisen, daß es ihm durchaus klar war, daß dem auch eine neue Logik und Wissenschaftstheorie entsprechen mußte, und die suchte er bei Lullus. Dann ging Bruno nach Paris, wo er zunÇchst außerhalb der UniversitÇt Vorlesungen im Anschluß an den ersten Teil der Summa theologica des Thomas von Aquin hielt. Er beschÇftigte sich dort auch weiterhin mit der Lullschen Kunst und widmete KÙnig Heinrich III. eine Schrift dazu. Als glÇnzender Redner und Unterhalter fand er Zugang zum Hof, und so konnte er nach einigen Jahren mit einer Empfehlung des KÙnigs nach England gehen. In Oxford hatte er zunÇchst Gelegenheit, Vorlesungen zu halten, in denen er seine Gedanken zur Kosmologie und Erkenntnistheorie entwickeln konnte, stieß dort aber auf Widerstand und konnte diese TÇtigkeit nicht fortsetzen. Er ging daher nach London, wo er als Kavalier des franzÙsischen Gesandten lebte. Bruno schrieb Sonette und genoß das hÙfische Leben und die Anerkennung, die er dort fand. KÙnigin Elisabeth hÙrte ihm gerne zu. Die Umgebung, in der er jetzt lebte, war die fÜr ihn gÜnstigste. Shakespeare hat in derselben Umgebung und zur

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selben Zeit sein Wirkungsfeld gefunden. Der neue gesellschaftliche Ort der Philosophie findet sich nun weniger an den UniversitÇten und viel eher an den HÙfen von FÜrsten und KÙnigen. Die Philosophen sind jetzt nicht mehr MÙnche, sondern hÇufig mit wenigen Ausnahmen wie z. B. Spinoza - HÙflinge oder wenigstens in irgendeiner Form von den HÙfen abhÇngig. Inwieweit das fÜr die Philosophen als solche ein Vorteil war, sei dahingestellt. DarÜber, ob ein MÙnch oder ein FÜrstenunterhalter mehr Gedankenfreiheit hatte, kÙnnte man lange diskutieren. - In diese zwei Jahre des Aufenthalts in London fÇllt die Abfassung der wichtigsten Schriften Brunos. Das, was manchmal die »Philosophie des Nolaners« genannt wird, ist in diesen Jahren 1583 und 1584 entstanden, und Bruno hat im weiteren daran immer festgehalten. Ausgehend von den kosmologischen Vorstellungen der Vorsokratiker und der Pythagoreer wollte er eine neue, ausdrÜcklich nicht-aristotelische Naturphilosophie und Kosmologie entwerfen. Seine Vorstellung war ein Kosmos, in dem es keine »natÜrlichen« ²rter geben sollte, wie sie in der aristotelischen Kosmologie angenommen wurden. An dieser Stelle nun erhielten die wissenschaftlichen Ergebnisse des Kopernikus ihre entscheidende Funktion. Bruno hat also nicht kopernikanische Thesen Über ihre Reichweite hinaus universalisiert, sondern diese wissenschaftlichen Ergebnisse in einen philosophisch schon entworfenen Rahmen eingefÜgt, wodurch sich dann allerdings Folgerungen ergaben, die in den Thesen des Kopernikus gar nicht zugrunde gelegt waren. In London entstanden die wohl bekanntesten Schriften Brunos Das Aschermittwochsmahl (La cena de le Ceneri), Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen (De la causa, principio et uno) und ZwiegesprÇche vom unendlichen All und den Welten (De l’infinito universo e mondi). Die Grundkonzeption Brunos ist in der ersteren Schrift bereits enthalten, wird aber dann in den weiteren in strengerer Form dargestellt. Er schrieb nun nicht mehr auf Latein, sondern auf Italienisch. Die Frage des unmittelbaren Ausdrucks in der »Volkssprache«, die aber auch eine Begrenzung auf einen Sprachbereich bedeutete, und dem »universalen« Latein war noch lange nicht entschieden. Als er 1585 mit dem franzÙsischen Gesandten nach Paris zurÜckkehrte, war er ein inzwischen durch seine Schriften bekannt gewordener Mann und er hÇtte auch ohne weiteres in Paris bleiben kÙnnen, hÇtte er sich nur mit »harmlosen« und »neutralen« Fragen befaßt. Als er aber begann, Ùffentlich die Bewegung der Erde und die Unendlichkeit des Weltalls zu vertreten und damit Aristoteles und die Lehren der Kirche angriff, mußte er Paris sofort verlassen. Bruno Übersiedelte dann in den protestantischen Teil Deutschlands, wo er sich auch mit den Werken des Paracelsus und des Nikolaus von Kues beschÇftigte. ZunÇchst ging er nach Marburg, provozierte aber dort an der UniversitÇt seinen inzwischen schon standardisierten Streit und Konflikt mit den traditionelleren Kollegen. In Wittenberg fand er dann fÜr einige Zeit Zuflucht, wo er an der UniversitÇt Vorlesungen Über Texte des Aristoteles zur Logik und Naturphilosophie hielt. Zu dieser Zeit schrieb er wieder lateinisch, um seinen Werken grÙßere Verbreitung zu verschaffen. Diesmal ohne Çußeren Anlaß verließ er

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Wittenberg im Jahr 1588 und ging zunÇchst nach Prag, dann nach Helmstedt, wo wieder der Übliche Konflikt mit Vertretern der lutherischen Kirche auftrat. Dann begab er sich nach Frankfurt und von dort nach ZÜrich, wo er auch einige Vorlesungen hielt. Ohne daß es nÙtig gewesen wÇre, kehrte Bruno anschließend nach Italien zurÜck. Der Anlaß war die Aufforderung des venezianischen Patriziers Giovanni Mocenigo, ihm Unterricht in der Lullschen Kunst zu erteilen. Bruno folgte dieser Einladung vermutlich deshalb, weil er dachte, von dort aus an der zu Venedig gehÙrenden UniversitÇt Padua eine Stellung finden zu kÙnnen. Die Einladung Brunos war aber nur ein Vorwand gewesen: Mocenigo hatte schon von Anfang an die Absicht gehabt, ihn durch die Inquisition anklagen zu lassen. Bruno wurde daher 1592 im Haus Mocenigos verhaftet. Da Venedig eine unabhÇngige Republik war, mußte der pÇpstliche Hof einen Auslieferungsantrag stellen, dem auch stattgegeben wurde. Bruno wurde daher in das GefÇngnis des Sant’Ufficio (der heutigen Glaubenskongregation) gebracht. Der Prozeß zog sich mehrere Jahre lang hin, da die Inquisitionsgerichte auf einen Widerruf Brunos hofften. Da dieser nicht erfolgte, wurde Bruno verurteilt und 1600 Ùffentlich verbrannt. - Bruno wird hÇufig als »MÇrtyrer des kopernikanischen Systems« bezeichnet. Dies trifft jedoch nicht genau den Sachverhalt. Aus den Akten des Prozesses, soweit diese der Forschung zugÇnglich sind, ergibt sich, daß Bruno vor allem die Ablehnung des TrinitÇts- und Inkarnationsdogmas vorgeworfen wurde. WÇhrend des Prozesses selbst brachte Bruno die Rede auf das kopernikanische System, wobei aber die Richter auf diese Frage nicht eingingen. Es wird sich zwar zeigen, daß die Ablehnung des Inkarnationsdogmas in einem systematischen Zusammenhang mit Brunos Weltbild stand, es bleibt aber doch eine historische Tatsache, daß das Inquisitionstribunal selbst weder an diesem Weltbild noch an seinem Zusammenhang mit der Frage der Menschwerdung Gottes interessiert war, sondern sich bloß auf die das christliche Dogma selbst betreffenden Aussagen Brunos bezog. Bruno war weder selbst empirischer Wissenschaftler noch eigentlich Mathematiker, obwohl er sich in seinen spÇten lateinischen Schriften mit Fragen der Mathematik beschÇftigte. Seine Bedeutung lag vielmehr darin, daß er der Kosmologie, die sich in den beiden folgenden Jahrhunderten durchsetzen sollte, als erster eine umfassende und Überzeugende Darstellung gegeben hat. In einem damit gab er der Meinung, daß die Wissenschaft die Befreiung des Menschen bewirken wÜrde, beredten Ausdruck. Und damit sind wir bei einer durchaus neuzeitlichen GrundÜberzeugung angelangt. So sagt er in der Vorrede zu den ZwiegesprÇchen vom unendlichen All und den Welten: Nicht eitel ist daher das Verm³gen des Geistes, immer Raum an Raum zu f¹gen, Masse zur Masse, Einheit zur Einheit, Zahl zur Zahl, mit Hilfe der Wissenschaft, die uns von den Ketten einer so engen Herrschaft erl³st und uns zu freien B¹rgern eines so herrlichen Reiches bef³rdert, uns von eingebildeter Armut befreit und mit den un-

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zhlbaren Reichtmern dieses unermeßlichen Raumes, dieses herrlichsten Gefildes, so vieler bewohnter Welten beglckt. (Ebd. S. 23)1 In diesem wie in vielen anderen Stzen Brunos kommt nicht eine drre Aufklrung zur Sprache, sondern die Vitalitt eines Vertreters der Renaissance, der unendliche Mglichkeiten des Menschen in einem unendlichen Universum entdeckt. Dieses Universum ist aber jetzt ein ganz anderes als das des spten Mittelalters, hinter dem immer ein allmchtiger Gott und dessen Willensentschluß gestanden hatte, der sich jeder rationalen Analyse entzog. Das Universum, das Giordano Bruno propagiert, ist durch keinerlei gttlichen Willen eingeschrnkt, und es verbirgt sich auch kein Mysterium in ihm, es ist dem forschenden Geist ganz und gar zugnglich. Die Umkehrung gegenber der Sptscholastik und dem Nominalismus ist dabei offensichtlich. Scotus und Ockham hatten gemeint, Gott htte auch anderes geschaffen haben knnen als er tatschlich geschaffen hat - htte er alles geschaffen, was er schaffen konnte, wre er zu einer Naturursache geworden. Die Behauptung einer persnlichen Schpfungsursache im Unterschied zu einer Naturursache hatte zur Einschrnkung dessen gefhrt, was wirklich geschaffen wurde: Gott hat in freier Entscheidung aus der unendlichen Anzahl mglicher Welten die eine ausgewhlt. Bruno behauptet nun genau das Gegenteil: In der Welt sind die Mglichkeiten des Seinsgrundes absolut erschpft: Wer also die Unendlichkeit der Schpfung leugnet, leugnet das Unendlichsein des schaffenden Vermgens. (Ebd. S. 43) Damit wird die sptscholastische Unterscheidung von potentia absoluta und potentia ordinata hinfllig. Das existierende Weltall ist nicht eine von vielen mglichen Welten, sondern die einzig mgliche und somit existierende, wobei es aber in diesem unendlichen Weltall unzhlige Welten gibt. Eine Schpferttigkeit, die aus den mglichen Welten auswhlt, gibt es somit nicht, und da gerade mit dieser frei auswhlenden Ttigkeit die Personalitt Gottes begrndet worden war, fllt auch diese weg. Es ist klar, daß diese Auffassung nicht einfach aus dem kopernikanischen System abgeleitet werden kann. Bruno wußte das auch, er meinte aber, daß die Astronomie des Kopernikus mit der von ihm entworfenen Kosmologie vereinbar sei. Die Tatsache, daß eine bestimmte Theorie mit einer umfassenderen vereinbar ist, kann jedoch nicht schon als Besttigung fr die Gltigkeit der umfassenderen Theorie angesehen werden. Bruno bentigte daher eigene, ber die Kopernikanische Theorie hinausgehende Argumente. Der Angelpunkt seiner eigenen Argumentation lag dabei in der Behauptung der Unendlichkeit der Welt. »Unendlichkeit« war in der Tradition ein ganz zentrales gttliches Prdikat gewesen. Der Rckgriff auf Kopernikus war in 1

Bei Texten aus lteren Ausgaben wird die Orthographie stillschweigend modernisiert.

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diesem Punkt nicht mÙglich: Kopernikus selbst hatte nicht von der Unendlichkeit der Welt gesprochen, fÜr ihn war die Welt nur »unermeßlich« (immensum) gewesen. Bei Bruno wird nun daraus das positive PrÇdikat der »Unendlichkeit«. Ich nenne das All als Ganzes unendlich, weil es ohne Rand ist, keine Schranke, keine Oberfl›che hat; ich sage aber: das All ist nicht absolut und v³llig unendlich, weil jeder Teil, den wir von ihm erfassen k³nnen, begrenzt und jede einzelne der unz›hligen Welten, die es in sich begreift, begrenzt ist. Ich nenne Gott in seiner Ganzheit unendlich, weil er jegliche Grenze von sich ausschließt und jedes seiner Attribute einzig und unendlich ist, und ich nenne Gott absolut und v³llig unendlich, weil er ¹berall ganz ist in der ganzen Welt und in jedem ihrer Teile unendlich und v³llig allgegenw›rtig ist im Gegensatz zur Unendlichkeit des Weltalls, welches letztere vollkommen nur im ganzen ist und nicht in jedem seiner Teile, wenn ¹berall mit Bezug auf das Unendliche das ein Teil genannt werden darf, was wir von ihm erfassen k³nnen. (Ebd. S. 41)

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Solche Gedanken lagen Kopernikus ganz fern, schon eher kÙnnte man an die Lehre von den gÙttlich-kosmischen Attributen Lulls denken. Die eigentliche Argumentation Brunos ist auch nicht wissenschaftlicher, sondern metaphysischer Art. Bruno legt sie in schlußfolgernder Weise so dar: 1. Nur wenn der sch³pferische Ursprung etwas anderes schaffen wollte, als er schaffen will, so k³nnte er auch ein anderes schaffen, als er schafft. 2. Nun aber kann er nichts anderes schaffen wollen, als was er schaffen will. 3. Folglich kann er nichts anderes schaffen, als was er schafft. Wer also behauptet, seine Sch³pfung sei endlich, setzt eine nur endliche Sch³pfert›tigkeit und ein nur endliches Sch³pfungsverm³gen voraus. (Ebd. S. 43) Das Argument ist scholastisch gut. - Man kann allerdings an den Schriften Brunos selbst feststellen, daß er eigentlich wußte, daß all dies mit Kopernikus wenig zu tun hatte. In den Das Aschermittwochsmahl genannten Dialogen lÇßt er zunÇchst die traditionelle aristotelisch-ptolemÇische Weltsicht referieren: Nundinio sagte darauf, es sei unwahrscheinlich, daß die Erde sich bewege, da sie doch Mittel- und Schwerpunkt des Weltalls sei und als solcher das feste und bleibende Fundament jeder Bewegung. (Ebd. S. 152) Dem stellt Bruno das neue Weltbild gegenÜber: Der Nolaner antwortete, dasselbe k³nne derjenige anf¹hren, der die Sonne im Mittelpunkt des Alls und folglich unbeweglich und fest stehen l›ßt wie Kopernikus und viele andere, die den Umfang der Welt f¹r begrenzt halten. (Ebd.)

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Bruno wußte also ganz genau, daß Kopernikus kein unendliches Weltall vertreten hatte. Dann aber fÇhrt er fort: [...] und wir wissen sicher, daß dieser Raum als Wirkung und Erzeugnis einer unendlichen Ursache und eines unendlichen Prinzips auf unendliche Weise unendlich sein muß. (Ebd. S. 153) An diesem Punkt wird es ganz deutlich, daß die kosmologische Auffassung des Giordano Bruno von der Unendlichkeit der Welt nicht durch die Theorie des Kopernikus gedeckt ist und auch nicht aus dieser heraus in irgendeiner Weise entwickelt werden kann. Nicht ganz zu Unrecht lÇßt Bruno von seinem GesprÇchspartner berichten: Er war verdutzt und sprachlos, als s›he er pl³tzlich ein Gespenst vor sich. (Ebd. S. 154) Ausgehend von Kopernikus gab es gar keinen Grund, dieses »Gespenst« einzufÜhren. Bruno muß andere GrÜnde dafÜr gehabt haben. Vielleicht sind diese GrÜnde darin zu suchen, daß Bruno sich auf diese Weise all der Schwierigkeiten entledigen konnte, welche die mittelalterliche Philosophie mit dem SchÙpfungsbegriff und dem des schÙpferischen Willens Gottes gehabt hatte. Die immer mehr gesteigerte Allmacht Gottes hatte die FaktizitÇt der endlichen Welt und damit auch das Problem des ¾bels zunehmend unerklÇrter und unerklÇrbarer gemacht: MÙglichkeit(en) (potentia absoluta) und Wirklichkeit (potentia ordinata) waren vÙllig auseinandergetreten. Bei Bruno wird nun M³glichkeit und Wirklichkeit im unendlichen gÙttlichen Grund der Welt wie auch in der unendlichen Welt gleichgesetzt. Die Frage, warum Gott diese und keine andere - bessere - Welt geschaffen hat, entfÇllt damit. Die Frage nach Sinn des ¾bels in dieser Welt kann gar nicht mehr sinnvoll gestellt werden. Es bleibt dann allerdings eine andere Frage: Hat Bruno das BÙse am Menschen Übersehen oder nicht sehen wollen? Wahrscheinlich hat er es nicht Übersehen, aber es stellt fÜr ihn kein Gegenargument dar: Das voll und ganz positive Urteil Über die Welt bei Bruno ist nicht begrÜndet im Blick auf den Menschen, sondern im Blick auf die SchÙnheit und unendliche GrÙße des Kosmos. Dies sind antike Motive, und Bruno hatte ja wichtige AnstÙße von der antiken Kosmologie erhalten. Nicht umsonst hat nicht nur fÜr Bruno die antike Naturphilosophie des Demokrit, des Epikur, des Lukrez und der Stoiker eine so große Bedeutung gehabt - und bei keinem von diesen hat das BÙse oder das ¾bel als Einwand gegen die Ordnung des Kosmos Geltung. Bei Bruno manifestiert die Unendlichkeit der Welt die Unendlichkeit ihres Grundes, der damit auch jede zeitlich gedachte PrioritÇt vor der Welt verliert. Aber nicht nur zeitlich, sondern auch metaphysisch steht nichts »hinter« dieser Welt. Es kann daher auch »Über« dieser Welt keinen Gott geben, der sich verbergen oder offenbaren kÙnnte. Gott zeigt sich immer und ¹berall im Kosmos, er hat gar keine andere

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Existenz und kein anderes Wesen fÜr sich, er ist nur als der Grund der Welt denkbar. Hier werden die Konsequenzen aus der Lehre des Nikolaus von Kues gezogen, die dieser selbst nicht gezogen hatte und nicht hatte ziehen wollen und kÙnnen. Es ist klar, daß es daher fÜr Bruno keinen privilegierten Ort und keine privilegierte Zeit fÜr die Manifestation Gottes geben kann. Dies ist auch der systematische Grund, warum Bruno die Vorstellung einer historisch fixierbaren und auf ein Individuum bezogenen Menschwerdung Gottes ablehnen mußte. Die Welt als ganze, das Universum, ist die einzige Offenbarung ihres Grundes, und dieser Grund ist nichts anderes als der Grund des Universums. Der Mensch ist auch gar kein privilegierter Teil des Kosmos, und ein Teil kann ohnedies nicht das Ganze offenbaren. Eine Sonderrolle des Menschen in diesem Universum - wie sie etwa Pico della Mirandola angenommen hatte - gibt es nicht. Der Mensch ist nur ein Teil des Kosmos, allein der Kosmos als Ganzer kann seinen Grund zum Ausdruck bringen. Damit entfÇllt natÜrlich auch die Stellung des Menschen als Mikrokosmos. Mit dieser Reduzierung der Stellung des Menschen und mit der Distanzierung von der Mikro-MakrokosmosVorstellung trennt sich Bruno in klarer Weise von Grundauffassungen der meisten Philosophen und Dichter der Renaissance, fÜr die - wie z. B. bei Pico della Mirandola (vgl. Kap. I, 2) - die Sonderrolle des Menschen ein ganz entscheidendes Element gewesen war. Die Anthropologie wird bei Bruno zu einem Teil der Kosmologie. Dies zu sehen ist wichtig, um zu begreifen, daß die Neuzeit nicht einfach das »Zeitalter der SubjektivitÇt« ist, und schon die Renaissance war nicht einfach eine Zeit der Verherrlichung des Subjekts, sondern ebenso eine Zeit der R¹cknahme des Menschen in die Natur. GegenÜber der Tendenz der Literaten, das individuelle Leben als das Entscheidende anzusehen, gab es auch die Aufforderung, das universelle, kosmische Leben als Maßstab fÜr den Einzelnen zu nehmen und den Einzelnen im Kosmos wieder aufgehen zu lassen. Die Natur ist fÜr Bruno auch der einzige Ort, an dem es Sinn macht, von einer »Seele« zu sprechen. Entscheidend ist ja gar nicht die individuelle Seele, sondern die »Weltseele«, die - aus der platonischen Philosophie stammend - als unpersÙnliches Prinzip des Kosmos bei Bruno eine große Rolle spielte. Einzig diese Weltseele ist daher unsterblich. Der Sinn des Individuums ist kein anderer als der des Universums. Bei den Auffassungen Brunos ist zu sehen, daß diese nicht weniger, sondern eher mehr spekulativ sind als die des Mittelalters. Die Vorstellung der Unendlichkeit der Welt, welche die Unendlichkeit des gÙttlichen Grundes manifestiert, ist nicht schon leichter denkbar als die des unendlichen transzendenten Gottes. Die Unendlichkeit Gottes war im Mittelalter mit keinen Raumvorstellungen verbunden, wÇhrend der Gedanke einer rÇumlichen Unendlichkeit des Kosmos unvorstellbar war. Man kann bei Bruno nicht von wissenschaftlicher Theoriebildung im modernen Sinn des Wortes sprechen. Bestimmte ZÜge moderner Theoriebildung tauchen jedoch auch bei ihm schon auf. Der »unmittelbare Empirismus« des Aristoteles und der mittelalterlichen Philosophie wird hier grundsÇtzlich in Frage gestellt. Schon mit

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dem kopernikanischen System war gefordert, die Relevanz der unmittelbaren Welterfahrung zu relativieren, anzuerkennen, daß mathematische Berechnung fordern kann, die Welt als anders strukturiert anzunehmen, als dies sich von der Sinneserfahrung her ergibt. Nicht die Sinnesdaten selbst werden in Frage gestellt, wohl aber die Zusammenordnung derselben in einer »natÜrlichen Weltanschauung«. Bei Bruno wird deutlich, daß es nicht nur fÜr die Metaphysik ein Charakteristikum ist, auch mit Begriffen zu arbeiten, denen keinerlei unmittelbare Erfahrung entspricht, sondern daß dies auch in der Wissenschaft der Fall sein kann. Bruno zieht auch hier die erkenntnistheoretische Konsequenz aus dieser neuen Situation. Gleich zu Beginn seiner Schrift ZwiegesprÇche vom unendlichen All und den Welten heißt es: Freilich gibt es keinen Sinn, der das Unendliche anschaute, keinen Sinn, der uns unmittelbar zw›nge, darauf zu schließen; denn das Unendliche kann kein Gegenstand der Sinneswahrnehmung sein [...]. Darum ist dem Zutrauen auf das Zeugnis der Sinne ein Maß zu setzen; nur bei sinnlichen Gegenst›nden d¹rfen wir Gewicht darauf legen, und selbst hier ist es nicht ganz unverd›chtig, wofern nicht der urteilende Verstand hinzutritt. (Ebd. S. 28) Der Begriff des Unendlichen wirkt auf uns vielleicht noch sehr metaphysisch. Aber es gilt eben auch in der modernen empirischen Wissenschaft, daß dort mit zahlreichen Begriffen gearbeitet wird, bei denen es zwar Beziehungen zu empirischen Daten gibt, bei denen hingegen keinerlei Beziehung zu irgendwelchen sinnlichen Vorstellungen mÙglich ist. Wenn in der modernen Physik von einem »gekrÜmmten Raum« gesprochen wird, so kann dieser nicht mehr »vorgestellt«, sondern nur noch mathematisch expliziert werden. Die Bedeutung des Verstandes wird also nun grÙßer: Die Wahrheit also nimmt zwar, als von einem schwachen Anfangspunkte, von der Sinneswahrnehmung zu einem ganz geringen Teile ihren Ausgang, ist aber nicht in der Sinneswahrnehmung. (Ebd. S. 29) Die Wahrheit ist also nicht in der Sinneswahrnehmung gegeben. Es geht hier nicht bloß um den Zweifel an der ZuverlÇssigkeit der Sinneswahrnehmung, ein Zweifel, der ja nicht neu war, sondern um die Zumutung, daß die Grundbegriffe der Wissenschaft und die daraus resultierenden Modelle empirischer Wissenschaft unanschaulich sind. Auch das ist im Grunde nicht ganz neu, die vorsokratische Naturphilosophie eines Anaximander, Anaximenes oder Demokrit war von »Vorstellungen« ausgegangen, die keine unmittelbare Korrespondenz in der Erfahrung aufweisen konnten. Aber die antike Naturphilosophie hatte eben noch keine entwickelte empirische Wissenschaft zur VerfÜgung gehabt. Im Vergleich dazu jedoch war das kopernikanische System ein entwickeltes System empirischer Wissenschaft. Im koper-

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nikanischen System mußte man eine gewisse Unanschaulichkeit akzeptieren, aber die Grundbegriffe dieser Theorie waren doch mit empirischen, meßbaren Daten verbunden. Bei Bruno war das oft nicht der Fall. Die Grundbegriffe, die Bruno verwendete, waren nicht-empirischer Natur und konnten, wie er sagte, auch gar nicht empirischer Natur sein. Ihr erkenntnistheoretischer Status blieb aber ungeklÇrt. Auf die Frage, wo die Wahrheit ist, antwortet Bruno: Im sinnlichen Gegenstande, wie in einem Spiegel, im Verstande in der Weise der Argumentation und Sprache, in der Vernunft in der Weise der Grunds›tze und Schlußfolgerungen, im Geiste in eigener und lebendiger Gestalt. (Ebd. S. 29)

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Diese Aussage klingt beinahe platonisch und war wohl auch etwa so gemeint. Aber ohne platonische Wiedererinnerungslehre oder ohne augustinische Erleuchtungslehre bleibt dieser »Spiegel« eine erlÇuterungsbedÜrftige Metapher. Bruno hatte mit seiner Anwendung der Lullschen Kunst eine Korrespondenz einer logisch-metaphysischen und einer wissenschaftlich-kosmologischen Theorie angestrebt, am Schluß jedoch hatte er zwar eine umfassende metaphysische, aber nur eine bloß einen Teilbereich abdeckende wissenschaftliche Theorie. Dies wÇre an sich nicht problematisch, Bruno hat allerdings, soweit man sehen kann, keine wissenschaftlichen Anstrengungen unternommen, den empirischen Teil seiner Theorie zu erweitern, d. h.: Er selbst hat keinen Forschungsprozeß in Gang gesetzt. Daß andere aus Brunos Metaphysik dann Anregungen fÜr einen solchen Forschungsprozeß erhalten haben, ist eine andere Frage. Nichtsdestoweniger bleibt es das Verdienst Brunos, daß er - im Unterschied zu Nikolaus von Kues - klar gesehen hat, daß fÜr eine spekulative Kosmologie der Nachweis zumindest der VertrÇglichkeit mit einer empirisch ÜberprÜfbaren Theorie erforderlich ist. Brunos Art, philosophische Kosmologie zu betreiben, ist nicht schon jene, der die unmittelbare Zukunft gehÙren wird. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Bruno nicht die Philosophie und die Wissenschaft wesentlich beeinflußt hat, und zwar nicht einmal so sehr die seiner unmittelbaren Gegenwart, sondern vielmehr die der nachfolgenden Jahrhunderte. Er war mit seiner Konzeption zu weit Über das hinausgegangen, was an Folgerungen aus dem kopernikanischen System einleuchtend scheinen konnte. Sein Einfluß wuchs erst nach den großen durch das Teleskop ermÙglichten Entdeckungen, d. h. erst nach Galilei. In der zweiten HÇlfte des 17. Jhd.s aber wurden Brunos Vorstellungen dann zu einem entscheidenden Faktor des Weltbildes. Das Weltbild, welches zwischen dem metaphysisch-scholastischen des Mittelalters und dem physikalisch-wissenschaftlichen Newtons steht, wird eigentlich paradigmatisch durch Giordano Bruno reprÇsentiert. Die aristotelisch-ptolemÇische Vorstellung des Kosmos, die auch das ganze Mittelalter hindurch gegolten hatte, ist seit Nikolaus von Kues und, geschichtlich wirksamer, seit Giordano Bruno endgÜltig Überwunden. Der Kosmos wird nunmehr vorgestellt als ein Ganzes, das Überall aus denselben Stoffen

Giordano Bruno

besteht und Überall nach denselben Gesetzen funktioniert, welche Gesetze der Verstand nur - theoretisch vermittelt - aus dem Universum selbst erheben kann. Die Astronomie erhielt somit paradigmatischen Charakter fÜr Wissenschaft Überhaupt, und sie konnte zu Recht diese Funktion Übernehmen, denn sie war tatsÇchlich die fortgeschrittendste Wissenschaft ihrer Zeit. Daß die begeistertsten Propagandisten einer Wissenschaft nicht immer auch schon jene sind, welche die Reichweite und Grenzen ihrer Wissenschaft am kritischsten reflektieren, ist ein nicht seltenes PhÇnomen.

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- III -

Francis Bacon

1. Die historische Situation

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Im sechzehnten Jahrhundert wurde England zu einer modernen Großmacht. Es erlebte eine Periode des wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwungs, die oft als das »elisabethanische Zeitalter« bezeichnet wird. Wie viel oder wenig KÙnigin Elisabeth I. (1558–1603) tatsÇchlich an den Erfolgen Englands beteiligt war, mÙgen die Fachhistoriker entscheiden. In diesem Jahrhundert entwickelten sich in England Handel, industrialisiertes Gewerbe, Wissenschaft und Kunst in großem Ausmaß, insbesondere die Schiffahrt und die dazugehÙrige Technik erzielten große Erfolge. Die Schiffahrt wurde meist von SeerÇubern im Sir-Rang organisiert, denen nach der Besetzung sofort die offiziellen Gesellschaften zur organisierten Ausbeutung der Überseeischen Gebiete folgten. Der ¾bergang von mittelalterlich-feudalistischer zu modern-kapitalistischer Ordnung war voll im Gange, die Londoner BÙrse wurde tonangebend. Diese Entwicklung brachte England, natÜrlich nicht allen EnglÇndern, großen Reichtum. Da dieser Reichtum Macht bedeutete, lag ein Konflikt mit der Krone in der Luft. Dies zeigte sich dann besonders zur Zeit Jakobs I. (1603–1625), des Sohnes der Maria Stuart und Nachfolger KÙnigin Elisabeths. In diese Gesellschaft, in der die (englische Kolonial-)Welt »dem TÜchtigen gehÙrte«, der dafÜr kÙnigliche Privilegien erhielt, wurde Francis Bacon (1561–1626) als Sohn eines der hÙchsten Verwalter KÙnigin Elisabeths hinein geboren. Seine juristischen Studien, vor allem aber die FamilienzugehÙrigkeit sollten ihm eine politische Karriere sichern. Im Verlauf seiner Studien hielt er sich unter anderem in Paris auf (1577/78) und kam dort mit der modernen Naturwissenschaft und mit der Ablehnung aristotelischer Philosophie in Kontakt. Die wissenschaftspolitischen Ideen Bacons haben daher wahrscheinlich schon in Paris Form angenommen, auch wenn er sie erst spÇter ausdrÜcklich formuliert hat. Nach England zurÜckgekehrt wurde er bald Mitglied des Parlaments und begann fÜr seine wissenschaftspolitischen Ideen zu werben. UnterstÜtzung fand er insbesondere bei Lord Essex (1566–1601), einem der wichtigsten MÇnner in der Umgebung KÙnigin Elisabeths, mit dem ihn seit etwa 1592 eine persÙnliche Freundschaft verband. Lord Essex ermÙglichte es Bacon, seine Ideen der Monarchin selbst vorzutragen. Bacon fand jedoch zunÇchst keine weitere Gelegenheit, seine PlÇne zu verfolgen, da er bei Hof in Ungnade fiel. Anlaß

Die historische Situation

dafÜr waren die PlÇne der KÙnigin, durch eine rasche und hohe Besteuerung das Geld fÜr weitere AufrÜstung gegen den großen Konkurrenten Spanien zu erhalten. Bacon trat zwar immer fÜr englische Machtpolitik ein, wollte jedoch diese Steuern auf einen grÙßeren Zeitraum aufteilen. Die KÙnigin setzte sich aber im Parlament durch, somit hatte Bacon auf der falschen Seite gestanden. Ihm blieb nun Zeit, sich philosophischen und literarischen Studien zu widmen. Bacons GÙnner Essex sollte einen Earl in Irland, der dort nicht die Interessen der Krone, sondern seine eigenen vertrat, im Auftrag der KÙnigin angreifen, zog aber Verhandlungen mit diesem vor. Er wurde daraufhin selbst verhaftet, kam aber wieder frei, wobei ihm Bacon bei der Rechtfertigung gegenÜber der KÙnigin behilflich war. Als Essex aber wegen eines bewaffneten Aufstands gegen die KÙnigin 1601 verhaftet wurde, fand sich Bacon gezwungen, unter den AnklÇgern aufzutreten. Essex wurde als HochverrÇter hingerichtet und ausgerechnet Bacon mußte im Auftrag der KÙnigin eine entsprechende - fÜr die ²ffentlichkeit bestimmte und 1601 auch publizierte - Darstellung des ganzen Vorgangs verfassen, in der Bacon politisch verstÇndlicherweise nicht fÜr seinen frÜheren Freund eintreten konnte. Dieses Verhalten Bacons wurde hÇufig kritisiert, die politische und rechtliche Sachlage ließ ihm aber vermutlich, sofern er Überhaupt weiter politisch tÇtig sein wollte, keine andere Wahl. Trotzdem wurde aus der politischen Karriere zur Zeit KÙnigin Elisabeths nichts. Erst unter ihrem Nachfolger Jakob I. gelang Bacon der politische Durchbruch und damit der Aufstieg in der Staatshierarchie. Der Grund fÜr diese Karriere lag darin, daß er im Parlament die Interessen des KÙnigs vertrat, der eine politische Einheit von England und Schottland anstrebte, was auch Bacons eigenen Vorstellungen von England als einer Großmacht entsprach. 1618 war er schließlich Lordkanzler und hatte damit das hÙchste Amt der kÙniglichen Verwaltung inne, worauf er dann auch diverse Adelstitel erhielt. 1620 verÙffentlichte Bacon die Instauratio Magna, deren zweiter Teil, das Novum Organon, jenes Werk ist, das Bacon seine herausragende Stellung in der Geschichte der Philosophie sicherte. Bacon wollte jetzt seine bedeutende politische Position fÜr die Verwirklichung seiner wissenschaftspolitischen Ideen nutzen, doch daraus wurde nichts. Schon 1621 wurde er wegen Bestechung angeklagt, eine ungewÙhnliche Beschuldigung, denn Bestechung war damals ein Teil des Systems, insofern diese eine Art »direkter Abgaben« darstellte, die den Staatsdienern erst ihre mehr oder weniger aufwendige LebensfÜhrung garantierten. Als Richter nahm Bacon Bestechungsgelder von beiden Parteien, so daß er zu seiner Verteidigung sagen konnte, die Gelder hÇtten seine Entscheidungen nicht beeinflußt. Die Anklage der Bestechung war daher nur ein Vorwand. In Wirklichkeit ging es um die kÙniglichen Monopolrechte - fÜr die die Inhaber dem KÙnig erhebliche Summen zahlen mußten -, die Bacon verteidigte, die aber mit dem entstehenden Kapitalismus nicht mehr vereinbar erschienen und so von einflußreichen Gruppen des Parlaments bekÇmpft wurden. Bacon hingegen setzte schon aufgrund seines kÙniglichen Amtes, aber auch im Interesse der ange-

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strebten Weltmacht Englands auf eine starke und finanziell vom Parlament unabhÇngige Stellung des KÙnigs, obwohl er genau erfaßt hatte, daß deren Finanzierung Über Vergabe von Monopolen nicht mehr den wirtschaftlichen Gegebenheiten entsprach. KÙnig Jakob I. begriff, daß mit Bacon die Rechte der Vergabe von Monopolprivilegien getroffen werden sollten und versuchte, den offenen Konflikt zu vermeiden. Er Überredete Bacon, auf eine Verteidigung zu verzichten, Bacon wurde verurteilt und verlor seinen Posten, wurde aber nach einigen Tagen GefÇngnis vom KÙnig frei gelassen und konnte sich auf sein Landgut zurÜckziehen. Er hatte nun Zeit, sich ganz den wissenschaftlichen Arbeiten zu widmen, seine finanzielle Basis war allerdings sehr schwach. Er verfaßte zunÇchst eine Geschichte der jÜngeren Vergangenheit Englands und machte sich dann an die Ausarbeitung des 3. Teils der Instauratio Magna, also der Natur- und Experimentalgeschichte zur Grundlegung der Philosophie. An eine vollstÇndige DurchfÜhrung dieses Teils dachte Bacon jedoch nicht, er war nur als ein Programm konzipiert, an dem sich Forschergruppen und ganze Forschergenerationen orientieren sollten. Diese Schrift wurde sogar noch im 17. Jhd. in der Royal Society bei der Planung von Forschungsarbeiten herangezogen. Die wissenschaftspolitischen PlÇne Bacons fanden also spÇter doch noch eine gewisse Verwirklichung. Besonders deutlich ist der Einfluß auf Leibniz bei dessen zahlreichen EntwÜrfen zu einer Scientia generalis und zu den entsprechenden PlÇnen zur Errichtung von Akademien. Außer weiteren Arbeiten zur Wissenschaft schrieb Bacon auch die - gewollt oder ungewollt - unvollendet gebliebene Neu-Atlantis, also - neben Campanella und Morus - die dritte Utopie der Zeit der Renaissance. Diese Periode des zurÜckgezogenen Lebens und Arbeitens dauerte jedoch nicht sehr lange, da Bacon am 9. April 1626 starb. Die radikale VerÇnderung der Stellung der Philosophie im Zusammenhang der Wissenschaften und die entsprechende VerÇnderung der Stellung des Philosophen in der Gesellschaft wird schon durch die gesellschaftliche Position Bacons angezeigt: Der letzte große, in der mittelalterlichen Tradition stehende Philosoph am ¾bergang zur Neuzeit, Nikolaus von Kues, war Kardinal - der erste große Philosoph am Beginn der Neuzeit, Bacon, ist Lordkanzler. Nicht mehr die Kirche, sondern die HÙfe und die von diesen erhoffte UnterstÜtzung sind die Adressaten der Philosophen. Bacons ganzes Streben war darauf gerichtet, empirische Wissenschaft zu organisieren, also Wissenschafts- und Forschungspolitik zu betreiben. Sein Plan war, Institutionen der Forschung zu errichten, die der FÙrderung des Fortschritts und so der Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen dienen sollten. Dies brachte er vor allem in seiner utopischen Schrift Neu-Atlantis (vgl. dazu weiter unten 3) zum Ausdruck, doch die traditionellen Strukturen waren zu seiner Zeit noch zu stark, um eine Verwirklichung dieser PlÇne zu ermÙglichen. Seit der Revolution Cromwells 1642 entstanden jedoch in England zahlreiche Gruppen, die nach den Zielen Bacons Wissenschaft betreiben wollten. Als dann die Monarchie wieder errichtet wurde, blieb dieser Impuls erhalten und wurde vom KÙnig selbst aufgenommen, was 1660 zur GrÜn-

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dung der Royal Society fÜhrte, die in den folgenden Jahrhunderten eine fÜhrende Rolle in der Naturwissenschaft Übernahm.

2. Erkenntnisfortschritt durch experimentelle Wissenschaft Bacon hatte ein umfassendes philosophisches und wissenschaftliches Werk geplant, die schon erwÇhnte Instauratio Magna. Davon hat Bacon nur die beiden ersten Teile vollendet: De dignitate et augmentis scientiarum (1623), ein Versuch der Einteilung der Wissenschaften, und das Novum Organon (1620), welches die Grundlegung der Wissenschaft enthÇlt. Zum dritten Teil, der die PhÇnomene des Universums, oder eine Natur- und Experimentalgeschichte zur Grundlegung der Philosophie behandeln soll, hat Bacon selbst spÇter einige Abschnitte verfaßt. Wenn man sagt, Bacon habe ein umfassendes Werk geplant, aber nur einzelne Teile vollendet, so ist dies in einer bestimmten Weise zu prÇzisieren: (1) Bacon war sich im Klaren darÜber, daß das von ihm geplante Werk nicht von einem einzelnen, sondern nur als Gemeinschaftsarbeit vieler realisiert werden kÙnnte. (2) Es handelt sich eigentlich gar nicht um ein Werk, das als ein Buch vollendet werden kÙnnte, sondern um den Plan fÜr die Organisation eines Prozesses wissenschaftlicher Forschung. Bacon hatte deutlich erfaßt, daß es nicht eine vorweg und endgÜltig definierte Methode der Wissenschaft geben kann. Die Methode ist selbst in den Erkenntnisfortschritt durch Wissenschaft hineingezogen und muß sich daher mit diesem Çndern. Es sind aber vermischte Dinge, die aus der Logik und der eigenen Materie der Wissenschaften selbst hergenommen sind, denn derjenige muß sehr schlecht und enge denken, welcher davor h›lt, daß die Kunst von Erfindung der Wissenschaften gleich von Anfang, als vollkommen, ausgedacht und vorgelegt werden k³nne, und eben so hierauf getrieben werden m¹sse. Aber die Menschen sollen allerdings wissen, daß die gr¹ndlichen und echten Erfindungs-K¹nste mit den Erfindungen selbst wachsen und zunehmen: so daß derjenige, welcher anf›nglich die Untersuchung einer Wissenschaft unternimmt, einige n¹tzliche Erfindungs-Regeln haben kann: nach weiterem Fortgang in der Wissenschaft selbst aber ebenfalls auch neue Erfindungs-Regeln, die ihn mit mehr Gl¹ck weiter f¹hren, ausdenken k³nne und m¹sse. (•ber die W¹rde und den Fortgang der Wissenschaften V, 3. S. 469) Schon der Titel Novum Organon zeigt die Grundintention an. Unter der Bezeichnung Organon faßte man seit der spÇten Antike die fÜnf BÜcher des Aristoteles zusammen, welche die Logik und Wissenschaftstheorie enthielten, und diese waren maßgebend auch fÜr die Philosophie und Wissenschaftsauffassung des Mittelalters gewesen. Wenn Bacon nun sein Werk als Neues Organon bezeichnet, so will er damit schon im Titel zum Ausdruck bringen, daß die Wissenschaft auf eine neue Grundlage

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gestellt werden muß, durch die eine wirkliche Umgestaltung erreicht werden soll, und dies nicht einfach durch eine Fortentwicklung oder Modifikation der aristotelischen Wissenschaftsauffassung, sondern durch die Schaffung einer gÇnzlich neuen. Bacon war sich dessen bewußt, und dies zeigt sich deutlich in dem Pathos, mit dem er diesen Neuanfang verkÜndet und fÜr den er ausdrÜcklich Unvoreingenommenheit, ja geradezu eine tabula rasa, fordert: Eine reine Naturphilosophie findet man bisher nicht, sie ist angesteckt und verdorben: in der Schule des Aristoteles durch die Logik, in der Schule Platons durch die nat¹rliche Theologie, in der zweiten Schule Platons, des Proklos und anderer, durch die Mathematik, diese soll die Naturphilosophie eingrenzen, nicht aber befruchten und sch³pferisch gestalten. Von einer reinen und unvermengten Naturphilosophie ist Besseres zu erwarten. (Neues Organon I, Aph. 96. S. 211)

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Niemand bisher ward gefunden, der eine solche Festigkeit und H›rte des Geistes aufgebracht h›tte, entschlossen, die ¹blichen Theorien und Begriffe v³llig abzulehnen und den so befreiten und gereinigten Verstand von neuem auf das Einzelne zu richten. Daher ist die menschliche Vernunft, welche wir haben, ein eigenartiges Gemisch von vielem Vertrauen und auch vielem Zufall wie auch von kindischen, oberfl›chlich genommenen Begriffen. Wenn nun jemand im reifen Alter, bei klaren Sinnen und unverdorbenem Geiste sich unvoreingenommen der Erfahrung und den Einzeldingen zuwendet, so kann man Besseres von ihm erhoffen. (Ebd. I, Aph. 97. S. 213) Diese EinschÇtzung der aristotelischen Wissenschaftstheorie ist nicht in allen Punkten korrekt, denn Aristoteles hat in vieler Hinsicht durchaus gÜltige und richtige Auffassungen, z. B. bezÜglich der Rolle der Logik fÜr wissenschaftliche Theorienbildung, vertreten. Trotz dieser Problematik bleibt es Bacons Verdienst, als erster mit aller Klarheit eine Auffassung von Wissenschaft proklamiert zu haben, die maßgebend fÜr die kommenden Jahrhunderte werden sollte. Bacon war sich auch darÜber im Klaren, daß die im Entstehen begriffene neue Gesellschaftsstruktur eine vÙllig neue Beziehung zu Wissen und Wissenschaft bedeutete und daß in dieser neuen Gesellschaft auch bereits Forderungen nach einer solchen »neuen Wissenschaft« laut geworden waren. Die eigentliche Leistung Bacons liegt genau in dieser Diagnose und außerdem darin, daß er sie in eine klare und einleuchtende sprachliche Form zu fassen verstand. Die neue Gesellschaft war an technischem und wissenschaftlichem Fortschritt interessiert, den die bestehende Wissenschaft in ihrer traditionellen Form nicht liefern konnte. Die traditionelle Wissenschaft faßte Wissen als theoria auf, als contemplatio, als Anschauung. Die praktische Verwertbarkeit des Wissens war nie ein Motiv der Wissenschaftler gewesen, ganz im Gegenteil wurde die Freiheit von praktischen und technischen Zielsetzungen geradezu als Voraussetzung theoretischer Erkenntnis angesehen. Bacon diagnostizierte richtig, daß in der jetzt anbrechenden Periode nicht

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Wissen um seiner selbst angestrebt wurde, sondern Wissen, welches der Verbesserung der Lebensbedingungen dient, Wissen also, das einen konkreten Nutzen erbringt. Bacon lehnt die als contemplatio verstandene theoretische Wissenschaft nicht ab, er rÇumt ihr aber keinen prinzipiellen Vorrang gegenÜber dem praktischen Handeln ein, sondern fordert eine Einheit von beiden: Beide Aussagen, die f¹r das Handeln wie f¹r das Betrachten (activum et contemplativum), sind ein und dieselbe Sache und was im T›tigsein am n¹tzlichsten (in Operando utilissimum), ist im Wissen reine Wahrheit (in Sciendo verissimum). (Ebd. II, Aph. 4. S. 287) Wir sind also bei der »nÜtzlichen Wahrheit« angelangt, d. h. die Arbeit des Forschers wie auch er selbst werden daran gemessen werden, ob sie bzw. er - in mehr oder weniger unmittelbarer Weise - einen Nutzen fÜr die Gesellschaft darstellen. Mit dieser neuen Definition der Rolle der Wissenschaft und des Wissenschaftlers wurde die Trennung in Theorie und Praxis und damit gleichzeitig die in »Arbeitende« (= Produzierende) und »Forschende« (= privilegierte nicht-Arbeitende) aufgehoben. Der Forschende wird sich in der Neuzeit als Produzierender verstehen, und seine Produkte werden in zunehmendem Maße an dem gemessen werden, was sie fÜr die technische Produktion und damit fÜr die Hebung des Wohlstandes leisten. Die praktische Verwertbarkeit ist allerdings fÜr Bacon nicht das einzige und auch nicht das ausschlaggebende Kriterium fÜr die Bewertung der Ergebnisse der Wissenschaft, wohl aber ein durchaus relevanter Indikator. Von da aus kritisiert Bacon auch den traditionellen, von den Griechen her Überlieferten Wissenschaftsbetrieb: Denn die Fr¹chte und die erfundenen Werke sind gleichsam die B¹rgen und Gew›hrsm›nner f¹r die Wahrheit der Philosophien. Aber aus besagten Philosophien der Griechen und ihren Verzweigungen in die einzelnen Wissenschaften hat man innerhalb eines Zeitraumes von nun schon so vielen Jahrhunderten kaum ein einziges Experiment abgeleitet, welches sich auf eine Erleichterung und Verbesserung der Lage der Menschen bezieht, und von welchem man behaupten kann, daß es in der Tat mittels der Spekulationen und Dogmen der Philosophien gewonnen worden ist. (Ebd. I, Aph. 73. S. 157) Entscheidend dabei, und dies ist der Verdienst Bacons, ist, daß er sah, daß damit nicht nur die Verwendung von Wissen und Wissenschaft in einen verÇnderten Rahmen eintrat, sondern daß auch der Begriff von Wissen und die Methode von Wissenschaft eine tiefgreifende VerÇnderung erfuhren. Der jetzt instrumentelle Charakter der Wissenschaft erforderte eine Wissenschaft, die selbst aus einem instrumentellen Zusammenhang hervorgegangen ist. Schon gleich zu Beginn des Novum Organon sagt Bacon dazu:

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Weder die bloße Hand noch der sich selbst ¹berlassene Verstand verm³gen Nennenswertes; durch unterst¹tzende Werkzeuge wird die Sache vollendet; man bedarf ihrer nicht weniger f¹r den Verstand als f¹r die Hand. Und so, wie die Werkzeuge die Bewegung der Hand wecken oder lenken, so st¹tzen und sch¹tzen in gleicher Weise die Werkzeuge des Geistes die Einsicht. (Ebd. I, Aph. 2. S. 81) Der Handwerker erhÇlt hier eine gewisse Modellfunktion fÜr Wissen und Wissenschaft, denn dieser erfaßt ZusammenhÇnge nicht nur durch die Betrachtung der Natur, sondern durch das handelnde Bearbeiten von GegenstÇnden der Natur, und um zu immer besseren Produkten zu gelangen, muß er bessere Verfahren der Bearbeitung durch Ausprobieren erfinden: Damit sind wir beim Experiment. Gleichzeitig ist bei der TÇtigkeit des Handwerkers immer die praktische Zielsetzung, der Nutzen des Produkts, mitbestimmend, denn die produzierten GegenstÇnde mÜssen verkauft werden, und je bessere Methoden der Herstellung der Handwerker erfunden hat, um so mehr Nutzen hat er auch fÜr sich selbst. Aus diesem Zusammenhang heraus ist das, was er erkennt, wieder als neue Technik verwertbar. Dem Handwerk sind jedoch gerade aufgrund der Orientierung am Nutzen deutliche Grenzen gesetzt: 62

Denn der Handwerker ist an der Erforschung der Wahrheit in keiner Weise interessiert, und er strengt seinen Geist nur so lange und seine Hand nur so weit an, als es zur Vollendung des Werkes selbst n³tig ist. Aber auf einen weiteren Fortschritt in den Wissenschaften kann man nur dann mit Recht hoffen, wenn man in die Naturgeschichte eine große Anzahl solcher Experimente aufnimmt und sammelt, die zwar keinen unmittelbaren Nutzen bringen, aber f¹r die Erforschung der Ursachen und Gesetze von großem Wert sind. (Ebd. I, Aph. 99. S. 217) Es ist ersichtlich, daß dieses Programm bei Bacon keineswegs kurzschlÜssig utilitaristisch konzipiert ist. Es geht zunÇchst einmal wirklich um Forschung und Forschungsergebnisse, die Frage der nutzbringenden Verwertung ist eine zwar auch wichtige, sachlich aber doch sekundÇre Frage. Eine zu unmittelbare Bindung an einen zu erwartenden Nutzen ist seiner Meinung nach geradezu forschungshemmend. Bacon trifft dabei die gute Unterscheidung in »lichtbringende« (lucifera) und »fruchtbringende« (fructifera) Experimente und lÇßt keinen Zweifel daran, daß es erst einmal auf jene Experimente ankommt, die einen Erkenntnisfortschritt bringen: Wenn man sich auch m¹ht, klare Wissenschaft und feste Lehrs›tze aus den Experimenten zu gewinnen, so wendet man sich dennoch fast immer in ¹bereiltem Eifer vorzeitig der Praxis zu; nicht nur, um aus einer solchen Anwendung Nutzen und Frucht zu ziehen, sondern um aus irgend einem neuen Werke gleichsam die Gewißheit daf¹r zu gewinnen, daß man auch in den ¹brigen nicht ohne Nutzen bleiben werde. [...] hnlich ist bei jeder Erfahrung zun›chst auf die Erforschung der Ursachen und

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wahren Grunds›tze einzugehen; es sind die lichtbringenden, nicht die fruchtbringenden Experimente zu suchen. Denn die richtig erforschten und aufgestellten Grunds›tze (axiomata) ergeben keine magere, sondern eine ¹ppige Praxis und ziehen Scharen und Massen von Werken nach sich. (Ebd. I, Aph. 70. S. 149) Bacon warnt also durchaus vor »Übereiltem Eifer«, mit dem sofort praktisch verwertbare Ergebnisse erwartet werden. ZunÇchst einmal muß es um die Erforschung der Ursachen, also um wissenschaftliche Hypothesenbildung gehen. Wir mÜssen mit Verstand die Natur befragen, um von da aus zu lernen, wie wir uns erfolgreich der Natur bemÇchtigen kÙnnen: Der Mensch, Diener und Erkl›rer der Natur, schafft und begreift nur so viel, als er von der Ordnung der Natur durch die Sache oder den Geist beobachten kann; mehr weiß oder vermag er nicht. (Ebd. I, Aph. 1. S. 81) Wissen und menschliches K³nnen erg›nzen sich insofern, als ja Unkenntnis der Ursache die Wirkung verfehlen l›ßt. Die Natur n›mlich l›ßt sich nur durch Gehorsam b›ndigen; was bei der Betrachtung als Ursache erfaßt ist, dient bei der Ausf¹hrung als Regel. (Ebd. I, Aph. 3. S. 81) Im eben aufgefÜhrten Aphorismus bringt Bacon Wissen (scientia) und Macht (potentia) in eine enge Verbindung. Vermutlich war es dieser Satz, der Anlaß dazu gegeben hat, Bacon die These »Wissen ist Macht« zuzuschreiben. In dieser Form findet sich diese These aber nicht bei Bacon - Bacons Satz behauptet nÇmlich etwas weniger: »Wissen und menschliches KÙnnen/menschliche Macht fallen zusammen (coincidunt)«, wobei auch zu beachten ist, daß potentia zwar auch »Macht« bedeuten kann, hier aber vom ¾bersetzer besser mit »menschliches KÙnnen« wiedergegeben wird, wodurch der Satz auch weniger aggressiv klingt. Auch sollte man dabei nicht Übersehen, daß Bacon die These eigentlich nicht positiv formuliert, sondern negativ, wie es aus seiner ErlÇuterung (quia) hervorgeht: »Unkenntnis der Ursache zerstÙrt (destruit) die Wirkung.« Das heißt: Bei Unkenntnis der GrÜnde lassen sich nicht die erhofften Wirkungen erzielen. Daraus folgt aber nicht, daß umgekehrt - nun positiv gefaßt - die erhoffte Wirkung die Suche nach den GrÜnden immer bestimmen muß. Bei Bacon hat auch »reine« Forschung, also Grundlagenforschung, bei der zunÇchst gar kein Nutzen abzusehen ist, seine Berechtigung. Aus der Erkenntnis einer natÜrlichen Ursache ergibt sich zwar eine Regel, die zu einer nutzenbringenden Anwendung fÜhren kann, fÜr Bacon hat aber die Erkenntnis auch einen eigenen Wert in sich und ist nicht nur die erforderliche Voraussetzung fÜr die Nutzanwendung. Es geht also zunÇchst einmal um »lichtbringende Experimente«. Das Experiment als Element der Methode der Wissenschaft war freilich auch schon vor der Zeit Bacons bekannt - die Alchemie war immer schon als experimentelle Wissenschaft

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aufgefaßt worden. Neu ist an Bacons Konzeption jedoch, daß das Experiment ausdrÜcklich in den allgemeinen Begriff der Wissenschaft aufgenommen wird. Damit wird die frÜhere strenge Trennung von Verstehen/Begreifen (epistµme) und KÙnnen/ Technik (tµchne) aufgehoben. Der Begriff der experimentellen Wissenschaft ist erst von Bacon scharf gefaßt worden. Ehe jedoch Experimente durchgefÜhrt werden kÙnnen, ist genaue Beobachtung der Sachverhalte erforderlich. Beobachtung war seit Aristoteles als entscheidendes Element des wissenschaftlichen Vorgehens angesehen worden. Bacon kritisiert jedoch an dem bisher gegangenen Weg, daß dort immer zu rasch von der Sinneserfahrung zu den allgemeinsten Begriffen und Aussagen fortgeschritten wurde, was nicht nur fÜr den faktischen Wissenschaftsbetrieb, sondern auch fÜr die Methodologie der Wissenschaft gilt: Das entscheidende Problem der Erkenntnistheorie war bisher tatsÇchlich die Frage der Bildung und Geltung von Allgemeinbegriffen gewesen - der Begriff der Erfahrungswissenschaft war somit von den Erfordernissen der Logik, also der Dialektik, her bestimmt gewesen.

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Jenen ersten Weg betritt der sich selbst ¹berlassene Geist, er geht ihn nach Maßgabe der Dialektik; denn der Geist strebt zu dem Allgemeinsten empor, um da auszuruhen; und nach kurzer Weile wird er der Erfahrung ¹berdr¹ssig. Aber dieses •bel ist schließlich von der Dialektik verst›rkt worden, um die Disputationen mit unwiderstehlicher Glorie zu umgeben. (Ebd. I, Aph. 20. S. 89 und 91) Man hÙrt schon hier heraus, worauf Bacon hinaus will: Heraus aus dem HÙrsaal mit seinen Diskussionen - hinein ins Labor mit seinen Experimenten. Auch hier will Bacon einen wirklich neuen Weg aufzeigen. ZunÇchst kÙnnte ja der Unterschied des alten und des neuen Weges als ein nur gradueller erscheinen: Beide Wege beginnen mit den Sinnen und dem Einzelnen und enden bei dem Allgemeinsten; aber sie weichen unermeßlich voneinander ab (immensum quiddam discrepant); auf dem einen streift man nur fl¹chtig die Erfahrung und die Einzeldinge; auf dem anderen verweilt man richtig und ordnungsgem›ß bei ihnen. Auf dem einen wiederum stellt man bereits am Anfang abstrakte und nutzlose Verallgemeinerungen auf, w›hrend der andere stufenweise zu denen emporsteigt, die der Natur in Wahrheit gem›ßer sind. (Ebd. I, Aph. 22. S. 91) Der Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Weg ist eben doch nicht nur ein gradueller, sondern ein prinzipieller. Beobachtung als solche ist ja noch gar nicht kennzeichnend fÜr die neue Wissenschaft, dieser entspricht vielmehr nur jene Beobachtung, die zielgerichtet als Experiment eingesetzt wird, da nur diese wirklich zu einem Erkenntnisfortschritt fÜhrt:

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Denn die Sinne f¹r sich allein sind ein gar schwaches und irrtumgebundenes Ding. Auch verm³gen Werkzeuge zur Erweiterung und Sch›rfung der Sinne nicht viel; sondern alle richtigere Interpretation der Natur kommt durch Einzelf›lle und geeignete durchf¹hrbare Experimente zustande; wo der Sinn nur ¹ber das Experiment, das Experiment ¹ber die Natur und die Sache selbst entscheidet. (Ebd. I, Aph. 50. S. 113) Im Gegensatz zu dem antiken und mittelalterlichen Theoriebegriff und der diesem entsprechenden Wissenschaft fordert Bacon eine theorie- und verstandesgeleitete, empirisch-experimentelle Wissenschaft. Daß er ein Zusammenwirken von Theorie und Erfahrung in dem Sinne annahm, daß das reine Zusammentragen empirischer Fakten nicht genÜgt, hat Bacon in einem einprÇgsamen Vergleich gezeigt (»Dogmatiker« steht hier fÜr »Rationalisten«): Die, welche die Wissenschaften betrieben haben, sind Empiriker oder Dogmatiker gewesen. Die Empiriker, gleich den Ameisen, sammeln und verbrauchen nur, die aber, die die Vernunft ¹berbetonen, gleich den Spinnen, schaffen die Netze aus sich selbst. Das Verfahren der Biene aber liegt in der Mitte; sie zieht den Saft aus den Bl¹ten der G›rten und Felder, behandelt und verdaut ihn aber aus eigener Kraft. Dem nicht un›hnlich ist nun das Werk der Philosophie; es st¹tzt sich nicht ausschließlich oder haupts›chlich auf die Kr›fte des Geistes, und es nimmt den von der Naturlehre und den mechanischen Experimenten dargebotenen Stoff nicht unver›ndert in das Ged›chtnis auf, sondern ver›ndert und verarbeitet ihn im Geiste. Daher k³nne man bei einem engeren und festeren B¹ndnisse dieser F›higkeiten, der experimentellen n›mlich und der rationalen, welches bis jetzt noch nicht bestand, bester Hoffnung sein. (Ebd. I, Aph. 95. S. 211) Hier wird gleichzeitig eine Aussage Über die Struktur der Wissenschaft wie auch Über die der Philosophie gemacht. So, wie wissenschaftliche Erkenntnis nur aus dem Zusammenspiel von Theorie und Empirie zustande kommt, so braucht auch philosophische Erkenntnis diesen Zusammenhang; Philosophie wird also in eine Beziehung zu empirischer Wissenschaft gesetzt. So zeigt sich auch hier wieder die diagnostische StÇrke Bacons in dieser ¾bergangsperiode: Die Zuordnung von Philosophie und empirischer Wissenschaft wird ein zentrales Thema der Neuzeit sein. Zu der Frage, wie im einzelnen diese Zuordnung beschaffen sein soll, liefert Bacon keine prÇzise Antwort. In jedem Fall aber trifft die Diagnose Bacons fÜr die gesamte folgende Zeit bis in unsere Gegenwart hinein zu. Der einzige Bereich der Philosophie, der in seinem Status - bei allen internen Diskussionen - unbestritten ist, ist die Wissenschaftstheorie und die mit ihr verbundene Logik, bis hin zu der gelegentlich vertretenen Auffassung, daß Philosophie eigentlich gar keine andere Aufgabe als Logik und Analyse der Wissenschaft und der Mathematik hat, sich also in der Wissenschaftstheorie in einem umfassenden Sinn erschÙpft. Und selbst dann, wenn ein

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Philosoph diese rigorose Auffassung nicht vertritt, muß er doch wissen, daß seine Aussagen immer an den Standards von Logik und Wissenschaftstheorie gemessen werden. Bacon sah einige der Probleme, die mit seinem WissenschaftsverstÇndnis verbunden waren. Das wichtigste dabei war das der Induktion, d. h. der Verallgemeinerungen aufgrund von einzelnen Beobachtungen. Man sollte jedoch Bacon nicht in die Vorgeschichte des Induktions-Problems einreihen, wie es von Hume bis Carnap und darÜber hinaus bis heute diskutiert wird. Es geht Bacon nicht um die Logik des induktiven Schließens, sondern um die forschungspraktische Frage, wie wir durch methodische Auf- und Zusammenstellung des empirischen Materials zu induktiven Verallgemeinerungen gelangen. Bacon schlÇgt dafÜr die Aufstellung von Tabellen vor: F¹r eine gegebene Eigenschaft ist zun›chst dem Verstand eine •bersicht aller bekannten F›lle vorzulegen, welche in der gleichen Eigenschaft ¹bereinstimmen, auch wenn sie anderweitig noch so verschieden sind. (Ebd. II, Aph. 11. S. 301 und 303)

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Dies nennt Bacon die »Tafel des Wesens und des Vorhandenseins« (Ebd. S. 307). Es werden also z. B. alle FÇlle (instantiae) aufgezÇhlt, wo GegenstÇnde die Eigenschaft WÇrme aufweisen. Dann folgt eine Tabelle im umgekehrten Sinn: F¹rs zweite ist dem Verstand eine •bersicht der F›lle vorzulegen, wo die betreffende Eigenschaft fehlt. (Ebd. II, Aph. 12. S. 307) Das Aufstellen einer solchen Negativ-Liste ist natÜrlich wesentlich problematischer, was Bacon auch genau weiß: »Alles hier aufzuzÇhlen, wÜrde ins Endlose fÜhren« (Ebd.). Er muß sich also mit den »nÇchsten FÇllen« (instantiae in proximo) begnÜgen. Werden z. B. die Strahlen der Sonne als warm empfunden, so fÇllt auf, daß die des Mondes und der Sterne nicht so empfunden werden (Ebd.). Bacon gibt aber auch Hinweise, wie sich hier experimentell weiterarbeiten ließe: Man kÙnnte z. B. versuchen, ob nicht die Strahlen des Mondes durch Brennspiegel aufgefangen, doch eine minimale WÇrme erzeugen (Ebd. S. 311). Das ist ganz klug gedacht. - Im weiteren soll eine Tabelle aufgestellt werden, in der quantitative VerÇnderungen registriert werden: Drittens ist f¹r den Verstand eine •bersicht der F›lle aufzustellen, wo die zu untersuchende Eigenschaft in verschiedenen Graden auftritt; sei es, daß sie im selben Gegenstand zu- und abnimmt, oder durch Vergleichen verschiedener Gegenst›nde. (Ebd. II, Aph. 13. S. 331) Dabei kÙnnen bestimmte Faktoren isoliert werden, z. B. kann festgestellt werden, daß die ErwÇrmung durch die Sonne vom Einfallswinkel und von der ErdnÇhe ab-

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hÇngt (Ebd. S. 339). Oder: Bewegung vergrÙßert die WÇrme, was sich daran beobachten lÇßt, daß durch einen Blasebalg die Hitze des Feuers vergrÙßert wird (Ebd. S. 341). Es geht also auch in diesen FÇllen um gezielte Experimente, die fallrelevante und quantifizierbare Ergebnisse liefern. Dann folgt die Formulierung eines Naturgesetzes: Die Aufgabe und Absicht dieser drei Tafeln pflege ich die f¹r den Verstand eingerichtete vergleichende •bersicht der F›lle zu nennen. Ist diese •bersicht gemacht, so folgt die Induktion selbst. Es muß n›mlich ¹ber die vergleichende •bersicht aller einzelnen F›lle hinaus eine solche nat¹rliche Bestimmung gefunden werden, die mit einer gegebenen Eigenschaft immer zugleich da ist oder fehlt, mit ihr zu- und abnimmt und die wie bereits gesagt - ein besonderer Fall einer allgemeinen Eigenschaft ist. (Ebd. II, Aph. 15. S. 349) Im Fall der WÇrme gelangt Bacon zu der - durchaus richtigen - These, daß sie in einer unregelmÇßigen Bewegung der kleinsten Teile eines KÙrpers besteht (Ebd. II, Aph. 20, c. S. 369 und 371). Dabei unterschÇtzte Bacon allerdings den Grad der Erfindungskraft, der zum Aufstellen solcher Hypothesen erforderlich ist. Er meinte, daß sich durch die geeignete tabellarische Darstellung der empirischen Gegebenheiten diese Hypothese gleichsam aufdrÇngen mÜßte. Wir werden auf diese wichtige Frage gleich noch zurÜckkommen (vgl. die Idole der BÜhne im folgenden Punkt). - Zur ¾berprÜfung einer solchen Gesetzlichkeit zieht Bacon dann vorrangige FÇlle (Praerogativae Instantiae) heran, die er auch »FÇlle des Kreuzes« (Instantiae Crucis) nennt woraus unser Ausdruck crucial experiment wurde -, weil sie wie ein Wegkreuz funktionieren, an dem sich die Wege trennen (Ebd. II, Aph. 36. S. 439). Besonders wichtig sind dabei negative Instanzen. Von falschen Theorien werden wir dadurch am ehesten befreit, wenn wir nach »negativen Instanzen« suchen, also nach Erfahrungsgegebenheiten, die unsere Theorien widerlegen kÙnnten, und weniger nach solchen, die unsere Theorien stÜtzen. Erst unter diesem Blickwinkel werden auch die stÜtzenden Instanzen wirklich relevant. Ein strenger Falsifikationist im Sinne Poppers ist Bacon aber doch nicht, obwohl er ausdrÜcklich feststellt, »daß jeder gegensÇtzliche Fall bereits genÜgt, ein Über die Form aufgestelltes Urteil zu verwerfen« (Ebd. II, Aph. 18. S. 355). Schließlich aber soll der Forscher - nach langer PrÜfung - zu einer positiven Aussage gelangen. Daß dies leichter gesagt als getan ist, weiß Bacon: Dem Menschen ist nur verg³nnt, ¹ber verneinende F›lle voranzuschreiten, um am Ende nach g›nzlichem Ausschluß alles Abwegigen zu einer Bejahung zu gelangen. (Ebd. II, Aph. 15. S. 351) Ist so das Zur¹ckweisen und Ausschließen Schritt f¹r Schritt geschehen, wird an zweiter Stelle, gleichsam als fester Grund, die bejahende, wahre und scharf umrissene

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Form zur¹ckbleiben, w›hrend die fl¹chtigen Meinungen in Rauch aufgegangen sind. Dies ist leicht gesagt, aber nur auf vielen Umwegen zu erreichen. Ich will indes nichts von dem ¹bergehen, was hier f³rdern kann. (Ebd. II, Aph. 16. S. 351)

3. Hindernisse des Erkenntnisfortschritts Bacon stellte sein neues VerstÇndnis von Philosophie und Wissenschaft mit aller SchÇrfe dem alten VerstÇndnis gegenÜber. In dem schon angefÜhrten Aphorismus 22 sagt er, daß sie »unermeßlich voneinander abweichen«. Bacon bestreitet die KontinuitÇt, er will keinen neuen Wein in alte SchlÇuche fÜllen: Vergeblich k³nnte man in den Wissenschaften einen großen Zuwachs erwarten, wollte man auf die alten Grundlagen das Neue aufsetzen und ihnen aufpfropfen; die Erneuerung hat vielmehr von den Grundlagen her zu erfolgen, wenn man sich nicht fortw›hrend bei k¹mmerlichem und fast unbedeutendem Fortschritt im Kreise herumdrehen will. (Ebd. I, Aph. 31. S. 97) 68

Er mußte sich daher fragen, welche Faktoren dafÜr verantwortlich waren, daß bis zu seiner Zeit eine fruchtbare Entwicklung von Wissenschaft und Philosophie nicht stattgefunden hatte. Dies ist eine Standardfrage, die immer mit einem »wir-jetzt«Pathos verbunden ist: Wenn wir jetzt endlich auf der HÙhe der Erkenntnis und des Wissens sind, mÜssen wir uns fragen, was denn fr¹her Erkenntnis und Wissen verhindert hat. Mit einem solchen »wir-jetzt«-Pathos ist immer gegeben, daß eine scharfe Trennlinie gezogen wird zwischen dem Vergangenen und dem jetzt Beginnenden, eine Trennlinie, deren Konstruktion der genauen historischen Forschung dann gewÙhnlich nicht ganz standhÇlt. Dort, wo eine Philosophie mit einem solchen Pathos der Neuheit auftritt, sollten wir uns immer an die Warnung erinnern, die Charles Sanders Peirce (1839–1914) ausgesprochen hat: »Jede philosophische Lehre, die vÙllig neuartig sein soll, wird sich wohl immer als vÙllig falsch erweisen« (Semiotische Schriften. Bd. 3. Frankfurt 1993. S. 234). So rigoros wollen wir nicht sein, aber es genÜgt schon zu sagen: Jede philosophische Lehre, die vÙllig neuartig sein soll, ist es vermutlich bei genauerem Hinsehen gar nicht, und wenn sie vÙllig neu wÇre, dann wÇre sie vermutlich einigermaßen falsch. Bei Bacon trifft ersteres zu: Er gehÙrt in Wirklichkeit nicht mehr ganz in die frÜhere Periode, aber auch noch nicht ganz in die neue. Auch er steht auf einer Grenze, aber im Unterschied zu Nikolaus von Kues blickt er auf diese Grenze von der anderen Seite her, d. h. von der mit ihm tatsÇchlich schon beginnenden Neuzeit. Selbst das Pathos des Neuen ist gar nicht so neu: Es trÇgt bei Bacon manche ZÜge des Zeitalters des Geistes, das die Franziskaner-Spiritualen beschworen hatten und dessen Anbruch zahlreiche Renaissance-Philosophen verkÜndeten (vgl. Kap. I, 1). Indem Bacon die Hoffnung auf dieses neue Zeitalter mit

Hindernisse des Erkenntnisfortschritts

seinen Vorstellungen einer neuen Wissenschaft verband, hat er einiges dazu beigetragen, daß die Wissenschaft spÇter von vielen als Heilslehre verstanden werden konnte. Dies wird auch in seiner utopischen Schrift Neu-Atlantis deutlich werden (vgl. weiter unten 4). Von seinem SelbstverstÇndnis aus mußte Bacon dann fragen, was in der Vergangenheit den von ihm eingeforderten Fortschritt verhindert hatte. Seine Antwort darauf gab er in der - wirkungsgeschichtlich Çußerst bedeutsamen Idolenlehre und Idolenkritik, wodurch er zum BegrÜnder der verschiedenen Formen der Ideologiekritik wurde. Idole sind nach seiner Definition »Trugbilder« oder »falsche Begriffe«, die sich im menschlichen Geist finden und die unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen von der Natur verzerren: Die Idole und falschen Begriffe, welche vom menschlichen Verstand schon Besitz ergriffen haben und tief in ihm wurzeln, halten den Geist der Menschen nicht nur in der Weise in Beschlag, daß der Wahrheit nur mit M¹he ein Zugang offensteht; sondern auch dort, wo der Zugang gegeben und bewilligt worden ist, werden jene selbst bei der Erneuerung der Wissenschaften wiederum auftauchen als eine rechte Last, wenn die Menschen nicht, vor ihnen gewarnt, sich gegen sie nach M³glichkeit sch¹tzen. (Neues Organon I, Aph. 38. S. 99 und 101) 69

Bacons Diagnose ist auch an diesem Punkt zutreffend: Er nimmt nicht an, daß diese Hindernisse einfach Überwunden werden kÙnnten, es kann nur darum gehen, daß sich dadurch, daß sie bewußt gemacht werden, ihr schÇdlicher Einfluß unter Kontrolle halten lÇßt. Bacon unterscheidet vier Gruppen solcher »Idole«, die im folgenden kurz erlÇutert werden sollen.

a) Idole des Stammes (Idola Tribus) Diese Idole verleiten die Menschen - und zwar alle - dazu, sich das Weltall nach Analogie zu sich selbst vorzustellen: Die Idole des Stammes sind in der menschlichen Natur selbst, im Stamme selbst oder in der Gattung der Menschen begr¹ndet. Es ist n›mlich ein Irrtum zu behaupten, der menschliche Sinn sei das Maß der Dinge; ja, das Gegenteil ist der Fall; alle Wahrnehmungen der Sinne wie des Geistes geschehen nach dem Maß der Natur des Menschen, nicht nach dem des Universums. Der menschliche Verstand gleicht ja einem Spiegel, der die strahlenden Dinge nicht aus ebener Fl›che zur¹ckwirft, sondern seine Natur mit der der Dinge vermischt, sie entstellt und sch›ndet. (Ebd. I, Aph. 41. S. 101) Es geht hier also um die Kritik anthropomorpher Vorstellungen im Bereich der Naturerkenntnis. Bacon richtet sich unmittelbar gegen die zur Zeit der Renais-

Francis Bacon

sance weiterhin weit verbreiteten Naturspekulationen, in denen der Mensch als Mikrokosmos angesehen wurde, also als Bild des Makrokosmos. Ebenso wendet er sich gegen die traditionelle erkenntnistheoretische Auffassung, der menschliche Geist, wie schon die menschlichen Sinne, lieferten im Prinzip ein ungetrÜbtes Abbild der Wirklichkeit, eine Auffassung, die in der Ansicht gipfelte, der menschliche Geist enthalte schon die Urbilder der Dinge in sich. Solche Vorstellungen sind Idole des Stammes oder der Gattung, weil sie sich nicht auf Individuen beschrÇnken, sondern bei den Menschen allgemein verbreitet sind. In solchen Idolen der Gattung sieht Bacon eine Fehlerquelle, die sich auf die gesamte bisherige Naturerkenntnis ausgewirkt hat. Dies zeigt sich besonders in seiner Ùfter geÇußerten Kritik an der Teleologie: Da der Mensch auf Ziele hin handle, werde er dazu verleitet, nach letzten Zielursachen im Kosmos zu suchen, also FinalitÇten anzunehmen; ein Vorurteil also, das ihn daran hindert, eine konsequent mechanistische ErklÇrung der Natur zu suchen. Bacons Stellungnahme dabei ist vorsichtig: Er nahm durchaus an, daß es so etwas wie eine gÙttlich verursachte FinalitÇt geben kÙnne, er lehnte es jedoch strikt ab, diese Vorstellung in irgendeiner Weise in die Forschung hineinzutragen: 70

Denn die Behandlung der Endursachen in der Physik hat die Untersuchung der echt physikalischen Ursachen behindert und vertrieben und verursacht, daß die Menschen mit Schein und Schatten sich begn¹gten, und die Untersuchung der wirklich physikalischen Ursachen zum großen Schaden der Wissenschaften nicht strenge genug betrieben. [...] Doch sagen wir dieses nicht diesfalls, daß jene End-Ursachen nicht wahr [...] sein sollten, sondern weil sie in das Gebiet der echten physikalischen Ursachen einfallen, und [f¹r] die Provinz dieser Wissenschaft j›mmerlich verheerend war[en]. (•ber die W¹rde und den Fortgang der Wissenschaften III, 4. S. 344–346) Bacon unterscheidet hier zwischen physikalischen und metaphysischen ¾berlegungen und stellt fest, daß im Bereich der Naturwissenschaft nur mit Wirkursachen gearbeitet werden darf, daß damit jedoch nichts - weder positiv noch negativ Über die Annahme von Finalursachen im Bereich der Metaphysik ausgesagt ist. Bacon folgt hier strukturell jenem Bereichsdenken, das schon in der Hochscholastik eingesetzt hatte und das dann von Kant ausdrÜcklich ausgearbeitet werden wird. Modern ausgedrÜckt wÜrden wir sagen: KausalitÇt und FinalitÇt gehÙren verschiedenen Sprachen an. Bei den Menschen findet sich ganz allgemein die Tendenz, sich die Welt mÙglichst Überschaubar, und das heißt geordnet, vorzustellen: Der menschliche Geist setzt verm³ge seiner Natur leichthin in den Dingen eine gr³ßere Ordnung und Gleichf³rmigkeit voraus, als er darin findet; und obgleich vieles in der Natur einzeln und voller Ungleichheit ist, so f¹gt der Verstand dennoch Gleich-

Hindernisse des Erkenntnisfortschritts

laufendes, •bereinstimmendes und Bez¹gliches hinzu, was es in Wirklichkeit nicht gibt. (Neues Organon I, Aph. 45. S. 105) In diesem Zusammenhang nimmt Bacon u.a. auch Bezug auf Kopernikus, wenn er von den »Erdichtungen, daß sich alle HimmelskÙrper in vollkommenen Kreisen bewegen« (Ebd.), spricht. Er hat also richtig erkannt, daß hier metaphysische Voraussetzungen zugrunde liegen, die aus einem menschlichen Wunsch nach einer vollkommenen Ordnung stammen. Bacon ist dabei kein ausdrÜcklicher Gegner mathematischer ErklÇrungsmodelle, er will jedoch davor warnen, aus lauter geometrischem Ordnungsstreben die Welt einfach so zu sehen, daß sie sich unserer einfachen Geometrie anpaßt. Allerdings zeigt sich an diesem Punkt, daß der große Propagator der Wissenschaft nicht unbedingt auf dem neuesten Stand der Wissenschaft war. 1609 war Johannes Keplers (1571–1630) Astronomia nova erschienen, in der die fÜr die moderne Wissenschaft maßgeblichen Elemente mathematischer Formulierung von Gesetzen und empirischer ¾berprÜfung geradezu paradigmatisch dargestellt waren, wobei die Annahme der kreisfÙrmigen Planetenbahnen aufgegeben wurde. Zu den alle Menschen betreffenden Hindernissen gehÙrt auch die Tendenz, an der »Meinung der Menge« festhalten zu wollen, weshalb dann »das UngewÙhnliche« abgelehnt wird (Ebd. I, Aph. 49. S. 109). Dies fÜhrt dazu, daß nur jene Erfahrungen in Betracht gezogen werden, die mit der herrschenden Auffassung Übereinstimmen, wÇhrend widersprechende entweder gar nicht gesehen oder mit Gewalt zur ¾bereinstimmung mit der geltenden Theorie gebracht werden: Der menschliche Verstand zieht in das, was einmal sein Wohlgefallen erregt hat - sei es, weil es so ¹berliefert und geglaubt worden ist, sei es, weil es anziehend ist -, auch alles andere mit hinein, damit es jenes best›tige und mit ihm ¹bereinstimme. Und wenn auch die Bedeutung und Anzahl der entgegengesetzten F›lle gr³ßer ist, so beachtet er sie nicht, oder verachtet sie, schafft sie durch Haarspalterei beiseite und verwirft sie, nicht ohne schwerwiegendes und verderbliches Vorurteil, nur damit dadurch das Ansehen jener alten fehlerhaften Beziehungen unangetastet bleibe. (Ebd. I, Aph. 46. S. 107) Dieses Festhalten an dem einmal Angenommenen und die Blindheit gegenÜber allem Entgegenstehenden betreffen Wissenschaft wie Philosophie gleicherweise. Diese Tendenz ist bei allen Menschen vorhanden und kann auch wiederum nicht einfach Überwunden, sondern nur dauernd bekÇmpft werden: Selbst wenn dabei jene erw›hnte Vorliebe und Torheit nicht vorhanden ist, bleibt dennoch dem menschlichen Geist jener eigent¹mliche und z›he Irrtum, stets mehr vom Bejahenden als vom Verneinenden bewegt und angeregt zu werden; w›hrend er doch

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Francis Bacon

nach Recht und Ordnung zu beiden sich in gleicher Weise verhalten sollte; ja, bei der Aufstellung eines wahren Satzes ist sogar die Kraft des verneinenden Falles die st›rkere von beiden. (Ebd. S. 109) An diesem Punkt steht die Auffassung Bacons tatsÇchlich dem Falsifikationsprinzip Poppers ziemlich nahe. - Bacon hat richtig gesehen, daß es zu den Eigenheiten der Menschen gehÙrt, in der Wissenschaft wie auch in allen anderen Bereichen Alternativmeinungen mÙglichst auszuschalten, und er hat ebenso zu Recht bemerkt, daß die Vernunft es eigentlich gebietet, solche Alternativen ernst zu nehmen. Wir kommen hier wieder zu dem, was Bacon in seiner allgemeinen Wissenschaftslehre darlegt (vgl. weiter oben 2).

b) Idole des Standpunktes oder Idole der H³hle (Idola Specus)

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Bacon meint hier jene Fehlerquellen, die aus individuellen Bedingungen wie Erziehung, Bildung usw. hervorgehen und die somit im Gegensatz zu den Idolen des Stammes nicht universell, sondern individuell sind (Ebd. I, Aph. 53. S. 115). Treffend beobachtet Bacon, daß fÜr viele Menschen die BeschÇftigung mit Philosophie eigentlich unnÜtz oder sogar schÇdlich ist, denn es kommt bei vielen bei dieser BeschÇftigung doch immer nur das heraus, was sie immer schon geglaubt haben. Das heißt: Die Voraussetzung dafÜr, aus dem Studium der Philosophie einen Nutzen zu ziehen, ist die Bereitschaft, mÙglicherweise liebgewordene Vorstellungen aufzugeben. Wenn sich nun diese Menschen der Philosophie und der allgemeinen Betrachtung hingeben, dann verdrehen und verderben sie diese aus ihren fr¹heren Phantasiegebilden heraus. (Ebd. I, Aph. 54. S. 117) Dies ist sicher zutreffend, auch wenn das von Bacon in diesem Zusammenhang herangezogene Beispiel, nÇmlich Aristoteles, wohl das ungeeignetste der ganzen Philosophiegeschichte ist. - Wenn Bacon immer wieder fÜr institutionelle Organisation des Wissenschaftsbetriebs eintrat, dachte er vermutlich auch daran, durch gegenseitige Kontrolle solche individuell bedingten Fehlerquellen mÙglichst auszuschalten. Ein solches bildungsbedingtes Vorurteil liegt auch in der unberechtigten Vorliebe fÜr bestimmte Epochen der Geschichte (Ebd. I, Aph. 58. S. 121), womit Bacon auf die Vorliebe der Renaissance-Philosophen fÜr die Autoren der Antike und die alte mythologische Weisheit anspielt (Ebd. I, Aph. 56. S. 119). Dabei lehnt Bacon die Autoren der Antike keineswegs ab - er selbst schrieb ein kleines Werk Über die Weisheit der Alten (De sapientia veterum). In der Vorrede dazu aber sagt er:

Hindernisse des Erkenntnisfortschritts

Ich weiß sehr wohl, aus welch biegsamem Stoff Sagen gemacht sind, wie gerne sie jeder Richtung folgen, in die man sie zieht, und wie leicht man ihnen mit wenigen nderungen einen Sinn verleihen kann, den sie niemals in sich trugen. Ebensowenig habe ich vergessen, daß solcher Mißbrauch bereits sehr lange getrieben wird, daß viele nur den Wunsch hatten, f¹r ihre Doktrinen und Erfindungen die Bekr›ftigung und das Ansehen des Altertums zu erlangen [...]. (Weisheit der Alten. Vorrede. S. 9) Bacon hingegen will nicht seine eigenen Auffassungen in »alter Weisheit« bestÇtigt finden, sondern geht eher historisierend an die Mythen heran: Sie entstanden zu einer Zeit, als man noch nicht in Beweisform dachte, sondern Parabeln, RÇtsel und Gleichnisse verwendete (Ebd. S. 12 f.). Bei seinen eigenen Mythen-Interpretationen entgeht Bacon allerdings auch nicht der »Falle«, also dem Idol, seine eigenen Auffassungen durch die Mythen bestÇtigt wissen zu wollen. Ein Beispiel: Prometheus stiehlt den GÙttern das Feuer, aber die Menschen wissen mit dieser Gabe zunÇchst nichts anzufangen, woraus Bacon dann folgende »ebenso weise wie nÜtzliche Beobachtung« ableitet: Sie verweist auf die Leichtfertigkeit und Unbesonnenheit der Menschen bei neuen Experimenten, die, wenn ein Experiment nicht sogleich wunschgem›ß gelingt, kopf¹ber zu ihren alten Gegenst›nden zur¹ckkehren und sich mit ihnen wieder vers³hnen. (Weisheit der Alten XXVI. S. 66 f.) Bei solchen Auslegungen ist beinahe schon etwas vom Geist der AufklÇrung zu spÜren: Mythen als Sozialgeschichte der Menschheit.

c) Idole der Gesellschaft oder Idole des Marktes (Idola Fori) Eines der wichtigsten Instrumente der Gesellschaft ist die Sprache. Bacon bestreitet keineswegs die Überragende Bedeutung der Sprache im allgemeinen sowie fÜr Philosophie und Wissenschaft im besonderen: Die Menschen gesellen sich n›mlich mittels der Sprache zueinander; aber die Worte werden den Dingen nach der Auffassung der Menge beigeordnet. Daher knebelt die schlechte und t³richte Zuordnung der Worte den Geist auf merkw¹rdige Art und Weise. (Neues Organon I, Aph. 43. S. 103) Bacon will damit sagen: Die Alltagssprache ist als solche noch nicht geeignet als Wissenschaftssprache, denn in vielen FÇllen verleitet sie zu falschen Vorstellungen, welche die Forschung behindern. Aber auch die wissenschaftliche Sprache sichert nicht schon einen korrekten Gebrauch der WÙrter:

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Die Menschen glauben, ihr Verstand gebiete den Worten; es kommt aber auch vor, daß die Worte ihre Kraft gegen den Verstand umkehren; dies machte die Philosophie und die Wissenschaften sophistisch und unfruchtbar. (Ebd. I, Aph. 59. S. 121)

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Bacon nennt vor allem zwei Klassen solcher sprachlichen Idole: Zum einen Bezeichnungen von Dingen, die gar nicht existieren, d. h. fÜr die es keinen empirisch-wissenschaftlichen Beweis gibt, wie z. B. »GlÜck/Zufall (Fortuna)«, »erster Beweger (Primum Mobile)«, und zum anderen Begriffe, die aus Abstraktionen gewonnen sind, denen jedoch keinerlei klare Definition zugrunde liegt, wie z. B. »feucht«, »schwer« usw. (Ebd. I, Aph. 60. S. 123). Es ist klar, daß es hier um ganz verschiedene Fehlerquellen geht. Die zweite Gruppe von WÙrtern kann durch genauere Definitionen im wissenschaftlichen Gebrauch sehr wohl verwendet werden, die erste hingegen nicht (es sei denn, es wird einem Begriff wie »Zufall« eine statistische Interpretation gegeben). Der Ansatzpunkt der Kritik an einem Begriff wie »Zufall« ist klar: Gibt es fÜr bestimmte Ereignisse keine ErklÇrung, so sprechen wir von »zufÇlligen Ereignissen«, was eigentlich gar nichts anderes bedeutet als »nicht erklÇrte Ereignisse«, dann aber wird aus einer solchen WissenslÜcke plÙtzlich - oder langsam - ein eigenes Substantiv, also »der Zufall«, das so verwendet wird, als liefere es eine ErklÇrung. Dies ist durchaus richtig, allerdings muß darauf hingewiesen werden, daß das, was Bacon zur Sprachkritik in gewollter Absetzung von »scholastischen Spitzfindigkeiten« sagt, sich doch gerade gegenÜber den scholastischen, besonders den spÇtmittelalterlichen, semantischen Untersuchungen als lÇngst diskutiert und trivial erweist. Er erfÜllt somit in Hinsicht auf die Sprachkritik seinen Anspruch, ein Novum Organon vorzulegen, nicht. Das »Neue«, das er vorzulegen meint, ist als kritisches Instrument nicht auf der HÙhe des »Alten«. Dadurch hat Bacon einiges dazu beigetragen, daß die Sprachkritik und Sprachphilosophie der Neuzeit auf einem Niveau begann, das sich gegenÜber dem der spÇtmittelalterlichen Traktate als sehr bescheiden ausnimmt. Locke wird die Anregungen Bacons in der etwas naiven Meinung aufnehmen, bei ihm an einem Ausgangspunkt angelangt zu sein. Und so ging es weiter. Auch Leibniz verfÜgte nur Über eine aus arg vereinfachenden LehrbÜchern stammende Kenntnis der mittelalterlichen Logik und Sprachtheorie. Die moderne Sprachphilosophie hat so durch Jahrhunderte hindurch die mittelalterliche Sprachanalyse nicht zur Kenntnis genommen, durchaus zu ihrem Nachteil. Erst in den 30er Jahren des 20. Jhd.s wurde diese LÜcke wahrgenommen.

d) Idole der B¹hne oder Idole des Theaters (Idola Theatri) Unter diesen versteht Bacon all jene hinderlichen Vorurteile, die aus Weltanschauungen und weltanschaulich begrÜndeten Philosophien stammen. Er nennt sie »Idole der BÜhne«, weil das Theater zu seiner Zeit der wichtigste Ort war, an dem die Fabel-

Hindernisse des Erkenntnisfortschritts

welten dem Menschen begegneten. Welchen Zusammenhang er zwischen der Theaterwelt und dem menschlichen Denken sieht, wird insbesondere im Aphorismus 44 deutlich: [...] denn so viele Philosophien angenommen oder erfunden worden sind, so viele Fabeln sind nach meiner Auffassung damit geschaffen und f¹r wahr unterstellt worden, welche die Welt als unwirklich und erdichtet haben erscheinen lassen. (Ebd. I, Aph. 44. S. 105) Der Begriff der Fabelwelten bei Bacon ist ziemlich weit gefaßt. Er umfaßt in baconscher Terminologie sophistische, empirische und aberglÇubische IrrtÜmer (Ebd. I, Aph. 62. S. 129). Bei den sophistischen IrrtÜmern bezieht er sich vor allem auf Aristoteles: Ein Beispiel der ersten Gruppe liegt besonders offensichtlich bei Aristoteles vor, der die Naturphilosophie durch seine Dialektik verdarb, da er die Welt aus den Kategorien herleitete. (Ebd. I, Aph. 63. S. 131) Dies trifft sicher nicht zu. Aristoteles hat nicht die Welt aus den Kategorien, sondern die Kategorien aus der Sprache Über die Welt abgeleitet (vgl. 1. Teil, Kap. X, 5, b). Wenn Bacon meint, daß die Naturphilosophie durch die Logik verdorben worden sei, kommt darin zum Ausdruck, daß er die Rolle der Logik fÜr die wissenschaftliche Theoriebildung verkannt hat, wie auch aus anderen Stellungnahmen hervorgeht: So, wie die gegenw›rtigen Wissenschaften f¹r die Erfindungen von wirklichen Werken nutzlos sind, so ist auch die jetzige Logik nutzlos f¹r die Entdeckung wahrer Wissenschaft. (Ebd. I, Aph. 11. S. 85) Die in Gebrauch befindliche Logik dient mehr dazu, die Irrt¹mer (welche auf den allt›glichen Begriffen fußen) zu verankern und zu festigen, als die Wahrheit zu erforschen; so wirkt sie mehr sch›dlich als n¹tzlich. (Ebd. Aph. 12. S. 85) Bacon schließt sich mit der GeringschÇtzung der traditionellen Logik einer weitverbreiteten Haltung seiner Zeit an. Wenn Bacon der Logik in der Wissenschaft nur einen geringen Wert zuerkennt, ist zu fragen, warum er das tat und insbesondere auch, welche Form der Logik er ablehnte. Bacon meinte, die Logik bringe keinen Nutzen zur Auffindung neuer Erkenntnisse in der Wissenschaft und verlangte damit nach inhaltlichen Momenten, die ihm die Logik freilich nicht liefern konnte. Seine Vorstellung von den Aufgaben der Logik war bestimmt von dem, was in der Renaissance allgemein erwartet wurde (vgl. Kap. I, 6): Im Sinne der bekannten Einteilung Ciceros sollte sie sowohl eine Kunst der Erfindung (inven-

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tio) als auch eine der Beurteilung (iudicium) sein (Bacon: ¾ber die WÜrde und den Fortgang der Wissenschaften V, 1. S. 437). Es nÜtzt jedoch alles nichts - fÜr eine solche Erfindungskunst gibt es keine Methode, d. h. es gibt keine Logik der Erfindung von Theorien. Popper hat uns in seiner Logik der Forschung nachdrÜcklich daran erinnert: Unsere Auffassung [...], daß es eine logische, rational nachkonstruierbare Methode, etwas Neues zu entdecken, nicht gibt, pflegt man oft dadurch auszudr¹cken, daß man sagt, jede Entdeckung enthalte ein »irrationales Moment«, sei eine »sch³pferische Intuition« (im Sinne Bergsons); ›hnlich spricht Einstein ¹ber »... das Aufsuchen jener allgemeinsten ... Gesetze, aus denen durch reine Deduktion das Weltbild zu gewinnen ist. Zu diesen ... Gesetzen f¹hrt kein logischer Weg, sondern nur die auf Einf¹hlung in die Erfahrung sich st¹tzende Intuition.« (K. R. Popper: Logik der Forschung. 3. Aufl. T¹bingen 1969. S. 7)

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Die Bedeutung der Logik fÜr die Ableitung korrekter Folgerungen im Rahmen einer wissenschaftlichen Theorie - also Logik als iudicium - hat Bacon nicht erfaßt, hier wirkte seine Abneigung gegen die aristotelische Logik zu stark nach. Auch andere zur Zeit der Renaissance hatten wenig VerstÇndnis fÜr diese Rolle der Logik in der Wissenschaft - es handelt sich dabei also um ein Vorurteil, das in baconscher Terminologie als »Idol der BÜhne« bezeichnet werden mÜßte. Die IrrtÜmer, die Bacon den Empiristen zuschreibt, die aufgrund einer zu schmalen empirischen Basis, d. h. aufgrund von wenigen FÇllen, meinen, zu weitreichenden Theorien gelangen zu kÙnnen (Neues Organon I, Aph. 62. S. 129), brauchen nicht weiter ausgefÜhrt zu werden: Bacon setzt ihnen seine gesamte Forschungskonzeption entgegen (vgl. weiter oben 1). Als weitere Gruppe der IrrtÜmer der BÜhne fÜhrt Bacon jene auf, die dadurch entstehen, daß theologische Vorstellungen in die Philosophie und die Wissenschaften eingefÜhrt werden. Dies sieht er bei Pythagoras, Platon und den christlichen Philosophen, die von der Genesis aus Naturphilosophie betreiben wollen. Daraus ergibt sich nach Bacon Schaden fÜr beide, es entsteht nicht nur eine »phantastische Philosophie«, sondern auch eine »ketzerische Religion«, so daß er den guten Rat gibt: »Es ist deshalb nur heilsam, wenn nÜchternen Geistes dem Glauben nur das gegeben wird, was des Glaubens ist« (Ebd. I, Aph. 65. S. 135). Daran ist nichts auszusetzen, nur neu ist es nicht: Es ist genau das, was Albertus Magnus mit seiner Trennung von Philosophie, Wissenschaft und Theologie eingefordert hatte (vgl. 2. Teil, Kap. XIII, 3). BekÇmpft werden sollen alle diese Idole durch eine konsequente Anwendung der empirischen Methode. Die Philosophie muß sich daher an der empirischen Naturwissenschaft orientieren - dies hat Bacon prÇzise diagnostiziert. Dabei liegt bei Bacon ein ausgeprÇgter Erkenntnis- und Wissenschaftsoptimismus vor. Damit ver-

Hindernisse des Erkenntnisfortschritts

bunden ist die Baconsche Hoffnung, die Menschen durch Wissenschaft »zur Vernunft bringen« zu kÙnnen und auf diese Weise gleichsam automatisch dem Wohlergehen der Menschen zu dienen. Wir treffen hier im Novum Organon auf die beherrschende Auffassung der folgenden Jahrhunderte, in der die Meinung zum Ausdruck kam, mit einer an der Naturwissenschaft abgelesenen Methode einen UniversalschlÜssel fÜr alle Probleme in der Hand zu haben: Man wird wohl zweifeln, wenn auch der Einwand nicht laut wird, ob ich hier nur von der Naturphilosophie spreche oder ob auch die ¹brigen Wissenschaften, die Logik, Ethik, Politik, nach meiner Methode vollendet werden sollen. Nun gilt das, was ich hier gesagt habe, gewiß f¹r alles. So wie schon die gew³hnliche Logik, welche durch den Syllogismus regiert, sich nicht bloß auf die Naturwissenschaften, sondern auf alle Wissenschaften erstreckt, so umfaßt auch die meinige, die mittels Induktion voranschreitet, sie alle. Denn die Geschichte und die Tafeln zum Erfinden verfertige ich auch ¹ber den Zorn, ¹ber die Furcht, die Scham und ›hnliches mehr; auch ¹ber die Dinge des politischen Lebens; ebenso ¹ber die geistigen Vorg›nge des Ged›chtnisses, des Zusammensetzens, der Teilung, des Urteilens und anderer; nicht weniger ¹ber das Warme, das Kalte oder das Licht, das Wachstum oder ›hnliches. (Ebd. I, Aph. 127. S. 263 und 265) Bacon drÜckt mit seinem Wissenschaftsoptimismus gleichzeitig eine weitere allgemein verbreitete Vorstellung der Neuzeit aus, nÇmlich den Gedanken, daß die Anwendung der Ergebnisse der Wissenschaft eigentlich kein sonderlich großes Problem darstelle: Das Menschengeschlecht mag sich nur wieder sein Recht ¹ber die Natur sichern, welches ihm kraft einer g³ttlichen Schenkung zukommt. Mag ihm das voll zuteil werden. Die Anwendung wird indes die richtige Vernunft und die gesunde Religion lenken. (Ebd. I, Aph. 129. S. 273) Wir haben in unserer Gegenwart doch einige Zweifel, ob alles so einfach durch die »richtige Vernunft« zur rechten Anwendung gebracht werden kann und ob die »gesunde Religion« dies leistet, lÇßt auch einige Zweifel offen. Von den Erfindungen, die durch die Wissenschaft gewonnen werden, sagt Bacon uneingeschrÇnkt: Sie »beglÜcken und tun wohl, ohne jemandem ein Unrecht oder Leid zu bereiten« (Ebd. S. 269), und noch im gleichen Aphorismus fÜhrt er als eine der großen neuen Erfindungen neben der Buchdruckerkunst und dem Kompaß ausgerechnet das Schießpulver an. Er dachte dabei sicher nicht nur an die Jagd englischer Landlords, denn er spricht in diesem Zusammenhang ausdrÜcklich vom »Kriegswesen« (Ebd. S. 271). Sein Vertrauen in die »richtige Vernunft« und die »gesunde Religion« mutet so alles in allem etwas naiv an, dem Blick des Empirikers Bacon sind doch vermutlich nicht

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wenige Aspekte der menschlichen Natur entgangen. Einer seiner Zeitgenossen, nÇmlich Shakespeare, war in diesem Bereich wohl der bessere Empiriker, doch Bacon erwÇhnt ihn nirgends, vermutlich erwartete er sich keine Erkenntnis von solchen »Theaterwelten«. Es ist noch ein weiteres Element aus dem zuletzt zitierten Aphorismus zu nennen, weil es deutlich macht, wie am Beginn der Neuzeit auch die Arroganz der EuropÇer steht, die sich mit ihrem »wissenschaftlichen Geist« allen anderen Menschen gegenÜber als Überlegen ansehen: Man erw›ge doch auch einmal den großen Unterschied zwischen der Lebensweise der Menschen in einem sehr kultivierten Teil von Europa und der in einer sehr wilden und barbarischen Gegend Neu-Indiens. Man wird diesen Unterschied so groß finden, daß man mit Recht sagt: »Der Mensch ist dem Menschen ein Gott«, dies nicht bloß wegen der Hilfe und Wohltaten, sondern auch angesichts der Verschiedenheit seiner Lebenslage. Und diese Verschiedenheit bewirken nicht der Himmel, nicht die K³rper, sondern die K¹nste. (Ebd. I, Aph. 129. S. 269)

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Die Induktion, die zu solchen Urteilen Über andere Kulturen kommt, ist wohl von »Idolen« beherrscht, die durch keine empirischen Wissenschaften bekÇmpft werden kÙnnen. Die moderne Wissenschaft beginnt also bei Bacon auch mit erheblicher Arroganz gegenÜber anderen Kulturen. Dem Historiker kann es nicht entgehen, daß die Periode des Beginns der modernen Wissenschaften und deren geforderter Nutzanwendung faktisch mit der Periode des beginnenden Kolonialismus zusammenfÇllt, zu dessen Durchsetzung nicht zuletzt das Schießpulver sich als sehr nÜtzliche Erfindung erwies.

4. Die zuk¹nftige technologisch-wissenschaftliche Welt Bacon verlor 1621 wegen der schon genannten Bestechungsanklage alle seine ’mter. Kurz darauf verfaßte er die Schrift Neu-Atlantis. Es ist jedenfalls auffÇllig, daß dort den auf der utopischen Insel Ankommenden als erste ¾berraschung ein Beamter vorgestellt wird, der auf einen »Belohnungsversuch« Überhaupt nicht reagiert (Ebd. S. 13). Und auch ein weiterer Beamter, dem Geld angeboten wird, lehnt es ab mit dem Hinweis, daß er fÜr eine Arbeit nicht doppelt entlohnt werden dÜrfe, weist allerdings auch darauf hin, daß er vom Staat genÜgend Gehalt beziehe (Ebd. S. 14). Außer dem Nicht-Vorhandensein der Bestechungspraxis ist aber der utopische Staat Bacons in seiner Gesellschaftsform gar nicht so weit vom elisabethanischen England entfernt: Die Regierung ist absolutistisch, es finden sich keinerlei Gleichheitsideale, der gesellschaftliche Unterschied einer Ober- und einer Unterschicht ist streng eingehalten, die Familien sind genau hierarchisch geordnet. Ethisch gibt es sogar strengere Regeln als dies bei Morus der Fall gewesen war.

Die zukÜnftige technologisch-wissenschaftliche Welt

Soziale Fragen sind in diesem Land nicht mehr Aufgabe privater religiÙser Vereinigungen, sondern gehÙren zu den gesetzlich zu regelnden Aufgaben des Staates. Ein frÜherer Gesetzgeber hat entsprechend »alle Forderungen der Menschlichkeit berÜcksichtigt, indem er Vorkehrungen fÜr die UnterstÜtzung notleidender Fremder traf« (Ebd. S. 27). Die Asylpolitik ist ziemlich »modern« geordnet: Die Landeerlaubnis fÜr Gestrandete wird nicht automatisch gegeben, sondern muß von den BehÙrden gewÇhrt werden. Die Asylanten erhalten fÜr einen gesetzlich festgelegten Zeitraum sechs Wochen - Aufenthaltserlaubnis, haben aber die MÙglichkeit, einen Antrag auf VerlÇngerung zu stellen. FÜr die Unterbringung der Asylanten ist ein eigenes Fremdenheim vorgesehen, die Insassen dÜrfen sich aber ohne besondere Erlaubnis nicht weiter als eineinhalb Meilen von der Stadt entfernen (Ebd. S. 17 f.). Die Politik ist im ganzen ziemlich isolationistisch - Bacon verfÜgte Über Informationen Über die Politik Chinas und nahm in Neu-Atlantis mitunter ausdrÜcklich Bezug auf China. Die Politik Chinas war traditionell isolationistisch, da die Herrscher Chinas Überzeugt waren, von anderen LÇndern ohnedies nichts lernen zu kÙnnen. Entsprechend gilt fÜr Bacons idealen Staat: Fahrten ins Ausland werden vom Gesetzgeber von Neu-Atlantis sehr eingeschrÇnkt (Ebd. S. 28), und den ins Ausland reisenden Bewohnern des Landes ist es gesetzlich verboten, von der Beschaffenheit der eigenen glÜcklichen Insel zu berichten (Ebd. S. 19). So wie in China werden daher im allgemeinen auch nur selten Fremde ins Land gelassen (die Jesuiten im 17. Jhd. werden sich in China nur als »Mathematiker« und »Wissenschaftler« einschleichen kÙnnen). Die Frage einer dauernden Aufenthaltserlaubnis ist natÜrlich problematisch. Der scharfsichtige Diagnostiker Bacon sieht, daß es schwierig werden wird, Menschlichkeit mit Politik in Einklang zu bringen: Ein reicher, wissenschaftlich-technisch Überlegener Staat wie Neu-Atlantis kÙnnte viele anlocken, und das muß verhindert werden. Da aber diese glÜckliche Insel geographisch isoliert und durch eine gesetzlich geregelte restriktive Informationspolitik den anderen LÇndern nicht bekannt ist, ergibt das politische KalkÜl fÜr zufÇllig gestrandete Fremde eine großzÜgige - letztlich aber eben von Staatsklugheit und nicht von Menschlichkeit diktierte - Asylpolitik: Da jener K³nig Menschlichkeit mit Politik verbinden wollte und weil er glaubte, es verstoße gegen die Menschlichkeit, Fremde gegen ihren Willen hier zur¹ckzuhalten, und es widerspreche ebenso der Staatsklugheit, sie zur¹ckkehren und ihre Kenntnisse ¹ber diesen Staat enth¹llen zu lassen, w›hlte er folgenden Weg: Er ordnete an, daß von den Fremden, denen die Landung gestattet w¹rde, zu jeder Zeit alle jene abreisen d¹rften, die es w¹nschten; daß aber allen jenen, die zu bleiben w¹nschten, sehr gute Lebensbedingungen und -verh›ltnisse vom Staate geboten werden sollten. Mit dieser Anordnung bewies er einen solchen Weitblick, daß wir uns - Jahrhunderte nach Erlaß dieses Gesetzes - nicht eines einzigen Schiffes erinnern, das je zur¹ckgekehrt w›re; und nur dreizehn Leute sind uns im Ged›chtnis, die - zu verschiedenen Zeiten - die R¹ckkehr auf unseren Fahrzeugen gew›hlt haben. (Ebd. S. 27 f.)

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FÜr den Fall, daß es nicht mehr mÙglich wÇre, die idealen Lebensbedingungen dieser Insel der Seligen vor den Übrigen Menschen auf der Welt geheimzuhalten, wÇre Bacon gezwungen gewesen, aus GrÜnden der Staatsklugheit eine andere, mÙglicherweise umgekehrte Asylpolitik gesetzlich vorzuschreiben. Was Bacons Neu-Atlantis vom England seiner Zeit wirklich unterscheidet, ist die Organisation der Wissenschaft und der Einfluß derselben auf Staat und Gesellschaft. Zentrales Organ dafÜr ist das »Haus Salomons«, und dieses hat eine klare Aufgabenstellung: Der Zweck unserer Gr¹ndung ist es, die Ursachen und Bewegungen sowie die verborgenen Kr›fte in der Natur zu ergr¹nden und die Grenzen der menschlichen Macht soweit wie m³glich zu erweitern. (Ebd. S. 40)

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Diese wissenschaftliche Arbeit ist streng und effizient organisiert. ZunÇchst einmal werden alle anderen LÇnder auf ihren Wissensstand hin ausspioniert - es wÇre ja ÜberflÜssig, schon anderswo unternommene Forschung nochmals selbst durchzufÜhren -, alle dort durchgefÜhrten Experimente werden gesammelt; die dafÜr Eingesetzten werden ganz offen »RÇuber« und »JÇger« genannt. Dann beginnt die eigentliche eigene wissenschaftliche Arbeit mit der Aufstellung von Theorien und neuen Experimenten. Hier fÜhrt Bacon nun eine lange Liste wissenschaftlicher Einrichtungen auf, die alle Bereiche wissenschaftlicher Arbeit und technologischer Verwertung von der Mineralogie, Physik, Akustik, Biologie, Zoologie, Geologie, Meteorologie, Medizin, Pharmakologie, Lebensmittelforschung, Energieerzeugung usw. bis zur Herstellung von Unterseeboten und Flugzeugen umfaßt. Man findet dort so ziemlich alles, was in der modernen wissenschaftlich-technischen Welt auch tatsÇchlich durchgefÜhrt wurde, bis hin zum Doping, also der Herstellung von Mitteln, die »bewirken, daß die Muskeln desjenigen, der sie genießt, hÇrter und zÇher werden und seine KÙrperkraft bei weitem grÙßer als gewÙhnlich wird« (Ebd. S. 44). Mit der wissenschaftlichen Arbeit ist immer schon die TÇtigkeit weiterer Spezialisten verbunden, die passend »WohltÇter« genannt werden und »darÜber Beratungen anstellen, wie aus ihnen nÜtzliche und praktische Dinge des menschlichen Lebens gewonnen werden kÙnnen« (Ebd. S. 48). Interessant ist dabei, daß Bacon die Kontrolle Über wissenschaftliche und technische Resultate den Organen des »Hauses Salomons« ÜbertrÇgt, hier also der politischen Macht eine deutliche Grenze setzen wollte. Die wissenschaftliche Arbeit unterliegt also nicht politischen Zielvorgaben. Dem dient u.a. das Gebot der Geheimhaltung: Wenn wir auch einiges davon mit allgemeiner Zustimmung hin und wieder dem K³nig oder Senat enth¹llen, so behalten wir das ¹brige doch vollst›ndig f¹r uns. (Ebd. S. 49)

Die zukÜnftige technologisch-wissenschaftliche Welt

Es sind die Vertreter des »Hauses Salomon« selbst, welche die StÇdte besuchen und nach ihrem Ermessen neue, nÜtzliche Erfindungen mitteilen (Ebd. S. 50). Dadurch sollen Krankheiten, Seuchen, Unwetter, ¾berschwemmungen usw. vorhergesagt werden und: »Wir klÇren das Volk darÜber auf und erteilen ihm Anweisungen, was es zur Abwendung dieser ¾bel tun soll« (Ebd.). Von Ùffentlicher Kontrolle wissenschaftlich-technischer Ergebnisse hielt Bacon offensichtlich nicht viel. Die Forschergemeinschaft vergißt auch nicht, sich selbst zu bewundern und zu feiern: Es werden - so wie in unseren alten UniversitÇten und Akademien der Wissenschaft - Galerien mit Statuen der berÜhmtesten Erfinder eingerichtet (Ebd. S. 49). Und am Schluß sieht Bacon nichts Bedenkliches darin, vor seiner Abreise aus Neu-Atlantis von den Vertretern dieses Landes, in dem er und seine GefÇhrten alles kostenlos erhalten hatten, als Abschiedsgeschenk 2000 Dukaten anzunehmen. Bacon bleibt Bacon: Der Propagator der wissenschaftlich-technischen Zivilisation soll nicht mit leeren Taschen dastehen.

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- IV -

Galileo Galilei

1. Der Wissenschaftsbegriff

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Bevor man Galileo Galilei (1564–1642) aus dem heute meist Üblichen Blickwinkel des »Falls Galilei« betrachtet, sollte man ihn in seine Zeit hineinstellen und als Vertreter der noch weiterhin prÇgenden Kultur der Renaissance sehen. Galilei war nicht der Typ des modernen spezialisierten Gelehrten, sondern der universal gebildete Mann der Renaissance (uomo universale) so wie ein Leonardo da Vinci. Sein Vater Vincenzo Galilei (um 1520–1591) war ein bedeutender Lautenspieler, Komponist und Musiktheoretiker. Dieser hatte 1581 den Dialogo della musica antica e della moderna verÙffentlicht, in dem er sich gegen zahlenmystische Spekulationen in der Harmonielehre wandte, an deren Stelle er experimentelle Feststellungen der Konsonanzen in AbhÇngigkeit von LÇnge und Spannung von Saiten setzte. (Hier haben wir es tatsÇchlich mit der experimentellen PrÜfung mathematisch formulierter Gesetze zu tun, wovon der junge Galilei-Sohn sicher einiges gelernt hat.) Die Berufung der Renaissance auf die griechische Antike brachte seit der zweiten HÇlfte des 15. Jhd.s auch die Aufforderung: ZurÜck zur Einfachheit der griechischen Musik. Im Gegensatz zum komplizierten Kontrapunkt sollte daher jetzt einstimmiger, instrumental begleiteter Gesang die maßgebende Form werden, was sich dann bei Claudio Monteverdi (1567–1643) auch tatsÇchlich durchsetzte. Vincenzo Galilei war in Florenz Mitglied der Camerata dei Bardi, in der diese Musik praktiziert wurde. Die Worte des Gesangs sollten wieder verstehbar sein - und nur einfache, klar gestaltete Melodien konnten dem entsprechen. Der Maßstab der nobile semplicità sollte von der Natur genommen werden. (Der Gedanke der Einfachheit der Theoriebildung spielte auch bei Galileo Galilei eine wichtige Rolle.) Der junge Galileo nahm an diesem musikalischen Leben aktiv teil, und schon in einer zeitgenÙssischen Biographie von seinem SchÜler Vincenzo Viviani verfaßt, der sich in den letzten Lebensjahren bei Galilei aufhielt - wird berichtet, daß er es auf dem Cembalo und der Laute zu solcher Vollkommenheit gebracht hatte, daß er auch in Ùffentlichen Konzerten auftrat. Auch wird von seinen sogar seinen Vater Übertreffenden »musikalischen EinfÇllen« berichtet, woraus hervorgehen dÜrfte, daß er sich auch als Komponist betÇtigte, und es wird auch gesagt, daß er sich wÇhrend seines ganzen weiteren Lebens mit Musik beschÇftigt hat (V. Viviani: Lebensbeschreibung des Galilei. In: Galilei:

Der Wissenschaftsbegriff

Schriften II. S. 217). Galilei war aber auch als Maler aktiv tÇtig, und die Nachricht, daß er in seiner Jugend, wenn es nach seinem Wunsch gegangen wÇre, am liebsten Maler geworden wÇre, stammt wohl von ihm selbst. Auch in diesem Bereich soll er weiter gearbeitet haben; er stand mit Malern und Architekten in so enger Verbindung, daß einer von ihnen, Ludovico Cigoli (1559–1613), mitteilte, er habe in der Malerei, vor allem hinsichtlich der Perspektive, alles von Galilei gelernt (Ebd. S. 217 f.). Außerdem darf nicht vergessen werden, daß Galileo Galilei humanistisch bestens gebildet war, er konnte auch Griechisch, er hatte sich selbstverstÇndlich mit Ovid beschÇftigt und konnte fast alle Gedichte Petrarcas und den Orlando furioso des Ludovico Ariosto (1474–1533) auswendig und verfaßte sogar Anmerkungen dazu, in denen er Parallelstellen aus den Schriften Torquato Tassos (1544–1595) zusammenstellte (Ebd. S. 238 f.). Diese breite literarische Bildung erklÇrt auch, daß ein nicht geringer Teil seiner Ùffentlichen Erfolge darauf zurÜckging, daß seine Schriften in bestem italienischen Stil und mit unÜbersehbaren Pointen abgefaßt waren. Dieser offensichtlich kÜnstlerisch sehr begabte junge Galilei wurde allerdings von seinem Vater wegen besserer Berufsaussichten veranlaßt, Medizin zu studieren, was Galileo aber nach einigen Jahren aufgab, um sich ganz der Mathematik zu widmen. Auch in seiner spÇteren Laufbahn war Galilei immer der Renaissance-Gelehrte: Er fÜhlte sich an den HÙfen - sei es an dem der Medicis in Florenz, sei es an dem der PÇpste in Rom immer wohler als in einer Republik wie der Venedigs mit der UniversitÇt in Padua: Es ist nicht ¹blich, selbst von einer glorreichen und großz¹gigen Republik Besoldung zu beziehen, ohne der ffentlichkeit zu dienen, denn wer Nutzen von der ffentlichkeit zieht, muß der ffentlichkeit Nutzen bringen, [...] aber einem F¹rsten oder großen Herrn, der von ihm abhinge, zu dienen, wird mir nie zuwider sein, sondern wohlerw¹nscht und erstrebt. (Brief Galileis an Cosimo II de’Medici von 1609. In: Schriften II. S. 20 f.) Auch spÇter, als er schon im Visier der Inquisition stand, hÇtte Galilei nach Padua und somit in die Republik Venedig zurÜckgehen kÙnnen, wo die rÙmische Inquisition kaum Einfluß hatte. Er zog es aber vor, im Dienste der Medicis in Florenz zu bleiben, die allerdings etwas mehr RÜcksicht auf die politischen Interessen des nahen Kirchenstaats nehmen mußten. Galilei kannte die Spiele der Macht an den FÜrstenhÙfen - zu denen auch der des Papstes gehÙrte –, wo es nur wenig um wissenschaftliche »Wahrheitssuche« ging, sondern wo ganz andere Interessen im Vordergrund standen. Galilei wußte das ganz genau: Wer sich in dieser Umgebung bewegte, mußte bereit sein, »faule Kompromisse« einzugehen. Und in solchen ZusammenhÇngen ist auch der »Fall Galilei« zu sehen, der also nicht vereinfachend zum Paradigma des Konflikts von Kirche bzw. Religion und moderner Wissenschaft hochstilisiert werden sollte (vgl. dazu auch weiter unten 3). Es ging somit mindestens ebensosehr um die Frage des VerhÇltnisses von Wissenschaft und Politik bzw. um

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die Rolle des Wissenschaftlers, der nicht in den UniversitÇten, sondern in den Zentren der Macht angesiedelt war. Auch wird manchmal nicht beachtet, daß auch Galilei nicht einfach als der Vertreter »reiner« Wissenschaft aufgetreten ist, insofern auch er religiÙse Spekulationen und eine platonisierende realistische Metaphysik mit exakter Forschung in Verbindung brachte, er also genau dasselbe tat wie seine Gegner. In der ganzen Diskussion sind auf beiden Seiten wissenschaftliche und außerwissenschaftliche GrÜnde und Argumente nur schwer auseinanderzuhalten. Damit soll die historische Dimension dieses Konflikts keineswegs geleugnet werden, bei systematischer Untersuchung des Streits bleibt jedoch am Ende nicht allzuviel Übrig, was einer weiteren Sachdiskussion wert wÇre. Zu der Trennung von Naturwissenschaft und christlichem Glauben hatte eigentlich schon Albertus Magnus alles Erforderliche gesagt (vgl. 2. Teil, Kap. XIII, 3). Galilei richtete seine Kritik auch eigentlich gar nicht gegen die Kirche, sondern gegen die Aristoteliker, allerdings wußte er natÜrlich genau, daß die Vertreter der Kirche inzwischen meinten, als Verteidiger des Aristotelismus auftreten zu mÜssen. Der »Fall Galilei« ist also vor allem kulturund sozialgeschichtlich interessant. FÜr die Geschichte der Philosophie ist die Auseinandersetzung zwischen Kirche und moderner Wissenschaft zur Zeit Galileis nur mehr am Rande relevant. Die jetzt wichtigen Diskussionen finden nicht mehr zwischen Kirche und moderner Wissenschaft statt, sondern zwischen Philosophie und Wissenschaft, und zwar geht es zunÇchst ganz deutlich in eine Richtung: Die Philosophen werden durch die Wissenschaft herausgefordert. Die Wissenschaftler richten sich, außer an die Kollegen ihres Fachgebiets, an die Philosophen und nicht mehr an die Vertreter der Kirche. Dies kommt auch bei Galilei, dem Vertreter der Wissenschaft, deutlich zum Ausdruck; so sagt er z. B. im Sidereus Nuncius (Nachricht von neuen Sternen) von 1610: Was aber alles Erstaunen weit ¹bertrifft und was mich haupts›chlich veranlaßt hat, alle Astronomen und Philosophen zu unterrichten, ist die Tatsache, daß ich n›mlich vier Wandelsterne gefunden habe, die keinem unserer Vorfahren bekannt gewesen und von keinem beobachtet worden sind. (Sidereus Nuncius. S. 84) Galilei will also die Philosophen Über die Auffindung von Wandelsternen unterrichten. Man kann sich jedoch die Frage stellen, ob solche Entdeckungen fÜr die Philosophie Überhaupt relevant sind, so daß sich die Philosophen dafÜr interessieren mÜßten. Im Sinne der Trennung der Bereiche kÙnnte man ja denken, daß es nach der nunmehr durchgefÜhrten Kompetenz-Abgrenzung von Philosophie und Theologie ein Fehler gewesen wÇre, Philosophie wieder an eine andere Disziplin, nun die Naturwissenschaften, und deren Einzelergebnisse anzubinden. Dabei ist jedoch folgendes zu Überlegen: Auch in der durch und seit Albertus Magnus und Thomas von Aquin erreichten Abgrenzung von Philosophie und Theologie war die Frage der Aufstellung und Analyse des Begriffs von Wissenschaft eindeutig innerhalb des Kom-

Der Wissenschaftsbegriff

petenzbereichs der Philosophie geblieben. Die Analyse dessen, was eine wissenschaftliche BeweisfÜhrung ist und was die Instrumente einer wissenschaftlichen Argumentation sind, war seit der 2. Analytik des Aristoteles immer eine zentrale Aufgabe der Philosophie gewesen. Wenn jetzt also geschichtlich die Theologie als »Leitdisziplin« ausschied und die Naturwissenschaften, vor allem die Physik und die Astronomie, diese Rolle Übernahmen, so war es eigentlich ganz selbstverstÇndlich, daß sich die Philosophen bei der Bestimmung dessen, was Wissenschaft ist, an diesen avanciertesten Wissenschaften orientierten. Dies ist der Weg, der von Bacon bereits deutlich ausgesprochen worden war, und dies wird den weiteren Weg der Philosophie im 17. und 18. Jhd. bei Descartes, Leibniz, Hume und Kant bestimmen, und im Prinzip gilt dies bis heute. GegenÜber dieser zentralen Aufgabe der Analyse des Begriffs und der Methoden der Wissenschaft sind Einzelergebnisse der wissenschaftlichen Forschung sicher auch wichtig fÜr die Philosophie gewesen, spielen aber doch letztlich nur eine sekundÇre Rolle. Es geht also bei Galilei nicht um die Entdeckung der Wandelsterne als solche, sondern um deren Relevanz im Zusammenhang einer umfassenden, und der Meinung Galileis nach neuen wissenschaftlich-astronomischen Theoriebildung. Genau hier beginnen aber auch die Schwierigkeiten der Interpretation. Die historischen Einordnungen und Beurteilungen der Wissenschaft Galileis weichen nicht nur stark voneinander ab, sondern sind einander gelegentlich sogar extrem entgegengesetzt. Es gibt Auffassungen, die behaupten, Galilei habe Überhaupt keine neue Wissenschaft betrieben, da deren Ursprung schon ins 14. Jhd. zurÜckgehe. Dies war die These des bedeutenden Wissenschaftstheoretikers und Wissenschaftshistorikers Pierre Duhem, der sich dabei vor allem auf das WissenschaftsverstÇndnis des Nikolaus von Oresme (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 2, d) berief. Nikolaus von Oresme hatte tatsÇchlich quantitative ¾berlegungen in den Vordergrund seiner Physik gestellt und dies noch dazu im Zusammenhang mit Untersuchungen, die in den Kontext der fÜr Galilei ganz zentralen Fallgesetze gehÙren. DemgegenÜber wird besonders hÇufig von denen, die Galilei auch gerne als Quasi-MÇrtyrer der modernen Wissenschaft hochstilisieren, behauptet, Galilei habe ein schlechterdings neues WissenschaftsverstÇndnis entworfen. Historisch gesehen ergeben sich bei beiden Auffassungen erhebliche Probleme, und die Diskussion dieser historischen Fragen ist in keiner Weise abgeschlossen. Gegen die KontinuitÇts-These spricht, daß die Parallelen, die deren Vertreter in der Wissenschaft des 14. Jhd.s auffÜhren kÙnnen, zwar tatsÇchlich bestehen, aber bei Galilei selbst gar keine besondere Rolle gespielt haben dÜrften. Der entscheidende Ausgangspunkt fÜr die Entwicklung der fÜr Galilei zentralen Fallgesetze war nicht durch diese »VorlÇufer« bestimmt, sondern durch die Theorie des Archimedes, wie in Galileis Schrift De motu (¾ber die Bewegung) ganz deutlich wird: Galilei verallgemeinerte die Gesetzte, die Archimedes fÜr KÙrper in FlÜssigkeiten aufgestellt hatte, auf alle KÙrper, ganz gleich in welchem Medium sie sich befinden. Dies bedeutete, daß die Geschwindigkeit, mit der ein KÙrper fÇllt (oder aufsteigt),

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proportional ist zu der Differenz zwischen dem spezifischen Gewicht dieses KÙrpers und dem des umgebenden Mediums. Wird ein KÙrper gewaltsam in ein Medium bei Archimedes in eine FlÜssigkeit, bei Galilei in irgendeines - eingetaucht, welches ein grÙßeres spezifisches Gewicht hat, so wird er mit einer Kraft nach oben gedrÇngt, die gleich ist der Differenz der Gewichte der verdrÇngten Menge der FlÜssigkeit und des verdrÇngenden KÙrpers. Damit war die fÜr Aristoteles grundlegende Unterscheidung einer natÜrlichen und einer gewaltsamen Bewegung, die auch die Grundlage der Unterscheidung von Physik und Mechanik darstellte, beseitigt: Ein Stein der (aristotelisch »gewaltsam«) in die HÙhe geworfen wird, folgt den gleichen Gesetzen wie einer, der (aristotelisch »natÜrlich«) herunterfÇllt. Aber - und dies widerspricht der Neuheits-These: Diese »revolutionÇre« Auffassung blieb bei Galilei in De motu eingebettet in eine ganz und gar nicht revolutionÇre, traditionelle aristotelische und christliche Kosmologie. Und, was fÜr die Neuheits-These eigentlich noch stÙrender ist: Diese Fallgesetze waren rein axiomatisch-mathematisch gewonnen und ließen sich experimentell damals gar nicht ÜberprÜfen. Der entscheidende Test wÇre ja der freie Fall in einem Vakuum, und dafÜr mußte erst einmal die Luftpumpe erfunden werden. - Es ist also nicht unproblematisch, wenn am Beispiel des Galilei das »Prinzip« wissenschaftlichen Fortschritts, das Auftreten eines neuen »Paradigmas« usw. abgelesen werden soll. Die Frage, ob Galilei und seine Methode zum »Paradigma« wissenschaftlichen Fortschritts gemacht werden und somit eine normative Rolle in der Wissenschaftstheorie und eine heuristische Rolle in der Wissenschaftsgeschichte Übernehmen kann, soll hier nicht behandelt werden. Wenn man der Frage nach einem Paradigma moderner Wissenschaft nachgehen wollte, so wÇre sicher Newton die geeignetere Adresse. Was uns hier im Rahmen der Philosophiegeschichte interessiert, ist aber zunÇchst einmal einfach die Frage, wie der Wissenschaftsbegriff Galileis aussah, in welcher Weise dieser als »neu« bezeichnet werden kann und welche Bedeutung er fÜr den weiteren Weg der Wissenschaft hatte. Die großen Differenzen innerhalb der Beurteilung von Galileis Wissenschaft kommen auch daher, daß in Wirklichkeit oft ganz verschiedene Aspekte als Grundlage dieser Betrachtung verwendet werden. Physiker tendieren dahin, bestimmte Resultate, also SÇtze oder Gesetze, Galileis zu nehmen und zu fragen, ob es Çhnliche SÇtze oder Gesetze schon frÜher gegeben hat. Philosophen wiederum tendieren dahin, bestimmte generelle Aussagen bzw. bestimmte AusdrÜcke wie »Schwere« oder »schwer« zu untersuchen, um zu sehen, inwieweit der Gebrauch solcher AusdrÜcke bzw. solcher Aussagen bestimmten Traditionen zugeordnet werden kann oder nicht. Der Wissenschaftsbegriff Galileis kommt jedoch erst dann in den Blick, wenn man beide AnsÇtze zusammennimmt. Dann erst erkennt man nÇmlich, daß in Galileis Physik gar nicht so sehr »neue« oder »bessere« SÇtze oder Gesetze Über bestimmte PhÇnomene am Anfang stehen, sondern vielmehr eine andere Auffassung von »Physik«, wobei die Physik ja eben zum Modellfall der neuzeitlichen Wissenschaft wurde. Damit soll mit aller Vorsicht behauptet werden, daß bei Galilei doch eine neue Wis-

Der Wissenschaftsbegriff

senschaftstheorie und infolgedessen auch ein neuer Wissenschaftsbegriff vorliegt. Galilei selbst war sich der Neuheit seiner Untersuchungen durchaus bewußt, in seinen Unterredungen und mathematischen Demonstrationen Über zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend aus dem Jahr 1638 beginnt er einen Abschnitt mit dem Satz: •ber einen sehr alten Gegenstand bringen wir eine ganz neue Wissenschaft. (Unterredungen, 3. Tag. S. 140) Galilei ist sich auch der Beziehung seiner Untersuchungen zur Philosophie klar bewußt: Die Frage der Definition von »Bewegung« war seit den Vorsokratikern und Aristoteles ein zentrales Problem der Philosophie: Nichts ist ›lter in der Natur als die Bewegung, und ¹ber dieselbe gibt es weder wenig noch geringe Schriften der Philosophen. Dennoch habe ich deren Eigent¹mlichkeiten in großer Menge und darunter sehr wissenswerte, bisher aber nicht erkannte und noch nicht bewiesene, in Erfahrung gebracht. (Ebd.) Der Begriff »Bewegung« ist zentral fÜr Physik und Naturphilosophie. Die Definition dieses Begriffs ist somit entscheidend fÜr die Frage nach dem VerstÇndnis der Disziplin, die diesen Begriff analysiert. Die genauere Analyse dieses neuen Verst›ndnisses von Wissenschaft bei Galilei bringt jedoch Schwierigkeiten mit sich. Galilei schrieb Abhandlungen Über bestimmte Probleme (Astronomie, Fallgesetze usw.) und schnitt dabei auch immer wieder Fragen der Wissenschaftstheorie an, legte aber nirgends deutlich und zusammenhÇngend seine Auffassung von Wissenschaft dar. Es lÇßt sich jedoch zeigen, daß Galilei zwei verschiedene Ebenen der wissenschaftlichen Arbeit unterschied: Zum einen die theoretische Ebene, auf der definitorische Begriffsbestimmungen (a priori) gegeben sind und SÇtze aufgestellt werden, die nicht empirisch ÜberprÜft werden brauchen bzw. gar nicht empirisch ÜberprÜft werden kÙnnen; zum anderen gibt es aber auch SÇtze, die durch die experimentelle Pr¹fung gestÜtzt und begrÜndet werden mÜssen. Diese Unterscheidung erscheint uns heute als ziemlich banal, es wird sich jedoch zeigen, daß diese Zusammenordnung historisch gesehen keineswegs auf der Hand lag, obwohl die einzelnen Elemente durchaus schon vor Galilei vorhanden waren. Das Vorgehen Galileis kann (ohne in Details eintreten zu kÙnnen) an einem Beispiel aus den Unterredungen und mathematischen Demonstrationen gezeigt werden. In der Unterredung ¾ber die Ùrtliche Bewegung beginnt Galilei mit einer Definition: Ich nenne diejenige Bewegung gleichf³rmig, bei welcher die in irgend welchen gleichen Zeiten vom K³rper zur¹ckgelegten Strecken unter einander gleich sind. (Ebd. S. 141)

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Dies ist eine definitorische Bestimmung von »gleichfÙrmiger Bewegung«, die im Prinzip apriorisch ist, d. h. sie hÇngt in keiner Weise davon ab, ob es gleichfÙrmige Bewegung Überhaupt gibt. In dieser Definition sind nach Galilei vier Axiome enthalten, die somit ebenso empiriefrei sind und allein von der Bestimmung der Begriffe abhÇngen. Ein Beispiel dafÜr ist Axiom II: Bei gleichf³rmiger Bewegung entspricht der gr³ßeren Strecke eine gr³ßere Zeit. (Ebd. S. 141) Dies folgt tatsÇchlich aus der angegebenen Definition der Bewegung und ist entsprechend wieder unabhÇngig davon, ob es eine gleichfÙrmige Bewegung Überhaupt gibt. Dieses Axiom stellt nur eine »Wenn ... dann«- Beziehung auf, ohne zu behaupten, daß der im Antezedens angegebenen Definition irgendetwas in der Welt tatsÇchlich entspricht. Nach der Auflistung der Axiome, die aus der Definition folgen, beginnt Galilei mit einer neuen ¾berlegung. Hier wird nun der Begriff einer »natÜrlich beschleunigten Bewegung« eingefÜhrt. Der methodologisch andere Charakter dieser Begriffsbestimmung wird von Galilei ganz klar herausgestellt: 88

Obgleich es durchaus gestattet ist, irgend eine Art der Bewegung beliebig zu ersinnen und die damit zusammenh›ngenden Ereignisse zu betrachten [...], so haben wir uns dennoch entschlossen, diejenigen Erscheinungen zu betrachten, die bei den frei fallenden K³rpern in der Natur vorkommen, und lassen die Definition der beschleunigten Bewegung zusammenfallen mit dem Wesen einer nat¹rlich beschleunigten Bewegung. (Ebd. S. 146 f.) Die als erstes eingefÜhrte Definition einer »gleichfÙrmigen Bewegung« gehÙrt also zu dem, was Galilei im eben angefÜhrten Zitat als »beliebig zu ersinnen« ansieht jetzt jedoch wendet er sich den Erscheinungen zu, »die in der Natur vorkommen«. Dadurch, daß Galilei beschließt, die Definition der »gleichfÙrmigen Bewegung« mit der der »natÜrlich beschleunigten Bewegung« zusammenfallen zu lassen, ergibt sich eine empirische Theorie. Die Frage nach dem »Wesen«, von dem Galilei spricht, sei hier zunÇchst zurÜckgestellt, wichtiger ist die Beziehung von »Definition« und »Natur«, in der auch die von apriorischen und aposteriorischen SÇtzen enthalten ist. Nach der erfolgten Entscheidung, die genannte Definition auf die Erscheinungen der Natur anzuwenden, mÜssen die Axiome, die aus der Definition folgen, empirisch ÜberprÜfbare SÇtze liefern. FÜr Galilei heißt dies, daß die SÇtze durch Experimente verifiziert werden mÜssen: Das glauben wir schließlich nach langen •berlegungen als das Beste gefunden zu haben, vorz¹glich darauf gest¹tzt, daß das, was das Experiment den Sinnen vorf¹hrt, den erl›uterten Erscheinungen durchaus entspreche. (Ebd. S. 147)

Der Wissenschaftsbegriff

Auf diese experimentelle ¾berprÜfung folgt die Definition »gleichfÙrmig beschleunigter Bewegung«: Gleichf³rmig oder einf³rmig beschleunigte Bewegung nenne ich diejenige, die von Anfang an in gleichen Zeiten gleiche Geschwindigkeitszuw¹chse erteilt. (Ebd. S. 148) Diese Definition hat also zunÇchst die gleiche apriorisch-axiomatische Struktur wie die vorher aufgefÜhrte der »gleichfÙrmigen Bewegung«; Galilei sagt auch ausdrÜcklich, daß er diese Bewegung so »nennt«. (Diese Definition findet sich bereits im 14. Jhd. bei William von Heytesbury). Da sie aber nun nach dem Entschluß, eine empirische Theorie aufzustellen, eingefÜhrt wird, steht sie auch im Kontext einer Theorie, die experimentell ÜberprÜft werden kann. Als nÇchstes wird in mehreren Schritten eine mathematisch formulierte These Über die GrÙße des Zuwachses der Geschwindigkeit aufgestellt: Man sieht also auch in dieser einfachen •berlegung, daß bei gleichf³rmiger Beschleunigung die in gleichen Zeiten durchlaufenen Wege sich wie die ungeraden Zahlen 1, 3, 5 verhalten, und faßt man die Gesamtstrecken zusammen, so wird in doppelter Zeit der vierfache Weg, in dreifacher Zeit der neunfache Weg zur¹ckgelegt, und allgemein werden die Wege wie die Quadrate der Zeiten sich verhalten. (Ebd. S. 161) Es ist ersichtlich, daß Galilei hier unter Verwendung des Begriffs »allgemein« einen Satz aufstellt, der durch keine Induktion gewonnen ist. Es ist ein streng allgemeiner Satz, der aber im Unterschied zu der zu Beginn eingefÜhrten Definition und den darin enthaltenen Axiomen empirisch ÜberprÜfbar sein muß. Es ist im Prinzip ein Satz, der eine prÇzise quantifizierte Voraussage Über alle Ereignisse macht, die als »gleichfÙrmige Beschleunigung« bezeichnet werden kÙnnen. Galilei lÇßt daher an diesem Punkt der Unterredung seinen GesprÇchspartner ein Experiment fordern: Ob aber die Beschleunigung, deren die Natur sich bedient, beim Fall der K³rper eine solche sei, das bezweifle ich noch, und deshalb w¹rden ich und andere, die mir ›hnlich denken, es f¹r sehr erw¹nscht halten, jetzt einen Versuch herbeizuziehen, deren es so viele geben soll, und die sich mit den Beweisen decken sollen. (Ebd. S. 161 f.) Die Antwort, die Galilei gibt, zeigt sich schon im Stil als prinzipiell und programmatisch: Ihr stellt in der Tat, als Mann der Wissenschaft, eine berechtigte Forderung auf, und so muß es geschehen in den Wissensgebieten, in welchen auf nat¹rliche Konsequenzen mathematische Beweise angewandt werden; so sieht man es bei allen, die Perspektive, Astronomie, Mechanik, Musik und Anderes betreiben; diese alle erh›rten ihre Prinzi-

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pien durch Experimente, und diese bilden das Fundament des ganzen sp›teren Aufbaues. (Ebd. S. 162) Es folgt nun bei Galilei eine genaue Anweisung fÜr das Experiment der sogenannten »Fallrinne«, das die ¾berprÜfung der angegebenen mathematischen VerhÇltnisse als der »natÜrlichen Bewegung« entsprechend nachweist. DemgegenÜber dÜrften die historisch nicht nachweisbaren Experimente am schiefen Turm von Pisa der Legende angehÙren, da Galilei dafÜr gar nicht Über ausreichende Meßinstrumente verfÜgte. FÜr den prinzipiellen Zusammenhang der Forderung nach einem Experiment reichen jedoch die Anweisungen Galileis zur Fallrinne durchaus aus. Die Elemente des Wissenschaftsbegriffs Galileis werden aus diesem Text genÜgend deutlich: (1) Axiomatisierung (2) Mathematisierung (3) Empirische ¾berprÜfbarkeit.

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Keines dieser Elemente ist schlechterdings neu, was jedoch neu ist, ist ihre methodisch konsequente Zusammenordnung. Wichtig ist hierbei nicht nur die methodische Konsequenz - denn ganz so konsequent war auch Galilei nicht immer -, sondern die Zusammenordnung dieser Elemente Überhaupt, die es in dieser Form und Allgemeinheit eben frÜher nicht gegeben hatte. Somit konnte Galilei bei den einzelnen Elementen auf schon bestehende Traditionen zurÜckgreifen, bei ihrer methodologisch reflektierten Zusammenordnung jedoch nicht. Betrachten wir kurz die einzelnen Elemente.

a) Axiomatisierung Axiomatische Systeme gab es schon seit der Antike. Die strenge, d. h. formal-logisch korrekte Ableitung der FolgesÇtze aus - mÙglichst wenigen - Voraussetzungen war eine Forderung, die auch in der mittelalterlichen Philosophie bekannt war. Das beste bekannte axiomatische System war die Euklidische Geometrie, aber auch empirische Wissenschaften wie die Archimedische Physik waren nach einem solchen strengen Folgerungssystem aufgebaut - Systeme, die Galilei schon aus seiner Studienzeit her kannte (Viviani: Lebensbeschreibung des Galilei. In: Galilei: Schriften II. S. 221). Wichtige Anregungen dÜrfte Galilei wÇhrend seiner LehrtÇtigkeit in Padua (1592–1610) aus Kreisen des Paduaner Aristotelismus erhalten haben. In dieser Schule wurde besonders seit Zabarella genau zwischen dem metodo risolutivo und dem metodo compositivo unterschieden: In der resolutio sollten von den PhÇnomenen ausgehend erste Prinzipien gefunden werden, um dann in der compositio, ausgehend von diesen ersten Prinzipien (Axiomen), eine streng logisch geordnete systematische Darstellung

Der Wissenschaftsbegriff

der Theorie zu geben (vgl. Kap. I, 5). Galilei Übernahm die Unterscheidung von metodo risolutivo und metodo compositivo, wobei wir in letzterem ein axiomatisches Verfahren sehen kÙnnen. Der aus dem Paduaner Aristotelismus Übernommene Sprachgebrauch darf aber Über wichtige Unterschiede in der Auffassung von wissenschaftlichen Theorien zwischen Zabarella und Galilei nicht hinwegtÇuschen: Zabarella hatte als Paradigmen die - damals nicht als avancierteste Wissenschaften zu bezeichnende - Medizin und Biologie vor Augen, daher findet sich auch in seiner Methodologie keine prinzipielle Forderung nach Quantifizierung, und noch weniger die nach Mathematisierung. Außerdem hat auch die systematische Darstellung des metodo compositivo im Grunde nur eine Darstellungsfunktion; diese Methode fÜhrt also zu keinen neuen Erkenntnissen. DemgegenÜber dient bei Galilei der metodo compositivo in seiner strengen Ableitungsform bei empirischen Theorien gerade dazu, diese durch genaue Experimente ÜberprÜfen zu kÙnnen - diese Methodik hat also eine zentrale Funktion fÜr die Erkenntnis der GÜltigkeit von Theorien.

b) Mathematisierung Axiomatisierung und Mathematisierung sind in der Theoriebildung genau zu unterscheiden. Die mathematische Theorie Euklids war axiomatisiert, und jede mathematische Theorie ist axiomatisierbar, aber der Begriff der Axiomatisierung ist nicht dem der Mathematisierung Çquivalent. Das formale Mittel der strengen Ableitung der FolgesÇtze aus ersten TheoriesÇtzen ist die Logik und nicht die Mathematik, die selbst nur mittels der Logik streng axiomatisch aufbaubar ist. Dieser unumkehrbare Zusammenhang ist in unserer Gegenwart manchmal etwas verwischt, da man von »mathematischer Logik« spricht. Es muß aber klar sein, daß die Logik keine Disziplin der Mathematik ist, und ihr Aufbau, mag er auch noch so sehr von der Mathematik, vor allem von der Algebra, »inspiriert« sein, ist nicht nur unabhÇngig von der Mathematik, sondern muß es auch sein, sonst kÙnnten ja auch mathematische Theorien nicht auf ihre logische Konsistenz hin ÜberprÜft werden. Galilei war an dem Aufbau einer exakten Naturwissenschaft interessiert. »Exakt« bedeutete fÜr ihn »zahlenmÇßig«. Dies war nicht unbedingt neu, das Modell war seit Euklid bekannt. Entscheidend war aber, daß er konsequent und kompromißlos das Prinzip der generellen Quantifizierung fÜr naturwissenschaftliche Theorien einfÜhrte. Bei naturwissenschaftlichen Gesetzen mÜssen die QuantitÇten in mathematisch darstellbaren VerhÇltnissen ausgedrÜckt werden. Galilei wird im Saggiatore sagen, daß das Buch der Natur in mathematischer Sprache geschrieben ist. Allerdings sind wir schon im Mittelalter bei Roger Bacon (13. Jhd.) der Vorstellung Gottes als Geometer begegnet, und in zahlreichen mittelalterlichen Miniaturen finden wir Gott mit einem Zirkel dargestellt. Auch die Mathematisierung in der Theoriebildung ist nicht schlechterdings neu, in Oxford hatte es bei Bacon solche Versuche im

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Rahmen der Optik gegeben, ebenso bei Thomas Bradwardine (14. Jhd.) und in Paris bei Nikolaus von Oresme (14. Jhd.). Bei all diesen »VorlÇufern« fehlt jedoch sowohl die Einbettung dieser Theorien in eine vorausgehende methodologisch reflektierte Definitionslehre als auch vor allem der Zusammenhang solcher Theorien mit einem als wissenschaftstheoretisch relevant angenommenen Experiment. Der Grund fÜr diesen sonderbaren Sachverhalt - denn die angesprochenen Theoretiker nahmen ja auch »Experimente« vor - wird gleich noch besprochen werden. Gelegentlich kÙnnte man den Eindruck erhalten, Galilei hÇtte die Mathematik im Bereich der Wissenschaft an die Stelle der Logik setzen wollen. Dies war jedoch nicht Galileis Absicht. Allerdings ist auch zu beobachten, daß Galilei den Wert der Logik nicht allzu hoch einschÇtzte. Sein Biograph hat vermutlich von ihm selbst die folgende Mitteilung Über die frÜhe Studienzeit Galileis erhalten:

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Als er aber um diese Zeit auch die Logik studieren mußte, so empfand er alsobald einen großen Ekel ¹ber die vielen terminos, definitiones, und distinctiones, wie auch ¹ber die wunderliche Ordnung und Methode dieser Disziplin, und urteilte, es sei dieses eine fast unn¹tze Wissenschaft, und k³nne einem muntern Kopfe kein sonderliches Vergn¹gen schaffen. (Viviani: Lebensbeschreibung des Galilei. In: Galilei: Schriften II. S. 216) Es war ein humanistischer Gemeinplatz, die scholastische Logik als ziemlich unnÜtz anzusehen, und Galilei stammte aus Florenz, einer der Hochburgen des italienischen Humanismus. FÜr ganz so unnÜtz sah aber Galilei die Logik gar nicht an, er meinte nur, daß man das erforderliche logische RÜstzeug doch am besten dort erlernen kÙnnte, wo es erfolgreich angewandt wurde, und das heißt: in der Mathematik: Die Logik ist, wie Ihr sehr wohl wißt, das Instrument der Philosophie. Aber wie jemand ein vortrefflicher Instrumentenmacher sein kann, ohne die Instrumente spielen zu k³nnen, so kann man ein großer Logiker sein, ohne gen¹gende Fertigkeit in Anwendung der Logik zu besitzen [...]. Ein Instrument zu spielen lernt man eben nicht von dem, der es zu bauen, sondern von dem, der es zu spielen versteht; [...] und so lernt man das Beweisen aus der Lekt¹re der B¹cher, die zahlreiche Beweise enthalten, also aus den mathematischen, nicht aber aus den logischen. (Galilei: Dialog, 1. Tag. S. 37 f.) Galilei war eben an der BegrÜndung der empirischen Wissenschaften interessiert, und fÜr diese war die Mathematik das entscheidende Instrument, in der alles enthalten war, was er fÜr seine Beweise benÙtigte. Die logische BegrÜndung und ¾berprÜfung der Mathematik selbst war nicht sein vordringliches Problem, obwohl er mit der zu seiner Zeit darÜber stattfindenden Diskussion durchaus vertraut war (zum folgenden vgl. Feldhay 1998). Den Anstoß dazu hatte die Schrift von Alessandro

Der Wissenschaftsbegriff

Piccolomini (1508–1578) Commentarium de certitudine mathematicarum scientiarum (Kommentar Über die Gewißheit der mathematischen Wissenschaften) aus dem Jahr 1547 gegeben. Piccolomini hatte die gelÇufige Anschauung, daß die Mathematik, und hier vor allem die Geometrie, das Modell fÜr den wissenschaftlichen Beweis abgebe, bestritten. Er sagte: (1) Ein mathematischer Beweis liefert mit seinen VordersÇtzen keine »Ursachen« fÜr den Schlußsatz, z. B.: Ein rechter Winkel in einem Dreieck ist nicht die Ursache dafÜr, daß die Summe der beiden anderen Winkel auch gleich einem rechten Winkel ist. (2) Der hohe Grad der Sicherheit in der Mathematik beruht darauf, daß die QuantitÇt, mit der sie arbeitet, nur in der Vorstellung (quantum phantasiatum), nicht aber in der RealitÇt existiert. Daher sind dann die »gemischten« Wissenschaften, d. h. empirische Wissenschaften, die mit Mathematik arbeiten, den »reinen« Tatsachenwissenschaften, die wirkliche Ursachen erforschen, in Hinsicht auf ihren Wissenschaftscharakter unterlegen. Diese Thesen riefen grÙßten Widerstand bei den Mathematikern der Paduaner UniversitÇt hervor. Ihr wichtigster Sprecher war Francesco Barozzi, der 1560 in seinem Opusculum zu Proklos’ Kommentar zum 1. Buch von Euklids Elementen, dessen Text er auch edierte, die These des Proklos vertrat, die Vorstellungen mathematischer GegenstÇnde seien angeboren und somit den auf Çußeren Erfahrungen beruhenden GegenstÇnden Überlegen, und mit diesen mathematischen Vorstellungen wÇren wir dem Wesen der Dinge nÇher als mit den durch die Sinne vermittelten Vorstellungen. Dies ist also bester Neuplatonismus - und Galilei besaß ein Exemplar des Opusculum. Noch schÇrfer lehnte Pietro Catena, der von 1547–1576 Professor fÜr Mathematik in Padua war, den RÜckgriff auf irgendeine Form der Abstraktion am Ursprung der mathematischen GegenstÇnde ab und verlegte diesen rein in die Seele. Die realen GegenstÇnde haben dann Teil an diesen abstrakten GegenstÇnden - dies ist also die platonische Teilhabe-Vorstellung -, so daß dann das mathematisch-naturwissenschaftliche Vorgehen in der Anwendung von Allgemeinem auf Einzelnes liegt und somit gerade durch die Anwendung der Mathematik dem Wesen der Dinge nahekommt. Daraus ergab sich die These, daß die wahre Erkenntnis der Welt nur durch mathematische Methoden mÙglich ist. - Es hatte also in der zweiten HÇlfte des 16. Jhd.s eine breite Diskussion Über das VerhÇltnis der Mathematik zur Philosophie und zu den Naturwissenschaften stattgefunden, die nicht zuletzt durch ein eingehenderes (bzw. aufgrund der Textlage erst jetzt mÙglichen) Studium antiker Kommentare hervorgerufen worden war. An dieser Diskussion war auch die fÜhrende Bildungsinstitution Roms, das Collegio Romano der Jesuiten, beteiligt. WÇhrend die Jesuiten im Bereich der Philosophie mehr an offizielle Vorgaben gebunden waren, hatten sie beim Studium der Mathematik und Physik grÙßeren Spielraum. Das Collegio Romano wurde zu einem Zentrum mathematischer Studien. Die zentrale Gestalt dabei war der bedeutende Mathematiker Christoph Clavius (1537–1612), der weithin die Mathematik-Auffassung Barozzis Übernahm. - In der ganzen Diskussion Überlagerten sich zwei Fragenkomplexe: Der eine betraf die Rolle der Mathematik fÜr

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das, was als »wissenschaftliche ErklÇrung« angesehen werden sollte, eine Frage, die von Aristotelikern und Platonikern verschieden beantwortet wurde. Die andere betraf die Frage der erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Interpretation solcher ErklÇrungen, eine Frage, die wiederum Realisten und Nominalisten verschieden beantworteten. Die Diskussion um eine rein mathematisch-instrumentalistische und eine mathematisch-realistische Interpretation von Physik und Astronomie war also am Collegio Romano gut bekannt. Die Jesuiten des Collegio Romano tendierten zu einer realistischen Interpretation (der Jesuitenkardinal Bellarmin wird Galilei, der letztere vertrat, allerdings spÇter erstere Interpretation empfehlen). Galilei ging von diesen Studien und der wissenschaftstheoretischen Einordnung der Mathematik des Collegio Romano aus (vgl. Wallace 1984), und er wußte um die Probleme der philosophischen BegrÜndung einer mathematisierten Wissenschaft. Im Dialog Galileis kommen faktisch auch die verschiedenen damals gegebenen Antworten zur Sprache, denen gegenÜber Galilei seine eigene Position bestimmt. Galilei (= Salviati) bringt ganz deutlich seine eigene Meinung zum Ausdruck: Wer naturwissenschaftliche Fragen ohne Hilfe der Geometrie behandeln will, unternimmt etwas Unausf¹hrbares. (Dialog, 2. Tag. S. 215) 94

Das wurde damals auch von niemandem mehr bestritten. Galilei lÇßt dann aber Simplicio, der also ganz und gar nicht immer ein »Einfaltspinsel« ist, die Position des aufgeklÇrten Aristotelikers vertreten: Signore Simplicio wird anderer Meinung sein, wiewohl ich nicht glaube, daß er zu denjenigen Peripatetikern geh³rt, die ihren Sch¹lern vom Studium der Mathematik abraten, weil es die wissenschaftliche Bef›higung beeintr›chtige und sie f¹r beschauliche Zwecke ungeeigneter mache. (Ebd.) Worauf Simplicio, ganz im Sinne Piccolominis, antwortet: Ich m³chte Plato dieses Unrecht nicht antun, wohl aber sage ich mit Aristoteles, daß er sich allzusehr in sie versenkte, allzusehr in diese seine Geometrie sich verliebte. Denn im Grunde genommen, Signore Salviati, sind diese mathematischen Spitzfindigkeiten in der Theorie wohl richtig, aber auf sinnliche und physische Materie angewendet, stimmen sie nicht. (Ebd.) FÜr Simplicio besteht also ein ontologischer Unterschied zwischen mathematischen und physikalischen GegenstÇnden. Salviati (= Galilei) stellt dem eine nicht weit von der des Clavius entfernte Position gegenÜber, die aber diesem gegenÜber deutlich verschÇrft ist: Es gibt fÜr ihn keine Grenze zwischen mathematischem KalkÜl und Berechnung physikalischer Eigenschaften:

Der Wissenschaftsbegriff

Insoweit also stimmt das, was in concreto eintritt, ganz mit dem ¹berein, was in abstracto eintritt. Es w›re in der Tat etwas ganz Neues, wenn die Berechnungen und Operationen mit abstrakten Zahlen schließlich nicht stimmten, sobald man sie in concreto auf Gold- und Silberm¹nzen und Waren anwendet. Wißt Ihr, wie die Sache liegt, Signor Simplicio? Gerade wie der Kalkulator, damit die Zucker-, Seide- und Wollrechnungen stimmen, seine Abz¹ge f¹r das Gewicht der Kisten, der Verpackung und sonstigen Ballasts machen muß, so muß der Geometer, wenn er die theoretisch bewiesenen Folgewirkungen experimentell studieren will, die st³renden Einfl¹sse der Materie in Abrechnung bringen. Wenn er das versteht, so versichere ich Euch, alles wird akkurat ebenso stimmen wie die zahlenm›ßigen Berechnungen. Die Fehler liegen also weder an dem Abstrakten noch an dem Konkreten, weder an der Geometrie noch an der Physik, sondern an dem Rechner, der nicht richtig zu rechnen versteht. (Ebd. S. 220) Hinter der etwas einfach und vordergrÜndig erscheinenden Haltung Salviatis steckt also eine ganze zeitgenÙssische Diskussion. Und Simplicio hat durchaus recht, wenn er bei Galilei vermutet, daß er »der Platonischen Ansicht zuneigt« (Ebd. S. 202). Auch in Hinsicht auf den »Fall Galilei« ist also festzuhalten, daß zwischen dem mathematischen KalkÜl der Wissenschaft, hier also vor allem dem der Astronomie, und der platonisierenden realistischen Interpretation dieses KalkÜls zu unterscheiden ist (vgl. dazu weiter unten 3). Allerdings neigte nicht nur Galilei, sondern auch die Mehrzahl der Jesuiten, also seine spÇteren Gegner, der platonisierenden Interpretation zu.

c) Empirische •berpr¹fbarkeit In der methodologisch begrÜndeten Einbeziehung des Experiments in den Begriff von Wissenschaft liegt eine ganz wichtige Leistung Galileis, die ihn von seinen »VorgÇngern« deutlich abhebt. SelbstverstÇndlich gab es auch schon frÜher Experimente; diese waren aber eben nicht - wie schon im Zusammenhang des Neuen Organons von Bacon erwÇhnt - im Kontext der Wissenschaft angesiedelt, sondern allein im Bereich der Technik, konkret: des Handwerks. Wissenschaft und Technik wurden im traditionellen Bezugsrahmen nicht nur als verschiedene, sondern in manchem sogar als gegensÇtzliche Bereiche angesehen. Technik wurde nicht in Beziehung zur Wissenschaft gesetzt, im Mittelalter lehrte man z. B. auch Architektur nicht an der UniversitÇt. Technik und Physik waren getrennte Bereiche. In der Physik wurde versucht, die Natur zu erklÇren, d. h. zu sagen, »wie sie ist«, mit der Technik hingegen wurde versucht, die Natur gleichsam zu »Überlisten«, d. h. etwas zu produzieren, was die Natur, so »wie sie ist«, nicht hergibt. Daraus erklÇrt sich, daß technische Anordnungen nicht methodologisch relevant eingesetzt werden konnten, um Natur »wie sie ist« zu erklÇren. Gerade dieser Einsatz der Technik in einer gewÙhnlich kÜnstlich

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und mit Hilfe von Instrumenten hergestellten Testsituation fÜr die ErklÇrung der Natur stellt aber ein entscheidendes Element des Experiments dar. Mit der Einbeziehung des Experiments Çndert sich daher der Begriff von Wissenschaft Überhaupt. Die Technik dient nun dazu, die Natur systematisch zu untersuchen, d. h. zu befragen, um etwas ¹ber die Natur zu erfahren und nicht, um etwas gegen die Natur zu unternehmen. Damit gewinnen jetzt technisch hergestellte Instrumente eine wichtige Rolle in der Wissenschaft, eine Rolle, die sie frÜher hÙchstens faktisch, und auch das nur in geringem Maße, nie aber systematisch-methodologisch innegehabt hatten. Der Einsatz des Teleskops, das Galilei eigens fÜr diese Zwecke weiterentwickelte, ist dafÜr paradigmatisch, ebenso die Entwicklung der »Fallrinne«, einer fÜr praktische technische Zwecke zunÇchst vÙllig nutzlosen Erfindung. Der Wissenschaftler muß sich jetzt als Techniker jene Instrumente erfinden, die ihm die ¾berprÜfung seiner Theorien erlauben. Diese Funktion der Technik innerhalb der Wissenschaft ist methodologisch ganz und gar verschieden von der technischen Anwendbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse, die Bacon in erster Linie im Auge gehabt hatte. Die Technik selbst hatte allerdings gerade im Handwerksbetrieb der Renaissance, zu dem auch die Architektur gehÙrte, sehr bedeutende Fortschritte gemacht. Schon im Mittelalter hatten die Handwerker große technische Fertigkeiten entwickelt (vgl. den Bau der Kathedralen), seit dem 14. Jhd. gab es profan-technische Entwicklungen (vgl. die Konstruktion der Uhren), und in der Zeit der Renaissance wurden weitere wichtige technische Erfindungen gemacht, die oft auch unglaublich schwierige »Einsichten«, z. B. in die Statik, erforderten. Man erinnere sich nur an die berÜhmte Konstruktion der Kuppel des Doms von Florenz durch Brunelleschi, deren statische Berechnung noch heute den Mathematikern etliche Probleme aufgibt. ’hnliches gilt fÜr Alberti und Leonardo da Vinci, um nur einige der »Spitzen« dieser Handwerkskunst zu erwÇhnen. Man kann sich natÜrlich fragen, ob nicht durch den methodischen Einsatz der Mathematik (z. B. in der Architektur) eine FÇhigkeit der »intuitiven Mathematik«, d. h. der technisch-intuitiven Erfassung von Material und Proportionen, verlorengegangen ist. Es ist doch erstaunlich zu sehen, wie z. B. die Architekten-Handwerker des Turms von Pisa, als sie sahen, daß sich die Fundamente gesenkt hatten, ohne Kenntnisse mathematischer Statik die Konstruktion leicht korrigierten, ihn dann ruhig schief fertig bauten - und dieser Turm steht seit mehr als 600 Jahren. Auch in einem anderen Bereich hatte es wichtige neue Erfindungen gegeben, nÇmlich in der Kriegstechnik. Dort war auch gelegentlich der Zusammenhang von theoretischer Wissenschaft und Technik, wenn auch nicht generell, so doch in partikulÇren Bereichen, erkannt worden, zum Beispiel bei NiccolÔ Tartaglia (1499–1557), der Euklid ins Italienische und Archimedes ins Lateinische Übersetzte. Tartaglia beschÇftigte sich mit der Konstruktion von Waffen und zog hierfÜr mathematische Berechnungen heran, wobei er als erster den Winkel grÙßter Schußweite berechnete. So ist es eine zu denken gebende Feststellung, daß die Neue Wissenschaft (Nova Scientia)

Der Wissenschaftsbegriff

Tartaglias mit einer Abhandlung Über die Schußweite beginnt. Tartaglia gelangte jedoch nicht zu einer prinzipiell und methodologisch reflektierten NeubegrÜndung der Physik. Dies zu leisten, war Galileis Verdienst, der sich dieser Neuheit auch durchaus bewußt war. Er hatte sich mit Experimenten schon wÇhrend seines dann abgebrochenen Medizinstudiums befaßt, und sein Biograph berichtet im Sinne Galileis: »Er selbst, Galilaeus, ist der erste gewesen, der dieses mit unglaublichem Vorteil in der Astronomie und Geometrie auf die observationes coelestes appliziert hat« (Viviani: Lebensbeschreibung des Galilei. In: Galilei: Schriften II. S. 219). Erst Galilei leitete wirklich jene Phase der Wissenschaft ein, die als die der »experimentellen und instrumentellen Wissenschaft« bezeichnet werden kann, einer Konzeption, die vor ihm schon allein als Begriffskombination nicht denkbar gewesen war. Handwerkstechnik war auf konkrete, praktische Ziele ausgerichtet, nicht auf wissenschaftliche Erkenntnis. Wurde nun instrumentelle Technik in den Wissenschaftsbegriff als methodologisch konstitutiv eingefÜhrt, so konnte dieser Bezug auf die Praxis aber auch nicht eliminiert werden. Bacon hatte dies richtig erkannt und damit Wissenschaft in den Zusammenhang des praktischen Ziels des »Wohls der Menschen« gestellt, ohne diesem Ziel den Erkenntnisfortschritt einfach unterzuordnen. Galilei hingegen nahm die Handwerkstechnik auf, ohne auf ihren nutzbringenden Anwendungszusammenhang zu reflektieren. Gerade durch seine »praxisfernen« Experimente, bei denen an keinerlei technische Anwendung der sich ergebenden theoretischen Resultate gedacht war, konnte der Eindruck von »reiner« und »zweckfreier« Wissenschaft entstehen, eine Vorstellung, die durchaus noch dem antiken und mittelalterlichen Theoriebegriff nahestand. Das TheorieverstÇndnis wurde bei Galilei zwar durch den Einbezug von Technik faktisch verÇndert, was Galilei natÜrlich aufgefallen war, er begriff aber das Experiment gleichsam nochmals als »theoretisch«. Die Verbindung von Wissenschaft und praktisch-technologischem Nutzen war nicht das Problem Galileis; in diesem Punkt war Bacon scharfsichtiger gewesen. Unmittelbar einflußreicher wurde aber zunÇchst Galilei, da er eben nicht nur die Bedeutung der experimentellen Wissenschaft propagierte, sondern sie auch mit Erfolg betrieb. Wie sich gezeigt hat, ist keines der Elemente des Wissenschaftsbegriffs Galileis schlechthin neu, was neu ist, ist jedoch die Zusammenfassung - nicht Çußerlicher, sondern methodologisch reflektierter Art - von Elementen verschiedener Herkunft, die vorher einfach nebeneinander gestanden hatten. Diese Analyse zeigt auch, was die Kategorie »neu« in historischem Kontext sehr hÇufig bedeutet: eine neuartige Zusammenordnung von Elementen, die bisher als zu verschiedenen Ordnungen gehÙrend angesehen wurden. Damit wird keineswegs die OriginalitÇt entwertet, diese besteht ja vielmehr sehr hÇufig gerade darin, Dinge mit einem Blick zu erfassen, die vorher einen Standortwechsel erfordert hatten.

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2. Der philosophische Begriffsrahmen FÜr Galilei - und dies dÜrfte nicht nur taktisch gemeint gewesen sein - bedeutete die TÇtigkeit des Wissenschaftlers, die Gedanken Gottes nachzuzeichnen. Dies ist durchaus im Sinne der Tradition: Um mich also besser auszudr¹cken, so erkl›re ich, daß zwar die Wahrheit, deren Erkenntnis durch die mathematischen Beweise vermittelt wird, dieselbe ist, welche die g³ttliche Weisheit erkennt; allerdings aber will ich Euch zugeben, daß die Art und Weise, wie Gott die zahllosen Wahrheiten erkennt, von denen wir nur einige wenige kennen, hoch erhaben ¹ber unsere Weise ist. Wir gehen mittels schrittweiser Er³rterung weiter von Schluß zu Schluß, w›hrend er durch bloße Anschauung begreift. (Dialog, 1. Tag. S. 109)

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Galilei: Dialog, Dritter Tag. S. 338.

Ebenso wichtig wie die formale, erkenntnistheoretische Interpretation der Begriffe waren verschiedene inhaltliche Bestimmungen, die sich aus der neuen Wissenschaft ergaben und die verschiedene bisherige Vorstellungen radikal in Frage stellten. Dazu nur einige Beispiele:

Der philosophische Begriffsrahmen

(1) Der Mensch ist nicht das Maß aller Dinge. Es war sicher nicht von untergeordneter Bedeutung, daß mit dem ptolemÇisch-aristotelischen geozentrischen Weltbild auch eine - nicht aristotelische - anthropozentrische Vorstellung verbunden war: Der Mensch, das Abbild Gottes, stand mit der Erde im Mittelpunkt des Kosmos (und Rom mit dem Stellvertreter Gottes war der Mittelpunkt der Erde). Alles schien final auf den Menschen hin gerichtet und geordnet. Die Welt hatte ihren Sinn als Umwelt des Menschen, und so schien die Kosmologie eine Implikation der Vorsehungs-Lehre zu sein. Diese Vorstellung war - auch dies durchaus nicht aristotelisch - forschungshemmend: Wenn erklÇrt war, welche wohltuende Wirkung auf den Menschen irgendetwas hatte, so schien das ErklÇrungsziel erreicht. Die kopernikanische Astronomie rÜckte den Menschen aus diesem Zentrum - das hatte schon Giordano Bruno deutlich gesehen, und auch Galilei zog diese Konsequenz: Zuviel maßen wir uns an [...], wenn wir meinen, einzig die Sorge um uns ersch³pfe das Wirken der Weisheit und Macht Gottes, dar¹ber hinaus tue und ordne sie nichts. Ich aber m³chte, daß wir den Arm Gottes nicht so verk¹rzen; [...] Ich bin ¹berzeugt, daß die g³ttliche Vorsehung bei der Lenkung der Menschengeschicke das, was man von ihr erwarten kann, nicht ungetan l›ßt. Daß aber darum nicht noch andere Ausfl¹sse ihrer unendlichen Weisheit im Weltall vorhanden sein k³nnten, m³chte ich nach den Eingebungen meiner Vernunft mich nicht bequemen zu glauben [...]. Wenn mir inzwischen gesagt wird, daß ein ungeheurer sternenleerer Raum zwischen den Planetenbahnen und der Sternensph›re unn¹tz und zwecklos sei und m¹ßig, daß es ¹berfl¹ssig sei eine unermeßliche, alle Fassungsgabe ¹bersteigende Gr³ße den Fixsternen als Behausung anzuweisen, so erwidere ich, daß es frevelhaft ist, unsere schwache Vernunft zum Richter zu setzen ¹ber die Werke Gottes, alles das im Weltall eitel oder ¹berfl¹ssig zu nennen, was nicht unserem Nutzen dient. (Ebd. 3. Tag. S. 384 f.) FÜr das WissenschaftsverstÇndnis der folgenden Jahrhunderte ergab sich hier jedoch eine bis heute andauernde Ambivalenz: Einerseits wird der Mensch durch die Wissenschaft - theoretisch - aus dem Zentrum des Kosmos gerÜckt, andererseits aber wird die Wissenschaft wiederum - praktisch - durch die Nutzen-Funktion auf den Menschen hin zentriert. (2) Es gibt nur eine Physik. In der aristotelischen Wissenschaft war angenommen worden, daß es zwischen den PhÇnomenen auf der Erde und jenen der Welt der Gestirne einen grundsÇtzlichen, qualitativen Unterschied gebe. FÜr Galilei gelten fÜr die Himmelsmechanik dieselben Gesetze wie fÜr die irdische Mechanik. (3) Die Natur l›ßt sich nicht ¹berlisten. Die Vorstellung, daß sich die Natur Überlisten lÇßt, wurde mehr oder weniger deutlich ausgesprochen und manchmal, wie z. B. bei Roger Bacon (vgl. 2. Teil, Kap. XII, 2 ), mit Zielen einer »natÜrlichen Magie« verbunden, so daß man meinte, durch geschickte Anordnung KrÇfte in der Natur

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vervielfachen zu kÙnnen. Das Modell dafÜr gab - irrtÜmlicherweise - der Brennspiegel ab. Die Physik Galileis ließ keine solche Vorstellung mehr zu: KrÇfte ließen sich nur umformen, nicht erzeugen, und jeder Zuwachs an einer Stelle fÜhrte zu einer Verminderung an einer anderen. (4) Gleichf³rmige Fortbewegung. Es entspricht einer »natÜrlichen« Vorstellung, daß ein bewegter KÙrper, z. B. eine rollende Kugel, wenn auf ihn nicht eingewirkt wird, irgendwann von selbst zum Stehen kommt. Galilei hingegen behauptete, daß bewegte KÙrper sich immer mit gleicher Geschwindigkeit fortbewegen, wenn auf sie nicht irgendeine andere Kraft einwirkt. Damit war deutlich, daß sich physikalische Begriffe nicht - jedenfalls nicht ohne kritische PrÜfung - an »natÜrlichen« Vorstellungen orientieren dÜrfen. FÜr die VerÇnderung des Weltbildes waren jedoch auch die Gesetze Johannes Keplers (1571–1630) von so großer Bedeutung, daß heute manchmal gesagt wird, es habe eigentlich gar keine »Kopernikanische Wende«, sondern eine »Keplersche Wende« gegeben. Galilei und Kepler standen in brieflichem Kontakt seit Kepler seine 1596 erschienene Schrift Mysterium cosmographicum, in der er vom kopernikanischen System ausgeht, an Galilei gesandt hatte. Galilei dankte Kepler fÜr das Buch und schrieb in seinem Brief: 100

Von dem Buch sah ich bis jetzt nur die Einleitung an, aus der ich Eure Absicht gleichwohl schon erfaßte. Und ich freue mich in der Tat gar sehr, bei der Erforschung der Wahrheit einen so bedeutenden Bundesgenossen zu haben, der ein Freund der Wahrheit selbst ist. Es ist n›mlich beklagenswert, wie wenige es sind, die nach Wahrheit streben und nicht den verkehrten philosophischen Grunds›tzen folgen. [...] Ich w¹rde jedenfalls wagen, meine •berlegungen an die ffentlichkeit zu bringen, wenn es mehrere von Eurer Art g›be. Da dem aber nicht so ist, werde ich ein derartiges Unterfangen unterlassen. (Schriften II. S. 9) Auch durch Kepler wurden grundsÇtzliche traditionelle Vorstellungen in Frage gestellt: (5) Elliptische Planetenbahnen. Das heliozentrische System des Kopernikus hatte nicht alle Fragen der Planetenbahnen befriedigend lÙsen kÙnnen. Die LÙsung dafÜr fand Kepler. Das 1. Keplersche Gesetz besagt, daß die Planetenbewegungen durch Ellipsen beschrieben werden kÙnnen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. Kepler kam durchaus aus der pythagoreischen und platonischen Tradition, nach der die kreisfÙrmige Bewegung die vollkommenste ist und die Planetenbahnen daher aus Kreisen bestehen bzw. aus solchen (durch Epizyklen) zusammensetzbar sein mÜssen. Auch Kopernikus war noch von diesen mathematisch-metaphysischen Vorstellungen ausgegangen. Die Annahme elliptischer Planetenbahnen bricht also mit grundsÇtzlichen kosmologischen und mathematischen Vorstellungen, welche die gesamte Kosmologie bis Kepler beherrscht hatten.

Der »Fall Galilei«

(6) Nicht-konstante Geschwindigkeit der Planetenbewegungen. Das 2. Keplersche Gesetz sagt, daß die Geschwindigkeit der Planetenbewegung umgekehrt proportional zum jeweiligen Abstand von der Sonne ist, d. h.: Sind die Planeten der Sonne am nÇchsten, so bewegen sie sich am schnellsten, sind sie am entferntesten, so bewegen sie sich am langsamsten. Auch diese Vorstellung einer ungleichfÙrmigen Geschwindigkeit der Planetenbewegungen widersprach allen Prinzipien einer vollkommenen Bewegung, wie sie in der traditionellen Astronomie und Kosmologie angenommen worden war.

3. Der »Fall Galilei« Aus dem »Streit um Galilei« ist inzwischen ein »Streit um den Streit um Galilei« geworden (mit einer unÜbersehbaren Forschungsliteratur und einer oft mit ziemlicher Polemik gefÜhrten Diskussion). Das Problem dabei ist, daß es hÇufig gar nicht mehr um eine Interpretation historischer Fakten geht, sondern um einen weltanschaulichen Streit Über das VerhÇltnis von Glaube und Wissenschaft oder Kirche und Wissenschaft. Im Zusammenhang der Geschichte der Philosophie sieht die Sachlage weniger dramatisch aus. FÜr die Philosophie wird mit Galilei eigentlich nur etwas klarer, was vorher schon klar war: (1.) Das maßgebliche GegenÜber der Philosophie wird die Wissenschaft, und (2.) die aristotelische Naturphilosophie und, soweit dadurch betroffen, die Metaphysik wird »Überwunden«. Der eigentliche Streitpunkt im »Fall Galilei«, also das heliozentrische Weltbild, stellt demgegenÜber eigentlich nur ein, wenn auch sicher sehr wichtiges, einzelwissenschaftliches Ergebnis dar. Die historisch genaue Rekonstruktion der Vorgeschichte der Verurteilung Galileis ist deshalb so kompliziert, weil sehr viele Faktoren von Bedeutung waren, die nur mittelbar etwas mit der Sachfrage zu tun hatten, aber dennoch eine sehr große Rolle spielten: pÇpstliche Politik und Intrigen im Vatikan; die Überragende und hartnÇckig verteidigte wissenschaftliche Stellung des Collegio Romano der Jesuiten; die Konkurrenz der »aufklÇrerischen« Accademia dei Lincei; Angst, in der »Bibeltreue« hinter den Protestanten zurÜckzustehen; BefÜrchtungen angesichts des modernen atomistischen »Materialismus« usw. Man sollte auch zeitgeschichtlich die GrÙßenordnung des »Falls Galilei« nicht ÜberschÇtzen. FÜr die PÇpste Gregor XV. (1621–1623) und seinen Nachfolger Urban VIII. (1623–1644) stellten sicher die kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa - der DreißigjÇhrige Krieg (1618–1648) - eine grÙßere Bedrohung dar als Galilei und die kopernikanische Theorie. Und wenn man zu Recht das Vorgehen der Inquisition gegen Galilei kritisiert, sollte man nicht vergessen, das gleichzeitig stattfindende brutale Vorgehen Wallensteins, der auch die »katholische Sache« verteidigte, zu kritisieren: Die Gegner Wallensteins hatten keine Chance, ihre letzten Tage (wie Galilei) auf ihrem Landgut zu verbringen.

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Galilei wollte immer im Mittelpunkt Ùffentlicher Anerkennung stehen, er hatte fÜr ein stilles und zurÜckgezogenes Gelehrtendasein keinen Sinn. Er hÇtte auf die Professorenstelle an der UniversitÇt Padua, die er frÜher innegehabt hatte, zurÜckkehren kÙnnen, und damit wÇre er in der Republik Venedig ansÇssig gewesen, wo die rÙmische Inquisition gegen den Willen der Republik nichts ausrichten konnte. Galilei zog es aber vor, »Erster Mathematiker und Philosoph des Großherzogs der Toskana« zu bleiben, ein Titel, den er mit den entsprechenden Benefizien seit 1610 innehatte. Galilei stand zunÇchst auch in durchaus guten Beziehungen zu bedeutenden PersÙnlichkeiten der rÙmischen Kurie, so vor allem zu Kardinal Maffeo Barberini, dem spÇteren Papst Urban VIII. 1614 war Galilei in einer Ùffentlichen Predigt in Florenz angegriffen worden, und 1615 wurde eine Anklage gegen ihn bei der RÙmischen Inquisition vorgelegt (Schriften II. S. 181–183). Kardinal Robert Bellarmin (1542–1621), der damals einflußreichste Theologe Roms, schlug, um einen Konflikt zu vermeiden, in einem Brief an Paolo Foscarini (um 1565–1616) eine einschrÇnkende Interpretation der kopernikanischen Theorie vor. Foscarini, ein Mitglied des Karmeliterordens, hatte 1615 in einer Schrift Galileis Lehre vertreten und deren Vereinbarkeit mit dem christlichen Glauben nachzuweisen versucht. Der Rat Bellarmins lautete so: Ich halte daf¹r, daß Euer Hochw¹rden und der Herr Galileo klug daran t›ten, sich darauf zu beschr›nken, ex suppositione und nicht absolut zu sprechen, wie ich immer glaubte, daß Kopernikus gesprochen habe. Indem man von der Annahme spricht, daß die Erde sich bewege und die Sonne still stehe, wird der Schein besser gewahrt, als wenn man die Exzentrizit›ten und Epizyklen darlegt; es ist bestens gesagt und entbehrt jeglicher Gefahr; und dies gen¹gt dem Mathematiker. (Brief Bellarmins an Foscarini. In: Galilei: Schriften II. S. 46) Galilei war jedoch mit einer solchen restriktiven Interpretation, die vom heutigen Standpunkt aus wissenschaftstheoretisch ganz vernÜnftig erscheint, auch wenn die Intention Bellarmins natÜrlich eine ganz andere war, nicht zufrieden. Er nahm an, daß seine Theorien nicht nur mathematische ErklÇrungsmodelle der PhÇnomene seien, sondern, wie vorher schon erwÇhnt, das »Wesen« der Wirklichkeit, die wahre Natur der Dinge, ausdrÜckten. Dies setzt bei der von Galilei betriebenen Mathematisierung die Annahme voraus, die Wirklichkeit sei »wesentlich« durch ZahlenverhÇltnisse bestimmt, eine Auffassung, zu der er sich auch ausdrÜcklich bekannte. Dieser »Essentialismus«, der in der heutigen Wissenschaftstheorie kaum noch angenommen wird, hatte jedoch auf die eigentliche Methode der Wissenschaft Galileis keinen Einfluß, handelte es sich dabei doch um keine innerwissenschaftliche methodologische Frage, sondern um eine philosophische Interpretation wissenschaftlicher SÇtze. Diese Auffassung Galileis erklÇrt schon eher seine Auseinandersetzung mit

Der »Fall Galilei«

der Kirche, mußte er doch annehmen, mit seinen Theorien die wahren Gedanken Gottes nachzuzeichnen, und da trat er in Konkurrenz mit anderen, die meinten die einzigen zu sein, die Über die wahre Interpretation der Gedanken Gottes verfÜgten. Schon 1613 hatte Galilei die Konfliktsituation gesehen, als er sagte, daß »die Heilige Schrift und die Natur in gleicher Weise aus dem gÙttlichen Wort hervorgegangen sind, jene als EinflÙßung des Heiligen Geistes, diese als gehorsamste Vollstreckerin der gÙttlichen Befehle« (Brief an Benedetto Castelli. In: Schriften I. S. 169). Er hatte auch, durchaus im Sinne der traditionellen Bibel-Hermeneutik, festgestellt, daß es an vielen Stellen der Schrift notwendig sei, »eine von der scheinbaren Bedeutung der Worte abweichende Auslegung zu geben« (Ebd.). Galilei wollte dann auch nachweisen, daß die kopernikanische Astronomie mit der Bibel Übereinstimmt. Er baute sich damit allerdings - historisch verstÇndlicherweise - selbst bestimmte Fallen, indem er versuchte, und zwar gar nicht ungeschickt, Bibelexegese zu betreiben, um zu beweisen, daß die dem heliozentrischen System widersprechenden Bibelstellen anders interpretiert werden kÙnnten (Ebd. S. 173–177). Eigentlich stand Galilei aber der schon in der spÇtmittelalterlichen Philosophie von Scotus bis Ockham und dessen Nachfolgern angezielten LÙsung, der Bibel jede Relevanz fÜr naturwissenschaftliche Fragen abzusprechen und sie rein auf Fragen des Heils der Seele zu beschrÇnken, ziemlich nahe: Ich halte daf¹r, daß die Autorit›t der Heiligen Schrift einzig zum Ziele hat, die Menschen von jenen Artikeln und Lehren zu ¹berzeugen, die, unerl›ßlich f¹r ihr Heil und ¹ber jegliche menschliche Erkenntnis hinausgehend, ihnen durch keine andere Wissenschaft und kein anderes Mittel als durch den Mund des Heiligen Geistes selbst glaubw¹rdig gemacht werden konnten. (Ebd. S. 172) Letztlich aber blieb Galilei durch seine exegetischen Versuche, mit denen er doch wieder implizit eine »wissenschaftliche Wahrheit« der Bibel akzeptierte, hinter der schon im 14. Jhd. erreichten strengen Unterscheidung des Sprechens secundum phisicam und secundum theologos (vgl. 2. Teil, Kap. XV, 3) zurÜck. Er forderte nÇmlich faktisch eine Auslegung der Heiligen Schriften secundum phisicam: Angesichts dessen, und da es außerdem offenbar ist, daß zwei Wahrheiten einander niemals widersprechen k³nnen, ist es das Amt der weisen Ausleger, sich darum zu bem¹hen, die wahren Sinngebungen der Stellen aus der heiligen Schrift zu finden, die mit jenen nat¹rlichen Schl¹ssen ¹bereinstimmen, ¹ber die wir uns zuvor dank der zutageliegenden Bedeutung oder der zwingenden Beweise Aufschluß und Gewißheit verschafft haben. (Brief an Benedetto Castelli. In: Schriften I. S. 170) Aber damit war der Konflikt mit jenen, die sich fÜr die kompetenteren Bibelausleger hielten, kaum zu vermeiden. In diesem Zusammenhang ist nicht zu unterschÇtzen,

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daß eine »liberalere« Bibelauslegung, wie Galilei sie vorschlug, nicht in eine Zeit hineinpaßte, in der mit den Protestanten eine im Vergleich zu der der antiken und mittelalterlichen Theologen sehr enge und wÙrtliche Auslegung der Schrift maßgeblich wurde und die gegenreformatorischen Theologen hier nicht hintenanstehen wollten. 1616 kam es zu einer ersten Verurteilung durch das Heilige Offizium, die aber zunÇchst nicht verÙffentlicht wurde. - Es war einigen guten Theologen durchaus klar, daß der Nachweis, daß das geozentrische System eindeutig in der Bibel enthalten ist, auf ziemlich schwachen FÜßen stand. Bellarmin, der persÙnlich eine große Bewunderung fÜr die Wissenschaft im allgemeinen und auch fÜr den Mathematiker Galilei hatte, rief Galilei 1616 zu sich. Galilei mußte nichts widerrufen (vgl. das Protokoll Bellarmins. In: Galilei: Schriften II. S. 183 f.), wie ihm Bellarmin selbst bestÇtigte (Ebd. S. 194). SpÇter ist allerdings eine dem widersprechende, aber nicht unterzeichnete Protokollnotiz in den Akten des Heiligen Offiziums aufgetaucht (Ebd. S. 183), die fÜr spÇtere Historiker Anlaß zu den verschiedensten Vermutungen (FÇlschung?) gegeben hat. - Galilei war enttÇuscht Über die mangelnde UnterstÜtzung durch die Jesuiten des Collegio Romano, von denen er sich aufgrund frÜherer guter Kontakte mehr erwartet hatte, und er suchte eine Gelegenheit zum Angriff auf diese. Diese bot sich, als 1619 vom Collegio eine hauptsÇchlich von Orazio Grassi stammende Schrift Über die Kometen des Jahres 1618 verÙffentlicht wurde, in der u.a. die durchaus gegen Aristoteles gerichtete These vertreten wurde, daß die Kometen nicht der sublunaren SphÇre angehÙrten. Das WissenschaftsverstÇndnis Grassis war dabei eigentlich genau dasselbe wie das Galileis. Im selben Jahr ließ Galilei mit dem von ihm verfaßten aber von Mario Guiducci vorgetragenen Discorso delle comete antworten. In dieser Schrift trug Galilei eine ziemlich unsachliche Polemik vor und verteidigte den ausschließlich optischen Charakter der Kometen. Darauf antwortete - unter einem Pseudonym - Grassi mit den Libra astronomica ac philosophica, wo zwar mit neuen Experimenten argumentiert wurde, aber nun auch zahlreiche Unterstellungen gegenÜber dem Gegner vorgenommen wurden. Galilei hatte nun die Jesuiten des Collegio Romano als mÇchtige Gegner vor sich, er wurde aber seinerseits auch wieder von einer einflußreichen Gruppe unter der FÜhrung des FÜrsten Federico Cesi unterstÜtzt, die sich 1603 in Rom als Accademia dei Lincei zusammengeschlossen hatte. 1621 starb Bellarmin. Obwohl Papst Gregor XV. unter dem Einfluß der Jesuiten stand, erhofften sich die Intellektuellen Roms nach dem Tod des Jesuiten-Kardinals Bellarmin ein gÜnstigeres geistiges Klima und forderten Galilei auf, der Schrift Grassis zu antworten. Dem entsprach Galilei mit dem 1622 fertiggestellten Saggiatore. Die Arbeit war einem der Mitglieder der Accademia, dem Herzog Virginio Cesarini, gewidmet, der auch ein persÙnlicher Freund Bellarmins gewesen war. Die Regeln der Accademia sahen vor, daß eine gemeinsame Durchsicht und ¾berarbeitung der von ihr verÙffentlichten Schriften vorgenommen werden sollte. Da das Original des Saggiatore nicht erhalten ist, ist es nicht mÙglich, genau zu wissen, wie viele ’nderungen vorgenommen worden sind. 1623 ging der

Der »Fall Galilei«

Saggiatore in Druck. Das Buch erhielt die kirchliche Druckerlaubnis von NiccolÔ Riccardi, einem Dominikaner, dem die Gelegenheit, einer wichtigen Streitschrift gegen den konkurrierenden Orden der Jesuiten zum Durchbruch zu verhelfen, gerade recht kam. Außer dem Imprimatur pries er in diesem Zusammenhang das Buch aber auch, ganz entgegen den Gepflogenheiten, in den hÙchsten TÙnen. Teile des Buches waren schon vor dem Druck bekannt geworden, vor allem natÜrlich bei den Jesuiten, denen nichts entging, was sich in Rom ereignete. Der Saggiatore war somit ein berÜhmtes Buch, noch bevor es Überhaupt erst erschien. Hinzu kam wenige Monate spÇter noch ein gÜnstiger Umstand: Der Papst starb, und der Florentiner Galilei-Freund Barberini, ein moderner Intellektueller, Dichter und AnhÇnger der Wissenschaften, wurde, nicht ohne Mitwirkung eines Galilei-VerbÜndeten, des Herzogs Cesarini, als Urban VIII. Papst. Die Ausgangsposition beim Erscheinen des Saggiatore war also denkbar gÜnstig, die Herausgeber druckten auf der Titelseite gleich einmal das pÇpstliche Wappen ab, und Cesarini widmete das stilistisch glÇnzend geschriebene Buch dem Papst. Urban VIII. erhielt selbstverstÇndlich ein prÇchtig ausgestattetes Exemplar und amÜsierte sich kÙstlich bei der LektÜre. Galilei reiste im folgenden Jahr nach Rom und traf mehrmals mit dem Papst zusammen. WÇhrend der rauschenden Feste erkundigte sich Galilei auch Über die MÙglichkeiten, kopernikanische Theorien wieder Ùffentlich vertreten zu kÙnnen, erhielt aber keine eindeutig positive Antwort. Er kehrte allerdings mit reichlichen Geschenken und einem pÇpstlichen Empfehlungsschreiben nach Florenz zurÜck. Durch den Saggiatore hatte sich Galilei allerdings die Feindschaft des Collegio Romano endgÜltig zugezogen. Die von Galilei provozierte Gegnerschaft des Collegio Romano war sachlich gesehen eigentlich nicht zwingend, wirkte sich aber spÇter fÜr Galilei verhÇngnisvoll aus. Am Collegio befanden sich nÇmlich mit Clavius, Christoph Scheiner (1575–1650) und Grassi ganz ausgezeichnete Astronomen und Mathematiker. Clavius war zwar Gegner des kopernikanischen Systems - die Jesuiten unterstÜtzten das System von Tycho Brahe (1546–1601), der der Lehrer Keplers war, da dieses die Erscheinungen auch gut erklÇrte, sich darÜber hinaus aber eher mit der aristotelischen Physik und Philosophie in ¾bereinstimmung bringen ließ -, stand aber frÜher zu Galilei in guten Beziehungen und hatte 1611 Bellarmin die Korrektheit der Beobachtungen der Jupitermonde durch Galilei bestÇtigt. Athanasius Kircher bestÇtigte spÇter, daß Scheiner, einer der maßgeblichen Astronomen des Collegio Romano und wie Galilei ein geschickter Fernrohrerfinder, im Grunde Kopernikaner war, und auch Descartes Çußerte diese Vermutung (Descartes an Mersenne. In: Galilei: Schriften II. S. 127). Auch Scheiner hatte zunÇchst grÙßte Anerkennung fÜr Galilei, wurde jedoch zu dessen persÙnlichem, unerbittlichem Gegner, als Galilei dessen Entdeckung der Sonnenflecken nicht zugeben wollte. Sachlich gesehen war die Gegnerschaft von Collegio Romano und Galilei eigentlich ÜberflÜssig. ZurÜckgekehrt nach Florenz begann Galilei die Abfassung seiner Schrift Dialog Über die beiden hauptsÇchlichsten Weltsysteme, das ptolemÇische und das kopernikanische

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(Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo, Tolemaico e Copernicano). Die Arbeit an diesem Dialog wurde mehrmals durch Krankheiten Galileis unterbrochen. 1630 war die Schrift schließlich fertig, und Galilei bemÜhte sich, die Druckgenehmigung in Rom zu erhalten. Die Drucklegung selbst war nie in Gefahr, da die Republik Venedig sie in jedem Fall zugesichert hatte. 1632 erschien dann der Dialog im Druck, womit Urban VIII., der dazu keine Zustimmung gegeben hatte, provoziert wurde, und Urban VIII. war, was seine Eitelkeit betraf, ebenso empfindlich wie Galilei. Beide waren der ¾berzeugung, die GrÙßten in ihrem Bereich zu sein, und das konnte nur so lange gutgehen, wie sie einander gegenseitig Lob spendeten. Urban VIII. hatte vor allem den berÜhmten Gelehrten Galilei geschÇtzt, an dessen Astronomie hatte der Agnostiker Barberini Überhaupt kein Interesse. Der »Fehler« Galileis lag darin, daß er meinte, den Papst durch irgendwelche wissenschaftlich beweisbaren Thesen Überzeugen zu kÙnnen. Urban VIII. war ohnedies schon in seinem Selbstvertrauen durch seine ungeschickte Politik wÇhrend des DreißigjÇhrigen Krieges empfindlich getroffen. Seit 1630 hatte Gustav Adolf II. mit UnterstÜtzung Richelieus in den Krieg eingegriffen und den Protestanten erhebliche Gewinne gebracht. Dem Papst war es nicht gelungen, Richelieu von seiner pro-protestantischen Politik abzubringen und die Nerven lagen blank. Der Verkauf des Dialogs wurde also durch die pÇpstlichen BehÙrden verboten, allerdings zu spÇt, es waren schon alle Exemplare verkauft, und Galilei wurde vor das Inquisitionsgericht in Rom geladen. Das Heilige Offizium trat normalerweise nur dann in Aktion, wenn eine Anzeige vorlag, und die Existenz einer solchen wurde daher auch mit gutem Grund von den Historikern angenommen, allerdings fehlt in den Akten ein entsprechender Text. Mangels historischer Dokumentation nahmen die meisten an, daß (1) die Anklage von den damaligen Erzfeinden Galileis, also den Jesuiten des Collegio Romano, ausging, wie es auch Descartes gerÜchteweise gehÙrt hatte (Descartes an Mersenne. In: Galilei: Schriften II. S. 127), und daß sie (2) das kopernikanische System betraf. Es gibt allerdings auch eine andere, von P. Redondi geÇußerte und m. E. recht plausible Hypothese, die zwar (1) bestÇtigt, aber nicht (2). Danach wÇre es gar nicht die kopernikanische Astronomie gewesen, die den Anstoß erregt hÇtte, sondern der Atomismus (Redondi 1991. S. 242–244). Daß der Atomismus als religiÙs hÙchst gefÇhrliche Lehre - und zwar als viel gefÇhrlicher als die des kopernikanischen Systems - galt, wußte jeder; und das Problem des Atomismus hatten die Jesuiten auch in ihren eigenen Reihen. Galilei hatte seit seinen frÜhen Arbeiten zur Bewegungslehre in De motu mit atomistischen Vorstellungen gearbeitet. Auch im Saggiatore hatte Galilei neben Kopernikus Autoren herangezogen, die eindeutig den Atomismus vertraten: Demokrit, Epikur, Lukrez und solche, die damit in Zusammenhang gebracht werden konnten: Ockham, Telesio. Im Dialog war Galilei vorsichtig mit der Nennung von Namen, aber seine Kritik an der aristotelischen Physik beruhte weiterhin darauf, daß er von der Bewegung von atomistisch konzipierten Materie-Korpuskeln ausging. Wer die durchschnittlichen SchulbÜcher der Philosophie der Zeit, auch und gerade die der Jesui-

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ten, kennt, weiß, welche Angst dort vor atomistischen Lehren bestand: Sie schienen alle in der NÇhe von Materialismus und Atheismus zu stehen. Historisch gesehen hat es also durchaus einiges fÜr sich, als AuslÙser der Anklagen gegen Galilei Atomismus-’ngste zu sehen. Bei Galilei selbst waren solche Konsequenzen aus dem Atomismus allerdings nicht zu sehen: FÜr ihn gehÙrten auch atomistische Elemente in den Rahmen eines im Übrigen ganz frommen SchÙpfungsglaubens. Allerdings Çndert auch die Annahme, daß Atomismus-’ngste der AuslÙser der Anklage gegen Galilei waren, nichts daran, daß die Kommission, die sich mit dem Dialog befaßte, nicht auf den Atomismus einging, sondern nur am kopernikanischen System Anstoß nahm und ebenso die Verurteilung Galileis dann in der ²ffentlichkeit nur mit dem kopernikanischen Weltbild in Verbindung gebracht wurde. In Hinsicht auf die Interpretation des kopernikanischen Systems hielt sich Galilei im Dialog - wie immer es mit der Aufrichtigkeit der Feststellung bestellt sein mag an das, was ihm schon Bellarmin empfohlen hatte. Galilei sagt selbst im Vorwort: Zu diesem Zwecke habe ich im Laufe der Unterredung die Partei des Kopernikus ergriffen, wobei ich von seinem System ganz nach mathematischer Weise als von einer Voraussetzung ausgehe und mit Hilfe aller m³glichen Kunstgriffe nachzuweisen suche, daß dieses System dem von der Unbewegtheit der Erde zwar nicht schlechthin ¹berlegen ist, wohl aber in Ansehung der Gegengr¹nde, die von den z¹nftigen Peripatetikern vorgebracht werden. Diese Leute geben sich zufrieden, im Widerspruch mit ihrem Namen, Gespenster zu verehren, ohne umherzuwandeln. (Dialog. Vorrede. S. 5) Daß das System des Kopernikus als rein mathematische Hypothese zu rechtfertigen war, hatten die Mathematiker und Astronomen des Collegio Romano selbst bestÇtigt, und in diesem Punkt hatte sich auch bis 1632 nichts geÇndert. Und auch im weiteren versichert Galilei: Verfolgen wir unseren Vorsatz, das Gewicht der Gr¹nde zu pr¹fen, die von beiden gegnerischen Parteien angef¹hrt werden, ohne irgend eine endg¹ltige Entscheidung zu treffen; das Urteil stellen wir dem anheim, der mehr davon weiß als wir. (Ebd. 3. Tag. S. 386) Das war mehr als vorsichtig formuliert, und Galilei berief sich auch wÇhrend des Prozesses darauf, daß Bellarmin ihm bestÇtigt hatte, daß die Theorie des Kopernikus »ex suppositione verwendet und benutzt werden kÙnne« (Schriften II. S. 190). Nichtsdestoweniger stellte der Dialog eine Provokation dar, da Galilei eben auf hÙchsten »Rat« hin zur Frage des kopernikanischen Systems Überhaupt nichts, auch nichts ex suppositione, sagen sollte. Besonders verÇrgert war Papst Urban VIII., daß ein von ihm hÇufig geÇußertes, aber natÜrlich nicht von ihm erfundenes Argument von

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Galilei einem EinfÇltigen - Simplicio - in den Mund gelegt wird. Im Zusammenhang der von Galilei fÜr die Erdbewegung herangezogenen Ebbe- und Flut-Bewegung gibt Simplicio zwar zu, daß ihm diese ErklÇrung »geistvoller erscheint als alle anderen«, fÜgt dann aber hinzu: [...] gleichwohl halte ich sie nicht f¹r richtig und beweisend. Meinem geistigen Auge schwebt vielmehr stets eine unersch¹tterlich feststehende Lehre vor, die mir einst eine ebenso gelehrte wie hochgestellte Pers³nlichkeit gegeben hat. Ich weiß, daß Ihr beide auf die Frage: Kann Gott verm³ge seiner unendlichen Macht und Weisheit dem Elemente des Wassers die abwechselnde Bewegung, die wir an ihm beobachten, nicht auch auf andere Weise mitteilen, als indem er das Meeresbecken bewegt? - ich weiß, sage ich, daß Ihr auf diese Frage antworten werdet, er verm³ge und wisse das auf vielfache, unserem Verstande unerfindliche Weise zu tun. Dies zugegeben, ziehe ich aber sofort den Schluß, daß es eine unerlaubte K¹hnheit w›re, die g³ttliche Macht und Weisheit begrenzen und einengen zu wollen in die Schranken einer einzelnen menschlichen Laune. (Dialog, 4. Tag. S. 485) Worauf dann der GesprÇchspartner Salviati (= Galilei) ironisch sagt: 108

Eine bewundernswerte, wahrhaft himmlische Lehre! (Ebd.) Dieses »Argument« zeigt jedenfalls, welche Bedeutung die Berufung auf die gÙttliche Allmacht immer noch hatte. Daß diese Berufung in wissenschaftlichem Kontext frÜher dazu gedient hatte, aristotelische Kosmologie zu bekÇmpfen (vgl. 2. Teil, Kap. XV, 3), jetzt aber herangezogen wurde, diese zu verteidigen, spielte dabei keine Rolle. Daß Seine Heiligkeit, der Papst (= die »hochgestellte PersÙnlichkeit«), durch diese Paraphrase Galileis not amused war, ist verstÇndlich, und daß die Eitelkeit Urbans VIII. keine Grenzen kannte, hÇtte der ja Çhnlich veranlagte Galilei eigentlich wissen kÙnnen. Die Folgen bekam Galilei zu spÜren. Aufgrund der schon erwÇhnten historisch mehr als undurchsichtigen Aktennotiz von 1616, die besagt, daß Galilei verboten worden wÇre, in irgendeiner Form die Lehre des Kopernikus zu verteidigen, wurde Galilei zu einer lebenslangen Haft verurteilt, die er dann in seiner - sehr schÙnen und noch heute zu besichtigenden – Villa in Arcetri nahe Florenz verbrachte. Er war inzwischen sehr krank und fast blind, diktierte aber die schon frÜher begonnenen Discorsi weiter. Galilei starb 1641 im Kreise seiner Familie. DafÜr, daß Galilei den berÜhmten Satz am Totenbett: »Eppur si muove« (»Und sie bewegt sich doch«) wirklich gesprochen hat, gibt es keinerlei historisches Zeugnis - es handelt sich um eine schÙne und kennzeichnende historische Legende. Der treue Biograph Viviani jedenfalls berichtet davon nichts, sondern sagt nur, daß Galilei »mit philosophischer und christlicher BestÇndigkeit starb« (Viviani: Lebensbeschreibung des Galilei. In: Galilei: Schriften II. S. 232).

Der »Fall Galilei«

Der Dialog fand eine rasche Verbreitung, er wurde ins Lateinische Übersetzt und in Holland von dem berÜhmten Verleger Elzevier in Leiden gedruckt. Daß Galilei, siebzigjÇhrig, krank und fast erblindet, unter dem Druck der Inquisition dem kopernikanischen System »abgeschworen« hatte (Schriften II. S. 210 f.), wußten alle in Europa, die sich fÜr solche Fragen interessierten. Daß Galilei es mit dem Widerruf ernst gemeint habe, glaubte niemand. Die Inquisition hatte sich verrechnet: Erst jetzt entstand der »Fall Galilei«, der aber in Wirklichkeit zu einem »Fall katholische Kirche« wurde, sich von seinen historischen Kontingenzen lÙste und zu dem Topos des wissenschaftsfeindlichen Katholizismus verfestigte. Jetzt stand nicht mehr Galilei vor dem Tribunal des Heiligen Offiziums, sondern die katholische Kirche vor dem Tribunal der wissenschaftlichen AufklÇrung.

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Renµ Descartes (1596–1650) studierte viele Jahre lang (1606–1614) am Jesuitenkolleg La Flche. Seine Abneigung gegen die scholastische Philosophie stammte vermutlich schon aus dieser Zeit. Allerdings erhielt er dort auch eine ganz vorzÜgliche und fÜr seine spÇteren Arbeiten richtungsweisende Ausbildung in moderner Mathematik, die dem Überlegen war, was man an franzÙsischen UniversitÇten davon lernen konnte. Descartes hat in La Flche den Geist moderner Wissenschaft mitbekommen, und er bezieht sich auf dieses Kolleg, wenn er sagt, er habe in der Schule gelernt, »daß es in der Mathematik sehr scharfsinnige Erfindungen gibt, die ebensogut dazu geeignet sind, Wißbegierige zu befriedigen, wie auch die Technik zu befÙrdern und die menschliche Arbeit zu verringern« (Discours I, 7. S. 11). Auch wurde ihm bereits dort die Ablehnung der in der Periode der Renaissance so beliebten okkulten »Wissenschaften« (vgl. Kap. I, 2, und Kap. II, 2) mitgegeben, von denen er sich nicht mehr tÇuschen lassen wollte (Discours I, 13. S. 15). An eine Karriere in der UniversitÇt dachte er nie, und im Übrigen hatte er ein bescheidenes VermÙgen geerbt, das es ihm ermÙglichte, nur fÜr seine Studien zu leben. Er trat dann aber doch in ein DienstverhÇltnis ein, und zwar beim MilitÇr: ZunÇchst ging er nach Holland, wo er ungestÙrt Geometrie studieren konnte, da Holland zu dieser Zeit keinen Krieg fÜhrte. WÇhrend des DreißigjÇhrigen Krieges aber verdingte er sich im Bayrischen Heer. Im Winter 1619/1620 befand er sich einmal an einem ruhigen, warmen und ungestÙrten Ort, war von keinerlei Sorgen geplagt, wie er selbst sagt (n’ayant, par bonheur, aucuns soins ni passions qui me troublassent), und konnte so mit großer Muße (tout loisir) seinen Gedanken nachgehen. Und bei dieser Gelegenheit fand er den Grundplan seiner Philosophie (Ebd. II, 1. S. 19). ZurÜckgekehrt nach Frankreich lebte er zunÇchst in Paris, nahm dann an einem Krieg gegen die Hugenotten teil und ließ sich schließlich 1629 in Holland nieder, wo er bis 1649 (also bis kurz vor seinem Tod) blieb. Warum er nach Holland ging, ist klar: ZunÇchst schÇtzte Descartes, daß zu dieser Zeit Holland in keine Kriege verwickelt war. Außerdem war im 17. Jhd. Holland einer der ganz wenigen Orte in Europa, wo eine relativ große Gedankenfreiheit erlaubt wurde. Mehr als »relativ« kann man auch hier nicht sagen, denn es gab auch unter den hollÇndischen Protestanten ziemlich intolerante Leute, was auch Descartes selbst zu spÜren bekam. Auch von Seiten der UniversitÇt Leiden wurde er angefeindet. Die Ereignisse um Galilei, die Descartes aufmerksam verfolgte, sollten

Zweifel und BegrÜndungskritik

ihm recht geben. 1633 erfuhr Descartes von der Verurteilung Galileis und war davon sehr betroffen. Er sah jedoch keinen Grund, zum Verfolgten der wissenschaftlichen und philosophischen Wahrheit zu werden - dies hat etwas mit seinen GrundsÇtzen der provisorischen Moral zu tun (vgl. weiter unten 3) – und beschloß daher, seine naturphilosophische Arbeit Le monde nicht zu verÙffentlichen. Sogar die uns heute sehr harmlos erscheinende Schrift Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft (Regulae ad directionem ingenii), die er in den Jahren um 1628 verfaßt hatte, ließ er im Schreibtisch liegen; sie wurde erst 1701 gedruckt (mÙglicherweise gab es aber auch andere GrÜnde, diese nicht vollendete Schrift nicht zu verÙffentlichen). Auch die autobiographisch prÇsentierte Schrift Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs (Discours de la Mµthode) ließ Descartes 1637 anonym in Leiden erscheinen. Der Discours erschien zusammen mit der Gµometrie, der Dioptrique und der Schrift Mµtµores, so daß der Zusammenhang von philosophischer Methode und Mathematik und Naturwissenschaft schon Çußerlich deutlich wurde. 1641 wurden die Meditationen Über die Grundlagen der Philosophie (Meditationes de prima philosophia) mit EinwÇnden bedeutender Zeitgenossen (u.a. Mersenne, Arnauld, Hobbes, Gassendi) und den Antworten von Descartes verÙffentlicht. Aufgrund eines Briefwechsels mit KÙnigin Christine von Schweden (1625–1689) wurde Descartes von dieser eingeladen, an den Hof in Stockholm zu kommen, wo er ihr Privatlehrer werden sollte. Descartes starb allerdings nur wenige Monate spÇter an einer LungenentzÜndung, der Unterricht dÜrfte also nicht sehr prÇgend gewesen sein, und weitere Entscheidungen im Leben der KÙnigin gingen sicher kaum auf den Einfluß von Descartes zurÜck. KÙnigin Christine, die Tochter Gustav Adolfs, war eine ungemein gebildete Frau, die außer Descartes auch mit Hugo Grotius (1583–1655), dem BegrÜnder des VÙlkerrechts, der von 1634–1645 schwedischer Gesandter in Paris war, in Verbindung stand. Ihre Politik war durchaus aufgeklÇrt. Sie war aber ein ziemlich unruhiger Geist - Descartes hatte ihr seine Schrift Die Leidenschaften der Seele (Les passions de l’Äme) Übersandt -, sie dankte 1654 ab und wurde katholisch. Descartes hat die KÙnigin sicher nicht zur Konversion aufgefordert. Nichtsdestoweniger geht aus Bemerkungen Christines hervor, daß die GesprÇche mit Descartes einen Einfluß auf ihre Entscheidung gehabt haben. Descartes hatte ihr gegenÜber eine Lehre vom freien Willen vertreten, die diesem eine wesentlich grÙßere Rolle zusprach als dies im Luthertum der Fall war, was den Auffassungen der KÙnigin entgegenkam. Andererseits vertrat Descartes eine rationale und liberale Interpretation des Katholizismus, was einen Einfluß auf die spÇtere Haltung Christines gehabt haben dÜrfte, die sich ja auch wiederum nicht in die Schablonen des nachtridentinischen Katholizismus einfÜgen ließ. Die Konversion wurde allerdings auch durch drei vom Vatikan abgesandte Jesuiten vorbereitet, unter ihnen der Mathematiker Paolo Casati, die ihr die Aufgeschlossenheit der katholischen Kirche gegenÜber naturwissenschaftlicher Forschung darlegten, was kaum der Auffassung von Descartes entsprach, und was, nur etwa 20 Jahre nach der Verurteilung Galileis, sicher auch einige ¾berzeugungsarbeit erforderte. Nach ihrer

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Konversion ließ Christine sich 1655 in Rom nieder, wobei es fÜr den Vatikan eine große Genugtuung war, die »bekehrte« Tochter eines Erzfeindes dort begrÜßen und aufnehmen zu kÙnnen (das Benehmen Christines und ihre Intrigen ließen diese Freude allerdings rasch vergehen). In Rom wurde ihr Palast ein Zentrum kulturellen Lebens, Alessandro Scarlatti (1660–1725) war ihr Kapellmeister und der Bildhauer, Maler und Architekt Gian Lorenzo Bernini (1598–1680) zÇhlte zu ihren Verehrern. Diese Namen zeigen an, daß wir inzwischen in der Zeit des Barock sind (vgl. auch weiter unten 4). Bernini schuf die Kollonaden des Petersplatzes in Rom, eine geometrische, Licht und Schatten wissenschaftlich einbeziehende Gestaltung des Raumes. Raum und Licht waren auch bei Descartes zentrale Fragen: Er erfand die analytische Geometrie und das System der Koordinaten, durch die ein Punkt durch seine Entfernung von zwei Geraden exakt bestimmt werden kann. Und auch zur Optik verfaßte er einen fÜr die Brechungsgesetze des Lichts bedeutsamen Traktat, die Dioptrique. - Die Ex-KÙnigin Christine vermachte spÇter ihre reiche Bibliothek ihrem rÙmischen Freund - als sie ihn kennen lernte, war dieser erst 33 Jahre alt -, dem Kardinal Decio Azzolino (1623–1689). Nach dessen Tod kaufte Kardinal Pietro Ottoboni die Bibliothek, und als dieser als Alexander VIII. (1689–1691) Papst wurde, Übergab er einen großen Teil der Bibliothek der PÇpste, d. h. der Vaticana. 112

1. Zweifel und Begr¹ndungskritik Die Philosophen der beginnenden Neuzeit wollten sich prinzipiell von der Philosophie der Vergangenheit absetzen, sie wollten, wie wir es bei Bacon und Galilei deutlich sehen konnten, wirklich Neues und von neuem beginnen. Damit ist etwas viel GrundsÇtzlicheres gemeint als nur die AblÙsung von Schulen, es liegt darin vielmehr eine neue, kritische Bestimmung des VerhÇltnisses von Vernunft und Geschichte, eine Bestimmung, die ein Kennzeichen all jener BemÜhungen darstellt, die wir unter »neuzeitliche AufklÇrung« fassen. Dieses, gewÙhnlich als »rationalistisch« bezeichnete Element des neuzeitlichen Denkens greift auch Über die Unterscheidung von »Rationalismus« und »Empirismus« hinaus: In Hinsicht auf diese Neubestimmung ist der Empirismus nÇmlich ebenso rationalistisch wie der ausdrÜcklich so bezeichnete Rationalismus. Diese Neubestimmung muß jedoch historisch genauer gefaßt werden. Die Verteidigung der SelbstÇndigkeit der Vernunft als ein Moment rationaler AufklÇrung war auch ein Anliegen der mittelalterlichen Philosophen gewesen, das schon bei Abaelard im 12. Jhd. und dann in den großen Konflikten des 13. Jhd.s seinen deutlichen und folgenreichen Ausdruck gefunden hatte (vgl. 2. Teil, Kap. XV). Die mittelalterlichen Philosophen hatten ihre SelbstÇndigkeit gegenÜber Theologie und Kirche zu verteidigen gesucht, eine Auseinandersetzung, die sich jedoch im Rahmen der Begrifflichkeit von »Vernunft« und »Offenbarung« abspielte. In der Philosophie des 17. Jhd.s zeigte es sich jedoch, daß, auch wenn dieser Streit als prin-

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zipiell abgeschlossen angesehen werden konnte - nicht faktisch, wie die Auseinandersetzung um Galilei zeigt -, die Behauptung der SelbstÇndigkeit der Vernunft noch keineswegs auf einem gesicherten Boden stand. Bacon hatte darauf schon in seiner Idolenkritik deutlich hingewiesen, nach ihm mußte in verschiedenster Hinsicht die SelbstÇndigkeit der Vernunft erst kritisch erarbeitet werden: Vorsicht war geboten gegenÜber TÇuschungen, die aus der Tradition stammten und somit geschichtlich-gesellschaftlich Überliefert waren, aber auch gegenÜber TÇuschungen, die mit der »Struktur« des Menschen selbst verbunden sind, also etwa solchen, die durch die Form der Sprache(n) hervorgerufen werden. Was sich aber jetzt im 17. Jhd. abspielte, und was an Descartes paradigmatisch gezeigt werden soll, ist nicht einfach eine Kritik traditionell Überlieferter Ansichten, sondern vielmehr eine Kritik des Traditionsverst›ndnisses Überhaupt. Nicht die Tradition wird abgelehnt, sondern ein VerstÇndnis von Philosophie, in dem die Tradition als solche in einem Begr¹ndungszusammenhang auftritt. Nun wÇre es wiederum falsch, wollte man der mittelalterlichen Philosophie vorwerfen, sie habe positiv gelehrt, etwas sei wahr, weil es autoritativ Überliefert ist - eine solche Sicht wÇre zu eindimensional. Dennoch gilt, daß der philosophische Lehrbetrieb des Mittelalters faktisch in einem methodologischen Rahmen stand, der - wie wir heute sagen wÜrden - »hermeneutisch« orientiert war. Die Philosophie hatte eine propÇdeutische Aufgabe fÜr Disziplinen wie vor allem die Theologie oder die Rechtswissenschaft, die beide hauptsÇchlich historisch-autoritative Texte interpretierten, und diese Aufgabe wirkte auch auf die Verfahren, die in der Philosophie selbst verwendet wurden, zurÜck. Eine solche hermeneutische Zielsetzung lag sogar der mittelalterlichen formalen Logik zugrunde, die immer in nicht unerheblichem Maße an der Grammatik orientiert blieb und die in der Semantik eine differenzierte Bedeutungs- und Referenztheorie fÜr die natÜrliche Sprache entwickelte. Dann aber lag es nahe, auch Philosophie selbst in einer solchen Form zu betreiben, d. h. durch Auslegung autoritativer Texte, auch wenn diese nie als unkritisierbare AutoritÇten angesehen wurden. Hieraus ergab sich, daß auch in der Philosophie zu dieser Zeit faktisch hÇufig doch nicht, jedenfalls nicht in ausreichendem Maße, zwischen dem geschichtlich BestÇtigten und dem BegrÜndungszusammenhang des Behaupteten unterschieden wurde. Selbst in einem so »rationalistischen« Ausgangspunkt wie dem Anselms von Canterbury, der nur philosophisch argumentieren will, »so als hÇtte es Christus nie gegeben«, ist keine Unterscheidung von geschichtlich ¾berliefertem und rational Beweisbarem enthalten, sondern nur eine zwischen autoritativem Text und (dessen) rationaler BegrÜndung. Es wurden zwar immer einzelne Thesen frÜherer Philosophen kritisiert; die Meinung, eine prinzipiell geschichtsfreie Neubegr¹ndung, und damit eine Erstbegr¹ndung unternehmen zu kÙnnen, lag jedoch außerhalb der MÙglichkeiten dessen, was im Mittelalter Überhaupt denkbar war. Im 17. Jhd. wird nun genau zwischen Herkunft (Genese) und BegrÜndung (Geltung) einer Theorie unterschieden. So sagt Descartes im Discours de la Mµthode:

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Renµ Descartes

[...] und ebensowenig r¹hme ich mich, irgendeine [der Ansichten] zuerst entdeckt zu haben, wohl aber r¹hme ich mich, daß ich sie weder jemals ¹bernommen habe, weil sie von anderen behauptet wurden, noch auch, weil sie ¹berhaupt nie vertreten worden sind, sondern immer nur, weil meine Vernunft mich von ihnen ¹berzeugt hat. (Von der Methode VI, 10. S. 125)

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Hier wird deutlich, daß gegenÜber dem Begr¹ndungszusammenhang der Entstehungsoder •berlieferungszusammenhang irrelevant ist, d. h. letzterer geht in den BegrÜndungszusammenhang Überhaupt nicht ein, ja mehr noch, er darf nicht in ihn eingehen. Wie dieser BegrÜndungszusammenhang dann im einzelnen methodisch gesichert wird, darÜber gibt es im 17. Jhd. keine ¾bereinstimmung. Hier wird der Rationalismus eines Descartes andere Wege gehen als der Empirismus Lockes oder Humes. FÜr alle aber gilt gleicherweise, daß sie den in der Erkenntnistheorie und in der Methodenlehre zu analysierenden BegrÜndungszusammenhang ausdrÜcklich ungeschichtlich konzipieren. Eine Ausnahme bildet hier nur Gianbattista Vico (1668–1744), der vermutlich auch gerade deshalb zu seiner Zeit keine Wirkung erlangte. Die geschichtsfreie NeubegrÜndung wird bei Descartes auch auf das eigene Leben, also auf die eigene Geschichte angewandt: Schon vor einer Reihe von Jahren habe ich bemerkt, wieviel Falsches ich in meiner Jugend als wahr habe gelten lassen und wie zweifelhaft alles ist, was ich hernach darauf aufgebaut, und daß ich daher einmal im Leben alles von Grund auf umstoßen und von den ersten Grundlagen an neu beginnen m¹sse, wenn ich endlich einmal etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften ausmachen wolle. (Meditationen I, 1. S. 11) Bei Bruno, Bacon und Galilei begegnen wir dem Pathos des Neuen als historischer Forderung: Sie meinten, in einer Periode zu leben, die alles auf neue Fundamente stellen mußte. Bei Descartes wird dies nun auch auf die individuelle Geschichte angewandt. Es gilt programmatisch: »Einmal im Leben alles von Grund auf umstoßen und von den ersten Grundlagen an neu beginnen!«. Dieser Topos selbst ist gar nicht so neu, aber er bezog sich in frÜheren Perioden auf Bekehrungs-Erlebnisse wie etwa bei Augustinus (vgl. 2. Teil, Kap. III, 1) oder Lullus (vgl. 2. Teil, Kap. XVI, 1). Im Übrigen aber war den Menschen sowohl in der Antike als auch im Mittelalter eine solche tabula-rasa-Auffassung ziemlich fremd. In der Neuzeit bis hinein in unsere Gegenwart wird jedoch dieser Topos wirksam bleiben: Viele Menschen trÇumen davon, einmal im Leben alles umstoßen und alles neu beginnen zu kÙnnen, und auch Politiker sind immer wieder versucht, davon zu reden, alles »von den ersten Grundlagen an neu zu beginnen«. Man nennt dies dann eine »Wende«. - In den Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft sagt Descartes:

Zweifel und BegrÜndungskritik

Nun gut, selbst wenn sie alle [die fr¹heren Philosophen] noch so gerade heraus und offen w›ren und uns nie etwas Zweifelhaftes f¹r wahr aufdr›ngen, sondern alles in gutem Glauben darstellen w¹rden, so w›ren wir dennoch, weil doch kaum etwas von einem gesagt worden ist, dessen Gegenteil nicht ein anderer vorbringt, immer ungewiß, wem man Vertrauen schenken soll. Stimmen zu z›hlen, um der Meinung beizutreten, die mehr Autorit›ten f¹r sich hat, w¹rde auch nichts n¹tzen; denn wenn es sich um einen schwierigen Streitpunkt handelt, so ist es glaublicher, daß seine Wahrheit von wenigen gefunden werden konnte als von vielen. Ja, sogar dann, wenn sie alle untereinander ¹bereinstimmten, w¹rde ihre Lehre dennoch nicht ausreichen: aus uns w¹rden n›mlich niemals, sagen wir, Mathematiker werden, m³gen wir auch alle Beweise anderer im Ged›chtnis haben, wenn wir nicht auch aus eigener Erkenntniskraft bef›higt w›ren, jedes m³gliche Problem zu l³sen, oder Philosophen, wenn wir alle Beweise des Plato oder Aristoteles gelesen h›tten, ¹ber vorgelegte Sachen dagegen ein stichhaltiges Urteil zu f›llen nicht imstande sind. Auf diese Weise n›mlich w¹rden wir offenbar nicht Wissenschaften, sondern historische Kenntnisse erworben haben. (Regeln III, 2. S. 15 u. 17) Wie sehr auch Descartes von der Erfahrung der Vielfalt der philosophischen Meinungen motiviert gewesen sein mag, sein Ansatz, »historische Kenntnisse« und »Wissenschaft« so klar gegenÜberzustellen, geht doch grundsÇtzlich Über eine solche Erfahrung hinaus. Dies zeigt schon das Gedankenexperiment der »Übereinstimmenden Meinung«, die eben an dieser GegenÜberstellung prinzipiell nichts Çndert: Selbst wenn alle eine bestimmte Auffassung fÜr wahr gehalten hÇtten, wÜrde uns dies doch nur eine »historische Kenntnis« und noch keine »Wissenschaft« liefern. Descartes nimmt in kennzeichnender Weise Bezug auf das Beweisverfahren der Mathematik, da es dort ganz offensichtlich ist, daß weder die Berufung auf eine noch auf viele AutoritÇten einen Beweis zu einem gÜltigen macht. Und selbst der Bericht Über einen gÜltigen Beweis erfordert von dem, der ihn vorbringt, daß er in der Lage ist, den Beweis unabhÇngig von diesem Bericht selbst durchzufÜhren. In dieser Unterscheidung von Entstehungszusammenhang (»historische Kenntnisse«) und BegrÜndungszusammenhang (»Wissenschaft«) ist auch der Grund fÜr Descartes’ methodischen Zweifel zu suchen. Dieser Zweifel ist eben nicht empirisch durch die Vielfalt der Meinungen begrÜndet, wenn auch davon motiviert, sondern bringt das methodologische Prinzip zum Ausdruck, daß jede - Überlieferte oder gegenwÇrtige - Auffassung in solcher Weise begrÜndet werden muß, daß ihre Geltung unabh›ngig von ihrer Entstehung nachgewiesen wird. Damit ist zugleich ein gewisser Akzent der Interpretation von Descartes’ Philosophie gesetzt, der auch im folgenden seine BestÇtigung finden dÜrfte. Descartes wird manchmal - beinahe existentialistisch - als Sucher nach einem unerschÜtterlichen Fundament der Gewißheit angesichts einer Vielzahl von unsicheren Traditionen dargestellt. In dieser Hinsicht wurde er in eine Parallele zu Luther gesetzt, so daß

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Renµ Descartes

Luthers »Turmerlebnis« des »Glaubens allein« mit dem »Erlebnis« des »Ich denke, also bin ich« bei Descartes verglichen wurde. Wie auch immer der Fall bei Luther liegen mag, bei Descartes geht es ganz undramatisch zu - schon Çußerlich handelt es sich nicht um einen kalten Turm, sondern um einen warmen Raum. Auch spÇter, als Descartes in den Meditationes die Rolle des Zweifels systematisch ausarbeitet, sagt er von sich, daß es zunÇchst einmal gar keinen Zweifel daran geben kann, »daß ich, mit meinem Winterrocke angetan, am Kamin sitze« (Meditationen I, 6. S. 12). Hier spricht ein Zweifelnder, aber kein Verzweifelter. Descartes’ Prinzip des Zweifels antwortet nicht auf eine existentielle Frage, sondern auf die rationale Frage nach einer methodologischen BegrÜndung der Wissenschaft und der Philosophie, und er nahm dabei einfach die schon sehr alte philosophische Ansicht ernst, daß AutoritÇt kein Beweis fÜr die gute BegrÜndung einer Theorie ist. Descartes befand sich in keinerlei existentieller Krise, sein Zweifel hat einen methodologischen, keinen existentiellen Charakter. Deshalb kann Descartes im Discours sagen:

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[...] daß aber ich, bez¹glich all der Meinungen, die ich bisher unter meine •berzeugungen aufgenommen hatte, nichts Besseres unternehmen k³nne, als sie einmal ernstlich wieder abzulegen, um sie nachher entweder durch andere, bessere zu ersetzen oder auch durch dieselben, wenn ich sie an der Vernunft gemessen haben w¹rde. Ich war der festen •berzeugung, daß es mir dadurch gelingen w¹rde, mein Leben weit besser zu f¹hren, als wenn ich nur auf alten Fundamenten baute und mich nur auf Grunds›tze st¹tzte, die mir in meiner Jugend eingeredet wurden, ohne daß ich je gepr¹ft h›tte, ob sie wahr sind. (Von der Methode II, 2. S. 23) Was Descartes hier als Forderung fÜr sich aufstellt, gilt, wie aus anderen Schriften hervorgeht, natÜrlich ganz allgemein fÜr jeden, der Philosophie oder Wissenschaft betreibt. Descartes lehnt also nicht schon inhaltlich traditionelle Auffassungen ab, wohl aber sagt er, daß die Tradition fÜr die ¾bernahme von Theorien keine Grundlage sei. Die historische Dimension muß also methodologisch eingeklammert und durch ein von Traditions- und AutoritÇtselementen unabhÇngiges PrÜfungsverfahren ersetzt werden. Bis zu diesem Punkt waren sich Rationalisten wie Empiristen Übrigens ziemlich einig, erst bei der Entwicklung der geforderten PrÜfungsverfahren werden wichtige Unterschiede auftreten. Bei der Rolle des theoretischen und methodischen Zweifels in der Philosophie von Descartes muß man allerdings berÜcksichtigen, daß fÜr ihn doch ein ganz praktisches Problem dahintersteht: das BedÜrfnis nach Sicherheit (certitudo): Nicht daß ich deswegen die Skeptiker nachahmte, die nur zweifeln, um zu zweifeln, und gern so tun, als w›ren sie immer unentschlossen (toujours irr’solus); denn ich wollte mir im Gegenteil nur Sicherheit verschaffen (m’assurer) und lose Erde und Sand beiseitewerfen, um Fels oder Ton zu finden. (Ebd. III, 6. S. 47)

Zweifel und BegrÜndungskritik

Der methodische Zweifel ist bei Descartes getragen von dem Bewußtsein, daß Gewißheit erreichbar ist, und dieses Bewußtsein ist motiviert von dem BedÜrfnis nach Sicherheit. FÜr Descartes ist Sicherheit so etwas wie ein Rechtsanspruch. Die Haltung der Skeptiker, die »immer unentschlossen« sind, kommt fÜr ihn gar nicht in Frage. Descartes rechnet von Anfang an nicht damit, daß die einzige rational verantwortbare Antwort auf den Zweifel die Skepsis sein kÙnnte. In dieser prinzipiellen Hinsicht steht Descartes Augustinus gar nicht so fern (vgl. 2. Teil, Kap. III, 1). Dies ist schon einem Zeitgenossen, Antoine Arnauld (1612–1694), der wie Descartes Mathematiker und Philosoph, aber auch Theologe war, aufgefallen. Dieser wundert sich darÜber, »daß nÇmlich der hochverehrte Mann genau dasselbe als Grundlage seiner ganzen Philosophie aufgestellt hat, wie der heilige Augustinus« (Arnauld. In: Descartes: Meditationen. S. 178). Descartes gibt uns auch einen Hinweis darauf, warum er die, sicher durchaus ernst gemeinte, Frage des Zweifels verhÇltnismÇßig gelassen angehen konnte: Daß es zweifelsfreie Beweise gebe, stand fÜr ihn (von seiner BeschÇftigung mit der Mathematik her) schon von Anfang an fest. Es konnte also eigentlich nur darum gehen, diese Beweisverfahren darauf hin zu analysieren, wo der Grund ihrer Stringenz lag, und zu fragen, in welcher Weise solche Verfahren auch auf andere Bereiche angewendet werden konnten: 117

Man darf daher hieraus wohl mit Recht schließen, daß zwar die Physik, die Astronomie, die Medizin und alle anderen Wissenschaften, die von der Betrachtung der zusammengesetzten Dinge abh›ngen, zweifelhaft sind, daß dagegen die Arithmetik, die Geometrie und andere Wissenschaften dieser Art, die nur von den allereinfachsten und allgemeinsten Gegenst›nden handeln und sich wenig darum k¹mmern, ob diese in der Wirklichkeit vorhanden sind oder nicht, etwas von zweifelloser Gewißheit enthalten. Denn ich mag wachen oder schlafen, so ist doch stets 2 + 3 = 5, das Quadrat hat nie mehr als vier Seiten, und es scheint unm³glich, daß so augenscheinliche Wahrheiten in den Verdacht der Falschheit geraten k³nnen. (Meditationen I, 9. S. 14) Descartes fÜhrt dann allerdings den aus der nominalistischen Allmachtsvorstellung (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 2, b) stammenden Einwand ein, Gott kÙnne ja bewirken, daß ich immer dann, wenn ich 2 zu 3 addiere, 5 denke, obwohl dies falsch ist (Meditationen I, 10. S. 14). Die Fragestellung des »tÇuschenden Gottes« hat allerdings bei Descartes keinerlei theologische, sondern eine rein erkenntnistheoretische und logische Funktion. Sie dient Descartes einzig zur Radikalisierung und Verallgemeinerung des Zweifels, denn »so sehe ich mich gezwungen, zuzugestehen, daß an allem, was ich frÜher fÜr wahr hielt, zu zweifeln mÙglich ist« (Ebd. I, 13. S. 15). Es war aber dann eben »nur« die Frage, in welcher Form eine Erkenntnistheorie und eine Metaphysik aufgebaut werden kÙnnten, welche die Grundlegung dieser sicheren Beweisverfahren darstellten (dafÜr wird er dann den Beweis eines gÜtigen Gottes brauchen, der eine solche TÇuschung nicht zulÇßt). Es war fÜr Descartes nie Gegenstand des

Renµ Descartes

Zweifels, daß es eine solche Grundlage geben mÜsse. Die von Descartes angestrebte Mathesis universalis war nicht die Antwort auf den Zweifel, sondern dessen Voraussetzung.

2. Die rationalistische Methode Was Descartes unter dem Begriff »Methode« versteht, sagt er in den Regulae: Unter Methode aber verstehe ich zuverl›ssige und leicht zu befolgende Regeln, so daß, wer sich p¹nktlich an sie h›lt, niemals etwas Falsches f¹r wahr unterstellt und, indem er keine geistige M¹he nutzlos verschwendet, sondern sein Wissen St¹ck f¹r St¹ck st›ndig erweitert, die wahre Erkenntnis alles dessen erreicht, wozu er f›hig ist. (Regeln IV, 1. S. 23)

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In dieser Definition von »Methode« sind bereits wichtige Voraussetzungen enthalten, die im folgenden kurz erlÇutert werden sollen: 1. Von entgegengesetzten Meinungen kann nur eine wahr sein. Eine Methode, die zur Unterscheidung von wahren und falschen SÇtzen dienen soll und somit garantiert, daß bei ihrer Anwendung »niemals etwas Falsches fÜr wahr unterstellt« wird, hat nur dann einen Sinn, wenn eben ein Satz immer entweder wahr oder falsch ist. AusdrÜcklich stellt Descartes im Discours fest, daß oft zu ein und demselben Gegenstand verschiedene Meinungen vorgetragen und - scheinbar - verteidigt werden, daß aber »doch immer nur eine einzige wahr sein kann« (Von der Methode I, 12. S. 15). 2. Jede Wahrheit kann bewiesen werden. Die Behauptung, es gÇbe fÜr vorgelegte SÇtze jeweils nur eine Wahrheit, bliebe eine reine Behauptung, wenn sie nicht mit dem Verweis auf ein Verfahren begrÜndet wÜrde, durch das die Wahrheit eines Satzes bewiesen werden kann. Ein so strenger Begriff von »Wahrheit« und »Beweisbarkeit« bringt es mit sich, daß SÇtze, fÜr die nur eine grÙßere oder kleinere Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, von Descartes stark abgewertet werden. FÜr ihn gilt »alles bloß Wahrscheinliche fÜr nahezu falsch« (Ebd. I, 12. S. 15). An dieser Stelle muß gesagt werden, daß sich Descartes schon hier eine methodologische BeschrÇnkung auferlegt, die im Bereich der praktischen Philosophie nicht aufrechterhalten werden kann (vgl. weiter unten 3) und auch im Bereich theoretischer Wissenschaften nicht aufrechterhalten werden wird: Im 17. Jhd. wird eine Theorie der Wahrscheinlichkeit entwickelt werden, z. B. von Pascal, Bernoulli, Huygens und Leibniz, die nicht davon ausgeht, daß alles Wahrscheinliche »nahezu falsch« ist (vgl. Kap. VI, 3). 3. Die Beweismethode ist f¹r alle Wissenschaften einheitlich. Descartes setzt voraus, daß, so wie der Begriff der Wahrheit nur einer ist, auch die Methode nur eine sein kann. Als er daher seine Methode gefunden hatte, stellte er fest, daß sie »ebenso

Die rationalistische Methode

vorteilhaft auf die Schwierigkeiten anderer Wissenschaften anzuwenden« sei (Von der Methode III, 13. S. 37). Descartes ist also von der Einheitlichkeit der wissenschaftlichen Methode Überzeugt. In diesem Anspruch, eine Universalmethode finden zu kÙnnen, drÜckt sich eines der tiefsten Anliegen der Philosophie des 17. Jhd.s aus, welches sich bei den Philosophen, die als »Rationalisten« bezeichnet werden, ebenso findet wie bei jenen, die »Empiristen« genannt werden. Es geht um die Suche nach einem wissenschaftlichen Verfahren, das als die »wahre Methode [...] zur Erkenntnis aller Dinge fÜhrt« (Ebd. II, 5. S. 29), die fÜr den Geist erfaßbar sind. Bei seiner Suche nach der wahren Methode geht Descartes von der Logik, der geometrischen Analysis und der Algebra aus: Ich hatte, als ich noch j¹nger war, in den philosophischen Disziplinen ein wenig Logik und in den mathematischen geometrische Analysis und Algebra getrieben, drei K¹nste oder Wissenschaften, die - wie mir schien - zu meiner Absicht einiges beitragen w¹rden. (Ebd. II, 6. S. 29) Im weiteren spielte dann allerdings die Mathematik bei Descartes eine wesentlich grÙßere Rolle als die Logik. An der Logik kritisierte Descartes, daß man durch sie nur das erklÇren kann, was man schon weiß. Dies zeigt, daß Descartes, wie vor ihm schon Bacon, von der Logik mehr erwartete, als das, was diese traditionell Überhaupt leisten sollte, nÇmlich die ¾berprÜfung der formalen Korrektheit von Ableitungen. Das wird auch durch seine Kritik an der »Lullschen Kunst« (vgl. dazu 2. Teil, Kap. XVI, 1) deutlich; das eben angefÜhrte Zitat hat folgende Fortsetzung: Bei ihrer Pr¹fung fiel mir jedoch auf, daß - was die Logik betrifft - ihre Syllogismen und die meisten anderen ihrer Vorschriften vielmehr dazu dienen, anderen zu erkl›ren, was man weiß, oder gar, wie die lullische Kunst, ¹ber das, was man nicht weiß, ohne Verstand zu reden, als es zu entdecken. (Von der Methode II, 6. S. 29) Descartes suchte also vermutlich eine Methode, die nicht nur das erklÇrt, »was man weiß«, sondern die auch zur »Entdeckung« dessen fÜhrt, »was man nicht weiß«, allerdings so, daß dort nicht »ohne Verstand« geredet wird. Ein Verfahren, das zur Auffindung von noch nicht Gewußtem dient, stellt eine Aufgabe dar, die schon die humanistischen Logiker an die Logik herangetragen hatten. Es handelt sich also wieder einmal um die inventio, die Erfindung oder Auffindung, die seit Cicero als zweiter Teil der Logik neben dem iudicium, der ¾berprÜfung des schon Vorliegenden, angesehen wurde. Nicht nur Descartes, sondern auch Leibniz suchte nach einer solchen Methode. GegenÜber der Algebra und der Analysis wendete Descartes ein, daß sie nur auf sehr abstrakte GegenstÇnde anwendbar und ihre Verfahren daher zu eingeschrÇnkt seien; aus diesem Grund suchte er nach einer neuen Methode:

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Das war der Grund, weshalb ich dachte, man m¹sse eine andere Methode suchen, die, indem sie die Vorteile dieser drei in sich vereinigt, doch frei ist von ihren M›ngeln. (Ebd. II, 6. S. 31) Und so stellte Descartes nun seine berÜhmten vier Regeln auf, die nach seiner Vorstellung der Forderung genÜgten, »zuverlÇssig und leicht zu befolgend« zu sein:

a) Die erste Regel Die erste besagte, niemals eine Sache als wahr anzuerkennen, von der ich nicht evidentermaßen erkenne, daß sie wahr ist: d. h. •bereilung und Vorurteile sorgf›ltig zu vermeiden und ¹ber nichts zu urteilen, was sich meinem Denken nicht so klar und deutlich darstellte, daß ich keinen Anlaß h›tte, daran zu zweifeln. (Ebd. II, 7. S. 31)

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Hier wird das rationalistische Wahrheitskriterium ganz deutlich ausgesprochen: Nicht die sinnliche Wahrnehmung und damit die empirische Erfahrung gibt den Maßstab ab, sondern der »klare und deutliche Gedankeninhalt«. Es ist bekannt, daß Descartes im weiteren Verlauf des Discours nach der Wahrheit sucht, die gÇnzlich unbezweifelbar ist, und daß er schließlich meint, sie in dem Satz »ich denke, also bin ich« (Ebd. IV, 1. S. 53) gefunden zu haben - eine Evidenz, welche er daher als den ersten Grundsatz der Philosophie ansetzen will. Damit wird Descartes aber noch nicht zu dem Denker einer radikalen Subjektbezogenheit, zu dem ihn der spÇtere Deutsche Idealismus hochstilisieren wollte. Denn wichtiger als der erste Grundsatz der Philosophie ist und bleibt eben die Methode, und die setzt mit dem an, was sich so klar und deutlich darstellt, daß es nicht bezweifelt werden kann. Descartes ist also zunÇchst und vor allem der Vertreter der »klaren und deutlichen Erkenntnis« und erst in einem untergeordneten Sinne der Vertreter der Ich-Gewißheit. Die franzÙsische Descartes-Interpretation hat dies, im Unterschied zur deutschen, immer klar gesehen: Das »Ich denke« als erstes Prinzip ist bei Descartes (prinzipiell) austauschbar, die Forderung einer »klaren und deutlichen Erkenntnis« des ersten Prinzips hingegen kann nicht aufgegeben werden. Dies zeigt sich auch darin, daß diesem methodologischen Prinzip gegenÜber die Ich-Gewißheit in eine Reihe gestellt werden kann mit weiteren, ganz anders gearteten Wahrheiten, die nur durch die ErkenntnisqualitÇt »intuitiv« zusammengefaßt werden: So kann jeder intuitiv mit dem Verstande sehen, daß er existiert, daß er denkt, daß ein Dreieck von nur drei Linien, daß die Kugel von einer einzigen Oberfl›che begrenzt ist und hnliches, weit mehr als die meisten gewahr werden, weil sie es verschm›hen, ihr Denken so leichten Sachen zuzuwenden. (Regeln III, 5. S. 19)

Die rationalistische Methode

In einem viel grundsÇtzlicheren Sinne als im Cogito, ergo sum ist die Subjektbezogenheit allerdings bereits in der ersten Regel enthalten. Das Kriterium der Wahrheit liegt nÇmlich im eigenen Denken, d. h. in der Klarheit und Deutlichkeit, in der sich etwas dem eigenen Denken darstellt. Damit aber hat Descartes »Wahrheit« der intersubjektiven ¾berprÜfung entzogen, und das ist mehr als problematisch. Auch die Voraussetzung, die Descartes offensichtlich macht, daß nÇmlich alle vernÜnftigen, d. h. genÜgend aufmerksamen Menschen dieselben Dinge klar und deutlich einsehen mÜssen, fÜhrt nicht weiter. Denn man kann zur Kritik an dieser Voraussetzung Descartes’ eigenen Einwand zu Hilfe nehmen, daß auch aus der Übereinstimmenden Behauptung vieler noch nicht die Wahrheit des Behaupteten folgt.

b) Die zweite Regel Die zweite [Regel besagt], jedes Problem, das ich untersuchen w¹rde, in so viele Teile zu teilen, wie es angeht und wie es n³tig ist, um es leichter zu l³sen. (Von der Methode II, 8. S. 31) In dieser Regel Übernimmt Descartes das Verfahren der Analysis, verallgemeinert es jedoch. Als Methode besagt sie: Habe ich einen zusammengesetzten Sachverhalt vor mir, von dem ich daher keine klare und distinkte Erkenntnis habe, muß ich ihn in so viele Elemente zerlegen, bis ich zu jenen Komponenten gelange, bei denen ich Über eine klare und distinkte Erkenntnis verfÜge. Diese Regel ist zweideutig, da sie so formuliert ist, daß sie zunÇchst ein »objektivierbares« VerstÇndnis durchaus zulÇßt: Man kann eine komplizierte geometrische Figur so lange zerlegen, bis sie als Summe einfachster geometrischer Formen erscheint. Dies wÜrde auch dem Verfahren der von Descartes erfundenen analytischen Geometrie entsprechen, deren Programm darin besteht, geometrische Probleme mit algebraischen Mitteln zu lÙsen. Soll ein Problem der Geometrie algebraisch gelÙst werden, so ist es die Aufgabe des Mathematikers, so viele Gleichungen aufzufinden, wie Unbekannte vorkommen - und genau dies ist das Verfahren, ein Problem »in so viele Teile zu teilen, wie es angeht und wie es nÙtig ist, um es leichter zu lÙsen«. Dann folgt jedoch bei Descartes der ¾bergang in eine andere Ordnung: Die letzten Elemente mÜssen sich (mir!) so klar und deutlich darstellen, daß ich (!) keinen Anlaß habe, daran zu zweifeln. Die zweite Regel fÜhrt somit wieder auf die erste zurÜck, bzw. baut auf dieser auf, was im Sinne von Descartes durchaus konsequent ist, enthÇlt aber doch einen ¾bergang inkonsequenter Art: nÇmlich von der intersubjektiv ÜberprÜfbaren Analyse zu der nicht mehr intersubjektiv ÜberprÜfbaren Behauptung der Erkenntnis der letzten Elemente, fÜr die nur mehr Evidenz beansprucht werden darf und nach Descartes auch beansprucht werden muß.

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c) Die dritte Regel Die dritte [Regel besagt], in der geh³rigen Ordnung zu denken, d. h. mit den einfachsten und am leichtesten zu durchschauenden Dingen zu beginnen, um so nach und nach, gleichsam ¹ber Stufen, bis zur Erkenntnis der zusammengesetztesten aufzusteigen, ja selbst in Dinge Ordnung zu bringen, die nat¹rlicherweise nicht aufeinander folgen. (Ebd. II, 9. S. 31) Wenn Descartes hier von einer »Ordnung der Dinge« spricht, so ist damit selbstverstÇndlich nicht eine ontologische Ordnung etwa im Sinne der aristotelischen Ordnung von vorgeordneter Substanz und nachgeordneten Akzidentien zu verstehen oder von Übergeordneter Gattung und untergeordneten Arten, sondern eine logische Ordnung: Sie [diese Regel] macht n›mlich darauf aufmerksam, daß alle Dinge in gewissen Reihen geordnet werden k³nnen, nicht zwar sofern man sie auf irgendeine Gattung des Seins bezieht, so wie die Philosophen sie in ihre Kategorien eingeteilt haben, sondern sofern die einen aus den anderen erkannt werden k³nnen [...]. (Regeln VI, 1. S. 31) 122

Dies ist das umgekehrte Verfahren der Analysis, also die Synthesis. Die Herleitung von FolgesÇtzen aus unmittelbar evidenten SÇtzen nennt Descartes »Deduktion«: Gerade von hier aus mag es bedenklich sein, weshalb wir hier außer der Intuition noch eine andere Art der Erkenntnis angef¹gt haben, die durch Deduktion geschieht, worunter wir all das verstehen, was aus etwas anderem sicher Erkanntem mit Notwendigkeit erschlossen wird. Aber das mußte so geschehen, weil das meiste zuverl›ssig gewußt wird, obgleich es selbst nicht evident ist, wofern es nur aus wahren und erkannten Prinzipien durch eine zusammenh›ngende und nirgendwo unterbrochene T›tigkeit des Denkens, welches das einzelne deutlich in der Intuition sieht, deduziert ist, nicht anders als wenn wir das letzte Glied einer langen Kette mit dem ersten zusammenh›ngend erkennen, obgleich unsere Augen nicht mit einem und demselben Blick auf alle Zwischenglieder, von denen jener Zusammenhang herr¹hrt, achten, wenn sie sie nur alle eins nach dem anderen durchmustert haben, und wir uns erinnern, daß die einzelnen Glieder mit ihren Nachbargliedern vom ersten bis zum letzten zusammenh›ngen. (Ebd. III, 8. S. 19 und 21) Abgesehen von der schon diskutierten Problematik der ersten evidenten SÇtze fÇllt hier sofort auf, daß die ¾berprÜfung einer solchen Deduktion wiederum durch nichts anderes geschehen kann als durch die Logik. Es wÇre also an diesem Punkt der richtige Ort gewesen, die Deduktionsregeln zu diskutieren: FÜr diese hÇtte sich dann fÜr Descartes wiederum die Frage gestellt, ob die einfachsten Gesetze der Logik

Die rationalistische Methode

nun auf Evidenz beruhen oder anders begrÜndet werden mÜssen. Faktisch tut Descartes jedoch so, als ob das, was »Deduktion« ist, ganz klar wÇre, d. h. er diskutiert es gar nicht. Allerdings liefert er in dem Text, der dem eben angefÜhrten Zitat vorausgeht, selbst den Hinweis, daß hier eine ArgumentationslÜcke besteht: Aber da wird nun diese Evidenz und Gewißheit der Intuition nicht allein bloß f¹r Aussagen, sondern auch f¹r jedes beliebige folgernde Denken erfordert. Denn wenn man z. B. diese Schlußfolgerung nimmt: zwei und zwei ergeben dasselbe wie drei und eins, so muß man nicht nur intuitiv sehen (non modo intuendum est), daß zwei und zwei vier ergeben, und daß drei und eins ebenfalls vier ergeben, sondern dar¹ber hinaus, daß aus diesen beiden Propositionen jene dritte mit Notwendigkeit folgt. (Ebd. III, 7. S. 19) Die Frage ist dann, ob wir berechtigt sind, nach »darÜber hinaus« im Text nochmals »intuitiv sehen« zu ergÇnzen. Wenn ja, hÇtten wir zwei ganz verschiedene Evidenzen: eine, die den Sachverhalt selbst betrifft, und eine zweite, gleichsam eine formale Meta-Evidenz, welche die notwendige Folgebeziehung betrifft. Aber meint Descartes dies wirklich? 123

d) Die vierte Regel Die letzte [Regel besagt], ¹berall so vollst›ndige Aufz›hlungen und so allgemeine •bersichten aufzustellen, daß ich versichert w›re, nichts zu vergessen. (Von der Methode II, 10. S. 33) Diese vierte Regel bringt nichts methodologisch Neues, sondern betrifft die nachtrÇgliche Darstellung, wofÜr Descartes auch mÙglichst kurze ZeichenÜbersetzungen vorschlug (Ebd. II, 11. S. 35). Was ist nun (mit Leibniz) von dieser cartesianischen Methode zu halten? Es ist bekannt, daß Leibniz sie an verschiedenen Stellen kritisiert hat. Einmal sagt er etwas ironisch: Sie sind so, als empfehle man einem Chemiker: »Nimm, was du nehmen mußt, tu damit, was du tun mußt, und du wirst erhalten, was du wÜnschst« (C. I. Gerhardt [Hrsg.]: Die philosophischen Schriften von G. W. Leibniz IV. Berlin 1880 [Nachdruck Hildesheim 1960]. S. 329). Leibniz will damit sagen: Diese Regeln sind leer, sie stellen keine Methode dar; denn der Ausgangspunkt liefert keine Methode, solange keine Kriterien fÜr die Definition einer klaren und distinkten Erkenntnis vorliegen (quamdiu non satis exhibentur indicia clari est distincti [Ebd. S. 328]). Was Analysis ist, hat Descartes auch nicht erlÇutert (vera Analysis non est explicata [Ebd. S. 330]), und ein Ding in kleinste Teile zu zerlegen, liefert nicht schon eine bessere Erkenntnis, wenn man die Verbindungsweisen (die »Gelenke«) nicht kennt (qui juncturas non novit [Ebd. S. 330]). Dies ist aber doch nicht alles, was man sagen sollte.

Renµ Descartes

Bei allem Respekt vor Leibniz wird man feststellen mÜssen, daß er Descartes gegenÜber zwar sachlich im Recht ist, daß er aber bei seiner Kritik die historische Tatsache vergißt, daß er selbst eben bereits auf Descartes aufbauen konnte und er daher die selbstÇndig begrÜndende Vernunft als methodische Vernunft in ihrer Berechtigung nicht mehr verteidigen mußte. Descartes wollte zunÇchst diesem Vernunftbegriff, der Vernunftgebrauch als Methode festschreibt, zum Durchbruch verhelfen. In diesem Punkt liegt die Leistung von Descartes, wie auch immer man von spÇteren Positionen her diesen Vernunftbegriff beurteilen mag. Vor allem aber sollte man nicht Übersehen, daß Descartes gleich im Anschluß an die Regeln ausdrÜcklich sagt, welches Methodenideal dahintersteht, und dieses ist - wie immer man die Formulierung der Regeln beurteilt - genau dasselbe wie das von Leibniz und denjenigen, die in der neuzeitlichen Philosophie diesem Ideal gefolgt sind. Und diese Methode ist alles andere als »leer« oder »trivial«. Dieses Ideal ist nichts anderes als die Verallgemeinerung der Methode der Mathematik:

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Jene langen Ketten ganz einfacher und leichter Begr¹ndungen, die die Geometer zu gebrauchen pflegen, um ihre schwierigsten Beweise durchzuf¹hren, erweckten in mir die Vorstellung, daß alle Dinge, die menschlicher Erkenntnis zug›nglich sind, einander auf dieselbe Weise folgen, und daß, vorausgesetzt, man verzichtet nur darauf, irgend etwas f¹r wahr zu halten, was es nicht ist, und man beobachtet immer die Ordnung, die zur Ableitung der einen aus den anderen notwendig ist, nichts so fern liege, daß man es schließlich nicht erreichte, und nichts so verborgen sein kann, daß man es nicht entdeckte. (Von der Methode II, 11. S. 33) Die Mathematik spielte bei Descartes ohne Zweifel eine zentrale und maßgebliche Rolle bei der Entwicklung seiner Methodenlehre. Es wÇre jedoch verfehlt, Descartes als einen Philosophen anzusehen, der sich rein innerhalb der Mathematik bewegte und der sich nur dort bewegen wollte. Descartes zielte durchaus darauf ab, die Mathematik als Mittel fÜr die Physik und fÜr die Naturwissenschaft im allgemeinen anzuwenden, und er dachte dabei auch an den Nutzen dieser Wissenschaften fÜr die Verbesserung konkreter Lebensbedingungen. In spÇterer Zeit beschÇftigte er sich nur in geringem Maße mit Fragen der Mathematik und wandte sich hauptsÇchlich Problemen der Physik, der Chemie und der Anatomie zu. Die hauptsÇchlich in den Prinzipien der Philosophie dargelegte Physik von Descartes spielte eine ganz zentrale Rolle in der Naturwissenschaft des 17. und 18. Jhd.s. Descartes wollte die gesamte physikalische Wirklichkeit durch Bewegung von Korpuskeln erklÇren. Ein Vakuum wird ausgeschlossen, da er Raum und Materie in eins faßt - also ergibt sich die berÜhmte thertheorie. Die Bewegung der Korpuskel wird bei Descartes durch Stoßgesetze erklÇrt, wobei die Gesamtheit der Stoßimpulse im Kosmos als einem geschlossenen System konstant bleibt. Wir haben also einen Erhaltungssatz vor uns. Mit Hilfe solcher Stoßgesetze will Descartes im Rahmen seiner Wirbel-

Die rationalistische Methode und das praktische Leben

theorie die Planetenbewegung erklÇren. Die Bedeutung der cartesianischen Physik wird schon dadurch deutlich, daß in den Principia mathematica Newtons - schon der Titel spielt auf die Principia von Descartes an - eine stÇndige Auseinandersetzung mit Descartes stattfindet (vgl. Kap. X, 2). SpÇter wird nicht Descartes’ Weg der intuitiven Erkenntnis klarer und deutlicher Begriffe maßgebend sein, wohl aber seine Forderung, jeden wissenschaftlichen oder philosophischen Beweis mit klaren und deutlichen Begriffen zu beginnen. Man wird allerdings keine intuitive Erkenntnis voraussetzen, sondern nur fordern, daß diese Begriffe explizit definiert werden. Auch die Forderung der VollstÇndigkeit der AufzÇhlung von Grundbegriffen, Grund-SÇtzen und Folgerungsregeln gehÙrt zum methodologischen Bestand aller neuzeitlichen Wissenschaften.

3. Die rationalistische Methode und das praktische Leben Descartes hatte von Anfang an seine ¾berlegungen nicht unter dem rein theoretischen Aspekt gesehen, vielmehr ging es ihm immer, und vielleicht sogar zunÇchst vorrangig, auch um das praktische Leben, um sittliches Handeln. Descartes sagt dies selbst ganz deutlich: Und ich hatte immer großes Verlangen, Wahres von Falschem unterscheiden zu lernen, um in meinen Handlungen klar zu sehen und in diesem Leben sicher zu gehen. (Von der Methode I, 14. S. 17) Allerdings sah Descartes bald, daß der Neuaufbau der Erkenntnis, wie er ihn sich vorstellte, keineswegs so rasch vor sich ging, wie er es wÜnschte. Und daraus ergab sich die Frage: Was sollte man in der Zwischenzeit tun? Endlich gen¹gt es nicht, das Haus, in dem man wohnt, nur abzureißen, bevor man mit dem Wiederaufbau beginnt, und f¹r Baumaterial und Architekten zu sorgen oder sich selbst in der Architektur zu ¹ben und außerdem den Grundriß dazu sorgf›ltig entworfen zu haben, sondern man muß auch f¹r ein anderes Haus vorgesorgt haben, in dem man w›hrend der Bauzeit bequem untergebracht ist. (Ebd. III, 1. S. 37) Schon der Ausdruck »bequem untergebracht sein« zeigt, daß die neue Gewißheit, die Descartes suchte, fÜr ihn ein sehr wichtiges, nicht aber ein existentielles Problem in unserem modernen Sinne darstellte. Entsprechend entwarf er eine Moral auf Zeit, die er mit fast verblÜffender Ehrlichkeit darstellt: Um also in meinem Tun nicht unentschlossen zu bleiben, solange mich die Vernunft n³tigte, es in meinen Urteilen zu sein, und um so gl¹cklich wie m³glich weiterleben zu

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k³nnen, entwickelte ich mir eine Moral auf Zeit, die nur aus drei oder vier Grunds›tzen bestand, die ich Ihnen gern mitteilen m³chte. (Ebd. III, 1. S. 37 u. 39)

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Daß uns diese Mitteilung sehr interessiert, ist klar, und sie wird auch gleich besprochen werden. Im ganzen kÙnnte man etwas boshaft sagen, Descartes habe diese »Moral auf Zeit« als so bequeme Unterbringungsart empfunden, daß er spÇter keine Veranlassung sah, diese Unterkunft wieder zu verlassen. Er lebte damit offensichtlich »so glÜcklich wie mÙglich«. Die GrundsÇtze dieser »Moral auf Zeit« sind bei Descartes zwar kategorisch formuliert, sie sind aber innerhalb der Struktur der provisorischen Moral streng genommen immer hypothetisch zu denken, also etwa so: »Da ich gegenwÇrtig keine ausreichenden VernunftgrÜnde habe, um mit Sicherheit zu wissen, was die richtige Handlung A in der Situation B ist, gilt fÜr mich jetzt d. h. vorlÇufig, bis auf weiteres - Grundsatz 1, 2, 3.« Es gibt allerdings auch Hinweise darauf, daß Descartes in spÇterer Zeit annahm, daß die Situation der provisorischen Moral nie ganz Überwunden werden kÙnne, da es nie mÙglich sein wÜrde, alle entscheidungsrelevanten Elemente einer gegebenen Situation zu erfassen. Fest steht jedenfalls, daß Descartes keinen Entwurf einer nicht-provisorischen, d. h. endgÜltigen Moral vorgelegt hat. Allerdings hat er in Briefen der spÇteren Zeit auch gesagt, daß er sich wegen der BefÜrchtung von Anfeindungen Ùffentlich gar nicht mehr zu moralischen Fragen Çußern wolle. Descartes dachte oder hoffte wohl, daß sich durch wissenschaftliche RationalitÇt auch die gesellschaftlichen Bedingungen so verÇndern wÜrden, daß auch dann, wenn fÜr den praktischen Bereich noch keine ausreichenden VernunftgrÜnde vorlÇgen, die Anwendung der GrundsÇtze der provisorischen Moral aufgrund »vernÜnftiger« gewordener Rahmenbedingungen eine vorlÇufig ausreichende rationale Rechtfertigung hÇtte.

a) Der erste Grundsatz Der erste war, den Gesetzen und Sitten meines Vaterlandes zu gehorchen, an der Religion beharrlich festzuhalten, in der ich durch Gottes Gnade seit meiner Kindheit unterrichtet worden bin, und mich in allem anderen nach den maßvollsten, jeder •bertreibung fernsten •berzeugungen zu richten, die von den Besonnensten unter denen, mit denen ich leben w¹rde, gemeinhin in die Tat umgesetzt werden. (Ebd. III, 2. S. 39) Descartes selbst hat sich, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Verurteilung Galileis, in geradezu extremer Weise an diesen Grundsatz gehalten. Seine wiederholten Versicherungen, an allen Dogmen der katholischen Kirche festzuhalten, sind auffÇllig. Er versuchte auch, jeden Konflikt mit den Theologen von Paris zu vermeiden, deren Urteilen und Meinungen er sich »hÙchst willentlich« unterwarf (vgl. Meditationen. Antwort auf den 4. Einwand. S. 231). Galilei war von seiner persÙnlichen Haltung her

Die rationalistische Methode und das praktische Leben

sicher konsequenter. Er sagte ausdrÜcklich, »daß zwei Wahrheiten einander niemals widersprechen kÙnnen« (vgl. Kap. IV, 3), ließ also keinen Raum fÜr eine doppelte Wahrheit, wogegen die Auffassung von Descartes faktisch auf eine solche Theorie hinauslÇuft. In einem GesprÇch mit dem Theologiestudenten Franz Burman (1628–1679) sagte Descartes: Sicher ist die Theologie auch nicht unseren Folgerungen zu unterwerfen, die wir in der Mathematik und bei anderen Wahrheiten gebrauchen, weil wir sie nicht v³llig zu erfassen verm³gen. Auch halten wir sie f¹r um so besser, je einfacher wir sie uns bewahren. Und wenn der Autor erf¹hre, daß jemand aus seiner Philosophie theologische Folgerungen z³ge und derartigen Mißbrauch mit ihr triebe, w¹rde ihn seine M¹he gereuen. Zwar k³nnen und sollen wir beweisen, daß die theologischen Wahrheiten nicht unvertr›glich mit den philosophischen sind, doch sollen wir jene keinesfalls unserer Pr¹fung unterziehen (non debemus eas ullo modo examinare). (Gespr›ch mit Burman. S. 109) Es bleibt die Frage offen, ob Descartes annahm, daß auch diese Situation nur provisorisch sei, oder ob er meinte, daß die Forderung, sich den SÇtzen der Theologie zu unterwerfen, definitiv sei. Die Frage stellt sich deshalb, weil es keinen Grund gibt, zu bezweifeln, daß Descartes persÙnlich am katholischen Glauben festhielt, so daß seine ’ußerung nicht (nur) als ein taktisches ManÙver angesehen werden kann. Descartes konnte und wollte wohl auch nicht verhindern, daß andere wie der mit ihm befreundete Abraham Heidanus (1597–1678), der 1648 - genau im Jahr des GesprÇchs mit Burman - Professor der Theologie in Leiden wurde, aus seiner Philosophie doch SchlÜsse in bezug auf die Theologie ableiteten. Das 1686 posthum verÙffentlichte Corpus theologiae christianae des Heidanus erhielt sofort den Namen Corpus theologiae cartesianae. Ob Descartes wirklich seine BemÜhungen bereut hat, wissen wir nicht. Descartes war sehr vorsichtig und wollte in Frieden leben. ZurÜck zu den GrundsÇtzen. Gelten in dem Land, in dem man lebt, verschiedene Auffassungen, so wÇhle man die »gemÇßigtsten«, [...] einmal weil sie f¹r die Praxis immer die bequemsten und wahrscheinlich die besten sind - denn alles •bermaß ist f¹r gew³hnlich schlecht - dann auch, um mich f¹r den Fall eines Fehlgriffs weniger vom wahren Wege zu entfernen, als wenn ich ein Extrem gew›hlt h›tte und dem anderen h›tte folgen m¹ssen. (Von der Methode III, 2. S. 39) Es fÇllt sofort auf, daß in diesem Kontext der Begriff der »Wahrscheinlichkeit« nicht mehr - wie vorher - in die NÇhe von »Falschheit« gerÜckt wird, sondern vielmehr in die NÇhe von »Wahrheit«. In den Regeln hatte Descartes sehr kategorisch gesagt:

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Und so weisen wir mit diesem Grundsatz alle jene bloß wahrscheinlichen Erkenntnisse zur¹ck und beschließen, daß ausschließlich vollkommen Erkanntem, das nicht bezweifelt werden kann, Vertrauen zu schenken ist. (Regeln 2, 1. S. 7)

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DemgegenÜber wird es jetzt sogar als »unbestreitbar wahre Forderung« aufgestellt, »daß wir, wenn es nicht in unserer Macht steht, die wahrsten Ansichten zu erkennen, den wahrscheinlichsten folgen sollten« (Von der Methode III, 3. S. 41). Da auch diese Moral, obwohl nicht auf evidenter Erkenntnis beruhend, von einer »unbestreitbaren Forderung« ausgeht, ist sie wohl im Sinne von Descartes als »rational« zu bezeichnen, wenn auch unter dem Zeichen der VorlÇufigkeit. Somit gibt es eben doch eine Rationalit›t der Wahrscheinlichkeit, durch die wir bestimmte Aussagen als nÇher oder weiter von der Wahrheit entfernt beurteilen kÙnnen, ohne schon im Besitz des absoluten Maßstabs der Wahrheit zu sein. Das Prinzip, »ausschließlich vollkommen Erkanntem, das nicht bezweifelt werden kann, Vertrauen zu schenken«, lÇßt sich in der RealitÇt des Lebens nicht aufrechterhalten. Und dies hat auch Descartes letztlich anerkannt. Dies ist deshalb interessant, weil der Begriff der »Wahrscheinlichkeit«, obwohl er bei Descartes sehr unscharf bleibt, auch in der Wissenschaftstheorie spÇter so verwendet werden wird, wie ihn Descartes mit positiver EinschÇtzung in der praktischen Philosophie der Moral auf Zeit verwendet hat, und eben nicht so, wie er ihn mit negativem Vorzeichen in der von ihm angestrebten Grundlegung der Wissenschaft eingefÜhrt hat.

b) Der zweite Grundsatz FÜr den Fall, daß jemand im Verlauf der DurchfÜhrung seiner Handlung bemerkt, daß er einer Alternative mit der geringeren Wahrscheinlichkeit gefolgt ist, sieht Descartes es als vernÜnftiger an, den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen, da bei dauernder RichtungsÇnderung die Erfolgserwartung nur geringer wÜrde: Mein zweiter Grundsatz war, in meinen Handlungen so fest und entschlossen zu sein wie m³glich und den zweifelhaftesten Ansichten, wenn ich mich einmal f¹r sie entschieden h›tte, nicht weniger beharrlich zu folgen, als w›ren sie ganz gewiß. (Von der Methode III, 3. S. 41) Daß dieser Grundsatz problematisch ist, ist evident, aber er verschafft »Seelenruhe«: Und dies war geeignet, mich seit dieser Zeit von aller Reue und allen Gewissensbissen zu befreien, die f¹r gew³hnlich das Gewissen schwacher und unbest›ndiger Gem¹ter zu beunruhigen pflegen, die sich wankelm¹tig gehen lassen und Dinge tun, als seien sie gut, von denen sie sp›ter erkennen, daß sie schlecht sind. (Ebd. III, 3. S. 41 und 43)

Die rationalistische Methode und das praktische Leben

c) Der dritte Grundsatz Mein dritter Grundsatz war, stets bem¹ht zu sein, eher mich selbst zu besiegen als das Schicksal, eher meine W¹nsche zu ›ndern als die Weltordnung und ¹berhaupt mich an den Gedanken zu gew³hnen, daß nichts v³llig in unserer Macht steht außer unseren Gedanken. (Ebd. III, 4. S. 43) Auch hier versucht Descartes wieder eine rationale BegrÜndung zu geben, die in der Einsicht besteht, daß außer unseren Gedanken nichts vÙllig in unserer Macht steht eine Maxime, die leicht als stoisch zu identifizieren ist (vgl. 1. Teil, Kap. XII, 2). Es ist natÜrlich unbestreitbar, daß diese Moral auf Zeit einen konformistischen Charakter aufweist, d. h. daß diese Moral die Anpassung an die jeweiligen Gegebenheiten empfiehlt. Es ist jedoch zu fragen, ob hier darÜber hinaus nicht faktisch ein anderer Vernunftbegriff am Werk ist, der schon als immanente Kritik oder wenigstens als Modifikation der vorher besprochenen rationalistischen Methode angesehen werden kann. In der streng rationalistischen Methode nimmt Descartes an, man mÜsse aus der klaren Unterscheidung von Entstehungs- und BegrÜndungszusammenhang eine Methode gewinnen, die einen absoluten Anfang der BegrÜndung setzt, einen Anfang, der in der Intuition klarer und distinkter Begriffe gefunden werden sollte. In der praktischen Philosophie des Discours sieht Descartes nun, daß dieser absolute Anfang nicht verf¹gbar ist, ohne daß jedoch deshalb die Forderung nach RationalitÇt aufgegeben werden muß. Vielmehr wird die Vernunft hier unter den Bedingungen der historischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten eingesetzt, ohne daß deshalb der Begriff der Wahrheit oder der der prinzipiellen Unterscheidung von Entstehungsund BegrÜndungszusammenhang aufgegeben wird. Der »Punkt 0« ist nicht verfÜgbar, er behÇlt aber doch eine kritische, wenn auch nicht erkenntniskonstitutive, Relevanz. Die BegrÜndung muß hier fÜr kontingent vorgegebenes Material gefunden werden, wobei die Entscheidungsverfahren nur durch Abw›gen von Wahrscheinlichkeiten eine BegrÜndung liefern kÙnnen. Dies ist nicht mehr eine absolute Vernunft, sondern eine Vernunft unter den Bedingungen der Endlichkeit, der Geschichte und der Gesellschaft. Eine Vernunft also, die nicht mehr absolute Setzungen durchfÜhrt, sondern kritische Unterscheidungen trifft. Der sich daraus ergebende Vernunftbegriff wÇre dabei nicht notwendig an die Anpassungsmaximen Descartes’ gebunden, denn es kÙnnen auch die »ungewÙhnlicheren Meinungen« ebenso wie die gewÙhnlicheren in die PrÜfung einbezogen werden. Er lÇßt sich also ohne weiteres als »kritischer Rationalismus« verstehen und kÙnnte nicht nur in der Ethik, sondern auch in der Naturwissenschaft Anwendung finden – eine Konsequenz, die Descartes selbstverstÇndlich nicht zieht. Die Maxime des Festhaltens an den zweifelhaftesten Ansichten, wenn man sich einmal fÜr sie entschieden hat, lÇßt sich dann natÜrlich nicht mehr aufrechterhalten. Das Ergebnis wÇre ein Vernunftbegriff als Hintergrund von BegrÜndungsstrategien, der als »vorlÇufige Vernunft«, als raison provisoire, be-

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zeichnet werden kÙnnte, ein Begriff, der im Rahmen des cartesianischen Rationalismus natÜrlich ein Un-Begriff ist.

4. Der Leib-Seele-Dualismus

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Eine ziemlich strenge Unterscheidung von KÙrper und Seele bzw. Geist hat es in der europÇischen Philosophie seit Pythagoras und Platon immer gegeben. Die Mehrzahl der christlichen Philosophen hatte aber mit Thomas von Aquin angenommen, daß es sich dabei doch nur um die Unterscheidung innerhalb einer Substanz handelt, wobei man auf die aristotelische Auffassung der Seele als Form des KÙrpers zurÜckgreifen konnte. Andere wie Bonaventura hatten aber schon in die Richtung von zwei verschiedenen Substanzen gedacht. Descartes nimmt an, daß es sich beim KÙrper, der res extensa, und dem Geist, der res cogitans, um zwei verschiedene Substanzen handelt. Man kÙnnte nun meinen, dies stelle nur eine VerschÇrfung der traditionellen Position dar. Wie stark die traditionelle Auffassung bei Descartes mitmotivierend war, sei dahingestellt. Descartes selbst begrÜndet seine Position aber nicht von irgendeiner Unsterblichkeitsproblematik her, sondern ausschließlich von seiner Erkenntnistheorie. Seiner Auffassung nach mÜssen Dinge, die begrifflich so unterschieden sind, daß jedes von ihnen klar und deutlich gedacht werden kann, ohne auf das andere Bezug zu nehmen, auch real unterschieden sein. Bei »Denken« (cogitatio) und »Ausdehnung« (extensio) ist dies nach der Auffassung von Descartes der Fall: »Denken«, um als Denken klar und deutlich erkannt zu werden, darf mit nichts von dem, was in »Ausgedehntes« enthalten ist, in Verbindung gebracht werden. Um »Ausdehnung« denken zu kÙnnen, benÙtige ich den Begriff »Vorstellungskraft«, der aber mit dem Begriff »Denken« nichts zu tun hat: Ich erkenne daher, daß nichts von dem allen, was ich mit Hilfe der Einbildungskraft erfassen kann, Bezug hat auf die Kenntnis, die ich von meinem Ich habe, daß ich vielmehr meinen Geist auf das sorgf›ltigste hiervon abwenden muß, wenn ich mir seine Natur recht deutlich zum Bewußtsein bringen will. Was aber bin ich demnach? Ein denkendes Ding! (Meditationen II, 13 f. S. 21) Der cartesianische Dualismus hat ein erkenntnistheoretisches Problem extrem verschÇrft: Es wird jetzt sehr schwierig zu erklÇren, welche Funktion die Sinneserkenntnis fÜr die »eigentliche« Erkenntnis Überhaupt noch haben kann. Oder umgekehrt: Es wird jetzt schwierig zu erklÇren, welche Art von »geistiger« Erkenntnis bei der ErklÇrung der physikalischen Welt vorliegen soll. Dies erklÇrt Unsicherheiten bei der wissenstheoretischen Einordnung physikalischer Theorien in den Prinzipien. Descartes versuchte, einen Weg Über die Mathematik zu erÙffnen. Die Mathematik befaßt sich mit den allgemeinen Beziehungen der QuantitÇt, QuantitÇt als Ausdeh-

Der Cartesianismus als kulturelles PhÇnomen

nung ist aber gleichzeitig die Grundlage der physischen Welt, also der Welt der res extensa. Damit ist aber das Problem nur verschoben, denn dann stellt sich ja wiederum die Frage des VerhÇltnisses von Mathematik und physischer Wirklichkeit, eine Frage die auch schon die Wissenschaftstheoretiker des 16. Jhd.s beschÇftigt hatte (vgl. Kap. IV, 1, b). Außerdem kann innerhalb dieses Dualismus nicht erklÇrt werden, wie Geistiges auf Materielles bzw. die Seele auf den KÙrper einwirken kann. - Der cartesianische Dualismus wurde und wird hÇufig kritisiert. Es ist jedoch zu betonen, daß sich dann eine Kritik am Dualismus erÜbrigt, wenn das rationalistische Erkenntnisideal nicht mehr als gÜltig anerkannt wird, da dieser Dualismus nur dazu dient, die UnabhÇngigkeit der Verstandeserkenntnis metaphysisch zu garantieren.

5. Der Cartesianismus als kulturelles Ph›nomen Auf den Einfluß, den Descartes auf die Philosophie und Wissenschaft hatte, wird noch wiederholt eingegangen werden mÜssen. Es gibt jedoch noch einen umfassenderen Bereich, aus dem das cartesianische Denken kam und auf den es auch wieder zurÜckwirkte. Dieser Bereich ist der der Kultur, welcher in seinen Grenzen natÜrlich nicht genau definierbar ist. In diesem weiten kulturellen Bereich gilt nun auch, daß nur das akzeptiert wird, was klar und deutlich erkannt werden kann. Und so wird der franz³sische Garten genau nach geometrischen Figuren konstruiert, so als wollte man hier die Natur erst einmal so ordnen, wie sie eigentlich in Wirklichkeit sein sollte. Der GÇrtner arbeitete mit Zirkel und Lineal. Charakteristisch fÜr diese Denkweise ist auch das Menuett, der wichtigste Tanz jener Zeit, in dem jeder Schritt genau vorgegeben ist und die Paare sich in streng abgezirkelten Bewegungen und in genauer Raumaufteilung einordnen mÜssen. Ein gutes Beispiel fÜr diese ganz der vollkommenen Ordnung der Bewegung ergebenen Weise des Komponierens, die natÜrlich nicht auf das Menuett beschrÇnkt ist, ist die Musik von Jean Baptiste Lully (1632– 1687). Das ordnungschaffende »Taktstampfen« mit einem mÇchtigen Stab gehÙrte zur AuffÜhrungspraxis, Lully selbst wurde ein Opfer derselben, als er sich dabei mit dem Stab den Fuß verletzte und an den Folgen starb. Trotz des spÇteren Streits zwischen »Lullisten« und »Ramisten« Über die wahre Form der Oper verschÇrfte JeanPhilippe Rameau (1683–1764), der Hofkomponist Ludwigs XIV., diese Ordnungswelt noch und bestand darauf, daß seine Art des Komponierens eine Art Geometrie sei. Und als 1656 Descartes’ - allerdings schon 1618 entstandener - Leitfaden der Musik (Musicae compendium) in Amsterdam erschien, empfahl der Verleger Johannes Janssonius dieses Werk in einem Vorwort allen »Musik- und Mathematikbeflissenen« (Musiceque et rerum Mathematicarum studiosis). Dies war nicht nur pythagoreisch, sondern auch cartesianisch gedacht. ¾berall machte sich das Prinzip der Übersichtlichen, deutlich unterscheidenden Ordnung breit. Das gesamte Leben des franzÙsischen Hofes war ein einziges, bis in

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jede Kleinigkeit geregeltes Zeremoniell, innerhalb dessen jeder seinen klar und deutlich bestimmten Rang innehatte. Es konnte infolgedessen natÜrlich nicht unterbleiben, daß auch das MilitÇr in eine solche Ordnung gebracht wurde, und so fÜhrte man im 17. Jhd. die allgemeine Uniformierung ein. Von da aus war es nicht mehr weit zur Konzeption des Krieges als mathematischer Aufgabe: Im Verlauf des 17. Jhd.s tauchen Traktate Über die Kriegskunst nach mathematischer Methode auf, auch der Krieg war ein Problem, das »wissenschaftlich« modo geometrico abgehandelt werden mußte. Und das blieb so. In Meyers Konversations-Lexikon von 1896 wird einfach festgestellt: »Die neuere Kriegskunst beginnt mit dem Aufkommen der Wissenschaften«, wobei darauf hingewiesen wird, daß diese wissenschaftliche Kriegskunst in Frankreich ihren Ausgang genommen hat (X, S. 716). Die Acadµmie FranÊaise, ursprÜnglich ein Literatenklub, erhielt von Kardinal Richelieu 1634 die statutenmÇßig festgeschriebene Aufgabe, die Reinheit des FranzÙsischen zu sichern, wobei es zunÇchst einmal darum ging, den Wortschatz der franzÙsischen Sprache streng zu reglementieren, so daß es immer klar und deutlich wÇre, was nun wirklich ein Wort des FranzÙsischen ist und was nicht. 1694 erschien dann auch das erste offizielle WÙrterbuch der Acadµmie. Ebenso wie die Sprache wurde dann auch die Dichtung geregelt und unter klar geordnete Begriffe gebracht. Das Prinzip der Einheit von Raum, Zeit und Handlung sollte eine klare ¾berschaubarkeit liefern und damit einen BegrÜndungszusammenhang, der aus jedem historischen Kontext herausgenommen gleichsam apriorische ExemplaritÇt konstruieren sollte. In dieser idealen Ordnung sollte ein Drama jeweils nur eine Tugend oder Untugend ins rechte Licht stellen, wobei es erstaunlich ist, wie etwa Jean-Baptiste Molire (1622–1673) in solche Schablonen immer noch Leben hineinzubringen verstand. ¾ber all dem stand natÜrlich der Schnittpunkt dieser in Koordinaten gezwÇngten Welt: der KÙnig Ludwig XIV.: »Der Staat, das bin ich« (L’›tÄt c’est moi), syntaktisch Çhnlich dem Ausgangspunkt von Descartes: »Ich denke, also bin ich« (Je pense, donc je suis). Der Staat wird zur Konstruktion, die der Monarch aus absoluter Setzung vornimmt. Der KÙnig ist jenes Zentrum, von dem aus alles methodisch geordnet wird. Historisch gesehen wird man sagen mÜssen, daß nicht nur Ludwig XIV. seine absolutistische Ordnung den anderen auferlegte, sondern daß weithin der »Gesellschaftsgeschmack« dieser anderen auch eine solche Ordnung wÜnschte. Die Mittel, mit denen der Staat nun nach klaren Begriffen geordnet wurde, waren vor allem BÜrokratie, Polizei und stehendes Heer, alles natÜrlich streng von einem Zentrum aus geleitet und in strengen Formen der Unterordnung wie in Deduktionen eines Beweises gehalten. Schließlich fÜhrte den KÙnig das Streben nach Einheitlichkeit zur Aufhebung des Edikts von Nantes, welches die Religionsfreiheit garantierte. Wenn es eben nur »eine Wahrheit« gibt und diese eine Wahrheit feststellbar ist, so war kein Grund gegeben, eine andere auch gelten zu lassen. Die Folgen dieses Einheitsstrebens waren allerdings katastrophal: Durch die Aufhebung des Edikts von

Der Cartesianismus als kulturelles PhÇnomen

Nantes wurde etwa eine halbe Million Hugenotten gezwungen, das Land aufgrund ihres Glaubens zu verlassen, eine Volksgruppe, die im frÜhen industriellen Frankreich eine fÜhrende Rolle gespielt hatte. Der monistische Zwang zur Vereinheitlichung fÜhrte hier zur Verarmung im wahrsten Sinne des Wortes - und Friedrich der Große (1740–1786), der viele Hugenotten in Brandenburg aufnahm, freute sich Über diese Bereicherung seines Landes. Es gibt offenkundig eine NÇhe der Kultur Frankreichs im 17. Jhd. zur Philosophie von Descartes. Es ist aber festzuhalten: Descartes ist nicht die ideologische Spiegelung des Grand Sicle Ludwigs XIV., und ebensowenig ist der Absolutismus des KÙnigs die politische Verwirklichung eines rationalistischen Methodenideals. Dennoch kann die Kultur dieser Periode Anschauungsmaterial fÜr die Philosophie von Descartes liefern, ebenso wie die Philosophie von Descartes wiederum Kategorien zur VerfÜgung stellt, mit denen man die Kultur dieser Zeit interpretieren kann.

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- VI -

Blaise Pascal

1. Pascals Leben und Werke – ein Interpretationsproblem

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Das Interpretationsproblem, das Pascals Schriften aufgeben, kann nicht verstanden werden, ohne einen kurzen Blick auf sein Leben (1623–1662) geworfen zu haben. Blaise Pascal stammte aus einer bÜrgerlichen Familie in Clermont, die im Dienste des KÙnigs stand. Sein Vater war ein hoher, im Steuerwesen beschÇftigter Beamter, der sich, vielleicht auch durch seinen Beruf motiviert, fÜr Mathematik interessierte. Pascal selbst arbeitete bereits seit seiner Jugend an mathematischen Problemen. Als die Familie 1631 nach Paris Übersiedelte, kam er mit dem Kreis um Marin Mersenne (1588–1648) in Kontakt. Mit zwÙlf Jahren war Pascal bereits ein kompetenter Mathematiker, der mitreden konnte. Mersenne war ein bedeutender Mathematiker und Musiktheoretiker und vertrat konsequent den sich herausbildenden modernen Begriff der empirischen Wissenschaft, was fÜr einen katholischen Ordensmann keine SelbstverstÇndlichkeit war. Mersenne unterhielt einen Briefwechsel mit Renµ Descartes, Pierre de Fermat (1601–1665), Pierre Gassendi (1592–1655), Thomas Hobbes, Gilles de Roberval (1602–1675) und anderen, und so waren alle wichtigen Fragen der Zeit GesprÇchsthema dieses Kreises. Diskutiert wurden auch die wichtigsten Fragen der Mathematik und Naturwissenschaft. 1640, also mit ungefÇhr 17 Jahren, verfaßte Pascal eine Abhandlung Über die Kegelschnitte, die ihn sofort in die erste Reihe der Mathematiker seiner Zeit stellte. Ebenso begabt, wenn auch eher auf literarischem Gebiet, war Pascals Schwester Jaqueline. Ihre Auftritte im Theater begeisterten den allmÇchtigen Kardinal Richelieu in einem solchen Maße, daß der Vater Pascals eine gute Stellung in der Finanzverwaltung von Rouen erhielt. Sein Sohn Blaise beschÇftigte sich dort nicht nur intensiv mit wissenschaftlichen Fragen der Mathematik und Physik, sondern begann auch um 1640 mit der Entwicklung einer Rechenmaschine. Die Legende will wissen, daß dabei auch praktische BedÜrfnisse seines Vaters motivierend waren, fÜr solche Zwecke einsetzbar war diese Maschine allerdings nie (spÇter fÜhrte Leibniz diese Versuche weiter). Auch in Rouen hatte die Familie zahlreiche kulturell anregende Kontakte, so u. a. zu Pierre Corneille (1606–1684), wiederum vermittelt durch die Leistungen Jaquelines auf der BÜhne. 1646 kam Pascal mit dem Jansenismus in BerÜhrung, einer religiÙsen Bewegung innerhalb der katholischen Kirche, welche die Bedeutung der Gnade in einer Weise

Pascals Leben und Werke – ein Interpretationsproblem

betonte, die dem Protestantismus nahekam. (Der Jansenismus blieb, reprÇsentiert auch durch Dichter wie Claudel und Bernanos, in Frankreich bis ins 20. Jhd. gegenwÇrtig.) In Frankreich war Antoine Arnauld (1612–1694), mit dessen Schriften sich Pascal beschÇftigte, der prominenteste Vertreter des Jansenismus. Pascal lebte seit 1647 in Paris im Umkreis des Hofes und arbeitete weiterhin wissenschaftlich. Die bekannteste VerÙffentlichung Pascals aus dieser Zeit ist die Schrift Neue Versuche Über die Leere. Die dort vertretene Verteidigung des Vakuums beruhte auf Experimenten, die Pascal im Anschluß an Evangelista Torricelli (1608–1647), eines SchÜlers Galileis, durchgefÜhrt hatte. Mit der Verteidigung des Vakuums setzte Pascal sich nicht nur in Gegensatz zu der alten AutoritÇt des Aristoteles, sondern auch zu der zeitgenÙssischen AutoritÇt des Descartes - Pascal kannte keinen horror vacui. 1652 war Pascals Schwester Jaqueline in das Kloster von Port Royal eingetreten, das ein Zentrum der Vertreter des Jansenismus geworden war. Dieses Ereignis beeindruckte selbstverstÇndlich Pascal, und er betrachtete den Lebensstil der HÙflinge mit einem kritischeren Blick. 1654 erfolgte ein »Bekehrungserlebnis«, welches er in seinem Memorial niederschrieb und fortan immer bei sich trug. Pascal wandte sich in dieser Nacht vom »Gott der Philosophen und Gelehrten« ab und dem »Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs« zu (¾ber die Religion. S. 248 f.). Pascal, der seit mehreren Jahren an einer schweren und sehr schmerzhaften Krankheit litt, zog sich 1655 als Gast in das Kloster Port Royal zurÜck. In den berÜhmten und zunÇchst anonym verÙffentlichten Lettres Provinciales (1656/1657) verteidigte er die von der Sorbonne verurteilten Lehren des Jansenismus. In den letzten Jahren seines Lebens faßte er den Plan, eine Apologie des Christentums zu verfassen, von der jedoch nur BruchstÜcke erhalten sind, die nach seinem Tod als die Pensµes (1670) herausgegeben wurden. Zur gleichen Zeit schrieb er auch die Abhandlung Über den Esprit gµomµtrique (Vom geometrischen Geist), deren zweite Fassung ohne weiteres in den Zusammenhang der Pensµes eingereiht werden kÙnnte. Die Interpretation des Lebens und der Schriften Pascals wurden seit Voltaire mit verschiedenen Wertsetzungen nach einem Schema vollzogen, das von einem »jungen«, »wissenschaftlichen« und einem »Çlteren«, »religiÙsen« Pascal ausging. Die Verteidiger »wissenschaftlicher AufklÇrung« wollten so von einem »Verrat« Pascals an der Wissenschaft sprechen, wÇhrend die Verteidiger des Christentums in Pascal einen Denker sehen konnten, der die Nichtigkeit der Wissenschaft durchschaut hatte und sich deshalb der Religion zuwandte. Dieses Schema dÜrfte nun weder biographisch noch sachlich richtig sein: Biographisch ist es nicht richtig, da Pascal noch 1659, also wÇhrend seiner letzten Lebensjahre, mit den zu seiner Zeit verfÜgbaren Methoden der Infinitesimalrechnung eine Abhandlung zu Zykloiden und Ellipsen verfaßte und deren Ergebnisse in einem lange andauernden Streit entschieden verteidigte. Es gibt also keinen »spÇten« Pascal, der sich vÙllig von der Wissenschaft abgewandt hatte. Auch die in die spÇtere Lebensperiode fallende Abhandlung Über den Esprit gµomµtrique ist geradezu ein Manifest wissenschaftlicher Methode. Man

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kann also hÙchstens, in einem sehr vorsichtig gebrauchten Sinne des Wortes, von einer Verlagerung des Schwerpunktes der Interessen Pascals sprechen. Daraus folgt aber immer noch nicht, daß der Verfasser der Pensµes eher der Religionsgeschichte als der Philosophiegeschichte zuzuordnen ist. Mit einer solchen sachlichen Trennung hat man zwar einige Interpretationsprobleme aus der Welt geschafft, man muß jedoch dann selbst die als einheitlich konzipierten Schriften wie die Über den Esprit gµomµtrique in zwei Teile gliedern und diese Teile verschiedenen Gebieten zuordnen. DemgegenÜber ist zu fragen, ob nicht die Werke von Pascal eine Interpretation erfordern, in der die Bereiche Wissenschaft und Religion in einer echten Beziehung zueinander stehen. Pascal kritisierte mit guten GrÜnden das damals maßgebliche Wissenschaftsideal von Descartes, er wandte sich aber nicht von der Wissenschaft ab. Die Pensµes von Pascal liegen in einer großen Zahl von Fragmenten vor, deren Anordnung bis heute umstritten ist, es gibt mehrere diesbezÜgliche Versuche, es wird aber vermutlich keine definitive LÙsung geben. Die Anordnung und ZÇhlung, die sich faktisch durchgesetzt hat, geht auf Lµon Brunschvicg zurÜck, der auch die im folgenden zugrunde gelegte ¾bersetzung von Ewald Wasmuth folgt. 136

2. Die vollkommene und die realisierbare Methode Es geht Pascal bei seiner Darlegung zum Esprit gµomµtrique nicht um eine abstrakte Methodenlehre, sondern vielmehr um eine Argumentationslehre. Diese Absicht wird schon im Titel Vom geometrischen Geist und von der Kunst zu Überzeugen deutlich. Dieser kommunikative Kontext ist bei der Interpretation zu beachten, da Pascal sich von Descartes auch dadurch unterscheidet, daß er in seiner Methodenlehre nicht von einer subjektiven Evidenz ausgeht, sondern auf intersubjektiv abgesicherte »Evidenzen« zurÜckgreift. Pascal geht davon aus, daß bisher nur die Mathematik, die man damals allgemein unter dem Begriff »Geometrie« zusammenfaßte, die wahre Methode angewandt hat. Allerdings beginnt er mit einem noch hÙheren Beweisideal: Vorher aber muß ich von einer noch bedeutenderen und noch vollst›ndigeren Methode eine Ahnung vermitteln. Einer Methode, die die Menschen niemals erreichen k³nnen; denn was außerhalb der Geometrie liegt, ist f¹r uns unerreichbar. Und trotzdem ist es notwendig, von ihr zu sprechen, mag es auch unm³glich sein, sie praktisch anzuwenden. - Diese wahre Methode, die die Beweise, wenn man sie haben k³nnte, vollkommen machen w¹rde, h›tte in der Hauptsache in zweierlei zu bestehen: einmal keinen Begriff anzuwenden, dessen Sinn man nicht vorher eindeutig erkl›rt hat, dann keinen Satz vorzubringen, den man nicht auf Grund bereits bekannter Wahrheiten bewiesen hat, das heißt in einem Wort, alle Begriffe zu definieren und alle S›tze zu beweisen. (Vom geometrischen Geist. S. 53)

Die vollkommene und die realisierbare Methode

Man kann sich fragen, welchen Sinn es hat, den Begriff einer fÜr uns unerreichbaren Methode einzufÜhren. Es kÙnnte der Verdacht auftreten, Pascal wolle so gleich von Anfang an die Vernunft in dem, was ihr erreichbar ist, »demÜtigen«. Er sagt zwar tatsÇchlich, daß die Vernunft die Aufgabe hat, »ihre SchwÇche in Demut zu erkennen«, dies steht jedoch nicht, wie man vielleicht vermuten kÙnnte, in irgendeinem theologischen Zusammenhang, sondern wird von Pascal im Zusammenhang mit einem Hinweis auf den wirklich nicht theologieverdÇchtigen Montaigne geÇußert, von dem er, wie er ausdrÜcklich betont, gelernt hatte, daß auch die Geometrie von undefinierten Grundbegriffen ausgeht (GesprÇch Pascals mit Herrn de Saci. In: Die Kunst zu Überzeugen. S. 115). Daß Pascal sogar im Bereich der Mathematik einen entscheidenden Ausgangspunkt von Montaigne gewann, ist jedenfalls sehr aufschlußreich und zeigt die Bedeutung, welche die Schriften Montaignes fÜr Pascal hatten. Die Vorstellung einer idealen Methode stellt eine Art Gedankenexperiment dar und dient bei Pascal dazu, unser tatsÇchliches wissenschaftliches Vorgehen klarer zu beurteilen. Es geht Pascal darum, darauf hinzuweisen, daß wir faktisch in unserer wissenschaftlichen Argumentation, d. h. in unserer wissenschaftlichen Theoriebildung, oft, wenn nicht sogar immer, von undefinierten Grundbegriffen und von unbewiesenen S›tzen ausgehen. Deshalb sagt Pascal im weiteren: Diese Methode w›re fraglos vortrefflich, sie ist aber vollkommen unm³glich. Denn es leuchtet ein, daß die ersten Begriffe, die man definieren will, andere voraussetzen, um ihnen zur Erkl›rung zu dienen, und daß dementsprechend die ersten S›tze, die man beweisen will, andere voraussetzen, die ihnen vorausgehen, so daß man niemals die ersten erreichen wird. (Vom geometrischen Geist. S. 55 f.) Dies gilt allgemein und somit auch fÜr die Geometrie. Pascal nimmt also im Unterschied zu der gesamten Wissenschaftsauffassung von Aristoteles bis Descartes nicht an, daß in der Mathematik die ideale Methode tatsÇchlich verwirklicht sei. So etwa bemerken wir, daß alle Wissenschaften unendlich in der Ausdehnung ihrer Probleme sind; denn wer zweifelt z. B., daß die Geometrie eine unendliche Unendlichkeit von Lehrs›tzen vorzulegen hat? Sie sind sowohl unendlich in der Anzahl wie der Schwierigkeit ihrer Prinzipien; denn, wem ist nicht deutlich, daß die, die man f¹r die letzten ausgibt, nicht in sich selbst bestehen, sondern daß sie sich auf andere st¹tzen, die wieder andere als Grundlage haben, kein Ende duldend. (•ber die Religion. Fragm. 72. S. 44) Diese Feststellung Pascals ist sehr wichtig, denn gleich am Anfang der Pensµes sagt er, daß man in der Geometrie die Prinzipien vollstÇndig Übersieht (Ebd. Fragm. 1. S. 19). Dies bedeutet aber eben nicht mehr, als daß man die jeweils vorhandenen

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und angewandten Prinzipien vollstÇndig Überschaut; die Gesamtheit der in der Geometrie Überhaupt denkbaren und prinzipiell zur VollstÇndigkeit erforderlichen Prinzipien kann nicht Überschaut werden. Dies ist nach Pascal angesichts der GegenÜberstellung der Geometrie und einer »noch vollstÇndigeren Methode« prinzipiell nicht mÙglich: Sie [die Geometrie] definiert nicht alles, und sie beweist nicht alles, und darin steht sie hinter jener [idealen Methode] zur¹ck; aber sie setzt nichts voraus als das, was der nat¹rlichen Einsicht klar und zuverl›ssig erscheint. (Vom geometrischen Geist. S. 56) Auf die »natÜrliche Einsicht« ist gleich noch zurÜckzukommen. ZunÇchst aber ist folgende Feststellung wichtig: Es gibt nach Pascal keine voraussetzungslose Wissenschaft und keinen absoluten Ausgangspunkt. Unter dieser - allerdings entscheidenden EinschrÇnkung kann Pascal sehr wohl die Regeln fÜr ein axiomatisches System aufstellen, die auch fÜr die nachfolgende Zeit maßgebend sein sollten:

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Notwendige Regeln f¹r die Definitionen. - Keinen Begriff, der etwas unklar und zweideutig ist, zuzulassen, ohne ihn zu definieren. In den Definitionen nur vollkommen bekannte oder bereits erkl›rte Begriffe zu verwenden. Notwendige Regeln f¹r die Axiome. - Als Axiom nur zu fordern, was an sich vollkommen evident ist. Notwendige Regeln f¹r die Beweise. - Alle S›tze zu beweisen und zum Beweis nur Axiome zu benutzen, die an sich v³llig evident sind, oder S›tze, die schon bewiesen oder angenommen worden sind. Niemals die Zweideutigkeit der Begriffe dadurch zu mißbrauchen, daß man vernachl›ssigt, im Geiste die Definitionen zu substituieren, die sie einschr›nken oder erkl›ren. (Ebd. S. 94 f.) Ausgangspunkte der Regeln fÜr die richtige Methode kÙnnen dann allerdings nicht evidente Begriffe sein, sondern nur, wie Pascal sagt, vollkommen bekannte Begriffe. Unter »vollkommen bekannten« Begriffen versteht Pascal etwas »was allen Menschen bekannt ist« (Ebd. S. 56) und verweist dabei auf AusdrÜcke wie »Raum, Zeit, Bewegung, Zahl, Gleichheit« (Ebd. S. 56 f.). Daß Pascal Begriffe wie »Zeit« oder »Zahl« als »vollkommen bekannt« annimmt, kÙnnte verwundern. Wir sollten aber nicht vergessen, daß Newton ganz Çhnlich vorgeht, wenn er sagt: Bis hierher schien es mir richtig zu erkl›ren, in welchem Sinn weniger bekannte Begriffe im Folgenden aufzufassen sind. Zeit, Raum, Ort und Bewegung sind allen wohlbekannt. (Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie. Scholium zu den Definitionen. •bers. v. E. Dellian. Hamburg 1988. S. 43)

Die vollkommene und die realisierbare Methode

Dies bedeutet, daß in wissenschaftlichen Theorien nach Pascal wie auch nach Newton die »theoriespezifischen« Begriffe definiert werden mÜssen, aber sehr allgemeine Begriffe, selbst dann, wenn sie ganz zentral fÜr die Theorie sind, als »allgemein bekannt« vorausgesetzt werden, was natÜrlich nicht heißt, daß nicht zu einem spÇteren Zeitpunkt, wenn z. B. Schwierigkeiten auftreten oder EinwÇnde vorgebracht werden, auch fÜr diese Begriffe genaue Definitionen gesucht werden mÜssen. Es geht also nur darum, daß nie alle in einer Theorie verwendeten Begriffe definiert werden kÙnnen. »Vollkommen bekannt« bedeutet bei Pascal daher nicht dasselbe wie »vollkommen erkannt«, sondern stellt eher eine beinahe empirische Gegebenheit dar. In den Pensµes sagt er dies recht deutlich: Unsere Seele ist in den K³rper gestoßen, wo sie Zahl, Zeit, r›umliche Ausdehnungen vorfindet (trouve); sie denkt dar¹ber nach und nennt das Natur, Notwendigkeit, und sie kann nichts anderes glauben. (•ber die Religion. Fragm. 233. S. 120) Der wichtige Gedanke dabei ist jedenfalls, daß wir auf solche undefinierten Begriffe dann zurÜckgreifen dÜrfen, wenn fÜr sie auch eine kommunikative Verbindlichkeit besteht. Pascal ist sich dabei darÜber im Klaren, daß diese Verbindlichkeit eine Entscheidung oder eine Abmachung voraussetzt; diese Entscheidung kann jedoch so in Gewohnheit eingebettet sein, daß sie uns gar nicht mehr auffÇllt. So sagt er in den Pensµes: Die Gewohnheit ist eine zweite Natur, die die erste aufhebt. Was aber ist Natur? Weshalb soll die Gewohnheit nicht nat¹rlich sein? Ich f¹rchte, diese Natur selbst ist nur eine erste Gewohnheit, wie die Gewohnheit eine zweite Natur ist. (Ebd. Fragm. 93. S. 62) Dann ist aber eben diese »natÜrliche Einsicht« der undefinierten Begriffe nichts anderes als die durch Gewohnheit - und damit gesellschaftlich und geschichtlich hergestellte ¾bereinstimmung im Gebrauch von Begriffen: Prinzipien stellen gar keinen Anfang oder Ursprung an sich dar, sondern nur einen f¹r uns: Was sind unsere nat¹rlichen Prinzipien anderes als Prinzipien, an die wir uns gew³hnt haben? Die Kinder haben die Gewohnheiten von ihren Eltern erhalten wie die Tiere die zu jagen. Andere Gewohnheit w¹rde andere nat¹rliche Prinzipien geben, das zeigt die Erfahrung. (Ebd. Fragm. 92. S. 62) GegenÜber Descartes liegt bei Pascal eine Form des Rationalismus vor, die auch im theoretischen Bereich auf Letztbegr¹ndung ausdrÜcklich verzichtet, weil sie diese als unerreichbar erkannt hat. Die Vorstellung einer idealen Methode dient also dem kritischen Rationalisten dazu einzusehen, daß LetztbegrÜndungen unerreichbar sind. Die

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axiomatische wissenschaftliche Methode baut auf einem Fundament auf, das durch diese Methode nicht mehr begrÜndet werden kann. Diese Grenzen wissenschaftlicher Vernunft nicht anzuerkennen, ist nach Pascal Unvernunft. Mit dem Verweis auf Gewohnheit, die aus Lernprozessen herrÜhrt, nimmt Pascal hier also in die BegrÜndung der Wissenschaft eine pragmatische Dimension auf. Wir sollten die Rolle, die der Gewohnheit bei Pascal, bei Hume (vgl. Kap. XII, 2) und schließlich bei Peirce (vgl. Kap. XXIV, 2) zugesprochen wird, nicht aus den Augen verlieren. - Auch im Bereich der Argumentation verweist Pascal deutlich auf die pragmatischen Faktoren: Daraus geht klar hervor, daß man, wovon immer man jemanden ¹berzeugen will, auf den Menschen R¹cksicht zu nehmen hat, den man ¹berzeugen will. (Vom geometrischen Geist. S. 89 f.)

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Es geht aber nicht nur darum, daß manche Menschen eben nicht Über den »geometrischen Geist« verfÜgen. Der Esprit gµomµtrique kann nach Pascal prinzipiell nicht alles abdecken, was als »vernÜnftig« angesehen werden kann, neben dem Esprit gµomµtrique gibt es auch den Esprit de finesse. Letzterer wird wÙrtlich mit »Feinsinn« wiedergegeben, was aber eigentlich nicht viel weiterhilft, einen wirklichen deutschen Çquivalenten Ausdruck gibt es nicht. Dieser Feinsinn ist dadurch gekennzeichnet, daß er nicht das eine aus dem anderen ableitet, wie es dem Vorgehen des geometrisch/mathematischen Geistes entspricht, sondern das Einzelne in einem spontanen Urteil im Zusammenhang des Ganzen erfaßt: Man muß sofort mit einem Blick das Ganze ¹bersehen und nicht, zum mindesten bis zu einem gewissen Grade, im Fortschritt der •berlegung. (•ber die Religion. Fragm. 1. S. 20) Sicher hat der Feinsinn etwas mit kÜnstlerischer Intuition zu tun, er ist aber nicht einfach auf diese zu beschrÇnken. In jedem Fall ist der Feinsinn, auch wenn Pascal ihn in Verbindung mit GefÜhl (sentiment) nennt, kein irrationales Verm³gen, da Pascal ihn auch bei rationalen Entscheidungen ins Spiel bringt (Ebd. Fragm. 4. S. 23). Pascal hat diese Fragen leider nicht eingehender behandelt. Er hat aber eine Diskussion angestoßen, die auch heute noch aktuell ist: Die Mathematiker, die nichts als Mathematiker sind, haben demnach einen klaren Verstand, vorausgesetzt, daß man ihnen alles durch Definitionen und Prinzipien erkl›rt, sonst sind sie wirr und unertr›glich, denn sie denken nur richtig an Hand deutlich gemachter Prinzipien. Und die Feinsinnigen, die nichts als feinsinnig sind, sind unf›hig, die Geduld aufzubringen, bis zu den ersten Prinzipien der Spekulation und Abstraktion vorzudrin-

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gen, denen sie in der Welt niemals begegnet sind und die man dort nie braucht. (Ebd. Fragm. 1. S. 21) Pascal hat also das Problem der »zwei Kulturen« schon gesehen. Er wÜnscht eindeutig den Menschen, der Über das »nichts als« der jeweiligen einen Seite hinausgelangt. Wie das aber funktionieren soll, hat er nicht theoretisiert, wohl aber in seinen Pensµes praktiziert. Auch im Bereich der Argumentation weist Pascal darauf hin, daß es neben dem an der Mathematik ablesbaren Beweisverfahren auch ein anderes Verfahren gibt, in dem durch »Gefallen« eine ¾berzeugung hergestellt werden soll. Allerdings merkt er an: Aber die Art und Weise, durch das Gefallen zu ¹berzeugen, ist unvergleichlich viel schwieriger, feiner, n¹tzlicher und bewunderungsw¹rdiger, und von ihr handle ich nur deshalb nicht, weil ich dazu nicht f›hig bin. Ich f¹hle mich solcher Aufgabe so wenig gewachsen, daß ich ihre L³sung f¹r v³llig unm³glich halte. (Vom geometrischen Geist. S. 90) Pascal ist aber Überzeugt, daß es auch fÜr dieses Verfahren ebenso sichere Regeln wie fÜr die Mathematik gibt (Ebd.), gesteht aber sein UnvermÙgen ein, diese aufzufinden. Faktisch verwendet er in seinen Pensµes aber dennoch jene Methode, in der durch »Gefallen« eine ¾berzeugung hergestellt werden soll. Die Pensµes richten sich ja gerade an den honnÞte homme, dessen Diskussionskunst am »Gefallen« orientiert ist. Pascal sagt selbst, daß er Menschen kennt, die diese Kunst beherrschen (Ebd. S. 91), und das sind genau jene, fÜr die er die Pensµes schrieb. - Die Problematik, der wir hier bei Pascal begegnen, entspricht der alten aristotelischen Frage nach Logik und Topik/Rhetorik. Allerdings schÇtzte Pascal die Logik nicht sehr hoch ein: Alles, was an ihr nÜtzlich ist, stammt aus der Mathematik: Alle Welt sucht die Methode, sich nicht zu irren. Die Logiker machen ihren Beruf daraus, dazu anzuleiten, die Mathematiker allein kennen sie, und außer ihrer Wissenschaft und jenen, die sie nachahmen, gibt es keine wahre Beweisf¹hrung. (Ebd. S. 101) Daß die Regeln fÜr die Ableitung in den Beweisen, die er forderte, durchaus - und auch im Sinne einer »mathematisierten« Form – aufgestellt werden kÙnnen und mÜssen, hat Pascal nicht gesehen. Hier wird Leibniz einsetzen, der nicht wie Pascal der Meinung war, die erforderlichen Regeln der Logik seien so natÜrlich, daß man sich bei ihnen gar nicht aufzuhalten brauche (Ebd. S. 52). Pascals Freunde aus Port Royal meinten allerdings, daß man doch ein Handbuch der Logik benÙtige. Das Ergebnis war - nach leibnizscher wie nach heutiger Auffassung - nicht unbedingt Überzeugend: Die sogenannte Logik von Port Royal, also La Logique ou l’Art de penser (Die

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Logik oder die Kunst des Denkens), die von Arnauld verfaßt wurde, war der Substanz nach eine ganz traditionelle Logik, in der dann im Anhang die weiter oben aufgefÜhrten Regeln der wissenschaftlichen Methode Pascals angefÜgt wurden (Arnauld: Die Logik oder die Kunst des Denkens IV, 3, 3. S. 298–300). Nichtsdestoweniger war der Erfolg dieser Logik - ganz unabhÇngig von Port Royal - sehr groß; sie wurde zur Schullogik im franzÙsischen Bereich, wobei der Beitrag Pascals dabei kaum noch zu bemerken war. Wenn Pascal behauptete, nichts von dem ¾berzeugen durch »Gefallen« zu verstehen, so stellt dies eine sehr große Untertreibung dar. Die Lettres Provinciales sind das literarisch beste Beispiel fÜr diese Form der Argumentation im Frankreich des 17. Jhd.s. Noch in den letzten Briefen (als die Diskussion an SchÇrfe und Verbitterung auf beiden Seiten extrem zugenommen hatte) versicherte Pascal selbst, seine Antworten »so kurzweilig zu machen, wie es Überhaupt in solcher Art von Polemik mÙglich ist« (Lettres Provinciales. 12. Brief. S. 234). Und von seinen Gegnern sagt er: »Ihre Maximen haben ein gewisses Etwas, das erheiternd wirkt, und an dem sich die Welt immer wieder belustigt« (Ebd.), was diese sicher nicht besonders belustigte. Diese von Arnauld angeregten Briefe erschienen 1656/1657 anonym. 1657 wurden sie dann gesammelt unter dem Pseudonym Louis des Montalte herausgegeben und sofort von allen Gebildeten Frankreichs gelesen. ErwartungsgemÇß provozierten sie Gegenschriften. Der Stil der Lettres, ihre feine Ironie mit den sicher plazierten Pointen wurde von AnhÇngern wie von Gegnern gleicherweise anerkannt. Der Streitpunkt, um den es ging, sei nur kurz angedeutet, ist aber doch interessant, weil er wieder einmal auf den langen Schatten des Augustinus hinweist: Cornelius Jansenius (1585–1638), Bischof von Ypern, hatte das Werk Augustinus geschrieben, das 1640 nach dem Tod seines Verfassers erschienen war. In diesem wurde die radikale Gnadenlehre des spÇten Augustinus (vgl. 2. Teil, Kap. III, 5) ebenso radikal gegen die »neuen Pelagianer« verteidigt. Die »neuen Pelagianer« waren die Jesuiten, die mehr auf Willenseinsatz und rationale KalkÜle vertrauten als auf gÙttliche Gnade. Der Streit zwischen Jansenisten und Jesuiten wurde von der Pariser Gesellschaft mit grÙßtem Interesse und ebenso großem Amusement verfolgt, schließlich wußte jeder, daß z. B. dem Herzog von Liancourt als JansenistenanhÇnger die Absolution verweigert worden war. Den zeitgeschichtlichen Ablauf des Streits brauchen wir hier nicht weiter darzustellen. Falls die historisch unsichere Nachricht stimmt, war es der Chevalier de Mµrµ - dem wir bei seiner Rolle zu Pascals Entwicklung des WahrscheinlichkeitskalkÜls gleich noch einmal begegnen werden –, der diese GnadenerÙrterungen fÜr etwas langweilig hielt, und Pascal auf das damit eng verbundene Gebiet der sogenannten »Jesuitenmoral« hinwies, was dann auch tatsÇchlich den Hauptgegenstand der weiteren Briefe darstellte und Pascal eigentlich erst richtig das Feld fÜr die Anwendung seiner Kunst des ¾berzeugens bot. Einer der zentralen Diskussionspunkte dabei war eine Frage der Entscheidungstheorie bei sittlichen Fragen, bei deren Beantwortung verschiedene Wahrscheinlichkeiten der zu betrachten-

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den Regeln zur Diskussion standen, also: Wie sieht die Lage aus, wenn fÜr oder gegen eine sittliche Entscheidung verschiedene Wahrscheinlichkeiten der »Richtigkeit« sprechen? Es gab eine schon in das 16. Jhd. zurÜckreichende Richtung, die sagte, daß man, da keine eindeutige Entscheidung mÙglich ist, auch der Meinung mit der geringeren Wahrscheinlichkeit folgen dÜrfe. Pascal zitiert - die vielen Texte, die Pascal in den Briefen anfÜhrt, wurden ihm vor allem von Arnauld geliefert - z. B. die folgende Frage mit der entsprechenden Antwort: Darf ein Richter in einer Rechtsfrage nach einer probablen Meinung urteilen, wenn er dabei die viel probablere aufgibt? Jawohl, und sogar gegen seine eigene •berzeugung. (Lettres Provinciales. 8. Brief. S. 152) Dies ist die von den Jesuiten vertretene These des Probabilismus (= man darf auch der geringeren Wahrscheinlichkeit folgen), wÇhrend der Probabiliorismus (= man muß immer der grÙßeren Wahrscheinlichkeit folgen = Tutiorismus) natÜrlich von den Augustinianern vertreten wurde, die der Gegenseite moralischen »Laxismus« vorwarfen (vgl. z. B. ebd. 13. Brief. S. 271). Daß der Probabilismus den Jesuiten als den BeichtvÇtern der besseren Pariser Gesellschaft - die letzten Briefe richten sich direkt an den Pre Annat, den Beichtvater des KÙnigs - hÇufig auch die MÙglichkeit gab, deren sehr »großzÜgige« Moral zu tolerieren, ist auch unÜbersehbar (irgendeinen »guten« Grund konnte man fÜr alles finden). Der Hintergrund der Argumentation der Probabilisten war das Prinzip: »Ein zweifelhaftes Gesetz verpflichtet nicht« (Lex dubia non obligat). Zur Zeit Pascals war der Streit in vollem Gange, und auch die kirchlichen AutoritÇten waren in ihrer Haltung unsicher, da sie auf der einen Seite den »Laxismus« verurteilten, auf der anderen Seite aber den Probabilismus nicht verurteilen wollten, was dann auch die »Position« Alexanders VII. (DS 2021–2065) und Innozenz XI. (DS 2101–1216) war. Die Lettres Provinciales wurden gleich nach ihrem Erscheinen als Gesamtdruck 1657 auf den Index verbotener BÜcher gesetzt und im selben Jahr auch von einem franzÙsischen Gericht verurteilt. Dieser Streit erklÇrt jedenfalls zum Teil einen Wahrscheinlichkeitsansatz in der Wette Pascals: Die Wahrscheinlichkeitsverteilung durfte keinesfalls unter 50% angesetzt werden (vgl. den folgenden Punkt), sonst wÇre Pascal unter jene WahrscheinlichkeitsAnsÇtze gefallen, die von den Jansenisten als moralisch zulÇssig akzeptiert wurden. Pascal erwies sich in diesem Streit als einer der ganz großen Prosaschriftsteller und Erfolgsautoren seiner Zeit, der seinen Gegnern gehÙrigen Respekt abzwang. - Nur so nebenbei: Der Probabilismus-Streit ist bis heute in vielen Gebieten aktuell, so z. B. in der Rechts- und der medizinischen Praxis.

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Der strenge Gebrauch der Regeln der axiomatischen Methode sichert die Wahrheit der FolgesÇtze. Da diese SÇtze am Anfang aber nicht voraussetzungslos sind, hat auch dieser strenge Wahrheitsbegriff nur eingeschrÇnkte Bedeutung. Daher ist es verstÇndlich, daß Pascal sich unabhÇngig von dem konkreten Anlaß des GlÜcksspiels fÜr das Problem der Wahrscheinlichkeit interessierte. Pascal tat einen entscheidenden Schritt Über alle frÜheren ¾berlegungen zur Wahrscheinlichkeit hinaus, denn vor ihm sah man in der Wahrscheinlichkeit gewÙhnlich einfach einen geringeren Grad der Wahrheit. Pascal erkannte, daß der strenge, an der Mathematik und der Logik orientierte Wahrheitsbegriff des axiomatischen deduktiven Systems keine Grade zuließ, bemerkte aber gleichzeitig auch, daß mathematisches Denken im Bereich der Wahrscheinlichkeit ebenso Geltung haben konnte wie im Bereich deduktiver Systeme. Dies bedeutet, daß daraus, daß in den mathematischen Disziplinen Wahrheit erreicht wird, nicht geschlossen werden kann, daß dort, wo strenge Wahrheit nicht erreicht wird, keine mathematischen Methoden angewandt werden kÙnnen. Der Begriff »mathematische Methoden« kann also auch in jenen Disziplinen Geltung haben, in denen »nur« Wahrscheinlichkeit erreicht wird. Pascal begann sich 1654 mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu beschÇftigen. FÜr diese Fragen hatte es nach der gelÇufigen Geschichte einen konkreten Anlaß gegeben: Es ging um das Problem, wie der Geldeinsatz bei einem abgebrochenen GlÜcksspiel zu verteilen sei; also um die Frage, wie hoch bei einem bestimmten Stand des Spieles die Wahrscheinlichkeit fÜr jeden der Teilnehmer ist, einen bestimmten Teil des Einsatzes zu gewinnen. Einer von Pascals mondÇnen Freunden, der Chevalier de Mµrµ (1607–1684) behauptete spÇter, Pascal diese Aufgabe gestellt zu haben, und Leibniz hat diese Geschichte in seinen Nouveaux Essais verewigt (IV, 16, § 7. S. 505 f.). TatsÇchlich wurden in dem Kreis um den Herzog von Roannez, dem auch Mµrµ, nach Leibniz ein »Spieler und Philosoph«, angehÙrte, mathematische Fragen diskutiert. In einem interessanten Briefwechsel mit Fermat von 1654 beschÇftigte sich Pascal mit den Fragen des WahrscheinlichkeitskalkÜls. (Dieser Briefwechsel gilt allgemein als der Beginn des WahrscheinlichkeitskalkÜls.) Die Bedeutung, die dieser KalkÜl auch außerhalb der rein mathematisch interessanten Probleme bei Pascal haben wird, wird sich weiter unten zeigen. Auch Christiaan Huygens (1628–1695), einer der bedeutendsten Mathematiker und Physiker des Jahrhunderts, beschÇftigte sich in diesen Jahren mit Fragen des WahrscheinlichkeitskalkÜls, und er versuchte 1655, Pascal zu treffen, traf aber bei einem Abendessen bei Roannez nur Mµrµ. Erst bei einem weiteren Besuch in Paris im Jahre 1660 dÜrfte er Pascal getroffen haben. Zu diesem Zeitpunkt war aber Huygens, Tractatus de ratiociniis in aleae ludo, das erste Lehrbuch der Wahrscheinlichkeitstheorie, schon erschienen (1657). - Um zu verstehen, worum es bei der Spieltheorie geht, hier ein

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ganz einfaches Beispiel aus der zeitgenÙssischen Literatur, entnommen aus den Nouveaux Essais von Leibniz, der aus seinen Studienjahren in Paris (1672–1676) gut Über die Diskussionen informiert war: Wenn z. B. bei zwei W¹rfeln der eine Spieler gewinnen soll, wenn er 7 Punkte, der andere, wenn er 9 Punkte hat, so fragt sich: welches Verh›ltnis findet zwischen ihren Wahrscheinlichkeiten zu gewinnen statt? Ich antworte, daß die Wahrscheinlichkeit f¹r den letzteren nur zwei Drittel der Wahrscheinlichkeit f¹r den ersteren betr›gt, denn der erste kann mit zwei W¹rfeln die 7 auf drei Arten erreichen (n›mlich mit 1 und 6 oder 2 und 5 oder 3 und 4), w›hrend der andere die 9 nur auf zwei Arten erreichen kann, indem er entweder 3 und 6 oder 4 und 5 wirft. Da nun alle diese W¹rfe gleich m³glich sind, so werden sich die Wahrscheinlichkeiten, die wie die Zahlen der gleichen M³glichkeiten sind, wie 3 zu 2, oder wie 1 zu 2/3 verhalten. (Leibniz, G. W.: Neue Abhandlungen ¹ber den menschlichen Verstand. •bers. v. E. Cassirer. Hamburg 1996. IV, 16, § 9. S. 505) Es geht hier also um einen KalkÜl der Wahrscheinlichkeit des Eintreffens eines Ereignisses, das auf einer Zufallsanordnung beruht. Dies waren Fragen, mit denen sich auch Fermat und Huygens beschÇftigten. Pascal sah jedoch eine AnwendungsmÙglichkeit des WahrscheinlichkeitskalkÜls, die seinen Zeitgenossen (außer Leibniz, vgl. dazu weiter unten Kap. XI, 3) Überhaupt nicht auffiel und die eigentlich erst im 20. Jhd. systematisch ausgebaut wurde: Modelle, die im Rahmen der Spieltheorie entwickelt wurden, die also auf zuf›lligen Kombinationen beruhen, kÙnnen auf Situationen Übertragen werden, die keinerlei zufÇllige Anordnung der Elemente aufweisen, bei denen uns jedoch die zugrundeliegenden Fakten und Regeln nur teilweise bekannt sind (die BegrÜndung dieser Anwendung stellt uns bis heute vor ziemlich schwierige Fragen). Ist in einer solchen Situation eine Entscheidung bzw. eine Handlung erforderlich, so beruht die RationalitÇt der Entscheidung auf einem KalkÜl der zur VerfÜgung stehenden Wahrscheinlichkeitswerte. Pascal legte also zugrunde, daß spieltheoretische Modelle als Grundlage rationaler Entscheidung unter Unsicherheit verwendet werden kÙnnen. Dies ist der systematisch entscheidende Hintergrund der berÜhmten Wette, deren grundsÇtzliche Bedeutung jedoch einfach deshalb erst viel spÇter erfaßt wurde, weil der konkrete Anwendungsfall bei Pascal gleichzeitig einen Grenzfall darstellt und Spieltheoretiker und spieltheoretisch arbeitende Praktiker, also etwa systematische Kasino- oder (heute) Totospieler, sich gewÙhnlich nicht besonders fÜr Wetten Über das ewige Leben interessieren. Wir folgen jetzt dem Text von Pascals Fragment 233, bei dem es um einen Fall geht, in dem die Wahrscheinlichkeit fÜr Gewinn und Verlust gleich groß ist - es sind natÜrlich spieltheoretisch andere Situationen denkbar und hÇufig auch gegeben, in denen dies nicht der Fall ist. Die Ausgangssituation ist folgende:

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Wenn es einen Gott gibt, ist er unendlich unbegreifbar; da er weder Teile noch Grenzen hat, besteht zwischen ihm und uns keine Gemeinsamkeit. Also sind wir unf›hig zu wissen, was er ist, noch ob er ist. (•ber die Religion. Fragm. 233. S. 121) Wenn wir von etwas weder wissen kÙnnen, daß es existiert und wir nicht einmal wissen, wie wir es durch Angabe irgendwelcher Eigenschaften beschreiben sollen, wir also keine Definition aufstellen kÙnnen, die uns eine systematische Suche nach diesem erlaubt, ist nach der Methode der »normalen« Wissenschaft an diesem Punkt nichts auszumachen: Pr¹fen wir das also, nehmen wir an: Gott ist oder er ist nicht. Wof¹r werden wir uns entscheiden? Die Vernunft kann hier nichts bestimmen: ein unendliches Chaos trennt uns. (Ebd. S. 122) Bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, befinden wir uns in der Situation eines Spielers in einem GlÜcksspiel:

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Am ›ußersten Rande dieser unendlichen Entfernung spielt man ein Spiel, wo Kreuz oder Schrift fallen werden. Worauf wollen Sie setzen? Aus Gr¹nden der Vernunft k³nnen Sie weder dies noch jenes tun, aus Gr¹nden der Vernunft k³nnen Sie weder dies noch jenes abtun. (Ebd. Ich setze jeweils »Sie« f¹r »sie«, da im franz³s. Text »vouz« steht.) Warum aber soll man denn Überhaupt spielen? Wenn es weder fÜr das eine noch fÜr das andere vernÜnftige GrÜnde gibt, wÇre es dann nicht vernÜnftiger, die Finger von einem solchen GlÜcksspiel zu lassen? Pascal formuliert auch selbst diesen Einwand, wenn er sich fragt, ob es nicht »richtig ist, Überhaupt nicht auf eines zu setzen« (Ebd.). Dazu sagt Pascal, daß es Situationen gibt, in denen man nicht frei ist zu entscheiden, ob man spielt oder nicht. Die vorliegende Frage ist seiner Ansicht nach in eine solche Situation eingebettet: Ja, aber man muß auf eines setzen, darin ist man nicht frei, Sie sind mit im Boot. (Ebd.) Dies ist sicher eine ziemlich heikle PrÇmisse in der ganzen pascalschen Argumentation. Um im heutigen Sinne eine Entscheidungstheorie aufbauen bzw. anwenden zu kÙnnen, ist es erforderlich, daß die EntscheidungsmÙglichkeiten vollstÇndig aufgezÇhlt werden. Also z. B.: Vor einer Parlamentswahl genÜgt es nicht, die verschiedenen Parteien, die zur Wahl stehen, aufzuzÇhlen, man muß auch die MÙglichkeit, Überhaupt nicht zur Wahl zu gehen, als eine der EntscheidungsmÙglichkeiten mit einbeziehen. Pascal ist jedoch Überzeugt, daß es bei der Frage nach der Existenz

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Gottes keine MÙglichkeit gibt, die Frage einfach Überhaupt nicht zu beantworten. Diese pascalsche Voraussetzung ist vermutlich nicht logisch, sondern nur kulturgeschichtlich zu rechtfertigen. Zur Zeit von Pascal, aber eigentlich auch noch in der nachfolgenden Periode der AufklÇrung, konnte sich jemand bereits als Atheist bekennen. Aber zu sagen, in dieser Frage sei Überhaupt nichts vernÜnftig auszumachen, das einzig VernÜnftige sei es also, die Frage ohne Stellungnahme auf sich beruhen zu lassen, war damals kaum mÙglich. Reine Skeptiker wurden rasch zur Gruppe der Atheisten gezÇhlt. FÜr das Argument selbst ist aber diese kulturgeschichtliche Frage nicht einmal entscheidend, denn es reicht vÙllig aus, sich eine Person vorzustellen, die Überzeugt ist, daß sie auf eines setzen muß, fÜr die also die EntscheidungsmÙglichkeiten in der pascalschen Anordnung tatsÇchlich erschÙpfend aufgezÇhlt sind. Wenn man, oder zumindest diese eine Person also spielen muß, muß eine GewinnVerlust-Rechnung aufgemacht werden: W›gen wir Gewinn und Verlust f¹r den Fall, daß wir auf Kreuz setzen, daß Gott ist. Sch›tzen wir diese beiden M³glichkeiten ab. Wenn Sie gewinnen, gewinnen Sie alles, wenn Sie verlieren, verlieren Sie nichts. Setzen Sie also, ohne zu z³gern, darauf, daß er ist. (Ebd. S. 123) 147

Im Falle der Existenz Gottes, der hier von Pascal als Garant einer ewigen GlÜckseligkeit angesetzt wird, ist der mÙgliche Gewinn ein unendlicher: Es gibt aber eine Ewigkeit an Leben und Gl¹ck zu gewinnen; und da das so ist, w¹rden Sie, wenn unter einer Unendlichkeit von F›llen nur ein Gewinn f¹r Sie im Spiel l›ge, noch recht haben, eins gegen zwei zu setzen, und Sie w¹rden falsch handeln, wenn Sie sich, da Sie notwendig spielen m¹ssen, weigern wollten, wenn es unendliche und unendlich gl¹ckliche Leben zu gewinnen gibt, ein Leben f¹r drei in einem Spiel zu wagen, wo es f¹r Sie unter einer Unendlichkeit von F›llen einen Gewinn gibt. (Ebd. S. 123 f.) Pascal Çußert jedoch selbst einen weiteren (die Frage der RationalitÇt bei Entscheidungen unter Risiko betreffenden) Einwand: MÜßte man nicht sagen, »es sei ungewiß, ob man gewinnen wÜrde, und gewiß sei, daß man wage« (Ebd. S. 124), also es sei das ganze Spiel unvernÜnftig? Pascal macht demgegenÜber geltend, daß uns dies nur bei dem sicher sehr unsicheren Gewinn des ewigen Lebens so scheint, daß dies aber gar nichts anderes ist, als die ganz normale Spielsituation: Jeder Spieler wagt mit Gewißheit, um ungewiß zu gewinnen, und trotzdem wagt er, ohne gegen die Vernunft zu verstoßen, sicher das Endliche, um unsicher Endliches zu gewinnen. (Ebd.)

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Nicht das Eingehen eines Risikos im Spiel ist schon unvernÜnftig, wohl aber kann die HÙhe des Einsatzes unvernÜnftig sein. Die RationalitÇt des Einsatzes bemißt sich danach, ob der Einsatz in einem vernÜnftigen VerhÇltnis zu den Gewinnchancen steht, aber auch danach, ob der Einsatz in einem vernÜnftigen VerhÇltnis zu dem steht, was der Verlust des Einsatzes fÜr den Wettenden darstellen wÜrde. Deshalb ist der Einsatz auch in eine mathematische Beziehung zu dem zu setzen, was der Spieler besitzt. Angenommen, 1 ist die Einsatzsumme bei jemandem, fÜr den sie 1/1000 seines VermÙgens darstellt. Dann ist der Einsatz bei einer Gewinnchance von 1/100 durchaus rational. Bei jemandem hingegen, bei dem die Einsatzsumme 1 die Gesamtheit seines VermÙgens darstellt, also bei einem VerhÇltnis von 1:1 fÜr das VerhÇltnis von Einsatz und VermÙgen, ist die Entscheidung, diesen Einsatz bei einer Gewinnchance von ebenfalls 1:100 zu wagen, jedoch nicht rational. Die Entscheidung geschieht also aufgrund einer komplexen Gewinn-Verlust-Rechnung, wobei die RationalitÇt nicht nur von den Wahrscheinlichkeiten abhÇngt, sondern auch vom Einbezug verschiedener Parameter. Deshalb weist Pascal darauf hin, daß einem mÙglichen unendlichen Gewinn bei gleicher Wahrscheinlichkeit von Gewinn und Verlust ein nur endlicher Wetteinsatz gegenÜbersteht, wodurch die Wette als vernÜnftig gerechtfertigt ist: 148

Es gibt aber hier unendlich viele, unendlich gl¹ckliche Leben zu gewinnen, die Wahrscheinlichkeit des Gewinns steht einer endlichen Zahl der Wahrscheinlichkeit des Verlustes gegen¹ber, und was sie ins Spiel einbringen, ist endlich. (Ebd.) Dabei ist jedoch zu beachten, daß Pascal durchaus im Sinne der multiplen Parameterwahl nicht einfach auf »unendliche Seligkeit« setzt, sondern zugleich nach der Bedeutung des Einsatzes in bezug auf das konkrete irdische Leben fragt. Er bezieht also auch den ganz konkreten Gewinn »in diesem Leben« mit ein. Wir haben hier also einen weiteren Parameter fÜr die Entscheidung in der Wette: Wenn bei einer Wette mit dem Einsatz neben dem unsicheren Gewinn in einem Bereich auch ein sicherer Gewinn in einem anderen Bereich verbunden ist, so fÜhrt dies zu einer Minderung des Risikos (wir kennen dies auch in der Gegenwart: Wenn eine Lotterie fÜr einen wohltÇtigen Zweck veranstaltet wird, kann man mitwetten, ohne ernsthaft an den Gewinn zu denken). Da bei Pascals Wette der Einsatz in einem sittlichen Leben besteht, bedeutet dies: Sie werden treu, rechtschaffen, dem¹tig, dankbar, wohlt›tig, Freund, aufrichtig, wahrheitsliebend sein. Allerdings die verderblichen Vergn¹gungen, Ruhm, Gen¹sse werden Sie nicht haben, aber werden Sie nicht anderes daf¹r haben? Ich sage Ihnen, Sie werden dabei in diesem Leben gewinnen [...]. (Ebd. S. 126)

Die Wahrscheinlichkeit

Bei einer Risikoentscheidung kann auch bei Wiederholung so etwas wie »GewÙhnung« eintreten. Wir kennen dies auch aus dem normalen Leben: Wir kennen die Unfallstatistiken auf den Autobahnen, wissen also um die statistische HÙhe der Unfallwahrscheinlichkeit, wenn wir auf eine Autobahn einbiegen. Wenn aber jemand zwanzig Jahre unfallfrei gefahren ist, wird er sich, obwohl sich statistisch kaum etwas geÇndert hat, sicherer fÜhlen; er hat sich einfach an den Einsatz »gewÙhnt« und denkt nicht mehr an die wenigen Unfallopfer, sondern an die vielen NichtUnfallopfer, zu denen er bisher auch gehÙrt hat. Pascal kann zwar im Sinne der »GewÙhnung« sagen, daß Sie [...] mit jedem Schritt, den Sie auf diesem Wege tun, immer mehr die Gewißheit des Gewinnes und die Nichtigkeit des Einsatzes erkennen. (Ebd.) Im Falle des Glaubens bleiben wir, genau im Sinne Pascals, immer in der Situation der Unsicherheit. Auch ein durch »GewÙhnung« erzielter »Fortschritt« Çndert hÙchstens etwas in Hinsicht auf die Erfahrung des Gewinns fÜr dieses Leben, nichts aber an der Unsicherheit des Gewinns des ewigen Lebens. Die Situation der Wette und die Unsicherheit des Gewinns ist nicht Überschreitbar. Daran lÇßt auch Pascal keinen Zweifel: Wenn man sich nur um Sicheres bem¹hen d¹rfte, d¹rfte man sich nicht um die Religion bem¹hen; denn sie ist nicht sicher. (Ebd. Fragm. 234. S. 127) An dieser Unsicherheit lÇßt sich Überhaupt nichts Çndern und Pascal behauptet nirgends, eine Sicherheit gewonnen zu haben. Allerdings ist auch das Gegenteil nicht sicher: Es ist nicht sicher, daß sie Wahrheit ist; aber wer w¹rde zu sagen wagen, es sei sicher m³glich, daß sie es nicht ist? (Ebd.) Es wÇre aber unvernÜnftig zu sagen, daß man nur dort handeln kÙnne, wo Sicherheit vorliegt. Pascal verweist zu Recht darauf, daß Handeln unter Unsicherheit zu den ganz normalen Dingen des Lebens gehÙrt, daher fÇhrt er fort: Aber wieviele Dinge unternimmt man, die ungewiß sind, Reisen ¹ber See, Schlachten, die man k›mpft. [...] Nun, man handelt vern¹nftig, wenn man f¹r den morgigen Tag und f¹r das Ungewisse arbeitet. (Ebd.) Mit dem eben Gesagten ist auch deutlich geworden, daß es in keiner Weise die Absicht Pascals ist, mit seiner Wette einen Gottesbeweis zu fÜhren. Die Wette ist grundsÇtzlich und strukturell verschieden von allen Gottesbeweisen, sie ist Überhaupt kein

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Blaise Pascal

Beweis. Was »bewiesen« wird ist einzig, daß eine bestimmte Lebensform, die sich aus der DenkmÙglichkeit der Existenz Gottes ergibt, nicht als unvernÜnftig bezeichnet werden kann, und Pascal ist der ¾berzeugung, daß unter den - ganz sicheren - Bedingungen der Endlichkeit der Vernunft auch Überhaupt nicht mehr erforderlich ist. Seine Wette wurde gelegentlich in eine Linie mit Anselm oder Kierkegaard gestellt. Dies ist jedoch nicht haltbar. Die Wette Pascals hat nichts mit Anselms ontologischem Gottesbeweis (vgl. 2. Teil, Kap. VI, 3) zu tun, und es wÇre ein MißverstÇndnis zu sagen, hier wÜrde nur nicht mehr mit einer deduktiven Logik, sondern mit einer Wahrscheinlichkeitslogik die Existenz Gottes bewiesen. Pascals Wette ist kein Gottesbeweis, sondern ein Angebot einer rationalen Handlungsstrategie. Pascal hÇlt auch gar nichts von metaphysischen Gottesbeweisen, wobei er vor allem den von Descartes vor Augen hat: Die metaphysischen Gottesbeweise sind so abseits vom Denken der Menschen und so verwickelt, daß sie wenig ¹berzeugen, und sollten sie wirklich einigen n¹tzen, so werden sie nur so lange n¹tzlich sein als man den Beweis vor Augen hat; eine Stunde danach f¹rchten sie, sich get›uscht zu haben. (Ebd. Fragm. 543. S. 238) 150

Ebenso aber wÇre es ein Fehler, Pascal als »VorlÇufer« von Kierkegaards »Paradox« anzusehen, wo Gott durch einen »Sprung« erreicht werden soll (vgl. Kap. XX, 2). In Pascals Argument ist Überhaupt nichts paradox, und die von Pascal geforderte Entscheidung ist kein »Sprung«, sondern ein rationaler KalkÜl. Dieser rationale KalkÜl wurde z. B. von N. Rescher und W. StegmÜller im Rahmen einer auf WahrscheinlichkeitskalkÜlen beruhenden Entscheidungstheorie »durchgerechnet«, was hier nicht wiedergegeben werden muß. Auf ein spieltheoretisches Problem sei jedoch hingewiesen, da es auf einen von Pascal selbst vorgenommenen Ansatz von Wahrscheinlichkeiten zurÜckgeht. Pascal geht davon aus, daß »die Wahrscheinlichkeit fÜr Gewinn und Verlust gleich groß ist« (Ebd. Fragm. 233. S. 123) und kann daher als Modellspiel den MÜnzwurf verwenden, der eine solche Gleichverteilung der Wahrscheinlichkeiten wiedergibt, also ein VerhÇltnis von 1:1. Diese Wahrscheinlichkeitsverteilung wird vielleicht von einem Zweifler zugegeben werden. MÙglicherweise gehÙrten auch die Adressaten der Pensµes, die zu der Kategorie des honnÞte homme der Pariser zeitgenÙssischen Gesellschaft zÇhlten, tatsÇchlich eher in die Gruppe solcher skeptischen Zweifler in der Art von Montaigne. Jedoch wird ein selbstkritischer Atheist die Wahrscheinlichkeit, daß Gott existiert, als viel geringer einschÇtzen, also etwa mindestens so gering wie die Hoffnung, mit nur einem Lottozettel den Hauptgewinn zu erzielen, und dann ergibt sich ein VerhÇltnis von 1:1000 mit noch vielen nachfolgenden Nullen. Pascal hat aber auch dies berechtigterweise in seinen KalkÜl einbezogen, da er auch den Fall berÜcksichtigt, wo unter einer Unendlichkeit von mÙglichen Spielresultaten nur eines das Richtige ist, dem aber wiederum auch nicht ein endlicher, sondern ein unendlicher Gewinn gegenÜbersteht:

Die Mitte bei unbekannten Außenpunkten

[...] und da das so ist, w¹rden Sie, wenn unter einer Unendlichkeit von F›llen nur ein Gewinn f¹r Sie im Spiel l›ge, noch recht haben [...]. •berall, wo das Unendliche ist und keine unendlich große Wahrscheinlichkeit des Verlustes der des Gewinns gegen¹bersteht, gibt es nichts abzuw›gen, muß man alles bringen. (Ebd. S. 123 f.) Pascals Wette hat zwei fÜr die Philosophie wichtige Punkte ins Licht gerÜckt: (1) Spieltheoretische Modelle kÙnnen fÜr die Entwicklung einer Entscheidungstheorie unter Unsicherheit verwendet werden. (2) Der Gottesglaube gehÙrt, wenn auch als Grenzfall, in eine Klasse ganz »normaler« menschlicher Entscheidungen unter Unsicherheit, wie wir solchen bei der Berufswahl, bei der Entscheidung fÜr eine Reise und bei vielen anderen Gelegenheiten begegnen. - Nur so nebenbei sei bemerkt, daß selbst dann, wenn man die Argumentation der Wette als gÜltig akzeptiert, das Ziel Pascals, durch dieses Argument einen wichtigen Schritt hinsichtlich einer Apologie des Christentums geleistet zu haben, dadurch nicht, jedenfalls nicht ausreichend, erreicht ist: DafÜr, daß der in der Wette vorausgesetzte Gott genau der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist, der sich in Jesus Christus geoffenbart hat und darauf will ja Pascal hinaus -, mÜßten noch ganz andere Argumente geliefert werden. Es kann jemand sehr wohl die Argumentation der Wette akzeptieren und doch der Meinung sein, daß er mit dem Christentum weder in der Üblichen katholischen noch in der jansenistischen Form etwas zu tun haben will. Die Meinung Pascals, daß das katholisch-jansenistische Christentum unwiderstehlich anziehend sei - »Die christliche Religion, durch ihre Stiftung, so stark, so sanft« (Ebd. Fragm. 289. S. 146) -, ist doch einigermaßen diskutabel. 1710 wurde Port Royal, wo 1670 die Pensµes Pascals verÙffentlicht worden waren, zwar stark, aber sehr unsanft von den nicht-jansenistischen Katholiken zerstÙrt.

4. Die Mitte bei unbekannten Außenpunkten Pascals Interesse an der Religion steht in keinem Widerspruch zu seinem Interesse an der Wissenschaft. Seine Auffassung und EinschÇtzung der Wissenschaft ist auch keineswegs »pessimistisch«. Im Bereich der Wissenschaft und besonders im Bereich der Physik ist er der ¾berzeugung, daß gerade zu seiner Zeit, und nicht zuletzt durch seine eigenen Experimente, wesentliche Fortschritte erzielt wurden, und er teilt auch die Zuversicht aller zeitgenÙssischen Wissenschaftler, daß sich dieser Fortschritt auch in Zukunft fortsetzen wird: Das ist der Grund, daß durch ein eigent¹mliches Vorrecht nicht nur der einzelne Mensch in den Wissenschaften von Tag zu Tag vorw›rtskommt, sondern daß alle Menschen gemeinsam in dem Maße, in dem das Weltall ›lter wird, st›ndig fortschreiten. (Abhandlung ¹ber die Leere. In: Die Kunst zu ¹berzeugen. S. 26)

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An dieser Auffassung hielt Pascal immer fest, und er ließ keinen Zweifel daran, daß es mÙglich und sehr wahrscheinlich ist, daß unsere Kenntnisse stÇndig, und, wie er sagt, »leicht zu vermehren« sind (Ebd.). Dies Çndert jedoch nichts daran, daß er gleichzeitig in der EinschÇtzung der MÙglichkeiten und der Reichweite der Vernunft und der Wissenschaft wesentlich selbstkritischer war als viele seiner Zeitgenossen. Diese EinschÇtzung mag zwar auch durch seine Begegnung mit dem Jansenismus motiviert gewesen sein, in ihrer BegrÜndung ist sie nichtsdestoweniger unabhÇngig von diesem Hintergrund. Pascals Beschreibung der Situation des menschlichen Lebens ist nicht spezifisch jansenistisch, sondern kÙnnte ebensogut bei Montaigne stehen:

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Bedenke ich die kurze Dauer meines Lebens, aufgezehrt von der Ewigkeit vorher und nachher; bedenke ich das bißchen Raum, den ich einnehme, und selbst den, den ich sehe, verschlungen von der unendlichen Weite der R›ume, von denen ich nichts weiß und die von mir nichts wissen, dann erschaudere ich und staune, daß ich hier und nicht dort bin; keinen Grund gibt es, weshalb ich gerade hier und nicht dort bin, weshalb jetzt und nicht dann. Wer hat mich hier eingesetzt? Durch wessen Anordnung und Verf¹gung ist mir dieser Ort und diese Stunde bestimmt worden? Memoria hospitis unius diei praetereuntis [Und wie man jemanden vergißt, der nur einen Tag Gast gewesen ist (Weish. Salomons 5, 15)]. (•ber die Religion. Fragm. 205. S. 114 f.) Pascal geht aber nicht nur von der Endlichkeit des menschlichen Lebens aus, sondern auch von der unÜberschreitbaren Endlichkeit der menschlichen Vernunft. Die Anmaßung der Philosophen, die meinen, die Prinzipien von allem erfaßt zu haben oder wenigstens erfassen zu kÙnnen, ist Pascal unertrÇglich. FÜr Buchtitel wie De omni scibili (¾ber alles Wißbare) des Pico della Mirandola oder Principia philosophiae des Descartes hat er nur die Kennzeichnung »protzend« (fastueux) (Ebd. Fragm. 72. S. 45). Weder die Gesamtheit des Wissens noch auch nur die vollstÇndige Grundlage dieses Wissens ist uns verfÜgbar. Selbst in Wissenschaften, bei denen wir selbst mit Definitionen und Axiomen beginnen (wie in der Mathematik) ergibt sich eine Unendlichkeit von Problemen, und dies gilt um so mehr von allen Wissenschaften, bei denen wir die Prinzipien erst durch die Erfahrung aufsuchen mÜssen. Pascal durchschaute, daß hinter dem Üblichen rationalistischen Anspruch der alte Satz vom Menschen als dem Maß der Dinge steht. Dieser Anspruch ist jedoch fÜr ihn nichts anderes als ein Hinweis auf unzureichend selbstkritisches Denken: Weil die Menschen vers›umten ¹ber diese Unendlichkeiten nachzudenken, unterfingen sie sich, die Natur zu erforschen, so als h›tten sie irgendein gemeinsames Maß mit ihr. R›tselhaftes Ding, daß sie in einer Anmaßung, die so unendlich wie ihr Gegenstand ist, die Gr¹nde der Dinge verstehen und dahin gelangen wollten, alles zu

Die Mitte bei unbekannten Außenpunkten

wissen. Denn es ist außer Zweifel, daß man diesen Plan nicht fassen kann ohne eine Anmaßung oder eine F›higkeit, so unendlich wie die Natur. (Ebd. S. 44) Die Menschen verfÜgen aber Über keine unendlichen FÇhigkeiten; nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre Vernunft ist endlich. Und dies gilt nicht nur fÜr den einzelnen Menschen, sondern auch fÜr die Menschheit als ganze. Die Leistung Pascals besteht darin, den Rationalismus bis zu Ende gedacht und seine Grenzen begriffen zu haben, ihn aber deshalb nicht schon verworfen, sondern kritisch weitergedacht zu haben. Pascal kannte den Skeptizismus genauso gut wie Descartes. Aber er versuchte nicht, ihn mit einem Gewaltakt der Vernunft zu Überwinden, sondern blieb innerhalb der Grenzen der endlichen Vernunft, rationalistisch, skeptisch, aber nochmals kritisch skeptisch gegenÜber dem Skeptizismus: Es ist m³glich, daß es wahre Beweise gibt, aber es ist nicht gewiß. Also beweist das zum Ruhme des Skeptizismus nichts, als daß es nicht gewiß ist, daß alles ungewiß sei. (Ebd. Fragm. 387. S. 179) Pascal begreift das menschliche Leben wie die Wissenschaft nach dem Modell eines Spiels, dessen Ausgangsbedingungen der Mensch nur teilweise kennt, die ihm nicht verfÜgbar sind und dessen Ende ungewiß ist: Was also wird er tun, wenn er nichts anderes erkennt als irgendeinen [korr. F. S.] Anschein von der Mitte der Dinge, weil er weder ihren Grund noch ihr Ende erkennt? (Ebd. Fragm. 72. S. 43 f.) Mitten in diesem Spiel kann der Mensch einige ZÜge tun: genau dazu braucht er einen KalkÜl von Wahrscheinlichkeiten. Ein Beispiel, wie dann nach pascalschen Vorstellungen unsere wissenschaftliche TÇtigkeit aufzufassen wÇre: Wir sehen einigen ZÜgen in einem Spiel zu, dessen Regeln wir aber nicht im voraus kennen, und nehmen aufgrund dessen an, einige Regeln erkannt zu haben. Von manchen Regeln wissen wir aber vielleicht gar nichts, weil sie bisher nicht verwendet worden sind. Auch wissen wir nicht, wie es zu der aktuellen Situation des Spiels gekommen ist, bei der wir unsere Beobachtungen begonnen haben. In dieser Situation kÙnnen wir aufgrund der Regeln, die wir beobachtet haben, dann auch selbst einige ZÜge tun, den Ausgang des Spieles aber kennen wir ebensowenig wie den Beginn. Wir kÙnnen hÙchstens, auch wieder nach einem WahrscheinlichkeitskalkÜl, die Gewinnchancen fÜr dieses Spiel zu berechnen suchen. - Ein Beispiel fÜr das praktische Leben: Wir treten in ein (teilweises) GlÜcksspiel ein, wir kÙnnen die VernÜnftigkeit unseres Einsatzes prÜfen, wir kÙnnen auch selbst einige WÜrfe mit einem WÜrfel tÇtigen, und vor Ende des GlÜcksspiels kÙnnen wir den mÙglichen Gewinn oder Verlust berechnen. Es ist eine fÜr Pascal charakteristische Vorstellung, daß sich der

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Mensch, und so auch seine Vernunft, in der Mitte befindet; in einer Mitte, deren Grenzwerte ihm nicht vorstellbar sind: Das ist unsere wirkliche Lage. Sie ist es, die uns unf›hig macht, etwas gewiß zu wissen und restlos ohne Wissen zu sein. Auf einer unermeßlichen Mitte treiben wir dahin, immer im Ungewissen und treibend und von einem Ende gegen das andere gestoßen. An welchen Grenzpfahl immer wir uns binden und halten m³chten, jeder schwankt und entschwindet, und wenn wir ihm folgen, entschl¹pft er unserm Griff und entgleitet uns und flieht in einer Flucht ohne Ende. (Ebd. S. 46 f.)

- VII -

Baruch de Spinoza

1. Die Niederlande: Liberalit›t in Grenzen WÇhrend mit einem gewissen Recht von einer »cartesianischen Periode« in Frankreich gesprochen werden kann, wÇre es vÙllig verfehlt, von einer »spinozistischen Periode« im Holland des 17. Jhd.s zu sprechen. Eine Beziehung der Philosophie Baruch de Spinozas (1632–1677) zum Holland seiner Zeit lÇßt sich sowohl in seinen religionsphilosophisch-politischen als auch in seinen metaphysischen Schriften nur auf eine sehr indirekte Weise feststellen. Spinozas Familie war jÜdischen Ursprungs und stammte aus Portugal, das damals noch nicht unabhÇngig von Spanien war. In Spanien und Portugal waren zahlreiche Juden seit dem 13. Jhd. wegen des wachsenden politischen Drucks offiziell zum katholischen Glauben Übergetreten - sie wurden »Marranen« genannt -, ohne dem innerlich wirklich zu folgen, was natÜrlich auch den AutoritÇten nicht unbekannt war. Seit dem 15. Jhd. kam es zu regelrechten Verfolgungen durch die Inquisition und zu Ketzerverbrennungen. Am Ende des 15. Jhd.s wurden die Juden aus Spanien vertrieben und flohen in alle Teile der Welt bis in die heutigen Vereinigten Staaten von Amerika, besonders aber in die Niederlande, da dort grÙßere Religionsfreiheit herrschte. In der Familie Spinozas wurde Portugiesisch gesprochen, die ihm gelÇufige Schriftsprache war allerdings das Spanische. HebrÇisch lernte Spinoza erst spÇter. In den Niederlanden konnten die Marranen das ihnen aufgezwungene Christentum wieder ablegen. Die Juden durften hier zwar, geduldet, ihren GeschÇften nachgehen und ihre Religion ausÜben, es war ihnen jedoch nicht mÙglich, Ùffentliche ’mter zu Übernehmen. Immerhin aber entstand in Amsterdam die erste freie und nicht in einem Ghetto lebende jÜdische Gemeinde im neuzeitlichen Europa. Diese Gemeinde war offen und hatte auch Kontakte mit Christen, und es gab sogar wissenschaftliche Zusammenarbeit bei Text-Editionen aus der jÜdischen Tradition. Einige Christen lernten bei den Juden HebrÇisch und besuchten deren Gottesdienste in den Synagogen. Umgekehrt gab es Juden, die Latein lernten und bei den Christen ein und aus gingen. Wenn also Spinoza spÇter eine »geistige Heimat« bei den Kollegianten, einer freichristlichen Laienbewegung, fand, so war dies nichts unbedingt AuffÇlliges, und als er dort mit einem Arzt in Kontakt trat, in dessen privater Schule er Latein lernte, so war auch dies nicht ungewÙhnlich. Nicht wenige gebildete Juden aus Spanien und Portugal hatten an

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christlichen UniversitÇten studiert - sogar Theologie -, beherrschten das Lateinische und schrieben ihre Werke auf Latein. Die jÜdischen Gemeinden hatten allerdings mit großen inneren Problemen zu kÇmpfen. In Spanien war es den Marranen selbstverstÇndlich seit mehr als hundert Jahren gÇnzlich unmÙglich gewesen, irgendeine Form von jÜdischem Glaubenszusammenhalt zu bewahren, und entsprechend schwierig war es fÜr die Gemeinden, nach dieser Unterbrechung wieder eine IdentitÇt zu finden. Und somit fanden sich alle Formen des spÇtmittelalterlichen Judentums in niederlÇndischen jÜdischen Gemeinden wieder: orthodoxer Talmudismus, Kabbala und letzte Vertreter jÜdischer mittelalterlicher Religionsphilosophie (vgl. 2. Teil, Kap. X). Letztere vertraten aber nicht schon automatisch eher liberalere Auffassungen, zu unterschÇtzen ist aber auch diese Gruppe nicht. Der wichtigste Vertreter dieser Philosophen war Isaac Orobio de Castro (1617–1687), ein ausdrÜcklicher Gegner der liberal-aufklÇrerischen Auffassungen des Juan de Prado (um 1612 – nach 1660), der eine ziemlich rationalistisch konzipierte Verteidigung des Judentums vorlegte. Der einzige gemeinsame Nenner in dieser sehr heterogenen jÜdischen Gemeinde Amsterdams waren bestimmte Çußere Lebensformen, die aber ohne adÇquate Interpretation nur einen ziemlich brÜchigen Zusammenhalt boten. Dieser aber war fÜr die Gemeinde Überlebenswichtig und mußte verteidigt werden. VerstÙße dagegen wurden mit Ausschluß sanktioniert. Spinoza war nicht der einzige, der in diesen Jahren aus der jÜdischen Gemeinde ausgestoßen wurde. Vermutlich war es die Tatsache, daß er in jungen Jahren diese ihm unbegrÜndet erscheinenden Çußeren Formen ablehnte, was 1656 zu dem vor allem von Seiten der Talmud-Lehrer betriebenen Ausschluß aus der Gemeinde fÜhrte. Der Ausschluß selbst war aber nur ein Ereignis ganz am Rande der Gemeinde und fand dort kaum Beachtung. Die Philosophiehistoriker ÜberschÇtzen hÇufig die Bedeutung dieses Ausschlusses. Daß es sich schon zu diesem Zeitpunkt bei Spinoza um irgendwelche »Abweichungen« von theoretischen Auffassungen des orthodoxen Judentums gehandelt haben kÙnnte, ist eher zu bezweifeln. Solche »Abweichungen« wurden aber von anderen bereits vertreten. Um 1650 scheinen in der jÜdischen Gemeinde in Amsterdam radikale Auffassungen sowohl in rationalistischer als auch in mystischer (zu diesen vgl. weiter unten 4) Richtung aufgetreten zu sein. Ein Vertreter dieser rationalistischen Auffassungen war der schon erwÇhnte Juan de Prado, den Spinoza auch persÙnlich kannte. Dieser war ein spanischer Arzt, der in Alcalƒ auch katholische Theologie (!) studiert hatte und Thesen vertrat wie die, daß es außer der natÜrlichen Überhaupt keine Offenbarung gebe und alle Religionen einzig moralischen Zielen dienten. Wie zu erwarten, wurde er aus der Gemeinde ausgeschlossen. Auch Christen vertraten Thesen, die fÜr die Juden relevant waren. So sagt z. B. Isaac La Peyrre (genauere Lebensdaten sind nicht bekannt), ein zu dieser Zeit zeitweilig in Amsterdam lebender liberaler Christ, daß die fÜnf BÜcher Mose gar nicht von Moses verfaßt worden sind. Genau dies vertrat auch Spinoza im Kap. VIII des Tractatus gleich in der ¾berschrift (S. 279). Peyrres Schrift Die Menschen vor Adam erschien 1655, sie war »allen Juden

Die Niederlande: LiberalitÇt in Grenzen

und allen Synagogen« gewidmet (Spinoza besaß ein Exemplar davon und verwendete manches daraus in seinem Tractatus), erregte aber auch bei vielen Christen Aufsehen und Ablehnung. All diesen Liberalen und AufklÇrern war in irgendeiner Form die Auffassung gemeinsam, daß es eine wahre Religion gebe, die vor allen einzelnen Offenbarungsreligionen liegt bzw. die all diesen maßgebend zugrundeliegt. Der Gedanke, auf eine ursprÜngliche Religion vor allen partikulÇren »Offenbarungen« zurÜckzugehen, war auch politisch im Sinne der Relativierung der verschiedenen Offenbarungsreligionen gedacht, was zu grÙßerer Toleranz fÜhren sollte. Auch Spinoza selbst setzte sich in seinem Tractatus theologico-politicus fÜr Toleranz ein, die ¾berschrift von Kap. XX lautet entsprechend: Es wird gezeigt, daß es in einem freien Staate jedem erlaubt ist, zu denken, was er will, und zu sagen, was er denkt. (Ebd. S. 601) Wie wenig Spinoza jedoch der Gesellschaft seiner Zeit in Hinsicht auf Toleranz zutraute, lÇßt sich daraus ersehen, daß er diese Schrift anonym und unter Angabe eines vorgetÇuschten Verlagsorts erscheinen ließ, und sein Hauptwerk, die Ethica ordine geometrico demonstrata, gab er zu Lebzeiten Überhaupt nicht in Druck. Es wurde erst 1677 verÙffentlicht, war aber schon vorher in Abschriften einigen Freunden bekannt. Dennoch muß gesagt werden, daß Toleranz nicht ein inneres Moment der Philosophie Spinozas war. Er selbst blieb in seinem Denken geprÇgt von einem Absolutheitsanspruch, der letztlich nur im Offenbarungsanspruch biblisch-jÜdischer Tradition seine formale Parallele hat. Zu seiner Zeit wurde er allerdings nicht unter diesem Aspekt gesehen, er galt nach der VerÙffentlichung des Tractatus vielen eher als Atheist und damit nach damaliger Auffassung als jemand, der die Grundlagen von Moral und Staat bedroht. Spinoza fand zwar GÙnner, vor allem in dem Republikaner Jan de Witt (1625–1672), der nach dem Sturz des Statthalters aus dem Haus der Oranier die Politik Hollands bestimmte. Als aber die UnabhÇngigkeitspolitik de Witts scheiterte und ihm die Schuld dafÜr zugeschrieben wurde, wurde er vom Volk umgebracht, und die Oranier Übernahmen wieder die Herrschaft. Die Gedankenfreiheit wurde darauf auch in Holland weitgehend eingeschr›nkt, woran auch die kalvinistischen Theologen hÙchst interessiert waren. 1674 verboten die niederlÇndischen BehÙrden den Tractatus Spinozas, wobei sich der Tractatus in guter Gesellschaft befand, da dem Leviathan von Hobbes das gleiche Geschick widerfuhr. - Die Philosophie Spinozas wurde zu keinem Zeitpunkt zu einem kulturellen Faktor, sie blieb so isoliert wie Spinoza selbst - eine Isolation, die nicht die »bewußt gewÇhlte Freiheit des unabhÇngigen Denkers« ist, sondern mit gleichem Recht als die Konsequenz eines Denkens angesehen werden kann, das durch einen großen RealitÇtsverlust gekennzeichnet ist. Die RealitÇt Hollands zur Zeit Spinozas wies dabei durchaus ZÜge auf, die einer kritischen philosophischen Analyse bedurft hÇtten. Die NiederlÇnder hatten sich in einem mutigen und sehr verlustreichen Kampf gegen den spanischen Absolutismus zur

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Wehr gesetzt, und es war ihnen gelungen, die UnabhÇngigkeit zu erlangen. Die HÇrte, die dieses kleine Volk im »idealistischen« Freiheitskampf bewiesen hatte, diente nun rasch auch dazu, sich unbarmherzig der Auseinandersetzung um materielle ¾berlegenheit zu widmen, wobei die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen des Lebens, die fÜr Holland und seine BevÙlkerung galten, in keiner Weise auch fÜr jene anerkannt wurden, die nun unter den Einfluß der hollÇndischen Handelsmacht gerieten. »Selbstsicherheit« und »Selbstgewißheit« prÇgten das Bewußtsein der HollÇnder (und in diesem Sinne war Spinoza durchaus HollÇnder seiner Zeit, auch wenn er fÜr sich selbst materielle GenÜgsamkeit als Ziel ansah, ein Standpunkt, der von seinen hollÇndischen Zeitgenossen keineswegs geteilt wurde). Kritisches Denken durfte nicht aufkommen, ließ doch der Kampf um die materielle Vormachtstellung keinen Raum fÜr Zweifel, schon gar nicht fÜr moralische. So erfanden die HollÇnder damals das (bis heute praktizierte) Mittel, Waren, mitunter ganze Schiffsladungen, zu vernichten, um die Preise kÜnstlich hochzuhalten. Die HollÇnder verteidigten den freien Handel nur, um ihre Monopolprodukte, GewÜrze, Tee, Tonpfeifen, Heringe usw. preisgesichert absetzen zu kÙnnen. Sie besaßen eine Handelsflotte, die grÙßer war als die aller Übrigen LÇnder zusammen. So konnten sie sich leicht die These des eigentlichen BegrÜnders des VÙlkerrechts, Hugo Grotius (1583–1655), leisten, welche besagt, das Meer sei grundsÇtzlich nicht wie Landbesitz aufzufassen, sondern gehÙre allen; und ebenso die sehr schÙne These, die Entdekkung von LÇndern bedeute nicht das Recht auf deren Besitz, denn die HollÇnder grÜndeten vor allem Handelsniederlassungen und nur in AusnahmefÇllen Kolonien. Die eigentliche Philosophie der HollÇnder des 17. Jhd.s war die ¾berzeugung, Philosophie Überhaupt nicht zu brauchen - die eigentlichen und realen Werte waren die BÙrsenwerte. Dabei waren die HollÇnder sehr zivilisierte Leute, aber wahrscheinlich auch die ersten, die das Material fÜr die Frage bereitstellten, ob »Kultur« dasselbe sei wie »Zivilisation«. Daß Wissenschaft Nutzen bringen soll und auch bringt, wie es Bacon gefordert hatte, war unbestritten, und diese Einsicht kam auch den hollÇndischen UniversitÇten zugute, vor allem der von Leiden, die einen berechtigt guten Ruf besaß. Cartesianische Philosophie wurde dort schon frÜh aufgenommen. Naturwissenschaft, Sprach- und Rechtswissenschaft wurden auf hohem Niveau und mit guter Bezahlung betrieben. Die Wissenschaft und Philosophie Newtons nahm ihren Weg auf den Kontinent zu einem guten Teil Über Holland. Mit Christiaan Huygens (1629–1695) kam aus Holland einer der bedeutendsten Mathematiker und Wissenschaftler seiner Zeit, der allerdings hauptsÇchlich in Paris arbeitete und auch dort nicht an der UniversitÇt, sondern in der von Ludwig XIV. bezahlten Pariser Acadµmie Royale des Sciences. Der Buchhandel und die Buchproduktion hatten in Holland ihr Zentrum (vgl. den Verleger Elzevier und seine Dynastie), das Analphabetentum war in den Niederlanden auf ein sonst in Europa nirgends erreichtes Maß gesunken. Der hollÇndische BÜrger war gebildet, er konnte lesen, schreiben - vor allem aber rechnen. Dies nÜtzte auch der Politik. Jan de Witt, der etwa zwanzig Jahre lang die

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Politik der Niederlande bestimmte, war ein ganz vorzÜglicher Mathematiker und der erste Politiker, der die Berechnung der Pensionen mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf der Grundlage von Statistiken der durchschnittlichen Lebensdauer der NiederlÇnder durchfÜhrte. Um zu wissen, was die HollÇnder vom Leben erwarteten, braucht man nur die Bilder von Pieter Paul Rubens (1577–1640) - der auch politisch-diplomatisch fÜr die UnabhÇngigkeit der Niederlande tÇtig, aber außerdem ein Überzeugter Vertreter der Monarchie war - anzusehen: Aus ihnen spricht die unmittelbare Freude an materiellem Wohlbefinden und ein unangefochten gutes Gewissen. Sie alle feierten den Sieg des hollÇndischen Handels und den Genuß, den dieser Sieg seinen BÜrgern gewÇhrte. Bei anderen, weniger begabten Malern entsprachen die Sujets einfach den WÜnschen und Vorlieben der durch den Handel reich gewordenen Auftraggeber: Schiffe, Pferde, Blumen, Tafelgeschirr, Genußartikel. So war Kunst selbst weithin zum Gebrauchsgegenstand, zum Dekorationsartikel des wohlausgestatteten Heims oder Palastes geworden. Eine Ausnahme bildete Rembrandt (1609–1669), der aber dann in Armut gestorben ist. Auch Jan Vermeer (1632–1675) produzierte keine solche Gebrauchskunst, aber er war als KunsthÇndler eingetragen, und es wurde vermutet, daß er eigentlich nur fÜr sich und eine kleine Kennerelite malte, außerhalb der Üblichen Auftraggeber-Maler-Beziehung, und daß er seine Bilder auch gar nicht auf den normalen Kunstmarkt brachte. Der Gebrauchskunst war jeder Ansatz von Kritik oder auch nur von Zweifel fern, sie diente allein der stÇndigen SelbstbestÇtigung des wohlhabenden BÜrgers. Zweifel war ungesund, Selbstsicherheit ein Zeichen von Gesundheit; schon Symbolik hatte keinen Platz und galt als ÜberflÜssig, weil sie auf »Anderes« verwies. Spinoza kannte dieses BÜrgertum Hollands: Seine Familie war mit dem Importhandel von getrockneten FrÜchten und NÜssen beschÇftigt, und auch Spinoza war, jedenfalls bis zum Ausschluß aus der jÜdischen Gemeinde, in diesem GeschÇft tÇtig. Spinoza stammte aus der Amsterdamer jÜdischen Gemeinde der eingewanderten Marranen. Was ist aus dieser Gemeinde im 17. Jhd. geworden? Am Ende des Jahrhunderts waren ihre Mitglieder eher NiederlÇnder als ehemalige Marranen. Und damit endete auch das vielschichtige geistige Klima, aus dem Spinoza hervorgegangen war. Die Gemeinde hatte ihre innere Sicherheit gewonnen, ihre »Gewißheit«, ihre wirtschaftliche Position war nicht mehr gefÇhrdet. Sie wurde philosophisch desinteressiert, und auch der kabbalistische Enthusiasmus verschwand. 1715 wurden zahlreiche wertvolle Manuskripte aus dieser Tradition in Den Haag einfach versteigert, man brauchte sie nicht mehr. Das Erbe der »abweichlerischen« Gedanken aus der jÜdischen Gemeinde von Amsterdam ging, soweit brauchbar, auf die Philosophen der AufklÇrung Über, die aber im Übrigen keinerlei Sympathien fÜr die jÜdische Kultur entwickelten. Das Verschwinden dieser Amsterdamer jÜdischen Kultur hat auch verhindert, daß dieser wichtige Hintergrund der Philosophie Spinozas entsprechend wahrgenommen wurde.

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2. Die Gewißheit und die absolute Methode

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In einem sehr formalen Sinne war Spinoza, worauf schon hingewiesen wurde, mit seiner Umwelt in ¾bereinstimmung: Er suchte Gewißheit (lat. certitudo). Dieser Begriff der certitudo weist ebenso wie der deutsche Begriff »Gewißheit« eine durchgÇngige Zweideutigkeit auf, die auch schon z. B. im Lexicon philosophicum des Goclenius von 1613 ausdrÜcklich deutlich gemacht worden war: »Gewißheit« kann entweder im subjektiven Sinne als unerschÜtterliches ¾berzeugtsein (certitudo assensus = Gewißheit als zweifelsfreies Bejahen) aufgefaßt werden, oder sie kann im objektiven Sinne als Kennzeichnung von als wahr erkannten SÇtzen (certitudo rei cognitae) interpretiert werden (Ritter: Historisches WÙrterbuch der Philosophie. III. S. 592). Im ersten Sinne sagen wir »ich bin (mir) gewiß« oder »ich bin sicher, daß ...«; im zweiten Sinne sagen wir »es ist gewiß, daß ...«. - Es ist klar, daß die HollÇnder der Zeit Spinozas fÜr gewÙhnlich unerschÜtterlich davon Überzeugt waren, im Recht zu sein; sie waren also zunÇchst subjektiv gewiß, dann jedoch - aufgrund des Erfolgs ihrer Aktionen - mit SelbstverstÇndlichkeit Überzeugt, daß sie objektiv Gewisses aussagten. Bei Spinoza handelte es sich aber nicht nur um die BegrÜndung einer gesellschaftlich weit verbreiteten Selbstsicherheit, fÜr ihn ging es auch darum, die unbedingte Gewißheit, welche die jÜdische Gemeinde von ihrem gottgegebenen Gesetz zu haben meinte und die Spinoza verloren gegangen war, auf einem neuen Weg wiederzugewinnen. Die hÙchste Gewißheit, welche die Philosophie und Wissenschaft seiner Zeit zu bieten hatte, war in der Mathematik zu finden und in einer Wissenschaft, die unmittelbar Mathematik anwandte: in der Optik. Spinoza beschÇftigte sich daher mit diesen beiden Bereichen. Wenn die ¾berlieferung berichtet, daß er sich als Linsenschleifer betÇtigte, so hat dies vermutlich mehr mit seinen wissenschaftlichen Interessen zu tun als mit seinem Lebensunterhalt. Er lebte extrem bescheiden und erhielt von Freunden gelegentliche UnterstÜtzung. Eine Einladung, eine Professur an der UniversitÇt Heidelberg anzunehmen, lehnte er ab. Spinoza versuchte, sein System aus der Einheit von subjektiver und objektiver Gewißheit heraus zu entwickeln. Dies ist ein Ansatz, der fÜr die meisten von uns VerstÇndnisschwierigkeiten hervorruft, die, sachlich bedingt, auch bei der Behandlung des Deutschen Idealismus wieder auftreten werden. Nicht umsonst wurde Spinoza von den Philosophen des Deutschen Idealismus »wiederentdeckt«. Diese VerstÇndnisschwierigkeiten Çußern sich vor allem darin, daß man an diese Denkform nicht »von außen« herangehen kann, um sie zu verstehen und zu ÜberprÜfen, sondern zum Verstehen immer schon gefordert und vorausgesetzt wird, daß man sich »darin« befindet. Wir - jedenfalls idealistisch unbegabte Leute wie ich - kÙnnen also im Grunde diese Theorie nicht erklÇren, sondern nur versuchen, sie umschreibend etwas besser zu verstehen. Der professionelle Rationalist stellt fest, daß Spinoza gar nicht wirklich Rationalist war und daß seine Auffassungen umso unverstÇndlicher erscheinen, je mehr man tatsÇchlich in Formen des mos geometricus

Die Gewißheit und die absolute Methode

denkt. Nehmen wir folgende ganz zentrale Aussage aus der Abhandlung Über die Berichtigung des Verstandes (Tractatus de intellectu emendatione) von 1677: Denn um zu wissen, daß ich weiß, muß ich notwendig vorher wissen. Daraus ergibt sich, daß die Gewißheit nichts als die objektive Wesenheit selbst ist, d. h. die Art, wie wir die formale Wesenheit empfinden, ist die Gewißheit selbst. Daraus ergibt sich wieder, daß es zur Gewißheit der Wahrheit keines anderen Kennzeichens bedarf, als daß man die wahre Vorstellung habe: denn, wie wir zeigen, ist es nicht n³tig, zu wissen, daß ich weiß, ich wisse. (Ebd. S. 27) Wir hÙren hier, »daß die Gewißheit nichts als die objektive Wesenheit selbst ist« und meinen daher zunÇchst, es mit einer Theorie objektiver Gewißheit zu tun zu haben. Gleich darauf hÙren wir jedoch, daß diese objektive Wesenheit die Art ist, wie wir die formale Wesenheit empfinden (sentimus). SpÇtestens hier kommt uns der Verdacht, daß Spinoza »objektiv« vielleicht ganz anders versteht als wir. Gerechterweise muß man feststellen, daß Spinoza dies vorher selbst gesagt hat: Peter z. B. ist etwas Wirkliches; die wahre Vorstellung aber von Peter ist die objektive Wesenheit von Peter und in sich etwas Wirkliches und v³llig verschieden von Peter selbst. Da also die Vorstellung des Peter etwas Wirkliches ist, was seine eigent¹mliche Wesenheit hat, so wird sie auch etwas Erkennbares sein, d. h. der Gegenstand einer anderen Vorstellung, welche Vorstellung objektiv Alles das in sich begreifen wird, was die Vorstellung des Peter formal hat. (Ebd. S. 25 und 27) Die ObjektivitÇt, von der Spinoza hier spricht, ist also eine verstandesimmanente ObjektivitÇt, es ist die ObjektivitÇt der Vorstellung, des vorgestellten Gegenstandes. Damit ist fÜr den normalen Leser gesagt, daß das, was er mit »subjektiv« und »objektiv« meint, eben vorphilosophisch ist, was ihm allerdings bei seiner Suche nach VerstÇndnis nicht viel weiterhilft. Der Leser versteht jedoch, daß er nun nicht mehr erwarten kann, »Methode« hier in dem Sinne vorzufinden, wie er es von Galilei oder Pascal her gewohnt ist, denn die Methode Spinozas kann sich nur auf Vorstellungen beziehen, was bei der Geometrie verstÇndlich wÇre, bei »Peter« aber weniger. Dies wÇre eine brauchbare Methode nur fÜr einen Verstand, der »Peter« so hervorbringen kÙnnte wie die Vorstellung eines Dreiecks. Und tatsÇchlich will Spinoza auf dies hinaus. Normalerweise, also außerhalb der Philosophie Spinozas, suchen wir nach Kennzeichen und Kriterien fÜr die Wahrheit von Aussagen, Spinoza braucht dies nicht und kann es nicht brauchen: Da also die Wahrheit keines Kennzeichens bedarf, sondern es hinreicht, die objektive Wesenheit der Dinge oder, was dasselbe ist, die Vorstellung zu haben, um allem Zweifel ein Ende zu machen, so folgt daraus, daß es nicht die wahre Methode ist, das

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Kennzeichen der Wahrheit nach der Erlangung der Vorstellungen zu suchen, sondern daß die wahre Methode der Weg ist, die Wahrheit selbst oder die objektiven Wesenheiten der Dinge, oder die Vorstellungen (was Alles dasselbe bedeutet) in geh³riger Ordnung zu suchen. (Ebd. S. 27 und 29) Die Wahrheit liegt also nicht in Aussagen Über Vorstellungen, sondern muß bereits in diesen Vorstellungen selbst vorhanden sein; daher sagt Spinoza auch, daß die Wahrheit »sich selbst offenbart« (Ebd. S. 33). Bereits hier kann wohl zu Recht vermutet werden, daß das Modell, das hinter dieser Auffassung steht, das der revelatio, der Offenbarung, also des Sich-Selbst-Zeigens der gÙttlichen Wahrheit ist. Wir erkennen dann alles in Gott, und entsprechend muß die Erkenntnis Gottes ganz am Anfang stehen. Eine sich derart offenbarende Wahrheit ist so ÜberwÇltigend, daß sie Gewißheit hervorruft in einem Sinne, der »subjektiv« und »objektiv« in einem umfaßt. Daher ist es verstÇndlich, daß Spinoza sagt:

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Nachdem wir diese Methode kennen gelernt haben, sahen wir, daß diese Methode die vollkommenste sein werde, sobald wir die Vorstellung des vollkommensten Wesens haben w¹rden. Daher wird man von Anfang an vor Allem darauf zu achten haben, daß wir sobald als m³glich zur Erkenntnis eines solchen Wesens gelangen. (Ebd. S. 35) Die Methode ist also eine absolute, weil sie durch die Erkenntnis des Absoluten gewonnen wird und folglich: [...] jene Methode wird die vollkommenste sein, welche nach der Richtschnur der gegebenen Vorstellung des vollkommensten Wesens zeigt, wie der Geist zu leiten sei. (Ebd. S. 29) Um die Autonomie des erkennenden Geistes zu wahren - er darf nicht von etwas außerhalb seiner selbst bestimmt sein -, muß Spinoza annehmen, daß diese Vorstellung des vollkommensten Wesens mit dem Geist selber gegeben ist, was in traditioneller Terminologie heißt, daß sie angeboren sein muß. Auch Descartes hatte schließlich Gott dafÜr gebraucht, um die letzte Garantie seines absoluten Wahrheitsanspruchs zu erhalten. Spinoza ist hier jedoch noch konsequenter: Er leitet »Wahrheit« wie auch »Methode« direkt von der Vorstellung des vollkommensten Wesens ab, von jener Vorstellung also, an und in der sich die Wahrheit selbst vollkommen zeigt; um die wahre Methode zu kennen, muß ich somit nur auf diese Vorstellung und ihre Beschaffenheit reflektieren. Der Schritt zu der Behauptung, der denkende Geist sei selbst Teil des vollkommensten Wesens, insoweit er diese vollkommenste Vorstellung hat (Ebd. S. 57), liegt dann nahe. Hier taucht natÜrlich das interpretierende Stichwort »Pantheismus« auf. Da es uns an dieser Stelle vor allem auf die

Definition und Beweis

Methode und die Argumentationsformen ankommt, brauchen wir die Frage, wie Spinoza das VerhÇltnis des menschlichen individuellen Geistes zu diesem »vollkommensten Wesen« nÇher interpretiert, nicht weiter zu verfolgen. Hier kam es lediglich darauf an zu zeigen, daß Spinozas Methodenauffassung schon vom ersten Ansatz her absolute Erkenntnis des Absoluten und vollkommenste Vorstellung der vollkommensten Vorstellung ist, genau das auch sein will und das auch von vornherein klarstellt. Diese Vorstellung von Gott muß vÙllig klar und adÇquat sein, und so gelangt Spinoza zu der Feststellung: Wenn wir aber eine solche Kenntnis von Gott haben, wie vom Dreieck, dann ist aller Zweifel gehoben. (Ebd. S. 61) Und wer von Gott keine solche Kenntnis wie vom Dreieck hat, der kann auch nicht Spinozist sein, denn ihm bleiben da eben doch einige Zweifel.

3. Definition und Beweis Spinoza ist der Philosoph, der durch das Stichwort des mos geometricus mehr bekannt geworden ist als irgendein anderer. Der mos geometricus, nach dem seine Ethik aufgebaut ist, entspricht aber nicht wirklich dem logischen Aufbau etwa der Elementa Euklids oder der Principia mathematica Newtons, auch wenn Spinoza von definitio, also von »Definition«, von propositio, also etwa »These« oder »Lehrsatz«, und demonstratio, also »Beweis«, spricht. Wir sehen hier sofort den unÜberbrÜckbaren Unterschied zu einem Methodenbegriff und einer Argumentationslehre, wie sie etwa Pascal vorgelegt hatte. Pascal war es klar gewesen, daß auch unsere strengsten Argumentationsformen wie jene der Mathematik von Begriffen und Axiomen ausgehen, die wir nicht nochmals beweisen kÙnnen: Die vollkommene Methode ist uns nicht verfÜgbar. Spinoza hingegen geht davon aus, daß uns die vollkommenste Methode verfÜgbar ist. Bei Pascal liegt eine strenge Analyse des mos geometricus vor, die zur Aufdeckung der Grenzen der mathematischen Methode fÜhrt; Spinoza wendet diese Methode im Grunde gar nicht an, sondern benutzt den mos geometricus nur - ausgehend von einer ganz anderen, nÇmlich formal offenbarungstheologischen Vorstellung - in einem recht Çußerlichen, eigentlich nur metaphorischen Sinne. FÜr das VerstÇndnis des Textes kann man daher meist einfach von der These zum Scholium Übergehen. Was jedoch durch den Anspruch eines mos geometricus gleich von Anfang an deutlich werden soll, ist folgendes: Es handelt sich bei dem ganzen System um ein rein apriorisches, d. h. eines, in dem alles aus Begriffen abgeleitet werden soll. Faktisch ist bei Spinoza dann auch wirklich alles schon durch diese Definitionen der Grundbegriffe gegeben, so z. B. bei »Ursache«, »Substanz«, »Gott«, »Ewigkeit« (Ethik I, Def. 1, 3, 6, 8. S. 87 und 89).

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Als formale Grundelemente seiner Ethik mit geometrischer Methode begrÜndet (1677) sieht Spinoza Definitionen und Axiome an, gelegentlich auch Postulate. Definitionen und Axiome als formale Grundelemente der Methode anzunehmen, ist natÜrlich vollkommen korrekt, was aber versteht Spinoza unter Definition? Er sagt: Um eine Definition vollkommen nennen zu k³nnen, muß sie das innerste Wesen einer Sache ausdr¹cken und verh¹ten, daß wir an dessen Stelle nicht gewisse Eigenschaften nehmen. (Abhandlung ¹ber die Berichtigung des Verstandes. S. 71)

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Mit dieser Forderung nach »Wesensdefinitionen« fÇllt Spinoza hinter den Diskussionsstand des Nominalismus und der modernen Wissenschaft zurÜck, ohne sich mit ihm auch nur auseinanderzusetzen. In der Mathematik sprach man Überhaupt nicht von einem »Wesen« ihrer GegenstÇnde; wenn in ihr GegenstÇnde definiert wurden, geschah dies durch Angabe der Eigenschaften des Gegenstandes. Der im gleichen Jahr wie Spinoza geborene Locke widmete den sogenannten »Wesensdefinitionen« eine ausfÜhrliche Kritik, wobei er sich im klaren darÜber war, hier nichts grundsÇtzlich Neues zu sagen (vgl. Kap. IX, 2). Und Newton sagt uns in der Naturphilosophie, daß wir zwar Vorstellungen von Eigenschaften der Dinge haben, daß wir aber keineswegs erkennen, was das eigentliche Wesen irgendeines Dings ist (Newton: Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie. Scholium generale. ¾bers. v. E. Dellian. Hamburg 1988. S. 229). Die spinozistische These, daß »die Eigenschaften der Dinge nicht erkannt werden, solange man ihre Wesenheit nicht kennt« (Spinoza: Abhandlung Über die Berichtigung des Verstandes. S. 73), hÇtte nicht einmal ein Philosoph der Hochscholastik vertreten. Spinoza konnte diese Forderung wiederum nur aufgrund seines absoluten Wahrheitsbegriffs aufstellen, mit dem er annahm, man kÙnne klare und bestimmte Vorstellungen des Wesens der Dinge aus dem reinen Denken gewinnen (Ebd. S. 69). Er meinte, damit die Gesamtheit der Wirklichkeit, also auch die der Natur, bestimmen zu kÙnnen. Hier begegnen wir dem Systemgedanken: ZunÇchst soll alles auf Eines zurÜckgefÜhrt werden, um dann von dort aus alles zu deduzieren: Sodann, damit alle Ideen auf eine einzige zur¹ckgef¹hrt werden, werden wir versuchen, sie dergestalt zu verketten und zu ordnen, daß unser Geist, so weit es geschehen kann, objektiv die Formalit›t der Natur, sowohl in ihrer Ganzheit als in ihren Teilen, darstelle. (Ebd.) Oder ganz Çhnlich: Ferner ergibt sich aus dem Letztgesagten, daß n›mlich eine Vorstellung durchaus mit ihrer formalen Wesenheit ¹bereinstimmen m¹sse, wiederum, daß unser Geist, um durchaus das Abbild der Natur zu sein, alle seine Vorstellungen aus jener Vorstellung

Definition und Beweis

herleiten muß, die den Ursprung und die Quelle der ganzen Natur bildet, damit diese Vorstellung auch selbst die Quelle der ¹brigen Vorstellungen sei. (Ebd. S. 31) Es ist klar, daß der Deutsche Idealismus gerade an solche ’ußerungen wird anknÜpfen kÙnnen. Problematisch ist hier bei Spinoza der Begriff von »Natur«, denn dieser konnte wiederum nur im Kopf von Spinoza eine klare und bestimmte Vorstellung haben. Bedeutende Zeitgenossen wie Huygens versuchten die Eigenschaften natÜrlicher Dinge mÙglichst genau in Theorien zu fassen, aber eben solche Eigenschaften, die nicht aus reinen Denkkonstruktionen stammten. Schon Galilei hatte deutlich zwischen Definitionen unterschieden, die man erfinden kann und die dann aber beliebig sind, und solchen, die man in Aussagen Über die Natur verwendet. Und auch Pascal war klar, daß uns keine Definition von »Vakuum« und keine VernunftÜberlegung etwas darÜber sagen kann, ob es ein Vakuum gibt, sondern daß hier nur Experimente weiterhelfen kÙnnen. Spinoza braucht also als Ausgangspunkt eine apriorische Erkenntnis Gottes. Wie wir aus der Geschichte der Philosophie wissen, gibt es fÜr einen solchen Beweis nur einen einzigen Kandidaten: den sogenannten ontologischen Gottesbeweis Anselms von Canterbury (vgl. 2. Teil, Kap. VI, 3), und einen solchen finden wir daher auch bei Spinoza: 11. Lehrsatz. Gott oder die aus unendlichen Attributen bestehende Substanz, von denen ein jedes ewige und unendliche Wesenheit ausdr¹ckt, ist notwendig da. Beweis. Verneint man dies, so nehme man, wenn es geschehen kann, an, daß Gott nicht da sei. Also (nach Axiom 7) schließt sein Wesen sein Dasein nicht ein. Nun ist dies (nach L. 7) widersinnig, folglich ist Gott notwendig da. Was zu beweisen war. (Ethik I. S. 99) Zum VerstÇndnis des Beweises benÙtigen wir also Axiom 7 und Lehrsatz 7. Das Axiom 7 lautet: Was als nicht daseiend begriffen werden kann, dessen Wesen schließt das Dasein nicht ein. (Ebd. S. 89) Schon dieses Axiom nimmt sehr viel vorweg: In der Tradition waren die kontingenten Dinge als solche definiert worden, deren Wesen das Dasein nicht einschließt. Bei Spinoza wird diese Definition axiomatisch fÜr das gesetzt, was nicht daseiend ist, und damit wird gleich einmal vorausgesetzt, daß alles, was ist, notwendig ist, was dann auch tatsÇchlich ein zentraler Punkt des spinozistischen Systems ist. - Der Lehrsatz 7 lautet:

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Zur Natur der Substanz geh³rt das Dasein. Beweis. Die Substanz kann nicht von etwas Anderem hervorgebracht werden [...] und ist daher Ursache ihrer selbst, d. h. (nach Def. 1) ihr Wesen schließt notwendig das Dasein in sich, oder zu ihrer Natur geh³rt das Dasein. Was zu beweisen war. (Ebd. S. 93) Durch den Verweis auf Lehrsatz 7 wird also der Einschluß der Existenz in das Wesen einfach vom Begriff Gottes auf den der Substanz verschoben. Und nun wird der Lehrsatz 7 durch die Definition 1 »bewiesen«. Die Definition 1 aber lautet: Unter Ursache seiner selbst (causa sui) verstehe ich das, dessen Wesen das Dasein in sich schließt, oder das, dessen Natur nicht anders als daseiend begriffen werden kann. (Ebd. S. 87)

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Das Ergebnis ist klar: Spinoza beweist Überhaupt nichts, alles, was »bewiesen« wird, ist schon in den Definitionen und Axiomen vorausgesetzt, und wo diese eigentlich herkommen, bleibt unklar. O. Schwemmer hat dieses Verfahren Spinozas treffend als »zirkulÇre Selbstanwendung seines aprioristischen Rationalismus« bezeichnet (Enzyklop›die Philosophie und Wissenschaftstheorie 4. S. 42). Hat Spinoza einmal die Existenz Gottes »bewiesen«, so ergibt sich das weitere ohne große Schwierigkeit: 14. Lehrsatz. Außer Gott kann es keine Substanz geben und l›ßt sich keine begreifen. (Ethik I. S. 105) 15. Lehrsatz. Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein oder begriffen werden. (Ebd. S. 107) 16. Lehrsatz. Aus der Notwendigkeit der g³ttlichen Natur muß Unendliches auf unendliche Weise (d. h. Alles, was Gegenstand des unendlichen Verstandes sein kann) folgen. (Ebd. S. 115) 29. Lehrsatz. Es gibt in der Natur nichts Zuf›lliges, sondern Alles ist aus der Notwendigkeit der g³ttlichen Natur bestimmt, auf gewisse Weise da zu sein und zu wirken. (Ebd. S. 131) 33. Lehrsatz. Die Dinge haben auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung von Gott hervorgebracht werden k³nnen, als sie hervorgebracht worden sind. (Ebd. S. 137) Im Prinzip gelangt Spinoza hier zu dem, was auch schon Giordano Bruno gesagt hatte (vgl. Kap. II, 2). Am Schluß des 5. Teils der Ethik - ich Übergehe hier die gesamte Affektenlehre Spinozas - fordert Spinoza zu einer intellektuellen Gottesliebe auf (amor intellectualis):

Spinoza und die jÜdische Philosophie des Mittelalters

Die verstandesm›ßige Liebe des Geistes zu Gott ist Gottes Liebe selbst, womit Gott sich selbst liebt, nicht sofern er unendlich ist, sondern sofern er durch die unter der Form der Ewigkeit betrachtete Wesenheit des menschlichen Geistes erkl›rt werden kann, d. h. die verstandesm›ßige Liebe des Geistes zu Gott ist ein Teil der unendlichen Liebe, mit der Gott sich selbst liebt. (Ebd. V. 35. Lehrsatz. S. 545 u. 547)

4. Spinoza und die j¹dische Philosophie des Mittelalters Die Philosophie Spinozas wirkte auf seine Zeitgenossen befremdlich – und sie wirkt auf viele heute noch genauso. Hier begann jemand mit der Gotteserkenntnis und hÙrte mit der Gottesliebe auf. Dies war ein Programm, das vielleicht in der Philosophie bis ins 13. Jhd. hinein vertreten werden konnte, das aber im wissenschaftsorientierten 17. Jhd. wie ein FremdkÙrper wirken mußte. Die meisten HollÇnder seiner Zeit beschÇftigten sich mit anderen Dingen, und die traditionellen Christen sahen in Spinoza - da ja nur der Tractatus verÙffentlicht war - einen Atheisten. Aber auch die wenigen, denen Abschriften der Ethica zugÇnglich waren, zeigten sich befremdet. Spinoza sprach zwar von Gott, aber der Gott, von dem Spinoza sprach, war nicht der, den die Christen zu kennen meinten: Dieser Gott handelte nicht frei, sondern nach einer Art Naturgesetzlichkeit (deus sive natura), es gab daher auch nichts wie z. B. eine Vorsehung. Es stellte sich also die Frage nach der PersÙnlichkeit Gottes. Man sah in Spinoza so zwar keinen Atheisten, wohl aber einen Pantheisten. Es bleibt die Frage, wie und warum Spinoza zu dieser befremdlichen Philosophie gelangte. Es ist in der Geschichtsschreibung der Philosophie Üblich geworden zu sagen, Spinoza stamme zwar aus der jÜdischen Gemeinde, seine Philosophie gehÙre aber ganz in den Zusammenhang der neuzeitlichen Philosophie. So einfach ist aber der Sachverhalt doch wahrscheinlich nicht. Spinoza kannte die Bibel (auch das Neue Testament) sehr gut und stellte im Tractatus theologico-politicus unter Beweis, daß er sich mit der hebrÇischen Sprache sehr intensiv auseinandergesetzt hatte und auch Fragen der Phonetik, der Syntax und Semantik des HebrÇischen behandeln konnte (vgl. z. B. Ebd. VII. S. 251–257). Spinoza verfaßte auch eine Grammatik des HebrÇischen. Er hatte HebrÇisch bereits in der jÜdischen Gemeindeschule gelernt, sich aber auch spÇter damit beschÇftigt, und seine Kenntnisse gingen Über das hinaus, was ein SchÜler normalerweise davon erlernte. Die eigentliche Talmud-Schule konnte er nicht besuchen, da sein Stiefbruder gestorben war, und er in der Handelsfirma seines Vaters mitarbeiten mußte. Nach dem Tode seines Vaters (1654) mußte er das GeschÇft Übernehmen. Da er in den Jahren unmittelbar nach seinem Schulabgang aber noch nicht in Konflikt mit seiner Gemeinde stand, hatte er Gelegenheit, die Bibliothek der Talmud-Schule zu benutzen, und dort befanden sich neben den Talmud-Kommentaren auch Schriften der jÜdischen Religionsphilosophie des Mittelalters und der Renaissance. Aus den Schriften Spinozas geht hervor, daß er eine gute

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Kenntnis der Schriften des Maimonides, Gersonides und Crescas (vgl. 2. Teil, Kap. X, 2, h, k und l) besaß. Die jÜdische Religionsphilosophie war von der Auffassung ausgegangen, daß Philosophie und Religion Übereinstimmen mÜssen und eigentlich nur ein und dasselbe sagen, es lag dort also eine ausdrÜcklich rationalistische Grundausrichtung vor (vgl. 2. Teil. Kap. X, 1). Seit Maimonides waren mit dieser Grundposition zunehmende Schwierigkeiten verbunden, und schließlich mußte das Scheitern dieses Versuchs eingesehen werden. Spinoza geht davon aus und zieht einen Schlußstrich. Das Programm des Maimonides wird von Spinoza grundsÇtzlich abgelehnt. Damit werden die mÜhsamen exegetischen Unternehmungen von Maimonides und anderen, auf irgendeine Weise philosophische Erkenntnisse in die Bibel hineinzudeuten und WidersprÜche mit solchen wegzudeuten, hinfÇllig. Spinoza kann eine Auslegung der Bibel nach Prinzipien fordern, die in die Vorgeschichte der historisch-kritischen Methode gehÙren. Damit ist er auf der HÙhe der Exegese, wie sie seit Lefvre d’Etaples und Erasmus von Rotterdam gefordert wurde, er geht aber in seiner Kritik durchaus auch Über diese hinaus. Damit kÙnnte also eigentlich das Problem erledigt sein, so wie Spinoza es in der ¾berschrift des 15. Kapitels des Tractatus sagt: 168

Es wird gezeigt, daß weder die Theologie der Vernunft, noch die Vernunft der Theologie dienstbar ist. (Ebd. S. 445) Damit wÇre eine klare Trennungslinie gezogen, und Spinoza kÙnnte eigentlich zu einer Philosophie Übergehen, wie sie in seinem Jahrhundert ein Descartes, ein Hobbes, ein Leibniz oder ein Newton betrieb. Aber genau dies ist bei Spinoza eben nicht der Fall: FÜr ihn bleibt weiterhin Gott das eigentlich einzige Thema der Philosophie, und die fÜr alle die Genannten wichtigen wissenschaftlichen Bewegungen ihrer Zeit bleiben seinem Denken Çußerlich und werden nur terminologisch Übernommen. Was er liefert ist ein System, das, wie schon gesagt, befremdlich offenbarungstheologisch wirkte. Vielleicht gibt uns Leibniz einen wichtigen Hinweis: In der Theodizee sagt er von Spinoza, daß dieser »in die Kabbala der Schriftsteller seiner Nation tief eingedrungen« ist, und er verweist dabei ausdrÜcklich auf die SephirÖth (vgl. dazu 2. Teil, Kap. X, 3): Bei den hebr›ischen Kabbalisten bedeutet Malcuth oder das Reich, die letzte der Sephiroth, daß Gott ganz unwiderstehlich, doch sanft und ohne Zwang regiert, und zwar so, daß der Mensch seinem eigenen Willen zu folgen glaubte, w›hrend er den g³ttlichen Willen vollzieht. [...] Diese Lehre kann einen guten Sinn erhalten. Aber Spinoza [...] hat die Dinge auf die Spitze getrieben. (Theodizee, 3. Teil. N. 372. S. 357) Leibniz war auch selbst an der Kabbala durchaus interessiert, und der Verweis auf diese ist offensichtlich nicht mit einer negativen Wertung versehen. Hat Leibniz, der

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einen guten Blick fÜr solche ZusammenhÇnge hatte, sich das nur ausgedacht, oder hatte er dafÜr Anhaltspunkte? Spinoza stellte Die Ethik mit geometrischer Methode begrÜndet um 1675 fertig, und dieses Werk war Freunden auch in Abschriften bekannt. Zu diesen gehÙrte auch der Mathematiker Ehrenfried Walter von Tschirnhaus (1651–1708), der Spinoza auch persÙnlich getroffen hatte, und Tschirnhaus wiederum stand in Kontakt mit Leibniz. Leibniz hatte also eine gewisse Kenntnis der Ethik. 1676, also nach Fertigstellung der Ethik und ein Jahr vor dem Tod Spinozas, traf Leibniz in Den Haag mit Spinoza persÙnlich zusammen und hatte Gelegenheit zu ausfÜhrlichen GesprÇchen. Dabei ist zu berÜcksichtigen, daß Spinoza zu diesem Zeitpunkt schon eine, allerdings auch »berÜchtigte« BerÜhmtheit war, Leibniz hingegen ein Nachwuchswissenschaftler auf Bildungsreise. Eines der GesprÇchsthemen zwischen Spinoza und Leibniz war das sogenannte ontologische Argument (vgl. dazu 2. Teil, Kap. VI, 3), das Leibniz in Spinozas Form nicht Überzeugte, was er Spinoza dann auch kurz darauf schriftlich mitteilte (vgl. Leibniz: SÇmtliche Schriften und Briefe. Philosophischer Briefwechsel. I. N. 131. S. 271–273). Ein Jahr spÇter berichtete Leibniz dem Mathematiker Jean Gallois (gest. 1707) von seinen Begegnungen mit Spinoza (je luy ay parlµ plusieurs fois et fort long temps), dessen Metaphysik er »befremdlich« (µtrange) fand und voller Paradoxien (pleine de paradoxes). Leibniz stellte auch fest, daß verschiedene angebliche Beweise Spinozas nicht korrekt sind, gestand aber auch zu, daß dabei auch viele sehr schÙn (tres belles) sind (Ebd. N. 158. S. 379 f.). Von den ausfÜhrlichen GesprÇchen mit Spinoza berichtete Leibniz nur sehr wenig wie er ja Überhaupt die Bedeutung der Philosophie Spinozas fÜr seine eigene eher nicht hervorheben wollte. Hat Leibniz bei seinen GesprÇchen mit Spinoza etwas Über den kabbalistischen Hintergrund der Ethik erfahren? Wir haben dafÜr keinen Nachweis. Aber unabhÇngig davon, ob Leibniz hier auf seine GesprÇche mit Spinoza zurÜckgreifen konnte oder ob er sich den Zusammenhang selbst hergestellt hat, scheint mir der Hinweis, den er in der Theodizee gibt, nicht nur richtig, sondern auch die einzige MÙglichkeit zu sein, der Ethik eine »vernÜnftige« ErklÇrung zu geben: Sie ist Kabbala in cartesianischer Terminologie (zur Kabbala vgl. 2. Teil, Kap. X, 3). Welche Form der Kabbala Spinoza verwendet hat, ist vielleicht eine sekundÇre Frage. Es wÇre jedenfalls verwunderlich, wenn ein intellektuell interessierter Jude seiner Zeit sich nicht mit irgendwelchen kabbalistischen Schriften befaßt hÇtte. In der jÜdischen Gemeinde von Amsterdam war ein AnhÇnger der Kabbala, Isaac Aboab de Fonseca (1605–1693) tÇtig. In Amsterdam entstand auch die sehr bedeutende spekulative Interpretation der Kabbala des Abraham Cohen Herrera (gest. 1635) Puerto del Cielo, ein Werk, das 1677 ins Lateinische Übersetzt wurde und u.a. auch Newton und Leibniz beeinflußte. Spinoza kannte dieses Werk und vermutlich geht einiges in seiner Ethik darauf zurÜck. Seit 1654 gab es in Amsterdam sogar eine von Menasseh ben Israel gegrÜndete eigene Schule zum Studium jÜdischer Mystik. Sein Buch Die Hoffnung Israels, in dem Endzeiterwartungen und messianische Hoffnungen zum Ausdruck gebracht werden, war weit verbreitet und wurde in mehrere Sprachen Über-

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setzt. Nicht zu vergessen ist auch, daß zu dieser Zeit ein selbsternannter (allerdings manisch depressiver) Messias namens Sabbatai Zwi (1626–1676), der aus der kabbalistischen Tradition kam, eine richtige Bewegung, den sogenannten Sabbatianismus, hervorgerufen hatte, die sich Über ganz Europa verbreitete (und die bis ins 19. Jhd. hinein AnhÇnger fand). Spinozas Philosophie hat mit dieser Form der Kabbala nichts zu tun, diese Bewegung zeigt aber, daß kabbalistisches Denken auch in den niederlÇndischen jÜdischen Gemeinden viel GehÙr fand. Von manchen wurde eine BeschÇftigung Spinozas mit Schriften des auch aus Portugal stammenden Leone Ebro (Jehuda Abranavel, 1460–1521) vermutet, dessen Dialoghi d’Amore - ursprÜnglich italienisch geschrieben, dann aber auch ins FranzÙsische, Lateinische und HebrÇische Übersetzt - ein in ganz Europa und weit Über die jÜdischen Gemeinden hinaus bekanntes und verbreitetes Werk war. In diesem wird die kabbalistische These, daß man nur lieben kann, was man erkennt, klar vertreten. Die Wege der ¾bermittlung sind sicher kaum klar zu ermitteln. Gedanken von Leone Ebro sind bei Giordano Bruno zu finden und Gedanken von Bruno bei Spinoza. Sachlich kommen aber auch andere Formen der Kabbala in Frage. Bei Jakob Cordovero (1522–1570) findet sich die These, daß Gott und die existierenden Dinge in Wirklichkeit nur eine Substanz sind, was eine ganz zentrale These auch des spinozistischen Systems ist (vgl. G. Scholem, 1980. S. 277. Scholem verweist ebd. auf Spinoza). Daß in der Amsterdamer jÜdischen Gemeinde zahlreiche kabbalistische Texte vorhanden waren, zeigt auch die Tatsache, daß Knorr von Rosenroth (gest. 1689) dort jene Manuskripte erwarb, die er dann 1677/1684 in lateinischer ¾bersetzung als Kabbala Denudata herausgab (ein Werk, das auch Leibniz gut bekannt war). In die spekulativen Formen der Kabbala waren die verschiedenen Systeme des Neuplatonismus der jÜdischen Religionsphilosophie eingegangen. In all diesen Systemen bestand das Hauptproblem immer darin, die pantheistischen Konsequenzen des Neuplatonismus irgendwie zu umgehen und die dort angelegte Aufhebung der Freiheit nicht zur Geltung kommen zu lassen (vgl. 2. Teil, Kap. X, 2, e). Da Spinoza diese »Hemmungen«, die sich aus der Forderung der ¾bereinstimmung mit biblischen Grundvoraussetzungen ergeben hatten, nicht mehr hinderten, ergab sich der Pantheismus und die Aufhebung der »normalen« Vorstellung von der Freiheit von selbst. In den neuplatonischen Systemen war es immer ein Problem gewesen, den Hervorgang der Materie aus dem Einen zu erklÇren. Ibn Gabirol hatte bereits versucht, die Materie in irgendeiner Weise aus dem Wesen Gottes hervorgehen zu lassen (Ebd. Kap. X, 2, c). Bei Spinoza wird dieses Problem, nun allerdings in cartesianischer Terminologie aufgenommen. Bei Descartes gibt es den Dualismus von denkenden und ausgedehnten Dingen (res extensa/res cogitans, vgl. weiter oben Kap. V, 4), bei Spinoza werden die res extensa und die res cogitans einfach zu Attributen Gottes (Ethica I, 14. Lehrsatz, 2. Folgesatz. S. 107). Auch der Ursprung des ¾bels und des BÙsen war fÜr die neuplatonische jÜdische Religionsphilosophie ein großes Problem gewesen, und die Kabbala hatte versucht, auch fÜr diese Frage eine Antwort bereits im Wesen

Spinoza und die jÜdische Philosophie des Mittelalters

Gottes zu finden (vgl. 2. Teil, Kap. X, 3), bei Spinoza stellt das BÙse nur eine inadÇquate Vorstellung dar (Ethica IV, 64. Lehrsatz. S. 475). Die neuplatonische jÜdische Religionsphilosophie hatte von der Emanation der Formen aus Gott bzw. dem Einen gesprochen, diese Redeweise ist aber zur Zeit der wissenschaftlichen AufklÇrung des 17. Jhd.s nicht mehr mÙglich. Bei Spinoza wird dieser Hervorgang nach dem Modell notwendiger logisch-mathematischer und naturgesetzlicher ZusammenhÇnge gedeutet. Auch der Intellektualismus der jÜdischen Religionsphilosophie, der von der jÜdischen Religion her immer problematisch gewesen war, kann bei Spinoza ungebrochen erhalten bleiben. Der Schlußstein der Philosophie Spinozas ist zwar die Liebe zu Gott, aber eben eine »intellektuelle« Liebe. Faßt man das spinozistische System als die mechanistische Deutung eines neuplatonisch-kabbalistischen Schemas auf, so bleibt es »befremdlich« wie vorher, aber es wird wenigstens erklÇrlich, warum es befremdlich wirkt. Es war nicht, wie manche Interpreten meinen, der Zeit »voraus«, eher gilt das Umgekehrte: JÜdische Religionsphilosophie - nun unabhÇngig von biblischen »Schranken« - in der Sprache des wissenschaftlichen Weltbildes des 17. Jhd.s auszudrÜcken, war keine Frage der Zeit Spinozas. Bei der Darstellung der jÜdischen Philosophie des Mittelalters ist gesagt worden, daß, als die rationalistischen Versuche eines Nachweises der ¾bereinstimmung von Bibel und Philosophie an eine deutlich sichtbare Grenze gelangt waren und Philosophie und Religion somit getrennte Wege gingen, in der jÜdischen Gemeinde die Antwort auf dieses Scheitern auf der einen Seite im Talmud, auf der anderen in der Kabbala gesucht wurde (2. Teil, Kap. X, 3). Die Analyse Spinozas stimmt in sachlicher Hinsicht damit Überein, wenn er sagt, daß die Vernunft das »Reich der Wahrheit und Weisheit«, die Theologie aber das »Reich der FrÙmmigkeit und des Gehorsams« behaupten muß (Tractatus XV. S. 455). Gehorsam steht fÜr den Talmud, FrÙmmigkeit fÜr die Kabbala. Wenn die vorausgegangene von Leibniz nahegelegte Interpretation zutrifft, so wÇre Spinoza allerdings letztlich doch wieder den Weg gegangen, das Reich der Vernunft-Wahrheit vom Reich der FrÙmmigkeit her aufzubauen. Im Tractatus, in dem er die Trennung der Bereiche vornimmt, geht er davon aus, daß »die Liebe Gottes das hÙchste GlÜck des Menschen ist« (Ebd. IV. S. 139), was als das Ziel der FrÙmmigkeit in der jÜdischen Religionsphilosophie angesehen wurde, und genau zu diesem Ziel will Spinoza dann in der Ethik hinfÜhren. Grundintention und Ziel der traditionellen jÜdischen Religionsphilosophie bleiben also bei Spinoza erhalten. In den Jahrzehnten nach Spinozas Tod fand seine Philosophie kaum AnhÇnger. Von Seiten christlicher Philosophen und von AufklÇrern wie Pierre Bayle wurden seine Auffassungen scharf abgelehnt. Breit diskutiert wurde Spinoza erst wieder am Ende des 18. Jhd.s im sogenannten Pantheismusstreit, also bei Moses Mendelssohn, Friedrich Heinrich Jacobi u.a. Ein etwas jÜngerer Freund und Zeitgenosse Mendelssohns, Salomon Maimon (1753–1800), der sich aus Verehrung fÜr Maimonides »Maimon« nannte, beschÇftigte sich intensiv mit Spinoza, und auch er vermutete, daß

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sich dessen Philosophie aus der Kabbala heraus entwickelt hat. Maimon wiederum hatte einen bedeutenden Einfluß auf die Philosophen des Deutschen Idealismus, besonders auf Fichte. Die Philosophie Maimons wurde aber auch der Ausgangspunkt, von dem aus osteuropÇische jÜdische Intellektuelle einen Ausweg aus dem intellektuellen Ghetto suchten, Spinozas Ethik wurde ins HebrÇische Übersetzt und erhielt so etwa die Funktion, die frÜher einmal der FÜhrer der UnschlÜssigen des Maimonides gehabt hatte oder jedenfalls haben sollte. So wurde der Ausschluß Spinozas aus der jÜdischen Gemeinde faktisch rÜckgÇngig gemacht und Spinoza wurde zu einem ReprÇsentanten jÜdisch-religonsphilosophischer AufklÇrung. Das hÇtte er sicher entschieden zurÜckgewiesen, es trifft aber eben doch vermutlich genau den Sachgehalt seiner Philosophie. Wichtig wurde die Auseinandersetzung mit Spinozas Lehre, wenn auch aus ganz anderen GrÜnden, fÜr die Romantiker. So meinten Lessing, Herder und Goethe, daß sie Spinozisten seien, wobei es jedoch weniger um das ging, was Spinoza genau gesagt hatte, sondern eher um ein GefÜhl der universellen Einheit von Natur, Mensch und Gott. ’hnliches gilt auch fÜr die Verwendung Spinozas im Deutschen Idealismus, wie sie dann vor allem durch Fichte in Gang gesetzt wurde. Dort ging es allerdings schon deutlicher um das, was auch Spinoza versucht hatte, nÇmlich die Welt aus einem Wissen vom Absoluten abzuleiten. Ist die weiter oben versuchte Einordnung der Philosophie Spinozas zutreffend, so ergibt dies einen wichtigen Hinweis fÜr das VerstÇndnis des Deutschen Idealismus.

- VIII -

Thomas Hobbes

1. Der verschiedene Ausgangspunkt Auf den ersten Blick kÙnnte man meinen, daß wir mit der Philosophie von Thomas Hobbes (1588–1679) die Gegenposition zum Rationalismus, also den Empirismus, vor uns hÇtten. Dies kÙnnte sich auch dadurch nahelegen, daß Hobbes in den Jahren zwischen 1622 und 1626 in persÙnlichem Kontakt zu Bacon stand, der als Vertreter einer empirischen Wissenschaft gelten kann. TatsÇchlich fand eine Auseinandersetzung zwischen Hobbes und Descartes, also dem Exponenten des Rationalismus, statt, die in diese Richtung weisen kÙnnte. Hobbes schrieb als Einwand zu den Meditationes des Descartes: Sicherlich h›ngt die Kenntnis des Satzes »ich existiere« von der ab »ich denke«, wie Descartes selbst es uns richtig gelehrt hat. Aber woher haben wir die Kenntnis des »ich denke«? Sicher doch von nichts anderem, als davon, daß wir keine T›tigkeit, sei sie welche sie wolle, ohne ein zugeh³riges Subjekt uns vorstellen k³nnen, wie etwa das Tanzen ohne einen Tanzenden, das Wissen ohne einen Wissenden, das Denken ohne einen Denkenden. Mir scheint nun gerade hieraus zu folgen, daß das denkende Ding etwas K³rperliches sei; denn die Subjekte aller T›tigkeiten sind, wie es scheint, allein unter dem Begriff von etwas K³rperlichem oder Materiellem zu denken. [...] Es folgt aber nicht, daß ich nur vermittelst eines besonderen Denkens denken kann. Denn wenn man auch daran denken kann, gedacht zu haben (was indessen bloße Erinnerung ist), so ist auf alle F›lle ein Denken des Denkens ebenso wie ein Wissen des Wissens unm³glich. Es w¹rde dies zu einer unendlichen Reihe von Fragen f¹hren: woher weißt du, daß du weißt, daß du weißt, daß du weißt? - Da also die Kenntnis des Satzes »ich existiere« von der Kenntnis des anderen »ich denke« abh›ngt und wir in diesem das Denken von einer denkenden Materie nicht trennen k³nnen, scheint die Annahme, daß die denkende Substanz materiell sei, berechtigter zu sein, als die andere, daß sie immateriell sei. (Vom K³rper. Anhang. S. 165. Vgl. Descartes: Meditationen. Hamburg 1972. Dritte Einw›nde. S. 157) Bei dieser Diskussion ist es ganz deutlich, daß bei Descartes’ Vorstellung von »Denkendes« das »immateriell« ebenso schon enthalten ist wie bei Hobbes das »mate-

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riell«. Der »Schluß« vom »Denken« zum »immateriellen Denkenden« wie auch der vom »Denken« zum »materiellen Denkenden« lÇßt sich durch keine Logik und keine Wissenschaft begrÜnden, da der »Schluß in Wirklichkeit nur expliziert, was im jeweiligen Begriff von »Denken« schon enthalten ist oder vorausgesetzt wird. Es handelt sich in diesem Punkt um philosophische Grundbegriffe, die undefiniert sind; ihr Sinn wird dann zwar durch die Theorien verdeutlicht, welche jedoch nicht nochmals in einer Übergeordneten Theorie diskutiert werden kÙnnen. Man kann solche Grundvoraussetzungen dann mit verschiedenen Namen benennen: »Grundoption«, »Weltanschauung«, »philosophischer Glaube, »philosophisches Paradigma« usw., an der Sache Çndert sich nicht sehr viel. Es ist aber entscheidend, bei gegebener Gelegenheit darauf hinzuweisen, um auch die Grenzen philosophischer RationalitÇt, die ja keineswegs mit dem Rationalismus zusammenfallen, zu begreifen. Es wird sich jedoch gleich im folgenden Punkt zeigen, daß die Philosophie von Hobbes nicht einfach als »empiristische« Gegenposition zu Descartes verstanden werden kann. Wir finden bei Hobbes einerseits ganz ausgeprÇgt rationalistische Grundpositionen vertreten, andererseits ist aber das VerstÇndnis von »Vernunft« bei Hobbes von dem eines Descartes grundsÇtzlich verschieden. Letztlich ist auch der Gegensatz Rationalismus-Empirismus fÜr Hobbes auch nicht unbedingt erhellend. Es geht bei ihm nicht einfach um die fÜr den Rationalismus und Empirismus kennzeichnende Fragestellung des VerhÇltnisses von Theorie und Erfahrung, sondern um eine ErklÇrung der Bedingungen des Entstehens von Begriffen und Aussagen, also um eine genetische Erkl›rung von Erkenntnis. Diese Fragestellung geht aber Über die des »klassischen« Empirismus, aber auch des »klassischen« Rationalismus hinaus. In das Übliche Schulschema lÇßt sich Hobbes deshalb auch kaum einordnen. Das war auch Hobbes ziemlich klar. Es ist daher verstÇndlich, daß er, obwohl er den auch an den UniversitÇten Englands wie Frankreichs vorherrschenden Nominalismus einfach Übernahm, doch den Eindruck hatte, daß die offiziellen Philosophien der UniversitÇten ihm weder eine brauchbare Hilfe leisten konnten, noch auch einen ernst zu nehmenden Gegner darstellten. Entsprechend nahm Hobbes eine bewußte Distanz zu den UniversitÇten seiner Zeit ein, womit er sich aber wiederum mit der Mehrzahl der Philosophen seines Jahrhunderts traf.

2. Philosophie als Rechnen Hobbes gibt - was unter Philosophen selten ist - eine Begriffsbestimmung von »Philosophie«: Philosophie ist die rationelle Erkenntnis der Wirkungen oder Erscheinungen aus ihren bekannten Ursachen oder erzeugenden Gr¹nden und umgekehrt der m³glichen erzeugenden Gr¹nde aus den bekannten Wirkungen. (Vom K³rper I, 1, 2. S. 6)

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An dieser Bestimmung wird sofort deutlich, daß hier die Wissenschaft das Paradigma der Philosophie liefert: Der Zusammenhang von Ursache und Wirkung ist die entscheidende Frage aller wissenschaftlichen ErklÇrung. Hobbes faßt wie alle Philosophen und Wissenschaftler des 17. Jhd.s Wissenschaft und Philosophie in eins. Philosophie hat daher wie Wissenschaft Erscheinungen kausal zu erklÇren. Entscheidend ist dann, was mit »rationeller Erkenntnis« gemeint ist. Die Antwort von Hobbes ist kurz und prÇzise (rationalistisch): Unter rationeller Erkenntnis [...] verstehe ich Berechnung. (Ebd.) Damit sind wir wieder bei der Modellfunktion, welche die mathematische Methode bei allen Philosophen des 17. Jhd.s ausgeÜbt hat. Hobbes hat sich wiederholt lÇngere Zeit in Frankreich aufgehalten und war dabei u.a. auf die Elemente Euklids gestoßen, und die Methode der Mathematik, der er hier begegnete, wurde entscheidend fÜr seine Auffassung von Philosophie und Wissenschaft. In Paris begegnete er auch Descartes, Mersenne und Roberval, die ihn in seiner EinschÇtzung der mathematischen Methode bestÇrkten. Er trat auch in Kontakt zu Gassendi, dessen Auffassungen ihn wiederum in seinen »materialistischen« Vorstellungen bestÇrkten. Bei einer Reise nach Italien traf er mit Galilei zusammen. Die Legende erzÇhlt, daß Galilei ihn auf den Gedanken brachte, die Methode der modernen Physik auch auf die Theorie des Rechts und des Staates anzuwenden. Wie immer sich dies historisch verhalten mag, faktisch versuchte Hobbes diese ¾bertragung tatsÇchlich. Es wÇre jedoch verfehlt, alle anderen Teile der Hobbeschen Philosophie nur als Einleitung zur Staatstheorie aufzufassen, wie es in manchen modernen Interpretationen geschieht. Hobbes wollte ein System der gesamten Philosophie entwerfen, und nur innerhalb dieses Systems sollte die Staatslehre ihren Platz haben. Hobbes war der ¾berzeugung, daß es eine einheitliche Methode f¹r Mathematik, Physik, Rechts- und Staatslehre gibt und fÜr alle diese gilt: Philosophie ist ein Rechnen mit Begriffen: Berechnen heißt entweder die Summe von zusammengef¹gten Dingen finden oder den Rest erkennen, wenn eins vom andern abgezogen wird. Also ist rationelle Erkenntnis dasselbe wie Addieren und Subtrahieren. (Ebd.) Bei diesem Rechnen mit Begriffen geht es jedoch nicht um Begriffe des reinen Denkens, sondern um solche, die aus einer Anschauung hervorgehen. Das Beispiel, das Hobbes dafÜr bringt, ist typisch fÜr seinen Ausgangspunkt: Er rekonstruiert das Entstehen von Vorstellungen und Begriffen: Je nÇher mir ein Gegenstand kommt, um so mehr Eigenschaften erkenne ich (= Addition), und so ergeben sich z. B. »KÙrper«, dann »belebt«, schließlich »vernÜnftig«, und diese Begriffe kÙnnen dann zum Begriff »Mensch« zusammengefÜgt werden (Ebd. I, 1, 3. S. 7). Kommt mir der Gegenstand noch nÇher, so kann ich unterscheiden, ob ihm der Name »Peter«

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zukommt oder ob er ein » Nicht-Peter« ist (Ebd. I, 2, 15. S. 23). All dies ist vollstÇndig nominalistisch gedacht. Ich erkenne dabei nicht das Wesen eines Gegenstandes, sondern ich ordne ihm nur Eigenschaften zu. Von diesen Eigenschaften kann ich eine Summe bilden, die aber eben nicht mehr als die Summe der Eigenschaften ist und nur kÜrzer ausgedrÜckt wird. Entsprechend erkenne ich, je ferner mir ein Gegenstand rÜckt, um so weniger Eigenschaften (= Subtraktion). Der Ausgangspunkt sind die PhÇnomene, d. h. die Erfahrungsgegebenheiten. Die Aufgabe der Philosophie ist es dann, die einfachsten Elemente bzw. Kategorien der Erfahrung aufzufinden. Als Beispiel kÙnnen wir den Begriff »Raum« nehmen: Gehen wir von der Erfahrungsgegebenheit irgendeines Dings aus und nehmen wir von ihr alle besonderen Eigenschaften weg (Subtraktion), so bleibt nur Übrig, daß die Anschauung uns etwas in etwas außerhalb von uns darstellt; dieses »außerhalb« nennen wir »Raum«. »Es ist dies zwar nur ein imaginÇrer Raum, da er lediglich ein Phantasma ist, aber es ist doch eben dieses Ding, das von allen so genannt wird« (Ebd. II, 7, 2. S. 78). Auf Çhnliche Weise gelangen wir zu Begriffen wie »Zeit«, »Bewegung«, »Teil« usw. Im weiteren folgt dann im ersten Teil der Schrift Vom KÙrper die Lehre vom Satz und vom Syllogismus (Ebd. I, 3 und 4. S. 27–47), alles eigentlich ganz traditionell - Hobbes folgt hier einfach dem alten Aufbau der Logik in Begriff, Urteil, Schluß. Dem Anspruch der ¾berschrift »Rechnung oder Logik« (computatio sive logica) entspricht Hobbes aber nur in einem sehr eingeschrÇnkten Sinne: Wie sich bei Leibniz zeigen wird, ist die Analyse des Denkens als Rechenvorgang wesentlich komplexer als dies durch die Operationen von Addition und Subtraktion wiedergegeben wird. Der erste Teil der Elemente der Philosophie trÇgt die ¾berschrift Vom KÙrper, und damit ist schon die bei Hobbes vorliegende Voraussetzung (und EinschrÇnkung) des Gegenstandes der Philosophie gegeben. Dies entspricht auch seinem sprachtheoretischen Ausgangspunkt: Dingen, und das heißt: KÙrpern, werden Eigenschaften zuoder abgesprochen, und diese Dinge werden mit anderen verglichen: Der Gegenstand oder die Materie der Philosophie, die sie behandelt, ist jeglicher K³rper, dessen Erzeugung wir begrifflich erfassen und den wir mit R¹cksicht hierauf mit andern K³rpern vergleichen k³nnen; oder auch, bei dem Zusammensetzung und Aufl³sung statt hat; d. h. jeder K³rper, von dessen Erzeugung und Eigenschaften wir Kenntnis haben. (Ebd. I, 1, 8. S. 11 f.) Vergleiche ich z. B. »Mensch« und »Tier« und frage mich, warum gilt »Mensch« „ »Tier«, so kann ich durch AuflÙsung in die Begriffsbestandteile feststellen, daß sich aus »Mensch - (minus) vernÜnftig« »Tier« ergibt. KÙrper ruhen oder sind in Bewegung, wobei aber Ruhe nur ein Spezialfall von Bewegung ist. Alles, was Gegenstand der Wissenschaft sein kann, ist daher KÙrper in Bewegung. Das Modell der Dinge wie das der Erkenntnis der Dinge ist fÜr Hobbes

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der Mechanismus. Dies war Gemeingut der gesamten Philosophie und Wissenschaft des 17. Jhd.s und findet sich bei Hobbes, der jede Gotteserkenntnis aus der Philosophie ausschließt (Ebd. S. 12), ebenso wie bei Spinoza, der genau mit einer solchen Gotteserkenntnis beginnen will. Das Modell, nicht seine Verwendung, war also standpunkt-unabhÇngig und theologie-neutral. Bei der am Modell der Herstellung von Mechanismen orientierten rechnenden Erkenntnis, diese besteht ja im ZusammenfÜgen von Teilen, erhÇlt die sogenannte »genetische Definition« ihre besondere Bedeutung: Wenn Philosophie die Erkenntnis der Dinge aus den erzeugenden GrÜnden ist, so ist die beste Definition gleich der Beschreibung der Herstellung, also der Genese eines Dings. Beispiel: FÜhren wir einen Gegenstand an einem Faden um einen unbewegten Punkt, so entsteht ein Kreis. Was wir hier bestimmen, ist jedenfalls die »mÙgliche Entstehung«: hnlich k³nnen wir von einer gegebenen Figur aus ihre Entstehung, wenn auch nicht ihre wirkliche, so doch m³gliche, erschließen; denn hat man die Eigenschaften des Kreises erkannt, die wir soeben erkl›rt haben, so ist es leicht zu bestimmen, ob ein bewegter K³rper einen Kreis entstehen l›ßt oder nicht. (Ebd. I, 1, 5. S. 9) Hier kÙnnen wir beobachten, wie die frÜher angenommenen »Wesensbegriffe« durch operationelle Definitionen ersetzt werden, d. h. anstelle von Wesensbegriffen werden verallgemeinerte und prinzipiell verallgemeinerungsfÇhige experimentelle Bedingungen angegeben. In der Geometrie geben wir die Herstellungsbedingungen der mathematischen GegenstÇnde selbst an; in den Naturwissenschaften geben wir, um die Eigenschaft eines Dings zu definieren, an, mit welcher Experiment-Anordnung sie zu beobachten ist. Die Sprache dieser Philosophie ist dementsprechend eine am Paradigma der Physik abgelesene rein deskriptive Sprache, und auch die Ethik kann in keiner anderen Sprache wissenschaftlich behandelt werden. Es geht dort darum, »Seelenbewegungen« wissenschaftlich zu erklÇren: Von der Physik muß man zu der Philosophie der Moral ¹bergehen, wobei die Seelenregungen betrachtet werden wie: Begierde, Abneigung, Liebe, Wohlwollen, Hoffnung, Furcht, Zorn, Eifersucht, Neid usw.; welches ihre Ursachen sind und was sie selbst verursachen. (Ebd. I, 6, 6. S. 61) Ethik und Politik haben aber nicht nur eine empirisch-deskriptive, sondern auch eine apriorisch-konstruktive Seite und stehen hier der Mathematik nahe. Es gibt eine reine Mathematik (in der Arithmetik und der Geometrie) und eine angewandte (in der Physik). Ethik und Politik haben, insofern in ihnen ErklÇrungen der Seelenbewegungen geliefert werden, methodologisch die gleiche Struktur wie die Physik, sind also angewandte Mathematik. Die Ethik aber, insofern in ihr eine ErklÇrung der Begriffe »gut« und »bÙse« gegeben wird, ist ebenso wie die Staatslehre, die Begriffe

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wie »Gerechtigkeit« analysiert, eine reine, apriorische Wissenschaft, weil ihre Grundlagen rein von uns hergestellt sind (genauso wie in der Geometrie). Diese erstaunliche These vertritt Hobbes ausdrÜcklich: Außerdem l›ßt sich die Politik und die Ethik, d. h. die Wissenschaft von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, von Billigkeit und Unbilligkeit, apriorisch demonstrieren, weil wir die Prinzipien f¹r die Erkenntnis des Wesens der Gerechtigkeit und der Billigkeit und umgekehrt der Ungerechtigkeit und Unbilligkeit, d. h. die Ursachen der Gerechtigkeit, n›mlich Gesetze und Abmachungen selbst schaffen. Denn vor der Schaffung von Abmachungen und Gesetzen gab es bei den Menschen keine Gerechtigkeit noch Ungerechtigkeit, noch auch einen Wesensbegriff des allgemeinen Guten oder Schlechten, ebensowenig wie bei den Tieren. (Vom Menschen 10. S. 20)

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»Wesen« ist hier rein umgangssprachlich zu verstehen. Schon dieser Hinweis auf den A-priori-Charakter der Staatslehre zeigt uns, daß auch die noch zu besprechende Vertragstheorie, auf der seine Theorie der Gesetze aufbaut, nicht als historische ErklÇrung aufgefaßt werden darf. Damit ist auch schon gleich gesagt, daß es bei Hobbes keine Naturrechtslehre (im traditionellen Sinne) geben kann: Die Vernunft schafft erst einmal die Grundlagen des Rechts und des Gesetzes, ihr voraus liegen nur biologische Gesetze der Natur. Aus der so verstandenen - am Modell der Wissenschaft abgelesenen - Methode der Philosophie ergibt sich auch ihre Bedeutung: Die gr³ßte Bedeutung der Philosophie liegt nun darin, daß wir die vorausgeschauten Wirkungen zu unserm Vorteil nutzen und auf Grund unserer Erkenntnis nach Maß unserer Kr›fte und unserer T¹chtigkeit absichtlich zur F³rderung des menschlichen Lebens herbeif¹hren k³nnen. Denn die bloße •berwindung von Schwierigkeiten oder Entdeckungen verborgener Wahrheiten sind nicht so großer M¹he, wie sie f¹r die Philosophie aufzuwenden ist, wert; und vollends brauchte niemand seine Weisheit anderen mitzuteilen, wofern er damit weiter nichts zu erreichen hofft. Wissenschaft dient nur der Macht! Die Theorie (die in der Geometrie der Weg der Forschung ist) dient nur der Konstruktion! Und alle Spekulation geht am Ende auf eine Handlung oder Leistung aus. (Vom K³rper I, 1, 6. S. 9) Deutlicher als hier kann die schon bei Bacon angesprochene Absage an den traditionellen Begriff der Theorie nicht ausgesprochen werden. Erkenntnis als Wert an sich hat hier keinen Platz mehr, es sei denn als empirisch nachweisbares VergnÜgen, das solche Erkenntnis manchen Menschen bereitet (Vom Menschen 11, 8. S. 24 f.). Es ist jedoch klar, daß mittels einer Philosophie - die ihre eigene Struktur von der so verstandenen Wissenschaft her Übernimmt - keinerlei MÙglichkeit mehr besteht, wissenschaftliche Entwicklungen zu kritisieren. Die Problematik dieser Position ist

Die Staatstheorie: Selbsterhaltung, Zwang und Furcht

nicht zu Übersehen. Hobbes spricht ohne BeschÙnigung aus: »Wissenschaft dient nur der Macht!«. Aber: Dann dient eben auch die Philosophie, die von dieser Wissenschaft her ihren Theoriebegriff gewonnen hat, der Macht, sie ist nun eindeutig nicht mehr »Magd der Theologie« (ancilla theologiae), wird dafÜr in der Neuzeit aber hÇufig Schwierigkeiten haben, nicht »Magd der Macht« zu sein. Faktisch diente die Philosophie von Hobbes auch tatsÇchlich den Interessen der Macht einer absolutistischen Monarchie.

3. Die Staatstheorie: Selbsterhaltung, Zwang und Furcht Eine der wesentlichen Erfahrungsgegebenheiten fÜr Hobbes war die gesellschaftliche Wirklichkeit seiner Zeit. Seit der Regierung Jakobs I. (1602–1625) kÇmpften der KÙnig und das Parlament um die Macht. Auch Bacon war in diese Auseinandersetzung hineingezogen worden (vgl. Kap. III, 1). Unter Karl I. (1625–1649) spitzte sich die Situation zu, nicht zuletzt durch die in bezug auf die Besteuerung maßlose und in Hinsicht auf die Durchsetzung der Interessen der Krone rÜcksichtslose und willkÜrliche Politik des KÙnigs. Als 1628 die Petion of Rights vom Parlament verabschiedet wurde, in dem die Rechte des Volkes festgeschrieben wurden, stellte Hobbes eine ¾bersetzung der Geschichte des peloponnesischen Krieges des Thukydides her, wobei es klar war, daß er damit aufzeigen wollte, daß die Demokratie nicht in der Lage ist, die Probleme der Herrschaft zu lÙsen und den Frieden zu sichern. 1629 lÙste Karl I. nach der Ermordung seines GÜnstlings, des Herzogs von Buckingham (1592–1628), das Parlament auf und regierte die folgenden elf Jahre allein. Die traditionell demokratischen Puritaner wurden verfolgt, und die WillkÜrentscheidungen der Gerichte nahmen zu. Als der KÙnig versuchte, auch in Schottland das anglikanische gegen das presbyteranische Recht durchzusetzen, kam es dort 1639 zum Aufstand. Da der KÙnig nicht Über die Mittel zu einer militÇrischen Niederschlagung des Aufstands verfÜgte, war er gezwungen, das Parlament wieder einzuberufen. 1640 nahm Hobbes mit seiner Schrift The Elements of Law Natural and Politic zur politischen Lage Stellung. Die Schrift wurde zwar nicht sofort gedruckt, war aber in Abschriften bekannt. Da im selben Jahr das spÇter so genannte »Lange Parlament« in Funktion trat, blieb Hobbes nichts anderes Übrig, als ins Exil nach Frankreich zu gehen, denn Hobbes war ein Vertreter der absoluten Macht des KÙnigs. In England ging der Konflikt weiter und wurde durch einen Aufstand in Irland weiter verschÇrft, da es umstritten war, ob der KÙnig oder das Parlament das Recht hatte, ein Heer dorthin zu entsenden. Seit 1642 herrschte der offene Kampf zwischen KÙnig und Parlament, der sich wegen der grÙßeren finanziellen Mittel desselben zu Gunsten des Parlaments entwickelte. 1649 wurde Karl I. gefangengenommen, verurteilt und hingerichtet. Die Monarchie wurde abgeschafft und die Republik ausgerufen. Das Parlament war aber wiederum aus Gruppen zusammengesetzt, die verschiedene

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Interessen vertraten, so daß Oliver Cromwell (1599–1658), der inzwischen mit militÇrischen Mitteln die alleinige Macht errungen hatte, 1653 das Parlament auflÙste. Versuche, wieder ein funktionsfÇhiges Parlament zu errichten, schlugen fehl. Hobbes beobachtete all dies zunÇchst von seinem Exil in Paris aus. Er befand sich dort in Sicherheit und sah aufgrund seiner politischen Auffassungen keinen Grund, nach England zurÜckzukehren. Als er jedoch 1651 in London den Leviathan (englisch) verÙffentlichen ließ, war auch der franzÙsische Hof wegen der Angriffe auf die katholische Kirche verÇrgert. Und so ging er doch wieder nach England zurÜck und arrangierte sich mit Cromwell, hielt sich aber von politischen TÇtigkeiten fern. 1658 starb Cromwell und 1660 wurde mit Zustimmung des Parlaments die Monarchie wieder eingefÜhrt. Hobbes brachte spÇter (1668) eine in Hinsicht auf die Kirche etwas entschÇrfte lateinische Version des Leviathan heraus, was auch den WÜnschen des englischen KÙnigs - inzwischen waren mit Karl II. die Stuarts wieder an der Regierung - entsprach. Hobbes kannte Karl II. schon aus seiner Zeit in Paris, da er diesem Unterricht in Mathematik gegeben hatte. Der KÙnig schÇtze ihn, die Pension, die er Hobbes zugesprochen hatte, erhielt dieser allerdings nie. Hobbes lebte dann bei der Familie des Barons Cavendish, der er in zwei Generationen als Hauslehrer gedient hatte. Hobbes nahm die Erfahrungsgegebenheiten des BÜrgerkriegs in England zum Anlaß, darÜber nachzudenken, ob nicht auch die Gesellschaft einfach ein »KÙrper« ist, der analysiert, also zerlegt, dann wieder zusammengesetzt und somit berechnet werden kÙnnte, d. h. ob nicht einfach Staatsphilosophie wie Naturphilosophie aufgebaut werden kÙnnte, nach denselben Prinzipien und mit derselben Methode. Ein funktionierender Staat kÙnnte dann wie eine funktionierende Maschine aufgrund der Kenntnis der entsprechenden Bewegungsgesetze konstruiert werden. Die Ursachenforschung hat in der Technik so viele Vorteile gebracht, warum sollte dies nicht auch beim PhÇnomen Gesellschaft und Staat mÙglich sein? Der BÜrgerkrieg ist ein unerwÜnschtes PhÇnomen, um es zu beseitigen, muß also empirische Ursachenforschung betrieben werden; d. h. der »soziale KÙrper« muß auf die Gesetze hin untersucht werden, nach denen er funktioniert: Der B¹rgerkrieg ist daher nur m³glich, weil man die Ursachen weder von Krieg noch von Frieden kennt; denn nur sehr wenige gibt es, die die Pflichten, durch welche der Friede Festigkeit gewinnt und erhalten wird, d. h. die wahren Gesetze des b¹rgerlichen Lebens studiert haben. Die Erkenntnis dieser Gesetze ist die Moralphilosophie. (Vom K³rper I, 1, 7. S. 10) »Gesetz« ist hier genauso wie »Naturgesetz« in der Physik zu verstehen. Es wird hier also keinerlei Wertordnung vorausgesetzt, sondern es wird beschrieben und erklÇrt. Eine solche Ansicht ist nicht schlechterdings neu; sie war schon die Grundlage von Machiavellis Il Principe (vgl. Kap. I, 2), eine Schrift, die Hobbes kannte. Der Unter-

Die Staatstheorie: Selbsterhaltung, Zwang und Furcht

schied zu Machiavellis Konzeption liegt jedoch darin, daß die Rechts- und Staatsphilosophie bei Hobbes in einen prinzipiell systematischen Rahmen gestellt wird. Hobbes war sich durchaus bewußt, der erste zu sein, der eine solche Staatsphilosophie als wissenschaftliche Theorie entwickelte: Was die heutige Zeit von der Barbarei vergangener Jahrhunderte unterscheidet, ist beinahe nur der Geometrie zu verdanken; denn selbst das, was wir der Physik verdanken, verdankt diese erst der Geometrie. Wenn die Moralphilosophen ihre Aufgabe mit gleichem Geschick gel³st h›tten, so w¹ßte ich nicht, was der menschliche Fleiß dar¹ber hinaus noch zum Gl¹ck der Menschen in diesem Leben beitragen k³nnte. Denn wenn die Verh›ltnisse der menschlichen Handlungen mit der gleichen Gewißheit erkannt worden w›ren, wie es mit den Gr³ßenverh›ltnissen der Figuren geschehen ist, so w¹rden Ehrgeiz und Habgier gefahrlos werden, da ihre Macht sich nur auf die falschen Ansichten der Menge ¹ber Recht und Unrecht st¹tzt, und das Menschengeschlecht w¹rde eines best›ndigen Friedens genießen, so daß man wohl nie mehr [...] zu k›mpfen brauchte. (Vom B¹rger. Widmung. S. 61) Hobbes greift daher in seiner Rechts- und Staatsphilosophie auch ausdrÜcklich auf die Naturphilosophie zurÜck, d. h. er baut in Wirklichkeit eine Staats-Physik auf. Es geht um eine Physik des »sozialen KÙrpers«, die in ihren Grundlagen auf eine mechanistische Anthropologie und schließlich auf die allgemeine Bewegungslehre zurÜckgefÜhrt werden muß. Hobbes wendet daher die bekannte Uhren-Metapher auf den Staat an (Vom BÜrger. Vorwort. S. 67). Wenn man die einzelnen Teile und die Konstruktionsprinzipien dieses Mechanismus kennt, kann man ihn effizient verwenden, und wenn Defekte auftreten, auch reparieren. So wie aus der Physik die Technik zur Naturbeherrschung entwickelt werden kann, so lÇßt sich aus der Physik des »sozialen KÙrpers« eine Technik zur Beherrschung dieses KÙrpers entwickeln. Genau in diesem Sinne ist das Hauptwerk von Hobbes, die Elemente der Philosophie, aufgebaut. Der erste Teil trÇgt den Titel Vom KÙrper, der zweite Vom Menschen und der dritte Vom BÜrger. Die Grundlage ist der erste Teil, der vom KÙrper ganz allgemein handelt, alles andere wird als eine bestimmte Unterart der KÙrper betrachtet. Der soziale KÙrper setzt sich aus Individuen zusammen, d. h. aus einzelnen Menschen. Jeder einzelne Mensch strebt nach Selbsterhaltung. Die Behauptung des Strebens nach Selbsterhaltung ist nach Hobbes nicht einfach das Ergebnis einer soziologisch empirischen Verallgemeinerung, obwohl sie auch aus einer solchen gewonnen werden kann. Selbsterhaltung geht letztlich auf die Vitalbewegung zurÜck, deren StÙrung als Unlust empfunden wird. Selbsterhaltung grÜndet in keiner Wertsetzung, sondern in einer Naturanlage, das Streben danach wird also primÇr in biologischer Hinsicht betrachtet:

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Das erste Gut ist f¹r jeden die Selbsterhaltung. Denn die Natur hat es so eingerichtet, daß alle ihr eigenes Wohlergehen w¹nschen. Um das erlangen zu k³nnen, m¹ssen sie Leben und Gesundheit w¹nschen und f¹r beide, soweit es m³glich ist, Gew›hr f¹r die Zukunft. (Vom Menschen 11, 6. S. 24) Was sich hier zunÇchst verhÇltnismÇßig banal anhÙrt, hat jedoch nach Hobbes bedeutende Folgen. Die Sicherung des Lebens und der Gesundheit und die GewÇhr dieser Sicherheit fÜr die Zukunft bedeutet - unter der bekannten Voraussetzung, daß die materiellen GÜter begrenzt sind (Vom BÜrger 1, 6. S. 81) -, daß nur Macht diese GÜter sichern kann: Macht ist, wenn sie bedeutend ist, ein Gut, weil sie uns Mittel zu unserem Schutz gew›hrt; auf dem Schutz beruht aber unsere Sicherheit. Wenn die Macht nicht bedeutend ist, ist sie unn¹tz; denn wenn alle anderen gleiche Macht besitzen, so bedeutet sie nichts. (Vom Menschen 11, 6. S. 24)

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Hier liegt auch schon die nat¹rliche Grundlage des Konflikts: Selbsterhaltung erfordert Macht - Macht ist aber nur nÜtzlich, genauer gesagt: Sie besteht Überhaupt nur, wenn sie grÙßer ist als die der anderen; also folgt mit Naturnotwendigkeit der Kampf aller gegen alle um die jeweils grÙßere Macht, d. h. der Krieg aller gegen alle (Vom BÜrger 1, 12–13. S. 83 f.). In diesem Zusammenhang fÜhrt Hobbes den bekannten Ausspruch homo homini lupus ein, also »Der Mensch ist ein Wolf fÜr den Menschen« (Ebd. Widmung. S. 59). Dieser Ausspruch wird hÇufig in dem Sinne verstanden, daß Hobbes damit eine Grundeigenschaft des Menschen, also eine Art anthropologische Konstante, kennzeichnen wollte, die dann nur durch staatliche Zwangs- und Furchtmechanismen in Zaum gehalten werden kann. Die Voraussetzung dieser Interpretation ist, daß Hobbes eine historische Theorie aufstellt, in der zunÇchst einmal der Naturzustand herrscht, der dann durch einen Vertrag, der zur GrÜndung des Staates fÜhrt, Überwunden wird. Dies entspricht aber nicht der Intention von Hobbes. Das 1. Kapitel Vom BÜrger ist Überschrieben mit Vom Zustand des Menschen außerhalb der bÜrgerlichen Gesellschaft (Ebd. S. 75) und nicht Vom Zustand des Menschen vor der bÜrgerlichen Gesellschaft. Und dies bedeutet: Hobbes will hier keinen historischen Zustand schildern, sondern einen theoretischen Alternativzustand zur faktisch bestehenden bÜrgerlichen Gesellschaft aufzeigen. Daß der Empiriker Hobbes mit einer solchen Konstruktion arbeitet, sollte nicht besonders Überraschen - Gedankenexperimente waren zu seiner Zeit ein gÇngiges Argumentationsinstrument auch der experimentellen Wissenschaft. Hobbes bekennt sich auch ausdrÜcklich zu diesem Verfahren, wenn er feststellt: Denn in der Wissenschaft sucht man nicht so sehr die Ursachen dessen, was gewesen ist, als die Ursachen dessen, was sein k³nnte. (Vom Menschen 11, 10. S. 26)

Die Staatstheorie: Selbsterhaltung, Zwang und Furcht

Das Argument von Hobbes hat also folgende Form: Wenn der Zustand der bÜrgerlichen Gesellschaft zerfÇllt, d. h. wenn die Anarchie eintritt, dann tritt der Naturzustand ein, also jener, in dem der Mensch dem Menschen ein Wolf ist. Der Staat ist also nicht das Mittel, den Wolf zu domestizieren, sondern stellt jene Bedingung dar, unter der der Mensch die Vernunftstrategie »Wolf« nicht anwenden muß. Unter der hypothetischen Bedingung eines Zustands außerhalb einer staatlichen Ordnung bliebe dem Menschen allerdings tatsÇchlich nur die MÙglichkeit, wenn er vor den Angriffen der anderen nicht fliehen will oder kann, seine Vernunft durch »Mißtrauen, Verdacht, Vorsicht und Vorsorge, damit man nichts zu fÜrchten braucht« (Vom BÜrger 1, 2. Anm. S. 79), anzuwenden, also eine Wolfs-Strategie einzusetzen - dies ist ein Gebot der »rechten Vernunft« (Ebd. 1, 7. S. 81. Vgl. ebd. 2, 1. Anm. S. 86 f.). Dieser Zustand mÜßte jedoch den natÜrlichen Affekt der Unlust herbeifÜhren, da dieser allgemeine Kriegszustand mit der dauernden Angst verbunden ist, sich trotz dieser Strategie nicht wirksam schÜtzen, also das Leben nicht erhalten zu kÙnnen: Indes k³nnen die Menschen, solange sie sich im Naturzustande, d. h. im Zustande des Krieges befinden, wegen jener Gleichheit der Kr›fte und der anderen menschlichen Verm³gen nicht erwarten, sich lange zu erhalten. Deshalb ist ein Gebot der rechten Vernunft, den Frieden zu suchen, sobald eine Hoffnung auf denselben sich zeigt und solange er nicht zu haben ist, sich nach Hilfe f¹r den Krieg umzusehen. Dies ist ein Gesetz der Natur [...]. (Ebd. 1, 15. S. 85) Die Vernunft ist also nichts anderes als ein strategisches Mittel zur Sicherung des •berlebens. Vernunft ist hervorgerufen durch die Furcht vor einem gewaltsamen Tod: Entweder muß die Vernunft Mittel zur Selbstverteidigung entwickeln, oder sie muß den Frieden suchen, der ihr diese Aufgabe abnimmt. Wenn der Krieg aller gegen alle das ¾berleben nicht gewÇhrleisten kann, sondern vielmehr den Untergang hervorruft, muß die Vernunft die AlternativlÙsung versuchen, die den Frieden herstellt: Also ist folgendes eine Vorschrift oder allgemeine Regel der Vernunft: suche Frieden, solange nur Hoffnung darauf besteht; verschwindet diese, so schaffe dir von allen Seiten Hilfe und nutze sie; dies steht dir frei. (Leviathan I, 14. S. 119) Im Naturzustand hat jeder die Freiheit, also das »Naturrecht«, alle Mittel zur Lebenserhaltung einzusetzen; der Versuch, Frieden herzustellen, erfordert also die EinschrÇnkung dieser Freiheit. Daher folgt: Aus diesem ersten nat¹rlichen Gesetze ergibt sich das zweite: sobald seine Ruhe und Selbsterhaltung gesichert ist, muß auch jeder von seinem Rechte auf alles - vorausgesetzt, daß andere dazu auch bereit sind - abgehen und mit der Freiheit zufrieden sein, die er den ¹brigen einger›umt wissen will. (Ebd.)

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Dies also ist der Gesellschaftsvertrag. Es gilt aber wiederum: Dieser Vertrag ist nicht ein historisch nachweisbares Faktum, sondern die Bedingung der MÙglichkeit des Friedens, also der bÜrgerlichen Gesellschaft, dem gegenÜber es nur die Alternative der Anarchie gibt, also des (ZurÜck-)Fallens in den Naturzustand des Krieges aller gegen alle. Auch wiederum nicht spÇter, sondern strukturell gleichzeitig mit diesem Vertrag und als Bedingung der MÙglichkeit des Funktionierens desselben darin enthalten liegt die ¾bertragung der gesamten Rechte der einzelnen auf den SouverÇn. Im Unterschied zu anderen Formen des Gesellschaftsvertrags wird dieser in der Konzeption von Hobbes nicht zwischen den BÜrgern und einem SouverÇn abgeschlossen, sondern einzig unter diesen selbst, allerdings so, daß die Vereinbarung untereinander gleichzeitig die ¾bertragung der Macht an einen SouverÇn enthÇlt: Dies faßt aber noch etwas mehr in sich als •bereinstimmung und Eintracht; denn es ist eine wahre Vereinigung in einer Person und beruht auf dem Vertrage eines jeden mit einem jeden, wie wenn ein jeder zu einem jeden sagte: »Ich ¹bergebe mein Recht, mich selbst zu beherrschen, diesem Menschen oder dieser Gesellschaft unter der Bedingung, daß du ebenfalls dein Recht ¹ber dich ihm oder ihr abtrittst.« (Ebd. II, 17. S. 155) 184

Wenn Hobbes hier von einem Menschen oder einer Gesellschaft spricht, so denkt er bei letzterer nicht an ein Parlament, sondern an eine Gruppe, welche die Herrschaft gemeinsam ausÜbt. Seine Theorie beruht ja auf der Abtretung der Rechte des einzelnen, nicht aber auf einer parlamentarischen Vertretung der Rechte der einzelnen. Daraus ergibt sich die Definition des Staates: Staat ist eine Person, deren Handlungen eine große Menge Menschenkraft der gegenseitigen Vertr›ge eines jeden mit einem jeden als ihre eigenen ansehen, auf daß diese nach ihrem Gutd¹nken die Macht aller zum Frieden und zur gemeinschaftlichen Verteidigung anwende. (Ebd. S. 155 f.) Zu beachten ist, daß nach Hobbes diese Person zwar dem Zweck des Friedens und der Verteidigung verpflichtet ist, innerhalb dieser Pflicht aber die ihr Übergebene Macht »nach ihrem GutdÜnken« anwenden darf. Durch die Erfindung des Staates vereinigen also die Menschen ihren Willen zu einem einzigen, was dann am besten auch durch eine einzige Person reprÇsentiert wird. Dies bedeutet letztlich, daß ihnen im Staat ihr eigener, abgetretener Wille begegnet: Wenn sonach die •bereinstimmung des Willens vieler zu demselben Zwecke nicht gen¹gt, um den Frieden zu erhalten und eine dauernde Verteidigung zu erm³glichen, so muß in bezug auf die zum Frieden und zur Selbstverteidigung notwendigen Mittel ein Wille in allen bestehen. Dies ist aber nur m³glich, wenn die einzelnen ihren Willen dem Willen eines einzelnen, d. h. eines Menschen oder einer Versammlung so unter-

Die Staatstheorie: Selbsterhaltung, Zwang und Furcht

werfen, daß dieser Wille f¹r den Willen aller einzelnen gilt, soweit er etwas ¹ber das zum gemeinsamen Frieden Notwendige bestimmt. Eine Versammlung aber nenne ich einen Zusammentritt mehrerer Menschen, welche ¹ber das, was zu dem gemeinen Besten aller zu tun oder zu unterlassen ist, beratschlagen. (Vom B¹rger 5, 6. S. 128) Damit also wÇre die Herrschaft etabliert, in der einer oder eine Gruppe den Frieden aufgrund des Verzichts aller einzelnen auf ihre Rechte im Tausch gegen die Sicherheit vor den anderen sichert. Nicht das Gemeinwohl aber ist das leitende Motiv, sondern der Schutz des Eigeninteresses. Die Menschen sind jedoch im allgemeinen dazu geneigt, im Einzelfall die Eigeninteressen Über die gemeinsamen Interessen zu stellen, was bedeutet, daß es keine Sicherheit fÜr die Einhaltung des Vertrags gibt, solange diese nicht wiederum durch einen wirksamen Mechanismus geschÜtzt ist. Daher die Folgerung von Hobbes: Es muß noch etwas weiteres geschehen, damit die, welche einmal sich zum Frieden und zu gegenseitiger Hilfe um des gemeinen Besten willen verbunden haben, durch Furcht verhindert werden, sich sp›ter, wenn etwa ihr privates Interesse nicht mit dem allgemeinen ¹bereinstimmt, wieder zu trennen. (Ebd. 5, 4. S. 126) 185

Dies stellt die bekannte hobbessche Grundauffassung dar: Gesetze ohne Sanktionen sind ineffektiv und entsprechen damit nicht ihrem Zweck. Einzig die Furcht vor Strafen sichert den Bestand des Staates. Wenn die Menschen den ursprÜnglichen Vertrag vergessen (den es historisch ja ohnedies nicht gibt), so ist das weiterhin nicht besonders problematisch und fÜr den Herrscher mÙglicherweise sogar durchaus von Vorteil. Wenn sie jedoch die Grenzen ihrer Gehorsamspflichten Überschreiten, mÜssen sie wirksam an ihre Verpflichtung erinnert werden, und dies bedeutet: Strafen. Der Vertrag und der gemeinsame Wille reichen eben keineswegs aus, um die natÜrlichen Triebe einzuschrÇnken. Ihnen muß auf ihrer eigenen Ebene begegnet werden, der fiktive soziale KÙrper, d. h. der Staat, muß also wieder ganz konkret auf die natÜrlichen KÙrper zurÜckwirken, um funktionieren zu kÙnnen, d. h. um real wirksam zu sein. Damit die Sache ganz klar ist, gibt Hobbes auch eine Regel fÜr das Strafmaß an: Das effizient rechte Maß der Strafen beruht auf ihrer UnproportionalitÇt (manche Innenminister werden das gerne hÙren): Zur Erlangung dieser Sicherheit gen¹gt es nicht, daß jeder der zu einem Staat sich Verbindenden mit den ¹brigen m¹ndlich oder schriftlich abmacht, nicht zu t³ten, nicht zu stehlen und ›hnliche Gesetze zu beobachten; denn die Schlechtigkeit der menschlichen Gesinnung ist allen offenbar, und die Erfahrung hat nur zu sehr gelehrt, wie wenig (bei Wegnahme der Strafe) die Menschen im Bewußtsein der getanen Versprechen ihre Pflichten einhalten. F¹r die Sicherheit muß deshalb nicht durch Vertr›ge, sondern durch Strafen gesorgt werden; und gen¹gende Vorsorge ist erst dann

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getroffen, wenn so hohe Strafen f¹r die einzelnen Vergehen festgesetzt werden, daß aus ihrer Begehung augenscheinlich ein gr³ßeres •bel als aus ihrer Unterlassung folgt. Denn alle Menschen w›hlen mit Naturnotwendigkeit, was ihnen als ein Gut f¹r sie selbst erscheint. (Ebd. 6, 4. S. 133)

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Damit schließt sich der Kreis: Der Staat ist in der Furcht begrÜndet, das eigene Leben zu verlieren: Die Menschen geben daher das Recht auf gewaltsame Verteidigung ab; damit diese RechtsÜbertragung aber eingehalten wird, muß der Staat durch Furcht vor Strafen, die bis zum Verlust des Lebens gehen kÙnnen, auf die Menschen einwirken. Die Selbsterhaltung wird institutionell gesichert, indem sich alle, aus Eigennutz natÜrlich, der gemeinsamen Furcht vor Sanktionen unterwerfen; Sanktionen, die wiederum die Selbsterhaltung bedrohen, die aber auch Selbsterhaltung garantieren. Recht ist hier immer Zwangsrecht, es hat seine BegrÜndung einzig als Mittel der Selbsterhaltung. RationalitÇt selbst entsteht erst in dieser Zweck-Mittel-Relation; oder: Um nicht getÙtet zu werden, muß man darauf verzichten, selbst zu tÙten. Vernunft besteht genau wieder in einem »Rechnen« mit Macht: Wieviel Macht muß ich haben, um nicht selbst ÜbermÇchtigt zu werden, und auf wieviel Gewalt muß ich verzichten, um nicht selbst Opfer von Gewalt zu werden? Um volle Sicherheit zu erhalten, muß ich auf jede Form von Gewalt verzichten. Dies ist der natÜrliche Grund fÜr das Gewaltmonopol des Staates. Es ist klar, daß in einer solchen Theorie »gut« und »bÙse« einen neuen Sinn erhalten: Diese Worte enthalten keine Wertung, sondern stellen eine Beschreibung dar. Die Worte »gut« und »bÙse« erhalten einen Sinn nur innerhalb des Rechts, das selbst einfach der Selbsterhaltung der Menschen dient. Es hat deshalb bei Hobbes auch Überhaupt keinen Sinn zu sagen, die Menschen seien von Natur aus »bÙse«, denn sie unterliegen von Natur aus einfach Bewegungsgesetzen, die durch ’ngste und Leidenschaften bestimmt sind. Bei der Beschreibung des Naturzustandes sind AusdrÜcke wie »gut« und »bÙse« gar nicht angebracht: Wenn man daher die Menschen nicht schon deshalb von Natur b³se nennen will, weil sie nicht von Natur die Zucht und den Gebrauch der Vernunft haben, so muß man anerkennen, daß die Menschen von Natur Begierde, Furcht, Zorn und andere tierische Leidenschaften haben k³nnen, ohne deshalb von Natur b³se erschaffen zu sein. (Ebd. Vorwort. S. 69) Die AusdrÜcke »gut« und »bÙse« gehÙren einzig in die Sprache, welche die VerhÇltnisse außerhalb des Naturzustands regelt. Um die Selbsterhaltung zu sichern, wird eine auf Friedenssicherung hin orientierte Mittel-ZweckrationalitÇt eingefÜhrt, und »gut« und »bÙse« erhalten dann ihre einzige Bedeutung innerhalb dieser MittelZweckrationalitÇt, so wie ein Bestandteil einer Maschine dann »gut« ist, wenn er dem entsprechenden Zweck dient: Ein Zahnrad ist »an sich« weder »gut« noch

Die Staatstheorie: Selbsterhaltung, Zwang und Furcht

»schlecht«, es wird dies erst, wenn sich herausstellt, ob es dem Funktionieren der Maschine dient oder nicht. Es kommt also alles darauf an zu verhindern, daß die bÜrgerliche Gesellschaft sich selbst auflÙst und der Naturzustand eintritt. »ZurÜck zur Natur« bedeutet fÜr Hobbes eben nichts anderes als den Krieg aller gegen alle, also die Anarchie. Alle Menschen wÜnschen daher, aus diesem »elenden und abscheulichen Zustand« (Ebd. S. 69 f.) herauszukommen bzw. nicht in ihn hineinzufallen, und einzig der Staatsvertrag, der gleichzeitig Gewaltverzicht und Sicherheit bedeutet, gibt diese MÙglichkeit. Die strukturelle und prinzipielle Problematik dieser hobbesschen Vertragstheorie ist offensichtlich: Es gibt hier keinen Vertrag zwischen den BÜrgern und einem SouverÇn, sondern einzig einen Vertrag der B¹rger untereinander, die ihre SouverÇnitÇt einem Herrscher Übertragen. Damit aber steht der SouverÇn außer- und oberhalb der Rechtszone und kann somit auch nicht einer Rechtsverletzung angeklagt werden. Solange er den Frieden schÜtzt, ist er SouverÇn. Ein KÙnig im Exil, wie der spÇtere Karl II., ist Überhaupt kein SouverÇn, wÇhrend der die Herrschaft faktisch innehabende Cromwell ein solcher ist; und wenn dessen Herrschaft nicht mehr funktioniert, die Anarchie droht und Karl II. die Herrschaft Übertragen wird, so ist letzterer dann SouverÇn. SouverÇnitÇt ist eine Frage der Fakten, nicht der (eingebildeten) Prinzipien der MoralitÇt, LegalitÇt oder Genealogie. GenÜgt ein SouverÇn dem einzigen Zweck seiner Herrschaft, nÇmlich den Frieden zu sichern, nicht mehr, so schafft er sich selbst ab, da dann wieder der Krieg aller gegen alle einsetzen, also der Naturzustand zurÜckkehren mÜßte. Diese Theorie legitimiert natÜrlich den Absolutismus, man muß aber sehen, daß Hobbes von seinen Voraussetzungen her gar keine andere logische MÙglichkeit hatte, als den SouverÇn nicht in eine einklagbare Rechtssituation einzubinden: Sollen die Anarchie und der Krieg aller gegen alle vermieden werden, und dies ist das maßgebliche Ziel der ganzen Staatstheorie von Hobbes, dann darf es keine MÙglichkeit fÜr einen Rechtsstreit zwischen BÜrgern und SouverÇn geben: Wer sollte denn einen solchen Streit entscheiden? Der Streit mÜßte also in Anarchie mÜnden. Hobbes wußte natÜrlich genau, daß es gute und schlechte Herrscher gibt, seine These lautet jedoch: Ein schlechter Herrscher ist immer noch besser als der Krieg aller gegen alle. Letztlich und persÙnlich hoffte Hobbes sicher auf einen guten oder wenigstens ertrÇglichen Herrscher. FÜr seine Theorie ist diese Hoffnung aber nicht konstitutiv. FÜr sie ist nur die allgemeine, empirisch bestÇtigbare Hoffnung auf Frieden erforderlich, nicht aber die empirisch leider nicht bestÇtigbare Annahme einer zumindest Überwiegenden Anzahl guter Herrscher. Daß der oder die Herrscher so vernÜnftig wÇren, ihre Sanktionsmacht nicht zum eigenen Machtzugewinn und Besitzgewinn zu benutzen, wÜrde einen »kontrafaktischen« Vernunftbegriff voraussetzen, dies aber wÇre eine Rechnung, die in der RealitÇt nicht aufgehen wÜrde. Im Begriff »Herrscher« ist »Selbstlosigkeit« nicht enthalten, widerspricht diesem aber auch nicht, ist also optional. Hobbes

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rechnete nicht mit »kontrafaktisch« vernÜnftigen SouverÇnen, und er durfte dies auch nicht, sonst hÇtte er seine Theorie logisch inkonsistent gemacht. Daß solche »kontrafaktische« Vernunft bei den Herrschern vorausgesetzt werden kann, daran zweifeln auch wir heute, vielleicht sogar mehr als Hobbes dies tat. Deshalb hat man spÇter anstelle des Herrschers oder der beratschlagenden Herrschergruppe konkurrierende Institutionen vorgeschlagen, also etwa die Kontrolle der Exekutive durch ein Parlament und eine unabhÇngige Richterschaft. Eine solche Konkurrenzsituation lehnte Hobbes ab, sie wÇre in seinen Augen nichts anderes als die Fortsetzung des Krieges aller gegen alle auf der Ebene der ReprÇsentation durch Institutionen gewesen. Wir heute versuchen es trotzdem weiter mit solchen auf Gewaltenteilung beruhenden Institutionen; das hat zwar in der RealitÇt nie so recht funktioniert, aber Besseres ist uns bisher auch nicht eingefallen. Hobbes ist ein recht guter Logiker: Er gibt selbst ganz klar die Konsequenzen an, die sich aus seinem Begriff des Staates ergeben, und er liefert damit auch seinen Gegnern gleich die entscheidenden Angriffspunkte. Es gibt nach Hobbes eine Reihe von »Staatskrankheiten«, also von schÇdlichen Auffassungen, die zu bekÇmpfen sind. Zu diesen gehÙren die folgenden: 188

Jeder einzelne B¹rger hat das Recht zu entscheiden, was gute und b³se Handlungen sind. Was der B¹rger wider sein Gewissen tut, ist S¹nde. Der Oberherr ist den b¹rgerlichen Gesetzen unterworfen. (Leviathan II, 29. S. 269 f.) Jeder dieser SÇtze ist also aufgrund der hobbesschen Definition des Staates zu verneinen, und daraus folgt fÜr eine Diskussion mit Hobbes: Wer auch nur einen dieser SÇtze bejaht, der muß konsequenterweise die hobbessche Definition des Staates verneinen. (Auf eine alternative Staatskonzeption, die sich daraus ergibt, daß die hobbesschen »Staatskrankheiten« genau umgekehrt als Zeichen der Gesundheit angesehen werden, wird im nÇchsten Punkt noch kurz hingewiesen.) - Nehmen wir nur den letzten der SÇtze, und wir kÙnnen sehen, daß Hobbes jedenfalls ein guter Prognostiker des modernen Staates war: Die Herrscher lehnen es hÇufig ab, vor bÜrgerliche Gerichte gestellt werden zu kÙnnen (wozu sie sich auch entsprechende ImmunitÇtsgesetze geschaffen haben, die ihnen aber nie ausreichend erscheinen). Auch wird ein moralisches Urteil Über die Herrschenden von diesen gerne als subversiv, also als den Staat bedrohend, deklariert. Da nach Hobbes die BÜrger ihre Rechte uneingeschrÇnkt dem SouverÇn Übergeben haben, hat jeder nur auf so viel Eigentum Anspruch, als ihm der Herrscher zuspricht, der allerdings dann fÜr die Sicherheit dieses Anteils zu sorgen hat. Daraus ergibt sich ein weiterer Satz, dessen ’ußerung nach Hobbes als »Staatskrankheit« zu bekÇmpfen ist:

Hobbes und Pufendorf

Jeder B¹rger ist ein so unumschr›nkter Herr seines Verm³gens, daß der Staat keinen Anspruch darauf haben kann. (Ebd. S. 271) Dies ist verhÇltnismÇßig vorsichtig formuliert, aber es wird nicht gesagt, daß der Staat einen Anspruch auf einen Teil des VermÙgens hat - dies gilt in jeder Staatstheorie -, sondern es wird gesagt, daß es keinen Teil des VermÙgens gibt, auf den der Staat nicht prinzipiell Anspruch hat. Dies bedeutet im Klartext: Es gibt keine Grenzen der staatlichen Besteuerung, solange nur durch Gleichverteilung der Lasten der Friede nach innen gesichert und genÜgend Geld fÜr die Verteidigung nach außen vorhanden ist (was auch tatsÇchlich der Auffassung der Finanzminister der meisten modernen Staaten entspricht). - Besonders gefÇhrlich ist nach Hobbes die letzte »Staatskrankheit«: Die sechste, offenbar auf den Untergang des Staates abzielende Lehre ist: die h³chste Gewalt kann geteilt werden. Zieht aber diese Teilung nicht notwendig ihre g›nzliche Aufl³sung nach sich? Getrennte Macht zerst³rt sich selbst. (Ebd.) Auch wer kein Hobbesianer ist, wird beobachten kÙnnen, daß Hobbes Über den Absolutismus seiner Zeit hinaus die faktische Tendenz der Regierungen moderner Staaten korrekt diagnostiziert hat: Sie tendieren sehr hÇufig dahin, alle Macht in einer Person oder in einer kleinen - nicht-demokratisch organisierten - Gruppe zu vereinigen. Gewaltenteilung wird zwar verbal beschworen, faktisch aber doch von vielen Regierenden als regierungshinderlich empfunden. - Leviathan ist nicht tot.

4. Hobbes und Pufendorf Die ErklÇrungskraft der hobbesschen Staats- und Rechtstheorie ist groß. Daß den Theorien von Hobbes gerade auch in unserer Zeit eine ziemlich große Aufmerksamkeit gewidmet wird, ist nicht Überraschend. Hobbes hat wie kein anderer vor ihm die Probleme des modernen Staates scharf herausgearbeitet. ZunÇchst einmal wird die Staatslehre grÜndlich von allen theologischen Elementen befreit. Weder Rechte noch Pflichten des Menschen kÙnnen aus irgendeinem gÙttlichen Recht abgeleitet werden. Dies bedeutet, daß auch noch der letzte Rest augustinischer Staatsauffassung (vgl. 2. Teil, Kap. III, 6) aus der Diskussion verschwindet. Dies hat nichts mit Religionsfeindlichkeit zu tun, sondern zeigt nur die Einsicht, daß die Legitimation des Staates einzig auf »natÜrlichen« Erkenntnissen beruhen darf, wenn sie in irgendeiner Weise einen allgemeinen Anspruch erheben will. Der Ausgangspunkt darf also im VerstÇndnis von Hobbes nur im souverÇnen Einzelnen gesucht werden (das Klassenproblem wurde von ihm wie von den Theoretikern des 17. Jhd.s im allgemeinen nicht gesehen). Hobbes war allerdings nicht der einzige zu seiner Zeit, der diesen

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Standpunkt vertrat. Auch Samuel von Pufendorf (1632–1694), mit Hugo Grotius der bedeutendste VÙlkerrechtler des 17. Jhd.s, teilte diesen Standpunkt. Pufendorfs Acht BÜcher vom Natur- und VÙlkerrecht (De jure naturae et gentium libri octo) aus dem Jahre 1672 gehÙrten zu den einflußreichsten BÜchern zur Politik im 17. und 18. Jhd. Pufendorf war in keiner Weise weniger »wissenschaftlich« orientiert, er hatte auch Mathematik unterrichtet und wollte wie Hobbes die Theorie des Staates modo geometrico aufbauen. Auch er ging wie Hobbes von der deskriptiv nachweisbaren Tatsache des Selbsterhaltungstriebs des Einzelnen aus. Dann aber trennte er sich in entscheidender Hinsicht von der hobbesschen Konzeption: Ohne »naturalistischen Fehlschluß« (vgl. dazu Kap. XII, 3) - Pufendorf fÜhrt ausdrÜcklich die Unterscheidung von natÜrlichen Dingen (entia naturalia) und moralischen »Dingen« (entia moralia) ein - sagt er, daß diesem natÜrlichen Trieb Rechte und Pflichten entsprechen, die in der gesellschaftlichen Natur des Menschen begrÜndet sind und die logisch vor dem Staat liegen. WÇhrend bei Hobbes Gesellschaft und Staat in einem entstehen und in einem begrÜndet werden, vertritt Pufendorf entschieden die These von der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. Er baut dabei auf das traditionelle aristotelische VerstÇndnis des Menschen als »politischem Lebewesen« auf (vgl. 1. Teil. Kap. X, 7) und formuliert daraus die Definition des Menschen als »Gemeinschaftswesen« oder »Gesellschaftswesen« (animal sociabile). Die Familie als kleinste Gemeinschaft erhÇlt damit dem Staat vorgeordnete Rechte, eine bis in alle Staatstheorien der Gegenwart hinein, bei aller Problematik im Detail, grundlegende Vorstellung. Entscheidend im Unterschied zu Hobbes ist: Pufendorf nimmt Rechte an, die vor der Einrichtung des Staates liegen und die somit dem Staat gegenÜber geltend gemacht werden kÙnnen. Pufendorf kann somit auch Rechte wie z. B. das auf Versammlungsfreiheit gegenÜber dem Staat einfordern. Und er kann dem Staat gegenÜber auch ein Recht auf eine PrivatsphÇre - heute privacy genannt - beanspruchen. Die Menschen besitzen also unverÇußerliche Rechte, die ihnen nicht vom Staat zugestanden werden, sondern die sie unabhÇngig von ihm besitzen. Und dies bedeutet, daß der SouverÇn eines Staates, der diese Rechte nicht respektiert, eigentlich seine LegitimitÇt verliert. Pufendorf wollte allerdings ein Recht auf gewaltsamen Widerstand gegen einen solchen nicht zulassen, was nicht konsistent konstruierbar ist. Hier blieb das Problem der rechtlichen und der moralischen LegitimitÇt unbeantwortet. Jedenfalls konnten die von der bÜrgerlichen Kultur geforderten FreirÇume gerechtfertigt und Grenzen der staatlichen SouverÇnitÇt gesetzt werden. Diese Fragen waren aber auch von hÙchster politischer AktualitÇt angesichts der Probleme, die sich aus den englischen, spanischen und franzÙsischen Kolonialreichen ergaben. Welche Rechte hatten eigentlich die »Ureinwohner«, und hatten sie Überhaupt welche? Diese Fragen wurden spÇter wiederum aktuell bei den UnabhÇngigkeitserklÇrungen der Kolonien. Nach Pufendorf hatten die Ureinwohner »natÜrliche« Rechte gegenÜber den Kolonisatoren, und diese hatten wiederum »natÜrliche« Rechte gegenÜber den SouverÇnen ihrer UrsprungslÇnder. Pufendorf war vor allem Jurist, und diese haben ja nicht

Hobbes und Pufendorf

immer die Begabung besonderer Phantasie, er hat aber viele Probleme vorhergesehen, mit denen sich die UNO bis heute herumschlagen muß, ohne schon immer besonders Überzeugende Antworten vorweisen zu kÙnnen. Die Naturrechtskonzeption Pufendorfs wurde dann von Locke weiterentwickelt und ging Über die Philosophie der AufklÇrung in die moderne Form der »Menschenrechte« ein. Pufendorf ging dabei von der Vorstellung aus, daß die Menschen bestimmte, wenn auch nur sehr allgemeine, gemeinsame Auffassungen sittlicher Imperative besÇßen. Dies wurde jedoch von ihm nicht abstrakt konstruiert, insofern er der Meinung war, diese These mÜsse sich historisch belegen lassen. Beim heutigen Stand historischer und ethnologischer Kenntnisse sind wir vermutlich etwas vorsichtiger bei der Spezifizierung der Annahme allgemein verbreiteter sittlicher Imperative, aber ganz wollen wir auf diese Vorstellung mangels irgendwelcher brauchbarer Alternativen auch nicht verzichten. Das heißt: Wir meinen zwar, daß es so etwas wie »Menschenrechte« gibt, sind aber recht unsicher, wenn es um eine genau AufzÇhlung derselben geht. Die von Pufendorf behandelten Fragen des VÙlkerrechts zeigen eine weitere Grenze der hobbesschen Theorie: Hobbes liefert keinen Ausgangspunkt fÜr die Frage der Bestimmung des Verh›ltnisses der Staaten untereinander. Nach den Kriterien von Hobbes mÜßte man sagen, daß sich die Staaten untereinander bis heute im Naturzustand des Kampfes aller gegen alle befinden. Hobbes bietet keinen theoretischen Rahmen zur Entwicklung eines VÙlkerrechts, ein solches kÙnnte nach seinen Prinzipien erst durch die Abgabe der SouverÇnitÇt der Einzelstaaten entstehen. Eine Theorie, die letztlich auf einen »Weltherrscher« hinauslÇuft, wird aber außer in den USA kaum einen Vertreter finden, und letztere werden zumindest in den Nachfolgern der chinesischen Kaiser immer auf einen genÜgend mÇchtigen Gegner treffen, der ihnen diese SouverÇnitÇt streitig macht. Die Staatstheorie von Hobbes hat eben vor allem die im 17. Jhd. bereits weitgehend zentralisierten Staaten von England und Frankreich im Blick und betrachtet diese vor allem von innen her. Pufendorf hingegen, der als Deutscher lange Zeit in Schweden gearbeitet hatte, sah die Probleme, die sich aus den zwischenstaatlichen Beziehungen ergaben. Die Sicht von innen und von außen ist jedoch recht verschieden. Hobbes sah das Problem des »Außen« des Staates nur als eines der Verteidigung. Wir wÜrden heute sagen: Er sah das Problem der Macht nur aus der Sicht des Verteidigungsministers, nicht aber aus der des Außenministers (zwischen denen ja nicht selten Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich dessen, was »Macht« ist, bestehen). Pufendorf versuchte, sich dem Problem historisch zu nÇhern, so in seiner Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten so itziger Zeit in Europa sich befinden, das 1682 erschien, worin nach den realen MachtverhÇltnissen Frankreichs, Englands, Spaniens, ²sterreichs, Schwedens und DÇnemarks gefragt wurde. Die Probleme, die sich durch diese MachtverhÇltnisse ergaben, waren durch keinen hypothetischen SouverÇn hobbesscher PrÇgung zu lÙsen. Aber Pufendorf wußte schon aus der RealitÇt des

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Thomas Hobbes

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sogenannten »Heiligen RÙmischen Reiches Deutscher Nation«, wie schwierig die Probleme bei Staaten mit ganz verschiedenen SouverÇnitÇtsformen lagen. Im Jahre 1667 hatte er unter dem Pseudonym »Severinus de Mozambano«, eines fingierten Besuchers des deutschen Reiches, eine kleine Schrift ¾ber den Zustand des Germanischen Reiches (De statu imperii germanici) verÙffentlicht. Bei seiner ¾berlegung Über die MachtverhÇltnisse stellte er das zentrale Problem dar: Es gab zwar einen SouverÇn, den Kaiser, der Rechte hatte, aber Über keine Mittel verfÜgte, diese Rechte durchzusetzen. Das Ergebnis der Untersuchung war: Das »Heilige Reich« war Überhaupt kein Staat moderner PrÇgung (so wie es ja das Problem der UNO ist, daß sie sich zwar als Staatengemeinschaft versteht, aber eben kein Staat ist, so wie ihr Oberhaupt, der GeneralsekretÇr, zwar mit allen Ehren wie ein Staatsoberhaupt behandelt wird, aber eben keines ist). Die Schrift Pufendorfs ¾ber den Zustand des Germanischen Reiches fand ebenso viele begeisterte wie verÇrgerte Leser: Die Bloßstellung der UnfÇhigkeit der Verfassung des »Heiligen Reiches«, effizient politische Aufgaben zu lÙsen, wurde jedem vernÜnftigen Leser mehr als deutlich gemacht. Pufendorf hatte allen Grund, die Schrift unter einem Pseudonym zu verÙffentlichen. Die kritische SchÇrfe seiner Schrift war allerdings stÇrker als die konstruktive: Er wußte im Prinzip auch keine LÙsung (dasselbe gilt fÜr alle UNO-Kritiker). Die Transformation der Teile des Reiches in moderne Staaten mußte eine große Zahl von kleinen Staaten ergeben, die im Vergleich zu den »großen« Staaten England, Spanien und Frankreich doch nur politische RandphÇnomene bleiben mußten. Friedrich der Große (1740–1786) hatte dies lÇngst begriffen: Er strebte die Schaffung einer deutschen Großmacht an, die mit England und Frankreich konkurrieren kÙnnte. Dabei wurden auch Prinzipien der Toleranz und der religiÙsen NeutralitÇt des Staates, die auch Pufendorf vertreten hatte, relevant. Das Prinzip cuius regio, eius religio war realgeschichtlich antiquiert und konnte innerhalb einer modernen Staatstheorie nicht mehr aufrechterhalten werden. Daß es konkret politisch zu katastrophalen Folgen fÜhren konnte, zeigte die Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes durch Ludwig XIV. im Jahre 1685, die den Großteil der wirtschaftlich und industriell starken Hugenotten (Kalvinisten) zum Verlassen Frankreichs zwang. Friedrich der Große hatte auch dies begriffen und gab ihnen die MÙglichkeit, sich in Brandenburg niederzulassen, was zwar zunÇchst den Widerstand der Lutheraner hervorrief, dann aber zu einem wirtschaftlichen Aufschwung des Landes fÜhrte. Thesen der Staatsphilosophie konnten also beinahe wissenschaftlich ÜberprÜft werden. 1686 ging Pufendorf von Schweden nach Preußen, wo er 1695 noch die Geschichte des Großen KurfÜrsten vollenden konnte. Das Problem einer Staatengemeinschaft hat er nicht lÙsen kÙnnen. Pufendorf hatte aber erkannt, daß eine mechanistische ErklÇrung des Staates zwar mÙglich ist und auch in die ¾berlegung einbezogen werden muß, daß aber eine Staatsphilosophie, die der Breite der historisch und jeweils aktuell auftretenden Probleme gerecht werden soll, um die Diskussion von Werten (entia moralia) nicht herumkommen kann. Ob diese Werte bei den aktuell auftretenden Problemen dabei

Hobbes und Pufendorf

auf der Strecke bleiben, ist eine ganz andere Frage. Nach der deskriptiven Theorie von Hobbes sind das alles aber ohnedies nur Scheinprobleme von solchen, welche die Mechanik der Macht nicht begriffen haben und die daher ihre Rechenfehler nicht einsehen wollen.

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- IX -

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Mit John Locke (1632–1704) begegnen wir dem, was deutsche Philosophen gerne »angelsÇchsische Philosophie« nennen, was dann hÇufig mit »Empirismus« in Verbindung gebracht wird. Mit »angelsÇchsischer Philosophie« wird ein Zwei-WeltenModell angesprochen, in dem der »angelsÇchsischen Philosophie« eine »kontinentale« gegenÜbergestellt wird. Dieses Zwei-Welten-Modell gilt nicht fÜr das 17. Jhd., wurde aber seit dem 19. Jhd. ins 17. Jhd. zurÜckdatiert. Anzeichen dafÜr gab es allerdings auch schon im 17. Jhd. Leibniz ließ sich durch Thomas Burnett (1656–1729) Über alles informieren, was sich in England auf philosophischem und wissenschaftlichem Gebiet tat. Als Leibniz an Burnett einige Bemerkungen zu Lockes Essay Concerning Human Understanding (Versuch Über den menschlichen Verstand) sandte, Übermittelte Burnett an Leibniz die ironische Bemerkung Lockes, daß die Deutschen die BÜcher der EnglÇnder ebensowenig lesen wie die EnglÇnder die BÜcher der Deutschen (In: Leibniz: Die philosophischen Schriften III. Hrsg. v. C. I. Gerhardt. Berlin 1887 [Nachdruck Hildesheim 1978]. S. 208). Dies galt aber nur in sehr beschrÇnkter Hinsicht. Leibniz nahm z. B. alles zur Kenntnis, was Newton schrieb. Auch darf man nicht Übersehen, daß das, was gerne als der »typisch britische« Empirismus angesehen wird, eine entscheidende Wurzel gar nicht in England, sondern in Frankreich hatte, nÇmlich bei Pierre Gassendi (1592–1655). Aber schon die Einteilung in »Rationalisten« und »Empiristen« wÇre den Philosophen des 17. Jhd.s vÙllig unverstÇndlich gewesen diese Bezeichnungen gibt es Überhaupt erst seit dem 18. Jhd. Im 17. Jhd. war die philosophische Welt bei allem Streit doch eine Welt. Auch wenn zahlreiche Schriften der Philosophen jedenfalls des englischen und franzÙsischen Sprachbereichs in der jeweiligen Landessprache geschrieben wurden, folgte doch hÇufig eine ¾bersetzung ins Lateinische, um diese Werke der »gelehrten Welt« bekanntzumachen. Das Lateinische blieb weiterhin die Sprache, in der Über Sprachgrenzen hinweg kommuniziert werden konnte. Ein Denken in »Schulen« und »SchulzugehÙrigkeiten« war den Philosophen des 17. Jhd.s fremd. Gassendi setzte sich in den FÜnften EinwÇnden mit den Meditationes von Descartes auseinander, Hobbes tat dasselbe in den Dritten EinwÇnden, und Descartes antwortete seinerseits auf diese EinwÇnde. Auch wenn wir heute hier unÜberwindbare GegensÇtze feststellen (vgl.

Rationalisten und Empiristen

Kap. VIII, 1), hatten die Philosophen des 17. Jhd.s nicht den Eindruck, daß hier nicht argumentativ Klarheit hergestellt werden kÙnnte. Auch in der Diskussion zwischen Leibniz und Clarke, also zwischen Leibniz und Newton (vgl. Kap. X, 1), waren die beiden gelegentlich darÜber verÇrgert, daß ihr GesprÇchspartner sie nicht verstand, sie kamen aber nicht auf den Gedanken zu sagen, daß der andere ihn aufgrund grundlegend verschiedener Ausgangspositionen gar nicht verstehen konnte. Als Lockes Essay Concerning Human Understanding 1700 in einer franzÙsischen ¾bersetzung erschien, machte sich Leibniz sofort daran, sich in seinen Noveaux Essais mit Lockes Thesen auseinanderzusetzen (die Nouveaux Essais sind allerdings erst posthum 1765 erschienen). Die philosophische Kommunikations-Gemeinschaft wurde von niemandem ernsthaft in Frage gestellt. Wenn also im folgenden die AusdrÜcke »Rationalismus« bzw. »die Rationalisten« und »Empirismus« bzw. »die Empiristen« gebraucht werden, so muß es klar sein, daß es sich dabei um eine historisch gesehen unangemessene Begrifflichkeit handelt. Nichtsdestoweniger hat diese Etikettierung doch eine gewisse Berechtigung, da bei den unter diesen Bezeichnungen zusammengefaßten Philosophen tatsÇchlich (bei allen auch vorhandenen Gemeinsamkeiten) grundlegende Verschiedenheiten auszumachen sind. Gemeinsam ist beiden ein uneingeschrÇnktes Vertrauen in den Erkenntnisfortschritt durch die Wissenschaft und ebenso die ¾berzeugung, daß dieser Fortschritt der Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen dienen soll und auch wird. Es wÇre auch verfehlt anzunehmen, daß sich die Rationalisten diesen Erkenntnisfortschritt nur durch VernunftÜberlegungen und die Empiristen nur durch Beobachtung erwarteten. Die Rationalisten schrieben der empirischen Beobachtung eine Rolle zu, die gar nicht geringer war als jene, welche die Empiristen ihr zuordneten, und die Empiristen unterschÇtzten keineswegs die Bedeutung der Vernunft bei der wissenschaftlichen Verarbeitung empirischer Beobachtungen. GrundsÇtzlich verschieden ist jedoch ihre Auffassung von der Wissenschaft und die darin enthaltene Theorie der Erkenntnis, und diese Theorie hat auch Auswirkungen auf die gesamte Lebensauffassung, oder umgekehrt: Die verschiedene Lebensauffassung bestimmt die Grundlegung der Theorie. Dies wird im folgenden klarer werden. Hinter der Unterscheidung in Rationalisten und Empiristen steht auch eine weitere Diskussion, bei der allerdings die Fronten nicht so eindeutig sind. Diese Diskussion hat letztlich theologische Wurzeln: Die Rationalisten nehmen an, daß Gott eine mathematisch strukturierte Welt geschaffen hat. Die Prinzipien dieser Welt lassen sich aber nicht rein durch die Vernunft erkennen, denn Gott hatte verschiedene MÙglichkeiten der Konstruktion. Dies ist das nominalistische Erbe des Rationalismus, denn Gott konnte nach dieser Auffassung aus einer prinzipiell unendlichen Anzahl mÙglicher Welten eine bestimmte auswÇhlen (vgl. 2. Teil, Kap. XV, 3). Leibniz wird mit seiner »besten aller mÙglichen Welten« versuchen, diesen »Rest« von Unbestimmtheit zu beseitigen (vgl. Kap. XI, 5). FÜr die Rationalisten gilt: Die Erfahrung und besonders die in der Wissenschaft durchgefÜhrten Experimente dienen

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uns dazu, diesen gÙttlichen Konstruktionsplan zu entschlÜsseln. Im Prinzip entspricht dies schon der Wissenschaftsauffassung Galileis (vgl. Kap. IV, 1 und 3), und in dieser Hinsicht gehÙrt auch noch Newton zu den Rationalisten (vgl. Kap. X, 4). Eine Grenze dieser Nachkonstruktion des von Gott einmal beschlossenen Konstruktionsplans gibt es fÜr die Rationalisten nicht. Die Empiristen hingegen erheben in keiner Weise den Anspruch, Gottes PlÇne zu entschlÜsseln, und sie halten eine solche Aufgabenstellung auch fÜr ziemlich ÜberflÜssig und wissenschaftlich unerheblich. Damit wird natÜrlich bei ihnen die Frage der Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis relevant, wÇhrend diese Frage bei den Rationalisten eigentlich kaum Überhaupt gestellt wurde, mit Ausnahme von Pascal, der die Vorstellung, die PlÇne Gottes nachkonstruieren zu kÙnnen, auch aus anderen GrÜnden fÜr unsinnig hielt (vgl. Kap. VI, 2–4). In Lockes Essay Concerning Human Understanding spielt die Frage nach den Grenzen menschlicher Erkenntnis eine ganz wichtige Rolle: Die Philosophie hat verschiedene Aufgaben, eine ganz grundlegende ist es aber, den Menschen Über die Grenzen seiner ErkenntnismÙglichkeiten aufzuklÇren. Philosophie wird hier zu einer Schule der vernÜnftigen Bescheidenheit. Locke fÜhrt weder Prinzipien vor, die allen Menschen einsichtig sein mÜßten, noch auch zwingende (oder als zwingend vorgebrachte) Deduktionen, sondern er appelliert immer wieder an die einfache Erfahrung des Lesers: Kann dieser seine ¾berlegungen nicht an seiner eigenen Erfahrung verifizieren, so soll er einfach mit der LektÜre aufhÙren. Locke ist in seinem Stil - mehr als in seinen politischen Auffassungen - demokratisch; er will nicht belehren, sondern auf einem Konsens aufbauen, ohne den seine Schriften den Boden verlieren wÜrden. Daher schreibt er auch keine LehrbÜcher, sondern einfach einen »Versuch« (Essay) oder »Gedanken« (Some Thoughts; vgl. die Buchtitel weiter unten).

2. Ein Weltmann Locke war ein echter und universell Gebildeter. NatÜrlich konnte er nicht in allen Gebieten gleich grÜndlich ausgebildet sein, von Newtons Werken z. B. hat er vermutlich nur die Grundideen, nicht aber die mathematischen Deduktionen verstanden, aber selbst dies ist schon beachtlich. Dennoch wollte er kein Gelehrter sein, da er meinte, nicht im Besitz eines Wissens zu sein, das ihn vor anderen auszeichnete und das er weitergeben kÙnnte. Locke stammte aus einer gutsituierten, aber nicht reichen Familie. Sein Vater war Jurist. ’hnlich wie Descartes verfÜgte er Über ein zwar nicht besonders großes, aber doch ausreichendes Erbe, das ihm einen gewissen Spielraum bei seinen TÇtigkeiten ließ. SpÇter brachte er es dann aufgrund eigener AktivitÇten zu Reichtum. Locke studierte zunÇchst in Oxford Philosophie und lehrte auch selbst einige Jahre lang als Lecturer, strebte aber keine Professur an einer UniversitÇt an. Die bedeutenden

Ein Weltmann

Philosophen des 17. Jhd.s waren in den meisten FÇllen keine Philosophie-Professoren, sondern hatten immer andere BeschÇftigungen, die auch meist eintrÇglicher waren als eine Professur. Locke hatte aber auch prinzipielle GrÜnde fÜr seine Wahl: Er sah Philosophie zwar als eine nÜtzliche und auch durchaus erforderliche BeschÇftigung an, er meinte aber nicht, daß diese BeschÇftigung einen wirklichen Beruf darstellen sollte. In seinen Traktaten Über Erziehung macht er deutlich, daß jeder neben allgemeinen (auch philosophischen) Kenntnissen Über eine fachliche berufliche Kompetenz verfÜgen sollte. Locke studierte dann Chemie und Medizin und war dann spÇter lange Zeit als Arzt und persÙnlicher Berater bei dem spÇteren Earl of Shaftesbury (1621–1683) tÇtig. Gegen Ende seines Lebens stand Locke auch mit dessen Enkel, dem dritten Earl of Shaftesbury (1671–1713), in Kontakt, der spÇter ein wichtiger, von Lockes Philosophie maßgeblich beeinflußter, Vertreter der englischen AufklÇrung wurde. Im Bereich der Medizin lernte Locke viel von Thomas Sydenham (1624–1689). Anders als die Oxforder Mediziner, die stark chemisch orientiert waren und vor allem Kausalprozesse untersuchen wollten, war Sydenham eher empirischstatistisch interessiert: Er untersuchte die HÇufigkeit von Krankheiten, ihren Verlauf, die Wirksamkeit verschiedener Medikamente usw., ohne dies mit zu viel Kausaltheorien zu verbinden. Sydenham wie Locke waren an Ergebnissen interessiert und, wenn sie Erfolg hatten, keineswegs von der Sorge geplagt, einen »zureichenden Grund« fÜr alles zu finden. Locke selbst war als Arzt und Chirurg erfolgreich und wurde 1668 Mitglied der Royal Society, die inzwischen die wichtigste Institution zur FÙrderung empirischer Forschung in England geworden war. Bei Shaftesbury wurde Locke mit Fragen der Politik vertraut, und unter dessen Einfluß Çnderten sich auch seine politischen Auffassungen, die zu Beginn keineswegs liberal gewesen waren. Die wichtigen Stellungnahmen Lockes zu Fragen der Toleranz sind vom Geist Shaftesburys geprÇgt. Seit seiner TÇtigkeit bei Shaftesbury war Locke auch an Problemen der ²konomie interessiert und vom Jahre 1673 an im Board of Trade tÇtig, wo die Wirtschaftspolitik Englands im Mutterland und in den Kolonien effektiv festgeschrieben wurde. Locke strebte die Freiheit der Wirtschaft vor zu starken staatlichen Eingriffen an. So lehnte er z. B. in einer Schrift von 1692 eine staatliche Festsetzung des Zinssatzes ab, da dies seiner Auffassung nach die wirtschaftliche Entwicklung hemmt (Some Considerations of the Consequences of the Lowering of Interest, and the Raising of the Value of Money). Man wollte die Zinsen damals von seiten des Staates auf 4 % festsetzen, was Locke vom wirtschaftlichen Standpunkt aus zu niedrig schien. Locke war also ein Vertreter einer von politischen Vorgaben unabhÇngigen Geldpolitik. Dies bedeutet aber nicht, daß er Politik und Wirtschaft grundsÇtzlich trennen wollte, denn er trat fÜr SchutzzÙlle, also fÜr Steuern auf Importe ein, um die eigene Wirtschaft zu fÙrdern. Seine Einsichten in wirtschaftliche ZusammenhÇnge veranlaßten ihn auch seit 1676, eigenes Kapital in den Handel mit den Kolonien zu investieren. Dies tat er mit Erfolg, er wurde dadurch schließlich reich. Locke unternahm 1675–1679 eine auch durch Gesundheitspro-

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bleme motivierte Reise nach Frankreich, wo er in Paris mit Gelehrten vor allem aus dem Umkreis Gassendis in Kontakt kam. Nach seiner RÜckkehr nach England wurde er in das politische Schicksal Shaftesburys verwickelt, der aufgrund einer Anklage wegen Hochverrats nach Holland fliehen mußte, wohin ihm gezwungenermaßen auch Locke 1683 folgte. Dort mußte er aus Angst vor englischen Abgesandten lange Zeit versteckt leben, hatte aber auch dort Gelegenheit, mit Gelehrten in Kontakt zu treten. 1685 verfaßte er die Epistola de Tolerantia (Ein Brief Über Toleranz), die 1689 anonym erschien, was aber nicht verhindern konnte, daß der Name des Autors bekannt wurde. In dieser Schrift erklÇrte er die Religion zur Privatsache, auf die der Staat keinen Einfluß nehmen dÜrfe, womit erstmals eine vom Staat unabh›ngige Privatsph›re ausdrÜcklich beansprucht wurde, was dann auch andere Bereiche als den der Religion betraf. Von der Antike bis zu Hobbes war nie von einem Rechtsanspruch auf eine PrivatsphÇre gesprochen worden, dies geschieht erst in der Zeit von Pufendorf und Locke. Wollte man das Recht auf eine PrivatsphÇre als Menschenrecht, also zum natÜrlichen Recht gehÙrend, ansehen, so wÇre ein ethnologischer und historischer Nachweis dieses Rechts im Sinne von Pufendorf oder Locke kaum zu fÜhren. Daher ist die Vorstellung, daß Religion Privatsache ist, neu, d. h. sozusagen eine historische und ethnologische »Neuerfindung« am Ende des 17. Jhd.s. Bis zu diesem Zeitpunkt wÇre eine solche These als »unnatÜrlich« empfunden worden. Locke ging es jedoch nicht nur um freie ReligionsausÜbung, sondern auch um die Ùkonomischen Konsequenzen der Toleranz. Er sah, welche wirtschaftlichen Vorteile religiÙse Toleranz in Holland gebracht hatte, und hoffte auf eine Çhnliche Entwicklung in England. Toleranz war fÜr ihn also auch mit einer »ideologiefreien« Wirtschaftspraxis verbunden. Die politisch fÜhrenden Gruppen Englands hatten es inzwischen zustande gebracht, den Stuart-KÙnig Jakob II. zu vertreiben. Dazu gab es genÜgend gute GrÜnde, so war er z. B. stolz darauf, mehr VerrÇter hingerichtet zu haben als alle seine VorgÇnger zusammen. Jakob II. mußte nach der sogenannten glorious revolution fliehen, und Wilhelm von Oranien (1689–1702) wurde von den englischen Adeligen zum KÙnig erwÇhlt. Machtwechsel sind an sich nicht unbedingt etwas Wichtiges, hier jedoch gelang es, mit dem Machtwechsel ein neues politisches Denken durchzusetzen, und daran war Locke, der 1689 nach England zurÜckkehren konnte, maßgeblich beteiligt. Locke wurde der wichtigste Mann fÜr die politischen Auffassungen der Partei der Whigs, die entscheidend dazu beitrug, daß sich England als der einzige große europÇische Staat vom Absolutismus des 17. Jhd.s freimachte. Die Whigs hatten sich schon vorher im Parlament dafÜr eingesetzt, den Herzog von York, den spÇteren KÙnig Jakob II., von der Thronnachfolge auszuschließen, da sie sich dessen absolutistischen Tendenzen und dessen Absicht einer Restauration des Katholizismus wiedersetzten. Wilhelm von Oranien unterschrieb dann das Bill of Rights, in dem die Rechte des Parlaments festgeschrieben wurden. Locke machte in diesem Punkt allerdings eine Wandlung seines Denkens durch: ZunÇchst hatte auch er eine

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stÇrker autoritÇre Staatsauffassung vertreten und war erst unter dem Einfluß des Lord Shaftesbury zu einer liberaleren Auffassung Übergegangen. Dieser von Locke vertretene »Liberalismus« wurde dann eine wichtige Wurzel der AufklÇrung. 1690 erschien der Essay Concerning Human Undestanding, an dem Locke seit langer Zeit gearbeitet hatte. Dieses Werk Lockes wurde rasch bekannt, 1700 erschien eine franzÙsische ¾bersetzung, im folgenden Jahr eine lateinische, aber erst 1757 eine deutsche. Diese »VerspÇtung« der deutschen Version ist nicht zufÇllig. Entsprechend seinem Interesse an den Problemen der Gesellschaft widmete sich Locke auch den Fragen der Erziehung, so in seinem Traktat Some Thoughts Concerning Education (Gedanken Über Erziehung), der 1693 erschien. Wenig spÇter verfaßte er Some Thoughts Concerning Reading and Study for a Gentlemen (gedruckt erst 1720). Ziel der Erziehung ist es, Kinder und Jugendliche zu vernÜnftigen Menschen zu machen, was durch keine Doktrin, sondern nur durch das Eingehen auf die individuellen FÇhigkeiten und BedÜrfnisse der zu Erziehenden geschehen kÙnne. Auch hier sehen wir wiederum die fÜr Locke bezeichnende Art, an die Dinge heranzugehen: Er hat keine vorausgehende abstrakte Theorie, falls man nicht diese Art des »Herangehens« als Theorie bezeichnet, er verfÜgt Über kein »Menschenbild«, von dem er ein Erziehungsprogramm ableiten kÙnnte, sondern er will zunÇchst sehen, wie der Einzelne beschaffen ist, will seine MÙglichkeiten, seine FÇhigkeiten, seine BedÜrfnisse erkennen, um von dort aus zu sehen, was daraus entwickelt werden kann. Voraussetzung ist dabei allerdings immer die Annahme eines souverÇnen, freien Individuums, eine Annahme, die bei Locke allerdings außer Zweifel steht. Bei Locke ist die Freiheit des Menschen immer konkret, sie besteht nicht in der SelbstÇndigkeit eines denkenden Ichs, sondern realisiert sich als die schon mit der Erziehung beginnende SelbstÇndigkeit des Menschen im wirtschaftlichen, religiÙsen und politischen Bereich. Die wichtigsten GegenstÇnde des Unterrichts sind daher Naturwissenschaften, Ethik, Recht und Geschichte. In den letzten Jahren seines Lebens war Locke verstÇrkt im Board of Trade tÇtig und in diesem Zusammenhang gemeinsam mit Newton, der kÙniglicher MÜnzmeister geworden war, fÜr die Geldreform Englands zustÇndig. Er war der ¾berzeugung, daß Reichtum nicht einfach durch den Besitz von Geld bestimmt wird, sondern vor allem durch die Kapitalnachfrage von seiten der Wirtschaft: Geld ist selbst Produzent von Reichtum, allerdings nur dann, wenn es gebraucht wird. Der Reichtum eines Landes bestimmt sich entsprechend auch weniger durch den ¾berschuß oder das Defizit der Steuereinnahmen, sondern vor allem durch eine positive oder negative Außenhandelsbilanz. - Im Übrigen beschÇftigte sich Locke mit Bibelkommentaren, was aber nicht verhindern konnte, daß er von Vertretern der anglikanischen Kirche angegriffen wurde. Locke vertrat die Auffassung, daß nur die Vernunft und somit die natÜrliche Offenbarung entscheidend ist, und so suchte er in der Bibel das, was mit dieser natÜrlichen Offenbarung Übereinstimmt. Was außerhalb der natÜrlichen Religion liegt, ist rein privater Zustimmung unterworfen, keine Institution kann sich als

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dafÜr zustÇndig erklÇren. Diese Auffassung war natÜrlich nicht dazu angetan, die Begeisterung der anglikanischen BischÙfe hervorzurufen.

3. Die Naturgeschichte des menschlichen Denkens Locke hat in der Geschichte der Erkenntnistheorie einen wichtigen Platz, vermutlich wollte er das allerdings gar nicht. Er schrieb seinen - als sein Hauptwerk in die Philosophiegeschichte eingegangenen - Versuch Über den menschlichen Verstand, um sich nach der Erledigung dieses Problems wieder anderen, nÜtzlicheren Dingen zuzuwenden, dann allerdings im besseren Wissen um das, was nÜtzlich ist, und um das, was nur Zeitverschwendung ist. Letzteres ist dort der Fall, wo sich der Verstand mit Bereichen befaßt, in denen er ohnedies nichts erreichen kann. SpÇter nannte man solche Untersuchungen »Erkenntniskritik«, Locke wollte wahrscheinlich weniger. Eine These steht fÜr ihn fest:

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Die Menschen haben allen Grund, mit dem zufrieden zu sein, was Gott passend f¹r sie erachtet hat, denn er hat ihnen [...] alles, was f¹r die Bequemlichkeit des Lebens und zur Unterweisung in der Tugend erforderlich ist, gegeben und die Behaglichkeiten dieses Lebens sowie den Weg zu einem besseren Dasein in den Bereich ihrer Erkenntnis gestellt. Wie weit ihre Erkenntnis auch hinter einer universalen oder vollkommenen Erfassung dessen, was es auch immer sei, zur¹ckbleiben mag, so sind ihre wichtigen Interessen doch dadurch gewahrt, daß das Licht, das sie haben, ausreicht, um ihnen [korr. aus »sie«. F. S.] zur Erkenntnis ihres Sch³pfers und zu einem Einblick in ihre Pflichten zu verhelfen. (Versuch ¹ber den menschlichen Verstand. Einleitung 5. I. S. 25) Das gilt auch fÜr alle wissenschaftliche TÇtigkeit: Versuche und Beobachtungen zeitlich aufeinander folgender Vorg›nge k³nnen wir anstellen, aus denen wir mancherlei Vorteil f¹r unser Behagen und unsere Gesundheit ziehen. Dadurch k³nnen wir den Vorrat von Annehmlichkeiten f¹r unser Leben vermehren. Dar¹ber hinaus aber - so f¹rchte ich - reicht unsere Begabung nicht; auch glaube ich, daß unsere F›higkeiten nicht imstande sind, weiter fortzuschreiten. (Ebd. IV, 12, 10. II. S. 331) Locke will mit seiner Philosophie weg von jeglicher Aufgeregtheit, der Arzt Locke hÇtte vielleicht gesagt: weg von aller philosophischen Hysterie, die dauernd nach absoluten Wahrheiten strebt. Hier begegnen wir einer anderen Lebensauffassung als der der Rationalisten, die den zureichenden Grund von allem erkennen wollten und so nach einem universalen und absoluten Wissen, wenigstens in prinzipieller Hinsicht, strebten. Daß unser Wissen und unsere ErkenntnisfÇhigkeit begrenzt sind,

Die Naturgeschichte des menschlichen Denkens

braucht jemand wie Locke gar nicht eigens zu diskutieren, das steht fÜr ihn fest, ebenso wie aber auch feststeht, daß das, was wir im theoretischen wie im praktischen Bereich erkennen kÙnnen, fÜr uns fÜr ein vernÜnftiges, unseren Interessen entsprechendes Leben ausreicht. Die Frage der Erkenntnistheorie hat in diesem Zusammenhang ihre in anderen Kontexten auftretende SchÇrfe verloren. Dies erklÇrt, daß manche Unklarheiten, Ungereimtheiten oder theoretische SchwÇchen in Lockes Versuch Über den menschlichen Verstand, die Kritiker aus dem Lager der Erkenntnistheorie oder Wissenschaftstheorie ausmachten und bei denen sie sich erstaunt fragten, warum der Autor denn nicht selber darauf gekommen ist, Locke tatsÇchlich nicht berÜhrten. Locke wollte eben einfach die Grenzen der Erkenntnis auffinden, um festzustellen, wo es sich lohnte weiterzuarbeiten (natÜrlich nicht philosophisch, sondern medizinisch, Ùkonomisch, praktisch in einem weiteren Sinne) und wo solche MÜhe nur vergebens sein konnte: Wenn ich durch diese Untersuchung der Natur des Verstandes ermitteln kann, welches seine Kr›fte sind, wie weit sie reichen, welchen Dingen sie einigermaßen angemessen sind und wo sie nicht mehr ausreichen, so d¹rfte das vielleicht von Nutzen sein, um den regen Geist des Menschen zu bewegen, in der Besch›ftigung mit Dingen, die seine Fassungskraft ¹bersteigen, gr³ßere Zur¹ckhaltung zu ¹ben, um ihm Halt zu gebieten, wenn er am ›ußersten Rande des ihm zugewiesenen Bereiches angelangt ist, und sich gelassen mit seiner Unwissenheit abzufinden, wenn es sich um Dinge handelt, bei denen eine Pr¹fung erweist, daß sie jenseits des Bereiches unserer F›higkeiten liegen. (Ebd. Einleitung 4. I. S. 24) Sich »gelassen mit seiner Unwissenheit abzufinden« ist genau das, was den Rationalisten als unphilosophisches Denken erschien. FÜr Locke hingegen besteht gerade darin der rechte Gebrauch der Vernunft. In seinen Schriften zur Erziehung wies Locke wiederholt darauf hin, daß es auf eine VerstandesÜbung ankommt, in der mehr das AbwÇgen von Wahrscheinlichkeiten als die Anwendung von Prinzipien erlernt wird. Auch dort weist er wiederholt auf die Grenzen des Verstandes hin, die er im Bereich der Erziehung auch ganz individuell betrachtet: Es hat keinen Sinn, sich Aufgaben zu stellen, welche die eigenen KrÇfte Übersteigen und somit faktisch unlÙsbar sind. Die Methode, mit der Locke an die Frage von Reichweite und Grenze unseres Verstandes herangeht, nennt er die »historische, einfache Methode« (Ebd. Einleitung 2. I. S. 23), bei der es darum geht, »Ursprung, Gewißheit und Umfang der menschlichen Erkenntnis zu untersuchen« (Ebd. I. S. 22). Gemeint ist damit in einem ersten Schritt eine genetische Methode, d. h. Locke fragt, wie es dazu kommt, daß wir SÇtze Über die Wirklichkeit aussagen. Dabei ist der bewußt eingeschrÇnkte Ausgangspunkt zu beachten: Locke will weder eine »naturwissenschaftliche Betrachtung des Geistes« liefern (und somit keine Psychologie der Sinne entwerfen), und er will auch

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nicht fragen, worin das »Wesen« des Geistes besteht (Ebd.). Er wÇhlt also einen Ausgangspunkt, der außerhalb der Naturwissenschaft und außerhalb der Metaphysik liegt. Die wissenschaftstheoretische Einordnung von Lockes Versuch Über den menschlichen Verstand ist somit gar nicht so einfach. Es gab zu seiner Zeit zunÇchst einmal die Naturphilosophie. Locke nahm wie alle damals an, daß es deren Aufgabe sei, allgemeingÜltige und notwendige SÇtze zur ErklÇrung von PhÇnomenen zu liefern. Daneben gab es noch einen Bereich, der damals »Naturgeschichte« genannt wurde. Hier wurden SÇtze von Beschreibungen empirischer PhÇnomene gesammelt und klassifiziert. Als eigentlich »wissenschaftlich« sah man diese TÇtigkeit aber nicht an. Locke will nun Naturgeschichte und Philosophie zusammenbringen, was aber dann bedeutet, daß auf den Anspruch strenger »Wissenschaftlichkeit« verzichtet werden muß, da ihm klar ist, daß er auf diesem Weg zu keinen allgemeingÜltigen und notwendigen SÇtzen gelangen kann. Er war jedoch Überzeugt, daß der Nutzen und die Fruchtbarkeit dieser Untersuchungen fÜr den »Verlust« der Wissenschaftlichkeit entschÇdigen, so wie ja auch die damaligen Erfolge im Bereich der »Naturgeschichte« fÜr sich sprachen. Mit seinen Vorstellungen traf er sich mit denen Gassendis, dessen Schriften er kannte, und mit denen des Physikers Robert Boyle (1627–1691), mit dem er persÙnlich bekannt war. Lockes Ausgangspunkt ist dem Gassendis sehr nahe: Der menschliche Verstand ist zunÇchst eine tabula rasa, alles, was wir im Verstand vorfinden, stammt aus der Erfahrung. Locke meint, daß dies auch der normalen Erfahrung entspricht. Wir finden in unserem Geist verschiedenste Ideen oder Vorstellungen vor; daß diese nicht angeboren sein kÙnnen, ist Locke klar. Er setzt sich mit der Annahme angeborener Ideen trotzdem - unter dem Eindruck von Descartes’ Philosophie - ausfÜhrlich im 1. Buch seines Versuchs Über den menschlichen Verstand auseinander. Die Frage, woher die Erkenntnis des Menschen kommt, wird von Locke deutlich beantwortet: Woher hat er all das Material f¹r seine Vernunft und f¹r seine Erkenntnis? Ich antworte darauf mit einem einzigen Worte: aus der Erfahrung. (Ebd. II, 1, 2. I. S. 108) Da alle Erkenntnis auf Erfahrung beruht, ist die Bezeichnung »Empirismus« hier berechtigt. Locke unterscheidet allerdings zwei Bereiche der Erfahrung: Unsere Beobachtung, die entweder auf ›ußere sinnlich wahrnehmbare Objekte gerichtet ist oder auf innere Operationen des Geistes, die wir wahrnehmen und ¹ber die wir nachdenken, liefert unserm Verstand das gesamte Material des Denkens. (Ebd.) ’ußere Erfahrungen sind solche, die wir mit WÙrtern wie »gelb«, »weiß«, »bitter«, »kalt« usw. bezeichnen (Ebd. II, 1, 3. I. S. 108); diese Erfahrungen sind die sensations. Sobald solche Erfahrungen, die von außen an uns herangetragen werden, in unserem Geist sind, machen wir innere Erfahrungen, welche die Operationen des Gei-

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stes begleiten, die wir mit AusdrÜcken wie z. B. »wahrnehmen«, »denken«, »zweifeln«, »glauben«, »schließen«, »erkennen« und »wollen« bezeichnen (Ebd. II, 1, 4. I. S. 108); diese Operationen sind die reflexions. Alle diese Erfahrungen, also sensations wie reflexions, bezeichnet Locke als »einfache Ideen«. Schließlich gibt es auch einfache Ideen, die wir sowohl bei Sensationen als auch bei Reflexionen gewinnen; diese nennt Locke Modi, unter denen vor allem Freude und Schmerz wichtig sind, zu denen aber auch andere wie z. B. Hoffnung, Furcht oder Verzweiflung gehÙren (Ebd. II, 19 und 20. I. S. 268–276). Locke hat selbst gesehen, daß dieser (empiristische) Ansatzpunkt gar nicht so sehr erkenntnistheoretisch, sondern vielmehr sprachkritisch bestimmt ist, weshalb er auch das gesamte 3. Buch seines Versuchs Über den menschlichen Verstand den WÙrtern widmete. Der Gedanke dabei ist einfach: Wir kÙnnen bestimmte Begriffe definieren, indem wir sie durch andere WÙrter erklÇren, irgendwann kommen wir jedoch zu bestimmten WÙrtern, die wir nicht mehr definieren kÙnnen, und fÜr deren Verstehen mÜssen wir auf Erfahrungen verweisen. Dabei nÜtzen uns ErklÇrungen (Theorien) Über das Zustandekommen einer Erfahrung gar nichts: Eine Theorie der Ursachen von Farbempfindungen hilft einem Blinden nicht zu wissen, was mit »rot« gemeint ist. Ebenso nÜtzt eine ErklÇrung physiologischer Art nichts, wenn man wissen mÙchte, was »Schmerz« ist. Jemandem, der diese Empfindung nicht kennt, kÙnnte man doch nur sagen: »Schmerz ist die Erfahrung, die man macht, wenn ...«, d. h. man gibt eine Situation an, in der eben diese Erfahrung gemacht wird. Was sich also bei Locke zunÇchst als die (empiristische) Annahme des Ausgangspunktes von einer theoriefreien Erfahrung gezeigt hatte, erweist sich im weiteren Aufbau als semantisches Sinnpostulat (das nicht mit einem positivistischen Sinnkriterium verwechselt werden darf). Locke will nur sagen, daß es Worte gibt, deren Bedeutung man nur durch Hinweisen vermitteln kann, d. h. durch eine Art der Definition, die man heute ostensive definition nennt: Wer also nicht schon zuvor die von einem Wort vertretene einfache Idee auf dem entsprechenden Wege in seinen Geist aufgenommen hat, kann nie dazu gelangen, die Bedeutung jenes Wortes durch irgendwelche andere Worte oder Laute, die nach den Regeln der Definition miteinander verbunden sind, zu verstehen. Der einzige Weg dazu ist der, daß man den betreffenden Gegenstand auf seine Sinne einwirken l›ßt, um so in sich die Idee zu erzeugen, deren Namen man schon erlernt hat. (Ebd. III, 4, 11. II. S. 31) Locke kommt es also vor allem darauf an, letzte, nicht mehr weiter analysierbare BedeutungstrÇger in unserer Sprache aufzuzeigen, die eine Bedeutung einzig durch die Erfahrung haben, und diese nennt er dann »einfache Ideen«. Die Frage der Erkenntnistheoretiker, wie sich Locke die empiristische Auszeichnung »einfacher Ideen« vorgestellt habe, findet somit nur in der Sprachkritik Lockes eine Antwort.

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An eine deutliche Grenze seiner Methode gelangt Locke allerdings im Kapitel ¾ber die Partikel. Locke weiß genau, wie wichtig fÜr alle Aussagen das ist, was er »VerknÜpfung, EinschrÇnkung, Unterscheidung, GegenÜberstellung, Hervorhebung usw.« nennt, und er sagt auch ausdrÜcklich, daß diese WÙrter »keine Namen fÜr irgendwelche Ideen sind« (Ebd. III, 7, 1 f. II. S. 94 f.). Wenn man jedoch bei Locke eine Antwort auf die Frage sucht, was sie nun sind und woher sie kommen, so ist die Antwort Çußerst dÜrftig: Sie sind fÜr ihn »sÇmtlich Zeichen irgendeiner TÇtigkeit oder Andeutung des Geistes« - das ist alles (Ebd. III, 7, 4. II. S. 96). Man hat den Eindruck, daß Locke Über dieses fÜr ihn unangenehme Kapitel rasch hinweggehen will. Es kommt aber nicht von ungefÇhr, daß genau an dem Punkt, an dem die Rationalisten, z. B. Arnauld und Leibniz, einige ihrer besten Leistungen erbracht haben, bei Locke nur die vage Aufforderung steht, »das verschiedene Verhalten seines Geistes beim Reden genau [zu] beobachten« (Ebd. III, 7, 3. II. S. 95). Denn folgende Frage bleibt bestehen: Wenn Worten wie »und«, »oder« usw. keinen einfachen Empfindungen entsprechen, sie aber auch keine zusammengesetzten Ideen sind, woher kommen sie dann? Oder anders gefragt: Zeigen Worte wie »und«, »oder« usw. nicht doch an, daß unsere Erkenntnis nicht ganz ohne empiriefreie Elemente auskommt? Wenn man das Verhalten des Geistes beim Reden genau beobachtet, wie Locke dies fordert, so muß man feststellen, daß man zwar eine Gruppe von ’pfeln sehen kann, nicht aber 1 + 1 ’pfel. Also was ist das »+« oder das »und«? Wenn Locke allerdings von den Partikeln sagt, »dieses Kapitel der Grammatik [sei] vielleicht ebenso stark vernachlÇssigt worden, wie andere ÜbermÇßig durchdacht worden sind« (Ebd.), so zeigt dies eigentlich nur das Nicht-mehr-Kennen der mittelalterlichen Philosophie zu seiner Zeit. Von einem Traktat wie dem De syncategorematicis seines englischen Landsmannes William von Sherwood aus dem 13. Jhd., wo solche Fragen sehr genau behandelt worden waren, hatte er offensichtlich niemals etwas gehÙrt. BerÜcksichtigt man, daß Lockes Sprachphilosophie in einem ganz entscheidenden Sinne sprachkritisch orientiert ist, so ist die schon seit Bacon offenkundige Unkenntnis der Tradition gerade auch der englischen Logiker des Mittelalters, von deren Werken inzwischen auch schon eine ganze Anzahl im Druck erschienen war (vgl. Kap. I, 6), als ein nicht unerheblicher Mangel anzusehen. Der weitere Gang unserer Erkenntnis besteht dann nach Locke darin, daß wir bestimmte Gruppen einfacher Ideen zu komplexen Begriffen zusammenfassen, wobei diese Zusammenfassungen von unserem Geist abhÇngen. Hier bilden wir also immer Definitionen, durch die ein Gegenstand konstituiert wird. Im einfachsten Fall gehen wir z. B. von Bezeichnungen fÜr Eigenschaften wie etwa »fest« und »flÜssig« aus, dann gehÙren Quecksilber wie Wasser zu den flÜssigen GegenstÇnden, oder wir fassen andere Eigenschaften zusammen, durch die wir den Begriff »Metall« bilden, wo dann Quecksilber zu den Metallen gehÙrt, Wasser dagegen zu den NichtMetallen. Da es uns freisteht, solche Gruppen zu bilden, dÜrfen wir uns nie einbilden, »Wesenheiten« oder »Substanzen« zu erkennen:

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Tats›chlich k³nnen wir denn auch die Dinge nicht nach ihren realen Wesenheiten ordnen und gruppieren und sie folglich auch nicht benennen (was doch der Zweck solchen Ordnens ist), weil wir jene Wesenheiten nicht kennen. Unsere F›higkeiten bringen uns in der Kenntnis und Unterscheidung der Substanzen nicht weiter als bis zur Zusammenfassung jener sinnlich wahrnehmbaren Ideen, die wir an ihnen beobachten. (Ebd. III, 6, 9. II. S. 56) Die Auffassung, daß wir die Wesenheiten der Dinge nicht erkennen kÙnnen, erhielt ihre PlausibilitÇt durch den Atomismus. Seit der Renaissance spielte die antike Atomtheorie Demokrits (vgl. 1. Teil, Kap. V, 3, a) eine große Rolle. Telesio hatte den Atomismus Demokrits vertreten (vgl. 3. Teil, Kap. I, 7), auch Galilei hatte mit atomistischen Vorstellungen gearbeitet (vgl. Kap. IV, 3), und auch Lockes Zeitgenosse Newton verwendet sie. FÜr Gassendi stand diese Theorie im Zentrum seiner Naturphilosophie. Das, was wir als Sinnesempfindungen wahrnehmen, ist die Wirkung von ZustÇnden, die durch die GrÙße, Gestalt, Ordnung und Bewegung der Atome determiniert sind, die jedoch unserer Beobachtung unzugÇnglich sind. Wir sehen also nur die OberflÇche von Dingen, die in ihrem Inneren eine Form haben, welche keine ’hnlichkeit mit dieser OberflÇche hat. Das »Wesen« der Dinge bleibt uns also verborgen. Locke Übernahm diese Atomtheorie: Nehmen wir an, unsere Ideen von Substanzen w›ren so geartet, daß wir w¹ßten, durch welche reale Beschaffenheit die an ihnen entdeckten wahrnehmbaren Qualit›ten zustandekommen und in welcher Weise sie aus jener Beschaffenheit hervorgehen; dann k³nnten wir mit Hilfe der in unserem Geist vorhandenen besonderen Ideen von ihren realen Wesenheiten mit gr³ßerer Gewißheit ihre Eigenschaften herausfinden und die Qualit›ten, die sie haben, oder nicht haben, feststellen, als wir das jetzt mit Hilfe unserer Sinne zu tun verm³gen. [...] Wir sind jedoch so weit davon entfernt, zu den Geheimnissen der Natur zugelassen zu werden, daß wir schwerlich je an ihre ›ußerste Pforte herankommen. (Ebd. IV, 6, 11. II. S. 248 f.) Locke nahm auch an, daß die Dinge schon in ihrer Atomstruktur in Verbindung mit den Übrigen Dingen stehen, und zwar in einer Weise, daß ein Ding eigentlich gar nicht ohne diese Beziehungen richtig erkannt werden kann, wobei wir jedoch auch diese Verbindungen nicht erkennen kÙnnen. Locke zieht dafÜr u.a. das Beispiel des zu seiner Zeit hÇufig diskutierten Magnetsteines heran, dessen wahrnehmbare QualitÇten von weit entfernten Dingen abhÇngen mÜssen (Ebd. S. 250), und er stellt zusammenfassend fest: Alle diese Tatsachen lassen uns deutlich erkennen, daß die Mitwirkung und Bet›tigung einer Reihe von K³rpern, mit denen sie kaum je in Verbindung gebracht werden, unbedingt notwendig ist, um sie zu dem zu machen, als was sie sich uns darstellen, und die

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Qualit›ten zu erhalten, an denen wir sie erkennen und nach denen wir sie unterscheiden. Wir gehen demnach absolut fehl, wenn wir glauben, daß die Dinge in sich selbst die Qualit›ten enthielten, die wir an ihnen bemerken. (Ebd. S. 251)

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Solche Feststellungen erscheinen uns heute als beinahe selbstverstÇndlich. Man muß aber dabei sehen, daß der Atomismus zur Zeit Lockes eine Theorie war, fÜr die es keinerlei MÙglichkeit der empirischen ¾berprÜfung gab. Wir wÜrden heute sagen, daß es sich damals bei der Theorie des Atomismus um eine »außerwissenschaftliche« Annahme handelte. Im Grunde wußte das auch Locke, er nahm aber an, daß diese Theorie fruchtbar und anderen Vermutungen Überlegen war. Man muß auch sehen, daß gerade zu seiner Zeit die technische Erfindung des Mikroskops eine ebenso große Aufmerksamkeit hervorrief, wie einige Jahrzehnte vorher die des Teleskops. Das Mikroskop war zwar schon um 1590 von den Brillenschleifern Hans und Zacharias Janssen erfunden, aber erst seit der Mitte des 17. Jhd.s durch Huygens und andere so weiterentwickelt worden, daß es fÜr wissenschaftliche Zwecke eingesetzt werden konnte. Antony van Leeuwenhoek (1632–1723) war es durch seine mikroskopischen Arbeiten erstmals gelungen, Mikroorganismen zu beobachten, was 1673 durch eine Mitteilung an die Royal Society bekannt und entsprechend diskutiert wurde. SelbstverstÇndlich konnten solche Beobachtungen in keiner Weise den Atomismus empirisch bestÇtigen. Der Atomismus des 17. Jhd.s kann also nicht mit dem kopernikanischen oder keplerschen System verglichen werden, das eindeutige kalkulatorische Vorteile bei der ErklÇrung empirischer PhÇnomene lieferte. Die Forschungsrichtung auf das unendlich Kleine hin schien aber, angeregt durch das Mikroskop, eine fruchtbare Entwicklung der Wissenschaft einleiten zu kÙnnen, und die theoretische Voraussetzung dafÜr war der Atomismus. Die Entscheidung fÜr den Atomismus hat den Gang der Wissenschaft der folgenden Jahrhunderte bis in unsere Gegenwart geprÇgt, und die Korpuskulartheorie ist inzwischen durch den Fortschritt der Wissenschaft und der Technik (Elektronenmikroskop) zu einer Theorie geworden, die eine so breite empirisch-experimentelle BestÇtigung gefunden hat, daß sie beinahe wie eine Vernunfteinsicht wirkt. Man sollte aber nicht vergessen, daß sie dies von Demokrit bis lange Über Locke hinaus keineswegs war. So wie die Erkenntnistheorie Lockes als ganze, so ist auch der darin enthaltene Atomismus wissenschaftstheoretisch schwer einzuordnen: Er stellte damals keine physikalische Theorie dar, sollte aber auch keine metaphysische Theorie sein. Wahrscheinlich hÇtte sich Locke aber gar nicht sonderlich mit dieser Frage beschÇftigt: Es handelt sich dabei um eine Vermutung, die erkenntniskritisch und wissenschaftlich fruchtbar sein kÙnnte, eine »Rahmentheorie«, die zu verfolgen sich lohnt, mehr brauchen wir nicht zu wissen. Das Denken im Rahmen von mÙglicherweise fruchtbaren Vermutungen fÜhrte Locke konsequenterweise zu einer Aufwertung der Wahrscheinlichkeit. Descartes hatte in seiner Auffassung vom theoretischen Wissen die Wahrscheinlichkeit deut-

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lich abgewertet. Dies war bedingt durch seinen sehr hoch gesteckten und im Prinzip unbegrenzten Erkenntnisanspruch (vgl. Kap. V, 2). Locke bezieht hier eine Gegenposition, die bestimmt ist von seinem Ausgangspunkt: der Begrenztheit allen Wissens. Von dieser Voraussetzung aus ist die Frage nach der Wahrscheinlichkeit eine, die sich mit einer gewissen SelbstverstÇndlichkeit und ohne die großen »Wahrheitsprobleme« ergibt: Unser Wissen ist, wie bereits dargelegt, ein sehr beschr›nktes. [...] Daher werde ich nun, nachdem ich die Grenzen der menschlichen Erkenntnis und Gewißheit festgestellt zu haben glaube, im folgenden dazu ¹bergehen, die verschiedenen Grade und Ursachen der Wahrscheinlichkeit, der Zustimmung und des Glaubens zu untersuchen. (Versuch ¹ber den menschlichen Verstand IV, 15, 2. II. S. 344) Auch hier begegnen wir einer fÜr den weiteren Gang der Wissenschaft wichtigen Umorientierung, die jedoch einer PrÇzisierung bedarf. Locke arbeitet nicht mit dem WahrscheinlichkeitskalkÜl im Sinne von Pascal (vgl. Kap. VI, 3). Es geht ihm also nicht um die kalkulierbare Wahrscheinlichkeit des Eintreffens eines singulÇren Ereignisses, sondern um das AbwÇgen der GrÜnde und GegengrÜnde, die fÜr eine Aussage sprechen. Da fÜr Locke alle BeobachtungssÇtze der empirischen Wissenschaften Wahrscheinlichkeits-Aussagen sind, ist es fÜr die Wissenschaften wichtig, die nicht immer gleiche QualitÇt der Wahrscheinlichkeit nÇher zu bestimmen. Daraus ergeben sich Grade der Wahrscheinlichkeit. Liegt eine sich immer wiederholende Erfahrung vor, die auch mit den Berichten der Erfahrung frÜherer Menschen Übereinstimmt, so handelt es sich um den hÙchsten Grad der Wahrscheinlichkeit, bei dessen Vorhandensein wir praktisch so verfahren kÙnnen, als ob es um sicheres Wissen ginge: Wir ziehen Folgerungen daraus und handeln danach ebenso unbedenklich, wie wenn sie vollkommen bewiesen w›ren. Wenn zum Beispiel alle Engl›nder, die Gelegenheit h›tten, davon zu sprechen, behaupten w¹rden, es habe im letzen Winter in England gefroren oder man habe dort im Sommer Schwalben gesehen, dann k³nnte man meines Erachtens daran ebensowenig zweifeln wie an der Tatsache, daß sieben plus vier gleich elf sind. (Versuch ¹ber den menschlichen Verstand IV, 16, 6. II. S. 353) Der berÜhmte Unterschied zwischen Vernunft- und Tatsachenwahrheiten (veritµs de raison/veritµs de fait), der fÜr alle Rationalisten so wichtig war und den Locke kannte, bereitete ihm jedenfalls fÜr den Fall, wo die Beobachtung solcher Tatsachen allgemein verbÜrgt ist, kein besonderes Kopfzerbrechen. Die allgemeine ¾bereinstimmung der Beobachtungs-SÇtze stellt aber trotzdem kein Kriterium der Wahrheit dar, die Aussagen selbst bleiben auch bei vorliegender ¾bereinstimmung der Urteile der kompetenten Beurteiler »nur« wahrscheinlich, was aber eben fÜr den Fortgang der

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Wissenschaft »unbedenklich« ist. - Der zweite Grad der Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn sich etwas in den meisten FÇllen so verhÇlt und auch mit der eigenen Erfahrung Übereinstimmt. Als Beispiel fÜhrt Locke die Aussage an, »daß die meisten Menschen ihren persÙnlichen Nutzen dem allgemeinen Nutzen vorziehen« (Ebd. IV, 16, 7. II. S. 354 f.). Daß dieser Aussage eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit zukommt, bezweifelt niemand, und auch in unserem modernen statistischen Zeitalter ist noch niemand auf den Gedanken gekommen, dieser Aussage einen genauen statistischen Wert zuzuschreiben: Eine solche empirische Untersuchung wÜrde keinen Erkenntnisgewinn bringen. Problematischer wird die EinschÇtzung, wenn Argumente und Beweise fÜr und gegen eine Auffassung vorgebracht werden kÙnnen. Dann ergeben sich EinschÇtzungen, die von Glauben, Annehmen, Vermuten, Zweifeln, Schwanken, Mißtrauen bis zu Nichtglauben gehen kÙnnen (Ebd. IV, 16, 9. II. S. 356). Hier genaue Kriterien anzugeben, wird natÜrlich schwierig. Das Modell, nach dem Locke Regeln fÜr die Bestimmung der Grade der Wahrscheinlichkeit entwickelt, stammt vor allem aus dem Bereich der Rechtspraxis sowie aus der Geschichtsforschung. Locke ist dabei vernÜnftigerweise sehr kritisch: GewÙhnlich wurde angenommen, daß eine Aussage, fÜr deren Geltung man sich auf eine lange Tradition berufen kann, besonders glaubwÜrdig sei. Dies Überzeugt Locke nicht; er stellt sich dabei gegen die gelÇufige Meinung, daß die QuantitÇt der Zeugnisse die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit erhÙhe. Seiner durchaus vernÜnftigen Auffassung nach muß man die Wahrscheinlichkeits-Beurteilung bei Überlieferten SÇtzen geradezu umkehren: Auf diesem Wege erlangen S›tze, die anfangs offenbar falsch oder doch recht zweifelhaft waren, durch eine Umkehrung des Gesetzes der Wahrscheinlichkeit das Ansehen von authentischen Wahrheiten; Aussagen, die im Munde ihres Urhebers wenig Glauben fanden oder verdienten, erhalten durch das Alter den Stempel der Ehrw¹rdigkeit und werden dann als unanfechtbar gepriesen. (Ebd. IV, 16, 10. II. S. 357) Damit ist keine Abwertung der Geschichtsquellen gegeben. Locke schÇtzte durchaus das Zeugnis der Geschichte, er warnte aber davor, sich »auf die Zitate von Zitaten« zu verlassen (Ebd. S. 358). Die hier nur angedeuteten Kriterien Lockes hinsichtlich einer historischen Kritik wurden fÜr die AufklÇrung wichtig. Aber Locke stand mit seinen Forderungen auch zu seiner Zeit nicht allein. Die kritisch-historische Arbeit, die schon in der Renaissance begonnen hatte, hatte im 17. Jhd. ein beachtliches Niveau erreicht. Große historisch-kritische Ausgaben entstanden. Um nur einige Beispiele zu erwÇhnen: In Belgien begrÜndete Jean Bolland (1596–1665) eine spÇter nach ihm benannte Schule historisch-kritischer Arbeit (Bollandisten), die dann von Daniel Papebroch (1628–1714) in Antwerpen fortgefÜhrt wurde, wo eine Spezialbibliothek fÜr historische Arbeiten und eine große Sammlung von Manuskripten entstand, welche die Publikation der vielen BÇnde der Acta Sanctorum ermÙglichte.

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In Mailand arbeitete Ludovico Antonio Muratori (1672–1750), der in der ersten HÇlfte des 18. Jhd.s die ersten 27 BÇnde der Rerum italicarum scriptores und anschließend weitere 6 BÇnde der Antiquitates Italicae Medii Aevi verÙffentlichte. Und auch Leibniz war lange Zeit mit der Vorbereitung seines Codex juris gentium diplomaticus beschÇftigt, dessen historisch-kritisches Niveau allerdings nicht unbedingt das beste darstellt, was in diesem Jahrhundert erreicht wurde. Bei Locke war mit der Entwicklung von Kriterien fÜr die Beurteilung wahrscheinlicher Aussagen u.a. auch die Hoffnung verbunden, Kontroversen im religiÙsen und politischen Bereich eine rationalere und ÜberprÜfbarere Form zu geben. Die Frage von Graden der Wahrscheinlichkeit ist also fÜr Locke ein Problem, das nicht nur fÜr die EinschÇtzung von wissenschaftlichen Theorien Bedeutung gewinnt, sondern auch etwas mit seinen Stellungnahmen zur Toleranz zu tun hat. Auch bei der Beurteilung historischer Aussagen sollten durch die EinschÇtzung von Wahrscheinlichkeiten Fortschritte erzielt werden, was wiederum dazu fÜhren sollte, daß die Gesellschaft vernÜnftiger und somit toleranter wÜrde. Allerdings fand er sich bei der Frage nach »Fortschritt« mit einer prinzipiellen Problematik konfrontiert. Locke war wie alle Gebildeten seiner Zeit beeindruckt vom Fortschritt der Wissenschaften. Innerhalb seiner Naturgeschichte des menschlichen Denkens fand er sich jedoch mit der Schwierigkeit konfrontiert zu erklÇren, worin denn - in theoretischer Hinsicht »Fortschritt« der Erkenntnis bestehen soll. Denn »bessere« Ideen gibt es nicht und »bessere« komplexe Begriffe kÙnnte es nur geben, wenn bestimmte Begriffe »nÇher« an der Wirklichkeit wÇren als andere, aber all dies will Locke nicht zugestehen. Man muß sich jedoch klarmachen, daß dies eine Schwierigkeit ist, mit der auch die heutige Wissenschaftstheorie zu kÇmpfen hat, falls man nicht Überhaupt vorschlÇgt, den Begriff »Fortschritt« als letzten Rest einer metaphysischen Auffassung, nÇmlich der Teleologie, aus ihrem Vokabular zu verbannen.

4. Das nat¹rliche Gesetz, der Staat und der Privatmann Die praktische Philosophie Lockes steht - soweit es den ganz allgemeinen Rahmen betrifft - genauso wie die theoretische Philosophie unter dem Einfluß Gassendis. Dieser hatte in der Naturphilosophie den Atomismus Demokrits wiederbelebt und ebenso hatte er im Bereich der praktischen Philosophie den damit in Zusammenhang stehenden Epikureismus wieder zur Geltung gebracht. Dies bedeutet dann bei Locke, daß das GlÜck durch Lust bestimmt ist. Lockes Ethik ist also in ihrer Grundlage das, was wir - allerdings in dem historisch korrekten Sinne (vgl. 1. Teil, Kap. XIII, 2) - »hedonistisch« nennen. Dies schließt, wie auch bei Epikur, die Forderung nach dem Gebrauch der Vernunft nicht aus, die Ethik Lockes ist ganz im Gegenteil genauso wie die Ethik Epikurs ausdrÜcklich eine Vernunftethik. Was »Lust« bedeutet, lÇßt sich nach Locke nur durch die Erfahrung bestimmen, und

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diese Erfahrung wird am deutlichsten durch die negative Erfahrung des Unbehagens (Versuch Über den menschlichen Verstand II, 21, 33. I. S. 301 f.). Nichtsdestoweniger ist der Unterschied zu der antiken Auffassung an einem entscheidenden Punkt zu sehen: Auch die spÇtantike Ethik wandte sich an den Einzelnen, es wurde dort aber doch angenommen, daß es ein Allgemeines gebe, das als »GlÜck« (eudaimonÏa) bezeichnet werden kÙnne. Dies ist bei Locke nicht mehr der Fall, es gibt fÜr ihn keine allgemeine Idee von »Gl¹ck«: Was jemand als »GlÜck« ansieht, ist nur von seinen privaten Vorlieben und Abneigungen bestimmt, er sucht nicht »das GlÜck«, sondern »sein GlÜck« (Ebd. II, 21, 34. I. S. 311). Und selbst dann, wenn mehrere Menschen zu einem Konsens darÜber gelangen, was sie als »GlÜck« ansehen, wird daraus keine allgemeine Vorstellung von »GlÜck«. »GlÜck« ist Privatsache. Es gibt keine glÜckliche Gesellschaft, sondern bestenfalls eine Ansammlung glÜcklicher Einzelner, von denen es aber jedem freisteht, sich unter »GlÜck« das vorzustellen und das anzustreben, was ihm richtig erscheint. Dieser ganze Bereich der praktischen Philosophie steht allerdings bei Locke unter einem prekÇren Argumentationsvorbehalt: Alle diese Begriffe sind das, was er »gemischte Modi« nennt, d. h. es handelt sich hier prinzipiell nur um Zusammensetzungen, die unser Geist vornimmt, wobei er Elemente aus den einfachen sensations und reflexions zusammenfaßt. Diese Begriffe haben daher keine Basis in der »Wirklichkeit«, es gibt keine einfachen Modi wie »gerecht«. In Lockes sprachkritischer Auffassung gibt es somit keine ethischen oder politischen Begriffe, die eine unbedingte Argumentationsbasis abgeben kÙnnten. Der Sprachvergleich zeigt dies deutlich: Denn man kann - ohne lange zu suchen - in einer Sprache zahlreiche W³rter finden, f¹r die es in einer anderen keine entsprechenden gibt. Dies zeigt deutlich, daß die Bewohner eines Landes durch Sitten und Lebensweise veranlaßt worden sind, gewisse komplexe Ideen zu bilden und ihnen Namen zu geben, die andere niemals zu spezifischen Ideen zusammenfaßten. (Ebd. III, 5, 8. II. S. 41) Diese Auffassung kam selbstverstÇndlich dem inzwischen durch Kolonisation und durch Reiseberichte sehr angewachsenen ethnologischen Kenntnisstand entgegen. Auf dieser Grundlage wÇre es allerdings nur mÙglich gewesen, eine deskriptiv-historische Geschichte der sprachlichen Normbegriffe zu verfassen, aus der man aber nichts Verbindliches hÇtte ableiten kÙnnen. Man kÙnnte immer, sei es durch stillschweigende ¾bereinkunft, sei es durch gesetzliche Regelung, neue Begriffe und so Verhaltensweisen oder Bezeichnungen fÜr »gute« oder »bÙse« Handlungen bilden. Locke blieb jedoch bei dem eben Gesagten nicht stehen. In seinen Zwei Abhandlungen Über Regierung, die im gleichen Jahr wie der Versuch Über den menschlichen Verstand erschienen (1689/1690), geht Locke, ohne dies zu begrÜnden, nicht von diesen Voraussetzungen aus. Er verwendet hier den Begriff des »Naturgesetzes«, in

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dem z. B. die Vorstellung, daß die Menschen frei und folglich gleich sind, nicht zur Disposition fÜr eine andere Definition steht, und dasselbe gilt fÜr die Grundbegriffe der wichtigsten GÜter »Leben«, »Freiheit« und »Eigentum«. In diesem Zusammenhang geht Locke also nicht historisch-genetisch vor, sondern nimmt an, es gebe so etwas wie Vernunftgebote. Er nimmt an, daß Gott in die natÜrliche Ordnung ein Gesetz hineingelegt hat, das von der Vernunft des Menschen erkannt werden kann. Diese beiden Ausgangspunkte der praktischen Philosophie Lockes sind in der Tat schwer zu vereinbaren. Man kÙnnte es jedoch so sehen, daß Locke hier auf dem Weg zu Kants strenger Trennung in theoretische und praktische Vernunft ist: Auf der einen Seite - im Essay - gibt es nur eine empirische Beschreibung des tatsÇchlichen Verhaltens der Menschen, aber auf der anderen Seite - in den Zwei Abhandlungen Über Regierung - gibt es eine normative praktische Philosophie der Sittlichkeit und des Rechts. Die Menschen gelangen zur Erkenntnis dieses natÜrlichen Gesetzes allerdings nach Locke durch keinerlei angeborene Ideen und durch keinerlei kategorischen Imperativ, sondern ausschließlich durch einzelne Erfahrungen, die dann verallgemeinert werden. Er meint dabei, daß diese Einsichten »leicht« zu gewinnen seien und eigentlich bei allen Menschen vorhanden sein mÜßten (vielleicht verließ sich Locke dabei allerdings zu sehr auf die faktisch schon vorhandene VernÜnftigkeit der positiven Ordnung Hollands und Englands). Das Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum ist nach Locke auch schon im Naturzustand vorhanden. Um diese GÜter zu schÜtzen, aber gleichzeitig den Krieg aller gegen alle zu verhindern - hier sind wir gar nicht so weit von Hobbes entfernt - schließen die Menschen einen Gesellschaftsvertrag, durch den der Schutz dieser GÜter an den Staat delegiert wird, dafÜr aber auf das Recht der Verteidigung der eigenen GÜter und der Bestrafung jener, die dieses Recht nicht beachten, verzichtet wird. Im Staat sollen Legislative und Exekutive unterschiedene Gewalten sein, allerdings nicht, weil dies ein Vernunftgebot wÇre, sondern deshalb, weil sich eine solche Trennung praktisch bewÇhrt hat. Da die Menschen im Gesellschaftsvertrag auf die ihnen zustehende Gewalt nur freiwillig verzichtet haben, haben sie das Recht, bei Mißbrauch der legislativen oder exekutiven Gewalt auch wiederum mit Gewalt Widerstand zu leisten. Locke entwickelte im weiteren eine Reihe sehr interessanter Themen: u. a. eine Theorie der Arbeit, aus der das Recht des Produzierenden auf das Produzierte hervorgeht; eine Theorie der Grenzen des Erwerbs, denn es darf nichts verderben; außerdem eine Theorie der Geldwirtschaft, in der begrÜndet wird, warum diese nÜtzlich ist, insofern sie den Anteil am Ùkonomischen Gewinn auch dem sichert, der keinen eigenen Boden erwerben kann. - Gelegentlich wÇre es jedoch fÜr Locke nÜtzlich gewesen, sich an die Sprachtheorie seines Essyas etwas mehr zu erinnern. Die Theorie der Normbegriffe, wie er sie dort entwickelt hatte, hÇtte ihm jedenfalls keine Grundlage etwa dafÜr gegeben, Eigentumsrecht auf amerikanisches Nomadenland der Indianer aufgrund von landwirtschaftlicher Nutzung zu begrÜnden. Warum sollten die Indianer nicht einen anderen »gemischten Modus« fÜr »Eigentum« und

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»Nutzung« bilden als die EnglÇnder, und woher nahmen die EnglÇnder ein Recht, mit ihrem »gemischten Modus« Indianer aus ihrem Gebiet zu vertreiben? Die Nutzung durch Ackerbau ist keineswegs eine bessere Grundlage fÜr den Anspruch eines Eigentumsrechts als die durch Jagd. HÇtte er nochmals seinen Essay gelesen, so hÇtte er zwar die Kolonialisierung auch nicht verhindert, er hÇtte es sich aber erspart, sie zu legitimieren. Zu den Fragen der praktischen Philosophie gehÙrt bei Locke der Sache nach auch die Religionsphilosophie. In den spÇteren Jahren verfaßte er die Abhandlung The Reasonableness of Christianity, eine Schrift, die fÜr die Philosophie der AufklÇrung sehr wichtig werden sollte. Das Problem, das er sich stellte, war das, was spÇter als »nat¹rliche Religion« bezeichnet wurde. FÜr Locke ist die Frage einer Vernunftreligion provoziert durch den Streit zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen, der zu seiner Zeit wiederholt zu Kriegen gefÜhrt hatte. Die Vernunftreligion sollte auch das Fundament fÜr das liefern, was Locke schon in den Toleranzschriften dargelegt hatte. Durch die Anerkennung einer gemeinsamen vernÜnftigen Religion kÙnnte der Friede zwischen den verschiedenen konfessionellen Gruppen gesichert werden. Seiner Auffassung nach enthÇlt das Christentum als Grundlage genau diese Vernunftreligion, was im Bereich der Ethik bedeutet, daß die sittlichen Regeln des Neuen Testaments denen der natÜrlichen Ethik entsprechen. Die Grenzen der Interventionskompetenz des Staates sind durch diese Vernunftreligion umschrieben. Was in den einzelnen Religionen bzw. Konfessionen darÜber hinausgeht, ist wiederum Privatsache, d. h. ist der Beurteilung des Einzelnen Überlassen. Locke leugnet dabei nicht das Vorhandensein einer Offenbarung, er will nur verhindern, daß deren Auslegungsprobleme gesellschaftliche Konsequenzen haben kÙnnen. Er selbst verfaßte gegen Ende seines Lebens auch Bibelkommentare, in denen allerdings seine liberal aufgeklÇrte Haltung deutlich zum Ausdruck kam: Die augustinische Auffassung der ErbsÜnde (vgl. 2. Teil, Kap. III, 5) war fÜr ihn inakzeptabel, ohne daß er deshalb zu der - fÜr einen Empiriker wirklich recht unwahrscheinlichen - Auffassung gelangte, die Menschen seien von Natur aus gut. Auch in diesem Punkt war er von Hobbes gar nicht so weit entfernt, er meinte aber, daß die Menschen durch die Gottesfurcht, deren Verpflichtung er zu den Erkenntnissen der vernÜnftigen Religion rechnete, zu einem halbwegs sittlichen Lebenswandel gebracht werden kÙnnen wobei man allerdings Locke fragen muß, ob dies empirisch halbwegs bestÇtigbar ist. Die religionsphilosophischen Thesen Lockes wurden in eine Richtung fortentwickelt, die er selbst nicht gewÜnscht, die ihn aber mÙglicherweise auch nicht sonderlich gestÙrt hÇtte: Er hatte an einer Offenbarung festgehalten, in der Folge blieb jedoch hÇufig, etwa in John Tolands (1670–1722) Christianity Not Mysterious nur eine Vernunftreligion deistischer PrÇgung Übrig: Gott hat einmal eine Welt geschaffen, mit dem weiteren Verlauf derselben aber hat er nichts mehr zu tun. Die Wirkung der Schriften Lockes trat rasch ein. Im Vergleich zu vielen anderen Philosophen war seine Wirkung - in der franzÙsischen wie in der deutschen Philoso-

Das natÜrliche Gesetz, der Staat und der Privatmann

phie der AufklÇrung - auch sehr breit und blieb nicht auf Philosophen-Kollegen beschrÇnkt. Die Verfassung der Vereinigten Staaten ist wie schon die UnabhÇngigkeitserklÇrung von Lockes Ideen geprÇgt. Selbst wenn die Autoren der amerikanischen Verfassung von Locke »abgeschrieben« haben sollten, so wÇre das gar nicht negativ zu beurteilen - Verfassungen sind keine Doktorarbeiten, und wenn vernÜnftige philosophische Gedanken in seltenen FÇllen eine realgeschichtliche Wirkung erhalten, so ist das in jedem Fall zu begrÜßen.

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Es ist in diesem Abschnitt in keiner Weise mÙglich, die wissenschaftlichen Leistungen von Isaac Newton (1642–1727) darzustellen. Es geht vielmehr einzig um die Frage, welche Bedeutung die newtonsche Wissenschaft fÜr die Philosophie gehabt hat und noch hat. Es wurde in den vorangegangenen Kapiteln wiederholt darauf hingewiesen, daß es kennzeichnend fÜr die Philosophie der Neuzeit ist, daß ihr GegenÜber jetzt die Naturwissenschaft geworden ist. Mit der Wissenschaft Newtons, der hier als der bedeutendste einer großen Gruppe von Wissenschaftlern in verschiedenen LÇndern Europas im 17. Jhd. steht, hatte sich die Situation der Philosophie wesentlich verschÇrft: Die Mathematik, die in diesem Jahrhundert bedeutende Fortschritte machte, schien das adÇquate Instrument zu sein, die abstrakten Strukturen der Wirklichkeit zu erklÇren, eine Aufgabe, die frÜher der Metaphysik zugesprochen worden war. Die Physik und die Astronomie, die nun zu einer einzigen Wissenschaft vereinigt wurden, lieferten eine ErklÇrung des physischen Kosmos, neben der eine Naturphilosophie keinen Platz mehr zu haben schien. Das, was Newton unter »Naturphilosophie« verstand, in der die Mathematik eine entscheidende Rolle spielte, deckte den gesamten Bereich dessen ab, was frÜher unter Physik und Metaphysik verstanden worden war. Mit Newtons Physik, oder besser: mit jenem VerstÇndnis newtonscher Physik, das sich im 18. Jhd. herausbildete, wurde fÜr die Philosophie das Paradigma geliefert, in dem sich neuzeitliche, an der Wissenschaft orientierte RationalitÇt manifestierte. Selbst die Fragen der natÜrlichen Theologie schienen in Newtons System eine Antwort zu finden, der gegenÜber die traditionelle philosophische Gotteslehre als Überholt erscheinen mußte. Blieb noch der Bereich der menschlichen Gesellschaft: Aber auch hier schien es mÙglich, newtonsche Methoden anzuwenden und eine Physik der Gesellschaft aufzubauen. Es gab bereits im 18. Jhd. solche Versuche, die dann zu Beginn des 19. Jhd.s mit Claude Henri de Saint-Simon (1760–1825) ihren konsequentesten Vertreter fanden. FÜr Zeitgenossen und Nachfahren Newtons, die weniger scharfsinnig und kritisch als Leibniz oder Kant waren, mußte sich die Frage aufdrÇngen, ob nicht aus dem GegenÜber von Philosophie und Naturwissenschaft eine AblÙsung der Philosophie durch die Naturwissenschaft geworden war. FÜr die Vorstellung Auguste Comtes (1798–1857) im 19. Jhd., daß

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zunÇchst die Metaphysik (die fÜr die ganze Philosophie stand) die Mythologie (und so auch die Theologie) und spÇter die Wissenschaft die Metaphysik abgelÙst habe, schien fÜr die letzte Stufe das Beweis- und Anschauungsmaterial durch die Wissenschaftsentwicklung des 17. und 18. Jhd.s geliefert worden zu sein. In dieser Wissenschaftsentwicklung spielte Newton eine Überragende Rolle. Schon zu seiner Zeit wurde Isaac Newton als der bedeutendste Gelehrte seines Jahrhunderts anerkannt. Begonnen hatte sein Leben in wirtschaftlich guten VerhÇltnissen. Sein Vater starb aber schon vor seiner Geburt, und nachdem seine Mutter wieder geheiratet hatte, wurde er von seiner Großmutter betreut. 1661 begann Newton seine Studien am Trinity College in Cambridge. Sowohl die Aufnahme in diese berÜhmte Schule als auch das Stipendium, das er dort spÇter erhielt, gingen weniger auf Anzeichen besonderer wissenschaftlicher Begabung als vielmehr auf Beziehungen zurÜck. Seine intensiven Studien der Mathematik, Optik und Astronomie trugen jedoch bald FrÜchte. 1668 wurde er Magister Artium, und schon 1669 erhielt er in Cambridge den Lehrstuhl fÜr Mathematik. 1687 erschienen die Philosophiae naturalis principia mathematica im Druck, jenes Werk also, das den Ruhm Newtons begrÜndete. 1689 wurde Newton als Vertreter von Cambridge Mitglied des Parlaments. Sein Erfolg als Professor hingegen war nur gering. Er Übernahm deshalb 1696 gern ein Amt in der KÙniglichen MÜnzverwaltung in London, deren Leiter er 1699 wurde. Schließlich gab er 1701 seine Professur in Cambridge ganz auf. 1699 wurde er Mitglied der Pariser Acadµmie des Sciences, und im selben Jahr wurde er auch in die Royal Society aufgenommen, deren PrÇsident er 1703 wurde. Seine Leistungen in der Royal Society, auch in institutioneller Hinsicht, waren beachtlich, vor allem gelang es ihm, die finanzielle Basis dieser bedeutenden Forschungsinstitution zu sichern. Allerdings war, wie sich gleich auch im PrioritÇtsstreit zeigen wird, der ÜbermÇchtige Einfluß von Newton auf die Forschungsarbeit der Royal Society nicht in jeder Hinsicht positiv: Gegner irgendwelcher Auffassungen Newtons hatten dort kaum eine MÙglichkeit, zu Wort zu kommen. 1705 wurde Newton in den Adelsstand erhoben, was aber vermutlich wenig mit seinen wissenschaftlichen Leistungen zu tun hatte. Newton galt seit der glorreichen Revolution von 1688/1689 auch als Exponent der anglikanischen Kirche, da er als entschiedener Gegner der von Jakob II. geplanten Rekatholisierung Englands hervorgetreten war. Als er 1727 starb, wurde er dort begraben, wo man auch die englischen KÙnige begrub: in der Westminster Abbey.

Newton und Leibniz: Eine schwierige Beziehung Newton war der Meinung, der GrÙßte im Bereich der Wissenschaft zu sein. Allerdings gab es da im 17. Jhd. einen Konkurrenten: Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716). Die Beziehung zwischen den beiden war zunÇchst kollegial und wissen-

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schaftlich. In den Jahren 1672–1676 hatte Leibniz seinen Infinitesimalkalk¹l entwickelt. Seit 1676 stand Newton mit Leibniz in Briefkontakt, den Henry Oldenburg (gest. 1677), der SekretÇr der Royal Society, fÜr den außer durch Korrespondenzen ziemlich isolierten Newton organisiert hatte. Leibniz wollte sich Über den Stand der Arbeiten zum InifinitesimalkalkÜl bei englischen Mathematikern erkundigen. Newton antwortete 1676 mit zwei Briefen an Leibniz. Newton stellte darin zwar Ergebnisse seines KalkÜls dar, nicht jedoch die methodischen Voraussetzungen, die ihn dazu gefÜhrt hatten. Diese deutete er nur in fÜr Leibniz nicht entschlÜsselbaren Anagrammen an. Leibniz antwortete 1677 mit der Darstellung seines eigenen KalkÜls. 1684 erschien dann in den Acta Eruditorum ein Artikel von Leibniz Über seinen InfinitesimalkalkÜl. Leibniz hatte aus dem zweiten Brief Newtons erkennen kÙnnen, daß dieser ihm in einigen Punkten voraus war, erwÇhnte dies aber in seinem Artikel nicht. Newton hielt nun den KalkÜl von Leibniz fÜr ein Plagiat. Der Vorwurf wurde dann von John Keill (gest. 1721) formuliert. 1711 wandte sich Leibniz an die Royal Society, um gegen diesen Vorwurf zu protestieren. Leibniz war wie Newton Überzeugt, die LÙsung fÜr das Problem der kalkÜlmÇßigen Behandlung von unendlichen Reihen und Grenzwerten gefunden zu haben, das ja nicht nur sie, sondern viele Mathematiker des 17. Jhd.s beschÇftigte. Da Leibniz selbst auch Mitglied der Royal Society war, konnte er sich so hinsichtlich einer Entscheidung an diese wenden. Newton als PrÇsident der Royal Society berief eine Kommission ein, die Über die PrioritÇt der Erfindung des KalkÜls entscheiden sollte. Diese hatte allerdings Überhaupt keine wirkliche Funktion, da Newton persÙnlich das Gutachten derselben im Commercium epistolicum verfaßte, so daß 1712 die Kommission erwartungsgemÇß die PrioritÇt Newton zusprach. Newton schrieb dann noch anonym eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Kommission in den Philosophical Transactions (Auszug in: Clarke: Der Briefwechsel mit G. W. Leibniz. S. 151–154). In den Augen der ²ffentlichkeit schien damit Leibniz als Plagiator gebrandmarkt. Es ist daher verstÇndlich, daß seit diesem Zeitpunkt das VerhÇltnis zwischen Leibniz und Newton mehr als gespannt war. Der nÇchste Streit, der dann zum Leibniz-Clarke-Briefwechsel fÜhrte, hatte eine Vorgeschichte mit theologischen und politischen Implikationen. Leibniz hatte 1710 seine Theodizee publiziert. Dort hatte er die Gravitationstheorie mit namentlicher Nennung Newtons kritisiert und angedeutet, daß diese mit den Auffassungen der Theologen des Augsburger Bekenntnisses, also der offiziellen lutheranischen Lehre des Hofes von Hannover, nicht Übereinstimme (Leibniz: Theodizee. Einleitende Abhandlung 19. Hamburg 1996. S. 47 f.). Die Antwort Newtons kam indirekt. Als Roger Cotes (1682–1716), selbst ein bedeutender Mathematiker und Naturphilosoph, 1713 die Principia Newtons in 2. Auflage herausgab, verfaßte er ein umfangreiches Vorwort (In: Newton: Mathematische Grundlagen. S. 13–36), in dem die Kritik von Leibniz ihrerseits einer Kritik unterzogen wurde, ohne Leibniz selbst zu nennen. Leibniz Çußerte spÇter gegenÜber Johann Bernoulli (1667–1748), auch wieder einem bedeutenden Mathematiker, mit dem er eine Korrespondenz Über die

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Integralrechnung fÜhrte, er hÇtte diesen Angriff verstanden und wÜßte zu reagieren. Er verschob die Angelegenheit auf eine quasi-politische Ebene, indem er im November 1715 einen Brief an Caroline, die Prinzessin von Wales sandte, in dem er kurz seine Bedenken Über Newtons »sonderbare Ansicht von Gottes Werk« Çußerte (Clarke: Leibniz’ Briefwechsel. 1. Brief. S. 10). Daß er sich an Caroline wandte, ist leicht verstÇndlich: Diese war seine ehemalige SchÜlerin aus der Zeit von 1700/1701, in der Leibniz sich zur GrÜndung der spÇteren Berliner Akademie der Wissenschaften in der Hauptstadt Brandenburgs aufhielt, und er stand mit ihr schon seit lÇngerem in brieflichem Kontakt. Caroline wiederum war die Gemahlin Georgs, des Prinzen von Wales (seit 1727 Georg II.), des Sohnes von KÙnig Georg I., der seit 1714 englischer KÙnig war. Als Hofhistoriograph des Hannoveraner KurfÜrsten war Leibniz mit der BegrÜndung der AnsprÜche des Hauses Braunschweig-LÜneburg auf den englischen Thron beschÇftigt gewesen, diese AnsprÜche wurden dann auch mit der Thronbesteigung Georgs I. tatsÇchlich mit Erfolg durchgesetzt. Im Mai 1715 hatte Leibniz sich in einem Brief an Caroline als Hofhistoriograph fÜr den englischen Hof empfohlen, damit es, wie er sagte, klar sei, daß er am Hof nicht weniger als der Vorsteher der kÙniglichen MÜnze, also Newton, in Ansehen stehe. Bei dieser Gelegenheit erwÇhnte er auch schon seine EinwÇnde gegen die Naturphilosophie Lockes und Newtons, die er auch gleich mit theologischen Fragen in Beziehung setzte (Leibniz: Werke. Hrsg. v. O. Klopp. Bd. 11. S. 39). Die BefÜrchtung englischer Gelehrter und Hofleute, Leibniz kÙnne als Hofhistoriograph nach London kommen, war also nicht grundlos, und so scharten sich die englischen Wissenschaftler treu ergeben um ihre AutoritÇt Newton als dem sichersten Bollwerk gegen diese Bedrohung. Die Angelegenheit war somit auch fÜr Caroline politisch hÙchst heikel, da der KÙnig ja auch das offizielle Oberhaupt der anglikanischen Kirche war, und er somit auch in irgendeiner Weise fÜr »RechtglÇubigkeit« zu sorgen hatte, der »Angeklagte« Newton aber wiederum auch ein hohes Amt am Hofe innehatte. In der Person von Newton waren Wissenschaft und Politik in einer oft nicht ganz durchsichtigen Weise verknÜpft, und sehr viele (wenn nicht Überhaupt alle) englischen Naturwissenschaftler waren auch in ihren Stellungen von Newton abhÇngig. Eine, in Analogie zu Newton, nicht immer ganz durchsichtige VerknÜpfung von Wissenschaft und Politik lag allerdings auch in der Person von Leibniz vor, und Leibniz verstand es wie Newton, aus dieser Position heraus zu agieren. Caroline Übergab das genannte Schreiben daher dem Londoner Hofprediger Samuel Clarke (1675–1729), einem AnhÇnger Newtons, der mit diesem auch in engem persÙnlichen Kontakt stand. Und so ergab sich ein Briefwechsel, der jedoch immer Über die Prinzessin von Wales lief. Caroline fungierte jedoch nicht nur als ¾bermittlerin von Briefen, sie war eine außerordentlich gebildete Frau, die sachkompetent an der ganzen Diskussion teilnahm. Sie versuchte auch wiederholt, eine VersÙhnung zwischen Leibniz und Newton zu erreichen, da sie u.a. die ganz richtige Auffassung vertrat, daß die beiden grÙßten Gelehrten des Jahrhunderts sich nicht Über die PrioritÇt der Erfindung des InfinitesimalkalkÜls streiten sollten (Leibniz:

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Werke. Hrsg. v. O. Klopp. Bd. 11. S. 115). Erfolg hatte sie allerdings keinen. Die Antworten Clarkes geben in eindeutiger Weise genau die Ansichten Newtons wieder, der Leibniz-Clarke-Briefwechsel - Leibniz schrieb franzÙsisch, Clarke antworte englisch - stellt also eine authentische Leibniz-Newton-Diskussion dar (vgl. weiter unten 3). Die Korrespondenz endete 1716 durch den Tod von Leibniz. 1717 publizierte Clarke die Korrespondenz. Die historischen HintergrÜnde mÙgen etwas »trÜbe« sein; der Briefwechsel Leibniz-Clarke stellt nichtsdestoweniger einen eindeutigen HÙhepunkt der naturphilosophischen Diskussion des 17. Jhd.s dar, die bis in die heutigen Diskussionen Über die Grundlagen der Naturphilosophie in der RelativitÇtstheorie und der Quantenphysik hinein aktuell ist. Der PrioritÇtsstreit Über den InfinitesimalkalkÜl war nicht der einzige dieser Art, auf den Newton sich eingelassen hat, es war nur wegen des Kontrahenten Leibniz der spektakulÇrste. Auch bei der fÜr Newton zentralen Theorie der Gravitation hatte es einen solchen Streit mit Robert Hooke (1635–1703) gegeben. Mit Hooke hatte Newton bereits bei der Theorie des Lichts Streit bekommen. Hooke war 1677 als Nachfolger von Oldenburg SekretÇr der Royal Society geworden. Trotz des frÜheren Streits wandte Hooke sich 1679 in einem Brief an Newton mit einer Frage Über die Zusammensetzung der Bewegung der Planeten. Diesem Brief folgten weitere, aus denen hervorgeht, daß Hooke Newton nicht nur die fÜr die Gravitationstheorie entscheidenden Fragen stellte, sondern ihm auch die Vermutung vortrug, daß die nicht kreisfÙrmigen Planetenbahnen durch ein inverses Abstandsgesetz erklÇrt werden kÙnnten. Als Hooke spÇter, zu Recht, behauptete, an der Entwicklung der Gravitationstheorie beteiligt gewesen zu sein, wies Newton dies zurÜck. Die Haltung Newtons im PrioritÇtsstreit mit Leibniz (und eigentlich auch mit Hooke) hat bei Interpreten zu Recht Fragen hinsichtlich des Charakters von Newton aufgeworfen (im Prinzip kann man aber bei Leibniz ganz Çhnliche Fragen stellen). Es geht hier jedoch nicht einfach nur um eine Frage persÙnlicher »MoralitÇt«, sondern auch um die Feststellung eines deutlich werdenden historischen Wandels. Im Mittelalter hatte es - auch wenn man dies differenzieren muß - einen großen Respekt vor den AutoritÇten gegeben. Die neuzeitliche Wissenschaft konnte sich u.a. nur dadurch entwickeln, daß dieser Respekt vor den AutoritÇten, vor allem gegenÜber der des Aristoteles, verlorenging. Die AutoritÇtsverehrung hÙrte damit aber ganz und gar nicht auf, nur: Jetzt hielten nicht wenige (wenn auch sicher nicht alle) Wissenschaftler sich selbst fÜr eine ganz wichtige oder sogar fÜr die einzige AutoritÇt. Damit wurden Erkenntnisse und Entdeckungen zu einem Besitz mit Besitzrechten verbunden. Im Mittelalter gab es zahlreiche und sehr heftige Diskussionen, niemals aber solche um PrioritÇten von Thesen eines Autors. Wissen war immer Gemeingut, und jeder schrieb von jedem mit oder ohne Quellenangabe ab, soviel er wollte. FrÜhere AutoritÇten nannte man mit Namen, zeitgenÙssische hießen meist nur »irgendwelche« (quidam). Bei vielen bedeutenden Werken von Autoren des Mittelalters kennen wir bis heute den Namen des Autors nicht, sie wurden einfach, um

Experimentalphilosophie

ihre AutoritÇt zu vergrÙßern, einem bekannten Autor zugeschrieben (z. B. Thomas von Aquin, Duns Scotus, Wilhelm von Ockham). Im Mittelalter kannte man z. B. die sogenannten »De Morganschen Regeln« (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 3), es ist aber bis heute nicht gelungen herauszufinden, wer der erste war, der sie verwendet hat. Als sie aber im 19. Jhd. erneut entdeckt wurden, erhielten sie bald den Namen des Entdeckers. Und auch die Bezeichnung »Ockhams Messer« fÜr das ²konomieprinzip der ErklÇrung (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 2) stammt nicht aus dem Mittelalter, sondern aus der Neuzeit. Im Mittelalter kannte man die Ars magna des Raymundus Lullus (vgl. 2. Teil, Kap. XVI, 1), bei Leibniz heißt sie dann aber nach ihrem Erfinder Ars lulliana. Als Edmond Halley (1656–1742), ein - wie Newton es erwartete - ihm selbstlos ergebener Verehrer, der viel fÜr die Fertigstellung von Newtons Principia mathematica getan hatte, einen Kometen entdeckte, erhielt der spÇter selbstverstÇndlich die Bezeichnung »Halleyscher Komet«. Der Individualismus, der seit dem 14. Jhd. zunehmend das Bewußtsein der Menschen prÇgte, machte sich jetzt auch im Bereich der Wissenschaft geltend. Im Mittelalter hatten viele versucht, Heilige zu werden, sie dachten dabei aber sicher nur an den Himmel und nicht an die irdische Heiligenverehrung. Jetzt in der Neuzeit brauchte die Wissenschaft ihre Heiligen mit der entsprechenden Heiligenverehrung: Bacon hatte dies richtig diagnostiziert, als er fÜr sein »Haus der Wissenschaft« Ordensverleihungen und Statuen vorsah (vgl. weiter oben Kap. III, 4). Die Wissenschaftler waren nun eifrig darauf bedacht, in dieser Galerie nicht zu fehlen. Nicht wenige legten, wie z. B. Hume, großen Wert darauf, in einer Autobiographie ihre offizielle Heiligenlegende gleich auch selbst zu schreiben, in der sie so dargestellt wurden, wie die Nachfahren sie sehen sollten: PersÙnlich unbeeinflußbar, nur der Wahrheit nachstrebend, Ruhm und Geld folgten gleichsam wie ein Schatten von selbst und ganz unbeabsichtigt! Es gab allerdings noch einen anderen, durchaus positiven Effekt des Streits: Wenn PrioritÇt so wichtig war, dann hatten mathematische Erfindungen einen genau bestimmbaren Zeitpunkt. Dann aber gab es eine Geschichte der Mathematik, und Mathematik war auch eine historische Disziplin, woran bisher eigentlich niemand gedacht hatte. SÇtze der Mathematik waren bisher ausschließlich unter ihrem Überzeitlichen und geradezu zeitunabhÇngigen Aspekt betrachtet worden. Es kommt sicher nicht von ungefÇhr, daß im 18. Jhd. die Forderung auftrat, eine Geschichte der Mathematik zu schreiben.

2. Experimentalphilosophie Es ist zuvor gesagt worden, daß Newton fÜr die Philosophie deshalb wichtig wurde, weil das Paradigma wissenschaftlicher RationalitÇt an Newtons Arbeiten abgelesen wurde. Genau hier aber ergibt sich ein ganz erhebliches Problem. Es gibt nÇmlich eindeutig einen Newton I in der ersten Auflage der Principia mathematica von 1687

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und einen Newton II in der zweiten Auflage von 1713 (und der dritten Auflage von 1726). Auf eine Formel gebracht: Newton I entspricht dem WissenschaftsverstÇndnis Galileis, Newton II dem Bacons bzw. dem, was man sich im 17. und dann im 18. Jhd. unter Bacons WissenschaftsverstÇndnis vorstellte. Beginnen wir mit dem unproblematischen Teil: In der Wissenschaft wird mit Experimenten gearbeitet. Das Programm des Experimentierens war im 17. Jhd. zu einer SelbstverstÇndlichkeit und sogar zu einer Mode geworden: Sehr viele experimentierten, aber eben nicht alle mit der gleichen Erfindungsgabe und so auch nicht alle mit dem gleichen Erfolg. Newton war mÙglicherweise der Erfindungsreichste und sicher der Erfolgreichste. Sein zentrales Gebiet dabei war die Optik, und seine wichtigsten Entdeckungen verÙffentlichte er schon 1672 in den Philosophical Transactions. Die Optik war bereits in der Antike eine wichtige Disziplin und auch bei VorlÇufern der modernen Wissenschaft wie z. B. Grosseteste eine bevorzugte (vgl. 2. Teil, Kap. XII, 1). FÜr diese herausgehobene Stellung der Optik war frÜher auch die metaphysische QualitÇt des Lichts maßgebend. Im 17. Jhd. aber war die Einsicht wichtiger, daß alle PhÇnomene der Astronomie durch Licht Übermittelt werden, die Frage der ErklÇrung des Lichts mußte also eine SchlÜsselstellung einnehmen. Bei Newton kam noch hinzu, daß Descartes eine Lichtimpulstheorie aufgestellt hatte, die schon deshalb widerlegt werden mußte, weil sie von Descartes stammte. Die auf Experimenten beruhende Lichttheorie Newtons war tatsÇchlich umstÜrzend. Er arbeitete zunÇchst mit Glasprismen, wie sie auch Boyle und Hooke verwendet hatten, und kam zu dem Ergebnis, daß das transparent erscheinende Sonnenlicht aus den Spektralfarben zusammengesetzt ist. Da wir dies schon in der Schule gelernt und experimentell vorgefÜhrt bekommen haben, scheint uns dies nicht mehr besonders aufregend. Man muß sich dabei aber klar machen, daß diese Theorie der - nicht experimentell im wahrsten Sinne des Wortes »gebrochenen« - normalen Erfahrung nicht weniger widerspricht als die Behauptung, die Erde bewege sich um die Sonne. Eine BestÇtigung seiner Theorie fand Newton durch das von ihm erfundene und nach seinen Angaben gebaute kleine Spiegelteleskop. Die wissenschaftliche Welt war damals fasziniert von solchen Erfindungen, und Newton wurde umgehend in die Royal Society aufgenommen. Kritikern seiner Theorie, wie vor allem Hooke, wurden nicht nur Argumente geliefert, sondern sie wurden auch persÙnlich angegriffen. Die Art dieser Auseinandersetzungen hatte bei der wachsenden AutoritÇt Newtons allerdings auch den Nebeneffekt, daß andere, aber durchaus leistungsfÇhige Experimente und entsprechende Instrumente (z. B. Refraktoren) wenig Chancen hatten, sich im wissenschaftlichen Gebrauch durchzusetzen. Newton Überarbeitete die 1672 erstmals verÙffentlichten Ergebnisse seiner Theorie des Lichts spÇter, ergÇnzte sie durch weitere Experimente zur Lichtbeugung, die er in den neunziger Jahren durchfÜhrte, und stellte sie 1704 in den Opticks zusammenfassend dar. In der zweiten Auflage von 1717 nahm er schließlich Stellung zu einer Frage, der er frÜher ausgewichen war, um nicht mit »Hypothesen« arbeiten zu mÜssen: Die Strahlen des Lichts bestehen

Experimentalphilosophie

aus sehr kleinen K³rpern, und sie bewegen sich wellenartig in einem Medium, dem ther. Da die Sterne Licht aussenden, mußte Newton annehmen, daß der gesamte Raum zwischen den Sternen mit ’ther erfÜllt ist. In der zweiten Auflage fÜgte Newton auch zwei sehr umfangreiche Abschnitte zur Chemie an. Auch in diesem Punkt bewies er, daß er Über das fortgeschrittenste Wissen seiner Zeit verfÜgte. Somit war fÜr die Astronomie, die Physik und die Chemie der folgenden Zeit eine experimentell abgesicherte Basis und ein weiteres Forschungsprogramm vorgegeben. FÜr die Verbreitung des newtonschen Programms waren die Opticks, die Clarke schon 1706 ins Lateinische Übersetzt hatte, wichtiger als die Principia mathematica. Dies war schon dadurch bedingt, daß die Optik mathematisch viel weniger anspruchsvoll war als die Kosmologie und daß Newton durch sehr suggestive Fragen (queries) zu Erscheinungen, die allen leicht zugÇnglich waren, im Anhang der Opticks jeden Gedanken an alternative LÙsungen ausschloß. Newton erhob mit seinem in den Principia mathematica dargestellten System einen umfassenden Anspruch. Zentral war wie schon bei Galilei (vgl. Kap. IV, 1) die Frage der Bewegung. Schon zu Beginn der Principia stellt Newton fest: [...] und deshalb legen wir dieses Werk als Mathematische Grundlagen der Philosophie vor. Alle Schwierigkeit der Philosophie besteht wohl darin, daß wir aus den Bewegungserscheinungen die Kr›fte der Natur erschließen und alsdann von diesen Kr›ften ausgehend die ¹brigen Erscheinungen genau bestimmen. (Mathematische Grundlagen. Vorwort. S. 10) Die gesamten Untersuchungen sollen nach strengen Regeln durchgefÜhrt werden. Im letzten Buch der Principia mathematica legt Newton vier Regeln des Philosophierens (regulae philosophandi) fest: Leitsatz I. Nicht mehr Ursachen der nat¹rlichen Dinge d¹rfen in den Beweisgang eingef¹hrt werden als die, die wahr sind und zur Erkl›rung ihrer Erscheinungen zureichen. Leitsatz II. Daher muß man als Ursachen nat¹rlicher Wirkungen derselben Art dieselben Ursachen bezeichnen, soweit es m³glich ist. Leitsatz III. Eigenschaften der K³rper, die weder gesteigert noch vermindert werden k³nnen und die allen K³rpern zukommen, an denen es m³glich ist, Erfahrungen zu gewinnen, m¹ssen f¹r Eigenschaften aller K³rper gehalten werden. (Ebd. III. S. 169) Die erste Regel stellt nur eine etwas andere Formulierung von Ockhams »²konomieprinzip« dar (vgl. 2. Teil, Kap XVII, 2, a). Die zweite Regel bringt das Kausalprinzip zum Ausdruck und sagt damit gleichzeitig, was unter einem »Naturgesetz« zu verstehen ist. Bis zu diesem Punkt ist alles unproblematisch. Auch das faktische Vorgehen Newtons in den Principia mathematica ist dann - jedenfalls fÜr den, der mit

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Galileis WissenschaftsverstÇndnis vertraut ist - eigentlich unproblematisch: Es werden Definitionen eingefÜhrt und es wird dann gezeigt, wie diese Definitionen auf empirische PhÇnomene angewandt werden kÙnnen. Und es werden entsprechende Experimente angegeben, durch welche die Berechtigung der Anwendung nachgewiesen wird. Das Verfahren ist axiomatisch und deduktiv. So wird z. B. in Definition V axiomatisch festgelegt, was mit »Zentripetalkraft« gemeint ist, dann wird gesagt, daß von dieser Art z. B. die Schwere ist, durch welche die KÙrper zum Mittelpunkt der Erde hinstreben, und dann wird abgeleitet: Ein Wurfgeschoß w¹rde, wenn die Schwerkraft es ausließe, nicht zur Erde herabgebeugt werden, sondern auf geradem Wege in den Weltraum wegfliegen, und zwar mit gleichf³rmiger Bewegung, wenn nur der Luftwiderstand beseitigt w¹rde. Aufgrund seiner Schwere aber wird er vom geradlinigen Weg nach innen gezogen und best›ndig zur Erde hin abgelenkt, und zwar mehr oder weniger im Verh›ltnis zu seiner Schwere und der Geschwindigkeit seiner Bewegung. (Mathematische Grundlagen. S. 39 f.) Diesem axiomatisch deduktiven Verfahren widerspricht jedoch die vierte Regel des Philosophierens, die Newton aufstellt: 222

Leitsatz IV. In der auf Erfahrung gegr¹ndeten Philosophie m¹ssen die durch Induktion aus den Erscheinungen gewonnenen Lehrs›tze, ungeachtet entgegengesetzter Hypothesen, entweder genau oder so nahe wie m³glich f¹r wahr gehalten werden, solange bis andere Erscheinungen aufgetreten sind, durch die sie entweder genauer gemacht oder Einschr›nkungen ausgesetzt werden. (Ebd. III. S. 171) Entscheidend ist hier die Behauptung, daß die LehrsÇtze durch Induktion aus den Erscheinungen gewonnen werden sollen. Newton fordert jetzt auch fÜr diese ersten Schritte, die zur Aufstellung eines Lehrsatzes fÜhren, eine empirische Herleitung. Alle SÇtze der Physik sollen induktiv aus ErfahrungssÇtzen abgeleitet werden. Und Newton sagt dann ganz allgemein: In dieser Philosophie werden Lehrs›tze aus Naturerscheinungen abgeleitet und durch Induktion allgemeing¹ltig gemacht. (Ebd. Scholium generale. S. 230) Die Erkenntnistheorie, die hier zum Ausdruck kommt, ist eindeutig rigoros empiristisch. Besonders deutlich ist diese empiristische Sicht in dem berÜhmten HypothesenVerbot (hypotheses non fingo). Auch in der weiteren ErklÇrung einzelner PhÇnomene zu den Bahnen der Satelliten und zur Mondbahn muß Newton zwar mit »nicht wahrnehmbaren kleinen Abweichungen« rechnen, dies darf aber nicht zu neuen Hypothesenbildungen fÜhren. In der ErlÇuterung zu Leitsatz 4 sagt er:

Experimentalphilosophie

Dies muß geschehen, damit nicht der Induktionsbeweis durch Hypothesen aufgehoben werden kann. (Ebd. Leits›tze des Philosophierens. S. 171) Dasselbe wird nochmals wiederholt und ausdrÜcklich in die Begriffsbestimmung von »experimenteller Philosophie« aufgenommen: Was immer n›mlich sich nicht aus den Naturerscheinungen ableiten l›ßt, muß Hypothese genannt werden, und Hypothesen, sei es metaphysische, sei es physische, sei es solche ¹ber verborgene Eigenschaften, sei es solche ¹ber die Mechanik, haben in der experimentellen Philosophie keinen Platz. (Ebd. Scholium generale. S. 230) Was es aber genau bedeuten soll, etwas »aus den Naturerscheinungen abzuleiten« erklÇrt Newton nicht. Bei all den eben genannten Stellen handelt es sich allerdings um Nachtr›ge, die Newton in der zweiten Auflage der Principia mathematica hinzufÜgte. Entsprechend mußte Newton auch einige »redaktionelle« ’nderungen gegenÜber der ersten Auflage durchfÜhren. Er gab also nachtrÇglich der Physik der Principia mathematica eine (der frÜheren geradezu entgegengesetzte) wissenschaftstheoretische Interpretation, die noch dazu einigermaßen unklar in ihrem genauen Sinne bleibt. Daß in der Physik zunÇchst einmal Hypothesen aufgestellt werden, die dann experimentell bestÇtigt oder gegebenenfalls widerlegt werden, ist ja wohl unbestreitbar. Wenn aber jetzt LehrsÇtze »aus den Naturerscheinungen abgeleitet« werden sollen, so ist der Begriff der »Ableitung« mehr als unklar: Wie sollen aus Ph›nomenen S›tze abgeleitet werden? Die ganze Frage dieser ’nderungen und HinzufÜgungen wÇre nicht unbedingt erheblich, hÇtte sich nicht daran ein ganzes und sehr wirksames Konzept von »empirischer Wissenschaft« geknÜpft. Von den Nachfolgern Newtons, die vor allem viel zu seiner Popularisierung beigetragen haben, wurde Newton aufgrund dieser »empiristischen« Deutung als VerkÙrperung des Programms Bacons (vgl. Kap. III, 2) angesehen, auf das Newton selbst gar nicht Bezug genommen hatte. Allerdings muß man sehen, daß Newton selbst dieser nachtrÇglich hergestellten Entwicklungslinie zugestimmt zu haben scheint. So jedenfalls berichtet uns Henry Pemberton (1694–1771), der Herausgeber der dritten Auflage von Newtons Principia mathematica, in seinem 1728 (also kurz nach Newtons Tod) erschienenen Buch A View of Sir Isaac Newton’s Philosophy, und genau diese Sicht Übernahm dann Voltaire (vgl. weiter unten) – und damit die franzÙsische AufklÇrung. Mit d’Alembert ging sie dann autoritativ in die Encyclopµdie ein. Unter diesen Voraussetzungen vertrat der Newton-AnhÇnger Pierre de Maupertius (1698–1759) die eigentlich konsequente »experimentalphilosophische« Auffassung, daß auch die Mathematik eine empirische, letztlich auf SinneseindrÜcken beruhende Wissenschaft sei (eine Auffassung, die aber kaum AnhÇnger fand). Es stellt sich also die Frage, was Newton zu dieser »Wendung« veranlaßt hat. ZunÇchst ist es sicher die Abneigung Newtons gegenÜber aller »spekulativen« Naturphiloso-

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phie gewesen, wie er sie vor allem in Descartes’ Thesen verkÙrpert sah. Unmittelbar provoziert wurde Newton aber wieder einmal durch Leibniz, der in einem Brief an Nikolaus Hartsoeker (1656–1725) von 1711, der dann 1712 im Journal de Trevoux verÙffentlicht wurde, Newton (ohne dessen Namen zu nennen) den Vorwurf machte, er habe mit seinem Begriff der Gravitation wiederum eine okkulte QualitÇt (une qualitµ occulte dµraisonnable) eingefÜhrt (Leibniz: Die philosophischen Schriften. Hrsg. v. C. I. Gerhardt. Berlin 1887 [Nachdruck Hildesheim 1978]. III. S. 519). Dies klang in den Ohren Newtons wie der Verdacht unseriÙser Metaphysik. Newton wollte also seine Physik gegen alle VorwÜrfe dieser Art »empirisch« absichern, indem er behauptete, alle LeitsÇtze seien unmittelbar aus den PhÇnomenen gewonnen. Daß aber genau am Punkt des Gravitationsprinzips eine ErklÇrungslÜcke vorlag, wußte Newton genau. Denn in einer - auch wiederum nachtrÇglichen Stelle - sagt er: Eine theoretische Erkl›rung f¹r diese Eigenschaften der Schwere habe ich aus den Naturerscheinungen noch nicht ableiten k³nnen, und bloße Hypothesen denke ich mir nicht aus. (Mathematische Grundlagen. Scholium generale. S. 230)

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Im weiteren 17. und dann ebenso im 18. Jhd. meinten also fast alle, daß mit Newtons spÇterer Interpretation von »Experimentalphilosophie« endlich die wahre Methode der Erfahrungswissenschaft gefunden worden sei. Daß dies letztlich doch nicht zutrifft, wird erst Kant mit aller Deutlichkeit sehen und sagen. Es ist nicht zu bezweifeln, daß auch Kant dort, wo er von dem »sicheren Gang einer Wissenschaft« (Kritik der reinen Vernunft. Vorrede B XIV) spricht, die Physik Newtons vor Augen hatte, aber: Er verweist in diesem Zusammenhang ausdrÜcklich auf Galilei (Ebd. B XIII), und seine Beschreibung des Vorgehens der Wissenschaft (vgl. Kap. XV, 2) entspricht nicht Newton II, sondern Newton I. Der Anspruch Newtons, mit seiner Experimentalphilosophie auch an die Stelle der frÜheren Metaphysik zu treten, wird ziemlich deutlich im Scholium generale, das er der zweiten Auflage der Principia mathematica anfÜgte. Dort macht er deutlich, daß seiner Auffassung nach seine Experimentalphysik auch zur Erkenntnis Gottes fÜhrt. Nicht nur Leibniz, sondern auch der anglikanische Bischof George Berkeley (1685–1753) hatte theologische Bedenken gegen die Naturphilosophie Newtons erhoben (Berkeley: Eine Abhandlung Über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis § 110–117. S. 87–92). Diesen EinwÇnden wollte Newton mit dem Scholium generale entgegentreten: Dieses uns sichtbare, h³chst erlesene Gef¹ge von Sonne, Planeten und Kometen konnte allein durch den Ratschluß und unter der Herrschaft eines intelligenten und m›chtigen wahrhaft seienden Wesens entstehen. (Mathematische Grundlagen. Scholium generale. S. 226)

Experimentalphilosophie

Dies ist im Prinzip die Grundlage des sogenannten physico-theologischen Gottesbeweises, der in der AufklÇrung eine wichtige Rolle spielen sollte, bis er dann durch Hume (vgl. Kap. XII, 4) und Kant einer Kritik unterzogen wurde. Der weite Begriff von »Naturphilosophie«, der bis zu und auch noch bei Newton Geltung hatte, ergab die MÙglichkeit dieser theologisch-metaphysischen Interpretation naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, und Newton beanspruchte ausdrÜcklich dieses Recht: Die ganze Vielfalt der nach Ort und Zeit geordneten Dinge konnte einzig und allein aus den Vorstellungen und dem Willen eines wahrhaften Seins, das notwendigerweise existiert, entstehen. [...] Und so viel ¹ber Gott; ¹ber ihn auf der Grundlage von Naturerscheinungen Aussagen zu machen, geh³rt unbedingt zur Naturphilosophie. (Ebd. S. 229) Die Herrschaft Gottes in der Welt hatte fÜr Newton einen ganz konkreten und physikalischen Sinn. Newton und seine AnhÇnger faßten ihre These, daß Gott stÇndig in der Welt wirke, nicht metaphorisch, sondern durchaus realistisch auf, und sie meinten, daß dies u. a. genau zu ihrer Annahme der Leugnung eines strengen Energieerhaltungs-Satzes paßte. 225

Der gegenw›rtige Aufbau des Sonnensystems (zum Beispiel) wird gem›ß den gegenw›rtigen Bewegungsgesetzen mit der Zeit in Verwirrung geraten, und er wird vielleicht dann ausgebessert oder in eine neue Form gebracht werden. Diese Ausbesserung ist aber nur relativ, mit Bezug auf unsere Vorstellungen. In Wirklichkeit und mit Bezug auf Gott sind der gegenw›rtige Aufbau, die resultierende Unordnung und die darauffolgende Erneuerung s›mtlich gleiche Teile des in Gottes urspr¹nglichem makellosem Plan enthaltenen Entwurfs. (Clarke: Briefwechsel. Clarkes 2. Entgegnung. S. 23) Leibniz sah dies ganz anders. In seinem Brief an Caroline, der dann zum ersten Brief der Clarke-Leibniz-Korrespondenz wurde, stellt er fest: Herr Newton und seine Anh›nger haben außerdem eine sehr sonderbare Ansicht von Gottes Werk. Nach ihnen muß Gott von Zeit zu Zeit seine Uhr aufziehen. Andernfalls bliebe sie stehen. Er hat nicht genug Einsicht gehabt, um ihr eine immerw›hrende Bewegung zu geben. Nach ihrer Ansicht ist diese Maschine Gottes sogar derart unvollkommen, daß er sie von Zeit zu Zeit durch einen außergew³hnlichen Eingriff reinigen und sogar flicken muß, wie ein Uhrmacher sein Werk; der ist ein umso schlechterer Meister, je h›ufiger er es ab›ndern und berichtigen muß. Nach meiner Meinung bleibt darin immer dieselbe Kraft und St›rke erhalten und geht nur von Materie auf Materie ¹ber, gem›ß den Gesetzen der Natur und der sch³nen pr›stabilierten Ordnung. (Ebd. Leibniz’ 1. Brief. S. 10)

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Wir sind vermutlich in der Mehrzahl zunÇchst geneigt, Leibniz voll und ganz recht zu geben. Die Position von Newton/Clarke scheint uns einen metaphysisch und physikalisch intervenierenden Gott zu implizieren (was unserem mechanistischen GrundverstÇndnis widerspricht). Ganz so einfach ist die Angelegenheit aber doch nicht. Clarke (= Newton) spricht hier von einem »gegenw›rtigen Aufbau des Sonnensystems«, von »gegenw›rtigen Bewegungsgesetzen«, die »mit der Zeit in Verwirrung geraten«, die dann in eine »neue Form gebracht werden«. Dies bedeutet nichts anderes, als daß er in den Begriff »Naturgesetz« einen Zeitfaktor, gleichsam eine historische Dimension, hineinbringt. Sicher stellt er diesen Prozeß in einen absoluten Raum und eine absolute Zeit (vgl. den folgenden Punkt) und außerdem in einen Übergeordneten gÙttlichen Plan hinein, aber die (synchronen) Bewegungsgesetze dieses Prozesses unterliegen selbst nochmals (diachronen) Bewegungsgesetzen, die das in Rechnung stellen, was sich durch physikalische »Abnutzungserscheinungen« ergibt. Und in dieser Hinsicht ist dann Newton doch ziemlich »relativistisch«. Mit der Auffassung einer historischen Dimension der Naturgesetze ist Newton eigentlich »moderner« als jene, die dann - in der Meinung, Newtons Physik weiter zu verfolgen - im 18. Jhd. die, letztlich doch sehr leibnizsche, »klassische Mechanik« entwickelt haben: Bei Jean le Rond d’Alembert (1717–1783), Joseph Louis Lagrange (1736–1813) und William Rowan Hamilton (1805–1865) gelten dann wie bei Descartes und Leibniz die ErhaltungssÇtze ebenso uneingeschrÇnkt wie die »unverÇnderlichen Naturgesetze«, und es werden zwei Jahrhunderte vergehen, bis wir bei Charles S. Peirce wieder dem Gedanken einer Entwicklung der Naturgesetze begegnen werden (vgl. Kap. XXIV, 2).

3. Der absolute Raum und die absolute Zeit Descartes nahm nur einen relativen Raum an, das heißt, der Raum ist ohne die Existenz von KÙrpern nicht denkbar. Ebenso ging er von einer relativen Zeit und einer relativen Bewegung aus. Die Gegenposition eines vom relativen Raum zu unterscheidenden absoluten Raumes vertrat schon Newtons Lehrer Isaac Barrow (1630–1677). Wichtiger fÜr die Vorstellung eines absoluten Raumes bei Newton war jedoch die Konzeption von Henry More (1614–1687). More war einer der ersten Vertreter cartesianischer Philosophie in England, er wollte jedoch den radikalen Dualismus von res cogitans und res extensa (vgl. Kap. V, 4) nicht Übernehmen, was er in einem Briefwechsel mit Descartes diesem gegenÜber auch Çußerte, selbstverstÇndlich ohne ihn Überzeugen zu kÙnnen. Dies bedeutete, daß More die vÙllige Trennung von Gott - als reiner res cogitans - und Raum nicht anerkannte und den unendlichen und leeren Raum in eine unmittelbare Beziehung zu Gott setzte. Der Raum ist nach dieser Auffassung unabhÇngig von der Existenz von KÙrpern, er wird bei More sogar zu einem Attribut Gottes, d. h. zu dessen AllgegenwÇrtigkeit. Dadurch war es ihm mÙglich, ein

Der absolute Raum und die absolute Zeit

stÇndiges und direktes Einwirken Gottes auf die Welt anzunehmen und ein durchgehendes mechanistisches Weltbild abzulehnen. Hintergrund seiner Vorstellungen war auf der einen Seite der Platonismus, More war der bedeutendste Vertreter des Cambridger Platonismus, auf der anderen Seite die Kabbala (vgl. seine Conjectura cabbalistica von 1653), in der immer versucht worden war, die SchÙpfung in irgendeiner Weise als innergÙttlichen Vorgang zu deuten (vgl. 2. Teil, Kap. X, 3), so daß die Voraussetzung fÜr die KÙrperwelt, also der Raum, zum Bereich des G³ttlichen gehÙren mußte. All dies ließ sich wiederum mit Platons Annahme einer Weltseele (vgl. 1. Teil, Kap. IX, 7) in Verbindung bringen. Newton war ohne Zweifel von den Gedanken Mores sehr beeindruckt, und nicht ganz zu Unrecht wird Leibniz Newton die Annahme einer gÙttlichen Weltseele vorwerfen (Clarke: Briefwechsel. Leibniz’ 2. Brief. S. 20) und Newtons Vorstellung kritisieren, »daß der Raum das Organ sei, dessen Gott sich bedient, um die Dinge wahrzunehmen« (Ebd. Leibniz’ 1. Brief. S. 10), so daß der unendliche Raum dann als das »Sensorium Gottes« aufgefaßt wird (Ebd. Leibniz’ 2. Brief. S. 17). Leibniz brachte auch zum Ausdruck, daß die von Clarke vorgebrachte EinschrÇnkung, Newton fasse den absoluten Raum nur »wie ein Sensorium« auf (Ebd. Clarkes 1. Entgegnung. S. 13), keine entscheidende ’nderung bedeute (Ebd. Leibniz’ 5. Brief. S. 90). Die Diskussion zwischen Leibniz und Clarke/Newton fand 1715/1716 statt, und der Briefwechsel Leibniz-Clarke stellt in sachlicher Hinsicht die Fortsetzung des Briefwechsels More-Descartes von 1648/1649 dar. Der zentrale Streitpunkt war neben der schon besprochenen verschiedenen Interpretation der »Uhrmacher«-Metapher die Raum- und Zeitvorstellung: Newton vertrat (wie More) die These eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit - Leibniz (wie Descartes) einen relativen Raum und eine relative Zeit. Gleich zu Beginn der Principia mathematica stellt Newton in eindeutiger Weise fest: Der absolute Raum, der aufgrund seiner Natur ohne Beziehung zu irgendetwas außer ihm existiert, bleibt sich immer gleich und unbeweglich. Der relative Raum ist dessen Maß oder ein beliebiger ver›nderlicher Ausschnitt daraus, welcher von unseren Sinnen durch seine Lage in Beziehung auf K³rper bestimmt wird, mit dem gemeinhin anstelle des unbeweglichen Raumes gearbeitet wird. (Mathematische Grundlagen. I. Scholium zu den Definitionen. S. 44) Dies erschien Leibniz unsinnig. Er stellte in ebenso eindeutiger Weise fest: Diese Herren behaupten also, daß der Raum eine wirkliche absolute Wesenheit ist; aber das bringt sie in große Schwierigkeiten. [...] Was mich angeht, so habe ich mehr als einmal betont, daß ich den Raum f¹r etwas bloß Relatives halte, wie die Zeit; f¹r eine Ordnung des gleichzeitig Bestehenden, wie die Zeit eine Ordnung von Aufeinanderfolgendem ist. Denn der Raum bezeichnet als Ausdruck der M³glichkeit eine Ordnung von Dingen, die zur selben Zeit existieren, insofern sie zusammen existieren,

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ohne auf ihre besonderen Arten zu existieren einzugehen. (Clarke: Briefwechsel. Leibniz’ 3. Brief. S. 28) Die BegrÜndung ist bei Leibniz philosophischer Art: Sie liegt in einem seiner beiden Grundprinzipien, dem des zureichenden Grundes (principium rationis sufficientis): Man gibt mir den wichtigen Grundsatz zu, daß sich nichts ereignet, ohne daß es einen hinreichenden Grund daf¹r gibt, weshalb es sich so und nicht anders verh›lt. [...] Ich sage also, daß dann, wenn der Raum eine absolute Wesenheit w›re, etwas vork›me, wof¹r man unm³glich einen hinreichenden Grund angeben k³nnte, was gegen unser Axiom ist. Dies beweise ich folgendermaßen. Der Raum ist etwas absolut Gleichf³rmiges, und ohne darin befindliche Dinge unterscheidet sich ein Punkt des Raumes absolut in nichts von einem anderen Punkt des Raumes. Nun folgt hieraus, vorausgesetzt der Raum ist irgend etwas f¹r sich selbst außer der Ordnung der K³rper untereinander, daß es unm³glich einen Grund geben k³nne, weshalb Gott, bei Aufrechterhaltung derselben Lagen der K³rper zueinander, sie im Raum so und nicht anders angeordnet h›tte, und weshalb nicht alles entgegengesetzt angeordnet wurde, beispielsweise durch einen Tausch von Osten und Westen. (Ebd. S. 28 f.) 228

Die Argumentation von Leibniz ist klar: Nimmt man einen absoluten Raum an, so lÇßt sich die Frage stellen, warum sich der Kosmos gerade an diesem und nicht an einem anderen »Ort« dieses absoluten Raumes befindet, also etwa etwas mehr »oben« oder etwas mehr »unten«. Dies ist aber eine Frage, fÜr die es keine sinnvolle Antwort geben kann und die auch keinerlei wissenschaftliche Relevanz hat, da wir ja Überhaupt keine MÙglichkeit haben festzustellen, an welcher Stelle des absoluten Raumes sich der Kosmos befindet, also: Die Vorstellung eines absoluten Raumes ist nicht nur unwissenschaftlich, sondern sogar unsinnig. Diese Argumentation gilt natÜrlich genauso fÜr die Zeit. Bei Newton gibt es wieder die These einer absoluten Zeit: Die absolute, wirkliche und mathematische Zeit fließt in sich und in ihrer Natur gleichf³rmig, ohne Beziehung zu irgendetwas außerhalb ihrer Liegendem, und man nennt sie mit einer anderen Bezeichnung »Dauer«. Die relative Zeit, die unmittelbar sinnlich wahrnehmbare und landl›ufig so genannte, ist ein beliebiges sinnlich wahrnehmbares und ›ußerliches Maß der Dauer, aus der Bewegung gewonnen (sei es ein genaues oder ungleichm›ßiges), welches man gemeinhin anstelle der wahren Zeit ben¹tzt, wie Stunde, Tag, Monat, Jahr. (Mathematische Grundlagen I. Scholium zu den Definitionen. S. 44) Die Antwort von Leibniz erfolgt natÜrlich ebenso prompt: Die Frage, »weshalb Gott nicht alles um ein Jahr frÜher geschaffen hat« (Clarke: Briefwechsel. Leibniz’ 3. Brief.

Der absolute Raum und die absolute Zeit

S. 29) ist ebenso sinnlos wie die, warum er den Kosmos nicht etwas weiter oben oder unten geschaffen hat - es gibt dafÜr keinen zureichenden Grund: Aber eben dies beweist, daß die Augenblicke außer den Dingen nichts sind, und daß sie ausschließlich in deren aufeinanderfolgender Ordnung Bestand haben [...]. (Ebd. S. 30) Im Grunde sagt Leibniz: Wenn wir mit Begriffen arbeiten, die zu Fragen fÜhren, auf die mangels eines zureichenden Grundes keine sinnvollen Antworten gegeben werden kÙnnen, dann sind diese Begriffe selbst unwissenschaftlich und sinnlos. Es muß also darum gehen, einen Begriff von Raum und Zeit zu finden, der keine unwissenschaftlichen und sinnlosen Fragen zulÇßt, und ein solcher Begriff ist einzig der eines relativen Raumes und einer relativen Zeit. Newton dachte im Prinzip im Rahmen der Raum- und Zeitvorstellung des Atomismus in der Form Demokrits: Auch dort bewegen sich die Atome in einem absoluten Raum und sie haben einen Ort und eine Lage in diesem absoluten Raum (vgl. 1. Teil, Kap. V, 3, a). Die Frage ist bis heute aktuell, denn Elementarteilchen in einem absoluten und in einem relativen Raum sind Überhaupt nicht »dieselben«. In einer LeibnizWelt sind Elementarteilchen nur dann unterschieden, wenn sie in verschiedenen Relationen zu anderen Teilchen stehen, sonst sind sie nach dem Prinzip der IdentitÇt des Ununterscheidbaren identisch. DemgegenÜber ist eine Newton-Welt aus einer großen Zahl identischer Teilchen zusammengesetzt, die zunÇchst auf den absoluten Raum bezogen sind und die dann in bestimmten Relationen zueinander stehen. Eine Leibniz-Welt ist grundsÇtzlich verschieden von einer Newton-Welt. Eine Leibniz-Welt besteht nur in einer unendlichen Zahl von Relationen, so aber, daß von jedem Punkt aus das Ganze des Universums beschrieben ist (dies ist der Grundgedanke der Monadenlehre). Eine Newton-Welt kann im Prinzip »von außen« beschrieben werden, eine Leibniz-Welt nicht. Eine Newton-Welt ist daher auch physiko-theologisch gut verwendbar, eine Leibniz-Welt im Prinzip eigentlich nicht (vgl. dazu Kap. XI, 5). Und nicht zuletzt: Eine Newton-Welt ist umso besser, je »einfacher« sie ist, eine Leibniz-Welt ist um so besser, je »komplexer« sie - bei einer mÙglichst kleinen Anzahl von Grundbausteinen - ist. Daß der Physiker Newton sich fÜr eine Newton-Welt entschied, ist somit verstÇndlich, nicht zu vergessen, daß sie auch dem Theologen Newton eine plausible LÙsung bot. FÜr den Historiker ergibt sich hier eine schwierige Frage: Leibniz hatte in der Diskussion mit Clarke, die Newton natÜrlich genau verfolgte und begleitete, die besseren Argumente. Aber: Leibniz hatte zwar vielleicht die bessere Philosophie, es gelang ihm jedoch nicht, bzw. er versuchte es erst gar nicht, eine entsprechende Physik aufzubauen. Newton verstand ohne Zweifel die Argumente von Leibniz, und bei aller Abneigung gegenÜber diesem hÇtte er sicher dessen Argumenten Rechnung getragen, wenn er nicht gute GrÜnde dafÜr gehabt hÇtte, bei seiner Auffassung zu bleiben.

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Der Grund dafÜr dÜrfte in der zentralen Frage der Bewegung gelegen haben: Vor dem Hintergrund eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit lÇßt sich jede Bewegung isolieren und mit einem zwar auch nicht unkomplizierten, aber doch Übersichtlichen mathematischen Apparat kalkulatorisch beschreiben, der unter diesem Aspekt immer noch »einfach« war. In einem rein relationalen Raum und einer rein relationalen Zeit war es fÜr Newton keineswegs klar, wie eine Theorie der Bewegung aussehen sollte, da dort prinzipiell jede Bewegung auf jede andere Bewegung bezogen war. Da es also nicht mÙglich war, gleichzeitig eine gute Philosophie und eine brauchbare Physik zu haben, entschied sich Newton fÜr die brauchbare Physik, und dies hieß zu diesem Zeitpunkt: Er ließ sich einfach durch die Argumente von Leibniz nicht beeindrucken und blieb bei der in den Principia mathematica entwikkelten Physik. Das Grundproblem dieser Physik hatte er von Galilei Übernommen. Galilei hatte die gleichfÙrmige Bewegung definiert als diejenige, bei welcher die von einem KÙrper in irgendwelchen gleichen Zeiten zurÜckgelegten Strecken untereinander gleich sind, so daß bei gleichfÙrmiger Bewegung der grÙßeren Strecke eine grÙßere Zeit entspricht (vgl. Kap. IV, 1). Damit man solche Begriffe physikalisch sinnvoll verwenden konnte, benÙtigte man aber einen physikalischen Bezugsrahmen, der sich nicht selbst auch wieder bewegte, und diesen lieferte der absolute Raum und die absolute Zeit Newtons. Ebenso war dann eine beschleunigte Bewegung »an sich« definierbar und nicht nur in bezug auf wieder eine andere Bewegung. In diesem Rahmen schien sich das am ehesten formulieren zu lassen, was man von Naturgesetzen erwartete. Dies gilt natÜrlich vor allem vom bekanntesten der newtonschen Gesetze, dem Tr›gheitsgesetz: Gesetz I. Jeder K³rper verharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichf³rmig-geradlinigen Bewegung, sofern er nicht durch eingedr¹ckte Kr›fte zur nderung seines Zustands gezwungen wird. (Mathematische Grundlagen. Axiome oder Gesetze der Bewegung. S. 53) Bei Newton ist diese Bewegung nicht auf irgendeinen physikalisch bestimmbaren Punkt bezogen, sondern auf den absoluten Raum und auf die absolute Zeit. Wie sollte ohne diese Vorstellungen »geradlinige Bewegung« und »konstante Geschwindigkeit« Überhaupt definiert werden? Newton wußte natÜrlich, daß diese theoretische Frage nicht ausreichte, um die Vorstellung eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit einzufÜhren, sondern daß er vielmehr fÜr seine Unterscheidung einer absoluten und einer relativen Bewegung nach seinen eigenen methodologischen Forderungen eine empirische Basis benÙtigte: Die Wirkungen, durch die man absolute und relative Bewegungen voneinander unterscheiden kann, sind die Fliehkr›fte von der Achse der Kreisbewegung; denn in einer ausschließlich relativen Kreisbewegung existieren diese Kr›fte nicht, in einer wirk-

Newton, Wissenschaftsentwicklung und AufklÇrung

lichen und absoluten aber sind sie gr³ßer oder kleiner, je nach der Menge der Bewegung. (Ebd. S. 49) Als empirischen Nachweis dafÜr legte er den berÜhmten »Eimerversuch« vor (Ebd. S. 49 f.): Bei einem mit Wasser gefÜllten Eimer, der an einem verdrillten Seil hÇngt und auf den kein weiterer Einfluß ausgeÜbt wird, ergibt sich eine Relativbewegung von Eimer und Wasser, wobei jedoch einmal eine ebene, dann aber eine nach innen gewÙlbte WasseroberflÇche auftritt (d. h. das Wasser steigt an der Wand des Eimers hoch). Newton meinte, daß die ebene OberflÇche durch die Rotation gegenÜber dem relativen, die gewÙlbte hingegen durch die Rotation gegenÜber dem absoluten Raum hervorgerufen wÜrde. Dieses Experiment Überzeugte die Mehrzahl seiner Zeitgenossen (Berkeley Überzeugte es allerdings nicht) und ebenso die Naturphilosophen des 18. und grÙßtenteils auch des 19. Jhd.s, so daß die Vorstellung eines absoluten Raumes, einer absoluten Zeit und einer absoluten Bewegung vorherrschend blieb. Erst Ernst Mach (1838–1916) kritisierte die newtonsche Interpretation des Versuchs und erklÇrte die aufgetretene WÙlbung als Relativbewegung in Bezug zu den Massen des Fixsternhimmels (Machsches Prinzip). Die Vorstellung des absoluten Raumes und damit auch die der absoluten Zeit sowie die der absoluten Bewegung - wurde hinfÇllig und als metaphysischer Rest beseitigt. Damit erhielten auch die leibnizschen EinwÇnde gegen Newton wieder ihre Bedeutung. Aufbauend auf diesen Ergebnissen Machs entwickelte dann Albert Einstein (1879–1955) die allgemeine RelativitÇtstheorie.

4. Newton, Wissenschaftsentwicklung und Aufkl›rung Die Theorien der Principia mathematica und der Opticks fanden in England rasche Verbreitung, nicht zuletzt dadurch, daß Newton schon zu Lebzeiten eine Institution geworden war und die Vergabe von Professuren der Naturwissenschaft am »Rat« Newtons kaum vorbeikommen konnte. Die Newtonianer hatten ihren inneren Zusammenhalt dadurch, daß sie gleichsam vertragsbedingt Anti-Leibnizianer sein mußten. Die TÇtigkeit der Newtonianer an den UniversitÇten bedeutete wiederum, daß fÜr den Schulbetrieb einfachere Darstellungen geschaffen werden mußten, und diese konnten dann auch außerhalb von Fachkreisen gelesen und teilweise auch verstanden werden. Die Zahl solcher populÇrer Darstellungen im 18. Jhd. ist beeindrukkend: 17 franzÙsische, 11 lateinische und u.a. sogar eine nur fÜr Damen bestimmte italienische von F. Algarotti mit dem Titel Il Newtonianismo per le dame. Dieser Newtonianismus stellte aber nicht nur eine Vereinfachung, sondern auch eine nicht unwesentliche VerkÜrzung der Naturphilosophie Newtons dar. Es ergab sich ein geschlossenes newtonsches, »empirisch begrÜndetes Weltsystem«, also genau das, was man damals wollte und brauchte. Dieses Weltsystem war nicht wirklich das der

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Naturphilosophie Newtons, aber es war eben auch wieder Newton selbst, der dieser Verwendung, die ja schon zu seinen Lebzeiten einsetzte, zustimmte. MÙglicherweise bemerkte er selbst, daß gerade ein »verkÜrzter« Newton jene Überragende Bedeutung erhalten konnte, die er selbst wÜnschte. Im Laufe des 18. Jhd.s nahm auch die von der Literatur gefÙrderte Newton-Verehrung in England kultische Formen an. Auch auf dem Kontinent fand das Hauptwerk Newtons raschen Eingang. Der treue Halley sorgte fÜr gute Besprechungen im Journal des SÊavants und in den Acta Eruditorum. Allerdings wuchs der Einfluß Newtons auf dem Kontinent erst nach dessen Tod. ZunÇchst fand der Newtonianismus in Holland Eingang. Entscheidend dafÜr, daß der Newtonianismus sich in Paris durchsetzen konnte, war natÜrlich, daß sich die Pariser Acadµmie des Sciences zu Newton bekannte, was bedeutete, daß der Cartesianismus die Schlacht verloren hatte. Dieser Prozeß ging selbstverstÇndlich nicht ohne Gegenwehr vor sich. Der Weg, auf dem dieser Widerstand gebrochen wurde, war einigermaßen sonderbar: GewÙhnlich lassen sich zunÇchst einmal die Fachwissenschaftler von einer neuen Theorie Überzeugen, und dann wird ein solcher Umschwung popularisiert. In Frankreich hingegen wurde zunÇchst ein popularisierter Newtonianismus einflußreich, dem sich dann auch die Mitglieder der Acadµmie des Sciences nicht mehr entziehen konnten. Der große Propagator des newtonschen Systems wurde zunÇchst Voltaire, dessen VerstÇndnis mathematischer Details der newtonschen Physik sicher sehr begrenzt war. In seinen Philosophischen Briefen von 1734 war es außerdem sehr deutlich, daß Newton ihm dazu diente, den Franzosen ihre wissenschaftliche RÜckstÇndigkeit und ihr UnvermÙgen, eine freie wissenschaftliche Diskussion zuzulassen, zu demonstrieren, was nicht dazu angetan war, die Mitglieder der Acadµmie des Sciences fÜr die neuen Gedanken zu gewinnen. Die Sachdiskussion wurde dann aber auch wieder von Voltaire durch seine 1738 verÙffentlichten Elemente der Philosophie Newtons fÜr jedermann (›lements de la philosophie de Newton mis à la portµe de tout le monde) angestoßen. Der erforderliche wissenschaftliche Minimalgehalt dieser Schrift wurde von Voltaires Freundin, der Marquise du ChÄtelet, auf deren Schloß Cirey er sich damals aufhielt, garantiert, die von Mathematik wesentlich mehr verstand als Voltaire (sie Übersetzte auch die Principia mathematica Newtons ins FranzÙsische, und dies sollte die einzige franzÙsische ¾bersetzung bleiben). Diese Schriften – zusammen mit der fÜr einen Skandal immer guten PersÙnlichkeit Voltaires – sorgten dafÜr, daß das newtonsche System in allen Pariser Salons diskutiert wurde. Zu dem Kreis von Newtonianern, die sich gelegentlich in Cirey einfanden, gehÙrte auch der schon genannte Maupertius. Diesem gelang durch Vermessungen wÇhrend einer Expedition nach Lappland in den Jahren 1736/1737 der empirische Nachweis der von Newton aus theoretischen GrÜnden geforderten Abplattung der Erde an den Polen. Maupertius leitete dann die wissenschaftliche Rezeption des Newtonianismus in der Acadµmie des Sciences ein, die sich etwa seit 1740 endgÜltig durchsetzte. Maupertius wurde dann von Friedrich dem Großen mit der Reorganisation

Newton, Wissenschaftsentwicklung und AufklÇrung

der Berliner Akademie der Wissenschaften beauftragt, deren PrÇsident er 1746 wurde. Der Siegeszug des Newtonianismus ist, wie schon gesagt, nicht gleichzusetzen mit dem Siegeszug der Naturphilosophie Newtons. Im Newtonianismus der AufklÇrung und der folgenden Periode wurden große Teile des Denkens Newtons in einer Weise »eingeklammert«, daß sich beinahe das Gegenteil von dem ergab, was er selbst angestrebt hatte. In Wirklichkeit wurde eine newtonsche Physik im Rahmen einer - mit ihr eigentlich unvertrÇglichen - leibnizschen Metaphysik vertreten. Die Grundfrage der Auseinandersetzung zwischen Leibniz und Newton war ja die um die Geltung einer durchgÇngig mechanistisch-deterministischen Weltauffassung gewesen. Newton hatte eine solche Geltung bestritten, wÇhrend sie durch die leibnizsche Annahme der besten aller mÙglichen Welten bestÇtigt schien: Diese Welt bedarf, wenn sie einmal geschaffen ist, keinerlei nicht-mechanistischer ErklÇrungen mehr. Leibniz hatte genau gesehen, daß Mores Thesen auch hinter der ¾berzeugung Newtons standen, daß ein durchgehend mechanistisches Weltbild unzureichend sei. In einem spÇten Brief von 1714 sagt er von More »und einigen anderen Platonikern«, daß sie irren, wenn sie meinen, »daß es PhÇnomene gibt, die nicht mechanisch erklÇrt werden kÙnnen« (Leibniz: Die philosophischen Schriften. Hrsg. v. C. I. Gerhardt. Berlin 1887 [Nachdruck Hildesheim 1978]. III. S. 607). Ob Leibniz hier auch Newton unter die »Platoniker« zÇhlt, lÇßt sich nicht sicher sagen; aus dem Briefwechsel mit Clarke geht allerdings klar hervor, daß er genau dies Newton zum Vorwurf machte. Bei dieser Kritik handelt es sich nicht um einen gelegentlichen Streitpunkt, vielmehr kommt hier eine Grundauffassung von Leibniz zum Tragen. Schon 1687 schrieb Leibniz an Arnauld: Ich wiederhole nochmals, daß man alle Ph›nomene mit der mechanistischen Philosophie (par la philosophie machinale) erkl›ren kann, indem man bestimmte Prinzipien der Mechanik (certains principes de Mecanique) voraussetzt. (Leibniz: Der Briefwechsel mit Antoine Arnauld. S. 236. •bers. v. F. S.) Newtons Physik wurde spÇter genau in diesem leibnizschen Sinne interpretiert. Auch Kant ging in seiner FrÜhschrift Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Urspunge des ganzen WeltgebÇudes nach Newtonischen GrundsÇtzen abgehandelt von 1755 und ebenso in den 1786 - also genau hundert Jahre nach dem Erscheinen von Newtons Principia mathematica - verÙffentlichten Metaphysischen AnfangsgrÜnden der Naturwissenschaften von einem »mechanistischen« Newton aus. Pierre Laplace (1749–1827) konnte gegenÜber Napoleon die Hypothese Çußern, »Gott« sei ÜberflÜssig geworden. Geht man von einer strengen Trennung von Naturwissenschaft und Philosophie aus, so ist gegen eine solche ’ußerung nichts einzuwenden. Nur: Mit Newtons Naturphilosophie hat all dies nichts mehr zu tun, und eine etwaige Berufung auf Newton in

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Isaac Newton

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solchen ZusammenhÇngen ist zumindest ein MißverstÇndnis. Newtons Vorstellungen von Naturphilosophie mÙgen manchen heute befremden, der Historiker hat aber die Aufgabe, auch auf solche »Absonderlichkeiten« hinzuweisen. Und damit kein Zweifel auftaucht: Ich bin nicht der Meinung, daß in unserer Gegenwart der physico-theologische Gottesbeweis wieder hervorgeholt werden kÙnnte. Nichtsdestoweniger ist festzuhalten, daß Newton die GÜltigkeit eines solchen Beweises annahm. Auch ein weiterer Aspekt der Naturphilosophie Newtons wurde ausgeblendet. Newton beschÇftigte sich lange und intensiv mit alchemistischer Literatur, die einen erstaunlich großen Anteil in seiner Bibliothek ausmachte, und fÜhrte selbst Über lange Zeit hin alchemistische Experimente durch. Die BeschÇftigung mit alchemistischen Schriften bestÇrkte ihn auch in der schon von More Übernommenen neuplatonischen Auffassung, daß eine mechanistische Auffassung vom Kosmos nicht ausreichte, um alle PhÇnomene zu erklÇren. Er wollte dabei nicht irgendwelche okkulten KrÇfte zu wissenschaftlichen ErklÇrungen hinzufÜgen, sondern meinte einfach, daß fÜr eine vollstÇndige wissenschaftliche ErklÇrung der PhÇnomene eine mechanistisch konzipierte cartesianische oder leibnizianische Physik unzureichend sei. Er vermutete ganz und gar nicht, in der Alchemie eine Vielzahl unbekannter KrÇfte zu finden, sondern meinte, daß auch dort ein und dieselbe »Kraft« die verschiedensten PhÇnomene erklÇren kÙnnte, so wie ja auch die Gravitation PhÇnomene der irdischen wie der himmlischen Physik zu erklÇren vermochte. Newton war also in verschiedener Hinsicht davon Überzeugt, daß das zu seiner Zeit gÇngige mechanistisch-deterministische Weltbild unzureichend ist. In alchemistischen Schriften spielte die Mikro-Makrokosmos-Vorstellung immer eine große Rolle. Auch diese Vorstellung nahm Newton auf, wobei er sie allerdings vom Individuum auf die Menschheit erweiterte und sie mit seiner Naturphilosophie in Verbindung brachte. Und so ergab sich fÜr ihn eine ParallelitÇt der Geschichte des Kosmos und der Geschichte der Menschheit: So wie es im Kosmos einen Verlust an Bewegung gibt, so ist auch die Geschichte der Menschheit eine Verlustgeschichte. Newton Übernahm von dem Alchemisten Michael Maier (17. Jhd.) die bekannte mittel- und neuplatonische These einer »ursprÜnglichen Weisheit« (vgl. 1. Teil, Kap. XVI, 4) und gelangte so zu seiner These: So wie es im Kosmos einen Energieverlust gibt, so gibt es auch in der Geschichte Abnutzungserscheinungen der ursprÜnglichen Weisheit, die daher in spÇteren Formen verdorben erscheint. Das wahre ursprÜngliche Wissen ist jedoch in Mythen in verschlÜsselter Form erhalten geblieben. So vertrat Newton sogar die ¾berzeugung, daß in der alten Weisheit auch schon ein GrundverstÇndnis der Gravitation vorhanden gewesen war. Und er war auch, wie er es in der erweiterten Form der Opticks von 1717 zum Ausdruck brachte, davon Überzeugt, das Studium der Naturgesetze kÙnne und mÜsse dazu dienen, die Sittlichkeit der Menschen zu fÙrdern und dadurch dem ursprÜnglichen Willen Gottes in der Geschichte zum Durchbruch zu verhelfen.

Newton, Wissenschaftsentwicklung und AufklÇrung

Wie immer man auch all dies beurteilen mag, es ist jedenfalls festzuhalten, daß zwischen dem Newton des Paradigmas der neuzeitlichen Wissenschaft und dem historischen Newton ein betrÇchtlicher Abstand besteht. Es gibt Anzeichen dafÜr, daß in unserer Gegenwart der historische Newton wieder an AktualitÇt gewinnt. Was von diesem historischen Newton dabei aktuell werden kÙnnte, ist dabei noch ganz offen. Der ganze historische Newton wird es vermutlich nicht sein.

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1. Die Barockfigur des »Universalgelehrten«

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In der italienischen Renaissance gab es das Ideal des »universalen Menschen«, der auf allen Gebieten, vor allem der Kunst und Wissenschaft, aber auch der Politik, schÙpferisch tÇtig ist. Beispiele dafÜr sind Michelangelo, Leonardo da Vinci und auf seine Weise auch Lorenzo il Magnifico. Zur Zeit des Barocks wurde aus dem »universalen Menschen« der »Universalgelehrte«. Davon gab es sehr viele: Pfarrer, FÜrstenerzieher, Prinzessinnen, Bibliothekare, HofrÇte usw. Sie interessierten sich fÜr alles, waren neugierig auf alles, liefen stets der letzten Neuigkeit nach, diskutierten Über alles und verstanden von all dem oft nicht sehr viel. WÇhrend es in der Renaissance die Weltentdecker waren, die den Horizont in geographischer Hinsicht erweiterten, so waren es jetzt die Reisenden und Missionare, die mit ihren Reiseberichten ihren Lesern den Eindruck suggerierten, auch WeltbÜrger zu sein. Dazu betrieb noch jeder etwas Naturbetrachtung, interessierte sich fÜr cartesianische Metaphysik, fÜr Religionsstreitigkeiten, neue Medizinen, Urkundenforschung, Genealogie und was sonst noch zu erfahren war. Wer sich als Gelehrter fÜhlte, hatte immer große VerÙffentlichungsplÇne und beklagte sich stÇndig, daß er wegen der vielen BeschÇftigungen nie zur Fertigstellung des großen Werkes gelangte. Kaum daß einer dieser berÜhmten Gelehrten gestorben war, suchte man im Nachlaß nach den Manuskripten dieser großen Werke, gewÙhnlich aber vergebens. »UniversalitÇt« war also ein Kennzeichen des Barockzeitalters. Um mÙglichst vielseitig informiert zu werden und um lÇnderÜbergreifende Diskussionen durchfÜhren zu kÙnnen, wurden im 17. Jhd. die ersten großen Zeitschriften gegrÜndet: Das Journal des SÊavans in Paris, die Philosophical Transactions in London, die Acta Eruditorum in Leipzig und das Giornale de’Letterati in Italien. Diese Zeitschriften publizierten neben Artikeln auch Rezensionen und gaben damit ihren Lesern die MÙglichkeit, breit informiert zu werden. Zu dieser Zeit entwickelte sich jene sonderbare Kategorie von Gelehrten, die jedes Buch kannten, beinahe ohne irgendeines gelesen zu haben. Es gab auch eine ganze Anzahl, oft sehr kurzlebiger, populÇrer Zeitschriften, die jedermann den Eindruck vermitteln sollten, an den neuesten Entwicklungen der Wissenschaften teilzuhaben. Zur selben Zeit entstanden auch EnzyklopÇdieplÇne, die sogar erste große Erfolge erbrachten, wie z. B. das Ende des 17. Jhd.s erschienene Dictionnaire historique et critique von

Das Projekt der Allgemeinen Wissenschaft (Scientia generalis)

Pierre Bayle (1647–1706). FÜr die AnhÇufung solchen »universellen Wissens« war auch der Briefwechsel wichtig, denn die Korrespondenzen dienten nicht zuletzt dem Transport von Neuigkeiten, zu denen bei Gelehrten auch neu erschienene BÜcher gehÙrten. Leibniz hat den umfangreichsten Briefwechsel des ganzen 17. Jhd.s beigesteuert. Der dort u.a. stattfindende Transport von BÜchertiteln ist ungeheuerlich. Leibniz war modern auch in dem Sinne, daß er faktisch die Vorstellung »Wissen ist Macht« zu der Vorstellung »Information ist Macht« erweiterte und somit nicht zuletzt am Beginn jener Entwicklung steht, in welcher der Unterschied von Wissen und Informiertsein manchmal undeutlich wird. Bezeichnet man Leibniz als »Universalgenie«, so sagt man zunÇchst also nur, daß er ein echter Mensch des Barockzeitalters war, in dem es das Kennzeichen des Gebildeten und vor allem des Gelehrten war, universale Interessen zu haben. Leibniz sagte im Alter von 25 Jahren Über seinen eigenen, etwas ungewÙhnlichen Bildungsweg (N.B. normaler Druck: in der Handschrift in deutscher Schrift, kursiv: in lateinischer Schrift): Zuf³rderst, weil mir meine Eltern zeitlich gestorben, und ich fast ohne einige direction meiner studien gewesen, habe ich das gl¹ck gehabt, vor mich ¹ber B¹cher von allerhand Sprachen, Religionen, und Scientien, wiewohl ohne geb¹hrende ordnung zu kommen, und solche anfangs nur aus trieb der delectation zu lesen, davon ich aber unempfindtlich den nuzen gesch³pfet, daß ich von gemeinen praejudiciis befreyet worden, und auf viel dinge kommen, daran ich sonst nimmermehr gedacht h›tte [...]. (A II, 1. S. 159) In diesem Sinne ist der Gelehrte des 17. Jhd.s »unmodern«, der hollÇndische, spezialisierte HÇndler hingegen »modern«. Was Leibniz von anderen Universalgelehrten unterschied, war aber, daß er auf den verschiedensten Gebieten tatsÇchlich schÙpferische BeitrÇge lieferte; was Leibniz mit ihnen gemeinsam hatte, war, daß er nichts oder fast nichts - beendete und stÇndig großen, unrealisierbaren Projekten nachlief.

2. Das Projekt der Allgemeinen Wissenschaft (Scientia generalis) Alles Denken ist durch Zeichen vermittelt. Denken ohne Zeichen gibt es nicht. Diese These steht am Beginn alles philosophischen wie auch wissenschaftlichen Denkens bei Leibniz, und Leibniz hat sie wÇhrend seines ganzen Lebens festgehalten. Mit Hobbes unterscheidet Leibniz zwei Funktionen von Zeichen: ein »Zeichen« (im engeren Sinne) dient der Kommunikation, ein »Kennzeichen« (nota) aber dem GedÇchtnis. Entscheidend ist jedoch die Funktion der Zeichen fÜr das Denken Überhaupt. An diesem Punkt unterscheidet sich Leibniz ganz klar von Locke und all jenen vor ihm, die Denken als einen von Zeichen unabhÇngigen Vorgang gedeutet

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hatten und den Zeichen, also auch der Sprache, nur die Funktion der Mitteilung oder Aufbewahrung von Gedanken zusprachen. FÜr Leibniz hingegen gilt ganz eindeutig: Irgendwelcher Charaktere allerdings bedarf man wohl stets zum Denken. (Hauptschriften. I, S. 7) Jede menschliche Vernunft¹berlegung (ratiocinatio) kommt durch irgendwelche Zeichen (signis) oder Charaktere (characteribus) zustande. (Die Grundlagen des logischen KalkÜls. S. 17) Alle unsere Vernunft¹berlegung ist nichts anderes als die Verbindung und Substitution von Charakteren, sei es, daß diese Charaktere, Worte, Kennzeichen (notae) oder schließlich Bilder (imagines) sind. (A VI, 4. S. 922. •bers. von F. S.)

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Wenn Leibniz sagt, daß die TÇtigkeit der Vernunft nichts anderes ist als die Verbindung und Substitution von Charakteren, so liefert in deutlicher Weise die Mathematik das Modell, so wie auch Hobbes schon Denken als Rechnen aufgefaßt hatte (vgl. Kap. VIII, 2). Vor diesem Hintergrund ist das große Projekt der Allgemeinen Wissenschaft von Leibniz zu verstehen. Dieses Projekt stellt er programmatisch schon in einer frÜhen Schrift von 1671 dar. (Leibniz schreibt dabei teilweise in deutscher, teilweise in lateinischer Sprache - hier kursiv gesetzt -, so daß an diesem Text auch deutlich wird, wie wenig »philosophisch geeignet« die deutsche Sprache zu dieser Zeit noch war.) Dort sagt er: In Philosophia habe ich ein mittel funden, das jenige was Cartesius und andere per Algebram et Analysin in Arithmetica et Geometria gethan, in allen scientien zuwege zu bringen per Artem Combinatoriam, welche Lullius und P. Kircher zwar excolirt, bey weiten aber in solche deren intima nicht gesehen. Dadurch alle Notiones compositae der ganzen Welt, in wenig simplices als deren Alphabet reduciret, und aus solches alphabets combination wiederumb alle dinge, samt ihren theorematibus, und was nur von ihnen zu inventiren m¹glich ordinata methodo, mit der zeit zu finden ein weg gebahnet wird. Welche invention, dafern sie wils Gott zu Werck gerichtet, als mater aller inventionen von mir vor das importanteste gehalten wird, ob sie gleich das ansehen noch zur zeit nicht haben mag. (A II, 1. S. 160) Leibniz gibt hier klar an, woher er seine Inspiration gewonnen hat: Es ist zunÇchst das kombinatorische Verfahren Lulls und Kirchers (vgl. 2. Teil, Kap. XVI, 1), desweiteren die Methode der Analysis und Synthesis der Renaissance-Aristoteliker (vgl. 3. Teil Kap. I, 5) und schließlich sind es die Beweisverfahren, wie er sie aus der zeitgenÙssischen Mathematik vor allem von Descartes kannte. Zu einem eingehenden Studium der Mathematik kam Leibniz wÇhrend seines Aufenthalts in Paris und bei

Das Projekt der Allgemeinen Wissenschaft (Scientia generalis)

zwei Reisen nach London in den Jahren 1672–1676. Wenig spÇter, vermutlich 1677, schrieb Leibniz in ganz Çhnlicher Weise wie im vorangegangenen Text: Wenn man Charaktere oder Zeichen finden k³nnte, die geeignet w›ren, alle unsere Gedanken ebenso rein und streng auszudr¹cken, wie die Arithmetik die Zahlen oder die analytische Geometrie die Linien ausdr¹ckt, k³nnte man offenbar bei allen Gegenst›nden, soweit sie dem vern¹nftigen Denken unterworfen sind, das tun, was man in der Arithmetik und der Geometrie tut. Denn alle Forschungen, die vom vern¹nftigen Denken abh›ngen, w¹rden durch die Umwandlung dieser Charaktere und eine Art Kalk¹l zustande kommen, was die Erfindung sch³ner Dinge ganz leicht machen w¹rde. [...] außerdem w¹rde man jeden von dem ¹berzeugen, was man gefunden oder erschlossen h›tte, da es leicht sein w¹rde, den Kalk¹l zu pr¹fen [...]. Und wenn jemand an dem, was ich vorgebracht haben w¹rde, zweifelte, w¹rde ich zu ihm sagen: »Rechnen wir, mein Herr!«, und Feder und Tinte nehmend, w¹rden wir uns bald aus der Verlegenheit ziehen. (A VI, 4. S. 6. Fragmente zur Logik. S. 90 f.) Wenn Leibniz hier auffordert, zu Feder und Tinte zu greifen, so ist damit mehr als eine rhetorische Formel gemeint: Leibniz zieht hier die Konsequenz der neuzeitlichen Entwicklung, die vom gesprochenen Wort zum verschriftlichten Zeichen fÜhrt (vgl. 2. Teil, Kap. XIX, 4). Er braucht manipulierbare »Charaktere«, und diese sind »geschriebene, gezeichnete oder gemeißelte Zeichen« (Die Grundlagen des logischen KalkÜls. S. 19). Solche Zeichen sind wie MÜnzen oder Rechensteine zu handhaben. Zeichen dienen also nicht nur der ReprÇsentation von Dingen, sondern sind das Medium einer rechnenden Vernunft. Daher ist auch alle Wissenschaft nichts anderes als ein Zeichenprozeß. Diesen universellen Zeichenprozeß suchte Leibniz mit seiner Allgemeinen Wissenschaft (Scientia generalis) operationalisierbar zu machen. Der Plan einer allgemeinen Wissenschaft war ein richtiges Barockunternehmen: strengster Rationalismus verbunden mit ziemlich phantastischen Vorstellungen. Leibniz hat diesen Plan wÇhrend seines ganzen Lebens verfolgt und - bei allen Modifikationen im Detail und EinschrÇnkungen vor allem in seiner spÇteren Zeit - an der DurchfÜhrbarkeit festgehalten. Obwohl er diesem großen Projekt keine Gesamtdarstellung gewidmet, sondern es nur in einer, allerdings großen Anzahl von EntwÜrfen behandelt hat, stand es doch im Zentrum aller seiner ¾berlegungen. Dies muß betont werden, da Leibniz vielen doch vor allem durch seine bekannten Werke der Monadologie, der Theodizee und der Nouveaux Essais bekannt ist. Dieses leibnizsche Projekt wird inzwischen hÇufig als das »Leibnizprogramm« bezeichnet. Der Grundgedanke der Allgemeinen Wissenschaft war verhÇltnismÇßig einfach: Alle unsere Kenntnisse bestehen aus der Kombination einfachster Begriffe; wir brauchen also nur zweierlei zu entdecken, um alle mÙglichen Erkenntnisse zu gewinnen: (a) Die einfachsten Grundbegriffe aller Wissenschaften und deren Abbildung in geeigneten Zeichen (Characteristica universalis).

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Gottfried Wilhelm Leibniz

(b) Die Gesetze der Kombination dieser einfachsten Grundbegriffe (Calculus ratiocinator bzw. Calculus logicus).

a) Die Grundbegriffe Es geht also zunÇchst darum, die Grundbegriffe aller Wissenschaften zu finden. Diese sind undefinierbar, da sie eben nicht aus weiteren Grundbegriffen bestehen. Leibniz sah natÜrlich, daß es schon aus praktischen GrÜnden keineswegs so einfach ist, die Grundbegriffe aller Wissenschaften aufzufinden: Dies ist eine Aufgabe, die selbst die zeitlichen MÙglichkeiten eines »Universalgelehrten« Überstieg. So kam ihm der Gedanke, diese Aufgabe unter Spezialisten der einzelnen Gebiete aufzuteilen. Der frÜheste Text fÜr dieses große Projekt ist der aus dem Jahre 1679 stammende Plan einer neuen, nach der entdeckenden Methode abzufassenden EnzyklopÇdie (A VI, 4. S. 338–349). Dort schreibt Leibniz:

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Da es aber eine große Aufgabe ist, diese Wissenschaften vollkommen genug vorzutragen, und wir vor allem Zeit dazu haben m¹ssen, so ist mein Rat, daß wir, nachdem das Werk unter viele M›nner aufgeteilt ist, sobald als m³glich wenigstens irgendeinen allerersten Entwurf davon gestalten, der die Grundlage f¹r die Mitarbeiter bildet, von Tag zu Tag vermehrt und gefeilt werden kann und ein Schritt zu Gr³ßerem sein kann. Auch sehe ich nicht, was hindern k³nnte, daß von zwanzig Gelehrten in zwei Jahren das erledigt werden kann, was gewiß von einem, der eine ausreichende Kenntnis der Dinge besitzt, in zehn Jahren geleistet werden kann. (Fragmente zur Logik. S. 72) Seine PlÇne fÜr AkademiegrÜndungen, die auch - nach dem Vorbild der Acadµmie des Sciences in Paris und der Royal Society in London - in Berlin und St. Petersburg Erfolg hatten, waren prinzipiell auf das Ziel ausgerichtet, Mitarbeiter fÜr die Auffindung der Grundbegriffe der allgemeinen Wissenschaft zu finden und dieser Arbeit eine institutionelle Absicherung zu verschaffen. Methodisch entspricht das Auffinden dieser Grundbegriffe dem, was frÜher »Analysis« genannt worden war. Das Resultat wÇre dann das »Alphabet der menschlichen Gedanken«. Ausgehend von den Grundbegriffen sollten im nÇchsten Schritt alle Definitionen und GrundsÇtze der einzelnen Wissenschaften geordnet aufgestellt werden. Die Zusammenstellung solcher Tabellen hatte schon Bacon vorgeschlagen (vgl. Kap. III, 2). Leibniz erhoffte sich dabei aber auch, daß in solchen Tabellen zusammenstimmende Reihen (harmonicae series) erscheinen wÜrden, die einen Leitfaden (filum) abgeben wÜrden, um zu neuen SÇtzen zu gelangen. Der Gedanke des »Ariadnefadens«, der uns im Labyrinth der Gedanken leiten kÙnnte, war eine von Leibniz immer wieder gebrauchte Parabel: Den in der entdeckenden Ordnung zusammengef¹gten S›tzen sollen Verzeichnisse oder Kataloge beigegeben werden, in denen die schon gemachten Entdeckungen und

Das Projekt der Allgemeinen Wissenschaft (Scientia generalis)

Einsichten zu leichter Verwendung und zur Aufstellung von Kombinationen, wie auf Tafeln, angeordnet werden. Hieraus entspringt viel Neues, an das wir sonst nicht gedacht h›tten; und es werden gewisse zusammenstimmende Reihen zu Tage kommen, durch die, wenn man ihrem Faden folgt, sich der Zugang zu Gr³ßerem er³ffnen wird. (Fragmente zur Logik. S. 63) Leibniz dachte hier an Reihenberechnungen wie in der Mathematik. Bei der Frage, wie diese Erfindungskunst allerdings genauer aussehen kÙnnte, blieb Leibniz ziemlich vage: Wir begegnen hier der in der Geschichte immer wieder aufgetretenen Hoffnung, neben den Regeln der deduktiven Logik (ars judicandi) auch Regeln einer »Logik der Entdeckung/Erfindung« (ars inveniendi) zu finden (vgl. z. B. Kap. I, 6, und Kap. III, 3, d), eine Hoffnung, die jedoch nie in ErfÜllung ging. Es lassen sich zwar bestimmte pragmatische Regeln fÜr Forschungsstrategien entwickeln, Regeln fÜr die Erfindung von neuen Theorien gibt es aber (bisher) noch nicht. Die Reichweite des Programms war enzyklopÇdisch. Sie reichte von der Grammatik, der Logik, der GedÇchtniskunst und der Topik (Kunst der Auffindung neuer Wahrheiten) bis zur Wissenschaft der Formeln (z. B. der Algebra); weiter folgte die Wissenschaft von den GrÙßen bzw. den Proportionen, dann die Arithmetik, die Geometrie, die Mechanik, die Wissenschaft der Wahrnehmung der einfachen QualitÇten (Farbe, WÇrme usw.), die Chemie, die Astronomie, die Biologie und schließlich die moralische Wissenschaft, zu der auch die Staatswissenschaft und die Rechtswissenschaft gehÙren; außerdem die Geopolitik, zu der die Geschichte und die politische Geographie gezÇhlt wurde, und schließlich die natÜrliche Theologie. Zum Schluß ist [...] dieser Enzyklop›die [...] eine Praktik anzuf¹gen, n›mlich eine Lehre vom Nutzen der Wissenschaften zur Gl¹ckseligkeit oder von den Vorschriften, indem man n›mlich in Betracht zieht, daß wir nur Menschen sind. (Fragmente zur Logik. S. 72) Der Sinn dieser Bemerkung ist offenkundig: Daß die Wissenschaften zum Nutzen und zur GlÜckseligkeit der Menschen dienen sollen, war, wiederum ausgehend von den Prinzipien Bacons, eine allen Philosophen des 17. Jhd.s gemeinsame Vorstellung, die auch Leibniz teilte. Im Unterschied zu anderen meinte er aber nicht, daß Einsicht immer schon zum richtigen Handeln fÜhrt; dazu war er eben doch zu gut in der Rechts- und in der Geschichtswissenschaft geschult, und dazu kannte er auch zu gut die RealitÇt der politischen Entscheidungen an verschiedenen HÙfen. Er glaubte zwar metaphysisch an die beste aller mÙglichen Welten, meinte aber nicht, daß sich dadurch schon ein konkreter Fortschrittsautomatismus ergebe; es gab also durchaus Aufgaben fÜr eine »Praktik«. Dieser Kanon der Wissenschaft - es finden sich bei Leibniz noch verschiedene andere - ist nicht sonderlich originell, wohl aber die Art und Weise, mit der er diese Wissenschaften bearbeiten wollte. Wie bereits gesagt, meinte Leibniz zunÇchst, die

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Grundbegriffe aller Wissenschaften in wenigen Jahren auffinden zu kÙnnen. Im Laufe seines Lebens wurde er allerdings vorsichtiger. Auch bei der Frage, ob die Grundbegriffe Überhaupt als solche sicher zu kennzeichnen seien, zeigte Leibniz grÙßere ZurÜckhaltung: Ein primitiver Begriff ist einer, der nicht in andere aufgel³st werden kann [...], ob aber irgendein solcher Begriff von den Menschen deutlich unterschieden erfaßt werden kann, so daß sie n›mlich erkennen, daß sie ihn erreicht haben, das kann bezweifelt werden. (A VI, 4. S. 528. •bers. F. S.)

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Auch wenn Leibniz die Forderung, die primitiven Begriffe aufzufinden, nie prinzipiell aufgab, meinte er spÇter, man kÙnnte sich vorlÇufig mit jenen Begriffen zufriedengeben, die den ersten Begriffen n›her sind. FÜr die Aufstellung der Gesetze der Kombination reichte es ihm daher aus, die f¹r uns letzten Begriffe zu kennzeichnen (A VI, 4, S. 538. Hauptschriften I. S. 24). Diesen fÜr uns letzten, primitiven Begriffen mÜssen dann Zeichen, Charaktere, zugeordnet werden. Ein besonders einfaches System wÇren die Zahlen. Um hier ein noch einfacheres als das Dezimalsystem zur VerfÜgung zu haben, erfand Leibniz das duale Zahlensystem, welches ermÙglicht, alle Zahlen nur durch die beiden Zeichen »0« und »1« darzustellen (was zu einem wichtigen Bestandteil der Computertechnik werden sollte). Leibniz verwendete aber meist Buchstaben nach dem Vorbild der Algebra. Obwohl Zeichen willkÜrlich eingefÜhrt werden, ist doch ein Zeichen umso besser, je mehr Eigenschaften des Dings es wiedergibt, ein Gedanke, der wiederum von den Zahlen herrÜhrte: Die arabischen Ziffern sind schon dadurch den rÙmischen Überlegen, daß bei ihnen eine lÇngere Zahl immer auch eine grÙßere ist, wovon bei den rÙmischen Zahlen nicht ausgegangen werden kann. Die Zeichen, die in der Umgangssprache verwendet werden, d. h. die WÙrter, sind hÇufig zu ungenau. Leibniz orientiert sich daher bei seiner Forderung einer neuen Wissenschaftssprache, in der »aufgrund der Formbildung und der Konstruktion der Vokabeln die IrrtÜmer der VernunftÜberlegung [...] aufgedeckt werden kÙnnten« (Die Grundlagen des logischen KalkÜls. S. 19), wiederum an der Mathematik: Bisher haben nur die Algebraiker und Arithmetiker Kennzeichnungen entwickelt, die jeden Irrtum des Geistes als einen Irrtum im KalkÜl aufzeigen (Ebd.). Dies ist das Ideal einer exakten Wissenschaftssprache, die einen logischen Aufbau der Welt ermÙglichen sollte. Der Ausgangspunkt der Wissenschaft liegt dann in den Definitionen und Axiomen, so wie wir dies schon bei Galilei und Newton gesehen haben. Leibniz sagt daher: Unsere Enzyklop›die muß demnach so geschrieben werden, daß die Aussagen und Beweise der Wahrheiten weder von den Schemata noch vom Kalk¹l, sondern von den Definitionen, Axiomen und vorangestellten S›tzen [Postulaten] abh›ngen. (Fragmente zur Logik. S. 64)

Das Projekt der Allgemeinen Wissenschaft (Scientia generalis)

Leibniz stellte daher immer wieder selbst Listen von Definitionen zusammen - bei denen er allerdings selten Über Worte, die mit den ersten Buchstaben des Alphabets beginnen, hinauskam (vgl. z. B. A VI, 4. S. 53–57) -, um die begriffliche Seite der Wissenschaften und der Philosophie aufzufinden. Es war ihm dabei allerdings klar, daß auch hier die Teamarbeit ganzer Abteilungen von Akademien erforderlich wÇre. WÇre dieser Teil jedoch gesichert, so mÜßte jede Wissenschaft streng formal dargestellt werden: Sobald wir jedoch eine Wissenschaft hinreichend beherrschen, ist der Kalk¹l zur Ableitung von Folgerungen, von unterschiedlichen F›llen und Anwendungen, sowie zu einer mit m³glichst geringer geistiger M¹he bewerkstelligten Folgerung von beliebig Vorgegebenem sp›terhin ungemein n¹tzlich. (Fragmente zur Logik. S. 64) Mit dem Prinzip »mit mÙglichst geringer geistiger MÜhe« begegnen wir einem Prinzip, das auch der Computertechnik zugrunde liegt. TatsÇchlich war Leibniz der Meinung, daß Folgerungsverfahren mechanisierbar seien, d. h. daß sich Maschinen konstruieren ließen, die mit grÙßerer Leichtigkeit und Schnelligkeit als das menschliche Gehirn Folgerungen durchfÜhren. Um zu zeigen, daß dies keine Phantasterei ist, entwarf er in Fortsetzung der Versuche Pascals eine Rechenmaschine fÜr die Grundrechenarten, die er auch bauen ließ und die bis heute in der Landesbibliothek Hannover aufbewahrt wird. Die universale Charakteristik war ein undurchfÜhrbares Unternehmen. Nichtsdestoweniger hat sich der Gedanke von Leibniz fÜr die Wissenschaftstheorie als sehr fruchtbar erwiesen: Eine Wissenschaft kann nicht ohne eine »Bereichscharakteristik« exakt aufgebaut werden, die dann kalkÜlmÇßig streng behandelt wird.

b) Der allgemeine und der logische Kalk¹l Leibniz nimmt - wie Descartes oder Pascal - seinen Ausgangspunkt von der Mathematik, seine Analyse ist jedoch schÇrfer. Er sagt von der Kunst der Formeln (Ars formularia) und ihrer Aufstellung: [...] und von dieser Wissenschaft gehen viele Regeln aus, welche die Algebraiker und die Geometer f¹r ihren Gebrauch ¹bertragen haben, obwohl jene nicht nur f¹r Gr³ßen, sondern auch f¹r andere Betrachtungen G¹ltigkeit haben. (Ebd. S. 68) Was Leibniz hier andeutet, ist ein zentraler Gedanke: Weder die Mathematik noch die Logik ist die »Grundtheorie«, vielmehr muß diese in einem ganz allgemeinen und zunÇchst uninterpretierten axiomatischen System gefunden werden, das dann interpretiert - als formaler Kern in andere Wissenschaften eingehen kann. Und so erfand Leibniz den allgemeinen formalen KalkÜl. Er nannte diesen KalkÜl auch

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»Specieuese universelle« (»speciosa« war der Terminus Franciscus Vietas (1540–1603) fÜr die Algebra, zu deren Entwicklung Vieta entscheidende BeitrÇge geliefert hatte). Leibniz entwickelte also einen ganz allgemeinen KalkÜl, in dem die verwendeten Zeichen - Variable und VerknÜpfungen - zunÇchst noch nicht interpretiert sind, also noch »nichts« bedeuten, sondern nur fÜr sich stehen. Die VerknÜpfungszeichen sind ausschließlich durch die Operationen festgelegt, die mit ihnen im KalkÜl durchgefÜhrt werden dÜrfen. Die als Variable verwendeten Buchstaben kÙnnen dann verschiedene Interpretationen erhalten, und dasselbe gilt dann natÜrlich fÜr die VerknÜpfungszeichen. Nehmen wir eine einfache Formel: A = A. (Vgl. z. B. Die Grundlagen des logischen KalkÜls. S. 53, Axiom 3)

ZunÇchst hindert mich gar nichts, auch eine weitere Formel in meinem KalkÜl zuzulassen, nÇmlich: A „ A. (Vgl. Allgemeine Untersuchungen § 153–154. S. 115)

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Leibniz zieht auch diese MÙglichkeit in ErwÇgung. Da diese Formeln zunÇchst ja nichts bedeuten, kÙnnte ich einen KalkÜl aufbauen, in dem beide vorkommen dÜrfen. Eine spÇtere mÙgliche Interpretation wÇre dann nach Leibniz z. B. die folgende: »A = A« soll bedeuten: »A ist ein nicht-widersprÜchlicher Begriff« und »A „ A« soll bedeuten: »A ist ein widersprÜchlicher Begriff«. Leibniz lÇßt aber dann diesen Zeichengebrauch fallen, da aus einem widersprÜchlichen Begriff »nichts in brauchbarer Weise geschlossen werden kann« (Ebd. § 155. S. 115). Dieses leibnizsche Vorgehen ist deshalb aufschlußreich, weil es zeigt, daß - wie es auch bei Leibniz der Fall ist - der Aufbau eines so formalen KalkÜls zwar von seiner spÇteren Interpretation her »inspiriert« ist oder jedenfalls sein kann, prinzipiell jedoch davon unabhÇngig ist: Die in der Allgemeinen Charakteristik verwendeten Zeichen sind zunÇchst »notes indifferents« (Opuscules. S. 531). Die Zeichen eines solchen KalkÜls kÙnnen dann in verschiedenster Weise interpretiert werden. Werden die Buchstaben als Gr³ßen (grandeurs) oder als Zahlen (nombres) interpretiert, so ergibt sich die Algebra und die Arithmetik, werden sie hingegen als Punkte entsprechend der Praxis der Geometrie interpretiert, so ergibt sich ein von der Algebra vollkommen verschiedener KalkÜl. Wenn hingegen die Buchstaben als Begriffe (termes ou notions) interpretiert werden, so erhÇlt man einen KalkÜl, der auch jenen Teil der Wissenschaftssprache enthalten muß, der in der traditionellen aristotelischen Syllogistik behandelt wird (Ebd.). Bei den Begriffen wiederum kann man diese nach ihrem Inhalt oder nach ihrem Umfang interpretieren. Wenn man z. B. die Aussage »Alle Menschen (A) sind Lebewesen (B)« nach ihrem Inhalt, also intensional, interpretiert, so bedeutet dies, daß B in A enthalten ist, also der Begriff B, »Lebewesen«, im Begriff A, »Mensch«, enthalten ist. Interpretiert

Das Projekt der Allgemeinen Wissenschaft (Scientia generalis)

man die Aussage »Alle Menschen (A) sind Lebewesen (B)« hingegen nach ihrem Umfang, also extensional, so bedeutet dies, daß die Individuen, die unter den Begriff »Mensch« fallen, unter den Individuen, die unter den Begriff »Lebewesen« fallen, enthalten sind. Diese extensionale Interpretation kann auch als eine von Klassen aufgefaßt werden, wo also »Mensch« und »Lebewesen« Klassen bezeichnen. Diese doppelte InterpretationsmÙglichkeit betont Leibniz Ùfter (z. B. Die Grundlagen des logischen KalkÜls. S. 51 und 139. Allgemeine Untersuchungen §§ 122 f. S. 91. Neue Abhandlungen IV, 17, 8. S. 531 f.). WÇhrend in der traditionellen Logik (den »Schulen«) eher der extensionale Standpunkt eingenommen wurde - so wie auch in der modernen Logik - zog Leibniz die intensionale Interpretation des BegriffskalkÜls vor: In den Schulen wird in anderer Weise gesprochen, insofern nicht die Begriffe betrachtet werden, sondern die Beispiele, die unter die allgemeinen Begriffe fallen. [...] Ich habe es vorgezogen, die allgemeinen Begriffe bzw. die Ideen und deren Zusammensetzungen zu betrachten, weil sie nicht von der Existenz der Individuen abh›ngen. (A VI, 4. S. 200. •bers. von F. S.) Der letzte Grund fÜr diese Bevorzugung des intensionalen Standpunkts liegt in der Metaphysik: In der Konstruktion der besten aller mÙglichen Welten (vgl. weiter unten 5) sind die individuellen Substanzen maximal bestimmt, d. h. der vollstÇndige Begriff der individuellen Substanz enthÇlt alle PrÇdikate, die ihr zukommen. Man brÇuchte dort also nicht extensional existierende Individuen unter hÙhere Klassenbegriffe einzuordnen, sondern erhielte durch die Analyse des Begriffsinhalts der vollstÇndig bestimmten individuellen Substanz alle fÜr diese geltenden wahren Aussagen. Daß allerdings die Kenntnis des vollstÇndigen Begriffs einer individuellen Substanz nur dem gÙttlichen Verstand mÙglich ist, gab Leibniz zu. Dem menschlichen Verstand bleibt hier nur die MÙglichkeit, sich durch Progressionsregeln Çhnlich wie im InfinitesimalkalkÜl solcher Erkenntnis anzunÇhern (vgl. Allgemeine Untersuchungen § 62–70. S. 55–61). - Eine weitere MÙglichkeit der Interpretation eines solchen allgemeinen KalkÜls ist jene, in der die Buchstaben als Aussagen interpretiert werden, worauf weiter unten noch kurz eingegangen wird. - Wir betrachten hier nun einige Elemente eines solchen allgemeinen, uninterpretierten KalkÜls (Leibniz hat eine ganze Reihe solcher KalkÜle entwickelt und die Interpretation ist im einzelnen oft ziemlich kompliziert). ZunÇchst die Definition von »KalkÜl«: Ein Kalk¹l [...] besteht im Hervorbringen von Relationen, was bewirkt wird durch die Umformungen der Formeln gem›ß bestimmten, den Gegebenheiten vorgeschriebenen Gesetzen. (Die Grundlagen des logischen Kalk¹ls. S. 23)

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Gottfried Wilhelm Leibniz

Kalkle knnen mehr oder weniger komplex sein: Je mehr Gesetze bzw. Bedingungen aber dem in Zukunft Kalkulierenden vorgeschrieben werden, um so zusammengesetzter ist der Kalkl, und ebenso ist jene Charakteristik weniger einfach. (Ebd.) Hier ein ganz einfacher Kalkl (in etwas modernisierter Schreibung): (1) (2) (3) (4) (5)

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A = B ist dasselbe wie: A = B/ ist eine wahre Aussage. A „ B ist dasselbe wie: A = B ist eine falsche Aussage. [Bei Leibniz: A non = B] A = AA. AB = BA. [»AB« bedeutet: Hinzufgung von »B« zu »A«] A = B bedeutet, daß das eine fr das andere substituiert werden kann bzw. daß sie quivalent sind. (6) A = A. [»A« bei Leibniz: »non-non A«] (7) A = B und A # B sind quivalent. [»#« bei Leibniz: »non non =«] (8) AA = 0. [»0« bei Leibniz: »non Ens«] (9) A „ B und B „ A sind quivalent. (10) A = B und A = B sind quivalent. (11) Wenn A = B dann AC = BC (nicht aber gilt das Umgekehrte). (Vgl. Die Grundlagen des logischen Kalkls. S. 61 und 63: Axiome 1, 2, 3, 4, 5, 7, 8, 9, 10, 11, 12) Leibniz gibt solchen Kalklen dann gewhnlich zunchst einmal eine begriffslogische Interpretation, d. h. die Buchstaben sollen fr Begriffe stehen. Damit ist er in dem Bereich, den auch Aristoteles in seiner Syllogistik bearbeitet hatte (vgl. 1. Teil, Kap. X, 3). Da die Syllogistik als bewiesen gltiges logisches System galt, konnte es Leibniz als Adquatheitskriterium verwenden, d. h.: Das gesamte syllogistische System mußte somit im axiomatischen System von Leibniz kalklmßig ableitbar sein. Leibniz suchte daher nach Formeln fr die vier Satzformen, die eine ganz formale und automatisch funktionierende Ableitung aller gltigen syllogistischen Modi ermglichten. Auch hier unternahm er eine große Anzahl von Versuchen, zwei dieser Formelgruppen erwiesen sich aber als besonders gnstig:

UA: UN: PA: PN:

Alle A sind B Kein A ist B Ein A ist B Ein A ist nicht B

A = AB A = AB A „ AB A „ AB

AB = 0 AB = 0 AB „ 0 AB „ 0

(1. Formelgruppe: Allgemeine Untersuchungen §§ 83–87. S. 69 f. Die Grundlagen des logischen Kalkls. S. 53 und 55. 2. Formelgruppe: Allgemeine Untersuchungen § 151, S. 113; § 169, S. 119; § 199, S. 129. Die Grundlagen des logischen Kalkls. S. 53 und 55)

Das Projekt der Allgemeinen Wissenschaft (Scientia generalis)

Zur Verdeutlichung dieser algebraischen Formeln verwendete Leibniz auch die spÇter sogenannten »Eulerschen Kreise«, mit deren Hilfe er das VerhÇltnis von zwei Aussagen (wie in den untenstehenden Diagrammen) und dann im weiteren - mit jeweils drei Kreisen, entsprechend den drei Begriffen der beiden PrÇmissen eines Syllogismus - sÇmtliche syllogistischen Modi darstellte (vgl. Opuscules. S. 292–298):

UA:

B A

UN:

A

PA, PN:

B

A

B

Als Beispiel eines logisch-algebraischen Beweises nehmen wir den bekannten ersten Syllogismus Barbara: Alle A sind B Alle B sind C

A = AB B = BC

[1] [2]

Alle A sind C

A = AC

[3] 247

Im Beweis soll also [3] aus [1] und [2] mit Hilfe der Axiome abgeleitet werden: A = AB A = ABC A = AC

[1] Substitution von BC fÜr B in [1] mit Hilfe von [2] Substitution von A fÜr AB in der vorigen Zeile aufgrund von [1] ergibt [3].

Zur Ableitung aller im syllogistischen System vorkommenden Regeln benÙtigt Leibniz auch die zweite Formelgruppe; z. B. gilt die sogenannte conversio simplex der UN, also: Kein A ist B = Kein B ist A. Mit den aufgestellten Axiomen lÇßt sich jedoch diese ’quivalenz ausgehend von der Formel der ersten Gruppe fÜr die UN, also: (A = AB) = (B = BA) nicht beweisen. Hingegen gelingt ein Beweis dieser ’quivalenz ausgehend von der zweiten Formelgruppe leicht: AB = 0

Wenn AB = 0 gilt, dann gilt nach Axiom (4) auch BA = 0.

Im einzelnen gibt es bei der Ableitung des gesamten Systems dann noch einige Probleme (z. B. muß fÜr die GÜltigkeit der Subalternation, d. h. fÜr den Schluß von einer

Gottfried Wilhelm Leibniz

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universellen auf die korrespondierende partikulÇre Aussage, angenommen werden, daß die Klasse des Subjektbegriffs, z. B. A, nicht leer ist, also gilt: A „ 0). Einzelheiten brauchen uns aber hier nicht zu beschÇftigen. Die vollstÇndige Ableitung des syllogistischen Systems ist jedenfalls durchfÜhrbar. - Das axiomatische System leistet aber mehr als dies, z. B.: In der aristotelischen Syllogistik wird nicht mit zusammengesetzten PrÇdikaten gearbeitet, im leibnizschen System ist dies hingegen ohne weiteres mÙglich, wie man aus einem einfachen Beispiel sehen kann: Angenommen [1] »Alle A sind B«, also: A = AB, und [2] »Alle A sind C«, also: A = AC, so ergibt sich durch Substitution von [2] in der rechten Seite der Gleichung von [1]: A = ACAB, woraus unter Voraussetzung von AA = A folgt: A = ACB, also: »Alle A sind CB«. Leibniz ist es also geglÜckt, jedenfalls einen wichtigen Teil der wissenschaftlichen Beschreibungssprache kalkÜlmÇßig bearbeitbar zu machen. Auch das Problem der Relationenlogik war Leibniz durchaus bewußt, und er setzte sich mit entsprechenden KalkÜlversuchen von Joachim Jungius (1587–1657) auseinander (vgl. A VI, 4. S. 1048–1090), er selbst entwickelte jedoch keinen RelationenkalkÜl. So viel zur Interpretation des KalkÜls als BegriffskalkÜl. Leibniz sagt jedoch an verschiedenen Stellen, daß die Buchstaben auch als Aussagen interpretiert werden kÙnnen (Allgemeine Untersuchungen. S. 25, S. 31, und § 35. S. 40. Die Grundlagen des logischen KalkÜls. S. 31). Was damit gemeint ist, kann man sich an zwei Beispielen klar machen. Was im BegriffskalkÜl die UA ist, also »Alle A sind B«, hat im AussagenkalkÜl (A und B stehen jetzt fÜr Aussagen!) die Entsprechung: »Wenn A, dann B«. Durch die aussagenlogische Deutung der Formel fÜr UA lÇßt sich also die Implikation definieren: A fi B =def AB = 0, und da »0« bei Leibniz »unmÙglich« bedeutet (vgl. z. B. Die Grundlagen des logischen KalkÜls. S. 35 und 37), ergibt sich: A fi B = U(A  B), d. h. die moderne strikte Implikation. Das zweite Beispiel wird aus der aussagenlogischen Interpretation von (8) in der Liste der Axiome weiter oben gewonnen: AA = 0 bedeutet: U(A  A), also das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten. Nicht jeder allgemeine KalkÜl eignet sich fÜr beliebige Interpretationen. So gelten z. B. die Axiome (3), also: AA = A bzw. in einem anderen, aber Çquivalenten, leibnizschen Symbolismus A + A = A, und (4), also: AB = BA, nur in den beiden logischen KalkÜlen, nicht aber im arithmetischen KalkÜl, da dort A + A = 2A gilt, und AB = BA zwar fÜr die Addition und Multiplikation, nicht aber fÜr die Subtraktion und Division Geltung hat (vgl. z. B. Die Grundlagen des logischen KalkÜls. S. 127 und 129): Es gilt zwar A + B = B + A und A6B = B6A, nicht aber A - B = B - A und A : B = B : A.

Wahrheit – Wahrscheinlichkeit

Leibniz stand mit seinen BemÜhungen um die Entwicklung einer formalen Logik in seiner Zeit ziemlich alleine da. Die Institutio logica (1658) des Pierre Gassendi bot keinen Ausgangspunkt fÜr eine axiomatische Behandlung der Logik. Die meisten meinten, mit einer Logik wie der bekannten La Logique ou L’Art de penser (1685) von Antoine Arnauld, fÜr die dasselbe gilt, auszukommen. Das wußte auch Leibniz. Fast alle seine Fragmente zur Logik blieben zu seinen Lebzeiten und noch lange darÜber hinaus unverÙffentlicht. Leibniz hatte aber Galilei wie auch Descartes gegenÜber mit seiner EinschÇtzung der Rolle der Logik fÜr den Aufbau der Wissenschaft recht. Ebenso war er fast allen seinen Zeitgenossen voraus, die meinten - wie es noch Kant meinen wird -, die Logik sei mit Aristoteles ein fÜr alle Male in ihrer endgÜltigen Gestalt aufgetreten und daher nicht weiter zu bearbeiten. Daß seine Logik neu und weitreichender als alle bisherigen Formen der Logik war, wußte Leibniz selbst ganz genau. Einmal schrieb er an den Rand eines umfangreichen LogikTextes: »Hier bin ich hervorragend gut vorangekommen« (Allgemeine Untersuchungen. S. 2.) Die moderne Logik hat sich seit der zweiten HÇlfte des 19. Jhd.s entwikkelt, ein erheblicher Teil der entsprechenden Texte von Leibniz wurde aber erst 1903 durch Louis Couturat (1868–1914) in den Opuscules et fragments inµdits verÙffentlicht. Seither ist immer wieder deutlich geworden, daß sich in vielerlei Hinsicht bei Leibniz bereits Ansatzpunkte fÜr Fragen der Logik finden, die erst in viel spÇterer Zeit wieder behandelt wurden. Nimmt man verschiedene Fragmente und verschiedene AnsÇtze von Leibniz zusammen, so ergibt sich eine Logik, die der Booleschen Algebra Çquivalent ist. Die Hoffnung von Leibniz, alle Fragen, so z. B. auch politische Streitigkeiten oder Konfessionsstreitigkeiten, durch »rechnende Vernunft« lÙsen zu kÙnnen, hat sich jedoch als Illusion herausgestellt. Seit Kurt GÙdels (1906–1978) UnvollstÇndigkeitssÇtzen sind die Grenzen der KalkÜlisierung sogar im Bereich der Mathematik deutlich geworden. Das »Leibniz-Programm« kann in Teilbereichen verwirklicht werden, eine universelle Geltung hat es nicht.

3. Wahrheit – Wahrscheinlichkeit Der Ausgangspunkt fÜr das Auffinden wissenschaftlicher Wahrheiten ist bei Leibniz nÇher dem Pascals als dem Descartes’: Die S›tze in einer jeden Wissenschaft sind entweder Prinzipien oder Folgerungen. Die Prinzipien sind Definitionen oder Axiome oder Hypothesen oder Erscheinungss›tze, bei denen die Definitionen zwar an sich frei sind, jedoch dem Sprachgebrauch angepaßt und durch die allgemeine Zustimmung der Sprachgenossen gebilligt werden m¹ssen, damit sie nicht, von verschiedenen Menschen auf verschiedene Weise verstanden, im ganzen Gesellschaftsk³rper Verwirrung erzeugen. (Fragmente zur Logik. S. 61)

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Gottfried Wilhelm Leibniz

Die Begriffe unserer Prinzipien mÜssen also eine gesellschaftliche Verbindlichkeit aufweisen. Eine Notwendigkeit, daß der einzelne sie klar und deutlich erkennen muß, besteht nicht. Auch die Axiome mÜssen ganz und gar nicht evident sein; es genÜgt, wenn sie allgemein fÜr einleuchtend gehalten werden: Axiome sind S›tze, die von allen f¹r einleuchtend gehalten werden (quae ab omnibus pro manifestis habentur). (Ebd. S. 62) In der Wissenschaft wird jedoch hauptsÇchlich mit empirischen SÇtzen gearbeitet: Erscheinungss›tze sind S›tze, die durch die Erfahrung bewiesen werden; ist indessen die Erfahrung nicht leicht zu machen oder von uns selbst nicht gemacht worden, so muß sie durch Zeugen best›tigt werden. Und von zweifelhaften Erfahrungen muß man abstehen, außer wenn sie von großer Bedeutung sind; alsdann ist daran zu erinnern, welchen Grad von Zuverl›ssigkeit sie haben. (Ebd. S. 62)

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Leibniz dachte also daran, SÇtze mit einer Art Wahrscheinlichkeits-Koeffizienten zu versehen, und unter den Graden der Wahrscheinlichkeit wÇre dann »Wahrheit« im strengen Sinne ein Grenzwert: Soweit es geschehen kann, m¹ssen vornehmlich wahre S›tze aufgesucht werden, deren Wahrheitsgrade unterschieden werden m¹ssen; [...]. (Ebd. S. 61) Dies erklÇrt auch das Interesse, welches Leibniz den Fragen des WahrscheinlichkeitskalkÜls entgegenbrachte. Er kannte die entsprechenden Versuche von Pascal, Fermat und Huygens, die bekanntlich von Problemen des GlÜcksspiels ausgegangen waren (vgl. Kap. VI, 3). Leibniz unterschied dabei ziemlich deutlich zwischen dem objektiven Teil, also statistischen Erfahrungsgegebenheiten sowie mathematischen KalkÜlen der Spieltheorie, und dem subjektiven Teil, also dem, was sich dabei fÜr das denkende oder handelnde Subjekt ergibt. Im mathematischen Bereich des WahrscheinlichkeitskalkÜls erreichte Leibniz nicht mehr, als auch Huygens schon erreicht hatte, er erkannte aber - Çhnlich wie Pascal, jedoch nÇher an der »Praxis« - sehr klar die Bedeutung der Wahrscheinlichkeitsrechnung fÜr praktische Belange. Leibniz kannte auch die Renten-Berechnungen Jan de Witts aufgrund der statistisch erhobenen Sterbewahrscheinlichkeit. Wesentliche mathematische BeitrÇge auf dem Gebiet des WahrscheinlichkeitskalkÜls, wie sie etwa Jakob Bernoulli vorlegte, verfolgte Leibniz zwar aufmerksam, ohne aber selbst schÙpferische BeitrÇge zu diesem Thema zu liefern. Er sah jedoch, daß die Wahrscheinlichkeit ein Bereich ist, dem sich die Logik erst einmal widmen muß, da sie eben eine logisch andere, und nicht einfach eine schwÇchere Form des Beweises darstellt als die der demonstrativen Wissenschaft. In den Neuen Abhandlungen Über den menschlichen Verstand (Nouveaux Essais) sagt Leibniz dazu:

Wahrheit – Wahrscheinlichkeit

Ohne jedoch ¹ber Worte zu streiten, bin ich der Ansicht, daß die Untersuchung der Wahrscheinlichkeitsgrade sehr wichtig sein w¹rde und uns noch fehlt, was ein großer Mangel in unserer Logik ist. Denn wenn man eine Frage nicht schlechthin entscheiden kann, so k³nnte man doch stets den Grad der Wahrscheinlichkeit aus den vorliegenden Umst›nden (ex datis) bestimmen und folglich vernunftgem›ß entscheiden. (Neue Abhandlungen ¹ber den menschlichen Verstand IV, 2, § 14. S. 390) Leibniz war sich also im klaren darÜber, daß eine rationale Entscheidungstheorie auf einer Theorie objektiver Wahrscheinlichkeiten beruht, deren Formalisierung jedoch im Rahmen der klassischen deduktiven Logik nicht mÙglich ist. In der EinschÇtzung der Bedeutung der Wahrscheinlichkeit hat Leibniz wie Pascal den dogmatischen Rationalismus eines Descartes und eines Spinoza eindeutig Überwunden: Ich weiß also nicht, ob die Begr¹ndung der Kunst, die Wahrscheinlichkeiten abzusch›tzen, nicht n¹tzlicher w›re als ein großer Teil unserer demonstrativen Wissenschaften; [...]. (Ebd. S. 391) Leibniz wollte damit nicht etwa theoretische (demonstrative) und praktische (wahrscheinlichkeitslogische) Wissenschaften einander gegenÜberstellen, denn der Zusammenhang, in dem Leibniz hier von Wahrscheinlichkeit spricht, ist gerade die objektive Wahrscheinlichkeit naturwissenschaftlicher Theorien. Es geht Leibniz darum, den Begriff der Wahrscheinlichkeit Über den frÜheren aristotelischen Rahmen der Topik hinaus zu erweitern, wo Wahrscheinlichkeit durch AutoritÇten oder allgemein akzeptierte Meinungen bestimmt war. Die Wahrscheinlichkeit einer Aussage oder einer ganzen Theorie ergibt sich nach Leibniz vielmehr vor allem aus der Analyse der vorliegenden empirischen Gegebenheiten (ex datis), und aufgrund einer solchen Analyse kann man dann z. B. sagen: Die Meinung des Copernicus war, auch als er sie noch fast allein hegte, immerhin unvergleichlich wahrscheinlicher, als die der gesamten ¹brigen Menschheit. (Ebd. S. 390 f.) Leibniz unterschied also sehr genau zwischen der deduktiven Strenge einer Theorie und der Wahrscheinlichkeit, die der Theorie als ganzer mitsamt ihren unbewiesenen Axiomen und Definitionen zukommt. Man muß allerdings auch sehen, daß er bei der Frage der Wahrscheinlichkeit doch wieder vom Rationalismus eingeholt wurde. Leibniz hatte eine im Prinzip einfache Theorie der Wahrheit, die er an unzÇhligen Stellen wiederholt, z. B. in der Monadologie: Unsere Vernunfterkenntnis beruht auf zwei großen Prinzipien: erstens auf dem des Widerspruchs, kraft dessen wir alles als falsch beurteilen, was einen Widerspruch ein-

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Gottfried Wilhelm Leibniz

schließt, und als wahr alles, was dem Falschen entgegengesetzt, will sagen kontradiktorisch ist. Sie beruht zweitens auf dem Prinzip des zureichenden Grundes, kraft dessen wir annehmen, daß sich keine Tatsache als wahr oder existierend, keine Aussage als richtig erweisen kann, ohne daß es einen zureichenden Grund daf¹r g›be, weshalb es eben so und nicht anders ist - wenngleich uns diese Gr¹nde in den meisten F›llen nicht bekannt sein m³gen. (Monadologie §§ 31 und 32. S. 41)

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Daraus kÙnnte man ableiten, daß Leibniz annahm, wir kÙnnten die Mehrzahl der wahren Aussagen doch nicht beweisen. Dies ist aber nicht die tatsÇchliche Auffassung von Leibniz. In den Generales inquisitiones findet sich wie an vielen anderen Stellen eindeutig das rationalistische Grundprinzip: »Jede wahre Aussage kann aber bewiesen werden« (Allgemeine Untersuchungen § 62. S. 55). Ein Satz ist dann wahr, wenn der Begriff des PrÇdikats im Begriff des Subjekts enthalten ist, d. h. »A ist B« = »A enthÇlt (continet) B«. Dies bedeutet allerdings, daß wir auch bei individuellen Dingen alle PrÇdikate kennen mÜßten, die einem Subjekt zukommen, um in jedem Fall eindeutig feststellen zu kÙnnen, ob ein Satz nun wahr ist oder nicht (A VI, 4, S. 912). Leibniz wußte, daß wir dabei Überfordert sind. Er hÇtte wie Pascal hier stehenbleiben und sich mit der EinschÇtzung von Wahrscheinlichkeiten begnÜgen kÙnnen; dies tat er jedoch nicht, sondern hielt mit allen Mitteln an seiner Wahrheitsund Beweisvorstellung fest. Dies bedeutet, daß letztlich SÇtze wie »Die Winkelsumme eines Dreiecks betrÇgt 180 Grad« und »Adam hat gesÜndigt« unter den gleichen Wahrheitsbegriff fallen. Die AnnÇherung an die Wahrheit, von der wir im zweiten Fall sprechen, betrifft also letztlich nur unsere eingeschrÇnkte ErkenntnisfÇhigkeit. Leibniz sieht natÜrlich den Unterschied der Beweisbarkeit bei notwendigen und bei kontingenten Aussagen und sagt, daß im ersten Fall eine endliche Reihe von Beweisschritten genÜgt, im zweiten Fall aber eine unendliche Reihe erforderlich ist (Allgemeine Untersuchungen §§ 60–61. S. 49 f.). Will man diesen Unterschied aber dann letztlich doch aufheben, und genau das wollte Leibniz, so bleibt nichts anderes Übrig, als den lieben Gott zu bemÜhen: Jede wahre Aussage kann bewiesen werden; da n›mlich, wie Aristoteles sagt, das Pr›dikat im Subjekt ist, d. h. der Begriff des Pr›dikats in dem vollkommen verstandenen Begriff des Subjekts beinhaltet ist, muß sicherlich durch die Analyse der Begriffe in ihre Werte, d. h. in jene Begriffe, die sie enthalten, die Wahrheit aufgezeigt werden k³nnen. (Ebd. § 132. S. 101) Eine wahre notwendige Aussage kann bewiesen werden durch Zur¹ckf¹hrung auf identische Aussagen oder durch Zur¹ckf¹hrung der entgegengesetzten Aussage auf widerspr¹chliche Aussagen. (Ebd. § 133. S. 101)

Die »Logik« des Handelns

Eine wahre kontingente Aussage kann nicht auf identische Aussagen zur¹ckgef¹hrt werden, sie wird aber trotzdem bewiesen, indem gezeigt wird, daß sie sich durch eine immer weiter fortgesetzte Analyse den identischen Aussagen zwar st›ndig n›hert, jedoch niemals zu diesen gelangt. (Ebd. § 134. S. 101) Es ist dann ganz konsequent, was Leibniz im folgenden Paragraphen sagt: Daher besteht zwischen notwendigen und kontingenten Wahrheiten derselbe Unterschied wie zwischen Linien, die sich treffen, und Asymptoten, oder wie zwischen kommensurablen und inkommensurablen Zahlen. (Ebd. § 135. S. 101) Dies ist alles ganz verstÇndlich. Aber dann meinte Leibniz im § 134 noch hinzufÜgen zu mÜssen: Daher kommt es einzig Gott, der in seinem Geist das gesamte Unendliche umgreift, zu, die Sicherheit aller kontingenten Wahrheiten zu kennen. (Ebd. § 134. S. 101) Also ist fÜr Gott der Unterschied notwendiger und kontingenter Wahrheiten doch aufgehoben, so als ob Gott eben an der Asymptote so ziehen kÙnnte, daß sie doch wieder zu einer Geraden wird. Warum jedoch braucht Leibniz letztlich diese doch etwas gezwungen wirkende Konstruktion? Eine versuchsweise Antwort auf diese Frage soll weiter unten (Punkt 6) gegeben werden.

4. Die »Logik« des Handelns Eine besondere Bedeutung hat, wie schon gesagt, die Wahrscheinlichkeit im Bereich des praktischen Handelns. Mathematische Modelle aus der Spieltheorie geben dafÜr zwar wichtige Hilfsmittel an die Hand, sie kÙnnen nach Leibniz jedoch noch keine ausreichende Theorie der Argumentation im praktischen Bereich liefern. Leibniz suchte also, wie fÜr die deduktive Logik in der Mathematik, auch fÜr die Wahrscheinlichkeitslogik ein Paradigma, das dann im Bereich konkreter Tatsachen zu einer gesicherten Entscheidung fÜhren sollte. Leibniz fand dieses Paradigma im Recht, d. h. natÜrlich vor allem im rÙmischen Recht: Man muß in der Tat f¹r erwiesen ansehen, daß, so wie die Mathematiker in bester Weise und in h³herem Maß als irgend jemand sonst die Logik, d. h. die Vernunftkunst in den notwendigen Dingen, so die Jurisconsulten sie in den kontingenten Dingen ausge¹bt haben. (Opuscules. S. 211. •bers. F. S. Vgl. auch Die Grundlagen des logischen Kalk¹ls. S. 11)

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Leibniz konnte bei solchen ¾berlegungen auf sein Studium des Rechts zurÜckgreifen, schließlich war er eigentlich Jurist und hatte schon 1667 ein Specimen certitudinis seu demonstrationum in Jure verfaßt (A VI, 1. S. 367–430). Die im Detail ziemlich komplizierten ¾berlegungen kÙnnen hier nicht diskutiert werden, in welcher Weise jedoch die Rechtspraxis fÜr praktisches Handeln prinzipiell relevant werden kann, wird z. B. aus folgender Fragestellung deutlich: Es gibt RechtsgeschÇfte auf zeitlich nicht genau bestimmte zukÜnftige Ereignisse hin (z. B. Zahlung einer Rente gegen ¾bertragung eines Erbes). Das Recht stellt nun bestimmte Bedingungen fÜr die GÜltigkeit eines solchen GeschÇftes auf, die als allgemeine Regeln vernÜnftigen Handelns angesichts des unsicheren Zeitpunkts des Eintreffens eines bestimmten Ereignisses Übernommen werden kÙnnen. Ebenso gibt es RechtsgeschÇfte angesichts prinzipieller Unsicherheit des Eintreffens eines Ereignisses (z. B. Testament bei Fehlen eines Nachkommens zum Zeitpunkt der Abfassung der VerfÜgung), fÜr die es auch wieder Rechtsnormen gibt, die Regelfunktion in anderen Situationen ausÜben kÙnnen. Leibniz versuchte also, aus Rechtsnormen, welche als traditionell erprobte Vernunftregeln galten, Regeln fÜr Handlungen auch in anderen Bereichen zu finden. Auch solche Regeln lassen Formalisierungen zu, wie Leibniz schon in seinen frÜhen Rechtsdisputationen De conditionibus (A VI, 1. S. 97–150) zeigt. Er entwickelte hier Verfahren, die zu einer juristischen Aussagenlogik fÜhren. Bei allen Fragen, welche die Regeln des Handelns betreffen, trat Leibniz nachdrÜcklich fÜr Toleranz ein, was sich bei ihm aber nicht nur aus ethischen Motiven, sondern auch aus der Kenntnis mathematischer und juristischer Methoden ergab. Die Forderung nach Toleranz resultierte bei Leibniz aus einer sehr differenzierten Sicht von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit und ebenso aus der sehr klugen Erfahrung, daß auch jene Wissenschaftler, die mit deduktiven Methoden arbeiten, in der Beurteilung ganzer Theoriekomplexe samt deren Voraussetzungen auch wieder auf Methoden der AbschÇtzung von Wahrscheinlichkeiten zurÜckgreifen, wie wir sie aus der Rechtspraxis kennen. ’hnliche Verfahren finden sich in der modernen Wissenschaftstheorie wieder, wo z. B. fÜr die Anerkennung von BasissÇtzen Verfahren in Analogie zur juristischen Beweisaufnahme vorgeschlagen werden. Leibniz wußte, daß oft noch so strenge methodologische Forderungen, um zu gesicherten Grundlagen fÜr Entscheidungen zu gelangen, angesichts der konkreten Notwendigkeit des Handelns nichts nÜtzen. In den Nouveaux Essais sagt er: Und es gibt vielleicht niemanden in der Welt, welcher die Muße, die Geduld und die Mittel bes›ße, alle Beweise und Gegenbeweise betreffs der Fragen, in denen er seine Meinungen hat, zu sammeln, um diese Beweise miteinander zu vergleichen und daraufhin mit Sicherheit zu schließen, daß ihm f¹r eine weitere Kenntnisnahme nichts mehr zu wissen ¹brig bleibt. Die Sorge f¹r unseren Lebensunterhalt und unsere wichtigsten Interessen leidet indessen keinen Aufschub, und es ist durchaus notwendig, daß unser Urteil sich auch ¹ber solche Dinge entscheide, in denen wir zu einer siche-

Die beste aller mÙglichen Welten

ren Erkenntnis zu gelangen unf›hig sind. (Neue Abhandlungen ¹ber den menschlichen Verstand IV, 16, § 3. S. 498) Auch dies ist eine Einsicht, die aus der Rechtspraxis gewonnen werden kann: Ein Indizienbeweis ist prinzipiell nicht abschließbar. Wird ein Wissensstand gefordert, bei dem nichts mehr zu fragen Übrig bleibt, so erzeugt man damit in sehr vielen FÇllen eine unendliche Prozeßdauer, die aber faktisch einer Verurteilung gleichkommt, was auch wieder nicht gerecht ist. Die Wahrheit bei kontingenten SÇtzen erfordert eine unendliche Analyse, die wir nie ganz durchfÜhren kÙnnen. Wir mÜssen deshalb mit Regeln fÜr die EinschÇtzung von Wahrscheinlichkeiten arbeiten, welche die vernÜnftig zu rechtfertigende Prognose erlauben, daß sich das Urteil Über einen in Frage stehenden Satz auch bei weiteren Indizien nicht Çndern wird. Unbezweifelbar sind solche SÇtze nie; Leibniz gelangt so zu einem sehr weisen Rat: Da die Menschen also nicht vermeiden k³nnen, sich in ihrem Urteil dem Irrtum auszusetzen, und da sie, sofern sie die Sachen nicht von der gleichen Seite betrachten k³nnen, zu verschiedenen Ansichten kommen m¹ssen, so m¹ssen sie bei dieser Verschiedenheit ihrer Meinungen untereinander Frieden halten und die Pflichten der Humanit›t achten, ohne den Anspruch zu erheben, daß der eine auf die Einwendungen des andern hin eine festgewurzelte Meinung sogleich ›ndern solle, besonders wenn er Grund zu der Annahme hat, daß sein Gegner aus Interesse oder Ehrgeiz oder aus irgendeinem anderen eigenn¹tzigen Motiv handelt. In der Tat haben diejenigen, die den andern durchaus die Notwendigkeit aufdr›ngen wollen, sich ihren Ansichten zu f¹gen, h›ufig die Dinge nicht gr¹ndlich genug gepr¹ft. Denn die, welche in der Untersuchung weit genug fortgeschritten sind, um des Zweifels ¹berhoben zu sein, sind in so geringer Zahl und finden so wenig Veranlassung, andere zu verdammen, daß man sich von ihrer Seite eines gewaltsamen Auftretens nicht zu versehen braucht. (Ebd. S. 499 f.)

5. Die beste aller m³glichen Welten Das Problem der Theodizee hat Leibniz seit seiner Jugend beschÇftigt. In einem Brief an Herzog Johann Friedrich aus dem Jahre 1671 schreibt er: Als ich unl›ngst meine wenige meditation vom freien willen des menschen, g³ttlicher Vorsehung, gl¹ck und ungl¹ck und versehen oder schickung, Gnadenwahl, mitwirkung mit dem Thun und Lassen der creaturen, gerechtigkeit in verlassung des einen, und annehmung des andern und von recht und unrecht, so den Verdammten geschieht, zu papier gebracht [...]. (A II, 1. S. 83)

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Gottfried Wilhelm Leibniz

Bei der Beantwortung dieser Frage, so wie er sie dann viel spÇter in der Theodizee vorlegte, wollte sich Leibniz ganz und gar innerhalb der Tradition verstanden wissen: Er wollte nur die Auffassung eines Augustinus oder Thomas von Aquin neu begrÜnden. Nach der Theodizee folgt ein Kurzer Abriß der Streitfrage auf schulgerechte Beweise gebracht, in dem Leibniz sagt: [...] der beste Entschluß [ist] nicht immer der [...], welcher das •bel zu vermeiden strebt, da das •bel ja von einem gr³ßeren Gut begleitet sein kann. [...] Wir sind darin der Ansicht des heiligen Augustinus gefolgt, der hundertmal versichert hat, Gott habe das •bel zugelassen, um ein Gut daraus zu gewinnen, d. h. ein gr³ßeres Gut; und der Ansicht des Thomas von Aquin, wenn er sagt (Buch 2, Super libros sententiarum, dist. 32, quaest. 1, art. 1), die Zulassung des •bels sei auf das Beste f¹r das Universum gerichtet. Wir haben gezeigt, daß der Fall Adams bei den Alten als felix culpa, als gl¹ckliche S¹nde, bezeichnet wurde, da sie mit ungeheurem Gewinn wiedergutgemacht worden ist, n›mlich durch die Inkarnation des Gottessohnes, der dem Universum etwas Edleres gegeben hat als alles, was die Kreaturen sonst besessen h›tten. (Theodizee. Anhang. S. 390) 256

Der konkrete Anlaß zur Abfassung dieser Schrift waren Fragen der KurfÜrstin Sophie Charlotte von Brandenburg (1668–1705, Tochter von KurfÜrst Ernst August und der KurfÜrstin Sophie von Hannover) zu einigen Punkten aus Bayles Dictionnaire historique et critique. Bayle war kein Gottesleugner, sondern ein liberaler Calvinist, und vor allem ein ausgezeichneter Kenner der Geschichte und ein scharfer Beobachter seiner Gegenwart. In einem Zeitalter der Religionskriege, die keiner Seite einen Sieg verschafft, sondern nur Tod und Elend hervorgerufen hatten, schien es ihm nicht mÙglich, auf die Frage einer gÙttlichen Lenkung der Welt eine schlÜssige Antwort zu geben. Bayle kannte sehr gut die dualistischen Auffassungen der ManichÇer (vgl. 2. Teil, Kap. III, 1) und, was fÜr die damalige Zeit gar nicht selbstverstÇndlich war, die der Paulikianer (vgl. 2. Teil, Kap. XIII, 1) und wußte um die ErklÇrungsstÇrke des metaphysischen Dualismus. Aber er sah auch, daß aus der Ablehnung der Auffassung, die Geschehnisse der Welt seien durch ein gutes und ein bÙses Prinzip bestimmt, nicht schon die These folgt, daß der Lauf der Welt durch die Annahme eines guten Gottes als deren Prinzip erklÇrt werden kÙnne. Eher schon schien ihm die fortuna oder das GlÜcksrad der mittelalterlichen Dichter den Lauf der Dinge »erklÇren« zu kÙnnen. Das GlÜcksrad aber als Ausdruck der gÙttlichen Vorsehung anzusehen, schien ihm auch wieder nicht vernÜnftig. Also schloß er - wobei er auch von Montaigne einiges gelernt hatte -, daß es das einzig VernÜnftige sei, zu der Frage, was die letzten Ursachen der Geschehnisse der Welt und der Geschichte sind, zu schweigen. - Sophie Charlotte bekÇmpfte in dem spÇter nach ihr benannten Schloß Charlottenburg ihre Langeweile mit Hilfe von Musik und Philosophie, wozu auch ein Briefwechsel mit Leibniz gehÙrte, von dem allerdings nur wenig erhalten

Die beste aller mÙglichen Welten

ist, da das meiste nach ihrem Tod verbrannt wurde. Leibniz hielt sich Ende 1701 bis Anfang 1702 in der Umgebung der spÇteren KÙnigin auf, welche die GesprÇche mit Leibniz u.a. Über Fragen der Theodizee schÇtzte, und Leibniz schrieb sich fÜr diese GesprÇche umfangreiches gelehrtes Material zusammen. Nach dem plÙtzlichen Tod der KÙnigin (1705) faßte Leibniz dieses Material zusammen. So ist die Schrift Über die Theodizee entstanden. Den Grundgedanken hat jedoch Leibniz außer im schon genannten Abriß noch kÜrzer in drei Paragraphen der Monadologie (1714) zusammengefaßt: Da nun die Ideen Gottes eine unendliche Anzahl von m³glichen Welten (une infinit’ d’univers possibles) enthalten und doch nur eine einzige davon existieren kann, so muß es wohl einen zureichenden Grund (raison suffisante) f¹r die Wahl Gottes geben, der ihn zu der einen Welt mehr als zu einer anderen bestimmt. (Monadologie § 53. S. 51) Dieser Grund kann nur in der Angemessenheit bzw. in den Graden der Vollkommenheit (degrµs de perfection) gefunden werden, die diese Welten enthalten; jedes M³gliche hat das Recht, Existenz zu beanspruchen, nach Maßgabe der in ihm enthaltenen Vollkommenheit. (Ebd. § 54. S. 51) Hierin liegt die Ursache f¹r die Existenz des Besten, das von Gott verm³ge seiner Weisheit erkannt, verm³ge seiner G¹te erw›hlt und verm³ge seiner Macht erschaffen wird. (Ebd. § 55. S. 51) Das Modell ist im Prinzip einfach, und man kann es sich, was bei Leibniz ganz legitim ist, als Computermodell eines Unternehmers verdeutlichen, welches rationalisieren (vernÜnftig machen!) will. Es werden dazu am Computer verschiedene Unternehmensstrategien entworfen, und fÜr jedes Computermodell wird eine Gewinnund Verlustkalkulation durchgefÜhrt. Bei Leibniz heißt es ja schließlich auch: »Wenn Gott einen KalkÜl anstellt und das Ergebnis verwirklicht, entsteht die Welt« (Cum Deus calculat et cogitationem exercet fit mundus. [A VI, 4. S. 22]). Nach Beendigung der Berechnungen wird dann jenes Modell gewÇhlt, bei dem bei kleinstem Verlust der grÙßte Gewinn erzielt wird. Wenn dabei einige ¾bel mitgegeben sind, so wird dies durch den grÙßeren Gewinn wettgemacht. Am Schluß ergibt sich so eine harmonische Welt, also die beste aller mÙglichen Welten. Leibniz erreicht hier sein Ziel, denn er beweist, daß ein weiser und gÜtiger Gott die beste aller mÙglichen Welten gewÇhlt hat, eine LÙsung, die zu seiner Zeit großen Anklang fand. Man muß sich allerdings das Grundproblem klarmachen: Voraussetzung dieses KalkÜls sind zwei Fixpunkte, also zwei nicht zur Diskussion stehende Annahmen: Die erste besagt, daß es einen gÜtigen und weisen Gott gibt, die zweite besteht in der Feststellung, daß es in dieser Welt ¾bel gibt. Das Problem von Leibniz ist nun, diese beiden Annahmen in einer widerspruchsfreien Theorie unterzubringen. Leibniz ist eine »LÙsung« dieses Problems unter Voraussetzung dieser Annah-

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men geglÜckt. Daß die Theodizee von Leibniz schon Voltaire (im Candide) nicht Überzeugen konnte und auch spÇter bzw. bis heute viele Menschen nicht Überzeugt, liegt daran, daß sie die Ausgangsfrage anders formulieren, nÇmlich: Ist angesichts der Menge und QualitÇt des in der Welt vorhandenen ¾bels die Annahme eines gÜtigen und weisen Gottes Überhaupt sinnvoll? FÜr diese Frage aber ist das Leibniz-Modell grundsÇtzlich nicht gedacht. Ebenso ist dieses Modell nicht dafÜr geeignet, einem radikalen Gegenmodell, etwa dem einer dualistischen Metaphysik eines Zoroaster, entgegenzutreten, einem Modell also, das angesichts der Erfahrung des ¾bels mit zwei Grundprinzipien rechnet, und somit den guten Gott gar nicht mit der Welt, die dann beliebig viel ¾bel enthalten kann, in Verbindung bringt. Ich bin mir allerdings gar nicht so sicher, ob die in der Monadologie und der Theodizee dargestellte Form des Leibniz-Modells wirklich diejenige ist, die Leibniz selbst als (end)gÜltig erachtete. Vielleicht ist dies nur jene Form, die er fÜr sein Publikum, also fÜr die KÙnigin Sophie Charlotte und Çhnlich denkende Zeitgenossen erfand, die von bestimmten Annahmen ausgingen. In der Schrift ¾ber den ersten Ursprung der Dinge von 1697 sagt Leibniz:

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Um aber ein wenig deutlicher zu erkl›ren, auf welche Weise aus den ewigen oder wesentlichen bzw. metaphysischen Wahrheiten die zeitlichen, zuf›lligen oder physischen entstehen, so m¹ssen wir zun›chst selbstverst›ndlich anerkennen, wie dadurch, daß etwas eher existiert als nicht existiert, in den m³glichen Dingen oder in der M³glichkeit bzw. im Wesen selbst ein Verlangen nach Dasein (exigentia existendi) besteht oder - sozusagen - eine Forderung, zu existieren, und - mit einem Wort - daß das Wesen von sich aus nach Dasein strebt. Weiter folgt daraus, daß alles M³gliche oder alles, was eine Wesenheit oder eine m³gliche Realit›t ausdr¹ckt, mit gleichem Rechte nach Dasein strebt - je nach der Gr³ße der Wesenheit oder Realit›t oder nach dem Grade der Vollkommenheit, den es enth›lt; denn die Vollkommenheit ist nichts anderes als die Gr³ße der Wesenheit. (GP VII. S. 303. F¹nf Schriften zur Logik und Metaphysik. S. 41) Bei Leibniz heißt das dann: Alle MÙglichkeiten besitzen einen metaphysischen Seinsdrang, und die stÇrksten setzen sich durch. Das ist der »metaphysische Mechanismus«, fÜr den gilt, daß »die grÙßte Wirkung sozusagen mit dem kleinsten Aufwand erreicht wird (ut nempe maximus praestetur effectus, minimo ut sic dicam sumtu)« (Ebd.): Hieraus l›ßt sich schon wunderbar einsehen, in welcher Weise bei der ersten Hervorbringung der Dinge eine gewisse g³ttliche Mathematik (Mathesis quaedam divina) oder ein metaphysischer Mechanismus (Mechanismus Metaphysicus) zur Anwendung kommt und die Bestimmung des Gr³ßten ihren Platz hat [...], vor allem aber wie in der allgemeinen Mechanik selbst: wenn mehrere schwere K³rper miteinander ringen,

Bilanz des Rationalismus

dann entsteht letztlich diejenige Bewegung, wodurch sich das st›rkste Herabsinken im ganzen ergibt. Denn so, wie alle m³glichen Dinge aus dem Grunde der Realit›t mit gleichem Rechte zum Dasein dr›ngen, so dr›ngen alle gewichtigen Dinge aus dem Grunde der Schwere mit gleichem Rechte zum Absinken; und so, wie hier eine Bewegung entsteht, die das st›rkste Absinken dieses schweren K³rpers enth›lt, so entsteht dort eine Welt, durch welche die gr³ßte Hervorbringung des M³glichen bewirkt wird. (GP VII. S. 304. F¹nf Schriften. S. 42 f.) Wir haben es hier mit einer Art Seins-Darwinismus zu tun: Alles MÙgliche drÇngt nach Verwirklichung, und das StÇrkste setzt sich durch. In einer solchen Metaphysik entfÇllt das Theodizee-Problem. Hier braucht kein Gott »gerechtfertigt« zu werden. Und eigentlich ist dabei gar kein Gott mehr erforderlich. Es reicht eine »gÙttliche Mathematik« aus, die gar nicht mehr aussagt als der »metaphysische Mechanismus«. Die Schrift von Leibniz lÇßt allerdings etliche Fragen offen. Worin die »Freiheit des SchÙpfers« (GP VII. S. 304. FÜnf Schriften. S. 43) besteht, sieht man nicht recht, und ebensowenig wird deutlich, wozu der SchÙpfer Überhaupt noch gebraucht wird. SpÇter sagt Leibniz dann, daß er in »seiner Jugend materialistisch dachte« (GP VII. S. 305. FÜnf Schriften. S. 44); eine ’ußerung, die er jedoch nur darauf bezieht, daß er damals bloß geometrische Gesetzte der Materie vermutete, wohingegen er jetzt annimmt, daß alles nicht nur nach geometrischen, sondern auch nach metaphysischen Gesetzen geschieht. Wir wollen hier nicht Über den Begriff »Materialismus« streiten, den Leibniz im Übrigen eher so gebraucht, wie er auf Demokrit angewandt werden kÙnnte, und nicht so, wie er seit der AufklÇrung verwendet wird. Viele ’ußerungen von Leibniz lassen sich jedenfalls am ehesten erklÇren, wenn man bei ihm ein tendenziell mechanistisches und deterministisches Weltbild voraussetzt. Clarke/Newton haben dies in ihrer Diskussion mit Leibniz sehr deutlich gesehen (vgl. Kap. X, 2 und 3). Und ob fÜr die ErklÇrung dieses »metaphysischen Mechanismus« wirklich ein Gott erforderlich ist und nicht schon eine »Mathematik« ausreicht, ist eben fraglich, denn eine Mathematik ist weder »gÙttlich« noch »nicht-gÙttlich«, sondern ist einfach Mathematik. Gott wird hÙchstens noch dort gebraucht, wo ein zureichender Grund dafÜr gefunden werden soll, daß es Überhaupt etwas gibt.

6. Bilanz des Rationalismus Die Rationalisten von Descartes bis Leibniz waren fasziniert von der entstehenden modernen exakten Wissenschaft. Diese lieferte Ergebnisse, die einen echten Fortschritt darstellten und denen gegenÜber auch noch so autoritative Theorien der Vergangenheit schlicht und einfach als »falsch« angesehen werden konnten und mußten. Der Begriff der »Wahrheit«, der frÜher vor allem im Bereich der Metaphysik und

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der Offenbarungstheologie angesiedelt gewesen war, trat nun in entscheidender Weise im Bereich der Wissenschaft auf. Sollte also in der Philosophie begriffen werden, was Wahrheit ist und wie sie erreicht werden kann, mußte man sich an die Wissenschaft wenden, nicht so sehr, um deren Ergebnisse zu Übernehmen, sondern um von ihr die Methode, also den Weg, zu erlernen und abzulesen, wie Wahres erkannt werden kann. Die moderne Wissenschaft war aber dadurch geprÇgt, daß sie quantitative Beziehungen aufstellte, und das Mittel dieser Quantifizierung war die Mathematik. Also lag es fÜr die Philosophie nahe, Wahrheit am Modell der Mathematik abzulesen. Die Mathematik in erster und die von der Mathematik abhÇngige Physik in zweiter Linie erhielten damit eine paradigmatische Funktion fÜr die Philosophie. Der empirische Gehalt der mit mathematischen Methoden arbeitenden Wissenschaften interessierte die Rationalisten nur verhÇltnismÇßig wenig; sie waren grÙßtenteils derart auf die mathematische Methode fixiert, daß ihnen die EigentÜmlichkeit empirischer Wissenschaft oft gar nicht richtig in den Blick kam. Die »kleinen« Abweichungen empirischer PhÇnomene vom mathematischen KalkÜl, die fÜr Newton ein großes Problem darstellten, wurden von Leibniz kaum wahrgenommen. SelbstverstÇndlich wußten die Rationalisten, daß man empirische Fakten nicht aus Definitionen und Axiomen ableiten konnte. FÜr Leibniz stellte zum Beispiel die Unterscheidung der Vernunftwahrheiten (veritµs de Raisonnement) und der Tatsachenwahrheiten (veritµs de Fait) eine grundlegende Unterscheidung dar (vgl. z. B. Leibniz: Monadologie § 33. S. 41). Diese Unterscheidung war jedoch nicht unproblematisch, da die Struktur von »Wahrheit« von den Vernunftwahrheiten her genommen wurde und so die Tatsachenwahrheiten irgendwo und irgendwie doch noch die Struktur von Vernunftwahrheiten annehmen mußten (vgl. weiter oben 3). Die Unterscheidung von Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten war also eine, die letztlich nur uns betraf, nicht die Aussagen Über Wahrheiten an sich: FÜr »Wahrheiten an sich« mußte immer gelten, daß ihr PrÇdikat im Subjekt enthalten war, ganz nach dem Modell einer mathematischen Definition. Da aber bei kontingenten Tatsachenwahrheiten diese Analyse bis zum Aufzeigen des Enthaltenseins des PrÇdikatbegriffs im Subjektbegriff mit den Mitteln des menschlichen Intellekts nicht endgÜltig durchfÜhrbar ist, mußte es einen anderen, »mÇchtigeren« Geist geben, der dies leisten konnte: den gÙttlichen Geist, der einen »zureichenden Grund« fÜr alles liefert. Dieses Prinzip des zureichenden Grundes stellt gleichsam das Glaubensbekenntnis des Rationalismus dar: Wenn es nun schon keine faktische MÙglichkeit fÜr uns und mit unserer Wissenschaft gibt, alle Tatsachenwahrheiten als Wahrheiten zu beweisen, so muß nach dieser Grundvoraussetzung wenigstens prinzipiell bewiesen werden, daß sie eben nur so und nicht anders sein kÙnnen. Gott ist damit einfach ein Postulat, das den Rationalismus zusammenhÇlt. Dieses Postulat wird dort erforderlich, wo man einen von der Mathematik her gewonnenen Wahrheitsbegriff aufstellt und diesen als prinzipiellen und normativen ansetzt, so daß auch die Wahrscheinlichkeit letztlich nur fÜr uns gilt. Das eigentliche Glaubensbekenntnis ist dann also ein solcher

Bilanz des Rationalismus

Wahrheitsbegriff, verbunden oder identisch mit dem Prinzip des zureichenden Grundes. Gott ist einfach jenes Postulat, das die letzte BegrÜndung liefern muß, warum alles einen Grund hat. Dies erklÇrt, warum die meisten Rationalisten des 17. Jhd.s, die zunÇchst von der Wissenschaft und der mathematischen Methode ausgingen, schließlich bei irgendeinem Postulat einer Art philosophischer Gotteslehre landeten. Es gehÙrt zu den, allerdings durchaus verstÇndlichen, Paradoxien der Philosophiegeschichte, daß es hier nur eine Ausnahme gibt: Pascal. Einen Sonderfall bildet also derjenige, der sich ausdrÜcklicher als irgendein anderer zum Glauben bekannte; aber gerade Pascal hatte auch einen wesentlich weniger anspruchsvollen Rationalismus vertreten, der solch philosophischer Postulate Überhaupt nicht bedurfte. SpÇtestens an diesem Punkt stellt sich die Frage, ob die meisten Rationalisten nicht etwas Wesentliches an der Mathematik wie an der empirischen Wissenschaft Übersehen haben. In diesen beiden Wissenschaften ist ein solches Postulat keineswegs enthalten. Man wird zumindest die Frage stellen mÜssen, ob die Philosophie der Neuzeit nicht unbesehen einen Wahrheitsbegriff aus der Theologie der spÇten Antike und der Theologie des Mittelalters Übernommen hat, der aufgrund seiner Konzeption von vornherein von der menschlichen Vernunft her unerfÜllbar war. Die Philosophie hÇtte also dann einen ProblemÜberhang Übernommen und unkritisiert belassen, an dem sie sich nicht messen konnte und den sie vielmehr als solchen, d. h. als theologischen, hÇtte aufdecken mÜssen. Anders ausgedrÜckt: Welche Vernunft ist es, welche die Rationalisten voraussetzten? Ist es wirklich die menschliche, endliche und geschichtliche Vernunft, die ratio, oder vielleicht immer noch die g³ttliche Vernunft, an welcher der menschliche intellectus nur teilhat? Die Rationalisten haben ohne Zweifel sehr viel fÜr die Ausbildung der Wissenschaftstheorie geleistet, vor allem fÜr den axiomatischen Aspekt der Wissenschaft. Auch die Forderung Bacons, daß Wissenschaft prinzipiell in einen pragmatischen, d. h. auf menschliches Handeln bezogenen Kontext zu stellen ist und der Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen dienen soll, blieb erhalten. Diese Forderung wurde fast formelhaft immer wiederholt, jedoch bei den Rationalisten kaum mit einem konkreten Inhalt gefÜllt. Es wÇre allerdings ungerecht zu sagen, daß Leibniz sich nicht um tatsÇchliche Verbesserungen auch im technischen Bereich und somit »zum Wohle der Menschen« bemÜhte. Ein gutes Beispiel dafÜr sind seine zahlreichen, wenn auch nicht schon sonderlich erfolgreichen Versuche, technische Probleme im Harzbergbau zu lÙsen (vgl. A I, Supplementband Harzbergbau). Im Grunde aber waren die Vertreter des Rationalismus Überzeugt, daß die Wissenschaft von selbst, gleichsam automatisch, dem Wohle der Menschen dienen mÜsse. Hier blieben sie - mehr als sie es wollten - traditionellen theologischen Vorurteilen verhaftet: Die Vernunft Übernahm jetzt beinahe mechanistisch gedacht die Aufgabe der Vorsehung, der providentia. Auch dies wird wiederum bei Leibniz sehr deutlich: Die Wissenschaft zeichnet hier im Grunde den Plan Gottes nach. Eine universelle Ordnung ist auf jeden Fall vorausgesetzt; »Gott« ist einfach Ausdruck - bei Leibniz

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natÜrlich Garant - dieser universellen Ordnung. So heißt es im Discours de Mµtaphysique: Daher ist das, was als außerhalb der Ordnung stehend gilt, dies nur in bezug auf eine besondere, im Bereiche der Gesch³pfe stehende Ordnung. Denn was die universale Ordnung anbetrifft, so ist ihr alles gem›ß. Das ist so wahr, daß nicht nur nichts in der Welt geschehen kann, was v³llig unregelm›ßig w›re, sondern man kann sich so etwas nicht einmal ausdenken. (Metaphysische Abhandlung § 6. S. 13) Macht man diese Voraussetzung nicht, kann man tatsÇchlich keine Naturwissenschaft betreiben. Etwas anderes ist es aber, Vernunft selbst und somit auch die praktische Vernunft an diesem Modell abzulesen. Genau dies aber taten die Rationalisten. Der Lauf der Welt wurde in etwa so gesehen, wie Leibniz es im folgenden Zitat zum Ausdruck bringt:

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So kann man sagen, daß derjenige, der in vollkommener Weise handelt, einem vortrefflichen Geometer gleicht, der die besten Konstruktionen eines Problems zu finden weiß; einem guten Baumeister, der mit seinem Platz und den f¹r das Bauwerk bestimmten Mitteln aufs vorteilhafteste umgeht, der nichts St³rendes zul›ßt und nichts, was der Sch³nheit, deren es f›hig w›re, Abbruch t›te; einem guten Familienvater, der sein Verm³gen so verwendet, daß nichts ungenutzt und unfruchtbar bleibt; einem t¹chtigen Maschinenbauer, der die beabsichtigte Wirkung auf dem einfachsten Wege erreicht, den man w›hlen kann; und einem gelehrten Autor, der m³glichst viele Tatsachen auf kleinstem Raume zusammenfaßt. (Ebd. § 5. S. 11) Wenn die Welt so ihren Lauf ging, was blieb da noch zu sagen Übrig? Ein Theologe wie Jacques-Bµnigne Bossuet (1627–1704), ein Briefpartner von Leibniz, konnte hier noch universale Heilsgeschichte erzÇhlen, einem Rationalisten wie Leibniz, der solchen universellen Geschichtstheorien zu Recht mißtraute, blieb nur der leere Rahmen der besten aller mÙglichen Welten, der sich jedoch zu keiner interpretationskrÇftigen Hypothese ausbauen ließ. So ergab es sich, daß die Rationalisten, die mit ihrer - bei Descartes sehr deutlichen, bei Leibniz viel vorsichtigeren - Absetzung von der Tradition die Geschichte eigentlich erst richtig entdeckt hatten, nun dieser Geschichte ziemlich hilflos gegenÜberstanden. Die Antike und das Mittelalter, denen man hÇufig Geschichtsbewußtsein abspricht, hatten mit Augustinus oder Joachim von Fiore immerhin hermeneutische Theorien entwickelt, in die Geschichtsfakten eingeordnet und von denen aus die Gegenwart beurteilt werden konnte. Die Rationalisten setzten zwar die kritische Auseinandersetzung mit Geschichtsquellen in Gang - systematische Quellenkritik begann genau zu dieser Zeit -, dennoch kam es zu keiner eigentlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte, d. h. mit menschlichem Handeln in der Vergangenheit, und so auch nicht mit dem Handeln in der

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Gegenwart. Descartes Çußerte sich nicht zum Thema der Geschichte seiner Zeit, Spinoza tat, abgesehen von Appellen zur Toleranz, noch weniger. Leibniz, der sich sein Geld eigentlich als Historiograph des KurfÜrsten von Hannover verdiente, sammelte zwar eine Unmenge von Urkunden und verÙffentlichte auch einige davon, so z. B. im berÜhmten Codex juris gentium diplomaticus, er sammelte aber Urkunden wie andere Schmetterlinge oder Mineralien. Mit anderen Worten: Diese historische Arbeit diente Leibniz nicht dazu, irgendwelche Einsichten in geschichtliche VorgÇnge zu gewinnen, es gab hier keine, eigentlich doch naheliegende Analogie zum bÜrgerlichen Recht, aus dem Regeln des vernÜnftigen Handelns hÇtten abgeleitet werden kÙnnen (obwohl Leibniz vermutlich irgend so etwas vorgeschwebt haben dÜrfte). Auch der am meisten mit Fragen der Geschichte befaßte Rationalist war nur Beobachter, Kommentator und Sammler von Fakten, ohne aber zu durchgreifenden Interpretationen historischen Geschehens zu gelangen. So befaßte sich Leibniz z. B. sein ganzes Leben lang mit ReligionsgesprÇchen zwischen Katholiken, z. B. Bossuet, und Protestanten, ohne daß man bei ihm irgendeine wirklich tiefgreifende ErklÇrung der »Notwendigkeit« der Reformation fÇnde oder irgendeine Überzeugende ErklÇrung dafÜr, warum eigentlich, außer weil es »harmonischer« ist, die Konfessionen vereinigt werden sollten. So sonderbar es klingen mag, es stimmt aber wahrscheinlich doch: Der berufsmÇßige Historiker Leibniz hatte zum Thema der Geschichte nichts sonderlich Erhellendes zu sagen, er verteidigte und rechtfertigte einfach das Bestehende. Eine Theorie der Geschichte fehlt bei den Rationalisten. Es kommt wohl auch nicht von ungefÇhr, daß die Rationalisten weithin den Bereich realer Geschichte und Politik mieden. Descartes zog sich meist an unbekannte Aufenthaltsorte zurÜck, Spinoza lebte ganz zurÜckgezogen, und Leibniz war als Hofhistoriograph von den eigentlichen politischen Entscheidungen ausgeschlossen. Er mußte nur jeweils historische Rechtfertigungen fÜr schon gefallene Entscheidungen liefern, ganz so, wie der Philosoph Leibniz nachtrÇglich die Welt als die beste aller mÙglichen Welten rechtfertigte. Traktate zur Politik oder zur Wirtschaft wie sie Hobbes oder Locke verfaßt hatten, fehlen bei den Rationalisten. Dies gilt bei Leibniz, der sich so ziemlich zu allen Fragen irgendwann und irgendwo Çußerte, nur in einem eingeschrÇnkten Sinne. So verfaßte er z. B. 1695 fÜr E. Ch. B. von Danckelmann (1643–1722), einen wichtigen Politiker am Hofe von Berlin, eine Denkschrift zur Errichtung von Leinenmanufakturen in Brandenburg (A I, 11. S. 167–169). Es ist aber auch hier ersichtlich, daß diese Schrift im Zusammenhang mit den AkademieplÇnen von Leibniz, also mit seinem zentralen Wissenschaftsprojekt, stand, das er, selbstverstÇndlich unter seiner Leitung, in Berlin verwirklichen zu kÙnnen hoffte (Ebd. S. 160–167). Auch die Ethik blieb bei den Rationalisten abstrakt. Dabei ging Leibniz wie die anderen Rationalisten davon aus, daß es unbedingte und unverÇnderliche Normen des Handelns gibt. Sittliches Handeln bedeutet, der Vernunft gemÇß zu handeln; die oberste Norm ist die Gerechtigkeit, ein Begriff, dem Leibniz zahlreiche Untersuchun-

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gen widmete. Alle diese ¾berlegungen halfen aber nicht weiter, denn: Was »richtig« im Sinne der Gerechtigkeit ist, das bestimmt sich von der universellen Ordnung her, und diese ist wieder nur im Prinzip und nicht in ihrer konkreten Form verfÜgbar. Leibniz war jedoch (dies zeigt vor allem die Monadologie) Überzeugt, daß jeder Einzelne ein perspektivisches Spiegelbild des Ganzen ist, also mÜßten in jeder individuellen Vernunft die Prinzipien der universellen Gerechtigkeit vorhanden sein. Allerdings sah sich Leibniz hier mit jener Schwierigkeit konfrontiert, die er auch in der Wissenschaft vorgefunden hatte: Wir haben im praktischen Bereich noch weniger die einfachen Grundbegriffe zur VerfÜgung als im theoretischen Bereich. Die Rationalisten waren also Überzeugt, es mÜsse, so wie es eine universelle Grammatik geben sollte, auch ein universelles Normensystem ethischer Verpflichtungen geben. Die Schwierigkeit war nur, daß es jetzt im 17. Jhd. noch viel unklarer war, wie dieses System aussehen sollte, da man nun durch Reisebeschreibungen und Berichte von Missionaren in einem unvergleichlich grÙßeren Maße mit vÙllig fremden Sitten konfrontiert wurde als im Mittelalter. Das Ergebnis war: Zwischen dem Anspruch einer universellen deduktiven und axiomatisch konstruierbaren Moral und der Vorlage eines konkreten Modells des Handelns Ùffnete sich - bei Descartes wie bei Leibniz ein unÜberbrÜckbarer Graben. Die behauptete SelbstÇndigkeit der Vernunft blieb leer - und das gerade dort, wo sie zum Handeln fÜhren sollte. Bei der Frage des Handelns sahen die Rationalisten keinen anderen Ausweg, als auf die Geschichte, also auf die Tradition zurÜckzugreifen. Das heißt nicht, daß nur wie bei Descartes der Ausweg des allgemeinen Hinweises auf die Sitten des Landes blieb; es war durchaus mÙglich, die analytische und logische SchÇrfe des Verstandes auf dieses Material anzuwenden und eine Rechtslogik zu entwickeln, wie es Leibniz tat. Aber auch dort galt: Die aufgefundenen Grunds›tze waren historisch vorgegeben, die Berechtigung ihrer Verallgemeinerung blieb unbewiesen. Der Plan einer universellen Sprach-Grammatik wird umso problematischer, je mehr er mit den Einzelsprachen konfrontiert wird, dasselbe gilt fÜr eine universelle Normen-Grammatik. Die Vorstellung von Leibniz, im rÙmischen Recht wÇre so etwas wie allgemein gÜltige Normen enthalten, war nicht besser als die Vorstellung, die universelle Grammatik ließe sich am besten am Lateinischen ablesen. Einzig Pascal hatte hier die Dinge beim Namen genannt: Es gibt hier nichts Allgemeines, was uns allgemein und evident scheint, ist nichts anderes als zur Natur gewordene Gewohnheit. Man kann sich nun natÜrlich fragen, wie es mÙglich war, daß ein fÜr uns so offenkundiges Scheitern des Aufbaus einer autonomen Moral bei gleichzeitigem Anspruch, dies leisten zu kÙnnen, weder fÜr die Rationalisten noch fÜr ihre Umgebung ein besonderes Problem darstellte. Die ErklÇrung dafÜr ist recht einfach: Die damalige Gesellschaft fragte die Philosophen gar nicht danach. Die Moral des Volkes war weiterhin vom Christentum bestimmt, die eigentlichen Diskussionen in diesem Bereich waren religiÙser Art. Es ging dort z. B. um die Auseinandersetzung zwischen Vertretern einer rigoristischen Moral (Pietisten und Jansenisten) gegenÜber einer

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»aufgeklÇrten« Moral (protestantische Landeskirchen, Jesuiten). Diese Auseinandersetzungen reichten weit in die gesellschaftliche ²ffentlichkeit hinein, aber niemand erwartete, daß die Philosophen irgend etwas Relevantes zu diesen Fragen zu sagen hatten, was auch tatsÇchlich nicht der Fall war. Pascal wiederum beschÇftigte sich als einziger mit solchen Fragen, er wandte dabei aber eben nicht den esprit gµomµtrique an, sondern den esprit de finesse (vgl. Kap. VI, 2). Einen solchen esprit de finesse gab es jedoch bei den Übrigen Rationalisten gar nicht. - Der Ùffentliche Einfluß christlicher Moral im 17. Jhd. hatte allerdings auch eine heuchlerische Seite: An den katholischen wie an den protestantischen HÙfen und in deren Umgebung herrschte lÇngst eine Moral, die sich faktisch vom christlichen Moralkanon emanzipiert hatte, wobei dieser gleichzeitig den Untertanen eingeschÇrft wurde. Es ist jedoch klar, daß niemand daran interessiert war, diese tatsÇchlich »autonome Moral« einer Analyse zu unterziehen. Dies konnte erst geschehen, als seit dem spÇten 17. Jhd. auch das BÜrgertum, vor allem in Frankreich und England, begann, sich die Freiheit des Adels im sittlichen Bereich zu eigen zu machen. Zu dieser Zeit wird dann das Problem der Ethik stÇrker philosophisch diskutiert werden, allerdings weithin unter dem praktischen Aspekt der Erziehung. Auch in einem anderen wichtigen Bereich der Erfahrung waren die Rationalisten nicht zu Hause: dem der Kunst. Es ist auffallend, daß weder Descartes noch Spinoza oder Leibniz die Kunst in irgendeiner relevanten Weise in ihre Reflexionen einbezogen haben. Nun gibt es bekanntlich eine philosophische ’sthetik erst seit dem 18./19. Jhd., aber dies bedeutet nicht, daß man die Kunst aus philosophischen Analysen vor dieser Zeit ausklammern kÙnnte oder sollte. Das Denken des Mittelalters war weithin nur Çsthetisch zu verstehen, nÇmlich als der Versuch, die Welt auf Gott hin transparent zu machen. Ebenso ist die erste große Emanzipationsbewegung in Europa, die Renaissance, eine primÇr kÜnstlerische Bewegung gewesen. DemgegenÜber lebten und dachten die Rationalisten des 17. Jhd.s in einer Begriffswelt, der keine Anschauung entsprach, sondern nur eine behauptete innere Einsicht. In den Schriften und auch in den Korrespondenzen der Rationalisten fehlt die Kunst so gut wie vollstÇndig. Descartes verfaßte zwar ein Compendium musicae, doch auch hier beschÇftigt er sich hauptsÇchlich wieder mit den traditionellen Fragen der mathematischen Bestimmung der Intervalle sowie mit der Frage der Unterordnung der Sinne unter die Vernunft. Konsequenz: Die Melodie, welche allein auf die Sinne wirkt, ist nicht rÜckfÜhrbar auf die Vernunft, dies ist nur bei der Harmonie wegen der dort vorliegenden mathematischen Beziehungen mÙglich. Mit diesem begrifflichen Instrumentarium war aber die Entwicklung seit Claudio Monteverdi (1567– 1643) nicht erfaßbar: In der seconda pratica ging es um den Vorrang der Melodie gegenÜber der Harmonie. Diese Entwicklung konnte nicht ohne Prinzipien der Rhetorik behandelt werden, aber gerade diese lag den Rationalisten fern. Die Musiker selbst, so z. B. Andreas Werckmeister (1645–1706) Übernahmen nun die philosophische Aufgabe, Mathematik und Affektenlehre zu verbinden. Philosophie und Kunst

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gehen jetzt getrennte Wege. Bacon nahm von seinem dichtenden Zeitgenossen Shakespeare ebensowenig Kenntnis wie Spinoza von seinen malenden Zeitgenossen Rembrandt oder Rubens. In den Registern der Leibniz-Briefe, wo fast alles irgendwo auftaucht, sucht man vergebens nach seinem berÜhmten Zeitgenossen Dietrich Buxtehude (1637–1707), und selbst zu dem am Hofe von Hannover als Musiker und Diplomat tÇtigen und nicht unbedeutenden Opernkomponisten Agostino Steffani (1654–1728) hatte Leibniz keinerlei irgendwelche Fragen der Musik betreffende Beziehung. Meldungen Über die Oper in Hannover oder Leipzig fallen bei Leibniz nur unter Hofnachrichten. Und auch in der die Musik betreffenden Korrespondenz mit Conrad Henfling war Leibniz nur an den mathematischen Fragen interessiert. Er war sogar in der Lage, eine mehr als zwei Jahre dauernde Italienreise zu unternehmen (1689/1690), ohne daß sich in den Briefen dieser Zeit irgendein relevanter Hinweis auf die Kunst des Landes fÇnde. Auch hier zeigt sich wieder: Die Rationalisten waren in einem solchen Maße an der Vorstellung notwendiger Wahrheiten orientiert, daß sie dem, was sich nicht in solche SÇtze fassen ließ, kaum Aufmerksamkeit schenken konnten. Da sie aber außer auf Gebieten wie der Mathematik, der Logik und der Physik solche notwendigen Wahrheiten nicht auffinden konnten, hatten sie am Schluß kaum noch irgend etwas in der Hand. - Es ist verstÇndlich, daß die Philosophen der AufklÇrung des 18. Jhd.s, die viel von den Rationalisten Übernahmen, vor allem in Frankreich versuchen werden, den realen Lebensraum der Menschen mit Politik, Geschichte, Kunst und vielem anderen wieder in den Blick zu bekommen.

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1. Die Philosophie des allt›glichen Lebens Vermutlich der erste Philosoph, der - jedenfalls von einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens an - von den EinkÜnften aus seinen Schriften leben konnte, war David Hume (1711–1776). Zum Ende seines Lebens hatte er es sogar zu einem gewissen Wohlstand gebracht, worauf er uns in seiner kurzen Lebensbeschreibung auch gebÜhrend aufmerksam macht. In seinen frÜheren Lebensjahren konnte er allerdings nur durch Çußerste Sparsamkeit Überleben. Er stammte aus einer nicht besonders wohlhabenden Familie des schottischen Landadels, die es ihm nicht ermÙglichen konnte, ohne Erwerb zu leben. Er studierte zunÇchst Jura, beendete dieses Studium aber nicht, sondern wechselte zur Philosophie Über, bevor er versuchte, sich als Handelsangestellter sein Leben zu verdienen. Hume fand jedoch auch daran kein rechtes Gefallen und ging nach Frankreich. In Reims verfaßte er die erste Version seines Traktats Über die menschliche Natur (1739/1740), die er spÇter nochmals Überarbeitete, da sie keinerlei Eingang in die »gelehrte Welt« fand. Etwas mehr Erfolg hatte er mit seiner Untersuchung Über die Prinzipien der Moral. Hume strebte nun eine Professur in Schottland an, hatte dabei jedoch keinen Erfolg. Bekannt wurde er schließlich weniger durch seine philosophischen Schriften als vielmehr durch eine mehrbÇndige Geschichte Englands, die er verfassen konnte, als es ihm nach TÇtigkeiten wie der eines SekretÇrs oder Hauslehrers schließlich gelungen war, Bibliothekar der Anwaltskammer in Edinburgh zu werden. Er befaßte sich nun auch mit religionsphilosophischen Fragen. So entstanden die Naturgeschichte der Religion (1757) und spÇter die Dialoge Über natÜrliche Religion (1779), die er aber nicht in Druck gab. Mit der Geschichte Englands verÇrgerte er die Whigs, die alle politisch wichtigen Positionen innehatten, und mit seiner Naturgeschichte der Religion erreichte er dasselbe bei den Vertretern der schottischen protestantischen Kirche. Sogar die Inquisitionskommission der katholischen Kirche setzte 1761 (der Einfachheit halber gleich alle) seine Werke auf den Index der verbotenen BÜcher. Als er nach einigem ZÙgern 1763–1766 als SekretÇr an die englische Botschaft in Paris ging und dort mit Kreisen der franzÙsischen AufklÇrung in Kontakt trat, meinten manche, so z. B. d’Holbach, ihn fÜr ihre Zwecke, d. h. einen militanten Atheismus, einsetzen zu kÙnnen. Dies war ein MißverstÇndnis, denn Hume ging es tatsÇchlich um eine natÜrliche Ge-

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schichte der Religion, also wiederum um empirische Gegebenheiten, nicht aber um einen dogmatischen Atheismus, der selbst auf keiner Erfahrung beruhte. Dennoch fand er im Kreise der EnzyklopÇdisten um Diderot und d’Alembert (vgl. zu diesen Kap. XIII, 1) mehr Aufnahme als je zuvor, ohne daß dort seine eigentlichen philosophischen Anliegen schon wirklich verstanden worden wÇren. In den letzten Jahren seines Lebens konnte Hume schließlich seinen Unterhalt aus dem ErlÙs seiner Geschichte Englands (1754–1761) bestreiten; damit war er mehr als Historiker denn als Philosoph bekannt. Mit Hume verlassen wir das 17. Jhd. und treten in das 18. Jhd. ein. Hume stand wie schon die Rationalisten und Empiristen des 17. Jhd.s unter dem ÜbermÇchtigen Eindruck der Erfolge, die in den Naturwissenschaften erzielt wurden. Die Vorstellungen von »empirischer Wissenschaft« und »Fortschritt der Erkenntnis« gehÙrten zu dieser Zeit bereits untrennbar zusammen. FÜr Hume war es daher klar, daß auch die Philosophie sich auf Erfahrung zu stÜtzen hatte, und zwar in noch konsequenterer Weise, als Locke dies getan hatte. Vor allem aber sollte es darum gehen, eine brauchbare Theorie der Erfahrung und damit der Gesetze, die auf Erfahrung beruhen, zu finden. Die Erfahrung zeigt aber auch, daß die Menschen nur allzu gerne irgendwelchen Produkten der Phantasie nachlaufen, die sich dann in der RealitÇt nicht bewÇhren. Die Philosophie sollte sich daher konsequent nur auf das stÜtzen, was von allen Menschen an ihrer eigenen alltÇglichen Erfahrung ÜberprÜft werden konnte. Nicht die Einbildungskraft der Menschen durfte den Rahmen philosophischer Untersuchung abgeben, sondern allein die Urteilskraft: Die Einbildungskraft des Menschen ist von Natur hochfliegend, entz¹ckt sich an allem Entlegenen und Außerordentlichen und st¹rmt ohne Aufsicht in die weitesten Fernen des Raumes und der Zeit, um den Gegenst›nden aus dem Wege zu gehen, welche Gewohnheit ihr allzu vertraut gemacht hat. Eine gerade Urteilskraft beobachtet die gegenteilige Methode, vermeidet alle weit und hoch f¹hrenden Untersuchungen, beschr›nkt sich auf das gew³hnliche Leben und solche Gebiete, die im t›glichen Handeln und in der Erfahrung vorkommen. (Eine Untersuchung ¹ber den menschlichen Verstand XII, 3. S. 189) Hier begegnen wir schon den wichtigen Zentralbegriffen: Erfahrung, allt›gliches Handeln, gew³hnliches Leben. Auch die Wissenschaft ist nach Hume nichts anderes, als eine auf diese Grundlagen gestÜtzte TÇtigkeit, mit der versucht wird, die Erfahrung durch Erkenntnis von Gesetzen zu sichern, bei der aber gleichzeitig vermieden werden muß, die Erfahrung zu Überschreiten. FÜr Hume ist die Philosophie als ganze nichts anderes als die Analyse der TÇtigkeiten des alltÇglichen Lebens: Wer eine Neigung zur Philosophie hat, wird seine Nachforschungen fortsetzen, denn er bedenkt, daß neben dem unmittelbaren Vergn¹gen, das solche Besch›ftigung be-

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gleitet, philosophische Entscheidungen weiter nichts sind als die in Regeln gebrachten und berichtigten •berlegungen des t›glichen Lebens. Aber sie werden sich nie versucht f¹hlen, ¹ber das gew³hnliche Leben hinauszugehen, solange sie die Unvollkommenheit jener F›higkeiten im Auge behalten, mit denen sie arbeiten, deren engen Bereich und ungenaue Leistungen. (Ebd. S. 190) Durch diese bewußte EinschrÇnkung auf den Bereich des gewÙhnlichen Lebens sah Hume Probleme der gewÙhnlichen Erfahrung und somit Probleme der Wissenschaft, die vorher nicht mit dieser SchÇrfe gesehen worden waren, und so stellte er auch zentrale Fragen bezÜglich der wissenschaftlichen Theoriebildung, mit der sich die Philosophie bisher kaum beschÇftigt hatte: Solange wir nicht einen befriedigenden Grund angeben k³nnen, warum wir nach tausend Erfahrungstatsachen glauben, daß ein Stein fallen oder das Feuer brennen wird k³nnen wir uns da mit irgend einer bestimmten Anschauung zufrieden geben, die wir ¹ber den Ursprung der Welten und den Zustand der Natur von Ewigkeit zu Ewigkeit bilden m³gen? (Ebd. S. 190) Die Probleme der Metaphysik tauchen also nicht erst bei den Fragen der WeltschÙpfung auf, sondern schon bei der Frage, wieso wir eigentlich wissen, d. h. wirklich wissen, daß ein Stein zur Erde fallen wird, eine Frage, mit der wir Über unsere (bisherige) Erfahrung mit der Natur bereits hinausgehen, mit der wir also schon Metaphysik betreiben. Die eigentlichen philosophischen Fragen stellen sich daher im gewÙhnlichen Leben, man muß sie nur erst einmal stellen und darf nicht meinen, das, was im gewÙhnlichen Leben ungefragt vorausgesetzt und angewandt wird, stelle schon klares und deutliches Wissen dar.

2. Das Erfahrungsurteil des allt›glichen Lebens und der Wissenschaft Hume ging also von der alltÇglichen Erfahrung aus und wollte die philosophischen Probleme dieser Erfahrung analysieren. Dabei sah er jedoch, daß wir sowohl im alltÇglichen Leben wie auch in der Wissenschaft diese Erfahrung stÇndig Überschreiten. Diese ¾berschreitung macht also ein Grundelement sowohl des tÇglichen Lebens als auch der Wissenschaft aus. Erfahrung bedeutet so viel wie Lernen aus sinnlichen Empfindungen. Ein Beispiel: Wir sahen an vergangenen Tagen die Sonne aufgehen, und wir schließen daraus, daß sie auch morgen wieder aufgehen wird; das Brot, das wir in der Vergangenheit gegessen haben, hat unseren Hunger gestillt und uns Kraft gegeben, und wir schließen daraus, daß auch das Brot, das wir morgen kaufen und essen werden, dasselbe bewirken wird. Aber genau hier sieht Hume das Problem: Was heißt denn in diesem Zusammenhang »schließen«, was fÜr ein Urteil liegt

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hier vor, das uns ermÙglicht, aus Erfahrungen der Vergangenheit Voraussagen Über die Zukunft zu machen? Es d¹rfte also des Interesses wert sein, die Natur jener Evidenz zu erforschen, die uns jede wirkliche Existenz und Tatsache sicherstellt, welche ¹ber das gegenw›rtige Zeugnis der Sinne oder die Angaben unseres Ged›chtnisses hinausgehen. (Eine Untersuchung ¹ber den menschlichen Verstand. IV, 1. S. 36) Um hier weiterzukommen, mÜssen wir nach Hume zunÇchst die GegenstÇnde unserer Erkenntnis und die entsprechenden Erkenntnisweisen unterscheiden: Alle Gegenst›nde der menschlichen Vernunft und Forschung lassen sich naturgem›ß in zwei Arten zerlegen, n›mlich in Beziehungen von Vorstellungen und in Tatsachen. (Ebd. S. 35)

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Hinter dieser Unterscheidung steht die leibnizsche Einteilung in Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten. Die erste Gruppe wird in den mathematischen Disziplinen bearbeitet, die Humes Auffassung nach von jeder Erfahrung unabhÇngig sind und bei denen es deduktive Beweise gibt: S›tze dieser Art sind durch die reine T›tigkeit des Denkens zu entdecken, ohne von irgend einem Dasein in der Welt abh›ngig zu sein. Wenn es auch niemals einen Kreis oder ein Dreieck in der Natur gegeben h›tte, so w¹rden doch die von Euklid demonstrierten Wahrheiten f¹r immer ihre Gewißheit und Evidenz behalten. (Ebd.) Die zweite Gruppe umfaßt die Erkenntnis von Tatsachen: Tatsachen, der zweite Gegenstand der menschlichen Vernunft sind nicht in gleicher Weise als gewiß verb¹rgt; ebensowenig ist unsere Evidenz von ihrer Wahrheit, wenn auch noch so stark, von der gleichen Art wie bei der vorhergehenden. Das Gegenteil jeder Tatsache bleibt immer m³glich [...]. (Ebd.) Eine solche Erkenntnis kÙnnen wir nur aus sinnlicher Erfahrung gewinnen. Diese beiden Gruppen von GegenstÇnden der Erkenntnis unterscheiden sich schon in rein logischer Hinsicht in eindeutiger Weise: FÜr die erste Gruppe gilt, daß das Gegenteil unmÙglich ist, wohingegen fÜr die zweite gilt, daß das Gegenteil nicht unmÙglich ist. Das ist nichts prinzipiell Neues, sondern war schon in der aristotelischen und mittelalterlichen Philosophie mit der Unterscheidung in notwendige und kontingente Aussagen bekannt. Wenn ich einen Satz der Mathematik, z. B.: 2 x 2 = 4, nehme, so ist das Gegenteil, nÇmlich, daß das Produkt von 2 x 2 nicht 4 ist, ein Widerspruch. Der Fall bei SÇtzen Über Erfahrungstatsachen liegt hingegen anders: Zwar kann auch

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hier nur einer von zwei kontradiktorischen SÇtzen wahr sein, das Gegenteil eines Satzes Über eine Erfahrungstatsache beinhaltet jedoch nie einen Widerspruch. Wenn ich sage: »Immer wenn ich meine Hand ins Feuer gehalten habe, habe ich mich verbrannt; hier ist Feuer - ich werde meine Hand hinein halten und mich nicht verbrennen«, so ist dieser Satz zwar mÙglicherweise falsch (wie ich rasch bemerken werde), er enthÇlt aber keinen Widerspruch. Hier kÙnnte man nun einwenden: »Das ist Unsinn, denn ich weiß ja, daß gleiche Ursachen immer gleiche Wirkungen haben mÜssen, also widerspreche ich mit einer solchen Behauptung dieser allgemeinen Erkenntnis.« Hume lÇßt dies jedoch nicht so einfach gelten. Wir sprechen normalerweise sehr wohl Über »Ursache« und »Wirkung«: Alle Denkakte, die Tatsachen betreffen, scheinen sich auf die Beziehung von Ursache und Wirkung zu gr¹nden. Einzig mit Hilfe dieser Beziehung k³nnen wir ¹ber die Evidenz unseres Ged›chtnisses und unserer Sinne hinausgehen. (Ebd. S. 36) Aber was sagen wir eigentlich genau, wenn wir Über »Ursache« und »Wirkung« sprechen? Das innerste »Wesen« der Dinge, seine »WirkkrÇfte« kennen wir nicht; dies ist schon nominalistisch-empiristisches Gemeingut. Und im spÇten Mittelalter waren bei Nicolaus von Autrecourt (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 2, b) auch schon Zweifel aufgekommen, ob wir Überhaupt in sinnvoller Weise von KausalitÇt sprechen kÙnnen. Dort gab es dafÜr aber theologische GrÜnde; bei Hume geht es einfach um die Analyse menschlichen Wissens: Was wir beim Sprechen von »Ursache« und »Wirkung« tun, ist, zwei Gruppen von Eigenschaften aus der Erfahrung zu verbinden; wir sagen hier also genau genommen nur, daß wir feststellen, daß ein Ding mit bestimmten Eigenschaften auf ein anderes mit bestimmten Eigenschaften folgt (post hoc). Daraus kÙnnen wir aber noch nicht ableiten, daß das eine die »Ursache« und das andere die »Wirkung« ist (propter hoc). Es ist also kein vernÜnftiger Schluß zu sagen: [...] bloß weil ein Ereignis in einem Falle dem anderen vorhergeht, deshalb sei das eine die Ursache, das andere die Wirkung. Ihr Zusammenhang kann ja willk¹rlich und zuf›llig und kein Grund vorhanden sein, das Dasein des einen aus dem Auftreten des anderen abzuleiten. (Eine Untersuchung ¹ber den menschlichen Verstand V, 1. S. 54) Prinzipiell Çndert sich diese Situation auch durch die Wiederholung der Erfahrung dieser Folge von Wahrnehmungen nicht, ich weiß durch die Wiederholung nicht mehr Über »Ursachen« und »Wirkungen« (mÙglicherweise schlafe ich bei Vollmond immer schlecht, ich habe aber keinerlei Grund, deshalb zu behaupten, der Vollmond sei die Ursache meines Schlecht-Schlafens). Nun kÙnnte man sagen, daß die Begrifflichkeit von »Ursache« und »Wirkung« nicht entscheidend ist, entscheidend sei dagegen nur die RegelmÇßigkeit der Folge von Erscheinungen, und die ist mir eben

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durch die Erfahrung gesichert. Aber hier stellt sich fÜr Hume wieder das Anfangsproblem: Was heißt »gesichert«, und was heißt »RegelmÇßigkeit«? Wir arbeiten hier mit zwei SÇtzen; der erste lautet: [...] ich habe gefunden, daß ein solcher Gegenstand immer von einer solchen Wirkung begleitet gewesen ist. (Ebd. IV, 2. S. 45) Der zweite Satz lautet: [...] ich sehe voraus, daß andere Gegenst›nde, die in der Erscheinung gleichartig sind, von gleichartigen Wirkungen begleitet sein werden. (Ebd.)

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Diese beiden SÇtze sind nun ganz verschiedener Art, der zweite wird zwar immer zusammen mit dem ersten gebraucht, ist aber deshalb noch nicht daraus ableitbar. Genau dies ist das berÜhmte Problem der Induktion: Wie kann ich aus einer begrenzten Zahl von beobachteten FÇllen, in denen B auf A gefolgt ist, darauf schließen, daß in einer unbegrenzten Anzahl (noch) nicht beobachteter FÇlle wiederum B auf A folgen wird? Um hier nicht zu moderne Vorstellungen hereinzubringen, sei daran erinnert, daß der Hintergrund der Problematik bei Hume genau jene nominalistische Welt ist, wie sie durch den Allmachtsgedanken der Philosophen-Theologen des SpÇtmittelalters strukturiert worden war (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 2, b): Es liegt keinerlei Widerspruch in der Annahme, daß Gott morgen die Welt so strukturieren kÙnnte, daß z. B. Wasser nicht mehr erst bei 100 Grad, sondern schon bei 95 Grad siedet: Dann wÇre unsere heute empirisch festgestellte RegelmÇßigkeit (ein »Naturgesetz«) morgen nicht mehr gÜltig. Dazu ist nicht einmal die Annahme eines cartesianischen bÙsen Geistes oder eines tÇuschenden Gottes nÙtig, Gott bliebe hier durchaus ein guter, z. B. energiesparender, Gott. Wir hÇtten gar nichts anderes vor uns, als eine von der heutigen ganz leicht verschiedene mÙgliche Welt (die vielleicht sogar besser wÇre als die gegenwÇrtige und an die wir uns auch wieder ganz rasch gewÙhnen wÜrden). Dies sind nicht nur mittelalterliche Vorstellungen, auch fÜr Newton waren dies MÙglichkeiten, mit denen er durchaus rechnete. - Auch die Mathematik, die strenge Deduktionen erlaubt, hilft da nicht weiter, denn ihre Anwendung setzt immer die GesetzmÇßigkeit in den Dingen schon voraus, sie kann dieselbe jedoch nicht beweisen: Jeder Teil der angewandten Mathematik geht von der Annahme aus, daß die Natur ihren Vorg›ngen gewisse Gesetze zugrunde legt [...]. (Ebd. IV, 1. S. 41) An diesem Punkt kÙnnte man aber sagen, daß der Natur doch tatsÇchlich Gesetze zugrunde liegen, d. h. daß wir aus der Erfahrung wissen, daß hier eine RegelmÇßigkeit vorliegt. Aber wieder wendet Hume zu Recht ein, daß hier ein Zirkel der Beweis-

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fÜhrung vorliegt: Wir sollen ja erst beweisen, daß wir von Erfahrungen der Vergangenheit oder der Gegenwart auf Ereignisse in der Zukunft schließen dÜrfen, dann aber kÙnnen wir nicht sagen, aus der Erfahrung bestimmter Ereignisse in der Vergangenheit ergebe sich, daß es auch in der Zukunft so sein werde (Ebd. IV, 2. S. 46 f.). Man kÙnnte nun noch einwenden, daß unser Handeln all diese Schwierigkeiten widerlegt, denn unser Tun beruht genau auf dieser Annahme von RegelmÇßigkeit. Daß eine solche Annahme gemacht wird, leugnet Hume keineswegs; es fragt sich nur, warum wir diese Annahme machen. Die Antwort Humes ist eindeutig: [...] anl›ßlich des best›ndigen Zusammenhangs zweier Gegenst›nde, z. B. Hitze und Flamme, Gewicht und Masse, werden wir allein durch Gewohnheit bestimmt, das eine beim Auftreten des anderen zu erwarten. (Ebd. V, 1. S. 55) Humes Antwort auf die Frage, woher also die in unseren Handlungen mitenthaltene Annahme einer RegelmÇßigkeit kommt, ist somit folgende: Wir handeln einfach aus Gewohnheit. Obwohl dies unbestreitbar ist, gibt Hume jedoch nicht zu, aus dieser praktischen Gewißheit folge schon, daß ihr eine theoretische Einsicht in einen Folgerungszusammenhang zwischen vergangener und zukÜnftiger Erfahrung zugrunde liegt: So groß ist der Einfluß der Gewohnheit, daß da, wo sie am st›rksten ist, sie nicht nur unsere nat¹rliche Unwissenheit verdeckt, sondern auch sich selbst verbirgt, und nur deshalb nicht da zu sein scheint, weil sie im h³chsten Grade vorhanden ist. (Ebd. IV, 1. S. 39) Hume will damit sagen, daß es weiter gar nicht schlimm ist, wenn wir bestimmte Annahmen aus Gewohnheit (custom, habit) machen, nur sollten wir das auch genau sagen und nicht Gewohnheit mit Ursache-Wirkung-Wissen verwechseln. Wir kommen eben nach Hume nicht weiter als bis zur Feststellung der Gewohnheit als dem »letzten aufweisbaren Prinzip all unserer ErfahrungsschlÜsse« (Ebd. V, 1. S. 55). Die Gewohnheit ist nach Hume ein »nat¹rlicher Instinkt«, durch den bei wiederholten Erfahrungen der Glaube hervorgerufen wird, es mÜsse sich auch in der Zukunft so verhalten; eine Vernunfterkenntnis liegt dabei nicht vor. Dieser etwas desillusionierende Hinweis auf die Gewohnheit sollte uns nicht erschrecken, wir sprechen in der Gegenwart in diesem Zusammenhang von der »Ausbildung kognitiver Dispositionen«, was gar nichts anderes ist als die »Gewohnheit« Humes. Hume wollte vom gewÙhnlichen Leben, den alltÇglichen Erfahrungen, ausgehen, war aber dann bei seiner Analyse gezwungen zu sagen, daß die Vorstellungen von Ursache und Wirkung keine Basis in den Erfahrungsgegebenheiten haben. Sollte man sie dann nicht besser Überhaupt aufgeben? Hume erkannte jedoch, daß die AuflÙsung der Annahme von Ursache-Wirkung-Beziehungen schwerwiegende le-

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benspraktische Bedeutung haben mÜßte und ließ demnach die Brauchbarkeit der Vorstellung von Ursache und Wirkung fÜr die gewÙhnliche Lebenspraxis zu: Hume ging es nicht darum, den unbezweifelbaren Zusammenhang von Ursache und Wirkung als Vorstellung zu leugnen. Eines jedoch muß klar sein: Diese Vorstellung beruht nicht selbst auf einer Erfahrung, sondern auf einer durch Erfahrungen hervorgerufenen Gewohnheit: So ist die Gewohnheit die große F¹hrerin im menschlichen Leben. Dieses Prinzip ist es allein, das unsere Erfahrung uns nutzbringend gestaltet und uns f¹r die Zukunft eine Kette gleichartiger Ereignisse erwarten l›ßt, wie die in der Vergangenheit aufgetretenen. Ohne den Einfluß der Gewohnheit blieben wir g›nzlich in Unwissenheit ¹ber jede Tatsache, die ¹ber das unmittelbar dem Ged›chtnis und den Sinnen Gegenw›rtige hinausreicht. Wir w¹rden niemals die Mittel den Zwecken anzupassen wissen, noch unsere nat¹rlichen Kr›fte zur Erzeugung irgend einer Wirkung anzuwenden verstehen. Es w›re auf einmal mit allem Handeln und mit dem besten Teil geistiger Arbeit vor¹ber. (Ebd. V, 1. S. 57 f.)

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Woher kommt aber die »Festigkeit und BestÇndigkeit« (Ebd. V, 2. S. 62) dieser Vorstellung, die »wesentlich ist zur Erhaltung aller menschlichen GeschÙpfe« (Ebd. S. 68)? Hume antwortet darauf mit dem Hinweis auf die »Übliche Weisheit der Natur«, die dies durch einen »Instinkt« sicherstellt: Es entspringt mehr der ¹blichen Weisheit der Natur, einen so notwendigen Akt des Geistes durch einen Instinkt oder eine mechanische Tendenz sicherzustellen; denn diese kann unfehlbar in ihrer Wirksamkeit sein, kann sich beim ersten Auftreten des Lebens und Denkens zeigen und unabh›ngig von all den m¹hsam erarbeiteten Deduktionen des Verstandes bleiben. (Ebd. S. 68 f.) Woher Hume allerdings etwas Über die »Weisheit der Natur« weiß, verrÇt er uns nicht - im Zusammenhang mit der Religionsphilosophie (vgl. weiter unten 5) betont er Ùfter, daß das ¾bel in der Welt kategorisch verhindert, von der Welt auf eine weise und gÜtige Ursache derselben zu schließen. FÜr die Annahme, daß die Welt eine leibnizsche »beste aller mÙglichen Welten« sei, besteht seiner Auffassung nach keinerlei BegrÜndung. Ist dann nicht aber auch die Rede von der »Weisheit der Natur« nichts anderes als ein durch Gewohnheit hervorgerufener instinktiver Glaube? - ZurÜck zu unserem Zusammenhang. Noch einmal: Woher kommt unsere ¾berzeugung, daß dieser Zusammenhang von Ursache und Wirkung der Natur selbst entspricht? Die Antwort Humes besteht in einer leibnizisch-rationalistischen Vorstellung, einer »prÇstabilisierten Harmonie«. Diese stellt fÜr Hume allerdings keine metaphysische Wahrheit dar, sondern auch wiederum »nur« eine nÜtzliche, lebenserhaltende Gewohnheit:

Bilanz der empiristischen Erkenntnistheorie

Wir finden hier also eine Art pr›stabilierter Harmonie zwischen dem Laufe der Natur und der Abfolge unserer Vorstellungen; und obgleich die Macht und die Kr›fte, welche den ersteren regieren, uns v³llig unbekannt sind, so haben doch unsere Gedanken und Vorstellungsbilder, wie wir sehen, dieselbe Bahn verfolgt wie die anderen Naturwerke. Die Gewohnheit ist dasjenige Prinzip, durch welches diese •bereinstimmung bewirkt wurde, die so notwendig ist zur Erhaltung unserer Art und zur Regelung unseres Verhaltens in allen Lagen und Vorkommnissen des menschlichen Lebens. (Ebd. S. 68) Unsere Vorstellung, daß die Welt nach Kausalgesetzen funktioniert und wir aufgrund dieser Gesetze Voraussagen machen kÙnnen, liefert also keine metaphysischen Wahrheiten, sondern stellt eine lebenspraktisch n¹tzliche Gewohnheit dar.

3. Bilanz der empiristischen Erkenntnistheorie Humes Fragestellung und die Fragen, die diese wiederum provozierten, waren maßgebend fÜr die weitere Geschichte der Philosophie bis in unsere Gegenwart hinein. Einige dieser Fragen seien hier kurz aufgefÜhrt. (1) Wenn wir aus Gewohnheit erwarten, daß bei bestimmten Çhnlichen PhÇnomenen (»Ursachen«) bestimmte andere Çhnliche Ereignisse (»Wirkungen«) eintreten, so heißt das noch nicht, daß die Erwartung selbst aus der Gewohnheit stammt. Das wÜrde zumindest erfordern, daß beim Entstehen der Erwartung immer eine bestimmte Anzahl von FÇllen vorliegt. Dies ist jedoch nicht der Fall, da wir Erwartungen einer RegelmÇßigkeit manchmal auch schon nach nur einem einzigen Fall haben kÙnnen. Darauf ließe sich allerdings sagen, daß wir dann nach einem assoziativen Analogieverfahren vorgehen, das auf der durch wiederholte FÇlle gewonnenen Gewohnheit beruht, damit aber bleibt wieder die Frage, woher wir denn die Erwartung von Analogien haben. Vor allem aber dÜrfte Humes Theorie der rein rezeptiven Erfahrung gar nicht stimmen. Erfahrung ist wie Wahrnehmung schon selektiv, d. h. die Çhnlichen FÇlle werden nicht rein als Çhnliche FÇlle wahrgenommen, sondern sie werden von uns als Çhnliche FÇlle »konstruiert«. Dies sei an Humes Beispiel »Brot« verdeutlicht: Bei einer Wahrnehmung, auf die wir das Wort »Brot« anwenden, ist schon eine Leistung des Denkens mit im Spiel, die bestimmte Eigenschaften aussondert, so sind hier z. B. die Gestalt, GrÙße und Farbe nebensÇchlich. Wir unterscheiden also faktisch bei der Identifizierung von GegenstÇnden doch wieder zwischen »wesentlichen« und »unwesentlichen« Eigenschaften, was wir aber eigentlich gar nicht mehr dÜrften. Ganz gleiche FÇlle gibt es nie, und die »’hnlichkeit«, auf deren Annahme Humes LÙsungsvorschlag basiert, ergibt sich nicht schon aufgrund der bloßen Wahrnehmung, in der ja unter Humes Voraussetzungen gar nicht zwischen »wesentlichen« und »unwesentlichen« Eigenschaften unterschieden werden kann. Mit anderen Worten: Wenn

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wir von »Wiederholung« sprechen, so ist das nicht einfach ein Ergebnis von Erfahrung, sondern setzt die Erwartung einer Wiederholung voraus, durch die erst die »Çhnlichen« FÇlle hergestellt werden. Dinge sind nicht »an sich«, sondern immer nur unter bestimmten Voraussetzungen, Erwartungen, Interessen usw. »Çhnlich«. Schon eine erste Wiederholung ist ohne Erwartung nicht mÙglich. Es ist demnach nicht denkbar, die Erwartung durch Wiederholung zu erklÇren, statt dessen mÜssen wir umgekehrt die Wiederholung durch Erwartung erklÇren. Damit ist natÜrlich noch nicht gesagt, was uns berechtigt, von einer Anzahl von unter einer bestimmten Erwartung erfolgten Erfahrungen darauf zu schließen, daß auch andere Erfahrungen unter dieser Erwartung bestimmte Ergebnisse bringen werden. Auch der spontane ¾bergang des zeitlichen Nacheinander »B nach A« zur Behauptung der UrsacheWirkung-Beziehung »B aufgrund von A« lÇßt sich aus einer rein rezeptiven Erfahrung nicht erklÇren. Man hat so den Eindruck, daß in der empiristischen Analyse der Erkenntnis doch irgendein unaufgeklÇrter Rest bleibt, der nicht einfach auf Erfahrung zurÜckgeht und der auch durch Gewohnheit nicht ausreichend erklÇrt werden kann. Oder anders gesagt: Es bleibt irgendwo etwas Übrig, wofÜr die Rationalisten eine bessere ErklÇrung geliefert hatten. Die RezeptivitÇt kann nicht alles an der Erfahrung erklÇren, es gibt auch eine spontane Funktion der Vernunft - dies sind die Fragen, die Kant aufgreifen wird. Der Versuch Kants, Empirismus und Rationalismus unter einer kritischen Fragestellung neu zu behandeln, war also eine Forderung, die sich sowohl aus dem Scheitern einer ausschließlich empiristischen Position als auch aus dem Scheitern einer ausschließlich rationalistischen Position ergab. Kant stellte dabei allerdings die Ausschließlichkeit der beiden Positionen, die es historisch so nie gegeben hatte, erst einmal her. (2) Es gibt empirisch wiederholt auftretende Erscheinungen (z. B. die Bestechlichkeit von Politikern), bei denen wir uns »weigern«, uns daran zu gewÙhnen, d. h. wir betrachten jeden Fall als Einzelfall, der sich nicht wiederholen sollte. Es scheint also keinen Automatismus zu geben, durch den wiederholte Erfahrungen zwangslÇufig die Vorstellung von Ursache und Wirkung hervorrufen. Wir haben also einen bestimmten Spielraum, etwas als Gewohnheit anzuerkennen oder abzulehnen. Und somit kann man die Frage stellen, ob es auch »gute« und »schlechte« durch Induktion gewonnene Gesetze gibt. Auch wenn man annimmt, daß es gar nicht die entscheidende Frage ist, ob wir eine solche RegelmÇßigkeit begr¹nden, sondern wie wir eine solche RegelmÇßigkeit - deren Vorhandensein vorausgesetzt wird - analysieren kÙnnen, ergibt sich die Frage, wann wir von »guten« induktiv gewonnenen Gesetzen sprechen kÙnnen. Mit anderen Worten: Welche Modelle brauchen wir, um feststellen zu kÙnnen, wann eine solche RegelmÇßigkeit zuverlÇssig ist, und welche logische Struktur hat die Anwendung einer solchen RegelmÇßigkeit? Dies war der Ausgangspunkt fÜr die Fragen der »induktiven Logik«, die seit der Diskussion zwischen Rudolf Carnap und Karl Popper zu den großen Themen der Wissenschaftstheorie des 20. Jhd.s gehÙren.

Bilanz der empiristischen Erkenntnistheorie

(3) Von seiten des Rationalismus kann gegen Hume ein wichtiger Einwand erhoben werden: Mit seinem Verweis auf die Gewohnheit, kann er (vielleicht) die Entstehung der ¾berzeugung von Naturgesetzen erklÇren, er hat damit jedoch nicht die Geltung derselben begrÜndet. Aber genau dies war die Ausgangsfrage seiner Untersuchung Über den menschlichen Verstand. Dies wÇre also der Einwand der Verwechslung von Genese und Geltung, und das hieße (in humescher Terminologie): Hume hÇtte, so wie er eine Naturgeschichte der Religion geschrieben hat, eigentlich nur eine »Naturgeschichte der Naturgesetze« vorgelegt. Nehmen wir an - was m. E. berechtigt ist -, daß Hume diese Problematik bewußt gewesen ist, er aber mit dem Hinweis auf die Gewohnheit alles sagen wollte, was er sagen konnte, so mÜßte sich daraus ergeben, daß die Unterscheidung von Genese und Geltung in Hinsicht auf die Naturgesetze als nicht letztgÜltig anzusehen wÇre. Und damit wÇren wir auf dem Weg zur Wissenschaftsauffassung von Peirce und der wissenschaftstheoretischen Richtung des Pragmatismus. Peirce versuchte tatsÇchlich, Über die Unterscheidung von Genese und Geltung einer ¾berzeugung hinauszugelangen und war auch der Auffassung, daß die entscheidenden Fragen der Wissenschaftstheorie in einer »Naturgeschichte der Naturgesetze« gestellt und beantwortet werden kÙnnten. Daß damit die Frage nach der BegrÜndung von Naturgesetzen nicht hinter der nach ihrer Entstehung »verschwindet«, wird sich noch zeigen (vgl. Kap. XXIV, 2 und 3). (4) Die Rationalisten hatten als Modell der Erkenntnis mathematische Wahrheiten angesetzt. Locke und Hume hingegen gehen von jener Erkenntnis aus, welche die Menschen im alltÇglichen Leben und in der alltÇglichen Praxis vorfinden. Daß hier Grenzen der Erkenntnis vorliegen, ist von vornherein klar. Damit erhÇlt hier die Wahrscheinlichkeit eine große und geradezu prinzipielle Bedeutung. Hume stellt fest: Unsere Vernunft muß als eine Art Ursache angesehen werden, deren nat¹rliche Wirkung die Wahrheit ist; zugleich aber m¹ssen wir annehmen, diese Wirkung k³nne verm³ge der Dazwischenkunft anderer Ursachen und der Unbest›ndigkeit in der Funktion unserer geistigen Kr›fte gelegentlich vereitelt werden. Damit schl›gt alles Wissen in bloße Wahrscheinlichkeit um. Diese Wahrscheinlichkeit ist gr³ßer oder geringer, je nach unseren Erfahrungen ¹ber die Zuverl›ssigkeit oder Tr¹glichkeit unseres Verstandes und je nach der Einfachheit oder Schwierigkeit der Frage, um die es sich handelt. (Ein Traktat ¹ber die menschliche Natur I, Teil 4, 1. Abschnitt. I. S. 241) Auch hier stehen wir an der Wurzel entscheidender Fragen der Philosophie der Gegenwart: Sollen wir von einer »Philosophie der idealen Sprache« oder von einer »Philosophie der normalen Sprache« ausgehen? Und: Sollen wir mit »Wahrheit« oder mit »Wahrscheinlichkeit« beginnen?

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4. Sittlichkeit und Rechtsordnung ZunÇchst einmal stellt Hume deutlich das Scheitern des rationalistischen Ethikprogramms fest: Gewisse Philosophen nun haben sehr eifrig die Ansicht verbreitet, daß Sittlichkeit ein m³glicher Gegenstand der [demonstrativen] Erkenntnis sei. Obgleich niemand in dieser demonstrativen Erkenntnis des Sittlichen je einen Schritt vorw›rts getan hat, gilt es ihnen ausgemacht, daß dieselbe die gleiche Gewißheit erreichen k³nne wie Algebra und Geometrie. (Ein Traktat ¹ber die menschliche Natur III, Teil 1, 1. Abschnitt. II. S. 204)

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Die Voraussetzung einer solchen rationalistischen Auffassung ist die Annahme, »es gebe ewig gÜltige Unterschiede des Seinsollenden und Nichtseinsollenden in den Dingen, die fÜr jedes vernÜnftige Wesen, das Über sie nachdenke, dieselben seien« (Ebd. S. 197). Dies mÜßte aber - aus empirischer Sicht - selbst wieder empirisch nachgewiesen werden, und damit ist man wieder bei der Frage der Induktion. Die Frage ist aber nicht nur, ob es solche unverÇnderlichen sittlichen Vernunftnormen gibt, sondern schon viel allgemeiner die, ob die Vernunft Überhaupt das sittliche Handeln bestimmt. Dies ist fÜr Hume keine normative Frage, d. h. er fragt nicht: »Soll die Vernunft die Handlungen bestimmen?«, sondern: »Bestimmt die Vernunft die Handlungen?«. Hume will also von Anfang an keine normative Ethik vorlegen, sondern eine empirisch-deskriptive Untersuchung Über das sittliche Bewußtsein. Eine solche Wissenschaft beschreibt nicht nur einzelne Ereignisse und Handlungen, sondern kann auch - unter den generellen EinschrÇnkungen der Geltung solcher Aussagen - Verallgemeinerungen durchfÜhren. Die Frage ist allerdings, ob solche deskriptiven Aussagen in irgendeiner Weise fÜr das verwendet werden kÙnnen, was wir und auch die Menschen zur Zeit Humes unter »MoralitÇt« verstehen. Es ist heute jedem gelÇufig, daß wir uns vor dem »naturalistischen Fehlschluß«, der von Ist-Aussagen zu Soll-Aussagen Übergeht, hÜten mÜssen, und gewÙhnlich wird noch dazu bemerkt, daß Hume es war, der als erster deutlich vor diesem Fehlschluß gewarnt hat. Der berÜhmte Text lautet: In jedem Moralsystem, das mir bisher vorkam, habe ich immer bemerkt, daß der Verfasser eine Zeitlang in der gew³hnlichen Betrachtungsweise vorgeht, das Dasein Gottes feststellt oder Beobachtungen ¹ber menschliche Dinge vorbringt. Pl³tzlich werde ich damit ¹berrascht, daß mir anstatt der ¹blichen Verbindungen von Worten mit ist und ist nicht kein Satz mehr begegnet, in dem nicht ein sollte oder sollte nicht sich f›nde. Dieser Wechsel vollzieht sich unmerklich; aber er ist von gr³ßter Wichtigkeit. Dies sollte oder sollte nicht dr¹ckt eine neue Beziehung oder Behauptung aus, muß also notwendigerweise beachtet und erkl›rt werden. (Ebd. S. 211)

Sittlichkeit und Rechtsordnung

Hier scheint auf den ersten Blick tatsÇchlich beabsichtigt zu sein, den naturalistischen Fehlschluß auszuschließen. Der Zusammenhang zeigt jedoch, daß es Hume dabei nicht um das ging, was heute mit einer Kritik des »naturalistischen Fehlschlusses« gemeint ist, d. h. um die Feststellung oder Behauptung, daß Sollens-Aussagen niemals aus Seins-Aussagen abgeleitet werden kÙnnen. Hume fÇhrt nÇmlich fort: Gleichzeitig muß ein Grund angegeben werden f¹r etwas, das sonst ganz unbegreiflich scheint, n›mlich daf¹r, wie diese neue Beziehung zur¹ckgef¹hrt werden kann auf andere, die von ihr ganz verschieden sind. (Ebd.) Das bedeutet, daß Hume zwar die Verschiedenheit der beiden Bereiche anerkennt, aber nicht deren Trennung fordert, sondern die Angabe des Grundes, der einer Beziehung der beiden Bereiche zugrunde liegt, falls man eine solche Beziehung annimmt. Er kritisiert mithin an seinen VorgÇngern nicht den ¾bergang als solchen, sondern die mangelnde BegrÜndung desselben. Hume selbst stellt sich jedoch dann gar nicht die Aufgabe zu fragen, ob eine solche Beziehung Überhaupt besteht, und, wenn ja, wie eine BegrÜndung fÜr einen solchen ¾bergang aussehen kÙnnte, sondern beschrÇnkt sich auf eine deskriptive Untersuchung des moralischen Verhaltens, und dazu gehÙrt auch die Frage nach dem empirisch feststellbaren Ursprung des moralischen Urteils. Das, was wir heute »Deontologie« oder die »Logik imperativischer SÇtze« nennen, ist also Überhaupt nicht ein Problem Humes. Hume stellt also als erste Frage die nach dem Ursprung moralischen Handelns. Seiner Auffassung nach [...] kann die Vernunft im eigentlichen und philosophischen Sinne unser Handeln nur in zweierlei Weise beeinflussen. Entweder sie ruft einen Affekt ins Dasein, indem sie uns ¹ber die Existenz eines seiner Natur entsprechenden Gegenstandes belehrt; oder sie zeigt uns die Mittel, irgendeinen Affekt zu bet›tigen, indem sie den Zusammenhang von Ursache und Wirkungen aufdeckt. (Ebd. S. 199 f.) Entscheidend ist in jedem Fall nicht die TÇtigkeit der Vernunft, sondern der vorliegende Affekt. In diesem Zusammenhang spricht er von »GefÜhl« als dem Ursprung sowohl des sittlichen Handelns als auch des sittlichen Urteils. »GefÜhl« steht bei Hume vor aller begrifflichen KlÇrung zunÇchst einmal fÜr die Ablehnung der rationalistischen Gegenposition, in der behauptet wird, die Menschen ließen sich in ihrem Verhalten und in der Beurteilung des eigenen wie des fremden Verhaltens vor allem von der Vernunft leiten. »GefÜhl« darf hier jedoch nicht mit dem deutschen subjektivistischen Unterton verstanden werden, sondern in dem mehr Allgemeinheit beinhaltenden Sinne des englischen sentiment (im Unterschied zu feeling). Hume will sagen, daß es in der menschlichen Natur bestimmte konstante Affekte gibt, auf denen unsere sittlichen Urteile beruhen:

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David Hume

Sittlichkeit wird also viel mehr gef¹hlt als beurteilt. (Ebd. III, Teil 1, 2. Abschnitt. II. S. 212) Da es sich um Vorstellungen handelt, ist eine Erfahrungsbasis erforderlich, jedoch nicht unbedingt eine gegenwÇrtige Erfahrung. Auch erinnerte oder bloß vorgestellte Handlungen rufen Affekte hervor. Das sittliche Urteil bildet sich an bestimmten Erfahrungen, die mit Gef¹hlen der Lust oder Unlust verbunden sind; wird ein solcher Gegenstand aktueller oder mÙglicher Erfahrung vorgestellt, erweckt seine Vorstellung entsprechend Behagen oder Unbehagen. Das sittliche Urteil ist also kein Schluß, sondern eine unmittelbar gef¹hlte Zustimmung: Wir fragen nicht erst weiter nach der Ursache dieser Befriedigung; wir schließen nicht daraus, daß ein Charakter uns erfreut, daß er tugendhaft sei, sondern, indem wir f¹hlen, daß er uns in einer bestimmten Weise erfreut, f¹hlen wir eben damit, daß er tugendhaft ist. (Ebd. S. 213) Grundlegend fÜr Handlungen wie auch fÜr die Beurteilung derselben sind also die Affekte, alles andere ist nach Hume nur eine SelbsttÇuschung: 280

Wir dr¹cken uns nicht genau und philosophisch aus, wenn wir von einem Kampf zwischen Affekt und Vernunft reden. Die Vernunft ist nur der Sklave der Affekte und soll es sein; sie darf niemals eine andere Funktion beanspruchen, als die, denselben zu dienen und zu gehorchen. (Ebd. II, Teil 3, 3. Abschnitt. II. S. 153) Es ist nun klar, daß jemand Behagen und Unbehagen fÜhlt, soweit das Vorgestellte oder das durch eine Handlung Hergestellte ihm nÜtzt: Die Affektkonstante, von der Hume zunÇchst ausgeht, ist die Selbstliebe. Die Frage ist nur, ob diese Selbstliebe der einzige Faktor des sittlichen Handelns ist. Mit dieser Frage tritt Hume in eine große Diskussion seiner Zeit ein: Hobbes und - jedenfalls dem VerstÇndnis Humes nach - Locke vertraten die Auffassung des sogenannten »moralischen Egoismus«, wÇhrend Shaftesbury (1671–1713; der Enkel des Shaftesbury, dem wir bei Locke begegnet sind) und andere meinten, es gebe einen ebenso ursprÜnglichen Affekt, der die Menschen zum Altruismus bewege. Hume erfaßte klar, daß es mit der Theorie des moralischen Egoismus durchaus mÙglich ist, eine Gesellschaftsordnung zu begrÜnden, in der dann Gerechtigkeit und sogar Altruismus geÜbt und sittlich anerkannt werden (Ebd. S. 155 f.). Diese Klarstellung war wichtig, weil dadurch die damals Üblichen VorwÜrfe gegen den moralischen Egoismus ausgerÇumt wurden. Da dies trotz der klaren Analyse Humes manchen bis heute immer noch nicht klar ist, sei nochmals festgestellt: Bei der Diskussion um den moralischen Egoismus und den moralischen Altruismus geht es nicht um die Frage, ob jemand eine »egoistische« oder eine »altruistische« Gesellschaft wÜnscht, sondern einzig um die Frage, wie

Sittlichkeit und Rechtsordnung

eine Gesellschaft, in der es neben den unbestreitbaren egoistischen Antrieben auch Gerechtigkeit und Wohltun fÜr andere gibt, begrÜndet wird. Dies ist nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch relevant: MÙglicherweise sind nÇmlich gesellschaftliche Maßnahmen, die jedenfalls implizit an den Egoismus appellieren, fÜr Gerechtigkeit und Wohltun effizienter als reine Appelle an die NÇchstenliebe. - Nichtsdestoweniger stellte sich Hume nicht auf die Seite dieser Theorie, sondern versuchte nachzuweisen, daß es neben egoistischen auch, wenn auch schwÇchere, ebenso ursprÜngliche altruistische Affekte und entsprechend auch altruistische Beurteilungen von Handlungen gibt. Die verschiedenen GrÜnde, die Hume fÜr seine Auffassung anfÜhrt, sind nicht unbedingt Überzeugend. ¾brigens war Hume als Empiriker durchaus Überzeugt, daß die egoistischen Motive Überwiegen: Die Handlungen der Menschen sind bestimmt durch »Selbstsucht und [...] begrenzte Großmut« (Ebd. III, Teil 2, 2. Abschnitt. II. S. 242). Die Diskussion Über den moralischen Egoismus und den moralischen Altruismus wird sicher noch weitergehen. Nimmt man an, daß eigentlich nur entscheidend ist, daß Gerechtigkeit und Wohlwollen, also Altruismus, geÜbt werden, ist die Frage nach der ErklÇrung desselben vielleicht sekundÇr. Geht man mit Hume einmal davon aus, daß das Eigeninteresse vom Einzelnen gar nicht ohne den Einbezug der Interessen der Anderen verwirklicht werden kann, so verliert der bisher besprochene Gegensatz seine SchÇrfe. Der Ausgangspunkt der ¾berlegung Humes ist ganz einfach: Die Menschen benÙtigen zum ¾berleben GÜter, die sie als Einzelne kaum oder nur in unzureichendem Maße herstellen kÙnnen. Soweit handelt es sich um eine Art Naturordnung. Die Entstehung der Gesellschaft liegt also - anders als in der Auffassung von Locke - schon vor irgendeinem Gesellschaftsvertrag. Das Problem ergibt sich nach Hume einfach daraus, daß die Einzelnen versuchen, einen mÙglichst großen Teil dieser GÜter fÜr sich zu erhalten. Hier ist nun der Ort der Entstehung der Rechtsordnung. Der erste Schritt zu einer Rechtsordnung ist die Anerkennung von Eigentum. Dies geht allerdings nicht mehr ohne irgendeine - mehr implizite als explizite - Form eines Vertrags. Eine daraus entstehende Rechtsordnung ist vorteilhaft fÜr jeden einzelnen und bemißt sich an diesem Vorteil. Sie hat ihre Geltung in einem »wechselseitigen EinverstÇndnis« (Ebd.), d. h. durch das Bewußtsein des gemeinsamen Nutzens, das bei allen vorhanden ist. Hume geht zunÇchst von kleinen Einheiten von Interessengemeinschaften aus: Ich sehe, es liegt in meinem Interesse, einen anderen im Besitz seiner G¹ter zu lassen, vorausgesetzt, daß er in gleicher Weise gegen mich verf›hrt. Er seinerseits ist sich eines gleichen Interesses bei der Regelung seines Verhaltens bewußt. Wird dies Bewußtsein eines gleichartigen Interesses wechselseitig kundgegeben, ist es also beiden bekannt, so erzeugt es ein entsprechendes Wollen und Verhalten. Und dies kann f¹glich eine •bereinkunft oder ein wechselseitiges Einverst›ndnis genannt werden. (Ebd. S. 233)

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Die gemeinsamen Interessen bestehen allerdings in nichts anderem als in der Erfahrung, daß dies den eigenen Interessen am ehesten entspricht. Der Spielraum, der dadurch erÙffnet wird, ist jedoch der Auffassung Humes nach verhÇltnismÇßig groß. Es gibt nach Hume sogar die MÙglichkeit zu sehen, daß eine »beschrÇnkte Großmut« (Ebd. II. S. 239) durchaus den Regeln der Klugheit entsprechen kann. Hume meint, daß, primÇr aus Selbstliebe, allmÇhlich alle Rechtsnormen entstehen: In Wahrheit ist Selbstliebe ihr [d. h. der Rechtsnormen] Ursprung; und da die Selbstliebe des einen der des anderen entgegensteht, so m¹ssen sich die verschiedenen Affekte der Interessenten so ausgleichen, daß sie in ein System des Verhaltens und der Lebensf¹hrung sich zusammenschließen k³nnen. Dies System, das das Interesse jedes Individuums umfaßt, ist nat¹rlich dem allgemeinen Wohl g¹nstig, so gewiß dies von den Erfindern nicht beabsichtigt wurde. (Ebd. III, Teil 2, 6. Abschnitt. II. S. 278) Die Menschen erkennen jedoch, daß ihnen die Einhaltung der Rechtsnormen Gewinn bringt unter der Voraussetzung, daß auch die anderen dasselbe tun. Dies fÜhrt zu einem GefÜhl der WertschÇtzung des Gemeinwohls: 282

So ist Eigennutz das urspr¹ngliche Motiv zur Festsetzung der Rechtsordnung, aber Sympathie f¹r das Allgemeinwohl ist die Quelle der sittlichen Anerkennung, die dieser Tugend gezollt wird. (Ebd. III, Teil 2, 2. Abschnitt. II. S. 243 f.) Die Befolgung der Rechtsordnung verbinden die Menschen dann mit der Vorstellung der Tugend, die ¾bertretung der Rechtsordnung mit der Vorstellung des Unrechts (Ebd. S. 233). Hier liegt auch der Ursprung des GefÜhls, welches das moralische Urteil begrÜndet: Der erfahrene Nutzen ruft Befriedigung und Zustimmung hervor, und dies wiederum beeinflußt die weiteren eigenen Handlungen wie auch die Beurteilung der Handlungen der anderen. Hume fÜhrte also die Rechtsordnung ein, ohne schon auf Sanktionen zu rekurrieren. Er stellte einfach fest, daß eine Rechtsordnung nur dann funktioniert, und das heißt auch: nur dann GÜltigkeit hat, wenn alle daraus erfahrbaren Nutzen ziehen. Bis zu diesem Punkt ist noch nicht von ¾bertretungen und Strafen die Rede. Die Auffassung von Hobbes war hier eine andere: Die Respektierung des Eigentums der anderen ist ohne Strafandrohung - und somit ohne Staat - gar nicht mÙglich. Locke wiederum hatte angenommen, daß jeder Einzelne schon vor der Existenz des Staates das Recht hatte, den anderen bei Verletzung des Eigentums zu bestrafen. Hume hingegen meinte, daß das wechselseitige EinverstÇndnis im Prinzip genÜge. Ganz ohne Sanktionen kommt jedoch auch Hume nicht aus, nur sind sie bei ihm etwas »sublimiert«: Es gibt »Ùffentliches Lob« und »Ùffentlichen Tadel«, welche die Orientierung an der Rechtsordnung unterstÜtzen sollen, da Lob Befriedigung, Tadel aber UnlustgefÜhle hervorruft (Ebd. S. 244). Die Regeln, welche die gesellschaftliche

Sittlichkeit und Rechtsordnung

Ordnung aufrechterhalten, werden durch Erziehung verstÇrkt und Lob und Tadel durch solche vorgegebenen und durch Erziehung eingeÜbten Affekte so »interiorisiert«, daß sich das ergibt, was wir dann »Gewissen« nennen, d. h. ein GefÜhl, das Handlungen beurteilt. Das Gemeinwohl als nÜtzlich fÜr das Eigeninteresse zu verstehen, d. h. im Sinne des Gemeinwohls fÜhlen zu lernen, ist die Aufgabe der Erziehung (Ebd.). Hume vertraute der durch individuelle Erziehung hervorgebrachten Klugheit, d. h. dem GefÜhl, daß Rechtschaffenheit nÜtzlich ist, mehr als der durch die Macht der Regierung und durch Mechanismen der Furcht durchgesetzten Rechtsordnung. Der appellative Charakter der Rechtsordnung an den Einzelnen muß funktionieren, sonst verliert die Rechtsordnung ihre NÜtzlichkeit und ihre FunktionsfÇhigkeit. Dies ist ein staatstheoretisches Minimalprogramm, aber nicht unbedingt das schlechteste: Es scheint eine empirisch nachweisbare Tatsache zu sein, daß dort, wo das moralische GefÜhl oder das Gewissen nicht mehr funktioniert, auch die staatlichen Sanktionen an Grenzen gelangen. Eine Ordnung der Gesellschaft ist nach Hume schon vor der EinfÜhrung des Staates gegeben, und seiner Auffassung nach »ist Gesellschaft ohne Regierung einer der natÜrlichsten ZustÇnde der Menschheit« (Ebd. III, Teil 2, 8. Abschnitt. II. S. 291). Der Staat ist nichts anderes als ein Notbehelf, der erforderlich wird, wenn die Gesellschaft zu groß wird: Obgleich die Regierung (oder Staatsgewalt) eine sehr n¹tzliche und f¹r die Menschheit unter Umst›nden sogar absolut notwendige Erfindung ist, so ist sie doch nicht unter allen Umst›nden notwendig. Es ist den Menschen nicht unm³glich, die Gesellschaft eine Zeit lang zu erhalten, ohne zu dieser Erfindung ihre Zuflucht zu nehmen. (Ebd. S. 289) Um den Nutzen der Erfindung des Staates aufzuzeigen, analysiert Hume wiederum Affekte: Die Menschen mÙgen auch durchaus an der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung, also dem Allgemeinwohl interessiert sein, wenn aber ein unmittelbarer Nutzen bei einer ¾bertretung einen starken affektiven Anreiz bietet, werden sie dahin tendieren, diesem zu folgen (Ebd. III, Teil 2, 7. Abschnitt. II. S. 284 f.), wenn nicht ein anderer Affekt dem entgegensteht. Es muß »fÜhlbare« Vorteile und Annehmlichkeiten geben, die eine genÜgend starke Motivation zur Einhaltung der Regeln liefern. Da die Nicht-Einhaltung der Regeln der Gesellschaft wiederum Schaden hervorruft, und außerdem hÇufig in EinzelfÇllen Streit darÜber entsteht, was denn genau die Einhaltung der Regeln fordert, wird als Abhilfe der Staat erfunden: Aus diesen beiden Dingen, Ausf¹hrung des Rechtes und Entscheidung ¹ber dasselbe, ziehen die Menschen den Vorteil der Sicherheit gegen die eigene und fremde Schw›che und Leidenschaft. Unter dem Schutz ihrer Regierung fangen sie an, die Annehm-

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lichkeiten der Gesellschaft und der gegenseitigen Hilfeleistung in Ruhe zu genießen. (Ebd. S. 287) Hume nimmt nicht an, daß zur Entstehung des Staates und einer Regierung ein ausdrÜcklicher oder stillschweigender Vertrag erforderlich ist (Ebd. S. 299). Daß eine Regierung die Zustimmung des Volkes erlangen kann, schließt Hume nicht aus, und er hÇlt dies auch fÜr die beste Grundlage derselben, die eigentliche Legitimation einer Regierung ergibt sich aber aus der ErfÜllung ihres Zweckes, und genau darin liegt auch die Grenze ihrer Legitimation. ErfÜllt eine Regierung diese Funktion nicht, verliert sie ihre RechtmÇßigkeit, ohne daß irgendein Vertrag der BÜrger aufgekÜndigt werden mÜßte (Ebd. III, Teil 2, 9. Abschnitt. II. S. 303).

5. Das Uhrmacherargument

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Im Mittelalter wurde Gott dort, wo man die Welt nach Zahl und Maß geordnet sah, gerne als Geometer vorgestellt, so z. B. bei Grosseteste (vgl. 2. Teil, Kap. XII, 1). Seit der Erfindung mechanischer Uhren (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 2) lag es nahe, die Welt mit einer komplizierten Uhr zu vergleichen. Das Bild des Kosmos als Uhr wurde im 17. Jhd. hÇufig gebraucht. Und so lag es nahe, von der kunstvollen Uhr auf einen intelligenten Uhrmacher zu schließen. ¾ber die Funktion dieses Uhrmachers waren sich Newton und Leibniz in ganz grundsÇtzlicher Weise nicht einig, aber beide verwendeten diese Metapher (vgl. 3. Teil, Kap. X, 2). In der einen oder anderen Weise stellte der sogenannte »physico-theologische« Beweis das zentrale Argument der philosophischen Theologie im 17. und 18. Jhd. dar. Es war geradezu ein Lieblingsargument der AufklÇrung und blieb dies noch lange Zeit. Auch Hume kannte das Argument (Dialoge Über natÜrliche Religion II. S. 23 f.): Aus der erfahrbaren Ordnung der Dinge wird geschlossen, daß »das Universum nicht ursprÜnglich seine Ordnung und Gestaltung ohne etwas menschlicher Kunst ’hnliches erreichen« kann (Ebd. S. 27). Der Vergleichspunkt ist also die kunstvolle Anordnung des Universums. Das Argument stellt einen Kausalschluß dar, dessen genauere Analyse dann entsprechend dem weiter oben unter 2. AusgefÜhrten geschehen muß. FÜr die GÜltigkeit eines solchen Kausalschlusses wÇre eine wiederholte beobachtbare Folge »in regelmÇßigem Zusammenhang« (Eine Untersuchung Über den menschlichen Verstand XI. S. 173) - von Ursache und Wirkung erforderlich; Über einmalige FÇlle kÙnnen wir Überhaupt nichts aussagen: Kommt aber eine Wirkung vor, die ganz einzigartig ist und in keine bekannte Gattung eingeordnet werden kann, so darf nach meiner Ansicht ¹ber ihre Ursache ¹berhaupt keine Vermutung oder Ableitung gebildet werden. (Ebd. S. 173)

Das Uhrmacherargument

Genau dies ist aber bei der Beziehung von Welt und Gott der Fall: Die in der gÙttlichen Hervorbringung der Welt behauptete Ursache-Wirkung-Beziehung lÇßt sich in keinerlei regelmÇßigen Zusammenhang einordnen, da wir Überhaupt keine anderen FÇlle derselben Gattung kennen. Angewendet auf das Uhrmacher-Argument bedeutet dies: FÜr die Behauptung, daß die Welt wie ein Uhrwerk hervorgebracht wurde, haben wir keinerlei Vergleichsbasis: Wie aber dieser Beweis statthaben kann, wo die Gegenst›nde, wie in dem vorliegenden Fall, einzigartig, individuell, ohne Parallele oder spezifische hnlichkeit sind, ist schwer zu erkl›ren. Will irgend jemand mir mit ernster Miene sagen, daß ein geordnetes Universum aus einem Denken und einer Kunst ›hnlich der menschlichen entspringen m¹sse, weil wir davon Erfahrung haben? Um diese Folgerung zu sichern, w›re erforderlich, daß wir von der Entstehung von Welten Erfahrung haben; auf keinen Fall reicht es aus, daß wir Schiffe und H›user aus menschlicher Kunst und Erfindung haben entspringen sehen. (Dialoge II. S. 28) Hume stellt darÜber hinaus aber fest, daß das Argument schon aufgrund seiner inhaltlichen Basis nicht haltbar ist. Die Welt enthÇlt nÇmlich nicht nur Ordnung, sondern auch ein nicht unerhebliches Maß an Unordnung, ¾bel und BÙsem. Der Schluß kÙnnte also keinesfalls zu dem guten Gott fÜhren, wie er im Argument vorausgesetzt wird (Eine Untersuchung Über den menschlichen Verstand XI. S. 166). Die Welt ist in ihrer natÜrlichen wie in ihrer gesellschaftlichen RealitÇt alles andere als die beste aller mÙglichen Welten, wie Leibniz - der von Hume ausdrÜcklich mit seiner »paradoxen Meinung« apostrophiert wird - behauptet hatte (Dialoge X. S. 80). Alle diese Fragen diskutiert Hume in seinen Dialogen Über natÜrliche Religion. Dieses Werk ist nicht lange nach der Untersuchung Über den menschlichen Verstand entstanden (in den fÜnfziger Jahren), Hume verÙffentlichte es zwar auf den Rat von Freunden aus der schottischen anglikanischen Kirche nicht, gab es aber in seinem Testament zur VerÙffentlichung frei. Die Dialoge stellen keineswegs eine Gelegenheitsarbeit von nebensÇchlicher Bedeutung dar, Hume hat offensichtlich auch auf die sprachliche Form dieser Arbeit viel MÜhe verwendet. In den Dialogen werden die drei Grundpositionen der Zeit Humes durch die drei Teilnehmer reprÇsentiert: Cleanthes vertritt die natÜrliche philosophische Theologie, Demea (von griech. dÞmos = »Volk«?) die Offenbarungstheologie und Philo den Skeptiker. Demea zieht sich schon vor dem Ende der Dialoge zurÜck, womit Hume seine Auffassung klar zum Ausdruck bringt: Die Offenbarungstheologie scheidet aus der Diskussion aus. Philo bringt gegen die natÜrliche Theologie alle jene skeptischen Argumente vor, die Hume auch in der Untersuchung Über den menschlichen Verstand verwendet hatte. Gegen Ende der Dialoge lÇßt Hume aber den Skeptiker Philo mit ausdrÜcklicher Bezugnahme auf das kopernikanische System sagen:

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Und so leiten uns fast alle Wissenschaften unmerklich zur Anerkennung eines ersten intelligenten Urhebers, und ihr Gewicht ist um so gr³ßer, als sie nicht direkt auf diese Absicht ausgehen. (Dialoge XII. S. 106) Und Cleanthes bestÇtigt selbstverstÇndlich erfreut diese »Einsicht«: Der Vergleich des Weltalls mit einer Maschine menschlicher Erfindung ist so naheliegend und nat¹rlich und durch so viel F›lle von Ordnung und Absicht in der Natur gerechtfertigt, daß er jeder vorurteilsfreien Auffassung unmittelbar einleuchten und allgemeine Zustimmung gewinnen muß. (Ebd. S. 107 f.) Also wieder das Uhrmacherargument. Und Philo bestÇtigt dies ausdrÜcklich: Daß die Werke der Natur große hnlichkeit mit den Erzeugnissen der Kunst aufweisen, liegt auf der Hand; und nach allen Regeln richtigen Schließens [!] m¹ssen wir folgern (wenn wir ¹berhaupt Er³rterungen dar¹ber anstellen), daß die Ursachen entsprechende hnlichkeit haben. (Ebd. S. 108) 286

Ist Philo - und somit eigentlich auch Hume - ein bekehrter Skeptiker, der dann keinerlei Zweifel mehr hat? Warum aber sollte der Skeptiker bekehrt werden, wenn doch die Argumente des Vertreters der natÜrlichen Religion in den Dialogen um nichts besser geworden sind als jene, mit denen Hume sich in der Untersuchung Über den menschlichen Verstand auseinandergesetzt hatte? Daß Hume-Interpreten an diesem Punkt in grÙßte Schwierigkeiten der Auslegung geraten, braucht nicht betont zu werden. Es wurde auch gelegentlich versucht, eine subtile Dialektik zwischen philosophischer Theologie und Skeptizismus als die eigentliche Auffassung Humes zu finden. Aus den Dialogen geht das nicht so recht hervor, dort ist der Vertreter der philosophischen Theologie eigentlich immer in der Defensive. Am Schluß wird die natÜrliche Theologie auf den zugegebenermaßen »zweideutigen« und »unbestimmten« Satz zurÜckgenommen, »daß die Ursache oder Ursachen der Ordnung im Weltall wahrscheinlich einige entfernte ’hnlichkeit mit menschlicher Intelligenz haben« (Ebd. S. 120). Der Skeptiker Philo hingegen bekennt sich zu einer philosophischen Theologie, die weit Über das hinausgeht, wozu er seinen Gegner durch seine kritischen EinwÇnde gefÜhrt hat. Es kommt aber noch massiver. Obwohl der Vertreter der Offenbarungsreligion sich bereits verabschiedet hat, lÇßt Hume Philo dann fortfahren: Aber glaubt mir, Cleanthes, das nat¹rlichste Gef¹hl, das ein wohlgestimmtes Gem¹t bei dieser Gelegenheit empfinden wird, ist ein sehns¹chtiges Verlangen und Hoffen, daß es dem Himmel gefallen m³ge, [unsere] tiefe Unwissenheit zu beheben oder doch zu mildern, indem er dem Menschen eine genauere Offenbarung zukommen lasse

Das Uhrmacherargument

und Enth¹llungen ¹ber die Natur, Eigenschaften und T›tigkeiten des g³ttlichen Gegenstandes unseres Glaubens mache. (Ebd. S. 121) Kriterien, an denen man eine wahre Offenbarung erkennen kÙnnte, liefert Hume in den Dialogen nicht. Und damit der Leser nicht vergißt, daß es der Skeptiker Philo ist, der so spricht, erinnert uns dieser: Philosophischer Skeptiker zu sein ist bei einem Gelehrten der erste und wesentlichste Schritt auf dem Weg zu einem echten gl›ubigen Christen. (Ebd.) Eigentlich lÇßt uns Hume kaum einen Spielraum der Interpretation: Zum Abschluß stellt er fest, »daß Philos GrundsÇtze wahrscheinlicher sind als Demeas, daß aber die des Cleanthes der Wahrheit noch nÇher kommen« (Ebd. S. 122). Es mÜssen hier zahlreiche Fragen offen bleiben. GlÜcklicherweise gehÙrt es nicht zu den Aufgaben des Philosophiehistorikers, die persÙnliche Haltung der Philosophen herauszufinden. So wie wir bei Boethius die Frage offen lassen konnten und mußten, ob er am Ende seines Lebens noch Christ war, so kÙnnen wir bei Hume die Frage offen lassen, ob er im Laufe seines Lebens doch noch AnhÇnger der natÜrlichen Theologie (vgl. auch Die Naturgeschichte der Religion. S. 1) oder sogar Christ geworden ist. Sollte dies der Fall gewesen sein, dann mÜssen wir jedenfalls feststellen, daß er uns irgendwelche GrÜnde fÜr eine solche Entscheidung nicht mitgeteilt hat. Die Kritik an der philosophischen Theologie in der Untersuchung Über den menschlichen Verstand, die auch in den Dialogen wiederholt wird, ist an keinem Punkt durch eine Gegenkritik entkrÇftet worden. Vielleicht haben wir aber einfach die literarische Gattung der Dialoge nicht richtig verstanden. Man kÙnnte diese Schrift auch rein deskriptiv auffassen, genauso wie seine deskriptive Moralphilosophie, d. h. als eine faktische Darstellung der Dinge aus der Sicht Humes zu seiner Zeit: Die Skeptiker mÙgen noch so gute GrÜnde gegen Offenbarungsglauben und natÜrliche Theologie haben, am Schluß bleibt ihnen doch nichts anderes Übrig, als sich zu einer physico-theologischen oder offenbarungs-theologischen Auffassung zu bekennen, welche die Gesellschaft vorschreibt. Der Skeptizismus ist fÜr Hume ohnedies eher ein Schreibtischunternehmen, das an der natÜrlichen ¾berzeugung der Menschen nichts Çndert. Mit geradezu entwaffnender Aufrichtigkeit teilt er uns mit: Sollte mich nun aber jemand fragen, ob ich selbst dieser Beweisf¹hrung, die eindringlich zu machen ich mir scheinbar so viel M¹he gebe, aufrichtig zustimme, ob ich also wirklich einer jener Skeptiker sei, welche daf¹r halten, alles sei ungewiß, unser Urteilsverm³gen besitze in keiner Sache und in keinerlei Weise einen g¹ltigen Maßstab f¹r Wahrheit und Unwahrheit, so w¹rde ich antworten, diese Frage sei vollkommen ¹berfl¹ssig; weder ich noch irgend sonst jemand sei jemals aufrichtig und konsequent dieser Meinung gewesen. Die Natur n³tigt uns mit absoluter und unabwendbarer Not-

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wendigkeit, Urteile zu f›llen, ebenso wie sie uns n³tigt zu atmen und zu empfinden. (Ein Traktat ¹ber die menschliche Natur I, Teil 4, 1. Abschnitt. I. S. 245) Der Skeptizismus und die »Bekehrung« Philos in den Dialogen wÇre somit gar nicht die Position Humes, sondern eine Beschreibung von Argumenten wie auch die des Cleanthes und des Demea. Die Dialoge wÇren dann auch nichts anderes als ein Teil einer »Naturgeschichte der Religion«. WÇre dies die Absicht Humes gewesen, ergÇbe sich kein Problem fÜr seine persÙnliche Haltung, und es wÜrde auch besser verstÇndlich, warum er die Dialoge nicht verÙffentlicht hat. Allerdings war seine Sorge unbegrÜndet. Nahm man nÇmlich den Text der Dialoge einfach so, wie er da stand, konnten sich nicht nur Philosophen der AufklÇrung sondern sogar Vertreter der anglikanischen Orthodoxie damit einverstanden erklÇren: MÙgen durchaus nicht entkrÇftete EinwÇnde stehenbleiben, die Hauptsache ist, daß der Skeptiker zum guten Ende zumindest Theist wird und dann sogar noch auf eine Offenbarung hofft. Als die Dialoge 1779 im Druck erschienen, wurden sie dann auch in diesem Sinne gelesen.

- XIII -

Die Philosophie der Aufkl›rung

1. Die Philosophie der Aufkl›rung in Frankreich a) Begriff und Ziel der Aufkl›rung Der Begriff der AufklÇrung zeigt in historischer Hinsicht dieselbe Problematik wie die meisten solcher historischer Etiketten: Geht man nÇher an die PhÇnomene der Geschichte heran, so ist man gar nicht mehr so sicher, wo man diese Etiketten aufkleben kann oder ob man sie Überhaupt irgendwo aufkleben sollte. Schon die Behandlung der Philosophie der AufklÇrung in Frankreich und in Deutschland ist eigentlich nur aus praktischen GrÜnden zu rechtfertigen, denn »Philosophie« und »AufklÇrung« bedeuteten im 18. Jhd. in Frankreich und Deutschland ganz und gar nicht ein und dasselbe, und das Land, aus dem die meisten Ideen der franzÙsischen und auch zahlreiche der deutschen AufklÇrung kamen, nÇmlich England, wird dabei Überhaupt nicht aufgefÜhrt. Die wichtigsten aus England kommenden Wurzeln der franzÙsischen AufklÇrung wurden jedoch schon besprochen: Es sind vor allem die inzwischen standardisiert reduzierte Naturphilosophie Newtons, also die »Experimentalphilosophie«, sowie die Theorie der Erkenntnis, der Politik und der Erziehung Lockes. Diese Philosophie ist also sehr empirisch-wissenschaftlich orientiert, und dies blieb auch ein Kennzeichen der Philosophie in England im 18. Jhd. Im Vergleich zur AufklÇrungsphilosophie in Frankreich fehlt in England die gesellschaftsund kirchenkritische Komponente, was seinen Grund in der ganz verschiedenen politischen Situation hat. In England herrschten seit der sogenannten »Glorreichen Revolution« von 1688 verhÇltnismÇßig demokratische und liberale Çußere Bedingungen, wÇhrend in Frankreich mit Ludwig XIV. ein absolutistisches System bestand. Seit der Aufhebung des Edikts von Nantes im Jahre 1685 konnte auch von religiÙser Toleranz keine Rede mehr sein, da nun die katholische Kirche das Ùffentliche Leben kontrollierte. Wiederum anders lag die Situation in Deutschland, das es damals eigentlich noch gar nicht gab. Die politische Situation in den einzelnen Kleinstaaten Deutschlands war sehr verschieden; es konnte also keine gemeinsame Linie verfolgt werden. Aber auch die TrÇger der AufklÇrung in Deutschland stellten eine ganz andere Gruppe dar als in Frankreich, wo es sich vor allem um Literaten handelte. In Deutschland waren die AufklÇrer vor allem Professoren, die hÇufig aus pro-

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testantischen Pfarrersfamilien stammten, und hÙhere Beamte der Staatsverwaltungen, eine Gruppe also, die kaum an grundlegenden VerÇnderungen der staatlichen oder kirchlichen Ordnung interessiert sein konnte. - Es gibt jedoch auch wieder eindeutige Gemeinsamkeiten: Eine der hervorstechendsten ist es, daß es sich wirklich um eine Bewegung von Philosophen und nicht um isolierte Einzelne handelte, auch wenn unter »Philosophen« manchmal recht Verschiedenes verstanden wurde, und daß die Vertreter der AufklÇrung auch dort, wo sie sich im Bereich der Literatur, der Kunst, der Politik, des Rechts und der Geschichtswissenschaft bewegten, dies doch immer im Namen der Philosophie taten. Sucht man ganz allgemeinste inhaltliche Charakteristika, so kÙnnte man vielleicht sagen: »AufklÇrung« steht fÜr WissenschaftsglÇubigkeit, Fortschritt, Freiheit, SouverÇnitÇt des Individuums, Menschenrechte, Gleichheit aller vor dem Gesetz, SouverÇnitÇt des Volkes und Çhnliches mehr, Begriffe, die allerdings zusammen zu keinem einzigen der klassischen Philosophen der AufklÇrung passen. Zusammengenommen aber charakterisieren sie auch nicht die ganze Periode, denn sehr bedeutende Vertreter wie Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) standen manchen dieser Vorstellungen schon wieder kritisch oder wenigstens resigniert gegenÜber. Die genannten Begriffe wirken wie Schlagworte, die nicht genÜgend deutlich werden lassen, daß dahinter oft durchaus differenzierte und ganz und gar nicht auf einen einfachen gemeinsamen Nenner zu bringende ¾berlegungen standen. Nichtsdestoweniger ist es erlaubt, sie auch in dieser simplifizierenden und undifferenzierten Weise einzufÜhren, denn der Gebrauch von Schlagworten - ganz im Sinne von »Schlag-Wort« - gehÙrte selbst zum Arsenal der von den franzÙsischen AufklÇrern in ihrem Kampf um Ùffentliche Wirkung eingesetzten Waffen. Voltaire (1694–1778) wußte das genau, als er z. B. in seiner Auseinandersetzung mit der Kirche immer wieder seinen Kampfruf »›crasez l’infÄme« wiederholte. Die berÜhmteste Begriffsbestimmung von »AufklÇrung« stammt von Kant, der 1784 schrieb: Aufkl›rung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unm¹ndigkeit. Unm¹ndigkeit ist das Unverm³gen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unm¹ndigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufkl›rung. (Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufkl›rung? In: Werke VI, S. 53) Dies schrieb Kant eine Generation nach den ersten sogenannten »AufklÇrern«; doch diese verfÜgten noch nicht Über einen solchen Begriff der AufklÇrung, auch wenn sie in vielem die von Kant angesprochenen Intentionen erfÜllten. Denis Diderot (1713–1784) schrieb in der 1751–1780 entstandenen EnzyklopÇdie, die als »Summe«

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des Zeitalters gedacht und geplant war, unter dem Stichwort »aufgeklÇrt und klarblickend«: Aufgekl›rt sagt man in bezug auf erworbene Kenntnisse, klarblickend in bezug auf nat¹rliche Kenntnisse. Diese zwei Eigenschaften verhalten sich zueinander wie das Wissen zum Scharfsinn. [...] Der aufgekl›rte Mensch weiß, was geschehen ist; der klarblikkende Mensch ahnt, was geschehen wird: der eine hat viel in B¹chern gelesen, der andere versteht in den K³pfen zu lesen. Der aufgekl›rte Mensch entscheidet sich auf Grund von Autorit›ten, der klarblickende Mensch entscheidet sich aus Vernunftgr¹nden. [...] Das Genie schafft die Dinge; der Klarblickende leitet daraus Prinzipien ab; der Aufgekl›rte wendet sie an [...]. (Diderot: Philosophische Schriften I. S. 289 f.) Aus dieser Begriffsbestimmung Diderots zeigt sich, daß eher der Begriff des »Klarblickenden« dem entspricht, was wir unter einem »AufgeklÇrten« verstehen, und der Begriff des letzteren eigentlich etwas abgewertet erscheint. Dies heißt, daß der Begriff »AufklÇrung« bei den AufklÇrern selbst noch nicht jene deutliche Wertung besaß, die er spÇter erhalten sollte. Allerdings ist die Bezeichnung, die eine Periode sich selbst gibt oder die ihr spÇter gegeben wird, nicht das Entscheidende, wichtiger sind die in ihr wirksamen gemeinsamen Ziele, und erst diese ermÙglichen es, von einer gewissen Zeitspanne als von einer »Periode« zu sprechen. In einem sehr allgemeinen Sinne ist dies fÜr die Periode der AufklÇrung mÙglich. Die AufklÇrer waren daran interessiert, Vorurteile zu bekÇmpfen, den Fortschritt der Wissenschaft zu propagieren und die Rechte des (freien) Individuums zu verteidigen. Im einzelnen zeigen sich jedoch bei den einzelnen Autoren in allen diesen Punkten Unterschiede, die sogar zu scharfen GegensÇtzen fÜhren konnten. So liegt auch der EnzyklopÇdie Diderots keine einheitliche theoretische Konzeption zugrunde, schon die große Zahl der Mitarbeiter ließ dies nicht zu. Allerdings muß man dabei berÜcksichtigen, daß allein schon der Plan einer EnzyklopÇdie in einem gewissen Sinne ein Programm bedeutete. Wichtiger als das oben zitierte Stichwort »AufklÇrung« ist daher das der »EnzyklopÇdie« selbst, ein Beitrag, der ebenfalls von Diderot verfaßt wurde: Dieses Wort bedeutet »Verkn¹pfung der Wissenschaften« [...]. Tats›chlich zielt eine Enzyklop›die darauf ab, die auf der Erdoberfl›che verstreuten Kenntnisse zu sammeln, das allgemeine System dieser Kenntnisse den Menschen darzulegen, mit denen wir zusammenleben, und es den nach uns kommenden Menschen zu ¹berliefern, damit die Arbeit der vergangenen Jahrhunderte nicht nutzlos f¹r die kommenden Jahrhunderte gewesen sei; damit unsere Enkel nicht nur gebildeter, sondern gleichzeitig auch tugendhafter und gl¹cklicher werden, und damit wir nicht sterben, ohne uns um die Menschheit verdient gemacht zu haben. (Ebd. S. 149)

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Es ist leicht zu sehen, daß hinter dieser Auffassung von Wissenschaft, ihrer Organisation und ihrem Nutzen fÜr das Wohl der Menschen ziemlich genau jene Ziele stehen, die schon Bacon aufgestellt hatte, auf den sich Diderot in diesem Zusammenhang auch ausdrÜcklich bezieht. Wenn Diderot hier von »System« spricht, so darf man sich darunter nicht allzu viel vorstellen. Es handelt sich der Zielsetzung nach tatsÇchlich um nicht viel mehr als um das, was auch ausdrÜcklich genannt wird: die Sammlung von Kenntnissen. Den systematischen Unternehmungen eines Descartes, Spinoza oder Leibniz standen die EnzyklopÇdisten ziemlich ablehnend gegenÜber. Nicht »System« sondern »EnzyklopÇdie« ist das Stichwort fÜr diese Periode. Vorherrschend war das Vertrauen in die Akkumulation des Wissens, nicht zuletzt deshalb, weil das Wissen (noch) Überschaubar schien. Alles dies hat auch etwas mit dem zu tun, was wir heute »Eklektizismus« nennen. Dieser Begriff ist bei uns mit einem negativen Unterton versehen, obwohl die meisten von uns in Wirklichkeit Eklektiker sind. Die franzÙsischen AufklÇrer waren hingegen ganz bewußt Eklektiker und machten dies zu einem durchaus positiv gesehenen Programm. Dabei darf nicht vergessen werden, daß sich die AufklÇrer mit der EnzyklopÇdie nicht nur an die »gelehrte Welt« sondern auch an das Volk, womit der BÜrger gemeint war, wandten. In dieser Hinsicht kann man eine parallele Stellung und Funktion dieser »zweiten« AufklÇrung gegenÜber der »ersten« AufklÇrung der Sophisten sehen. Auch die Sophisten hatten nach den großen Systemen der Vorsokratiker versucht, den erreichten Wissensstand nun fÜr die Bildung der B¹rger fruchtbar zu machen. Es wÇre jedoch verfehlt, in den EnzyklopÇdisten nur Vertreter einer Popularisierung zu sehen. Sie haben darÜber hinaus durchaus eigenstÇndig Wissenschaft betrieben, auch wenn keiner von ihnen an das Niveau eines Newton, Leibniz oder Locke herankam. Bei dieser BemÜhung, das Wissen Über den engen Kreis der Gelehrten hinaus einem grÙßeren Kreise zugÇnglich zu machen, konnten sie vor allem auf das Dictionnaire historique et critique von Pierre Bayle (1647–1706) zurÜckgreifen. Bayle war ein Kalvinist, der im Zusammenhang mit der Politik Ludwigs XIV., die zur RÜcknahme des Toleranzedikts von Nantes fÜhrte, Frankreich verlassen hatte und dann in Rotterdam lebte. Er wurde ein einflußreicher Verfechter der religiÙsen Toleranz, und dazu war historische AufklÇrung entscheidend. In seinem Dictionnaire arbeitete er mit Textkritik, historischer und philosophisch-rationaler Kritik, brachte dies aber in eine auch fÜr den gebildeten BÜrger verstehbare Form, wobei darÜber hinaus noch fÜr Unterhaltung gesorgt wurde. Dies war ein Erfolgsrezept: Das Dictionnaire, das 1696 in erster Auflage erschienen war, erlebte viele Auflagen und ¾bersetzungen und wurde in ganz Europa gelesen. Damit war literarisch und gesellschaftlich der Weg fÜr die AufklÇrer vorgezeichnet, auch wenn sie der Sache nach andere Wege gingen als Bayle. Um das Wissen einem breiteren Publikum zugÇnglich zu machen, benÙtigte man auch andere Zeitschriften als die anspruchsvollen wissenschaftlichen Publikationen der Philosophical Transactions und des Journal des SÊavants. Bayle grÜndete daher die Nouvelles de la rµpublique des lettres, die allerdings nur von 1684–1687

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erschienen. In Hamburg gab ein weiterer aus Frankreich vertriebener Kalvinist, Gabriel d’Artis (um 1660 – nach 1730) eine Çhnliche Zeitschrift, das Journal de Hambourg, heraus, das sich aber auch nur zwei Jahre lang (1694–1696) halten konnte. Daß dies aber einem BedÜrfnis der Zeit entsprach, zeigt sich daran, daß zur selben Zeit auch Christian Thomasius in Leipzig die Monats-GesprÇche herausgab, die allerdings auch nur wÇhrend weniger Jahre (1688–1690) erschienen (vgl. weiter unten 2, a).

b) Wissenschaft und Fortschritt Schon das Zitat des Stichworts »EnzyklopÇdie« von Diderot zeigt etwas von dem Pathos des Fortschritts, das bei den AufklÇrern am Werk war. Dieses Pathos ist am stÇrksten bei Antoine Condorcet (1743–1794) zu spÜren, vor allem in dessen Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes (Esquisse d’un tableau historique des progrs de l’esprit humain) von 1793. Condorcet war aber alles andere als ein reiner Propagandist, er war ein kompetenter Mathematiker und Naturwissenschaftler und verfaßte fÜr die EnzyklopÇdie Artikel zur Analysis, Algebra, Geometrie und zur Wahrscheinlichkeitstheorie. Condorcet bringt im genannten Entwurf die von vielen geteilte Auffassung zum Ausdruck, der durch die Wissenschaft erzeugte Fortschritt sei unaufhaltsam: Dabei w›re zu zeigen [...], warum [...] allein die Wahrheit auf die Dauer triumphieren muß; zu zeigen, durch welche Bande die Natur den Fortschritt der Aufkl›rung mit dem der Freiheit, der Tugend, der Achtung vor den nat¹rlichen Rechten des Menschen unl³slich verkn¹pft hat, und wie diese einzig wirklichen G¹ter [...] unzertrennlich werden m¹ssen von dem Augenblick an, da die Aufkl›rung gleichzeitig bei einer gr³ßeren Anzahl von Nationen in ein bestimmtes Stadium getreten sein und die Gesamtheit eines großen Volkes durchdrungen haben wird, dessen Sprache auf der ganzen Welt verbreitet ist und dessen Handelsbeziehungen den ganzen Planeten umspannen. Ist nur erst einmal die gesamte Klasse der aufgekl›rten Menschen eins geworden, so werden nur noch Freunde der Menschheit zu ihr z›hlen, die im Einverst›ndnis miteinander daran arbeiten, Vervollkommnung und Gl¹ck der Menschheit schneller herbeizuf¹hren. (Condorcet: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. S. 36 f.) Condorcet nahm eine Entwicklung der menschlichen Gesellschaft an, die von den einfachen AnfÇngen der griechischen Philosophie und Wissenschaft ausgehend zu dem wissenschaftlich aufgeklÇrten Denken seiner Zeit und den entsprechenden gesellschaftlichen VerÇnderungen fÜhrte - er schrieb den Entwurf zur Zeit des Beginns der franzÙsischen Revolution. Diese Entwicklung sollte sich nach ihm auch in der Zukunft so fortsetzen, daß mit dem Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis

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auch die praktische Anwendung derselben und damit der gesellschaftliche Fortschritt notwendig verbunden sind. Die Gesetzlichkeit, nach der dieser Prozeß verlaufen sollte, war nach Condorcet mit den GesetzmÇßigkeiten der Naturwissenschaften gleichzusetzen, und diese Entwicklung sollte streng linear verlaufen: Dies ist die Absicht des Werkes, das ich in Angriff genommen habe; und sein Ergebnis wird sein, durch Vernunftschl¹sse und den historischen Fakten gem›ß darzutun, daß die Natur der Vervollkommnung der menschlichen F›higkeiten keine Grenze gesetzt hat; daß die F›higkeit des Menschen zur Vervollkommnung tats›chlich unabsehbar ist; daß die Fortschritte dieser F›higkeit zur Vervollkommnung, die insk¹nftig von keiner Macht, die sie aufhalten wollte, mehr abh›ngig sind, ihre Grenze allein im zeitlichen Bestand des Planeten haben, auf den die Natur uns hat angewiesen sein lassen. Ohne Zweifel k³nnen diese Fortschritte schneller oder langsamer erfolgen; doch niemals werden es R¹ckschritte sein [...]. (Ebd. S. 31)

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Auch Voltaire sah die Geschichte als einen Prozeß der Vervollkommnung der menschlichen Gesellschaft an, wobei die Fortschritte der Vernunft in soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle ZusammenhÇnge eingebettet sind (wodurch auch die bisherige, an Chronologien von Herrschern orientierte Darstellung der Geschichte Überwunden wurde). Er war allerdings etwas vorsichtiger als Condorcet und rechnete auch mit wiederholten RÜckschlÇgen. Voltaire wollte wie Condorcet die theologisch verfaßte Heilsgeschichte Jaques-Bµnigne Bossuets (1627–1704), eine etwas modernisierte augustinische Geschichtstheologie, verabschieden und im Zeitalter der AufklÇrung die Frage der Geschichte wissenschaftlich angehen. Aber ihre Hoffnung auf eine stÇndige und unaufhaltsame Vervollkommnung des Menschen war eben doch nicht das Resultat einer empirischen Untersuchung der Geschichte und der daraus folgenden MÙglichkeit einer wissenschaftlichen Prognose, sondern wiederum eine GlaubensÜberzeugung: Die Vorstellung von »Fortschritt« nimmt jetzt die Stelle ein, die frÜher einmal jene der »Vorsehung« innegehabt hatte. Dieser Fortschrittsglaube war schon seit Generationen zum festen Bestandteil der ¾berzeugungen der Gebildeten geworden. Und so konnte die Akademie von Dijon 1750 folgende Preisfrage stellen: »Hat der Wiederaufstieg der Wissenschaften und KÜnste zur LÇuterung der Sitten beigetragen?« (»Kunst« wird hier nicht im modernen, sondern im traditionellen Sinne von ars als »Fertigkeit« verstanden). Die Akademie erwartete sich selbstverstÇndlich den Üblichen Lobpreis auf den Fortschritt von Wissenschaft und Sitten, der immer im Gleichklang vor sich gehen sollte. Die Antwort, die Rousseau gab, entsprach dieser Erwartung in keiner Weise; er stellte vielmehr genau die Gegenthese auf: In dem Maß, in dem unsere Wissenschaften und K¹nste zur Vollkommenheit fortschritten, sind unsere Seelen verderbt geworden. (Rousseau: Schriften zur Kulturkritik. S. 15)

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Rousseau wurde so inmitten der AufklÇrung und deren Fortschrittsglauben zum radikalen Kritiker eines der Vorurteile, die in der AufklÇrung unaufgeklÇrt geblieben waren. Die These bzw. Gegenthese Rousseaus im Diskurs von 1750 war allerdings nicht besonders gut begrÜndet: Er konnte bestenfalls zeigen, daß es zwischen dem Fortschritt der Wissenschaften und dem fortschreitenden Verfall der Sitten eine ParallelitÇt gibt. Daß ersteres aber die Ursache des letzteren sei, war damit keineswegs bewiesen. Rousseau bemerkte dies aber selbst und versuchte, diese BegrÜndung durch eine Geschichte der Gesellschaftsordnung im zweiten Diskurs (1755) zu liefern (vgl. dazu weiter unten d). Rousseau gelangte zu seiner Vernunfts- und Fortschrittskritik allerdings nicht direkt durch eine Kritik der im Vernunftbegriff der AufklÇrung enthaltenen Vorurteile, sondern dadurch, daß er der Vernunft ein ganz anderes VermÙgen gegenÜberstellte, das dem Menschen den richtigen Weg zeigen sollte: das Gef¹hl. Die einfachen Einsichten des »Herzens« sollten dem Menschen, der sich von der durch Wissenschaft und Zivilisation verdorbenen Umwelt befreit hatte, den wahren Weg zeigen. Dies war fÜr Rousseau nicht reine Theorie. Er war von seiner Ausbildung her eigentlich Musiker, und so wandte er seine Kulturkritik auf dieses Gebiet an, wobei jetzt entsprechend JeanPhilippe Rameau (1683–1764) den Angriffspunkt lieferte. Rameau war der berÜhmteste Komponist Frankreichs seiner Zeit und wurde als Theoretiker als der »Newton der Musik« angesehen. Er war auch der Mann der EnzyklopÇdisten, und so stand dort auch die Musik im Zeichen von Philosophie und Fortschritt. D’Alembert (1717–1783) hatte bezogen auf Rameau, diesen »philosophischen KÜnstler«, in der Einleitung zur EnzyklopÇdie gesagt: »Den grÙßten Fortschritt aber hat von allen KÜnsten in den letzten fÜnfzehn Jahren die Musik aufzuweisen« (Einleitung zur EnzyklopÇdie. S. 185 und 187). Rameau war ein treuer Cartesianer, und so ging er vom Vorrang der Harmonie vor der Melodie aus, bei der er befÜrchtete, sie ließe sich als Ausdruck von GefÜhl und Leidenschaft nicht so leicht in eine rationale Ordnung bringen. Als dann 1752 Giovanni Battista Pergolesis (1710–1736) Oper La serva padrona zum zweiten Mal in Paris aufgefÜhrt wurde, wurde sie nicht nur wegen ihres gesellschaftskritischen Textes - was es bisher in der Oper nicht gegeben hatte -, sondern auch wegen ihres eindeutigen Vorrangs der Melodie zum Tagesthema der Pariser Gesellschaft, die immer neue Reizthemen benÙtigte. Es ergab sich der bekannte Buffonistenstreit. Rousseau machte sich sofort an die Arbeit, und noch im selben Jahr 1752 wurde sein Singspiel Der Dorfwahrsager uraufgefÜhrt, das ihm einen ungewÙhnlich großen Erfolg einbrachte. Einfachheit und unmittelbarer Ausdruck des GefÜhls waren auch hier maßgebend. Rousseau wurde so zum frÜhen Vertreter der »Empfindsamkeit«. Er wollte also die »RÜckkehr zur Natur« auch kompositorisch verwirklichen. (Der Ausdruck retour à la nature findet sich aber mit diesem Wortlaut in seinen Schriften gar nicht.) Rousseaus Musik steht in ¾bereinstimmung mit seiner Kulturkritik:

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•bermittelt den kommenden Jahrhunderten ein getreues Spiegelbild des Fortschritts und der Errungenschaften unserer Wissenschaften und K¹nste. Wenn sie euch lesen, werdet ihr ihnen keine Ratlosigkeit ¹ber das Problem lassen, das uns heute bewegt. Falls sie nicht noch wahnsinniger als wir sind, werden sie ihre H›nde gen Himmel erheben und in der Bitternis ihres Herzens sprechen: »Allm›chtiger Gott, der du die Geister lenkst, befreie uns von dem Wissen und den unheilvollen K¹nsten unserer V›ter und gib uns die Einfalt, die Unschuld und die Armut zur¹ck, die einzigen G¹ter, die uns gl¹cklich und dir wohlgef›llig machen k³nnen.« (Schriften zur Kulturkritik. S. 53)

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Rousseau stellte somit der Ideologie eines unaufhaltsamen Fortschritts durch die Wissenschaft eine kritische Utopie gegenÜber, nÇmlich die der Unmittelbarkeit des GefÜhls und der Einfalt des Herzens, durch die sich die ursprÜnglich gute Natur des Menschen aussprechen sollte. Damit wollte Rousseau keine Ursprungstheorie aufstellen, sondern ein normatives Gegenideal. Dieses sollte keinerlei inhaltliche Normen enthalten, da diese nur durch das individuelle Gewissen bestimmt sein sollten. Wie es nicht selten in der Kulturkritik ist, so war auch Rousseaus Kritik durchschlagender als seine GegenvorschlÇge. Er sah richtig, daß Wissenschaft nicht schon automatisch den Fortschritt des Wohls der Menschen bringt, er setzte »Natur« gegen »Zivilisation«, mußte aber einsehen (was viele seiner Nachfolger, die sich auf ihn beriefen, nicht mehr sahen), daß diese Natur uns keinen Leitfaden des konkreten Handelns geben kann: Daher ist die sanfte Stimme der Natur f¹r uns weder ein untr¹glicher F¹hrer mehr, noch die Unabh›ngigkeit, die wir von ihr erhalten haben, ein w¹nschenswerter Zustand. Friede und Unschuld sind uns f¹r immer entgangen, bevor wir ihre Wonnen genossen haben. Den beschr›nkten Menschen der ersten Zeiten war es nicht f¹hlbar und dem aufgekl›rten Menschen der sp›teren Zeit war es entglitten: so blieb das gl¹ckliche Leben des goldenen Zeitalters der Menschenrasse stets ein fremder Zustand, entweder weil sie ihn verkannt hat, als sie ihn genießen konnte, oder weil sie ihn verloren hatte, als sie ihn h›tte kennen k³nnen. (Ebd. S. 287 f.) Auf diese Weise konnte Rousseau zwar die AufklÇrer beunruhigen, nicht aber erschÜttern. Er verurteilte die Wissenschaft und das Wissen, blieb aber den Beweis schuldig, daß die Menschen ohne Wissenschaft wirklich glÜcklicher wÇren. Von einem ganz anderen Ausgangspunkt aus vertrat ›tienne Bonnot de Condillac (1714–1780) eine Theorie des Fortschritts der menschlichen Gesellschaft, mit der er auch eindeutige MÇngel an der Konzeption der EnzyklopÇdisten aufdeckte. Condillac gehÙrte in den Umkreis, aus dem auch die EnzyklopÇdie hervorging. Ob einige der unsignierten Artikel derselben von ihm stammen, ist umstritten. Die EnzyklopÇdisten hatten die Bedeutung der Sprache fÜr die Erweiterung der Erkenntnis und so fÜr

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den gewÜnschten Fortschritt nicht richtig erkannt. Sie meinten, daß sie sich in diesem Bereich mit Bacons Programm und Lockes Erkenntnistheorie und Sprachkritik zufrieden geben kÙnnten. Diderot, einer der nÜchternsten und selbstkritischsten AufklÇrer, sah diesen Mangel auch ein: Aber die Kenntnis der Sprache ist die Grundlage f¹r alle diese großen Hoffnungen; sie werden unerf¹llt bleiben, wenn die Sprache nicht in ihrer ganzen Vollkommenheit festgelegt und der Nachwelt ¹berliefert wird, und deshalb ist dieser Gegenstand der allerwichtigste, mit dem Enzyklop›disten sich gr¹ndlich besch›ftigen sollten. Wir haben dies leider zu sp›t bemerkt, und diese Unachtsamkeit hat zur Unvollkommenheit unseres ganzen Werkes gef¹hrt. Die sprachliche Seite [...] ist schwach geblieben; [...]. (Diderot: Ausgew›hlte Artikel aus der Enzyklop›die. In: Philosophische Schriften. I. S. 163) Condillac sah, daß Lockes Sprachtheorie noch nicht konsequent ausgearbeitet war und die Bedeutung der Sprache fÜr den gesamten Erkenntnisprozeß (und damit fÜr den Prozeß der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft) noch nicht ausreichend in den Blick gekommen war. FÜr Condillac ist die Sprache die notwendige aber auch hinreichende Bedingung fÜr die in der Geschichte stattfindende Entwicklung der Menschheit. Auch der wissenschaftliche Fortschritt ist somit durch eine Entwicklung einer entsprechenden Wissenschaftssprache bedingt. Die Probleme der Sprache stellen einen Aspekt dar, den die EnzyklopÇdisten vernachlÇssigt hatten, insofern sie der Auffassung gewesen waren, daß mit der newtonschen »Experimentalphilosophie«, so wie sie diese eben verstanden, alles zur Wissenschaftstheorie Erforderliche schon gesagt sei. Condillac hingegen forderte - wobei bei ihm durchaus Anregungen von Leibniz (vermittelt Über Christian Wolff) wirksam werden - die Konstruktion einer nach dem Vorbild der Algebra konstruierten Wissenschaftssprache. Erkenntnis gibt es nach Condillac nur durch die Vermittlung von Zeichen. Condillac ging jedoch nicht den Weg von Leibniz weiter, sondern den von Locke. Ausgangspunkt ist die sinnliche Wahrnehmung. Dies wird bei Condillac in einem rigoros ausschließlichen Sinne verstanden, so daß man bei ihm von einem konsequenten »Sensualismus« sprechen kann. Denken ist fÜr ihn nichts anderes als die Umwandlung von Sinnesempfindungen, die in Zeichen transformiert werden. Der Anfang dieser Entwicklung fÜhrt in das Tierreich, denn Condillac spricht auch schon von einer »Sprache der Tiere«. Die cartesianische, auf einer langen Tradition beruhende Festlegung, daß die Sprache ein Kennzeichen des Menschen sei, wird damit Überwunden. Die Entwicklung der Menschheit geht dann Über einfachste Lautartikulationen, die von Gesten kaum zu unterscheiden sind, zu immer ausgebauteren Sprachkonstrukten entsprechend den weiteren Erfordernissen des technischen und gesellschaftlichen Handelns und der Kommunikation. Wenn wir heute von »Selbstorganisation« des Menschen sprechen, kÙnnen wir sehen, daß Condillac in diese Richtung gedacht hat. Die Herausbildung

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der KÜnste und Wissenschaften liegt am vorlÇufigen Endpunkt dieser Entwicklung, wobei Condillac aber wie die anderen AufklÇrer an einer weiteren MÙglichkeit der Vervollkommnung festhÇlt.

c) Religions- und Kirchenkritik

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Wissenschaft ist dort, wo sie Erfahrungstatsachen erklÇren will, notwendigerweise empirisch. Die englischen Vorbilder der AufklÇrer, Bacon, Locke und Newton, waren Empiristen, die jedoch den Materialismus, d. h. die durchgÇngige ErklÇrung aller PhÇnomene durch Gesetze aus dem materiellen Bereich, nicht angenommen haben. Viele der AufklÇrer folgten dieser Haltung, einige andere vertraten jedoch erstmals seit der Antike (Demokrit) wieder einen durchgehenden Materialismus. Das klassische Werk dafÜr war Paul Henry Thiry d’Holbachs (1723–1789) Systme de la nature (1770). Der Salon Holbachs diente Über Jahrzehnte hin als Treffpunkt der EnzyklopÇdisten, die allerdings in der Mehrzahl seine extremen Auffassungen nicht teilten. Nach ihm existiert nichts als die ewige Materie und deren Bewegung, wobei die gesamte Natur, auch die des Menschen, den Gesetzen einer mechanischen Notwendigkeit gehorcht. ’hnliches hatte schon der franzÙsische Arzt Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) in seinem bekannten Buch L’homme machine (1748) vertreten. Hier wurde postuliert, daß alle Denk- und Empfindungsfunktionen des Menschen vollstÇndig auf die kÙrperlichen Organe zurÜckfÜhrbar sind. La Mettrie mußte nach dem Erscheinen dieses Buches nach Berlin fliehen, wo er dann bei Friedrich II. als Arzt und Mitglied der Akademie der Wissenschaften tÇtig war. Auch Condillac wurden materialistische Thesen zugeschrieben, dieser selbst, er war schließlich Abbµ, versuchte jedoch in seinen Schriften, dazu keinen (expliziten) Anlaß zu geben. Er war sehr vorsichtig, da er nicht Opfer von Repressionen werden wollte. Obwohl Vertreter des Materialismus wie La Mettrie und Holbach glaubten, dies sei die einzig mÙgliche wissenschaftliche Haltung, kommt in ihren Schriften deutlich ein weltanschaulich bedingter Eifer zum Ausdruck. Sie zeigen unmißverstÇndlich, daß sie eine Gegen-Religion mit dogmatischer Unbedingtheit vertreten wollten: Erziehung zum Atheismus gehÙrte zu ihrem Programm. Nicht ganz so konsequent war es dann, wenn sie, wie alle Vertreter der AufklÇrung, fÜr die Freiheit eintraten, aber die brauchten sie ja schon fÜr ihre Erziehungsabsichten. Auch an diesem Punkt ließ die AufklÇrung eine erst von Kant in aller SchÇrfe aufgenommene Frage zurÜck: Wie lÇßt sich strenge Notwendigkeit (welche die unbedingte Voraussetzung der empirischen Wissenschaft ist) mit der Annahme der Freiheit verbinden? Bei Holbach wie bei La Mettrie blieb diese Frage vÙllig unbeantwortet. Der Einfluß der franzÙsischen Materialisten wirkte sich vor allem im sogenannten »VulgÇrmaterialismus« des 19. Jhd.s aus. WÇhrend dieser beinahe militante Atheismus nicht als Kennzeichen der AufklÇrung angesehen werden kann, gehÙrte der Kampf gegen religiÙs motivierte Into-

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leranz, Fanatismus, Aberglaube und Wunderglaube zur AufklÇrung dazu und machte einen Teil des SelbstverstÇndnisses ihrer Vertreter aus. Sie richteten sich daher nicht gegen die Religion als solche, sondern nur gegen das, was sie als Mißbrauch derselben ansahen, den sie besonders mit dem Katholizismus identifizierten: In den Dogmen der Kirche sahen sie die Intoleranz und im Wunderglauben die Wissenschaftsfeindlichkeit begrÜndet, und in der kirchlichen Hierarchie fanden sie den Grund der Unfreiheit. In jedem Fall war die Verbindung von Kirche und Staat fÜr sie ein Unheil. Mit und seit Voltaire ist »antiklerikal« zu sein eine nicht mehr wegzudenkende Eigenschaft von jedem philosophe der franzÙsischen AufklÇrung. Voltaire verwandte einen großen Teil seiner Energie und seiner Ironie auf den Kampf gegen religiÙse Vorurteile und religiÙsen Aberglauben. Sein 1764 erstmals verÙffentlichtes Dictionnaire philosophique, eine der wichtigsten an breite Leserkreise gerichteten Schriften, ist im Grunde eine Kampfschrift gegen religiÙsen Aberglauben. DarÜber hinaus initiierte er eine neue Literaturgattung: Auf der einen Seite schließt sein Dictionnaire sich mit seinen alphabetisch geordneten Artikeln an das Dictionnaire Bayles und die Ordnung der EnzyklopÇdie an, auf der anderen Seite bringt Voltaire den Stil der Anekdote und der Parodie, aber auch der formfreien Reflexion herein. Wenn auch im Inhalt diametral verschieden, trifft sich Voltaire in der Ausdrucksweise oft mit Pascal - dessen Pensµes er immer wieder einer scharfen Kritik unterzog - und Montaigne. Voltaire will sich nie vom Konkreten lÙsen, er will auch nicht belehren, sondern ganz konkret Bewußtsein und so gesellschaftliche ZustÇnde verÇndern. Der Weise ist ein Seelenarzt. Er soll seine Mittel denen geben, die ihn darum angehen, und die Gesellschaft der Quacksalber meiden, die ihn unfehlbar verfolgen werden. (Voltaire: Aus dem Philosophischen W³rterbuch. S. 157) Voltaire betrachtete die AufklÇrung als Heilkunde fÜr die Seelen und das Dictionnaire als Handbuch fÜr das Eigenstudium dieser Heilkunde. Die Çrgste Krankheit war fÜr ihn der Fanatismus: Der Fanatismus verh›lt sich zum Aberglauben wie der Wahn zum Fieber oder die Raserei zum Zorn. Wer in Ekstase verf›llt und Visionen hat, wer Tr›ume f¹r Wirklichkeit nimmt und seine Einbildungen f¹r Prophezeiungen, ist ein angehender Fanatiker, von dem viel zu erwarten ist. (Ebd. S. 66) Nach Beispielen brauchte sich Voltaire nicht lange umzusehen: Das abscheulichste Beispiel von Fanatismus lieferten die Pariser, als sie in der Bartholom›usnacht ihre Mitb¹rger, die nicht zur Messe gingen, ermordeten, aus dem Fenster st¹rzten und in St¹cke rissen. (Ebd. S. 66 f.)

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Es gibt aber auch Fanatiker ohne Ekstase: Es gibt kaltbl¹tige Fanatiker. Das sind die Richter, die Menschen nur deshalb zum Tode verurteilen, weil sie anderer Ansicht sind als sie selbst. Die Schuld dieser Richter wiegt um so schwerer, sie verdienen um so mehr den Abscheu der Menschheit, als sie nicht im Affekt handeln [...], sondern auf die Stimme der Vernunft h³ren k³nnten. (Ebd. S. 67) Voltaire war ehrlich Überzeugt, daß es nur der AufklÇrung bedÜrfe, um die Menschen vom Fanatismus zu heilen: Gegen diese Seuche gibt es kein anderes Mittel als den Geist der Philosophie, der, wenn er allm›hlich um sich greift, schließlich die Sitten der Menschen l›utert und den Anf›llen des •bels vorbeugt; denn wenn dieses •bel erst einmal Fortschritte macht, muß man fl¹chten und abwarten, bis die Luft wieder rein ist. (Ebd.)

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Es ist nun relativ einfach, darauf hinzuweisen, daß die AufklÇrer, die sich so sehr fÜr Toleranz einsetzten und jeden Fanatismus bekÇmpften, ihrerseits wieder den Çrgsten Fanatismus der FranzÙsischen Revolution vorbereiteten, auch wenn sie dies sicher nicht wollten. Daß AufklÇrung in Mythos umschlagen kann, ist ein bekanntes PhÇnomen (vgl. 1. Teil, Kap. VI 3), AufklÇrung an sich wird dadurch jedoch noch nicht widerlegt. Was widerlegt wird, sind nicht die Argumente oder die Analysen, wohl aber die Richtigkeit der ¾berzeugung, daß Argumente und Analysen schon Menschen Çndern wÜrden. Sie kÙnnen es vielleicht, und es gibt auch Beispiele dafÜr, aber es gibt ebenso viele, wenn nicht mehr Gegenbeispiele. Allerdings haben wir bis heute auch noch keine anderen MÙglichkeiten als Argumente gefunden, wenn wir nicht selbst wieder Ideologie und Fanatismus einsetzen wollen. Der Kampf gegen jede Form des Aberglaubens machte Voltaire außerdem zum KÇmpfer fÜr einen »reineren« Glauben. Auch in diesem Punkt sollte man ihn nicht als oberflÇchlichen BilderstÜrmer abtun, denn es liegen hier sehr ernste ¾berlegungen vor: Das Erdbeben von Lissabon (1755) hatte Voltaire zutiefst erschÜttert: Sollte dies die »beste aller Welten« sein, von der Leibniz gesprochen hatte? Wenn aber diese Welt vielmehr »die schlimmste aller Erdkugeln« ist, wie ist dies dann mit der GÜte Gottes vereinbar? Voltaires Candide ist eine Abrechnung mit Leibniz. Voltaire zieht keine atheistischen Konsequenzen, er ist sogar Überzeugt, »daß es heute, seit die Philosophen erkannt haben, daß es kein Wachstum ohne Keim, keinen Keim ohne Plan gibt usw., und daß das Korn nicht aus Moder entsteht, weniger Atheisten denn je gibt« (Aus dem Philosophischen WÙrterbuch. S. 48). Um gerade nicht Atheist zu werden, so meinte Voltaire, mÜsse man jedoch Gott alle Attribute versagen, sonst geriete man in alle Schwierigkeiten der Theodizee:

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Wenn man sich Gott so g¹tig und so gerecht vorstellt, wie ein Vater und ein K³nig es sein sollen, gibt es keine M³glichkeit mehr, ihn zu rechtfertigen. Wenn man ihm unendliche Weisheit und G¹te zuschreibt, macht man ihn grenzenlos verhaßt, erweckt den Wunsch, daß er nicht existieren m³ge, und gibt dem Atheisten Waffen in die Hand, und er wird immer sagen d¹rfen: Es ist besser, ¹berhaupt nicht an einen Gott zu glauben, als Gott gerade das zur Last zu legen, was man bei den Menschen bestrafen w¹rde. Stellen wir also zun›chst fest: Es steht uns nicht an, Gott menschliche Eigenschaften zuzuschreiben und ihn uns nach unserem Bilde vorzustellen. Menschliche Gerechtigkeit, G¹te und Weisheit passen nicht zu ihm. [...] F¹r Gott gibt es kein Gut und kein •bel, weder in physischer noch in moralischer Hinsicht. (Ebd. S. 98 f.) So sonderbar es zunÇchst scheinen mag: Moralischer Rigorismus fÜhrt Voltaire hier zu Konsequenzen der negativen Theologie. Ganz so sonderbar ist dies aber dennoch nicht: Voltaire stand ganz deutlich in der Tradition der frÜhen Religionskritik des Xenophanes (vgl. 1. Teil, Kap. IV, 1). Geblieben ist von der Religionsvorstellung der AufklÇrung spÇter meist nur ein vager Glaube an ein »hÙchstes Wesen«. Jedenfalls war dies bei Voltaire anders gedacht: Er versuchte die condition humaine zu leben, ohne ihre konkrete Form Gott anlasten zu mÜssen; der Schmerz gehÙrt zum menschlichen Leben: Die Vorstellung vom schmerzfreien Menschen ist also ebenso widerspr¹chlich wie die vom unsterblichen Menschen. (Ebd. S. 100) Alles dies betrifft Gott nicht, denn wir wissen nicht, wie er - abgesehen von der SchÙpfung - mit diesem Weltall zusammenhÇngt; eingreifen kÙnnte er jedenfalls nicht, denn auch die Vorstellung eines solchen Eingreifens ist Aberglaube und Gottes unwÜrdig. Obwohl Kant von Voltaire nicht viel hielt (im Gegensatz zu Nietzsche) wird er diese Problematik ebenfalls aufnehmen: Wie kann Gott von allen physischen Ereignissen unabhÇngig gedacht werden (denn alle Versuche der Theodizee sind gescheitert)? Wie kann Gott mit dem moralischen Handeln des Menschen in Beziehung gebracht werden, ohne daß wir ihm selbst moralische Eigenschaften zuschreiben mÜssen? Dies sind wichtige Fragen, welche die Philosophie weiter beschÇftigen werden. Wie nicht anders zu erwarten, lÙste das Erscheinen des Dictionnaire einen - von Voltaire gewollten - Skandal aus: Das franzÙsische Parlament verbot das Buch, es kam außerdem auf den Index. Schließlich hatte Voltaire im Dictionnaire selbst gesagt: Die Inquisition ist bekanntlich eine bewunderungsw¹rdige und wahrhaft christliche Erfindung, um den Papst und die M³nche m›chtiger zu machen und ein ganzes Reich zur Heuchelei zu zwingen. (Ebd. S. 106)

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Die Philosophie der AufklÇrung

Der Erfolg blieb trotzdem nicht aus, der Dictionnaire wurde rasch in vielen Auflagen in Frankreich und England gedruckt. In Deutschland fand er keinen Eingang, dort hatte inzwischen die AufklÇrung ihre feste akademische Form gefunden, die keinen Raum fÜr eine solche Form der Auseinandersetzung ließ. Auch die kirchlichen AufsichtsbehÙrden der beiden Konfessionen hatten nicht die Absicht, sich von solchen literarischen Agitatoren ihren Einflußbereich beschneiden zu lassen, und sie verfÜgten Über die entsprechenden Mittel, um ihre Interessen durchzusetzen.

d) Ethik und Staatslehre Die Philosophen der AufklÇrung waren schon in ihrem Ansatz an konkreten gesellschaftlichen Fragen interessiert gewesen, sie wollten - lange vor Marx’ philosophischem Programm - die Welt nicht nur erklÇren, sondern verÇndern. Die philosophes verstanden sich bei allen weltanschaulichen Verschiedenheiten als eine Bewegung, welche die Selbstbestimmung des Menschen und eine Gesellschaftsordnung, die dies ermÙglicht, herbeifÜhren wollten. Diderot sagte dazu in der EnzyklopÇdie: 302

Da er [der Philosoph] die Gesellschaft ¹ber alles liebt, liegt ihm viel mehr als den anderen Menschen daran, alle seine Kr›fte so anzuwenden, daß sie nur Wirkungen aus¹ben, die der Idee vom rechtschaffenen Menschen entsprechen. (Diderot: Philosophische Schriften I. S. 388) Der Philosoph ist »von den Ideen vom Wohl der gesitteten Gesellschaft erfÜllt« (Ebd.). Diese sehr gemÇßigten ’ußerungen zeigen, daß es den AufklÇrern fern lag, an Revolution zu denken. Sie wollten eine schrittweise Verbesserung der Gesellschaft herbeifÜhren, wobei sie gewÙhnlich einfach annahmen, daß aufgeklÇrte, d. h. vernÜnftig gewordene Menschen auch bessere Mitglieder der Gesellschaft sein mÜßten. Allgemein gingen die Philosophen der AufklÇrung davon aus, daß es ein allgemeines natÜrliches moralisches Gesetz gibt, das eigentlich alle vernÜnftigen Menschen erkennen mÜßten. Die naturrechtlichen Theorien des Grotius gehÙrten so zum nicht weiter diskutierten Bestand der Philosophie der AufklÇrung. Eine rein kausal-mechanistische ErklÇrung sittlichen Handelns wurde kaum in ErwÇgung gezogen. Weder Montesquieu (1689–1755) noch die meisten AufklÇrer und nicht einmal die »Materialisten« unter ihnen folgten Hobbes und dessen ErklÇrung der Entstehung der Gesetze, sondern sie nahmen - eher mit Locke - ein Naturgesetz an, das der Mensch durch seine Vernunft erkennen kann. Zu dieser Natur gehÙrt die Gesellschaftlichkeit, welche in der Familie ein natÜrliches Fundament hat. Von da aus gelingt es den AufklÇrern, sowohl ein allgemeines Vernunftgesetz zu fordern, als auch, entsprechend den besonderen Bedingungen der VÙlker (klimatische Bedin-

Die Philosophie der AufklÇrung in Frankreich

gungen, Lage und GrÙße des Landes, Ackerbau, Viehzucht und eben auch: AnhÇufung und Weitergabe des Wissens und der dafÜr erforderlichen Institutionen), eine Grundlage fÜr ein positives Gesetz zu finden. Wie naturrechtliche Vorstellungen und ein kulturwissenschaftlich begrÜndeter Werterelativismus vereinbar sein sollten, blieb aber letztlich ungeklÇrt. Im allgemeinen ist zu sagen, daß die AufklÇrer in den praktischen Fragen zwar ihr Hauptanliegen sahen, gleichzeitig aber gerade in diesen am wenigsten Probleme vermuteten: Sie meinten, daß nur Vorurteile, undurchschaute GebrÇuche usw. die Menschen daran hinderten, eine vernÜnftige Gesellschaft aufzubauen. Die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Br¹derlichkeit waren ihrer Auffassung nach die notwendige Grundlage des Zusammenlebens, die durch AufklÇrung fast automatisch hergestellt werden mÜßten - so als hÇtte es die Analysen von Hobbes nie gegeben. So fehlten dann fast gÇnzlich Analysen Ùkonomischer und politischer Systeme. Hier zeigte sich verhÇngnisvoll, daß die AufklÇrer ihr Hauptgebiet der Kritik in der Religionskritik sahen: Die Verbindung von Religion und ²konomie wurde ihnen sehr deutlich (so vor allem Voltaire); demgegenÜber bemerkten sie jedoch nicht, daß die Hindernisse der Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und BrÜderlichkeit nicht nur religiÙser Natur, sondern auch in ebenso großem, wenn nicht sogar grÙßerem Ausmaße gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Natur waren. Rousseau war auch hier wieder der einzige, der einen schÇrferen Blick hatte. Seiner Auffassung nach haben die Unfreiheit, die Ungleichheit und die mangelnde BrÜderlichkeit vor allem Ùkonomische GrÜnde. Der Analyse dieser Fragen widmete er sich in seinem Diskurs ¾ber den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen von 1755. Die Ungleichheit hat ihren Ursprung im Privateigentum: In dem Moment, als ein Mensch ein StÜck Land als sein Eigentum beanspruchte, begann die Ungleichheit: Der erste, der ein St¹ck Land eingez›unt hatte und dreist sagte: »Das ist mein« und so einf›ltige Leute fand, die das glaubten, wurde zum wahren Gr¹nder der b¹rgerlichen Gesellschaft. (Rousseau: Schriften zur Kulturkritik. S. 191) Erst handelt es sich um die Sorge f¹r das Notwendige, dann f¹r das •berfl¹ssige. Darauf folgen die Gen¹sse, dann die ungeheuren Reicht¹mer, dann die Untertanen und dann die Sklaven. Es gibt kein Einhalten. [...] Es ist klar, daß man auf das Konto der Einf¹hrung des Eigentums, und folglich auf das der Gesellschaft, auch die Morde, die Vergiftungen, die Straßenr›ubereien und sogar die Strafen f¹r diese Verbrechen setzen muß. (Ebd. S. 115 und 117) Mit der Ungleichheit des Besitzes begann die Forderung nach dem Schutz des Eigentums, den der Staat zu leisten hatte. Die Erfindung des Staates aber bedeutet gewolltes Aufgeben eines Teils der Freiheit. Rousseau wußte aber genau, daß daraus kein Aufruf zur RÜckkehr in einen »Naturzustand« folgt:

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Die Philosophie der AufklÇrung

Was nun? Muß man die Gesellschaft zerst³ren, Mein und Dein beseitigen, zu einem Leben mit den B›ren im Walde zur¹ckkehren? Das ist eine Folgerung in der Art meiner Gegner. (Ebd. S. 125 und 127) Rousseau weiß von sich selbst, daß er zu den Menschen gehÙrt, »in denen die Leidenschaften fÜr immer die ursprÜngliche Einfalt untergraben haben« (Ebd. S. 127), und so gehÙrt er auch zu jenen, fÜr die gilt: Sie werden die heiligen Bande der Gesellschaft achten, deren Mitglieder sie sind, sie werden ihresgleichen lieben und ihnen mit all ihrer Kraft dienen. Sie werden gewissenhaft den Gesetzen und den Menschen, die deren Urheber und W›chter sind, gehorchen. (Ebd.)

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Mit dem Verlust der ursprÜnglichen Einfachheit ist auch die ursprÜngliche Freiheit dahin. Wie immer diese Theorie auch im einzelnen zu beurteilen sein mag, eines hat Rousseau jedenfalls der AufklÇrung sehr deutlich vor Augen gehalten: Die Vorstellung, daß sich die Geschichte als Prozeß der sich immer mehr durchsetzenden Vernunft und Wissenschaft und gleichzeitig als Prozeß des wachsenden Wohles der Menschheit konstruieren lÇßt, ist mehr als fragwÜrdig. Und ein weiteres: Das VerhÇltnis von Individuum und Gesellschaft (und damit von individueller Freiheit und Staat) ist keineswegs so unproblematisch, wie die AufklÇrer es annahmen; es ist nicht nur in seiner gegenwÇrtigen Form, sondern schon in seinem Ursprung ein antagonistisches. Der Staat gehÙrt nach Rousseau nicht zur natÜrlichen Ausstattung des Menschen. So forderte Rousseau die freie GrÜndung des Staates, also den Staatsvertrag; die souverÇnen Einzelnen sollten im Staat in Wirklichkeit niemand anderem gehorchen als sich selbst. Dies ist die Grundthese seiner berÜhmten Schrift Vom Gesellschaftsvertrag (In: Kulturkritische und politische Schriften I. S. 381–505). Die Realutopie des Naturzustands schÇrfte auch den Blick Rousseaus fÜr die politische Wirklichkeit seiner Zeit, er war der einzige, der aus prinzipiellen GrÜnden vorhersah, daß sich eine Revolution nicht vermeiden ließ: So hat sich das gesamte Antlitz der Erde gewandelt; allenthalben ist die Natur verschwunden; allenthalben hat menschliche Kunstfertigkeit ihren Platz eingenommen; Unabh›ngigkeit und nat¹rliche Freiheit sind vor Gesetzen und Sklaverei gewichen, es gibt kein freies Wesen mehr; der Philosoph sucht einen Menschen und findet keinen mehr vor. Doch vergebens trachtet man, die Natur zu vernichten, sie wird wiedergeboren und zeigt sich da, wo man es am wenigsten erwartete. Die den Menschen geraubte Unabh›ngigkeit sucht ihre Zuflucht in den Gesellschaften, und diese großen, ihren eigenen Antrieben ausgelieferten K³rper bringen in dem Maße ihre schrecklicheren Zusammenst³ße zustande, wie ihre Massen gr³ßer sind als die der Individuen. (Ebd. II, S. 52)

Die Philosophie der AufklÇrung in Deutschland

Die franzÙsische AufklÇrung hat also gerade dort versagt, wo historische, Ùkonomische und gesellschaftliche Wurzeln der Unvernunft aufzudecken waren, die Über den religiÙsen Aberglauben hinausgingen. Die Meinung, daß Vernunft und Toleranz sich in einem beinahe notwendigen Prozeß des Fortschritts verwirklichen, zeigt sich bis heute - als eine unbegrÜndete GlaubensÜberzeugung, die selbst der aufklÇrenden Kritik bedarf.

2. Die Philosophie der Aufkl›rung in Deutschland a) Der Unterschied zur franz³sischen Aufkl›rung Wie schon betont, ist es eigentlich gar nicht berechtigt, die franzÙsische und die deutsche AufklÇrung unter einen gemeinsamen Begriff zu fassen, da es sich dabei um zwei ganz verschiedene PhÇnomene handelt. Sie berÜhren sich in einigen, aber nicht in den wichtigsten Punkten, haben im ganzen genommen sehr verschiedene Ziele und sind außerdem zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gelangt. Die Verschiedenheit zeigt sich schon im Çußeren kulturellen und gesellschaftlichen Rahmen, in dem sich die jeweilige Philosophie der AufklÇrung abspielte: Die franzÙsischen AufklÇrer waren stets mehr Schriftsteller als Wissenschaftler gewesen. Sie versammelten sich zu einem guten Teil um ein großes Werk, die EnzyklopÇdie, hatten aber meist keine nennenswerte Beziehung zur UniversitÇt. Die deutsche AufklÇrung war demgegenÜber eine Bewegung, die sich fast ausschließlich im Rahmen der UniversitÇt abspielte. Diesen Çußeren Bedingungen kam eine große Bedeutung zu: Die deutschen UniversitÇten waren direkt von den Landesherren abhÇngig, und ihre Aufgabe war fest umrissen: Die Ausbildung von Pfarrern, Juristen und (mit Abstand) von ’rzten stand im Mittelpunkt. Die Philosophie der AufklÇrung in Deutschland war somit in ganz eminentem Sinne eine Schulphilosophie. Dieser gesellschaftliche Rahmen erklÇrt auch, warum die in Frankreich sehr deutlich religionskritische oder besser: kirchenfeindliche Tendenz der AufklÇrung in Deutschland gar nicht aufkommen konnte. Die deutschen Professoren der Philosophie vertraten zwar eine SelbstÇndigkeit ihres Gebietes der Theologie gegenÜber, dachten aber in den meisten FÇllen in keiner Weise an einen offenen Konflikt mit der Kirche, den sie sich auch kaum hÇtten leisten kÙnnen. Der genannte Unterschied lebt bis heute fort: Die franzÙsische Philosophie ist auch dort, wo sie zur UniversitÇtsphilosophie geworden ist, immer stark literarisch und politisch geprÇgt geblieben, wÇhrend die deutsche Philosophie (mit Ausnahme von Nietzsche, der aber eigentlich primÇr Philologe war) immer eher »akademisch« geblieben ist. Wichtig sind auch die Orte, an denen sich diese Schulphilosophie entwickelte: Es sind vor allem Halle, Leipzig und etwas spÇter GÙttingen, womit wir im Ursprungsgebiet des Pietismus sind. Die Pietisten waren individualistisch orientiert, aber das waren auch die frÜhen deutschen AufklÇrer: Es

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ging zunÇchst einmal um die AufklÇrung des Individuums. Die Pietisten legten weniger Wert auf die theoretische Formulierung ihres Glaubens und betonten vor allem das Handeln. Es handelt sich hier um einen deutlichen Vorrang der Praxis gegenÜber der Theorie, auch hier sind wir schon ganz in der NÇhe von Kant. Gemeinsam war allen Philosophen der AufklÇrung in Deutschland, daß sie sich von der scholastischen Philosophie frei machen wollten. Dieses Streben verdeutlicht wiederum die zeitliche Verschiebung des deutschen gegenÜber dem englischen und franzÙsischen Bereich. Die Absetzung von der Scholastik war eine Frage, die Descartes oder Locke beschÇftigt hatte, die aber dann fÜr die franzÙsischen AufklÇrer kein Problem mehr darstellte. DemgegenÜber beherrschte bis gegen Ende des 17. Jhd.s der protestantische Aristotelismus die Schulphilosophie der deutschen UniversitÇten, und davon wollten sich die Professoren der Philosophie lÙsen. In dieser Absetzbewegung kamen Descartes und Locke zur Geltung, wÇhrend sich die franzÙsischen AufklÇrer schon wieder von Descartes absetzten. Entsprechend der erwÇhnten Absetzbewegung von der (lateinischen) Scholastik setzten jetzt, wiederum angeregt durch Leibniz, BemÜhungen ein, die deutsche Sprache auch fÜr die Philosophie zu verwenden, eine Aufgabe, welche die AufklÇrer in Frankreich fÜr das FranzÙsische wiederum schon als weithin erledigt vorfanden. Das Verdienst, eine deutsche philosophische Terminologie geschaffen zu haben, gebÜhrt zu einem großen Teil Christian Thomasius (1655–1728) und Christian Wolff (1679–1754), obwohl sie dabei auf die Versuche einzelner VorlÇufer zurÜckgreifen konnten. Als Thomasius 1687/1688 in Leipzig erstmals eine Vorlesung mit dem bezeichnenden Titel Programm von der Nachahmung der Franzosen in deutscher Sprache hielt, provozierte er damit einen Skandal. Nicht zu vergessen ist dabei, daß Deutsch die Sprache des BÜrgertums, Latein hingegen die Sprache der Bildungselite und FranzÙsisch die des Adels war. Die Verwendung des Deutschen enthielt somit bereits auch ein politisches Programm. In diesen Zusammenhang gehÙrte auch die von Thomasius 1688 gegrÜndete Zeitschrift Monats-GesprÇche. Ein durchgreifender Erfolg bei der EinfÜhrung des Deutschen war aber erst Wolff vergÙnnt, Thomasius hatte noch mit beinahe unÜberwindbaren, und eben auch sachlichen Schwierigkeiten zu kÇmpfen. Auch Leibniz war sich z. B. noch nicht sicher, ob man im Deutschen eher »Logick« gebrauchen sollte oder die deutschen Formen »Vernunfft Kunst« bzw. »Denck Kunst« (Die philosophischen Schriften. Hrsg. v. C. I. Gerhardt, VII. S. 512–527). Die Orthographie war noch in keiner Weise geregelt, Thomasius z. B. schreibt hÇufig »ErkÇntnÜß«, wÇhrend Leibniz in ein und demselben Text einmal »ErkantnÜß«, dann »erkentnÜß«, »erkÇndtnÜß« und schließlich auch »erkentniß« verwendet (SÇmtliche Schriften und Briefe VI, 4. Berlin 1999. S. 2666 f.). Schrieb Leibniz hingegen franzÙsisch, so wußte er genau, daß nach der damaligen Orthographie einzig connoissance korrekt war. Leibniz kannte alle diese Probleme, als er seine Unvorgreiflichen Gedanken betreffend die AusÜbung und Verbesserung der deutschen Sprache verfaßte. Man muß sich klar machen, daß es noch zu Beginn des 18. Jhd.s nicht mÙglich

Die Philosophie der AufklÇrung in Deutschland

war, auch nur einen Brief in deutscher Sprache zu verfassen, ohne dabei auf irgendwelche FranzÙsismen oder Latinismen zurÜckzugreifen (vgl. Kap. XI, 1 und 2). Im Vergleich zum FranzÙsischen - wie auch zum Englischen und Italienischen - war die deutsche Sprache terminologisch und orthographisch einfach nicht ausreichend entwickelt. Leibniz weist allerdings darauf hin, daß sogar die Grammatik des Deutschen noch sehr unvollkommen ist (Unvorgreifliche Gedanken. S. 42). Das Problem, das Wolff zu lÙsen hatte, war nicht nur ein Problem der ¾bersetzung, sondern weithin eines der WortschÙpfung. Man kann dies an dem einfachen Beispiel sehen, daß etwa das Wort »Begriff« damals fÜr seine Zeitgenossen eine hÙchst befremdliche NeuschÙpfung darstellte. Dabei entsprach Wolff mit seinem Eintreten fÜr die deutsche Sprache nicht unbedingt dem Geschmack seiner Zeit: Als Friedrich der Große (1740–1786) die Preußische Akademie reorganisierte, geschah diese Arbeit unter franzÙsischem Einfluß, dem Friedrich immer sehr offen gegenÜberstand; man denke nur an den Aufenthalt Voltaires bei Friedrich dem Großen und die wichtige Rolle franzÙsischer Hugenotten am Hofe in Berlin. Seit 1746 war Maupertius (1698– 1759), der aus dem Kreise der franzÙsischen AufklÇrung stammte, PrÇsident der Akademie in Berlin. Auch sein Nachfolger, der bedeutende Mathematiker Leonhard Euler (1707–1783) schrieb lateinisch oder franzÙsisch und stand der deutschen Philosophie Wolffs ausdrÜcklich ablehnend gegenÜber. Wolff lehnte nicht zuletzt aufgrund dieser franzÙsischen Vormachtstellung einen Ruf nach Berlin ab. Die deutschen AufklÇrer waren wie die franzÙsischen Eklektiker, aber auch hier entspricht dem eine prinzipielle Haltung: Es ging darum, sich von AutoritÇten frei zu machen und das (und nur das) aus der Tradition zu Übernehmen, was einer kritischen Analyse standhÇlt. Dieser Eklektizismus gehÙrte nach dem SelbstverstÇndnis der AufklÇrer - sie verwenden »eklektisch« in einem ganz positiven Sinne auch in Buchtiteln - zu dem, was Kant als »MÜndigkeit« bezeichnen wird. Allerdings ist festzustellen, daß die Auswahl, die getroffen wurde, in verschiedener Hinsicht in der deutschen AufklÇrung, jedenfalls in der ersten Periode, verhÇngnisvoll beschrÇnkt war. Besonders problematisch war dabei, daß sie von den englischen Autoren zu spÇt ernsthaft Kenntnis nahmen. Die fÜr die franzÙsischen AufklÇrer so wichtigen Schriften Newtons und Lockes wurden von den deutschen Philosophen der AufklÇrung zu spÇt »entdeckt« und verwertet. Diese Schriften wurden erst in der spÇten Phase der Philosophie der deutschen AufklÇrung wichtig. Damit verbunden ist, daß in der deutschen AufklÇrung im Unterschied zur franzÙsischen die Technik als Mittel der Verbesserung der Lebensbedingungen des Menschen kaum eine Rolle spielte. Die franzÙsischen AufklÇrer dachten von Anfang an an die AufklÇrung der Gesellschaft und an die dabei erforderliche Bildung des Volkes. Die deutschen AufklÇrer hingegen hatten zunÇchst einmal die AufklÇrung des Individuums (der Oberschicht) im Blick, und erst gegen Ende des 18. Jhd.s, ganz deutlich erst bei den Mitstreitern und Nachfolgern Kants, wird AufklÇrung und MÜndigkeit auch zu einem politischen Programm. Andererseits beriefen sich die deutschen Philosophen der AufklÇrung in

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zunehmendem Maße auf die ²ffentlichkeit, auf das »Publikum«, da eine in allen vorhandene allgemeine »Menschenvernunft« eine Garantie der Wahrheit abgeben sollte. Der Kampf um Gedankenfreiheit, Pressefreiheit und gegen jede Form der Zensur ist auch in diesem Kontext zu sehen.

b) Grundprobleme der deutschen Aufkl›rung

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Der maßgebliche Mann zu Beginn der deutschen AufklÇrungsphilosophie war Christian Thomasius, auch wenn er nicht als wirklich bedeutender Philosoph bezeichnet werden kann. Die Fragen der modernen Naturwissenschaft waren ihm fremd, seine Physik ist anti-mechanistisch und schließt sich an die platonische Naturphilosophie der Renaissance an. So lehnte er z. B. aus metaphysischen GrÜnden das Vakuum ab, und auch die ihm bekannten entsprechenden Experimente beeindruckten ihn nicht. In anderen Bereichen hingegen gab er AnstÙße, die weit wirkten. Er setzte sich energisch fÜr Toleranz ein, bekÇmpfte den Aberglauben und die immer noch bestehenden Hexenprozesse, und es ist nicht zuletzt auf eine von ihm verfaßte Schrift zurÜckzufÜhren (vgl. das Lit.-Verz.), daß in Preußen die Folter als Mittel in Gerichtsverfahren abgeschafft wurde. Der Kampf gegen alle Formen von Aberglauben und im Gefolge von Bacons Idolenkritik - Überhaupt gegen alle Arten von Vorurteilen gehÙrte zum Grundbestand der AufklÇrung, auch wenn dies nicht selten auf der Ebene reiner Rhetorik blieb. Thomasius war ein aufrechter Mann und bekam die Konsequenzen seiner AufklÇrungstÇtigkeit selbst zu spÜren. Als er in Leipzig fÜr Toleranz gegenÜber den Pietisten eintrat, erwirkte die streng lutheranische theologische FakultÇt ein Lehr- und Publikationsverbot fÜr ihn. Thomasius ging daher nach Brandenburg, wo er vor allem fÜr die 1694 neu erÙffnete UniversitÇt Halle wichtig wurde. Dort mußte er allerdings bemerken, daß die Pietisten genauso intolerant waren wie die strengen Lutheraner, so daß er aufgrund eines Verbots nur noch juristische Vorlesungen abhalten durfte und zu anderen Fragen nicht mehr Stellung nehmen konnte. Dies reichte Thomasius: UrsprÜnglich hatte er dem Pietismus nahegestanden - und in seiner Ethik wird das auch bleibend spÜrbar sein -, jetzt aber wollte er mit den Pietisten nichts mehr zu tun haben. Thomasius war ursprÜnglich Jurist und wandte sein besonderes Interesse der Lehre des Handelns, also der Sittenlehre, zu. Zugunsten der praktischen Regeln des tÇglichen Lebens wollte er auf abstrakte ¾berlegungen weitgehend verzichten, was fÜr diese frÜhe Periode der AufklÇrung kennzeichnend war. In diesem Punkt traf sich das Interesse der frÜhen AufklÇrungsphilosophen mit dem der Pietisten. Thomasius war bei der Aufstellung von Lebensregeln deutlich von antiker Ethik beeinflußt, die seit der Renaissance eine wichtige Rolle gespielt hatte. Die GlÜckseligkeit der Menschen wurde dort in der GemÜtsruhe gesehen; diese wurde jetzt mit dem antiken und von Leibniz aufgenommenen Gedanken der Harmonie interpretiert. Obwohl Thomasius eine christliche

Die Philosophie der AufklÇrung in Deutschland

Sittenlehre entwickeln wollte, zeigt sich doch, daß bei Anweisungen im Konkreten auch zahlreiche epikureische Elemente gegenwÇrtig sind, die der weltlichen Kultur Leipzigs oder Berlins durchaus entgegenkamen. Das wichtigste Ziel der Ethik ist nach Thomasius, den Menschen zu einer vernÜnftigen Liebe zu erziehen, denn die Sittenlehre soll »die Artzney-Mittel wider die unvernÜnfftige Liebe zeigen« (Einleitung zur Sittenlehre. Vorrede 4. S. B5). Wenn Thomasius von »vernÜnfftiger Liebe« spricht, so weiß er, daß andere, gemeint ist u. a. natÜrlich Hobbes, dann sofort eine »vernÜnfftige Selbst-Liebe« als Grundlage der Ethik einfÜhren. Thomasius ist im Gegensatz dazu der Auffassung, daß Liebe immer die Beziehung zu etwas bzw. zu einem anderem beinhaltet, so daß man sich gar nicht selbst lieben kann. Er spricht daher »von der vernÜnfftigen Liebe anderer Menschen als dem einigen Mittel, die GemÜths-Ruhe zu erhalten Überhaupt« (Einleitung zur Sittenlehre IV. S. K5). Thomasius war aber nicht naiv: Er war auch der Auffassung, daß die Menschen in der RealitÇt zu einer vernÜnftigen Liebe gar nicht fÇhig sind, sondern immer die unvernÜnftige Liebe vorherrscht. Damit sind wir wieder bei Augustinus (vgl. 2. Teil, Kap. III, 5), bei Luther und auch bei den Pietisten. Es ist schon eigenartig: In der EinschÇtzung des faktisch existierenden Menschen sind Hobbesianer und Augustinianer gar nicht so weit voneinander entfernt. Nach Thomasius ist der Mensch schon von Anfang an ein Gesellschafts- und Sprachwesen: Die Bestien haben alle und jede einen innerlichen Trieb sich selbst zu erhalten und sich selbst das Vergn¹gen, dessen sie f›hig sind, zu geben. Und ob sie schon nicht leichtlich andere Bestien einerlei Art und Geschlecht verletzen, so suchen sie doch auch nicht in dem Wohlsein der anderen das geringste Vergn¹gen, weil sie von dem Sch³pffer zu keiner Gesellschaft unter sich gewidmet sind. Aber der Mensch w›re ohne Gesellschaft nichts [...]. Die Gedanken sind eine innerliche Rede. Wozu brauchte er diese innerliche Rede, wenn niemand w›re, mit dem er seine Gedanken kommunizieren sollte? (Einleitung zur Sittenlehre II, 73–75. S. 88 f.) Den Menschen vom Tier durch Gesellschaftlichkeit und Sprachlichkeit zu unterscheiden, ist eine traditionelle Auffassung, die jedoch, wie schon in der nÇchsten Generation Condillac zeigen wird (vgl. weiter oben 1, b), der empirischen ¾berprÜfung nicht standhÇlt. Das Programm einer »Experimentalphilosophie« war in der deutschen AufklÇrung noch nicht angekommen (das wird auch noch fÜr Wolff gelten). Die Sittenlehre des Thomasius im einzelnen darzustellen, lohnt sich nicht. Wichtig ist jedoch ihre systematische Stellung und ihre Ausrichtung, da diese Über die AufklÇrung hinaus in der deutschen Philosophie maßgeblich wurde. Die gesamte philosophische Arbeit des Juristen Thomasius stand unter einer praktischen Zielsetzung. Der Jurist weiß, daß es bei der Beurteilung konkreter sittlicher Handlungen

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nicht nur ethischer Prinzipien, sondern auch praktischer Menschenkenntnis bedarf, die sich viel schwerer als erstere in ein Regelsystem bringen lÇßt. Alles dies ist bei Thomasius ziemlich konkret gehalten und stÜtzt sich auf psychologische Beobachtungen, und im Ergebnis ist es von der Praxis pietistischer SeelenfÜhrung nicht weit entfernt. Thomasius orientiert sich am Sokrates der Apologie, er sieht sich als Philosoph in der Rolle des fragenden Erziehers. Die Philosophie ist fÜr ihn von einem Nutzen fÜr die Selbsterkenntnis her bestimmt, die dem Menschen dazu dient, sein »Wesen« zu verwirklichen. Thomasius sah auch sehr deutlich, daß Wahrheitserkenntnis nicht nur eine intellektuelle Frage ist, sondern auch viel mit einer Haltung des Willens zu tun hat. Er verbindet dann Anweisungen zu einer praktischen Lebensklugheit mit einem sittlichen Zweck. – FÜr Thomasius ist es kennzeichnend, daß er, ganz im Stile des Pietismus, sehr persÙnlich denkt und schreibt, so daß selbst der Aufbau seiner philosophischen LehrbÜcher einen persÙnlichen, individuell geprÇgten Zug aufweist. Dabei blieb Thomasius immer selbstkritisch, was er auch ganz konkret dadurch zum Ausdruck brachte, daß er seinen Studenten nahelegte, auch die Vorlesungen anderer Professoren zu besuchen. Es hat auch etwas sowohl mit seinen Vorstellungen von Toleranz und Selbstkritik als auch mit seiner Kenntnis der Rechtspraxis zu tun, daß er der Wahrscheinlichkeit eine viel grÙßere Bedeutung beimaß als dies in der rationalistischen Tradition der Fall war. Mit Problemen des WahrscheinlichkeitskalkÜls seiner Zeit hingegen beschÇftigte er sich nicht. Das Anliegen von Christian Wolff war ein anderes. Er sagt selbst von der Situation in Halle: Die Mathematik war eine unbekannte und ungewohnte Sache, von der Solidit›t hatte man keinen Geschmack, und in der Philosophie dominierte H. Thomasius, dessen sentiment aber und Vortrag nicht nach meinem Geschmack waren. (Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung. S. 146) Wolff ging es darum, Philosophie als strenge Wissenschaft aufzubauen. Er war aber zunÇchst und zumeist Lehrer, und seine Philosophie ist daher vor allem Schulphilosophie. So steht auch das Werk Wolffs in seinem systematischen Aufbau ganz im Gegensatz zu dem enzyklopÇdischen Werk der franzÙsischen AufklÇrer - obwohl diese »eklektisch« ganze Artikel fast wÙrtlich aus Schriften von Wolff Übernahmen - und auch zu dem viel individueller geprÇgten Werk des Thomasius. Die Bedeutung Wolffs liegt jedoch historisch genau in dieser Erarbeitung einer systematischen Schulphilosophie und viel weniger in einzelnen Elementen dieser Philosophie. Erst unter dieser Voraussetzung wird das System der kantischen Philosophie oder werden dann die Systeme des Deutschen Idealismus mÙglich. Die Philosophie hatte sich seit der Renaissance ausdrÜcklich von den Summen der scholastischen Philosophie abgesetzt, die franzÙsischen AufklÇrer waren diesem Weg gefolgt. Wolff erneuerte nun den scholastischen Aufbau einer Schulphilosophie unter neuen Voraussetzungen.

Die Philosophie der AufklÇrung in Deutschland

Wolff stammte aus einer Handwerkerfamilie in Breslau. Dort war die Mehrheit der BevÙlkerung protestantisch, die Herrscher aber katholisch. Dies gab hÇufig Gelegenheit zu Diskussionen zwischen den SchÜlern des lutherischen Gymnasiums und jenen des Breslauer Jesuitenkollegs, wobei Wolff aber rasch erkannte, daß sie zu nichts fÜhrten. Auch die Erinnerungen aus dem DreißigjÇhrigen Krieg wirkten weiter fort. Wolff wollte ein gesichertes Fundament finden und wandte sich der Philosophie zu, wobei er sich aber zunÇchst eingehend mit Mathematik beschÇftigte. Seine erste LehrtÇtigkeit in Leipzig war auch der Mathematik gewidmet, und eine seiner ersten Arbeiten sandte er an Leibniz. Auf Empfehlung von Leibniz erhielt er dann 1706 eine Professur fÜr Mathematik in Halle. Bevor er diese Stellung antrat, traf er sich mit Leibniz, und dem folgte eine Über viele Jahre gehende Korrespondenz. Wolff blieb Leibniz auch zu Diensten, als es darum ging, ein von Leibniz verfaßtes aber anonym weitergegebenes Verteidigungsschreiben im PrioritÇtsstreit mit Newton (vgl. Kap. X, 1) in Umlauf zu bringen und an Zeitschriften zu senden. In der Korrespondenz mit Leibniz ging es aber nicht nur um mathematische, sondern auch um allgemeine philosophische Fragen. Leibniz Çußerte sich nicht selten sehr kritisch zu den EntwÜrfen Wolffs, dieser wiederum nahm die EinwÇnde sehr ernst, hatte aber keineswegs die Absicht, einfach die Gedanken von Leibniz weiterzugeben. Die wahrscheinlich zunÇchst von Gegnern eingefÜhrte Bezeichnung »Leibniz-Wolffsche Philosophie«, die auch von Kant und fortan im weiteren 19. Jhd. gebraucht wurde, zeigte sich allerdings nach dem Erscheinen zahlreicher unbekannter Werke Wolffs (vgl. weiter unten) als nicht zutreffend. Wolff hatte von Leibniz einige Gedanken, wie den der prÇstabilierten Harmonie, den der MÙglichkeit als logische Grundbestimmung oder den Satz vom zureichenden Grund, Übernommen. So beginnt z. B. seine Deutsche Logik mit den folgenden Feststellungen: Was Welt-Weisheit ist. § 1. Die Welt-Weisheit ist eine Wissenschaft aller m³glichen Dinge, wie und warum sie m³glich sind. Was Wissenschaft ist. § 2. Durch die Wissenschaft verstehe ich eine Fertigkeit des Verstandes, alles, was man behauptet, aus unwidersprechlichen Gr¹nden unumst³ßlich darzuthun. Welche Gr¹nde unwidersprechlich sind, und wie man etwas auf eine unumst³ßliche Weise darthut, wird in gegenw›rtigen Gedancken von dem Gebrauche der Kr›fte des Verstandes in Erk›ntniß der Wahrheit dargethan werden. Was m³glich ist. § 3. M³glich nenne ich alles, was seyn kan, es mag entweder w¹rcklich da seyn, oder nicht. Alles hat einen Grund, warum es ist. § 4. Weil von nichts sich nichts gedencken l›sset; so muß alles, was seyn kan, einen

311

Die Philosophie der AufklÇrung

zureichenden Grund (oder eine raison) haben, daraus man sehen kan, warum es vielmehr ist, als nicht ist [...]. (Vern¹nftige Gedanken von den Kr›ften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit. S. 115)

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Im weiteren zeigt sich aber, daß Wolff von den uns heute bekannten, damals noch nicht verÙffentlichten Arbeiten von Leibniz zu den logischen KalkÜlen (vgl. Kap. XI, 2) keine Kenntnis hatte. Allerdings scheint er auch die schon 1666 verÙffentlichte Dissertatio de Arte Combinatoria von Leibniz nicht gekannt zu haben. Wolffs wichtigste Grundlage dÜrften die 1684 in den Acta Eruditorum verÙffentlichten Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis (Leibniz: A VI, 4, S. 585–592. Hauptschriften I. S. 9–15. Vgl. das Lit.-Verz. zu Kap XI) gewesen sein. Lockes Versuch Über den menschlichen Verstand hingegen wurde von Wolff nicht berÜcksichtigt. Damit sind die Grenzen der Logik und Wissenschaftslehre Wolffs schon deutlich. Die EinschÇtzung der Philosophie Wolffs war lange Zeit ziemlich negativ, in den letzten Jahrzehnten wurde versucht, eine eigenstÇndige Bedeutung derselben herauszustellen. Ganz Überzeugend sind diese Versuche nicht. In der berÜhmten Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft hat auch Kant darauf hingewiesen, wieviel auch seine eigene Philosophie der »strengen Methode des berÜhmten Wolff« verdankt ([B XXXVI]. S. 22). Unter den angefÜhrten Kennzeichen, um den »sicheren Gang einer Wissenschaft zu nehmen«, nÇmlich »gesetzmÇßige Feststellung der Prinzipien, deutliche Bestimmung der Begriffe, versuchte Strenge der Beweise, VerhÜtung kÜhner SprÜnge in Folgerungen« (Ebd.) findet sich aber keines, das nicht auch bei Leibniz oder schon bei Descartes gefordert worden wÇre. Was Wolff schuf, war also eine Schulphilosophie, die er zunÇchst deutsch und dann lateinisch abfaßte; sie bestand aus Logik, Metaphysik, Ethik, Politik, Physik und Physiologie, zu der Anatomie, Biologie usw. gezÇhlt wurden. Es ist hier sofort sichtbar, daß diesem Aufbau die aristotelische Wissenschaftseinteilung zugrunde liegt. Aristoteles war ausdrÜcklich empirisch orientiert gewesen, es hÇtte daher naheliegen mÜssen, wenn man schon dieses Schema wieder aufgreifen wollte, die einzelnen Teile im Sinne des modernen Wissenschaftsbegriffs zu bearbeiten, also etwa dem methodologischen Anliegen eines Bacon zu folgen. Wolff tat dies jedoch nicht. Unter dem Einfluß Descartes’ und des Mathematikers Tschirnhaus (1651–1708), vor allem aber, weil er sich selbst als Mathematiker verstand, rationalisierte er dieses ganze System, machte also aus ihm eine universelle Begriffslehre. »AufklÇrung« bedeutet hier also vor allem: klare Begriffe. Aus der folgenden Aufgabenstellung Wolffs fÜr die Philosophie hÙrt man deutlich das Programm von Descartes und Leibniz heraus: In der Philosophie darf man keine Ausdr¹cke verwenden, die man nicht zuvor durch eine genaue Definition expliziert hat. Wenn wir in der Philosophie nur solche Ausdr¹cke benutzen, die durch eine genaue Definition expliziert worden sind, dann ist der Sinn

Die Philosophie der AufklÇrung in Deutschland

der S›tze gewiß. Weil aber die Philosophie eine Wissenschaft ist, muß alles, was in ihr behauptet wird, auch bewiesen werden. Weil nun ohne weiteres klar ist, daß eine These nicht bewiesen werden kann, bevor ihr Sinn gewiß ist, deshalb muß der Sinn aller philosophischen S›tze gewiß sein, und deshalb darf man nur solche Ausdr¹cke benutzen, die vorher durch eine genaue Definition expliziert worden sind. (Wolff: Philosophia rationalis sive logica IV, § 116. S. 53. •bers. nach Ciafardone: Die Philosophie der deutschen Aufkl›rung. S. 147) Alles weitere muß nach strengen Regeln aus den ersten SÇtzen abgeleitet werden: Die Philosophie ist eine Wissenschaft, und deshalb muß sie ihre S›tze auf dem Wege g¹ltiger Schlußfolgerung aus gewissen und unersch¹tterten Prinzipien herleiten. [...] so d¹rfte dies das oberste Gesetz der philosophischen Methode sein, daß man dasjenige vorausschicken muß, mit dessen Hilfe das Folgende erkannt und ausgewiesen wird. (Ebd. § 118 und § 133. S. 54 u. 66. •bers. nach Ciafardone: Ebd. S. 148 f.) Das ist gemeint, wenn er in den Titeln all seiner deutschen Schriften jeweils »VernÜnftige Gedanken von ...« setzt. Allerdings kommt dabei der cartesianische Ausgangspunkt vom Selbstbewußtsein kaum zum Tragen, die ganze Philosophie wird zu einer objektiven Substanzenlehre. Diese Philosophie fand weite Verbreitung, und man sollte sich im klaren darÜber sein, daß sie - ungewollt - maßgebend wurde fÜr das VerstÇndnis dessen, was man sich so ganz allgemein unter »scholastischer Philosophie« und »scholastischer Metaphysik« vorstellt (der gegenÜber viele eine gar nicht unberechtigte Abneigung haben). Sie ist aber eigentlich nicht die Philosophie der mittelalterlichen Scholastik, sondern die Schulphilosophie der deutschen AufklÇrung. Nicht umsonst fand die Philosophie Wolffs auch in der katholischen Philosophie rasch Eingang. Der Einfluß von Wolff hat ein Ausmaß, das uns heute Überdimensional vorkommt. Er war eine Ùffentlich bekannte PersÙnlichkeit seit seiner frÜhen TÇtigkeit. Dies hat auch etwas mit den Çußeren UmstÇnden zu tun: Aufgrund von Streitigkeiten mit den Pietisten in Halle, vor allem mit August Hermann Francke (1663–1727), wurde Wolff 1723 unter Androhung der Todesstrafe gezwungen, Halle innerhalb von zwei Tagen zu verlassen, und man verbrannte seine BÜcher. Das Ereignis wurde in ganz Europa kommentiert. Endlich hatten auch die Protestanten ihren Galilei. Wolff erhielt eine Professur in Marburg und wurde 1740 von Friedrich II. wieder in seine frÜhere Stelle in Halle eingesetzt. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch die große Zeit Wolffs schon vorbei. Wolff wurde aber auch bekannt durch sein immenses Werk, mit dessen Umfang nur das Werk von Albertus Magnus konkurrieren kann. Es gab jetzt erstmals eine deutsche Philosophie, die auch im Ausland ernst genommen wurde. VerstÇndlicherweise waren die SchÜler oder AnhÇnger Wolffs an allen protestantischen UniversitÇten der deutschen LÇnder anzutreffen.

313

Die Philosophie der AufklÇrung

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Um die Mitte des 18. Jhd.s setzte eine Reaktion gegen Wolffs Philosophie ein. Sie ging in zwei Richtungen: (1) Durch ¾bersetzungen wurden u.a. die Schriften von Locke, Hume, Montesquieu und Condillac bekannt. 1765 wurden erstmals die Neuen Versuche Über den menschlichen Verstand von Leibniz verÙffentlicht, und durch die große Ausgabe von Leibniz-Schriften durch Dutens von 1768 wurde klar, daß Wolff ein sehr verkÜrztes Bild der leibnizschen Philosophie geliefert hatte. Johann Heinrich Lambert (1728–1777) und Johannes Nicolaus Tetens (1736–1807) versuchten, eine Verbindung zwischen dem Empirismus Lockes und dem Rationalismus von Leibniz herzustellen. Dies ist die Richtung, die dann auch Kant verfolgen wird. (2) In Abkehrung vom Rationalismus Wolffs wurde versucht, den von Thomasius in der frÜhen AufklÇrung angestrebten Vorrang des Handelns wieder zur Geltung zu bringen und gleichzeitig die Unableitbarkeit der Erfahrung aus den Begriffen zu sichern. Dieses Anliegen verfolgte Christian August Crusius (1715–1775), und auch Kant wird es in seine vorkritische Philosophie einbeziehen. In der zweiten HÇlfte des 18. Jhd.s nahm die sogenannte »PopulÇrphilosophie« einerseits die anthropologischen Fragen und die praktische Ausrichtung der Philosophie von Thomasius wieder auf, ließ aber auch Anregungen aus der englischen und franzÙsischen AufklÇrung zur Geltung kommen. Damit wurde die enge Bindung der frÜheren Philosophen der deutschen AufklÇrung an das orthodoxe Luthertum gelockert und auch hier eine aufgeklÇrtere Haltung mÙglich. Diese PopulÇrphilosophie kam eindeutig den Interessen des BÜrgertums entgegen. Die bekanntesten Vertreter dieser Bewegung sind Moses Mendelssohn (1729–1786), ein energischer Vertreter der Gewissensfreiheit, und Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), dessen Nathan der Weise als Manifest aufgeklÇrter Toleranz verstanden wurde. Lessing brachte in seiner bekannten Schrift Über Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) auch den Gedanken einer zukÜnftigen »vernÜnftigeren« Gesellschaft zum Ausdruck. Vernunft und Geschichte werden nicht mehr in einem Gegensatz gesehen. Die menschliche Vernunft - an der sich auch die historischen Gestalten der Religionen messen mÜssen - lÇßt eine unbegrenzte Vervollkommnung zu. GegenÜber franzÙsischen Vertretern Çhnlicher Vorstellungen wirkt Lessings Konzeption, in der es immer noch einen gÙttlichen Erziehungsplan gibt, weniger »aufklÇrerisch«, was aber vielleicht nicht der Fall ist, denn hier bleibt es wenigstens deutlich (= »aufgeklÇrt«), wo solche Vorstellungen herkommen. Im ganzen wird man wohl sagen mÜssen, daß im Vergleich zur vorangegangenen Periode des Rationalismus und des Empirismus weder die franzÙsischen noch die deutschen Philosophen der AufklÇrung in Sachfragen oder in methodologischer Hinsicht entscheidend Neues geliefert haben. Die Schriften der deutschen Philosophen der AufklÇrung finden mit Ausnahme der Dichtungen Lessings heute kaum noch Leser, und daran wird sich auch in Zukunft nicht viel Çndern. Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, daß es ihr Verdienst war, die Grundlagen der Philosophie der Neuzeit so ins allgemeine Bewußtsein gebracht zu haben, daß die Philosophie

Die Philosophie der AufklÇrung in Deutschland

des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jhd.s von diesen Grundlagen als von SelbstverstÇndlichkeiten ausgehen konnte. Damit war sie nicht mehr gezwungen, sich gegenÜber der Theologie oder der scholastischen Philosophie zu verteidigen oder zu rechtfertigen. In positiver Hinsicht bedeutet es, daß Kant, der in seinen Kritiken immer die Grenzen der Vernunft aufzuzeigen versuchte, um streng innerhalb der Grenzen einer endlichen, menschlichen Vernunft zu bleiben, dies nicht mehr eigens begrÜnden mußte. Schließlich sollte man nicht vergessen, daß unsere heutigen, oft recht vagen, aber doch weiterhin maßgeblichen Wertvorstellungen weithin aus der AufklÇrung stammen, und ebenso sollte man wissen, daß die verhÇltnismÇßig zivilisierten Lebensbedingungen der meisten LÇnder Europas, die wir bei aller Kritik doch nicht missen wollen, nicht zuletzt durch die Anstrengungen der AufklÇrer entstanden sind.

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- XIV -

Die Philosophie des 19. Jahrhunderts. Einleitung und •berblick

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Die Philosophie des 19. Jhd.s nimmt in dieser Vorlesung einen verhÇltnismÇßig großen Raum ein. Diese Philosophie ist vorwiegend eine deutsche Philosophie, denn auch der dÇnische Philosoph Kierkegaard erhielt seine große Bedeutung eigentlich erst durch die ¾bersetzung seiner Werke ins Deutsche. Ich bin mir ganz und gar nicht sicher, ob dieser breite Raum den Proportionen der Sache gerecht wird. Diese Vorlesungen sind jedoch auch als eine Auftragsarbeit entstanden (vgl. das Vorwort zum ersten Band), und in den Schulen Deutschlands spielen Kant, Hegel, Fichte, Schelling, Feuerbach, Marx, Schopenhauer und Nietzsche eine große Rolle. Dieser Rolle war in dieser Vorlesung zu entsprechen. Die ebenfalls deutschen Philosophen Frege und Wittgenstein, letzterer war allerdings ²sterreicher, der die deutsche EinbÜrgerung - er war Jude - als entsetzlich empfand, spielen trotz aller Reformversuche eine geringere Rolle. Dies ist jedoch nicht gerechtfertigt, und es ist eine der Aufgaben, denen sich diese Vorlesungen zu stellen versuchen, dies aufzuzeigen. Die Breite der Darstellung scheint mir trotzdem gerechtfertigt, weil im 19. Jhd. die Grundlagen fÜr Entwicklungen gelegt wurden, die bis in unsere Gegenwart hineinreichen. FÜr die Behauptung, diese Periode sei abgeschlossen und wir wÜrden inzwischen in der Postmoderne leben, fehlt bisher eine ausreichende BegrÜndung. Es ist durchaus ebenso begrÜndbar zu sagen, daß die Situation der Gegenwart in entscheidender Hinsicht bestimmt ist durch die Entwicklungen der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Politik, wie sie sich im 17. Jhd. mit Newton, Leibniz und Hobbes herausgebildet haben. Wir kÙnnen also durchaus auch sagen, daß wir uns weiterhin in der Periode der Moderne und nicht in der Postmoderne befinden. Es ist allerdings nicht einfach, die Rolle der Philosophie in dieser Periode zu bestimmen. Daß sie eine wichtige Rolle gespielt hat, ist nicht zu Übersehen, als Beweis dafÜr genÜgt etwa der Hinweis, daß in dieser Zeit das Kommunistische Manifest entstand, welches auch ein philosophischer Text ist. Die Rolle der Philosophie in dieser Periode ist aber keineswegs eindeutig. Es wurde nicht nur von positivistischen Gegnern jeder Philosophie, sondern auch von einigen Philosophen die These vertreten, daß die Zeit der Philosophie Überhaupt vorbei sei. WÇhrend in frÜheren Perioden die Philosophen ihre Aufgabe zunÇchst gegenÜber der Theologie - so im Mittelalter - und dann gegenÜber der Wissenschaft - so in der Neuzeit - verteidigt hatten, wird im 19. Jhd., von recht

Die ’quivokation des Philosophiebegriffs

verschiedenen Positionen aus, wie etwa von Fichte, Marx und Nietzsche, die »Aufhebung« der Philosophie selbst ins Auge gefaßt. Von ganz anderen Voraussetzungen her gelangt Wittgenstein zu dem Ergebnis einer Art Aufhebung der Philosophie, jedenfalls wenn es darum geht, von der Philosophie eine Gruppe philosophischer LehrsÇtze zu erwarten. Dem stellt Wittgenstein lapidar gegenÜber: Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine T›tigkeit. (Tractatus 4.112) Im folgenden soll nur mit kurzen und oberflÇchlichen Schlagworten auf einige Entwicklungen hingewiesen werden, die in der Zeit vom ausgehenden 18. bis zum ausgehenden 19. Jhd. stattgefunden haben. Dazu sei zunÇchst ein Schema eingefÜhrt, welches die wichtigsten Personen auffÜhrt und zugleich einen Hinweis fÜr das weitere Vorgehen in der Vorlesung liefert: Leibniz Kant

Kant

317 Hegel

Fichte

Schelling

Begriff, System Feuerbach

Schelling

Schopenhauer

Sinnlichkeit

(Spätphilosophie)

Negation des Willens

Peirce

Kierkegaard

Dilthey

Mach

Schröder

Subjektivität

Geschichte

Einstein

Frege

Physik

Wittgenstein Logik

Marx Theorie-Praxis

Boole

Nietzsche Wille zur Macht

Wissenschaftstheorie

1. Die quivokation des Philosophiebegriffs - das (vorl›ufige) Ende der philosophischen Kommunikationsgemeinschaft ZunÇchst einige kurze Definitionen. Mit dem Begriff ›quivok wird gesagt, daß es sich bei gleichen WÙrtern um verschiedene Begriffe handelt, d. h. um Begriffe, die trotz gleichen Wortlauts ganz Verschiedenes bedeuten; als univok bezeichnet man demgegenÜber Begriffe, die genau dasselbe bedeuten. Analog schließlich sind Begriffe, die Gemeinsames und Unterschiedliches bedeuten, die also eine teilweise, nicht aber

Die Philosophie des 19. Jahrhunderts

318

eine vÙllig gleiche Bedeutung haben. - Nun gab es niemals einen univoken Begriff von »Philosophie«, doch die Unterschiede der Ansichten in Hinsicht auf Ziele und Methoden der Philosophie waren nie so groß, daß man von einer ’quivokation des Philosophiebegriffs hÇtte sprechen mÜssen. Die Philosophen verstanden sich bei allen Unterschieden ihrer Ansichten und bei aller Polemik untereinander als eine Kommunikationsgemeinschaft, d. h. sie konnten miteinander Über ihre Definitionen von »Philosophie« sprechen und taten dies auch. Dies ist ein sehr pragmatisches Kriterium, welches verdeutlicht, daß der Philosophiebegriff immer ein analoger Begriff war. Die einzelnen Definitionen wiesen sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten auf, die Differenzen zwischen den einzelnen Auffassungen gingen jedoch nie so weit, daß die gemeinsame GesprÇchsgrundlage zerstÙrt worden wÇre. Aristoteles kritisierte in entscheidenden Punkten Platon, er meinte, daß manche Auffassungen Platons falsch, nicht aber, daß sie unphilosophisch seien. Man kann im Mittelalter die Philosophen - etwas oberflÇchlich und schematisch - in Realisten und Nominalisten einteilen, der Universalienstreit bleibt aber doch eine innerphilosophische Frage, keine der beiden Gruppen sprach der anderen das Recht ab, sich »Philosophen« zu nennen. Dasselbe gilt fÜr spÇtere Perioden: Es gab bei aller Verschiedenheit der Ansichten zwischen den Philosophen, die wir heute als »Empiristen« und »Rationalisten« des 17. Jhd.s einander gegenÜberstellen, eine echte Diskussion. Alle meinten, von ihrer Position aus zu den Auffassungen der anderen etwas zu sagen zu haben, es mußte also einen gemeinsamen Nenner geben. FÜr den Rationalisten Leibniz war der Empirist Locke ein selbstverstÇndlicher GesprÇchspartner, und auch Newton und Leibniz konnten - auch sehr persÙnlich gefÇrbte - StreitgesprÇche fÜhren, aber keinem von den beiden wÇre es eingefallen zu denken, der andere kÙnnte ihn prinzipiell nicht verstehen. Betrachten wir hingegen uns dagegen die Situation am Ende des 19. Jhd.s, wie sie sich uns in dem obigen Schema darstellt: Die Gruppen rechts und links vom Trennstrich lebten sozusagen in verschiedenen Welten und sprachen vÙllig verschiedene Sprachen. Es gibt keinerlei Anzeichen dafÜr, daß sie meinten, von GegenstÇnden zu sprechen, die gemeinsame BerÜhrungspunkte hatten, in vielen FÇllen wußten sie kaum etwas voneinander. Um gerecht zu sein, muß man allerdings sagen, daß die Philosophen der rechten Seite unseres Schemas, also etwa Peirce oder Frege, doch von einigen der linken Seite - zumindest von Hegel - einige Kenntnisse hatten, wÇhrend Schopenhauer von Boole oder Nietzsche von Frege vermutlich Überhaupt keine Kenntnis nahm. Eine Auseinandersetzung zwischen Nietzsche und Frege Übersteigt selbst die kÜhnste Phantasie. Wenn wir also die Werke dieser Philosophen heute unter den gemeinsamen Begriff »Philosophie« fassen, so ist dies sehr problematisch, denn in diesem historischen Zeitraum liegt nicht einmal ein analoger, sondern vielmehr ein ›quivoker Philosophiebegriff vor. Wir haben eine Philosophie A und eine Philosophie B vor uns und sehen nicht recht, wie zu diesen beiden Begriffen ein gemeinsamer Oberbegriff angegeben werden kÙnnte. Wir haben uns an diese

Die ’quivokation des Philosophiebegriffs

Situation gewÙhnt, und an einigen UniversitÇten wurde sie sogar institutionalisiert, indem man der Philosophie A und der Philosophie B jeweils ein eigenes Institut zuordnete, und entsprechend studieren Studentinnen und Studenten dann an dem einen oder dem anderen Institut und brauchen von der jeweils anderen Seite keine Kenntnis zu nehmen, außer sie sind persÙnlich besonders neugierig. Auch der Sprachgebrauch hat dieser Situation inzwischen Rechnung getragen, wir sprechen heute ganz selbstverstÇndlich von verschiedenen »Philosophien«, eine Pluralbildung die noch im 17. Jhd. undenkbar war. Und wir haben auch die Bezeichnung eines »philosophischen Pluralismus« erfunden, was gut klingt, da Pluralismus etwas zu tun hat mit LiberalitÇt und Toleranz. Dennoch sollten wir vorsichtig sein, denn dieser Pluralismus kann auch etwas zu tun haben mit einer Mode oder Indifferenz, d. h. mit der Auffassung, im Grunde sei eben alles gleichermaßen gÜltig und somit gleichgÜltig. Es gibt auch, und zwar auf beiden Seiten, Immunisierungsstrategien, die eine echte Auseinandersetzung scheinbar ÜberflÜssig machen: Die Vertreter der linken Seite halten die Vertreter der rechten Seite gerne fÜr verkappte Mathematiker; Buchtitel wie Freges Grundlagen der Arithmetik oder Whitehead/Russells Principia mathematica liefern dafÜr ein Alibi. Die Vertreter der rechten Seite hingegen halten die Vertreter der linken Seite fÜr Literaten, und wer wollte dem bei der LektÜre etwa von Camus’ Der Mythos von Sisyphus schon unbedingt widersprechen, wenn dieser doch 1957 den Nobelpreis fÜr Literatur erhielt? Schon in den dreißiger Jahren des 20. Jhd.s war der Trennungsstrich zwischen den beiden Philosophien unÜbersehbar. Wir brauchen uns nur an zwei reprÇsentative Werke erinnern: 1927 erschien Heideggers Sein und Zeit, und nur ein Jahr spÇter (1928) wurde Carnaps Der logische Aufbau der Welt publiziert. Die Grenzen dessen, was zur Philosophie gerechnet werden soll, werden wahrscheinlich immer fließend bleiben, aber dies sollte nicht zur Beliebigkeit fÜhren. Ich beziehe dabei folgende Position: Dort, wo versucht wird, nicht nur intersubjektiv ÜberprÜfbar zu argumentieren, sondern wo auch der Versuch unternommen wird, die Regeln korrekter Argumentation genau, was nicht notwendigerweise heißt: formal, darzustellen, liegt Philosophie vor (die grÙßere NÇhe dieser Position zur rechten Seite unseres Schemas sei dabei zugegeben). Die Bruchstelle lÇßt sich verhÇltnismÇßig leicht und sogar objektiv feststellen, und zwar an Hand der Autorennamen, die bei den jeweiligen Philosophen zitiert werden. Bei der Gruppe rechts findet sich noch eine ziemlich hÇufige Bezugnahme auf Kant; dagegen kommen Hegel oder Schopenhauer selbst bei einem sehr breit interessierten Mann wie Ernst SchrÙder nur noch in der einen oder anderen Anmerkung vor und auch dort eher als KuriositÇt denn als sachlicher Beitrag -, Autoren wie Marx oder Kierkegaard werden Überhaupt nicht erwÇhnt. Bei der Gruppe links und deren Nachfolgern im 20. Jhd. findet sich - sicher mit Ausnahmen wie Husserl oder Cassirer - kaum noch ein Bezug zu der Gruppe rechts. Dadurch wird unmißverstÇndlich deutlich, daß Kant fÜr beide Seiten der letzte sachlich relevante gemeinsame Bezugspunkt ist, wÇhrend mit Fichte–Schelling–Hegel der Bruch einsetzt. Es ist aber schon

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Die Philosophie des 19. Jahrhunderts

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jetzt zu vermuten, daß die Philosophie Kants auf den beiden Seiten ein verschiedene Rolle spielen wird: FÜr die Philosophen der rechten Seite unseres Schemas ist es die Wissenschaftstheorie Kants, die im Vordergrund steht, fÜr die Philosophen der linken Seite hingegen ist es ausschließlich die Transzendentalphilosophie. Das Todesjahr von Schelling (1854) fÇllt zum Beispiel genau mit dem Erscheinen von Booles Laws of Thought zusammen, aber es wird niemandem einfallen, in diesem Werk in irgendeiner Weise eine Fortsetzung der Fragen zu sehen, die Schelling etwa im System des transzendentalen Idealismus (1800) behandelt hatte, obwohl sich diese Schrift ebenfalls mit Denkgesetzen befaßt. Ein Begriff wie »Denkgesetze« war Çquivok geworden. Noch offensichtlicher wird die ’quivokation z. B. beim Begriff »Paradox«. Wenn Kierkegaard von »Paradox« spricht (vgl. Kap. XXI, 2), so lÇßt sich außer vagen Assoziationen kein gemeinsamer Begriffsinhalt mit dem finden, was wir heute etwa unter den »Paradoxien der Implikation« verstehen (was aber der Sache nach auch schon viel frÜher bekannt war; vgl. ex impossibile sequitur quodlibet und necessarium sequitur ex quolibet im 2. Teil, Kap. VII, 3). Die Bruchstelle hat auch etwas mit dem verschiedenen Weg zu tun, den die angelsÇchsische (empiristische) und die deutsche (rationalistische und dann idealistische) Philosophie gingen. Auch hier gilt allerdings: Die angelsÇchsische Philosophie war aufnahmebereiter fÜr die deutsche als umgekehrt. Wolff sperrte sich gegen das angelsÇchsische Denken; Kant sah, daß diese Sperre eine EngfÜhrung bedeutete und versuchte, sie in seinem Denken nicht zur Sperre werden zu lassen, sie vielmehr konstruktiv zu Überwinden. Er hatte mit seiner Arbeit Erfolg und ist so der letzte »kontinentale« Denker, den EnglÇnder oder Amerikaner wirklich verstehen kÙnnen. Die deutschen Idealisten, die sich als seine Nachfolger betrachteten, meinten dagegen, daß TÜbingen, Jena und Berlin das Zentrum des Denkens seien. London, Cambridge oder Oxford sahen sie als finstere Provinz an, falls sie davon Überhaupt etwas zur Kenntnis nahmen. Seit dieser Zeit bekam das Wort »Idealismus« im Deutschen eine wertende Bedeutung, so daß schließlich »Idealist« im Deutschen gleichbedeutend wurde mit »fÜr Ideale, d. h. Werte, eintretend«. An dieser Stelle begann ein deutscher Sonderweg der Philosophie, der auch deutlich als solcher erkannt und angesprochen wurde. Problematisch ist allerdings, daß das, was eigentlich ein nationaler Sonderweg war, von vielen - auch von EnglÇndern und Amerikanern, aber auch von Franzosen und Italienern - zunÇchst als Weg der Philosophie schlechthin anerkannt wurde. Es gab englische, amerikanische, franzÙsische und englische Hegelianer. Dennoch ist nicht zu Übersehen, daß die Philosophie des deutschen Idealismus als ausdrÜcklich »deutsch« angesehen wurde, man damit allerdings gleichzeitig behauptete, diese deutsche Philosophie sei die Philosophie schlechthin. In einer bedenkenswerten Schrift mit dem bezeichnenden Titel ¾ber das Wesen deutscher Wissenschaft aus dem Jahre 1811 erklÇrt Schelling:

Die ’quivokation des Philosophiebegriffs

Verwunderungswert hat manchen insbesondere geschienen, wie die Liebe metaphysischer Untersuchungen unter den Deutschen nicht, wie unter allen anderen Nationen, gealtert, vielmehr immer neu sich verj¹ngt hat. Sie scheinen zu meinen, daß sie auch darin besser fremdem Beispiel gefolgt h›tten. Diese scheinen das Wesen ihres eignen Volks nicht zu erkennen, und haben darum auch sein Schicksal nicht begriffen. Zu eigent¹mlich von Gem¹t und Geist ist dieses Volk gebildet, um auf dem Weg anderer Nationen mit diesen gleichen Schritt zu halten. Es muß seinen eignen Weg gehen, und wird ihn gehen, und sich nicht irren noch abwenden lassen, wie es immer vergebens versucht wurde. Seine Aufgabe ist eine ganz eigent¹mliche, die Richtung seiner Entwicklungen und Fortschritte eine notwendige. (•ber das Wesen deutscher Wissenschaft. S. 379 f.) Dies ist das Ziel deutschen Geistes, jenes Gel¹bde das, was ihn arm erscheinen l›ßt gegen den Reichtum, dem¹tig gegen den •bermut anderer Nationen, der Stachel seines Eifers, der, w›hrend jene die h³chsten Untersuchungen abgeschlossen und Prinzipien vorhanden w›hnen, ¹ber die es keine h³heren gebe, ihn antreibt, aufs neue die Grundfesten aller Erkenntnis aufzur¹hren und in unabsehbare Tiefen hinabzusteigen. (Ebd. S. 380 f.) Dies sind schon bedenkliche SÇtze: Die Philosophie der anderen LÇnder ist stehengeblieben, nur die deutsche Philosophie steigt in »unabsehbare Tiefen« hinab! Dies war dann auch der Kontext, in dem man die Vorstellung von den Deutschen als dem Volk der »Dichter und Denker« - schon diese Kombination ist aufschlußreich - erfinden konnte. In dieser Zeit und in dieser kulturellen Umgebung wird nun Spinozas Philosophie fÜr die Deutschen Idealisten aktuell. Daß dadurch eine Abkehr von der in England und Frankreich geltenden Philosophie geschieht, wird bewußt in Kauf genommen. Im Zuge der Spinoza-Erneuerung lÇßt Schelling auch Jakob BÙhme (1575–1624), den auch Hegel als ersten deutschen Philosophen ansieht einen Vertreter der philosophischen Mystik und der spekulativen, mit Alchemie, Astrologie und Kabbala durchsetzten Philosophie -, als klares Zeugnis »deutschen Geistes« wieder aufleben, wobei »selige Anschauung« sowie »labyrinthisches« und »dunkles« Denken offenbar als Kennzeichen besonderer QualitÇt gilt. Durch Sinn und Verst›ndnis geh³rt Spinoza den Deutschen an, den franz³sische und englische Atheisten f¹r ihres gleichen gehalten, und dessen Lehre mit geringen Ausnahmen einem verschlossenen Buch glich vor der Er³ffnung seines Sinnes durch die deutschen M›nner Lessing und Jacobi. Das unverwerflichste Zeugnis dieser Wahrheit und Richtung des deutschen Geistes hat der hocherleuchtete Mann Jacob B³hme abgelegt, der aus reiner Begeisterung und keiner anderen Lehre noch Eingebung als der seines Innern teilhaftig und in seliger Anschauung wie bezaubert festgehalten sein labyrinthisches und dem Dunkel der Natur ›hnliches Gedicht von der Natur der Dinge und dem Wesen Gottes gedichtet hat. (Ebd. S. 384)

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Es geht also ganz im Sinne des Deutschen Idealismus darum, nur der Eingebung des eigenen Innern nachzugehen. GegenÜber dieser Tiefe deutscher Metaphysik erscheint Schelling der Empirismus einfach »flach«. Diese innere Metaphysik, welche den Staatsmann, den Helden, die Heroen des Glaubens und der Wissenschaft gleichermaßen inspiriert, ist etwas, das von den sogenannten Theorien, wodurch Gutm¹tige sich t›uschen ließen, und von der flachen Empirie, welche den Gegensatz von jenen ausmacht, gleich weit abst³ßt. (Ebd. S. 385) Diese Philosophie kann gar nicht »deutsch« genug sein, die Absonderung von auslÇndischer Philosophie wird zum Programm, die deutsche Philosophie muß das »reine deutsche Metall« bearbeiten. Bei diesem Verh›ltnis der deutschen Nation zu den ¹brigen m¹ssen wir, um die wahre Wesenheit ihres Geistes, die urspr¹ngliche Richtung ihres Sinns zu gewinnen, das alles aussondern, was durch die Buhlerei der V›ter und Großv›ter mit ausl›ndischen V³lkern erzeugt wurde, oder als fremder Zusatz das reine deutsche Metall auch seiner inneren Natur nach ver›ndert hat. (Ebd. S. 390) 322

Paradoxerweise hat Schelling bei all seiner Begeisterung fÜr das rein Deutsche dieser Philosophie die Problematik dieses alle auslÇndische Kritik oder nur allen auslÇndischen Einfluß ab- und zurÜckweisenden Denkens deutlich ausgesprochen: Der Deutsche zeigt seine angeborene Treue selbst im Verkehrten, es nicht verlassend, sondern ausbildend bis zur vollkommenen Erscheinung der Nichtigkeit. (Ebd. S. 385) Der Gedanke einer Treue selbst im Verkehrten, wodurch dieses Verkehrte bis zur vollkommenen Erscheinung der Nichtigkeit ausgebildet wird, lÇßt uns in seiner prophetischen Weitsicht heute erschrecken und wirft die bedrÜckende Frage auf, ob diese Art der Philosophie nicht auch ihren Beitrag zur spÇteren politischen Treue selbst im Verkehrten geleistet hat. Daß solche Gedanken auch in der zweiten HÇlfte des 19. Jhd.s verbreitet waren, lÇßt sich aus einem anderen Beispiel sehen. Selbst der scharfe Kulturkritiker Nietzsche konnte sich dieser Mystifizierung des deutschen Wesens zunÇchst nicht entziehen, spÇter erkannte er dies allerdings als schweren Irrtum. 1876 verherrlichte er die ganz deutsche Kunst Wagners. Dessen Gesamtkunstwerk hatte fÜr Nietzsche philosophische Bedeutung, es ist »ein ungeheures Gedankensystem ohne die begriffliche Form des Gedankens« (Richard Wagner in Bayreuth. S. 413), Wagner philosophiere in TÙnen (Ebd. S. 408). Wie zu erwarten, darf bei Wagner auch die Tiefe nicht fehlen: »so steigt sein Weltblick in die Tiefe, nochmals, und jetzt hinab

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bis zum Grunde« (Ebd. S. 407). Diese ganz deutsche Musik soll nach Nietzsche die erkrankte Menschheit heilen und erlÙsen. Wenn nun, in einer solchermaßen verwundeten Menschheit, die Musik unserer deutschen Meister erklingt, was kommt da eigentlich zum Erklingen? Eben nur die richtige Empfindung, die Feindin aller Konvention, aller k¹nstlichen Entfremdung und Unverst›ndlichkeit zwischen Mensch und Mensch [...]. (Ebd. S. 388) An der universellen Bedeutung dieser deutschen philosophischen Musik kann fÜr Nietzsche gar kein Zweifel bestehen. Nietzsche sagt von Wagner: Seine Gedanken sind, wie die jedes guten und großen Deutschen, ¹berdeutsch, und die Sprache seiner Kunst redet nicht zu V³lkern, sondern zu Menschen. Aber zu Menschen der Zukunft. (Ebd. S. 430) Alles dies geht aber natÜrlich nur in der deutschen Sprache, die anderen Sprachen philosophisch Überlegen ist. Dagegen empfand er mit tiefem Stolze die auch jetzt noch vorhandene Urspr¹nglichkeit und Unersch³pflichkeit dieser Sprache, die tonvolle Kraft ihrer Wurzeln, in welchen er, im Gegensatz zu den h³chst abgeleiteten, k¹nstlich rhetorischen Sprachen der romanischen St›mme, eine wunderbare Neigung und Vorbereitung zur Musik, zur wahren Musik ahnte. Es geht eine Lust an dem Deutschen durch Wagners Dichtung [...]. (Ebd. S. 414) Die Vorstellung der besonderen Geeignetheit der deutschen Sprache fÜr die Philosophie blieb auch weiterhin erhalten. Noch Heidegger war Überzeugt, daß Philosophie eigentlich nur in der griechischen und der deutschen Sprache mÙglich sei. Seit der Periode des Deutschen Idealismus setzte sich also ein deutscher Sonderweg in der Philosophie durch, dessen Folgen wir bis heute spÜren. Der Historiker kommt nicht darum herum festzustellen, daß sich inzwischen die Situation umgekehrt hat: Seit dieser Zeit lÇuft die deutsche Philosophie, wenn sie diesen Sonderweg nicht weiter verfolgen will, immer wieder der angelsÇchsischen hinterher. Dabei hat dieser andere Weg der Philosophie, der selbstverstÇndlich nicht in das nachidealistische Denken paßte, selbst wiederum zu einem guten Teil im deutschen Sprachraum seinen Ursprung. Aber: Die Philosophie von Frege, vom Wiener Kreis, von Wittgenstein und anderen wurde zunÇchst in England und Amerika aufgenommen und kam von dort - mit mehr als einer Generation VerspÇtung - in den deutschen Bereich zurÜck. Frege und Wittgenstein wurden nicht von der deutschen Philosophie fÜr sich entdeckt, sondern zunÇchst einmal von dem EnglÇnder Russell. Und daß Carnap, Popper und viele andere dieser Philosophen als Juden Deutschland und ²ster-

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reich verlassen mußten, steht vielleicht doch nicht ganz beziehungslos zu der »deutschen« Philosophie. Die »deutsche« Philosophie hat ihre Quittung erhalten: Will man die großen deutschen Philosophen der analytischen Philosophie des 20. Jhd.s, jedenfalls deren spÇtere Werke, lesen, muß man gut englisch kÙnnen! Die Angelegenheit hat manchmal auch etwas sonderbare Seiten. Es gibt inzwischen so etwas wie eine analytische »Weltphilosophie«. Was soll man also mit Heidegger, Sartre, Camus, aber auch mit spÇteren Philosophen wie Michel Foucault oder Jacques Derrida, die alle in irgendeiner Weise aus der Tradition der linken Seite unseres Schemas herkommen, anfangen, wo sind sie einzuordnen? In britischen und amerikanischen Verlagskatalogen wurde hierfÜr lÇngst eine LÙsung gefunden: In ihnen wurde die Rubrik »Continental Philosophy« eingefÜhrt (vgl. das »Continental Breakfast« auf den Speisekarten internationaler Hotels). Dies ist nicht unbedingt ein Kompliment. Es gibt eine »African Philosophy«, eine »Far Eastern Philosophy« und Çhnliche mehr. Unausgesprochen ist in dem Ausdruck »Continental Philosophy« die Vorstellung einer universalen Philosophie, also einer »Weltphilosophie«, vorausgesetzt, der lokale Philosophien gegenÜbergestellt werden. Als man im 20. Jhd. versuchte, wieder eine BrÜcke zwischen den beiden Gruppen zu schlagen, setzte man verstÇndlicherweise bei Kant, dem einzigen Bezugspunkt beider Gruppen, ein, also im sogenannten Neukantianismus (Hermann Cohen, Ernst Cassirer, Heinrich Rickert u. a.). Kant liefert bis in die Gegenwart hinein den mÙglichen Ausgangspunkt fÜr die Wiederaufnahme einer gestÙrten oder sogar abgebrochenen philosophischen Kommunikation zwischen den verschiedenen Gruppen. Aber auch dies sollte man sich nicht zu einfach vorstellen. In unserem Schema wird dies dadurch verdeutlicht, daß der Name Kants auf der linken wie auf der rechten Seite erscheint. Daß er aber zweimal erscheint und nicht als Ausgangspunkt einer Gabelung, hat seinen Grund: Der Kant der rechten Seite ist in Wirklichkeit ein anderer als der Kant der linken Seite. Kants Lehre war offensichtlich die Grundlage fÜr sehr verschiedene, durchaus entgegengesetzte Entwicklungen. Dies wird in den kommenden Vorlesungen bis zum Ende derselben deutlich werden. Die unterschiedliche Ausgangsbasis der beiden Gruppen lÇßt sich noch deutlicher machen, wenn man einen Bezugspunkt vor Kant wÇhlt, nÇmlich Leibniz. Dieser Bezugspunkt ist deshalb besonders aufschlußreich, weil er auf indirektem Wege den Unterschied der beiden Philosophiebegriffe gut charakterisiert, wobei dieser indirekte (historisch zurÜckgreifende) Weg ein sachlich direkter ist, insofern die - ablehnende oder zustimmende - Stellungnahme zu Leibniz in beiden Gruppen eine systematisch zentrale Rolle spielt. Die Rolle Kants ist dabei doppelgesichtig. Einerseits hat Kant Entscheidendes fÜr die Trennung von Logik und Metaphysik geleistet, was zwar nicht die Absicht von Leibniz gewesen war, wohl aber in der Konsequenz von dessen Philosophie lag, und Kant hat in diesem Zusammenhang auch den formalen Charakter der Philosophie Überhaupt sehr deutlich gemacht (vgl. Kap. XV, 1). Andererseits aber hatte Kant keinerlei VerstÇndnis fÜr das leibnizsche Programm einer All-

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gemeinen Charakteristik, d. h. einer universellen Zeichensprache, und eines logischen KalkÜls. FÜr ihn war dies eine Art logischer Alchemie, eine Formelsprache, bei der schließlich doch keine Ergebnisse erzielt werden (Kant: Principiorum primorum. S. 389 f.). Kant ging dort, wo er die Logik fÜr den systematischen Aufbau seiner Erkenntniskritik benÙtigte, nicht von einem logischen KalkÜl im Sinne von Leibniz aus, sondern von einer Neuordnung der traditionellen Logik. Kant erkannte also voll und ganz den formalen Charakter der Logik an, behinderte mit seiner AutoritÇt dann aber den weiteren Aufbau einer solchen Logik wiederum teilweise. Hegel wendet sich ausdrÜcklich gegen das Formalisierungskonzept von Leibniz: Dieser Umstand der analytischen Bezeichnung der Vorstellungen bei der hieroglyphischen Schrift, welcher Leibniz verf¹hrt hat, diese f¹r vorz¹glicher zu halten als die Buchstabenschrift, ist es vielmehr, der dem Grundbed¹rfnisse der Sprache ¹berhaupt, dem Namen, widerspricht, f¹r die unmittelbare Vorstellung, welche, so reich ihr Inhalt in sich gefaßt werden m³ge, f¹r den Geist im Namen einfach ist, auch ein einfaches unmittelbares Zeichen zu haben, das als ein Sein f¹r sich nichts zu denken gibt, nur die Bestimmung hat, die einfache Vorstellung als solche zu bedeuten und sinnlich vorzustellen. Nicht nur tut die vorstellende Intelligenz dies, sowohl bei der Einfachheit der Vorstellungen zu verweilen, als auch sie aus den abstrakteren Momenten, in welche sie analysiert worden, wieder zusammenzufassen, sondern auch das Denken resumiert den konkreten Inhalt aus der Analyse, in welcher derselbe zu einer Verbindung vieler Bestimmungen geworden, in die Form eines einfachen Gedankens. F¹r beide ist es Bed¹rfnis, auch solche in Ansehung der Bedeutung einfache Zeichen, die, aus mehreren Buchstaben oder Silben bestehend und auch darin zergliedert, doch nicht eine Verbindung von mehreren Vorstellungen darstellen, zu haben. (Hegel: Enzyklop›die der philosophischen Wissenschaften § 459. S. 372 f.) Dieses Zitat zeigt, daß Hegel offensichtlich keinerlei Zugang zu Leibniz als dem BegrÜnder einer formalen, axiomatisch aufgebauten Logik hatte. Die hegelsche Logik hat zu einer leibnizschen keinerlei Verbindung. Die Logik wurde aufgrund ihres formalen Charakters von vielen kritisiert und abgelehnt, und zwar nicht nur von Hegelianern. Die Kritik traf nicht nur Leibniz, sondern auch Kant. Ein Beispiel dafÜr ist im 19. Jhd. ein sehr anerkannter und einflußreicher Philosoph, Adolf Trendelenburg (1802–1872), der viele hundert Seiten Logische Untersuchungen verfaßt hat. Er kannte die Lullsche Kunst, er kannte von Leibniz die Ars combinatoria und auch das 1840 erstmals verÙffentlichte Non inelegans specimen demonstrandi in abstractis und begriff durchaus den algebraischen Charakter dieser leibnizschen Logik; aber gerade eine solche Logik lehnte er ab (vgl. Logische Untersuchungen I. S. 20–24). Ganz entsprechend fÇllt auch das Urteil Trendelenburgs Über Kant aus:

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Die formale Logik hat sich dadurch behauptet, daß sie sich nach den Seiten hin, wo ihre M›ngel hervortraten, starr abschloß. Sie schob die Erg›nzung andern Wissenschaften zu und glaubte sich auf ihrem Gebiete Herrin, weil sie alle Abh›ngigkeit auf sich beruhen ließ. - Kant r¹hmte diese Beschr›nkung. Es sei nicht Vermehrung, sondern Verunstaltung der Wissenschaften, wenn man ihre Grenzen in einander laufen lasse; die Grenze der Logik sei dadurch genau bestimmt, daß sie eine Wissenschaft sei, welche nichts als die formalen Regeln alles Denkens ausf¹hrlich darlege und streng beweise. Kant mag Recht haben, so lange man die Felder der Wissenschaften neben einander abmarkt, wie verschiedener Herren Eigentum. Eine solche Ansicht, die die Dinge im Raum fertig neben einander stellt, muß der Entwicklung Platz machen, die das Verwandte aus dem gemeinsamen Grunde zu begreifen trachtet. (Ebd. S. 33)

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Wenn Trendelenburg die formale Logik mit ihrer Trennung von der Metaphysik ablehnt, so wendet er sich deshalb nicht schon hegelscher Dialektik und Metaphysik zu. An der hegelschen Philosophie kritisierte er deren Abkoppelung von den empirischen Wissenschaften, was eine korrekte Diagnose war, die auch z. B. von Dilthey aufgenommen wurde. - Worum es Trendelenburg bei seiner Kritik geht, ist klar: Er will eine »Fundamentalphilosophie« begrÜnden (Ebd.), die fÜr ihn die Metaphysik ist. - Trendelenburg wurde allerdings wichtig fÜr die weitere Entwicklung der formalen Logik im Sinne von Leibniz, was er natÜrlich Überhaupt nicht beabsichtigt hatte. Das erneute Interesse an der leibnizschen Logik geht nÇmlich auf Trendelenburgs Schrift ¾ber Leibnizens Entwurf einer allgemeinen Charakteristik von 1856 zurÜck. Dort verwendet er auch den Ausdruck »Begriffsschrift«, der dann zum Buchtitel des fÜr die weitere Entwicklung maßgebenden Werkes von Frege wurde. Auf Frege und dessen Berufung auf Leibniz werden wir noch ausdrÜcklich zu sprechen kommen (vgl. Kap. XXV). Ganz Çhnlich berief sich auch Ernst SchrÙder auf die leibnizsche Charakteristik. Im ersten Band der Vorlesungen Über die Algebra der Logik aus dem Jahre 1890 schrieb er Über sie: Diese Namen [calculus ratiocinator, sp’cieuse g’n’rale] zeigten schon das Ziel, das Leibniz vor Augen hatte: es war eine ad›quate und allgemeine Bezeichnung des Wesens der Begriffe durch eine solche Zergliederung in ihre Elemente, daß dadurch eine Behandlung derselben durch Rechnung m³glich werden sollte; sein Unternehmen, sagte Leibniz, m¹sse zustande kommen characteribus et calculo als eine combinatoria characteristica. [...] Leibniz erwartet einen Einblick und eine •bersicht, durch welche mitten in der sich ausdehnenden Masse der Erkenntnis dennoch die Wissenschaften sich abk¹rzen, und insbesondere hofft er durch die Einsicht in die einfachen Elemente und deren Verbindungsweisen auch fortschreitende Erkenntnis des Besonderen, Entdeckungen und Erfindungen. Die Verwirklichung des gedachten Ideals einer wissenschaftlichen Klassifikation und systematischen Bezeichnung alles Benennbaren muß aber nach dem oben von uns Angef¹hrten zur Voraussetzung haben: die vollendete Kenntnis

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der die Begriffselemente zu verkn¹pfen bestimmten Grundoperationen und die Bekanntschaft mit deren Gesetzen. Diese Vorarbeit hat die Logik zu leisten, und solange sie - wie dermalen - unvollendet ist, k³nnen Versuche erw›hnter Art von Erfolg nicht gekr³nt sein. (Vorlesungen ¹ber die Algebra der Logik I. S. 95). Es gilt allerdings fÜr SchrÙder wie fÜr Frege, daß Leibniz nur in einem ganz allgemeinen Sinne Inspirator war und auch zur Legitimation der eigenen Versuche herangezogen wurde, bei der Entwicklung der logischen KalkÜle selbst jedoch kaum eine Rolle spielte. Eine wichtige Rolle konnte er schon deshalb nicht spielen, weil die wichtigsten diesbezÜglichen Texte von Leibniz erst 1903 von Louis Couturat verÙffentlicht wurden. - Die angefÜhrten Zitate von Hegel und SchrÙder zeigen deutlich, was in der Auseinandersetzung mit Leibniz bei den beiden Gruppen zur Diskussion steht: Die Gruppe links mit ihrem AnfÜhrer Hegel meinte die Flachheit von Leibniz’ Auffassungen vom Begriff endgÜltig Überwinden zu mÜssen oder bereits Überwunden zu haben, wÇhrend die andere Gruppe meinte, gerade Leibniz habe den richtigen Weg zu begrifflich exaktem Denken, zu genauer Begriffs- und Ableitungslehre gewiesen. Entsprechend kann auch - positionsbedingt - vermutet werden, daß die Bedeutung der Philosophie von Leibniz in der Zukunft im gleichen Maße zunehmen dÜrfte wie die von Hegel abnehmen wird. Um es mit einem hegelschen Terminus zu sagen: Es geht um zwei sehr verschiedene Konzeptionen einer »Anstrengung des Begriffs«, denen somit auch andere und kaum vergleichbare Begriffe von »Philosophie« entsprechen. Machen wir uns dies noch einmal klar, indem wir dem PhilosophieverstÇndnis Schellings, der in »unabsehbare Tiefen hinabzusteigen« wÜnscht (vgl. weiter oben), die Auffassung Wittgensteins gegenÜberstellen: Die meisten S›tze und Fragen, welche ¹ber philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Wir k³nnen daher Fragen dieser Art ¹berhaupt nicht beantworten, sondern nur ihre Unsinnigkeit feststellen. Die meisten Fragen und S›tze der Philosophen beruhen darauf, daß wir unsere Sprachlogik nicht verstehen. [...] Und es ist nicht verwunderlich, daß die tiefsten Probleme eigentlich keine Probleme sind. (Tractatus 4.003) Auch bei Wittgenstein gibt es »tiefe Erkenntnis«, aber eine solche sieht dann etwa so aus: »Die Logik muß fÜr sich selbst sorgen« (TagebÜcher. S. 90. Vgl. Tractatus 5.473). Um einen solchen Satz zu verstehen, ist einige analytische Arbeit erforderlich, am Schluß aber sollen wir nur etwas klarer wissen, was wir immer schon gewußt haben. Mit der Philosophie des frÜhen Wittgenstein ist die Zeitgrenze der Vorlesung erreicht. Dieser Abschluß ist natÜrlich nicht zufÇllig. Wittgenstein sagt in einem berÜhmten Satz des Tractatus logico-philosophicus: »Alle Philosophie ist ›Sprachkri-

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tik‹« (Tractatus 4.0031). Dieser Satz gilt nicht nur fÜr den frÜhen, sondern auch fÜr den spÇteren Wittgenstein, und er gilt nicht nur fÜr Wittgenstein, sondern er gilt fÜr die maßgebliche Ausrichtung der Philosophie des 20. Jhd.s bis in unsere Gegenwart hinein. Man braucht also nicht in spezifischer Weise ein Wittgenstein-AnhÇnger zu sein, wenn man die Auffassung vertritt, alle Philosophie - die Philosophie der Natur, der Wissenschaft, der Ethik, der Kunst, der Kultur usw. - sei Kritik der Sprachen, die sich mit jenen Bereichen beschÇftigen. Welche Rolle in dieser Sprachkritik dann die Logik spielt, ist eine weitere Frage, die hier nicht entschieden zu werden braucht. Es ist bekannt, daß auch Wittgenstein selbst in diesem Punkt in seiner frÜhen und seiner spÇten Philosophie eine unterschiedliche Position vertreten hat, und auch bis in unsere Gegenwart hinein besteht hier bei verschiedenen Philosophen, die doch alle Philosophie als Sprachkritik betreiben, keine ¾bereinstimmung. - Bei dieser Gelegenheit sei auch gesagt, daß dieser Endpunkt der (bisherigen) Geschichte der Philosophie auch entscheidend fÜr die gesamte Darstellung in den drei BÇnden dieser Vorlesungen gewesen ist: Es wurde immer - bei Platon, Aristoteles, den Stoikern, bei Augustinus, Abaelard und Ockham bis herauf zu Locke und Leibniz - besonderer Wert auf die Darstellung der jeweiligen Sprachphilosophie und Logik gelegt. FÜr manche Teilnehmer der Vorlesung und fÜr manche Leser ist der Raum, der diesen Fragen gewidmet wurde, vielleicht - etwa im Vergleich zu Fragen der Ethik oder der Staatsphilosophie - zu groß, aber sie wissen jetzt wenigstens, warum dies so ist.

2. Systeme und Kritik der Systeme Sehen wir uns nun nur die linke Seite des Schemas an. Es springt sofort ins Auge, daß hier Hegel eine ganz zentrale Stellung einnimmt. Die deutsche Philosophie des 19. Jhd.s war in einem ganz eminenten Sinne eine Auseinandersetzung mit Hegel. Auch dies soll nun, wiederum nur mit einigen Schlagworten, verdeutlicht werden. Hegel hatte ein universales, d. h. im Prinzip allumfassendes Begriffssystem entworfen. In sich wurde dieses System, und zwar nicht nur von Hegel und dessen Nachfolgern, sondern auch von seinen Gegnern, als vollkommen verstanden, es gab also keine MÙglichkeit, daran etwas zu verbessern oder es weiter auszubauen. Auch die MÙglichkeit gleichsam an Hegel vorbei eine andere Philosophie aufzubauen, gab es angesichts der Überragenden Erscheinung dieses Werkes nicht. Hegels Philosophie entsprach in ihrem Gehalt auch dem in der ersten HÇlfte des 19. Jhd.s im deutschsprachigen Raum herrschenden allgemeinen Bewußtsein, wenn auch vielleicht nur in der Weise, daß es einem verunsicherten Bewußtsein jene Sicherheit zu vermitteln schien, die ihm abging. Sollte also in irgendeiner Form Kritik an diesem herrschenden Bewußtsein geÜbt werden, so konnte und mußte dies in Auseinandersetzung mit jenem Werk geschehen, das eindrucksvoll genau diesem Bewußtsein

Systeme und Kritik der Systeme

entsprach. Eine solche Kritik konnte jedoch nicht systemimmanent erfolgen, sondern nur dadurch, daß das ganze System als einseitig bezeichnet, so kritisiert und aufgehoben wurde. Aber: Ein Bewußtsein als einseitig zu kritisieren und somit aufzuheben, das war eben wiederum eine zentral hegelianische Argumentationsfigur. Hegel blieb also auch in der Kritik an der hegelschen Philosophie prÇsent. Eine solche Kritik konnte an verschiedenen Punkten ansetzen: So wandte etwa Feuerbach ein, die hegelsche Philosophie sei, entgegen ihrer eigenen erklÇrten Absicht, in Wirklichkeit der empirischen und sinnlichen Wirklichkeit gegenÜber fremd, ja mehr noch: sie sei in ihrer Abstraktion und in der daraus resultierenden Abstraktheit selbst die Entfremdung von der sinnlichen Wirklichkeit. An die Stelle der Abstraktheit, d. h. dem von der Wirklichkeit Abgezogen-Sein des absoluten Geistes, sollte der lebendige Menschengeist treten. Dieser aber ist geprÇgt von der Sinnlichkeit, die in der Natur wurzelt. Sinnlichkeit und Natur werden hier zu zentralen Begriffen, oder besser: sie werden bei Feuerbach zu jener Wirklichkeit, die dem abstrakten System der Philosophie Hegels gegenÜbergestellt wird. Die Natur und der Mensch als Produkt dieser Natur sind vor und außerhalb jeder Philosophie vorhanden, sie sind in ihrer Wirklichkeit die reale Kritik an jeder Philosophie des absoluten Geistes. Auch Marx stellte das hegelsche System in seiner Grundlage systematisch in Frage. Er versuchte aufzuzeigen, daß es keine »reinen« Begriffe gibt, da hinter allen theoretischen Gebilden praktische Interessen stehen, die gesellschaftlich bedingt sind. Philosophie darf daher nicht einfach eine Theorie des Bewußtseins sein, da eine verÇnderte gesellschaftliche Praxis auch eine verÇnderte Theorie bedeutet. Die Form reiner Theorie ist also selbst einseitig, da sie den Bezug der Theorie zur Praxis Übersieht, sie entfremdet den Menschen vom gesellschaftlichen Sein und liefert ihn so diesem hilflos aus. Auch das von Marx ins Zentrum der Diskussion gerÜckte Problem des VerhÇltnisses von Theorie und Praxis ist also eines, welches das gesamte System Hegels betrifft. Marx verdeutlichte diese Tatsache selbst, als er sagte, er wolle das hegelsche System »vom Kopf auf die FÜße« stellen. Ganz anders, aber nicht weniger grundsÇtzlich, setzte Kierkegaard an. Hegel hatte mit seinem System die spekulative Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinem, von Endlichem und Unendlichem versucht bzw. behauptet, diese Vermittlung geleistet zu haben. Dem stellte Kierkegaard die Behauptung entgegen, daß eine Synthese von Endlichem und Unendlichem grundsÇtzlich unmÙglich ist: Die Differenz von Endlichem und Unendlichem ist so beschaffen, daß sie durch keine Reflexion und so auch durch keine Philosophie begriffen werden kann. Gegen den systematischen Zentralbegriff der »Synthese« bei Hegel setzt Kierkegaard den Begriff des »Paradoxes«, der jede mÙgliche Synthese und so auch jedes mÙgliche System der Reflexionsphilosophie sprengt. Nach Kierkegaard ist deshalb jeder Philosoph, der meint, ein spekulatives System des Denkens entwerfen zu kÙnnen, das auch Existenz in sich begreift, der wahren, realen Existenz entfremdet. Nur echte Subjektivit›t vermag Exi-

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stenz zu erfassen, diese aber lÇßt sich nicht spekulativ und systematisch mit ObjektivitÇt vermitteln oder versÙhnen. Schelling, aus dem deutschen Idealismus kommend und selbst ein großer systematischer Denker des spekulativen Idealismus, hatte in seiner SpÇtphilosophie Über den deutschen Idealismus hinausgefÜhrt. Die Konstruktion der Geschichte im Begriff des absoluten Geistes bei Hegel setzt im Prinzip ein Begreifen der Universalgeschichte und damit deren prinzipielles Vollendetsein voraus. Schelling setzte dem ein Begreifen entgegen, das keinen begreifbaren Abschluß der Geschichte voraussetzte, ein Begreifen, das selbst unvollendet bleiben muß, wie auch die Geschichte unvollendet ist. Das hegelsche System wird bei Schelling also vom Begriff der Geschichte her aufgesprengt. An diesem Punkt setzte auch Dilthey ein, der jede systematische Konstruktion der Geschichte ablehnte. Dahinter stand auch die sich seit dem 19. Jhd. stark entwickelnde positive Geschichtsforschung, die dem Begriff einer Universalgeschichte und einer rationalen Konstruktion der Geschichte einfach den Boden entzog: Die ungeheure Breite des Materials ließ sich einfach nicht begrifflich nachkonstruieren, schon gar nicht in einem universalen System. Es war aber nicht nur die FÜlle des Materials, die solche Versuche zum Scheitern brachte, sondern die Einsicht, daß es nicht einen Verlauf der Geschichte gibt, sondern viele einzelne VerlÇufe, die sich zwar kreuzen und Überschneiden kÙnnen, die sich aber nicht nach allgemeinen und Überall anwendbaren Prinzipien in eine Übergreifende, linear verlaufende Ordnung bringen ließen. Als letzte Gruppe der Opposition gegen Hegel sei jene erwÇhnt, welche die Einseitigkeit spekulativer, theoretischer Philosophie Überhaupt kritisiert und die sich damit auch gegen eine mehr als zwei Jahrtausende alte europÇische Tradition der Vorrangstellung der Vernunft stellt. Die Problematik selbst ist allerdings alles andere als neu, sie hatte sich aus dem Zusammentreffen der griechischen Philosophie mit ihrem Vorrang der Theorie und der christlichen willensbestimmten SÜnden- und ErlÙsungsauffassung ergeben. Origenes (vgl. 2. Teil, Kap. I, 5, c) und Augustinus (vgl. 2. Teil, Kap. III, 5) sind dafÜr die frÜhen Zeugen, die Problematik blieb aber auch im ganzen Mittelalter bestimmend und fand im spÇten Mittelalter bei Ockham und anderen einen sehr klaren Ausdruck (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 5). Dennoch blieb der Vorrang des Verstandes gegenÜber dem Willen und ebenso der Vorrang der Theorie gegenÜber der Praxis bestehen. Hegel steht in dieser Tradition und verleiht ihr dem Anspruch und der Form nach einen unÜberbietbaren Ausdruck. Bei aller GegensÇtzlichkeit sind sich Schopenhauer und Nietzsche darin einig, daß nicht der Verstand, sondern der Wille die eigentlich bestimmende Kraft im Menschen ist. Schopenhauer meint - in Kritik und Ablehnung der vorherrschenden europÇischen Tradition -, daß nur die Negation des Willens die ErlÙsung des Menschen durch die Aufhebung des Selbst bringen kann. Der Gegensatz zwischen Schopenhauer und Hegel war Überdeutlich. Zeitgeschichtlich betrachtet unterlag Schopenhauer klar, wÇhrend er seit dem 20. Jhd. eine weit grÙßere Wirksamkeit hat, als ihm oft zuerkannt wird.

Systeme und Kritik der Systeme

Ganz anders stellt sich Nietzsches Position dar: Nietzsche sieht im Willen zur Macht gerade jene Kraft, die im Menschen seiner Zeit wieder erweckt werden mÜsse. Der Wille zur Macht wird hier gegen den Willen zur logischen Wahrheit gestellt, der die in Hegel gipfelnde europÇische Tradition bestimmt hatte. »Sinn« ist nicht etwas, was gefunden und begriffen, sondern nur erfunden und gewollt werden kann. Wir kehren nun zu beiden Seiten unseres Schemas zurÜck. Es wurden in dieser Einleitung nur Schlagworte geliefert, die als solche noch nicht sehr viel sagen. Auch wenn man ihnen eine mehr oder weniger klare Bedeutung zuschreiben kann, sagen sie doch noch nicht aus, warum sie aufgestellt wurden, und das heißt auch: welche geschichtlich-gesellschaftlichen Erfahrungen dahinter stehen. Man muß berÜcksichtigen, welche geschichtlichen Ereignisse in dieser Periode stattgefunden haben, einer Periode, die etwa von der FranzÙsischen Revolution bis zu den Jahren vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs reicht. Um auch weitere und nicht unproblematische Schlagworte aufzunehmen: Es ist die Periode der Herrschaft des BÜrgertums bis zur Krise des BÜrgertums. Es ist eine Periode, die in der Malerei vom franzÙsischen Klassizismus bis zur Schwelle jener Bewegung fÜhrte, die, wie es z. B. bei Picasso, Kandinsky und anderen sichtbar ist, alle vorgegebenen Formen auflÙst, um etwas vÙllig Neues aus ihnen zusammenzusetzen, womit eine andere Struktur des Raumes der malerischen Anschauung verbunden ist. Es ist auch jene Periode, die in der Musik von der klassischen Harmonie Haydns, Mozarts und Beethovens bis an die Schwelle jener Bewegung fÜhrt, die diese Harmonielehre prinzipiell aufgibt und mit SchÙnberg in der ZwÙlftonmusik ein vÙllig anderes Strukturprinzip der Komposition entwirft. Es ist jene Periode, die das autonome Selbstbewußtsein - das Erbe der AufklÇrung - in allen Dimensionen (von denen die Philosophie nur eine ist) erforschte, bis dieses autonome Selbstbewußtsein schließlich selbst als sehr prekÇrer Begriff erkannt wurde, wozu die Tiefenpsychologie Freuds den entscheidenden Beitrag leistete. Und es ist nicht zuletzt jene Periode, die im Bereich der Naturwissenschaft mit dem Sieg der Newtonschen Physik begann, unter deren Eindruck Kant seine Philosophie entwarf, in der ein newtonscher Raum und eine newtonsche Zeit als transzendentale Formen der Anschauung eine zentrale Rolle spielen. Am Ende dieser Periode steht die Physik von Ernst Mach (1838–1916), die dann zur RelativitÇtstheorie Albert Einsteins (1679–1955) fÜhrte, welche den kategorialen Rahmen von Raum und Zeit vÙllig neu bestimmte. Nicht zuletzt sei auf die Paradoxien der Mengenlehre verwiesen, die Russell 1902 Frege mitteilte, wodurch eine Grundlagenkrise in der Mathematik hervorgerufen wurde. Dies sind nur einige Hinweise, die aber deutlich machen, daß in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jhd.s in so gut wie allen Bereichen die Grundlagen neu bestimmt werden mußten. Damit sind wir an der Grenze dessen, was man als die Philosophie der Gegenwart bezeichnen kann, und damit auch an der Zeitgrenze dieser Vorlesungen.

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Immanuel Kant

1. Der formale Charakter der Philosophie

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Die SelbstÇndigkeit der Philosophie ist ein Problem, das so alt ist wie die Philosophie selbst: Am Beginn der (europÇischen) Philosophie steht die Abgrenzung gegenÜber dem Mythos, die Philosophie der christlichen Antike und die des Mittelalters mußte gegenÜber der Theologie abgegrenzt werden, und in der Neuzeit stellte sich die Frage der Abgrenzung und EigenstÇndigkeit der Philosophie gegenÜber der Wissenschaft. Die eigentliche Frage dabei war immer: Worin besteht die SelbstÇndigkeit der Philosophie; worin besteht ihr eigenstÇndiger, von niemand anderem leistbarer Beitrag zum kulturellen Leben einer Periode? ZunÇchst waren fÜr lange Zeit Inhalte fÜr die Abgrenzung bestimmend gewesen. Seit Petrus Lombardus im 12. Jhd. hatte sich ein Kanon typisch philosophischer Fragen herausgebildet (vgl. 2. Teil, Kap. VIII, 4), in dem z. B. die allgemeine Gotteslehre der Philosophie, die Lehre vom dreifaltigen Gott hingegen der Theologie zugeordnet wurde. In Hinsicht auf die Frage, worin die eigentliche Aufgabe der Philosophie besteht, wurde im Nominalismus der spÇtmittelalterlichen Philosophie ein sehr »moderner« Standpunkt vertreten: Das Spezifische der Philosophie wurde hier nicht in bestimmten Inhalten, sondern in der sprachtheoretischen Analyse von Begriffen und SÇtzen - die philosophischer oder theologischer Natur sein konnten - und in der Analyse der Argumentationsformen gesehen, mit denen solche Inhalte begrÜndet werden. ’hnliches gilt fÜr die frÜhe Neuzeit: Die Philosophie wurde hier vor allem als Methodenlehre und gleichzeitig als allgemeine Erkenntnistheorie verstanden. Dies machen schon zahlreiche Buchtitel deutlich. So nannte Bacon seine Programmschrift Neues Organum der Wissenschaft; von großer Bedeutung waren Descartes’ Schrift Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung sowie seine Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft; Locke schrieb die Untersuchungen Über den menschlichen Verstand, auf die Leibniz mit den Neuen Untersuchungen Über den menschlichen Verstand antwortete, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Philosophen der Neuzeit hatten also alle mit mehr oder weniger großer Deutlichkeit erkannt, daß die methodologischen und formalen Probleme das eigentliche Gebiet der Philosophie sind. Immanuel Kant (1724–1804) zog mit aller SchÇrfe die Konsequenz aus der vorausgegangenen Entwicklung und sagte, »das Formale in un-

Der formale Charakter der Philosophie

serer Erkenntnis« sei »das hauptsÇchlichste GeschÇft der Philosophie« (Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie VIII. S. 404). Wie Kant dieses Formale bestimmte, wird sich noch genauer zeigen. ZunÇchst ist es jedoch entscheidend, an Hand eines weiten und bewußt ungenauen Begriffs von »formal« die Bedeutung der kantischen Philosophie zu begreifen, denn gerade darin liegt es begrÜndet, daß Kant bis heute im gesamten westlichen Denken eine Orientierungsfunktion besitzt, wie sie kein anderer Philosoph seit Platon und Aristoteles erlangt hat. Diese Bedeutung ist nicht gebunden an die bestimmte Form der Transzendentalphilosophie, die Kant seiner formalen Philosophie gegeben hat. Es zeigt sich nÇmlich immer wieder, daß auch viele von jenen, die der Transzendentalphilosophie ablehnend gegenÜberstehen, deshalb noch in keiner Weise Kants Anliegen, das Formale als HauptgeschÇft der Philosophie anzusehen, ablehnen. Der Ausdruck »Formalismus« diente Max Scheler (1874–1928) als kritischer und polemischer Begriff in der Auseinandersetzung mit Kant, vor allem mit dessen Ethik. Der Buchtitel Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (Halle 1913/1916) stellt ein Programm dar. Scheler wollte damit darauf hinweisen, daß in Kants Denken keine inhaltlichen (materialen) Gehalte vorhanden sind, sondern daß dort nur formale, allgemeinste Strukturen behandelt werden. Es ist an dieser Stelle nicht notwendig, genauer in diese Diskussion einzutreten, aber gerade dieser polemische Begriff zeigt, daß Scheler die Struktur und Intention kantischen Denkens richtig charakterisiert hat: Kant wollte darauf hinweisen, daß die Philosophie eben keine eigenen Gehalte hat, weder im theoretischen noch im praktischen Bereich und ebensowenig in der Behandlung der Fragen der Kunst. Der philosophische Gebrauch des Verstandes und der Vernunft ist formal, d. h. es wird zunÇchst und zumeist nach der Form des Begreifens gefragt. Selbst zu denken, d. h. sich seines eigenen Verstandes und seiner eigenen Vernunft zu bedienen, ist AufklÇrung (auf die Unterscheidung von Verstand und Vernunft wird weiter unten noch ausdrÜcklich eingegangen). Sich seines Verstandes und seiner Vernunft bedienen heißt in erster Linie, Regeln des Verstandes- und Vernunftgebrauchs zu finden, die allgemein anerkannt werden kÙnnen und mÜssen, denen die inhaltlichen, materialen Kenntnisse gegenÜbergestellt werden. Dies bedeutet nichts anderes, als die formalen Fragen des Verstandes- und Vernunftgebrauchs als die erste Aufgabe der Philosophie anzusehen. Kant sagt dazu: Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufkl›rung. Dazu geh³rt nun eben so viel nicht, als sich diejenigen einbilden, welche die Aufkl›rung in Kenntnisse setzen; da sie vielmehr ein negativer Grundsatz im Gebrauche seines Erkenntnisverm³gens ist, und ³fter der, so an Kenntnissen ¹beraus reich ist, im Gebrauche derselben am wenigsten aufgekl›rt ist. Sich seiner eigenen Vernunft bedienen will nichts weiter sagen, als bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl tunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt,

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Immanuel Kant

oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatz seines Vernunftgebrauchs zu machen? (Was heißt: Sich im Denken orientieren? VIII. S. 146 f., Anm.)

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Mit der Betonung dieser FormalitÇt der Philosophie zieht Kant eine Konsequenz aus der Geschichte der Philosophie, wie sie in dieser Strenge vor ihm nicht gezogen worden war, und auch den nachfolgenden Generationen immer wieder Schwierigkeiten bereiten sollte. Viele selbst in unserer Gegenwart kÙnnen sich damit immer noch nicht abfinden. Kant erkannte, daß die Philosophie keine Weltanschauung ist, d. h. daß sie weder ein Weltbild entwerfen noch ein Wertesystem hervorbringen kann. Philosophie ist vielmehr »nur« ein kritisches Instrument zur ¾berprÜfung schon vorhandener SÇtze, die von Dingen oder von Werten handeln. Durch die Philosophie werden an solche SÇtze formale Kriterien angelegt, um sie zu analysieren, zu ÜberprÜfen, zu ordnen, zu systematisieren usw. Die Inhalte selbst kann jedoch die Philosophie nie hervorbringen, diese stammen immer aus anderen Bereichen, aus der Wissenschaft, der Religion, der Kunst, dem Alltagsleben und was immer man hier noch aufzÇhlen will. Stellt man dieses VerstÇndnis von Philosophie in die lange Reihe der philosophischen Tradition, so zeigt sich, daß hier Philosophie auf jenen Bereich eingeschrÇnkt wird, den Aristoteles im (spÇter) so genannten Organon behandelt hatte. GegenÜber der mit Wolff noch einmal aufgelebten (vgl. Kap. XIII, 2) Tradition einer Philosophie, die auf so gut wie alle Fragen inhaltliche Antworten geben will, fÜhrt Kant also eine sehr kritische Selbstbeschr›nkung ein: Philosophie wird hier allein als kritisches Instrument gesehen und muß so unweigerlich bei jenen, die in der Philosophie eine Weltanschauung, Trost, einen Religionsersatz, eine inhaltliche Lebenshilfe oder Çhnliches erwarten, EnttÇuschung hervorrufen. SelbstverstÇndlich gab es nach Kant und gibt es bis heute jene, die ein inhaltliches, materiales PhilosophieverstÇndnis vertraten und vertreten. Der Streit um den formalen Charakter der Philosophie ist bis heute nicht abgeschlossen. Tatsache ist jedoch, daß das auf den ersten Blick sprÙde, unergiebige und inhaltsleere PhilosophieverstÇndnis Kants bis heute immer wieder zum Orientierungspunkt einer kritisch aufgeklÇrten Philosophie wurde. DemgegenÜber wurden viele Alternativen aufgestellt, mit denen versucht wurde, die kantische SelbstbeschrÇnkung und Selbstbescheidung zu Überwinden, ohne daß dies jedoch zu einem Überzeugenden und dauerhaften Erfolg gefÜhrt hÇtte.

2. Der »sichere Gang einer Wissenschaft« Kant hatte sich, wie es zu dieser Zeit fast eine SelbstverstÇndlichkeit war, seit seiner Studienzeit in besonderer Weise fÜr die Naturwissenschaften interessiert, und war wie nicht anders zu erwarten - besonders durch das Werk Newtons beeindruckt.

Der »sichere Gang einer Wissenschaft«

Kant lehrte in KÙnigsberg selbst mehrere naturwissenschaftliche Disziplinen, so physische Geographie und Mechanik, außerdem hielt er Vorlesungen Über Mathematik. Seine TÇtigkeit sowohl im Bereich der Philosophie als auch in dem der Naturwissenschaften und der Mathematik fÜhrte Kant zu der folgenden drÇngenden Frage: Woher kommt es, daß in den Naturwissenschaften und in der Mathematik eindeutige Fortschritte erzielt wurden, wÇhrend dies in der Philosophie nicht der Fall ist? Warum werden in der Philosophie immer wieder verschiedenste Meinungen vorgetragen, ohne daß es zu einer Entscheidung Über deren Wahrheit kommt? In der Philosophie gibt es bisher - mit den Worten Kants - nur ein »bloßes Herumtappen« (Kritik der reinen Vernunft [B VII]. III. S. 7). Kants Ausgangspunkt fÜr diese Frage ist eindeutig: WÇhrend die anderen Disziplinen den »sicheren Gang einer Wissenschaft« (Ebd.) eingeschlagen haben und auf diesem Wege Fortschritte erzielen konnten, ist dies der Philosophie noch nicht geglÜckt. Eine Ausnahme bildet hier nur die Logik, die allerdings nach Kants VerstÇndnis mit Aristoteles sofort »geschlossen und vollendet« war (Ebd. [B VIII]. III. S. 7). Um den Grund fÜr die Differenz zwischen der Philosophie und den anderen Wissenschaften auffinden zu kÙnnen, blickt Kant in die Geschichte zurÜck. Hierbei brauchen wir die Darstellung der Geschichte, wie Kant sie bietet, nicht im einzelnen zu verfolgen, es kommt vielmehr auf deren systematisches Ergebnis an. Kant stellt sich also die Frage: Wo begann der sichere Gang einer Wissenschaft, und was waren seine GrÜnde? Bei seinem RÜckblick stellt Kant fest, daß es schon den Griechen der Antike gelungen ist, die Mathematik auf den sicheren Weg der Wissenschaft zu bringen. Dem ersten, der den gleichschenkligen [oder: gleichseitigen] Triangel demonstrierte (er mag nun Thales oder wie man will geheißen haben), dem ging ein Licht auf; denn er fand, daß er nicht dem, was er in der Figur sah, oder auch dem bloßen Begriffe derselben nachsp¹ren und gleichsam davon ihre Eigenschaften ablernen, sondern durch das, was er nach Begriffen selbst a priori hineindachte und darstellte (durch Konstruktion), hervorbringen m¹sse, und daß er, um sicher etwas a priori zu wissen, er der Sache nichts beilegen m¹sse, als was aus dem notwendig folgte, was er seinem Begriffe gem›ß selbst in sie gelegt hat. (Ebd. [B XI f.]. III. S. 9) Kant setzt an dieser Stelle eine wichtige Unterscheidung voraus: Es gibt Wissenschaften, die a priori vorgehen und Wissenschaften, die a posteriori vorgehen. Wissenschaften, die a priori vorgehen, sind solche, die ihre Erkenntnisse unabh›ngig von der Erfahrung gewinnen, also nicht durch das Ablesen von Eigenschaften an einer empirisch sichtbaren Figur. Sie gewinnen ihre Erkenntnisse aber auch nicht aus dem bloßen Begriff heraus, also nicht durch die Analyse von vorgegebenen Begriffen, wie es die Metaphysik - wie sie Kant in der Leibniz-Wolffschen Philosophie sah - bisher tat. Stattdessen erhalten die Wissenschaften, die a priori vorgehen, ihre Einsichten durch Konstruktion, d. h. durch das, was sich mit den Begriffsbestimmungen ergibt, die der

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Verstand selbst von dem Gegenstand hervorbringt, d. h. er bringt das »hervor« oder »heraus«, was er selbst »hinein« dachte. Die Erkenntnis ergibt sich dabei, indem der Verstand sieht, daß er unter Voraussetzung bestimmter, selbst aufgestellter Begriffe mit Notwendigkeit andere Begriffe folgern kann. So folgt z. B. aus »gleichseitiges Dreieck« die Bestimmung »gleiche GrÙße der Winkel«. Dies ist nicht einfach eine Begriffsanalyse, da im Begriff des »Dreiseits« weder der Begriff des »Winkels« noch der Begriff der »gleichen GrÙße der Winkel bei gleicher LÇnge der Seiten« enthalten ist. Woher also kommt diese »neue« Erkenntnis? Zu Beginn seiner ¾berlegungen in der Kritik der reinen Vernunft stellt Kant sich daher die Frage, was in der Mathematik die Bedingung der MÙglichkeit solcher erkenntniserweiternder SÇtze durch reine Konstruktion ist. Die Antwort lautet, daß diese Konstruktion sich im Medium der reinen Anschauung von Raum und Zeit vollzieht. Daß dies die einzig mÙgliche oder auch nur die beste ErklÇrung fÜr die Geltung der SÇtze der Mathematik ist, wird heute allerdings nicht mehr angenommen. ZunÇchst einmal entscheidend ist aber der Gedanke der Konstruktion als Mittel der Erweiterung der Kenntnisse, die Frage der Bedingung der MÙglichkeit dieser Konstruktion kann dann in verschiedener Weise beantwortet werden. Wir kommen zur zweiten Gruppe der Wissenschaften, jenen also, die a posteriori vorgehen, d. h. den empirischen Wissenschaften. Die Naturwissenschaft begann erst viel spÇter, der Auffassung Kants nach - der man im großen und ganzen zustimmen kann (vgl. Kap. III u. IV) - etwa seit Bacon und Galilei, den sicheren Weg einer Wissenschaft zu gehen. Auch hier spricht Kant wiederum, wie schon bei der Mathematik, von einer »Revolution der Denkart« (Kritik der reinen Vernunft [B XII]. III. S. 10). Die Vertreter der modernen Naturwissenschaft haben nach Kant begriffen, daß nicht einfach die Beobachtung, sondern das Experiment den Ausschlag gibt. Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach best›ndigen Gesetzen vorangehen und die Natur n³tigen m¹sse auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande g›ngeln lassen m¹sse; denn sonst h›ngen zuf›llige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf. Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein ¹bereinkommende Erscheinungen f¹r Gesetze gelten k³nnen, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualit›t eines Sch¹lers, der sich alles vorsagen l›ßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen n³tigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. (Ebd. [B XIII]. III. S. 10) So nebenbei sei bei dieser Gelegenheit auf die glÇnzende sprachliche Form Kants hingewiesen. Kant baut zwar, dem Stil seiner Zeit entsprechend, lange SÇtze, diese

Der »sichere Gang einer Wissenschaft«

sind aber klar und durchsichtig konstruiert. Auch die Metapher des Richters, die bis in die moderne Wissenschaftstheorie hinein gebraucht wird, ist klar und erhellend. Kant zieht hier die Konsequenz aus der Diskussion zwischen Rationalismus und Empirismus: Empirische Wissenschaft beruht weder allein auf der Beobachtung noch allein auf rationaler Konstruktion, sondern auf dem Experiment, in dem Beobachtung aufgrund einer rationalen Konstruktion durchgefÜhrt wird. Es ist dabei interessant zu beobachten, daß Kant sich auf die ursprÜngliche Wissenschaftstheorie Newtons bezieht und nicht auf die von Newton spÇter durchgefÜhrte empiristische Umdeutung derselben (vgl. Kap. X, 2). So wie in der Mathematik war es eine autonome TÇtigkeit der Vernunft, welche die empirische Wissenschaft auf eine gesicherte methodologische Basis stellte, die es ihr somit ermÙglichte, den sicheren Gang einer Wissenschaft einzuschlagen. Daraus ist fÜr die Philosophie eine Lehre zu ziehen: Ich sollte meinen, die Beispiele der Mathematik und Naturwissenschaft, die durch eine auf einmal zustande gebrachte Revolution das geworden sind, was sie jetzt sind, w›re[n] merkw¹rdig genug, um dem wesentlichen St¹cke der Um›nderung der Denkart, die ihnen so vorteilhaft geworden ist, nachzusinnen, und ihnen, soviel ihre Analogie, als Vernunfterkenntnisse, mit der Metaphysik verstattet, hierin wenigstens zum Versuche nachzuahmen. (Kritik der reinen Vernunft. [B XV f.]. III. S. 11) Es wurde in der Vorlesung wiederholt darauf hingewiesen, daß es fÜr die Philosophie der Neuzeit kennzeichnend ist, daß ihr maßgebliches GegenÜber die Wissenschaft wird. Dies macht Kant jetzt ganz explizit und erhebt es zum Programm. Daraus ergibt sich auch die Stellungnahme Kants zum frÜheren Vorgehen in der Philosophie. In der bisherigen Philosophie wurde nach Kant angenommen, die Begriffe mÜßten sich nach den GegenstÇnden richten (Ebd. [B XVI]. III. S. 11 f.). Entsprechend der vorher verwendeten Metapher bedeutet dies, daß die Philosophen den Verstand als SchÜler und nicht als Richter aufgefaßt haben. Was also in der Philosophie erforderlich ist, ist eine »Revolution der Denkungsart«, die sie auf den sicheren Weg einer Wissenschaft bringen soll. Es ist eine »Revolution«, d. h. eine Umkehrung der Betrachtungsweise, Çhnlich jener Umkehrung der Betrachtungsweise bei Kopernikus, die sich auf die Himmelsbewegungen bezog (Ebd. S. 12). Es wird nun nicht mehr angenommen, daß sich der Verstand nach den GegenstÇnden der Erfahrung richtet, sondern daß vielmehr die [...] Erfahrung selbst eine Erkenntnisart ist, die Verstand erfordert, dessen Regel ich in mir, noch ehe mir Gegenst›nde gegeben werden, mithin a priori voraussetzen muß, welche in Begriffen a priori ausgedr¹ckt wird, nach denen sich also alle Gegenst›nde der Erfahrung notwendig richten und mit ihnen ¹bereinstimmen m¹ssen. (Ebd. [B XVII f.] III. S. 12)

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Immanuel Kant

Die Frage ist dann, wie ich diese »Regel in mir« auffinden kann. Hier setzt nun die ausdrÜcklich transzendentale Fragestellung bei Kant ein, die bei ihm zum Programm wird. Transzendental heißt: Die Frage nach den Bedingungen der MÙglichkeit von Erkenntnis stellen. Die sehr bekannte Formulierung dieses Programms lautet bei Kant: Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenst›nden, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenst›nden, insofern diese a priori m³glich sein soll, ¹berhaupt besch›ftigt. Ein System solcher Begriffe w¹rde TranszendentalPhilosophie heißen. (Ebd. [B 25]. III. S. 43)

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Es geht also in der Philosophie nicht um die Erkenntnis bestimmter GegenstÇnde, sondern um das Erfassen der Erkenntnisweise von GegenstÇnden. Das Erfassen dieser Erkenntnisweise ist nicht nur fÜr die Philosophie die zentrale Aufgabe, sondern liefert gleichzeitig damit eine Grundlage aller Wissenschaft. Die Philosophie soll also nach Kant nicht nur in Analogie zur Wissenschaft aufgebaut, sondern auch als deren letzte Basis aufgezeigt werden. Die Erkenntnistheorie stellt damit auch die letzte Ebene der Wissenschaftstheorie dar. Der Fortschritt der Wissenschaft ist nur mÙglich, wenn als Bedingung der MÙglichkeit aller besonderen, einzelnen und versuchsweisen Konstruktionen des Verstandes ein einheitliches, und das heißt: Einheit herstellendes System allgemeinster Verstandesbegriffe vorausgesetzt wird. Es muß also ein allgemeinstes Koordinatensystem, ein Raster, eine Matritze geben, das die Einheit aller empirischen Erkenntnis und aller empirischen Theoriebildung abgibt, das aber selbst nicht empirischer Art sein darf, sondern a priori, d. h. - nicht zeitlich, sondern logisch-systematisch - vor aller Erfahrung liegen muß. Das Auffinden dieser reinen Verstandesbegriffe und die Bestimmung ihres Anwendungsbereichs, also ihrer Reichweite und ihrer Grenzen, stellt nach Kant die zentrale Aufgabe der theoretischen Philosophie als der Kritik der reinen (theoretischen) Vernunft dar. Die Frage ist dann, wie dieses System apriorischer Begriffe, welche die Bedingung der MÙglichkeit aller Gegenstandserkenntnis liefern, aufgefunden werden kann. Kant sieht in der Logik einen Leitfaden, der das Auffinden der reinen Verstandesbegriffe ermÙglicht. Damit sind wir bei dem, was im folgenden Punkt dargestellt werden soll. Es wird damit auch deutlich, warum seit Kants Erkenntniskritik die Logik - welche auch immer, denn es gibt mehr als eine Logik - eine SchlÜsselfunktion fÜr die gesamte Philosophie einnimmt. Die These Kants gilt auch dann weiter, wenn sich, wie es tatsÇchlich der Fall ist, die Annahme Kants, die Logik sei schon vollendet, als falsch herausstellen sollte. Die These, die Logik sei in ihrer aristotelischen Form vollendet, war Übrigens schon zur Zeit Kants falsch, wenn man an die leibnizsche Logik denkt (vgl. Kap. XI, 2). Dennoch lÇßt sich von Kant her begrÜnden, warum die große Entwicklung der Logik seit dem Beginn des 20. Jhd.s nicht nur ein historisches Faktum, sondern eine philosophiegeschichtliche Notwendigkeit darstellt.

Formale und transzendentale Logik

3. Formale und transzendentale Logik Kants Grundgedanke ist folgender: Der Mensch ist einer Vielzahl von sinnlichen EindrÜcken ausgesetzt. Aber wodurch werden diese EindrÜcke zu GegenstÇnden und darÜber hinaus zu einem System von GegenstÇnden, also zu einer Welt? Dies ist nur mÙglich, indem der Verstand, und dieser wiederum unter der Leitung der Vernunft, eine Einheit herstellt, also die Empfindungen und EindrÜcke unter einheitliche und Ordnung stiftende Gesichtspunkte stellt. Es geht hier also um die allgemeinste, einheitliche und Einheit hervorbringende Ordnungsfunktion zunÇchst des Verstandes und dann der Vernunft. Kant geht dabei aus von der Frage: Woran kann man feststellen, wie der Verstand Ordnung stiftet? Kants Antwort lautet: Am Gebrauch der logischen Regeln, d. h. an der Art und Weise, wie der Verstand diese anwendet. Die Logik kann somit als Leitfaden der Untersuchung dienen. Kant macht sich hier die Grenze, d. h. die prinzipielle BeschrÇnkung der Logik, die in ihrer reinen FormalitÇt besteht, zunutze. Die Grenze der Logik aber ist dadurch ganz genau bestimmt, daß sie eine Wissenschaft ist, welche nichts als die formalen Regeln alles Denkens (es mag a priori oder empirisch sein [...]) ausf¹hrlich darlegt und strenge beweist. Daß es der Logik so gut gelungen ist, diesen Vorteil hat sie bloß ihrer Eingeschr›nktheit zu verdanken, dadurch sie berechtigt, ja verbunden ist, von allen Objekten der Erkenntnis und ihrem Unterschiede zu abstrahieren, und in ihr also der Verstand es mit nichts weiter, als sich selbst und seiner Form, zu tun hat. (Kritik der reinen Vernunft. [B VIII f.]. III. S. 8) Die Logik hat es also nur mit den reinen Formen des Verstandes zu tun, sie kann somit dazu dienen, die gesuchte Ordnung und Einheit stiftende TÇtigkeit des Verstandes zu identifizieren. Voraussetzung dafÜr ist allerdings, daß die Logik - im Unterschied zu allen anderen philosophischen Disziplinen - schon eine VollstÇndigkeit und Geschlossenheit erreicht hat, die es erlaubt, sie als sicheren Leitfaden der Analyse der TÇtigkeit des Verstandes zu gebrauchen. Dies ist die systematische Bedeutung der schon erwÇhnten These Kants, die Logik sei seit Aristoteles »allem Ansehen nach geschlossen und vollendet« (Ebd. [B VIII]. III. S. 7). Die Logik wird also von Kant als adÇquater Ausdruck einer anthropologischen Grundstruktur angenommen, von der aus eine rÜckschließende Analyse dieser Grundstruktur selbst unternommen werden kann. Kant wollte also die formale Logik nicht durch eine neue, transzendentale Logik ersetzen, sondern vielmehr die aristotelische formale Logik, die sich mit den Formen des Denkens Überhaupt beschÇftigt, dazu verwenden, um die allgemeinsten Formen der Erkenntnis aufzufinden. Die zentrale These Kants dazu lautet:

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Immanuel Kant

Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedene[r] Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedr¹ckt, der reine Verstandesbegriff heißt. Derselbe Verstand also, und zwar durch eben dieselben Handlungen, wodurch er in Begriffen, vermittelst der analytischen Einheit, die logische Form eines Urteils zustande brachte, bringt auch, vermittelst der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung ¹berhaupt, in seine Vorstellungen einen transzendentalen Inhalt, weswegen sie reine Verstandesbegriffe heißen, die a priori auf Objekte gehen, welches die allgemeine Logik nicht leisten kann. (Ebd. [B 105]. III. S. 92) SelbstverstÇndlich ist es ein und derselbe Verstand, der mit ein und derselben Handlung beides, die analytische und die synthetische Einheit, leistet (›, fl), wohingegen unser Weg der Erkenntnis von der analytischen zur synthetischen Einheit geht (). Diese These sei in einem Schema verdeutlicht: Einheit in einem Urteil › Verstand  340

= analytische Einheit 

fl Einheit der Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung

= synthetische Einheit

Bevor wir nun zu den »reinen Verstandesbegriffen« kommen, machen wir uns den Gedankengang Kants an empirischen Begriffen klar. Als Beispiel nehmen wir folgenden (nicht von Kant stammenden) Satz (Kant spricht von »Urteil«, um dadurch den Charakter der TÇtigkeit und die NÇhe zum Urteilsspruch des Richters, vgl. weiter oben, deutlich zu machen, und kann dabei auf den traditionellen Begriff iudicium zurÜckgreifen): »Dieser Nagel ist aus Metall.« Wir haben in der sinnlichen Empfindung aber weder einen Nagel, noch etwas, das aus Metall ist. Erst wenn wir durch eine VerstandestÇtigkeit, also durch eine explizite oder durch eine im allgemeinen Sprachgebrauch implizite Definition die Merkmale von »Nagel« und »Metall« festgelegt haben, sehen wir wirklich einen Gegenstand, von dem wir sagen kÙnnen, er sei ein Nagel, und er sei aus Metall. Jedes empirische Urteil Über Sinnesempfindungen setzt also schon eine TÇtigkeit des Verstandes voraus. Wir haben zunÇchst bloße SinneseindrÜcke (Farben, Formen, Bewegung usw.), die wieder von anderen bloßen SinneseindrÜcken umgeben sind, einen Vorstellungsinhalt oder einen Gegenstand haben wir jedoch nicht. Erst wenn wir die Einheit des Begriffs »Nagel« bzw. »Metall« - d. h. alle Merkmale, die in ihm als Einheit gefaßt sind - auf diese SinneseindrÜcke anwenden, ergibt sich ein Gegenstand; wir fassen also bestimmte EindrÜcke zu einem Gegenstand zusammen.

Formale und transzendentale Logik

Der fÜr Kants Absicht entscheidende Gedanke ist nun folgender: Allen konkreten, auf einzelne GegenstÇnde oder Sachverhalte bezogenen Urteilen liegen allgemeinste Urteilsformen zugrunde, also allgemeinste Satzstrukturen. Die allgemeinste sieht folgendermaßen aus: S(ubjekt) ist P(rÇdikat).

Genau solche allgemeinste Urteilsformen werden von der formalen Logik behandelt. Schon Aristoteles hatte in seiner Logik mit der Aufstellung der allgemeinsten Urteilsformen begonnen, diese also in Gruppen gebracht (vgl. 1. Teil, Kap. X, 3, c): Alle S sind P Kein S ist P Einige S sind P Einige S sind nicht P

universell bejahend universell verneinend partikulÇr bejahend partikulÇr verneinend

Kant sagt daher, man mÜsse aufgrund dieser allgemeinsten Urteilsformen und den ihnen zugrundeliegenden allgemeinsten Begriffen analytischer Einheit (= formale Logik) jene allgemeinsten Begriffe synthetischer Einheit auffinden kÙnnen, welche - bezogen auf die allgemeinsten Bedingungen der MÙglichkeit von Anschauung Überhaupt (Raum und Zeit = transzendentale ’sthetik) - die Bedingung der MÙglichkeit der Gegenstandskonstitution abgeben. Es geht ihm also um die Auffindung der reinen Verstandesbegriffe (= transzendentale Logik). Die reinen Verstandesbegriffe sind dann die Kategorien, deren Einteilung sich wiederum aus einer Einteilung der verschiedenen Formen der Urteile ergeben muß. analytische Einheit (allgemeinste Subjekt-PrÇdikat-Beziehungen) reine Logik › Verstand   fl synthetische Einheit (reine Verstandesbegriffe) transzendentale Logik

Diese allgemeine Struktur ist wichtiger als die konkrete DurchfÜhrung, die Kant in der Urteilstafel (Ebd. [B 95]. III. S. 87) und der daraus hergeleiteten Kategorientafel (Ebd. [B 106]. III. S. 93) vorlegt. Zur Urteilstafel ist folgendes zu sagen: Kant wollte den Anschein erwecken, diese Tafel stamme aus der traditionellen Logik. Dies ist aber nicht der Fall, d. h.: In dieser Form stammt sie von ihm selbst. Damit legt sich der Verdacht einer zirkulÇren Argumentation nahe. Kant war sich dieser Tatsache allerdings bewußt. Er versuchte daher, die Urteilstafel damit zu rechtfertigen, daß er sagte, frÜher, d. h. bei Aristoteles, seien die Grundbegriffe nur induktiv zusammengestellt worden, erst jetzt kÙnnten sie aus der Einsicht in die Einheit der VerstandestÇtigkeit einheitlich geordnet werden (Ebd. [B 107]. III. S. 93). Der Verdacht einer zirkulÇren Argumentation Kants ist damit allerdings noch nicht beseitigt.

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Immanuel Kant

Die Herleitung - Kant nennt dies »Deduktion« - der Kategorien aus den Urteilsformen ist in den einzelnen FÇllen verschieden leicht einsichtig. Da es uns hier nur auf das Grundprinzip ankommt, nehmen wir zwei Beispiele, durch welche die Herleitung leichter ersichtlich wird: kategorisches Urteil: S ist P. › Verstand  fl InhÇrenz (Substanz/Akzidenz)

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Urteil  Verstandesbegriff (Kategorie)

In der Behauptung des kategorischen Urteils wird einem Subjekt eine Eigenschaft, ein PrÇdikat, zugesprochen, was voraussetzt, daß eine Einheit zwischen Subjekt und PrÇdikat besteht. Durch dieselbe TÇtigkeit wird in der reinen Anschauung (Raum, Zeit) die Einheit des Mannigfaltigen durch die reinen Verstandesbegriffe Substanz/ Akzidenz hergestellt. Dies sind somit reine »Rahmenbegriffe«, die dann, wenn in der reinen Anschauung eine bestimmte empirische Empfindung oder Wahrnehmung auftritt, die Einheit und damit den Gegenstand dieses Mannigfaltigen herstellen, so daß sich etwa das (empirische) Urteil »Dieser Nagel (Substanz) ist aus Metall (Akzidenz)« ergibt. Ein zweites Beispiel: hypothetisches Urteil: Wenn A, dann B. › Verstand  fl KausalitÇt (Ursache/Wirkung)

Urteil  Verstandesbegriff (Kategorie)

Die gleiche VerstandestÇtigkeit, die im hypothetischen Urteil zwei Begriffe in eine wenn-dann-Beziehung setzt, erwirkt in der reinen Anschauung (Raum, Zeit) einen allgemeinsten »Rahmenbegriff«, der zwei Anschauungen als Ursache und Wirkung miteinander verbindet. Wiederum: Liegt eine bestimmte, konkrete Wahrnehmung vor, so wird durch diese TÇtigkeit des Verstandes die Einheit der nun geordneten, d. h. aufeinander bezogenen GegenstÇnde hergestellt. So wird z. B. aus Gruppen noch nicht geordneter Empfindungen des Tastsinns oder des Gesichtssinns das empirische Urteil »Es regnet (Ursache), daher ist die Straße naß (Wirkung)« mÙglich. Es handelt sich hier um eine TÇtigkeit des Verstandes, denn es gibt zwar eine Sinnesempfindung, die mit »Regen« bezeichnet werden kann, und eine, die mit »nasse Straße« bezeichnet werden kann, es gibt aber keine, die mit »daher« bezeichnet werden kann. KausalitÇt ist eben keine Sinnesempfindung, und sie beruht auch nicht auf Sinnesempfindungen. Wir kÙnnen von ihr nur sprechen aufgrund einer Kategorie, die im Verstand a priori, d. h. vor aller Sinneserfahrung, vorhanden ist.

Erkenntniskritik als Transzendentalphilosophie

Kant gibt damit auch eine Antwort auf die Probleme, die Hume in Hinsicht auf die KausalitÇt aufgeworfen hatte (vgl. Kap. XII, 2): Eine rein empiristische ErklÇrung von Ursache und Wirkung ist nicht mÙglich, und auch der RÜckgriff auf die GewÙhnung fÜhrt nicht weiter. Ohne die Annahme einer TÇtigkeit der Vernunft gibt es fÜr die Vorstellung von Ursache und Wirkung keine ErklÇrung. Dies ist der rationalistische Beitrag zur kantischen LÙsung des Problems.

4. Erkenntniskritik als Transzendentalphilosophie In dem bisher Gesagten ist Kants transzendentale Erkenntniskritik schon enthalten. Jede Erkenntnis setzt sich - nicht getrennt, sondern in ein und demselben Vorgang aus zwei Bestandteilen zusammen: Das eine sind die Empfindungen, ihre Quelle ist eine »an sich« nicht erkennbare Außenwelt (bei Kant: »Ding an sich«); das andere sind einerseits die Formen der reinen Anschauung (Raum und Zeit) und andererseits die reinen Verstandesbegriffe (Kategorien). Der Gegenstand, also das Objekt der Erkenntnis, wird immer durch das Zusammenwirken dieser Faktoren hervorgebracht. Diese Bestandteile lassen sich allerdings nur theoretisch in der Analyse des Erkenntnisvorgangs trennen, keiner von ihnen tritt irgendwo rein auf, und die Erkenntnis eines Gegenstandes besteht daher auch nicht in der Zusammensetzung von verschiedenen Bestandteilen, sondern ist immer schon ein zusammengesetztes Ganzes, d. h. die konkrete (= zusammengewachsene) Erkenntnis eines bestimmten Gegenstandes. Die Kategorien sind gleichsam das Netz (oder der Filter), das der Verstand Über die Empfindungen legt, wodurch dem Gegenstand der Erkenntnis seine Form aufgeprÇgt, genau dadurch aber auch der Gegenstand der Erkenntnis erzeugt wird. Damit ist schon gesagt, daß wir prinzipiell Über »Dinge an sich«, die außerhalb und vor unserer Erkenntnis gedacht werden, nichts aussagen kÙnnen. Eigentlich ist schon der Ausdruck »Ding« in »Ding an sich« unangemessen. Erkenntnis gibt es nur dort, wo den Empfindungen durch die reine Anschauung und durch die reinen Verstandesbegriffe ihre Stelle und ihre Form zugewiesen wird. Mit dieser Theorie meint Kant den Gegensatz von Empirismus und Rationalismus Überwunden zu haben. Von bleibender Bedeutung an der Theorie Kants ist die These, daß in jeder Erkenntnis eine apriorische, d. h. vor aller Erfahrung liegende und strukturell von dieser unabhÇngige TÇtigkeit des Verstandes am Werk ist. Diese These gilt auch dann weiter, wenn man nicht annimmt, daß diese TÇtigkeit des Verstandes aufgrund anthropologischer Konstanten vor sich geht. Man wÜrde gegenwÇrtig eher annehmen, daß es geschichtlich gewordene Strukturen der Sprache - in denen auch die Logik enthalten ist - sind, welche die Kategorien liefern, die die GegenstÇnde unserer Erkenntnis hervorbringen. Auch in diesem Fall aber bleibt bestehen, daß die Gegenstandswelt unserer Erfahrung von Kategorien her (mit)geprÇgt ist, die nicht schon aus der Erfahrung stammen, sondern dieser gegenÜber aprio-

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Immanuel Kant

risch, wenn auch nicht apriorisch im Sinne von »Überzeitlich« sind, sondern sprachlich-geschichtlich, denen somit frÜhere und sprachlich-geschichtlich vielleicht etwas verschiedene Kategorien vorausliegen kÙnnen. Im Auffinden der reinen Verstandesbegriffe und in der Grenzziehung ihrer Reichweite sah Kant die einzig sinnvolle und einzig mÙgliche Aufgabe der theoretischen Philosophie. Die DurchfÜhrung dieser Aufgabe ist nichts anderes als die Kritik der reinen Vernunft. Die schwierigsten und dunkelsten Teile der Kritik der reinen Vernunft beschÇftigen sich allerdings genau mit jenen Fragen, die den ¾bergang von Begriffen zu Anschauungsformen betreffen (= Schematismus der reinen Verstandesbegriffe), die also die Hervorbringung des konkreten, d. h. aus Begriff und Anschauung zusammengewachsenen Gegenstandes ermÙglichen sollen.

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Nun ist klar, daß es ein Drittes geben m¹sse, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf die letzte[re] m³glich macht. Diese vermittelnde Vorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das transzendentale Schema. (Kritik der reinen Vernunft. [B 177]. III. S. 134) Kants LÙsung bleibt dunkel, und wenn Kants Darlegungen dunkel erscheinen, so ist dies bei der sonstigen Klarheit seiner Sprache ein Hinweis darauf, daß er fÜr ein Problem keine fÜr ihn ausreichende und definitive LÙsung gefunden hatte. DafÜr sei als Beispiel Kants Schema zur Bestimmung von »Zahl« gegeben: Das reine Bild aller Gr³ßen (quantorum) vor dem ›ußeren Sinne, ist der Raum; aller Gegenst›nde der Sinne aber ¹berhaupt, die Zeit. Das reine Schema der Gr³ße aber (quantitatis), als eines Begriffs des Verstandes, ist die Zahl, welche eine Vorstellung ist, die die sukzessive Addition von Einem zu Einem (gleichartigen) zusammenbefaßt. Also ist die Zahl nichts anderes, als die Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung ¹berhaupt, dadurch, daß ich die Zeit selbst in der Apprehension der Anschauung erzeuge. (Ebd. [B 182]. III. S. 137) Die Zahl wird also im Rahmen eines Schemas bestimmt, das einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein soll. Woher aber die sukzessive Addition von Einem zu Einem kommen soll, bleibt wieder unklar; und warum diese Vorstellung Raum und Zeit benÙtigt, bleibt ebenso unklar. Daß diese letztere Annahme aber eine zumindest poblematische, mit grÙßerer Wahrscheinlichkeit aber falsche Analyse ist, zeigte die weitere Diskussion. Frege kritisierte sie ausdrÜcklich: Zahlen sind nicht Eigenschaften von GegenstÇnden, sondern von Begriffen (vgl. Kap. XXV, 3). Dies wÇre dann doch wieder die rationalistische LÙsung. Mit Frege ist aber die Diskussion

Die Vernunftideen und der transzendentale Schein

Über den Begriff der Zahl keineswegs beendet, und sie hat bis heute keinen allgemein Überzeugenden Abschluß gefunden. Die kantische Problematik des Schematismus der reinen Verstandesbegriffe zeigt, daß Kant durch einen neuen Theorienansatz zwar den alten Gegensatz von Empirismus und Rationalismus Überwinden kann, daß dieser aber in neuer Form an anderer Stelle wieder auftaucht: Auf die Frage, wie etwas einerseits intellektuell und andererseits sinnlich sein kann, lassen sich allerdings nur dunkle LÙsungsvorschlÇge geben. Man sollte Kant aber hier keine ungerechten VorwÜrfe machen, denn die LÙsungen, welche die antike und die mittelalterliche Philosophie fÜr den ¾bergang von Sinnlichkeit zum Begriff in der Abstraktionslehre angeboten hatten, waren nicht weniger bedenklich. Auch der Zusammenhang zwischen TheoriesÇtzen und empirischen ProtokollsÇtzen, wie ihn die gegenwÇrtige Wissenschaftstheorie diskutiert, hat in keiner Weise eine definitive LÙsung gefunden. Die formale VerhÇltnisbestimmung von Verstandeskategorien und sinnlicher Anschauung, wie Kant sie geliefert hat, findet sich auch bei vielen, die seine Transzendentalphilosophie nicht akzeptieren, so etwa in der VerhÇltnisbestimmung von Theorie und Erfahrung, wie sie hÇufig in der heutigen Wissenschaftstheorie vorgenommen wird. So lesen wir z.B. bei Popper: Es gibt keine reinen Beobachtungen: sie sind von Theorien durchsetzt und werden von Problemen und Theorien geleitet. (K. R. Popper: Logik der Forschung. 3. Aufl., T¹bingen 1969, S. 76)

5. Die Vernunftideen und der transzendentale Schein Erkenntnis findet also nach Kant nur dort statt, wo das empirische Moment der Erfahrung und das apriorische Moment der Verstandeskategorien zusammentreffen. Es ist jedoch auch mÙglich, auf die Gesamtheit - die TotalitÇt, nicht die Summe! aller so bedingten Erkenntnis zu reflektieren. Diese Reflexion ist jedoch nach Kant nicht eine, die nachtrÇglich vorgenommen wird, sondern sie ist als vereinheitlichende und Einheit hervorbringende TÇtigkeit in jeder konkreten Erkenntnis eines Gegenstandes immer schon mitgegeben. Terminologisch unterscheidet Kant diese TÇtigkeit, die er als eine der Vernunft bezeichnet, von der bisher genannten TÇtigkeit des Verstandes. Also ist der transzendentale Vernunftbegriff kein anderer, als der von der Totalit›t der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten. Da nun das Unbedingte allein die Totalit›t der Bedingungen m³glich macht, und umgekehrt die Totalit›t der Bedingungen jederzeit selbst unbedingt ist; so kann ein reiner Vernunftbegriff ¹berhaupt durch den Begriff des Unbedingten, sofern er einen Grund der Synthesis des Bedingten enth›lt, erkl›rt werden. (Kritik der reinen Vernunft [B 379]. III. S. 251)

345

Immanuel Kant

Man kann sich dies am Beispiel zweier Vernunftbegriffe - »Welt« und »Ich« - in einem vereinfachenden Schema klarmachen: Unbedingtes

WELT

kein Gegenstand

Anschauung Bedingtes

X

X

X

A

B

C

X

X

X

X ...

N

Gegenstände

X

Verstandeskategorien Unbedingtes

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ICH

kein Gegenstand

Aus Empfindungen innerhalb der transzendentalen Anschauung von Raum und Zeit ergeben sich durch die Kategorien des Verstandes die GegenstÇnde der Erkenntnis. Ich erkenne zunÇchst also eine Anzahl von GegenstÇnden. Nun stelle ich mir alle weiteren wirklichen und mÙglichen GegenstÇnde der Erkenntnis vor und sehe darÜber hinaus alle zusammen als Einheit. Dies ergibt einen Begriff von »Welt«. Ebenso stelle ich mir den TrÇger aller wirklichen und mÙglichen Verstandes- und synthetisierenden AnschauungstÇtigkeit als Einheit vor. Dann habe ich einen Begriff von »Ich«. Die Frage ist nur, welche Funktion diese Begriffe von »Welt« und von »Ich« haben und was sie mir eigentlich liefern. Dahinter steht die Frage, was denn eigentlich diese Einheit, diese TotalitÇt, bedeutet. Die naheliegende und »normale« Analyse sieht - an einem Beispiel erÙrtert - etwa so aus: Ich habe - in einer kleinen Welt - zunÇchst verschiedene einzelne GegenstÇnde A, B, C, ... N, also etwa ZahnrÇdchen, Federn, Zeiger usw. vor mir, und aus diesen setze ich dann etwas Ganzes zusammen, z. B. eine Uhr, die also jetzt meine kleine Welt darstellt. Die geordnete und zusammengefÜgte Gesamtheit der einzelnen GegenstÇnde ergibt also einen neuen Gegenstand, ein Ganzes hÙherer KomplexitÇt. In Wirklichkeit bleibe ich aber hier auf der Ebene einer Summe und erreiche nicht das, was Kant unter TotalitÇt anzielt. Ganz Çhnlich kÙnnte jemand tÇglich protokollarisch Eintragungen in sein Tagebuch Über das machen, was er jeweils an einem Tag durchgefÜhrt hat, und wenn er dies dann in eine erzÇhlende biographische Einheit bringt, so kÙnnte man sagen, es wird das dargestellt, was das »Ich« des ErzÇhlers ist, es ergÇbe sich also der neue Gegenstand der Lebensbeschreibung des ErzÇhlers. Aber auch hier gelangen wir nicht Über das hinaus, was eine Summe ist. Kant geht es aber um etwas anderes, es geht ihm um das, was vorher im Zitat als die »TotalitÇt der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten« bezeichnet wurde. In unseren Beispielen ist folgendes gemeint: Der Konstruktionsplan, der die Konstruktion der Uhr ermÙglichte, ist nicht selbst ein Gegenstand meiner kleinen, nun geordneten und zusammengefÜgten Welt; und Çhnlich ist der

Die Vernunftideen und der transzendentale Schein

ErzÇhler der Biographie als ErzÇhler nicht selbst ein Gegenstand der ErzÇhlung. Sowohl der Einheit stiftende Konstruktionsplan als auch der Einheit stiftende ErzÇhler sind Bedingungen der MÙglichkeit der Einheit, aber nicht selbst ein Gegenstand wie die hervorgebrachten GegenstÇnde. Man kann sich die Sache auch in Analogie zum Mengenparadox folgendermaßen klarmachen: Das ICH, das alle Çußeren und inneren Handlungen des Ich zusammenfaßt, kann nicht noch einmal als eine solche Handlung vorgestellt werden, sonst brauche ich, um jetzt wieder eine Einheit von allen diesen Handlungen herzustellen, wieder ein weiteres Einheit stiftendes Ich und so fort bis ins Unendliche. Die Einheit aller Bedingungen aber ist der Definition nach schon das Unbedingte. Es geht hier Kant nur um den logisch strengen Begriff von »un-bedingt«, d. h. von etwas, das nicht selbst nochmals bedingt ist. Daher sind die reinen Vernunftbegriffe von der Totalit›t in der Synthesis der Bedingungen wenigstens als Aufgaben, um die Einheit des Verstandes, wom³glich, bis zum Unbedingten fortzusetzen, notwendig und in der Natur der menschlichen Vernunft gegr¹ndet, es mag auch ¹brigens diesen transzendentalen Begriffen an einem ihnen angemessenen Gebrauch in concreto fehlen, und sie mithin keinen anderen Nutzen haben, als den Verstand in die Richtung zu bringen, darin sein Gebrauch, indem er aufs ›ußerste erweitert, zugleich mit sich selbst durchgehends einstimmig gemacht wird. (Ebd. [B 380]. III. S. 251 f.) Das VerstÇndnis dieses Gedankens bereitet vielen ziemliche Schwierigkeiten und sie vermuten hier irgendetwas MysteriÙses, was auch dadurch hervorgerufen wird, daß sie an den heute gelegentlich vorkommenden vagen Gebrauch des »Unbedingten« denken, der hÇufig nur dazu dient, das Wort »Gott« nicht in den Mund nehmen zu mÜssen. Der Begriff des Unbedingten bei Kant hat aber Überhaupt nicht MysteriÙses an sich. Obwohl Beispiele in diesem Bereich immer problematisch sind, mÙchte ich das von Kant Angezielte an einem Beispiel erlÇutern: Um einen Satz einer Sonate spielen oder auch nur richtig hÙren zu kÙnnen, muß man die Sonatenform kennen. Die Sonatenform ist die Bedingung der M³glichkeit eines Satzes einer Sonate, die einzelnen TÙne machen nur Sinn innerhalb dieser Form. Die Sonatenform selbst kann aber kein Gegenstand einer Komposition oder einer AuffÜhrung sein, sie hat keine TÙne (kantisch: Es gibt fÜr sie keine Anschauung). - Vorausgreifend kann man sich diesen Zusammenhang - m. E. ganz zu Recht - auch in der Terminologie Wittgensteins von »Sagen« und »Sich-Zeigen« (vgl. Kap. XXVI, 2) klarmachen: Den GegenstÇnden entsprechen S›tze, die man also sagen kann, das, was die Einheit aller dieser SÇtze ausmacht, ihre logische Form also, das zeigt sich zwar an und in den SÇtzen, es kann aber selbst nicht in SÇtzen ausgesagt werden (Damit keine Verwechslung entsteht: Das »Sich-Zeigen« Wittgensteins entspricht dem weiter unten noch zu besprechenden heuristischen Gebrauch Kants und nicht dem ostensiven, wie die Wortwurzel ostendere = »zeigen« nahelegen kÙnnte!).

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Die Vernunft hat also die Funktion, die Einheit der Erkenntnis herzustellen. So setzt die Vernunft die reinen Vernunftbegriffe oder Ideen »Welt«, »Seele« und »Gott« («Gott« = ZweckmÇßigkeit der Einheit aller Dinge) mit Notwendigkeit voraus. Dann aber zeigt sich nach Kant die entscheidende Grenze der Erkenntnis: Diese Ideen liefern keine GegenstÇnde der Erkenntnis und kÙnnen sie auch gar nicht liefern, denn sie sind als TotalitÇt oder als Ganzheit nie ein mÙgliches Objekt der Erkenntnis. Es gibt keine Empfindung, keine Wahrnehmung von etwas »Totalem«. Man kann sie jedoch auch nicht aus Einzelnem erschließen, denn die Kategorie der KausalitÇt ist wiederum an Erfahrung gebunden und kann daher nicht auf GegenstÇnde jenseits aller Erfahrung angewandt werden. Ebenso kann man auf diese Ideen nicht andere Gegenstandskategorien - wie z. B. »Substanz« - anwenden. Tut man dies trotzdem, verfÇllt man dem »transzendentalem Schein«, d. h. einer TÇuschung bezÜglich des erkenntnistheoretischen Status dieser Ideen. Die Kategorien haben nur dort eine Funktion, wo GegenstÇnde der Erfahrung konstituiert werden, dies ist aber auch die Grenze ihrer Anwendbarkeit. Da es fÜr die Vernunftbegriffe keine Anschauung gibt, sind sie keine GegenstÇnde, und deshalb kÙnnen und dÜrfen die Kategorien des Verstandes nicht auf sie angewandt werden. Im Schema weiter oben wird dies dadurch gezeigt, daß die gestrichelt umrahmten Begriffe keine GegenstÇnde bezeichnen. Werden sie als solche wie die fest umrahmten Gegenstandsbegriffe aufgefaßt, so liegt eine TÇuschung vor, es handelt sich dann um Schein-Gegenstandsbegriffe. Kant spricht hier von Vernunft im Unterschied zum Verstand. In der philosophischen Tradition denken wir bei »Vernunft« an intellectus und bei »Verstand« an ratio, eine Unterscheidung, die seit der antiken neuplatonischen Philosophie immer eine große Rolle gespielt hat (vgl. 1. Teil, Kap. XVII, 4). Diese Unterscheidung steht sicher im Hintergrund der kantischen Konstruktion, und Kant war sich dieser Herkunft auch bewußt. Eine einfache ¾bertragung dieses traditionellen Schemas auf die kantische Philosophie wÇre jedoch ein Irrtum. Bei dem Schema von intellectus und ratio ist mit intellectus an ein der ratio gegenÜber h³heres VermÙgen gedacht, d. h. an ein VermÙgen, das dann in Funktion tritt, wenn der Bereich der ratio Überschritten wird. Genau dies ist aber bei Kant nicht der Fall: Die Vernunft ist ein VermÙgen, das untrennbar von der TÇtigkeit des Verstandes ist, das eine entscheidende, Einheit stiftende Funktion fÜr die Erkenntnisse des Verstandes hat. Genau dann, wenn die Vernunft als hÙheres VermÙgen mit eigenen GegenstÇnden der Erkenntnis aufgefaßt wird, tritt sie in den Bereich des Scheins ein. Kant schreibt also der Vernunft eine Funktion zu, die eigentlich genau das bestreitet, was mit dem traditionellen intellectus gemeint war. Dieser Punkt ist entscheidend, denn der Deutsche Idealismus wird wiederum eine intellektuelle Anschauung annehmen, und die in diesen Vorlesungen daran geÜbte Kritik ist kantisch (und wittgensteinisch) geprÇgt. Die Vernunft ist der Bereich der Ideen. Die Ideen haben eine wichtige Funktion: Sie sind regulativ fÜr die Erkenntnis, d. h. sie richten die Erkenntnis auf eine immer

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grÙßere systematische Einheit der einzelnen Erkenntnisse aus. Auf diese Einheit hinzustreben ist nicht etwas, das neben oder Über der Verstandeserkenntnis der einzelnen GegenstÇnde steht. Wenn man nun zeigen kann, daß, obgleich dreierlei transzendentalen Ideen (psychologische, kosmologische, und theologische) direkt auf keinen ihnen korrespondierenden Gegenstand und dessen Bestimmung bezogen werden, dennoch alle [oder: als] Regeln des empirischen Gebrauchs der Vernunft unter Voraussetzung eines solchen Gegenstandes in der Idee auf systematische Einheit f¹hren und die Erfahrungserkenntnis jederzeit erweitern, niemals aber derselben zuwider sein k³nnen: so ist es eine notwendige Maxime der Vernunft, nach dergleichen Ideen zu verfahren. (Kritik der reinen Vernunft [B 699]. III. S. 443) Die Ideen sind aber nicht erkenntniskonstitutiv, denn sie konstituieren keine Erkenntnis des Ganzen, weil TotalitÇt als Unbedingtes eben kein Gegenstand theoretischer Erkenntnis sein kann. Entscheidend hingegen ist ihre erkenntnisregulative Funktion: Und dieses ist die transzendentale Deduktion aller Ideen der spekulativen Vernunft, nicht als konstitutiver Prinzipien der Erweiterung unserer Erkenntnis ¹ber mehr Gegenst›nde, als Erfahrung geben kann, sondern als regulativer Prinzipien der systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Erkenntnis ¹berhaupt, [...]. (Ebd.) Kant verdeutlicht diesen Punkt noch einmal, indem er sagt, die Idee sei nur ein »heuristischer« und nicht ein »ostensiver Begriff« (Ebd.), d. h. die Ideen liefern nur ein Prinzip der TÇtigkeit des Suchens - Heuristik ist die Kunst des Suchens - nach weiteren GegenstÇnden der Erkenntnis und deren Einheit, sie sind aber selbst eben kein Gegenstand der Erkenntnis, man kann nicht auf sie hinzeigen (ostendere = »hinzeigen«). Genau an diesem Punkt setzt die Kritik Kants an aller spekulativen Metaphysik, Psychologie und Theologie ein, denn diese geben alle vor, Ideen kÙnnten Objekte der Erkenntnis werden. Besonders bekannt ist in diesem Bereich die Kritik Kants an den kosmologischen Gottesbeweisen und die Kritik an Behauptungen Über die Ewigkeit oder Nicht-Ewigkeit der Welt. Daß bei allen diesen sogenannten »Beweisen« transzendentaler Schein am Werke ist, versucht Kant in der transzendentalen Dialektik dadurch aufzuzeigen, daß der Vertreter der einen Position jeweils durch den Beweis der UnmÙglichkeit der gegenteiligen Position die Richtigkeit der eigenen Theorie nachzuweisen meint. Die eigentliche Kritik Kants besteht jedoch darin, nachzuweisen, daß jeweils beide Positionen dem transzendentalen Schein erliegen. So wird z. B. im kosmologischen Gottesbeweis die TotalitÇt der GegenstÇnde, die Welt also, als Gegenstand aufgefaßt, und auf diesen Gegenstand wird die Kategorie der KausalitÇt angewandt. Dies aber ist transzendentaler Schein: Die Kategorie der KausalitÇt gilt

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nur fÜr die Beziehung von GegenstÇnden innerhalb der Welt der Erscheinungen, sie lÇßt sich jedoch nicht auf die Welt-TotalitÇt anwenden, weil diese kein Gegenstand der Erfahrung sein kann. Auch hier ist wieder zu sagen: Die Kritik Kants ist im Einzelnen manchmal nicht recht stichhaltig, doch daraus folgt freilich nicht, daß die von Kant kritisierte spekulative Metaphysik, Psychologie und Theologie richtig sind. Es legt sich vielmehr die schon vielfach ÜberprÜfte Vermutung nahe, daß es der MÜhe wert ist, die schwachen Punkte der Kritik aus Kants eigenen (und spÇter dazugewonnenen) Erkenntnissen konstruktiv zu korrigieren. Im Unterschied zu Hegels System ist Kants Philosophie im einzelnen »verbesserungsfÇhig«, was aber nicht gegen, sondern f¹r Kants System spricht. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu sehen, daß Kant den Begriff »Dialektik«, der spÇter beliebt wurde, in strikt kritischem Sinne gebraucht: Dialektik ist jener Teil der Kritik der reinen Vernunft, in dem der transzendentale Schein aufgedeckt wird. Bei Kant wird der Dialektik keine konstruktive Bedeutung fÜr Erkenntnis zugeschrieben. FÜr ihn ist Dialektik

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[...] die Logik des Scheins. Eine sophistische Kunst, seiner Unwissenheit, ja auch seinen vors›tzlichen Blendwerken den Anstrich der Wahrheit zu geben, daß man die Methode der Gr¹ndlichkeit, welche die Logik ¹berhaupt vorschreibt, nachahmte, und ihre Topik zu Besch³nigung jedes leeren Vorgebens benutzte. (Ebd. [B 86]. III. S. 81) Der Deutsche Idealismus kann in einem ganz allgemeinen Sinne dadurch gekennzeichnet werden, daß seine Vertreter meinten, diese BeschrÇnkung Kants aufheben zu kÙnnen und zu mÜssen, so daß Dialektik nicht mehr als die Kritik des dialektischen Scheins auftritt sondern - positiv gewendet - als die Methode der Auffindung der Wahrheit. Dialektik bewegt sich dann im Medium einer (behaupteten) intellektuellen Anschauung und ist die innere Explikation derselben. Dialektik wird hier zum Verfahren der idealistischen Kritik und ¾berwindung der »BeschrÇnktheit« der Philosophie Kants. An diesem Punkt scheiden sich die Geister bis heute. Logiker und Dialektiker sprechen verschiedene Sprachen, fÜr die Logiker bleibt die Dialektik eine Logik des Scheins, fÜr die Dialektiker ist die Logik nur ein Teilbereich, dessen BeschrÇnkung Überwunden werden muß.

6. Die Vernunftideen im Gebrauch der praktischen Philosophie Wie schon gesagt, gebraucht Kant fÜr die Funktion und den Gebrauch der Ideen innerhalb der theoretischen Philosophie eine sehr »moderne« Formulierung: Die Ideen sind eigentlich nur heuristische und nicht ostensive Begriffe. Sie zeigen auf keinen Gegenstand und kÙnnen somit auch nicht aussagen, wie er beschaffen wÇre,

Die Vernunftideen im Gebrauch der praktischen Philosophie

wohl aber weisen sie in die Richtung, in der wir die grÙßte systematische Einheit unserer Erkenntnisse suchen sollen, immer im Wissen darum, daß diese im theoretischen Vernunftgebrauch prinzipiell nicht gefunden werden kann. Kant sagt von diesem heuristischen Gebrauch, es sei ein »Als-ob«-Gebrauch: Alsdann heißt es z. B.: die Dinge der Welt m¹ssen so betrachtet werden, als ob sie von einer h³chsten Intelligenz ihr Dasein h›tten. (Kritik der reinen Vernunft. [B 698 f.]. III. S. 443) Die Vernunft arbeitet also so, als ob es etwas gebe, was Welt, was Ich und was der letzte Grund von allem, also im Sinne Kants eine hÙchste Intelligenz, ist, im strengen Wissen darum, daß die theoretische Vernunft zu keiner Erkenntnis von GegenstÇnden gelangen kann, die diesem Als-ob-Gebrauch entsprechen. Kant nimmt jedoch an, daß es außer diesem Als-ob-Gebrauch der Ideen noch einen anderen gibt, einen Gebrauch, in dem es zu echten Aussagen kommt, die Über alle mÙgliche Erfahrung hinausgehen. Allerdings ist dies im Bereich der theoretischen Vernunft nicht mÙglich, wohl aber in dem der praktischen Vernunft, also, wie Kant dies ausdrÜckt, »in praktischer Absicht«. Hier liegt eine wichtige Interpretationsfrage vor, eine Frage, die nicht nur fÜr die Kant-Interpretation zentral ist, sondern der darÜber hinaus eine eminent wichtige philosophische und praktische Bedeutung zukommt. Kant sagt in diesem Zusammenhang: Nun bleibt uns immer noch ¹brig, nachdem der spekulativen Vernunft alles Fortkommen in diesem Felde des •bersinnlichen abgesprochen worden, zu versuchen, ob sich nicht in ihrer praktischen Erkenntnis Data finden, jenen transzendenten Vernunftbegriff des Unbedingten zu bestimmen, und auf solche Weise, dem Wunsche der Metaphysik gem›ß, ¹ber die Grenze aller m³glichen Erfahrung hinaus mit unserem, aber nur in praktischer Absicht m³glichen Erkenntnisse a priori zu gelangen. Und bei einem solchen Verfahren hat uns die spekulative Vernunft zu solcher Erweiterung immer doch wenigstens Platz verschafft, wenn sie ihn gleich leer lassen mußte, und es bleibt uns also noch unbenommen, ja wir sind gar dazu durch sie aufgefordert, ihn durch praktische Data derselben, wenn wir k³nnen, auszuf¹llen. (Ebd. [B XXI f.]. III. S. 14) Kants Formulierung »und es bleibt uns also noch unbenommen« kÙnnte folgenden Zusammenhang nahelegen: Das eigentliche GeschÇft der Philosophie ist das der theoretischen Vernunft, welchem Kant in der Kritik der reinen Vernunft nachgeht. Gleichsam als Anhang wird dann noch die praktische Vernunft behandelt, wie Kant es in der - wie man meinen kÙnnte, schon durch den viel geringeren Umfang als weniger wichtig angesehenen - Kritik der praktischen Vernunft unternimmt. Dieser praktische Bereich stÇnde unter dem Vorzeichen »es bleibt uns un-

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benommen«, uns damit zu beschÇftigen, d. h. er wÇre fÜr die Reflexion nicht unbedingt erforderlich, wer sich aber damit befassen mÙchte, der kann und mÙge dies tun. Ausgehend von einer solchen Interpretation seiner Aussage wird Kant als der »ZertrÜmmerer der Metaphysik« gefeiert oder angefeindet, je nach Position. Man muß jedoch das Zitat wirklich bis zu Ende lesen. Kant sagt zwar »es bleibt uns also noch unbenommen« , fÇhrt aber dann sogleich fort: »ja wir sind gar dazu durch sie [die theoretische Vernunft] aufgefordert, ihn [d. h. den verschafften Platz] durch praktische Data [...] auszufÜllen«. Es ließe sich daher auch genau die umgekehrte Interpretation aufstellen: Die Kritik der reinen Vernunft wÇre nur die Voraussetzung und die Vorarbeit und somit nicht mehr als das »Platz-Schaffen« fÜr die praktische Vernunft. Ist also die Kritik der praktischen Vernunft ein Anhang ad libitum zur Kritik der reinen Vernunft, oder ist die Kritik der reinen Vernunft die Vorarbeit fÜr die Kritik der praktischen Vernunft? Vermutlich ist es das VernÜnftigste, weder die praktische Philosophie als bloßen Anhang zur theoretischen noch die theoretische als bloße Vorbereitung zur praktischen Philosophie aufzufassen, sondern stattdessen - in der vermutlichen Absicht Kants - jeden Bereich in seiner methodischen EigenstÇndigkeit, aber auch in der von Kant gesehenen Verbindung aufzufassen. Jedenfalls ist eine reine BeschrÇnkung auf die Kritik der reinen Vernunft und somit ein Abbruch der philosophischen Arbeit an diesem Punkt von Kant her nicht zu rechtfertigen. Kant lÇßt die MÙglichkeit nicht offen, die Philosophie auf das Gebiet der theoretischen Vernunft zu beschrÇnken. Eine solche Philosophie wÇre unvollstÇndig. Kant spricht in der praktischen Philosophie von einem »Schlußstein von dem ganzen GebÇude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft« (vgl. das erste Zitat in 7). - Um die Relevanz der Auffassung Kants zu zeigen, blicken wir kurz voraus auf den letzten Abschnitt der Vorlesung (vgl. Kap. XXVI). Wittgenstein, der Kant geradezu verehrte, kann sich nicht auf Kant berufen, wenn er im Tractatus sagt: Wir f¹hlen, daß selbst, wenn alle m³glichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht ber¹hrt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort. (Tractatus 6.52) Allerdings ist zu sagen, daß der spÇtere Wittgenstein (und schon der frÜhe Wittgenstein in seinen Briefen) eigentlich den Weg Kants wieder aufgenommen hat, auch wenn sich dabei keine Metaphysik im Sinne Kants, wohl aber eine sprachkritische Analyse von SÇtzen auch aus dem Bereich der Ethik, der Kunst und sogar der Religion ergibt.

Die Autonomie der praktischen Vernunft

7. Die Autonomie der praktischen Vernunft Die praktische Philosophie Kants ist jedoch nicht - wie Kant uns nahelegen mÙchte - einfach eine Fortsetzung dessen, was in der theoretischen Philosophie grundgelegt wurde, sondern hat bei Kant einen selbstÇndigen Ansatz. Dies zeigt sich schon daran, daß die Ideen der praktischen Vernunft nicht wirklich dieselben sind wie die der theoretischen Vernunft: WÇhrend Kant bei der theoretischen Vernunft von »Gott«, »Ich« («Seele«) und »Welt« spricht, geht es bei der praktischen Vernunft um »Freiheit«, »Unsterblichkeit« und »Gott«. (Wie diese beiden Gruppen von Ideen zusammenhÇngen, ist ein eigenes Interpretationsproblem.) Der Ausgangspunkt in der praktischen Vernunft ist die Freiheit. Der Begriff der Freiheit, sofern dessen Realit›t durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlußstein von dem ganzen Geb›ude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft aus, und alle anderen Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit), welche als bloße Ideen in dieser ohne Haltung bleiben, schließen sich nun an ihn an und bekommen mit ihm und durch ihn Bestand und objektive Realit›t, d.i. die M³glichkeit derselben wird dadurch bewiesen, daß Freiheit wirklich ist; denn diese Idee offenbart sich durchs moralische Gesetz. (Kritik der praktischen Vernunft [4 f.]. V. S. 3 f.) Der Grundgedanke ist folgender: Das moralische Gesetz wird als RealitÇt vorgefunden, die Bedingung der MÙglichkeit des moralischen Gesetzes aber ist die Freiheit. Die Freiheit ist damit zwar der Seinsgrund des moralischen Gesetzes, der Ordnung der Erkenntnis nach ist jedoch das moralische Gesetz der Erkenntnisgrund der Freiheit. Das moralische Gesetz ist der einzige Erkenntnisgrund, den es fÜr die Freiheit gibt, d. h. es gibt keine empirische Forschung, die irgendwo auf die Freiheit stoßen kÙnnte, und es gibt auch in der Erfahrung keinen Bewußtseinsgegenstand »Freiheit«. Da das moralische Gesetz kein PhÇnomen ist, kann die Freiheit auch kein Gegenstand der theoretischen Vernunft sein. Dies bedeutet, daß eine Handlung, die ein empirisches PhÇnomen ist, einerseits zu den GegenstÇnden der theoretischen Vernunft zÇhlt und dort unter dem Gesichtspunkt durchgÇngiger KausalitÇt, und das heißt durchgÇngiger Determination durch Ursachen, betrachtet wird, daß sie aber andererseits, insofern sie eine moralische Handlung ist, in der praktischen Philosophie unter dem Gesichtspunkt der Freiheit betrachtet wird. Diese doppelte Betrachtungsweise mag manchen als philosophischer Trick erscheinen, sie ist aber nicht nur kantisch-philosophisch, sondern gehÙrt zu den Voraussetzungen unserer wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Praxis: Ein Vertreter empirischer Psychologie fragt nach Motiven einer Handlung, um diese zu erkl›ren, und je vollstÇndiger und in diesem Sinne deterministischer seine ErklÇrung ist, umso besser ist sie. Ein Richter hingegen beurteilt eine Handlung, wobei er von der Freiheit und bis zum

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Beweis des Gegenteils von der ZurechnungsfÇhigkeit eines Beschuldigten ausgeht. Der Psychologe darf mit seiner ErklÇrung nicht irgendwo haltmachen und sagen, er habe keine motivationsbestimmte ErklÇrung fÜr eine Handlung. Es ist aber nicht seine Aufgabe, eine Handlung moralisch zu beurteilen. Und der Richter kann und darf von einem Psychologen, der als Sachgutachter herangezogen wird, nicht erwarten, einen Beweis fÜr die Freiheit eines Beschuldigten zu erhalten. Nichtsdestoweniger ist es seine Aufgabe, ein Urteil Über Schuld oder Unschuld zu fÇllen, und dabei muß er von der Freiheit des Handelnden ausgehen. Das moralische Gesetz besteht nach Kant nicht in einzelnen Vorschriften, sondern im kategorischen Imperativ, der als Kriterium der MoralitÇt einzelner Handlungen seine Anwendung findet. Dieser Imperativ ist der Maßstab, nicht jedoch das Prinzip einer Deduktion einzelner Handlungsnormen, er kann also nicht als Ausgangssatz zur Ableitung konkreter Gesetze verwendet werden. Die klarste und zusammenhÇngendste Darstellung des kantischen Imperativs findet sich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Der Ausgangspunkt ist der folgende: Ein Imperativ kann hypothetisch oder kategorisch sein. Ein hypothetischer Imperativ fordert eine Handlung als Mittel fÜr einen anderen Zweck; der kategorische Imperativ fordert mit Notwendigkeit eine Handlung (oder besser: eine bestimmte Art des Handelns) ohne Beziehung auf einen anderen Zweck. Der kategorische Imperativ ist also ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten IV. S. 421) Was Kant hier zum Ausdruck bringt, ist das, was heute unter dem Stichwort »Universalisierbarkeit« diskutiert wird, d. h. ein moralisches Gesetz ist dadurch gekennzeichnet, daß mit ihm der Anspruch gegeben ist, es mÜsse prinzipiell fÜr alle Menschen gelten. Konkreter gesagt: Ich soll mich bei jeder moralischen Handlung fragen, ob ich will, daß die Prinzipien meiner Handlung ein allgemeines Gesetz werden. Es gehÙrt Übrigens nur dazu, daß ich dies wollen kann, und dem steht nicht entgegen, daß ich weiß, daß es nicht als allgemeines Gesetz akzeptiert wird (z. B. die Ablehnung der Todesstrafe, die bei konkretem Vorliegen eines entsprechend brutalen Falles in den meisten Staaten keine Mehrheit finden wÜrde). Man muß also damit rechnen, daß der Fall eintreten kann, wo unter ein und demselben kategorischen Imperativ der eine die Handlung A und ein anderer die Handlung Nicht-A will. Die Maxime einer sittlichen Handlung, die dem kategorischen Imperativ entspricht, steht somit zwar unter der Forderung der Universalisierbarkeit, diese Handlungsmaxime kann jedoch durch eine ¾berprÜfung, etwa durch eine Umfrage, als sittliche Maxime weder bestÇtigt noch auch widerlegt werden; d. h. selbst wenn tatsÇchlich alle Menschen ihr zustimmen sollten, ergibt dies nur eine empirische Tatsache, nicht aber eine sittliche Maxime als solche.

Die Autonomie der praktischen Vernunft

Kant muß sich jedoch fragen, ob es Überhaupt einen kategorischen Imperativ gibt, denn dafÜr muß vorausgesetzt werden, daß etwas existiert, was einen Wert an sich hat, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, sonst wÇre es eben ein hypothetischer Imperativ. FÜr Kant ist die aus dem Erbe der AufklÇrung gewonnene Antwort klar und eindeutig: Nun sage ich: der Mensch und ¹berhaupt jedes vern¹nftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche f¹r diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst als auch auf andere vern¹nftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden. (Ebd. IV. S. 428) Aus diesem Zitat wird deutlich, daß Kant keine konkreten Regeln des Handelns vorlegt, sondern eine allgemeinste, formale Richtschnur des Handelns konstruiert, an der alles konkrete Handeln gemessen werden soll. Damit sind wir wieder beim formalen Charakter seiner Philosophie, und gerade im Bereich der Ethik lieferte diese »Inhaltsleere« den Ansatzpunkt vielfacher Kritik. Es sei an dieser Stelle jedoch eine Bemerkung erlaubt: Was Kant hier in einem etwas altertÜmlichen und gewundenen Deutsch sagt, hat bis heute eine sehr große kritische Relevanz, und zwar eine grÙßere als alle inhaltlichen Vorstellungen von »Gutem«, »Gerechtigkeit«, »SolidaritÇt« usw. Ein großer Teil des sozialen und politischen Unbehagens heute geht darauf zurÜck, daß diese kantische Regel nicht beachtet wird oder - wenn sie denn einmal beachtet wird - es kaum gelingt oder auch nur versucht wird, dies als Anwendung dieser Regel deutlich zu machen. DafÜr nur kurz einige Beispiele: In Schule und Berufsausbildung dÜrfte der Lehrer nach Kants formaler Maxime die Lernenden nie als Mittel betrachten, sei es als Mittel fÜr sein eigenes Einkommen, sei es als Mittel fÜr ein bestimmtes Produktionssystem, z. B. fÜr den »Industriestandort Deutschland«. Im Gegensatz dazu haben aber viele in der Ausbildung Stehende den Eindruck, daß ihre Lehrer nicht wirklich an ihnen interessiert sind (»mein Lehrer nimmt mich gar nicht ernst«) oder daß sie etwa von jenen, die Studienordnungen verfassen, einfach als prinzipiell auswechselbare Ersatzteile fÜr einen Produktionsmechanismus betrachtet und entsprechend ausgebildet werden. Dasselbe wiederholt sich verstÇrkt im Berufsleben. ’hnliches zeigt sich auch im Gesundheitswesen, wo die Menschen wiederum den Eindruck haben, daß es gar nicht um sie als Zweck geht, sondern um sie als Kostenfaktor der Politik oder als Gewinnfaktor beim Arzt oder im Krankenhaus. Auf einem anderen Gebiet, der Entwicklungshilfe, fragt man sich oft, ob es hier wirklich um die anderen Menschen als Selbstzweck geht oder um die Erschließung zukÜnftiger MÇrkte sowie um die damit verknÜpfte Bedingung politischen »Wohlverhaltens«. Mit solchen Handlungen werden andere Menschen als Mittel betrachtet. - Dasselbe gilt auch bei individuellen sogenannten »Wohltaten« fÜr HilfsbedÜrftige in aller Welt. Man kommt oft nicht um den Verdacht herum,

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daß die Spende in sehr vielen FÇllen dem Zweck dient, sich mit gutem Gewissen von den Bildern des Elends abzuschirmen (was nicht heißen soll, daß nicht Spenden auch aus solchen Motiven heraus legitim und in jedem Fall hilfreich sind). Ebenso geraten Regierungen, Parteien, Gewerkschaften und Kirchen heute nicht deshalb in Schwierigkeiten, weil sie vielleicht gelegentlich (oder auch Ùfter) falsche Entscheidungen treffen, sondern deshalb, weil es ihnen hÇufig nicht mehr gelingt zu zeigen, daß es ihnen um die Menschen, die sie angeblich vertreten, als Zweck geht. Dadurch drÇngt sich der Verdacht auf, daß die Menschen von vielen Vertretern dieser Institutionen eben nur als Mittel zur Verteidigung der Macht, der wirtschaftlichen Interessen oder von irgend etwas anderem verwendet werden. In allen diesen Bereichen zeigt sich so, daß es nur vordergrÜndig die einzelnen materialen MÇngel oder Verfehlungen sind, die uns wirklich betreffen und verletzen, sondern vielmehr die dahinter stehende formale Grundverfehlung, die bei uns den Eindruck hervorruft, nicht als Zweck, sondern als Mittel angesehen zu werden, moderner ausgedrÜckt: instrumentalisiert zu werden. Die Kritik an einer Gesellschaft und deren Handlungssystemen, die den einzelnen zu einem beliebig auswechselbaren Mittel fÜr andere Zwecke (Produktion, Macht usw.) ansieht, stammt somit weder von Marx noch aus der Frankfurter Schule, sondern von dem pedantischen KÙnigsberger Professor Immanuel Kant. Einen Menschen, der sich an das moralische Gesetz hÇlt, nennt Kant »tugendhaft« und alles, was sich aus dem moralischen Gesetz ergibt, nennt Kant »Pflicht«. Jemand ist tugendhaft, wenn er das, was er als Pflicht erkannt hat, was er also tun soll, auch wirklich ausfÜhrt. Kant ist allerdings sehr optimistisch (und sehr preußisch), wenn er meint, daß aus dem Sollen automatisch auch das K³nnen folgt. Hier zeigt sich der Einfluß der AufklÇrung, die der sokratischen und stoischen Ethik gegenÜber den christlichen Rahmenbedingungen ethischen Handelns wieder zum Durchbruch verholfen hatte. Die christliche Lehre hatte (im Dogma oder Mythos wie man es nennen will - der »ErbsÜnde«) damit gerechnet, daß ein Mensch zwar das Gute sollen und wollen kann, er aber doch in vielen FÇllen nicht fÇhig ist, es auch durchzufÜhren (vgl. 2. Teil, Kap. III, 5). Kant ist demgegenÜber, wie es wenigstens auf den ersten Blick aussieht, Überzeugt, daß ein Mensch, der erkennt, was er tun soll, d. h. was seine Pflicht ist, auch immer in der Lage ist, dies auszufÜhren. Auf den zweiten Blick - nÇmlich in den Schriften, die nicht direkt den Fragen der MoralitÇt gewidmet sind - sieht man allerdings, daß Kant in Hinsicht auf die FÇhigkeiten der Menschen ganz und gar nicht so optimistisch war und daß er durchaus bereit war, Tatsachen auch dann in Rechnung zu stellen, wenn sie seiner Theorie eigentlich nicht entsprachen. Kant stellt ganz einfach fest, daß wir fÜr die These, daß die Menschen einen nat¹rlichen Hang zum B³sen haben, angesichts der Menge der Tatsachen gar keinen Beweis benÙtigen (Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft VI. S. 32 f.). Dieser natÜrliche Hang zum BÙsen ist nach Kant nicht eine leichte und die moralischen FÇhigkeiten nicht entscheidend beeintrÇchtigende SchwÇche. Kant

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sagt sogar, daß dieses BÙse radikal ist, was sich daraus ergibt, daß der Mensch »die Triebfeder der Selbstliebe und ihrer Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht« (Ebd. VI. S. 36), was genau dem widerspricht, was Kant unter MoralitÇt versteht. Trotz des Vorhandenseins dieses natÜrlichen (was ist hier »Natur«?) Hanges zum BÙsen hÇlt Kant an der Freiheit fest. Dies bringt Kant in eine Çußerst schwierige Situation. Wenn nun ein Hang dazu in der menschlichen Natur liegt, so ist im Menschen ein nat¹rlicher Hang zum B³sen; und dieser Hang selber, weil er am Ende doch in einer freien Willk¹r gesucht werden muß, mithin zugerechnet werden kann, ist moralisch b³se. Dieses B³se ist radikal, weil es den Grund aller Maximen verdirbt; zugleich auch als nat¹rlicher Hang durch menschliche Kr›fte nicht zu vertilgen [...]. (Ebd. VI. S. 37) Auf die Frage, woher dieses BÙse im Menschen kommt, weiß Kant keine Antwort: Der Vernunftursprung aber dieser Verstimmung unserer Willk¹r [...] bleibt uns unerforschlich, weil er selbst uns zugerechnet werden muß [...]; f¹r uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher das moralisch B³se in uns zuerst gekommen sein k³nne. (Ebd. VI. S. 43) Ebenso ehrlich gibt Kant zu, daß er nicht weiß, wie es dann, wenn einmal das radikal BÙse im Menschen vorhanden ist, zu einer Abkehr vom BÙsen, die in einer Umkehr der Triebfedern bestehen mÜßte, kommen sollte: Wie es nun m³glich sei, daß ein nat¹rlicherweise b³ser Mensch sich selbst zum guten Menschen mache, das ¹bersteigt alle unsere Begriffe, denn wie kann ein b³ser Baum gute Fr¹chte bringen? (Ebd. VI. S. 44 f.) Der einzige Ausweg, den Kant aus dieser Situation sieht, ist der RÜckgriff auf das, was eigentlich der Ausgangspunkt der ganzen Problematik gewesen war: Das VerhÇltnis von Sollen und KÙnnen, jetzt allerdings mit einem einschrÇnkenden Nebensatz, der die Auffassung Kants in eine nicht unproblematische NÇhe zur augustinischen Gnadenlehre rÜckt: Denn ungeachtet jenes Abfalls erschallt doch das Gebot: wir sollen bessere Menschen werden, unvermindert in unserer Seele; folglich m¹ssen wir es auch k³nnen, sollte auch das, was wir tun k³nnen, f¹r sich allein unzureichend sein, und wir uns dadurch nur eines f¹r uns unerforschlichen h³heren Beistandes empf›nglich machen. (Ebd. VI. S. 44 f.)

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Die gesamte ¾berlegung Kants Über das radikal BÙse hat erwartungsgemÇß die Kant-Interpreten vor sehr große Probleme gestellt, und ob Kant Überhaupt eine LÙsung gefunden hat, kann wirklich bezweifelt werden. Es werden hier viele AusdrÜcke wie »kein begreiflicher Grund«, »Übersteigt alle unsere Begriffe«, »unerforschlicher hÙherer Beistand« verwendet, die nicht gut in das Vokabular eines kritischen Rationalisten, der Kant war, passen. Dennoch sollten wir anerkennen, daß Kant diese Probleme angeht, obwohl er in keiner Weise vom System her gezwungen war, diese Frage aufzugreifen. Es hÇtte sich auch nahelegen kÙnnen, die Angelegenheit zu verharmlosen, also einfach von einer SchwÇche einzelner Menschen oder der Mehrzahl der - eben schwachen - Menschen zu sprechen, dem der sittlich autonome und entsprechend willensstarke Mensch gegenÜbergestellt wird. Dies wÇre die stoisch-pelagianische Antwort gewesen (vgl. 2. Teil, Kap. III, 5), die auch der AufklÇrung nahelag. Kant geht nicht diesen einfachen Weg und bringt sich damit in Schwierigkeiten, die er nicht mehr bewÇltigen kann. Aber er sieht damit Tatsachen in die Augen, die empirisch gegeben und nicht wegdiskutierbar sind, und es gehÙrt eben zu einem kritischen Rationalisten, Tatsachen auch dann anzuerkennen, wenn er keine gute ErklÇrung fÜr sie liefern kann. Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jhd.s wurde der Optimismus bezÜglich des VerhÇltnisses von Sollen und KÙnnen von einer ganz anderen Seite in Frage gestellt: Die Psychoanalyse zeigte, daß die Ebene der Erkenntnis des Sollens der des Bewußtseins angehÙrt, daß die Ebene des KÙnnens und somit die des DurchfÜhrens von Handlungen aber so stark vom Unter- und vom Unbewußten her beeinflußt wird, daß mit der Erkenntnis des Sollens noch keineswegs die hinreichenden Bedingungen fÜr das KÙnnen des DurchfÜhrens gegeben sind. Ganz Çhnlich zeigt die Gesellschaftswissenschaft, daß die BildungseinflÜsse, das soziales Umfeld usw. Faktoren sind oder jedenfalls sein kÙnnen, die verhindern, daß einem vielleicht prinzipiell eingesehenen Sollen auch das praktische KÙnnen folgt. Es ist nicht unsere Aufgabe, im Rahmen der Geschichte der Philosophie darzustellen, wie alle diese Faktoren im einzelnen wirken. Es sei daher auch dahingestellt, ob daraus tatsÇchlich ein Hang der Menschen zum BÙsen folgt. Man kann aber jedenfalls sagen, daß Kant den Mut gehabt hat, den etwas naiven und unaufgeklÇrten Optimismus vieler AufklÇrer in Hinsicht auf die Natur des Menschen in Frage gestellt zu haben. Sowohl die heutige Wissenschaft als auch die Erfahrung der Geschichte nicht nur vor, sondern auch nach Kant scheint ihm dabei recht zu geben. Kant hatte einen realistischen Blick auch in Hinsicht auf einen weiteren, mit dem eben besprochenen zusammenhÇngenden Punkt. Auch hier erkannte er, daß etwas im Mechanismus des sittlichen Handelns nicht recht funktionierte. Die historischen Positionen, die das Problem ans Licht gebracht hatten, identifizierte Kant prÇzise: FÜr die EpikurÇer war die Lust das hÙchste Gut, und sie meinten, daß die Tugend als Mittel zur Lust als GlÜckseligkeit erstrebenswert sei, so daß dement-

Die Autonomie der praktischen Vernunft

sprechendes Handeln gleich Tugend sei; fÜr die Stoiker hingegen war die Tugend das hÙchste Gut, und sie meinten, daß das Bewußtsein der tugendhaften Handlung schon GlÜckseligkeit bedeute (vgl. Kritik der praktischen Vernunft [200–202]. V. S. 111 f.). Kant sieht hierin die Antinomie der praktischen Vernunft: Wir mÜssen im hÙchsten Gut (dem Ziel und Grund alles moralischen Handelns) die Tugend und Gl¹ckseligkeit als notwendig verbunden betrachten (Ebd. [204]. V. S. 113). Die Erfahrung zeigt jedoch, daß diese Verbindung nicht durchgÇngig besteht, d. h. es gibt Tugendhafte, die nicht glÜcklich sind, und es gibt GlÜckliche, die nicht tugendhaft sind. Dies ist das alte ’rgernis jeder Morallehre, die in irgendeiner Weise behaupten will, daß Tun und Ergehen zusammenhÇngen. Kant nimmt in diesem Zusammenhang Bezug auf die Erfahrung Hiobs und kommt zu dem realistischen Ergebnis ¾ber das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (VIII. S. 253–271), womit natÜrlich vor allem die beste aller mÙglichen Welten von Leibniz (vgl. Kap. XI, 5) gemeint ist. Eine Welt, in der Hiob-Schicksale nicht selten sind, kann tatsÇchlich nicht durch eine gÙttliche Weisheit, welche die beste aller mÙglichen Welten geschaffen hat und durch ihre Vorsehung lenkt, vernÜnftig gerechtfertigt werden. Wenn also sittliches Handeln nicht, jedenfalls in vielen FÇllen nicht, zur GlÜckseligkeit fÜhrt, ist nicht dann die Forderung sittlichen Handelns selbst illusorisch? In kantischer Sprache: Ist also das h³chste Gut nach praktischen Regeln unm³glich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet, dasselbe zu bef³rdern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein. (Kritik der praktischen Vernunft [205]. V. S. 114) Dies ist nun die Stelle, an der fÜr Kant die Postulate Unsterblichkeit und Gott ihren systematischen Ort erhalten. Das moralische Gesetz an sich verspricht noch keine GlÜckseligkeit. Da es jedoch als das notwendige Gesetz der praktischen Vernunft erkannt wird, muß es Bedingungen der MÙglichkeit geben, unter denen es nicht falsch ist, unter denen sich also die Antinomie von Pflicht zur Tugend und GlÜckseligkeit auflÙst. Kant greift hier auf das zurÜck, was er als den rationalen Gehalt des Christentums ansieht. Die Heiligkeit der Sitten wird ihnen [den Menschen] in diesem Leben schon zur Richtschnur angewiesen, das dieser proportionierte Wohl aber, die Seligkeit, nur als in einer Ewigkeit erreichbar vorgestellt; weil jene immer das Urbild ihres Verhaltens in jedem Stande sein muß, und das Fortschreiten zu ihr schon in diesem Leben m³glich und notwendig ist, diese aber in dieser Welt, unter dem Namen der Gl¹ckseligkeit, gar nicht erreicht werden kann (soviel auf unser Verm³gen ankommt) und daher lediglich zum Gegenstande der Hoffnung gemacht wird. (Ebd. [232]. V. S. 128 f.)

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Immanuel Kant

Und weiter: Denn der Gl¹ckseligkeit bed¹rftig, ihrer auch w¹rdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vern¹nftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt h›tte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen. (Ebd. [199]. V. S. 110)

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Kant sagt also folgendes: Der als unbedingt erkannte kategorische Imperativ, der somit die Grundlage aller praktischen Vernunft ist, setzt die vernÜnftige Forderung voraus, daß Pflicht und GlÜckseligkeit zur Deckung gebracht werden kÙnnen. In der empirischen Welt von Raum und Zeit ist dies jedoch nicht der Fall. Daher setzt die Wirklichkeit des kategorischen Imperativs (eine Wirklichkeit der praktischen Vernunft) die Wirklichkeit der Bedingungen voraus, die diese Deckung mÙglich machen, und dies sind eben die Unsterblichkeit (d. h. nicht: Fortsetzung der Existenz nach der empirischen Zeitreihe, dies ist undenkbar und der theoretischen Vernunft widersprechend, sondern außerhalb der Zeitreihe) und Gott, d. h. eine dieser Wirkung der Deckung von Sittlichkeit und GlÜckseligkeit angemessene Ursache (Ebd. [223 f.]. V. S. 123 f.). - Diese LÙsung Kants Überzeugt heutzutage nicht mehr recht. Damit ist aber das von Kant gestellte Problem nicht beseitigt, es wird eigentlich sogar verschÇrft. Daß Sittlichkeit und GlÜckseligkeit hÇufig nicht zur Deckung gelangen, kann natÜrliche oder gesellschaftliche Ursachen haben. Damit, daß natÜrliche Ursachen, z. B. unverschuldete Krankheiten, die GlÜckseligkeit trotz Tugend in vielen FÇllen verhindern, ist eine Tatsache, mit der man sich noch abfinden kÙnnte: Es besteht kein Grund anzunehmen, daß sich naturgesetzlich bestimmte VorgÇnge nach der Sittlichkeit des physischen TrÇgers bestimmen sollten. Anders sieht es im Bereich der gesellschaftlichen Bedingungen aus. Wir mÜssen in Hinsicht auf diese einfach feststellen, daß die bisherigen Versuche, den TrÇgern sittlicher LebensfÜhrung eine bestimmte GlÜckseligkeit innerhalb der Gesellschaft zu sichern, nicht unbedingt sonderlich erfolgreich waren. Und wir mÜssen auch zugeben, daß der RÜckgriff auf die stoische Position, nach der die Sittlichkeit schon fÜr sich selbst und ausreichend GlÜckseligkeit bedeutet, kaum Überzeugt, worauf auch Kant hingewiesen hat. Manchmal zeigt eine nicht Überzeugende LÙsung, daß eine Frage falsch gestellt war. Im vorliegenden Fall trifft dies jedoch nicht zu: Auch wenn uns die LÙsung Kants nicht Überzeugt, kommen wir doch nicht umhin zuzugeben, daß er das Problem richtig gesehen hat. Wittgenstein meinte, daß man die LÙsung des Problems des Lebens am Verschwinden dieses Problems bemerkt (Tractatus 6.521). Das von Kant und von vielen vor ihm aufgezeigte Problem verschwindet aber leider bisher nicht, und somit wissen wir, daß wir noch keine LÙsung dafÜr gefunden haben. Allerdings kÙnnte die LÙsung gar nicht von der Philosophie gefunden werden, sondern mÜßte in einer verÇnderten gesellschaftlichen, Ùkonomischen und politischen Wirklichkeit bestehen.

Die Autonomie der praktischen Vernunft

Eine abschließende Bemerkung zur Relevanz der Religionsphilosophie Kants, die er auch in seiner Schrift Der Streit der FakultÇten verdeutlichte. Das VerhÇltnis der Ideen der theoretischen und der praktischen Vernunft ist wie folgt zu bestimmen: Bei der theoretischen Vernunft handelt es sich um Bedingungen der systematischen Einheit des Verstandes, die jedoch zu keiner Erkenntnis von GegenstÇnden fÜhren; bei der praktischen Vernunft handelt es sich um Postulate, die zwar die Wirklichkeit des Erforderten enthalten, ohne daß aber diese Wirklichkeit zu einer objektiven werden kÙnnte. Diese Wirklichkeit ist und bleibt subjektiv, nicht im Sinne von WillkÜrlichkeit oder Beliebigkeit, sondern in dem strengen Sinne von notwendiger Bedingung der Freiheit voraussetzenden kategorischen Bestimmtheit des Willens durch das moralische Gesetz. Daraus ergibt sich auch der Rahmen der kantischen Religionsphilosophie: Sie muß aus der praktischen Philosophie heraus entwickelt werden und ist letztlich mit dieser identisch, alles andere ist irrelevant oder irrefÜhrend. Dies bedeutet, daß der rationale Gehalt des Christentums in der Praxis und in der Theorie des Handelns liegt, daß er aber keine theoretischen Informationen liefert. Der theoretisch scheinende Gehalt des Christentums muß also auf seinen praktischen Gehalt hin analysiert werden. Was dieser Interpretation nicht standhÇlt, ist nicht rational, sondern, mit Kant gesprochen, beliebig, es kann nie als verpflichtend anzunehmen bezeichnet werden. Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ist somit sachlich ein Bestandteil der Kritik der praktischen Vernunft.

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- XVI -

Der fr¹he Deutsche Idealismus: Fichte, Schelling

1. Die Spannung von Reflexion und konkretem Handeln Kants Philosophie lÇßt sich bei aller Schwierigkeit im einzelnen lehren, sie war schließlich als solche konzipiert. Bei Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) wird dies fast unmÙglich, denn Fichtes Philosophie ist vom Anfang bis zu ihrem Ende gleichzeitig Reflexion und VerkÜndigung, und sie war auch so angelegt. Man kÙnnte sagen: Fichte muß die Menschen erst einmal durch seine VerkÜndigung bekehren, damit sie seine Philosophie verstehen kÙnnen. Von Fichte stammt der bekannte Satz: 362

Was f¹r eine Philosophie man w›hle, h›ngt sonach davon ab, was man f¹r ein Mensch ist. (Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre. III. S. 18) Kant hÇtte einen solchen Satz nie gesagt, denn er war genau im umgekehrten Sinne davon Überzeugt, daß es von der – jedenfalls impliziten – Philosophie, die jemand wÇhlt, abhÇngt, was fÜr ein Mensch er ist. Auch wenn es von Fichte vielleicht nicht ganz so gemeint war, kann durch diesen Satz doch eine Beliebigkeit begrÜndet werden, die mit Kants strenger Forderung von ¾berprÜfbarkeit und AllgemeingÜltigkeit nicht in Einklang zu bringen ist. Daß Fichte an den UniversitÇten, an denen er lehrte (Jena und Berlin) in Schwierigkeiten geriet, lag wahrscheinlich nicht nur an seinem ein wenig unbequemen Charakter, sondern auch an seinem Denken, das freilich wiederum durch seinen Charakter geprÇgt war, und er meinte ja, wie eben im Zitat zum Ausdruck gekommen ist, dies solle auch so sein. Um Fichte richtig verstehen zu kÙnnen, mÜßte man zunÇchst das Bild begreifen, welches sich die Deutschen in jener Zeit von der FranzÙsischen Revolution machten, und dieses Bild ist ganz und gar nicht identisch mit jener FranzÙsischen Revolution, von der wir historische Nachricht haben. Zudem mÜßte man wissen, was die Romantik war, und dies ist wiederum bis heute ein Begriff, unter den sich so gut wie alles fassen lÇßt. DarÜber hinaus mÜßte man Fichte in seiner sehr wechselhaften Entwicklung verfolgen. Alles dies ist in diesem Rahmen nicht mÙglich. Ich kann also nichts anderes tun, als (mit zugegebenermaßen sehr geringer Kompetenz) auf einige Anliegen Fichtes hinzuweisen. Noch eine EinschrÇnkung ist notwendig: Ohne so proble-

Die Spannung von Reflexion und konkretem Handeln

matische Begriffe wie »Spannung«, »PolaritÇt«, »Widerspruch« (nicht im eindeutigen Sinne von »kontradiktorisch«) usw. ist eine Darstellung der Philosophie Fichtes nicht mÙglich. Alle diese Begriffe sind jedoch solche, von denen ich keine klaren Definitionen liefern kann. Beginnen wir mit dem, was Fichte unter »Philosophie« versteht. Es war ein langer Weg, bis die Vorherrschaft des antiken, primÇr an der Theorie orientierten VerstÇndnisses von »Philosophie« gebrochen wurde. Daß die praktische Philosophie nicht nur ein Bereich neben der theoretischen ist, sondern daß theoretische Erkenntnis selbst auch eine Praxis ist, wurde nur langsam erkannt. Das Experiment als eine Handlung, die zu theoretischer Erkenntnis fÜhrt, spielte in diesem Prozeß eine wichtige Rolle. Kant, fÜr den Erkenntnis immer zugleich Erfahrung und Handlung war, reflektierte diesen Prozeß und lieferte damit einen ganz entscheidenden Ausgangspunkt fÜr Fichte, wobei allerdings bei Fichte der fÜr Kant wesentliche Bezugspunkt der empirischen Wissenschaften und der Mathematik vÙllig in den Hintergrund trat. FÜr Fichte war allerdings auch der kantische Handlungscharakter der Erkenntnis noch zu theoretisch, und so taucht bei ihm in unÜbersehbarer Weise das folgende, spÇter von Marx weitergefÜhrte Problem auf: MÜßte die Philosophie nach dem neuen VerstÇndnis nicht als ganze zur Handlung, zum konkreten Tun werden? Doch wenn dies geschieht, lÙst sich dann Reflexion nicht in Handlung auf? Fichte konnte weder fÜr sich noch in seiner Philosophie dieses Problem lÙsen. Er wollte handeln und ging dabei beinahe gewalttÇtig vor, mit dem Eifer und dem Fanatismus eines Sektenpredigers. Fichte wollte gestalten und die Welt verÇndern, er nannte sich selbst einen »Priester der Wahrheit«. Und so finden wir neben den verschieden Fassungen der Wissenschaftslehre (womit etwas ganz anderes gemeint ist als heute) eine Reihe von Schriften, mit denen er in die konkreten Geschehnisse seiner Zeit handelnd eingreifen wollte: Schon 1793 verfaßte er (wegen der GefÇhrlichkeit der Themen anonym) die ZurÜckforderung der Denkfreiheit von den FÜrsten Europas und die BeitrÇge zur Berichtigung der Urteile des Publikums Über die franzÙsische Revolution. Das bekannteste dieser Werke sind die Reden an die deutsche Nation, die er im konkreten Sinne des Wortes 1807/1808 als Reden in Berlin hielt, und dies zu einer Zeit, da Berlin faktisch unter franzÙsischer Herrschaft stand, womit er ein großes persÙnliches Risiko einging. In diesen Reden, die tatsÇchlich politischen Einfluß auf die im Jahre 1813 beginnende Befreiung hatten, verkÜndete Fichte, die politische Erneuerung Deutschlands kÙnne nur durch eine sittliche Erneuerung erreicht werden. Inhaltlich knÜpfte er dabei an Die GrundzÜge des gegenwÇrtigen Zeitalters an, auch dies populÇre VortrÇge, die er 1804/1805 in Berlin gehalten hatte und in denen er ganz im Geiste der AufklÇrung und Kants als Prinzip aufgestellt hatte, »alle seine VerhÇltnisse mit Freiheit nach der Vernunft einzurichten« (Die GrundzÜge des gegenwÇrtigen Zeitalters. IV. S. 458). Hierbei handelte es sich um eine Forderung, die RealitÇt aber war eine ganz andere: Fichte sah sich einer Zeit gegenÜber, die »in nichts sich gleichbleibend [ist], als in dieser allgemeinen OberflÇchlichkeit und Wandelbarkeit, und in

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Der frÜhe Deutsche Idealismus: Fichte, Schelling

dem Grundprinzip, daß in diesem Leichtnehmen eben die rechte Wahrheit bestehe« (Ebd. S. 467). Ein solches Zeitalter »muß daher notwendig eine große Leere empfinden, die sich als unendliche, nie grÜndlich zu hebende, und immer wiederkehrende Langeweile offenbart« (Ebd. S. 468). Dies ist nur eines der Beispiele dafÜr, wie Fichte die Unkultur seines Zeitalters geißelte, das seiner Meinung nach nur in den Niedergang der politischen und gesellschaftlichen Organisationen fÜhren konnte. Einige Jahre spÇter, als dieser Niedergang tatsÇchlich in politischer Ohnmacht und Unfreiheit evident wurde, sah er darin eine Chance zu sittlicher und politischer Erneuerung (nicht unÇhnlich einem Isaias und Jeremias!). Dementsprechend wollte er auch im Befreiungskampf selbst nicht abseits stehen und bot seine rhetorischen Talente als Freiwilliger an, was aber den MilitÇrs kein sehr wirksames Kriegsmittel schien, so daß er nicht in das Heer aufgenommen wurde. Anders seine Frau, die sich jedoch bei der Krankenpflege im Lazarett eine Krankheit zuzog und Fichte ansteckte, was dann die Ursache fÜr seinen Tod war. Fichte erlebte und erlitt die Ohnmacht der Philosophie angesichts des realen Geschehens, seine Reflexion fÜhrte ihn dabei von der die Welt formenden Handlung der Vernunft als Freiheit zu der sich selbst in Mystik transzendierenden Freiheit. 364

2. Die Ich-Handlung als radikaler Ausgangspunkt Fichte war von seinem Ausgangspunkt her Kantianer. Er verehrte Kant und schrieb, um mit ihm in Kontakt zu treten, 1792 den Versuch einer Kritik aller Offenbarung. Als der Verleger dieses Werk anonym herausbrachte, nahmen alle an, dieses Werk sei von Kant, so vollstÇndig war es aus dem Denken Kants heraus entwickelt. Als dann Fichte als Verfasser bekannt wurde, verschaffte ihm das sofort BerÜhmtheit und einen Lehrstuhl an der UniversitÇt Jena. Kant war von einer Trennung der Bereiche der theoretischen und der praktischen Vernunft ausgegangen, eine Unterscheidung, die sich im Prinzip an dem grundlegenden Unterschied des Vernunftgebrauchs in der Mathematik und in den empirischen Wissenschaften auf der einen und in der Ethik (Moral) auf der anderen Seite orientierte. Fragt man jedoch nach dem Handlungsbezug der Vernunft, so sieht man sofort, daß auch die theoretische Vernunft bei Kant aktive, handelnde Vernunft ist. Es ist ja die T›tigkeit des Verstandes und der Vernunft, die unter Voraussetzung empirischer Empfindung in der Anschauung durch die Verstandeskategorien den Gegenstand der Erkenntnis herstellt. Dennoch blieb bei Kant ein grundsÇtzlicher Unterschied zwischen der TÇtigkeit der theoretischen und der praktischen Vernunft. Kant war aber auch Überzeugt, daß die Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft und somit von Natur und Freiheit nicht das letzte Wort sein durfte, wenn man an der Einheit der Vernunft - auch bei genauem Auseinanderhalten der Bereiche - als Voraussetzung festhalten wollte. Wie sollte die Vernunft denn Einheit

Die Ich-Handlung als radikaler Ausgangspunkt

herstellen, wenn sie selbst keine Einheit war? Kant hatte sich in der Kritik der Urteilskraft diesem Problem der Einheit von Natur und Freiheit gestellt. Dort bearbeitete er u. a. die Frage nach der Einheit und Verschiedenheit von NaturschÙnem und KunstschÙnem, wobei er also zumindest als Problemstellung die Einheit in der ’sthetik suchte. Eine letzte Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft fand Kant aber nicht. Hier setzten Fichte und Schelling an. Die Prinzipien der drei Kritiken Kants sollten auf eine Einheit zurÜckgefÜhrt bzw. aus einem letzten Prinzip heraus spekulativ konstruiert werden. Das Programm, das sich hier ergab, war sehr anspruchsvoll, denn es mußte sehr viel in eine Einheit gebracht werden: theoretische und praktische Vernunft, Notwendigkeit/Natur und Freiheit, Bedingtes und Unbedingtes, Ich und Welt, NaturschÙnes und KunstschÙnes. Im Jahre 1790 war Kants letzte Kritik, die Kritik der Urteilskraft, erschienen. Die Frage der Einheit der Vernunft war also auf der Tagesordnung der nÇchsten Generation von Philosophen. Unmittelbar auf der Grundlage der Kritiken Kants konnte man jedoch nicht weiterkommen, dazu hatte Kant zu Überzeugende Argumente fÜr seine kritischen Abgrenzungen geliefert. In diesem Moment der Diskussion erhielt die 2., erweiterte Auflage (1. Aufl., 1785) von Friedrich Heinrich Jacobis (1743–1819) ¾ber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn von 1789 eine weitreichende Bedeutung. Diese Schrift wurde von jenen, die Über Kant hinausgehen wollten, geradezu begierig aufgegriffen. Hier wurde eine Vernunft postuliert, die nicht nur kritisch und regulativ Über den Verstand hinausging, sondern die konstitutiv Erkenntnis lieferte. Jacobi selbst hielt zwar den Spinozismus fÜr Pantheismus, er wies aber auf die Philosophie Spinozas als der einzigen MÙglichkeit hin, einer reinen Vernunftphilosophie eine vollendete Gestalt zu geben. Man muß sich aber im klaren darÜber sein, daß es sich dabei nicht um eine Fortentwicklung kantischer Philosophie handelte, sondern um ein radikales ¾berschreiten derselben. Voraussetzung dafÜr war etwas, was Kant immer strikt fÜr unmÙglich gehalten hatte: die Annahme einer intellektuellen Anschauung. Kant erlebte noch die neuen Versuche und sagte 1796 zu der Philosophie, die mit der Annahme einer solchen intellektuellen Anschauung arbeitete. Wer sich also im Besitz der letzteren [der intellektuellen Anschauung] d¹nkt, wird auf den erstern [den diskursiven Verstand] mit Verachtung herabsehen; und umgekehrt, ist die Gem›chlichkeit eines solchen Vernunftgebrauchs eine starke Verleitung, ein dergleichen Anschauungsverm³gen dreist anzunehmen, imgleichen eine darauf gegr¹ndete Philosophie bestens zu empfehlen; welches sich auch aus dem nat¹rlichen selbsts¹chtigen Hange der Menschen, dem die Vernunft schweigend nachsieht, leicht erkl›ren l›ßt. [...] Mit Wissenschaften, welche Arbeit erfordern, als Mathematik, Naturwissenschaft, alte Geschichte, Sprachkunde usw., selbst mit der Philosophie, sofern sie sich auf methodische Entwicklung und systematische Zusammenstellung der Begriffe einzulassen gen³tigt ist, kann mancher wohl auf pedantische Art stolz tun;

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Der frÜhe Deutsche Idealismus: Fichte, Schelling

aber keinem andern, als dem Philosophen der Anschauung, der nicht durch die herkulische Arbeit des Selbsterkenntnisses sich von unten hinauf, sondern sie ¹berfliegend, durch eine ihm nichts kostende Apotheose von oben herab demonstriert, kann es einfallen, vornehm zu tun: weil er da aus eigenem Ansehen spricht, und keinem deshalb Rede zu stehen verbunden ist. (Kant: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie. VIII. S. 389 f.) Gut, daß Kant dies gesagt hat, so brauche ich es nicht zu sagen, und Kant kann das ja auch wirklich besser! Kant wußte genau, wo eine solche intellektuelle Anschauung herkommen mußte, wenn man sie behaupten wollte. Nicht umsonst verwendete er den Ausdruck »Apotheose«, was im ursprÜnglichen Wortsinne bedeutet »von (apÔ) Gott (theÕs)«. Um Über den Verstand (ratio) in erkenntniserweiternder Weise hinausgehen zu kÙnnen, benÙtigte man in der Tradition eine gÙttliche Offenbarung, der Ausdruck »intellektuelle Anschauung« entspricht hier einer Vision (visio). Von Visionen zu sprechen, ist jedoch am Ende des 18. Jhd.s nicht mehr mÙglich. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) war sich Über die Problematik vÙllig im klaren:

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Wunderbar ziehen sich diese Ideen durch alle Schw›rmereien der verschiedensten V³lker und Zeitalter hindurch. Der vollendete Dogmatismus, indem er die intellektuale Anschauung f¹r objektiv nimmt, unterscheidet sich von allen Tr›umereien der Kabbalisten, der Brachmanen, der Sinesischen Philosophen, so wie der neuen Mystiker, durch nichts als die ›ußere Form, im Prinzip sind sie alle einig. Nur unterscheidet sich ein Teil der Sinesischen Weisen sehr vorteilhaft von den ¹brigen durch seine Aufrichtigkeit, da er das h³chte Gut, die absolute Seligkeit - im Nichts bestehen l›ßt. Denn wenn Nichts das heißt, was schlechterdings kein Objekt ist, so muß das Nichts gewiß da eintreten, wo ein Nicht-Objekt doch noch wirklich angeschaut werden soll, d. h. wo alles Denken und aller Verstand ausgeht. (Philosophische Begriffe ¹ber ›Dogmatisus und Kritizismus‹. I. S. 250) Dennoch hÇlt Schelling an der intellektuellen Anschauung fest. Um also doch Über den Verstand hinausgehen zu kÙnnen, benÙtigt man jetzt, nach der Kritik aller von außen herantretenden Offenbarung, eine intellektuelle Anschauung, die im Ich verankert ist, nur: An der Struktur des Versuchs, Über die ratio hinauszugehen, Çnderte sich dabei nichts: Diese intellektuale Anschauung tritt dann ein, wo wir f¹r uns selbst aufh³ren Objekt zu sein, wo, in sich selbst zur¹ckgezogen, das anschauende Selbst mit dem angeschauten identisch ist. In diesem Moment der Anschauung schwindet f¹r uns Zeit und Dauer dahin: nicht wir sind in der Zeit, sondern die Zeit - oder vielmehr nicht sie, sondern die reine absolute Ewigkeit ist in uns. Nicht wir sind in der Anschauung der objektiven Welt, sondern sie ist in unsrer Anschauung verloren. (Ebd. S. 243)

Die Ich-Handlung als radikaler Ausgangspunkt

An diesem Punkt wurde die Philosophie Spinozas fÜr die jungen und begeisterten Deutschen Idealisten wichtig. Schelling wußte, daß Spinoza von einer solchen intellektuellen Anschauung ausging, dessen Fehler es aber seiner Meinung nach war, diese Anschauung - die in Wirklichkeit eine Anschauung seiner selbst ist - objektiviert zu haben (Ebd.). Objektivierte intellektuelle Anschauung des Selbst ist das, was Schelling als »SchwÇrmerei« bezeichnet: Hier, mein Freund, stehen wir am Prinzip aller Schw›rmerei. Sie entsteht, wenn sie zum System wird, durch nichts anderes als durch die objektivisierte intellektuale Anschauung, dadurch, daß man die Anschauung seiner Selbst f¹r die Anschauung eines Objekts außer sich, die Anschauung der inneren intellektualen Welt f¹r die Anschauung einer ¹bersinnlichen Welt außer sich h›lt. (Ebd. S. 243 f.) Macht sich der Philosoph frei von dieser objektivierenden TÇuschung, so hat er die intellektuelle Anschauung des Selbst, er muß also nur Spinozas objektivierte intellektuelle Anschauung als eine des eigenen Selbst begreifen, um den Ausgangspunkt der Reflexion zu finden. Schelling erklÇrt dementsprechend in einem Brief an Hegel, daß und in welcher besonderen Weise er Spinozist geworden ist: 367

Ich bin indessen Spinozist geworden. Staune nicht. Du wirst bald h³ren, wie? Spinoza war die Welt (das Objekt schlechthin im Gegensatz gegen das Subjekt) - Alles, mir ist es das Ich. [...] Vom Unbedingten muß die Philosophie ausgehen. Nun fragt sich’s nur, worin dies Unbedingte liegt, im Ich oder im Nicht-Ich. Ist diese Frage entschieden, so ist Alles entschieden. Mir ist das h³chste Prinzip aller Philosophie das reine, absolute Ich, d. h. das Ich, inwiefern es bloßes Ich, noch gar nicht durch Objekte bedingt, sondern durch Freiheit gesetzt ist. Das A und O aller Philosophie ist Freiheit. [...] Es gibt keine ¹bersinnliche Welt f¹r uns als die des absoluten Ichs. - Gott ist nichts als das absolute Ich, insofern es Alles Theoretische zernichtet hat, in der theoretischen Philosophie als = 0 ist. (Schelling: Briefe und Dokumente. II. S. 65) Vom Ich aus kann das Ein und Alles, also das hen kai pan des Parmenides gefunden werden, und ganz entsprechend gilt der Grundsatz des Parmenides, daß Denken und Sein eins sind. Aber auch hier muß daran erinnert werden, daß bei Parmenides das ganze nur unter der Annahme einer Offenbarung funktionierte (vgl. 1. Teil, Kap. IV, 2, c). Bei Schelling wird alles dies in das Ich verlegt, was sich dann so anhÙrt: Alles ist nur im Ich und f¹r das Ich. Im Ich hat die Philosophie ihr hen kai pan gefunden [...] Auf meinem Ich ruht alles Dasein: mein Ich ist alles, in ihm und zu ihm ist alles, was ist. (Schelling: Werke. I. S. 117)

Der frÜhe Deutsche Idealismus: Fichte, Schelling

Diese Stelle findet sich in Schellings Schrift Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder Über das Unbedingte im menschlichen Wissen aus dem Jahre 1795 (Schelling: Werke. I. S. 73–168). Ausgebaut wird alles dies dann 1800 in Schellings System des transzendentalen Idealismus, in dem nun wirklich die Gesamtheit des Wissens aus einem Prinzip abgeleitet, das »Ein und Alles« also systematisch aus- und durchgefÜhrt werden soll. Dort sagt Schelling programmatisch: Der Zweck des gegenw›rtigen Werkes ist nun eben dieser, den transzendentalen Idealismus zu dem zu erweitern, was er wirklich sein soll, n›mlich zu einem System des gesamten Wissens [...]. Das Mittel ¹brigens, wodurch der Verfasser seinen Zweck, den Idealismus in der ganzen Ausdehnung darzustellen, zu erreichen versucht hat, ist, daß er alle Teile der Philosophie in Einer Kontinuit›t und die gesamte Philosophie als das, was sie ist, n›mlich als fortgehende Geschichte des Selbstbewußtseins, f¹r welche das in der Erfahrung Niedergelegte nur gleichsam als Denkmal und Dokument dient, vorgetragen hat. (Ebd. II. S. 330 f.)

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Im Prinzip ist dies auch bei Fichte nicht viel anders. Sicher gibt es wichtige Unterschiede zwischen der frÜhen Philosophie Schellings und der Fichtes, besonders im Bereich der Bedeutung der Naturphilosophie (natÜrlich in deren idealistischer Version), die bei Schelling eine viel zentralere Rolle spielt als bei Fichte. Dies sind aber eher Fragen fÜr die Spezialisten des Deutschen Idealismus. Der Ausgangspunkt ist aber bei beiden doch sehr Çhnlich. Bei Fichte setzt sich das Ich in einer Tathandlung, es ist reine TÇtigkeit. Also das Setzen des Ich durch sich selbst ist die reine T›tigkeit desselben. Das Ich setzt sich selbst, und es ist, verm³ge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: Das Ich ist, und es setzt sein Sein, verm³ge seines bloßen Seins. - Es ist zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das T›tige, und das, was durch die T›tigkeit hervorgebracht wird; Handlung und Tat sind Eins und eben dasselbe; und daher ist das: Ich bin Ausdruck einer Tathandlung; aber auch der einzigen m³glichen, wie sich aus der ganzen Wissenschaftslehre ergeben muß. (Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. I. S. 290) Es muß an dieser Stelle auffallen, daß die ¾bersetzung des Begriffs »reine TÇtigkeit« ins Lateinische (das Fichte gut beherrschte) den actus purus ergibt, also einen der traditionellen Gottesbegriffe. Auf diese Beziehung wurde in der SekundÇrliteratur hÇufig hingewiesen, und ebenso oft bezeichnete man diese Beziehung als MißverstÇndnis. Es scheint mir aber doch kein MißverstÇndnis zu sein. Warum nicht, werden wir gleich noch sehen. Das Ich setzt sich also selbst (= Spinozas causa sui) im weiteren setzt das Ich das Nicht-Ich als beschrÇnkt durch das Ich.

Die Ich-Handlung als radikaler Ausgangspunkt

Das Ich sowohl als das Nicht-Ich sind, beide durch das Ich, und im Ich, gesetzt, als durcheinander gegenseitig beschr›nkbar, d.i. so, daß die Realit›t des Einen die Realit›t des Andern aufhebe, und umgekehrt. (Ebd. S. 320) Solche SÇtze klingen fÜr unsere Ohren absurd. Allerdings ist die Sache bei Fichte komplizierter aufgebaut, denn ein reflektierendes (d. h. auf etwas zurÜckschauendes) Bewußtsein gibt es eben erst, nachdem einmal das Nicht-Ich und somit alles gesetzt ist, was uns als »Welt« erscheint. Mit anderen Worten: An der Erfahrungs- und Erscheinungswelt Çndert sich durch diesen Idealismus gar nichts, nur wird durch die transzendentale Reflexion alles auf ein setzendes Ich zurÜckgefÜhrt. Die SubjektObjekt-IdentitÇt ist hier auf eine radikale Spitze getrieben. Ein kritischer Mann wie Kant sah, daß sich in einer solchen Philosophie wie der Wissenschaftslehre Fichtes alles auflÙst. Kant kannte die Wissenschaftslehre Fichtes, die dieser ihm auch zugesandt hatte, zunÇchst nur aus einer Rezension, aber, was er Über diese Rezension schrieb, gilt eben auch fÜr das Werk Fichtes. Kant schrieb diesbezÜglich treffend am 5. April 1798 an Johann Heinrich Tieftrunk: Aber die Recension f¹r Fichte (welche mit vieler Vorliebe des Recensenten abgefaßt ist) sieht mir wie eine Art von Gespenst aus, was, wenn man es gehascht zu haben glaubt, man keinen Gegenstand, sondern immer nur sich selbst und zwar hiervon auch nur die Hand die danach hascht vor sich findet. - Das bloße Selbstbewußtsein und zwar nur der Gedankenform nach, ohne Stoff, folglich ohne daß die Reflexion dar¹ber etwas vor sich hat, worauf es angewandt werden k³nne und selbst ¹ber die Logik hinausgeht, macht einen wunderlichen Eindruck auf den Leser. Schon der Titel (Wissenschaftslehre) erregt, weil jede systematisch gef¹hrte Lehre Wissenschaft ist, wenig Erwartung f¹r den Gewinn, weil sie eine Wissenschaftswissenschaft und so ins unendliche andeuten w¹rde. (Kant: Briefe. Gesammelte Schriften. XII. S. 241) Kant hat aber doch in Fichtes Wissenschaftslehre gelesen, denn er teilt uns zu Fichtes Buch mit: »dessen Durchlesung ich aber, weil ich es weitlÇufig und meine Arbeit zu sehr unterbrechend fand, zur Seite legte« (Ebd.). Wir kÙnnen Kant fÜr seine Mitteilungen dankbar sein; wenn wir das Durchlesen dieser Philosophie fÜr unsere Arbeit zu sehr unterbrechend finden, sind wir in guter Gesellschaft. UnterstÜtzung dabei finden wir auch bei Schopenauer. Das VerhÇltnis von Fichte zu Kant, dessen Vollender er wohl sein wollte, sieht Schopenhauer boshaft folgendermaßen: Wie n›mlich im alten deutschen Puppenspiel dem Kaiser, oder sonstigen Helden, allemal der Hanswurst beigegeben war, welcher Alles, was der Held gesagt oder getan hatte, nachher in seiner Manier und mit •bertreibung wiederholte; so steht hinter dem großen Kant der Urheber der Wissenschaftslehre [= Fichte], richtiger Wissenschaftsleere. Wie dieser Mann seinen, dem Deutschen philosophischen Publiko gegen-

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Der frÜhe Deutsche Idealismus: Fichte, Schelling

¹ber ganz passenden und zu billigenden Plan, mittelst einer philosophischen Mystifikation Aufsehn zu erregen, um in Folge desselben seine und der Seinigen Wohlfahrt zu begr¹nden, vorz¹glich dadurch ausf¹hrte, daß er Kanten in allen St¹cken ¹berbot, als dessen lebendiger Superlativ auftrat und durch Vergr³ßerung der hervorstechenden Teile ganz eigentlich eine Karikatur der Kantischen Philosophie zu Stande brachte; so hat er dieses auch in der Ethik geleistet. (Schopenhauer: Preisschrift ¹ber die Grundlage der Moral § 11. VI. S. 221)

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Solche Stellen, von denen es bei Schopenhauer zahlreiche, vor allem auch Hegel betreffende, Çhnliche gibt, werden selbstverstÇndlich von AnhÇngern des Deutschen Idealismus als unsachliche Polemik zurÜckgewiesen. Ganz so Unrecht hatte Schopenhauer aber doch nicht. Kant hatte z. B. das Problem daß er keine Einheit finden konnte, die zwischen dem NaturschÙnen, das im Hinblick auf den Begriff der Natur als notwendiges Geschehen gedacht war, und dem KunstschÙnen, das im Hinblick auf die Hervorbringung des Kunstwerks als Ergebnis der Freiheit zu verstehen war, vermittelte. Ein einfacher Weg, die Einheit der Vernunft in diesen beiden Bereichen zu finden, war der, das NaturschÙne unter den des KunstschÙnen zu subsumieren (nach dem Modell Gottes als des artifex, der als KÜnstler die Natur schafft). Damit war das Problem Kants der Unterscheidung der Bereiche von Natur und Freiheit beseitigt. Bei dieser Konzeption der frÜhen Wissenschaftslehre Fichtes wie auch der Naturphilosophie des frÜhen Schelling sollte man jedoch auch sehen, daß sie nicht nur den KÙpfen der Philosophen entsprungen war, sondern auch einem Grundzug u.a. der Dichtung der Zeit entsprach: FÜr Friedrich Schiller (1759–1805) etwa wurde alles, auch die Natur, zur Vorstellungswelt des Theaters. Er entwarf die Natur als Kunstwerk. Er hatte die Schweiz nie gesehen und schilderte im Wilhelm Tell die natÜrliche Umgebung, die Sitten und vieles mehr so Überzeugend, daß diese Darstellung sogar in ReisefÜhrer einging. Bei Schiller (ganz im Unterschied zu Goethe) ist die Natur, z. B. ein See, ein Gewitter usw., ein handelnder Schauspieler in der Vorstellungswelt des Theaters, hier wird tatsÇchlich Natur durch die Vorstellung »hervorgebracht«. Der Dichter erfindet die Natur als Entfaltung seines dichterischen Ichs. Auch in der Musik wird die Selbstentfaltung des Ichs zu einem wichtigen Faktor. Was das Genie in der Dichtung ist, das ist der Virtuose - und viel weniger der Komponist - in der Musik (die Virtuosen dieser Periode waren aber alle gleichzeitig Komponisten). Der erst jetzt als solcher durch NicolÔ Paganini (1782–1840) erfundene Virtuose steigerte die technischen MÙglichkeiten des ausÜbenden Musikers ins bisher fÜr unmÙglich Gehaltene und Überschritt alle vorher geltenden Grenzen (was fÜr die Entwicklung der Violintechnik durchaus nÜtzlich war). Aber dieses Virtuosen-Individuum schaffte sich auch gleichzeitig seine eigene Mystifikation. Franz Liszt (1811–1886) wird - auf dem Klavier - Paganini nicht nur folgen, sondern sogar noch Übertreffen. Die Musik wird zur Selbstentfaltung des virtuosen Individuums, das sich auch gleich sein Nicht-Ich, sein Publikum, mitschafft. Die Damen der bes-

Der Çsthetische Standpunkt im Systemfragment

seren Gesellschaft fielen angesichts der ZauberkÜnste der Virtuosen tatsÇchlich in Ohnmacht und wurden erst durch ein Adagio des KÜnstlers wieder zum Bewußtsein gebracht - wissend, im neuen Bewußtsein nur noch als Nicht-Ich, als Um-Welt und Verehrerin des KÜnstlers ein Existenzrecht zu haben. Der KÜnstler schuf sich seine Welt so, wie Fichte und Schelling sich die ihre schufen. Es war eine KÜnstlerphilosophie, die Kunst konnte zum Leitfaden werden, an dem sich die Philosophie einÜben und somit einsichtig machen ließ, und entsprechend wurde sie auch wiederum von KÜnstlern begeistert aufgenommen. Philosophie und Kunst gingen ein BÜndnis ein. Damit sind wir beim folgenden Punkt. Vorher aber noch eine Bemerkung: Manche Leser, vor allem solche, die der Philosophie des Deutschen Idealismus in irgendeiner Weise nahestehen, werden diese kurzen Bemerkungen Über die frÜhe Philosophie Fichtes und Schellings unzureichend, oberflÇchlich und polemisch finden. Dazu eine autobiographische Notiz: Ich habe mich einige Jahre lang vor allem mit der frÜhen Philosophie Schellings befaßt und dann meine Habilitationsschrift Über die theologische Verwendung dieser Philosophie verfaßt (Die Evidenz der Geschichte. Theologie als Wissenschaft bei J. S. Drey. Innsbruck 1970). SpÇter aber ging es mir wie Hans Jonas in seiner Auseinandersetzung mit dem Existentialismus und der Gnosis (vgl. Kap. XXI, 4), der spÇter herausfand, daß sich der Existentialismus so gut zur Auslegung der Gnosis verwenden ließ, weil ersterer eben gar nichts anderes als letztere ist. Ganz Çhnlich stellte ich spÇter fest, daß sich Schellings Philosophie, und dasselbe gilt noch mehr fÜr Hegel, so gut in der Theologie anwenden ließ, weil sie selbst nichts anderes als eine transzendental gewendete Offenbarungstheologie ist. Ob dieses Zirkelverfahren fÜr die Theologie einen Nutzen bringt, ist hier nicht unser Thema. FÜr die Darstellung der Geschichte der Philosophie aber bedeutet dies ganz einfach, daß Schellings frÜhe Philosophie ebenso wie die Fichtes hinter den bei Kant erreichten Standpunkt kritischen Denkens zurÜckfÇllt, was ja auch schon der Çltere Zeitgenosse von Fichte und Schelling, nÇmlich Kant selbst, genau gesehen hat (vgl. weiter oben). Fichte, der Verfasser der Kritik aller Offenbarung, vertritt dann selbst nichts anderes als eine, nun allerdings rein im Subjekt als innerer Vorgang stattfindende Offenbarungs-Philosophie, und bei Schelling ist es nicht viel anders.

3. Der ›sthetische Standpunkt im Systemfragment Der von der ’sthetik bestimmte Vernunftbegriff lÇßt sich am besten an dem berÜhmten Systemfragment von 1796 erlÇutern. Die Tatsache, daß seine Verfasserschaft umstritten ist (es wird von verschiedenen Interpreten entweder Schelling, Hegel oder HÙlderlin zugeschrieben, ich halte mit der Mehrzahl der Interpreten Schelling fÜr den wahrscheinlichsten Verfasser), macht diesen Text besonders relevant, da in ihm offensichtlich Ideen zum Ausdruck kommen, die den bedeutendsten Vertretern

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Der frÜhe Deutsche Idealismus: Fichte, Schelling

der FrÜhform des Deutschen Idealismus gemeinsam waren. Der Ausgangspunkt der Argumentation im Systemfragment ist genau wie bei Fichte die absolute Freiheit als schÙpferisches Prinzip. Es handelt sich also um eine praktische Philosophie, die auch den Gegenstand der Natur in sich begreift. Der Text beginnt wie folgt (die »...« gehÙren zum Text): ... eine Ethik. Da die ganze Metaphysik k¹nftig in die Moral f›llt - wovon Kant mit seinen beiden praktischen Postulaten nur ein Beispiel gegeben, nichts ersch³pft hat, so wird diese Ethik nichts anders als ein vollst›ndiges System aller Ideen, oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate sein. Die erste Idee ist nat¹rlich die Vorstellung von mir selbst, als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt - aus dem Nichts hervor - die einzig wahre und gedenkbare Sch³pfung aus Nichts. (Schelling: Systemfragment. S. 65)

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Der Unterschied zu Kant wird sofort klar: Auch Kant beginnt in der praktischen Philosophie mit dem »freien selbstbewußten Wesen«, in keiner Weise aber tritt damit zugleich »eine ganze Welt aus dem Nichts hervor«. Im weiteren wird folgendes - wiederum wie bei Fichte - klar: Die Beziehung der Philosophie zur Naturwissenschaft, die Kant so streng und genau analysiert und reflektiert hatte, geht hier verloren. Hier werde ich auf die Felder der Physik herabsteigen; die Frage ist diese: Wie muß eine Welt f¹r ein moralisches Wesen beschaffen sein? Ich m³chte unserer langsamen an Experimenten m¹hsam schreitenden Physik einmal wieder Fl¹gel geben. (Ebd.) Hier wird nun einiges von dem, was Kant gelehrt hatte, entweder vergessen oder auf den Kopf gestellt. Kant hatte an der Naturwissenschaft ablesen wollen, was »Fortschritt« und »sicherer Gang einer Wissenschaft« ist, um daraus SchlÜsse fÜr die Philosophie zu ziehen (vgl. Kap. XV, 2). Der Autor des Systemfragments will nun umgekehrt der »mÜhsam schreitenden Physik einmal wieder FlÜgel geben«, denn mit ihren Experimenten schreitet sie nur mÜhsam voran. Kant hingegen hatte richtig die neuzeitliche Wissenschaft (vgl. Kap. III, 2, und IV, 1) analysiert: Es ist gerade das Experiment, das die entscheidende Rolle im VerstÇndnis und in der Praxis der Wissenschaft darstellt, das den raschen und stÇndigen Fortschritt der Wissenschaft hervorgerufen hat und weiterhin sicherstellt (vgl. Kap. XV, 2). Bei Kant soll nicht die Philosophie der Physik, sondern die Physik der Philosophie FlÜgel geben, damit das Herumtappen der Philosophie endlich aufhÙrt. Wie diese »FlÜgel« in Schellings Naturphilosophie im Einzelnen aussehen, mÙchte ich hier nicht weiter ausfÜhren, ein Beispiel soll genÜgen: Voraussetzung ist eine DualitÇt, die in stÇndiger Potenzierung eine zugrundeliegende Einheit hervorbringen soll. Daraus ergibt sich bei Schelling in seiner Spekulativen Physik von 1799 dann z. B. folgendes fÜr den Sauerstoff:

Der Çsthetische Standpunkt im Systemfragment

Der Sauerstoff ist also Bedingung des elektrischen Prozesses, weil Elektrizit›t nur unter Bedingung der Trennung entgegengesetzter Affinit›tssph›ren m³glich, und der Sauerstoff nur das Trennende ist. Er ist Bedingung des Verbrennungsprozesses, weil dieser einen •bergang beider ineinander voraussetzt. Aber kein •bergang ohne Trennung. Beide Prozesse beruhen also auf demselben Gegensatz, nur daß dieser Gegensatz, der bei jenem ein vermittelter, bei diesem ein unvermittelter wird. [...] So treibt uns der Verbrennungsprozeß auf eine ins Unendliche zur¹ckgehende Heterogeneit›t; denn welches wird endlich im Universum das absolut Unverbrennliche sein, mit dem zuletzt alles, und das mit nichts mehr verbrennt? - Man sieht leicht, daß diese Kette durch best›ndige Vermittlung ins Unendliche zur¹ckreicht, und daß so, da aller chemische Prozeß reduzibel ist auf den Verbrennungsprozeß, jeder chemische Prozeß bedingt ist durch die letzten Faktoren des Universums, deren •bergehen ineinander die absolute Homogeneit›t herbeif¹hren w¹rde. (Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie oder ¹ber den Begriff der spekulativen Physik. II. S. 248 f.) ’hnliches kann man bei Hegel lesen. Dort z. B. wird Elektrizit›t so behandelt: Die einzelne Begebenheit des Blitzes zum Beispiel wird als allgemeines aufgefaßt, und dies allgemeine als das Gesetz der Elektrizit›t ausgesprochen: die Erkl›rung faßt alsdann das Gesetz in die Kraft zusammen, als das Wesen des Gesetzes. Diese Kraft ist dann so beschaffen, daß wenn sie sich ›ußert, entgegengesetzte Elektrizit›ten hervortreten, die wieder ineinander verschwinden, das heißt die Kraft ist gerade so beschaffen, wie das Gesetz; es wird gesagt, daß beide gar nicht unterschieden seien. Die Unterschiede sind die reine allgemeine ußerung oder das Gesetz, und die reine Kraft; beide haben aber denselben Inhalt, dieselbe Beschaffenheit; der Unterschied als Unterschied des Inhalts, d. h. der Sache wird also auch wieder zur¹ckgenommen. (Ph›nomenologie des Geistes. IX. S. 95) Schelling selbst verstand durchaus einiges von Naturwissenschaft. Seine Naturphilosophie aber bewegte sich doch in einem anderen Raum. Die Physik wurde durch solche AusfÜhrungen nicht beflÜgelt, auch wenn heutige AnhÇnger der romantischen Naturphilosophie gerne darauf hinweisen, daß der eine oder andere Naturwissenschaftler des 19. Jhd.s sich damit - vor allem mit Schriften Schellings beschÇftigt hat. Es wird z. B. darauf hingewiesen, daß Hans Christian Oersted (1777–1851), der 1820 den Elektromagnetismus entdeckte, ein AnhÇnger der Naturphilosophie Schellings war. Allerdings ging seine Entdeckung auf einen Zufall und nicht auf die LektÜre von Schriften Schellings zurÜck. Schelling wiederum hat die Entdeckungen von Michael Faraday (1791–1867) bekannt gemacht. DafÜr, daß die weiteren Forschungen zur elektromagnetischen Feldtheorie von Schelling inspiriert sind, fehlt aber doch der Beweis. Man mag heute gelegentlich in Schellings Naturphilosophie geniale Intuitionen identifizieren, daß diese aber fÜr die Entwicklung der

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Der frÜhe Deutsche Idealismus: Fichte, Schelling

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Wissenschaften tatsÇchlich relevant waren, konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Man wird eher sagen mÜssen, daß die Physik weiter den »sicheren Gang einer Wissenschaft« ging, wie Kant ihn beschrieben hatte, und sich um die romantische Naturphilosophie kaum oder gar nicht kÜmmerte. WÇhrend Kant Grundlagen fÜr spÇtere Wissenschaftstheorien schuf, die auch dann, wenn man sie spÇter modifizierte oder auch fallen ließ, als Ausgangspunkt anerkannt wurden, leitetete die romantische Naturphilosophie den Entfremdungsprozeß von Philosophie und Wissenschaft im 19. Jhd. ein. (Wir sind hier am Ursprung des Doppelstrichs in unserem Schema in Kap. XIV, 1). Die eigentliche, in Kants aufklÇrerischem Fortschrittsbegriff unanalysiert und unkritisiert gebliebene Frage wurde jedoch nicht aufgegriffen, obwohl sie sich beim absoluten Ansatz vom handelnden Subjekt her aufgedrÇngt hÇtte, wenn man auf die »Felder der Physik herabsteigen« wollte. Wird hier im Systemfragment von Physik und Moral gesprochen, so hÇtte sich eigentlich eine sehr interessante Frage ergeben, die auch im 19. Jhd. schon hÇtte gestellt werden kÙnnen und die durch eine kleine, aber sachgemÇße ErgÇnzung verdeutlicht werden kann: »Wie muß eine wissenschaftlich-technologische Welt fÜr ein moralisches Wesen beschaffen sein?« Oder moderner ausgedrÜckt: »Wie muß der ethisch verantwortbare Umgang des Menschen mit der Wissenschaft und der Technik aussehen?« Diese entscheidende Frage wurde von den Philosophen des Deutschen Idealismus aber nicht aufgegriffen. Erst die Philosophie des 20. Jhd.s stellte sich ihr - mit VerspÇtung. Das VerhÇltnis von Freiheit bzw. MoralitÇt und Wissenschaft war nicht das maßgebliche Thema der frÜhen Deutschen Idealisten, dieses war ein anderes, das jetzt noch kurz zu besprechen ist. Im Systemfragment zeigt sich, daß der Denkrahmen, von dem aus die Philosophie angegangen wird, die Ideen von Freiheit und Kunst sind. Freiheit wird dabei selbst in ihrer Form von der Kunst her gedacht: Freiheit ist schÙpferisches Hervorbringen, und genau dies gilt dann von der Vernunft, die somit in ihrem Anfang und Ende Çsthetisch ist. Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Sch³nheit, das Wort in h³herem platonischem Sinne genommen. Ich bin nun ¹berzeugt, daß der h³chste Akt der Vernunft, der, in dem sie alle Ideen umfaßt, ein ›sthetischer Akt ist, und daß Wahrheit und G¹te nur in der Sch³nheit verschwistert sind. Der Philosoph muß ebensoviel ›sthetische Kraft besitzen, als der Dichter. Die Menschen ohne ›sthetischen Sinn sind unsere Buchstabenphilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ›sthetische Philosophie. (Schelling: Systemfragment. S. 66) Dahinter steht nicht nur eine besondere SchÇtzung der Kunst, sondern darÜber hinaus auch eine ausdrÜcklich romantische Geschichtsphilosophie. Einer der wichtigsten Vertreter derselben war Johann Gottfried Herder (1744–1803) mit seinem bekannten Werk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Herder und

Der Çsthetische Standpunkt im Systemfragment

seine Nachfolger standen unter dem Eindruck der Gedanken Rousseaus, der seine Kritik an der Gegenwart nicht durch eine historische, sondern eher zeitkritische und utopische Vorstellung von der Menschheit in einem ursprÜnglichen, unverdorbenen Zustand meinte stÜtzen zu kÙnnen; einer Menschheit also, die nicht durch die gegenwÇrtige Zivilisation und Wissenschaft verdorben wÇre. Dies war die Grundthese von Rousseaus Abhandlung Über die Frage Hat der Wiederaufstieg der Wissenschaften und KÜnste zur LÇuterung der Sitten beigetragen?, einer Schrift, die eine radikale Kritik der AufklÇrungsphilosophie beinhaltet und die dementsprechend von den AufklÇrern abgelehnt worden war (vgl. Kap. XIII, 2). Die Romantiker, die sich gerade von der, wie sie es nannten, »flachen« AufklÇrungsphilosophie absetzen wollten, sahen somit in Rousseau ihren idealen VorkÇmpfer. Diese Geschichtsphilosophie trat jedoch hÇufig in der Form einer Ursprungsromantik auf und konnte sich in dieser Abart kaum noch auf Rousseau berufen: Man trÇumte von einer idealen Zeit in (ferner) Vergangenheit und (naher) Zukunft, in der die Dichtung die Stelle universalen Wissens einnehmen sollte. Und so versteht man auch, warum es im Systemfragment heißt: Die Poesie bekommt dadurch eine h³here W¹rde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war - Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle ¹brigen Wissenschaften und K¹nste ¹berleben. (Schelling: Systemfragment. S. 66) Die Philosophie soll also der Dichtung weichen oder programmatisch in ihr aufgehen. Fichte und Schelling hatten in Berlin zu dem Kreis der FrÜhromantiker um Johann Ludwig Tieck (1773–1853), Novalis (1772–1801), August Wilhelm Schlegel (1767– 1845), Friedrich Schlegel (1772–1829), Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher (1768–1834) u.a. gehÙrt. Hier galt die These, daß die Kunst das hÙchste BedÜrfnis des Menschen ist - Hegel wird sich spÇter ausdrÜcklich dagegen wenden -, und die Kunst stellte jenen Bereich dar, in dem sich die Philosophen des frÜhen Deutschen Idealismus zu Hause fÜhlten. Eigentlich war aber bei den FrÜhromantikern nicht die Dichtung, sondern die Musik die hÙchste der KÜnste. 1797 waren Wilhelm Heinrich Wackenroders (1773–1794) Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders erschienen, und 1799 erschienen AufsÇtze von ihm zusammen mit solchen Tiecks unter dem Titel Phantasien Über die Kunst fÜr Freunde der Kunst. Bei Wackenroder und Tieck wurde die Kunst, vor allem die Musik, als eine andere Welt, die gleichzeitig die Negation der erfahrbaren Welt ist, zu einer Welt der ErlÙsung und somit zur einzig wahren Welt. E. T. A. Hoffmann (1776–1822) beschrieb diese Welt als eine Welt des Unendlichen, Unaussprechlichen und Geheimnisvollen, als ein Geisterreich und eine Geisterwelt. Von dieser anderen Welt gab es kein ZurÜck in die reale Welt, was lag also nÇher, als sie zur einzig wahren Welt zu deklarieren? Die Philosophie der FrÜhromantiker war genau ein solches Geisterreich, und Kant sah dies deutlich (vgl.

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Der frÜhe Deutsche Idealismus: Fichte, Schelling

weiter oben). Die Überragende Bedeutung, welche die Kunst und besonders die Musik im 19. Jhd. erhielt, so daß sie schließlich zum Religionsersatz werden konnte, verdankte sicher viel diesen FrÜhromantikern. Ob dies zum Nutzen der Dichtung und der Musik geschah, sei hier dahingestellt, denn den Anspruch, der damit verbunden war, konnten Dichtung und Musik nicht einlÙsen. FÜr die Musik stellte dies kein Problem dar, denn dieser Anspruch wurde nicht von den Musikern, sondern von den Über sie »phantasierenden« Literaten erhoben (erst in der zweiten HÇlfte des 19. Jhd.s, also bei Richard Wagner, hegte ein Musiker selbst diesen Anspruch). FÜr die Philosophie allerdings gilt: Diese Dichterphilosophen und ihre Nachfolger haben viel dazu beigetragen, daß im 20. Jhd. die Philosophie dieser Art selbst einfach als Dichtung angesehen wurde und man schließlich Metaphysiker als Musiker ohne Talent bezeichnete (R. Carnap).

4. Sittlichkeit, Gewissen und Staat

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Fichte sah bald, daß die Vorstellung einer absolut setzenden Freiheit, die keinerlei Außer-Sich zulÇßt, mit sich selbst in Widerspruch gerÇt. Die in der Vorstellung vorhandenen freien Anderen entsprechen eben nur dann der Setzung der eigenen Freiheit, wenn sie wirklich als freie Andere, d. h. als unabhÇngige freie Menschen gedacht werden. Damit aber ergibt sich das Problem des VerhÇltnisses der freien Menschen zueinander, also das Problem von Gesellschaft und Staat. ZunÇchst einmal war aber die Ablehnung des Staates durch die Vertreter der FrÜhform des Deutschen Idealismus radikal. Dazu heißt es im Systemfragment: Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir m¹ssen also ¹ber den Staat hinaus! - Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches R›derwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufh³ren. Ihr seht von selbst, daß hier all die Ideen, vom ewigen Frieden usw. nur untergeordnete Ideen einer h³heren Idee sind. Zugleich will ich hier die Prinzipien f¹r eine Geschichte der Menschheit niederlegen und das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung - bis auf die Haut entbl³ßen. (Schelling: Systemfragment. S. 65) Fichte formulierte seine Thesen ebenso scharf. In seiner Sittenlehre ist das Gewissen das einzig normierende Prinzip der Freiheit, und er meinte, daß das Gewissen prinzipiell nicht irren kÙnne (vgl. Das System der Sittenlehre. S. 142). Dem Gewissen gegenÜber gibt es schlechterdings keine AutoritÇt, und es darf nach Fichte auch gar keine geben, wenn wir von Sittlichkeit sprechen. Damit sind wir bei seinem berÜhmten Ausspruch: Wer auf Autorit›t hin handelt, handelt sonach notwendig gewissenlos. (Ebd. S. 172)

Sittlichkeit, Gewissen und Staat

Es ist offensichtlich, daß hinter dieser Auffassung auch das Bestreben des BÜrgertums steht, sich von der monarchischen AutoritÇt frei zu machen, wie dies wenige Jahre vorher in der FranzÙsischen Revolution seinen unÜbersehbaren Ausdruck erhalten hatte. Es muß jedoch darÜber hinaus gesehen werden, daß Fichte hier auf die vor allem im Pietismus radikal ausgelegte protestantische These der Gewissensfreiheit zurÜckgreift, die das Gewissen als Ruf Gottes interpretiert, dem gegenÜber es keine Übergeordnete Instanz gibt. Der theologische Hintergrund wird auch sprachlich deutlich, wenn Fichte in der Bestimmung des Menschen schreibt: Es soll schlechthin etwas geschehen, weil es nun einmal geschehen soll: dasjenige, was das Gewissen nun eben von mir, von mir, der ich in diese Lage komme, fordert; daß es geschehe, dazu, lediglich dazu bin ich da; um zu erkennen, habe ich Verstand; um es zu vollbringen, Kraft. Durch diese Gebote des Gewissens allein kommt Wahrheit und Realit›t in meine Vorstellungen. Ich kann jenen die Aufmerksamkeit und den Gehorsam nicht verweigern, ohne meine Bestimmung aufzugeben. Ich kann daher der Realit›t, die sie herbeif¹hren, den Glauben nicht versagen, ohne gleichfalls meine Bestimmung zu verleugnen. Es ist schlechthin wahr, ohne weitere Pr¹fung und Begr¹ndung, es ist das erste Wahre, und der Grund aller anderen Wahrheit und Gewißheit, daß ich jener Stimme folgen soll. (Die Bestimmung des Menschen. III. S. 355) Damit ist auch das PrÜfungsverfahren aufgehoben, das Kant durch die Universalisierbarkeit der Maximen der Moral einfÜhren wollte. Hegel, der sich rasch von dem frÜhen Deutschen Idealismus getrennt hatte, erkannte das Anarchistische in dieser Theorie und kritisierte sie, ohne den Namen Fichtes zu nennen, in seiner Rechtsphilosophie, in der er Subjektives und Objektives, individuelles Gewissen und allgemeines Recht zu vermitteln suchte (vgl. Kap. XVII, 4). FÜr Fichte blieb eine solche Vermittlung mit objektivem Recht und objektivem Staat unmÙglich. Das Recht hat nach ihm nur die Funktion, die Rahmenbedingungen fÜr das Zusammenleben freier Individuen zu sichern. Das Recht kann immer nur hypothetisch sein, d. h. es sagt: wenn du das und das tust, dann wirst du bestraft; kategorisch ist hingegen nur der Anspruch des Gewissens. Anders als bei Kant findet sich aber bei Fichte auch keine Suche nach Kriterien fÜr den kategorischen Anspruch des Gewissens, von seinem Ausgangspunkt her kann es solche Kriterien gar nicht geben. Im Grunde ist in einer solchen Konzeption gerade noch die Gesellschaft als Vereinigung freier, nach dem Gewissen handelnder Menschen denkbar, diese Gesellschaft aber steht im Gegensatz zum Staat. Nicht der Staat ist der Ort der Verwirklichung des Einzelnen und seiner Freiheit, sondern der Kommunikationsprozeß freier Individuen. WÇren Vernunft und Sittlichkeit in einer Gemeinschaft freier Individuen gesichert, so kÙnnte und mÜßte der Staat aufhÙren zu existieren. Wir heute haben bei solchen Thesen erhebliche Schwierigkeiten und mÜssen feststellen, daß eine absolute Entgegensetzung von Gewissen und Staat bzw. Gesell-

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Der frÜhe Deutsche Idealismus: Fichte, Schelling

schaft nicht weiterfÜhrt. Es kommt vielmehr darauf an zu fragen, wie ein Staat aussehen muß, damit die Freiheit des Gewissens gewÇhrt bleibt, und wie auf der anderen Seite das Gewissen aussehen muß, damit nicht die Rechte anderer verletzt werden (auch Terroristen kÙnnen sich auf die unbedingte Forderung der Stimme des Gewissens berufen und tun dies auch). Um mit Kant zu sprechen: Auch das Gewissen steht unter der Forderung des kategorischen Imperativs und unter der Maxime, daß andere Menschen Zweck an sich und nicht Mittel sein dÜrfen. Jede Berufung auf das Gewissen bei einer Handlung, die in das Leben anderer eingreift, muß darauf geprÜft werden, ob das darin Geforderte zur allgemeinen Regel des Handelns gemacht werden kann. Es sei noch einmal an Kant erinnert, der feststellt: Ob eine Handlung ¹berhaupt recht oder unrecht sei, dar¹ber urteilt der Verstand, nicht das Gewissen. (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. VI. S. 185) Das Gewissen findet hier ein Kriterium vor, das nicht zur Disposition steht, und das heißt eben, daß die Unbedingtheit des Gewissensanspruchs, wie ihn die frÜhen Deutschen Idealisten vertreten haben, unhaltbar ist. 378

5. Die Erhebung zum Absoluten Fichte war Über die Anerkennung anderer freier PersÙnlichkeiten zur Erkenntnis der Nicht-Absolutheit des jeweils eigenen Bewußtseins gelangt. Als Konsequenz hÇtte die Leugnung des Absoluten Überhaupt naheliegen kÙnnen, da diese Philosophie vom Selbstbewußtsein als absoluter Setzung ausgegangen war. Dies war jedoch vom Grundansatz Fichtes und des ganzen Deutschen Idealismus her undenkbar. Zudem war Fichte durch den Nihilismusstreit, in dem im Jahre 1800 von Jacobi die These vertreten worden war, die Transzendentalphilosophie Fichtes sei im Grunde Nihilismus, stark getroffen worden. Eine Grundlage blieb jedoch fÜr Fichte unerschÜttert: der absolute, unbedingte Anspruch des Gewissens. Hier meinte er, eine unbezweifelbare, zwingende Evidenz gefunden zu haben, eine Evidenz, die so zum Ausgangspunkt der Reflexion Über ein absolutes Fundament des Wissens genommen werden konnte. Ist jedoch das Bewußtsein nicht als in sich gegrÜndetes Absolutes zu begreifen, kann diese Evidenz nicht im Bewußtsein als FÜr-sich-Sein gegrÜndet sein, es muß vielmehr in dieser Evidenz ein notwendiges Sein zur Erscheinung kommen, das sich zwar im Bewußtsein manifestiert, aber nicht von diesem produziert wird. Fichte hÇlt jedoch daran fest, daß dort, wo der Anspruch von Notwendigkeit und Absolutheit auftritt, die Grundlage desselben in einer absoluten SelbsttÇtigkeit, einer Tathandlung liegen muß. Diese Annahme fÜhrte zum Gottesbegriff der spÇten Philosophie Fichtes. Wie dieser formuliert wird, lÇßt sich sowohl den spÇten Formen der Wissenschaftslehre als auch der Schrift von der Bestimmung

Die Erhebung zum Absoluten

des Menschen aus dem Jahre 1800 entnehmen. Der Charakter der letzteren Schrift zeichnet sich durch sehr persÙnliche und dialogische ZÜge aus, wie sie sich ganz Çhnlich in den Bekenntnissen des Augustinus oder in den Schriften Eckharts finden. Bei Fichte kÙnnen wir dann SÇtze wie die folgenden lesen: Alles unser Leben ist Sein Leben. Wir sind in seiner Hand, und bleiben in derselben, und niemand kann uns daraus reißen. Wir sind ewig, weil Er es ist. - Erhabener lebendiger Wille, den kein Name nennt, und kein Begriff umfaßt, wohl darf ich mein Gem¹t zu dir erheben; denn du und ich sind nicht getrennt. Deine Stimme ert³nt in mir, die meinige t³nt in dir wieder; und alle meine Gedanken, wenn sie nur wahr und gut sind, sind in dir gedacht. - In dir, dem Unbegreiflichen, werde ich mir selbst, und wird mir die Welt vollkommen begreiflich, alle R›tsel meines Daseins werden gel³st, und die vollendetste Harmonie entsteht in meinem Geiste. - Am besten fasset dich die kindliche, dir ergebene Einfalt. [...] Ich will nicht versuchen, was mir durch das Wesen der Endlichkeit versagt ist, und was mir zu nichts n¹tzen w¹rde; wie du an dir selbst bist, will ich nicht wissen. Aber deine Beziehungen und Verh›ltnisse zu mir, dem Endlichen, und zu allen Endlichen, liegen offen vor meinem Auge: werde ich, was ich sein soll! - und sie umgeben mich in hellerer Klarheit, als das Bewußtsein meines eigenen Daseins. Du wirkest in mir die Erkenntnis von meiner Pflicht, von meiner Bestimmung in der Reihe der vern¹nftigen Wesen; wie, das weiß ich nicht, noch bedarf ich es zu wissen. (Die Bestimmung des Menschen. S. 399–401) Es wÇre aber nicht richtig, diese Entwicklung bei Fichte einfach als die auch bei anderen Romantikern feststellbare spÇtere Hinwendung zur Religion zu interpretieren und darin gleichzeitig die ersten Anzeichen der etwa um 1815 einsetzenden Reaktion zu sehen. Fichte denkt hier vielmehr nur die Absolutsetzung der SubjektivitÇt der neuzeitlichen Philosophie zu Ende. Da diese SubjektivitÇt aber ihre Wurzeln in einer lange vor Beginn der Neuzeit liegenden Glaubenshaltung und Mystik hat (vgl. 2. Teil, Kap. XVIII, 1 und 3), wird sie nun von dieser Herkunft unter verÇnderten Bedingungen eingeholt. Diese verÇnderten Bedingungen zeigen sich vor allem in der Bedeutung des Willens: Die Mystik war zunÇchst intellektualistisch orientiert und hatte immer Schwierigkeiten, dem Willen und der Freiheit einen systematisch relevanten Platz zu geben. Erst seit Eckhart glaubte die deutsche Mystik, im »GemÜt« eine FÇhigkeit entdeckt zu haben, welche die Zweiheit von Verstand und Wille Übergreift bzw. vor einer solchen liegt. So versteht es sich auch, daß jetzt im Deutschen Idealismus, der besonders bei Fichte vom Willen ausgeht, das GemÜt jene vermittelnde Basis liefert, von der aus das bÜrgerliche Bewußtsein von Autonomie und die mystischen Wurzeln des Individualismus wieder vereinigt werden kÙnnen: Das moderne (deutsche) Bewußtsein des spÇtbÜrgerlichen Individuums spricht das aus, was in den mystischen Wurzeln des frÜhbÜrgerlichen Individuums enthalten ist, und was in dieser frÜheren Zeit in der deutschen Sprache seinen Niederschlag gefunden hat.

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) kam 1788 ins TÜbinger Stift zum Studium der Theologie. Unter den dortigen Studenten waren ab 1790 auch zwei weitere: Schelling und HÙlderlin. Der Zufall - hegelianisch ausgedrÜckt: die Vernunft in der Geschichte - brachte es mit sich, daß diese drei wÇhrend zwei Jahren gemeinsam, zeitweilig sogar als Zimmergenossen, in TÜbingen studierten. Die Disziplin im TÜbinger Stift war streng, und die Theologie an der UniversitÇt war so, daß sie bei vielen Studenten zur Ablehnung der Theologie der protestantischen Orthodoxie oder der Theologie Überhaupt fÜhrte. Die Wirkung der AufklÇrung, der Hegel schon wÇhrend seiner Schulzeit begegnet war, begann sich auch in TÜbingen bemerkbar zu machen. Ein weiterer und nicht weniger entscheidender Einfluß aber ging von der zu dieser Zeit unmittelbar miterlebbaren franzÙsischen Revolution aus. Hier konnte man erfahren, daß gesellschaftliche Systeme nicht unverÇnderlich waren, daß der zunÇchst rein theoretisch konzipierte Ausgang aus der UnmÜndigkeit der Menschen zur konkreten Praxis werden konnte. Der Gedanke, daß nun ein Zustand von Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit politisch durchgesetzt werden sollte, rief geradezu eschatologische Hoffnungen hervor. In TÜbingen gab es sogar so etwas wie eine geheime VerschwÙrung zur Durchsetzung solcher Ideen im Bereich des Stifts, an der auch Schelling und Hegel beteiligt waren. Hegel und Schelling standen zu dieser Zeit auch unter dem Einfluß der Gedanken Winckelmanns und Lessings, durch die das klassische - insbesondere das griechische - Altertum zu einer Idealvorstellung geworden war. Bei den Griechen, so meinte man, wÇre die ideale Einheit alles Lebendigen, von Natur, Mensch und Gottheit, verwirklicht gewesen. Das »Ein und Alles« der griechischen Philosophie wurde bei den TÜbinger Studenten nicht bloß als eine Formel verstanden, sondern drÜckte ein echtes LebensgefÜhl aus. Dies war einer der Faktoren, die den Boden fÜr die Spinoza-Rezeption (vgl. Kap. XVI, 2) bereiteten. Auf philosophischem Gebiet kam natÜrlich den Schriften Kants eine Überragende Bedeutung zu. Es war jedoch weniger die Kritik der reinen Vernunft, die hier einflußreich war, als vielmehr die Kritik der praktischen Vernunft, eine Schrift, in der man das Ideal der freien sittlichen PersÙnlichkeit, die, autonom gegenÜber jeder gesellschaft-

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lichen oder religiÙsen AutoritÇt, ihr eigener Gesetzgeber ist, zu finden glaubte. Der AufklÇrer Kant wurde jedoch bei den TÜbingern schon in recht romantischem Licht gelesen. Aus dem Studium der Geschichte auf dem Hintergrund der kantischen praktischen Philosophie und Religionskritik ergab sich fÜr die Studenten der Theologie im TÜbinger Stift eine eminent historische und gesellschaftskritische Frage: Wenn wirklich, wie Kant meinte, die praktische Philosophie, die die Freiheit des Individuums voraussetzte und forderte, den rationalen Kern und die ursprÜngliche Lehre des Christentums darstellte, wie konnte es dann im Lauf der Geschichte dazu kommen, daß diese Lehre zu einem Instrument der Herrschaft wurde? Ein solches Herrschaftssystem begegnete den jungen Studenten ganz konkret in den Strukturen des TÜbinger Stifts. Es war zu vermuten, daß die Wurzeln dieser Verkehrung geschichtlich weit zurÜckliegen mußten. Hegel vermutete in den Theologischen Jugendschriften, daß schon gleich am Beginn des Christentums ein großes MißverstÇndnis steht, das mit dem VerhÇltnis von Individuum und Gesellschaft zu tun hat. Dieses Bild der Vollkommenheit, das Christus aufstellt, tr›gt in sich selber den Beweis, wie sehr Christus bei seinem Unterricht nur die Bildung und Vollkommenheit des einzelnen Menschen vor Augen hatte, und wie wenig es sich auf eine Gesellschaft im Großen ausdehnen l›ßt. (Theologische Jugendschriften. S. 360) Es ergab sich fÜr Hegel also die Frage, wie es dazu kommen konnte, daß der Einzelne hÙchst vollkommen, das Allgemeine, d. h. die aus diesen einzelnen bestehende Gesellschaft, aber hÙchst unvollkommen ist. Hegel meinte, den Grund dafÜr im ¾bergang des Christentums von einer Individualreligion zu einer Volksreligion gefunden zu haben. Die christliche Religion als Volksreligion erfordert eine ³ffentliche Kirchenzucht, und diese ist der Natur ganz unangemessen, fruchtet nichts, schadet mehr wegen der großen Schande. (Ebd. S. 356) Im Prinzip lehnt also Hegel die Kirche als Organisation ebenso ab wie Schelling im Systemfragment den Staat, was auch wieder der Auffassung des jungen Fichte entspricht (vgl. Kap. XVI, 4). Der Ausgangspunkt der Entgegensetzung von Individuum und organisierter Gesellschaft - Staat und Kirche - bei Fichte, Schelling und Hegel ist also ziemlich Çhnlich. Hegel fragt daher nach den GrÜnden der Entstehung dieses Gegensatzes. Hegels Ansicht zufolge sollen [...] allgemeine Gr¹nde aufgesucht werden, durch welche es m³glich geworden, daß man fr¹hzeitig christliche Religion als Tugendreligion verkennen, sie anfangs zu einer Sekte, und nachher zu einem positiven Glauben machen konnte. (Theologische Jugendschriften. S. 156)

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Der Irrweg wurde also dort eingeschlagen, wo aus einem Bild der Vollkommenheit ein Tugendkanon gebildet wurde, und dieser samt dem Urheber desselben zum Gegenstand eines positiven Glaubens gemacht wurde. Die Denkfigur der Verkehrung eines Ideals in einen positiven Gegenstand des Bewußtseins - eine Denkfigur, die deutlich kantische Wurzeln hat (vgl. Kap. XV, 5) - wird also schon hier von Hegel verwendet. Hegel verfolgte diesen Weg nicht direkt weiter. Erst spÇter wird er wieder zu Fragen historisch-systematischer ErklÇrung zurÜckkehren (vgl weiter unten 4). Seine Auseinandersetzung mit theologischen Fragen fÜhrte (unter dem Einfluß HÙlderlins?) in eine ganz andere Richtung. Kant dachte die Freiheit als Selbstbestimmung und als durch das Moralgesetz erkannt. Und Hegel stimmt zwar mit Kant darin Überein, daß »nur praktische Vernunft einen Glauben an Gott grÜnden« kann (Theologische Jugendschriften. S. 361), dann aber geht er einen anderen Weg. Schon Kants Antinomie der praktischen Philosophie, die darin besteht, daß in diesem Leben Pflicht und GlÜckseligkeit oft nicht zur Deckung gelangen, lÇßt Hegel nicht bestehen (das Hiob-Problem, das Kant beschÇftigt hatte, vgl. Kap. XV, 7, tritt somit gar nicht auf).

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F¹r das, was ihr aufgegeben habt, sagt Jesus, ist der Erwerb des Bewußtseins, der Pflicht allein gelebt zu haben, ein reichlicher Ersatz in diesem Leben, und in alle Ewigkeit. (Theologische Jugendschriften. S. 114) Aber schon die Pflicht wird bei Hegel anders aufgefaßt als bei Kant. Der kategorische Imperativ hat bei Kant seine rationale Basis in der Forderung nach der MÙglichkeit der Verallgemeinerung moralischer Maximen. Damit aber unterwirft sich nach Hegel der Einzelne dem Allgemeinen. Moralit›t ist nach Kant die Unterjochung des Einzelnen unter das Allgemeine, der Sieg des Allgemeinen ¹ber sein entgegengesetztes Einzelnes - eher Erhebung des Einzelnen zum Allgemeinen, Vereinigung - Aufhebung der beiden Entgegengesetzten durch Vereinigung. (Ebd. S. 387) Hegel wirft also Kant vor, das Problem des Gegensatzes von Einzelnem und Allgemeinem in der MoralitÇt und damit auch in der Freiheit nicht richtig erfaßt zu haben. Hegel sah hier ein Prinzip der Herrschaft, der Entzweiung und des Widerspruchs am Werk. Einzelnes und Allgemeines stehen einander hier unversÙhnt gegenÜber. Deshalb suchte Hegel eine von Kant verschiedene Interpretation der MoralitÇt bzw. der Praxis des Christentums: Durch Jesus kÙnnen wir erkennen, daß MoralitÇt und so Freiheit »Aufhebung der beiden Entgegengesetzten durch Vereinigung ist« (Ebd. S. 387). Nicht die Pflicht gibt uns den wahren SchlÜssel zum Wesen der Freiheit, sondern die jeden Gegensatz Überwindende Liebe.

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[...] die Liebe hat gesiegt, heißt nicht, wie die Pflicht hat gesiegt, sie hat die Feinde unterjocht, sondern sie hat die Feindschaft ¹berwunden. (Ebd. S. 296) Wodurch aber ist solch eine Vereinigung und ¾berwindung von Entgegengesetzten mÙglich? Und zunÇchst: Wodurch ist Überhaupt Freiheit als •berwindung von Gegens›tzen erkennbar? Nach Hegel ist diese Erkenntnis nur aufgrund einer schon vorausgesetzten Vereinigung mÙglich. Die Vorstellung des Vorhandenseins einer solchen Vereinigung der GegensÇtze ist dann bei Hegel der Glaube. Glauben ist die Art, wie das Vereinigte, wodurch eine Antinomie vereinigt ist, in unserer Vorstellung vorhanden ist. Die Vereinigung ist die T›tigkeit; diese T›tigkeit, reflektiert als Objekt ist das Geglaubte. Um zu vereinigen, m¹ssen die Glieder der Antinomie als widerstreitende, ihr Verh›ltnis zueinander als Antinomie gef¹hlt oder erkannt werden; aber das Widerstreitende kann als Widerstreitendes nur dadurch erkannt werden, daß schon vereinigt worden ist; die Vereinigung ist der Maßstab, an welchem die Vergleichung geschieht, an welchem die Entgegengesetzten, als solche, als Unbefriedigte erscheinen. Wenn nun gezeigt wird, daß die entgegengesetzten Beschr›nkten als solche nicht bestehen k³nnten, daß sie sich aufheben m¹ßten, daß sie also, um m³glich zu sein, eine Vereinigung voraussetzen, (schon um zeigen zu k³nnen, daß sie Entgegengesetzte seien, wird die Vereinigung vorausgesetzt) so wird damit bewiesen, daß sie vereinigt werden m¹ssen, daß die Vereinigung sein soll. Aber die Vereinigung selbst, daß sie ist, ist dadurch nicht bewiesen, sondern diese Art von Vorhandensein der Vorstellung von derselben wird geglaubt; [...]. (Ebd. S. 382 f.) Dieser Text, zu dem es eine ganze Anzahl Çhnlicher Stellen gibt, zeigt den Ursprung dessen auf, was spÇter in dem fÜr Hegel charakteristischen Sinn Dialektik genannt wird. Dieser Ursprung ist ganz und gar theologischer Art, die hegelsche Dialektik ist in ihrem Ursprung wie in ihrem Ziel eine Interpretation des Glaubens, so wie Hegel sich diesen eben vorstellte. Es geht dabei keineswegs um ein vorgegebenes abstraktes Schema, sondern um die LÙsung eines konkreten, historischen, aus der christlichen Theologie stammenden Problems: Wie kann ein Einzelnes bzw. ein Einzelner paradigmatische Kraft, also Geltung fÜr eine Allgemeinheit besitzen oder erlangen? Oder: Wie ist das VerhÇltnis von Einzelnem und Allgemeinen zu begreifen oder zu glauben? Wenn, wie Hegel annimmt, das Leben und Handeln Jesu als das einer lebendigen PersÙnlichkeit universelle Bedeutung haben soll, wenn diese Bedeutung aber nicht in eine unfrei machende despotische ObjektivitÇt des Allgemeinen ausarten soll, dann muß im konkreten Handeln und Reden Jesu eine objektive Form (d. h. eine Religion) zur Sprache kommen, die die Verwirklichung der SubjektivitÇt ermÙglicht, in dieser also gerade Leben schafft. Eine urteilende MoralitÇt als TÇtigkeit universellen Urteilens schafft dies jedoch nicht, sondern bringt statt dessen die von Kant aufgezeigte Antinomie von Tugend und GlÜckseligkeit hervor, die eine dem

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gegenwÇrtigen Leben transzendente VersÙhnung postulieren muß. DemgegenÜber sieht Hegel an Jesus, daß die wahre TÇtigkeit der Freiheit nicht Verurteilung, sondern VersÙhnung ist. Aus diesem Grunde beruft er sich auf Joh. 3,17 (vgl. auch Math. 18,11): »Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt geschickt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn gerettet werde« (Theologische Jugendschriften. S. 310). Aber auch diese Rettung muß gegenÜber der traditionellen Auffassung (vgl. dazu z. B. 2. Teil, Kap. VI, 2) neu interpretiert werden. Eine rein von außen kommende ErlÙsung ist nach Kant nicht mehr denkbar, wÇre reine Heteronomie, eine rein vom Inneren des Subjekts kommende ErlÙsung, also rein autonome Selbstbestimmung wÇre aber gar keine ErlÙsung, also eine Widerspruch zum Begriff derselben. Das Absolute darf daher nicht rein in der aktuellen TÇtigkeit und gleichzeitig nicht rein jenseits aktueller TÇtigkeit gedacht werden, sondern muß zugleich in diese und außerhalb derselben gesetzt werden. Das Ideal k³nnen wir nicht außer uns setzen, sonst w›re es ein Objekt - nicht in uns allein, sonst w›re es kein Ideal. (Theologische Jugendschriften. S. 377)

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Ist die Vereinigung die Liebe, so ist die Gottheit diese Liebe, die von der Einbildungskraft zum Wesen gemacht wird (Ebd. S. 376). Das Ideal ist also im Prozeß der Vereinigung wirksam: Es ist der Grund, der auf der einen Seite Entzweiung erkennen lÇßt, andererseits aber auch die Entzweiung zu Überwinden wirkt. Das Ideal ist somit nicht rein subjektiv, sondern wird in der Praxis der Freiheit jeweils objektiv. Um die Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinem verstehen zu kÙnnen, muß sich die Philosophie daher auf den Standpunkt der Praxis der Religion stellen. Sie ist jedoch nicht einfach Glaube, sondern wesentlich Reflexion, insofern sie den Grund bzw. die GrÜnde der Entzweiung aufzudecken sucht. Das Begreifen sowohl von Entzweiung als auch von VersÙhnung aus ihrem Grunde und die Darstellung des Begreifens ist ein System, und die Methode der Darstellung desselben ist die Dialektik. Dialektik, System und das Absolute in der Geschichte sind somit Vorstellungen, die Hegel aus der Reflexion Über den aus religiÙser Praxis gewonnenen Begriff der Freiheit gewonnen hat. Diese VerhÇltnisbestimmung von Religion und Philosophie, die Hegel in seinen Jugendschriften entwirft, wird fÜr sein ganzes spÇteres System bestimmend bleiben.

2. System: Die Untrennbarkeit von Methode und Gehalt Der Einstieg in Hegels System ist Çußerst schwierig. Wir sind gewohnt, uns an das VerstÇndnis einer Sache dadurch heranzuarbeiten, daß wir entweder zunÇchst von bestimmten PhÇnomenen ausgehen, die uns aus irgendeinem Grund erklÇrungsbedÜrftig scheinen, und dann fragen, mit welcher Methode wir sie erklÇren kÙnnen,

System: Die Untrennbarkeit von Methode und Gehalt

oder aber von einer bestimmten Methode ausgehen und dann fragen, wie groß die Reichweite dieser Methode ist, d. h. welche PhÇnomene wir damit erklÇren kÙnnen. Wir kÙnnen auch mit Kant ohne weiteres annehmen, daß die GegenstÇnde unserer Erkenntnis durch die Kategorien des Verstandes geformt sind, bei der weiteren Erforschung dieser so konstituierten GegenstÇnde wird jedoch auch bei Kant wiederum mit der Unterscheidung in Forschungs-Gegenstand und Forschungs-Methode gearbeitet. Ein Problem ergibt sich erst in der modernen Physik (Quantenphysik, Korpuskular/Wellen-Theorie(n) des Lichts), wo die instrumentellen Anordnungen des Beobachters und somit die Methoden der Erforschung mit der Konstitution des erforschten Gegenstandes in eine Wechselbeziehung treten. Aber auch hier bleibt die Unterscheidung von GegenstÇnden der Erkenntnis und Methoden der Erforschung dieser GegenstÇnde leitend, und die besonderen Probleme, die hier auftreten, werden ausgehend von diesen Leitbegriffen expliziert. Wenn wir mit solchen Vorstellungen von Gegenstand und Methode an die LektÜre hegelscher Schriften herangehen, sind wir dauernd verwirrt. Wir sehen nicht recht, mit welcher Methode Hegel arbeitet, da sie nicht ohne große Probleme von den GegenstÇnden unterschieden werden kann. Dies stellt eine grundlegende Schwierigkeit dar, die wir schon bei der LektÜre der PhÇnomenologie des Geistes haben. Die Methode scheint sich zugleich mit dem behandelten Gegenstand herauszuentwickeln, eine vorausliegende und abtrennbare Methode scheint es nicht zu geben. Wenn wir dagegen an Schriften abstrakterer Natur, wie die Logik herangehen, von der wir uns Aufschluß Über die Methode erwarten, geht es uns genau umgekehrt, d. h. wir haben den Eindruck, Hegel rede hier gar nicht einfach Über Gesetze oder Regeln des Argumentierens, sondern immer auch schon Über die Inhalte der Argumente. Wenn wir als den Gegensand der ¾berlegungen Hegels die Metaphysik, in einem ganz allgemeinen Sinn genommen, annehmen, so kÙnnen wir in traditioneller Terminologie sagen: Wir haben den Eindruck, daß bei Hegel Logik und Metaphysik nicht sauber getrennt und unterschieden werden, wir haben also ungenaues Denken vor uns. Diese Problematik war natÜrlich Hegel selbst vÙllig klar, und er wußte selbstverstÇndlich, daß die Logik als formale Disziplin, die den Inhalten gegenÜbergestellt wird, als die Grundlage der Methode angesehen wurde. Gerade diese Formalit›t, die auch fÜr Kant der Ausgangspunkt gewesen war, weist Hegel aber als BeschrÇnkung und Beschr›nktheit zurÜck. In der Logik sagt er dazu: Außerdem, daß die Logik den Geist in ihren toten Inhalt zu empfangen hat, muß ihre Methode diejenige sein, wodurch sie allein f›hig ist, reine Wissenschaft zu sein. In dem Zustande, in dem sie sich befindet, ist kaum eine Ahnung von wissenschaftlicher Methode zu erkennen. Sie hat ungef›hr die Form einer Erfahrungswissenschaft. Erfahrungswissenschaften haben f¹r das, was sie sein sollen, ihre eigent¹mliche Methode, des Definierens und des Klassifizierens ihres Stoffes, so gut es geht, gefunden. Auch die reine Mathematik hat ihre Methode, die f¹r ihre abstrakten Gegenst›nde und f¹r

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die quantitative Bestimmung, in der sie sie allein betrachtet, passend ist. Ich habe ¹ber diese Methode und ¹berhaupt das Untergeordnete der Wissenschaftlichkeit, die in der Mathematik statt finden kann, in der Vorrede zur Ph›nomenologie des Geistes, das Wesentliche gesagt; [...] Bisher hat die Philosophie ihre Methode noch nicht gefunden; sie betrachtete mit Neid das systematische Geb›ude der Mathematik und borgte sie, wie gesagt, von ihr, oder behalf sich mit der Methode von Wissenschaften, die nur Vermischungen von gegebenem Stoffe, Erfahrungss›tzen und Gedanken sind, - oder half sich mit dem rohen Wegwerfen aller Methode. Das N›here desjenigen, was allein die wahrhafte Methode der philosophischen Wissenschaft sein kann, f›llt in die Abhandlung der Logik selbst; denn die Methode ist das Bewußtsein ¹ber die Form der inneren Selbstbewegung. (Wissenschaft der Logik I. GW XI. S. 24)

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Die Methode der Erfahrungswissenschaften durch Definition und Klassifikation zu beschreiben, ist natÜrlich angesichts dessen, wie u.a. Descartes, Galilei, Newton, Leibniz und Kant diese Methode beschrieben hatten, vÙllig unzureichend, aber das wollen wir Übergehen. Die Bedeutung der Mathematik und der Wissenschaften war Hegel aber nicht entgangen. Auf die zunÇchst etwas rÇtselhafte Bestimmung der Logik als der Methode, welche »das Bewußtsein Über die Form der inneren Selbstbewegung« ist, werden wir noch zurÜckkommen (vgl. weiter unten 3). Wir gehen jetzt aber zunÇchst nicht den Weg der absteigenden Logik, sondern den der aufsteigenden PhÇnomenologie, wo Hegel schon in der Einleitung mit der Feststellung beginnt: Es ist eine nat¹rliche Vorstellung, daß, eh in der Philosophie an die Sache selbst, n›mlich an das wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist, gegangen wird, es notwendig sei, vorher ¹ber das Erkennen sich zu verst›ndigen, das als das Werkzeug, wodurch man des Absolten sich bem›chtige, oder als das Mittel, durch welches hindurch man es erblicke, betrachtet wird. Die Besorgnis scheint gerecht [...]. (Ph›nomenologie des Geistes. GW IX. S. 53) Hegel geht also aus von der auch fÜr uns natÜrlichen Vorstellung der Unterscheidung von Werkzeug (Methode) und Sache (Gegenstand), und erkennt auch an, daß die Besorgnis, diese Unterscheidung zu mißachten, gerechtfertigt ist. Im weiteren geht aber Hegel dann nicht auf die in der natÜrlichen Vorstellung geforderte Unterscheidung ein, sondern, wie wir heute sagen wÜrden, hinterfragt sie: Woher kommt es eigentlich, daß wir am Ausgangspunkt eine gesicherte Methode haben wollen? Seine Antwort: Dieses Streben nach einer gesicherten Methode, d. h. nach Sicherheit, stammt daher, daß wir Furcht vor dem Irrtum haben, und wir meinen, daß uns nur eine klar umschriebene Methode vor Irrtum schÜtzen kÙnne. Und so fragt Hegel weiter: Woher wissen wir denn eigentlich, daß uns Furcht vor Irrtum wirklich zur Sicherheit in der Erkenntnis fÜhrt? Vielleicht ist gerade diese Furcht vor dem Irrtum selbst ein großer Irrtum! Mit Hegels Worten:

System: Die Untrennbarkeit von Methode und Gehalt

Inzwischen, wenn die Besorgnis, in Irrtum zu geraten, ein Mißtrauen in die Wissenschaft setzt, welche ohne dergleichen Bedenklichkeiten ans Werk selbst geht und wirklich erkennt, so ist nicht abzusehen, warum nicht umgekehrt ein Mißtrauen in dies Mißtrauen gesetzt, und besorgt werden soll, daß diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist. (Ebd. S. 54) Hegel will also einen Gegensatz in dieser natÜrlichen Vorstellung aufzeigen, der darin besteht, daß wir in ihr unbefragt voraussetzen, daß das, was wir unter den Bedingungen der Furcht vor Irrtum erkennen, am ehesten der Wahrheit entspricht, und er stellt dem gegenÜber, daß man doch ebenso annehmen kÙnne, daß gerade die Furcht vor dem Irrtum der grÙßte Irrtum ist. Hegel sagt nun nicht, daß die zweite Annahme die wahre oder die richtige ist, sondern fragt oder hinterfragt weiter: Wenn die Basis der natÜrlichen Vorstellung Furcht vor Irrtum ist, und wenn die gegenteilige Annahme, nÇmlich, daß diese Furcht selbst ein Irrtum ist, gleichermaßen mÙglich ist, dann kÙnnen wir uns eben auf eine solche natÜrliche Vorstellung Überhaupt nicht verlassen. Und damit hat Hegel sein erstes Ziel erreicht: Er braucht die Frage nach der Unterscheidung von Methode und Gegenstand der Untersuchung Überhaupt nicht zu beantworten. Die Frage nach der Unterscheidung von Methode und Gehalt wird im hegelschen System auch tatsÇchlich nie direkt beantwortet, denn Hegel zeigt gleich zu Beginn, daß diese Unterscheidung zwar Ausgangspunkt, nie aber Resultat sein kann, und daß sie im Prozeß des Erkennens in Frage gestellt und Überwunden werden muß. Wir sehen, daß das Vorgehen Hegels uns mit einer Art Spirale in Kegelform konfrontiert: Immer dann, wenn der Kreis vollendet zu sein scheint, liegt in Wirklichkeit eine ganz leicht hÙhere Ebene und ein ganz geringfÜgig kleinerer (oder grÙßerer, je nach der Reflexionsrichtung) Radius vor. Das heißt zum einen, daß die ganze Fragestellung ein wenig anders geworden ist, zum anderen aber auch, daß die Zwischenschritte eigentlich - im mathematischen Beispiel - infinitesimal sind. Um im mathematischen Beispiel zu bleiben: Wenn man genau hinsieht, merkt man, daß in Wirklichkeit schon die Ausgangsthese bei Hegel etwas schief bzw. auf- oder absteigend angesetzt ist. Die Ausgangsfrage wird ja bei Hegel nicht beantwortet, sondern hinterfragend auf eine andere Ebene verlegt. Das Çrgert den Vertreter der natÜrlichen Vorstellung, wÇhrend Hegel ihm sagt, genau darauf kÇme es ihm an: Erst wenn man in die Bewegung der Begriffe eintritt, merkt man, daß die natÜrlichen Vorstellungen schief sind. Was fÜr den Vertreter der natÜrlichen Vorstellung gerade ist, ist fÜr Hegel schief, und was der Vertreter der natÜrlichen Vorstellung fÜr schief ansieht, ist fÜr Hegel gerade (natÜrlich in dialektischem VerstÇndnis). Manchen wird die ganze GesprÇchsfÜhrung Hegels sonderbar vorkommen. Sie ist es aber nicht, wir kennen sie aus nicht seltenen privaten und Ùffentlichen Diskussionen. Ich mÙchte dies ganz respektlos an einem einfachen Beispiel erklÇren. Ich stelle in einem GesprÇchskreis die Frage ob die ErhÙhung der Krankenkassen-BeitrÇge gerechtfertigt ist, und ich mÙchte Über erforderliche und nicht erforderliche Leistun-

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gen der Krankenkassen und Über sinnvolle MÙglichkeiten der Einsparung reden, bin aber auch bereit, zu akzeptieren, daß fÜr eine adÇquate Gesundheitsvorsorge die ErhÙhung unumgÇnglich ist. Ich mÙchte also auf die Frage, ob die ErhÙhung gerechtfertigt ist, eine begrÜndete klare Antwort mit »Ja« oder mit »Nein«. Ein GesprÇchspartner, der die Diskussion an sich zieht, geht aber auf diese Fragen gar nicht ein, sondern hinterfragt meine Frage: Bin ich vielleicht knapp bei Kasse und Çrgere mich also Über die drohende ErhÙhung? Oder habe ich vielleicht Angst vor einer schweren Krankheit und bin besorgt, daß die Krankenkasse mir dann nicht die entsprechenden Leistungen gewÇhrt, usw.? Das heißt, mein GesprÇchspartner redet gar nicht Über die Sache, sondern Über mein Bewußtsein, das diese Sache fÜr mich persÙnlich zum Problem werden lÇßt. Er redet zwar mit mir, aber gleichzeitig immer Über mich bzw. Über mein Bewußtsein. Ich kann nun irgendwann sagen, daß wir doch aneinander vorbeireden, worauf mein GesprÇchspartner wiederum fragt, was mich wohl dazu bringt, zu meinen, daß wir aneinander vorbeireden, wo er doch stÇndig genau mit mir und Über mich redet. Und wenn ich schließlich verÇrgert die GesprÇchsrunde verlasse, mit der Bemerkung, mit diesem Menschen kÙnne man nicht vernÜnftig Über Sachprobleme diskutieren, wird er dann ganz »vernÜnftig« den anderen erklÇren, was mich zu einer so unkontrollierten Reaktion veranlaßt hat, d. h. er erklÇrt nochmals mein Bewußtsein hinterfragend meine abfÇllige Bemerkung und mein Weggehen. Er hat alles erklÇrt und die Ausgangsfrage ist verschwunden. Und ein Beobachter der Diskussion wird vielleicht den Eindruck gewonnen haben, ich sei ein ganz oberflÇchlicher Mensch (vgl. »natÜrliches Bewußtsein«), der nicht bereit ist, sich den eigentlichen tieferen Fragen seiner eigenen Existenz und seines Bewußtseins zu stellen. Wir heute kennen diese Art der GesprÇchsfÜhrung von Psychotherapeuten, von Sozialpsychologen und manchmal auch von PÇdagogen. Aber auch zur Zeit Hegels gab es sie, und zwar bei den SeelenfÜhrern des Pietismus. Und Hegel kam aus Kreisen des schwÇbischen Pietismus. Diese SeelenfÜhrer waren gar nicht an einer bestimmten Handlung oder an bestimmten Fakten interessiert, sondern an der inneren Haltung, hegelianisch: an dem »Bewußtsein«, das damit verbunden war. Es ging um eine gute oder eine bÙse Absicht, und bei einer schlechten Handlung ging es auch wieder um das nachfolgende Bewußtsein, nÇmlich um die Reue. Es ging immer um das »innere Leben«. Bereits hier, nach nicht mehr als zwei Seiten der Einleitung (im Prinzip ist es dasselbe wie nach 500 Seiten, denn das Prinzip ist in der gesamten Schrift immer dasselbe), kann man nun leicht verÇrgert die PhÇnomenologie des Geistes und damit die ganze hegelsche Philosophie beiseite legen und sich sagen, man wolle sich nicht lÇnger an der Nase herumfÜhren lassen. (Legt man Hegel tatsÇchlich beiseite, so braucht man keinerlei Komplexe davon zurÜckzubehalten, man befindet sich dabei in guter und zahlreicher Gesellschaft!) Man kann sich aber auch fragen: Wird denn in der tatsÇchlich betriebenen Wissenschaft Methode und Gehalt wirklich so genau unterschieden, wie wir dies in den EinfÜhrungen zur Wissenschaftstheorie gelegent-

Spekulative Erkenntnis, Negation, Dialektik

lich hÙren? Wird dort wirklich so genau mit dem kontradiktorischen Gegensatz gearbeitet, wie wir dies gerne hÇtten? Eine ganz einfache Theorie sollte also z. B. behaupten »Alle SchwÇne sind weiß« und die gegnerische sollte genau den kontradiktorischen Gegensatz dazu behaupten, nÇmlich »Es gibt einen Schwan, der nicht weiß ist«. Nur: So geht es in der Wissenschaft nicht zu. Wenn dort »Anomalien« auftreten, d. h. Gehalte, die mit einer Theorie nicht vereinbar sind, wird nach einer neuen Theorie gesucht. Ist dann eine neue Theorie gefunden, die diese Anomalien beseitigt, so arbeitet diese. wenn man genau hinsieht, stets mit neuen Grundvoraussetzungen und mit anderen methodischen Prinzipien, so daß zwischen der ursprÜnglichen und der neuen Theorie das besteht, was wir mit »InkommensurabilitÇt« bezeichnen (T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt 1973). Die ProblemlÙsung ist also gegenÜber der ursprÜnglichen Problemstellung durchaus »schief«, eigentlich ist das Problem in der neuen Theorie zwar beseitigt, deshalb ist aber das Problem in der alten Theorie noch nicht gelÙst. Auch hier liegt eine Art Spiralbewegung vor. Ist man bei Anerkennung dieses Sachverhalts deshalb schon Hegelianer? Das sollen am besten die Hegelianer selbst entscheiden.

3. Spekulative Erkenntnis, Negation, Dialektik Hegel stellt dem natÜrlichen Wissen nicht einfach ein spekulatives Wissen gegenÜber, sondern meint, das spekulative Wissen werde gerade durch die Kritik der natÜrlichen Vorstellungen und des natÜrlichen Wissens erreicht, und dieser Prozeß komme dadurch in Gang, daß die WidersprÜche des natÜrlichen Wissens aufgezeigt und reflektiert werden. Genau dieser Prozeß ist das, was Hegel als »Dialektik« bezeichnet, und diesen dialektischen Fortgang der Erkenntnis nennt er »spekulativ«. In diesem Dialektischen, wie es hier genommen wird, und damit in dem Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit, oder des Positiven im Negativen besteht das Spekulative. Es ist die wichtigste, aber f¹r die noch unge¹bte, unfreie Denkkraft schwerste Seite. (Wissenschaft der Logik I. GW XI. S. 27) Die Frage ist daher, wie das Denken auf diesen Weg der spekulativen Dialektik gebracht wird. Hegel ist der Meinung, daß dies durch den Skeptizismus geschieht, wobei er nicht nur eine bestimmte Periode in der Geschichte der Philosophie meint, sondern auch eine bestimmte Stufe des Denkens, eine Form des Bewußtseins. Der Skeptizismus ist daher nicht nur ein Moment der geschichtlichen Entwicklung, sondern ein bleibendes Moment der dialektischen Bewegung des Bewußtseins. Das dialektische als negative Bewegung, wie sie unmittelbar ist, erscheint dem Bewußtsein zun›chst als etwas, dem es preisgegeben, und das nicht durch es selbst ist. Als

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Skeptizismus hingegen ist sie Moment des Selbstbewußtseins [...]. Das skeptische Selbstbewußtsein erf›hrt also in dem Wandel all dessen, was sich f¹r es befestigen will, seine eigne Freiheit als durch es selbst sich gegeben und erhalten; [...]. (Ph›nomenologie des Geistes. GW IX. S. 119 f.) Hegel nimmt hier nicht einfach die Tradition des methodischen Zweifels von Descartes auf - dieser kann in Wirklichkeit kein Bewußtsein verÇndern - sondern geht tiefer zur echten Verzweiflung, in der der Sinn von allem fraglich wird. Erst im Durchgang durch den radikalen Skeptizismus kann das Bewußtsein das, was es vorher nur an sich besaß, f¹r sich gewinnen, d. h. das was vorher nur faktischer Besitz war, wird nun etwas, das in Freiheit und somit bewußt Übernommen wird. Im Skeptizismus erf›hrt das Bewußtsein in Wahrheit sich als ein in sich selbst widersprechendes Bewußtsein; es geht aus dieser Erfahrung eine neue Gestalt hevor, [...]. Diese neue Gestalt ist hierdurch ein solches, welches f¹r sich das gedoppelte Bewußtsein seiner als des sich befreienden, unwandelbaren und sichselbstgleichen, und seiner als des absolut sich verwirrenden und verkehrenden, - und das Bewußtsein dieses seines Widerspruchs ist. (Ebd. S. 121) 390

Wiederum ist uns das Pathos solcher SÇtze fast peinlich, aber wir kÙnnen uns auch fragen: Hat Hegel hier nicht etwas sehr Richtiges gesehen? Sehen wir die Freiheit des Denkens und Handelns nicht gerade von denen bedroht, denen aufgrund ihrer unerschÜtterlichen Selbstsicherheit das skeptische Bewußtsein als Moment ihres Denkens fehlt, die daher selbst kein freies Wissen besitzen und die folglich auch den anderen die Freiheit verweigern? Was Hegel sagen will, lÇßt sich vielleicht am Besten an einem Beispiel erÙrtern: Jemand wÇhlt als Student ein Fach, weil er sich zu ihm hingezogen fÜhlt, weil es ihn interessiert, oder weil er oder irgendjemand sonst meint, er hÇtten eine besondere Eignung oder Begabung dafÜr. Dann lernt er die Inhalte dieses Faches sowie pÇdagogische Theorien - und schließlich wird er Lehrer. Dasselbe gilt natÜrlich fÜr andere FÇcher ebenso, und es gilt in gleicher Weise fÜr den Arzt, den Richter usw. All dies ist nach Hegel in Wirklichkeit nicht freies Wissen und freie Handlung. Es ist jedoch mÙglich, daß diesem Lehrer durch einen Çußeren Anlaß, z. B. das Scheitern in einer Klasse, oder durch einen inneren Anlaß, z. B. durch die radikale Frage, ob den SchÜlern durch den Unterricht wirklich etwas dem Leben Dienliches vermittelt wird, diese ganze TÇtigkeit fraglich wird, und damit auch der Nutzen alle der Kenntnisse, die sich dieser Lehrer fÜr diese TÇtigkeit angeeignet hat, problematisiert wird, und zwar nicht so, daß dies durch leichte VerÇnderungen wieder in Ordnung gebracht werden kÙnnte, sondern so, daß dieser Lehrer sich fragt, ob es Überhaupt sinnvoll ist, diese TÇtigkeit weiter auszuÜben. Man nennt so etwas eine »Krise«. Die Selbstsicherheit, mit der die Zeugen Jehowas oder Vertreter von Elektro-HaushaltsgerÇten auftreten, ist damit fÜr immer dahin. FÜr

Spekulative Erkenntnis, Negation, Dialektik

den Mathematiklehrer bleibt dann 262 immer noch gleich 4, fraglich wird nur, ob dieses Rechnen-Lernen den SchÜlern Überhaupt etwas bringt, und wenn ja, was es denn eigentlich bringt; auch Karl der Große bleibt frÇnkischer KÙnig, aber fraglich wird, ob die BeschÇftigung mit Geschichte Überhaupt eine sinnvolle, nicht bloß durch Bildungstraditionen sanktionierte BeschÇftigung darstellt. Und auch fÜr den Richter bleibt ein Verbrecher weiterhin ein Verbrecher, fraglich wird nur, ob durch die richterliche TÇtigkeit die Welt wirklich besser und gerechter wird. D. h.: Am »An sich« der Tatsachen und des Wissens von ihnen Çndert sich gar nichts. Fraglich jedoch wird, ob dieses Wissen und diese FÇhigkeiten fÜr den Lehrer und fÜr die anderen wirklich einen Nutzen bringen. Und auch ein Arzt kann sich eines Tages plÙtzlich, ohne daß sich an seiner FÇhigkeit, einen Herzschrittmacher einzubauen, irgendetwas Çndert, die Frage stellen, daß er zwar dem Leben dient, er aber Überhaupt nicht weiß, wozu das Leben, das er so erfolgreich verlÇngert, denn eigentlich dient. Dies sind die Erfahrungen des Widerspruchs, die zum Skeptizismus fÜhren. Gelingt es jemandem, sich aus dieser Situation heraus - praktisch von Neuem - die frÜher erlernten Kenntnisse und FÇhigkeiten nun frei anzueignen, so gewinnt er ein vÙllig neues, nun freies Bewußtsein dieser TÇtigkeit und der damit verbundenen Inhalte, d. h. er hat sie nun »fÜr sich« erarbeitet. Der Skeptizismus ist damit aber nicht einfach als zeitliche Periode des Lebens Überwunden, sondern vielmehr als Element der gewonnenen Freiheit in der neuen Stufe des Bewußtseins »aufgehoben« worden. Jemand, der durch eine solche Krise gegangen ist, ist dann nicht unsicherer, sondern im Gegenteil sicherer, aber zugleich nachdenklicher, also jemand, mit dem man reden kann. Allerdings muß gesagt werden: Um das einzusehen, brauchten wir nicht Hegel. Die schon genannten SeelenfÜhrer des Pietismus wußten all das schon lÇngst, und auch sie hatten das schon aus einer langen Tradition Übernommen. Man nannte dies »Bekehrung« oder »Umkehr« (metƒnoia). Wir werden gleich noch in einem aus dieser Umkehr-Tradition stammenden Text entscheidende Wurzeln der hegelschen Philosophie identifizieren kÙnnen. Man sieht, daß »Widerspruch« fÜr Hegel etwas ganz anderes meint als logische Negation, auch wenn er von Negation in der Logik spricht. Es hat eben etwas mit einer Krise des Bewußtseins zu tun. Wie dieser Weg des durch Negation fortschreitenden Bewußtseins vor sich geht, zeigt Hegel in der Wissenschaft der Logik. Es sind hier Gestalten des Bewußtseins, deren jede in ihrer Realisierung sich zugleich selbst aufl³st, ihre eigene Negation zu ihrem Resultate hat, - und damit in eine h³here Gestalt ¹bergegangen ist. (Wissenschaft der Logik I. GW XI. S. 24 f.) Durch die Negation, gezeigt an dem Prozeß der Verzweiflung, vermittelt sich eine hÙhere Gestalt und damit ein freieres, bestimmteres VerhÇltnis zur Sache. Daher ist die Negation selbst setzend, also Position: Sie ist »die Negation der bestimmten Sache, die sich auflÙst, somit bestimmte Negation« (Ebd. GW XI. S. 25). Die bestimmte

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Negation Hegels ist also ausdrÜcklich nicht rein formal, sondern zugleich und vor allem inhaltlich gedacht. Indem das Resultierende, die Negation, bestimmte Negation ist, hat sie einen Inhalt. Sie ist ein neuer Begriff, aber der h³here, reichere Begriff als der vorhergehende; denn sie ist um dessen Negation oder Entgegengesetztes reicher geworden; enth›lt ihn also, aber auch mehr als ihn, und ist die Einheit seiner und seines Entgegengesetzten. (Ebd.)

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Es ist klar, daß diese bestimmte Negation nichts mit der Negation der traditionellen Logik zu tun hat, denn in letzterer liefert die Negation eines Satzes in keiner Weise einen neuen Begriff, ist also um nichts reicher als der ursprÜngliche Satz. Hegel hat nicht versucht, diese Funktion der Negation als bestimmter Negation genauer zu definieren, ihr Sinn sollte wiederum nicht abstrakt ge- oder erklÇrt, sondern durch den Fortgang und Aufbau des gesamten Systems interpretiert werden. Es steht jedoch fest, daß es sich weder um einen kontradiktorischen noch um einen kontrÇren Gegensatz handelt, wie wir sie aus der Logik kennen, es geht hier vielmehr immer um WidersprÜche und Unvereinbarkeiten im Bewußtsein, die »abgearbeitet« werden mÜssen. Wollte man eine VerstÇndnishilfe fÜr die Negation bei Hegel suchen, so dÜrfte man sich gar nicht an die Logik wenden, sondern an die Mystik, so sonderbar dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Mystiker sprechen, z. B. sehr ausdrÜcklich bei Johannes vom Kreuz (1542–1591) von einer »dunklen Nacht der Seele«, die die letztgÜltige und radikale Negation aller weltlichen Inhalte und Bestimmungen ist, und aus der dann ein vÙllig neues VerhÇltnis der Seele - hegelianisch wieder: des »Bewußtseins« - zu allen konkreten Dingen hervorgeht. Die »dunkle Nacht der Seele« ist bei Hegel die »Leere«. Hegel sagt vom Absoluten, daß sich in seinem ersten Begriff alle Bestimmtheit des Seins und der Reflexion auflÙst. Insofern f›llt das Bestimmen dessen, was das Absolute sei, negativ aus, und das Absolute selbst erscheint nur als die Negation aller Pr›dikate und als das Leere. (Wissenschaft der Logik I. GW XI. S. 663) Hegel kannte kaum Johannes vom Kreuz, wohl aber kannte er Scotus Eriugena, und bei diesem finden wir ausdrÜcklich gesagt, daß Gott oftmals mit dem Worte »Nichts« bezeichnet wird (Zitat im 2. Teil, Kap. V, 2). Und auch Eckhart gebraucht ausdrÜcklich fÜr Gott das Wort »Nichts«. Gott ist namenlos, er ist zugleich ein Nichts und ein Etwas. Dies erlÇutert Eckhart in einer Predigt Über das Bekehrungserlebnis, in dem Saulus vom Pferd stÜrzt, zunÇchst blind wird, und dann als der bekehrte Paulus aus dieser Krise hervorgeht:

Spekulative Erkenntnis, Negation, Dialektik

Der eine Grund ist der, daß Gott namenlos ist. H›tte sie [die Seele] ihm (einen) Namen geben sollen, so h›tte man sich dabei etwas (Bestimmtes) denken m¹ssen. Gott aber ist ¹ber alle Namen, niemand kann so weit kommen, Gott aussprechen zu k³nnen. [...] »Paulus stand auf von der Erde, und mit offenen Augen sah er nichts.« Ich kann nicht sehen, was Eins ist. Er sah nichts: das war Gott. Gott ist ein Nichts, und Gott ist ein Etwas. Was etwas ist, das ist auch nichts. Was Gott ist, das ist er ganz. [...] Siehst du irgend etwas oder f›llt irgend etwas in dein Erkennen, so ist das nicht Gott; eben deshalb nicht, weil er weder dies noch das ist. [...] Wer aber mit nichts von Gott redet, der redet zutreffend von ihm. Wenn die Seele in das Eine kommt und darin eintritt in eine lautere Verwerfung ihrer selbst, so findet sie dort Gott als in einem Nichts. [...] Drittens, warum er nichts sah: das Nichts war Gott. Ein Meister sagt: Alle Kreaturen sind in Gott als ein Nichts, denn er hat aller Kreaturen Sein in sich. Er ist ein Sein, das alles Sein in sich hat. (Meister Eckhart: Predigten. Predigt 71. In: Deutsche Werke. III. Stuttgart 1976. S. 221–226. •bers. nach: Meister Eckhart: Deutsche Predigten und Traktate. •bers. von J. Quint. Z¹rich 1979. S. 331 f. ) Die Negation hat bei Hegel die Funktion der Katharsis, also der Reinigung durch die »Leere«, und dies ist ganz Çhnlich der »lauteren Verwerfung« bei Eckhart. Die Negation ist aber gleichzeitig als Resultat die hÙchste Bestimmung des Absoluten. Solche Bestimmungen finden sich tatsÇchlich in der Mystik. Traditionell ist die Mystik des Nichts als der absoluten Dunkelheit identisch mit einer Mystik des alles Sehen Überblendenden ¾ber-Lichts, das gleichzeitig alles, was ist, erleuchtet. Auch diese Vorstellung findet sich bei Hegel wieder und er war sich Über diesen Zusammenhang, etwa mit der rationalen Mystik Plotins (vgl. dazu 1. Teil, Kap. XVII, 1, c), durchaus im Klaren. Auf gleiche Weise ist in der orientalischen Vorstellung der Emanation das Absolute das sich selbst erleuchtende Licht. Allein es erleuchtet sich nicht nur, sondern str³mt auch aus. Seine Ausstr³mungen sind Entfernungen von seiner ungetr¹bten Klarheit; die folgenden Ausgeburten sind unvollkommener als die vorhergehenden, aus denen sie entstehen. Das Ausstr³men ist nur als ein Geschehen genommen, das Werden nur als ein fortgehender Verlust. So verdunkelt sich das Sein immer mehr, und die Nacht, das Negative, ist das Letzte der Linie, das nicht in das erste Licht zur¹ck kehrt. (Wissenschaft der Logik I. GW XI. S. 378) Was Hegel anschließend an dieser Vorstellung kritisiert, ist nicht diese selbst, sondern der dort seiner Meinung nach sichtbare Mangel an Reflexion (Reflexion = ZurÜck-Beugung des Lichtstrahls; Spekulation = Widerspiegelung!). Hegel stellt also eine Einseitigkeit fest, die schon bei Spinoza (Ebd. GW XI. S. 376 f.) und Leibniz eingesetzt habe. Bei Leibniz spiegle jede Monade das Universum in Ideen, also ideell wider, ohne daß aber die philosophische Entwicklung in spekulativen Begriffen

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durchgefÜhrt worden wÇre (Ebd. GW XI. S. 378 f.). Diese Einseitigkeit will Hegel aufheben und zwar in dem doppelten Weg der (aufsteigenden) PhÇnomenologie und der (absteigenden) Logik. Die Philosophie als Ganze ist somit nichts anderes als die »eigene Auslegung des Absoluten, und nur ein Zeigen dessen, was es ist« (Ebd. GW XI. S. 370). Das Absolute ist zugleich die »absolute Einheit der Form und des Inhalts« (Ebd. GW XI. S. 379). Die Philosophie zeigt nur was ist, sie ist selbst nur ein Moment in der Selbstauslegung des Absoluten. In der Tat aber ist das Auslegen des Absoluten sein eigenes Tun, und das bei sich anf›ngt, wie es bei sich ankommt. Das Absolute, nur als absolute Identit›t, ist es bestimmt; n›mlich als identisches; es ist durch die Reflexion so gesetzt, gegen die Entgegensetzung und Mannigfaltigkeit; oder es ist nur das Negative der Reflexion und des Bestimmens ¹berhaupt. (Ebd. GW XI. S. 372)

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Alle Reflexion kann daher nur bestimmend auslegen, was das Absolute ist, dies geschieht jedoch so, daß diese Auslegung selbst zum Absoluten gehÙrt als dessen fortschreitende Bestimmung. Hegel nimmt jetzt nicht mehr wie in seiner frÜhen Periode - mit Fichte und Schelling - auf eine intellektuelle Anschauung Bezug, deren Auslegung das Absolute wÇre, sondern konstruiert in der spekulativen Dialektik selbst die hÙchste Einheit. Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt, oder sich selbst Werden, zu sein. (Ph›nomenologie des Geistes. GW IX. Vorrede. S. 19) In diesem Sinn ist Denken nicht abstrakt, sondern konkret und muß daher schließlich beim Konkretesten, nÇmlich beim Subjekt, d. h. beim Subjekt-Sein des Absoluten, anlangen: Das spekulative Denken muß das Absolute als Person erfassen. Das Reichste ist daher das Konkreteste und Subjektivste, und das sich in die einfachste Tiefe zur¹cknehmende, das M›chtigste und •bergreifendste. Die h³chste zugesch›rfteste Spitze ist die reine Pers³nlichkeit, die allein durch die absolute Dialektik, die ihre Natur ist, ebenso sehr Alles in sich befaßt und h›lt, weil sie sich zum Freiesten macht, zur Einfachheit, welche die erste Unmittelbarkeit und Allgemeinheit ist. (Wissenschaft der Logik II. GW XII. S. 251) Wir sind also dort angelangt, wo Hegel ankommen will: Beim Absoluten als Person. Und wir wollen an diesem Punkt auch diese kurzen Hinweise auf den Gang der PhÇnomenologie und der Logik abbrechen. Wir haben damit natÜrlich Hegel noch nicht

Spekulative Erkenntnis, Negation, Dialektik

verstanden. Ein wirkliches VerstÇndnis kÙnnte man aber nur dann erreichen, wenn man sich auf den von Hegel schon in den theologischen Jugendschriften deutlich ausgesprochenen Standpunkt stellte: Philosophie ist spekulative Auslegung der Religion, und zwar nicht der Religion im Allgemeinen, sondern der christlichen Religion. Das Absolute in diesem Sinne ist nicht einfach der letzte Teil des Systems, sondern es ist dieses selbst, die absolute Dialektik ist die Dialektik des Absoluten. Hegel nimmt hier die Tradition der christlichen Neuplatoniker auf, versucht aber, sich dem Problem, dem diese im Zusammentreffen mit der biblischen Lehre nie ganz gerecht werden konnten, zu stellen: dem Problem, daß das Eine, das Alles ist, Freiheit und PersÙnlichkeit ist. So erhÇlt bei Hegel auch die Negation nicht logische Bestimmungen, sondern solche des GefÜhls und des Willens: »Schmerz«, »Geduld« und »Arbeit«. Ist es wirklich nur ein Zufall, wenn in der Genesis als Folgen des Heraustretens aus der einfachen Einheit mit Gott, das als Greifen nach dem »Baum der Erkenntnis« bildhaft ausgedrÜckt wird, »Schmerz« und »Arbeit« angefÜhrt werden? Bei Hegel lesen wir: Das Leben Gottes und das g³ttliche Erkennen mag also wohl als ein Spielen der Liebe mit sich selbst ausgesprochen werden; diese Idee sinkt zur Erbaulichkeit und selbst zur Fadheit herab, wenn der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen darin fehlt. (Ph›nomenologie des Geistes. GW IX. S. 18) Die Voraussetzung, die Hegel aus der christlichen Theologie Übernimmt, ist jedoch nicht nur die der PersÙnlichkeit Gottes, sondern auch die von der Menschwerdung, dem Tod und der Auferstehung Christi. Wie anders als auf diesem Hintergrund kÙnnten wir im Rahmen der Entwicklung des absoluten Wissens an entscheidender Stelle beim Umschlagen des Negativen des Todes in das Sein die folgenden SÇtze verstehen? Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das furchtbarste, und das Tote fest zu halten, das, was die gr³ßte Kraft erfordert. Die kraftlose Sch³nheit haßt den Verstand, weil er ihr dies zumutet was sie nicht vermag. Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und vor der Verw¹stung rein bewahrt, sondern das ihn ertr›gt, und in ihm sich erh›lt, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgend etwas anderem ¹bergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt. (Ph›nomenologie des Geistes. GW IX. Vorrede. S. 27) Hegel selbst spricht in diesem Zusammenhang von »geistigem Auferstehen« (PhÇnomenologie des Geistes. GW IX. S. 418). Dieser Vorgang betrifft aber nicht nur den

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Menschen, sondern ist ein Moment des Absoluten selbst, insofern »durch das Geschehen der eigenen EntÇußerung des gÙttlichen Wesens, durch seine geschehene Menschwerdung und seinen Tod das gÙttliche Wesen mit seinem Dasein versÙhnt ist« (Ebd.). An diesem Punkt findet Hegel dann auch die LÙsung fÜr sein anfÇngliches Problem der VersÙhnung des Einzelnen mit dem Allgemeinen, das ja von Anfang an ein christologisches gewesen war (vgl. weiter oben 1). Der Tod des g³ttlichen Menschen als Tod ist die abstrakte Negativit›t, das unmittelbare Resultat der Bewegung, die nur in die nat¹rliche Allgemeinheit sich endigt. Diese nat¹rliche Bedeutung verliert er im geistigen Selbstbewußtsein, oder er wird sein so eben angegebner Begriff; der Tod wird von dem, was er unmittelbar bedeutet, von dem Nichtsein dieses Einzelnen verkl›rt zur Allgemeinheit des Geistes, der in seiner Gemein[d]e lebt, in ihr t›glich stirbt und aufersteht. (Ebd.)

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Die Philosophie ist also nichts anderes als die Selbstauslegung Gottes, wie sie uns in der Form der christlichen Religion gegeben ist, nun aber in die Form des Begriffs gebracht wird. Damit wird diese Philosophie auch an einen ganz bestimmten Ort in der Geschichte gestellt, sie ist somit selbst ein Resultat der Geschichte und ist gleichzeitig als System das Begreifen dieser Geschichte.

4. Geschichte und System Hegel ging von der ¾berzeugung aus, daß das Wahre immer nur das Ganze sein kann. Das Ganze aber ist nur als das Resultat der vollendeten Entwicklung denkbar. Hegel war wie seine Zeitgenossen der Meinung, daß sich in der FranzÙsischen Revolution ein entscheidender und weiterfÜhrender Schritt in der Entwicklung der Geschichte ereignet hatte. Man glaubte, gleichsam Augenzeuge eines offenkundigen und allen Ùffentlich sichtbaren Fortschritts in der Geschichte gewesen zu sein. FÜr Hegel, der in der Geschichte die Selbstauslegung der absoluten Vernunft sah, war die FranzÙsische Revolution somit auch ein Moment, in dem sich die Vernunft in der Geschichte durchgesetzt hatte. Dies war jedoch nur ein Anlaß, auf die philosophische Bedeutung von Geschichte zu reflektieren, nicht schon der prinzipielle Grund. Die entscheidenden Tr›ger der Entwicklung in der Geschichte sind bei Hegel nicht mehr wie in der frÜheren Geschichtsschreibung die Herrscher, sondern die V³lker. In den Vorlesungen Über die Philosophie der Weltgeschichte sagt Hegel: Das Vern¹nftige ist das an und f¹r sich Seiende, wodurch alles seinen Wert hat. Es gibt sich verschiedene Gestalten; in keiner ist es deutlicher Zweck als in der, wie der Geist sich in den vielf³rmigen Gestalten, die wir V³lker nennen, selbst expliziert und manifestiert. (Vorlesungen ¹ber die Philosophie der Weltgeschichte. S. 29)

Geschichte und System

Hier zeigt sich deutlich der Hintergrund der Romantiker, die das Volk als TrÇger des Geistes in seinen vielfÇltigen Gestalten entdeckt hatten, und die diesen Geist von der individualistisch konzipierten Vernunft, wie die Rationalisten und AufklÇrer sie verstanden hatten, absetzen wollten. Es ist daher leicht verstÇndlich, warum die Romantiker begannen, Volkslieder und MÇrchen zu sammeln: Sie waren Überzeugt, daß in diesen Texten die ursprÜngliche, anonyme, und universelle Poesie, der echte, authentische, Ausdruck der Seele und des Geistes eines Volkes aufbewahrt wÇre. Die bekanntesten dieser Sammlungen stammen von Jakob (1785–1863) und Wilhelm Karl Grimm (1786–1859). Solche VolksidentitÇten wurden aber nicht nur einfach vergleichend nebeneinander gestellt, sondern in eine Entwicklung eingeordnet. Schon eine Generation vor Hegel hatte Herder in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit der ¾berzeugung Ausdruck verliehen, daß es Gesetze in der Geschichte gebe, nach denen sich in der geschichtlichen Zeitenfolge Vernunft und HumanitÇt immer weiter ausbilden. Die Geschichte der VÙlker galt als Zeugnis fÜr diesen Fortschritt. FÜr Hegel fanden sich hier Ansatzpunkte fÜr seine eigene Arbeit. Hegel dachte im Grunde aus der biblischen Vorstellung einer zielgerichteten Geschichte heraus, in der sich die Vernunft und der Wille Gottes offenbart. Wir m¹ssen in der Geschichte einen allgemeinen Zweck aufsuchen, den Endzweck der Welt, nicht einen besonderen des subjektiven Geistes oder des Gem¹ts, ihn m¹ssen wir durch die Vernunft erfassen, die keinen besonderen endlichen Zweck zu ihrem Interesse machen kann, sondern nur den absoluten. (Vorlesungen ¹ber die Philosophie der Weltgeschichte. S. 29) Daß Vernunft sich in der Geschichte manifestiert, war eine zwar vom Glauben verbÜrgte, aber deshalb noch nicht philosophisch erwiesene Annahme. Sie ließ sich nicht apriorisch beweisen, sondern konnte nur aus der DurchfÜhrung des Ganzen, d. h. aus dem spekulativen Begreifen der Geschichte heraus als begreifbar nachgewiesen werden. Wiederum war die Voraussetzung, daß die Wahrheit das Ganze ist, und das Einzelne nur vom Ganzen her als vernÜnftig begreifbar ist. Was in der Geschichte als Einzelnes, als bloßes Faktum, erscheint, muß daher vom Ganzen her in einen notwendigen Zusammenhang gebracht werden. Und so fÇhrt Hegel fort: Den Glauben und Gedanken muß man zur Geschichte bringen, daß die Welt des Wollens nicht dem Zufall anheimgegeben ist. (Ebd.) Diese Glaubensvoraussetzung ist jedoch sogleich auch ein Gedanke, d. h. ein Moment der Vernunft. Daher sagt Hegel: Die philosophische Betrachtung hat keine andere Absicht, als das Zuf›llige zu entfernen. (Ebd.)

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Das ZufÇllige muß sich also in der Philosophie und durch die Philosophie als das in Wirklichkeit Notwendige erweisen. Notwendigkeit aber gibt es im geschichtlichen Verlauf nur dort, wo alle Ereignisse auf einen allgemeinen Endzweck der Welt hin geordnet sind. Daß in den Begebenheiten der V³lker ein letzter Zweck das Herrschende, daß Vernunft in der Weltgeschichte ist, - nicht die Vernunft eines besonderen Subjekts, sondern die g³ttliche, absolute Vernunft, - ist eine Wahrheit, die wir voraussetzen; ihr Beweis ist die Abhandlung der Weltgeschichte selbst: sie ist das Bild und die Tat der Vernunft. Vielmehr aber liegt der eigentliche Beweis in der Erkenntnis der Vernunft selber; in der Weltgeschichte erweist sie sich nur. Die Weltgeschichte ist nur die Erscheinung dieser einen Vernunft, eine der besonderen Gestalten, in denen sie sich offenbart, ein Abbild des Urbildes, das sich in einem besonderen Elemente, in den V³lkern, darstellt. (Ebd. S. 29 f.)

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Wenn wir solche SÇtze hÙren, erfaßt uns eine gewisse Beklommenheit. Wie kÙnnen wir jetzt, am Beginn des 21. Jhd.s, von der Weltgeschichte als einer Erscheinung der Vernunft sprechen? Ist die Geschichte des vergangenen wie der wenigen Jahre unseres Jahrhunderts nicht eher der Beweis des Gegenteils? Und auch der Blick auf das Ganze hilft uns nicht viel weiter: Je weiter wir den historischen Gesichtskreis erweitern, umso mehr aufs Ganze gesehen UnvernÜnftiges finden wir vor. Oder ist es nicht einfach sinnlos, nach einem Sinn der Geschichte Überhaupt zu suchen? Auf diese Antwort Nietzsches werden wir noch zurÜckkommen (vgl. Kap. XXIII, 2). Mit Kant tÇte man sich hier leichter, denn man kÙnnte eine Differenzierung in diese Beurteilung der Geschichte als Verwirklichung der Vernunft hineinbringen: Innerhalb der theoretischen, d. h. der beschreibenden Vernunft, erklÇrt man, soweit dies eben geht, die Ursachen, HintergrÜnde und Motive all dieser geschichtlichen Ereignisse. Und mit der Annahme eines natÜrlichen Hanges der Menschen zum BÙsen sind viele Ereignisse verhÇltnismÇßig leicht zu erklÇren, oder umgekehrt: Diese Ereignisse legen die Annahme eines ursprÜnglichen Hanges zum BÙsen sehr nahe, was ja auch die Richtung der ¾berlegung Kants ist. Damit wÜrde im Rahmen der theoretischen Vernunft vernÜnftig das weithin UnvernÜnftige in der Geschichte der Menschheit erklÇrt. Im Bereich der praktischen Vernunft dagegen kÙnnten wir dann vieles von dem, was geschehen ist, als unmoralisch verurteilen. Man kÙnnte dann also sagen, daß sich zwar in der Vergangenheit unzÇhliges UnvernÜnftiges ereignet hat, daß aber doch in praktischer Absicht eine, in der theoretischen Vernunft nicht beweisbare Hoffnung besteht, daß die Menschen in Zukunft moralischer handeln werden, auch wenn dazu in der beschreibbaren Geschichte kaum Anhaltspunkte zu finden sind. Eine Hoffnung moralischer Art fÜr die Zukunft ist ja durch Tatsachen der Vergangenheit nicht zu widerlegen. Das war auch die einzige Chance fÜr Kant als Überzeugten Moralisten, die Hoffnung auf eine vernÜnftigere und sittlichere

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Zukunft nicht aufzugeben. Die Hoffnung der praktischen Philosophie kann hier durchaus als Utopie, also als nirgends vollendet und verwirklicht, angesehen werden, aber als eine, die einen regulativen und kritischen Charakter fÜr die Gegenwart hat. Mehr braucht man hier fÜr die Vernunft in der Geschichte nicht. Bei Hegel ist dies alles viel schwieriger, denn ihm geht es natÜrlich nicht allein darum, die Fakten der Geschichte zu rechtfertigen, bei ihm muß sich der Geist zwar zunÇchst durch die reale Geschichte hindurcharbeiten, er muß in ihr aber irgendwo und irgendwie vollendet und verwirklicht sein, damit er sich dann in der Geschichte des Bewußtseins als spekulativer Begriff vollenden kann. Ein historisches PhÇnomen als vereinzeltes kann jedoch nie Vollendung und Notwendigkeit zum Ausdruck bringen. Eine solche Wahrheit kann sich erst dort zeigen, wo die einzelne Erscheinungsform als notwendige Durchgangsform des Ganzen aufgezeigt werden kann. Erst dann und erst dort wird auch die ZufÇlligkeit aufgehoben, die dem historischen PhÇnomen als purem Ereignis oder Faktum immer anhaftet. Dies gilt auch fÜr die Geschichte des Bewußtseins, das sich in dieser Geschichte zur Vollendung bringt. Erst die historisch erreichte Form des Bewußtseins, das Bewußtsein als Resultat, ist somit als reflektiertes und sich systematisch durchsichtig gewordenes Bewußtsein auch der letzte SchlÜssel zum Begreifen der historischen PhÇnomene. Dazu aber muß es vollendet sein. Vollendet aber ist das Bewußtsein erst als Subjekt. Um als Subjekt Resultat der Geschichte sein zu kÙnnen, muß sich in der Geschichte das Absolute als Subjekt gezeigt haben. Und da sind wir eben wieder bei der Vorstellung, daß Gott, das Absolute, sich in der Geschichte als Mensch, als Subjekt, geoffenbart hat (nicht nur fÜr uns, sondern auch fÜr sich). Man kommt eben bei Hegel immer wieder auf dasselbe zurÜck: Er philosophiert von Glaubensvoraussetzungen aus, und das heißt hier: Er nimmt die Glaubensvorstellung, daß Gott Mensch geworden ist, und Übersetzt dies in den philosophischen Begriff, daß sich das Absolute in der Geschichte in seiner definitven Form schon geoffenbart hat. Die Philosophie hat daher keinen anderen Gehalt als die (christliche) Religion, doch sie reflektiert diesen Gehalt in einer anderen Form: Die Religion hat ihre Inhalte in der Form der Vorstellung (auch Dogmen sind SÇtze Über Vorstellungen), die Philosophie hat sie in der Form des Begriffs. Dieses VerhÇltnis ist selbst wiederum erst geschichtlich geworden, es hat sich wÇhrend und in der Geschichte des Christentums herausgebildet. Auch dies konstruiert Hegel dialektisch: Im Mittelalter waren Christentum und Philosophie noch eine ungeschiedene Einheit. SpÇter setzten sich Christentum und Philosophie in einen Gegensatz zueinander, so daß die Philosophie schließlich in der AufklÇrung vÙllige SelbstÇndigkeit gegenÜber dem Christentum beanspruchte. In der letzten, nun anstehenden Epoche wird die neue Einheit erreicht: Die Philosophie ist ihrer Form nach selbstÇndig, ihrem Gehalt nach ist sie jedoch identisch mit dem Christentum. In dieser Konstruktion von Form und Gehalt, hat Hegel eine in historischer Hinsicht sehr scharfe Analyse vorgelegt, die bis heute ein Anstoß zum Nachdenken sein

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kÙnnte und sollte. Er sagt ganz einfach: Es ist eine Illusion, wenn man meint, die Philosophie kÙnne selbstÇndig Gehalte, z. B. also Werte oder Vorstellungen (Symbole) oder Ideen erfinden, eine Illusion, die nur dadurch aufkommen konnte, daß Philosophie nicht genÜgend in geschichtlichem Kontext gesehen wurde. Wird sie in diesem Kontext begriffen, so zeigt sich sofort, daß sie ihre Gehalte immer von anderen Bereichen erhÇlt: aus der Religion, der Kunst (die selbst in enger Beziehung zu Religion steht), dem Recht, der Wissenschaft usw. Die SelbstÇndigkeit philosophischen Denkens, d. h. der autonome Anteil der Philosophie, besteht in der FormalitÇt, also in der spezifischen Form des Begreifens von Inhalten, nicht jedoch in den Inhalten selbst. Letztlich reflektiert Hegel hier genau das, was die in dieser Hinsicht strengere Philosophie Kants klar zum Ausdruck gebracht hatte: Das eigentliche GeschÇft der Philosophie ist das Formale. Gerade diese wichtige Einsicht Hegels wurde jedoch weder von seinen Nachfolgern noch von seinen an ihm orientierten Gegnern richtig ausgeschÙpft. Dazu gab aber Hegel selbst mehr als genÜgend Anlaß, insofern er in seiner Logik nicht die formale Aufgabe der Philosophie gegenÜber vorgegebenen Gehalten darlegte, was er eher in der PhÇnomenologie des Geistes ausarbeitete, sondern nun den Anspruch erhob, mit den Formen auch die Gehalte konstruieren zu kÙnnen. Die Frage ist nun, was der Gehalt dieser von Hegel reflektierten Religion des Christentums ist. Nach Hegel besagt der Gehalt des Christentums, wird dieser auf seinen spekulativen Begriff gebracht, daß die zeitliche Geschichte des absoluten Geistes das geschichtliche Zu-sich-selbst-Kommen des absoluten Geistes im menschlichen Bewußtsein ist. Das Christentum darf hier natÜrlich nicht isoliert betrachtet werden, sondern muß als Periode der Geschichte der Religionen aufgefaßt werden, wenn auch als prinzipiell letzte. Die besondere Relevanz des Christentums besteht also darin, erfÜllendes Resultat der Geschichte zu sein. Die Religion kann bei Hegel als SchlÜssel des VerstÇndnisses der Weltgeschichte genommen werden, weil fÜr Hegel die jeweilige Religion die Wurzel von Sittlichkeit, Recht, Verfassung, Wissenschaft und Kunst ist. Deshalb kann er sagen, »daß die Geschichte der Religionen mit der Weltgeschichte zusammenfÇllt« (EnzyklopÇdie § 562. S. 444). Daß dies so ist, wurde jedoch nach Hegels Auffassung erst durch das Christentum offenbar, das dadurch zugleich Mittelpunkt und H³hepunkt der Weltgeschichte, und damit auch Mittel- und HÙhepunkt der Geschichte des absoluten Geistes ist. In den Vorlesungen Über die Philosophie der Weltgeschichte sagt Hegel, daß die Offenbarung Gottes in Jesus Christus das »Prinzip« ist, »die Angel, um welche sich die Weltgeschichte dreht. Bis hierher und von daher geht die Geschichte.« (Vorlesungen Über die Philosophie der Weltgeschichte. S. 722) Was in Jesus Christus geoffenbart wird, ist VersÙhnung, und der spekulative Begriff von »VersÙhnung« ist eben der fÜr Hegels gesamte Philosophie und somit auch fÜr seine Dialektik zentrale Begriff der »Vermittlung«. In Jesus Christus ist die VersÙhnung Gottes mit der Welt manifest geworden. VersÙhnung ist das Prinzip der Weltgeschichte, denn es ist das absolute Prinzip als das Prinzip des Absoluten: Gott hat sich in die Welt hinein entÇußert, um die Welt aus der Entfremdung

Geschichte und System

zurÜckzuholen, und dies ist gleichzeitig die VersÙhnung des Absoluten mit sich selbst (vgl. z. B. PhÇnomenologie des Geistes. GW IX. S. 418). Die VersÙhnung Gottes mit der Welt bringt dem Menschen seine Freiheit wieder. Auch dieser in der Geschichte des Christentums immer behauptete Zusammenhang erhÇlt bei Hegel seine ganz spezifische spekulative BegrÜndung: Unfreiheit bedeutet bei Hegel, daß die Vernunft gegenÜber dem anderen ihrer selbst, wie dieses in der Vorstellung gegeben ist, keine SelbstÇndigkeit besitzt. Dies war schon dort deutlich geworden, wo gezeigt wurde, daß die Freiheit des Wissens nur im Durchgang durch den Skeptizismus erlangt werden kann (vgl. weiter oben 3). Geht der Mensch im ’ußeren, im reinen An-sich der Dinge, vÙllig auf, so Übt dieses ’ußere als Unbegriffenes Herrschaft Über ihn aus. Freiheit bedeutet daher nach Hegel die Aufhebung dieser Entfremdung, nicht durch RÜckzug in sich selbst, sondern durch das Bei-sich-Sein im Anderen seiner selbst (hier sehen wir, wie Hegel nur abstrakter das formuliert, was er in den Jugendschriften als »Liebe« bezeichnet hatte). Genau dies ist nun in der Menschwerdung geschehen: Gott ist frei ganz im Anderen seiner selbst, in der Welt. Ist dies der HÙhepunkt der Geschichte der Welt, so kann und muß Hegel die gesamte Geschichte durch das Prinzip wachsender Freiheit erklÇren. Mit »wachsend« kann selbstverstÇndlich kein kontinuierlicher Fortschritt gemeint sein, dieses Wachsen muß vielmehr durch qualitative UmbrÜche geschehend gedacht werden. So kommt Hegel zu der bekannten Konstruktion der Geschichte der Freiheit: Im alten Orient war nur einer frei, nÇmlich der despotische Herrscher; in Griechenland und Rom waren einige frei, nÇmlich die BÜrger im Unterschied zu den Sklaven; erst durch das Christentum setzte sich die Einsicht durch, daß jeder Mensch als Mensch frei ist (Vorlesungen Über die Philosophie der Weltgeschichte. S. 62 f.). Hegel meinte natÜrlich nicht, daß seit dem Eintritt des Christentums in die Weltgeschichte wirklich alle frei seien, wohl aber glaubte er, daß damit das endgÜltig wahre Prinzip der Freiheit manifest geworden sei, so daß eine darÜber hinausgehende Offenbarung nicht mÙglich ist. Damit ist fÜr die Geschichte ein eindeutiges Ziel gegeben: Die Verwirklichung der schon jetzt letztgÜltig offenbar gewordenen Freiheit. All dies kommt uns vielleicht etwas sonderbar oder verstiegen vor. Aber wir sollten es einfach zur Kenntnis nehmen, denn Hegel sagt dem Gehalt nach nicht mehr als das, was die Christen glauben: Durch die SÜnde sind die Menschen mit Gott entzweit worden, durch Christus hat Gott die Welt wieder mit sich versÙhnt; dies ist der Sinn der ganzen Geschichte der Menschheit. Und daß diese Geschichte gleichzeitig die wirkliche Geschichte Gottes ist, dies war eine GrundÜberzeugung der Autoren des Alten Testaments und sie kommt auch im Johannesprolog des Neuen Testaments zum Ausdruck. Wer diese Vorstellungen teilt, der kann - muß aber natÜrlich nicht - auch Hegels begriffliche Rekonstruktion derselben teilen. Der einzige Glaubenssatz, der hinzukommt, ist ein formaler, nÇmlich daß diese Geschichte philosophisch rekonstruiert werden kann, so in der PhÇnomenologie des Geistes, und dann nochmals von Anfang an konstruiert werden kann, so in der Wissenschaft der Logik, und daß Hegel

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel

dies geleistet hat. Dies ist eine bloße Feststellung, die wir bei Hegel selbst nachlesen kÙnnen. Hegel ordnet seine Philosophie dabei auch in die Geschichte der Philosophie ein, wobei allerdings zu sagen ist, daß die Philosophen-Theologen seit dem 13. Jhd. die Unterscheidung von Philosophie und Theologie sehr genau und ganz und gar nicht im Sinne Hegels getroffen haben (vgl. 2. Teil, Kap. XIII, 3).

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Demgegen¹ber ist zu sagen, daß der Inhalt der Philosophie, ihr Bed¹rfnis und Interesse, mit der Religion ganz gemeinschaftlich ist. Der Gegenstand der Religion wie der Philosophie ist die ewige Wahrheit, Gott und nichts als Gott und die Explikation Gottes. Die Philosophie expliziert nur sich, indem sie die Religion expliziert, und indem sie sich expliziert, expliziert sie die Religion Der denkende Geist ist es, der diesen Gegenstand, die Wahrheit durchdringt, der in dieser Besch›ftigung Genuß der Wahrheit und Reinigung des subjektiven Bewußtseins ist. So fallen Religion und Philosophie in eins zusammen. Die Philosophie ist in der Tat selbst Gottesdienst, wie die Religion. [...] Diese Verkn¹pfung ist nichts Neues; sie fand schon bei den vorz¹glicheren der Kirchenv›ter statt, die sich besonders in die neupythagoreische, neuplatonische und neuaristotelische Philosophie tief hineinstudiert haben. [...] Die gleiche Verkn¹pfung der Theologie und Philosophie sehen wir auch im Mittelalter. Scholastische Philosophie ist ein und dasselbe mit der Theologie; diese ist Philosophie, und die Philosophie ist Theologie. (Vorlesungen ¹ber die Philosophie der Religion. I. S. 63–65) Die Philosophie ist also fÜr Hegel Theologie. Das sollten wir immer vor Augen haben, wenn wir oder falls wir Hegel lesen. Ob diese Philosophie eine gute Theologie ist, brauchen wir hier nicht zu beurteilen (m. E. ist die eigentlich untheologische Philosophie Kants nicht nur eine bessere Philosophie, sondern auch eine bessere Theologie als die theologische Philosophie Hegels). Es ist jedenfalls eine Theologie, die aus der Tradition der Gnosis lebt. Daß dies so ist, ist keinesfalls eine neue Einsicht, und sie stammt auch nicht aus einer kritischen Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie, sondern wurde von einem AnhÇnger derselben in allen Einzelheiten ausgearbeitet und dargestellt. Nur wenige Jahre nach Hegels Tod legte 1835 Ferdinand Christian Baur (1792–1860) seine Arbeit Die christliche Gnosis oder die christliche Religions-Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung vor. Baur behandelt dort die antike Gnosis, Klemens von Alexandrien, Plotin, Augustinus, BÙhme, und gelangt schließlich Über Schelling und Schleiermacher zu Hegel. Man kann hier ohne weiteres u. a. noch Scotus Eriugena und Meister Eckhart hinzufÜgen, Baurs These wird dadurch historisch noch besser gestÜtzt. Baur gelangt abschließend zu der Feststellung, daß Hegels Philosophie sich nicht dem Wesen, sondern nur der Form nach von der Gnosis unterscheidet (Ebd. S. 735). Stellt man allerdings Texte von Plotin, Scotus Eriugena (vgl. 2. Teil, Kap. V, 3) und Eckhart solchen Hegels gegenÜber, wird man sich sogar die Frage stellen mÜssen, ob sich Hegels Philosophie auch nur der Form nach von der Gnosis unterscheidet. Ebenso wird das Interesse an

Das Ziel der Geschichte und der Staat

Spinoza verstÇndlich, denn dessen Philosophie ist nichts anderes als eine Rekonstruktion der Kabbala, und ist somit auch wieder eine bestimmte Form der Gnosis (vgl. Kap. VII, 4).

5. Das Ziel der Geschichte und der Staat Religion und Staat gehÙren nach Hegel nicht nur engstens zusammen, sondern sind in ihrer Grundlage eigentlich ein und dasselbe. Im allgemeinen ist die Religion und die Grundlage des Staates eins und dasselbe; sie sind an und f¹r sich identisch. (Vorlesungen ¹ber die Philosophie der Religion. I. S. 339) Wir mÜssen hier eine ganz kurze ¾berlegung einfÜgen, die Über Hegel hinausgeht bzw. die die These Hegels als schlichtweg falsch erklÇrt. ReligiÙse Vorstellungen oder Werte haben in der Vergangenheit bei der Ausbildung von Staaten ohne jeden Zweifel eine große Rolle gespielt. Der moderne Rechtsstaat der westlichen Gesellschaften ist aber grundsÇtzlich laikal, d. h. er steht im Gegensatz zu Hegels These. Wo immer auch Wertvorstellunge herkommen mÙgen (Frage der Genese), werden sie fÜr Staaten relevant, so mÜssen sie durch VernunftÜberlegungen gerechtfertigt werden und kÙnnen nur durch den Willen des Gesetzgebers zur verbindlichen Regel der Gesellschaft werden (Frage der Geltung). Daher gilt umgekehrt in moderner Terminologie: Jede Vorstellung, nach der die Grundlage des Staates und der Religion identisch ist, ist fundamentalistisch und prinzipiell intolerant. Dies gilt auch dann, wenn Wertvorstellungen des Christentums in die sogenannten »Menschenrechte« eingegangen sein sollten, was ja Ùfter behauptet als bewiesen wurde. Toleranz und Religionsfreiheit ist nur dort mÙglich, wo der Staat und seine Gesetzgebung der Religion bzw. den Religionen, die es auf seinem Staatsgebiet gibt - das Recht und das Gesetz ist territorialbezogen und nur vermittelt Über das Staatsgebiet personalbezogen - grundsÇtzlich religions-neutral ist. - ZurÜck zu Hegels (falscher) These der IdentitÇt von Grundlage des Staates und Religion. Im Christentum wurde das Prinzip von Freiheit als VersÙhnung aufgestellt, und somit sollte nach Hegel entsprechend der Einheit von Religion und Staat die Verwirklichung dieses Prinzips durch die Sittlichkeit und den Staat geschehen. Diese Bearbeitung der Subjektivit›t, diese Reinigung des Herzens von seiner unmittelbaren Nat¹rlichkeit, wenn sie durch und durch ausgef¹hrt wird und einen bleibenden Zustand schafft, der ihrem allgemeinen Zweck entspricht, vollendet sich als Sittlichkeit, und auf diesem Weg geht die Religion hin¹ber in die Sitte, den Staat. [...] Der Staat ist die wahrhafte Weise der Wirklichkeit; in ihm kommt der wahrhafte, sittliche Wille zur Wirklichkeit und lebt der Geist in seiner Wahrhaftigkeit. (Ebd.)

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Bei Hegel liegt der Versuch vor, der Auseinanderentwicklung bzw. dem Auseinanderfallen von Ethik und Staat bzw. Recht entgegenzuwirken und diese systematisch zu vermitteln. Das Problem war zur Zeit Hegels aktuell (und ist es immer noch). Bei Fichte war der Gegensatz von Gewissen und Staat ganz ausdrÜcklich formuliert worden, dem will Hegel eine Vermittlung dieses Gegensatzes gegenÜberstellen. Die Freiheit des einzelnen und die Wirklichkeit des Staates sollen keinen Gegensatz darstellen. In der Religion ist der Mensch frei vor Gott; indem er seinen Willen dem g³ttlichen gem›ß macht, so ist er dem h³chsten Willen nicht entgegen, sondern er hat sich selbst darin [...]. Der Staat ist nur die Freiheit in der Welt, in der Wirklichkeit. Es kommt hier wesentlich auf den Begriff der Freiheit an, den ein Volk in seinem Selbstbewußtsein tr›gt, denn im Staat wird der Freiheitsbegriff realisiert, und zu dieser Realisierung geh³rt wesentlich das Bewußtsein der an sich seienden Freiheit. [...] Es ist Ein Begriff der Freiheit in Religion und Staat. Dieser Eine Begriff ist das H³chste, was der Mensch hat, und er wird von dem Menschen realisiert. (Ebd. I. S. 339 f.)

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Was Hegel hier fordert oder vielmehr als im Prozeß der Verwirklichung begriffen hinstellt, ist sehr viel. Er meint, die durch Christus vermittelte Einsicht der versÙhnten Einheit des Geistes mit Gott mÜsse sich in der Wirklichkeit als Prozeß der VersÙhnung in seiner gesellschaftlichen Dimension auswirken: Die religiÙsphilosophische VersÙhnung wÇre somit Grundlage fÜr die politische und Freiheit erwirkende VersÙhnung. Das durch und in Christus vermittelte Glaubens-Wissen wÇre somit gleichzeitig die Grundlage und das Prinzip eines politischen Wissens und einer politischen Verwirklichung. In diesem Prozeß sollte die SubjektivitÇt des einzelnen mit der ObjektivitÇt des Staates versÙhnt werden, insofern die objektive Wirklichkeit die Verwirklichung der versÙhnten SubjektivitÇt darstellt. Hegel verkÜndet hier politisches Heilswissen, das den Staat in seiner aktuellen Verwirklichung rechtfertigt. Man hat Hegel aufgrund dieser Auffassung eine VergÙttlichung des Staates und somit eine reaktionÇre Staatsideologie vorgeworfen. Dieser Vorwurf ist jedenfalls in dieser Form nicht ganz haltbar, denn Hegel stand der politischen Wirklichkeit seiner Gegenwart auch durchaus kritisch gegenÜber. Aus dem Bild dessen, was nach Hegel sein sollte, ergab sich eine Stellungnahme zu dem, was nicht war, oder besser: was in seiner Zeit nicht war, aber sein sollte. Er stand dabei, kurz vor seinem Tod, unter dem Eindruck der Julirevolution von 1830, in deren Vorfeld der franzÙsische KÙnig Karl X. (1824–1830) die Freiheit der Presse aufgehoben und ein Gesetz erlassen hatte, das praktisch alle Wahlen, die der Opposition die Mehrheit gaben, fÜr ungÜltig erklÇrte. Nach Hegels Prinzip konnte und durfte eine solche, dem modernen Freiheitsbewußtsein nicht entsprechende Herrschaftsform nicht lange bestehen. Nach der Revolution, in der das Volk den KÙnig verjagte, wobei das Heer praktisch nichts tat, um die Herrschaft des KÙnigs zu

Das Ziel der Geschichte und der Staat

retten, sagte Hegel daher von Karl X.: »Nach dem Formellen der Konstitution war der Monarch keiner Verantwortlichkeit ausgesetzt; aber dies Formelle hat nicht standgehalten; die Dynastie ist vom Thron gestÜrzt worden« (Ebd. I. S. 347). Der neue KÙnig war der »BÜrgerkÙnig« Louis Philippe (1830–1848), der tatsÇchlich durch und durch von bÜrgerlichem Bewußtsein geprÇgt war, dem es jedoch nicht gelang, aus diesem Bewußtsein heraus eine wirkliche Herrschafts- und Staatsform zu gestalten. AbhÇngig von den Bankiers und ParteimÇnnern konnte er nicht verhindern, daß zu seiner Zeit die Korruption zu einer vorher in Frankreich nie erreichten HÙhe gelangte. Die einzelnen versuchten sich hier durch die SchwÇche des Staates Gewinn zu schaffen und diese SchwÇche durch Korruption aufrechtzuerhalten. Hier machte sich nun der einzelne das Allgemeine untertan. Hegel erkannte und benannte diese SchwÇchen des unbeschrÇnkten Liberalismus, der faktisch wieder zu der Herrschaft der wenigen zurÜckfÜhrte, einer im Prinzip eben ebenso wie der Despotismus Überwundenen Herrschaftsform. Hegel war Überzeugt, daß Freiheit, sollte sie universell werden, institutionell gesichert werden mußte. Dies ist also wieder das Problem der Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinem. Doch damit tritt wiederum fast automatisch ein Gegensatz auf. Denn man sieht, 405

[...] daß, wenn nun die Prinzipien der wirklichen Freiheit zu Grunde gelegt sind und diese sich zu einem System des Rechts entwickeln, daraus gegebene, positive Gesetze entstehen und diese die Form von juridischen Gesetzen ¹berhaupt in Beziehung auf die Individuen erhalten. Die Erhaltung der Gesetzgebung ist den Gerichten anheimgegeben; wer das Gesetz ¹bertritt, wird vor Gericht gezogen, und die Existenz des Ganzen wird in solche juridische Form ¹berhaupt gesetzt. Ihr gegen¹ber steht dann die Gesinnung, das Innere, welches gerade der Boden der Religion ist. Es sind so zwei Seiten sich einander entgegen, die der Wirklichkeit angeh³ren - die positive Gesetzgebung und die Gesinnung in Ansehung derselben. (Vorlesungen ¹ber die Philosophie der Religion. I. S. 345 f.) Es tritt also hier wiederum ein Gegensatz von Innen und Außen, von Gesinnung und Gesetz auf, der gar nicht so verschieden ist von dem von Gewissen und Staat bei Fichte. Hegel aber forderte ja die ¾berwindung dieses Gegensatzes. Hegel meinte nun keineswegs, daß dieser Gegensatz zu seiner Zeit etwa in Preußen schon aufgehoben sei. Er sagt vielmehr ganz allgemein, daß seine Zeit an diesem Widerspruch und an der herrschenden Bewußtlosigkeit dieses Widerspruchs leide, und daß seine Zeit noch sehr weit davon entfernt sei, diesen Widerspruch von Staatsverfassung (Gesetz) und Freiheitsbewußtsein bzw. Freiheitswille des Individuums aufgelÙst zu haben (Ebd. I. S. 346 f.). In keinem Staat ist also bisher die Freiheit angemessen verwirklicht. Eine einfache Legitimierung des bestehenden Staates durch Hegel lÇßt sich also aus diesen Texten nicht ableiten.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Dem stehen aber andere ’ußerungen Hegels gegenÜber, so vor allem in der Rechtsphilosophie, wo z. B. im § 260 ohne weitere Differenzierung gesagt wird: Der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit. [...] Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure St›rke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivit›t sich zum selbst›ndigen Extreme der pers³nlichen Besonderheit vollenden zu lassen, und zugleich es in die substantielle Einheit zur¹ckzuf¹hren und so in ihm selbst diese zu erhalten. (Vorlesungen ¹ber die Rechtsphilosophie. II. S. 246 f.)

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Hegel stellt sich hier sehr eindeutig auf die Seite des bestehenden Staates. Ob dabei ein persÙnlich opportunistischer Hegel zum Vorschein kommt (die verÙffentlichte Form der Rechtsphilosophie weicht erheblich von der ursprÜnglichen Fassung ab) ist eine Frage, die hier nicht weiter verfolgt werden soll. Es taucht an dieser Stelle aber ein Grund- und Strukturproblem hegelscher Dialektik auf: Hegels Voraussetzung ist die absolute VersÙhnung oder Vermittlung, d. h. die TotalitÇt. Das Absolute kann nach Hegel begriffen werden und zwar in dem anderen seiner selbst, in der Wirklichkeit der Welt. Hegel nimmt einen ¾bergang vom absoluten zum objektiven Geist an, dieser ¾bergang soll in der Wirklichkeit stattfinden, und zwar nicht als ein nur glaubbares Mysterium der Geschichte, sondern als etwas, das tatsÇchlich erkannt und begriffen werden kann. Damit hat sich Hegel eine ungeheure Beweislast aufgebÜrdet. Das einzelne reale Geschehen in der Geschichte wird hiermit keineswegs einfach zum VernÜnftigen erklÇrt, wie Hegel manchmal zu Unrecht unterstellt wird. Ganz im Gegenteil gibt das hegelsche Denken die MÙglichkeit einer dialektischen Kritik am Bestehenden. In seiner allgemeinen Form ist die universelle, totale VersÙhnung in Christus in der Vorstellung des »Reiches Gottes« offenbar geworden, die aber zunÇchst im Gegensatz zum Bestehenden steht. So sagt Hegel in den Vorlesungen Über die Philosophie der Religion: Dies Reich Gottes, die neue Religion, hat also an sich die Bestimmung der Negation gegen das Vorhandene; das ist die polemische Seite, das revolution›re Verhalten gegen die Bestimmtheiten in jener ußerlichkeit, in dem Bewußtsein und Glauben der Menschen. (Vorlesungen ¹ber die Philosophie der Religion. III. S. 241) Dies ist die eine Seite. Hegel kann von seinem Grundansatz her jedoch keine radikale Eschatologie annehmen, in der das Reich Gottes prinzipiell die reale Geschichte transzendiert und dieser gegenÜber immer nur der kritischer Maßstab wÇre. Dies wÇre die Position Kants, und genau an dieser hatte Hegels Kritik angesetzt. Der Schritt von den regulativen Ideen der praktischen Philosophie Kants zum spekulativen Begriff Hegels ist eben das Problematischeste an Hegels Philosophie. Hegel muß das Wirklichwerden des Reiches Gottes in der Geschichte, des Absoluten im Anderen seiner selbst, im Objektiven, identifizieren. Auch darf das Bewußtsein

Das Ziel der Geschichte und der Staat

nicht schlechthin der Wirklichkeit gegenÜber fremd sein. Kommt also, und dies ist der ungeheuerliche Anspruch Hegels, der absolute Geist in der Philosophie zur Sprache, so muß auch in der Wirklichkeit VersÙhnung, wenn schon nicht als faktisch vollendete, so doch als prinzipiell schon gegebene aufzeigbar sein. Hegel gerÇt hier gleichsam in Zugzwang. Wenn fÜr ihn, wie er selbst sagt, die Weltgeschichte das Weltgericht ist, die Weltgeschichte aber der absolute Geist im Anderen seiner selbst ist, so darf das Weltgericht nicht nur Verurteilung beinhalten, sondern muß auch Freispruch proklamieren kÙnnen, sonst wÜrde der absolute Geist selbst als gescheitert verurteilt werden mÜssen. Hegel hÇtte also nicht schon den preußischen Staat als partikulÇres Geschehen rechtfertigen mÜssen, das Strukturproblem der Notwendigkeit von Rechtfertigung wÇre trotzdem geblieben. (Diesen Legitimationszwang hat der orthodoxe Marxismus geerbt.) Von daher versteht sich ein Satz wie der des § 360 der Rechtsphilosophie: Die Gegenwart hat ihre Barbarei und unrechtliche Willk¹r und die Wahrheit hat ihr Jenseits und ihre zuf›llige Gewalt abgestreift, so daß die wahrhafte Vers³hnung objektiv geworden ist, welche den Staat zum Bilde und zur Wirklichkeit der Vernunft entfaltet [...]. (Vorlesungen ¹ber Rechtsphilosophie. II. S. 816) 407

So ist also doch die wahrhafte VersÙhnung objektiv geworden. Hegel kommt um diese Annahme nicht umhin. In der Einleitung zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts schreibt Hegel: So soll denn diese Abhandlung, insofern sie die Staatswissenschaft enth›lt, nichts anderes sein als der Versuch, den Staat als ein in sich Vern¹nftiges zu begreifen und darzustellen. Als philosophische Schrift muß sie am entferntesten davon sein, einen Staat, wie er sein soll, konstruieren zu sollen; die Belehrung, die in ihr liegen kann, kann nicht darauf gehen, den Staat zu belehren, wie er sein soll, sondern vielmehr, wie, das sittliche Universum, erkannt werden soll. [...] Das, was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das, was ist, ist die Vernunft. [...] Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vern¹nftige Einsicht ist die Vers³hnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gew›hrt, an die einmal die innere Anforderung ergangen ist, zu begreifen [...]. (Grundlinien der Philosophie des Rechts. Vorrede. S. 15 f.) Es scheint nicht richtig, von einem »revolutionÇren« jungen Hegel und einem »reaktionÇren« alten Hegel zu sprechen (bei der Abfassung der Rechtsphilosophie war Hegel außerdem gar nicht »alt«, sondern war gerade mal 50 Jahre alt). Ebenso fraglich scheinen Versuche zu sein, ’ußerungen wie die zuletzt angefÜhrte als »Inkonsequenzen« oder »Opportunismus« zu bezeichnen, und so nur den »progressiven« Hegel als den »eigentlichen« Hegel Übrigzulassen. Es bleibt vielmehr die Frage, ob

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sich hier nicht zeigt, daß Hegel zu solchen Konsequenzen gezwungen war, wenn er die theologische Programmatik seiner Jugendzeit philosophisch einlÙsen wollte. Es ergab sich aus seinem philosophischen System unabweisbar der Anspruch, einen absoluten Endzweck nicht nur im Glauben festzuhalten, sondern diesen auch im Begriff verfÜgbar zu haben, und zwar so, daß dieser absolute Endzweck nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv ist, und somit treibende Kraft der Geschichte ist. Diese Kraft offenbart sich in NegativitÇt, Schmerz und Zerrissenheit, aber sie offenbart sich. Hegel schließt die (als Zusammenfassung und Resultat gedachte) Einleitung zur PhÇnomenologie des Geistes mit der Behauptung, daß »das ganze Reich der Wahrheit des Geistes«, »das ganze System« erreichbar sei (PhÇnomenologie des Geistes. GW IX. S. 61). Indem es [d. h. das Bewußtsein] zu seiner wahren Existenz sich forttreibt, wird es einen Punkt erreichen, auf welchem es seinen Schein ablegt, mit fremdartigem, das nur f¹r es und als ein anderes ist, behaftet zu sein, oder wo die Erscheinung dem Wesen gleich wird, seine Darstellung hiemit mit eben diesem Punkte der eigentlichen Wissenschaft des Geistes zusammenf›llt; und endlich indem es selbst dies sein Wesen erfaßt, wird es die Natur des absoluten Wissens selbst bezeichnen. (Ebd. S. 61 f.) 408

Dies ist die sichtbare Grenze des hegelschen Anspruchs. Die mit dem Anspruch der VernÜnftigkeit auftretende Behauptung der VerfÜgbarkeit eines solchen absoluten Wissens, in der enthalten ist, daß alles Fremdartige letztlich aufgehoben werden kann, scheitert an der Erfahrung eben dieses Bewußtseins, das weder Irrationales noch Absurdes eliminieren kann. Damit aber zeigt sich die Behauptung absoluten Wissens als selbst irrational und absurd oder als an der Wirklichkeit nicht ausweisbar. Es muß daran erinnert werden: Der Anspruch absoluter Vernunft ist gnostischer Herkunft, und als solcher ist er das EingestÇndnis und die Anerkennung einer als unversÙhnbar erfahrenen Wirklichkeit. Der gnostische Anspruch absoluten Wissens in Verbindung mit der Behauptung, daß das Absolute sich in dieser Welt verwirklicht hat, ist inkonsequent und uneinlÙsbar. Eine solche Behauptung absoluten Wissens kann nicht modifiziert, sondern nur kritisiert werden. Dies ist ein zentraler Punkt der weiteren Geschichte der Philosophie des 19. Jhd.s. An dieser Konstruktion lÇßt sich jedoch Hegels zeitgeschichtliches Interesse ablesen. Er sah, daß die Kultur wie die Gesellschaft seiner Zeit vom Auseinanderfallen der sie bisher zusammenhaltenden KrÇfte bedroht war. Sein ganzes System war der ungeheure Versuch, noch einmal die Einheit europÇischer Kultur zu retten. Er versuchte, jene Einheit im Begriff zu retten, die in der Wirklichkeit bereits zerfallen war. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, daß Systeme, d. h. Versuche, alles Erfahrbare und Denkbare unter einem Prinzip zusammenzufassen, an Zeitpunkten kultureller und gesellschaftlicher Krisen auftreten: So war es am Ausgang der Antike mit den neuplatonischen Systemen (4./5. Jhd.), so war es am Ausgang des Mittelalters im

Das Ziel der Geschichte und der Staat

System der coincidentia oppositorum, dem Zusammenfallen der GegensÇtze, bei Nikolaus von Kues (15. Jhd.), und so ist es nun bei Hegel, der in seinem System die Einheit der Geschichte als Gehalt und die Philosophie als Reflexion dieses Gehalts aufstellen will. Hegel wollte gewaltsam - und Gewaltsamkeit ist ein Charakteristikum jeden Systems - noch einmal eine schon verloren gegangene Einheit herstellen, sein System ist somit nicht Ausdruck einer bestehenden und vorhandenen Einheit, sondern Ausdruck einer zu Ende gegangenen Einheit, was Hegel jedoch als geschichtliche Wahrheit nicht anerkennen wollte.

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- XVIII -

Die Sp›tphilosophie Schellings

1. Der Mythos als Interpretationsproblem

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Im Jahre 1841 wurde Schelling zum Professor an der UniversitÇt Berlin ernannt, mit der Aufgabe, dort im Sinne des KÙnigs Friedrich Wilhelm IV. (1840–1861) eine (reaktionÇre) Bastion gegen den wachsenden Linkshegelianismus aufzurichten. Neben Kierkegaard (vgl. Kap. XXI) und Jacob Burckhardt (1818–1897), dem spÇter bedeutend gewordenen Historiker, saß auch Friedrich Engels (1820–1895) unter seinen HÙrern. Dieser berichtete (anonym) in einer Zeitung: »Wenn ihr jetzt hier in Berlin irgendeinen Menschen, der auch nur eine Ahnung von der Macht des Geistes Über die Welt hat, nach dem Kampfplatze fragt, auf dem um die Herrschaft Über die Ùffentliche Meinung Deutschlands in Politik und Religion, also Über Deutschland selbst gestritten wird, so wird er euch antworten, dieser Kampfplatz sei in der UniversitÇt, und zwar das Auditorium Nr. 6, wo Schelling seine Vorlesungen Über Philosophie der Offenbarung hÇlt.« (Marx–Engels Werke, Erg. Bd. 2. Teil. Berlin 1967. S. 163) Dieses Urteil hielt jedoch, jedenfalls in der zeitgenÙssischen Ùffentlichen Meinung, nicht lange stand. Die ZuhÙrer waren bald enttÇuscht, anstelle von Reden an die Nation und vordergrÜndiger Zeitkritik hielt Schelling hintergrÜndige Vorlesungen Über die Philosophie der Religion. Dies entsprach nicht dem Zeitgeschmack, und auch die Linkshegelianer ließen sich von dieser Philosophie nicht beeindrucken. Auch Engels wandte sich von der SpÇtphilosophie Schellings radikal ab, wie aus seiner Kritik in der 1842 erschienen Schrift Schelling und die Offenbarung. Kritik des neuesten Reaktionsversuchs gegen die freie Philosophie (Ebd. S. 173–221) deutlich wird. Schelling beschÇftigte sich in seinen Vorlesungen mit den Fragen, die Mythos und Offenbarung fÜr die Philosophie, und dies hieß: fÜr die historische Erscheinung der Vernunft, aufwarfen. Eines der zentralen Probleme rationaler AufklÇrung wurde seit dem Auftreten einer solchen als ausdrÜcklichem Programm in der VerhÇltnisbestimmung von Mythos und Logos formuliert. In der griechischen Antike, so vor allem bei Platon, wurde ein geschichtlich weittragendes Interpretationsmodell aufgestellt: Die Vernunft, der Logos, setzt den Mythos als Vorstufe voraus. Dadurch sollte gleichzeitig die Philosophie ihre Legitimation erhalten und die Macht des Mythos gebrochen werden. Doch auch schon vor Platon versuchten die Griechen, den ¾bergang von Mythologie zur Philosophie durch ein Transformationsverfahren zu errei-

Der Mythos als Interpretationsproblem

chen, das unter der Bezeichnung »Allegorie« in die Geschichte eingegangen ist, ein Verfahren, das Platon allerdings eher vermeiden wollte. Mit der allegorischen Interpretation wurde versucht, in den individuellen Gestalten der Mythen verbildlichte, also anschaulich gemachte, allgemeine Begriffe der Philosophie zu entdecken und aufzudecken. Dieses Verfahren Übernahm die christliche Theologie, vermittelt durch die alttestamentliche allegorisierende Exegese Philons von Alexandrien, und baute es zu dem komplexen hermeneutischen Verfahren des mehrfachen Schriftsinns aus (vgl. 2. Teil, Kap. 1, 5, b). Die allegorisierende Auslegung von Mythen ist in der Philosophie ein weithin, beinahe universell angewandtes Verfahren geblieben, soweit diese sich Überhaupt mit Mythen, wozu hier natÜrlich auch die biblischen Texte gezÇhlt werden, beschÇftigte. Dennoch ist dieses Verfahren von der Sache her nicht unproblematisch. Es kann leicht dazu herangezogen werden, immer neue philosophische (oder theologische) Begriffe durch allegorisierende Interpretation immer derselben Texte zu legitimieren: Der allegorisierenden Methode haftet so der Verdacht der Beliebigkeit an. Obwohl Vertreter hegelscher Philosophie dies strikt zurÜckweisen wÜrden, muß man doch die Frage stellen, ob nicht auch Hegels Verfahren, insbesondere das der Interpretation der fÜr seine Philosophie zentralen Vorstellung der Menschwerdung Gottes, letztlich als allegorisierend zu bezeichnen ist. In heutiger Terminologie kann man sagen, daß bei diesem Verfahren der Allegorese eine Transformation auf der Ebene der Semantik gesucht wird, d. h. man bemÜht sich zu zeigen, daß ein Begriff A der Philosophie oder der Theologie mit einer Vorstellung B aus der mythologischen Tradition Übereinstimmt. Hinter diesem semantischen Verfahren steht der Gedanke einer Unterscheidung von »Wesen« und »Einkleidung«, von »Schale« und »Kern«, und so wird es auch von Schelling charakterisiert, wobei er in Hinsicht auf die Verwendung dieser Unterscheidung Mythologie und Offenbarung, also das Alte und das Neue Testament, richtigerweise in eine Gruppe zusammenfaßt. Hier gilt, [...] daß man beide (Mythologie und Offenbarung) durch eine ganz gleiche Unterscheidung von Form und Inhalt, von Wesentlichem und bloß zeitgem›ßer Einkleidung zu rationalisieren, d. h. auf einen vern¹nftigen oder den meisten vern¹nftig scheinenden Sinn zur¹ckzubringen suchte. (Philosophie der Mythologie. I. S. 248) Wenn Schelling jetzt, in seiner spÇten Periode, eine solche semantische Korrespondenztheorie ablehnt, so setzt er sich damit gleichzeitig von der Philosophie seiner Jugend ab, wo er gemeint hatte, daß die Ideen Çsthetisch, d. h. mythologisch, gemacht werden mÜßten, um vom Volk verstanden werden zu kÙnnen (vgl. Kap. XVI, 3). So hieß es im Systemfragment: So m¹ssen endlich Aufgekl›rte und Unaufgekl›rte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden, um das Volk vern¹nftig, und die Philosophie muß

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Die SpÇtphilosophie Schellings

mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. (Systemfragment. S. 66 f.) Dies ist zwar dem Geiste nach romantisch in seiner WertschÇtzung der Mythologie, mit der Vorstellung, daß sich Mythologie in Philosophie Übersetzen lÇßt, wird aber doch noch ganz im Sinne des auch in der AufklÇrung weiterhin geltenden Verfahrens der Allegorisierung argumentiert.

2. Mythos – Offenbarung – Vernunft

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In seiner SpÇtphilosophie erkannte Schelling, daß durch ein allegorisierendes Verfahren semantischer Reduktion des Mythos und mythologischer Vorstellungen auf philosophische Begriffe zwei Wirklichkeiten unvermittelt kurzgeschlossen werden, was nur dadurch geschehen kann, daß die eigentliche Wirklichkeit - das heißt: das Wirken und die Wirkung beider - unanalysiert, also verdeckt bleibt. Er wandte sich daher nun diesem spezifischen Wirken von Mythos, Offenbarung und Vernunft zu, in heutiger Terminologie kÙnnten wir sagen: Er entwirft eine historische Pragmatik von Mythos, Offenbarung und Philosophie, um durch diese historische Rekonstruktion der Herkunft von Vernunft eine Selbstaufkl›rung der Vernunft in pragmatischer Absicht zu leisten. Die Vernunft ist aber - in klarer Unterscheidung zu Hegels Auffassung - nicht als das prinzipiell schon vollendete gegenwÇrtige Resultat zu verstehen, sondern als Antizipation einer nur umrißhaft entwerfbaren Zukunft. Die philosophische Religion, wie sie von uns gefordert ist, existiert nicht. Aber sofern sie durch ihre Stellung die Bestimmung hat, die begreifende der vorausgehenden, von Vernunft und Philosophie unabh›ngigen Religionen zu sein, insofern ist sie Zweck des Prozesses von Anfang, also das nicht heut oder morgen, aber doch gewiß zu Verwirklichende und nie Aufzugebende, das so wenig als die Philosophie selbst unmittelbar, sondern auch nur in Folge einer großen und langandauernden Entwicklung erreicht wird. (Philosophie der Mythologie. I. S. 255) Nach Schelling existiert die philosophische Religion deshalb noch nicht, weil einerseits die historische Rekonstruktion der Vernunft noch nicht geleistet, bei der SelbstaufklÇrung der Vernunft also deren geschichtlicher Ort noch nicht genÜgend begriffen worden ist, und weil andererseits das adÇquate Aufzeigen dieses Ortes die Vernunft als an einem Ort des ¾bergangs stehend erweist, die endgÜltige Form der Vernunft also auf die Zukunft verweist. Die Philosophie hat somit die Aufgabe, diesen Prozeß der Geschichte und sich selbst als vorlÇufiges Resultat desselben zu begreifen. Dieses Begreifen wÇre aber nur dann tatsÇchlich mÙglich, wenn das Vorausgehende, also Mythos und Offenbarung, sich geschichtlich endgÜltig ausgewirkt

Mythos – Offenbarung – Vernunft

hÇtte, doch dies kann nach Schelling nur vom Mythos in eindeutiger Weise behauptet werden. Nicht semantische Allegorese, sondern vielmehr pragmatisches Begreifen des Wirkens von Mythos und Offenbarung ist daher erforderlich. Dies bedeutet, daß es nicht darum gehen kann, irgendwelche Gehalte im Mythos als Vorformen philosophischer Inhalte zu begreifen, sondern darum, die Prinzipien des Werdens und der Wirkung des Mythos zu erfassen. Die Hauptfrage in Ansehung der Mythologie ist die Frage nach der Bedeutung. Aber die Bedeutung der Mythologie kann nur die Bedeutung des Prozesses sein, durch den sie entsteht. (Ebd. S. 194) Es geht also um das Begreifen der WirkkrÇfte von Prozessen. Das Grundprinzip der Periode, in welcher der Mythos entsteht, ist das der Natur. Es handelt sich aber in der SpÇtphilosophie Schellings dabei nicht wie in seiner frÜhen Periode um Naturphilosophie im traditionellen und Üblichen Sinne, sondern um »Natur« als Kennzeichnung des Bewußtseins der Menschen einer bestimmten historischen Periode. Die Natur wird also jetzt bei Schelling als eine bestimmte geschichtliche GrÙße eingefÜhrt und dann insbesondere dadurch charakterisiert, daß in ihr das Bewußtsein unfrei, d. h. zwanghaft beherrscht ist von seinen Vorstellungen. Diese Vorstellungen sind zwar vom Bewußtsein selbst produziert, sie erscheinen aber im Bewußtsein so wie die Natur als ein objektiv GegenÜberstehendes. Schelling bezieht sich hier nicht auf das individuelle Bewußtsein als solches, sondern auf das Bewußtsein, das durch das gemeinsame Bewußtsein eines Volkes geprÇgt ist. Die Mythen verschiedener VÙlker mÙgen unterschiedlich sein, den verschiedenen VÙlkern jener frÜhen Periode der Menschheit aber ist gemeinsam, daß ihr Bewußtsein strukturell von den WirkkrÇften des Mythos als Natur geprÇgt ist. Natur bedeutet hier die UnmÙglichkeit bzw. die UnfÇhigkeit, sich durch Reflexion in kritische Distanz zu den Vorstellungen zu setzen, die daher gar nicht als solche, d. h. als Vorstellungen, erkannt werden. Weil die Mythologie nicht ein k¹nstlich, sondern ein nat¹rlich, ja unter der gegebenen Voraussetzung mit Notwendigkeit Entstandenes ist, lassen sich in ihr nicht Inhalt und Form, Stoff und Einkleidung unterscheiden. [...] es ist alles in ihr so zu verstehen wie sie es ausspricht, nicht als ob etwas anderes gedacht, etwas anderes gesagt w›re. Die Mythologie ist nicht allegorisch, sie ist tautegorisch. Die G³tter sind ihr wirklich existierende Wesen, die nicht etwas anderes sind, etwas anderes bedeuten, sondern nur das bedeuten, was sie sind. (Ebd. S. 195 f.) Dies ist eine eindeutige Absage an jede allegorische ErklÇrung. Eine allegorische ErklÇrung unterlegt den Gestalten eine andere (ƒllos = »anderes«) Bedeutung, eine tautegorische (to autÕs = »dasselbe«) ErklÇrung sagt demgegenÜber, daß mit den mytholo-

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gischen Gestalten nicht etwas anderes, sondern genau das und nur das behauptet wird, was von ihnen im Mythos berichtet wird. Erst durch eine solche nicht-interpretierende Darstellung und ErklÇrung der Mythologie zeigt sich diese in ihrer ganzen Fremdheit gegenÜber dem heutigen Bewußtsein. Genau dieses Begreifen der Fremdheit ist aber nach Schelling entscheidend fÜr das Verstehen des mythologischen Prozesses. Daher betont er, daß wir uns von jenem Zustand der Çltesten Menschheit keinen unmittelbaren Begriff machen kÙnnen. Dies ist eine fÜr das VerstÇndnis von Geschichte im allgemeinen ganz wichtige Einsicht: Zu einem adÇquaten VerstÇndnis historisch weit entfernter Perioden (und in vieler Hinsicht ist auch das Mittelalter fÜr uns eine weit entfernte Periode, die, hermeneutisch gesehen, vielleicht sogar noch weiter entfernt ist als die Antike) gehÙrt auch das EingestÇndnis, daß wir ganz zentrale Vorstellungen dieser Menschen letztlich nicht begreifen kÙnnen. Eine Hermeneutik, mit der behauptet wird, sich durch entsprechendes »EinfÜhlen« das VerstÇndnis auch solcher Vorstellungen begreifbar machen zu kÙnnen, gibt sich einer Illusion hin. Dies sei Überspitzt an einem Beispiel erklÇrt (solche Beispiele ziehe ich einfach heran, ohne nachzuprÜfen, ob Schelling sie vielleicht selbst verwendet): Es reicht nicht aus zu sagen, im Mittelalter hÇtten die Menschen an Engel und Teufel geglaubt, und man mÜsse sich eben in diese MentalitÇt »einfÜhlen«. Es wÇre rationalistisch-allegorisierend falsch zu sagen, es handle sich dabei um Personifizierungen des Guten und BÙsen. Richtig ist es hingegen zu sagen, daß es fÜr die Menschen im Mittelalter Engel und Teufel gab, d. h. daß sie tats›chlich existierten, genauso wie BÇume und Steine existierten, und da gelangen wir mit unserem »EinfÜhlen« an eine deutliche Grenze. Solche Fremdheit gilt auch fÜr die Geschichte der Philosophie. Auch dies kann wiederum an einem Beispiel erlÇutert werden: Wir meinen hÇufig - auch Hegel meinte dies, und viele meinen dies auch heute noch -, daß wir es z. B. bei Heraklit mit einem Philosophen zu tun haben, den wir in die Geschichte der Metaphysik und der Dialektik einordnen kÙnnen. Die Frage ist jedoch, ob Heraklit wirklich ein Philosoph in diesem Sinne war und ob er nicht eher ein Sophos war, ein Weiser also, dessen Sprachform vor der begrifflichen Sprache der Philosophie liegt, die noch im oder an der Grenze des Mythos lag, so daß eine Unterscheidung zwischen heraklitischer Bildsprache und begrifflichem Gehalt der Sache Überhaupt nicht entspricht (vgl. 1. Teil, Kap. IV, 4, c). In der Terminologie Schellings ausgedrÜckt: Vielleicht sollten wir aufhÙren, Heraklits SprÜche allegorisch zu interpretieren, sondern sie tautegorisch stehenlassen. Dann aber befinden wir uns an jener Grenze, wo wir uns mit Schelling »keinen unmittelbaren Begriff machen kÙnnen«. Also [...] befindet sich die ›lteste Menschheit allerdings in einem Zustand von Unfreiheit, von dem wir unter dem Gesetz einer ganz anderen Zeit Lebenden uns keinen unmittelbaren Begriff machen k³nnen, mit einer Art von stupor geschlagen (stupefacta quasi et attonita) und von einer fremden Gewalt ergriffen, außer sich, d. h. aus ihrer eigenen Gewalt, gesetzt. (Philosophie der Mythologie. I. S. 192 f.)

Mythos – Offenbarung – Vernunft

Was wir jedoch nach Schelling begreifen kÙnnen, ist die Bedeutung des gesamten Prozesses, innerhalb dessen dieser bestimmte Zustand des Bewußtseins steht. Das Ergriffensein des mythologischen Bewußtseins bedeutete die UnmÙglichkeit, das VerhÇltnis von Vorstellendem und Vorgestelltem zu reflektieren. Die Unfreiheit bestand in der UnmÙglichkeit, sich selbstbestimmend zu diesem VerhÇltnis zu verhalten, d. h. es gab keine MÙglichkeit, sich fÜr oder gegen das im Mythos Vorgestellte zu entscheiden. Dort aber, wo die Vorstellung gar nicht als solche reflektiert werden kann, darf man nicht von Vorstellung sprechen; man sagt hier besser, daß »der mythologische Prozeß nicht etwas bloß Vorgestelltes [ist], sondern etwas, das sich wirklich ereignet« (Ebd. S. 247). Es ist der natÜrliche Prozeß der natÜrlich sich erzeugenden Religion, es ist Theogonie - Gottwerden - im eigentlichen Sinne dieses Wortes. Der mythologische Prozeß drÇngt jedoch gerade durch die sich immer stÇrker ausbildende ObjektivitÇt seiner GegenstÇnde auf eine Krise hin, in der das Subjekt als solches hervortritt und in seiner Stellung zu dieser ObjektivitÇt sich selbst herausbilden muß. Das Subjekt ist also selbst ein Produkt der Geschichte, etwas, das entstanden ist, nicht etwas, das es immer schon gegeben hat, das nur als solches frÜher noch nicht begriffen wurde. Die historische Grenze, an der dieses Subjekt sich herausbildet, ist nach Schelling in den Mysterienreligionen des Hellenismus erreicht, wo bereits eine bewußte Identifikation mit dem religiÙsen Gehalt ins Blickfeld tritt, weshalb das, was wir die »Offenbarung« nennen, auch genau dort entstehen konnte: Geoffenbart wird etwas jemandem, also einem, dem als Subjekt etwas anderes gegenÜbertritt. Innerhalb der Mythologie gibt es diesen Gegensatz noch nicht, er bedeutet genau die nÇchste Stufe, die Über die Mythologie hinausfÜhrt. Wohl aber fordert der mythologische Prozeß in seiner hÙchsten Ausbildung den Gegensatz von Mythologie und Offenbarung bereits heraus. Die Mythologie provoziert also am Ende ihr eigenes Ende. So sagt Schelling: Kein wahrer Aufgang ist ohne Folge und Fortgang, die nat¹rliche Religion zieht von selbst, und schon des Gegensatzes wegen die geoffenbarte nach sich. (Ebd. S. 246) Das entscheidend Neue innerhalb der geoffenbarten Religion ist jedoch nicht der Inhalt, sondern vielmehr die neue Bedeutung, die durch ein neues Verh›ltnis von Mensch und religiÙser Vorstellung entsteht. Wiederum: Mythologie und Offenbarung unterscheiden sich nicht durch eine verschiedene Semantik, sondern durch eine verschiedene Pragmatik. Nach Schelling hat daher die Offenbarung ihre materiellen Voraussetzungen sehr wohl in der Mythologie. Den Stoff, in dem sie sich auswirkt, schafft sie sich nicht, sie findet ihn unabh›ngig von sich vor. Ihre formelle Bedeutung ist, •berwindung der bloß nat¹rlichen, unfreien Religion zu sein; aber eben darum hat sie diese in sich, wie das Aufhebende das Aufgehobene in sich hat. (Ebd. S. 248)

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In unserem heutigen Begriffsrahmen kann man diese Rekonstruktion Schellings wie folgt ausdrÜcken: Die Entmythologisierung, die das Christentum mit sich brachte, betraf die Form, nicht den Gehalt. Die Offenbarung brachte also keine anderen, neuen Inhalte, sondern sie setzte den Menschen, der dadurch erst zum Subjekt wurde, in ein neues VerhÇltnis zum GÙttlichen, wobei letzteres ihm durchaus weiterhin in Vorstellungen gegeben ist, die aus dem Mythos stammen. Darin ist fÜr Schelling auch der Begriff von »Über-natÜrlich« expliziert (Ebd. S. 246): Gegen das natÜrliche, und das heißt: unfreie VerhÇltnis wird nun ein freies VerhÇltnis gesetzt, der Mensch ist also Über die Natur im vorher besprochenen Sinne hinaus. Diese Auffassung des ¾bernatÜrlichen verlÙre aber jeden Sinn, wenn es nicht bei formeller Verschiedenheit die materiale IdentitÇt mit dem NatÜrlichen, dem Mythologischen, in sich enthielte. Da der Gehalt der Offenbarung weiterhin ein mythologischer bleibt, gilt auch hier, daß eine allegorisierend-philosophische Interpretation nach Schelling nicht mÙglich ist und entsprechende Versuche, zu denen eben auch die hegelschen gehÙren, daher zum Scheitern verurteilt sein mÜssen. Die Periode der Offenbarung ist also jene, die durch die freie Annahme absoluter gÙttlicher AutoritÇt gekennzeichnet ist. Dies setzt freie SubjektivitÇt voraus, und in genau diesem formellen Sinne wird das Christentum zu Recht als Befreiung von der blinden Macht des Heidentums verstanden (Ebd. S. 247). Es handelt sich aber beim Christentum, also bei der auf Offenbarung beruhenden Religion, genauso wie bei dem auf Natur beruhenden Mythos um eine »von der Vernunft unabhÇngige Religion« (Ebd.). Doch auch wenn nun im Christentum das Subjekt gegenÜber der Offenbarung frei ist, tritt diese ihm noch immer als ›ußere Macht entgegen, und aus diesem Grunde kann das Christentum in seiner FormalitÇt, d. h. in seiner pragmatischen Struktur, nicht die letzte Stufe sein. So wie die Mythologie die Offenbarung provozierte und vermittelte, so wird nun die Offenbarung die philosophische Religion vermitteln. [...] die letzte und h³chste Offenbarung also, indem sie die ungeistige Religion innerlich ¹berwindet, das Bewußtsein gegen sie in Freiheit setzt, vermittelt auf diese Art selbst die freie Religion, die Religion des Geistes, die, weil es ihre Natur ist nur mit Freiheit gesucht und mit Freiheit gefunden zu werden, nur als philosophische sich vollkommen verwirklichen kann. (Ebd. S. 255) Das Bewußtsein muß daher von der Offenbarung frei gesetzt werden, um zur letzten Form, also zur freien, philosophischen Religion fortzuschreiten (Ebd. S. 258). Entsprechend dem ¾bergang von der Mythologie zur Offenbarung kann nach Schelling auch der ¾bergang von der Offenbarung zur philosophischen Religion nur in einer neuen Pragmatik, d. h. in einer neuen FormalitÇt des VerhÇltnisses von Subjekt und Vorgestelltem, bestehen. Genau hier liegt jedoch die geschichtliche Problematik seiner Zeit, die Schelling scharf in den Blick bekam.

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Durch einen unaufhaltsamen Fortschritt, zu dem das Christentum selbst mitwirkte, mußte das Bewußtsein, nachdem von der Kirche, auch von der Offenbarung selbst unabh›ngig werden, aus der unfreien Erkenntnis, in der es auch gegen diese sich noch befand, in den Stand des gegen sie vollkommen freien, zun›chst nun freilich erkenntnislosen Denkens versetzt werden. (Ebd. S. 260) Was heißt hier »erkenntnislos«? Die Philosophie der Neuzeit konzentrierte sich seit Descartes auf die formelle Freiheit des Denkens und die Absetzung von jeder Heteronomie. In diesem Sinne ist sie ihrer Aufgabe - ihre formale Autonomie zu erlangen - gerecht geworden, aber sie ist nun in den Stand des erkenntnis- und inhaltslosen Denkens versetzt worden (womit Schelling auch seine eigene frÜhe Philosophie, eine in diesem Sinne »negative« Philosophie, kennzeichnet). Bei einer solchen inhaltslosen Freiheit kann es nicht sein Bewenden haben, da die Philosophie sonst in eine abstrakte Einseitigkeit verfiele und sich auch sich selbst gegenÜber unaufgeklÇrt verhielte. Denn die formelle Freiheit, zu der die Philosophie gelangt ist, ist eine aus einem geschichtlichen Prozeß hervorgegangene, einem Prozeß, in dem sich die Freiheit jeweils gegenÜber einer bestimmten MaterialitÇt durchsetzen mußte, nicht um diese MaterialitÇt zu kritisieren oder zu negieren, sondern um sich langsam und schrittweise von dem notwendigen und somit autoritativen VerhÇltnis dieser gegenÜber zu befreien. Befreiung von als autoritativ vorgegebenen Inhalten bedeutet also nur die Befreiung von dem autoritativen Charakter des Vorgegeben-Seins, nicht eine AblÙsung von den Inhalten selbst. FÜr Schelling besteht die Aufgabe nun darin, den Schritt von der inhaltslosen Freiheit zur philosophischen Religion zu tun. Wenden wir den schon ausgesprochenen Grundsatz auch auf sie an, kann wirkliche Religion von wirklicher wesentlich und dem Inhalte nach nicht verschieden sein, so k³nnte die philosophische wirkliche Religion nur sein, wenn sie die Faktoren der wirklichen Religion, wie sie in der nat¹rlichen und geoffenbarten Religion sind, nicht weniger als diese in sich h›tte: nur in der Art, wie sie dieselben enthielte, k³nnte ihr Unterschied von jener liegen, und dieser Unterschied w¹rde ferner kein anderer sein k³nnen, als daß die Prinzipien, welche in jener als unbegriffene wirken, in ihr als begriffene und verstandene w›ren. (Ebd. S. 250) Philosophische Religion wÇre also doppelt vermittelt: durch Mythologie und Offenbarung. Die philosophische Religion wÇre als freie dadurch gekennzeichnet, daß in ihr das, was in Mythologie und Offenbarung als wirklich behauptet wird, in seiner Konstruierbarkeit begriffen wird. Verstehen der Konstruierbarkeit bedeutet aber, die Bedingungen der MÙglichkeit dieser Gehalte zu begreifen. Damit ist keine Konstruktion im Sinne der hegelschen Logik gemeint, sondern ein Auffinden der inneren Strukturen des geschichtlich in Mythologie und Offenbarung Vorgegebenen. Eine

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AblÙsung vom historisch Vorgegebenen gibt es jetzt fÜr Schelling nicht mehr. Dies bedeutet auch, daß er keine Vernunftreligion im Sinne der AufklÇrung anerkennt. Daher es innerhalb der Vernunftwissenschaft keine Religion, also ¹berhaupt keine Vernunftreligion gibt. [...] Daß man von Gott nichts wisse, ist das Resultat des echten, jedes sich selbst verstehenden Rationalismus. Mit dem •bertritt in die positive Philosophie kommen wir erst in das Gebiet der Religion und der Religionen, und k³nnen auch jetzt erst erwarten, daß uns die philosophische Religion entsteht, um welche es bei dieser ganzen Darstellung zu tun ist, d. h. die Religion, welche die wirkliche[n] Religionen, die mythologische und die geoffenbarte, reell zu begreifen hat [...]. (Ebd. 568 f.)

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Bei seinen umfangreichen Untersuchungen zur positiven Religion im 2. Band seiner Philosophie der Mythologie kommt Schelling zu Ergebnissen, die ein Licht auf die gesamte Philosophie des Deutschen Idealismus werfen kÙnnen. Hegel hatte Christus als Mittelpunkt der gesamten historischen Entwicklung gesehen. Schelling greift viel weiter aus und fragt nach der Herkunft der Formel vom »Ein und Alles«, die im frÜhen wie im spÇteren Deutschen Idealismus eine ganz zentrale Rolle gespielt hatte. Einen wichtigen Ursprung findet er in den vedischen Texten. Diese Texte wurden dem Westen zur Zeit Schellings erstmals zugÇnglich, vor allem durch die Arbeiten des Überragenden franzÙsischen Orientalisten Eugne Burnouf (1801– 1852), dessen Schriften Schelling kannte und ausgiebig verwendete. Burnouf hatte 1826 den Essai sur le Pali und 1845 die Introduction à l’histoire du Bouddhisme verÙffentlicht. Die zweite wichtige Quelle fÜr Schelling waren die Schriften des englischen Orientalisten Henry Thomas Colebrook (1765–1837), der in zahlreichen Essays Über andere Kultur- und Rechtsbereiche auch den indischen philosophischen Systemen große Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Es ist wohl nicht Übertrieben zu sagen, daß Schelling sich in den Texten, die er bei diesen Orientalisten antraf, mit seinen eigenen Gedanken wiederfand. Er erkannte aus dem Studium dieser Arbeiten, worauf die mystische Lehre der Vedas abzielt. Ihre h³chste Absicht ist, Unifikation des menschlichen Wesens mit Gott. (Philosophie der Mythologie. II. S. 478) Diese Vereinigung aber ist eine Wiedervereinigung mit dem GÙttlichen, die eine vorangegangene Entzweiung voraussetzt. Die Vereinigung mit dem GÙttlichen, also die Wiederherstellung des »Ein und Alles«, wird in der Mystik gesucht (Ebd. S. 479), so daß es nicht verwunderlich ist, daß die diesbezÜglichen Texte kein wirkliches theoretisches System liefern. Es l›uft meist bloß auf die Versicherung hinaus, daß alles Eins, und zwar im Brama Eins sei [...]. Eine positive Erkl›rung der h³chsten Einheit findet sich nirgends, wohl

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aber jene negative, die sich unter der Form einer gleichen Negation oder einer gleichen Position entgegengesetzte Bestimmungen ausspricht, z. B. heißt es: Gott ist außer allem Ort und Gott ist nicht außer allem Ort; Gott ist groß und er ist nicht groß; er umgibt und er umgibt nicht; er ist Licht und er ist nicht Licht; er ist und ist auch nicht der L³we, der alles verzehrt (wahrscheinlich bezieht sich dies auf die allgemeine Resorption oder Zur¹cknahme der Dinge in Gott). (Ebd. S. 480. Die Erkl›rung in der Klammer im Text stammt von Schelling.) Ein besser ausgestaltetes System findet Schelling in der Lehre der Yogas vor: Was in den theosophischen Teilen der Vedas schon als das h³chste Ziel vorgestellt wurde, Unification des menschlichen Wesens mit Gott, ist also auch, nur mannigfaltiger ausgebildet und dargestellt, der letzte Inhalt der Yogalehre, wie sie in der Bhagwadgita vorgetragen ist. (Ebd. S. 490) Schelling fragt sich, was wohl das beste deutsche Wort fÜr diese Unifikation sei, und er findet tatsÇchlich das beste ’quivalent dafÜr, wobei er dabei nur auf einen der AusdrÜcke zurÜckzugreifen braucht, den wir aus der Sprache der Mystiker des 14. Jhd.s kennen und der bei den Pietisten ebenso beliebt war wie bei Wackenroder, Tieck, Novalis und HÙlderlin: die »Innigkeit«: Ein bekannter Philosoph [welcher?], der sich auch mit der Bhagwadgita abgegeben, hat es Andacht ¹bersetzen wollen. Aber ein Denk-And›chtiger k›me mir fast vor, wie ein Denk-Gl›ubiger. Humboldt ¹bersetzt das Wort durch Vertiefung. Mich wundert, daß niemand auf das deutsche Innigkeit gefallen ist, das zugleich den Begriff der Innheit, des in-sich, in seiner Tiefe - nicht in der Peripherie, in der Welt der getrennten Eigenschaften Sein, und zugleich den Begriff der Einheit und der Einigkeit in sich schließt. Ferner l›ßt sich auch das Wort Innigkeit mit allen jenen Bestimmungen verbinden, die es im Indischen erh›lt: es gibt eine Tat-Innigkeit, Innigkeit, die auch im Handeln besteht, durch die allein der Widerspruch aufzul³sen ist, in den der Mensch durch die Notwendigkeit ¹berhaupt zu handeln versetzt ist. Denn wer handelt, tritt damit aus sich selbst heraus und verl›ßt die Ruhe, in der allein die Gottgleichheit besteht. [...] Der Mensch befreit sich von diesem Widerspruch, wenn er zwar handelt, aber als ob er nicht handelte, n›mlich ohne seiner Handlung sich anzunehmen, und mit der vollkommenen Ruhe ¹ber den Erfolg. Dann vereinigt er beide Systeme, das, was dem t›tigen und handelnden Leben allein Wert zugesteht, und das andere, welches den wahren Wert des Lebens in die reine Erkenntnis setzt und das beschauliche Leben ¹ber das t›tige erhebt. (Ebd. S. 488 f.) So hat Schelling die schon im frÜhen Deutschen Idealismus gesuchte Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie (vgl. Kap. XVI, 1) gefunden, und wir

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hÙren aus berufenem Munde, welcher Art die Philosophie des Deutschen Idealismus ist: Es ist keine Denk-Andacht, wohl aber eine Denk-Innigkeit. Zur Sicherheit lassen wir uns »Innigkeit« noch von Heidegger interpretieren: Das Heilige ist in seinem Ursprung das »veste Gesetz«, jene »strenge Mittelbarkeit«, in die alle Bez¹ge alles Wirklichen vermittelt sind. Alles ist nur, weil es in die Allgegenwart des Unversehrlichen gesammelt, in diesem inne ist: Alles ist innig. [...] Alles ist nur, indem es aus der Innerlichkeit des Allgegenw›rtigen hervorscheint. Das Heilige ist die Innigkeit selbst, ist »das Herz«. (Heidegger: Erl›uterungen zu H³lderlins Dichtung. In: Ders.: Gesamtausgabe Bd. 4. Frankfurt 1981. S. 73)

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Auch das »Herz«, von dem Heidegger spricht, hat seine Vorgeschichte, bei der wir in der Philosophie der Neuzeit auf Tauler und Seuse, aber auch auf Feuerbach verweisen kÙnnen (vgl. Kap. XIX, 3), und nicht zu vergessen ist dabei die Bedeutung die die Erkenntnis des »Herzens« fÜr Pascal gehabt hat, von der er im Zusammenhang des Esprit de finesse spricht (vgl. Kap. VI, 2). Wer dann allerdings meint, daß er anstelle der Schriften der Deutschen Idealisten oder Heideggers doch lieber gleich das Bhagavadgita, Eckharts Predigten oder dessen Buch der gÙttlichen TrÙstung lesen kÙnnte, der ist auch nicht schlecht beraten. Pascal gehÙrt aber nicht in diese Gruppe. Es ist im vorliegenden Zusammenhang weder mÙglich, noch erforderlich, die schellingsche Konstruktion der Entwicklung des mythologischen Bewußtseins weiter zu verfolgen. Auch brauchen wir nicht der Frage nachzugehen, wie Schelling im einzelnen das VerhÇltnis der vedischen Philosophie und der Lehre des Buddhismus bestimmt (vgl. Philosophie der Mythologie. II. S. 488–510). Was uns hier interessiert ist eine allgemeinere Frage. Wir waren bei Hegel bei der Feststellung Baurs stehengeblieben, daß es sich bei der Philosophie Hegels um eine Form der Gnosis handelt (vgl. Kap. XVII, 4), und Hegel selbst hatte auf die KirchenvÇter als jene verwiesen, die seine Art der Philosophie schon vertreten hatten. Der spekulative BegrÜnder dieser Art der Philosophie aber ist Klemens von Alexandrien, und Schelling weist uns ausdrÜcklich auf die bekannte Tatsache hin, daß Klemens von Alexandrien indische Lehren kannte, die aller Wahrscheinlichkeit nach buddhistischer Herkunft sind (Philosophie der Mythologie. II. S. 512). Bei Plotin liegt ein Çhnlicher Fall vor (vgl. 1.Teil, Kap. XVII, 1, c). Wie bekannt, ist das VerhÇltnis der Gnosis zu fernÙstlicher Philosophie umstritten. Dennoch gibt es gute GrÜnde fÜr die Annahme, daß hier Beziehungen vorliegen. Die Frage kann sogar noch weiter zurÜckverfolgt werden bis zu Pythagoras (vgl. 1. Teil, Kap. III, 1 und 2), wodurch dann auch der entscheidend pythagoreisch denkende Platon in diese Herkunftslinie einzuordnen wÇre. Wir mÜssen also damit rechnen, daß es in der europÇischen Philosophie eine fernÙstliche, vor allem buddhistisch geprÇgte UnterstrÙmung gibt, die im Prinzip eine Theorie der Einheit

Die Kritik der historischen Vernunft: Schelling und Comte

ist, die alle Unterschiede als letztlich nicht existierend betrachtet. Das Ziel dieser Lehre wird hÇufig in einem Jenseits aller Lehre, einer Mystik, gesucht. FÜr diese Theorie ist es auch charkteristisch, daß sie eine Trennung von Religion und Philosophie nicht kennt. Wir kommen bei all dem immer wieder auf eine Gruppe von Philosophen, die fÜr diese Art des Denkens besonders relevant ist: Außer den eben schon genannten sind dies u. a. Scotus Eriugena, Eckhart, Nikolaus von Kues, Spinoza - und dann eben Schelling und Hegel. Wir sollten uns auch daran erinnern, daß die entscheidende Rolle in der hegelschen Umkehr des Bewußtseins der Skeptizismus spielte (3. Teil, Kap. XVII, 3), und genau bei der pyrrhonischen Skepsis war wiederum schon in der antiken Philosophie die Frage fernÙstlichen Einflusses aufgetreten (vgl. 1. Teil, Kap. XIV). Schopenhauer wird sich dann ausdrÜcklich auf die fernÙstliche Philosophie berufen (vgl. 3. Teil, Kap. XXII). Er wendet sich zwar gegen die gesamte Philosophie des Deutschen Idealismus, man kann sich aber fragen, warum er dies tut. Tut er es nicht vielleicht einfach deshalb, weil er bei den Deutschen Idealisten die Konsequenz vermißt, welche diese Herkunft in Hinsicht auf die Nicht-IdentitÇt des Subjekts eigentlich fordert? Wenn wir die gewaltsamen Anstrengungen sehen, die Hegel unternehmen mußte, um das Eine als Subjekt denken zu kÙnnen, so legt sich diese Vermutung tatsÇchlich nahe. 421

3. Die Kritik der historischen Vernunft: Schelling und Comte Dem absoluten System und der absoluten Vernunft wird bei Schelling der Abschied gegeben. Die Vernunft wird als Produkt einer Entwicklung gesehen, deren Ziel noch nicht erreicht ist, und selbst dieses Ziel kann nicht wirklich angegeben werden, sondern lÇßt sich nur in allgemeinen, formalen Umrissen erahnen. Die Philosophie des spÇten Schelling hat ein offenes Ende. Der spÇte Schelling reflektiert als einziger der Deutschen Idealisten wirklich die historische Dimension der Vernunft. Es ist einfach nicht so, daß in der Philosophie, und damit in der realen Geschichte selbst, in ihren geschichtlichen Perioden bloß ein anderer Gebrauch der Vernunft gemacht wird, sondern es ist eine andere Vernunft, die in diesen Perioden am Werk ist. Wahre AufklÇrung und damit auch wahre Philosophie wird nur dort erreicht, wo die Vernunft ihr geschichtliches Vermittelt-Sein historisch rekonstruktiv einholt. Das Problematische an Schellings Konstruktion besteht dann allerdings darin, daß er diese historische Dimension nur in Beziehung zu den historischen Perioden der Mythologie und der Offenbarung bestimmt, nicht aber in Beziehung zur modernen Wissenschaft, die ja sicher eine ganz entscheidende Periode in der Geschichte der Vernunft darstellt. Was Schelling am Problem Mythos-Offenbarung-Vernunft reflektiert, ist jedoch nicht einfach nur ein Problem der Religionsphilosophie, sondern vielmehr eines der Geschichtserkenntnis und der Erkenntnistheorie Überhaupt. Dies gilt, obwohl die BeschrÇnkung Schellings auf die Gebiete von Religion und Offenbarung als

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Mangel angesehen werden kann und muß. Gerade das bei Schelling in seiner frÜhen Periode so ausgeprÇgte Interesse an der Naturphilosophie hÇtte ihn eigentlich dazu fÜhren kÙnnen, nicht nur die Perioden des Mythos und der Offenbarungsreligion, sondern auch die Periode der neuzeitlichen Wissenschaft in Hinsicht auf ihr besonderes VerstÇndnis von Vernunft zu reflektieren. Kants Philosophie, in der die historische Position der Philosophie in Bezug auf die Wissenschaft der Neuzeit genau und konsequent reflektiert wird, hÇtte dazu eigentlich Anlaß geben mÜssen. Trotz dieser EinschrÇnkungen bleiben Grundeinsichten aus der SpÇtphilosophie Schellings wichtig. ZunÇchst einmal sieht Schelling ganz deutlich, daß es allgemeine Bedingungen der Erkenntnis, insbesondere bezÜglich deren Form, gibt, die (1.) historisch und somit nicht unver›nderlich sind und die (2.) sich der reflektierenden Erkenntnis, also der transzendentalen Reflexion, in einer bestimmten Periode prinzipiell entziehen. Beides stellt die beste und sachlich einzig weiterfÜhrende Kritik der kantischen Transzendentalphilosophie dar, da durch sie die Vernunft noch einmal auf ihre - nun historischen - Bedingungen der MÙglichkeiten hin analysiert wird oder jedenfalls hÇtte analysiert werden kÙnnen. Man kÙnnte also auch sagen, es handele sich um eine »Kritik der historischen Vernunft«. Es gilt also: Erst dann, wenn uns diese Bedingungen des Erkennens und Vorstellens fremd geworden sind, d. h. genau dann, wenn sie nicht mehr die aktuellen Bedingungen unseres Erkennens und Vorstellens sind, kÙnnen wir sie reflektierend begreifen. Dies bedeutet aber zugleich, daß wir - nun nicht nur im Gegensatz zur Auffassung Kants, sondern auch zu der Hegels - die Bedingungen unseres gegenwÇrtigen Erkennens nicht adÇquat erfassen kÙnnen, wiederum genau deshalb, weil sie uns noch nicht fremd geworden sind. FÜr unsere Erkenntnis vergangener Perioden stellt dies nach Schelling eine wichtige Einsicht dar: Wir kÙnnen diese Bedingungen erst dann wirklich begreifen, wenn sie uns fremd geworden sind, d. h. wenn uns ihr gesamter pragmatischer Lebenszusammenhang nur noch im Begriff, jedoch nicht mehr als Lebenswirklichkeit verfÜgbar ist. Die Form des Erkennens ist dann eine andere geworden. Wir kÙnnen uns dies auch ohne Bezugnahme auf Schelling klar machen. So konnte zum Beispiel die griechische Kunst und Literatur, vor allem die des 5. Jhd.s v. Chr. (vgl. 1. Teil, Kap. V, Vorbemerkungen), fÜr spÇtere Perioden genau dann zur »Klassik« werden, als sie nicht mehr das war, was sie fÜr die Menschen jener Zeit war. Eine Periode, die sich selbst als »klassisch«, d. h. maßstabgebend, ansehen wÜrde, wÇre eine AbsurditÇt. Mozart hÇtte bei aller gar nicht bescheidenen SelbsteinschÇtzung fÜr die Vorstellung, ein »Klassiker« der »Wiener Klassik« zu sein, nur ein Opern-GelÇchter in A-Dur zur VerfÜgung gehabt. Erst der Verlust der SelbstverstÇndlichkeiten einer Periode ermÙglicht uns das VerstÇndnis der letzten und unausgesprochenen Voraussetzungen dieser Periode. Das Wissen, daß etwas endgÜltig vorbei und verloren ist, gibt uns die MÙglichkeit, in ein wirklich begreifendes VerhÇltnis zu diesem Vergangenen in seinen allgemeinen, formalen Grundlagen zu treten. Erst seit uns die Welt nicht mehr auf Gott hin transparent ist und keine Kunst uns das mehr suggerieren kann, verstehen wir die for-

Die Kritik der historischen Vernunft: Schelling und Comte

male Bedeutung der mittelalterlichen Glasmalerei in den gotischen Kathedralen, die zu jener Zeit eine selbstverstÇndliche Handwerksarbeit in jeder Kirche war, die Über genÜgend Geld dafÜr verfÜgte, und bei der die Handwerker keinerlei lichtmetaphysischen Gedanken nachgingen. - Schelling will die Bedeutung des Historischen in keiner Weise vermindern, ganz im Gegenteil: Das Vergangene hat f¹r uns erst dann seine wirkliche Bedeutung erlangt, wenn es als Vergangenes begriffen ist, d. h. wenn wir erfassen, daß wir seinen Gehalt besitzen kÙnnen, ohne die Form, in der es ursprÜnglich entstanden ist, wiederholen zu kÙnnen. (Dies gilt sogar fÜr den winzigen Abschnitt der Geschichte, den ein menschliches Leben einnimmt: Der »Sinn« - oder »Unsinn« - dieses Lebens wird umso besser erkannt, je mehr dieses Leben vergangen ist.) Erst mit dem gewachsenen historischen Bewußtsein entwickelten sich im 18. Jhd. im großen Stile die Museen, in denen jedoch alle GegenstÇnde ihrem ursprÜnglichen pragmatischen Kontext entfremdet sind. Die SpÇtphilosophie Schellings ist jeder restaurativen Romantik, der sie manchmal zugerechnet wird, entgegengesetzt. Was sie jedoch mit der Romantik und vor allem auch mit der AufklÇrung verbindet, ist die Vorstellung von der Geschichte als Entwicklung oder als Prozeß, dessen prinzipielles Resultat wir, wenn schon nicht wissen, so doch wenigstens ahnen kÙnnen. Schelling glaubte eben noch an einen »unaufhaltsamen Fortschritt« (Philosophie der Mythologie. I. S. 260). Genau dies war eine der historischen Bedingungen der Vernunft seiner Zeit, die dieser Periode so selbstverstÇndlich waren, daß sie nicht nochmals reflektiert werden konnten. Erst die spÇtere Skepsis gegenÜber diesem Begriff weist diesen als eine formale Bedingung des Denkens auf, die sich der kritischen Reflexion der Periode entzog. In der zweiten HÇlfte des 19. Jhd.s war die Vorstellung eines unaufhaltsamen Fortschritts noch nicht zur Vergangenheit geworden. Auch Marx und in einem ganz anderen Kontext Peirce hielten an der Vorstellung eines unaufhaltsamen Fortschritts fest. Wir nÇhern unser aber auch schon der Grenze, an der die SelbstverstÇndlichkeit dieser Vorstellung ihre Wirkung verliert. Erste Zweifel an der GÜltigkeit dieser Vorstellung traten aber auch schon im 19. Jhd. auf, wenn auch unter so ganz verschiedenen Formen wie der des Weges in die Ungeschichtlichkeit bei Kierkegaard und der des Gedankens einer Wiederkehr des Gleichen bei Nietzsche. Wie ungebrochen die Vorstellung des Fortschritts in der ersten HÇlfte des 19. Jhd.s war, lÇßt sich bei Auguste Comte (1798–1857), einem Zeitgenossen Schellings, sehen. In Frankreich hatte sich die Philosophie der franzÙsischen AufklÇrung durchgesetzt. Comte baute auf den Thesen Condorcets auf (vgl. Kap. XIII, 1, c) und entwickelte dann sein berÜhmtes Dreistadiengesetz, das er schon um 1822, also 30 Jahre vor den historischen Reflexionen Schellings, formulierte. Mit diesem Gesetz wird folgendes behauptet: Es gibt ein Kindheitsstadium der Menschheit, das von mythologisch/theologischen Vorstellungen geprÇgt ist, die im Sinne Comtes einen rein fiktiven Charakter haben. Auf dieses erste Stadium folgte jenes der Metaphysik, das von abstrakteren Vorstellungen bestimmt ist. Dieses Stadium stellt nur einen

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Die SpÇtphilosophie Schellings

¾bergang dar (vgl. die PubertÇt als ¾bergang nach der Kindheit). Schließlich kommt die Menschheit beim philosophisch/wissenschaftlich positiven Stadium an (vgl. die Rede Über den Geist des Positivismus I, 1. S. 4–41), das dem Stadium des reifen, erwachsenen Menschen entspricht. Diesen drei Stadien des Denkens entsprechen gesellschaftliche Strukturen: In der ersten Periode Überwiegen die militÇrischen Strukturen, in der zweiten die juridischen und in der dritten die wissenschaftlich-industriellen. Der Ablauf der drei Stadien ist nach Comte so bestimmt, daß die frÜheren Stadien gegenÜber dem letzten keine wirklich eigene Bedeutung haben. Obgleich zun›chst in jeder Hinsicht unentbehrlich, muß das erste Stadium hinfort stets als bloß provisorisch und vorbereitend aufgefaßt werden; dem zweiten, das tats›chlich nur eine aufl³sende Abart des ersten darstellt, kommt stets nur eine vor¹bergehende Bestimmung zu, um schrittweise zum dritten hinzuf¹hren; in dem, als dem allein vollst›ndig normalen (normgem›ßen) in jeder Beziehung die endg¹ltige Herrschaft der menschlichen Vernunft besteht. (Ebd. S. 5).

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Es braucht wohl nicht hervorgehoben zu werden, daß nicht Schellings, sondern Comtes Geschichtsauffassung im 19. und 20. Jhd. dominierte. Die Auffassung Schellings war kaum bekannt. Bis heute gilt fÜr viele Menschen, und zwar auch fÜr solche, die nie etwas von Comte gehÙrt haben, dieses Dreistadiengesetz ungebrochen. Man kann von Schelling her die Sache allerdings auch ganz anders sehen: Die Auffassung Comtes wÜrde dann zur Mythologie der Neuzeit, oder jedenfalls der spÇten Neuzeit, die sich gleichsam naturhaft aufdrÇngte und zu der die Menschen daher auch keine selbstbewußte und kritische Distanz gewinnen konnten. Aber auch unabhÇngig von der Geschichtsauffassung Schellings gibt es in unserer Gegenwart genÜgend GrÜnde fÜr Zweifel an der Geltung dieses Dreistadiengesetzes. Comte sah das erste Stadium als rein vorÜbergehend und das dritte als normal an. Damit kann man aber in keiner Weise erklÇren, warum im positiven, normalen Stadium, die von diesem aus gesehen irrationalen KrÇfte des ersten Stadiums weiterhin vorhanden und wirksam sind und man sogar den Eindruck gewinnen kann, daß mit dem Sich-Durchsetzen des positiven Geistes proportional auch das BedÜrfnis nach magischen und mythologischen Gehalten wÇchst. Die verschiedenen weltweit wirksamen Esoterik-Bewegungen der letzten Jahrzehnte des 20. und des beginnenden 21. Jhd.s stellen sicher keine BestÇtigung des Dreistadiengesetzes dar. Mit Schellings Konzeption tut man sich da leichter: Die philosophische Religion und somit die Vernunft existiert historisch noch gar nicht, wir sind weiterhin irgendwo an der Grenze von Offenbarung und philosophischer Religion, und wir haben die Mythologie vielleicht zeitweilig verdrÇngt, aber noch keineswegs ein freies VerhÇltnis zu ihr gewonnen.

- XIX -

Ludwig Feuerbach

1. Sinnlichkeit, Natur Bei ganz verschiedenem Resultat sind Feuerbach und Kierkegaard doch echte Zeitgenossen und echte ReprÇsentanten des BÜrgertums vor 1848. Dieses BÜrgertum hatte in seiner Lebenspraxis die traditionelle Theologie und Metaphysik bereits hinter sich gelassen. Wenn daher Ludwig Feuerbach (1804–1872) als sein zentrales Anliegen die Religionskritik ansieht, so will er damit nicht ein bestimmtes Bewußtsein hervorrufen, sondern diesem schon bestehenden Bewußtsein eine neue Dimension verleihen, die gleichzeitig das bisherige bestÇtigt und kritisiert. Daß das reale aufgeklÇrte Bewußtsein jedoch nicht auch schon die bestehenden institutionellen HerrschaftsverhÇltnisse bestimmte, mußte Feuerbach gleich zu Beginn seiner Laufbahn erleben: Als er 1830 anonym, aber bald als Autor bekannt, die seine Grundthesen bereits beinhaltende Schrift Gedanken Über Tod und Unsterblichkeit (I. S. 77–349) verÙffentlichte, hatte er sich damit definitiv eine Laufbahn an der UniversitÇt unmÙglich gemacht. Es ging ihm dabei ganz Çhnlich wie einige Jahre spÇter David Friedrich Strauß (1808–1874), dem Autor des Leben Jesu, das 1835 erschien. Feuerbach gehÙrt wie Schelling und Hegel in die große Gruppe der Philosophen des 19. Jhd.s, die von der protestantischen Theologie herkamen. Daß er diese in Heidelberg und nicht in TÜbingen studiert hatte, ist dabei sekundÇr. Dann aber ging er zum Studium der Philosophie nach Berlin, um Hegel zu hÙren. In Berlin promovierte er auch. Feuerbachs Ausgangspunkt war der konkrete, lebendige und sinnliche Mensch, der Mensch als Naturwesen. In seinen GrundsÇtzen der Philosophie der Zukunft aus dem Jahre 1843 sagt Feuerbach deutlich, wo die Philosophie ansetzen muß: Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschluß der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen und h³chsten Gegenstand der Philosophie - die Anthropologie also, mit Einschluß der Physiologie, zur Universalwissenschaft. (Grunds›tze der Philosophie der Zukunft § 55. III. S. 319) Die Philosophie, die vom Menschen und der Natur ausgeht, steht im Gegensatz zu der Philosophie des Geistes, wie sie die deutsche Philosophie der Jahrzehnte vor ihm gepflegt hatte, allen voran natÜrlich Hegel. Diese Philosophie des Geistes mit ihrer

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Ludwig Feuerbach

anthropologischen Implikation der Abwertung der KÙrperlichkeit des Menschen ist eine Nachfolgerin der immer noch von Augustinus bestimmten Theologie. Feuerbach will demgegenÜber aber ganz prinzipiell klarstellen, daß die Zeit der Verbindung von Philosophie und Theologie schon lange vorbei und das GegenÜber der Philosophie die Wissenschaft im Sinne der Naturwissenschaft ist: Alle Wissenschaften m¹ssen sich auf die Natur gr¹nden. [...] Die Philosophie muß sich wieder mit der Naturwissenschaft, die Naturwissenschaft mit der Philosophie verbinden. Diese auf gegenseitiges Bed¹rfnis, auf innere Notwendigkeit gegr¹ndete Verbindung wird dauerhafter, gl¹cklicher und fruchtbarer sein als die bisherige Mesalliance zwischen der Philosophie und Theologie. (Vorl›ufige Thesen zur Reformation der Philosophie. III. S. 243)

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Feuerbach geht dann allerdings nicht in die Richtung einer an Galilei oder Newton orientierten Philosophie, die weiter zur Wissenschaftstheorie fÜhren wÜrde. Ihm geht es um die Natur des Menschen. Auch hier kÙnnte man natÜrlich von der Naturwissenschaft ausgehen, und Feuerbach erinnert auch gelegentlich daran, was er selbst dann aber betreibt, ist doch eher das, was wir gewÙhnlich »philosophische Anthropologie« nennen. Feuerbach geht es in seiner Anthropologie darum, den wirklichen, ganzen Menschen zu erfassen. Dies erfordert eine radikale Umkehr, eine Reform der Philosophie. Die Philosophie ging bisher von Abstraktionen und Abstraktem aus, Feuerbach hingegen will vom konkreten, lebendigen Menschen, vom sinnlichen Menschen, ausgehen: Wenn die alte Philosophie zu ihrem Ausgangspunkt den Satz hatte: Ich bin ein abstractes, ein nur denkendes Wesen, der Leib geh³rt nicht zu meinem Wesen; so beginnt dagegen die neue Philosophie mit dem Satze: Ich bin ein wirkliches, ein sinnliches Wesen: Der Leib geh³rt zu meinem Wesen; ja, der Leib in seiner Totalit›t ist mein Ich, mein Wesen selber. Der alte Philosoph dachte daher in einem fortw›hrenden Widerspruch und Hader mit den Sinnen, um die sinnlichen Vorstellungen abzuwehren, die abstrakten Begriffe nicht zu verunreinigen; der neue Philosoph dagegen denkt im Einklang und Frieden mit den Sinnen. [...] die neue Philosophie [...] ist die offenherzig sinnliche Philosophie. (Grunds›tze der Philosophie der Zukunft § 37. III. S. 302) Solche SÇtze klingen in unseren heutigen Ohren - hoffentlich - ganz selbstverstÇndlich, sie waren es aber damals, zwÙlf Jahre nach Hegels Tod, ganz und gar nicht. Eine »offenherzig sinnliche Philosophie«, also eine, die auch mit Herz und Magen philosophiert, galt vielen als »unphilosophisch« (und so ganz Überwunden ist diese Haltung bis heute noch nicht). In einer solchen Philosophie muß nÇmlich gegen ihre eigene Geschichte philosophiert werden, und der Philosoph muß mit dem philosophieren, was im Menschen nicht philosophiert:

Sinnlichkeit, Natur

Der Philosoph muß das im Menschen, was nicht philosophiert, was vielmehr gegen die Philosophie ist, dem abstrakten Denken opponiert, das also, was bei Hegel nur zur Anmerkung herabgesetzt ist, in den Text der Philosophie aufnehmen. [...] Die Philosophie hat daher nicht mit sich, sondern mit ihrer Antithese, mit der Nichtphilosophie zu beginnen. Dieses vom Denken unterschiedene, unphilosophische, absolut antischolastische Wesen in uns ist das Prinzip des Sensualismus. (Vorl›ufige Thesen zur Reformation der Philosophie. III. S. 234) Feuerbach weiß natÜrlich genau, daß er hier gegen den Zeitgeschmack und gegen die WÜnsche des Publikums angeht. Sein Publikum denkt zwar in Wirklichkeit genauso sensualistisch wie er, es will aber nicht, daß dies offen ausgesprochen wird, eine »offenherzig sinnliche Philosophie« erfÜllt also nicht die Aufgabe, die ihr zugeordnet wird, nÇmlich die Menschen, die wÜnschen, getÇuscht zu werden, idealistisch zu tÇuschen, was ja Hegel, ohne dies natÜrlich zu beabsichtigen, nach Feuerbachs Meinung so hervorragend geleistet hatte. Die Menschen leben und denken sinnlich, diese Tatsache soll aber die Philosophie durch Tiefsinn verschleiern und wegdeuten. Gegen diese Unwahrhaftigkeit und TÇuschung kÇmpft Feuerbach an. Dies erfordert Mut zur »OberflÇchlichkeit« gegen »Tiefsinn«: 427

Das, was ist, so, wie es ist - also das Wahre wahr ausgesprochen, scheint oberfl›chlich; das, was ist, so wie es nicht ist - also das Wahre unwahr, verkehrt ausgesprochen, scheint tief zu sein. (Ebd. S. 321) Feuerbach wendet sich deutlich und oft sehr scharf gegen den schon mit Hegels Sprache verbundenen Schein des Tiefsinns und fordert als formale Kennzeichen der neuen Philosophie »Wahrhaftigkeit, Einfachheit, Bestimmtheit« (Ebd.). Ebenso macht er darauf aufmerksam, daß die VernachlÇssigung der Sinnlichkeit und der Natur ein besonderes Kennzeichen der deutschen Philosophie ist, obwohl dieser Mangel bereits auf Descartes zurÜckgeht. Feuerbach stellt daher dem »Phlegma der deutschen Metaphysik« das »sanguinische Prinzip des franzÙsischen Sensualismus und Materialismus« gegenÜber und fordert zu einer Vereinigung dieser beiden auf (Ebd. S. 235). Es wÇre aber verfehlt, die Sinnlichkeit, von der Feuerbach spricht, mit dem gleichzusetzen, was bisher im englischen oder franzÙsischen Empirismus und Sensualismus damit gemeint war. Dort war damit gewÙhnlich die Vorstellung verbunden gewesen, in der Sinnlichkeit einen unmittelbaren und somit undiskutierbaren Ausgangspunkt zur VerfÜgung zu haben. Die Sinnlichkeit, von der Feuerbach ausgeht, kann aber nicht mit solchen MaßstÇben frÜherer erkenntnistheoretischer Prinzipien erfaßt werden. Feuerbach weiß, daß mit der Sinnlichkeit, von der er spricht, ebenso wie mit der Natur, die in dieser Sinnlichkeit zum Ausdruck kommt, keine Unmittelbarkeit behauptet wird, insofern diese selbst nur als Resultat einer geschichtlichen

Ludwig Feuerbach

Entwicklung und somit als vermittelte zu begreifen sind. Die Sinnlichkeit, die Feuerbach meint, hat somit nichts mit der altbekannten unmittelbaren Sinneserfahrung der Empiristen zu tun, sie ist uns gar nicht unmittelbar gegeben, sondern vielmehr das Ergebnis einer Negation, nÇmlich der Negation des ¾bersinnlichen. Sinnlichkeit ist also bei Feuerbach gerade nicht der unmittelbare Ausgangspunkt, sondern steht unter dem Bewußtsein kritischer Vermittlung (vgl. Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist. IV. S. 165–195). Die UrsprÜnglichkeit sinnlicher Erfahrung freizulegen heißt, stÇndig Kritik an jenen Formen des Denkens zu Üben, die der Sinnlichkeit fremd oder entfremdet sind. Die Philosophie der Zukunft hat die Aufgabe, die Philosophie aus dem Reiche der »abgeschiedenen Seelen« in das Reich der bek³rperten, der lebendigen Seelen wieder einzuf¹hren, aus der g³ttlichen, nichtsbed¹rftigen Gedankenseligkeit in das menschliche Elend herabzuziehen. (Grunds›tze der Philosophie der Zukunft. Vorwort. III. S. 247)

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Sinnlichkeit und Natur sind auch in dem Sinne bei Feuerbach nicht empiristisch gedacht, insofern beide im Rahmen einer Anthropologie konzipiert sind, die von vornherein nicht von einem isolierten Individuum ausgeht. Der »Mensch« ist fÜr Feuerbach Überhaupt nicht definierbar, ohne ihn sofort als »Mitmensch und mit Mitmenschen« zu definieren. Dem cartesianischen, fÜr sich allein denkenden Ich, das auch noch lange nach Descartes den Ausgangspunkt der Philosophie darstellte, wird bei Feuerbach eine klare Absage erteilt. Der absolute Philosoph sagte oder dachte wenigstens analog dem L’’tat c’est moi [Der Staat, das bin ich] des aboluten Monarchen und dem L’Þtre c’est moi [Das Sein, das bin ich] des absoluten Gottes von sich als Denker nat¹rlich, nicht als Menschen: La verit’ c’est moi [Die Wahrheit, das bin ich]. Der menschliche Philosoph sagt dagegen: Ich bin auch im Denken, auch als Philosoph Mensch mit Menschen. (Grunds›tze der Philosophie der Zukunft § 63. III. S. 321) Der Mensch ist also bei Feuerbach nicht nur das denkende Ich der rationalistischen Philosophie, aber auch nicht nur das sinnlich empfindende Ich der empiristischen Philosophie, sondern immer der Mensch in Beziehung zu anderen Menschen. Feuerbachs Sinnlichkeit ist eine zwischenmenschliche Sinnlichkeit. Und diese zwischenmenschliche Sinnlichkeit ist fÜr Feuerbach auch der Ursprung der Vernunft. Der einzelne Mensch rein in seiner IndividualitÇt betrachtet hat daher auch gar keine Vernunft und kann als solcher auch gar nicht zur Vernunft gebracht werden. Alle unsere Ideen entspringen darum auch aus den Sinnen; darin hat der Empirismus vollkommen recht; nur vergißt er, daß das wichtigste, wesentlichste Sinnenobjekt des Menschen der Mensch selbst ist, daß nur im Blicke des Menschen in den Menschen das

Die Kritik an Hegel

Licht des Bewußtseins und Verstandes sich entz¹ndet. Der Idealismus hat daher recht, wenn er im Menschen den Ursprung der Ideen sucht, aber unrecht, wenn er sie aus dem isolierten, als f¹r sich seiendem Wesen, als Seele fixierten Menschen, mit einem Worte: aus dem Ich ohne ein sinnlich gegebenes Du ableiten will. Nur durch Mitteilung, nur aus der Konversation des Menschen mit dem Menschen entspringen die Ideen. Nicht allein, nur selbander [d. h. gemeinsam] kommt man zu Begriffen, zur Vernunft ¹berhaupt. (Ebd. § 42. III. S. 306) Die Dialektik Feuerbachs ist daher grundsÇtzlich eine zwischenmenschliche Dialektik: Die wahre Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du. (Ebd. § 64. III. S. 321) Hegel hatte eine große Logik verfaßt, wenn also Feuerbach die Logik prinzipiell anders auffaßte, so wÇre dies ein Anlaß gewesen, eine entsprechende dialogische Logik zu entwickeln. Dies war jedoch nicht der Fall. Eine dialogische Logik wurde - von vÙllig anderen AnsÇtzen ausgehend - erst im 20. Jhd. vor allem von Paul Lorenzen (geb. 1915) entwickelt. Der Einfluß Feuerbachs in Bezug auf eine Dialogik ging in eine ganz andere Richtung, nÇmlich in die des Personalismus des 20. Jhd.s bei Martin Buber (1878–1965), Maurice Blondel (1861–1949) und vielen anderen.

2. Die Kritik an Hegel Feuerbach begann als Student Hegels und als Hegelianer, der Hegel auch Ùffentlich verteidigte (vgl. Kritik des »Anti-Hegel«. II. S. 63–128). 1826 aber sagt er: »Ich bin nun fertig mit Hegel.« (Fragmente zur Charakteristik meines philosophischen Curriculum vitae. IV. S. 200) und stellt sich die Frage: Wie verh›lt sich die Hegelsche Philosophie zur Gegenwart und Zukunft? Ist sie nicht die vergangene Welt als Gedankenwelt? Ist sie mehr als eine Erinnerung der Menschheit an das, was sie war, aber nicht mehr ist? (Ebd. S. 201) Feuerbach erkannte sogleich, daß die hegelsche Philosophie mehr ist als die Erinnerung an etwas Vergangenes. Deshalb ist sie aber nicht schon das gegenwÇrtig Geforderte. Feuerbach diagnostizierte richtig den Endcharakter der hegelschen Philosophie, den geradezu verzweifelten Versuch, den Untergang einer vergangenen Kultur aufzuhalten (vgl. Kap. XVII, 5). Die Hegelsche Philosophie ist der letzte großartige Versuch, das verlorene, untergegangene Christentum durch die Philosophie wiederherzustellen, und zwar dadurch,

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Ludwig Feuerbach

daß, wie ¹berhaupt in der neuern Zeit, die Negation des Christentums mit dem Christentum selbst identifiziert wird. (Grunds›tze der Philosophie der Zukunft § 21. III. S. 279 f.) Nach Feuerbach litt seine Gegenwart an dem »unseligen Widerspruch«, Unvereinbares vereinbaren zu wollen, so u. a. Glaube und Unglaube, Christentum und Heidentum (Ebd. S. 280). Genau diesem BedÜrfnis entsprach die Philosophie Hegels, sie war damit der hÙchste Ausdruck dieses falschen Bewußtseins. Dieses falsche Bewußtsein mußte also negiert, der SelbsttÇuschung mußte eine »SelbstenttÇuschung« entgegengesetzt werden (vgl. VorlÇufige Thesen zur Reformation der Philosophie. III. S. 241). Daher war es erforderlich, Hegel zu kritisieren. Beginnen wir mit einem ausdrucksstarken Zitat (bitte zweimal lesen!). Es geht dabei zunÇchst nur um die Charakterisierung des hegelschen Systems, die mir richtig erscheint, ohne daß damit schon irgendetwas Über die Philosophie Feuerbachs gesagt ist.

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Die Hegelsche Philosophie ist rationelle Mystik - daher einzig in ihrer Art, daher zugleich anziehend, zugleich aber auch abstoßend ebensowohl f¹r mystisch-spekulative Gem¹ter, welchen die Verbindung des Mystischen mit dem Rationellen ein unertr›glicher Widerspruch ist, weil der Begriff sie entt›uscht, den mystischen Reiz der dunkeln Vorstellung zerst³rt, als f¹r rationelle K³pfe, denen die Verbindung des rationellen Elements mit dem Mystischen zuwider ist. (Zur Kritik der Hegelschen Philosophie. III. S. 44) Daß diese Form rationeller Mystik einzig in ihrer Art ist, stimmt natÜrlich nicht. So genau meint aber Feurbach das selbst nicht, denn er stellt Hegel in eine sehr klare Entwicklungslinie, und er hat recht, wenn er in Hegel den »deutschen Proklus« (zu Proklus/Proklos vgl. 1. Teil, Kap. XVII, 4) sieht und feststellt, daß die »absolute Philosophie« nichts anderes als die »wiedergeborene alexandrinische Philosophie« ist (GrundsÇtze der Philosophie der Zukunft § 29. III. S. 294). Daß diese Entwicklungslinie noch viel weiter zurÜckverfolgt werden kann, wurde schon festgestellt (vgl. Kap. XVIII, 2). Vermutlich hat aber auch Feuerbach diesen Ursprung erkannt, wenn er das hegelsche Nichts als Gegensatz des Seins ein »Produkt der orientalischen Einbildungskraft« nennt (Zur Kritik der Hegelschen Philosophie. III. S. 48). In der neueren Geschichte der Philosophie gilt jedenfalls: Spinoza ist der Urheber der spekulativen Philosophie. Schelling ihr Wiederhersteller, Hegel ihr Vollender. (Vorl›ufige Thesen zur Reformation der Philosophie. III. S. 223) TatsÇchlich einmalig an Hegels rationaler Mystik ist, daß er sie in die Form eines vollendeten Systems gebracht hat, was auch Feuerbach unterstreicht (vgl. Zur Kritik der Hegelschen Philosophie. III. S. 16). FÜr einen aufklÇrerischen Positivisten kÙnnte mit der Charakterisierung der Philosophie Hegels als »rationaler Mystik« die Ange-

Die Kritik an Hegel

legenheit erledigt sein. Dies war aber bei Feuerbach, der alles andere als ein platter AufklÇrer war, nicht der Fall. Feuerbachs Grundthese bestand darin, daß in den religiÙsen und den theologischen Vorstellungen ein Potential menschlicher M³glichkeiten verborgen lag, das es aufzudecken galt. Daher war auch Hegels Philosophie, die vollstÇndig aus dieser Herkunft lebte, relevant fÜr die AufklÇrung dieses Potentials. Und da Hegel dieses Potential systematisiert hatte, war er der beste Ausgangspunkt fÜr eine solche systematischen und grundsÇtzlichen EntschlÜsselung. Wir wenden uns daher der Kritik Feuerbachs an der hegelschen Philosophie zu. Feuerbachs Kritik an Hegel erfolgt im Grunde in zwei Schritten: (1) Feuerbach erkennt, daß Hegels absoluter Geist, die systematische Klammer des gesamten hegelschen Systems, nichts anderes als eine rationalisierte Form des Gottes der frÜheren Theologie ist. Der »absolute Geist« ist der »abgeschiedene Geist« der Theologie, welcher in der Hegelschen Philosophie noch als Gespenst umgeht. (Vorl›ufige Thesen zur Reformation der Philosophie. S. 226) Es ist, so nebenbei bemerkt, ganz amÜsant, zu beobachten, daß Kant in der Philosophie Fichtes ebenso ein Gespenst vor sich zu haben meinte (vgl. Kap. XVI, 2), wie jetzt Feuerbach bei Hegel einem Gespenst begegnet - der Deutsche Idealismus hat eben etwas »Gespenstisches« an sich. (2) Im weiteren analysiert Feuerbach die theologische Vorstellung des absoluten Geistes und damit theologische Vorstellungen Überhaupt als Projektion des Menschen. Die Theologie ist Gespensterglaube. Die gemeine Theologie hat aber ihre Gespenster in der sinnlichen Imagination, die spekulative Theologie in der unsinnlichen Abstraktion. (Vorl›ufige Thesen zur Reformation der Philosophie. S. 227) Der eigentliche Ursprung der hegelschen Philosophie ist nur dadurch verborgen, daß er in abstrakter Gestalt erscheint. Der absolute Geist Hegels ist nichts anderes als der abstrakte, von sich selbst abgesonderte, sogenannte endliche Geist, wie das unendliche Wesen der Theologie nichts anderes ist als das abstrakte endliche Wesen. (Ebd. S. 226) Diese beiden Schritte sollen im folgenden etwas nÇher erlÇutert werden. Man muß dabei jedoch immer folgendes vor Augen haben: Feuerbach stellt seine Thesen zwar an Hand einer Hegelkritik dar - zu seiner Zeit hatte die Absonderung und Entfremdung des endlichen, sinnlichen Geistes seine beste Darstellung in Hegels Philosophie gefunden -, er ist aber der ¾berzeugung, daß es dabei um ein Strukturproblem

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Ludwig Feuerbach

geht, das sich in seiner geschichtlichen Form verschieden darstellt, in seiner Struktur aber immer dasselbe ist. Die Philosophie ist bisher immer vom Abstrakten zum Konkreten vorangegangen, vom Idealen zum Realen (Ebd. S. 231). Darin war eine bestimmte Wertung enthalten: Man sah das endliche, sinnliche Wesen des Menschen, seinen KÙrper, als niedrig an und versuchte ihm daher ein hÙheres, unendliches Wesen, den Geist, die Seele, hinzuzufÜgen. Dem VerhÇltnis Ideal-Real sowie Abstrakt-Konkret entspricht jenes von Seele-KÙrper und von HÙheres-Niedrigeres. Nach Feuerbach wird der Mensch damit jedoch von sich selbst abgezogen, abstrahiert und entfremdet. Abstrahieren heißt das Wesen der Natur außer die Natur, das Wesen des Menschen außer den Menschen, das Wesen des Denkens außer den Denkakt setzen. Die Hegelsche Philosophie hat den Menschen sich selbst entfremdet, indem ihr ganzes System auf diesen Abstraktionsakten beruht. (Ebd. S. 227)

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Feuerbach stellt damit ein Scheitern der hegelschen Philosophie nach deren eigenen Intentionen fest: Hegel wollte die Dinge selbst erfassen und erfahren, indem er diese Erfahrung aber als PhÇnomenologie des Geistes ansetzte, war er schon wieder genau dort, wo eben nicht unmittelbare Erfahrung gegeben ist, sondern Abstraktion, denn der Geist sucht immer das Allgemeine, das Allgemeine ist aber eben nicht das Konkrete, das Einzelne. Hegel selbst mußte diese Schwierigkeit eingestehen: Er meinte zwar, das Wahre sei das Konkrete, suchte dieses aber auf der Ebene des das Allgemeine denkenden Geistes, wo dann ein Unbegriff wie das Concretum Universale herauskommen mußte, ein Begriff, der die Schwierigkeit paradox ausdrÜckt, aber nicht auflÙst. Hegel mußte daher das Allgemeine und das Einzelne ineinanderfließen lassen (vgl. GrundsÇtze der Philosophie der Zukunft § 28. III. S. 289). Wenn Feuerbach von »Abstraktion« spricht, so meint er dies ausschließlich polemisch. Hegels abstrakte Philosophie ist jedoch nach Feuerbach ein genaues Spiegelbild des realen, d. h. von sich entfremdeten Bewußtseins der Menschen seiner Zeit, die zwar nicht mehr an den in der Geschichte wirkenden absoluten Geist glauben, die aber trotzdem immer noch an jener Wertung festhalten, die den Menschen in seiner sinnlichen Konkretheit entwertet und ihn damit von sich entfremdet. Eine neue, »sinnliche« Philosophie kann daher nicht unmittelbar bei der sinnlichen Erfahrung ansetzen, da diese in dieser Periode gar nicht als unmittelbare erreichbar ist; sie muß als Kritik, als Negation dieses entfremdeten Bewußtseins auftreten, und das heißt gleichzeitig als Negation jener Philosophie, die genau dieses Bewußtsein ausspricht. Die unmittelbare, sonnenklare, truglose Identifikation des durch die Abstraktion vom Menschen ent›ußerten Wesens des Menschen mit dem Menschen kann nicht auf positivem Wege, kann nur als die Negation der Hegelschen Philosophie aus ihr abgeleitet, kann ¹berhaupt nur begriffen, nur verstanden werden, wenn sie als die totale

Die Kritik an Hegel

Negation der spekulativen Philosophie begriffen wird, ob sie gleich die Wahrheit derselben ist. Alles steckt zwar in der Hegelschen Philosophie, aber immer zugleich mit seiner Negation, seinem Gegensatze. (Vorl›ufige Thesen zur Reformation der Philosophie. III. S. 227) Feuerbach stellt also als Programm nicht eine einfache Kritik oder eine einfache Gegenthese gegen das herrschende Bewußtsein und dessen philosophisch-hegelianischen Ausdruck auf, sondern will die Wahrheit dieses herrschenden Bewußtseins, die in ihm in verkehrter Form (d. h. »zugleich mit seiner Negation«) enthalten ist, aufdecken. Feuerbach versteht seine Aufgabe in einem ganz eminenten Sinne als hermeneutisch, aber nicht wie Schleiermacher (dessen Vorlesungen er in Berlin gehÙrt hatte) es wollte, nÇmlich als einfachen Nachvollzug, sondern vielmehr als kritisches Aufdecken des faktisch bestehenden Bewußtseins, das gegenÜber sich selbst falsch, entfremdet, unaufgeklÇrt und somit unfrei ist. Um einen Ansatzpunkt, einen Schl¹ssel zum wahren Bewußtsein, zu finden, dem auch eine sinnliche Anschauung entspricht, zieht Feuerbach die Kunst heran. Auch dieser Ansatzpunkt ist wiederum zeitkritisch zu verstehen. Feuerbach will die Anthropologie als das wahre Wesen der Religion, der Theologie und der spekulativen Philosophie aufzeigen, fÜr viele Menschen seiner Zeit aber hatte lÇngst die Kunst die Stelle eingenommen, die frÜher die Religion innegehabt hatte (trotz und gegen Hegels These, die Kunst habe aufgehÙrt, dem hÙchsten BedÜrfnis des Menschen zu entsprechen). In der Kunst kommt das Bewußtsein zum Ausdruck, daß im Endlichen das Unendliche gegenwÇrtig und das Unendliche somit eine Dimension des Endlichen ist. Der augenf›llige Beweis, daß der absolute Geist der sogenannte endliche, subjektive Geist ist, also jener nicht von diesem abgesondert werden kann und darf - ist die Kunst. Die Kunst geht aus dem Gef¹hl hervor, daß das diesseitige Leben das wahre Leben, das Endliche das Unendliche ist - aus der Begeisterung f¹r ein bestimmtes, wirkliches Wesen als das h³chste, das g³ttliche Wesen. [...] Die Griechen erhoben sich nur dadurch zur Vollendung der plastischen Kunst, daß ihnen unbedingt und unbedenklich die menschliche Gestalt f¹r die h³chste Gestalt, f¹r die Gestalt der Gottheit galt. (Ebd. S. 228) Aus solchen Worten hÙrt man sicher auch die Begeisterung der Zeit Feuerbachs fÜr die griechische Kunst heraus. Dies Çndert aber nichts daran, daß die Frage Feuerbachs berechtigt ist, welches die GrÜnde fÜr die Entwicklung der griechischen Kunst und besonders der Plastik mit der menschlichen Gestalt im Zentrum derselben sind. Und auch die These Feuerbachs, daß der Grund fÜr diese Vollkommenheit darin liegt, daß es sich dabei um eine Kunst handelte, in der es keinerlei Unterschied zwischen der Darstellung von GÙttern und Menschen gab, in der also die menschliche Gestalt als gÙttlich betrachtet wurde, ist durchaus Überlegenswert. Feu-

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erbach weist auch darauf hin, daß die Christen demgegenÜber beim Christusbild grÙßte Schwierigkeiten hatten, weil Christus Mensch und auch wieder nicht Mensch sein sollte (Ebd.). Daher erwartete Feuerbach, daß sich mit dem neuen, nicht zuletzt auch durch seine Philosophie zum Ausdruck gebrachten Bewußtsein auch fÜr die Kunst neue MÙglichkeiten ergeben. Das entschiedene, zu Fleisch und Blut gewordene Bewußtsein, daß das Menschliche das G³ttliche, das Endliche das Unendliche, ist die Quelle einer neuen Poesie und Kunst, die an Energie, Tiefe und Feuer alle bisherige ¹bertreffen wird. Der Glaube an das Jenseits ist ein absolut unpoetischer Glaube. Der Schmerz ist die Quelle der Poesie. Nur wer den Verlust eines endlichen Wesens als einen unendlichen Verlust empfindet, hat die Kraft zu lyrischem Feuer. (Ebd.)

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Auch an diesem Punkt ist eine Hegel-Interpretation und eine Hegel-Kritik sichtbar: Hegel hatte den Schmerz, die NegativitÇt in das Absolute selbst verlegt (vgl. Kap. XVII, 3), Feuerbach holt dies in das Menschliche zurÜck. Daß die Kunst, die dies zum Ausdruck bringt, erst in der Zukunft liegt, wie Feuerbach meint, ist allerdings zu bezweifeln. Schon 1503 war die berÜhmte griechische Plastik der LaokoonGruppe, der klassische Ausdruck des Schmerzes, entdeckt worden, und die drei Versionen der Pietà Michelangelos stehen dem in nichts nach. Die von Feuerbach reklamierte Vermenschlichung geht also - und nicht nur im Bereich der Kunst spÇtestens auf die Zeit der Renaissance zurÜck. Die Kunst entschlÜsselt die Bedeutung der Sinnlichkeit. Die Sinnlichkeit ist im Bereich der Vorstellung die Phantasie, die Vorstellungskraft und die Imagination, und genau aus diesem Bereich heraus leben die Religionen. In den Vorstellungen der Religionen drÜcken sich in bildhafter Weise die WÜnsche der Menschen aus: »Wie die WÜnsche der Menschen, so sind ihre GÙtter« (Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist. IV. S. 150). Das wahre Wesen der Theologie ist daher die Anthropologie, auf sie mÜssen alle religiÙsen, in Theologie und Philosophie rationalisierten Vorstellungen zurÜckgefÜhrt werden. Die Frage ist dann natÜrlich, wie es dazu kommen konnte, daß diese Vorstellungen objektiv wurden, d. h. wie es kommen konnte, daß sie nicht in ihrem Ursprung begriffen wurden und die Menschen so meinten, darin von einer anderen Wirklichkeit zu reden. Feuerbach sieht den Grund darin, daß wir es hier nicht mit Vorstellungen des einzelnen Menschen, sondern mit Vorstellungen der Gattung oder zumindest von Überindividuellen Einheiten von Menschen zu tun haben. Wir begegnen hier wieder der von den frÜhen Romantikern hervorgehobenen Bedeutung der VÙlker und deren kollektiver Poesie (vgl. Kap. XVII, 4). In solchen Vorstellungen drÜcken sich in Feuerbachs Interpretation die unendlichen MÙglichkeiten des Menschen aus, die jedem einzelnen gegenÜber etwas anderes sind und die doch letztlich nichts anderes als die unendlichen MÙglichkeiten der Gattung Mensch zum Ausdruck bringen. Einzeln

Die Kritik an Hegel

ist die menschliche Kraft beschr›nkt, vereinigt aber wird sie unbeschr›nkt, geradezu unendlich: Der einzelne Mensch f¹r sich hat das Wesen des Menschen nicht in sich, weder in sich als moralischem, noch in sich als denkendem Wesen. Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft [...]. Einsamkeit ist Endlichkeit und Beschr›nktheit, Gemeinschaftlichkeit ist Freiheit und Unendlichkeit. (Grunds›tze der Philosophie der Zukunft §§ 61 und 62. III. S. 321) Da es nun zwar kollektiv wachsende Vorstellung, Imagination, gibt, nicht jedoch kollektive Reflexion, glauben alle einzelnen, mit einer objektiven, ihnen gegenÜberstehenden Wirklichkeit konfrontiert zu sein. Doch schon in diesen Vorstellungen selbst finden wir genÜgend Hinweise auf das wahre, d. h. das menschliche Wesen der Religion. Auch wenn diese Hinweise wiederum in objektiver Form erscheinen, kann die genetisch kritische Reflexion, die das wahre Wesen der Religion aufdeckt, an solchen Punkten am leichtesten ansetzen. Einen solchen Ansatzpunkt findet Feuerbach in besonderer Weise in der Vorstellung der Inkarnation, also der Menschwerdung Gottes, die auch fÜr Hegel eine ganz zentrale Bedeutung gehabt hatte (vgl. Kap. XVII, 3 und 4). FÜr Feuerbach hat diese Vorstellung jedoch nicht wie fÜr Hegel eine erkenntniskonstitutive, sondern eine hermeneutisch erkenntniskritische Bedeutung. Die Frage, warum Gott Mensch geworden ist, das Cur Deus homo Anselms, wird von Feuerbach gleichsam beim Wort genommen: Die Inkarnation ist nichts anderes als die tats›chliche, sinnliche Erscheinung von der menschlichen Natur Gottes [...]. Wenn der menschgewordne Gott in der Inkarnation als das erste gesetzt und betrachtet wird, so erscheint freilich die Menschwerdung als ein unerwartetes, frappierendes, wunderbares, geheimnisvolles Ereignis. Allein der menschgewordne Gott ist nur die Erscheinung des gottgewordnen Menschen, was freilich im R¹cken des religi³sen Bewußtseins liegt; denn der Herablassung Gottes zum Menschen geht notwendig die Erhebung des Menschen zu Gott vorher. Der Mensch war schon in Gott, war schon Gott selbst, ehe Gott Mensch wurde. (Das Wesen des Christentums. V. S. 56 f.) In der Inkarnation wird die Kraft der Liebe, welche die einzelne Kraft eines Menschen Übersteigt, anschaulich vorgestellt. Was aber Hegel noch als objektiv seiendes und subjektiv werdendes Geschehen dachte, sieht Feuerbach von vornherein als subjektives Geschehen, das objektiviert, also zu einer objektiven Vorstellung geworden ist. Die Philosophie hat daher, so Feuerbach gegen Hegel, nicht die Aufgabe, diese objektive Vorstellung rational nachzukonstruieren, sondern sie statt dessen aus ihrer Entstehung her zu erklÇren. Es geht also nicht darum, das Endliche aus dem Unendlichen abzuleiten, sondern umgekehrt die Herkunft des Unendlichen aus dem Endlichen aufzudecken:

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Die Aufgabe der wahren Philosophie ist nicht, das Unendliche als das Endliche, sondern das Endliche als das nicht Endliche, als das Unendliche zu erkennen, oder, nicht das Endliche in das Unendliche, sondern das Unendliche in das Endliche zu setzen. (Vorl›ufige Thesen zur Reformation der Philosophie. III. S. 229) Wird dieses Prinzip auf die Vorstellung der Menschwerdung Gottes angewandt, so wird deutlich, daß darin von einer Liebe gesprochen wird, die den Menschen liebt um des Menschens willen, ohne irgendeinen anderen Zweck. Diese unendliche Liebe wurde im Glauben an die Menschwerdung aus dem Wesen des Menschen herausgenommen und so zu einem Objekt der Anbetung gemacht. Um die Kraft der Liebe wieder frei zu setzen, muß sie wieder an ihren Ursprungsort im Menschen zurÜckversetzt werden. Dieses ZurÜckholen bedeutet aber, daß die objektivierende Vorstellung aufgegeben werden muß (vgl. auch 2. Teil, Kap. XVIII, 1 und 2):

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Denn wenn es auch eine eigenn¹tzige Liebe unter den Menschen gibt, so ist doch die wahre menschliche Liebe, die allein dieses Namens w¹rdige diejenige, welche dem andern zuliebe das Eigne opfert. Wer ist also unser Erl³ser und Vers³hner? Gott oder die Liebe? Die Liebe, denn Gott als Gott hat uns nicht erl³st, sondern die Liebe, welche ¹ber die Differenz von g³ttlicher und menschlicher Pers³nlichkeit erhaben ist. Wie Gott sich selbst aufgegeben aus Liebe, so sollen wir auch der Liebe Gott aufopfern; denn opfern wir nicht Gott der Liebe auf, so opfern wir die Liebe Gott auf, und wir haben trotz des Pr›dikats der Liebe den Gott, das b³se Wesen des religi³sen Fanatismus. (Wesen des Christentums. V. S. 61) Damit, daß die Menschwerdung Gottes als objektivierende Vorstellung aufgegeben wird, ist schon gleichzeitig gesagt, daß sie bei Feuerbach nicht als historisches Ereignis aufgefaßt werden kann, wie dies noch bei Hegel der Fall gewesen war: Inkarnation und Historie sind absolut unvertr›glich miteinander; wo die Gottheit selbst in die Geschichte eintritt, h³rt die Geschichte auf. (Zur Kritik der Hegelschen Philosophie. III. S. 11 f.) An dem eben angefÜhrten Beispiel wird deutlich, was Feuerbach in seiner Religionskritik anstrebte: Nicht einfache Kritik, sondern RÜckfÜhrung der Gehalte der Religion in ihren anthropologischen Grund, damit aber gleichzeitig utopische Anreicherung des Wesens des Menschen. Was in den religiÙsen Vorstellungen und deren philosophischen Abstraktionen ausgesprochen wird, ist nicht in seinem Gehalt, sondern nur in der ihm zugeschriebenen Form das Unwahre: Die Wahrheit des Endlichen wird von der absoluten Philosophie nur auf indirekte, verkehrte Weise ausgesprochen. Wenn das Unendliche nur ist, nur Wahrheit und Wirklich-

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keit hat, wenn es bestimmt, d. h. wenn es nicht als Unendliches, sondern als Endliches gesetzt wird, so ist ja in Wahrheit das Endliche das Unendliche. (Vorl›ufige Thesen zur Reformation der Philosophie. III. S. 229) Feuerbach kritisiert also nur das Unendliche als Abstraktes und Objektiviertes, d. h. von seinem menschlichen Ursprung Abgezogenes und ihm GegenÜbergesetztes, nicht das Unendliche als solches. Das Unendliche, abstrakt und objektiviert aufgefaßt, hat das Endliche seiner Grenzenlosigkeit beraubt und es damit erst wirklich verendlicht. Durch die von Feuerbach geforderte Kritik soll das unendliche Potential der unendliche Spielraum der MÙglichkeiten des Menschen -, das in den religiÙsen Vorstellungen schon vorhanden ist, fÜr den Menschen verfÜgbar werden, d. h. dessen unendliche MÙglichkeiten freisetzen. Das Endliche wird dadurch nicht einfach zum Unendlichen, sondern zum Nicht-Endlichen, zu einem Endlichen also, das Über seine Schranken hinausgehen kann und soll. Daß Hegel solche Un-Endlichkeit als »schlechte Unendlichkeit« bezeichnet hatte, ist fÜr Feuerbach nicht erheblich, denn ihn interessiert nicht das Unendliche als solches, sondern vielmehr geht es ihm um die unbegrenzten MÙglichkeiten des Endlichen, Konkreten und Sinnlichen, das nur dadurch schlecht gemacht wird, daß es als das Begrenzte angesehen wird. Hegels »wahre Unendlichkeit« ist wiederum nur eine objektivierende Abstraktion. Das konkrete Lebewesen Mensch zeigt aber gerade in der unendlichen Weite seiner Phantasie, daß es gar nicht so endlich und beschrÇnkt ist: Das Unendliche ist das wahre Wesen des Endlichen - das wahre Endliche. Die Spekulation ist nichts als die wahre und universale Empirie. (Ebd. S. 230) Feuerbachs gesamtes Unternehmen dreht sich um diesen einen Punkt: die Aufdekkung des anthropologischen Gehalts der Religion, vor allem natÜrlich des Christentums. Die Kritik an Hegel, der wir bei Feuerbach stÇndig begegnen, wird dabei im Grunde nur als eine bestimmte, zeitgeschichtlich geforderte Form der Kritik verstanden. Die RÜckfÜhrung der Religion und der Theologie bzw. der darauf beruhenden spekulativen Philosophie auf die Anthropologie versteht Feuerbach als grundsÇtzliche, Hegel stellt den HÙhepunkt, nicht den Ausgangspunkt der Entfremdung dar.

3. Feuerbach und Schleiermacher Wir lesen die Schriften Feuerbachs gewÙhnlich von Marx her. Dies hat durchaus seine Berechtigung, und wir werden diesen Weg auch verfolgen (vgl. Kap. XX). Dabei aber wird ein anderer Aspekt der Philosophie Feuerbachs nicht genÜgend berÜcksichtigt: Feuerbachs Philosophie gehÙrt in wesentlicher Hinsicht in die Geschichte der protestantischen Theologie und der FrÙmmigkeit des 19. Jhd.s. Zahl-

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reiche Menschen des deutschen BÜrgertums in der ersten HÇlfte des 19. Jhd.s hatten sich von den kirchlich-dogmatischen Formen des Christentums gelÙst. Diese Entwicklung war natÜrlich nicht neu und gehÙrt zu dem, was wir mit »ModernitÇt« bezeichnen, was aber seine Wurzeln schon im Humanismus und in der Renaissance hat. Schon dort war es als Problem aufgetaucht, wie man gleichzeitig Christ und Nicht-Christ sein kÙnne, und Marsilio Ficino hatte mit seiner Platonischen Theologie und vor allem mit seinem Kommentar zu Platons Symposion einen mÙglichen und begrifflich entsprechend unscharfen Kompromiß-Weg aufgezeigt (vgl. Kap. I, 3). Das Problem zieht sich durch die gesamte Neuzeit hindurch und war in der ersten HÇlfte des 19. Jhd.s in einem aufgeklÇrten BÜrgertum, das meinte, die politischen Fragen der ¾berwindung des Absolutismus im Prinzip gelÙst zu haben, unÜbersehbar aktuell. Das traditionell-dogmatische Christentum wurde ziemlich allgemein abgelehnt oder jedenfalls nicht mehr beachtet. Fichte, Schelling, Hegel und auch Feuerbach, die alle von der protestantischen Theologie herkamen, sind fÜr die ausdrÜckliche Ablehnung die besten Zeugen. Aber auch katholische Theologen hatten das Problem erkannt, und nicht von ungefÇhr hatte sich in TÜbingen eine entsprechende Bewegung herausgebildet, die sich konsequenterweise mit der Philosophie des frÜhen Schelling und dann auch Hegels rezeptiv auseinandersetzte. Diese sogenannte »TÜbinger Schule« wurde aber von den FunktionstrÇgern der offiziellen katholischen Kirche zum Schweigen gebracht. Es setzte nun jene Ideenpolitik ein, die sich der gesamten intellektuellen Bewegung der Neuzeit widersetzte. Zeichen dafÜr sind die Entwicklung der Neuscholastik, die dann schließlich 1879 zur Erhebung des grÜndlich aus seinem historischen Kontext entfernten Thomas von Aquin zum offiziellen Philosophen der katholischen Kirche fÜhrte (vgl. 2. Teil, Kap. XIV, 1), sowie die ErklÇrung der Unfehlbarkeit des Papstes im Jahre 1870. Die katholische Kirche schied damit etwa seit 1850 aus der intellektuellen Diskussion aus. Versuche, sich dem zu widersetzen und den Kontakt mit der modernen Kultur wieder aufzunehmen, wie sie dem sogenannten »Modernismus« um 1900 zugrunde lagen, wurden erneut unterdrÜckt. Anders verlief die Geschichte der protestantischen Theologie im 19. Jhd. Dort gab es zwar auch eine starre Orthodoxie, es gab aber auch den Versuch, auf die Forderungen des Denkens der Neuzeit, und das hieß damals auch auf die BedÜrfnisse des bÜrgerlichen Publikums, einzugehen. Der wichtigste Vertreter dieser Bewegung war Friedrich Schleiermacher (1768–1834), dessen Lebensdaten sich also fast genau mit denen Hegels decken und der zudem seit 1810 als Professor der Theologie an der neu gegrÜndeten UniversitÇt in Berlin tÇtig war, wo ab 1818 auch Hegel als Professor der Philosophie lehrte. Und Feuerbach war nach Berlin gekommen, um nicht nur bei Hegel, sondern auch bei Schleiermacher zu studieren. Schleiermacher war in eine Schule der Herrenhuter gegangen, also einer pietistischen, aus MÇhren stammenden Bewegung. Religion bestand fÜr die Herrenhuter nicht in einem Glauben an LehrsÇtze, sondern in gelebter FrÙmmigkeit, Religion beruhte dieser Auffassung nach auf dem Gef¹hl. Die Anlage dazu hatte danach jeder Mensch, sie

Feuerbach und Schleiermacher

mußte nur entsprechend geweckt werden. FÜr Schleiermacher wird dann Religion in dem »GefÜhl schlechthinniger AbhÇngigkeit« bestehen. Er verfaßte 1799, zunÇchst anonym, wie es damals bei solchen Schriften hÇufig geschah, seine berÜhmte Schrift ¾ber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren VerÇchtern. Dort sagt er ganz klar von der Religion: Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gef¹hl. (•ber die Religion. S. 29) Mit »weder Denken« setzt Schleiermacher sich von Hegel ab und mit »noch Handeln« von Kant. Die Wahl des Ausdrucks »GefÜhl« war mehr als problematisch. Er konnte bei dieser Wahl des Ausdrucks »GefÜhl« nicht verhindern, daß andere hier eine subjektivistische und emotionale Interpretation der Religion vorzufinden glaubten, und genau das wollten sie ja auch. Und man wird vielleicht auch sagen mÜssen, daß von Schleiermacher her in den Reden ¾ber die Religion eine solche Interpretation auch nicht wirklich ausgeschlossen ist. Diese Interpretation hat nicht nur im deutschen sondern auch in den verschiedensten Formen des amerikanischen Protestantismus großen Einfluß erlangt. Erst mit seinem sytematischen Werk Der christliche Glaube liegt eine etwas andere Interpretation vor. Dort legt Schleiermacher »GefÜhl« aus als eine IdentitÇt von Subjekt und Objekt, was also eher im Sinn des Deutschen Idealismus ist. Aber auch dort ist das emotionale Element nicht ausgeschlossen. FÜr die GefÜhlstheologie Schleiermachers, dieses »einfache Hausmittel«, das »alle die MÜhe der von dem denkenden Begriffe geleiteten Vernunfteinsicht und Erkenntnis erspart« (Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hamburg 1995. S. 9), hatte Hegel natÜrlich nichts Übrig (Schleiermacher war ihm ganz allgemein ziemlich unsympathisch). Das GefÜhl benÙtigt nach Schleiermacher einen Ausdruck, und diesen findet es in einer Anschauung. Dies ist aber nicht die leere intellektuelle Anschauung der Philosophen des frÜhen Deutschen Idealismus, sondern eine durch Phantasie erfÜllte Anschauung. Ihr, hoffe ich, werdet es f¹r keine L›sterung halten, daß Glaube an Gott abh›ngt von der Richtung der Phantasie; Ihr werdet wissen, daß Phantasie das h³chste und urspr¹nglichste ist im Menschen und außer ihr alles nur Reflexion ¹ber sie; Ihr werdet es wissen, daß Eure Phantasie es ist, welche f¹r Euch die Welt erschafft, und daß ihr keinen Gott haben k³nnt, ohne Welt. (Ebd. S. 38) Hier lagen natÜrlich die BerÜhrungspunkte mit den FrÜhromantikern (vgl. Kap. XVI, 3). Auch Feuerbach lernte von Schleiermacher. Feuerbach sucht keine gedachte, sondern eine gelebte Wahrheit. Deren »Sitz« ist das Herz. Auf Denken sollte aber nicht verzichtet werden, dazu war Feuerbach doch zu sehr SchÜler Hegels.

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Die neue Philosophie, welche den wesentlichen und h³chsten Gegenstand des Herzens, den Menschen, auch zum wesentlichen und h³chsten Gegenstand des Verstandes macht, begr¹ndet daher eine vern¹nftige Einheit von Kopf und Herz, von Denken und Leben. (Feuerbach: Grunds›tze der Philosophie der Zukunft § 59. III. S. 320) Neben Kopf und Herz gibt es aber nach Feuerbach noch ein weiteres VermÙgen im Menschen, nÇmlich das Gem¹t (vgl. dazu 2. Teil, Kap. XVIII, 2), und gerade dieses ist die FÇhigkeit der Vorstellung von Unbegrenztem. Und genau an diesem Punkt erhalten auch das FÜhlen und die Phantasie ihren Ort.

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Die Basis der Philosophie ist das Denken und das Herz - denn zum Denken geh³rt nicht nur ein wohlorganisierter Kopf, sondern auch ein gesundes, freies Herz -, die Basis der Religion das Gem¹t und die Phantasie. Das Gem¹t scheut und verschm›ht die Bestimmung und Begrenzung, die im Begriffe der Wissenschaft ¹berhaupt liegt, obgleich sie nicht das Wesen, sondern nur die Form derselben ausmacht. Dem Gem¹te ist darum die Wissenschaft nur die Sph›re des Endlichen, weil ihm die Bestimmung nur als Schranke erscheint. Das Gem¹t h¹llt seinen Gegenstand in ein gewisses mysteri³ses Helldunkel und gibt sich dadurch, je weniger es ihn bestimmt, um so mehr Stoff zum Deuten und F¹hlen; [...] Die dem Gem¹te entsprechende intellektuelle T›tigkeit ist die Phantasie. Dem Gem¹te ist die Vernunft eine endliche, nur die Phantasie die unendliche T›tigkeit; [...] (•ber Philosophie und Christentum in Beziehung auf den der Hegelschen Philosophie gemachten Vorwurf der Unchristlichkeit. II. S. 273 f.) Religion wird also in Verbindung zu GemÜt, GefÜhl und Phantasie gesetzt. Und dann wird das GemÜt und damit die Religion in Beziehung zum Ton und zur Musik, die Philosophie aber in Beziehung zum Wort gesetzt (Ebd.), was wiederum genau der Auffassung der Über Musik schreibenden FrÜhromantiker entspricht (vgl. Kap. XVI, 3). Eine rigorose Trennung von Religion und Philosophie kann Feuerbach aber nicht vornehmen, denn die Unendlichkeit der Phantasie benÙtigt er ja, um das unendliche Potential der menschlichen FÇhigkeiten entschlÜsseln zu kÙnnen. Also kann er auch Vernunft von GemÜt und GefÜhl nicht ganz trennen. GemÜt, GefÜhl, Herz, Liebe, Phantasie, Kunst, Musik, all dies verbunden mit einem Unendlichkeitsstreben und einer Unendlichkeitssehnsucht: Dies ergab wieder etwas, was man durchaus als »Religion« bezeichnen konnte, was auch Feuerbach selbst ausdrÜcklich feststellte: Die neue Philosophie dagegen, als die Philosophie des Menschen, ist auch wesentlich die Philosophie f¹r den Menschen [...]; sie tritt an die Stelle der Religion, sie hat das Wesen der Religion in sich, sie ist in Wahrheit selbst Religion. (Grunds›tze der Philosophie der Zukunft § 67. III. S. 322)

Feuerbach und Schleiermacher

Feuerbach konnte also immer wieder seinen Atheismus betonen, schon seinen Zeitgenossen fiel es jedoch auf, daß es sich dabei um einen ziemlichen frommen Atheismus handelte. Genau dies aber entsprach den BedÜrfnissen des bÜrgerlichen Publikums. Auch wenn man nicht mehr an einen persÙnlichen und welttranszendenten Gott glaubte und ebensowenig an ein historisches Ereignis der Menschwerdung Gottes, konnte man problemlos weiter Weihnachten feiern, das Fest der alles transzendierenden Liebe, und das GefÜhl, die Phantasie und die musikalische AusschmÜkkung kam bei all dem auch nicht zu kurz. Feuerbach hatte Hegel vorgeworfen, rationale Mystik zu betreiben, und eine solche wiederholt Feuerbach nicht, aber er betreibt nun dafÜr emotionale Mystik. Das ist eigentlich gar nicht verwunderlich. Das Bewußtsein, das die deutschen Philosophen der ersten HÇlfte des 19. Jhd.s analysierten, ist eben gar nicht, wie schon gesagt (vgl. Kap. XVI, 5), das Bewußtsein des Menschen »an sich«, sondern jenes Bewußtsein, das sich im spÇten Mittelalter herausgebildet hatte und das Über die FrÙmmigkeitsliteratur bis in den Pietismus des 19. Jhd.s hinein weitertransportiert worden war. Und im spÇten Mittelalter gab es neben der stark intellektualistisch geprÇgten Mystik Eckharts eben auch eine andere, gefÜhlsbetonte Liebesmystik, wie sie z. B. von Heinrich Seuse vertreten wurde (vgl. 2. Teil, Kap. XVIII). Wenn Seuse die Worte »Empor die Herzen« (Sursum corda) sang, so zerfloß ihm »Herz und Seele in schmerzlichem Verlangen und in Sehnsucht«, die sein Herz »sogleich außer sich brachten« (Deutsche mystische Schriften. S. 37). Wir sagen hier natÜrlich nichts, was nicht auch Feuerbach wußte. Diese Texte kannte Feuerbach besser als irgendein Philosophiehistoriker heute. Entscheidend fÜr Feuerbach wie fÜr seine Zeitgenossen war aber nur, daß Herz und GemÜt in unendlicher Sehnsucht Überflossen, ob dieses Herz und dieses GemÜt dann atheistisch waren oder nicht, wußten diese wohl selbst nicht ganz genau, und Überdies war ihnen die Antwort auf diese Frage auch ziemlich gleichgÜltig.

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Karl Marx

1. Marx und der Marxismus

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Es gibt den Begriff der »Wirkungsgeschichte«, und es wird manchmal behauptet, die Wirkungsgeschichte mÜsse zur Auslegung von Texten hinzugenommen werden, um die Texte selbst richtig verstehen zu kÙnnen. Diese Auffassung hat ohne Zweifel ihre Berechtigung, jedoch zeigen sich gerade bei den Schriften von Karl Marx (1818–1883) auch die großen Probleme, die mit ihr verbunden sind: In welcher Weise gehÙrt die Geschichte des Marxismus zur Interpretation der Schriften von Marx? Und wenn sie dazugehÙrt, welcher Marxismus gehÙrt dazu? Es gab und gibt verschiedene und untereinander unvereinbare Richtungen des Marxismus. Die Frage der Wirkungsgeschichte hat aber auch einen ganz alltÇglichen Charakter. Jeder, und nicht nur der, der sich mit Philosophie beschÇftigt, meint zu wissen, was ein »Marxist« ist. Dies zeigt sich deutlich an folgender Dialogsituation: Sagt jemand, er sei »Leibnizianer«, so wird er meist gefragt, was er denn darunter verstehe, denn im allgemeinen verbindet man mit Leibniz nur eine Lehre von fensterlosen Monaden, unter denen sich niemand irgendetwas VernÜnftiges vorstellen kann. Bezeichnet sich hingegen jemand als »Marxist«, dann wird von den anderen behauptet, daß sie wissen, was damit gemeint ist. Der »Leibnizianer« hat also das Recht, sich zu erklÇren, der »Marxist« nicht. Auch dies gehÙrt zur Wirkungsgeschichte der Philosophie von Marx. Die Diskussion um Marx und den Marxismus ist ideologisch belastet, und faktisch kommt keine Marxinterpretation an dieser Situation vorbei. Um so dringlicher ist die Auseinandersetzung mit den Schriften von Marx, da oft von »Marxismus« gesprochen wird, ohne daß jene, die davon sprechen, auch nur eine Zeile von Marx gelesen haben. In jedem Fall ist es erforderlich, genau zwischen der Philosophie von Marx und den verschiedenen Marxismen zu unterscheiden. Die Unterscheidung von »marxistischer« und »marxscher« Philosophie will vielen noch immer nicht in den Kopf. Und gelegentlich wird schon die Forderung, eine solche Unterscheidung vorzunehmen, als AblenkungsmanÙver oder Verschleierungstaktik unverbesserlicher »Linker« angesehen. Aber erst dann, wenn die ideologischen Vorbehalte der Gegner wie auch der Verteidiger der marxistischen Ideologie ausgerÇumt sind, wird es mÙglich sein, die Philosophie von Marx fÜr die Philosophie wiederzugewinnen.

Marx und der Marxismus

Marx hat in drei LÇndern gelebt: in Deutschland, in Frankreich und in England. Auch seine Theorie lebt aus drei ganz verschiedenen, diesen LÇndern entsprechenden Quellen, wobei Marx jede dieser Quellen in AbhÇngigkeit von den anderen verÇnderte. Diese drei Quellen sind (1.) die englische NationalÙkonomie, vor allem die von Adam Smith (1723–1790) und David Ricardo (1722–1823); (2.) der franzÙsische Sozialismus, vor allem mit Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865), einem franzÙsischen Anarchisten; zu diesem Pariser Kreis gehÙrte aber auch der russische Anarchist Michail Bakunin (1814–1876); und (3.) die deutsche idealistische und nachidealistische Philosophie, also vor allem die Hegels und Feuerbachs. Die fÜr Marx charakteristische Integration dieser drei Elemente wurde vom spÇteren Marxismus nicht weitergefÜhrt. Schon Friedrich Engels (1820–1895) leitete eine rein Ùkonomietheoretische Interpretation ein, die fÜr den Ùstlichen Marxismus maßgebend wurde, wÇhrend Georg Lukacs (1885–1971) und Karl Korsch (1886–1961) eine primÇr philosophie-, gesellschafts- und kulturkritische Interpretation begannen, die fÜr den westlichen Marxismus maßgeblich blieb. Mit Çhnlicher Intention wurde von Ernst Bloch (1885–1977), Antonio Gramsci (1891–1937), Max Horkheimer (1895–1973), Theodor W. Adorno (1903–1969), Herbert Marcuse (1898–1979) und vielen anderen versucht, die Philosophie von Marx nicht nur zu interpretieren, sondern auch weiterzufÜhren. MÙglicherweise ist ein VerstÇndnis der Philosophie von Marx Über diese Autoren besser zu gewinnen als Über spezialisierte SekundÇrliteratur zu Marx. Im folgenden soll nun nicht die Weiterentwicklung des Marxismus besprochen werden, sondern Marx in den Zusammenhang der geistesgeschichtlichen Entwicklung des 19. Jhd.s gestellt werden. Dabei kann allerdings nicht ganz von der weiteren Geschichte der Marxinterpretation abgesehen werden. Zumindest eine sehr umstrittene These der Gegenwart wird hier Übernommen: Die sogenannten »Pariser Manuskripte« (enthalten vor allem in MEW Erg. Bd. 1. Teil), also FrÜhschriften von Marx, sollen nicht als Dokumente einer spÇter Überwundenen Periode angesehen werden, sondern (so Çhnlich wie bei Hegel) als SchlÜssel zu den spÇteren Schriften. Die wichtigsten Texte dazu aus dem Jahre 1844 sind unter dem Titel Philosophie und NationalÙkonomie erstmals 1932 verÙffentlicht worden. In seinen spÇteren Schriften seit 1858 hat Marx das zentrale Thema der Arbeit fast ausschließlich unter dem Ùkonomischen Aspekt, Lohn und Profit, behandelt. Dadurch entstand der Eindruck, daß Marx eine Theorie Ùkonomischer Gesetze aufstellen wollte, um mit ihr zu behaupten, die Entwicklung der Gesellschaft steuere mit gleichsam naturgesetzlicher Notwendigkeit auf eine neue, kommunistische Gesellschaftsordnung zu. Diese Interpretation des Kapitals wurde von den orthodoxen Marxisten ebenso angenommen wie von ihren Gegnern, nur daß die ersteren annahmen, diese Gesetze seien wahr, die letzteren hingegen, sie seien falsch. Durch diese Interpretation wurde aber die ursprÜngliche, in den »Pariser Manuskripten« ganz deutlich enthaltene, aber auch im Kapital weiter vorhandene, an der Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie des Geistes orien-

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Karl Marx

tierte »humanistische« Philosophie von Marx in den Hintergrund gedrÇngt bzw. Überhaupt nicht wahrgenommen.

2. Kritik und Praxis

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Marx gehÙrte wÇhrend seiner Studienzeit in Berlin einer Gruppe an, die sich sowohl mit hegelscher Philosophie als auch mit den konkreten politisch-sozialen VerhÇltnissen in Preußen auseinandersetzte. Eine Philosophie, die wie die Hegels eine Rechtfertigung der Wirklichkeit anstrebte, auch wenn in dieser offenkundige Unfreiheit herrschte, konnte nicht wahr sein. Damit wurde die hegelsche Philosophie nicht einfach abgelehnt, wohl aber mußte der Grund fÜr diese Fehlleistung gesucht werden. Dies fÜhrte bei Marx zu einer radikalen Kritik der Philosophie Hegels, die aber auch in ihrer Kritik Hegel verpflichtet blieb. Marx verdeutlichte dies selbst mit der bekannten Metapher, die Philosophie Hegels mÜsse vom Kopf auf die FÜße gestellt werden oder das Innere der hegelschen Philosophie mÜsse nach außen gekehrt werden und umgekehrt. Hegel sah die Aufgabe der Philosophie darin, den Geist mit der Wirklichkeit zu versÙhnen. Daraus hatte sich fÜr ihn die Folgerung ergeben, es sei nicht die Aufgabe der Philosophie, den Staat zu beschreiben, wie er sein soll, sondern so, wie er ist (vgl. Kap. XVII, 5). Dies war fÜr die Linkshegelianer unannehmbar. Wenn der Staat nicht so ist, wie er sein soll und sich die Menschen mit diesem real existierenden Staat in keiner Weise versÙhnen kÙnnen oder sollen, betraf dies nicht nur die politische Philosophie, sondern erforderte eine Umkehrung des hegelschen PhilosophieverstÇndnisses Überhaupt. Daß die Philosophie nicht nur die Aufgabe hat, die geschichtliche Wirklichkeit des Menschen zu interpretieren, sondern ebenso, diese mitzugestalten, steht fÜr Marx von Anfang an fest. Damit erscheint auch die Religionskritik Feuerbachs, die Marx durchaus Übernimmt, als nur ein Zwischenstadium, das zu einer Kritik der Gesellschaft und der Politik fÜhren muß. Schon Ende 1843/Anfang 1844 schrieb Marx programmatisch: Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zun›chst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik. (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. MEW 1. S. 379) Die Philosophie soll also im Dienste der Geschichte stehen, und die entscheidende Aufgabe, die es in der Geschichte zu verwirklichen gilt, ist die Aufhebung der menschlichen Selbstentfremdung. Damit stellt sich fÜr Marx das entscheidende Pro-

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blem des VerhÇltnisses von Theorie und Praxis. Wir begegnen hier wiederum einer Problemstellung, die wir - in Fortsetzung der kantischen Fragestellung - auch bei Fichte angetroffen haben. Dort war vom Primat der praktischen Vernunft gesprochen worden (vgl. Kap. XVI, 1), wÇhrend Marx dies nun weiterfÜhrt und sagt, die Frage der Wahrheit sei keine theoretische Frage und auch keine Frage der praktischen Vernunft, sondern eine Frage der Praxis. Mit »Praxis« ist hier selbstverstÇndlich immer schon »politische Praxis« gemeint. In diesem Zusammenhang kennen wir alle die 11. Feuerbachthese von Marx (diese Thesen wurden 1845 abgefaßt): Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es k³mmt drauf an, sie zu ver›ndern. (Thesen ¹ber Feuerbach 11. MEW 3. S. 7) Ganz Çhnlich sagt Marx in einer weiteren These zu Feuerbach: Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenst›ndliche Wahrheit zukomme - ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. (Thesen ¹ber Feuerbach 2. Ebd. S. 5) 445

Das Entscheidende dabei ist, diesen Satz selbst nicht noch einmal als theoretischen zu verstehen, sondern als Bestreitung der MÙglichkeit von weltverÇndernder Theorie Überhaupt. Marx gesteht den Philosophen und der Philosophie keine Kompetenz zu, Rezepte dafÜr zur VerfÜgung zu haben, was der »wahre Mensch« und die »wahre Gesellschaft« ist. Marx kannte natÜrlich genau die Auffassung Hegels, welcher der Philosophie die MÙglichkeit absprach, die Welt darÜber zu belehren, wie sie sein sollte (vgl. Kap. XVII, 5), und er kannte auch die Utopien eines Morus oder eines Campanella, die sich erfolglos ideale Staaten und ideale Gesellschaften ausgemalt hatten. Marx selbst hatte tatsÇchlich wÇhrend seiner Zeit in Paris und BrÜssel gemeint, eine normative Anthropologie aufstellen zu kÙnnen, um von da aus kritische Orientierungspunkte der Praxis zu gewinnen. In diesem Sinne suchte Marx nach einer normativen Utopie und postulierte den Vorrang der Theorie vor der Praxis: Indessen ist das gerade wieder der Vorzug der neuen Richtung, daß wir nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen. [...] Der Kritiker kann also an jede Form des theoretischen und praktischen Bewußtseins ankn¹pfen und aus den eignen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln. [...] Er unterstellt ¹berall die Vernunft als realisiert. Er ger›t aber ebenso ¹berall in den Widerspruch seiner ideellen Bestimmung mit seinen realen Voraussetzungen. (Brief von Marx an Ruge, 1843. MEW 1. S. 344 f.)

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Marx verzichtete in der spÇteren Zeit auf solche Übergeschichtlichen Leitlinien. Sollte also durch die Philosophie eine geschichtswirksame Kritik geleistet werden, so konnte diese selbst nicht eine theoretische Erfindung, also wiederum eine Phantasie wie die religiÙsen TrÇume sein, sondern sie mußte aus der kritischen Interpretation der tatsÇchlich bestehenden Welt hervorgehen. Die Handlungsorientierungen mÜssen nun durch rein praxisimmanente VerstÇndigung, d. h. Kooperation aufgrund gleich erfahrener Entfremdung, geschehen. Die Philosophie hat daher keine Anweisung fÜr eine bestimmte Praxis zu liefern und kann dies auch gar nicht, sondern ist selbst nur ein Akt der VerstÇrkung von Handlungspotentialen, die Theorie liefert hÙchstens Kommunikations- und Artikulationshilfen. Diese Theorie darf keinesfalls neben dem praktischen politischen Handeln stehen, d. h. Marx fordert vom Philosophen Eingreifen in die Politik. Dies ist der Sinn der »Aufhebung der Philosophie«, was nicht das Ende der Philosophie bedeutet, sondern Verwirklichung deren aufklÇrerisch-emanzipatorischen Anspruchs. Damit verbunden ist aber ein radikales Umdenken:

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Wir sind philosophische Zeitgenossen der Gegenwart, ohne ihre historischen Zeitgenossen zu sein. [...] Mit einem Worte: Ihr k³nnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen. [...] Es fragt sich: Kann Deutschland zu einer Praxis ™ la hauteur des principes [auf der H³he der Prinzipien] gelangen, d. h. zu einer Revolution, die es nicht nur auf das offizielle Niveau der modernen V³lker erhebt, sondern auf die menschliche H³he, welche die n›chste Zukunft dieser V³lker sein wird? [...] Die Theorie ist f›hig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel f¹r den Menschen aber ist der Mensch selbst. (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. MEW 1. S. 383–385) Es bleibt aber dabei, daß die »neue Welt« aus der »alten Welt« heraus erfunden werden muß, und dies ist nur mÙglich, wenn die inneren WidersprÜche, also auch der Gegensatz von idealer und realer Welt, »an der Wurzel« gefaßt werden. Auch wenn es keine konkrete und inhaltliche Utopie geben kann, haben daher doch die Wunschvorstellungen der Menschen ihre kritische Bedeutung, was Marx von Feuerbach Übernimmt. Es kommt also darauf an, den Widerspruch der in Wunschvorstellungen ausgedrÜckten ideellen Bestimmungen zu den real gegebenen VerhÇltnissen aufzudecken. Wenn der Mensch sich ideale Welten ersinnt - dies ist die hermeneutisch wichtige Einsicht Feuerbachs -, um der Wirklichkeit zu entkommen, so mÜssen diese Idealvorstellungen als Ausdruck der BedÜrfnisse verstanden werden, denen gegenÜber die Wirklichkeit sich als mangelhaft erweist: Feuerbach geht von dem Faktum der religi³sen Selbstentfremdung, der Verdopplung der Welt in eine religi³se und eine weltliche aus. Seine Arbeit besteht darin, die reli-

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gi³se Welt in ihre weltliche Grundlage aufzul³sen. Aber daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbst›ndiges Reich in den Wolken fixiert, ist nur aus der Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erkl›ren. Diese selbst muß also in sich selbst sowohl in ihrem Widerspruch verstanden als praktisch revolutioniert werden. (Thesen ¹ber Feuerbach 4. MEW 3. S. 6) Es genÜgt also nicht, mit Feuerbach den anthropologischen Sinn der religiÙsen Wunschvorstellungen zu entschlÜsseln, sondern es kommt darauf an, »an der Wurzel« die Bedingungen zu verÇndern, die es fÜr den Menschen erforderlich gemacht haben, solche Wunschvorstellungen, die einen Widerspruch zur realen Welt darstellen, zu bilden. Entscheidend ist es daher, die WidersprÜche der realen Welt aufzudecken. Die WidersprÜche der realen Welt identifiziert Marx im Arbeitsprozeß und in der Situation des arbeitenden Menschen seiner Zeit. Damit wendet er sich den Problemen der ²konomie zu, denn Arbeit findet im Zusammenhang bestimmter Ùkonomischer VerhÇltnisse statt. Arbeit bedeutet fÜr Marx Produzieren, und er stellt fest, daß der Ùkonomische Zustand seiner Zeit dadurch charakterisiert ist, daß der Arbeitende von dem von ihm produzierten Gegenstand entfremdet ist. Dies setzt das VergegenstÇndlichungsmodell Hegels voraus: Das handelnde Subjekt setzt einen Zweck außerhalb seiner selbst. Die Verwirklichung dieses Zwecks, gleichzeitig die Verwirklichung des Subjekts im anderen seiner selbst, also im Materiellen, ist das Resultat der Handlung als Produziertes, als Produkt. GegenÜber Hegel wendet Marx jedoch ein, daß diese Selbstverwirklichung des Menschen in der Arbeit in der realen gesellschaftlichen Situation seiner Zeit nicht zustandekommt, weil das Materielle, an dem sich die Arbeit als Handlung vollzieht, etwas dem Subjekt gegenÜber Fremdes ist, da es sich im Besitz von anderen befindet. Konkret gesagt: Die ²konomie seiner Zeit beruhte darauf, daß die Produktionsmittel nicht Besitz des Arbeitenden waren (was ja auch heute noch gilt). Der Arbeitende ist ihnen gegenÜber fremd und ist somit auch dem Produkt der Arbeit, das nicht sein eigenes ist, entfremdet. Damit setzt der Handelnde gleichzeitig die Zwecke seiner Handlung, also der Arbeit, nicht autonom, sie sind ihm im Rahmen der industriellen Produktion unverfÜgbar vorgegeben und daher heteronom. Dies bedeutet, daß der Arbeitende sowohl in seinem Handlungszweck als auch in der materiellen Grundlage und somit in dem Produkt seiner Arbeit von sich selbst entfremdet ist. Die Entfremdung setzt sich notwendig dadurch fort, daß die Produkte als Waren in Geldwert umgesetzt werden (zur universellen Bedeutung des Geldes vgl. auch weiter unten), so daß der Produzierende seine eigenen, nun jedoch fremd gewordenen Produkte durch den Kauf zurÜckgewinnen muß, wobei sie inzwischen einen dem Preis der Herstellung durch Arbeit und dem Preis der materiellen Grundlage gegenÜber hÙheren Wert erhalten haben. Der Arbeitende erfÇhrt so den Widerspruch, daß er von seinen eigenen, ihm entfremdeten Produkten nicht den Teil erhÇlt, der ihm als Produzierendem zusteht. Damit gewinnt Marx die einander korre-

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spondierenden Begriffe »entfremdete Arbeit« und »Kapital« (d. h. Besitz der Produktionsmittel). Wenn jedoch gesagt wird, daß der Arbeitende diesen Widerspruch »erfÇhrt«, so stimmt dies nach Marx aber nicht wirklich, denn die Arbeitenden sind zwar objektiv diesem Widerspruch unterworfen, es ist ihnen aber nicht bewußt, daß sie selbst - ungewollt - die von den Besitzern des Kapitals gezwungenen Hersteller dieses Widerspruchs sind. Diese am VergegenstÇndlichungsmodell orientierte Analyse entfremdeter Arbeit wird bei Marx jedoch in einem noch weiteren Kontext durchgefÜhrt, nÇmlich in dem einer universalen Geschichtsphilosophie. Diese ergibt sich wiederum dadurch, daß Marx Feuerbachs Hegelkritik in seinem an der ²konomie orientierten Konzept anwendet: Hegel hatte die Geschichte als EntÇußerung Gottes in der Welt(geschichte) verstanden, hatte also die Geschichte als das Werden, als die VergegenstÇndlichung Gottes in der Geschichte ausgelegt. Feuerbach hatte demgegenÜber die Theologie auf die Anthropologie zurÜckgefÜhrt und Religion als die Projektion der gesamten KrÇfte und MÙglichkeiten der menschlichen Gattung analysiert. Marx nimmt nun die anthropologische Interpretation Feuerbachs auf, wendet sie aber (was Feuerbach nicht getan hatte) auf die Geschichte an. Damit wird fÜr Marx die Geschichte zum Entwicklungsprozeß der VergegenstÇndlichung der KrÇfte der Menschengattung und gleichzeitig zum Herstellungsprozeß ihrer eigenen Entfremdung. Das jeweilige historische menschliche Wesen ist die jeweilige gesellschaftliche Verwirklichung seiner KrÇfte. Der Ausgangspunkt fÜr Marx ist wiederum Feuerbach: Feuerbach l³st das religi³se Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verh›ltnisse. Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen: 1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religi³se Gem¹t f¹r sich zu fixieren, und ein abstrakt - isoliert - menschliches Individuum vorauszusetzen. 2. Das Wesen kann daher nur als »Gattung«, als innere, stumme, die vielen Individuen natÜrlich verbindende Allgemeinheit gefaßt werden. Feuerbach sieht daher nicht, daß das »religi³se Gem¹t« selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und daß das abstrakte Individuum, das er analysiert, einer bestimmten Gesellschaftsform angeh³rt. Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizism[us] veranlassen, finden ihre rationelle L³sung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis. (Thesen ¹ber Feuerbach 6–8. MEW 3. S. 6 f.) Sprechen wir daher von der Entfremdung des Arbeitenden von seinen Produkten, so sprechen wir nicht von dem Einzelnen als solchem, sondern von der Gesellschaft in

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einem bestimmten Stadium der Geschichte der Gattung Mensch. Nicht einfach das Individuum als solches ist daher im gegenwÇrtigen Zustand das entfremdete, sondern das Individuum als Teil der Gesellschaft. Ist der Mensch aber von sich selbst entfremdet, dann gibt es fÜr ihn kein reines Bewußtsein, sein Bewußtsein und somit seine Theorie ist zwangslÇufig genauso entfremdet. Die Menschen sind sich also in diesem Zustand, der nach Marx auch in seiner Zeit gegeben ist, nicht bewußt, daß sie selber die Produzierenden genau jener VerhÇltnisse sind, die zu ihrer eigenen Entfremdung fÜhren. Auch das Eingreifen der Menschen in die Natur ist durch die Praxis der Menschen so bestimmt, daß sie gar keiner reinen Natur mehr begegnen kÙnnen. Ein reiner Naturzustand des Menschen ist daher eine reine Illusion. Die VerhÇltnisse haben sich gegenÜber den Menschen verselbstÇndigt und treten den Menschen daher als etwas Fremdes gegenÜber, sie werden als etwas angesehen, das »naturwÜchsig entsteht« (Die Deutsche Ideologie. MEW 42. S. 127), und entsprechend werden die Gesetze der ²konomie wie Naturgesetze aufgefaßt, die man zwar mehr oder weniger gut praktisch anwenden kann, die aber nicht selbst als Produkt der menschlichen TÇtigkeit begriffen werden. Wenn wir diese Analyse von Marx mit jener Schellings (vgl. Kap. XVIII, 2) in Zusammenhang bringen, so kÙnnen wir sagen: Die (ja auch heute noch herrschenden) als Naturgegebenheit aufgefaßten ProduktionsverhÇltnisse sind jener Mythos, der sich bis in die Gegenwart hinein durchhÇlt. Die selbstproduzierte VergegenstÇndlichung des Bewußtseins zeigt sich in besonderer SchÇrfe am Geld. Was Marx dazu sagt, darf nicht in moralisierendem Sinne mißverstanden werden, es geht hier vielmehr um die Analyse eines tatsÇchlichen, vom Menschen selbst produzierten Entfremdungsprozesses, der am Ende das Selbstbewußtsein des Menschen betrifft, so daß auch eine rein Ùkonomische Analyse ethisch und humanistisch relevant ist: Das Geld, indem es die Eigenschaft besitzt, alles zu kaufen, indem es die Eigenschaft besitzt, alle Gegenst›nde sich anzueignen, ist also der Gegenstand im eminenten Sinn. Die Universalit›t seiner Eigenschaft ist die Allmacht seines Wesens; es gilt als allm›chtiges Wesen. [...] Was durch das Geld f¹r mich ist, was ich zahlen, d. h. was das Geld kaufen kann, das bin ich, der Besitzer des Geldes selbst. So groß ist die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschaften des Geldes sind meine - seines Besitzers Eigenschaften und Wesenskr›fte. Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine Individualit›t bestimmt. (konomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahtre 1844. MEW Erg›nzungsband. 1. Teil. S. 563 f.) Das Geld ist entscheidend fÜr den Warencharakter aller Dinge. Dieser Charakter gilt dann nicht nur fÜr die vom Menschen hervorgebrachten Dinge, sondern auch fÜr seine natÜrliche Umwelt. Werden die Felder eines Bauern in Geld- und Verkaufswert gemessen, so erhalten auch sie Warencharakter. Das gleiche gilt fÜr die Produkte des

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Bauern. Der Gedanke eines der Natur angemessenen Lebens verliert hier jeden Sinn, das Leben des Bauern ist genauso vergegenstÇndlicht und entfremdet wie das des Industriearbeiters. Wir verstehen dies in unserer Gegenwart noch besser: Wasser ist lÇngst zu einer Ware geworden, aber selbst die Luft wird in Geldwert gemessen, ein Haus in einer nicht luftverschmutzten Gegend hat sogleich einen hÙheren Wert, wir kaufen also auch die bessere natÜrliche Umwelt. Auch die Umwelt ist eine Ware (heute kann sogar Unterschreiten von Umweltverschmutzung durch LÇnder der dritten Welt an die großen Umweltverschmutzer der ersten Welt verkauft werden). Das Geld ist somit zur universalen Bestimmung des »Wesens« der Dinge geworden, und dies bestimmt rÜckwirkend das Selbstbewußtsein der Menschen als Besitzer oder Nicht-Besitzer, also deren »Selbstwert-GefÜhl«. Hier ist aber »Selbstwert« von jeglicher ethischen Beurteilung abgelÙst und rein Ùkonomisch konzipiert. Jeder bewertet sich nach seinem Kontostand und nach dem Wert seiner Aktien, also nach seinem Anteil am Kapital. Das Geld wird zu einer Macht, die wie die Natur wirkt, die Menschen haben nur noch die MÙglichkeit, Über eine bestimmte Menge des Geldes zu verfÜgen, nicht aber Über das Geld selbst. Ein vom Menschen geschaffenes Produkt hat sich also verselbstÇndigt und Übt jetzt eine nicht mehr unter der Kontrolle des Menschen stehende Macht auf sein Bewußtsein aus, es entfremdet somit die Menschen von sich selbst. Das Geld aber, das den Wert von allem bestimmt, kennt selbst keinen Wert im moralischen oder menschlichen Sinne, es hat vielmehr die Macht, beliebige solcher Werte in ihr Gegenteil zu verwandeln: Als diese verkehrende Macht erscheint es dann auch gegen das Individuum und gegen die gesellschaftlichen etc. Bande, die f¹r sich das Wesen zu sein behaupten. Es verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe in Haß, den Haß in Liebe, die Tugend in Laster, das Laster in Tugend, den Knecht in den Herrn, den Herrn in den Knecht, den Bl³dsinn in Verstand, den Verstand in Bl³dsinn. Da das Geld als der existierende und sich bet›tigende Begriff des Wertes alle Dinge verwechselt, vertauscht, so ist es die allgemeine Verwechslung und Vertauschung aller Dinge, also die verkehrte Welt, die Verwechslung und Vertauschung aller nat¹rlichen und menschlichen Qualit›ten. (Ebd. S. 566) Es geht Marx dann aber keineswegs um die Abschaffung des Geldes, eine RÜckkehr in die Naturalienwirtschaft wÜrde am VergegenstÇndlichungsprozeß nichts Çndern. Es geht ihm vielmehr darum, diesen Prozeß und die darin enthaltene Entfremdung kritisch bewußt zu machen und damit in seiner Macht zu brechen. Das Programm von Marx ist dabei primÇr humanistisch. Die vom Geldwert bestimmte Vertauschbarkeit aller Dinge sollte gebrochen werden: Setze den Menschen als Menschen und sein Verh›ltnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. [...] Jedes deiner Verh›ltnisse zum Menschen - und zur Natur - muß eine

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bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende ußrung deines wirklichen individuellen Lebens sein. Wenn du liebst, ohne Gegenliebe hervorzurufen, d. h. wenn dein Lieben als Lieben nicht die Gegenliebe produziert, wenn du durch deine Lebens›ußrung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnm›chtig, ein Ungl¹ck. (Ebd. S. 567)

3. Die Aufhebung der Entfremdung Marx ist der durchaus Überlegenswerten ¾berzeugung, daß dort, wo in der Geschichte Bewußtsein tatsÇchlich verÇndert wurde, dies nicht durch eine Theorie, sondern durch konkretes Handeln erreicht wurde: Diese Geschichtsauffassung [...] erkl›rt nicht die Praxis aus der Idee, erkl›rt die Ideenformationen aus der materiellen Praxis und kommt demgem›ß auch zu dem Resultat, daß alle Formen und Produkte des Bewußtseins nicht durch geistige Kritik, durch Aufl³sung ins »Selbstbewußtsein« oder Verwandlung in »Spuk«, »Gespenster«, »Sparren« etc., sondern nur durch den praktischen Umsturz der realen gesellschaftlichen Verh›ltnisse, aus denen diese idealistischen Flausen hervorgegangen sind, aufgel³st werden k³nnen - daß nicht die Kritik, sondern die Revolution die treibende Kraft der Geschichte auch der Religion, Philosophie und sonstigen Theorie ist. (Die Deutsche Ideologie. MEW 3. S. 37 f.) Die Theorien, welche die Menschen aufstellen, und somit auch die Philosophie als ganze, sind fÜr Marx ein Produkt der herstellenden TÇtigkeit des Menschen, das seine »ObjektivitÇt« nur dadurch gewinnt, daß die Menschen in ihrem Bewußtsein auch diesen Produkten entfremdet sind. Die Philosophie ist nichts anderes als die »ideale VerlÇngerung« der realen Geschichte (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. MEW 1. S. 383). Diese Auffassung wurde im orthodoxen Marxismus zu der bekannten Unterbau-¾berbaulehre ausgebaut, dort aber als ein linearer Vorgang angesehen, der nur in eine Richtung geht. Dies ist eine VerkÜrzung der marxschen Auffassung. Bei Marx selbst ist auch dieses VerhÇltnis von Wirklichkeit und Theorie dialektisch gedacht. Die Theorie ist zwar kein selbstÇndiger Bereich neben oder Über der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, indem sie aber mit ihrer Kritik die WidersprÜche dieser RealitÇt bewußt macht, die dort zwar tatsÇchlich vorhanden, aber nicht bewußt sind, geht sie Über das hinaus, was sie als bloße Verdoppelung dieser RealitÇt wÇre. Die bisherige Philosophie stellte jedoch tatsÇchlich nur eine solche Verdoppelung dar, und da die auch dort geÜbte Kritik rein theoretisch blieb, verÇnderte sie an der RealitÇt, die diese Vorstellungen hervorgebracht hatte, auch Überhaupt nichts:

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Diese Summe von Produktionskr›ften, Kapitalien und sozialen Verkehrsformen, die jedes Individuum und jede Generation als etwas Gegebenes vorfindet, ist der reale Grund dessen, was sich die Philosophen als »Substanz« und »Wesen des Menschen« vorgestellt, was sie apotheosiert und bek›mpft haben, ein realer Grund, der dadurch nicht im Mindesten in seinen Wirkungen und Einfl¹ssen auf die Entwicklung der Menschen gest³rt wird, daß diese Philosophen als »Selbstbewußtsein« und »Einzige« dagegen rebellieren. (Die Deutsche Ideologie. MEW 3. S. 38) Die unter diesen Voraussetzungen theoretisch entwickelbaren Ideen bleiben »Gespenster«, die kein reales Bewußtsein verÇndern kÙnnen. Nicht Ideen, sondern faktische VerhÇltnisse Çndern die Strukturen:

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Diese vorgefundenen Lebensbedingungen der verschiedenen Generationen entscheiden auch, ob die periodisch in der Geschichte wiederkehrende revolution›re Ersch¹tterung stark genug sein wird oder nicht, die Basis alles Bestehenden umzuwerfen, und wenn diese materiellen Elemente einer totalen Umw›lzung, n›mlich einerseits die vorhandenen Produktivkr›fte, andrerseits die Bildung einer revolution›ren Masse, die nicht nur gegen einzelne Bedingungen der bisherigen Gesellschaft, sondern gegen die bisherige »Lebensproduktion« selbst, die »Gesamtt›tigkeit«, worauf sie basierte, revolutioniert - nicht vorhanden sind, so ist es ganz gleichg¹ltig f¹r die praktische Entwicklung, ob die Idee dieser Umw›lzung schon hundertmal ausgesprochen ist wie die Geschichte des Kommunismus dies beweist. (Ebd. S. 38 f.) Daher stellte sich fÜr Marx die Frage, ob und wo in seiner Zeit und das heißt in seiner geschichtlichen Periode eine »revolutionÇre Masse« vorhanden wÇre, welche die bisherige »Lebensproduktion« und damit die »GesamttÇtigkeit« radikal verÇndern kÙnnte. Bekannterweise identifizierte er schließlich die Arbeiterklasse als jenes Subjekt, dem die ErfÜllung dieser welthistorischen Aufgabe zukommt. Nach Marx kann das System des Kapitalismus gar nicht anders, als nach immer grÙßerer AnhÇufung des Kapitals zu streben, d. h. den Wert der Arbeit im Vergleich zum Wert des erarbeiteten Produkts immer mehr herabzusetzen. Marx sieht hier einen weltgeschichtlichen Prozeß. Das bekannteste Dokument zur Geschichte und zur Forderung der Aufhebung der Entfremdung des Menschen ist das 1847/1848 verfaßte Manifest der Kommunistischen Partei (MEW 4. S. 459–493). Dem Manifest liegt eine universalgeschichtliche These zugrunde, die gleich im ersten Satz ausgesprochen wird: Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenk›mpfen. (Ebd. S. 462). Diese These wurde als deskriptiv-wissenschaftliche Theorie aufgefaßt. Als solche stimmt sie aber einfach nicht. Obwohl wahrscheinlich in den meisten KÇmpfen, die

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wir aus der Geschichte kennen, wirtschaftliche Interessen eine große, wenn auch nicht die einzig entscheidende Rolle gespielt haben, waren es doch nicht primÇr KlassenkÇmpfe, sondern StammeskÇmpfe. Dies gilt nicht nur fÜr frÜhere Perioden, sondern auch fÜr die Gegenwart, wie wir es in Afrika und jetzt sehr deutlich in Afghanistan beobachten kÙnnen. Von »Klassen« kann man in diesen Gesellschaften nur im Inneren derselben sprechen, ob dieser Begriff dort aber wirklich adÇquat angewandt werden kann, ist mehr als unklar. Das wußte auch Marx, und so verwendete er den allgemeineren Begriff von »UnterdrÜckern« und »UnterdrÜckten« (Ebd.). FÜr seine Zeit, in der mit mehr Recht als bei frÜheren Perioden von »Klassen« gesprochen werden kann, beobachtet Marx, daß sich hier die KlassengegensÇtze vereinfacht und universalisiert haben (wir sprechen heute von »Globalisierung« des Systems und der damit verbundenen GegensÇtze): Die Bourgeosie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumation aller L›nder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum Bedauern der Reaktion›re den nationalen Boden der Industrie unter den F¹ßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet und werden noch t›glich vernichtet. Sie werden verdr›ngt durch neue Industrien, deren Einf¹hrung eine Lebensfrage f¹r alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angeh³rige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. [...] Die nationale Einseitigkeit und Beschr›nktheit wird mehr und mehr unm³glich [...]. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartn›ckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. [...] Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde. (Ebd. S. 466) Es ergibt sich also ein Gegensatz von UnterdrÜckern und UnterdrÜckten, der nicht nur universalhistorisch die gesamte Geschichte durchzieht, sondern auch inzwischen, und das heißt schon zur Zeit von Marx, in einem einzigen System kosmopolitisch alle Gesellschaften der Menschheit umfaßt. GemÇß der hegelschen Dialektik wird hier von Marx vorausgesetzt, daß ein innerhalb eines Systems und von den Vertretern des Systems selbst und frei gewirkter Ausgleich unmÙglich ist. Seiner Meinung nach m¹ssen die GegensÇtze immer weiter auseinandertreiben, d. h. die Ausbeutung der Arbeiter muß im gesellschaftlichen Prozeß immer extremer werden: In Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung n›hert, nimmt der Aufl³sungsprozeß innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft einen so heftigen, so grellen Charakter an, daß ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolution›ren Klasse anschließt, der Klasse, welche die Zukunft in ihren H›nden tr›gt. (Ebd. S. 471)

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Ebenso muß dann an einem bestimmten Punkt die Umkehrung des Prozesses, in gesellschaftlichen VerhÇltnissen: die Revolution, mit Notwendigkeit einsetzen. Dies ist die Negation der Negation. Die Bewußtmachung der erforderlichen revolutionÇren Umkehr geschieht durch jenen »kleinen Teil« der herrschenden Klasse - zu der sich Marx selbst zÇhlt - der aufgrund seiner Bildung Über die nÙtigen kritisch-analytischen Instrumente verfÜgt, der aber nicht mehr als einen verstÇrkenden Einfluß des schon vorhandenen Bewußtseins ausÜben kann. Wie dies nach Marx vor sich gehen sollte, ist bekannt: Die Ausbeuter werden enteignet und der Besitz der Produktionsmittel wird Gemeinbesitz der Gesellschaft, die Entfremdung ist damit aufgehoben. Was sich aus der Negation der Negation ergibt, ist, wiederum nach den Prinzipien hegelscher Dialektik, nicht einfach eine andere Position, sondern eine neue Stufe der VerhÇltnisse und damit eine neue Stufe des Bewußtseins. Genauere Angaben Über die nachkapitalistische GesamttÇtigkeit kann und will Marx nicht machen. Die konkreter bestimmte marxistische Utopie eines idealen Endzustands stammt nicht von ihm selbst. Marx kann nur die Negation der Negation aussprechen, also etwa die klassenlose Gesellschaft, ohne darÜber hinaus genauere inhaltliche Bestimmungen liefern zu kÙnnen, da er dadurch der Theorie wieder MÙglichkeiten geben wÜrde, die er ihr vorher genommen hat. Die grundlegende geschichtsphilosophische Kategorie der Selbstkonstitution der menschlichen Gattung durch Arbeit gibt nur die MÙglichkeit der formalen Vorhersage, daß die Aufhebung entfremdeter Arbeit das »aufgelÙste RÇtsel der Geschichte« ist: Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Aufl³sung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Aufl³sung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenst›ndlichung und Selbstbest›tigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgel³ste R›tsel der Geschichte und weiß sich als diese L³sung. (konomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. MEW Erg›nzungsband. 1. Teil. S. 536) Da das Manifest der Kommunistischen Partei inzwischen seine Funktion als BÜrgerschreck verloren hat, ist eine gelassenere philosophiegeschichtliche Interpretation desselben mÙglich geworden. Es geht hier aber nicht nur um dieses Dokument, sondern um die gesamte Geschichtstheorie von Marx, die im Manifest nur kurz angedeutet wird. Daß es sich dabei um keine wissenschaftliche Theorie im Sinne der Wissenschaft der Neuzeit handelt, braucht nicht weiter erÙrtert zu werden (vgl. Popper 1969 und 1970). Was ist sie aber dann? Dazu ein Blick in die Geschichte: FÜr Aristoteles war es klar, daß die Geschichte kein Gegenstand einer Theorie sein kann, weil in ihr keine allgemeinen Gesetze festgestellt werden kÙnnen, welche die gesamte bisherige Geschichte betreffen und welche auch mit Notwendigkeit in der

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Zukunft gelten mÜssen. TatsÇchlich gibt es in der gesamten griechischen Philosophie Abhandlungen zur Physik, zur Biologie, zur Mathematik, zur Metaphysik, zur Poetik usw., aber es gibt keinen Traktat zu einer Philosophie der Geschichte. Der Historiker Thukydides gelangte zu einigen Verallgemeinerungen, die wir heute als »SelbstverstÇndlichkeiten« (truisms) bezeichnen wÜrden, so z. B.: [...] da ihr so gut wißt wie wir, daß im menschlichen Verh›ltnis Recht gilt bei Gleichheit der Kr›fte, doch das M³gliche der •berlegene durchsetzt, der Schwache hinnimmt. (Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Sechzehntes Jahr [89]. S. 433) Aufgrund solcher im Alltagsleben bestÇtigter Verallgemeinerungen meinte aber bei den Griechen niemand, dadurch ließe sich eine Wissenschaft oder eine Philosophie der Geschichte konstruieren. Die Situation verÇnderte sich mit Augustinus. Dieser verfaßte nÇmlich den Gottesstaat. Augustinus interessierten wissenschaftstheoretische Fragen sehr wenig, und daher erklÇrte er auch nicht, was seine Schrift Vom Gottesstaat (De civitate Dei) unter dieser Hinsicht eigentlich darstellt. Zudem gab es die Unterscheidung von Philosophie und Theologie damals Überhaupt noch nicht. Von unserem heutigen Standpunkt aus gesehen handelt es sich dabei um eine auf der Bibel und auf den manichÇischen ¾berzeugungen des Augustinus beruhende Geschichtstheologie/-mythologie. FÜr Augustinus ist die gesamte Geschichte nach dem Prinzip eines Kampfes von gÙttlichem und irdischem Reich (civitas Dei-civitas terrena) konstruiert (vgl. 2. Teil, Kap. III, 6). Eine selbstÇndige Geschichtsphilosophie hat sich nie entwickelt, und nach aristotelischen Prinzipien der Wissenschaft konnte sich eine solche auch nicht entwickeln. Auch im Mittelalter Çnderte sich daran nichts. Joachim von Fiore (1131–1202) konnte im 12. Jhd. eine von Augustinus verschiedene Theorie der Geschichte entwickeln, aber auch bei ihm war eine solche nur von theologischen Voraussetzungen her mÙglich. Der Unterschied bestand »nur« darin, daß Augustinus (wie Hegel) im Prinzip nur zwei Perioden der Geschichte kannte: vor und nach Christus (entsprechend dem Prinzip Alter und Neuer Bund), wÇhrend Joachim von Fiore drei Perioden annahm (nach einem trinitarischen Prinzip; vgl. 2. Teil, Kap. XII, 2): eine des Vaters (Altes Testament), eine des Sohnes (Neues Testament) und dann eine zukÜnftige oder eben anbrechende Periode des Geistes (so wie auch Marx eine neue Periode der Geschichte anbrechen sieht). Daß eine Theorie der Geschichte unter theologischen Voraussetzungen entwickelt wird, gilt weithin auch fÜr die Neuzeit: Der hier immer wieder angepriesene Fortschrittsglaube zeigt mehr als deutlich seine theologische Herkunft aus der Vorstellung eines linearen Geschichtsverlaufs und aus der Hoffnung auf die Ankunft des Gottesreiches. Hegel schließlich machte die theologische Herkunft seiner Geschichtstheorie in jeder Hinsicht ganz ausdrÜcklich deutlich. Und wenn Marx die Philosophie von Hegel vom idealistischen Kopf auf die materialistischen FÜße stellen wollte, so ist eigentlich alles klar: Die Geschichtstheorie von Marx ist die sÇkularisierte Form bis-

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Karl Marx

heriger Geschichtstheologie. Mit den Worten Karl LÙwiths (1897–1973): »Der historische Materialismus ist Heilsgeschichte in der Sprache der NationalÙkonomie« (LÙwith, 1967. S. 48). Dabei ist noch festzustellen, daß die Sprache der NationalÙkonomie ein ziemlich Çußerliches sprachliches Mittel bleibt, an den entscheidenden Stellen bricht jedoch die Sprache der Heilsgeschichte bei Marx ganz offen durch (vgl. in den Zitaten vorher »das aufgelÙste RÇtsel der Geschichte«, der »Kampf, der sich der Entscheidung nÇhert«; die Liste ließe sich beliebig verlÇngern). Marx war sich Über die Herkunft seiner Sprache ganz im klaren und spielte hervorragend mit diesem semantischen Material. Hier ein kleines Beispiel aus der Auseinandersetzung mit Max Stirners (1806–1856) Werk Der Einzige und sein Eigentum. Das ganze spielt auf dem »Leipziger Konzil«, und es spricht »Sankt Max«, dessen Buch »bekanntlich gegen 1844 aus dem Himmel herabgefallen« war (Die Deutsche Ideologie. MEW 3. S. 101):

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Im Anfang war das Wort, der Logos. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheinet in die Finsternis und die Finsternis hat es nicht begriffen. Das war das wahrhaftige Licht, es war in der Welt und die Welt kannte es nicht. Es kam in sein Eigentum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Eigent¹mer zu werden, die an den Namen des Einzigen glauben. Aber wer hat den Einzigen je gesehen? (Ebd. S. 253) Marx arbeitete also wie Hegel mit der traditionellen Geschichtsphilosophie/-theologie. An dieser Stelle ist jedoch eine Unterscheidung wichtig: In der biblisch-christlichen Geschichtsauffassung gab es nÇmlich zwei doch recht verschiedene Formen der Eschatologie, die gewÙhnlich als die »prÇsentische« und die »futurische« Eschatologie gekennzeichnet werden. Die ursprÜngliche, jÜdisch-prophetische Eschatologie ist jene, die auf einen zukÜnftigen Messias wartet, der die Heilszeit einleitet, die dann schließlich in einem Weltgericht gipfelt. Diese prophetische Eschatologie ist auf ein zukÜnftiges Ziel der Geschichte gerichtet, an dem schließlich alle VÙlker zum Berge Zions strÙmen und alle Ungerechtigkeit und alles Leid Überwunden sein werden. Bei den Christen, die glaubten, daß der Messias schon gekommen sei, wurde dieser ersten Ankunft eine zweite gegenÜbergestellt, welcher der Entscheidungskampf zwischen dem Christus und dem Antichrist vorausgehen sollte. Neben dieser eindeutig futurischen Eschatologie, die von den Synoptikern (in den Evangelien des Markus, MatthÇus und Lukas reprÇsentiert), entwickelte sich jedoch eine andere Form, nÇmlich eine prÇsentische Eschatologie, in der dieses ganze geschichtliche Schema in ein Geschehen in der Seele uminterpretiert wurde. Der bekannteste Autor dieser Richtung ist der Evangelist Johannes. Dies stellt die gnostische Version der Eschatologie dar, die eigentlich gar keine Theorie der Geschichte der Menschheit ist, sondern eine der individuellen Seele. In dieser gnostischen Form wurde die Menschwerdung Gottes zum entscheidenden »Ereignis«, das auch sofort als die

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stÇndig geschehende Gottesgeburt in jeder glÇubigen Seele ausgelegt werden konnte. Mit der prÇsentischen Eschatologie des Johannes sind wir wieder bei der Geschichte des 19. Jhd.s. Dort war nÇmlich das Johannesevangelium der wichtigste biblische Text, und dies gilt fÜr Fichte und Hegel ebenso wie fÜr Schleiermacher. FÜr Hegel ist dann entsprechend die Menschwerdung Gottes zentral, denn damit ist auch das Entscheidende in der Geschichte schon geschehen, und vermittelt durch dieses »Ereignis« ist auch das absolute System im Denken (so wie bei den Gnostikern in der Seele) schon verfÜgbar. Aber genau an diesem Punkt geht Marx nicht den Weg der prÇsentisch-eschatologischen Version Hegels (= Johannes) mit, sondern geht auf die futurisch-messianische Form der Synoptiker zurÜck, was eigentlich bedeutet: Er geht auf die authentisch jÜdischen Wurzeln des Christentums zurÜck. Marx war letztlich doch selbst authentisch prophetisch-messianischer Jude, der das Heraufkommen des Gottesreiches ersehnte und dabei, wie alle Propheten des Judentums, nicht nur zusehen, sondern praktisch an diesem Herbeikommen mitwirken wollte. Sein auserwÇhltes Volk war allerdings nicht mehr das rassisch bestimmte Volk Israels im Exil, sondern universell die Klasse der UnterdrÜckten und Ausgebeuteten aller VÙlker, die aber doch, und gerade weil sie die UnterdrÜckten sind, das auserwÇhlte Volk, die Bringer des Lichts und der Gerechtigkeit, sind. Diese AuserwÇhlten sind somit auch die wahren BÜrger des Gottesreiches, so wie die des Gottesstaates des Augustinus, denen die UnterdrÜcker des irdischen Reiches des Augustinus gegenÜberstehen. Allerdings wird, anders als bei Augustinus und mit Joachim von Fiore, der Anbruch einer neuen Geschichtsepoche erwartet und verkÜndet. Es kommt also fÜr Marx nur darauf an, das Weltgericht aus seinen himmlischen HÙhen auf die Erde herunterzuholen, die Weltgeschichte somit nicht nur wie bei Hegel als Weltgericht anzusehen, sondern praktisch dazu zu machen. Die ganze Weltgeschichte ist ein Kampf zwischen dem Gottesstaat und dem Reich des BÙsen. Die moralische Aufgabe der Propheten ist es, dies den Menschen immer wieder klarzumachen. Noch einmal mit LÙwith: »Das Kommunistische Manifest ist in erster Linie ein prophetisches Dokument« (LÙwith, 1967. S. 46). Sogar die berÜchtigte Forderung der Aufhebung des Privateigentums von Marx hat seine eindeutige Parallele in der christlichen Urgemeinde, wenn von dieser berichtet wird: »Und alle, die glÇubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nÙtig hatte« (Apg. 2, 44 f.). - Im Zusammenhang mit Marx wurde immer wieder auf den »VorlÇufer« Thomas MÜntzer (1468–1525) hingewiesen, was vÙllig richtig ist. Die Frage ist nur, ob man mit »VorlÇufer« schon die Sache wirklich ausreichend erfaßt hat. MÜntzer stammte (wie Marx) aus gutbÜrgerlicher Familie, war bestens gebildet und hatte die Schriften von Tauler und Seuse, aber auch von Joachim von Fiore gelesen. Er verbÜndete sich mit Bergarbeitern und Bauern und war maßgeblich an den BauernaufstÇnden in ThÜringen beteiligt. Es gab also in der frÜhen Neuzeit neben mystischen auch revolutionÇre Bewegungen, und wenn daher wiederholt gesagt wurde,

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daß die Philosophie des Deutschen Idealismus, zu der Marx in »umgekehrter« Form auch gehÙrt, nicht »das« Bewußtsein des Menschen reflektierte, sondern jenes, das sich in der frÜhen Neuzeit herausbildete (vgl. Kap. XVI, 5, und XIX, 3), so kommt bei Marx nun die »unbÜrgerliche« Seite dieses Bewußtseins zur Sprache. Marx kannte die Geschichte und er kannte die Philosophie Hegels sehr gut. Hegel war in seiner frÜhen Zeit von der Frage ausgegangen, wie aus der Botschaft Jesu, die Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit forderte, eine Kirche werden konnte, die das genaue Gegenteil von dem ist, was ihr Urheber wollte (vgl. Kap. XVII, 1). Daß aus der ursprÜnglichen Botschaft Jesu ein dogmatisch erstarrtes System wurde, das einen Unfehlbarkeitsanspruch erhob, einen Personenkult etablierte, das sich in einer zentralistischen MachtbÜrokratie einmauerte und alle »Abweichler« bespitzelte und verfolgte, war und ist genÜgend bekannt. Es hÇtte sich also fÜr Marx die Reflexion nahelegen kÙnnen, wie es verhindert werden kÙnnte, daß auch aus seiner eigenen Botschaft von einer gerechteren Welt, in der es nicht mehr UnterdrÜcker und UnterdrÜckte geben sollte, die gleichen Mechanismen wie bei der Kirche/den Kirchen dazu fÜhren, daß daraus am Ende wieder ein Instrument der UnterdrÜkkung wird. Diese Meta-Reflexion fehlt bei Marx, und das hatte schlimme Folgen. Bekanntlich ist manches nicht so vor sich gegangen, wie Marx und die Marxisten es sich vorgestellt haben. Dennoch sollten wir ’ußerungen wie: »Der Marxismus ist durch die Geschichte widerlegt worden« und Çhnlichen Behauptungen etwas zurÜckhaltend gegenÜberstehen. Bei der Behauptung, der Marxismus sei faktisch widerlegt worden, wird z. B. hÇufig auf das Scheitern der Planwirtschaft hingewiesen. Das Argument ist jedoch nicht stichhaltig. Das Modell der Planwirtschaft gehÙrt nicht zur marxschen Theorie, und Marx hatte fÜr sein zukÜnftiges Reich der Gerechtigkeit, wie schon gesagt, nur ganz allgemeine und formale Forderungen zur VerfÜgung. Es wurde gegen Marx eingewandt, daß dieser annahm, die GegensÇtze in der Gesellschaft mÜßten sich notwendig immer weiter verstÇrken, bis es zu einer revolutionÇren VerÇnderung kommt. In diesem Zusammenhang wird dann gerne darauf verwiesen, daß diese GegensÇtze doch schon seit langem am Verhandlungstisch beseitigt werden und selbst richtige ArbeitskÇmpfe heute nach strengen Regeln vor sich gehen. Dies ist richtig, auf der anderen Seite wÇre es aber mÙglicherweise gefÇhrlich, naiv zu meinen, diese friedlichen KonfliktlÙsungen mÜßten immer funktionieren. Die gesellschaftliche Situation hat sich seit dem 19. Jhd. sehr verÇndert, heute sind auch die Arbeitenden die Besitzenden und die Arbeitslosen sind die von der RealitÇt wirklich Entfremdeten. Niemand ist heute in der Lage zu sagen, wie groß die Zahl der Arbeitslosen werden muß oder wie gering deren ihnen zugestandener Anteil am Besitz der Gesellschaft werden kann, ohne daß sich daraus eine »revolutionÇre Masse« bildet. Ebenso kann niemand garantieren, daß sich nicht eines Tages Millionen Verhungernde aus der dritten Welt auf den Marsch in die reichen LÇnder aufmachen. Wir kennen alle die Bilder von den mit FlÜchtlingen aus den verschiedensten LÇndern ÜberfÜllten Schiffen. - Auch wenn der Marxismus in unserer

Die Aufhebung der Entfremdung

Gegenwart keine geschichtsmÇchtige Kraft mehr ist - was viele begrÜßen und einige bedauern -, sollte man doch gegenÜber der manchmal daraus abgeleiteten ¾berzeugung, der Kapitalismus sei das aufgelÙste RÇtsel der Geschichte, eine gesunde Skepsis bewahren. Bei kontrÇr Entgegengesetzten kann bekanntlich nur eines wahr sein, nichts garantiert uns aber, daß nicht beide falsch sind.

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S³ren Kierkegaard

1. Der Schriftsteller

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Hegel hatte ein System schaffen wollen und verwirklichte es teilweise, jedenfalls legte er in der EnzyklopÇdie die GrundzÜge des Ganzen dar. Der Gegensatz zwischen Hegel und Kierkegaard tritt so schon in der Art ihrer Schriften zutage. Hegel wollte so schreiben, daß eigentlich nicht mehr das Individuum Hegel schreibt, sondern sich das Absolute durch das Medium Hegel offenbart. Bei SÙren Kierkegaard (1813–1855) findet sich kein systematischer Aufbau. Kierkegaard betrachtete sich als Schriftsteller, und als solcher verwendete er eine ganze Anzahl verschiedener literarischer Ausdrucksformen, zu denen nicht zuletzt die sehr persÙnliche Form des Tagebuchs gehÙrt. Doch allem Anschein nach waren auch diese Schriften von vornherein zur VerÙffentlichung konzipiert, d. h. die sich als zufÇllig prÇsentierende Form des Schreibens war vermutlich immer schon von einer Absicht der allgemeinen Form der Mitteilung diktiert. Vor allem aber ist auffÇllig, daß Kierkegaard oft anonym, bzw. unter einem Pseudonym schrieb; eine Methode, die sicherlich auch dem Zweck diente, den einheitlichen Charakter eines »Werkes« schon von Anfang an auszuschließen, d. h. jeden systematischen Anspruch zu zerstÙren. Kierkegaard ist nicht ein Autor, der sein Werk der ²ffentlichkeit Übergibt, sondern er ist irgend jemand, ein sehr bewußter Einzelner, der die ²ffentlichkeit von verschiedenen Seiten her herausfordert oder auch angreift. In der frÜhen Neuzeit war es der Einzelne, der sich gegenÜber dem Allgemeinen durchsetzen mußte. Jetzt im 19. Jhd. ist es der Einzelne, der sich vor einer ÜbermÇchtigen Allgemeinheit schÜtzen und, wenn er sie kritisieren will, sich vor dem Zugriff dieser Allgemeinheit verbergen muß. Das Problem ist weitreichend: Kierkegaard verbirgt sich hinter einer AnonymitÇt, um seine IndividualitÇt zu schÜtzen; in der spÇteren Zeit bis in die unsere wird dann allerdings eine AnonymitÇt geschaffen werden, hinter der keine IndividualitÇt mehr steht. Hier gibt es nichts mehr zu schÜtzen. Wie immer man sonst auch den Schriftsteller Kierkegaard beurteilen mag, so muß man seinen Scharfsinn anerkennen, mit dem er gesehen hat, daß die IndividualitÇt, die als Errungenschaft der Neuzeit gilt, keine gesellschaftliche SelbstverstÇndlichkeit geworden ist, sondern sich wiederum in einer anonymen Masse auflÙsen kann.

Der Schriftsteller

Obwohl Kierkegaard sehr empfindlich auf jede Kritik an seinen Schriften reagierte, schrieb er doch in erster Linie fÜr sich selbst, aber gerade dieses Schreiben f¹r sich, bei dem der Autor selbst ganz und gar mit im Spiel ist, ist der richtige Ausdruck des existentiell betroffenen Schriftstellers Kierkegaard. Doch auch wenn er ganz und gar fÜr sich schreibt, enthalten seine Texte dennoch eine Botschaft, eine Mitteilung, er schreibt also auch f¹r andere. Dies wird jedoch bei Kierkegaard sofort wieder verfremdet, denn es darf keine AutoritÇt geben, auf die gehÙrt wird, und so verstellt er durch das Pseudonym bzw. die Pseudonyme wiederum den Blick auf den Autor. Als Schriftsteller will er nicht belehren, sondern provozieren, d. h. bei jedem Leser individuelle und subjektive Reaktionen hervorrufen. Kierkegaard tritt als Schriftsteller mit dem Leser in einen Dialog, verschwindet aber gleichsam sofort wieder und ÜberlÇßt den Leser und den Text sich selbst: Der Leser soll ein Einzelner werden. Kierkegaard versteht sich nicht als Wissender, er will nur dem Leser helfen, das zu Bewußtsein zu bringen, was er schon von sich aus wissen kÙnnte. Hegel doziert und Kierkegaard provoziert, und diese Unterschiedlichkeit ist von Kierkegaard beabsichtigt. Kierkegaard wollte genau das nicht tun, was Hegel tat. Nach der Auffassung Kierkegaards liegt hierbei eine Parallele zu Sokrates vor, dessen »Hebammenkunst« das Modell seiner »indirekten Mitteilung« abgeben soll. Dies gilt allerdings nur fÜr den Sokrates Kierkegaards, denn der historische Sokrates stellte sich einer Ùffentlichen Diskussion und hatte als Ziel, zu intersubjektiv verbindlichen Aussagen zu gelangen. Hegel war der Lehrer auf dem Katheder, der regelmÇßig seiner Vorlesungspflicht nachkommen mußte und der dies, da er bewundert wurde, auch gerne tat. Kierkegaard war der Schriftsteller, der Gelegenheitsschriften verfaßte, er wandte sich an keine HÙrer, sondern an ein Publikum. Er rief Polemiken hervor, und wenn er angegriffen und verhÙhnt wurde, genoß er auch dies (mit »MÇrtyrergesinnung«). Hegel war mit sich selbst zufrieden, wie eben jemand zufrieden sein konnte, in dem sich der »absolute Geist« aussprach. Kierkegaard war an sich selbst verzweifelt, wie nur jemand an sich verzweifeln kann, der, wie Kierkegaard meinte, unter einem Fluch steht (sein Vater hatte in seiner Jugend aus Verzweiflung Gott verflucht, war aber dann zu einem strengen Pietisten geworden). Hegel lebte ein zufrieden bÜrgerliches Leben, Kierkegaard meinte, nicht die charakterlichen VorzÜge (vor allem die radikale Offenheit) mitzubringen, um seine Verlobte Regine Olsen zu heiraten, und war dann wieder tief verzweifelt, als diese einen anderen heiratete. Kierkegaard konnte sich all dies leisten: Er hatte von seiner Familie her genÜgend Geld, um Theologie zu studieren, aber nicht Pfarrer werden zu mÜssen; er konnte schreiben, was er wollte, denn er brauchte nicht vom ErlÙs seiner BÜcher zu leben. Es ist daher nicht einfach billige und bÙsartige Kritik, wenn man sagt: Vieles an der existentiellen Verzweiflung und an der Suche nach einem authentischen Selbst, das Kierkegaard vorlebte und Über das er, offensichtlich aus einem inneren BedÜrfnis heraus, schrieb, war ohne Zweifel echt erlebt und gemeint, aber es waren eben auch Probleme, die sich (nur) ein in gesicherter Existenz Lebender leisten konnte.

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Die existentiellen Probleme Kierkegaards waren keine Existenzfragen, die hatte er nÇmlich nicht. Er hatte wÇhrend seiner Studienzeit das Leben auf den Boulevards und in den Cafµs genossen, wo er als geistreicher Konversationspartner bekannt war. SpÇter erkannte und kritisierte er die Geistlosigkeit und BanalitÇt dieser Lebensform und meinte, daß die ²de solchen Lebens zur Verzweiflung treiben mÜsse. Vor diesem Hintergrund forderte er von den Menschen eine Umkehr, eine radikal andere Existenzentscheidung. Was Kierkegaard jedoch nicht sah, war, daß die Armut, die damals in DÇnemark Überall herrschte, eine Verzweiflung hervorbringen konnte, die durch keine existentiellen Entscheidungen zu Überwinden war. Es bleibt problematisch, daß den existentiellen Problemen Kierkegaards so etwas wie der Charakter von Luxus anhaftet. Nicht umsonst wurden Kierkegaards Schriften bei Henrik Ibsen (1828–1906) und August Strindberg (1849–1912) wirksam, dort allerdings unter bewußter Absehung von allen theologischen Folgerungen. Strindberg zeichnet oft in beinahe unertrÇglicher SchÇrfe und Bitterkeit jene Welt des BÜrgertums, das an nichts mehr glaubt und das nur davon lebt, den oder die anderen zu Übervorteilen: Um Über jemanden Macht zu gewinnen, kauft einer dessen Schuldscheine; aus dem Wissen Über geheime Verbrechen eines anderen gewinnt einer die MÙglichkeit der Erpressung und wird so selbst zum Verbrecher; die Frau hat eigentlich nur die Aufgabe, den Mann zu vernichten usw. Es ist eine Welt, in der jeder die anderen auszunutzen versucht und in der dies auch tatsÇchlich, wenigstens einigen, gelingt. Doch es gelingt eben nur deshalb, weil es neben diesen BÜrgern andere gibt, die allesamt ausgenutzt werden. Die zwischenmenschliche BÙsartigkeit bei Strindberg ist das Spiel einer Gesellschaft, die sich dies leisten kann, weil sie nichts anderes zu tun hat. Die Verzweiflung Kierkegaards und der Gestalten Strindbergs ist nicht jene der schlesischen Weber, die sich 1844 von dem anrÜckenden MilitÇr erschießen ließen, als sie wegen des Hungers einen Aufstand begannen, und es ist auch nicht die Verzweiflung jener englischen Arbeiter, die 1839 in Birmingham die Stadt verwÜsteten und die Fabriken in Brand setzten, bis der Herzog von Wellington den Aufstand niederschlug.

2. Paradox gegen Synthese Die Frage des VerhÇltnisses von Endlichem und Unendlichem ist seit Plato eine Urfrage der europÇischen Metaphysik. In dieser Hinsicht gipfelt die europÇische Metaphysik in Hegel, der diese Urfrage systematisch und in einem System aufarbeiten wollte und meinte, diese Aufgabe auch tatsÇchlich erledigt zu haben. Bei Hegel wird auch das Endliche reflektiert, aber eben als Moment des Unendlichen, des Absoluten. Der Einzelne, das Individuum, das Subjekt als solches, ist damit das noch Unbegriffene, das in seinem Stellenwert erst dort begriffen ist, wo es im Zusammenhang der Verwirklichung des absoluten Geistes erfaßt wird. In der erreichten Synthese

Paradox gegen Synthese

kann der Einzelne und Endliche als solcher gar nicht mehr thematisiert werden, da er nun mit dem Unendlichen »versÙhnt« ist. Hegels Anspruch nach hat die Philosophie - die im Geist des Philosophen zwar subjektiv, gleichzeitig jedoch Vollzug des Objektiven ist - die Vermittlung des Endlichen mit dem Unendlichen, die VersÙhnung des Einzelnen mit dem sich in der und durch die Weltgeschichte verwirklichenden absoluten Geist erreicht. Gegen diesen hegelschen Anspruch verwirklichter VersÙhnung durch die Philosophie haben sich verschiedene Philosophen wie Kierkegaard, Schopenhauer, aber auch Marx gewandt. Sie alle bestehen darauf, daß angesichts der unversÙhnten Welt jede Behauptung einer an sich versÙhnten Welt falsch ist. Somit muß das System, das eine solche Synthese behauptet, kritisiert werden, da es nur den Blick auf die Wirklichkeit verstellt. Kierkegaard geht bei seiner Kritik dieses Systems von den WidersprÜchen aus, die der Einzelne in seinen existentiellen Bedingungen erfÇhrt und die sich jeder VersÙhnung auch nur im Denken entziehen. Der erste dieser WidersprÜche ist bereits der vom Denken und Sein. Hier wird nun keinen Augenblick vergessen, daß das Subjekt existierend ist, und daß das Existieren ein Werden ist, und daß daher jene Wahrheit von der Identit›t von Denken und Sein eine Schim›re der Abstraktion ist und in Wahrheit nur ein sehns¹chtiges Verlangen der Kreatur, nicht weil die Wahrheit dies nicht etwa w›re, sondern weil der Erkennende ein Existierender ist, und somit die Wahrheit nicht dies f¹r ihn sein kann, solange er existiert. Wird das nicht festgehalten, so gehen wir sofort mit Hilfe der Spekulation in das phantastische Ich-Ich hinein, das die neuere Spekulation zwar gebraucht hat, aber wovon sie nicht erkl›rt hat, wie das einzelne Individuum dazu in Beziehung stehe, und Herrgott, mehr als ein einzelnes Individuum ist doch nun einmal kein Mensch. (Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift I. S. 187) Existieren ist Werden, also VerÇnderung. Die Identit›t des Ichs, von der die Philosophen meinten sprechen zu kÙnnen, ist genau jener Punkt, der nur durch eine von aller konkreten Existenz absehenden Abstraktion erreicht wird. Diese abstrakte Identit›t ist aber fÜr den konkret existierenden Menschen irrelevant. Gerade die Ganzheit der Existenz, die einzig eine solche IdentitÇt dem Menschen verfÜgbar machen wÜrde, ist dem Menschen nie erreichbar. Der Mensch erfÇhrt sich als stets in einem Prozeß befindlich, als immer wieder von neuem vor die Wahl und Entscheidung gestellt, so daß jede Vorstellung einer erreichten IdentitÇt, die eine Ganzheit voraussetzen mÜßte, als illusorisch erscheint. In dieser Situation ist dem Menschen keinerlei objektive Wahrheit vorgegeben, an der er seine subjektive Wahl und so seine subjektive Wahrheit feststellen kÙnnte. (Auch dies setzte allerdings wieder die vermÙgende Freizeitgesellschaft des gehobenen BÜrgertums voraus: Die Menschen, die jeden Morgen an die Arbeit gehen mÜssen, um ihr Existenzminimum zu erwirtschaften, stehen normalerweise vor gar keiner Wahl!) Subjektiv kennt und weiß der

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Mensch nach Kierkegaard nur von dem Streben nach Wahrheit und so von »wahrhafter Existenz«. Es ist ihm jedoch kein Standpunkt außerhalb seiner selbst gegeben, von dem aus er einen objektiven Vergleich anstellen kÙnnte, so wie es die traditionelle Auffassung von Wahrheit wollte: Vergleichen von Ding und Vorstellung. Die Situation der UnverfÜgbarkeit von Wahrheit wird durch den Zweifel ganz deutlich, der nach Kierkegaard den Anfang zur hÙchsten Form des Daseins darstellt: Der Zweifel Kierkegaards ist hier in keiner Weise ein methodischer Zweifel an der Wahrheit objektiver Aussagen, die das Subjekt existentiell gar nicht betrifft, vielmehr werden in diesem Zweifel dem Menschen verschiedene ihn betreffende MÙglichkeiten des Existierens, des Sich-Verhaltens, deutlich, zwischen denen er wÇhlen muß. Da sich diese Entscheidungssituation als je einmalige nicht wiederholt, bedeutet die Entscheidung fÜr eine der MÙglichkeiten EndgÜltigkeit. Durch die Entscheidung wird EndgÜltigkeit hergestellt, ohne daß diese EndgÜltigkeit objektive GÜltigkeit im Sinne der objektiven Wahrheit beanspruchen kÙnnte. Dies stellt einen Widerspruch dar, den die Reflexion nicht aufheben kann und darf.

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Der Weg der objektiven Reflexion macht das Subjekt zu dem Zuf›lligen und damit die Existenz zu etwas Gleichg¹ltigem, Verschwindendem. Fort vom Subjekt geht der Weg zur objektiven Wahrheit, und w›hrend das Subjekt und die Subjektivit›t gleichg¹ltig werden, wird die Wahrheit es auch, und gerade dies ist ihre objektive G¹ltigkeit; denn das Interesse ist, ebenso wie die Entscheidung, die Subjektivit›t. (Ebd. I. S. 184) Dahinter steht auch eine kultur- und gesellschaftskritische Intention: Kierkegaard wirft - wie in der Theorie der Stufen noch deutlicher werden wird - den Menschen seiner Zeit vor, daß sie oberflÇchlich und gleichgÜltig geworden sind, und er meint, daß eine philosophische Theorie, die das Subjektive hinter einer universalen ObjektivitÇt verschwinden lÇßt, solche GleichgÜltigkeit geradezu legitimiert. DemgegenÜber versteht sich Kierkegaard als ausdrÜcklich subjektiver Denker, der dadurch gekennzeichnet ist, daß er die GleichgÜltigkeit, das Desinteresse an der eigenen Existenz, Überwindet. Die Aufgabe des subjektiven Denkers besteht darin, sich selbst in Existenz zu verstehen. (Ebd. II. S. 55) Dieses Verstehen darf nicht wieder ein objektivierendes sein, die Existenz darf nicht zu einem Gegenstand werden. Nach Kierkegaard erfaßt nur der Mensch, der in seiner subjektiven Entscheidung meint, alles gewinnen oder alles verlieren zu kÙnnen, die Wahrheit. Er muß also die objektive Gleich-GÜltigkeit von allem Überwinden. WÇhrend nach traditioneller Auffassung gerade die Leidenschaft den »klaren Blick« trÜbt, ist Wahrheit fÜr Kierkegaard immer mit Leidenschaft verbunden:

Paradox gegen Synthese

In der Leidenschaft ist das existierende Subjekt in der Ewigkeit der Phantasie unendlich gemacht, und doch zugleich am allerbestimmtesten es selbst. (Ebd. I. S. 188) Was Kierkegaard hier fordert ist mehr als Interesse im Üblichen Sinne des Wortes, es ist Einsatz der ganzen Person. Nur die Leidenschaft Ùffnet Überhaupt den Blick fÜr die Unendlichkeit, nur die Leidenschaft bringt den Menschen zu Leistungen, die er sich sonst nie zugetraut hÇtte, und nur sie erÙffnet daher dem Menschen MÙglichkeiten, die ihm sonst verschlossen blieben. Leidenschaft allein ermÙglicht die Grenz¹berschreitung vom Endlichen zum Unendlichen: Nicht ¾berschreitung im Sinne eines Prozesses, sondern ¾berschreitung im Sinne eines Sprunges. Es muß ein Wissen um eine qualitative Differenz erreicht werden, die neue QualitÇt dieses Wissens wird aber nur in einem Sprung erreicht. Genau dies bedeutet fÜr Kierkegaard »Existenz« als »Hinaus-Stehen«. Daher kann eine solche ¾berschreitung auch immer nur »Ereignis« oder »Moment« sein, sie kann nie besessen werden und in diesem Sinne auch nie Gegenstand objektiver Erkenntnis sein. Nur momentweise kann das einzelne Individuum existierend in einer Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit sein, die ¹ber dem Existieren hinausliegt. Dieser Moment ist der Augenblick der Leidenschaft. (Ebd. I. S. 187) Das H³chste der Innerlichkeit eines existierenden Subjekts ist Leidenschaft; der Leidenschaft entspricht die Wahrheit als ein Paradox, und daß die Wahrheit das Paradox wird, ist gerade in ihrem Verh›ltnis zu einem existierenden Subjekt begr¹ndet. (Ebd. I. S. 189) Aus dieser Bestimmung wird sofort deutlich, daß es nicht mÙglich ist, »Wahrheit« im Sinne von Paradox durch eine Definition festzulegen, denn Definieren wÜrde wieder bedeuten, objektiv und intersubjektiv an etwas heranzugehen, das nur in einem VerhÇltnis des existierenden Subjekts zu seinen MÙglichkeiten bzw. UnmÙglichkeiten besteht. Bei der paradoxen Wahrheit geht es daher nicht um Darstellung oder ErklÇrung dieses VerhÇltnisses, sondern nur um die existentielle Verwirklichung desselben. Nicht das Was, sondern einzig das Wie dieses VerhÇltnisses steht auf dem Spiel. Die MÙglichkeit des existentiellen In-die-Tat-Setzens der paradoxen Wahrheit entspringt aus der existentiellen Verzweiflung, aus der sich der Mensch nach Kierkegaard nur durch einen Sprung, einen Akt der Notwehr, retten kann, in dem gegen alle Erwartung (Para-dox = gegen den Anschein) das Absolute als Subjekt gefordert wird. Die Evidenz, daß in diesem Sprung wirklich Wahrheit erreicht wird, findet Kierkegaard darin, daß die Not der Verzweiflung - fÜr den Moment des Glaubens - gewendet wird, sich also Gott als Notwendigkeit zeigt. Auch diese Evidenz ist keine objektive, anschaubare und ÜberprÜfbare, sondern ist eine, die sich nur momenthaft ereignet, sie widerfÇhrt dem Menschen, der sich auf das Risiko des Sprunges einlÇßt.

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Auf diese Weise wird Gott freilich ein Postulat, aber nicht in der unfruchtbaren Bedeutung, worin man dies Wort sonst nimmt. Vielmehr wird deutlich, daß die einzige Art, wie ein Existierender in ein Verh›ltnis zu Gott kommt, die ist, daß der dialektische Widerspruch die Leidenschaft zur Verzweiflung bringt und mithilft, mit der »Kategorie der Verzweiflung« (Glauben) Gott zu erfassen; so daß das Postulat weit davon entfernt ist, das Willk¹rliche zu sein, sondern gerade Notwehr ist; so daß Gott nicht ein Postulat ist, sondern das, daß der Existierende Gott postuliert - eine Notwendigkeit ist. (Ebd. I. S. 191, Anm.) »Notwendigkeit« wird also von Kiergeaard interpretiert als das, was eine Not wendet, es ist eine »Notwehr«. Dies ist ein gutes Beispiel dafÜr, wie bei Kierkegaard alle Begriffe der traditionellen Logik und Metaphysik eine neue existentielle Interpretation erhalten. Dies ist bei der LektÜre von Texten Kierkegaards immer zu berÜcksichtigen: Ohne diese existentielle Interpretation erscheinen sie sonst hÇufig wie solche einer idealistischen Philosophie, von deren Sprache Kierkegaard auch tatsÇchlich ausging.

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3. Die drei Stufen der Existenz Bei den drei Stufen der Existenz handelt es sich um drei mÙgliche Existenzweisen, denen phÇnomenologisch bestimmte Typen zugeordnet werden kÙnnen. Der ¾bergang von der einen Stufe auf die andere ist nie durch eine kontinuierliche Entwicklung mÙglich, sondern bedeutet immer einen Sprung. Die drei Stufen der Existenz sind daher keine aufeinanderfolgenden Stadien, sondern Ebenen des VerhÇltnisses, die der Mensch in Beziehung zu seinem Handeln setzten kann bzw. setzt.

a) Die ›sthetische Existenz »’sthetisch« bedeutet hier, ganz gemÇß dem ursprÜnglichen Sinne des Wortes, »wahrnehmungshaft«. Wahrnehmung wird dabei nicht in einem Gegensatz zu Reflexion gesehen, ganz im Gegenteil: Die Çsthetische Existenz ist eine in hÙchstem Sinne reflektierende. Nicht umsonst ist Hegel im Sinne von Kierkegaard ein typischer Vertreter Çsthetischer Existenz, der es sich somit gefallen lassen muß, mit Don Juan in ein und dieselbe Gruppe gefaßt zu werden. Auch der Dichter gehÙrt dazu, und es kommt wohl nicht von ungefÇhr, daß Kierkegaard gerade bei der Schilderung der Çsthetischen Existenz in Entweder-Oder eine seiner glÇnzendsten schriftstellerischen Leistungen lieferte. Der Mensch auf der Stufe der Çsthetischen Existenz ist durch die Beobachtung und Reflexion gekennzeichnet, die aber ohne eigene innere Teilnahme geschieht: Beobachtung und Reflexion sind distanziert und objektiv,

Die drei Stufen der Existenz

sie erfolgen von außen. Auch sich selbst gegenÜber verhÇlt sich der Mensch auf dieser Stufe distanziert: Er erfÇhrt sich als Genießender, und er genießt sich als Genießenden. Charakteristisch dafÜr ist Kierkegaards Tagebuch des VerfÜhrers, in dem der VerfÜhrer als jener geschildert wird, der das VergnÜgen sucht, ohne sich jedoch binden zu wollen, d. h. ohne Verantwortung fÜr sein Tun zu Übernehmen. Dieser Mensch bleibt in Distanz zu sich selbst, ebenso wie er in Distanz zu den anderen steht: Er ist fÜr sich selbst nur Objekt, nicht Subjekt. Dies zeigt sich nicht zuletzt wieder in der Stilform, die Kierkegaard hier anwendet: Es ist die Sprache der Ironie, die Distanz schafft, ohne sich selbst einzusetzen. Die Çsthetische Existenz ist nichts anderes als die des Boulevard-Kierkegaard selbst samt seiner bÜrgerlich verfeinerten Umgebung, die er schließlich in ihrer OberflÇchlichkeit durchschaut hat.

b) Die ethische Existenz Der ¾bergang zur ethischen Existenz setzt eine qualitative VerÇnderung der Haltung des Menschen voraus. Der Umschlag kann jedoch dadurch vorbereitet werden, daß der Mensch durch die UnersÇttlichkeit des Wunsches nach Genuß an der Sinnhaftigkeit eines solchen der Çsthetischen Existenz verhafteten Lebens zu zweifeln beginnt. Dies kann und soll bis zur Verzweiflung an diesem Leben fÜhren. (Man kann sich dabei an die durch Skepsis hervorgerufene Verzweiflung bei Hegel erinnern.) Der eigentliche Umschlag ereignet sich jedoch erst dort, wo der Mensch einsieht, daß der Grund seiner Verzweiflung gar nicht in den Objekten seines praktischen oder theoretischen - Genusses liegt, sondern einzig darin, daß er vÙllig an die Objekte verloren ist, daß er somit in diesem Verlorensein gar nicht er selbst ist. Der erforderte Sprung besteht daher darin, daß er sich selbst als den begreift, der seine M³glichkeiten selbst w›hlen und damit Über sein Leben selbst entscheiden kann und muß. Erst durch dieses Begreifen wird er ein Einzelner, ein Subjekt, wÇhrend er vorher einfach Element einer Masse war; erst dadurch kommt auch die Dimension des Ethischen in die Existenz, die erst dadurch erÙffnet wird, daß ein autonomes, seine Handlungen verantwortendes Subjekt sich als solches setzt. Durch diese Dimension des Ethischen muß sich nicht einmal notwendig eine andere Handlung in ihrer Bestimmtheit ergeben, denn ein Mensch kann durchaus das, was er vorher als objektiv Vorgegebenes getan hat, nun als frei GewÇhltes tun. Entscheidend ist nur, daß der Maßstab nun nicht mehr der Genuß, sondern Gut und BÙse ist. Was allerdings Gut und BÙse ist, kann und will Kierkegaard nicht sagen, denn dies wÇre schon wieder eine Verobjektivierung. Das Paradigma fÜr die ethische Existenz ist fÜr Kierkegaard Sokrates, denn dieser (kierkegaardsche Sokrates) betrieb Philosophie nicht, um zu theoretischen Erkenntnissen zu gelangen, sondern um Selbsterkenntnis und richtiges Handeln zu erreichen.

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c) Die religi³se Existenz

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Auch die ethische Existenz, wie sie von Sokrates gefordert wird, nennt Kierkegaard »ReligiositÇt«, es ist die ReligiositÇt A. Es ist dies eine ReligiositÇt, die auf der Voraussetzung beruht, daß sich das Ewige, absolut GÜltige, im Menschen befindet (das Daimonion bei Sokrates) und so durch Fragen aufgedeckt werden kann. Es ist letztlich eine ReligiositÇt, die auf der Voraussetzung der Identit›t beruht. Es gibt jedoch auch eine andere, entgegengesetzte Voraussetzung, nÇmlich die, daß der Mensch von Gott entfremdet ist und daher in einer von ihm unaufhebbaren Differenz zum Unendlichen steht. Dies fÜhrt zur ReligiositÇt B, in der mit der Immanenz gebrochen wird. Anders als die vom Menschen selbst aufhebbare Entfremdung von sich selbst, wie sie in der Çsthetischen Existenz vorliegt, ist bei dieser Entfremdung eine Distanz vorhanden, die der Mensch von sich aus nicht Überwinden kann. Die Erfahrung der Grenze der ethischen Existenz wird dort gemacht, wo, z. B. bei »SchicksalsschlÇgen«, die autonome Wahl einer solchen Situation gar nicht mÙglich ist. Diese MÙglichkeit begleitet jedoch die gesamte Existenz, was bedeutet, daß diese Existenz als solche prinzipiell gefÇhrdet ist. Dies nennt Kierkegaard »Angst«; sie besteht im Unterschied zur »Furcht« nicht gegenÜber einzelnen Ereignissen, sondern in der Grunderfahrung, daß die Einheit der Existenz letztlich durch Freiheit nicht verfÜgbar ist. Diese Analyse wird vor allem in der Schrift Die Krankheit zum Tode durchgefÜhrt, wo auch die SÜnde nicht als einzelne Handlung, sondern als Situation des Menschen gekennzeichnet wird, aus der sich der Mensch von sich aus nicht befreien kann (dies ist gar nichts anderes als die existentielle Interpretation der alten augustinischen ErbsÜndenlehre). In nichts ist der Mensch von Gott so verschieden wie darin, daß er, und das ist jeder Mensch, S¹nder ist und es »vor Gott« ist. [...] Als S¹nder ist der Mensch von Gott geschieden durch den tief klaffenden Abgrund der Qualit›t. Und selbstverst›ndlich ist Gott abermals vom Menschen durch den gleichen klaffenden Abgrund der Qualit›t verschieden, wenn er S¹nden vergibt. (Die Krankheit zum Tode. S. 123) Eine spekulative LÙsung wie die Hegels, in der das Endliche mit all seiner Kontingenz in das Unendliche »aufgehoben« und mit diesem »versÙhnt« wird, ist fÜr Kierkegaard kein gangbarer Weg, da das Unendliche sich nur in einem Akt der Freiheit ereignen kann, aber gerade diese Freiheit in ihrer Realisierbarkeit in der durch Angst und SÜnde gekennzeichneten Situation in Frage gestellt ist. Die einzige LÙsung ist der paradoxe Glaube: Das Paradigma dafÜr gibt Jesus ab, denn hier findet sich der Glaube, daß das Unendliche zum Endlichen herabgestiegen ist (»Menschwerdung Gottes«), daß die qualitative Differenz also von der dem Menschen unverfÜgbaren Seite her Überwunden wurde. Der paradoxe Glaube besagt daher, daß der Mensch glaubt, in seiner eben so verfaßten Existenz gerechtfertigt zu sein, d. h. daß seine

Zur Problematik der Existenzphilosophie

Existenz genau so, wie sie ist, gerechtfertigt ist. Eine theoretische ErklÇrung kann und darf dieser paradoxe Glaube nicht liefern, denn alles wesentliche Erkennen besteht in einem nicht objektivierbaren VerhÇltnis zur Existenz und zum Existieren. Ist das Individuum paradox-dialektisch, jeder Rest von urspr¹nglicher Immanenz vernichtet, und aller Zusammenhang abgeschnitten, das Individuum angebracht im ußersten der Existenz: so haben wir das Paradox-Religi³se. Die paradoxe Innerlichkeit ist die gr³ßtm³gliche, denn selbst die dialektischste Bestimmung, wenn sie doch innerhalb der Immanenz ist, hat gleichsam eine M³glichkeit von Ausflucht, von einem Abspringen, von einem Zur¹cknehmen hinein in das Ewige dahinten, es ist, als ob doch nicht alles eingesetzt w›re. Der Bruch aber macht die Innerlichkeit zur gr³ßtm³glichen. (Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift II. S. 284)

4. Zur Problematik der Existenzphilosophie Die Schriften Kierkegaards werfen keine Probleme auf, solange man sie als Ausdruck eines Bourgeois ansieht, der mit sich und seiner Umgebung nicht zurecht kam und eine LÙsung dafÜr in einer exaltierten Form von Religion suchte. Dann wÇre Kierkegaard ein Fall fÜr die Religionspsychologie oder -pathologie. Man kÙnnte allerdings Kierkegaard auch beim Wort nehmen und ihn als Schriftsteller ansehen, der einzig in das Gebiet der Literaturkritik gehÙrt, so wie ja auch im allgemeinen ein, in manchem Kierkegaard gar nicht so unÇhnlicher Schriftsteller wie F. M. Dostojewski (1821–1881) keinen Platz in der Geschichte der Philosophie erhÇlt. Ob Kierkegaard ein guter oder schlechter Schriftsteller ist, brÇuchte dann den Philosophiehistoriker nicht weiter zu beunruhigen. Das Einfachste wÇre also, Kierkegaard in der Geschichte der Philosophie Überhaupt nicht zu behandeln. Dies wÜrde auch keineswegs eine inakzeptable LÙsung darstellen: In Bertrand Russells Philosophie des Abendlandes (7. Aufl., Darmstadt 1997) z. B. taucht der Name Kierkegaard nicht einmal im Namensregister auf, und ich mÙchte nicht verheimlichen, daß ich fÜr diese Position Russells durchaus VerstÇndnis habe und sie im Prinzip fÜr richtig halte. Damit hier kein MißverstÇndnis entsteht, sei klargestellt: Es ist nicht die Tatsache, daß Kierkegaard Über Glauben und Religion spricht, warum seine Schriften nicht zur Philosophie gehÙren, sondern einzig und allein seine grundsÇtzliche Haltung, »Wahrheit« in dem fÜr ihn charakteristischen Sinn jenseits aller Logik und Argumentation anzusiedeln. Man kann eine sehr weite und »liberale« Auffassung von Philosophie vertreten und auch der ¾berzeugung sein, daß es keine Definition von »Philosophie« gibt, die all das abdeckt, was unter »Philosophie« verstanden wird (vgl. 1. Teil, Kap. I), es bleibt jedoch eine Grenze bestehen, welche die Philosophie von nicht-philosophischen literarischen Unternehmungen abgrenzt, und dies ist die Verpflichtung auf Argumentation. Offen bleibt dabei immer noch, was genau als Argumenta-

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tion gelten soll, und die Diskussionen Über Logik und Topik im Laufe der Geschichte haben gezeigt, daß auch hier der Spielraum recht groß ist. Dort jedoch, wo, wie es eben bei Kierkegaard der Fall ist, die Argumentation und damit die Forderung, Aussagen intersubjektiv ÜberprÜfbar zu machen, von vornherein als entfremdetes Denken angesehen wird und an die Stelle von Argumentation Appelle treten, hat man es nicht mehr mit Philosophie zu tun und auch nicht mit »Philosophischen Brocken«, wie eine der Schriften Kiergegaards heißt, sondern mit »Erbaulichen Reden«, wie Kierkegaard selbst andere seiner Schriften betitelt. Damit soll auch nicht gesagt werden, daß Kierkegaard nicht an zahlreichen Stellen, vor allem in seiner Hegelkritik, durchaus argumentiert, es geht nur darum, daß er an den entscheidenden Punkten seiner »Mitteilung« jede Form argumentativen Denkens abweist. Der klarste Fall dafÜr besteht in seiner Verwendung des Paradoxes, das fÜr ihn die L³sung bedeutet, wÇhrend fÜr alle Formen argumentativen Denkens Paradoxien als Aufgabe betrachtet werden:

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Das Dialektische am Problem fordert Gedankenleidenschaft - nicht um es verstehen zu wollen, sondern um zu verstehen, was es heißt, in der Weise mit dem Verstande zu brechen, und mit dem Denken, und mit der Immanenz, um denn den letzten Fußhalt der Immanenz, die Ewigkeit dahinten, zu verlieren und, angebracht im ußersten der Existenz kraft des Absurden zu existieren. (Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift II. S. 281) Es soll niemandem verwehrt werden, »mit dem Verstande zu brechen« und »im ’ußersten der Existenz kraft des Absurden zu existieren«, nur hat dies mit einer auf Argumentation und BegrÜndung insistierenden Philosophie nichts zu tun. Die Problematik des BegrÜndungsdefizits haben im 20. Jhd. auch jene erkannt, die im Übrigen durchaus von Kierkegaard beeinflußt wurden. Das beste Beispiel dafÜr ist Martin Heidegger (1889–1976), der in Sein und Zeit (1927) versuchte, eine Fundamentalontologie aufzubauen, in der Bestimmungen wie z. B. »In-der-Welt-Sein«, »Geworfenheit«, »Sorge«, »Sein zum Tode« transzendental aufgewiesen werden sollen. Dies soll einfach so stehen bleiben, da eine Diskussion der Existenz-/Existentialphilosophie des 20. Jhd.s den Rahmen dieser Vorlesung Überschreiten wÜrde. Am konsequentesten hat wahrscheinlich Karl Barth (1886–1968) in seiner »dialektischen Theologie« das Anliegen Kierkegaards aufgenommen, wo von vornherein auf jede philosophische BegrÜndung verzichtet wird. Man kann jedoch auch fragen, wo der Ursprung des ExistenzverstÇndnisses Kierkegaards liegt. Im Sinne von Kierkegaard ist eine solche Frage selbst bereits ein MißverstÇndnis, da objektivierend nach einem Außerhalb von etwas gefragt wird, was nur innerhalb eines subjektiven Denkens verstanden werden kann. Fragen wir trotzdem, denn sonst bliebe dem Nicht-Existentialisten nur die MÙglichkeit, das Denken Kierkegaards Überhaupt nicht zu behandeln (vgl. Russell). ZunÇchst einmal wird man

Zur Problematik der Existenzphilosophie

sich daran erinnern mÜssen, daß das Bewußtsein der IndividualitÇt, das sich im 14. Jhd. herausgebildet hat, keineswegs eines war, das mit großer Selbstsicherheit auftrat, sondern geprÇgt war durch Angst und IrrationalitÇt angesichts sich auflÙsender Ordnungen (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 1). Die Welt wurde als eine angesehen, die keine inneren, notwendigen Ordnungsprinzipien hat, sondern von Gott aus einer Unzahl mÙglicher Welten ohne irgendeinen Grund außerhalb des gÙttlichen Willens ausgewÇhlt wurde. Das GegenÜber dieses Individuums war ein Gott, dessen absolute Macht sich jeder rationalen Analyse entzog (Ebd. 5) und bei dem sogar die Frage auftauchen konnte, ob er auch nur an die Regel des Widerspruchsprinzips gebunden sei. Die Kultur der Renaissance und der darauffolgenden Jahrhunderte der Neuzeit hatte diesen dunklen Hintergrund durch die ¾berzeugung verdrÇngt, daß Wissenschaft und Technik zu einer stÇndigen Vervollkommnung des Einzelnen und der Gesellschaft fÜhren mÜßten. Im Bewußtsein des Individuums der Neuzeit liegen also zwei geradezu entgegengesetzte Tendenzen, und das Pathos, mit dem die eine oder die andere vertreten wird, erklÇrt sich nicht zuletzt daraus, daß die jeweils entgegengesetzte Tendenz lautstark ÜbertÙnt werden soll. Vorherrschend bis in die erste HÇlfte des 19. Jhd.s war das Pathos des unaufhaltsamen Fortschritts in einer Welt, die sich dem rationalen und wissenschaftlichen Erkennen immer mehr erschließt. Dort, wo aus irgendwelchen GrÜnden ein Zweifel an dieser These auftaucht, tritt jedoch die andere Tendenz wieder hervor und wird dann mit ebensolchem Pathos vertreten: Genau dies ist bei Kierkegaard der Fall. Seine Vorstellung der Existenz als der eines Einzelnen ist die eines Vereinzelten, welcher sich aus keiner rational erkennbaren Struktur der Welt her verstehen kann. Er versteht sich als reine FaktizitÇt, irgendwo und irgendwann in eine ihm fremde Welt geworfen. So Çhnlich hatten sich viele Menschen im 14. Jhd. gefÜhlt, die von der Angst vor dem Pesttod herumgetrieben wurden und den Grund der Pest und ihrer Angst in ihren SÜnden suchten. Und diesem Individuum stand auch im 14. Jhd. wie bei Kierkegaard ein Gott gegenÜber, der sich jedem rationalen VerstÇndnis entzog, »in Kraft nÇmlich des Absurden, in kraft dessen, daß bei Gott kein Ding unmÙglich ist« (Kierkegaard: Furcht und Zittern. S. 47). Es ist durchaus kennzeichnend, daß bei mehreren Autoren des 14. Jhd.s wie bei Kierkegaard die ErzÇhlung von Gott, der von Abraham die Opferung seines Sohnes Isaak fordert, eine hermeneutische SchlÜsselstellung erhielt. Bei der Frage nach der Herkunft der Vorstellung des Vereinzelten in einer sinnentleerten Welt muß man aber vermutlich noch weiter in der Geschichte zurÜckgehen. Das Individuum war im 14. Jhd. nur »wiederentdeckt« worden. Sein Ursprung liegt schon in der spÇten Antike (vgl. 1. Teil, Kap. XI, 2). Auch dort stand diese »Entdeckung« im Zusammenhang mit der AuflÙsung vorgegebener Ordnungen. Die »Welt« wurde zu einem reinen Leerraum, in dem sich Existenz zwar vollzieht, der aber letztlich irrelevant ist, da es nur auf das innere VerhÇltnis der Existenz zum welttranszendenten Licht ankommt. Damit war aber hier keine MÙglichkeit mehr gegeben, Kritik an den realen Bedingungen des Lebens zu Üben, wie diese

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durch Wissenschaft, Kultur oder Gesellschaft bestimmt sind; dies alles ist sekundÇr, und eine solche Kritik wÇre im Bereich des ’ußeren und der ’ußerlichkeit stehengeblieben und wurde daher nicht angestrebt. Auch Kierkegaard bewegt sich »hineingeworfen« in einen solchen wertlosen Raum, in dem die reale Welt entleert worden ist, deren reale VerÇnderung oder Verbesserung gar nicht sein Problem sein konnte. Einzig die Innerlichkeit des Subjekts mußte eine Umkehr erleben, mußte »abspringen«. Diese weltlose Existenz ist genau die der Gnosis - nur daß bei Kierkegaard der Erkenntnisanspruch, der im Wort »Gnosis« enthalten ist, gegen »Sagen« oder »VerkÜnden« eingetauscht wird. Daß es sich bei der Existenz- oder Existentialphilosophie letztlich um Gnosis handelt, hat Hans Jonas (1903–1993), einer der bedeutendsten Gnosisforscher des 20. Jhd.s, deutlich, wenn auch erst spÇt erkannt. Er machte sich in Gnosis und spÇtantiker Geist (Bd. I, GÙttingen 1934, Bd. II, GÙttingen 1954) mit dem hermeneutischen SchlÜssel heideggerscher Existentialphilosophie an die ErklÇrung der antiken Gnosis, was ganz hervorragend funktionierte. Die spÇtere Analyse fÜhrte Hans Jonas jedoch in eine andere, umgekehrte Richtung:

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Erst sp›ter, als ich dem Glauben an einen Universalschl¹ssel abgesagt hatte, begann ich mich zu fragen, warum dieser eine so gut in diesem Fall funktioniert hatte. War ich gerade mit der rechten Art Schl¹ssel an die rechte Art Schloß geraten? Wenn ja, was war es dann im Verh›ltnis von Existentialismus und Gnosis, das die letztere auf die Ber¹hrung des ersteren hin sich erschließen ließ? [...] Mit anderen Worten, die interpretativen Funktionen kehren sich um und werden reziprok - Schloß wird zu Schl¹ssel und Schl¹ssel zu Schloß. Die »existentialistische« Lesung der Gnosis, so gut gerechtfertigt (oder soweit wie gerechtfertigt) durch ihren hermeneutischen Erfolg, l›dt als zu ihrem nat¹rlichen Gegenst¹ck zum Versuch einer »gnostischen« Lesung des Existentialismus ein. (Jonas: Gnosis, Existentialismus und Nihilismus. S. 6) Hans Jonas hat diese »gnostische« Lesung des Existentialismus Überzeugend durchgefÜhrt (Ebd. S. 7–25), und sie gilt dann selbstverstÇndlich auch fÜr Kierkegaard, der am Ursprung der modernen Existentialphilosophie steht. Hier spricht ein in die Welt geworfener »Seelenfunke«, der in dieser Welt fremd ist und in ihr keinen Sinn finden kann. Wenn diese Lesung des Existentialismus stimmt, und dies trifft m. E. zu, so hat es gar keinen Sinn zu fragen, ob dieser Existentialismus wahr oder falsch, philosophisch sinnvoll oder sinnlos ist. Statt dessen muß man fragen, wo genau und warum es in der Mitte des 19. Jhd.s und dann wieder im 20. Jhd., insbesondere seit den 30er Jahren und - mit Unterbrechung durch den Krieg - dann wieder in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, historische und kulturelle Bedingungen gegeben hat, die einem gnostischen LebensgefÜhl den Weg geebnet haben. Damit sind wir bei Fragen, die analytisch und argumentativ geklÇrt werden kÙnnen, die aber den Rahmen dieser Vorlesungen Überschreiten.

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Arthur Schopenhauer

1. Ein Außenseiter Arthur Schopenhauer (1788–1860) unterscheidet sich bereits in Herkunft und Studiengang erheblich von der bisher besprochenen Gruppe. Er kam aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie in Danzig und konnte wÇhrend seines ganzen Lebens von seinem Erbe leben. Doch wenn es nÙtig war, zeigte er durchaus Geschick in Geldangelegenheiten, z. B. als es darum ging, beim Bankrott der Bank, bei der er sein Geld investiert hatte, seine Interessen zu wahren. Er sollte zunÇchst Kaufmann werden, brach die Ausbildung jedoch ab und holte privat die Studien nach, die fÜr die UniversitÇt erforderlich waren. Im Unterschied zu den meisten anderen deutschen Philosophen seiner Zeit war Schopenhauer ein weitgereister Mann, der die Welt kannte und mehrere moderne Sprachen beherrschte. An der UniversitÇt GÙttingen studierte er, wiederum im Unterschied zu den Vertretern der genannten Gruppe, nicht Theologie, sondern zunÇchst Medizin und spÇter Philosophie. Er hÙrte in Berlin Vorlesungen von Schleiermacher und Fichte und promovierte 1813 in Jena mit der Arbeit ¾ber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund. Seit diesem Zeitpunkt hatte Schopenhauer auch Kontakt zu Goethe, auf dessen Einfluß Schopenhauers Interesse an der Antike, seine Abkehr von der Unendlichkeitssehnsucht der Romantiker und seine Skepsis gegenÜber der Geschichte zurÜckging. Besonders wichtig wurde der Einfluß des Orientalisten Friedrich Majer, durch dessen Werke Schopenhauer mit der indischen Philosophie in Kontakt kam. Die Gedanken von der Ureinheit aller Dinge, der Nichtigkeit der aus dem Urgrund entsprungenen Welt der Erscheinungen und des durch Kontemplation erreichbaren erlÙsenden Friedens beeindruckten Schopenhauer zutiefst. 1819 erschien Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung. Das Buch fand jedoch kaum Leser. 1820 begann die Auseinandersetzung mit Hegel, welcher sogar Schopenhauers Habilitationskommission angehÙrte. Die Auseinandersetzung mit Hegel war bei Schopenhauer ebenso grundsÇtzlich wie bei den bisher genannten Kritikern Hegels, auch wenn seine Kritik ganz anderer Art war. Schopenhauer machte diese Auseinandersetzung auch Çußerlich sichtbar, insbesondere dadurch, daß er seine Vorlesungen zur selben Stunde ansetzte wie Hegel. Allerdings fand er sich schon bald vor einem leeren HÙrsaal wieder. Schopenhauer zog sich

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Arthur Schopenhauer

verbittert zurÜck und lebte von seinem ererbten VermÙgen. Erst als 1851 die populÇrer konzipierte Schrift Parerga und Paralipomena erschien, begann sein Einfluß zu wachsen. Dieser Einfluß war grÙßer außerhalb des Kreises der offiziellen Philosophie, die an den UniversitÇten gelehrt wurde und fÜr die Schopenhauer immer wieder scharfe und bissige Worte fand (¾ber die UniversitÇts-Philosophie. VII. S. 157–218). Schopenhauer war ein glÇnzender Stilist, der in seine Schriften seine breite literarische Bildung einbrachte. Besonders KÜnstler und Schriftsteller wurden von der Philosophie Schopenhauers angezogen. Der bekannteste von ihnen war Richard Wagner (1813–1883), aber auch Leo Tolstoi (1828–1910) gehÙrte dazu. Besonders wichtig wurde die Philosophie Schopenhauers fÜr Nietzsche, der eigentlich durch sie zu seinen eigenen philosophischen Arbeiten gebracht wurde. Im 20. Jhd. sind u. a. Arnold SchÙnberg (1874–1951), Ludwig Wittgenstein (1889–1951) und Thomas Mann (1875–1955) zu erwÇhnen.

2. Die Welt als Wille und Vorstellung

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Bei der Interpretation der Philosophie Schopenhauers besteht eine ganz grundsÇtzliche Schwierigkeit, auf die allerdings Schopenhauer selbst gleich in der Vorrede zu seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung hingewiesen hat: FÜr das VerstÇndnis dieses Werkes ist die Kenntnis von Kants Philosophie die notwendige Voraussetzung; wer außerdem noch »in der Schule des gÙttlichen Plato geweilt hat«, wird noch besser vorbereitet sein. Damit wÇren wir durchaus im Bereich dessen, was in unsere Philosophiegeschichte des 19. Jhd.s paßt. Aber dann verweist Schopenhauer auf ein Drittes: Ist er aber gar noch der Wohltat der Veda’s teilhaft geworden, deren uns durch die Upanischaden er³ffneter Zugang, in meinen Augen, der gr³ßte Vorzug ist, den dieses noch junge Jahrhundert vor den fr¹heren aufzuweisen hat, [...] hat also, sage ich, der Leser auch schon die Weihe uralter Indischer Weisheit empfangen und empf›nglich aufgenommen; dann ist er auf das allerbeste bereitet zu h³ren, was ich ihm vorzutragen habe. (Die Welt als Wille und Vorstellung. Vorrede zur ersten Auflage. I. S. 11) Diese Vorrede ist selbstverstÇndlich allen Interpreten bekannt, die Frage ist nur, ob sie die Konsequenzen daraus auch wirklich ziehen. Viele gehen doch wieder davon aus, daß Schopenhauer mit seiner Lehre vom Willen die kantische Frage nach dem Ding an sich beantworten will, wozu Schopenhauer selbst von der ersten Seite seines Hauptwerks an genÜgend Anlaß gibt. Unter dieser Voraussetzung ergibt sich dann ein System des transzendentalen Idealismus, in dem allerdings verschiedene WidersprÜche aufgezeigt werden kÙnnen. Nimmt man den Hinweis Schopenhauers auf die indische Philosophie jedoch ernst, so ergibt sich eine andere Sicht seiner Philoso-

Die Welt als Wille und Vorstellung

phie: Seine gesamte Lehre von der Welt als Wille und Vorstellung fÜhrt dann konsequent zum letzten Abschnitt dieses Werkes, nÇmlich Zur Lehre von der Verneinung des Willens zum Leben (IV, 48. IV. S. 706–742). Alles in diesem Werk dient dann nur der Vorbereitung dieses Abschnitts, und unter dieser Voraussetzung dÜrfte es kaum noch irgendwelche erheblichen WidersprÜche geben. Man kommt so zu einer »buddhistischen« Lesung der Philosophie Schopenhauers. Dagegen wurde gelegentlich eingewendet, es handele sich bei Schopenhauer doch nur um ein »europÇisches MißverstÇndnis« des Buddhismus. Dies dÜrfte aber nicht zutreffen. Edward Conze (1904–1979), ein wirklicher Kenner des Buddhismus, der jedoch auch durch die Schule deutscher neukantianischer Philosophie gegangen ist, stellte fest: »Obwohl Schopenhauer nur zu ganz wenigen Originalzeugnissen Zugang hatte, schuf er das buddhistische GedankengebÇude von kantianischen Voraussetzungen aus mit einer solchen Genauigkeit, daß man geradezu glauben kÙnnte, er erinnere es aus einem frÜheren Leben.« (Conze: Eine kurze Geschichte des Buddhismus. Frankfurt 1986. S. 161) Dies ist vielleicht etwas zu viel behauptet, denn es bleiben doch bestimmte Unterschiede, wohl aber besteht die Berechtigung, den Buddhismus als hermeneutische Voraussetzung fÜr das VerstÇndnis von Schopenhauers Philosophie zu nehmen. Buddhismus und Deutscher Idealismus bedeutet auch nicht ein Zusammenbringen von einander vÙllig Fremdem (vgl. Kap. XVIII, 2), da es in der buddhistischen Schule des Großen Fahrzeugs (Mahayana), die sich seit dem 1. Jhd. v. Chr. entwickelt hat, Systeme gegeben hat, die durchaus im Sinne des Idealismus aufgefaßt und interpretiert werden kÙnnen. Unter solchen buddhistischen Voraussetzungen werden SÇtze Schopenhauers wie die folgenden ohne weiteres verstÇndlich: Diesem nun entspricht es, daß meine Lehre, wenn auf ihrem Gipfelpunkte angelangt, einen negativen Charakter annimmt, also mit einer Negation endet. (Die Welt als Wille und Vorstellung IV, 48. IV. S. 716) Bei dieser Sicht der Philosophie Schopenhauers wird dann auch die Vorgeschichte seines Denkens, so wie er sie sieht, aufschlußreich: Er verweist u. a. auf Klemens von Alexandrien (Ebd. S. 727–730) sowie auf Plotin, Scotus Eriugena und die Sufis (Ebd. S. 716 f.). Aufschlußreich ist Schopenhauers Sicht der Philosophie des Scotus Eriugena (vgl. 2. Teil, Kap. V, 2), den Schopenhauer einen »bewunderungswÜrdigen Mann« nennt (Fragmente zur Geschichte der Philosophie § 9. VII. S. 74). Aus Schopenhauers Sicht, die m. E. richtig ist, war Scotus Eriugena gezwungen, eine letztlich nicht-christliche Philosophie in eine jÜdisch-christliche Form zu bringen, was nicht wirklich gelingen kann. Der tiefere Grund dieser •belst›nde ist, daß die Lehre von der Erl³sung der Menschheit und der Welt, welche offenbar indischen Ursprungs ist, eben auch die indische Lehre voraussetzt, nach welcher der Ursprung der Welt (dieses Sansara der Buddha-

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Arthur Schopenhauer

isten) selbst schon vom •bel, n›mlich eine s¹ndliche Tat des Brahma ist, welcher Brahma nun wieder wir eigentlich selbst sind: denn die indische Mythologie ist ¹berall durchsichtig. (Ebd. S. 75) Schopenhauer erkannte daher auch richtig, daß die Ablehnung der Vorstellung einer ewigen HÙlle - wie sie Gottschalk mit Augustinus vertreten hatte - bei Eriugena (vgl. 2. Teil, Kap. V, 2, a) die letzte Wurzel im Gedanken des universellen Mitleids, der »hindostanischen Milde« hat (Ebd. S. 76). Schopenhauer wußte auch, daß Eriugenas Philosophie auf die des Dionysios Areopagita (vgl. 2. Teil, Kap. II, 2) zurÜckgeht, wobei er allerdings, auch wieder zu Recht, meint, daß Eriugena dem Dionysios Areopagita weit Überlegen ist. Wenn nun die Philosophie Eriugenas letztlich indischen Ursprungs ist, so muß auch die des Areopagita dorther stammen. Obwohl dieser wohl nicht in Alexandrien, sondern eher im syrischen Raum lebte, hat Schopenhauer doch mit seiner Vermutung sachlich recht:

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Da er indessen wahrscheinlich in Alexandrien lebte, so glaube ich, daß er auf eine anderweitige, uns unbekannte Art, auch der Kanal gewesen ist, durch welchen ein Tr³pfchen indischer Weisheit bis zu Eri[u]gena gelangt sein mag. (Fragmente zur Geschichte der Philosophie § 9. VII. S. 78) Und ganz entsprechend stellt Schopenhauer zu Eckhart fest: •berhaupt, wenn man von den Formen, welche die ›ußern Umst›nde herbeif¹hren, absieht und den Sachen auf den Grund geht, wird man finden, daß Schakia Muni [= Buddha] und Meister Eckhard das Selbe lehren; nur daß Jener seine Gedanken geradezu aussprechen durfte, dieser hingegen gen³tigt ist, sie in das Gewand des Christlichen Mythos zu kleiden und diesem seine Ausdr¹cke anzupassen. (Die Welt als Wille und Vorstellung IV, 48. IV. S. 718) Diese Sicht der Geschichte ist m. E. nach zutreffend, und es wurde in diesen Vorlesungen auch an den entsprechenden Stellen auf diese ZusammenhÇnge hingewiesen (vgl. 2. Teil, Kap. I, 4, und Kap. XVIII, 1). Es gibt in der westlichen Philosophie, nicht zuletzt im Skeptizismus (vgl. 1. Teil, Kap. XIV) und im Neuplatonismus (vgl. 1. Teil, Kap. XVII, 1), einen »verborgenen Buddhismus«. FÜr nicht zutreffend halte ich hingegen die in diesem Zusammenhang von Schopenhauer geÇußerte Meinung, daß das Christentum nicht mit dem Judentum, sondern mit dem Buddhismus verwandt sei (Die Welt als Wille und Vorstellung IV, 48. IV. S. 730). Diese Frage ist allerdings im vorliegenden Zusammenhang nicht entscheidend. Schopenhauer fÜhrte spÇter sein philosophisches Grundanliegen - die Erfahrung des Leidens und die Frage nach der ErlÙsung davon - auf eine »vorphilosophische« Erfahrung zurÜck, die ganz so wie die des Buddha gewesen sein soll:

Die Welt als Wille und Vorstellung

In meinem 17ten Jahre, ohne alle gelehrte Schulbildung wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte. (Der handschriftliche Nachlaß IV, 1. S. 96) Schopenhauer bezieht sich dabei auf folgendes Erlebnis in seiner Jugend: Im Hafen von Toulon hatte er Galeerensklaven gesehen, deren Leiden bei ihm einen tiefen und bleibenden Eindruck hinterlassen hatten. Schopenhauer stilisiert dieses Erlebnis nach der Buddhalegende, in der berichtet wird, daß der reiche FÜrstensohn bei einem Ausgang aus seinem Palast plÙtzlich mit der Erfahrung von Krankheit, Leid und Tod konfrontiert wurde, woraufhin er alles zurÜckließ und sich aufmachte, den Weg zur ErlÙsung zu finden, an dessen Ziel er der Buddha, also der Erleuchtete, wurde. Auch Schopenhauer machte sich also auf diesen Weg, auch wenn die Konsequenzen fÜr sein konkretes Leben weniger einschneidend waren als jene, die der Buddha zog. Schopenhauer sah es als die erste Aufgabe der Philosophie an, die Welt und den Menschen darin zu verstehen. Der Ausgangspunkt sollte empirisch sein: Was dem Menschen zunÇchst in seiner Erfahrung begegnet, ist die Welt der Erscheinungen. Was aber sind diese Erscheinungen in Wirklichkeit? In kantische Terminologie gebracht bedeutet dies, daß nach dem Ding an sich gefragt werden muß. Dabei machte Schopenhauer folgende Feststellung: Wir haben von allen Dingen nur Vorstellungen, ohne das Ding an sich zu kennen. Nur an einem Punkt kennen wir von einem Ding sowohl die Vorstellung als auch das Ding an sich: bei unserem KÙrper, oder noch genauer bei den Bewegungen unseres KÙrpers. Als bewegter KÙrper sind wir fÜr uns selbst ein Gegenstand der Erkenntnis in Raum und Zeit, also eine Vorstellung; zugleich aber erfahren wir uns auch als Wollende, welche die Ursache der KÙrperbewegung sind, und damit als Ding an sich. Der Wille (nicht die Erkenntnis) ermÙglicht uns also die Innensicht eines Dinges, eines Dinges an sich (Die Welt als Wille und Vorstellung I, 2, § 18. I. S. 142–146). Von hier aus geht Schopenhauer einen Schritt weiter: Der Wille ist das innerste Wesen aller Dinge. Dies ist ein Analogieschluß, wie Schopenhauer selbst sagt (Ebd. I, 2, § 19. I. S. 148 f.). Rational ist dieser Schluß nicht zu rechtfertigen, und dies zeigt deutlich, daß Schopenhauer hier eine vorausliegende Grundthese zwar im Rahmen kantischer Problematik, jedoch nicht wirklich aus der kantischen Fragestellung heraus entwickelt. Der eigentliche Grund von Schopenhauers Annahme des Willens als Wesen der Welt liegt in seiner ErlÙsungsvorstellung: Wenn die ErlÙsung vollstÇndig durch die Negation des Willens erreicht werden soll, dann muß der Grund fÜr die Notwendigkeit der ErlÙsung, das Leiden also, vollstÇndig aus irgendeinem Willen heraus erklÇrt werden. Schopenhauer nimmt also den Willen als den Grund der gesamten Wirklichkeit an. Das »Wesen« dieses Willens kann nach Schopenhauer nur angedeutet werden, eine rationale Erkl›rung oder auch nur Beschreibung desselben ist nicht m³glich, denn ErklÇrungen mit den entsprechenden Kategorien von Ursache und Wirkung gehÙren nur der Welt

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der Erscheinungen an. Die eigene, vorurteilslose Erfahrung zeigt aber doch einiges, und nach Schopenhauer sogar sehr viel vom Wesen dieses Willens an. Dieser Wille ist unpers³nlich, der Mensch wird zunÇchst einmal von »etwas« angetrieben, seine WÜnsche entstehen vor allen bewußten Willensakten. Schopenhauer verallgemeinert dies nun auf das Wesen der Welt hin: Alles ist von einem solchen Willen getrieben, die Welt der Erscheinungen ist nichts anderes als das Bild dieses Willens auf allen Stufen der Wirklichkeit. So sehn wir denn hier, auf der untersten Stufe, den Willen sich darstellen als einen blinden Drang, ein finsteres, dumpfes Treiben, fern von aller unmittelbaren Erkennbarkeit. (Ebd. I, 2, § 27. I. S. 201)

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Der Wille ist eine grundlose, ziellose und blinde Kraft. Jede Art einer Teleologie ist ausgeschlossen. Dieser Wille bringt die einzelnen Gestalten der Erscheinung der Natur hervor, es ist eine endlose und ziellose Kette des WÜnschens und Begehrens. Der Wille als Wille ist somit Grund dessen, was hervorgebracht wird, und damit der Grund der Welt. Als unersÇttlicher Wille ist er gleichzeitig der Grund des letztlichen Scheiterns von allem einzelnen Streben. Der Wille scheint immer auf ein Ziel gerichtet zu sein, aber in Wirklichkeit hat er eben keines. In der Tat geh³rt Abwesenheit alles Zieles, aller Grenzen zum Wesen des Willens an sich, der ein endloses Streben ist. (Ebd. I, 2, § 29. I. S. 217) Und da der Wille als Begehren auf ein Ziel gerichtet ist, das Erreichen aber immer ein neues Begehren, also ein weiteres Ziel hervorruft, es aber kein endgÜltiges Ziel gibt, muß der Wille notwendigerweise scheitern. Der Wille, der prinzipiell scheitern muß, bringt Leiden hervor. Denn alles Streben entspringt aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande, ist also Leiden, so lange es nicht befriedigt ist; keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens. Das Streben sehen wir ¹berall vielfach gehemmt, ¹berall k›mpfend; so lange also immer als Leiden: kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maß und Ziel des Leidens. (Ebd. I, 4, § 56. II. S. 388) Daher gilt in einem ganz allgemeinen Sinn, daß alles Leben wesentlich Leiden ist (Ebd. II. S. 389). Dies kann die Vernunft zwar erkennen, sie hat aber aus sich heraus keine MÙglichkeit, eine Vorstellung der ¾berwindung des Leidens auszudenken. Die Vernunft ist selbst auch nichts anderes als ein Mittel des letztlich blinden Willens, sie geht aus dem Unbefriedigtsein des Willens hervor und erschÙpft sich in dieser Funktion. Die Vernunft arbeitet mit den Kategorien von Mittel und Zweck, ist also aus dem Streben heraus entstanden, und sie kann sich daher von sich aus nicht einge-

Die Welt als Wille und Vorstellung

stehen, daß es letztlich gar keinen Zweck gibt. Bei den Tieren funktioniert der Wille kraft des Instinkts noch verhÇltnismÇßig gut. Die ¾berlebenschancen des Menschen sind jedoch im Umfeld der gewachsenen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen und des Kampfes um das ¾berleben ziemlich prekÇr geworden. Der blinde Wille schafft sich daher fÜr diese Existenzform ein neues Instrument. Der Wille, der bis hieher im Dunkeln, h³chst sicher und unfehlbar, seinen Trieb verfolgte, hat sich auf dieser Stufe ein Licht angez¹ndet, als ein Mittel, welches notwendig wurde, zur Aufhebung des Nachteils, der aus dem Gedr›nge und der komplizierten Beschaffenheit seiner Erscheinungen eben den vollendetesten erwachsen w¹rde. (Ebd. I, 2, § 27. I. S. 202) Der Grund der Vernunft ist damit ein schlechthin irrationaler: Die Erkenntnis ¹berhaupt, vern¹nftige sowohl als bloß anschauliche, geht also urspr¹nglich aus dem Willen selbst hervor, geh³rt zum Wesen der h³heren Stufen seiner Objektivation, als eine bloße mechane, ein Mittel zur Erhaltung des Individuums und der Art, so gut wie jedes Organ des Leibes. Urspr¹nglich also zum Dienste des Willens, zur Vollbringung seiner Zwecke bestimmt, bleibt sie ihm auch fast durchg›ngig g›nzlich dienstbar. (Ebd. I, 2, § 27. I. S. 204) Schopenhauer sagt hier, daß die Erkenntnis dem Willen »fast durchgÇngig« dienstbar bleibt. Auf dieses »fast« ist noch zurÜckzukommen: Denn wenn die Vernunft zur GÇnze dem Willen dienstbar wÇre, kÙnnte Schopenhauer Überhaupt keine LÙsung fÜr die Fragen, die sich aus dem Leiden ergeben, annehmen. Eine LÙsung ist hingegen mÙglich, wenn sich die Vernunft gegen den Willen und somit gegen den Grund des Leidens richten kann. ZunÇchst aber ergibt sich, daß mit der Vernunft als hÙherer Objektivation des Willens auch das Leiden gesteigert sein muß. Denn wie die Erscheinung des Willens vollkommener wird, so wird auch das Leiden mehr und mehr offenbar. [...] In gleichem Maße also, wie die Erkenntnis zur Deutlichkeit gelangt, das Bewußtsein sich steigert, w›chst auch die Qual, welche folglich ihren h³chsten Grad im Menschen erreicht, und dort wieder um so mehr, je deutlicher erkennend, je intelligenter der Mensch ist: der in welchem der Genius lebt, leidet am meisten. (Ebd. I, 4, § 56. II. S. 388) Mit den hÙheren Stufen der Objektivation des Willens ist auch die Vereinzelung dieser Objektivationen verbunden. Die hÙheren Stufen bringen also mit der Differenzierung auch eine Aufspaltung mit sich. Diese Vereinzelung ist aber nichts UrsprÜngliches und nichts, was eine Bedeutung in sich selbst hÇtte, denn der Wille und somit fÜr Schopenhauer Kants Ding an sich - ist in seinem Ursprung nur einer.

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So ist in allen mannigfaltigen Erscheinungen, welche neben einander die Welt f¹llen, oder nach einander als Begebenheiten sich verdr›ngen, doch nur der eine Wille das Erscheinende, dessen Sichtbarkeit, Objektit›t das Alles ist, und der unbewegt bleibt mitten in jedem Wechsel: er allein ist das Ding an sich: alles Objekt aber ist Erscheinung, Ph›nomen, in Kants Sprache zu reden. (Ebd. I, 2, § 27. I. S. 205) Dem Individuum kommt daher nur ein abgeleiteter, letztlich unerheblicher Status zu, je mehr man sich, auch im Erkennen des Wesens der Dinge, dem Ding an sich nÇhert, um so mehr verschwindet das Individuum. Die Vereinzelung der Dinge gehÙrt nur der Welt der Erscheinungen an. Fragt man nach dem Zusammenhang der einzelnen Dinge in kausaler Hinsicht, so erscheinen sie als Vereinzelte, die ein Vorausgehendes und ein Folgendes haben, aber dies ist nur ihr Erscheinungsbild. Das Einzelne als nach dem principium individuationis Abgespaltenes ist nur auf dieser OberflÇche angesiedelt, im Erfassen des Dings an sich lÙst sich dieser Schein wieder vÙllig auf, das Individuum ist Nichts.

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Wohl sehn wir das Individuum entstehn und vergehn: aber das Individuum ist nur Erscheinung, ist nur da f¹r die im Satz vom Grunde, dem principio individuationis, befangene Erkenntnis: f¹r diese freilich empf›ngt es sein Leben wie ein Geschenk, geht aus dem Nichts hervor, leidet dann durch den Tod den Verlust jenes Geschenks und geht ins Nichts zur¹ck. (Ebd. I, 4, § 54. II. S. 348) Mit dieser Auffassung vom Individuum als einem letztlich aufzulÙsenden Schein sind wir genau bei einem Kriterium angelangt, das fÜr das fernÙstliche, vor allem das buddhistische Denken kennzeichnend ist und das auch an frÜheren Punkten der Darstellung der Geschichte der Philosophie als Anzeichen fÜr die PrÇsenz dieses Denkens des Ostens angefÜhrt wurde (vgl. z. B. 1. Teil, Kap. XVII, 1, c). Die Eigennamen als Kennzeichen der Individuen stellen die große sprachliche TÇuschung dar, hinter ihnen steht jedoch keine Substanz. Das karma enthÇlt nur einzelne Manifestationen, deren Zusammentreffen gelegentlich den Schein eines sich durchhaltenden Einzelnen hervorruft, ein Schein, der sich jedoch bald wieder auflÙst. Das Festhalten-Wollen an diesem Schein ist die eigentliche Ursache des Leidens. Die Sicht des Lebens, die sich aus dieser Metaphysik ergibt, ist das, was Schopenhauers »Pessimismus« genannt wird. Der Begriff ist legitim, weil Schopenhauer offensichtlich immer wieder gegen den - natÜrlich leibnizschen - Optimismus polemisiert, so wenn er z. B. sagt: Die Welt ist folglich so schlecht, wie sie m³glicherweise sein kann, wenn sie ¹berhaupt noch sein soll. [...] Der Optimismus ist im Grunde das unberechtigte Selbstlob des eigentlichen Urhebers der Welt, des Willens zum Leben, der sich wohlgef›llig in seinem Werke spiegelt: und demgem›ß ist er nicht nur eine falsche, sondern auch eine

Die Welt als Wille und Vorstellung

verderbliche Lehre. Denn er stellt uns das Leben als einen w¹nschenswerten Zustand, und als Zweck desselben das Gl¹ck des Menschen dar. Davon ausgehend glaubt dann jeder den gerechtesten Anspruch auf Gl¹ck und Genuß zu haben: werden nun diese, wie es zu geschehn pflegt, ihm nicht zu Teil; so glaubt er, ihm geschehe Unrecht, ja er verfehle den Zweck seines Daseins; - w›hrend es viel richtiger ist, Arbeit, Entbehrung, Not und Leiden, gekr³nt durch den Tod, als Zweck unsers Lebens zu betrachten (wie dies Brahmanismus und Buddhaismus und auch das echte Christentum tun); weil diese es sind, die zur Verneinung des Willens zum Leben leiten. (Die Welt als Wille und Vorstellung II, 4, 46. IV. S. 684) Schopenhauer erkannte korrekt den logischen Zusammenhang von Optimismus und der Forderung nach einer Theodizee, also einer Rechtfertigung Gottes oder des Sinnes der Welt angesichts des Leidens. FÜr den Pessimisten erledigt sich die Frage der Theodizee von selbst. Die Kritik des Optimismus beruht offensichtlich nicht auf einer Analyse von dessen Argumenten, die ja auch gar nicht so schwer anzugreifen wÇren, sondern auf der vorausgesetzten Grundoption fÜr die »schlechte Welt«. Wir sind hier wieder bei Schopenhauers Grunderfahrung vom Leben als Leiden und von der Welt als Jammertal. Angesichts dessen muß der Optimismus ganz einfach als OberflÇchlichkeit oder NaivitÇt erscheinen. In einer solchen Welt, wo keine Stabilit›t irgend einer Art, kein dauernder Zustand m³glich, sondern Alles in rastlosem Wirbel und Wechsel begriffen ist, Alles eilt, fliegt, sich auf dem Seile, durch stetes Schreiten und Bewegen, aufrecht erh›lt, - l›ßt Gl¹ckseligkeit sich nicht ein Mal denken. Sie kann nicht wohnen, wo Platos »best›ndiges Werden und nie Sein« allein Statt findet. Zuv³rderst: Keiner ist gl¹cklich, sondern strebt sein Leben lang nach einem vermeintlichen Gl¹cke, welches er selten erreicht und auch dann nur, um entt›uscht zu werden: in der Regel aber l›uft zuletzt Jeder schiffbr¹chig und entmastet in den Hafen ein. Dann aber ist es auch einerlei, ob er gl¹cklich oder ungl¹cklich gewesen, in einem Leben, welches bloß aus dauerloser Gegenwart bestanden hat und jetzt zu Ende ist. (Parerga und Paralipomena II, § 144. IX. S. 308 f.) Der im Menschen zum Ausdruck kommende Wille, der eben letztlich auch nur zielloser Trieb ist, treibt den Menschen dazu, nach der Befriedigung jeweils neu erwachender BedÜrfnisse zu streben, jeweils neu sich ergebende NÙte zu Überwinden. Immer dann jedoch, wenn er das Ziel erreicht hat, zeigt sich die ErfÜllung als nichtig, denn entweder entstehen sofort wieder neue BedÜrfnisse und NÙte oder, wenn dies in seltenen FÇllen nicht eintritt, es folgt nur die Langeweile, die auch wieder keine Befriedigung liefert. Daß hinter der Not sogleich die Langeweile liegt, welche sogar die kl¹geren Tiere bef›llt, ist eine Folge davon, daß das Leben keinen wahren echten Gehalt hat, sondern

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bloß durch Bed¹rfnis und Illusion in Bewegung erhalten wird: sobald aber diese stockt, tritt die g›nzliche Kahlheit und Leere des Daseins zu Tage. (Ebd. II, § 146. IX. S. 311) Das Leben des Einzelnen ist also nichts anderes als ein Moment in einer unendlichen, ziellosen Kette von Manifestationen eines irrationalen Willens. Eigentlich ist es schon nicht richtig, von »Moment« zu sprechen, denn dies setzt eine Zeitordnung voraus, die jedoch selbst nur Schein ist, denn der Urwille kennt keine solche Ordnung, so wie das karma eine Abfolge nur vorspiegelt. Die Vorstellung eines Selbstzwecks des Lebens des Einzelnen ist eine Illusion und eine SelbsttÇuschung, die sich spÇtestens am Ende des Lebens als solche erweist (Ebd. § 145–147. IX. S. 310 f.). Und so ist der Lebenslauf des Menschen in der Regel derart, daß dieser, von den immer wieder auftauchenden Hoffnungen genarrt, dem Tode in die Arme tanzt (Ebd. § 145. IX. S. 310). Wenn dieses unser Dasein der letzte Zweck der Welt wÇre, so wÇre es der albernste Zweck, der je gesetzt wurde, mÙchten nun wir selbst oder ein anderer ihn gesetzt haben (Ebd. § 146. IX. S. 310 f.): Am richtigsten werden wir das Leben fassen als einen desengao, eine Entt›uschung: darauf ist, sichtbarlich genug, Alles abgesehen. (Ebd. § 147. IX. S. 313) 482

FÜr den, der die Regie des Schauspiels durchschaut hat, ist die Illusion aufgehoben, die Vorstellung ist zu Ende.

3. Leiden und Erl³sung Ausgehend von der eben geschilderten Lage stellt sich Schopenhauer nun folgende Frage: Wenn der Wille uns doch nur zu einem sinnlosen Streben antreibt, das nie ErfÜllung erreichen kann, gibt es dann Überhaupt eine MÙglichkeit, diesem sinnlosen Leiden zu entrinnen? Die von Schopenhauer vorgelegte LÙsung kann nicht einfach Über eine rationale Analyse der Welt gehen. Eine solche MÙglichkeit gÇbe es nur, wenn wir zur Erkenntnis der Sinnlosigkeit alles Strebens kÇmen. Wie aber sollen wir zu dieser Erkenntnis gelangen, wo doch die Vernunft auch nur ein Instrument genau dieses sinnlosen Strebens ist? Einen vernunftgeleiteten Weg, zu dieser Einsicht zu gelangen, kann es also nicht geben. Schopenhauer sieht jedoch einen Weg durch die Kunst erÙffnet, die daher bei ihm - ganz in Gegensatz zu Hegel - die Stelle des hÙchsten VermÙgens des Menschen einnimmt. Schopenhauer meint, daß es Momente des Stillstands gibt, Augenblicke der Losl³sung vom Willen, die uns eine Ahnung von der Aufhebung des Willens und damit von der IndividualitÇt geben. Solche Momente sind in der Erfahrung der Kunst gegeben, in der es zur willenlosen Wahrnehmung, zum reinen, von keinem Interesse getriebenen Anschauen oder AnhÙren kommt.

Leiden und ErlÙsung

Denn in dem Augenblicke, wo wir, vom Wollen losgerissen, uns dem reinen willenlosen Erkennen hingegeben haben, sind wir gleichsam in eine andere Welt getreten, wo Alles, was unsern Willen bewegt und dadurch uns so heftig ersch¹ttert, nicht mehr ist. [...] wir sind nicht mehr das Individuum, es ist vergessen, sondern nur noch reines Subjekt der Erkenntnis: wir sind nur noch da als das eine Weltauge, was aus allen erkennenden Wesen blickt, im Menschen allein aber v³llig frei vom Dienste des Willens werden kann, wodurch aller Unterschied der Individualit›t so g›nzlich verschwindet [...]. (Die Welt als Wille und Vorstellung I, 3, § 38. I. S. 254) Soll die Kunst die Funktion des Leitfadens zur Erkenntnis der Welt haben, so darf sie nicht eine erlÙsende Gegen-Welt sein, wie sie es bei Wackenroder oder Tieck gewesen war, sondern muß genau diese Welt darstellen, allerdings so, daß dieses Anschauen »vÙllig frei vom Dienste des Willens« ist. Die Kunst stellt also nur in ihrer Form, nicht in ihrem Gehalt eine »andere Welt« dar, ihr Gegenstand ist auch nichts anderes als dieses Leiden. Wird dieses jedoch in der reinen Form dargestellt, so gewÇhrt es einen Trost, wenn auch nur fÜr Augenblicke. Alles beruht darauf, daß [...] das Ansich des Lebens, der Wille, das Dasein selbst, ein stetes Leiden und teils j›mmerlich, teils schrecklich ist; dasselbe hingegen als Vorstellung allein, rein angeschaut, oder durch die Kunst wiederholt, frei von Qual, ein bedeutsames Schauspiel gew›hrt. (Ebd. I, 3, § 52. I. S. 335) Wir kÙnnen uns diesen Gedanken an einem - so weit ich sehe, bei Schopenhauer nicht angefÜhrten - Beispiel verdeutlichen: In Mozarts Don Giovanni ist das stets unerfÜllte Streben, das von einem Objekt zum nÇchsten eilt und doch schließlich scheitert, dargestellt. Der Gegenstand des Dargestellten ist nichts anderes als die Vorspiegelung von Zielen, deren Erreichen erneut die Erfahrung des Unbefriedigtseins hervorruft. Nun aber die Uners›ttlichkeit des individuellen Willens, verm³ge welcher jede Befriedigung einen neuen Wunsch erzeugt und sein Begehren, ewig ungen¹gsam, ins Unendliche geht. (Parerga und Paralipomena II, 1, § 145. IX. S. 310) Am Schluß sieht Don Giovanni die Sinnlosigkeit seines Lebens in keiner Weise ein, er wird einfach, gescheitert, vom Boten des Todes abgefÜhrt. Diese Sinnlosigkeit des Lebens »durch die Kunst wiederholt, frei von Qual« gibt jedoch die MÙglichkeit einer Erkenntnis, die unter »normalen« Bedingungen unertrÇglich wÇre. Das Leiden, somit zwar dargestellt, aber in der Kunst »verklÇrt«, losgelÙst vom individuellen Wollen, ist »die allein unschuldige Seite des Lebens« (Die Welt als Wille und Vorstellung I, 3, § 52. I. S. 334). Dabei sind alle Leidenschaften des Zuschauers aufgehoben, es geht um die reine Wahrnehmung der Form, bei der sich der Einzelne nicht mehr

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als Einzelner erfÇhrt, sondern als zeitloser und Überindividueller »TrÇger« der Wahrnehmung. Der Zuschauer oder ZuhÙrer soll gerade nicht als Individuum »nachempfinden«, sondern rein anschauen oder anhÙren, er soll in der Erfahrung der Kunst sein Ich vergessen, so wie auch im Kunstschaffenden der individuelle Mensch vom KÜnstler ganz verschieden ist (Ebd. I. S. 327). Die hÙchste Form der Kunst ist die Musik: Die Musik ist also keineswegs, gleich den anderen K¹nsten, das Abbild der Ideen, sondern Abbild des Willens selbst, dessen Objektit›t auch die Ideen sind: deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel m›chtiger und eindringlicher, als die der anderen K¹nste: denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen. (Ebd. I. S. 324)

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Kann die Musik also das Wesen von allem darstellen, erhÇlt sie philosophischen Rang. Anders als bei Hegel entspricht die Kunst, und hier vor allem die Musik, bei Schopenhauer sehr wohl dem hÙchsten BedÜrfnis des Geistes, so daß »eine vollkommen richtige, vollstÇndige und in das Einzelne gehende ErklÇrung der Musik, also eine ausfÜhrliche Wiederholung dessen was sie ausdrÜckt in Begriffen zu geben, [...] die wahre Philosophie sein wÜrde« (Ebd. I. S. 332). Die Musik ist fÜr Schopenhauer »eine unbewußte ¾bung in der Metaphysik, bei der der Geist nicht weiß, daß er philosophiert« (Ebd.). Je begriffs- und damit je sprachfreier die Musik ist, um so eher kann sie das Wesen der Erscheinungen zum Ausdruck bringen. Und dies bedeutet, daß der Text, der gelegentlich verwendet wird, eine ganz untergeordnete Rolle spielen muß. FÜr Schopenhauer lieferten die Opern von Giachino Rossini (1792–1868), die zu dieser Zeit in Berlin und an anderen Orten grÙßte Erfolge erzielten, das beste Beispiel einer solchen Musik, da in ihnen ganz unabhÇngig von individuellen Begebenheiten der Schmerz, das Entsetzen, die Lustigkeit usw. ihren Ausdruck findet (Ebd. I. S. 329). Wagners Vorstellung vom Musikdrama, das zunÇchst vom Wortgeschehen her gedacht ist, findet hier keine StÜtze. Diese ErlÙsung durch die Kunst ist jedoch auf kurze Augenblicke beschrÇnkt, die Kunst kann somit nicht die endgÜltige Antwort liefern. Es kommt der Moment, wo vom Spiel zum Ernst Übergegangen werden muß (Ebd. I. S. 335). Die wahre Richtung einer dauerhaften ErlÙsung muß dort gesucht werden, »wohin die Verneinung des Willens zum Leben den Weg erÙffnet« (Ebd. § 144. I. S. 309). Die Verneinung des Willens darf jedoch nicht selbst ein Akt des Willens sein, sondern muß in einem langsamen Absterben, im Entsagen und in der Askese bestehen. Der Selbstmord ist daher als ErlÙsung ausgeschlossen: Der SelbstmÙrder verneint nicht das Leben, sondern nur die Bedingungen, unter denen es sich vorfindet (Ebd. I, 4, § 69. II. S. 492), seine Handlung ist eine Auflehnung und damit eine, die vom Willen, nicht aber von der Verneinung des Willens diktiert ist. Beim Weg des langsamen Absterbens des Willens verweist Schopenhauer immer wieder auf die Asketen der Ùstlichen wie der westlichen Kulturen. Er weiß aber auch, daß nur wenige diesen Weg beschreiten

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und die meisten Menschen nur auf dem Weg des vom Schicksal verhÇngten Leidens und schließlich in der NÇhe des Todes zu dieser Einsicht gebracht werden (Ebd. I, 4, § 68. II. S. 484). Der entscheidende Punkt der geforderten Entsagung betrifft die IndividualitÇt. Wird die Vielheit als Abspaltung und somit als Schein durchschaut, und wird konsequenterweise auch die IndividualitÇt als Schein erkannt, kommt es darauf an, die Individualit›t selbst absterben zu lassen. Das Absterben des Bewußtseins der Einzelheit wird vor allem im Mitleid erreicht, welches das Leiden aller anderen als das eigene Leiden ansieht. Wer im Mitleiden die Schranke aller IndividualitÇt durchbricht, wer das Leiden aller als sein eigenes empfindet, wem so schließlich alles Begehren und WÜnschen abgestorben ist, der ist zum »Heiligen« geworden, der hat die ErlÙsung erreicht, die somit allein im Aufgeben seiner selbst als Selbst besteht. Der Mensch gelangt zum Zustande der freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und g›nzlichen Willenlosigkeit. [...] Sein Wille wendet sich, bejaht nicht mehr sein eigenes, sich in der Erscheinung spiegelndes Wesen, sondern verneint es. (Die Welt als Wille und Vorstellung IV, § 68. II. S. 470) An diesem Punkt ist der Einfluß der Upanischaden und des Buddhismus Überdeutlich, so daß sich am Ende nun das gesamte System Schopenhauers von dieser Herkunft her verstehen lÇßt. Schopenhauer hat diese Herkunft nie verheimlicht, er sieht daher auch die Mystik als die andere Seite und als die richtige ErgÇnzung seiner Philosophie an: Meine Philosophie unterscheidet sich von der Mystik dadurch, daß diese von Innen anhebt und ich von Außen: ich meine dies: Der Mystiker geht aus von seiner innern individuellen Erfahrung, in welcher er sich erkennt als das Centrum der Welt und das ewige alleinige Wesen. Allein mitteilbar ist hievon nichts, als eben Behauptungen, die man auf sein Wort glauben soll: •berzeugen kann er nicht. Ich dagegen gehe aus von der bloßen Erscheinung, die allen gemeinsam ist, die Reflexion ¹ber welche sich also vollkommen mitteilen l›ßt: und da nur von solchen Erfahrungen die Rede ist, die allen gemein sind, so ist •berzeugung m³glich. [...] Daher ist die Mystik eine vortreffliche Erg›nzung meiner Philosophie: und wer mich gelesen hat, wird sehr wohl tun, das Mystische im Upanischad [...] und endlich die Mystik der Sufis zu lesen. Denn sie alle geben das Positive, da wo ich als Philosoph nur Negatives geben konnte. (Der handschriftliche Nachlaß. III. S. 345) Die »Leseanweisung« Schopenhauers wÜrde ich allerdings umkehren, d. h.: Um Schopenhauers Philosophie zu verstehen, wird es das beste sein, sich zunÇchst einmal mit der indischen Philosophie, dem Buddhismus und der sufistischen Mystik (vgl. 2. Teil, Kap. IX, 3) zu beschÇftigen. Diese Umkehrung bedeutet dann allerdings,

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daß auch Schopenhauers Behauptung, mit seiner Philosophie Überzeugen zu kÙnnen, relativiert werden muß. Schopenhauer geht also ganz klar den Weg von der Kunst zur Religion. FÜr Schopenhauer liefert die Kunst den Vorschein, das momenthafte Aufblitzen der MÙglichkeit der ErlÙsung, nicht diese selbst; diese kann nur im tatsÇchlichen Absterben des Willens erreicht werden. Genau diesen Schritt tut Wagner nicht: Er will an der Vorstellung der »Kunstreligion«, der Kunst als Religion, die also selbst schon die ErlÙsung vermittelt, festhalten. Die ¾berwindung des Willens zum Leben wird bei Wagner zum Grundmotiv im Ring der Nibelungen und in Tristan und Isolde, wÇhrend die ErlÙsung durch Mitleid im Parsifal leitend ist. Wagner meint jedoch, daß sich die ErlÙsung schon im Musikdrama selbst abspiele und daß dieser Vorgang den ZuhÙrer/Teilnehmer in seinem Bewußtsein endgÜltig verÇndern wÜrde. Deshalb wird fÜr ihn das Musikdrama zur Kultveranstaltung, zum BÜhnenweihfestspiel, ein Anspruch, den dieses letztlich doch nicht einlÙsen kann. Wir begegnen in Schopenhauer somit tatsÇchlich dem großen Außenseiter der Philosophie des 19. Jhd.s. Er allein denkt bewußt von ganz anderen Quellen her als die anderen, die nicht nur aufgrund ihrer Herkunft, sondern auch in ihrem ganzen Denken die griechische und christliche PrÇgung nicht verleugnen kÙnnen. Es ist aber auch so, daß der Außenseiter eine Innenseite der europÇischen Tradition klarer und schÇrfer gesehen hat als alle anderen (mit Ausnahme vielleicht des spÇten Schelling, vgl. Kap. XVIII, 2): Er ist der einzige, der genau erfaßt hat, daß eine ganz wesentliche Traditionslinie der »europÇischen« Philosophie nicht-europÇischen, fernÙstlichen Ursprungs ist. In dieser Lehre geht es um die ErlÙsung durch Aufhebung der IndividualitÇt. Diese LÙsung ist bei den genannten Autoren - Klemens von Alexandrien, Dionysios Ariopagita, Scotus Eriugena, Eckhart - tendentiell immer gegeben, sie wird aber dann immer irgendwie so »umgebogen«, daß das Individuum doch erhalten bleibt, was aber eben nur die Çußerlichen Behauptungen betrifft. Ein weiteres: In allen aus dem griechischen Denken herkommenden Philosophien herrscht der Primat des Intellekts, des Verstandes, vor; in allen aus dem biblischchristlichen Bereich herkommenden Philosophien wird zwar dem Willen eine grÙßere Rolle zugesprochen, der Wille wird dabei aber immer als Manifestation des Einzelnen angesehen. Entsprechend wird hier der vorherrschende Grund der Welt als personal vorgestellt, dem ein ebenso personal gedachter Mensch gegenÜbersteht, und damit wird dem Individuum und seiner gesellschaftlichen Organisation ein zentraler und unaufgebbarer Wert beigemessen. Das Symbol dieser Wertorientierung ist das - biblisch-religiÙs oder sÇkularisiert-politisch gedachte - »Reich Gottes«. In der indischen Philosophie und Religion begegnet uns ein vÙllig anderes metaphysisches Wertsystem: Der Buddhismus strebt nach der vÙlligen »Leere«, ihrem Erfassen muß das Begreifen der Welt als Nichtigkeit vorausgehen. Ziel ist das vÙllige Eingehen in das Leere, in dem die als Leiden gewertete IndividualitÇt aufgehoben (aber nicht im hegelschen Sinne bewahrt) wird. Das Symbol der Wertorientierung ist das »Nir-

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wana«, das daher konsequenterweise in der europÇischen Philosophie kein brauchbares ’quivalent haben kann. WÇhrend Philosophien, die aus der griechisch-christlichen Tradition herkommen, immer auf eine theoretische oder praktische Beherrschung der Welt und der Gesellschaft abzielen, in der die eigene IdentitÇt und die der anderen gesichert und vervollkommnet wird, zielt die Philosophie, die aus der indischen Tradition kommt, auf Mitleiden mit den anderen, um sich selbst und die anderen aus der IdentitÇt, die durch Eigenwillen geprÇgt ist, zu erlÙsen. WÇhrend die einen die Welt beherrschen und verÇndern wollen, wollen die anderen sie aufheben. In diesem Sinne formulierte Schopenhauer die radikalste Alternative zu Hegel, wobei man eigentlich gar nicht mehr von Kritik sprechen kann, denn eine solche setzt allgemeinste Çhnliche Grundvoraussetzungen voraus. Es ist daher nicht verwunderlich, daß in einer Zeit wie unserer Gegenwart, in der Zweifel am Fortschritt, am »Reich Gottes auf Erden« und an der MÙglichkeit der Aufhebung sozialer Entfremdung aufkommen, die Anziehungskraft der radikalen Alternative zunimmt. Ob dabei Schopenhauer genannt wird, ist unerheblich, denn sein System ist prinzipiell nicht »originell«, sondern bringt nur in europÇischer Sprache die Alternative der metaphysischen Lebensauffassung des fernen Ostens zum Ausdruck. 487

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Friedrich Nietzsche

1. Die tragische und die theoretische Daseinsform

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Bei Marx war der Fortschrittsglaube, der seine PlausibilitÇt weithin vom Fortschritt der Wissenschaft gewonnen hatte, ungebrochen. Kierkegaard und Schopenhauer hatten diese FortschrittsglÇubigkeit in Frage gestellt, keiner von ihnen hatte jedoch den Zusammenhang von Fortschrittsglauben und Wissenschaftsgl›ubigkeit als ausdrÜckliches Problem gefaßt. Bei Friedrich Nietzsche (1844–1900) wird nun Wissenschaft zum ersten Mal ausdrÜcklich problematisiert. Als einziger VorlÇufer kann Rousseau angesehen werden, dessen Schriften Nietzsche schÇtzte. Doch auch Nietzsche selbst ging der Zusammenhang von Problematisierung der Wissenschaft und Problematisierung des Fortschrittsglaubens erst langsam auf. RÜckblickend sagte er in dem in den achtziger Jahren entstandenen Versuch einer Selbstkritik zu seinem frÜhen Werk Die Geburt der TragÙdie: Was ich damals zu fassen bekam, etwas Furchtbares und Gef›hrliches, ein Problem mit H³rnern, nicht notwendig gerade ein Stier, jedenfalls ein neues Problem: heute w¹rde ich sagen, daß es das Problem der Wissenschaft selbst war - Wissenschaft zum ersten Male als problematisch, als fragw¹rdig gefaßt. (Die Geburt der Trag³die. Versuch einer Selbstkritik. I. S. 10) Nietzsche hatte erkannt, daß das Problem der Wissenschaft oder die Wissenschaft als Problem gar nicht auf dem Boden der Wissenschaft erfaßt werden konnte. Aus diesem Grund wÇhlte er schon in diesem FrÜhwerk einen ganz anderen Gesichtspunkt: Er stellte sich die Aufgabe, »die Wissenschaft unter der Optik des KÜnstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens« (Ebd. S. 11). Nietzsche, der von Beruf eigentlich Altphilologe war, griff dieses Problem im Zusammenhang einer kulturgeschichtlich orientierten Auseinandersetzung mit der griechischen Antike auf. Bei seiner Analyse ging es ihm jedoch nicht um eine einfache historische Arbeit - er kritisierte z. B. Johann Joachim Winckelmanns (1717–1768) Bild des glÜcklichen, heiteren griechischen Menschen -, sondern um die kritische Interpretation seiner Gegenwart, die er als Konsequenz einer in der griechischen Antike angelegten (Fehl-)Entwicklung betrachtete. In der frÜhen Periode seiner Arbeiten stellte Nietz-

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sche einen entscheidenden Einschnitt und Umbruch fest: den ¾bergang von der tragischen Weltauslegung der Griechen zu der auf wissenschaftliche RationalitÇt hinzielenden sokratischen Weltauslegung. In der spÇteren Periode nahm Nietzsche diese Epochendifferenz auf und interpretierte die spÇtere Epoche als jene, die durch den moralischen Menschen gekennzeichnet ist, so wie er durch das Christentum hervorgebracht wurde. Dazu sagt er interpretierend in seinem Versuch einer Selbstkritik: Gegen die Moral also kehrte sich damals, mit diesem fragw¹rdigen Buche, mein Instinkt, als ein f¹rsprechender Instinkt des Lebens, und erfand sich eine grunds›tzliche Gegenlehre und Gegenwertung des Lebens, eine rein artistische, eine antichristliche. Wie sie nennen? Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich sie, nicht ohne einige Freiheit - denn wer w¹ßte den rechten Namen des Antichrist? - auf den Namen eines griechischen Gottes: ich hieß sie die dionysische. (Ebd. S. 15) Seiner eigenen Interpretation nach ging es Nietzsche also in seiner frÜheren wie in seiner spÇteren Periode um ein und dasselbe, wenn er zunÇchst den sokratisch-wissenschaftlichen und spÇter den christlich-moralischen Menschen als lebensfeindlich kritisierte. Der Grundgedanke Nietzsches dabei ist, daß ein Dasein, das aus seiner ganzen FÜlle heraus lebt, auch in der Lage sein muß, »das Harte, Schauerliche, BÙse, Problematische des Daseins« (Ebd. S. 10) nicht nur zu integrieren, sondern als zum inneren Bestand des Daseins gehÙrend zu akzeptieren. Nietzsche nennt eine solche Daseinsinterpretation »pessimistisch«, da der Mensch sich darin mit dem Leidcharakter des Daseins identifiziert: Daraus geht dann ein »Pessimismus der StÇrke« (Ebd. S. 9) hervor. Diesem Pessimismus der St›rke steht der Optimismus der Schw›che gegenÜber: Dieser meint, durch Wissenschaft oder Moral (oder durch beides) das Leid und das Dunkle des Daseins wegrationalisieren zu kÙnnen bzw. zu mÜssen. Dieser Gegensatz gab Nietzsche einen SchlÜssel an die Hand, um die Geschichte der griechischen Antike zu interpretieren. Wie? wenn die Griechen, gerade im Reichtum ihrer Jugend, den Willen zum Tragischen hatten und Pessimisten waren? wenn es gerade der Wahnsinn war, um ein Wort Platos zu gebrauchen, der die gr³ßten Segnungen ¹ber Hellas gebracht hat? Und wenn, andererseits und umgekehrt, die Griechen gerade in den Zeiten ihrer Aufl³sung und Schw›che immer optimistischer, oberfl›chlicher, schauspielerischer, auch nach Logik und Logisierung der Welt br¹nstiger, also zugleich »heiterer« und »wissenschaftlicher« wurden? (Ebd. S. 13) Insofern die Menschen im Europa der spÇteren Jahrhunderte diese griechische Konzeption Übernommen haben, gehÙren auch sie in die Geschichte des Optimismus hinein. Und dies bedeutet nichts anderes als die Vorherrschaft der VernÜnftigkeit und des Utilitarismus, die aber gleichzeitig Manifestationen absinkender Lebens-

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kraft darstellen, also als dµcadence zu gelten haben. Um der SchwÇche und dem Absinken begegnen zu kÙnnen, geht es daher zunÇchst einmal darum, den Sinn des Tragischen zu bestimmen. Das tragische LebensgefÜhl, das sich in der TragÙdie ausspricht, kommt nach Nietzsche aus zwei Grundtrieben: dem Dionysischen und dem Apollinischen. Das Dionysische steht dabei fÜr das Maßlose, Grenzenlose, Unendliche und Ekstatische. Deshalb setzt Nietzsche dafÜr Dionysios, den Gott des Rausches und der VerzÜckung, als Symbol, eine VerzÜckung, »in deren Steigerung das Subjektive zu vÙlliger Selbstvergessenheit hinschwindet« (Ebd. S. 24). Der Dithyrambus, ein enthusiastisch-ekstatisches Chorlied in freien Rhythmen, das im Kult des Dionysos verwendet wurde, ist zugleich sprachlicher Ausdruck des Ekstatischen und Mittel zur Erreichung desselben. Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur h³chsten Steigerung aller seiner symbolischen F›higkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes dr›ngt sich zur ußerung, die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur. (Ebd. S. 28)

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DemgegenÜber ist das Apollinische das Maßgebende, Begrenzende und Bestimmende. Entsprechend dieser Funktion ist das Apollinische das die Einheit Herstellende, das Individualisierende, im Gegensatz zum Dionysischen, welches nicht nur das Nicht-Individualisierte ist, sondern eigentlich sogar das, was der Individualisierung entgegenstrebt, insofern es alle Begrenzung zu Überschreiten sucht. Diese beiden Lebens- und Kunsttriebe stehen einander zwar gegenÜber, sie sind jedoch nach der Auffassung Nietzsches dadurch verbunden, daß der Urgrund des Dionysischen von sich aus die Ordnungsfunktion des Apollinischen hervortreibt. Je mehr ich n›mlich in der Natur jene allgewaltigen Kunsttriebe und in ihnen eine inbr¹nstige Sehnsucht zum Schein, zum Erl³stwerden durch den Schein gewahr werde, um so mehr f¹hle ich mich zu der metaphysischen Annahme gedr›ngt, daß das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das Ewig-Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entz¹ckende Vision, den lustvollen Schein zu seiner steten Erl³sung braucht [...]. (Ebd. S. 32) Aus diesen beiden Kunsttrieben ging die attische TragÙdie des Sophokles und des Aischylos hervor, die jedoch nicht als »Schauspiel« im modernen Sinne aufgefaßt werden darf, sondern als symbolisch vermittelte und vermittelnde Grundauffassung des Daseins. Im griechischen Theater der frÜhen Zeit gab es keine Zuschauer, sondern nur Teilnehmer, was schon darin zum Ausdruck kommt, daß das Schauspiel sich nicht vor, sondern in der Mitte unter den Teilnehmern abspielte (Rundarena). Es gibt keine Religion neben der TragÙdie, diese ist vielmehr, soweit es Überhaupt eine gibt, ein Element innerhalb derselben. In der TragÙdie und in der ihr entspre-

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chenden tragischen DaseinsbewÇltigung ist das Dasein in sich gerechtfertigt, es braucht also keine ErlÙsung von außerhalb, es ist autonom. Das Dasein findet seinen Sinn ausschließlich in sich, ohne jedes Erfordernis eines Verweises auf Transzendierendes. Vernunft ist hier immanente und konkrete menschliche Vernunft, und so gibt es auch keine Illusion der AuflÙsbarkeit von Leid und Schmerz. Die Vernunft geht selbst aus diesem leidvollen und widersprÜchlichen Grund des Lebens hervor und strebt nicht danach, ihn zu Überschreiten. Die MÙglichkeit, mit dem so verfaßten Dasein fertig zu werden und es darÜber hinaus noch zu bejahen, gibt einzig die Kunst und nicht die Vernunft. Daß fÜr Nietzsche Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung den Weg zur Philosophie bereitet hatte, ist an diesem Punkt nicht zu Übersehen: Die Kunst liefert die einzige MÙglichkeit der DaseinsbewÇltigung. Hier, in dieser h³chsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst: sie allein vermag jene Ekelgedanken ¹ber das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben l›ßt: diese sind das Erhabene als die k¹nstlerische B›ndigung des Entsetzlichen und das Komische als die k¹nstlerische Entladung vom Ekel des Absurden. (Ebd. S. 48 f.) Die TragÙdie spricht aus, ohne zu lehren, daß alles Vorhandene gerecht und ungerecht und in beidem gleich berechtigt ist (Ebd. S. 60). Die alte TragÙdie ist ein Ereignis und eine Form des Lebens, die alles enthÇlt, was Über das Leben gesagt werden kann. Das Ende dieser Einheit des Daseins und der tragischen LebensbewÇltigung kommt durch eine Entwicklung, fÜr welche die Namen Sokrates und Euripides stehen. Sokrates sagt: »nur der Wissende ist tugendhaft«, und dem entspricht die kÜnstlerische Maxime des Euripides: »alles muß verstÇndig sein, um schÙn zu sein« (Ebd. S. 72). So treten Rationalit›t und Moral mit dem Anspruch auf, dem Menschen die Richtung weisen zu kÙnnen. Entsprechend erscheint die TragÙdie nicht mehr als Lebensform, an welcher der Mensch partizipiert und zu der er selbst gehÙrt, sondern als ausdrÜckliche Lehrinstanz. Die BÜhne wird zum Ort des Lehrers, der Zuschauer zum Belehrten, BÜhne und Zuschauerraum erhalten eine Richtung, der alte Kreis der Teilnehmer existiert nicht mehr. Es etabliert sich damit ein »Wissen« bzw. eine »Moral«, das bzw. die zusammen mit der Dialektik als der Methode, Menschen vernÜnftig und sittlich zu machen, einen Optimismus hervorbringt, mit dem man behauptet, das GlÜck herstellen zu kÙnnen: »Tugend ist Wissen; es wird nur gesÜndigt aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der GlÜckliche« (Ebd. S. 81). GegenÜber dem tragischen Menschen tritt damit der theoretische Mensch mit seinem Glauben an die Erforschbarkeit der Natur des Menschen und aller Dinge und dem Glauben an die Wissenschaft als Universalheilmittel auf (Ebd. S. 84–86). Es ist jedoch unvermeidlich, daß dieser Optimismus an Grenzen stÙßt, nÇmlich dort, »wo er in das Unaufhellbare starrt« (Ebd. S. 87), wo also die Theorie keine ErklÇrung mehr liefert

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und die Moral keine brauchbare Regel zur BewÇltigung der Situation kennt. Nietzsche glaubte, daß seine Zeit an dieser Grenze angelangt sei und fragte sich daher, ob es eine »LÙsung« bzw. eine Ausflucht gebe. Der einfache Weg zurÜck zum tragischen DaseinsverstÇndnis ist nach dem Weg der theoretischen Wissenschaft nicht mehr gangbar, ebenso wird aber der wissenschaftsglÇubige Optimismus schließlich zur Resignation gezwungen. Hier besch›ftigt uns die Frage, ob die Macht, an deren Entgegenwirken die Trag³die sich brach, f¹r alle Zeit genug St›rke hat, um das k¹nstlerische Wiedererwachen der Trag³die und der tragischen Weltbetrachtung zu verhindern. Wenn die alte Trag³die durch den dialektischen Trieb zum Wissen und zum Optimismus der Wissenschaft aus ihrem Gleise gedr›ngt wurde, so w›re aus dieser Tatsache auf einen ewigen Kampf zwischen der theoretischen und der tragischen Weltbetrachtung zu schließen; und erst nachdem der Geist der Wissenschaft bis an seine Grenze gef¹hrt ist, und sein Anspruch auf universale G¹ltigkeit durch den Nachweis jener Grenzen vernichtet ist, d¹rfte auf eine Wiedergeburt der Trag³die zu hoffen sein: f¹r welche Kulturform wir das Symbol des musiktreibenden Sokrates, in dem fr¹her er³rterten Sinne, hinzustellen h›tten. (Ebd. S. 95) 492

Nietzsche hat hier, am Ende des 19. Jhd.s, die Problematik des 20. Jhd.s bereits scharf identifiziert: Der Glaube an die universale Herrschaft von Wissenschaft und Moral und an die LÙsbarkeit aller Probleme durch diese Mittel gerÇt an eine Grenze, an der dieser Glaube sich als »bodenlos« erfÇhrt und so dem Zerfall preisgegeben ist. Das RÇtselhafte und Vernichtende auf dem Grund des Daseins ist nicht aufgehoben, das wissenschaftliche, theoretische Bewußtsein ist jedoch gegenÜber dieser Dimension notwendigerweise hilflos, und so bricht es, da durch kein apollinisches Element gebannt, an den RÇndern der RationalitÇt unkontrolliert und unkontrollierbar hervor. In dieser Periode seines Denkens meinte Nietzsche jedoch noch immer, daß die Kunst ihre heilende Funktion wieder ausÜben kÙnnte und orientierte daran seinen geschichtstheoretischen Entwurf. Bei dieser neuen Kunst dachte er hauptsÇchlich an Wagner, den er von zahlreichen persÙnlichen Begegnungen her kannte. In der vierten der UnzeitgemÇßen Betrachtungen, die Richard Wagner in Bayreuth gewidmet ist (UnzeitgemÇße Betrachtungen, viertes StÜck. Richard Wagner in Bayreuth. I. S. 367– 434), bringt Nietzsche mit einer fÜr uns heute geradezu bestÜrzenden Begeisterung seine Verehrung fÜr Wagner und dessen Werk zum Ausdruck. Tristan und Isolde wird zum opus metaphysicum (Ebd. S. 408) und der Ring der Nibelungen zur eigentlichen Philosophie. Der Ring des Nibelungen ist ein ungeheures Gedankensystem ohne die begriffliche Form des Gedankens. Vielleicht k³nnte ein Philosoph etwas ganz Entsprechendes ihm zur Seite stellen, das ganz ohne Bild und Handlung w›re und bloß in Begriffen

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zu uns spr›che: dann h›tte man das gleiche in zwei disparaten Sph›ren dargestellt, einmal f¹r das Volk und einmal f¹r den Gegensatz des Volkes, den theoretischen Menschen. An diesen wendet sich also Wagner nicht; denn der theoretische Mensch versteht von dem eigentlich Dichterischen, dem Mythus, gerade so viel als ein Tauber von der Musik, das heißt beide sehen eine ihnen sinnlos scheinende Bewegung. Aus der einen von jenen disparaten Sph›ren kann man in die andre nicht hineinblicken. (Ebd. S. 413) Damit war die geschichtsphilosophische These verbunden, die Wiedergeburt der TragÙdie hÇtte schon stattgefunden. Die ErnÜchterung folgte bei Nietzsche rasch. Er begriff, daß fÜr Wagner die Musik immer nur ein Mittel (Der Fall Wagner II. S. 924), das Eigentliche hingegen die ErlÙsungs-Botschaft war, deren Inhalt in der Schopenhauerschen Philosophie der Entsagung und der Resignation bestand (Ebd. S. 908 f.), also genau in dem Gegenteil dessen, was Nietzsche nun in seiner spÇteren Phase anstrebte. Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil- und Hilfsmittel des wachsenden oder des niedergehenden Lebens angesehen werden: sie setzen immer Leiden und Leidende voraus. Aber es gibt zweierlei Leidende, einmal die an der •berf¹lle des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Einsicht und Aussicht auf das Leben - und sodann die an der Verarmung des Lebens Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer oder aber den Rausch, den Krampf, die Bet›ubung von Kunst und Philosophie verlangen. Die Rache am Leben selbst - die woll¹stigste Art Rausch f¹r solche Verarmte! ... Dem Doppel-Bed¹rfnis der letzteren entspricht ebenso Wagner wie Schopenhauer - sie verneinen das Leben, sie verleumden es, damit sind sie meine Antipoden. (Wir Antipoden. II. S. 1047) Die geschichtstheoretische Hoffnung, die Musik Wagners sei der Beginn eines neuen Dionysischen Zeitalters war also zerbrochen. In der spÇteren Selbstkritik an der Geburt der TragÙdie gab Nietzsche dies auch rÜckhaltlos zu: In der Tat, inzwischen lernte ich hoffnungslos und schonungslos genug von diesem »deutschen Wesen« denken, insgleichen von der jetzigen deutschen Musik, als welche Romantik durch und durch ist und die ungriechischeste aller m³glichen Kunstformen [...]. Abseits freilich von allen ¹bereilten Hoffnungen und fehlerhaften Nutzanwendungen auf Gegenw›rtigstes, mit denen ich mir damals mein erstes Buch verdarb, bleibt das große dionysische Fragezeichen, wie es darin gesetzt ist [...]. (Die Geburt der Trag³die. Versuch einer Selbstkritik. I. S. 16 f.) Die Grundfrage, wie das Leben in seiner FÜlle auch mit allem »Negativen« bejaht werden kÙnne, blieb somit fÜr Nietzsche durchaus bestehen.

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2. Nihilismus Nietzsche sah sich somit gezwungen, die Frage nach der MÙglichkeit der Bejahung des Lebens, wie sie in der attischen TragÙdie gegeben war, erneut aufzunehmen. Allerdings ist dabei zu beachten, daß er in seinen spÇteren Werken das Dionysische anders versteht als in der Geburt der TragÙdie. Das Dionysische umfaßt jetzt auch das Apollinische, es reprÇsentiert also das Grenzenlose schon in der formgebenden Begrenzung. Da die Wiedergeburt der TragÙdie, die diese Bejahung in einem ermÙglichen und symbolisieren sollte, nicht stattgefunden hatte, stellte er sich aber auch die Frage, welche gegenwÇrtigen GrÜnde eine solche Bejahung unmÙglich machten. Die Fragestellung bleibt die gleiche: Woher kommt der theoretische und moralische Mensch, der unfÇhig geworden ist, sein Leben in allen seinen Dimensionen zu bejahen? Um diesen Menschen und die durch ihn gekennzeichnete Periode zu charakterisieren, verwendet Nietzsche den Begriff »Nihilismus«, den er aus der Tradition der russischen Anarchisten Übernahm, die er vor allem durch Dostojewski vermittelt kannte. Mit »Nihilismus« bezeichnet Nietzsche die Gesamtheit der europÇischen Kultur, die aus der Idee des moralischen und des damit verbundenen theoretischen Menschen hervorgegangen ist. 494

Der Glaube, daß die Welt, die sein sollte, ist, wirklich existiert, ist ein Glaube der Unproduktiven, die nicht eine Welt schaffen wollen, wie sie sein soll. Sie setzen sie als vorhanden, sie suchen nach Mitteln und Wegen, um zu ihr zu gelangen. [...] Dieselbe Spezies Mensch, noch eine Stufe ›rmer geworden, nicht mehr im Besitz der Kraft zu interpretieren, des Schaffens von Fiktionen, macht den Nihilisten. Ein Nihilist ist der Mensch, welcher von der Welt, wie sie ist, urteilt, sie sollte nicht sein, und von der Welt, wie sie sein sollte, urteilt, sie existiert nicht. Demnach hat dasein (handeln, leiden, wollen, f¹hlen) keinen Sinn [...]. (Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre. III. S. 549) Nihilismus ist somit der Name fÜr die Krankheitsgeschichte des europÇischen Menschen, die dµcadence. Ihr liegt zum einen die Moral zugrunde, in der immer eine Verneinung des Lebens enthalten ist, und zum anderen der theoretische Optimismus, mit dem beansprucht wird, alle Probleme mit Hilfe der Wissenschaft lÙsen zu kÙnnen. Obwohl die Moral das Leben verneint, hat sie doch in der europÇischen Geschichte eine große Wirksamkeit entfaltet. Der Grund dafÜr liegt in ihrer Zweideutigkeit. Denn wÇhrend sie dieses, d. h. das diesseitige Leben, verneint, bejaht sie ein anderes, ein jenseitiges Leben. Der ursprÜngliche Trieb zur Bejahung des Lebens ist also nicht schlechterdings aufgehoben, sondern verbogen, gleichsam abgelenkt. Die in der Moral enthaltene Verneinung des Lebens ist zwar schon seit Jahrhunderten erkannt worden, gerade wegen ihrer Zweideutigkeit aber kommt sie nicht an ein rasches Ende, sondern bringt nur ein langsames und somit langwieriges Siechtum hervor. Die Menschen mÙchten sich einerseits von den Fesseln der Moral

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freimachen, haben aber andererseits nicht den Mut und die Kraft, die dafÜr erforderlichen radikalen ’nderungen durchzufÜhren. Die dµcadence ist eine lange Geschichte schlechter Kompromisse. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie es Überhaupt zu einer solchen Verbiegung und Verkehrung kommen konnte. Nietzsche antwortet darauf, daß dem Willen zum Leben noch ein tieferer Wille zugrunde liegt: der Wille zur Macht. Jene aber, die nicht die Kraft haben, das Leben auch mit seiner Dunkelheit, seiner AbsurditÇt und seinem Schrecklichen zu bejahen, die sich aber doch behaupten wollen, mÜssen einen Gegen-Willen aufrichten; einen Willen, durch den dieses Leben und diese Welt schlecht gemacht wird und mit dem sie dafÜr ein anderes Leben und eine andere Welt erfinden, in der sie entschÇdigt werden. Es ist klar, daß in dieser Entwicklung das Christentum fÜr Nietzsche eine wichtige Rolle spielt, doch er bleibt dabei nicht stehen, sondern zeigt, daß die Philosophie, jedenfalls seit Platon, der Advokat dieser Gegen-Welt ist. Die Geschichte der Philosophie ist ein heimliches W¹ten gegen die Voraussetzungen des Lebens, [...] gegen das Parteinehmen zugunsten des Lebens. Die Philosophen haben nie gez³gert, eine Welt zu bejahen, vorausgesetzt, daß sie dieser Welt widerspricht, daß sie eine Handhabe abgibt, von dieser Welt schlecht zu reden. Es war bisher die große Schule der Verleumdung: und sie hat so sehr imponiert, daß heute noch unsere sich als F¹rsprecherin des Lebens gebende Wissenschaft die Grundposition der Verleumdung akzeptiert hat und diese Welt als scheinbar, diese Ursachenkette als bloß ph›nomenal handhabt. Was haßt da eigentlich? Ich f¹rchte, es ist immer die Circe des Philosophen, die Moral, welche ihnen diesen Streich gespielt, zu allen Zeiten Verleumder sein zu m¹ssen ... Sie glaubten an die moralischen »Wahrheiten«, sie fanden da die obersten Werte, - was blieb ihnen ¹brig, als, je mehr sie das Dasein begriffen, um so mehr zu ihm nein zu sagen? (Ebd. S. 736 f.) Innerhalb dieser Verneinung des Lebens ist das Christentum einzureihen, das nach Nietzsche »Platonismus fÜrs Volk« ist und sich in die große Bewegung des Ressentiments des schwachen Willens gegen den tragischen Urgrund des Lebens einreiht. In all diesen Bewegungen wollen die Menschen herrschen, sie kÙnnen es jedoch nur, indem sie das Leben verurteilen: Aus der Verneinung schÙpfen sie ihre Kraft und ersch³pfen sich gleichzeitig in ihr. StÇrker hingegen wÇre es, die WidersprÜche des Daseins zu bejahen, immanent zu bleiben, nicht vor dem Dunklen in unserem Leben zu fliehen. Die Nihilisten ertragen dies jedoch nicht. Die Wurzel ihrer Flucht- und Verweigerungsstrategie ist die Moral, die das Leben aufteilt, es teilweise verurteilt und ihm teilweise eine transzendente Wiedergutmachung verspricht. Als wirksames Instrument der Verneinung schafft sich der Nihilismus einen spezifischen Begriff der Wahrheit und entsprechend einen Begriff der Rationalit›t, jenen nÇmlich, in dem keine WidersprÜche bestehen dÜrfen. Der Ausschluß von Widerspr¹chen erfordert

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zwangslÇufig und scheinbar rational, daß bei unÜbersehbaren AbsurditÇten ein Ausgleich geschaffen werden muß. Diese RationalitÇt wird damit selbst zur Logik des Scheins, die den Schein, d. h. eine Scheinwelt, erst produziert. Diese jeden Widerspruch verbietende RationalitÇt ist jedoch schwach, da sie dem Menschen immer nur eine Sichtweise gestattet; es ist alles auf die Perspektive »wahr-falsch« festgelegt. Die »objektive Wahrheit« entspricht so dem »objektiven Sittengesetz«: In beiden wird eine Vielheit der Perspektiven nicht zugelassen. Einzig der Wille zuzulassen, daß die Wirklichkeit selbst oft widersprÜchlich ist und sich nicht in ein widerspruchsfreies System einarbeiten lÇßt, gibt nach Nietzsche die MÙglichkeit, sich dieser Wirklichkeit zu stellen. Hier wird Hegel in seinen Grundvoraussetzungen angegriffen. Hegel beginnt zwar mit einem Widerspruch, lÇßt ihn jedoch nicht bestehen, sondern fordert, ihn abzuarbeiten, d. h. aufzuheben. Es gibt bei Hegel nur eine einzige Perspektive, die jedoch nicht als solche zugegeben wird, sondern die die Verneinung von Perspektiven bedeutet, ganz entsprechend dem WahrheitsverstÇndnis der dµcadence. Die Verneinung der Vielheit der Perspektiven aber bedeutet Nihilismus.

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»Nihilismus« ist bei Nietzsche, und zwar von ihm selbst so gedacht, zweideutig: Nihilismus. Er ist zweideutig: A. Nihilismus als Zeichen der gesteigerten Macht des Geistes: der aktive Nihilismus. B. Nihilismus als Niedergang und R¹ckgang der Macht des Geistes: der passive Nihilismus. (Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre. III. S. 557) Es geht also einzig um die ¾berwindung des passiven, mÜden Nihilismus. Die ¾berwindung des passiven Nihilismus erfordert, daß die bisherigen Werte entwertet werden, daß wir also zu einer Umwertung der Werte gelangen. Die Werte von Wahrheit und Moral mÜssen daher nicht nur modifiziert, sondern als ganze kritisiert werden. Schaffen wir die wahre Welt ab: und um dies zu k³nnen, haben wir die bisherigen obersten Werte abzuschaffen, die Moral ... Es gen¹gt nachzuweisen, daß auch die Moral unmoralisch ist, in dem Sinne, in welchem das Unmoralische bis jetzt verurteilt worden ist. Ist auf diese Weise die Tyrannei der bisherigen Werte gebrochen, haben wir die »wahre Welt« abgeschafft, so wird eine neue Ordnung der Werte von selbst folgen m¹ssen. Die scheinbare Welt und die erlogene Welt - ist der Gegensatz. Letztere hieß bisher die »wahre Welt«, die »Wahrheit«, »Gott«. Diese haben wir abzuschaffen. (Ebd. S. 737)

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Nietzsche erkannte als einer von ganz wenigen, daß im traditionellen Begriff von »Wahrheit« ein theologischer ProblemÜberhang weiterhin vorhanden war, der eine ¾berforderung darstellte (vgl. Kap. XI, 5) und der auch in der Philosophie des Deutschen Idealismus weiter wirkte. Man hat nur das Wort »T¹binger Stift« auszusprechen, um zu begreifen, was die deutsche Philosophie im Grunde ist - eine hinterlistige Theologie ... (Der Antichrist 10. II. S. 1171) «Wahrheit«, »wahre Welt«, »Moral« und »Gott« werden von Nietzsche als die Vorstellungen nebeneinandergestellt, die abgeschafft werden mÜssen. Es ist dabei jedoch zu betonen, daß Nietzsche diese Vorstellungen nicht direkt angriff und auch nicht angreifen wollte, sondern daß er sie einfach aus dem Grunde ablehnte, weil er erkannt hatte, daß mit den in ihnen enthaltenen unerreichbaren und unerfÜllbaren Forderungen den Menschen die MÙglichkeit genommen worden war, der wirklichen Welt und dem wirklichen Leben ins Auge zu schauen. Nihilismus ist die Auffassung, die wahre Welt sei eine andere, bessere, fÜr uns aber unerreichbare, von der wir nur durch gÙttliche Kundgabe wissen und die wir nur durch gÙttliche Hilfe erreichen kÙnnen. Nietzsche ist konsequenterweise Überzeugt, daß diese »neue Ordnung« nicht eine andere der gleichen Art sein kann, sondern eine qualitativ neue Ordnung sein muß, die daher auch nicht mehr unter den bisherigen Begriff der »Ordnung« fÇllt, ebenso wie die neuen Werte nicht mehr unter den bisherigen Begriff des »Wertes« fallen. Denn »Ordnung« und »Wert« im bisherigen - nihilistischen - Sinne setzten immer ein Ziel voraus, auf das hin Ordnungen entworfen wurden, einen hÙchsten Wert, von dem aus bewertet werden konnte; all dies sind aber Elemente der Gegen-Welt. Es kommt also darauf an zu akzeptieren, daß die Welt kein Ziel hat und auch diese Akzeptanz nicht wiederum im Schema einer Ordnung zu denken ist. H›tte die Welt ein Ziel, so m¹ßte es erreicht sein. G›be es f¹r sie einen unbeabsichtigten Endzustand, so m¹ßte er ebenfalls erreicht sein. W›re sie ¹berhaupt eines Verharrens und Starrwerdens, eines »Seins« f›hig, h›tte sie in allem ihrem Werden nur einen Augenblick diese F›higkeit des »Seins», so w›re es wiederum mit allem Werden l›ngst zu Ende, also auch mit allem Denken, mit allem »Geiste«. Die Tatsache des »Geistes« als eines Werdens beweist, daß die Welt kein Ziel, keinen Endzustand hat und des Seins unf›hig ist. (Aus dem Nachlaß der Achtziger Jahre. III. S. 458 f.) Um die Wirklichkeit bejahen zu kÙnnen, muß also darauf verzichtet werden, eine Ordnung festmachen zu wollen, die ein inneres Ziel der Wirklichkeit ausmacht. Betrachtet man die Wirklichkeit von verschiedenen, einander durchaus auch widersprechenden Perspektiven, so wird jede als definitiv und ausschließlich erscheinende Ordnung verhindert. Aber gerade dadurch nÇhern wir uns der Wirklichkeit, die schließ-

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lich selbst widersprÜchlich sein kann. GegenÜber der alten Wahrheitsauffassung wird nun der Mut erforderlich, nicht mehr zu wollen, daß alle Perspektiven in einer Gesamtschau zusammengefaßt werden. Die Vorstellungen von »Wahrheit« und »System« sind nach Nietzsche unvereinbar, und dies trennt ihnt radikal von der Philosophie Hegels. Der ¾bergang vom Nihilismus zu einer Position jenseits des Nihilismus kann nicht von einem »Außen« der geschichtlichen Entwicklung kommen, da es fÜr Nietzsche kein solches »Außen« gibt und prinzipiell nicht geben darf, soll dem Menschen nicht wieder eine neue Heteronomie auferlegt werden. Heteronomie ist aber eben gerade die Wurzel des Nihilismus. Der Nihilismus muß daher von innen her bis zum Ende getrieben werden, er muß sich ganz auswirken. Sein Ende kommt dort in den Blick, wo »MoralitÇt« und »Wahrheit«, die selbst aus SchwÇche hervorgegangen sind, sich in ihrer Wirksamkeit erschÙpfen, d. h. sich als SchwÇche zeigen. Dies meinte Nietzsche in seiner Gegenwart feststellen zu kÙnnen. – Eine Beurteilung dieses Urteils ist nicht einfach und wird, weil sie ja auch wieder nur perspektivisch vorgenommen wird, auch nicht definitiv sein kÙnnen. Jedenfalls waren zur Zeit Nietzsches die Symptome der ErschÙpfung bei der »MoralitÇt« schon recht deutlich sichtbar, wohingegen der Wissenschaftsoptimismus kaum Zeichen der ErschÙpfung zeigte. Nicht Kritik, sondern Bejahung des Lebens in all seinen Dimensionen ist Nietzsches Ziel, er suchte das nach-nihilistische Dionysische. Er wußte, daß Philosophie dabei nicht mehr als Reflexion, sondern als Wille zur Bejahung des Lebens, und das heißt: als Wille zur Macht verstanden und damit zwangslÇufig auch gelebt werden mÜßte. Philosophie erfordert den Mut zu vorurteilslosem, nichts ausschließendem Leben und so zu nichts ausschließendem Sehen. Nur daraus kann der »neue Weg zum Ja« hervorgehen. Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Aufsuchen auch der verabscheuten und verruchten Seiten des Daseins. Aus der langen Erfahrung, welche mir eine solche Wanderung durch Eis und W¹ste gab, lernte ich alles, was bisher philosophiert hat, anders ansehn - die verborgene Geschichte der Philosophie, die Psychologie ihrer großen Namen kam f¹r mich ans Licht. »Wie viel Wahrheit ertr›gt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?« - dies wurde f¹r mich der eigentliche Wertmesser. Der Irrtum ist eine Feigheit ... jede Errungenschaft der Erkenntnis folgt aus dem Mut, aus der H›rte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich ... Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die M³glichkeiten des grunds›tzlichsten Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt w›re, daß sie bei einer Negation, beim Nein, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch - bis zu einem dionysischen Ja-sagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl -, sie will den ewigen Kreislauf dieselben Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der Verknotung. H³chster Zustand, den

Die ¾berwindung des Nihilismus

ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehn -: meine Formel daf¹r ist amor fati. Hierzu geh³rt, die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht nur als notwendig zu begreifen, sondern als w¹nschenswert: und nicht nur als w¹nschenswert in Hinsicht auf die bisher bejahten Seiten (etwa als deren Komplemente oder Vorbedingungen), sondern um ihrer selber willen, als der m›chtigeren, fruchtbareren, wahreren Seiten des Daseins, in denen sich sein Wille deutlicher ausspricht. Insgleichen geh³rt hierzu, die bisher allein bejahte Seite des Daseins abzusch›tzen; zu begreifen, woher diese Wertung stammt und wie wenig sie verbindlich f¹r eine dionysische Wertabmessung des Daseins ist: ich zog heraus und begriff, was hier eigentlich ja sagt (der Instinkt der Leidenden einmal, der Instinkt der Herde andererseits und jener dritte, der Instinkt der meisten gegen die Ausnahmen -). Ich erriet damit, inwiefern eine st›rkere Art Mensch notwendig nach einer anderen Seite hin sich die Erh³hung und Steigerung des Menschen ausdenken m¹ßte: hÙhere Wesen, jenseits von Gut und B³se, jenseits von jenen Werten, die den Ursprung aus der Sph›re des Leidens, der Herde und der meisten nicht verleugnen k³nnen ich suchte nach den Ans›tzen dieser umgekehrten Idealbildung in der Geschichte (die Begriffe »heidnisch«, »klassisch«, »vornehm« neu entdeckt und hingestellt). (Ebd. S. 834 f.) Die Suche nach dem »hÙheren Wesen« ist die nach dem •bermenschen, der dadurch gekennzeichnet ist, daß er alle Seiten des Lebens bejaht. Als Beispiele findet Nietzsche Jesus, der dadurch charakterisiert ist, daß er auch im Tod das leidvolle Dasein nicht verurteilt, der also Über jedes GefÜhl von Ressentiment Überlegen ist (Der Antichrist 40. III. S. 1202), so daß Nietzsche Dionysios und den Gekreuzigten in eine Linie stellen kann. Hier wird deutlich, wie vorsichtig man bei der Interpretation von Nietzsches »¾bermenschen« sein muß (zu dessen einseitigen Interpretationen Nietzsche allerdings selbst schon gelegentlich Anlaß gab). Die bei Nietzsche nicht aufgelÙste und nicht auflÙsbare Problematik des neuen Menschen oder des ¾bermenschen liegt darin, daß er GegensÇtzliches verwirklichen soll. Dies war schon Nietzsches Problematik in der Geburt der TragÙdie, wo er die LÙsung im »musiktreibenden Sokrates« (vgl. oben 1) suchte, in dem also das Dionysische und Musikalische mit dem Rationalen und Moralischen in eine Einheit gebracht werden sollte, wobei Nietzsche aber auch nicht mehr als diese Chiffre als Postulat aufstellte, denn es waren ja gerade das Logische und das Ethische, welche das Ende der alten TragÙdie herbeigefÜhrt hatten. Auch in seiner spÇten Philosophie der Fragmente aus den achtziger Jahren bleibt diese Problematik bestehen. Als Stichworte kann man der »Weise« und der »Starke« nennen (vgl. MÜller-Lauter, 1971). Der

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»neue Mensch« sollte sowohl weise als auch stark sein. Aber auch hier ist nicht zu sehen, wie der Weise auch der Starke sein kÙnnte und umgekehrt. Der Weise wÇre dadurch gekennzeichnet, daß er keine Perspektive ausschließt: Er ist bereit und fÇhig, alle Erkenntnisse der Vergangenheit aufzunehmen, aber er legt sich dabei auf keine einzige fest, und so bleibt er immer offen fÜr neue Erkenntnisse und Perspektiven. Er unterdrÜckt keine Dimension der Welt oder des Lebens und somit auch keinen anderen Menschen. Renaissancegelehrte wie Pico della Mirandola, aber auch wie Montaigne (vgl. Kap. I, 2) gehÙren zu diesen, aber auch ein Universalgelehrter wie Leibniz. Allen diesen ist aber gemein, daß sie sich im realen und politischen Leben nicht »durchsetzen« konnten. - Das Streben nach Erkenntnis in allen Dimensionen ist auch ein Streben nach Macht, denn die St›rke des Weisen besteht darin, daß er fÇhig ist, alle GegensÇtze in sich aufzunehmen. Aber diese StÇrke bedeutet auf der anderen Seite auch wieder Schw›che, denn das Verstehen von so Vielem macht es dem Weisen unmÙglich, sich in seinem Handeln eindeutig festzulegen. Der Weise (mit seiner Weite der Kenntnisse und der Vielzahl der Perspektiven) ist bei der Verwirklichung seiner Absichten vorsichtig und selbstkritisch und somit den BeschrÇnkteren, welche die Begrenztheit ihrer Perspektive gerade wegen ihrer Begrenztheit mit Durchsetzungskraft, aber auch mit RÜcksichtslosigkeit verbinden, in der Wirklichkeit des realen Lebens unterlegen. Genau dies erfaßt der Starke, denn er beschr›nkt sich selbst in seiner Perspektive. Zu ihm gehÙrt das bewußte Vergessen und der Wille, alles, was nicht mit der eigenen Perspektive Übereinstimmt, auszuschließen und zu unterdrÜcken. Der Starke erfÇhrt zwar auch GegensÇtze und WidersprÜche, aber er nimmt sie nicht in sich auf, sondern Überwindet sie. Er hÇlt an dem fest, wofÜr er sich einmal entschieden hat und setzt diese Perspektive mit allen Mitteln durch. Wir mÜssen hier nicht unbedingt an Hobbes denken, sondern dÜrfen uns durchaus an die »beschrÇnkten« Regeln der praktischen Philosophie von Descartes erinnern (vgl. Kap. V, 3). Aber auch diese StÇrke ist wiederum SchwÇche. Dies hat sich schon aus der Idee der MoralitÇt und der objektiven Wahrheit ergeben, die aus genau einer solchen absolut gesetzten Perspektive hervorgegangen ist. Die Verneinung, die in solcher StÇrke liegt, richtet sich schließlich gegen sich selbst. Der Starke wird unfÇhig, der stÇndigen VerÇnderung zu begegnen, die immer neue GegensÇtze und WidersprÜche hervorbringt, und dieser VerÇnderung kann ohne das Akzeptieren von WidersprÜchen auf die Dauer kein Widerstand geleistet werden. Der Starke mÜßte also gerade aus seinem Willen zur Macht heraus fÇhig sein, andere Perspektiven aufzunehmen. Doch dies wÜrde bedeuten, daß er zum Weisen wird, womit die Problematik von der anderen Seite her von Neuem beginnen mÜßte. Nietzsche versagt es sich in radikaler Ehrlichkeit, hier eine einfache »Synthese« anzusetzen. Der »Mischtyp« ist fÜr ihn gerade jener, der die GegensÇtze, und so eben auch den von Weisheit und StÇrke, nicht akzeptieren will und der so keinesfalls der »neue Mensch« sein kann. Nietzsche will vielmehr, daß jeder Typ zur hÙchsten Steigerung kommt. Ob und wie eine Vereinigung der beiden Typen mÙglich sein sollte,

Die ¾berwindung des Nihilismus

konnte Nietzsche nicht angeben. Daß er es dennoch nicht aufgegeben hat, davon als dem zukÜnftig zu Verwirklichenden zu sprechen, stellt wohl den einzigen Glaubenssatz Nietzsches dar. Und so heißt es bei Nietzsche - wohl als das Letzte, was er sagen konnte: Aber irgendwann, in einer st›rkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muß er uns doch kommen, der erl³sende Mensch der großen Liebe und Verachtung [...]. Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erl³sen wird als von dem, was aus ihm wachsen mußte, vom großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der großen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zur¹ckgibt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts - er muß einst kommen ... (Zur Genealogie der Moral. II. S. 836 f.) Daß er selbst nicht der war, der diesen zukÜnftigen Menschen schon darstellte, wußte Nietzsche. Dies Überließ er einem »ZukÜnftigeren«, einem, der stÇrker wÇre als er selbst (Ebd.). Die Philosophie des 20. Jhd.s ist in Hinsicht auf die Kulturkritik Über Nietzsche nicht hinausgekommen, auch die radikalen Vertreter der sogenannten Postmoderne haben bisher im Prinzip nichts gesagt, was nicht schon bei Nietzsche steht. Sie kÙnnen nur diagnostizieren - oder wenigstens meinen sie, diagnostizieren zu kÙnnen, denn ganz so Überzeugend ist dies nicht -, daß sich der von Nietzsche vorhergesagte Zerfall des Fortschrittsglaubens und des Wissenschaftsoptimismus weiter fortgesetzt hat. Die Suche nach der Einheit des Starken und Weisen ist heute jedoch noch ebenso problematisch wie am Ende des 19. Jhd.s, und es ist nicht einmal erwiesen, daß die Suche nach einer solchen Einheit Überhaupt noch besteht. Heute ist es ganz und gar nicht klar, ob nicht das Streben nach Gut-Informiert-Sein, was Macht bedeutet, noch irgendetwas zu tun hat mit Wissen und Vielheit der Perspektiven. Eher schon hat sich der Starke in erheblichem Maße weiterentwickelt, der bereit ist, alles Wissen beiseite zu schieben, um seine beschrÇnkte Perspektive durchzusetzen, auch wenn alles Wissen ihm sagt, daß er dadurch zukÜnftiges Leben nicht nur mindert, sondern sogar zerstÙrt. Nietzsche hat in seiner spÇten Philosophie immer wieder von der Wiederkehr des Gleichen gesprochen und diese als einen Grundpfeiler seiner Auffassung angesehen. Was er genau damit gemeint hat, ist bis heute sehr umstritten. Bei einer Minimalinterpretation kÙnnte man sagen, er hÇtte damit zum Ausdruck bringen wollen, daß es keine irreversiblen VorgÇnge gibt, und das hieße dann in bezug auf den zukÜnftigen nicht-nihilistischen Menschen, daß ein solcher immer mÙglich sein mÜßte. Die Menschen hÇtten also immer die MÙglichkeit zu einer unbeschrÇnkten Bejahung des Lebens. Genau dies aber ist uns inzwischen mehr als fraglich geworden. Wir mÜssen damit rechnen, daß der Wille zur Macht irreversible Prozesse in Gang

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gesetzt hat, man denke z. B. an die Klima-VerÇnderungen, so daß die Bejahung des Lebens, sollte sie Überhaupt noch eintreten, nur noch die Bewahrung eines irreversibel beschÇdigten Lebens bedeuten kÙnnte, d. h. das Erbe eines lebensfeindlichen Triebes wÇre nicht mehr zu beseitigen. In der Terminologie der Krankheitsgeschichte: Die Krankheit kÙnnte in ihrem Zustand nur noch stabilisiert, aber nicht mehr geheilt werden. Trotz seiner Auffassung von der Wiederkehr des Gleichen blieb Nietzsche einer - wenn auch welt-immanenten - Eschatologie verhaftet. An eine Apokalypse konnte und wollte er nicht denken. Eine nÜchtern bescheidene Experimentalphilosophie der Schadensbegrenzung, um das Schlimmste zu verhindern, paßt nicht zum heroischen Gestus der Experimentalphilosophie Nietzsches.

- XXIV -

Charles Sanders Peirce

1. Wissenschaftsoptimismus WÇhrend in Europa mit Nietzsche der Zweifel an der Wissenschaft und der in ihr enthaltenen Idee der Wahrheit aufkam - allerdings ohne zunÇchst viel GehÙr zu finden -, orientierten sich die Philosophen in Amerika, die damit erstmals in die philosophischen Diskussionen eintraten, an der Wissenschaft, um die Frage nach Wahrheit zu klÇren. Ausgangspunkt war die Kritik der reinen Vernunft Kants. Dabei gingen die amerikanischen Philosophen aber einen Weg, der von dem des Deutschen Idealismus sehr verschieden war. Die entscheidende Grundlage fÜr diese Ausrichtung wurde von Charles Sanders Peirce (1839–1914) gelegt. Der Unterschied zu den Philosophen des Deutschen Idealismus zeigt sich schon an einem nicht nur Çußerlichen Merkmal: WÇhrend die Mehrzahl der Deutschen Idealisten in irgendeiner nÇheren Beziehung zur Theologie standen, war Peirce zunÇchst einmal empirischer Wissenschaftler. Das Vertrauen von Peirce in die LeistungsfÇhigkeit der empirischen Wissenschaft war ungebrochen: Andererseits sind alle Anh›nger der Wissenschaft von der frohen Hoffnung beseelt, daß der Prozeß der Untersuchung, wenn er nur weit genug vorw›rts getrieben wird, eine sichere L³sung f¹r jede Frage, auf die er angewendet werden kann, bringen wird. (Wie unsere Ideen zu kl›ren sind. In: Schriften. S. 205 [5.407]) Peirce stammte aus einer Familie und einer kulturellen Umgebung, in der Wissenschaft eine ganz zentrale Rolle spielte. Es war die Zeit, in der an der OstkÜste Amerikas und vor allem in den New-England-Staaten das Bewußtsein wuchs, die Vereinigten Staaten mÜßten nun auch auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet eine fÜhrende Stellung erringen und Europa gegenÜber selbstÇndig und konkurrenzfÇhig werden. Vorbild und AnknÜpfungspunkt blieb dabei Europa, wobei aber durchaus ein selbstÇndiges Auswahlprinzip zum Tragen kam. So hatte z. B. fÜr die 1876 gegrÜndete UniversitÇt von Baltimore, an der dann auch Peirce tÇtig war, die UniversitÇt GÙttingen das Modell abgegeben, und dort standen Mathematik und Naturwissenschaften im Vordergrund. Es herrschte also eine »Aufbruchstimmung« in der Kultur und Wissenschaft Amerikas. Die Geschichte der Familie Peirce ist bei-

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nahe paradigmatisch: Ein armer Weber wanderte aus England aus, die Nachkommen werden Über den Handel reich, schließlich studiert einer aus der Familie - der Großvater von Peirce - in Harvard und wird dort Bibliothekar, und dessen Sohn wird dann selbst Professor fÜr Mathematik, Astronomie und Naturphilosophie in Harvard. Aber auch Kunst spielte in der Umgebung von Peirce eine wichtige Rolle: Eine Schwester der ersten Frau von Peirce, die bedeutende Pianistin Amy Fay, hatte bei Franz Liszt und bei Clara Schumann studiert. Der Vater von Peirce war aber nicht nur Professor in Harvard, sondern außerdem Leiter des United States Coast and Geodetic Survey, einer außerordentlich erfolgreichen Institution, die nicht nur praktische Zwecke wie z. B. Vermessungsarbeiten verfolgte, sondern auch ausdrÜcklich wissenschaftliche Forschung zum Ziel hatte. Die Verbindung wissenschaftlicher TÇtigkeit mit praktischen Aufgaben war unter amerikanischen Wissenschaftlern eine SelbstverstÇndlichkeit. Nach dem Bachelor of Arts fand Peirce beim Coast Survey eine Anstellung. Peirce absolvierte dann noch ein Studium der Chemie, blieb aber weiterhin beim Coast Survey tÇtig, und die Stellung dort sollte auch sein einziges festes ArbeitsverhÇltnis bleiben. Seit 1864 hielt Peirce Vorlesungen an der Harvard UniversitÇt. Dabei konzentrierte sich sein Interesse von Anfang an auf die Logik sowie die Theorie und Begr¹ndung der empirischen Wissenschaften, und dies sind auch die beiden Bereiche der Philosophie, in denen er einflußreich wurde. Peirce blieb aber immer aktiv empirischer Wissenschaftler. So unternahm er z. B. fÜr den Coast Survey eine Europareise, um den besten Ort fÜr wissenschaftliche Untersuchungen der Sonnenfinsternis des Jahres 1870 zu bestimmen. Er wÇhlte Catania auf Sizilien und war dort auch selbst Mitglied der unter der Leitung seines Vaters stehenden Forschergruppe. SpÇter ließ er in Berlin nach eigenen PlÇnen ein Instrument fÜr Pendelversuche herstellen und betrieb photometrische Forschungen im Bereich der Astronomie. Seit 1876 war Peirce auch an der neu gegrÜndeten UniversitÇt in Baltimore im Fach Logik tÇtig und konnte sich dort Hoffnungen auf eine Professur machen. 1884 wurde jedoch der Vertrag mit der UniversitÇt nicht erneuert (vermutlich deshalb, weil er ein Jahr zuvor geschieden worden war). 1891 kÜndigte er seine Stellung beim Coast Survey, als die Leitung dieser Institution eine wissenschaftliche Arbeit von Peirce als ÜberarbeitungsbedÜrftig beurteilte, was sich spÇter, fÜr Peirce allerdings zu spÇt, als grobes Fehlurteil herausstellte. Peirce war seit dieser Zeit ohne feste Stellung und lebte in immer prekÇrer werdenden wirtschaftlichen und gesundheitlichen VerhÇltnissen in Milford (Pennsylvania), schließlich starb er in Armut. Er arbeitete jedoch bis ans Ende seines Lebens intensiv und hinterließ ein umfangreiches, viele Gebiete umfassendes Schrifttum, das noch nicht vollstÇndig verÙffentlicht ist. Hinter dem Interesse an der Wissenschaft und dem damit verbundenen Wissenschaftsoptimismus steht bei Peirce nicht eine naive WissenschaftsglÇubigkeit, sondern das allgemeine Vertrauen in den Erfolg regelgeleiteten Handelns: Wissenschaft ist selbst nichts anderes als eine bestimmte Art regelgeleiteten Handelns. Die Erschließung des ungeheuer ausgedehnten Landes der Vereinigten Staaten war in

Die pragmatische Maxime

vollem Gange, die Vermessungsarbeiten des Coast and Geodetic Survey waren eine wichtige Grundlage fÜr den Bau von Eisenbahnlinien und Straßen, die Erfolge der dadurch mitermÙglichten industriellen Entwicklung ließen sich nicht Übersehen. So wie das Land durch regelgeleitetes Handeln erschlossen wurde, so sollte auch die Natur durch solches Handeln erschlossen werden. Es gab in den Vereinigten Staaten keinen Grund, am Erfolg solchen Handelns zu zweifeln. An eine Kulturoder Wissenschaftskritik im Sinne von Nietzsche konnte in einem solchen Kontext Überhaupt nicht gedacht werden.

2. Die pragmatische Maxime - Wissenschaft als Handlung Der gesamte Erkenntnisprozeß ist eingebettet in den Lebensprozeß des Menschen, der in einer Interaktion von Mensch und Welt besteht. Dieser Prozeß wird gesteuert von dem BemÜhen des Menschen, sich so an seine Lebensbedingungen anzupassen, daß das ¾berleben gesichert wird. Was die Menschen wÜnschen, sind feste •berzeugungen, die ihre Verhaltensweise zufriedenstellend regeln. Dieser Zustand wird unterbrochen, wenn in einer bestimmten Situation keine eingeÜbte Verhaltensweise zur VerfÜgung steht: Dies ruft das Auftreten eines Zweifels hervor. Dieser Zweifel ist aber nicht mit dem Pathos versehen, das z. B. bei Descartes oder, ganz anders, bei Kierkegaard vorliegt, es geht hier vielmehr um einen ganz alltÇglichen Vorgang: Jemand weiß z. B. nicht, ob er im Bus sein Ticket besser mit Kleingeld oder mit einer Banknote bezahlen soll (vgl. Wie unsere Ideen zu klÇren sind. In: Schriften. S. 187 f. [5.394]). Der Zweifel wirkt wie ein biologischer Reiz, und er ist nach Peirce Überhaupt nichts anderes (vgl. Die Festlegung einer ¾berzeugung. In: Schriften. S. 157 [5.373]). Ein solcher Zweifel ruft einen Denkprozeß hervor, einen anderen Ursprung des Denkens gibt es nicht. Denken zeigt einen Mangel an: das Fehlen einer Regel, die das Verhalten leitet. Der Denkprozeß hat dann die Funktion, diesen Mangel zu beheben, d. h. eine verhaltenssteuernde ¾berzeugung herzustellen. Zweifel ist ein unangenehmer und unbefriedigender Zustand, in dem wir Anstrengungen machen, uns von ihm zu befreien und den Zustand der •berzeugung zu erreichen suchen. Dieser dagegen ist ein ruhiger und befriedigter Zustand, den wir nicht aufgeben oder in eine •berzeugung von irgendetwas anderem ver›ndern m³chten. (Ebd. S. 156 [5.372]) Ein solcher Zustand des Zweifels wird durch die Herausbildung einer neuen ¾berzeugung Überwunden, und in diesem Prozeß bildet sich ein Gedanke heraus. Dieser Gedanke besteht jedoch nicht in einem abstrakten Begriffs- bzw. Satzinhalt, sondern in einer Verhaltensgewohnheit. In diesem Zusammenhang hat Peirce seine spÇter berÜhmt gewordene pragmatische Maxime aufgestellt:

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Charles Sanders Peirce

Um die Bedeutung eines Gedankens zu entwickeln, haben wir daher einfach nur zu bestimmen, welche Verhaltensweisen er erzeugt, denn was ein Gegenstand bedeutet, besteht einfach in den Verhaltensweisen, die er involviert. (Wie unsere Ideen zu kl›ren sind. In: Schriften. S. 193 [5.400]) Dasselbe formuliert Peirce auch als Regel: •berlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Relevanz haben k³nnten, wir dem Gegenstand unseres Begriffs in unserer Vorstellung zuschreiben. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das Ganze unseres Begriffs des Gegenstandes. (Ebd. S. 195 [5.402]) Was damit gemeint ist, erlÇutert Peirce am Beispiel der Festlegung der Bedeutung des PrÇdikats »hart«. Was meinen wir eigentlich, wenn wir von einem Ding sagen, es sei »hart«?

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Offensichtlich dies: daß es von vielen anderen Substanzen nicht geritzt werden wird. Der ganze Begriff dieser Eigenschaft wie der jeder anderen, liegt in ihren gedachten Wirkungen. (Ebd. S. 195 [5.403]) Diese Bestimmung kann leicht Anlaß zu dem MißverstÇndnis geben, Peirce hÇtte die Bedeutung von Begriffen einfach auf die Beschreibung von individuellen Verhaltensweisen reduzieren wollen, was eine subjektivistische Interpretation von Begriffsbzw. Satzinhalten nahelegen wÜrde. Ein anderer Mensch kÙnnte ja unter »hart« verstehen, daß das heftige Auftreffen auf einen solchen Gegenstand einen Schmerz hervorruft. Peirce lÇßt jedoch keine subjektivistische Auslegung seiner pragmatischen Maxime zu. Er weiß, daß wir gewÙhnlich, im Alltagsleben wie in der Wissenschaft, nach einer ¾berzeugung suchen, die wir fÜr wahr halten kÙnnen. Eine solche Meinung muß daher unabhÇngig von den verschiedenen Meinungen der einzelnen Menschen sein. Peirce vertritt dabei die Auffassung, daß uns die faktische Praxis, die in der Wissenschaft angewendet wird, einen Hinweis darauf gibt, was wir unter wahren Theorien und so unter wahren Gedanken verstehen sollen: Es ist sicherlich wichtig zu wissen, wie unsere Ideen zu kl›ren sind, aber sie k³nnen noch so klar sein, ohne doch wahr zu sein. Wie wir sie als wahr erweisen k³nnen, haben wir als n›chstes zu studieren. Wie man solche lebenskr›ftigen und fruchtbaren Ideen ins Leben ruft, die sich in Tausende von Formen vervielf›ltigen und sich ¹berall hin ausbreiten, die die Zivilisation vorw›rtsbringen und die W¹rde des Menschen ausmachen, - das ist eine Kunst, die sich noch nicht auf Regeln zur¹ckf¹hren l›ßt; aber die Geschichte der Wissenschaft verr›t einiges von diesem Geheimnis. (Ebd. S. 208 f. [5.410])

Die pragmatische Maxime

Die wissenschaftliche TÇtigkeit ist auch nur ein - wenn auch ein besonders wichtiges Mittel, eine ¾berzeugung hervorzurufen. Die Menschen sind von sich aus ganz und gar nicht zum Forschen und Entdecken angelegt. Die aristotelische Vorstellung, daß die Menschen durch das Erstaunen zur Forschung angeregt wÜrden, erscheint als zwar edel, aber auch als etwas unrealistisch. Die Menschen werden zur Forschung eher durch eine Notsituation gezwungen. Nicht eine »theoretische Neugier«, sondern eine »theoretische Notlage« provoziert Forschung. Forschung wird wie Denken ganz allgemein durch einen Zweifel und den Mangel einer brauchbaren ¾berzeugung hervorgerufen. Die Anstrengung, einen Zweifel zu Überwinden, wird nach Peirce in einem ganz allgemeinen Sinne als »Forschen« bezeichnet (Die Festlegung einer ¾berzeugung. In: Schriften. S. 157 [5.374]), und in diesem Zusammenhang tritt das BedÜrfnis auf, zu wahren ¾berzeugungen zu gelangen. Die Vorstellungen von »Wahrheit« und »Falschheit« gehÙren deshalb »ausschließlich zur erfahrungsmÇßigen Methode, eine Meinung festzulegen« (Wie unsere Ideen zu klÇren sind. In: Schriften. S. 203 [5.406]). Der Forschungsprozeß kommt also, wie jede Handlung, die nicht schon auf einer Verhaltensgewohnheit beruht, durch einen Zweifel in Gang. Und dieser Zweifel soll durch eine ¾berzeugung Überwunden werden, die allerdings spÇter selbst wieder in Zweifel gezogen werden kann. Dem pragmatischen Ausgangspunkt nach besteht der Zweck des Forschens darin, Verhaltensgewohnheiten hervorzurufen, die einer ¾berzeugung entsprechen. Was aber ist dann eine •berzeugung? [...] Wir haben gesehen, daß sie genau drei Eigenschaften hat: Erstens ist sie etwas, dessen wir uns bewußt sind, zweitens bringt sie die Erregung des Zweifels zur Ruhe, und drittens schließt sie die Einrichtung einer Regel des Handelns in unserer Natur ein - oder k¹rzer: eine Verhaltensgewohnheit. (Ebd. S. 190 [5.397]) Dieser Prozeß, in dem eine ¾berzeugung hervorgerufen wird, spielt sich aber nicht einfach im Denken ab - deshalb die wiederholte Kritik des Nominalismus bei Peirce -, sondern ist bestimmt und kontrolliert durch das, was Peirce als »RealitÇt« bezeichnet. Peirce verleiht dieser RealitÇt keinerlei metaphysische QualitÇt und leitet den Realismus auch nicht transzendental ab, sondern fÜhrt ihn statt dessen auf einen Konsens zurÜck. Der Gedanke der RealitÇt ist einfach als allgemeine und Überindividuelle ¾berzeugung der im Forschungsprozeß TÇtigen gÜltig. Das Reale ist also das, in dem schließlich fr¹her oder sp›ter Information und schlußfolgerndes Denken resultieren w¹rden und das daher unabh›ngig von meinen und deinen Einf›llen ist. So zeigt eben der Ursprung des Begriffs der Realit›t, daß dieser Begriff wesentlich den Gedanken einer GEMEINSCHAFT einschließt, die ohne definitive Grenzen ist und das Verm³gen zu einem definiten Wachstum der Erkenntnis besitzt. (Einige Konsequenzen aus vier Unverm³gen. In: Schriften. S. 76 [5.311])

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Charles Sanders Peirce

Im Forschungsprozeß wird vom gesunden Menschenverstand vorausgesetzt, daß es eine RealitÇt gibt, an der sich unsere Meinungen stoßen kÙnnen, die also einen Widerstand gegen unsere Handlungen darstellt, die somit Zweifel und das BedÜrfnis, zu einer wahren Meinung zu gelangen, hervorruft. Diese ¾berzeugung von einer unabhÇngigen RealitÇt gewinnt, wie alle anderen auch, ihre Kraft aus einem Konsens. Hier erhÇlt der kritische Realismus Kants seine pragmatische Wendung. Es war das Wesen seiner [d. h. Kants] Philosophie, das reale Objekt als vom Verstand bestimmt zu betrachten. Das bedeutet nichts anderes, als jeden Begriff und jede Anschauung, die notwendig in die Erfahrung eines Objekts eingeht und nicht vor¹bergehend und zuf›llig ist, als objektiv g¹ltig zu betrachten. Kurz, es heißt, die Realit›t als das normale Produkt der geistigen T›tigkeit zu betrachten und nicht als eine unerkennbare Ursache. Diese realistische Theorie ist also eine im hohen Grad praktische und dem gesunden Menschenverstand entsprechende Einstellung. Wo auch immer allgemeine •bereinstimmung vorherrschend ist, wird der Realist nicht derjenige sein, der die allgemeine •berzeugung durch unn¹tze und fiktive Zweifel st³rt. Denn nach ihm ist es ja ein Konsensus oder das allgemeine Bekenntnis, das die Realit›t konstituiert. (Frasers Ausgabe der Werke von George Berkeley. In: Schriften. S. 118 [8.15 f.]) 508

Unter dieser Voraussetzung kÙnnen die an der Forschung Beteiligten versuchen, bei Überraschenden (d. h. Zweifel hervorrufenden) PhÇnomenen eine ErklÇrung zu suchen, die intersubjektiv gÜltig ist, da sie an der konsenshaft bestÇtigten Wirklichkeit ÜberprÜft werden kann. Der offensichtlich erfolgreiche Forschungsprozeß stellt somit den Rahmen fÜr die Konsenstheorie der Wahrheit dar, die allgemein als charakteristisch fÜr den Pragmatismus angesehen wird. Dies ist ohne Zweifel zutreffend, nur wÇre es verfehlt, diese Theorie als Alternative zur Korrespondenztheorie der Wahrheit (vgl. zu dieser: 2. Teil, Kap. XIV, 3, a) anzusehen, da es bei Peirce durchaus in systematischer Verbindung mit der Konsenstheorie auch eine semiotische Version der Korrespondenztheorie gibt. Peirce spricht in diesem Zusammenhang von einer »rationalen Wahrnehmung« der GÜltigkeit einer Aussage, d. h. der ¾berzeugung, daß eine Aussage mit der RealitÇt Übereinstimmt (¾ber die Einheit kategorischer und hypothetischer Propositionen. In: Semiotische Schriften I. S. 242).

3. Erkenntnis und Evolution UrsprÜnglich war der Pragmatismus primÇr eine Logik und eine Methodenlehre. Peirce verstand unter »Pragmatismus« eine »Maxime der Logik« (Vorlesungen Über Pragmatismus. S. 3). Schon der Ausdruck »Maxime« zeigt, daß es sich beim Pragmatismus im Sinne von Peirce nicht um ein System, sondern um ein Verfahren handelt. Vor allem in spÇterer Zeit - etwa seit 1890 - hat Peirce allerdings versucht, der auf

Erkenntnis und Evolution

Verhaltensgewohnheiten beruhenden pragmatischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie eine weitere Fundierung zu geben, die in einer evolution›ren Kosmologie besteht, in der das Sich-Herausbilden von Naturgesetzen und sogar die Entstehung von Raum und Zeit selbst durch Verhaltensgewohnheiten erklÇrt werden soll. Bei diesen EntwÜrfen kann man mit bestimmten EinschrÇnkungen von einem »System« sprechen. Der Ausgangspunkt fÜr solche ¾berlegungen war fÜr Peirce u. a. die Feststellung, daß es keineswegs selbstverstÇndlich ist, daß die Menschen Überhaupt gÜltige Naturgesetze finden. Bei reinem »Raten« wÇren Treffer sehr unwahrscheinlich, und die Berufung auf Experimente hilft auch nicht viel weiter, da die Zahl der Theorien sehr groß sein kann und es sehr lange dauern kÙnnte, bis alle getestet wÜrden. Peirce beobachtete jedoch, daß z. B. Galilei bei der Auffindung der Gesetze der Mechanik sehr wenig mit Experimenten arbeitete und hÇufig an die »natÜrliche Einsicht« appellierte. Dies interpretierte Peirce in der Weise, daß er annahm, unser Verstand bringe eine Art natÜrlicher Disposition fÜr solche Gesetze mit, die gleichsam biologisch begrÜndet ist. Es ist also so, daß unserem Verstand, da er unter dem Einfluß von Ph›nomenen gebildet wurde, die den Gesetzen der Mechanik unterliegen, gewisse Begriffe eingepr›gt werden, die einen Bestandteil jener Gesetze bilden, so daß wir diese Gesetze leicht erraten k³nnen. H›tten wir ohne solche nat¹rliche Eingebung blind nach einem Gesetz zu suchen, das auf die Ph›nomene paßte, so w¹rden unsere Chancen, ein solches Gesetz zu finden, wie eins zu unendlich stehen. (Die Architektonik von Theorien. In: Schriften. S. 269 [6.10]) Damit werden nicht von neuem apriorische Verstandesmuster eingefÜhrt, es geht bei Peirce nur um evolutionsgeschichtlich geformte Veranlagungen. In diesem grÙßeren Zusammenhang stellt sich die menschliche Erkenntnis, die in regelbildenden Verhaltensgewohnheiten besteht, als korrespondierend zur Evolution von Regeln dar, die sich aus einem ursprÜnglich regellosen Zustand, einem Chaos also, herausgebildet haben. Die Naturgesetze sind selbst das variable, aber trendbestimmte Produkt einer Entwicklung. Gleichf³rmigkeiten in der Funktionsweise von Dingen sind durch Verhaltensbildung entstanden. Gegenw›rtig wird der Ablauf der Ereignisse approximativ durch Gesetze bestimmt. In der Vergangenheit war diese Ann›herung in geringerem Maße, in Zukunft wird sie in h³herem Maße vollkommen sein. Die Tendenz, Gesetzen zu gehorchen, ist immer gewachsen und wird immer weiter wachsen. Wir blicken zur¹ck auf einen Punkt in der unendlich entfernten Vergangenheit, als es noch kein Gesetz, sondern nur Unbestimmtheit gab; [...] und zu jedem bestimmbaren Zeitpunkt in der Zukunft wird es eine leichte Abweichung von der Gesetzm›ßigkeit geben. (Eine Vermutung ¹ber das R›tsel. In: Religionsphilosophische Schriften. S. 165 f.)

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Charles Sanders Peirce

Peirce nimmt also keinen Determinismus an. Die heute beobachtbare Ordnung ist aus einem Zustand entstanden, in dem IrregularitÇt herrschte, die Ordnung ist selbst ein Produkt des Zufalls. Gesetze haben sich durch reinen Zufall aus UnregelmÇßigkeiten und Unbestimmtheiten heraus entwickelt (Ebd. S. 165). Daß Zufall am Anfang des kosmologischen Prozesses stehen soll, erscheint nur uns heute als sonderbar. FrÜher war dies nicht so. Peirce verweist auf Demokrits und Aristoteles’ Zufallslehre (Ebd. S. 160): Den Alten schien an diesen Vorstellungen nichts merkw¹rdig zu sein, sie hielten sie f¹r selbstverst›ndlich; merkw¹rdig w›re die Behauptung gewesen, es g›be keinen Zufall. Wir stehen also unter keinem inneren Zwang, an eine vollst›ndige Kausalit›t zu glauben, wenn sich nicht Tatsachen finden, die daf¹r eintreten. (Ebd. S. 161) Die Wissenschaft braucht also nicht die Annahme, daß alles mit jener Notwendigkeit determiniert sei, die in unserem normalen heutigen VerstÇndnis von KausalitÇt enthalten ist. Es reicht vÙllig aus, mit guten Approximationen zu rechnen.

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Als erstes muß die Behauptung weichen, jedes Ereignis im Universum sei durch Ursachen im Rahmen unantastbarer Gesetzlichkeit genau determiniert. Es gibt keinen Grund f¹r die Annahme, daß dies mit absoluter Genauigkeit der Fall ist. Die Erfahrung zeigt, daß sich dies in wunderbarem Ausmaß ann›herungsweise so verh›lt, und das ist alles. (Ebd. S. 159 f.) Peirce geht daher auch nicht von einem mechanistischen Modell der Welt als Voraussetzung der Wissenschaft aus. Er nimmt sogar - wie dies dann auch durch die seit 1900 diskutierte Quantentheorie bestÇtigt wurde - an, daß um so mehr Unbestimmtheit auftreten wird, je tiefer wir in die Struktur der Materie eindringen und je »nÇher« wir somit dem Ursprung sind. Wollen wir weiteres ¹ber Molek¹le und Atome herausfinden, so m¹ssen wir eine Naturgeschichte der Naturgesetze ausfindig machen, die jene Funktion erf¹llen kann, welche die Annahme einfacher Gesetze zu Beginn der Entwicklung der Dynamik erf¹llte. (Die Architektonik von Theorien. In: Schriften. S. 270 [6.12]) FÜr die Wissenschaftstheorie ergibt sich damit eine »liberale« Auffassung von Naturgesetzen und deren ¾berprÜfung durch Experimente. Wir wissen genau, daß sich immer dann, wenn wir versuchen, ein Naturgesetz durch Experimente zu verifizieren, Unstimmigkeiten zwischen den Beobachtungen und der Theorie einstellen. Zu Recht beziehen wir diese Unstimmigkeiten auf Beobachtungsfehler; doch warum soll es nicht ›hnliche Abweichungen aufgrund dessen geben, daß

Die Theorie der Zeichen

die Tatsachen den Gesetzen nur unvollst›ndig gehorchen? (Eine Vermutung ¹ber das R›tsel. In: Religionsphilosophische Schriften. S. 160) Wenn wir uns an die Entwicklung der Vorstellung von Naturgesetzen und der dieser entsprechenden Auffassung von Wissenschaft bei Galilei erinnern (vgl. Kap. IV, 1), so kÙnnen wir sehen, daß wir mit Peirce an eine Grenze gelangt sind: Bei Galilei stand der Wissenschaftler einem Kosmos gegenÜber, den er durch mathematisch formulierte Gesetze erforschen wollte. Jetzt bei Peirce ist die Forschung wie jeder Erkenntnisvorgang eine Handlung, die sich zwischen Mensch und Welt, zu der er auch wieder selbst gehÙrt, vollzieht, und die Forschung dient der Anpassung des Menschen an einen evolutionÇren Prozeß der Welt. Da diese Evolution nicht streng determiniert ist, kann und darf auch der Erkenntnis- und Forschungsprozeß nicht von der Zielvorstellung strenger Gesetzlichkeit bestimmt sein. Galilei nahm an, daß dort, wo der KalkÜl auf die PhÇnomene nicht genau zutrifft, entweder der KalkÜl nicht richtig ist oder bestimmte Randbedingungen nicht berÜcksichtigt wurden. Peirce hingegen nimmt an, daß der Naturprozeß Unbestimmtheiten und Zuf›lligkeiten enthÇlt und daher ein streng mechanistisches ErklÇrungsmodell inadÇquat und erklÇrungshemmend wÇre: FÜr den Geometergott Galileis und der vorausgegangenen Tradition hat Peirce keinen Gebrauch mehr. Die einzig vernÜnftige handlungsrelevante Anpassung an die Natur besteht nach Peirce in ¾berzeugungen, die sich als AnnÇherungen verstehen, und zwar nicht deshalb, weil der Mensch eben nicht mehr zu leisten imstande ist, sondern weil die RealitÇt selbst so beschaffen ist, daß sich aus Zufallskombinationen leistungsfÇhige Trends herausbilden. Die Approximation ist notwendigerweise das Material f¹r den Aufbau unserer Philosophie. (Eine Vermutung ¹ber das R›tsel. In: Religionsphilosophische Schriften. S. 161)

4. Die Theorie der Zeichen Der gesamte Interaktionsprozeß von Mensch und Welt ist vermittelt durch Zeichen. Daher galt fÜr Peirce von seinen frÜhesten Schriften an die Grundthese: Wir haben kein Verm³gen, ohne Zeichen zu denken. (Einige Konsequenzen aus vier Unverm³gen. In: Schriften. S. 42 [5.265]) All unsere Gedanken sind Zeichen [...]. (MinutiÙse Logik. In: Semiotische Schriften I. S. 392) Die zeichentheoretische Orientierung der Philosophie war seit Hobbes, Locke und vor allem seit Leibniz als eine, wenn nicht sogar die analytische Aufgabe der Philoso-

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Charles Sanders Peirce

phie erkannt worden. Peirce steht damit jeder Behauptung einer unmittelbaren Intuition im Sinne von Platon oder Descartes ausdrÜcklich kritisch gegenÜber. Wir haben kein Verm³gen der Intuition, sondern jede Erkenntnis wird von vorhergehenden Erkenntnissen logisch bestimmt. (Einige Konsequenzen aus vier Unverm³gen. In: Schriften. S. 42 [5.265])

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Mit der Theorie der Zeichen sind wir daher an eine Grenze gelangt, die aber gleichzeitig die Grundlage darstellt, von der aus der gesamte Aufbau des Wissens zu geschehen hat. Diese Grundlage mußte nun unter den durch Kant geschaffenen Voraussetzungen weiter verfolgt werden. Peirce entwickelte also eine semiotische Erkenntnistheorie und ganz allgemein eine Philosophie innerhalb der Grenzen der zeichenbestimmten Vernunft. Die Zeichentheorie wird somit bei Peirce zur Grundlagenwissenschaft. Im Prinzip war dies schon bei Leibniz in seiner Characteristica universalis gefordert (vgl. Kap. VIII, 2), der Großteil dieser Leibniz-Texte war allerdings zu der Zeit, zu der Peirce seine Zeichentheorie entwickelte, noch nicht verÙffentlicht. Der unmittelbare AnknÜpfungspunkt fÜr Peirce liegt daher in der Sprachphilosophie Lockes und der Kategorienlehre Kants. Der pragmatische Ausgangspunkt kommt jedoch auch hier bei Peirce zum Tragen. In den traditionellen Zeichentheorien, etwa jener der Stoiker (vgl. 1. Teil, Kap. XII, 2), des Augustinus (vgl. 2. Teil, Kap. III, 3) oder Ockhams (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 2) war immer vor allem die Beziehung von Zeichen und Ding bzw. die von Bezeichnendem und Bezeichnetem analysiert worden. Es war natÜrlich allen klar, daß es auch Zeichenbenutzer gibt; diese Beziehung wurde aber nicht ausdrÜcklich in den Zeichenbegriff einbezogen. Kant war in der Kategorienlehre davon ausgegangen, daß die Vorstellungen durch eine Synthesis apriorischer Kategorien des erkennenden Subjekts und von außen herkommender, aposterioischer Empfindungen zustande kommen. Auf diese Weise war das denkende und vorstellende Subjekt in die Konstitution von Vorstellungen einbezogen worden. Peirce hÇlt allerdings die kantische Unterscheidung von Apriori und Aposteriori fÜr unbegrÜndet, da alle Begriffe aus dem Interaktionsprozeß mit der RealitÇt hervorgehen. Damit wird fÜr ihn die gesamte Grundlegung der Kategorien der transzendentalen ’sthetik Kants und so die Transzendentalphilosophie Überhaupt hinfÇllig. Geschichtlich unverÇnderliche Formen des Verstandes lassen sich nach Peirce nicht nachweisen. Es gibt keine allen anderen vorausliegenden grundlegenden und invarianten Begriffe, da alle Begriffe in Beziehung zu wieder anderen Begriffen stehen, so daß es keine Urbegriffe geben kann. Kantisch bleibt jedoch bei Peirce die entscheidende Relation des Zeichens zu dem es verwendenden Subjekt, die daher im Rahmen der pragmatistischen Erkenntnistheorie ausdrÜcklich in den Begriff des Zeichens eingefÜhrt wird:

Die Theorie der Zeichen

Die dritte Bedingung der Existenz eines Zeichens besteht darin, daß es sich an den Geist richtet. Es gen¹gt nicht, daß es sich in einer Relation zu seinem Objekt befindet, sondern es muß sich um eine solche Relation zum Objekt handeln, bei der der Geist in eine bestimmte Relation zum Objekt gebracht wird, n›mlich in die Relation des Vonihm-Wissens. (Logik als die Untersuchung der Zeichen. In: Semiotische Schriften I. S. 188) Interpretant

Representamen

Objekt

Ein Zeichen hat drei BezÜge, die im sogenannten Semiotischen Dreieck dargestellt werden. Ein Zeichen besteht in einer dreistelligen Relation, die in keiner Weise in zwei zweistellige Relationen aufgelÙst werden kann (Ein ¾berblick Über den Pragmatizismus. In: Schriften. S. 520). ZunÇchst einmal haben wir ein Gebilde, das mit irgendeinem Sinn wahrgenommen werden kann (Representamen). Jedes Zeichen steht in einer Relation zu etwas, fÜr das es steht, also dem Objekt, und in einer Relation zu etwas, das es im Geist dessen, der das Zeichen versteht (dem Zeicheninterpreten), hervorruft, also dem Interpretanten (nicht zu verwechseln mit dem interpretierenden Zeichenbenutzer!). Der Interpretant kann ein GefÜhl, eine Handlung oder wiederum ein Zeichen sein. Ist er wiederum ein Zeichen, so ergibt sich ein Zeichenprozeß, der besonders dort relevant wird, wo Zeichen nicht von ein und demselben Interpreten weiter interpretiert, sondern an andere Interpreten gerichtet werden, in denen also wiederum ein Interpretant hervorgerufen wird. Das Zeichen ist also ein Kommunikationsmedium (Die Grundlagen des Pragmatizismus. In: Semiotische Schriften II. S. 338 f.). Der letzte logische Interpretant eines Zeichens ist, ganz konsequent innerhalb der pragmatischen Zeichentheorie, eine Verhaltensgewohnheit. Es kann bewiesen werden, daß die einzige geistige Wirkung, die derart hervorgebracht werden kann und die kein Zeichen ist, aber eine allgemeine Verwendung hat, eine nderung einer Verhaltensgewohnheit (habit-change) ist. (Ein •berblick ¹ber den Pragmatizismus. In: Schriften. S. 513 [5.476]) Wird das Zeichen als dreistellige Relation aufgefaßt, dann ist das Instrument der Darstellung des Zeichens in der Relationenlogik zu finden. Die Logik der Relationen spielt bei Peirce eine zentrale Rolle und nimmt jene grundlegende Stellung ein, die bei Kant die Kategorienlehre hatte. Peirce hat selbst bedeutende BeitrÇge zur Entwicklung der Relationenlogik geliefert (vgl. z. B. Die Logik der Relative. In: Semiotische

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Charles Sanders Peirce

Schriften I. S. 269–335). Zeichentheorie und Logik stehen bei Peirce nicht als getrennte Bereiche nebeneinander, sondern sind prinzipiell ein und dasselbe, denn er faßt die »Logik als Wissenschaft von den allgemeinen Eigenschaften der Zeichen« auf (Eine intellektuelle Autobiographie. In: Semiotische Schriften I. S. 73). Auch die Geltung der Logik geht bei Peirce auf den Konsens zurÜck. Dies betrifft natÜrlich nur die Geltung der Logik als ganzer, nicht die der einzelnen Deduktion. Die einzelne Deduktion steht nicht im Belieben des Ableitenden. Daß jedoch in der alltÇglichen oder in der wissenschaftlichen Diskussion Logik angewandt werden kann, ist nur aufgrund eines Willens zur Gemeinsamkeit mÙglich. Daher sagt Peirce pointiert: Die Logik wurzelt im sozialen Prinzip. Um logisch zu sein, d¹rfen die Menschen nicht selbsts¹chtig sein; und in Wirklichkeit sind sie auch nicht so selbsts¹chtig, wie man immer glaubt. (Die Lehre vom Zufall. In: Schriften. S. 218 [2.654])

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Es mag seltsam erscheinen, daß ich drei Gef¹hle als unerl›ßliche Forderungen der Logik in den Vordergrund stelle, n›mlich das Interesse an einer unbeschr›nkten Gemeinschaft, das Anerkennen der M³glichkeit, dieses Interesse zum h³chsten ¹berhaupt zu machen, und die Hoffnung auf die unbegrenzte Fortdauer geistiger Aktivit›t. (Ebd. S. 220 [2.655]) Die Logik selbst als Ganzes geht somit aus einem sozialen Interesse hervor: dem »Interesse an einer unbeschrÇnkten Gemeinschaft«. Der Prozeß der Zeichenbildung ist daher schon seiner Struktur nach eingebettet in einen gesellschaftlichen und ethisch-politischen Kontext. Daher gibt es bei Peirce, so wie es eine »Ethik der Logik« gibt, auch eine »Ethik der Terminologie« (Was heißt Pragmatismus? In: Schriften. S. 431 [5.414]). Zu meinen, Peirce vermenge hier deskriptive und normative Disziplinen und vermische theoretische und praktische Philosophie, geht am Grundanliegen des Pragmatismus vorbei: Es geht dort gerade darum, Begriffe und Argumente aus und in einem Handlungszusammenhang zu verstehen, der vor jeder Trennung von Theorie und Praxis liegt. Die Unterscheidung von SÇtzen Über Tatsachen und Über Werte wird dadurch nicht aufgehoben oder aufgegeben, sie mußte aber innerhalb des Pragmatismus neu gestellt werden. Wir stehen hier am Ende eines geschichtlichen Prozesses, in dem schrittweise die aristotelische Unterscheidung von Theoria, Praxis und Poiesis (vgl. 1. Teil, Kap. X, 1) aufgehoben wird. Die neuzeitliche Wissenschaft hat seit Galilei die Poiesis in die Theoria integriert, insofern das technisch und instrumentell vermittelte Experiment in den Begriff der Wissenschaft aufgenommen wird (vgl. 3. Teil, Kap. IV, 1). Bei Peirce wird nun auch die Praxis (das Handeln) in den Begriff der Wissenschaft und somit auch in den der Wahrheit integriert. Ziel aller – immer zeichenvermittelten – Denkprozesse ist eine ¾berzeugung, die sich bewÇhrt, die also als Verhaltensgewohnheit Zweifel beseitigen und Handeln steuern kann. Die BewÇhrung einer ¾berzeugung geschieht durch induktive BestÇti-

Pragmatismus und Pragmatizismus

gung, aus einer solchen Verhaltensregel ergibt sich dann eine Anweisung fÜr kÜnftiges Handeln. Das prÇziseste Paradigma des Handelns liefert die wissenschaftliche ForschungstÇtigkeit. Die jeweilige Summe solcher Verhaltensregeln stellt das jeweils verfÜgbare Wissen dar. Die Akkumulation des Wissens (damals ein unproblematischer Begriff) stellt fÜr Peirce den einzig denkbaren Fortschritt in der Geschichte dar, den Lernprozeß der Menschheit. Worum aber geht es allen, was ist diese Zivilisation, die das Ergebnis der Geschichte, aber niemals vollendet ist? Wir k³nnen nicht erwarten, zu einem vollen Begriff davon zu gelangen, aber wir k³nnen sehen, daß es ein allm›hlicher Prozeß ist, daß er als eine Realisation von Ideen im Bewußtsein und in den Werken des Menschen impliziert und daß er aufgrund der menschlichen F›higkeit zu lernen stattfindet und durch die Erfahrung, die st›ndig auf ihn Ideen einstr³men l›ßt, die er sich noch nicht angeeignet hat. Wir k³nnen sagen, daß es der Prozeß ist, wodurch der Mensch, in all seiner erb›rmlichen Unbedeutendheit, mehr und mehr vom Geiste Gottes erfaßt wird, von dem Natur und Geschichte erf¹llt sind. (Wie unsere Ideen zu kl›ren sind. In: Schriften. S. 211, Anm. 19) Hier begegnen wir also wiederum dem Begriff und dem Pathos von »Fortschritt durch Wissenschaft«, wie er bei Bacon am Beginn der Neuzeit im Novum Organum programmatisch zum Ausdruck gekommen war, wie er bei Kant seine erkenntniskritische Form erhalten hatte, und wie er nun bei Peirce seine handlungstheoretische, pragmatische Wendung erhÇlt. Der normative Begriff von »Fortschritt«, der an der Wissenschaft abgelesen wird, konnte im Kontext genau dieser Wissenschaft allerdings nicht selbst noch einmal einer kritischen Reflexion unterzogen werden.

5. Pragmatismus und Pragmatizismus Der von Peirce konzipierte Pragmatismus wurde zunÇchst nicht durch ihn und seine Schriften bekannt, sondern durch William James (1842–1910). Ein erhebliches Problem lag allerdings darin, daß James und ein weiterer wichtiger Vertreter des Pragmatismus, John Dewey (1859–1952), eigentlich andere wissenschaftliche und philosophische Interessen verfolgten als Peirce, auf den sie sich beriefen. FÜr Peirce ist die Psychologie nur eine Einzelwissenschaft, die vom allgemeinen Begriff der Wissenschaft her normiert ist. Maßgebend ist fÜr ihn einzig die Logik als allgemeine Zeichentheorie und von dieser sagt Peirce: [...] meine Prinzipien hindern mich absolut, auch nur den geringsten Gebrauch von Psychologie in der Logik zu machen. (Vorlesungen ¹ber Pragmatismus VI, 157. S. 104)

515

Charles Sanders Peirce

516

Peirce ging es um objektive und intersubjektiv ÜberprÜfbare Aussagen der Wissenschaft. James war wie Peirce empirischer Wissenschaftler, aber als Mediziner auch besonders an der sich damals entwickelnden empirischen Psychologie interessiert. Er rief das erste amerikanische Institut (Laboratorium) fÜr empirische psychologische Forschung ins Leben und war somit von seinem wissenschaftlichen Hintergrund her weniger auf die Kommunikationsgemeinschaft der Forschergemeinschaft ausgerichtet, sondern mehr an den BedÜrfnissen des einzelnen Subjekts orientiert. Er war in Harvard zeitweilig Professor der Philosophie, dann aber auch wieder der Psychologie. Der psychologische Hintergrund wird auch in der Deutung des Pragmatismus durch James deutlich. Wahrheit scheint bei ihm fast ausschließlich im Rahmen subjektiver BedÜrfnisse konzipiert. ’hnliches gilt auch fÜr Dewey, bei dem Logik und Zeichenprozesse faktisch nur als individuelle Denkprozesse analysiert werden. Der gesellschaftliche Aspekt fehlt aber bei Dewey nicht. Dewey hat den Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Forschung und demokratischer Ordnung klar erfaßt und nicht zuletzt darauf hingewiesen, daß all dies in den Erziehungsprozeß eingehen muß, in dem es nicht um passives Lernen, sondern um handlungsorientiertes und handlungsorientierendes Aneignen von Wissen gehen muß. WÇhrend die Arbeiten von Peirce nur verhÇltnismÇßig wenigen Fachkollegen bekannt waren, gelang es James (seit einem 1898 gehaltenen und 1904 unter dem Titel The Pragmatic Method verÙffentlichten Vortrag), den Pragmatismus seiner PrÇgung einer breiten ²ffentlichkeit bekanntzumachen. Der extremste Vertreter dieser Form des Pragmatismus, in der Wahrheit und wissenschaftliche Erkenntnis rein aus individuellen menschlichen BedÜrfnissen heraus verstanden wurde, war der amerikanische Philosoph F. C. S. Schiller (1864–1937). Peirce war mit dieser Entwicklung Überhaupt nicht einverstanden und erfand daher 1905 fÜr die von ihm vertretene Form der Philosophie den Ausdruck »Pragmatizismus« (ein Ausdruck, der sich aber nicht durchsetzte). Mehr Aufmerksamkeit rief dennoch die von James vertretene Form des Pragmatismus hervor. Dies hing auch damit zusammen, daß die von James und Dewey vertretene Auffassung des Pragmatismus auffallende ’hnlichkeiten mit der europÇischen Lebensphilosophie der ersten Jahrzehnte des 20. Jhd.s zeigte, wie sie z. B. Maurice Blondel (1861–1949) vertrat. Dies wurde auf dem 3. Internationalen Kongreß fÜr Philosophie im Jahre 1908 in Heidelberg sehr deutlich. Seit 1905 gab es also faktisch zwei sehr verschiedene Formen des Pragmatismus. Die von James vertretene Version fand auch in Italien mit Giovanni Vailati (1863–1909) sowie Giovanni Papini (1881–1956) und in Frankreich mit Edouard Le Roy (1870–1966) Vertreter, und im Prinzip blieb auch die Zeichentheorie von C. W. Morris (1901–1979) mit ihrem behavioristischen Ausgangspunkt auf der Linie von James. Den eigentlichen wissenschaftlichen, logischen und zeichentheoretischen Intentionen von Peirce folgte hingegen C. I. Lewis (1883–1964), dessen Arbeiten zur Algebra der Logik bis heute maßgebend sind. Von da aus ergab sich auch eine Diskussion mit Vertretern des logischen Positivismus, die an Çhnlichen Problemen arbeiteten, so

Pragmatismus und Pragmatizismus

z. B. mit Rudolf Carnap (1891–1970). Im weiteren verfolgte vermutlich Willard van Orman Quine (geb. 1908) am ehesten das weiter, was Peirce anstrebte: eine wissenschaftsorientierte Philosophie, in der die Logik die zentrale Stellung einnimmt. Die Semiotik als Grundlagenwissenschaft im Sinne von Peirce ist erst im Verlauf des 20. Jhd.s in ihrer Bedeutung anerkannt und weiterentwickelt worden. Trotz des inzwischen großen zeitlichen Abstands dÜrfte die Bedeutung der Philosophie von Peirce weiter zunehmen. Er war vermutlich in verschiedenen Punkten nicht nur seiner, sondern auch unserer Gegenwart voraus.

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- XXV -

Gottlob Frege

1. Die Begriffsschrift

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Gottlob Frege (1848–1925) war eigentlich Mathematiker und entwickelte seine Logik zunÇchst einmal, um logische ZusammenhÇnge in mathematischen Beweisen streng ÜberprÜfen zu kÙnnen. Sein Ausgangspunkt war aber gleichzeitig einer, der durchaus in den Rahmen der traditionellen Philosophie seit ihren UrsprÜngen gehÙrt. SpÇtestens seit den Sophisten, den Stoikern und Aristoteles war es klar, daß der normale Sprachgebrauch nicht schon logische und semantische Korrektheit garantiert. Deshalb gab es seit der Antike die Unterscheidung von Grammatik und Logik, wobei der Logik innerhalb der Philosophie ein sachlicher Vorrang vor der Grammatik eingerÇumt wurde. Der folgende Satz Freges kÙnnte sich ebenso bei Aristoteles, bei Chrysipp oder bei Ockham finden: Die Sprache ist nicht in der Weise durch logische Gesetze beherrscht, daß die Befolgung der Grammatik schon die formale Richtigkeit der Gedankenbewegung verb¹rgte. (•ber die wissenschaftliche Berechtigung einer Begriffsschrift. In: Begriffsschrift. S. 108) Frege war allerdings der ¾berzeugung, »daß die Logik sich bisher immer noch zu eng an Sprache und Grammatik angeschlossen hat« (Begriffsschrift. Einleitung. S. XIII). Weder die Umgangssprache, die selbst ein Zeichensystem ist, noch die Schrift, mit der die Umgangssprache wiederum in einem Zeichensystem abgebildet wird, noch die Grammatik als Regelsystem fÜr die Umgangssprache liefern eine Garantie dafÜr, daß nicht MißverstÇndnisse und Argumentationsfehler auftreten. Deshalb ist nach Frege fÜr die Darstellung strenger Argumentationen eine neue Zeichensprache, eine Begriffsschrift, erforderlich, die auch, und zwar nicht nur dem Formalismus, sondern auch dem Ziel nach (vgl. auch unten 4), Über das hinausgehen sollte, was Freges VorgÇnger und Zeitgenossen wie George Boole (1815–1864) und Ernst SchrÙder (1841–1902) vorgelegt hatten. Frege will also nicht die Umgangssprache durch eine formalisierte Sprache ersetzen, sondern nur eine Zeichensprache entwickeln, die eine prÇzise und vollstÇndige ¾berprÜfung umgangssprachlich formulierter ZusammenhÇnge ermÙglicht. Frege gibt ein genaues Kriterium fÜr die Wahl seiner Zeichen an:

Die Begriffsschrift

Im Allgemeinen wird immer das Zeichen die mannigfachste Anwendung zulassen und die ¹bersichtlichsten Ausdr¹cke ergeben, welches den einfachsten Inhalt hat. [...] Man m³chte die Wahl von Urzeichen mit einfachem Inhalte schon deswegen f¹r geboten halten, weil man durch inhaltsreichere Zeichen einfachere Inhalte nicht ausdr¹cken k³nne. (Booles rechnende Logik und die Begriffsschrift. In: Nachgelassene Schriften. S. 41) Als Grundbestand an Zeichen benÙtigt Frege vier: ein Zeichen fÜr einen Gedankeninhalt, eines fÜr die Verneinung, eines fÜr die Bedingung und eines fÜr das Urteil (vgl. Begriffsschrift. S. 1–13, und Booles logische Formelsprache und meine Begriffsschrift. In: Nachgelassene Schriften. S. 59). Zur Darstellung verwendet Frege Strichzeichen: Ein einfacher waagerechter Strich bedeutet einen Inhalt (Inhaltsstrich), ein davorgesetzter senkrechter Strich besagt, daß es sich bei dem ganzen um ein Urteil handelt (Urteilsstrich); wird ein Inhaltsstrich mit einem anderen durch einen senkrechten Strich verbunden, so wird dadurch die Bedingtheit ausgedrÜckt. Die Negation wird durch einen kurzen senkrechten Strich dargestellt, der rechts vom Bedingungsstrich gesetzt den zweiten Teil der Bedingung (= das Konsequens) verneint, links davon gesetzt hingegen die ganze Bedingung: A B

Wenn B, dann A

A B

Wenn B, dann nicht A

A B

Nicht (wenn B, dann A)

Es geht dabei nur um SÇtze, die wahr oder falsch sein kÙnnen, also um BehauptungssÇtze (die in der traditionellen Logik und auch bei Frege »Urteil« genannt werden), bei denen Frege aber ausdrÜcklich zwischen Inhalt und Beurteilung desselben unterscheidet. In den BehauptungssÇtzen ist also der Inhalt des Satzes - bei Frege auch »Gedanke« genannt - und die Anerkennung der Wahrheit - das Urteilen - zu unterscheiden (Der Gedanke. S. 35). Der vertikale Strich am Beginn der angefÜhrten Zeichen zeigt an, daß es sich um Urteile handelt. Befehls-, Wunsch- und BittsÇtze sowie indirekte Rede sind nicht in die Untersuchung einbezogen (Ebd. S. 33–35; vgl. auch ¾ber Sinn und Bedeutung. S. 50–55). Mit Hilfe der vier aufgefÜhrten Zeichen lassen sich tatsÇchlich alle Operationen der Logik der Aussagen darstellen und auf ihre Korrektheit hin ÜberprÜfen. Das Zeichensystem, das Frege in der Begriffsschrift entwickelt und in den Grundgesetzen der Arithmetik angewendet hat, hat sich allerdings nicht durchgesetzt und braucht daher in einer ¾berblicksvorlesung auch nicht genauer dargestellt zu werden. Das Notierungssystem, das weithin Übernommen wurde, ist vielmehr das von Alfred North Whitehead (1861–1947) und Bertrand Rus-

519

Gottlob Frege

sell (1872–1970) in den Principia mathematica von 1910 entwickelte, die aber im Vorwort ausdrÜcklich darauf hinweisen, daß sie die leitenden Grundgedanken ihres Werkes von Frege Übernommen haben (Ebd. Preface. S. VIII). Schon in The Principles of Mathematics aus dem Jahre 1901 hatte Russell in einem Anhang eine Zusammenfassung der Ergebnisse von Freges Werk gegeben (Ebd. S. 501–522). Der Vorteil der Whitehead-Russellschen Notationsweise liegt in der einfacheren Handhabbarkeit, nicht zuletzt in typographischer Hinsicht. Dies Çndert nichts am Verdienst Freges. Es gibt allerdings auch Vorteile in Freges Symbolismus; z. B. benÙtigt er keine Klammern, und auch die ¾bersichtlichkeit ist bei seinen Ableitungen besser. Frege geht von vier MÙglichkeiten der VerknÜpfung von beurteilbaren Inhalten aus, die mit A und B bezeichnet werden: I. II. III. IV.

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A wird bejaht, und B wird bejaht; A wird bejaht, und B wird verneint; A wird verneint, und B wird bejaht; A wird verneint, und B wird verneint.

I. II. III. IV.

A und B A und nicht B nicht A und B nicht A und nicht B

A

B

w w f f

w f w f

(1. Spalte: Begriffsschrift § 5. S. 5. - 2. Spalte: Booles rechnende Logik und die Begriffsschrift. In: Nachgelassene Schriften. S. 40. - 3. Spalte: heutige Wahrheitswerttafel) Eine mÙglichst einfache Beziehung von zwei beurteilbaren Inhalten A und B kann durch die Verneinung eines der vier FÇlle gewonnen werden (vgl. Booles logische Formelsprache und meine Begriffsschrift. In: Nachgelassene Schriften. S. 55). Frege wÇhlt die Verneinung des dritten Falles als Ausgangspunkt, was nichts anderes ist als die Definition der materialen Implikation - bei Frege »Bedingtheit« genannt -, also: »Wenn B, dann A«, d. h.: B fi A. A

B

BfiA

w w f f

w f w f

w w f w

Die Wahl dieses Ausgangspunktes ist bei Frege dadurch begrÜndet, daß es sich hier um den einfachsten Fall handelt, wie man aus der weiter oben dargestellten graphisch-begriffsschriftlichen Darstellung von »Wenn B, dann A« ersehen kann. FÜr die Wahl dieses Ausgangspunktes fÜhrt Frege auch einen Konvenienzgrund an: Ich w›hlte die Verneinung des dritten Falles wegen des leichten •berganges zum Schließen und wegen der nahen Verwandtschaft dieses Inhaltes zu dem wichtigen Verh›ltnis von Grund und Folge. (Booles rechnende Logik und die Begriffsschrift. In: Nachgelassene Schriften. S. 42)

Die Begriffsschrift

Bei der Bedingtheit ist die Verwandtschaft zu Grund und Folge allerdings nur in einer begrenzten Anzahl von FÇllen dem Gebrauch der Umgangssprache entsprechend. Es gilt also nicht allgemein: (logische) Bedingtheit = (umgangssprachlich) »Wenn ... dann«. Frege sagt dies auch ganz klar (das »wenn« enthÇlt also »mehr« als die logische Bedingtheit): Die urs›chliche Verkn¹pfung, die in dem Worte »wenn« liegt, wird jedoch durch unser Zeichen nicht ausgedr¹ckt, obgleich ein Urteil dieser Art nur auf Grund einer solchen gef›llt werden kann. (Begriffsschrift § 5. S. 6) Mit Hilfe der Bedingtheit (materiale Implikation) lassen sich dann alle anderen logischen Grundzeichen («und«, »oder«) definieren, »denn mittels eines Verneinungszeichens kann man aus jedem der vier FÇlle jeden anderen herstellen« (Booles logische Formelsprache und meine Begriffsschrift. In: Nachgelassene Schriften. S. 56). Frege weiß, daß dieser Ausgangspunkt von der Bedingtheit (Implikation) nicht notwendig ist, es ist z. B. ebenso mÙglich, von der ersten Zeile, also I. im Schema weiter oben, auszugehen und die drei weiteren zu verneinen, also dem »und« (vgl. Begriffsschrift § 7. S. 12 f.). Frege geht gelegentlich auch diesen Weg (vgl. GedankengefÜge. S. 75 f.), mÙglicherweise deshalb, weil das »und« von allen logischen Zeichen dem Gebrauch der Umgangssprache am nÇchsten kommt. Betrachtet man den Fall der Bedingtheit, wo aus B nicht-A folgt, und verneint man dies, so bedeutet dies: »der Fall, wo A und B bejaht werden, tritt ein«, was auch in der folgenden Weise ausgedrÜckt werden kann: »beide, A und B sind Tatsachen« (Begriffsschrift § 7. S. 12), d. h. (B fi A) ® B  A, was Çquivalent ist mit A  B. Dies ist nichts anderes als das »und«, also die Konjunktion.

A

B

AB

w w f f

w f w f

w f f f

Desweiteren kann der Fall der Bedingtheit betrachtet werden, wo aus nicht-B A folgt. Dies entspricht der Verneinung der vierten Zeile der vier MÙglichkeiten der VerknÜpfung, also IV. im Schema weiter oben. D.h. »der Fall, wo A verneint und die Verneinung von B bejaht wird, besteht nicht« oder »beide, A und B kÙnnen nicht verneint werden« (Ebd. S. 10 f.), d. h.: B fi A ® (B  A) ® B  A, da gilt: (B  A) ® B  A) ® B  A. B  A wiederum ist Çquivalent mit A  B. Dies ergibt das »oder, also die Disjunktion, wobei das »oder« hier als nicht-ausschließendes verstanden wird.

521

Gottlob Frege

A

B

AB

w w f f

w f w f

w w w f

Die Frage der Wahl des nicht-ausschließenden »oder« ist nach Frege einzig eine Frage der ZweckmÇßigkeit. Das nicht-ausschließende »oder« ist inhaltsÇrmer, da es mehr FÇlle einschließt als das ausschließende »oder«, und insofern es inhaltsÇrmer ist, ist es einfacher, und die Einfachheit ist fÜr Frege ein Maßstab fÜr die EinfÜhrung eines Zeichens (vgl. Booles logische Formelsprache und meine Begriffsschrift. In: Nachgelassene Schriften. S. 55 f.). Das ausschließende »oder« lÇßt sich dann ausdrÜcken als »(A oder B) und nicht (A und B)«. Frege geht dabei wieder von einer Bedingtheit aus, nÇmlich von (B fi A)  (B fi A), was Çquivalent ist mit (B  A)  (B  A) (vgl. Begriffsschrift § 7. S. 12). Die von Frege als grundlegend angenommene Schlußweise (Ebd. § 6. S. 7 f.) ist nichts anderes als der bekannte modus ponens: 522

A B B

in der heute Üblichen Schreibweise:

BfiA B A

A Als nÇchstes fÜhrt Frege ein Zeichen fÜr Allgemeinheit ein. Dadurch wird ausgedrÜckt: »Alle a sind F«, wobei a eine Variable fÜr GegenstÇnde, F hingegen eine Variable fÜr PrÇdikate ist. Ein Negationsstrich rechts vom a Über dem Halbkreis des Inhaltsstriches bedeutet: »Alle a sind nicht-F«, ein Negationsstrich links vom a hingegen bedeutet: »Nicht alle a sind F«. Frege benÙtigt nur einen Quantor, da »nicht alle« dasselbe wie »einige« (= »mindestens eines«) ausdrÜckt. a F(a) ¨ ‰ Mit Hilfe dieser Zeichen kÙnnen alle logischen Satzformen der klassischen aristotelischen Logik (vgl. 1. Teil, Kap. X, 3, c) in eindeutiger Weise ausgedrÜckt werden (vgl. Begriffsschrift § 11 f. 12. S. 19–24). Um diese Beziehung klar zum Ausdruck zu bringen, stellt Frege das klassische logische Quadrat (vgl. 1. Teil, Kap. X, 3, d) in seiner Begriffsschrift dar. Die traditionelle universell affirmative Aussage (UA) mit ihrem klassischen Beispiel: »Alle Menschen sind Lebewesen« erhÇlt dann die Form: »FÜr jeden Gegenstand a gilt: »Wenn a ein Mensch ist, dann ist a auch ein Lebewesen«, die UA wird also von Frege als Bedingtheit (Implikation) aufgefaßt (vgl. ¾ber Begriff

Sinn und Bedeutung

und Gegenstand. S. 72). Warum dies bei Frege so sein muß, wird weiter unten in 3 kurz erlÇutert. In der heute Üblichen Symbolisierung (M = »Mensch«, L = »Lebewesen«) gilt also: "(a)(M(a) fi L(a)). SelbstverstÇndlich lÇßt sich dann problemlos das gesamte syllogistische System in der Begriffsschrift darstellen.

** Sollte offenbar »subcontrÇr« sein. Anm. d. Hrsg. Frege: Begriffsschrift § 12. S. 24

2. Sinn und Bedeutung Frege unterscheidet in seiner Semantik »Bedeutung«, »Sinn« und »Vorstellung«. Dabei ist sofort zu beachten, daß Frege »Bedeutung« in einer Weise gebraucht (Bedeutung eines Eigennamens = Gegenstand), die in der heutigen Sprachphilosophie keine Verwendung mehr findet: Die Bedeutung eines Eigennamens ist der Gegenstand selbst, den wir damit bezeichnen; die Vorstellung, welche wir dabei haben, ist ganz subjektiv; dazwischen liegt der Sinn, der zwar nicht mehr subjektiv wie die Vorstellung, aber doch auch nicht der Gegenstand selbst ist. (•ber Sinn und Bedeutung. S. 44) Die Vorstellung, die jeder einzelne mit einem Wort verbindet ist also »ganz subjektiv« und scheidet damit aus der logischen Analyse der Sprache aus. Es bleiben also Sinn und Bedeutung. Es ist durchaus mÙglich, daß zwei Eigennamen einen verschiedenen Sinn, aber ein und dieselbe Bedeutung haben. Dies ist z. B. der Fall bei »Morgenstern« und »Abendstern«, die sich zwar auf ein und denselben Gegenstand beziehen, aber einen verschiedenen Sinn haben. Daß ein verschiedener Sinn vorliegt, lÇßt sich daraus erkennen, daß es in zahlreichen Kontexten nicht mÙglich ist, das eine

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Wort fÜr das andere zu substituieren: Es ist z. B. sinnlos zu sagen: »Der Abendstern kann am Morgen beobachtet werden.« Der Sinn ist also die Weise des Gegebenseins, dies ist bei Eigennamen der bezeichnete Gegenstand, bei PrÇdikatoren der bezeichnete Begriff. Vom Sinn eines Begriffs ist zu unterscheiden der Umfang des Begriffs als der Klasse der GegenstÇnde, die unter diesen Begriff fallen. Es ist auch mÙglich, daß ein Eigenname, z. B. »Odysseus«, zwar einen Sinn hat, wir aber nicht sicher sind, ob er auch eine Bedeutung hat, also im VerstÇndnis von Frege: ob ihm auch ein Gegenstand entspricht (Ebd. S. 47). Als nÇchstes stellt Frege die Frage nach Sinn und Bedeutung in Hinsicht auf einen ganzen Behauptungssatz. Der Sinn eines solchen Satzes besteht in dem, was Frege den Gedanken nennt, der ausdrÜcklich nicht als psychologischer Vorgang, sondern als objektiver Inhalt aufgefaßt wird und somit als ein »Inhalt, der fÇhig ist, gemeinsames Eigentum von vielen zu sein« (Ebd. S. 46). Es wird hier allerdings nur von solchen SÇtzen in direkter Rede gesprochen, bei indirekter Rede oder bei epistemischen Kontexten, z. B. »ich glaube, daß ...«, gilt dies nicht. Die Bedeutung eines Behauptungssatzes soll wie die eines Namens der Gegenstand sein. Daraus ergibt sich fÜr Frege - und Überraschend fÜr alle, die sich mit dieser Auffassung zum ersten Mal befassen - folgendes: Die Bedeutung eines Behauptungssatzes besteht in seinem Wahrheitswert (Ebd. S. 48): Jeder Behauptungssatz, in dem es auf die Bedeutung der W³rter ankommt, ist also als Eigenname aufzufassen, und zwar ist seine Bedeutung, falls sie vorhanden ist, entweder das Wahre oder das Falsche. (Ebd.) Frege weiß genau, daß die Bezeichnung der Wahrheitswerte als GegenstÇnde »als willkÜrlicher Einfall und vielleicht als bloßes Spiel mit Worten erscheinen« mag (Ebd.). Es liegt tatsÇchlich nahe zu sagen: Wenn Frege als Bedeutung eines Eigennamens den entsprechenden Gegenstand annimmt, so mÜßte er als die Bedeutung (also als den Gegenstand) eines Behauptungssatzes das Zutreffen des entsprechenden Sachverhalts (das Bestehen einer Tatsache) annehmen. Frege formuliert den Einwand in einer bestimmten Weise: Man k³nnte versucht sein, das Verh›ltnis des Gedankens zum Wahren nicht als das des Sinnes zur Bedeutung, sondern als das des Subjekts zum Pr›dikate anzusehen. (Ebd. S. 49) Frege nimmt dabei nicht auf die traditionelle Auffassung Bezug, in der (z. B. bei Aristoteles) die Wahrheit einer Aussage darin besteht, daß dem Subjekt das PrÇdikat zukommt, oder (wie bei Leibniz) Wahrheit als Enthaltensein des PrÇdikatbegriffs im Subjektbegriff verstanden wird (vgl. Kap. XI, 3), sondern er bezieht sich auf die Analyse, in der z. B. in dem Satz »Der Gedanke, daß 5 eine Primzahl ist, ist wahr« der Satzteil

Sinn und Bedeutung

»Der Gedanke, daß 5 eine Primzahl ist« als Subjekt, »wahr« hingegen als PrÇdikat aufgefaßt wird. Diese Analyse ist jedoch nach Frege nicht korrekt, da man durch ZusammenfÜgen von Subjekt und PrÇdikat immer wieder einen Gedanken erhÇlt, nicht aber den Schritt vom Gedanken zur Bedeutung vollziehen kann. Man muß sich bei der Analyse Freges vor Augen halten, daß er genau zwischen Inhalt und Behauptung desselben unterscheidet, wobei er die Wahrheit einzig auf die Behauptung bezieht, und streng genommen wird tatsÇchlich auf die Frage: »Ist 5 eine Primzahl?« nur mit »Ja« oder »Nein« geantwortet, und genau dieselbe Antwort »Ja« oder »Nein« erfolgt z. B. auf die Frage: »Ist London die Hauptstadt Englands?«. Aus der Wahrheitsauffassung Freges ergibt sich also die von ihm selbst gezogene Konsequenz: Wenn nun der Wahrheitswert eines Satzes dessen Bedeutung ist, so haben einerseits alle wahren S›tze dieselbe Bedeutung, andererseits alle falschen. (•ber Sinn und Bedeutung. S. 50) Um zu einer Erkenntnis zu gelangen, reicht jedoch die Bedeutung nicht aus, man muß dabei immer auch den Gedanken berÜcksichtigen. Frege fÇhrt daher fort: Wir sehen daraus, daß in der Bedeutung des Satzes alles einzelne verwischt ist. Es kann uns also niemals auf die Bedeutung eines Satzes allein ankommen; aber auch der bloße Gedanke gibt keine Erkenntnis, sondern erst der Gedanke zusammen mit seiner Bedeutung, d. h. seinem Wahrheitswerte. (Ebd.) SÇtze, die dieselbe Bedeutung haben, kÙnnen fÜreinander substituiert werden, wie Frege mit Berufung auf Leibniz feststellt (Ebd. S. 49 f.): Wenn unsere Vermutung richtig ist, daß die Bedeutung eines Satzes sein Wahrheitswert ist, so muß dieser unver›ndert bleiben, wenn ein Satzteil durch einen Ausdruck von derselben Bedeutung, aber anderem Sinn ersetzt wird. (Ebd. S. 49) Es wird vielleicht ganz nÜtzlich sein, sich einmal klarzumachen, daß all die VerstÇndnisschwierigkeiten, die sich bei der Konzeption Freges und den darauf beruhenden Wahrheitswerttafeln ergeben, vor allem bei der materialen Implikation, nicht (nur) in der bestimmten Festlegung der Tafeln bestehen, sondern in der Grundlage dieser gesamten Konstruktion. Wenn es bei der wahrheitserhaltenden Substitution nur auf den Wahrheitswert - ohne BerÜcksichtigung des Sinnes des Satzes - ankommt, darf man beliebige wahre SÇtze fÜr beliebige andere wahre SÇtze substituieren, ohne daß sich der Wahrheitswert verÇndert. Man kann z. B. die folgende gÜltige Implikation aufstellen: »Wenn es regnet, ist die Straße naß.« Nach dem angegebenen Verfahren darf man z. B. fÜr das Konsequens eine andere wahre Aussage, also etwa »Die Quadratwurzel von 4 ist 2« einsetzen, so daß sich ohne ’nderung des Wahrheitswertes

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ergibt: »Wenn es regnet, ist die Quadratwurzel von 4 2«, was dem »normalen« Leser zumindest sonderbar vorkommen wird. Um nicht ungerecht zu sein: Frege war sich ganz im klaren Über die Konsequenzen seiner Auffassung und wußte genau, daß bei der »Beleuchtung« dieser Auffassung durch Beispiele zahlreiche sonderbare Satzverbindungen konstruiert werden konnten, und er stellt selbst fest: Freilich w¹rde auch hier die Beleuchtung meistens unpassend werden: der Gedanke w¹rde leicht abgeschmackt erscheinen; aber das hat mit seinem Wahrheitswerte nichts zu tun. (Ebd. S. 60)

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Es muß noch einmal auf das weiter oben angefÜhrte Zitat verwiesen werden, wo Frege es ganz deutlich macht, daß dann, wenn nur der Wahrheitswert und nicht auch der Sinn eines Satzes berÜcksichtigt wird, es zu keiner Erkenntnis kommt. Es stellen sich hier aber doch ganz wesentliche Fragen einer »Philosophie der Logik«. Die Frage, auf die Freges Begriffsschrift eine Antwort zu geben sucht, ist die folgende: Wie kann der logische Zusammenhang der mathematischen Beweise dargestellt werden? Aus dieser Frage ergibt sich die weitere Frage: Was sind logische GegenstÇnde? Frege ist es nach dem Urteil von Fachleuten, zu denen ich nicht gehÙre, in den Grundgesetzen der Arithmetik tatsÇchlich geglÜckt, den logischen Zusammenhang der Beweise der Arithmetik lÜckenlos darzustellen. Frege stieß bei seinem Programm der Ableitung der Mathematik aus der Logik (Logizismus) mit der ihm 1902 von Russell zur Kenntnis gebrachten Paradoxie der Mengenlehre auf eine deutliche systematische Grenze (Gottlob Freges Briefwechsel. S. 59), die er auch vorbehaltlos anerkannte (Ebd. S. 60–63. Vgl. auch Grundgesetze II. Nachwort. S. 253–265). Mit Russells »GewaltlÙsung« der Typentheorie wollte er sich nicht beruhigen. Ob es eine Alternative zu Russells LÙsung gibt, ist eine Frage, die bis heute nicht befriedigend beantwortet werden konnte und die deshalb hier auch nicht weiter behandelt werden kann oder soll. Eine Alternative stellt Wittgensteins Kritik der formalen Begriffe dar, die die Voraussetzung des Mengenparadoxes, die LegitimitÇt des Begriff einer »Menge aller Mengen« bestreitet (vgl. Kap. XXVI, 2), die aber nur von wenigen akzeptiert wird. FÜr die Philosophie der Logik stellt sich eine allgemeinere Frage: Ist eine Logik, die fÜr die ¾berprÜfung mathematischer Beweise entwickelt wurde, auf andere Bereiche Übertragbar und, wenn ja, in welchem Umfang? Sind vielleicht weitere »Zusatzbedingungen«, »Anwendungsregeln« usw. erforderlich? Im vorliegenden Zusammenhang einer Geschichte der Philosophie soll hier nur auf eine ganz alte Frage verwiesen werden. FÜr das Schließen in allen Bereichen ist der Folgerungsbegriff von zentraler und entscheidender Bedeutung. Auch Frege geht von der Bedingtheit beim Aufbau der Logik aus (vgl. weiter oben), da alle anderen logischen Grundzeichen durch diese und die Negation definiert werden kÙnnen. Die Frage ist nur: Ist die in Freges Logik festgelegte Bedingtheit genau das, was in Philosophie und Wissenschaft unter »Folge-

Sinn und Bedeutung

rung« verstanden wird oder verstanden werden soll? Der Folgerungsbegriff ist jedenfalls seit den Megarikern und Stoikern in der Philosophie umstritten (vgl. 1. Teil, Kap. VIII, 3, und Kap. XII, 1). Mittelalterliche Logiker wie z. B. Abaelard, Ockham und andere britische Logiker nahmen an, daß die Forderung, in einer gÜltigen Folgerung dÜrfe es nicht mÙglich sein, daß das Antezedens wahr und das Konsequens falsch ist - also die Definition durch Wahrheitswerte so wie auch bei Frege -, zwar eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung fÜr eine gÜltige Folgerung ist. Letztere bestehe in einer weiteren (vor allem durch topische Regeln bestimmten) Beziehung zwischen Antezedens und Konsequens (vgl. 2. Teil, Kap. VII, 3, b, und Kap. XVII, 3). Die Frage, ob fÜr Folgerungen in der Mathematik die notwendige auch gleichzeitig die hinreichende Bedingung sei, wurde bei diesen Autoren nicht thematisiert. Das Problem wurde aber dort deutlich, wo es um die beiden heute sogenannten Paradoxien der materialen Implikation (bei den frÜhen englischen Logikern des Mittelalters consequentia materialis genannt) ging, die Abaelard Überhaupt ablehnte und der Ockham und andere sehr zurÜckhaltend gegenÜberstanden. Ohne ModalitÇten also im Sinne Freges - formuliert (was gelegentlich auch bei mittelalterlichen Logikern vorkommt), besagen diese das folgende: (1) A fi (A fi B) (2) A fi (B fi A)

Aus Falschem folgt Beliebiges (ex falso sequitur quodlibet) Wahres folgt aus Beliebigem (verum sequitur ex quolibet)

DemgegenÜber wird von Logikern der Zeit nach Frege bis in unsere Gegenwart hinein versucht, logische Systeme zu entwerfen, in denen diese »Beliebigkeit« eliminiert wird. Wichtige Grundlagen dafÜr wurden 1935 von Gerhard Gentzen (1909– 1945) im sogenannten »KalkÜl des natÜrlichen Schließens« entwickelt. Es soll also ein Begriff der Folgerung entwickelt werden, in der A fi B nur dort Geltung hat, wo A fÜr die Ableitung von B auch tatsÇchlich erforderlich, also relevant, ist. Deshalb werden solche Logiksysteme auch unter dem Begriff »Relevanzlogiken« zusammengefaßt. Entscheidend fÜr den Folgerungsbegriff der Relevanzlogik ist es, daß A fi B nur dann gilt, wenn es mindestens eine Variable gibt, die sowohl in A als auch in B enthalten ist. Dies stellt zumindest eine notwendige Bedingung fÜr das dar, was mittelalterliche Logiker mit dem Prinzip »das Konsequens muß im Antezedens verstanden werden« (consequens intelligitur in antecedente) oder Çhnlichen Festlegungen gefordert hatten. Verschiedene solcher Systeme der Relevanzlogik sind dann so konstruiert, daß sich durch HinzufÜgung von (1) oder (2) - (1) und (2) sind unter Voraussetzung der doppelten Negation Çquivalent - die inzwischen klassische Aussagenlogik Freges ergibt, womit die klassische Aussagenlogik nicht zum Normal- und Normfall der Logik, sondern zu einem Ausnahme- oder Spezialfall wird. Daran lÇßt sich vielleicht eine noch allgemeinere ¾berlegung anschließen. Die Logik Freges hat sich bei der ¾berprÜfung der Beweise der Arithmetik bewÇhrt. Sein Ziel der Begriffsschrift war folgendes:

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Ich will die wenigen Zeichen, die ich einf¹hre, mit den schon vorhandenen Zeichen der Mathematik zu einer einzigen Formelsprache verschmelzen. (•ber den Zweck der Begriffsschrift. In: Begriffsschrift. S. 100) Aber: Was folgt daraus? Es ist seit den Pythagoreern und Platon eine immer wiederkehrende Frage, inwieweit sich die Mathematik auf die Gesamtheit der Wirklichkeit anwenden lÇßt, und damit ist weiter zu fragen, inwieweit die Mathematik und ihre Erkenntnismittel Modellcharakter fÜr die Philosophie als ganze haben kÙnnen. Damit hÇngt auch die Frage zusammen, in welchen Bereichen eine fÜr den Beweiszusammenhang der Mathematik entwickelte deduktive Logik Anwendung finden kann. Frege stellt seine Logik in eine Traditionslinie, in der sehr weitreichende positive Antworten auf diese Fragen gegeben wurden:

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Das Schließen aber und das Definieren ist logischen Gesetzen unterworfen. Daraus folgt, daß die Logik f¹r die Mathematik eine gr³ßere Wichtigkeit hat als f¹r andere Wissenschaften. Wenn man nun die Logik zur Philosophie rechnet, so ergibt sich hieraus das Bestehen einer besonders engen Verbindung zwischen Mathematik und Philosophie, was durch die Geschichte der Wissenschaften best›tigt wird (Plato, Descartes, Leibniz, Newton, Kant). (Logik in der Mathematik. In: Nachgelassene Schriften. S. 219) Es hat sich jedoch an verschiedenen Stellen gezeigt, daß dieses mathematische und letztlich euklidische Erkenntnismodell an deutliche Grenzen stÙßt und daß, damit zusammenhÇngend, neben der an dieser Vorstellung von Erkenntnis und der ihr entsprechenden deduktiven Logik in allen Bereichen empirischer Wissenschaften die Wahrscheinlichkeit und die entsprechende induktive Logik eine entscheidende Bedeutung erhÇlt. Dies war schon im 17. Jhd. Mathematikern wie Pascal, Fermat, Leibniz, Huygens und Bernoulli klar geworden (vgl. Kap. VI, 3, und Kap. XI, 3). Es fÇllt auf, daß Frege sich mit diesen Fragen nicht beschÇftigt hat. Ihm geht es in seiner Logik nur um das, »bei dem das Wahrsein Überhaupt in Frage kommen kann« (Aufzeichnungen fÜr Ludwig Darmstaedter. In: Nachgelassene Schriften. S. 273). Sicher ging es Frege primÇr um den Nachweis logisch korrekter BeweisfÜhrung in der Arithmetik, und diese ist wiederum eine Grundlage des WahrscheinlichkeitskalkÜls. Allerdings stellt der WahrscheinlichkeitskalkÜl auch spezifische Fragen einer Logik der Wahrscheinlichkeit. Freges einziger bedeutender SchÜler Rudolf Carnap (1891– 1970) hat daher konsequenterweise einen guten Teil seiner Arbeiten der Entwicklung einer induktiven Logik gewidmet. Mit diesen Bemerkungen Über das VerhÇltnis von Mathematik und Philosophie ist in keiner Weise beabsichtigt, Freges Arbeiten sowie die Arbeiten jener, die ihm folgten, wiederum in die Mathematik »abzuschieben«, was die gleiche verhÇngnisvolle Situation der ersten HÇlfte des 20. Jhd.s hervorrufen mÜßte. Nicht nur einzelne Ergebnisse, sondern die gesamte strenge sprachanalytische und sprachkritische Me-

Funktion und Begriff, Begriff und Gegenstand

thode Freges ist inzwischen fÜr die Philosophie unaufgebbar geworden, wie auch noch an zwei Beispielen im folgenden Punkt deutlich gemacht werden soll. Es geht nur darum zu sagen, daß nicht einfach und unkritisch Ergebnisse aus der Grundlagenforschung der Mathematik und der daran orientierten Logik als unmittelbar fÜr den gesamten Bereich der Philosophie gÜltig angesehen werden kÙnnen. Ein Beispiel dafÜr ist die fÜr manche recht bequeme, aber ganz ungerechtfertigte »philosophische Anwendung« des UnvollstÇndigkeitssatzes Kurt GÙdels (1906–1978), der im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung des Logizismus-Programms Freges entstanden ist und besagt, daß ein ausreichendes und widerspruchsfreies formales System der Arithmetik wahre SÇtze auslassen muß und seine Widerspruchsfreiheit nicht mit den in ihm formalisierten Mitteln bewiesen werden kann. Daraus kann zunÇchst Überhaupt nichts Über oder gegen die Forderung abgeleitet werden, in irgendeiner philosophischen Theorie alle als wahr angenommenen SÇtze vollstÇndig aufzufÜhren und deren Widerspruchsfreiheit nachzuweisen.

3. Funktion und Begriff, Begriff und Gegenstand Ausgehend von den Wahrheitswerten von SÇtzen lÇßt sich auch verstehen, wie Frege das Wort »Begriff« analysiert. Es geht ihm dabei ausschließlich um den logischen, nicht um den psychologischen Gebrauch dieses Wortes (¾ber Begriff und Gegenstand. S. 66), den er als »Vorstellung« auch kennt (vgl. weiter oben). Aber auch der bisherige, an der Grammatik orientierte Gebrauch von »Subjekt« und »PrÇdikat« ist nach Frege unzureichend. Frege schlÇgt einen neuen Weg ein, der sich auch tatsÇchlich durchgesetzt hat: Insbesondere glaube ich, daß die Ersetzung der Begriffe Subjekt und Praedicat durch Argument und Function sich auf die Dauer bew›hren wird. (Begriffsschrift. Vorwort. S. XIII) Der Ausgangspunkt bei Frege ist der Gebrauch von Funktionen in der Mathematik (so nebenbei: Das Wort »Funktion« wurde von Leibniz als Fachterminus fÜr geometrische GrÙßen in die Mathematik eingefÜhrt). Ein Ausdruck wie z. B. »x2« ist eine Funktion, wobei fÜr x verschiedene Argumente, also Zahlen wie 1, 2, 3 usw., eingesetzt werden kÙnnen. Eine Funktion »fÜr sich allein ist unvollstÇndig, ergÇnzungsbedÜrftig, oder ungesÇttigt zu nennen« (Funktion und Begriff. S. 21 f.). Wird die Funktion durch ein Argument ergÇnzt, so erhÇlt man den Funktionswert. So ergibt sich fÜr die Funktion x2 mit dem Argument 1 der Funktionswert 1, mit dem Argument 2 der Funktionswert 4 usw. Frege lÇßt auch das Zeichen fÜr »Gleichheit« in Funktionen zu. Eine Funktion dieser Art hat einen Funktionswert, der immer einer der beiden Wahrheitswerte, d. h. entweder »wahr« oder »falsch«, ist. FÜr die Funktion x2 = 1 ergeben die Argumente 1 und -1 fÜr x den Funktionswert »wahr«, fÜr alle anderen

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Zahlen den Funktionswert »falsch«. Frege erweitert dann den Funktionsbegriff in der Weise, daß als Argumente nicht nur Zahlen, sondern beliebige Gegenst›nde zugelassen werden (Ebd. S. 29). Die einer mathematischen Gleichung entsprechende sprachliche Form ist ein Behauptungssatz: Behauptungss›tze im allgemeinen kann man ebenso wie Gleichungen oder analytische Ausdr¹cke zerlegt denken in zwei Teile, von denen der eine in sich abgeschlossen, der andere erg›nzungsbed¹rftig, unges›ttigt ist. So kann man z. B. den Satz »Caesar eroberte Gallien« zerlegen in »Caesar« und »eroberte Gallien«. Der zweite Teil ist unges›ttigt, f¹hrt eine leere Stelle mit sich, und erst dadurch, daß diese Stelle von einem Eigennamen ausgef¹llt wird oder von einem Ausdrucke, der einen Eigennamen vertritt, kommt ein abgeschlossener Sinn zum Vorschein. (Ebd.)

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Man kann also z. B. den Funktionsausdruck »x ist eine Hauptstadt« bilden, fÜr den die Argumente »London«, »Paris« usw. - wird das Ganze als Behauptung geÇußert den Wert »wahr« ergeben, die Namen von ProvinzdÙrfern und beliebiger anderer GegenstÇnde, die nicht Hauptstadt sind, hingegen den Wert »falsch«. FÜr einen spezifischeren Ausdruck, d. h. fÜr einen Ausdruck mit geringerem Begriffsumfang - der Umfang eines Begriffs ist bestimmt durch die Anzahl der FÇlle, fÜr die sich der Wert »wahr« ergibt (Ebd. S. 28) -, also z. B. fÜr »x ist die Hauptstadt Englands«, hingegen ergibt nur der Name »London« als Argument den Wert »wahr«, die Namen nicht nur aller anderen StÇdte, sondern auch beliebiger anderer GegenstÇnde, wie z. B. »CÇsar«, ergeben jedoch den Wert »falsch«. Durch jeden Begriff wird die Gesamtheit der GegenstÇnde so eingeteilt, daß dann, wenn irgendein Eigenname als Argument in den als Funktion verstandenen Begriff eingesetzt wird, sich immer in einem Behauptungssatz entweder »wahr« oder »falsch« ergibt. Daher gilt ganz allgemein: Ein Begriff ist eine Funktion, deren Wert immer ein Wahrheitswert ist. (Ebd. S 28) Es wird hier verstÇndlich, warum Frege nicht mit einer Logik der Begriffe beginnen kann, sondern nur mit einer Logik der Aussagen: Nur letztere haben einen Wahrheitswert, wÇhrend Begriffe fÜr sich genommen »ungesÇttigt« sind, eine »leere Stelle« mit sich fÜhren. Und es wird auch verstÇndlich, warum Frege umgangssprachliche SÇtze mit zwei Begriffen in zwei SÇtze umformen muß, d. h. er hat keine andere MÙglichkeit als z. B. den Satz: »Alle Menschen sind Lebewesen« umzuformen in die VerknÜpfung von zwei Aussagen, nÇmlich: »Wenn x ein Mensch ist, dann ist x auch ein Lebewesen« (vgl. auch Logische Allgemeinheit. In: Nachgelassene Schriften. S. 278–281). Frege war sich, obwohl er sich zu dieser Zeit noch nicht nÇher mit den entsprechenden Texten von Leibniz befaßt hatte, vÙllig im klaren

Funktion und Begriff, Begriff und Gegenstand

darÜber, daß er nur der allgemeinen Intention von Leibniz folgte, nicht aber dessen Programm einer von der Begriffslogik ausgehenden Systematik (vgl. dazu Kap. XI, 2), und er wußte auch, daß der Titel Begriffsschrift fÜr das, was er tatsÇchlich vorlegte, etwas irrefÜhrend war: Das Eigenartige meiner Auffassung der Logik wird zun›chst dadurch kenntlich, daß ich den Inhalt des Wortes »Wahr« an die Spitze stelle, und dann dadurch, daß ich den Gedanken sogleich folgen lasse als dasjenige, bei dem Wahrsein ¹berhaupt in Frage kommen kann. Ich gehe also nicht von den Begriffen aus und setze aus ihnen den Gedanken oder das Urteil zusammen, sondern ich gewinne die Gedankenteile durch Zerf›llung des Gedankens. Hierdurch unterscheidet sich meine Begriffsschrift von ›hnlichen Sch³pfungen Leibnizens und seiner Nachfolger trotz des von mir vielleicht nicht gl¹cklich gew›hlten Namens. (Aufzeichnungen f¹r Ludwig Darmstaedter. In: Nachgelassene Schriften. S. 273) Damit sind wir also bei der systematischen Vorordnung der Aussagenlogik vor der PrÇdikatenlogik, was auch fÜr die moderne Logik weitgehend maßgeblich wurde. Daß damit nicht nur ein wesentlicher Unterschied zur leibnizschen, sondern ebenso zur aristotelischen Logik gegeben war, wußte Frege auch wiederum genau: In der Tat, es ist einer der bedeutendsten Unterschiede meiner Auffassungsweise von der booleschen und ich kann wohl hinzuf¹gen von der aristotelischen, daß ich nicht von den Begriffen, sondern von den Urteilen ausgehe. (•ber den Zweck der Begriffsschrift. In: Begriffsschrift. S. 101) Frege hat diese These in noch allgemeinerer Form als einen seiner GrundsÇtze formuliert: Nach der Bedeutung der W³rter muß im Satzzusammenhange, nicht in ihrer Vereinzelung gefragt werden. (Die Grundlagen der Arithmetik. Einleitung. S. 10) Wie gezeigt, hat dieser Grundsatz bei Frege eine klare logisch-systematische Stellung. Dies muß betont werden, da in der sprachanlytischen Philosophie des 20. Jhd.s bis in unsere Gegenwart hinein - auch bei Wittgenstein, und zwar nicht nur beim spÇteren, sondern auch schon beim frÜhen (vgl. Tractatus 3.3) - dieser Grundsatz eine viel weiter gehende Verwendung gefunden hat, die nicht schon als eine Fortsetzung der sprachphilosophischen Prinzipien Freges angesehen werden kann. Die Logik Freges ist also aufgebaut auf der strikten Unterscheidung von Eigennamen (Namen fÜr Individuen) und Allgemeinbegriffen. Ein Blick zurÜck: In der aristotelischen Syllogistik wird ausschließlich mit Allgemeinbegriffen gearbeitet, an der Subjektstelle steht niemals ein Individuenname. Erst in der spÇtantiken Logik

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finden sich Individuennamen an der Subjektstelle, z. B. in der Standardfolgerung: »Wenn Sokrates ein Mensch ist, dann ist Sokrates ein Lebewesen«, was mit Hinzunahme der weiteren PrÇmisse »Alle Menschen sind Lebewesen« als gÜltiger Syllogismus angesehen wurde. Da es aber an Subjektstelle nur allgemein oder partikulÇr gebrauchte Begriffe geben sollte, tauchte das - in der mittelalterlichen Logik nie geklÇrte - Problem auf, ob solche Individuennamen durch eine universelle oder eine partikulÇre Quantifizierung interpretiert werden sollten. Die Unklarheit Über die Unterscheidung von Individuennamen und Allgemeinbegriffen in der mittelalterlichen Logik wird besonders deutlich in dem sogenannten Porphyrianischen Baum, der in unzÇhligen Traktaten des Mittelalters verwendet wurde. Dort werden zunÇchst Allgemeinbegriffe in ein Schema der Unterordnung gebracht, es wird also »Substanz« eingeteilt in »kÙrperlich« - »unkÙrperlich« usw., bis man dann bei »Mensch« anlangt; dann aber folgt: Mensch

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Platon

(Vgl. z. B. William of Sherwood: Introductiones in logicam/EinfÜhrung in die Logik. Hamburg 1995. S. 53.) Frege hat es - ohne sich auf das hier angefÜhrte Beispiel zu beziehen - ganz klargemacht, daß bei den ersten Unterteilungen im Vergleich zur letzten zwei ganz verschiedene logische Sachverhalte durcheinandergebracht werden. Die Subordination von Begriffen (»Mensch« ist »KÙrper« untergeordnet) ist streng von dem Fallen eines Gegenstandes unter einen Begriff (im logischen Gebrauch von »Gegenstand« ist auch Sokrates ein Gegenstand) zu unterscheiden. Hier ist die logische Analyse der Sprache entscheidend, da, wie Frege richtig konstatiert, »die Sprache Beides in gleicher Form ausdrÜckt (Frege: Booles rechnende Logik und die Begriffsschrift. In: Nachgelassene Schriften. S. 20). - Duns Scotus hatte das Problem gesehen, faktisch aber durch seine haecceitas (also etwa: Socrateitas) Individuennamen wiederum zu Allgemeinbegriffen gemacht (vgl. 2. Teil, Kap. XVI, 2), was natÜrlich eine recht problematische NotlÙsung ist. Auch Leibniz erfaßte - im Zusammenhang mit der extensionalen Betrachtungsweise - mit seiner scharfen Unterscheidung von Allgemeinbegriffen und Individuen das Problem genau, hat es aber dann in der von ihm bevorzugten intensionalen Logik »vorgezogen, die allgemeinen Begriffe bzw. die Ideen und deren Zusammensetzungen zu betrachten, weil sie nicht von der Existenz der Individuen abhÇngen« (vgl. das Zitat in Kap. XI, 2). An Subjektstelle steht also bei Frege immer ein Name fÜr einen individuellen Gegenstand, an PrÇdikatstelle hingegen steht ein Allgemeinbegriff.

Funktion und Begriff, Begriff und Gegenstand

Wir k³nnen kurz sagen, indem wir »Pr›dikat« und »Subjekt« im sprachlichen Sinn verstehen: Begriff ist Bedeutung eines Pr›dikates, Gegenstand ist, was nie die ganze Bedeutung eines Pr›dikates, wohl aber die Bedeutung eines Subjekts sein kann. (•ber Begriff und Gegenstand. S. 72) Frege hat hier logische Klarheit gegenÜber einer Tradition geschaffen, in der dieser Unterschied oft nicht mit der erforderlichen SchÇrfe gesehen wurde. Es muß allerdings hinzugefÜgt werden, daß diese logische Klarheit beim Urvater der Logik, also bei Aristoteles, eigentlich schon in aller SchÇrfe vorhanden war: Subjekt/Gegenstand und PrÇdikat/Begriff bei Frege entsprechen der Ersten und Zweiten Substanz bei Aristoteles: Die Erste Substanz ist ein »Dieses da«, die nur an Subjekt- und niemals an PrÇdikatstelle stehen kann. Daß diese eindeutige logische Klarheit dann durch die Einleitung des Porphyrios zu den Kategorien entscheidend und historisch verhÇngnisvoll wirksam verwischt wurde, ist nicht Aristoteles anzulasten (vgl. 1. Teil, Kap. X, 5, b). Frege entwickelte in der Begriffsschrift eine formale Logik, die der ¾berprÜfung der Beweise in der Arithmetik dienen sollte. Aber schon in dieser grundlegenden Arbeit bringt er seine ¾berzeugung zum Ausdruck, daß diese Logik eine allgemeine Bedeutung fÜr die Philosophie erlangen kÙnnte. Wenn es eine Aufgabe der Philosophie ist, die Herrschaft des Wortes ¹ber den menschlichen Geist zu brechen, indem sie die T›uschungen aufdeckt, die durch den Sprachgebrauch ¹ber die Beziehungen der Begriffe oft fast unvermeidlich entstehen, indem sie den Gedanken von demjenigen befreit, womit ihn allein die Beschaffenheit des sprachlichen Ausdrucksmittels behaftet, so wird meine Begriffsschrift, f¹r diese Zwecke weiter ausgebildet, den Philosophen ein brauchbares Werkzeug werden k³nnen. (Begriffsschrift. Einleitung. S. XII f.) In welcher Weise Freges Analysen fÜr ganz zentrale Fragen aus der Geschichte der Philosophie relevant werden kÙnnen, lÇßt sich an zwei weiteren Beispielen zeigen, bei deren genauer Darstellung auch wiederum eine grundlegende Unterscheidung Freges zum Tragen kommt: Der Ausgangspunkt ist Freges Auffassung, daß Zahlangaben nicht GegenstÇnde betreffen, sondern Eigenschaften von Begriffen sind. Wir mÜssen dabei allerdings Begriffe erster und Begriffe zweiter Stufe unterscheiden. Unter Begriffe erster Stufe fallen GegenstÇnde, unter Begriffe zweiter Stufe fallen Begriffe. Wenn ich in Ansehung derselben ›ußeren Erscheinung mit derselben Wahrheit sagen kann: »dies ist eine Baumgruppe« und »dies sind f¹nf B›ume« oder »hier sind vier Compagnien« und »hier sind 500 Mann«, so ›ndert sich dabei weder das Einzelne noch das Ganze, das Aggregat, sondern meine Benennung. Das ist aber nur

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Gottlob Frege

das Zeichen der Ersetzung eines Begriffes durch einen andern. Damit wird uns [...] nahe gelegt, daß die Zahlangabe eine Aussage von einem Begriffe enthalte. Am deutlichsten ist dies vielleicht bei der Zahl 0. Wenn ich sage: »die Venus hat 0 Monde«, so ist gar kein Mond oder Aggregat von Monden da, von dem etwas ausgesagt werden k³nnte; aber dem Begriffe »Venusmond« wird dadurch eine Eigenschaft beigelegt, n›mlich die, nichts unter sich zu befassen. (Die Grundlagen der Arithmetik § 46. S. 60) Mit der Anzahl 0 wird also dem Begriff »Venusmond« (einem Begriff erster Stufe) die Nullzahl beigelegt, also die Eigenschaft zugeschrieben, in keinem Gegenstand verwirklicht zu sein (ein Begriff zweiter Stufe), d. h. es gibt keinen Gegenstand, der unter den Begriff »Venusmond« fÇllt. Der Anzahlbegriff als Begriff zweiter Stufe beschreibt den Umfang (die Extension) eines Begriffs erster Stufe. Frege weist darauf hin, daß hier der normale Sprachgebrauch verwirrend ist:

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Der Ausdruck »vier edle Rosse« erweckt den Schein, als ob »vier« den Begriff »edles Ross« ebenso wie »edel« den Begriff »Ross« n›her bestimmt. Jedoch ist nur »edel« ein solches Merkmal; durch das Wort »vier« sagen wir etwas von einem Begriffe aus. (Ebd. § 52. S. 64) Der Begriff zweiter Stufe »x ist vierzahlig« beschreibt den Begriff erster Stufe »x ist ein edles Ross«. - Wird von einem Begriff die Verneinung der Eigenschaft der Nullzahligkeit ausgesagt, so wird damit Existenz behauptet. Aber auch mit der Behauptung von Existenz wird wiederum die Eigenschaft eines Begriffs und nicht eines Gegenstandes ausgesagt. Und deshalb ist der sogenannte ontologische Gottesbeweis Anselms von Canterbury, in dem Existenz als Eigenschaft eines Gegenstandes aufgefaßt wird (vgl. 2. Teil, Kap. VI, 3 und 4) logisch ungÜltig. In dieser Beziehung hat die Existenz hnlichkeit mit der Zahl. Es ist ja Bejahung der Existenz nicht Anderes als Verneinung der Nullzahl. Weil Existenz Eigenschaft des Begriffes ist, erreicht der ontologische Beweis von der Existenz Gottes sein Ziel nicht. (Die Grundlagen der Arithmetik § 52. S. 64. Vgl. auch •ber den Begriff der Zahl. In: Nachgelassene Schriften. S. 111) Auch der zeitgenÙssische Kritiker Gaunilo und spÇter Kant haben erklÇrt, daß Existenz keine Eigenschaft eines Gegenstandes ist, sie haben aber nicht klargemacht, was denn dann im logischen Sinne genau unter »Existenz« verstanden werden soll. Auch in diesem Punkt hat Frege von seinen Voraussetzungen aus Klarheit geschaffen. Ob Freges Voraussetzungen die einzig mÙglichen sind, sei hier dahingestellt. In der intensionalen Logik von Leibniz und der Konstruktion der mÙglichen Welten z. B. ergibt sich ein vÙllig anderes VerstÇndnis von »Existenz«.

Funktion und Begriff, Begriff und Gegenstand

Besonders die platonische Philosophie liefert zahlreiche Ansatzpunkte fÜr eine kritische Auseinandersetzung: Sind die Ideen nun einzelne GegenstÇnde oder Begriffe? Auf diese Frage wird man bei Platon nie eine klare Antwort erhalten. Aber auch bei zahlreichen einzelnen Aussagen wird man in grÙßte Schwierigkeiten geraten, wenn man ihnen einen klaren Sinn zuschreiben will. Frege selbst meinte, mit Bezugnahme auf Platons (Großen) Hippias (wahrscheinlich bezogen auf die Stelle 300e–302b), daß Platon Zahlenangaben als Aussagen von einem Begriff auffaßte (Aufzeichnungen fÜr Ludwig Darmstaedter. In: Nachgelassene Schriften. S. 273). Ob dies allerdings mit den zahlreichen anderen Stellen, an denen Platon Über Zahlen spricht, konsistent ist, bleibt doch mehr als fraglich. Wenn Platon etwa sagt, daß selbst die Bewegungen der HimmelskÙrper hinter den Bewegungen zurÜckbleiben, »in welchen sich die wahre Schnelligkeit und die wahre Langsamkeit nach der wahren Zahl und nach den durchgÇngig wahren Figuren gegeneinander bewegen« (Platon: Staat 529d), so hat man den Eindruck, daß Platon hier Zahlen als Eigenschaften von GegenstÇnden ansieht, und auch Wahrheit nicht Aussagen, sondern Begriffen (»Schnelligkeit«, »Zahl«) oder GegenstÇnden (Schnelligkeit, Zahl) zugeschrieben wird. Allerdings wird man auch hier hinzufÜgen mÜssen, daß schon Aristoteles in diesen Fragen einige Klarheit gebracht hat. Freges sprachanalytische und sprachkritische Philosophie gehÙrt also durchaus in jene Traditionslinie, die mit den Kategorien des Aristoteles begann, demgegenÜber der Ausgangspunkt Freges von den Urteilen anstelle von den Begriffen, worin er den Unterschied seiner Logik zu der des Aristoteles sieht, als sekundÇr einzuschÇtzen ist. In einem, und keineswegs sekundÇren Punkt steht Frege allerdings doch Platon sehr nahe: Frege sagt von dem Gedanken, daß er »unabhÇngig davon wahr [ist], ob irgend jemand ihn fÜr wahr hÇlt« (Frege: Der Gedanke. S. 43 f.) und erlÇutert dies dann in folgender Weise: Man sieht ein Ding, man hat eine Vorstellung, man faßt oder denkt einen Gedanken. Wenn man einen Gedanken faßt oder denkt, so schafft man ihn nicht, sondern tritt nur zu ihm, der schon vorher bestand, in eine gewisse Beziehung, die verschieden ist von der des Sehens eines Dinges oder Habens einer Vorstellung. (Ebd. S. 44, Anm.) An diesem Punkt wird man doch an den platonischen Ideenhimmel (oder das stoische lµkton) - wenn auch in Aussagenform - erinnert. Der Hintergrund dieser Auffassung ist in Freges Auseinandersetzung mit dem Psychologismus zu finden: Um jedes Mißverst›ndnis auszuschließen und die Grenze zwischen Psychologie und Logik nicht verwischen zu lassen, weise ich der Logik die Aufgabe zu, die Gesetze des Wahrseins zu finden, nicht die des F¹rwahrhaltens oder Denkens. (Ebd. S. 31) Die Kritik des Psychologismus war ein hÇufig wiederkehrendes Motiv bei Frege (vgl. z. B. Die Grundlagen der Arithmetik. Einleitung. S. 6–11). Sie wird hÇufig Edmund Hus-

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Gottlob Frege

serl (1859–1938) zugeschrieben und findet sich auch tatsÇchlich bei diesem, geht aber auf Frege zurÜck, der mit Husserl in Briefkontakt stand und mit ihm Über diese Fragen diskutierte. Man kann sich allerdings die Frage stellen, ob Freges Kritik des Psychologismus nicht noch sehr stark von einer Subjektiv-Objektiv-Dichotomie bestimmt war, die schon zu seiner Zeit, etwa bei Peirce (vgl. Kap. XXIV, 4), in dieser Form nicht mehr galt.

4. Frege und das Leibniz-Programm Leibniz ist nicht nur einer der von Frege am meisten zitierten Autoren, sondern er lieferte Frege gleichsam das Programm. In der Einleitung zur Begriffsschrift bezieht er sich ausdrÜcklich auf Leibniz’ Allgemeine Charakteristik und dessen Calculus ratiocinator (Begriffsschrift. Einleitung S. XI). Daß dieses Leibniz-Programm (vgl. dazu Kap. XI, 2) zu umfassend war, um gleich verwirklicht werden zu kÙnnen, war Frege klar:

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Wenn eine Aufgabe in ihrer vollen Allgemeinheit unl³sbar scheint, so beschr›nke man sie vorl›ufig; dann wird vielleicht durch allm›hliche Erweiterung ihre Bew›ltigung gelingen. Man kann in den arithmetischen, geometrischen, chemischen Zeichen Verwirklichungen des Leibnizschen Gedankens f¹r einzelne Gebiete sehen. Die hier vorgeschlagene Begriffsschrift f¹gt diesen ein neues hinzu und zwar das in der Mitte gelegene, welches allen anderen benachbart ist. (Begriffsschrift. Einleitung. S. XII) Frege kannte zum Zeitpunkt der Abfassung der Begriffsschrift nur wenig von Leibniz, er hat sich jedoch spÇter mit den wenigen damals bekannten einschlÇgigen Schriften von Leibniz, vor allem dem Non inelegans specimen demonstrandi in abstractis (Leibniz: Die Grundlagen des logischen KalkÜls. Hamburg 2000. S. 86–111) befaßt (vgl. Frege: Booles rechnende Logik und die Begriffsschrift. In: Nachgelassene Schriften. S. 9–52) und gelangte beim Vergleich der booleschen und der leibnizschen Logik zu der Feststellung: Bis hierher findet sich Alles mit nur ›ußerlichen Abweichungen schon bei Leibniz, von dessen hierher geh³renden Arbeiten Boole wohl nichts erfahren hat. (•ber den Zweck der Begriffsschrift. In: Begriffsschrift S. 99) Diese Bemerkung von Frege ist nur zum Teil richtig, denn Boole hat zwar seine Logik ohne Kenntnis der Logik von Leibniz entwickelt, wurde aber bald nach der VerÙffentlichung seiner Laws of Thought von 1854 von anderen auf diesen »VorlÇufer« hingewiesen, er hat also sehr wohl etwas von den Arbeiten von Leibniz erfahren. Frege hielt die Arbeiten von Boole als nur zu dem gehÙrig, was Leibniz den Calculus ratioci-

Frege und das Leibniz-Programm

nator genannt hatte, wÇhrend er selbst auch das schaffen wollte, was Leibniz in der Allgemeinen Charakteristik angestrebt hatte (Begriffsschrift. S. 98). Daß Frege dies gelungen sei, wurde von Ernst SchrÙder bestritten (vgl. Rezension zu Freges Begriffsschrift, 1880), der die Auffassung vertrat, Freges Begriffsschrift gehÙre nur in die Linie dessen, was Leibniz im Calculus ratiocinator angestrebt habe, was aber von anderen also vor allem von Boole und von ihm selbst - in angemessenerer Form schon geleistet worden sei. Die Frage, ob die Logik Freges in die Geschichte der Verwirklichung des Leibniz-Programms gehÙrt, wovon Frege fest Überzeugt war, und, wenn ja, ob andere dies nicht vielleicht besser geleistet haben, ist auch nach der VerÙffentlichung von Freges Nachgelassenen Schriften, die Genaueres Über seine Leibniz-Kenntnis mitteilen, von der Sache her noch lange nicht entschieden. DarÜber, daß Frege in die Geschichte der leibnizschen Forderung der Entwicklung einer exakten Wissenschaftssprache gehÙrt, gibt es jedoch keine Diskussion. In diese Geschichte gehÙren aber sehr viele. Und daß Frege in systematisch entscheidenden Punkten - vgl. weiter oben den Ausgangspunkt der Logik vom Begriff oder von der Aussage - nicht dem Leibniz-Programm folgte, sagt Frege selbst mit aller Deutlichkeit. Die Subjekt-PrÇdikat-Analyse von Frege ist unvereinbar mit der Subjekt-PrÇdikat-Analyse jedenfalls der intensionalen Logik von Leibniz. Leibniz gab in eindeutiger Weise einer intensionalen (auf Begriffsinhalten beruhenden) Logik den Vorzug, wÇhrend Frege keinen Zweifel daran lÇßt, daß seine Logik extensional (auf BegriffsumfÇngen beruhend) aufgebaut ist. Grundlegende Unterschiede zwischen Frege und Leibniz sind also vorhanden. Außer in einem ganz allgemeinen Sinne, der aber keine klare Zuordnung ermÙglicht, kann m. E. die Logik von Frege nicht als die Weiterentwicklung der Logik von Leibniz verstanden werden, es handelt sich vielmehr um alternative Logiken. Welche Logik allerdings die »bessere« ist, ist damit Überhaupt nicht entschieden. Aber welches wÇren die Kriterien fÜr eine »gute« Logik? Man kann dabei auf technische Vorteile, also die leichtere Handhabbarkeit, verweisen. Dies war vor allem die Argumentation von Russell. Ob dies allerdings unbedingt fÜr die Frege-Logik spricht, ist nicht schon ausgemacht. Man kÙnnte auch eine andere Linie verfolgen, die allerdings dem Psychologismus-Verdikt Freges widerspricht. Es ist im Kontext gegenwÇrtiger Fragestellungen ganz und gar nicht gesagt, daß es nicht eine sinnvolle Forschungsaufgabe darstellt, z. B. kognitionswissenschaftlich zu ÜberprÜfen, ob sich eine Frege-Logik oder eine Leibniz-Logik besser fÜr die Entwicklung von Programmen kÜnstlicher Intelligenz eignet. MÙglicherweise wird sich herausstellen, daß unter diesem Gesichtspunkt doch einer Leibniz-Logik der Vorzug zu geben ist, da diese genauso exakt wie die Frege-Logik aufgebaut werden kann, aber gleichzeitig dem »natÜrlichen Vernunftgebrauch« eher entspricht.

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Ludwig Wittgenstein

1. Wittgenstein in der Wiener Kultur der Jahrhundertwende

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Schon vor den Einzelproblemen der Interpretation stellt Ludwig Wittgensteins (1889–1951) Tractatus als ganzer die Interpreten vor eine schwierige und bis heute umstrittene Frage (der Tractatus wird im folgenden ohne weitere Angabe nur mit den entsprechenden Nummern zitiert). Die Nummern 1-6.4 behandeln die Fragen der Logik wissenschaftlicher SÇtze, die Nummern 6.41-7 AusdrÜcke wie »Sinn der Welt«, »SÇtze der Ethik«, »der Wille«, »der Tod«, »das Mystische«, »unsere Lebensprobleme«, »Unaussprechliches« und schließen mit dem berÜhmten Satz 7: »Wovon man nicht sprechen kann, darÜber muß man schweigen«, der schon dadurch bemerkenswert ist, daß es bei dem extrem sprachbewußten Wittgenstein sicher einen Unterschied macht, ob man von etwas oder ¹ber etwas schweigen muß. Es gibt im Prinzip zwei MÙglichkeiten der Interpretation des Gesamtzusammenhangs: (1.) Das Zentrum des Tractatus liegt in 1-6.4, die restlichen SÇtze sind eine Art Anhang. (2.) Der Tractatus zielt eigentlich auf die SÇtze 6.4-7 ab, der große erste Teil, so wichtig er auch fÜr sich selbst ist, stellt nur die Basis und die Rechtfertigung dieser abschließenden SÇtze dar. Das Problem ist strukturell Çhnlich jenem, dem wir bei der Frage der VerhÇltnisbestimmung von Kants theoretischer und praktischer Vernunft begegnet sind (vgl. Kap. XV, 6). Keine der beiden genannten Interpretationsrichtungen vernachlÇssigt irgendetwas an Wittgensteins Schrift, und doch ergibt sich eine recht verschiedene Sicht der Dinge. Eine textimmanente Entscheidung Über die richtige Sicht ist nicht mÙglich. - Bei der Frage der Interpretation des Tractatus ist ein weiterer Aspekt nicht unerheblich: Wittgenstein ging 1929 endgÜltig nach Cambridge, wo Russell, Wittgensteins einflußreicher FÙrderer, der wichtigste Vertreter der Philosophie der logischen Analyse der Sprache war. Russell hatte die Schriften Freges erstmals wirklich in die philosophische Diskussion eingefÜhrt. Da die Philosophie Freges und Russells im Tractatus eine unÜbersehbar große Rolle spielte, wurde der Tractatus im englischsprachigen Raum - der deutschsprachige begann sich Überhaupt erst in den 70er Jahren des 20. Jhd.s dafÜr zu interessieren - von den Schriften dieser Autoren her gelesen, und dies ergab selbstverstÇndlich eine Interpretation, wie sie der oben als (1.) aufgefÜhrten entspricht. Wittgenstein, der spÇter auch britischer StaatsbÜrger wurde, wurde also als britischer

Wittgenstein in der Wiener Kultur der Jahrhundertwende

Philosoph interpretiert, und seine Herkunft aus Wien war zunÇchst nicht mehr als ein biographisches Detail. Daß dieser Hintergrund jedoch auch fÜr die Auffassung des Tractatus entscheidend ist - eine in der Wittgenstein-Forschung allerdings durchaus nicht allgemein akzeptierte These -, wurde aber auch nicht von den deutschsprachigen Wittgenstein-Interessierten hervorgehoben, sondern von den beiden Amerikanern Allan Janik und dem WittgensteinschÜler Stephen Toulmin in deren 1972 erschienenem Buch Über Wittgensteins Wien. Die folgenden AusfÜhrungen beruhen grÙßtenteils auf dieser Arbeit. Vor diesem Hintergrund erhalten auch einige Aussagen, die natÜrlich allen Interpreten immer schon bekannt waren, ein besonderes Gewicht. Als es 1919 um die VerÙffentlichung des Tractatus ging, schrieb Wittgenstein an Ludwig von Ficker (1880–1967), den Herausgeber der Zeitschrift Der Brenner, Über sein Buch: Von seiner Lekt¹re werden Sie n›mlich - wie ich bestimmt glaube - nicht allzuviel haben. Denn Sie werden es nicht verstehen; der Stoff wird Ihnen ganz fremd erscheinen. In Wirklichkeit ist er Ihnen nicht fremd, denn der Sinn des Buches ist ein Ethischer. Ich wollte einmal in das Vorwort einen Satz geben, der nun tats›chlich nicht darin steht, den ich Ihnen aber jetzt schreibe, weil er Ihnen vielleicht ein Schl¹ssel sein wird: Ich wollte n›mlich schreiben, mein Werk bestehe aus zwei Teilen: aus dem, der hier vorliegt, und aus alledem, was ich nicht geschrieben habe. Und gerade dieser zweite Teil ist der Wichtige. Es wird n›mlich das Ethische durch mein Buch gleichsam von Innen her begrenzt; und ich bin ¹berzeugt, daß es, streng, NUR S0 zu begrenzen ist. Kurz, ich glaube: Alles das, was viele heute schwefeln, habe ich in meinem Buch festgelegt, indem ich dar¹ber schweige. Und darum wird das Buch, wenn ich mich nicht sehr irre, vieles sagen, was Sie selbst sagen wollen, aber Sie werden vielleicht nicht sehen, daß es darin gesagt ist. Ich w¹rde Ihnen nun empfehlen, das Vorwort und den Schluß zu lesen, da diese den Sinn am Unmittelbarsten zum Ausdruck bringen. (Wittgenstein: Briefwechsel. S. 96 f.) Wittgenstein war also davon Überzeugt, daß auch jemand, der den logischen Apparat des Tractatus nicht versteht, den Sinn seines Buches verstehen kann. Andererseits hatte er aber den Eindruck, daß Russell und Frege, die von der Logik her der Sache eigentlich nÇher stehen mÜßten, den wesentlichen Sinn des Tractatus nicht erfaßt haben. In einem Brief aus dem Jahre 1919 - Wittgenstein war damals in Gefangenschaft in Monte Cassino - schrieb Wittgenstein an Russell: Nun habe ich die Bef¹rchtung, daß Du meine wesentliche Behauptung, zu der die ganze Sache mit den logischen S›tzen nur ein Zusatz ist, nicht erfaßt hast. [...] Ich habe mein M.S. auch an Frege geschickt. Er hat mir vor einer Woche geschrieben und ich entnehme daraus, daß er von dem Ganzen kein Wort versteht. Meine einzige

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Hoffnung ist also, Dich bald zu sehen und Dir alles zu erkl›ren, denn es ist schon SEHR bedr¹ckend, von keiner einzigen Seele verstanden zu werden! (Ebd. S. 88) Daß und warum der Sinn des Tractatus ein ethischer ist, wird uns noch beschÇftigen (vgl. weiter unten 4). ZunÇchst folgen wir einer weiteren Bemerkung Wittgensteins zu seinen eigenen Arbeiten: Es ist, glaube ich, eine Wahrheit darin, wenn ich denke, daß ich eigentlich in meinem Denken nur reproduktiv bin. Ich glaube, ich habe nie eine Gedankenbewegung erfunden, sondern sie wurde mir immer von jemand anderem gegeben. [...] So haben mich Boltzmann, Hertz, Schopenhauer, Frege, Russell, Kraus, Loos, Weininger, Spengler, Sraffa beeinflußt. (Vermischte Bemerkungen. S. 43)

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Ein Blick auf die aufgefÜhrten Namen. Der Physiker Heinrich Hertz (1857–1894) hatte durch seine Arbeit Die Prinzipien der Mechanik, in neuem Zusammenhang (1894) entscheidende Anregungen fÜr die wissenschaftstheoretische Diskussion gegeben. Die Abbildtheorie von Hertz hat, wie es die ErwÇhnung im Tractatus deutlich macht, auf Wittgenstein bei der Entwicklung seiner eigenen Bildtheorie eingewirkt (vgl. 4.04). Ludwig Boltzmann (1844–1909), der vor allem als BegrÜnder der statistischen Mechanik fÜr die Entwicklung der Naturwissenschaft (Quantenphysik) im 20. Jhd. wichtig wurde, faßte eine wissenschaftliche Theorie als einen Raum theoretischer MÙglichkeiten auf. Eine dem entsprechende Konzeption findet sich im Tractatus an verschiedenen Stellen, so u. a. in 3.4: »Der Satz bestimmt einen Ort im logischen Raum.« Wittgenstein hatte nach Abschluß seines Ingenieurstudiums die Absicht gehabt, bei Boltzmann in Wien zu studieren, was durch den Selbstmord Boltzmanns verunmÙglicht wurde. ¾ber die Bedeutung, die Frege und Russell fÜr Wittgenstein und dessen Tractatus gehabt haben, muß nicht eigens gesprochen werden, dies ist genÜgend bekannt und dokumentiert. Piero Sraffa (1898–1983) war Wirtschaftswissenschaftler und hatte gute Kontakte mit seinem Fachkollegen John Maynard Keynes (1883–1946), der Wittgenstein seit lÇngerem kannte und mit dem er auch in Briefwechsel stand. Sraffa wurde von Keynes 1927 nach Cambridge zu Vorlesungen eingeladen, wo er dann auch blieb. 1929 wurde er mit Wittgenstein bekannt und traf ihn hÇufig. Die Bekanntschaft mit Sraffa hat fÜr Wittgenstein erst in der spÇteren Cambridger Periode Bedeutung erlangt, braucht also hier nicht weiter verfolgt zu werden. Die Liste der Namen im obigen Zitat ist somit bisher nicht Überraschend. Alle stehen im Zusammenhang mit Fragen der Logik und der Theorie der Wissenschaften. In diesem Zitat finden sich jedoch weitere Namen, die auf den ersten Blick nicht schon in diesen Zusammenhang gehÙren. ZunÇchst Schopenhauer. Die Philosophie Schopenhauers wurde im Wien der Zeit um die Jahrhundertwende sehr einflußreich. Dies ist natÜrlich kein ausreichender Grund dafÜr, daß Wittgenstein sich mit ihr beschÇftigte. Es bleibt also die Frage: Warum Schopenhauer? Darauf wird noch

Wittgenstein in der Wiener Kultur der Jahrhundertwende

zurÜckzukommen sein. Dann fÜhrt Wittgenstein den Wiener Psychologen Otto Weininger (1880–1903) an, den Autor von Geschlecht und Charakter. Letzteres war eines der meistgelesenen und meistdiskutierten BÜcher im Wien des Jahrhundertbeginns, heute wÜrden wir es ein »Kultbuch« nennen. Mit Weininger sind wir bei der fÜr die Wiener Kultur der Jahrhundertwende wichtigen jÜdischen Intelligenzschicht, zu der auch die Familie Wittgensteins selbst zÇhlte. Weininger ging aus von Platons Androgyn-Mythos und von Schopenhauers Metaphysik der Geschlechtsliebe und entwickelte daraus Thesen der generellen, aber in jedem Menschen anders proportionierten BisexualitÇt des Menschen. Vor allem diese Thesen erregten Aufsehen. Daneben vertrat Weiniger aber auch eine radikalisierte kantische These einer reinen, tautologischen Logik und einer rigorosen Ethik, und dies dÜrfte ziemlich genau das wiedergeben, was Wittgenstein, mit anderen formalen Mitteln als Weininger, im Tractatus vorlegte. Sicher sind bei Wittgenstein Logik und Ethik streng geschieden, aber Wittgenstein faßte eben die Logik - so wie Weininger - auch als eine ethische Aufgabe auf, aber das gehÙrt schon wieder zu dem, was nicht »gesagt« werden kann, was sich aber »zeigen« muß (vgl. dazu weiter unten 2 und 4). Mit Weininger sind wir auch wieder bei einem Selbstmord, diesmal besonders in Szene gesetzt: Weininger beging Selbstmord in dem Haus, in dem Beethoven gestorben ist. Selbstmorde waren in dieser Wiener Kultur ein auffÇllig hÇufiges PhÇnomen, und es gehÙrt in diese Welt des fin de sicle der ²sterreichisch-Ungarischen Kaiserlich-KÙniglichen Monarchie, des Kakaniens Musils. Wir erinnern uns an den spektakulÇren Selbstmord des Erzherzogs Rudolf mit seiner Geliebten Maria Vetsera 1889 in Mayerling. Auch der Bruder Gustav Mahlers beging Selbstmord, wahrscheinlich auch der Dichter Georg Trakl (1887–1914), den Wittgenstein treffen wollte, was aber durch den Tod Trakls verhindert wurde (vgl. Briefwechsel. S. 64 f.). Und vergessen wir nicht: Zwei der BrÜder Wittgensteins begingen Selbstmord (der Çlteste Bruder Hans war musikalisch Überbegabt, erhielt jedoch von seinem Vater nicht die Erlaubnis, sich ganz der Musik zu widmen), und auch Ludwig Wittgenstein trug sich Zeit seines Lebens mit Selbstmordgedanken. Mahler komponierte zwischen 1901 und 1904 ein Lied auf den Text »Ich bin der Welt abhanden gekommen« (nach einem Gedicht von Friedrich RÜkkert, das er aber fÜr seine Komposition stark verÇnderte), das als Motto fÜr sein ganzes Werk stehen kÙnnte. In diesem Zusammenhang kÙnnen wir uns auch an die berÜhmte Formel von Karl Kraus (1874–1936) erinnern, der die letzte Periode der Kaiserlich-KÙniglichen Monarchie ²sterreichs als »Versuchsstation des Weltuntergangs« bezeichnet hat. Unter den Autoren, die ihn beeinflußt haben, fÜhrt Wittgenstein auch Oswald Spengler (1880–1936) an, der durch sein Werk Der Untergang des Abendlandes bekannt war. Spengler suchte die »LÙsung« des Problems des Untergangs in einer ErlÙsung im Sinne des russischen Christentums, wie es etwa durch Dostojewski reprÇsentiert wird, und letzterer war auch wieder einer der Autoren, die Wittgenstein beeindruckten (vgl. weiter unten 4). Wittgenstein selbst beabsichtigte spÇter, nach Russland zu Übersiedeln (vgl. weiter unten). Alles dies ist nicht nur

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individualpathologisch zu erklÇren. Die genannten Schriftsteller und KÜnstler lebten im Bewußtsein, daß eine Welt im Untergang begriffen war - sie lebten ja alle in der deutlich ihrem Ende zugehenden Welt der ²sterreichisch-Ungarischen Monarchie -, was dann im Ersten Weltkrieg seinen gewaltsamen Ausdruck fand. Die Verzweiflung vieler Menschen in und an dieser Welt, die sie wie »die letzten Tage der Menschheit« (K. Kraus) erlebten, saß sehr tief. Wittgenstein gehÙrte zu ihnen. Desweiteren nennt Wittgenstein Karl Kraus und den Wiener Architekten Adolf Loos (1870–1933). Dazu gleich noch mehr. Was bei dieser Liste auffÇllt, ist die offensichtlich große Bedeutung, die der kulturelle Kontext im Wien der Jahrhundertwende fÜr Wittgenstein gespielt hat. Daß hier nicht eine zufÇllige Konstellation vorliegt, lÇßt sich aus einer ganz anderen Perspektive zeigen. Arnold SchÙnberg (1874–1951), der fÜr die Entwicklung der ZwÙlftonmusik maßgebliche Komponist und Musiktheoretiker, erwÇhnt in der Widmung zu Stil und Gedanke neben den SchÜlern und Kollegen Anton Webern (1883–1945), Alban Berg (1885–1935), Heinrich Jalowetz, Alexander von Zemlinsky (1871–1942) und Franz Schreker (1878–1934) auch wieder Adolf Loos und Karl Kraus, und sagt von diesen allen: 542

Sie geh³ren zu jenen, mit denen man die Prinzipien der Musik, der Kunst, der k¹nstlerischen und b¹rgerlichen Moral nicht zu er³rtern brauchte. Es bestand ein stilles und klares gegenseitiges Einverst›ndnis in all diesen Dingen. Außer daß jeder von uns st›ndig daran arbeitete, jene Prinzipien zu vertiefen und strenger zu fassen und sie bis ins letzte zu verfeinern. (Sch³nberg: Stil und Gedanke. S. 5) Es gab also im Wien der ersten Jahrzehnte des 20. Jhd.s kulturelle Gemeinsamkeiten, die Über einzelne Zirkel hinausgingen. Menschen, die in ganz verschiedenen gesellschaftlichen Umgebungen lebten, hatten gemeinsame Anliegen, GrundÜberzeugungen und Interessen. Ein Element, das MÇnner wie Kraus, Loos, SchÙnberg und Wittgenstein verband, war, daß sie alle versuchten, die Vermischung verschiedener Ebenen oder Bereiche, die alle zu einer »Schlamperei des Denkens« fÜhrten, nicht nur zu bekÇmpfen, sondern durch Alternativen zu beenden. Die Frage der Form war ein ethisches Problem, und vielleicht sogar das ethische Problem, geworden. Hier war eine Gruppe von Rigoristen an der Arbeit, von der jeder in seinem Bereich - in Literatur, Architektur, Musik, Philosophie usw. - Überzeugt war, daß Form nicht nur ein fachspezifisches, sondern auch und sogar primÇr ein Übergreifend ethisches Problem der Wahrhaftigkeit sei. Vor diesem Hintergrund wird z. B. ein erstaunlicher Satz wie der folgende von SchÙnberg verstÇndlich: Dennoch gibt sich dem K¹nstler die Sch³nheit, ohne daß er sie gewollt hat, denn er hat ja nur die Wahrhaftigkeit angestrebt. (Sch³nberg: Harmonielehre. S. 393)

Wittgenstein in der Wiener Kultur der Jahrhundertwende

Der manchen schwer verstÇndliche Satz Wittgensteins »Ethik und Aesthetik sind eins« (6.421) hat in dieser vielen gemeinsamen ¾berzeugung seinen Ursprung. Wahrhaftigkeit gehÙrte zur Form, und es gab damals ein Pathos der Wahrhaftigkeit wie ein Pathos der Form. Alle diese »Alternativen« waren Überzeugt, daß die ethische Forderung, die der KÜnstler, der Schriftsteller oder der Philosoph an sich selbst bei seiner TÇtigkeit stellt, eine Forderung ist, die ihn als ganzen Menschen betrifft. Webern, ein SchÜler SchÙnbergs, schrieb von dessen Unterricht: Dies ist eine Erziehung zur ›ußersten Wahrhaftigkeit gegen sich selbst. Sie ergreift neben dem rein-musikalischen auch alle anderen Gebiete des menschlichen Lebens. Ja, wahrlich, man erf›hrt bei Sch³nberg mehr als Kunstregeln. (Alban Berg u. a.: Arnold Sch³nberg. S. 86) Und auch von Wittgensteins SchÜlern wird berichtet, daß der Einfluß, der von ihm ausging, untrennbar mit seiner PersÙnlichkeit zusammenhing. Er wollte und konnte keine philosophischen Gehalte lehren, weil er Überzeugt war, daß es gar keine solchen gibt, vielmehr wollte er eine Form des Denkens, ein unerbittlich der Wahrhaftigkeit verpflichtetes Stellen von Fragen, mitteilen, aber genau dies konnte nicht gesagt werden, sondern mußte sich in einem Denkstil zeigen, und dieser war nicht von der Person zu trennen. Philosophie war fÜr Wittgenstein eine TÇtigkeit (4.112), und diese TÇtigkeit sollte paradigmatisch werbend und anziehend sein. Ohne Zweifel strebte Wittgenstein in seinem Tractatus an, daß sich schon in dessen Form etwas zeigt, was nicht gesagt werden kann. Es geht auch bei ihm wie bei SchÙnberg um Stil und Gedanke. Er sagt selbst von seinem Tractatus, dieser sei »streng philosophisch und zugleich literarisch« (Briefwechsel. S. 95). Bei all der logischen Strenge, die Wittgenstein im Tractatus fordert, sollte man auch nicht vergessen, was er im Vorwort schreibt: Sein Zweck w›re erreicht, wenn es einem, der es mit Verst›ndnis liest, Vergn¹gen bereitete. (Vorwort. S. 9) Daß es auch eine Aufgabe der Philosophie ist, VergnÜgen zu bereiten - und auch die Logik kann dies - wird hÇufig vergessen oder als unterhalb der WÜrde der Philosophie liegend abgelehnt. Wittgenstein hatte keine solche Scheu. In seinem Tractatus liegt auch ein Çsthetischer Anspruch. Wittgenstein besaß nicht nur das, was Pascal den esprit gµometrique, sondern auch das, was dieser den esprit de finesse nannte (vgl. Kap. VI, 2). Wittgensteins VerstÇndnis von Philosophie ist vielleicht gar nicht sehr von dem Pascals verschieden. Dies ist auch einem der besten Kenner der Person und der Philosophie Wittgensteins, Georg Henrik von Wright (geb. 1916), aufgefallen. Nehmen wir jetzt noch eine Zeitachse hinzu: 1906 erschien von Robert Musil (1880–1942) Die Verwirrungen des ZÙglings TÙrleß, wo schon alle die Probleme enthal-

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ten sind, die dann im Mann ohne Eigenschaften breit ausgearbeitet werden; 1908 verfaßte Loos den Artikel Ornament und Verbrechen; 1911 erschien SchÙnbergs Harmonielehre, und 1918 stellte Wittgenstein seinen Tractatus logico-philosophicus fertig. Wir kÙnnen noch die bekannte Schrift von Wassili Kandinsky (1866–1944) ¾ber das Geistige in der Kunst aus dem Jahre 1912 hinzunehmen, die zwar nicht in Wien, sondern in MÜnchen entstanden ist, die aber in den Zusammenhang des Blauen Reiters gehÙrt, an dem ja wiederum der Wiener SchÙnberg aktiv - als Maler - teilnahm. In dem kurzen Zeitraum von nur wenig mehr als einem Jahrzehnt entstanden also Werke, die maßgebend fÜr Literatur, Musik, Kunst und Philosophie im ganzen 20. Jhd. werden sollten. Ludwig Wittgenstein wurde 1889 in Wien geboren. Sein Vater war Großindustrieller im Bereich der Stahlindustrie. Das Haus der Wittgensteins war ein kulturelles Zentrum. Wittgensteins Vater, selbst ein guter Geiger, fÙrderte die Kultur und besonders die Musik. FÜr alle Mitglieder der Familie bedeutete Kultur vor allem Musik. Johannes Brahms (1833–1897), Gustav Mahler (1860–1911) und Bruno Walter (1876–1962) gehÙrten zu den hÇufig anwesenden GÇsten im Hause Wittgenstein. Joseph Joachim (1831–1907), einer der berÜhmtesten Geiger seiner Zeit, war mit den Wittgensteins verwandt und in deren Familie aufgewachsen. Einer der BrÜder Wittgensteins, Paul (1887–1961), wurde spÇter als Pianist bekannt (er hatte im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren und Ravel schrieb fÜr ihn das Klavierkonzert fÜr die linke Hand). Eine Schwester Wittgensteins, Hermine, war Malerin. Ihre Begeisterung fÜr Gustav Klimt (1862–1918) veranlaßte den Vater, den Bau der Sezession mitzufinanzieren. Eine weitere Schwester Wittgensteins, Margarete, beschÇftigte sich mit Philosophie, Psychologie und Soziologie. Sie war u. a. mit Sigmund Freud (1856–1939) befreundet. Auch Ludwig Wittgenstein befaßte sich mit Schriften Freuds, lehnte aber die Psychoanalyse als mit pseudo-wissenschaftlichen ErklÇrungen arbeitend, ab (vgl. Vermischte Bemerkungen. S. 527). Wahrscheinlich war es auch Margarete, welche die Werke Kierkegaards und Schopenhauers in der Familie bekannt machte. Eine der kulturell einflußreichsten PersÙnlichkeiten des Wiener Kulturlebens war Karl Kraus, der Herausgeber und spÇter fast alleinige Autor der Fackel. Daß Kraus eine große Rolle fÜr ihn gespielt hat, sagt Wittgenstein selbst Ùfter. Kraus wurde bei den Wittgensteins schon deshalb gelesen, weil dieser auch den Vater Wittgensteins gelegentlich angegriffen hatte. Das Hauptziel der Polemik von Karl Kraus war das journalistische Feuilleton, das meinungsbildend die Presse beherrschte. Das Feuilleton ist nach Kraus dadurch gekennzeichnet, daß in ihm Wirklichkeit und Phantasie und ebenso Objektives und Subjektives untrennbar verbunden sind. Und da dieses Subjektive die Meinungen und Vorurteile der kulturellen Oberschicht enthielt, wurden diese im Journalismus als die einzig mÙgliche Interpretation der Wirklichkeit hingestellt und durch den Einfluß der Presse gleichzeitig zementiert. FÜr Kraus war damit unmittelbar auch ein ethisches Problem gegeben: Die schriftstellerische TÇtig-

Wittgenstein in der Wiener Kultur der Jahrhundertwende

keit sollte von Wahrhaftigkeit geprÇgt sein. Und damit wurde er zum unerbittlichen Kritiker der damaligen Wiener Gesellschaft, die ihre innere Haltlosigkeit hinter etikettengeformtem Verhalten heuchlerisch verbarg. Die Kritik von ScheinsÇtzen war auch ein zentrales Anliegen von Wittgenstein. Kraus faßte seine Gedanken hÇufig in scharfe, kurze Aphorismen, und auch der Stil Wittgensteins im Tractatus ist aphoristisch und verzichtet auf jedes ÜberflÜssige oder auch nur ausschmÜckende Wort. Damit sind wir beim nÇchsten Vertreter der Wiener Kultur der Jahrhundertwende: Der Architekt Adolf Loos bekÇmpfte im Bereich von Kunst und Architektur eine Çhnliche Schlamperei des Denkens und Darstellens. In der Wiener Kunstauffassung jener Zeit diente Kunst der VerschÙnerung des Lebens, dem Leben sollte ein schÙner Schein gegeben werden. Eines der hervorstechendsten Mittel dafÜr war das Ornament. GebrauchsgegenstÇnde, aber auch HÇuser, wurden mit Ornamenten verziert, das normale Leben sollte so mit Kunst drapiert werden. Loos lehnte dies grundsÇtzlich ab: Es sollte streng unterschieden werden zwischen GebrauchsgegenstÇnden und Kunstwerken. Der Gebrauchsgegenstand sollte seiner eigenen Gesetzlichkeit folgen und nicht als quasi-Kunstwerk hingestellt werden. Dies ist der Ursprung des funktionalen Designs. Die Prinzipien der Architektur waren bei Loos nicht bloß Theorie, in Wien kann man noch heute HÇuser sehen, die von Loos gebaut wurden. Das wahrscheinlich bekannteste ist das Haus am Michaelerplatz, das um 1911 in Wien heftigste Kontroversen auslÙste. Dies ist allerdings auch ein Symptom fÜr die kulturelle und gesellschaftliche RÜckstÇndigkeit des damaligen Wien, in den Vereinigten Staaten, deren Architektur Loos kannte, hÇtte ein solches GebÇude kaum Aufsehen erregt. Wittgensteins Tractatus ist sicher »avantgardistischer« als das LoosHaus. Wittgenstein kannte Loos schon durch die Kontakte seiner Familie mit dem Architekten. SpÇter, seit 1926, arbeitete Wittgenstein mit dem Loos-SchÜler Paul Engelmann (1891–1965) beim Entwurf eines Hauses fÜr Wittgensteins Schwester Margarete (verh. Stonborough) zusammen. Wittgenstein war ja von seiner Ausbildung her Ingenieur. Mit Engelmann verband ihn eine lange andauernde Freundschaft, von der wir auch durch einen in vielem sehr aufschlußreichen Briefwechsel informiert sind. Obwohl Arnold SchÙnberg nicht dem Kreis angehÙrte, der in der Familie Wittgenstein verkehrte, gehÙrte er doch ganz wesentlich zu dem kulturellen Umkreis im Wien des Jahrhundertbeginns. Auch bei SchÙnberg ging es u.a. um die Auseinandersetzung mit einer Schlamperei des Denkens. Er widersetzte sich energisch jeder Vorstellung von Musik, bei der diese einfach zur hÙheren Unterhaltung diente. Im Übrigen vertrat er eine kompromißlose musikalische Logik - ein von SchÙnberg hÇufig und an zentralen Stellen gebrauchter Ausdruck - des musikalischen Gedankens. Vom »musikalischen Gedanken« spricht auch Wittgenstein im Tractatus 4.014, obwohl zwischen Wittgenstein und SchÙnberg keinerlei direkter Kontakt bestand. Die ZwÙlftonmusik wurde von SchÙnberg und seinen SchÜlern Anton von Webern und Alban Berg nicht als eine mÙgliche, sondern als die zu ihrer Zeit notwendige Form

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Ludwig Wittgenstein

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der Musik angesehen. Wittgenstein hat, soweit man sieht, diese Entwicklung der Musik nicht selbst begleitet, obwohl er bis an sein Lebensende an Fragen der Musik sehr interessiert blieb, was sich auch in der hÇufigen ErwÇhnung der Musik in seinen spÇteren Schriften zeigt. Wenn Wittgenstein im Tractatus verdeutlichen will, daß zwei so verschiedene Wirklichkeiten wie Sprache und Welt in einem AbbildverhÇltnis stehen, so greift er sofort auf das Beispiel von Notensprache und der tatsÇchlich aufgefÜhrten Musik zurÜck (vgl. 4.014). Auch er war Überzeugt, daß sein Tractatus eine notwendige Entwicklung der Philosophie zum Ausdruck bringt, so wie das SchÙnberg fÜr seine Form der Komposition beanspruchte. Die alten Formen waren zerbrochen, neue mußten gefunden werden. Auch die alten Regeln professioneller Tradition trugen nicht mehr. Es ist auffÇllig, daß nicht wenige der Genannten unprofessionelle »Quereinsteiger« waren: Musil hatte Maschinenbau studiert und arbeitete zunÇchst auch als Ingenieur, hatte in Philosophie mit einer Arbeit Über Ernst Mach promoviert, war dann aber als Bibliothekar der Technischen Hochschule in Wien und spÇter in verschiedenen Ministerien tÇtig und beschÇftigte sich nur »nebenbei« mit dem Schreiben. Auch Wittgenstein war eigentlich Ingenieur, wurde dann Volksschullehrer und hatte Überhaupt nicht die Absicht, Professor der Philosophie zu werden. Und auch SchÙnberg hatte nicht Musik und Komposition studiert, sondern war zunÇchst Angestellter in einer Privatbank und war als Komponist Autodidakt. Und gelegentlich malte er auch. Kandinsky wiederum hatte ²konomie und Rechtswissenschaft studiert und war zunÇchst als Jusdozent tÇtig, ehe er sich der Malerei zuwandte. Die Suche nach neuen Formen wurde nicht als Beruf, sondern als Berufung aufgefaßt, und alle Genannten hatten auch dementsprechend ein ziemlich ausgeprÇgtes Sendungsbewußtsein. Die Situation an der Wiener UniversitÇt reprÇsentiert ziemlich genau unseren Doppelstrich des Schemas in Kap. XIV. 1895 wurde der Prager Physiker und Wissenschaftstheoretiker Ernst Mach (1838–1916) auf den Wiener Lehrstuhl fÜr Philosophie berufen. Diese Berufung wurde und wird von einigen als konsequente Hinwendung der Philosophie zur Naturwissenschaft angesehen - Philosophie hat unter diesem Blickwinkel gar keine andere Funktion als Wissenschaftstheorie - und sie wurde und wird von anderen als Verrat an der Philosophie angesehen, eine Auffassung, die ich nicht teile. Die universitÇtspolitischen HintergrÜnde dieser Berufung waren allerdings tatsÇchlich skandalÙs: Der Lehrstuhl gehÙrte eigentlich Franz Brentano (1838–1917), dessen Weggang von der UniversitÇt Wien klerikal-konservative Kreise im Ministerium erzwungen hatten. Der Nachfolger Machs wurde dann wiederum ein Physiker, nÇmlich Ludwig Boltzmann, bei dem ja auch Wittgenstein studieren wollte. Genau in dieser Linie stand dann die Berufung von Moritz Schlick (1882–1936), mit dem der Wiener Kreis begann. Es kÙnnte sich also nahelegen, und fÜr viele Interpreten ist dies auch tatsÇchlich der Fall gewesen, Wittgensteins Philosophie unter die des Logischen Positivismus einzureihen. Daß dies allerdings ein MißverstÇndnis ist, wird sich noch zeigen (vgl. weiter unten 4). - Den zweiten Lehrstuhl

Wittgenstein in der Wiener Kultur der Jahrhundertwende

fÜr Philosophie an der UniversitÇt Wien hatte seit 1896 Friedrich Jodl (1849–1914) inne, der auch vorher Professor in Prag, dem universitÇren Vorhof der Wiener UniversitÇt, gewesen war. Jodl war nicht nur Herausgeber der Werke Feuerbachs, sondern baute auch seine eigene anti-idealistische Philosophie von Feuerbach her auf, erhielt aber auch Anregungen von Comte. Jodl war ein aufrechter AufklÇrer und wollte auch ganz konkret dazu beitragen, im Sinne Feuerbachs den Himmel auf die Erde zurÜckzuholen. Er widmete sich intensiv der VolksaufklÇrung, oft zum ’rger der Wiener BÜrger und der diese stÜtzenden Ministerien. Bei Jodl promovierte nicht nur der schon genannte Otto Weininger, sondern auch Martin Buber (1878–1965) mit einer Arbeit, in der er sich mit Meister Eckhart, Nikolaus von Kues und Jakob BÙhme auseinandersetzte. Von da aus wandte sich Buber der philosophischen Interpretation des jÜdischen Chassidismus und des chinesischen Taoismus zu. Hier treffen wir also wieder auf die wiederholt erwÇhnten Wurzeln des gesamten idealistischen Denkens. SpÇter entwickelte Buber jedoch jenes Dialogdenken, durch das er vor allem bekannt wurde, wodurch sich die Beziehung des Personalismus zur Philosophie Feuerbachs bestÇtigt (vgl. auch Kap. XIX, 1). Schließlich ist noch der Austromarxismus zu erwÇhnen, dessen bekanntester Vertreter Max Adler (1873–1937) ist. Auch Leo Trotzki (1879–1940) hielt sich von 1907–1914 in Wien auf, hatte dort aber keinerlei Einfluß. Die Fragen der Austromarxisten waren sicher nicht die der Großindustriellen-Familie Wittgenstein. Die Wittgensteins wußten aber natÜrlich einiges von den Lebensbedingungen des Industrieproletariats in Wien. Wittgenstein hat spÇter sein ererbtes VermÙgen verschenkt. WÇhrend der ersten Jahre in Cambridge lernte er Russisch und hatte die Absicht, sich mit irgendeinem Beruf - nicht als Philosoph natÜrlich, er hatte zu dieser Zeit die Absicht, Medizin zu studieren - in der Sowjetunion niederzulassen, ein Plan, den er aber nach einer Reise dorthin im Jahre 1935 aufgab. Sein Interesse fÜr Rußland war sicher hauptsÇchlich durch seine Verehrung fÜr Leo Tolstoi (1828–1910) und Fjodor M. Dostojewski (1821–1881) motiviert, und der bei diesen zum Ausdruck kommenden »russischen Seele« fÜhlte sich Wittgenstein verwandt. Aber es bleibt doch auch erwÇhnenswert, was Keynes 1935 dem russischen Botschafter in London, Iwan Michailowitsch Maiski (1888–1975), Über Wittgenstein berichtete, als dieser ihn bat, ihn bei dem russischen Botschafter einzufÜhren (Briefwechsel. S. 190–192): Ich muß es ihm selbst ¹berlassen, Ihnen mitzuteilen, weshalb er nach Rußland gehen m³chte. Er geh³rt nicht der Kommunistischen Partei an, doch er empfindet viel Sympathie f¹r die Lebensform, f¹r die die neue russische Regierung seiner •berzeugung nach einsteht. (Ebd. S. 192)

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Ludwig Wittgenstein

2. Sagen und Zeigen Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus ist eines der maßgeblichen philosophischen Werke des 20. Jhd.s. Der bekannte ²konom und Wahrscheinlichkeitstheoretiker Keynes schrieb 1924 an Wittgenstein: Ich weiß immer noch nicht, was ich ¹ber Ihr Buch sagen soll, außer daß ich das Gef¹hl habe, daß es ein außerordentlich wichtiges und geniales Werk ist. Ob es nun richtig oder falsch ist, es dominiert, seit es geschrieben wurde, alle grundlegenden Diskussionen in Cambridge. (Briefwechsel. S. 139) Es geht wohl vielen bis heute so wie damals Keynes. Aber das GefÜhl, daß es sich um ein außerordentlich wichtiges und geniales Werk handelt, ohne zu wissen, ob es richtig oder falsch ist, ist natÜrlich genau im Sinne der Philosophie Wittgensteins etwas, das dringend einer KlÇrung bedarf. Genau dies schÇrft uns Wittgenstein ein: 4.112 548

Der Zweck der Philosophie ist die logische Kl›rung der Gedanken. Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine T›tigkeit. Ein philosophisches Werk besteht wesentlich aus Erl›uterungen. Das Resultat der Philosophie sind nicht »philosophische S›tze«, sondern das Klarwerden von S›tzen. Die Philosophie soll die Gedanken, die sonst, gleichsam, tr¹be und verschwommen sind, klar machen und scharf abgrenzen.

Und da sind wir beim zweiten Satz der Feststellung von Keynes. Ob der Tractatus heue alle grundlegenden Diskussionen dominiert, mag dahingestellt sein, er ist aber jedenfalls in allen solchen grundlegenden Diskussionen prÇsent, ohne daß es doch wirklich schon geklÇrt wÇre, was denn eigentlich prÇsent ist und warum es prÇsent ist. Vielleicht liegt die Antwort auf diese Frage in Wittgensteins These: »Alle Philosophie ist Sprachkritik« (vgl. weiter unten 3). Diese Auffassung scheint tatsÇchlich die Philosophie des 20. Jhd.s bis in unsere Gegenwart hinein zu dominieren, auch wenn die Auffassung, daß die Philosophie keine Lehre, sondern eine TÇtigkeit ist, von kaum einer der verschiedenen Richtungen der sprachanalytischen Philosophie im Sinne von Wittgenstein vertreten wird. Daß die Philosophie eine TÇtigkeit ist, kann in der Auffassung Wittgensteins nicht gesagt werden, es muß sich zeigen. Dies gilt daher auch fÜr die Logik. Das Resultat sollen keine philosophischen SÇtze sein. Kommentierende ErlÇuterungen zum Tractatus Wittgensteins sind daher eigentlich sinnlos und ÜberflÜssig. Wenn Wittgenstein solche ErlÇuterungen fÜr erforderlich gehalten hÇtte, hÇtte er sie selbst geschrieben. Er schrieb aber den Tractatus in der ¾berzeugung, daß jene, die ihn verstehen, keine weiteren ErlÇuterungen brauchen und jene, die ihn nicht verstehen, auch durch noch so viele ErlÇuterungen zu

Sagen und Zeigen

keinem VerstÇndnis gebracht werden kÙnnen. Der Text des Tractatus sollte fÜr sich sprechen, ohne weitere ErlÇuterungen. Dennoch muß man eingestehen, daß der Tractatus große Probleme der Interpretation aufwirft, und so gibt es auch schon mehrere Kommentare zum Tractatus - ganz abgesehen von der inzwischen unÜbersehbar gewordenen SekundÇrliteratur zu Einzelfragen -, die aber in der Beantwortung von Grundfragen nicht Übereinstimmen. Es wÇre jedoch vÙllig unmÙglich und auch nicht zweckentsprechend, hier nun eine Kurzfassung dieser Kommentare zu liefern. Daß das, was im Tractatus steht, nicht von allen verstanden werden wÜrde, hat Wittgenstein selbst vermutet, er hat aber auch gemeint, daß andere ihn sofort verstehen wÜrden. Am Beginn des Vorworts zum Tractatus steht der Satz: Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedr¹ckt sind - oder doch ›hnliche Gedanken - schon selbst einmal gedacht hat. (Vowort. S. 9) Es wurde aber schon darauf hingewiesen, daß Wittgenstein den Eindruck hatte, daß auch ein Mann wie Frege ihn nicht verstand. Am 6. Oktober 1919 schrieb Wittgenstein an Russell: 549

Mit Frege stehe ich in Briefwechsel. Er versteht kein Wort von meiner Arbeit und ich bin schon ganz ersch³pft vor lauter Erkl›rungen. (Briefwechsel. S. 93) Es ist also so, daß das Verstehen des Tractatus nicht schon dadurch garantiert ist, daß jemand die formale Logik beherrscht. Die Angelegenheit wird dadurch noch etwas verwirrender, daß die Logik, die Wittgenstein im Tractatus verwendet, weithin die von Frege in der Notation von Russell ist. Wenn Frege also kein Wort davon verstanden hat, konnte es nicht an der Kenntnis der formalen Logik liegen, und wenn Wittgenstein vom Verstehen bzw. Nicht-Verstehen des Tractatus spricht, dÜrfte es sich somit nicht um das Verstehen der technischen Fragen der Logik im Tractatus handeln. Da wir uns mit einigen technischen Fragen dieser Logik schon im Zusammenhang mit der Logik Freges beschÇftigt haben, soll dieser Punkt hier auch nicht weiter ausgefÜhrt werden. Allerdings ist es wichtig zu sehen, daß Wittgenstein den formalen Apparat der Logik grundsÇtzlich anders auffaßt als Frege und Russell, und genau dies war es wahrscheinlich, was diese beiden nicht verstehen konnten. Frege und Russell versuchten, formale Begriffe wie z. B. »Funktion« oder »Zahl« aufzustellen, unter die dann GegenstÇnde fallen, so daß sich z. B. der Satz »1 ist eine Zahl« ergibt (vgl. 4.1272). FÜr Wittgenstein hingegen gilt, daß die Frage nach der Existenz solcher formaler Begriffe unsinnig ist (vgl. 4.1274): 4.126

[...] Daß etwas unter einen formalen Begriff als dessen Gegenstand f›llt, kann nicht durch einen Satz ausgedr¹ckt werden. Sondern es zeigt sich an dem

Ludwig Wittgenstein

Zeichen dieses Gegenstandes selbst. (Der Name zeigt, daß er einen Gegenstand bezeichnet, das Zahlenzeichen, daß es eine Zahl bezeichnet etc.) 4.12721 Der formale Begriff ist mit einem Gegenstand, der unter ihn f›llt, bereits gegeben. Man kann also nicht Gegenst›nde eines formalen Begriffs und den formalen Begriff selbst als Grundbegriffe einf¹hren. Man kann also z. B. nicht den Begriff der Funktion, und auch spezielle Funktionen (wie Russell) als Grundbegriffe einf¹hren; oder den Begriff der Zahl und bestimmte Zahlen. Wittgenstein vertritt - mit Bezug auf Ockhams »Messer« (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 2) die Auffassung, daß unnÙtige, d. h. ÜberflÜssige Zeichen bedeutungslos sind: 5.47321 Occams Devise ist nat¹rlich keine willk¹rliche, oder durch ihren praktischen Erfolg gerechtfertigte Regel: Sie besagt, daß unn³tige Zeicheneinheiten nichts bedeuten. [...]

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Solche formalen Begriffe sind also nicht nur ÜberflÜssig, sondern bedeutungslos. Was bei Frege und Russell als »formale Begriffe« gesucht wurde, ergibt einen circulus vitiosus (vgl. 4.1273). Wird z. B. »Begriff« durch »Funktion« definiert, so kann der Begriff »Funktion« wieder nur durch »Funktion« definiert werden, was ein zirkulÇres Verfahren darstellt. 4.126

[...] Die formalen Begriffe k³nnen ja nicht, wie die eigentlichen Begriffe, durch eine Funktion dargestellt werden. Denn ihre Merkmale, die formalen Eigenschaften, werden nicht durch Funktionen ausgedr¹ckt.

Die Verwechslung der formalen Begriffe mit eigentlichen Begriffen ist ein Fehler, von dem Wittgenstein feststellt, daß er nicht nur Freges und Russells Logik, sondern die gesamte frÜhere Logik betrifft. Worum es bei diesen formalen Begriffen geht, ist, das »allgemeine Glied einer Formenreihe« zu bestimmen, dies aber lÇßt sich ohne formale Begriffe durchfÜhren. 4.1273

[...] Wir k³nnen das allgemeine Glied der Formenreihe bestimmen, indem wir ihr erstes Glied angeben und die allgemeine Form der Operation, welche das folgende Glied aus dem vorhergehenden Satz erzeugt.

Durch dieses Verfahren benÙtigt Wittgenstein auch nicht stÇndig Begriffe hÙherer Ordnung, muß also nicht stÇndig Metasprachen einfÜhren, was wiederum zu einem regressus in infinitum fÜhren mÜßte. Das Logische ist also nicht etwas, das in SÇtzen ausgesprochen werden kÙnnte, sondern das sich in diesen SÇtzen selbst

Sagen und Zeigen

»zeigt«. Es ist deshalb zu vermuten, daß das Verstehen, auf das es Wittgenstein ankommt, nicht in der Logik selbst, sondern in seiner Auffassung von der Logik liegt. Diese Auffassung ist bei Wittgenstein durch die GegenÜberstellung von »Sagen« und »Zeigen« charakterisiert. Daß damit gleichzeitig das zentrale philosophische Anliegen Wittgensteins erfaßt ist, geht aus einer Feststellung hervor, die er in einem Brief an Russell Über seinen Tractatus macht: Die Hauptsache ist die Theorie ¹ber das, was durch S›tze - d. h. durch Sprache gesagt (und, was auf dasselbe hinausl›uft, gedacht) und was nicht durch S›tze ausgedr¹ckt, sondern nur gezeigt werden kann. Dies ist, glaube ich, das Hauptproblem der Philosophie. (Briefwechsel. S. 88) Als Hilfe zum VerstÇndnis des Unterschiedes von Sagen und Sich-Zeigen sei nochmals auf die schon frÜher (vgl. Kap. XV, 5) angefÜhrte Analogie aus dem Bereich der Musik verwiesen: Eine Sonate oder ein Menuett kann gespielt und gehÙrt werden das entspricht dem Sagen -, wogegen die Sonatenform oder die Menuettform weder gespielt noch gehÙrt werden kann, sondern nur in einem konkreten MusikstÜck zum Ausdruck kommen kann - und dies entspricht dem Sich-Zeigen. Ebenso kann man nur im  Takt spielen, man kann aber keinen  Takt als solchen spielen. Im Bereich der Musik ist dies klar. Wittgenstein sah aber klar, daß dies im Bereich der Sprache wesentlich weniger klar ist, da man mit der Sprache - im Unterschied zur Musik auch Über die Sprache selbst sprechen kann, und genau an diesem Punkt beginnen die MißverstÇndnisse, da dann oft nicht mehr klar unterschieden wird, was in der Sprache gesagt werden kann, und was nur durch die Sprache gezeigt werden kann. Damit ein Satz etwas sagt, muß er wahr oder falsch sein kÙnnen. Wittgenstein geht dabei von ElementarsÇtzen aus: 4.25

Ist der Elementarsatz wahr, so besteht der Sachverhalt; ist der Elementarsatz falsch, so besteht der Sachverhalt nicht.

4.26

Die Angabe aller wahren Elementars›tze beschreibt die Welt vollst›ndig. Die Welt ist vollst›ndig beschrieben durch die Angabe aller Elementars›tze plus der Angabe, welche von ihnen wahr und welche falsch sind.

ZunÇchst einmal geht es aber um den Sinn eines Satzes, in dem die Frage von wahr oder falsch als tatsÇchliche ¾bereinstimmung mit der Wirklichkeit noch nicht einbezogen ist. 4.2

Der Sinn des Satzes ist seine •bereinstimmung und Nicht¹bereinstimmung mit den M³glichkeiten des Bestehens und Nichtbestehens der Sachverhalte.

551

Ludwig Wittgenstein

Entscheidend ist hier nur die M³glichkeit des Bestehens der Sachverhalte. 4.022

Der Satz zeigt seinen Sinn. Der Satz zeigt, wie es sich verh›lt, wenn er wahr ist.

Der Anordnung der Zeichen in einem Satz entspricht eine Sachlage (vgl. 3.21). Nichtsdestoweniger bleiben wir auch hier auf einer rein sprachlich-logischen Ebene: 3.1432

Nicht: »Das komplexe Zeichen ›aRb‹ sagt, daß a in der Beziehung R zu b steht«, sondern: Daß »a« in einer gewissen Beziehung zu »b« steht, sagt, daß aRb.

Ein Elementarsatz besteht nur aus einer Verkettung von Namen (vgl. 4.22). Um dies zu erlÇutern, verweist Wittgenstein auf die Hieroglyphenschrift und stellt dazu fest, daß aus ihr die Buchstabenschrift wurde, ohne daß das Wesentliche der Abbildung dabei verloren ging: die Abbildung der Tatsachen, die sie beschreibt (vgl. 4.016). Was damit gemeint ist, erklÇrt Wittgenstein in folgender Weise:

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Wenn in diesem Bild der rechte Mann den Menschen A vorstellt, und bezeichnet der linke den Menschen B, so k³nnte etwa das ganze aussagen »A ficht mit B«. Der Satz in Bilderschrift kann wahr oder falsch sein. Er hat seinen Sinn unabh›ngig von seiner Wahr- oder Falschheit. An ihm muß sich alles Wesentliche demonstrieren lassen. Man kann sagen, wir haben zwar nicht die Gewißheit, daß wir alle Sachverhalte in Bildern aufs Papier bringen k³nnen, wohl aber die Gewißheit, daß wir alle logischen Eigenschaften der Sachverhalte in einer zweidimensionalen Schrift abbilden k³nnen. (Tageb¹cher. S. 95) Dem »R« der logischen Analyse des Satzes entspricht also in diesem Beispiel der Ausdruck »ficht mit«. Der Satz zeigt also eine Sachlage, einen Sachverhalt, und nach Wittgenstein verstehen wir diesen Sinn des Satzzeichens, ohne daß er uns erklÇrt wurde (vgl. 4.02 und 4.021). Damit ist jedoch nur eine mÙgliche Sachlage im logischen Raum dargestellt (vgl. 2.202, 2.203 und 2.22). Der Satz zeigt aber nicht nur etwas, sondern sagt auch etwas: 4.022

Und er sagt, daß es sich so verh›lt.

Damit ist gegeben, daß der Satz wahr oder falsch sein muß (vgl. 2.222). 2.221

Was das Bild darstellt, ist sein Sinn.

Sagen und Zeigen

2.222

In der •bereinstimmung oder Nicht¹bereinstimmung seines Sinnes mit der Wirklichkeit besteht seine Wahrheit oder Falschheit.

Einzig ein Satz, der wahr oder falsch sein kann. Stellt die Beschreibung eines Sachverhalts der Welt dar. 4.023

Die Wirklichkeit muß durch den Satz auf ja oder nein fixiert sein. Dazu muß sie durch ihn vollst›ndig beschrieben werden. Der Satz ist die Beschreibung eines Sachverhalts.

Darin kommt zum Ausdruck, daß der Satz ein Bild, ein Modell der Wirklichkeit ist, wie wir sie uns denken (vgl. 4.01). Es ist nicht Wittgensteins Absicht im Tractatus, die erkenntnistheoretische Frage zu beantworten, wie die Wahrheit oder Falschheit eines Satzes festgestellt werden kann. Wittgenstein bleibt auch hier bei einer rein logischen Analyse, d. h. um eine Darstellung einer Sachlage im logischen, nicht im empirischen Raum. Es gehÙrt aber zur vollstÇndigen logischen Analyse des Satzes, daß seine MÙglichkeitsbedingungen der Wahrheit und Falschheit dargestellt werden. Daß ein Satz wahr oder falsch sein muß, wird symbolisch als »(W F) p« dargestellt (vgl. 4.31). Die ElementarsÇtze sind die Wahrheitsfunktion ihrer selbst (vgl. 5), alle weiteren SÇtze sind Resultate von Wahrheitsoperationen mit den ElementarsÇtzen (vgl. 5.3). Bei den weiteren SÇtzen wird mit den bekannten logischen Junktoren gearbeitet, die SÇtze verbinden, also vor allem »und«, »oder«, »wenn ... dann«. SÇtze, die etwas sagen, mÜssen immer wahr oder falsch sein kÙnnen. Auch dies lÇßt sich wieder in den bekannten Tabellen darstellen (vgl. Kap. XXV, 1) oder linear, z. B. fÜr »wenn ... dann« auf folgende Weise: »(W F W W) (p, q)«, d. h. »wenn p, dann q« ist nur dann falsch, wenn p wahr, q aber falsch ist (vgl. 5.101). HÇtten wir alle ElementarsÇtze zur VerfÜgung und wÜßten wir von allen, ob sie wahr oder falsch sind, und wÜßten wir auch von allen logischen Verbindungen derselben, ob sie wahr oder falsch sind, hÇtten wir ein vollstÇndiges Abbild der Welt. 4.51

Angenommen, mir w›ren alle Elementars›tze gegeben: Dann l›ßt sich einfach fragen: welche S›tze kann ich aus ihnen bilden. Und das sind alle S›tze und so sind sie begrenzt.

Wir werden hier an das Leibniz-Programm erinnert, nur daß Leibniz von Begriffen ausgeht (vgl. Kap. XI, 2) und Wittgenstein von SÇtzen. Bisher hatten wir es immer mit SÇtzen zu tun, die wahr oder falsch sein kÙnnen, und diese SÇtze sagen etwas. Eine vÙllig andere Situation liegt dort vor, wo eine Verbindung von zwei oder mehreren SÇtzen immer wahr oder immer falsch ist. Im ersten Fall liegt eine Tautologie vor, im zweiten eine Kontradiktion (vgl. 4.46). In diesen FÇllen ist ein Vergleich mit der Wirklichkeit weder erforderlich noch auch nur mÙglich.

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Ludwig Wittgenstein

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4.462

Tautologie und Kontradiktion sind nicht Bilder der Wirklichkeit. Sie stellen keine m³gliche Sachlage dar. Denn jene l›ßt jede m³gliche Sachlage zu, diese keine. [...]

4.463

[...] Die Tautologie l›ßt der Wirklichkeit den ganzen - unendlichen - logischen Raum; die Kontradiktion erf¹llt den ganzen logischen Raum und l›ßt der Wirklichkeit keinen Punkt. Keine von beiden kann daher die Wirklichkeit irgendwie bestimmen.

In solchen FÇllen brauche ich nur die Zeichen selbst anzusehen, um zu erfassen, daß die Verbindung immer wahr oder immer falsch ist. Nehme ich einen Satz wie z. B. »Es schneit oder es schneit nicht«, d. h. »p  p«, so zeigt mir der Zeichengebrauch, daß er immer wahr ist, der Blick aus dem Fenster ist fÜr die Erkenntnis der Wahrheit vÙllig irrelevant. Ebenso zeigt mir bei dem Satz »Es schneit und es schneit nicht«, d. h. »p  p«, der Zeichengebrauch, daß er - ohne Blick aus dem Fenster - immer falsch ist. Da »Sinn« bei Wittgenstein auf die ¾bereinstimmung oder Nicht-¾bereinstimmung eines Satzes mit der Wirklichkeit bezogen ist, und nur solche SÇtze etwas sagen, sind Tautologie und Kontradiktion sinnlos (vgl. 4.461). Es muß allerdings genau zwischen »sinnlos« und »unsinnig« unterschieden werden: 4.4611

Tautologie und Kontradiktion sind aber nicht unsinnig; sie geh³ren zum Symbolismus, und zwar ›hnlich wie die »0« zum Symbolismus der Arithmetik.

Tautologie und Kontradiktion zeigen an ihrem Zeichengebrauch, daß sie nichts sagen und nichts sagen kÙnnen, und dies selbst kann nicht gesagt werden: 4.1212

Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden.

Und da alle SÇtze der Logik Tautologien sind, sagen alle SÇtze der Logik dasselbe, nÇmlich nichts (vgl. 5.43). Beweise in der Logik dienen ausschließlich als mechanische Hilfsmittel zum Erkennen der Tautologie (vgl. 6.1263). SÇtze Über die Logik, also etwa eine metalogische BegrÜndung der Logik, sind somit ScheinsÇtze. Nach Wittgenstein muß die Logik fÜr sich selbst sorgen (vgl. 5.473).

3. Alle Philosophie ist Sprachkritik Die ¾berschrift des Abschnitts stammt aus dem Tractatus (4.0031). Man kÙnnte nun meinen, daß damit Wittgensteins Auffassung von der Aufgabe der Philosophie doch jener Freges ziemlich nahesteht. Dies ist aber nicht der Fall, da bei Wittgenstein eine grundlegend andere Auffassung von Sprache und damit auch von Sprachkritik vorliegt. Frege wie Russell meinten, daß wir durch die natÜrliche Sprache manchmal

Alle Philosophie ist Sprachkritik

irregefÜhrt wÜrden, so daß es also darauf ankÇme, durch die logische Analyse der SÇtze und eine kÜnstliche Sprache diese Fehler zu korrigieren. Dies ist auch die Auffassung vieler Vertreter der analytischen Philosophie des 20. Jhd.s, so etwa die von Rudolf Carnap (1891–1970). Wittgenstein hingegen ist der Auffassung, daß die Sprache durchaus gut funktioniert, daß aber unser Gebrauch und vor allem unser logisches VerstÇndnis der Sprache manchmal nicht korrekt sind. Daraus ergeben sich auch die meisten Probleme der Philosophie, in der hÇufig ScheinsÇtze, also unsinnige SÇtze, verwendet werden. 4.003

Die meisten S›tze und Fragen, welche ¹ber philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Wir k³nnen daher Fragen dieser Art ¹berhaupt nicht beantworten, sondern nur ihre Unsinnigkeit feststellen. Die meisten Fragen und S›tze der Philosophen beruhen darauf, daß wir unsere Sprachlogik nicht verstehen. (Sie sind von der Art der Frage, ob das Gute mehr oder weniger identisch sei als das Sch³ne.) Und es ist nicht verwunderlich, daß die tiefsten Probleme eigentlich keine Probleme sind. 555

Eine ganz zentrale Frage des logisch korrekten Gebrauchs der Sprache wurde schon mit der Unterscheidung von Sagen und Zeigen besprochen. Aus dieser Unterscheidung ergibt sich die Forderung: Es darf nur das gesagt werden, was gesagt werden kann. Das klingt banal, ist es aber nicht. 6.53

Die richtige Methode der Philosophie w›re eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen l›ßt, also S›tze der Naturwissenschaft - also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat -, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen S›tzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode w›re f¹r den anderen unbefriedigend - er h›tte nicht das Gef¹hl, daß wir ihn Philosophie lehrten - aber sie w›re die einzig streng richtige.

Wittgenstein formuliert hier genau jenes Problem, das weiter oben (Kap. XIV, 1) durch den Doppelstrich angedeutet worden ist: Wer von Hegel, Kierkegaard, Schopenhauer, aber auch vom Metaphysikkritiker Nietzsche herkommt, muß die Methode Wittgensteins fÜr unbefriedigend halten, »er hÇtte nicht das GefÜhl, daß wir ihn Philosophie lehrten«: Der Philosophiebegriff ist Çquivok geworden. - Es nÜtzt jetzt gar nicht viel, darauf hinzuweisen, daß Wittgenstein selbst doch im Tractatus nicht nur SÇtze der Naturwissenschaft sagt. Er bringt eine große Menge von SÇtzen vor, die seiner eigenen Auffassung nach unsinnig sind. Daraus aber schließen zu wollen, daß er doch wieder Metaphysik betreibt, wÇre eine Fehlein-

Ludwig Wittgenstein

schÇtzung. Wittgenstein teilt uns selbst mit, wie wir mit seinen unsinnigen SÇtzen umgehen sollen: 6.54

Meine S›tze erl›utern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - ¹ber sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese S›tze ¹berwinden, dann sieht er die Welt richtig.

Damit ist aber nicht gemeint, daß mit Wittgensteins Tractatus die Philosophie am Ende sei. Dies gilt ja schon fÜr Wittgenstein selbst nicht. Auf seine eigene spÇtere Philosophie wollen wir aber nicht mehr eingehen. Aber auch mit dem im Tractatus zur Sprache gebrachten, eigentlich: in ihm »gezeigten«, Programm ist die sprachlogische KlÇrung unserer SÇtze nicht schon abgeschlossen, denn SÇtze ohne Bedeutung kÙnnen immer wieder auftreten. Die Abgrenzung des Denkbaren vom Undenkbaren ist nicht schon definitiv abgeschlossen. Somit bleibt fÜr die Philosophie weiterhin die Aufgabe, das »bestreitbare Gebiet« zu begrenzen: 556

4.113

Die Philosophie begrenzt das bestreitbare Gebiet der Naturwissenschaft.

4.114

Sie soll das Denkbare abgrenzen und damit das Undenkbare. Sie soll das Undenkbare von innen durch das Denkbare begrenzen.

4.115

Sie wird das Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt.

4.116

Alles was ¹berhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles was sich aussprechen l›ßt, l›ßt sich klar aussprechen.

Da sich ja die Naturwissenschaft weiter entwickelt, muß auch die Grenze immer wieder von neuem festgelegt werden. Es kommt allerdings darauf an, diese Grenze »von innen« her festzulegen. Es gilt somit, jenen logischen Fehler zu vermeiden, den die Deutschen Idealisten geradezu zum Angelpunkt ihrer transzendentalen Argumentation gemacht hatten, nÇmlich: Das Wissen um eine Grenze bedeutet immer schon, Über die Grenze hinaus zu sein. Nach Wittgenstein hingegen rennen wir zwar immer wieder von innen her gegen diese Grenze an (vgl. weiter unten 4), jede Behauptung jedoch, Über diese Grenze hinauszugelangen, liefert nur ScheinsÇtze, deren Unsinnigkeit nachgewiesen werden muß. Wir dÜrfen nicht vergessen, daß ein ganz entscheidender Anstoß zur Entwicklung der Analytischen Philosophie George Edward Moores (1873–1958) Artikel Die Widerlegung des Idealismus (The Refutation of Idealism) aus dem Jahre 1903 gewesen ist. Und es war Moore selbst, der seinen Cambridger Kollegen Russell aufforderte, in derselben Richtung zu arbeiten. Dies war der Ausgangspunkt der Analytischen Philosophie, auch wenn sich Moore und Russell in ihrer Auffassung von der Tragweite der logischen Analyse der Sprache

Sagen und das Unsagbare

unterschieden. Wittgenstein kannte die Auffassung beider, und er kannte ebenso die vor allem auf Russells Analyse beruhende Auffassung der Mitglieder des Wiener Kreises. Wittgenstein unterscheidet sich aber nicht nur in seiner Auffassung von der Sprache und deren logischer Analyse von den meisten Vertretern der Analytischen Philosophie, sondern auch, insofern er nicht meint, daß mit der Feststellung der Sinnlosigkeit der SÇtze etwa von Schopenhauer und Kierkegaard die Sache schon erledigt wÇre.

4. Sagen und das Unsagbare Wittgensteins Tractatus gehÙrt in den weiter oben angedeuteten Umkreis des Strebens nach streng verantwortbaren Formen, und auch mit dem Tractatus wird versucht, einer Schlamperei des Denkens zu begegnen. Es geht in ihm um die Abgrenzung von SÇtzen der Wissenschaft und dem, was mit SÇtzen der Wissenschaft nicht gesagt werden kann. Dazu zieht Wittgenstein u. a. die formalen Systeme der Aussagen- und PrÇdikatenlogik von Frege und Russell heran. Wittgenstein hatte Frege in Jena besucht, und dieser hatte ihm empfohlen, zu Russell nach Cambridge zum Studium zu gehen. TatsÇchlich ging Wittgenstein 1912 nach Cambridge und gehÙrte dort rasch zu dem engeren Kreis um Russell und Moore. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs kehrte Wittgenstein aber nach ²sterreich zurÜck und wurde Freiwilliger im Heer. Er war zunÇchst an der Ostfront eingesetzt und geriet dann gegen Kriegsende in Italien in Gefangenschaft. WÇhrend dieser Kriegszeit entstand der Tractatus. Im Tractatus geht Wittgenstein ohne Zweifel von der Logik Freges und Russells aus. Die Frage ist nur, und hier beginnt die Interpretationsdiskussion, zu welchem Zweck er diese Logik gebrauchte. TatsÇchlich gebrauchte er sie ja nicht nur, sondern setzte sich mit ihr auseinander und gelangte auch zu durchaus eigenen Auffassungen. War es nun seine Absicht, Freges und Russells Logik und Wissenschaftsauffassung weiterzuentwickeln, oder ergab sich dies nur, beinahe mÙchte man sagen: so ganz »nebenbei«, aus anderen, Übergeordneten Interessen? Ich mache, um hier einer Antwort etwas nÇherzukommen, einen kleinen Umweg. Wittgenstein hatte nach der Abfassung des Tractatus zunÇchst die BeschÇftigung mit der Philosophie aufgegeben. Er war der im Tractatus dokumentierten Auffassung gewesen, die Fragen der Philosophie im Prinzip endgÜltig gelÙst zu haben. Er wurde zunÇchst Volksschullehrer, dann GÇrtner in einem Kloster. Den grÙßten Teil seines ererbten VermÙgens hatte er Über Ludwig von Ficker an notleidende KÜnstler und Schriftsteller weitergeben lassen. Dann beschÇftigte er sich mit dem schon erwÇhnten Hausbau, bei dem allerdings Engelmann die Hauptarbeit leistete (die Bezeichnung »Wittgensteinhaus« ist also nur sehr eingeschrÇnkt berechtigt). Andere aber lasen den Tractatus sehr aufmerksam. Moritz Schlick, seit 1922 Professor der Philosophie in Wien, war vom Tractatus Çußerst beeindruckt und wÜnschte schon

557

Ludwig Wittgenstein

1924, mit Wittgenstein in Kontakt zu treten. Schlick gilt als BegrÜnder des Wiener Kreises, war allerdings selbst nicht ²sterreicher, sondern Deutscher. 1927 trafen sich Schlick und Wittgenstein auch tatsÇchlich. Seinem Co-Architekten Paul Engelmann berichtete er darÜber: »Wir haben uns gegenseitig fÜr verrÜckt gehalten« (Wittgenstein und der Wiener Kreis. S. 15). Es kam dann aber doch zu GesprÇchen mit Schlick und anderen Mitgliedern des Wiener Kreises, zu denen u.a. Herbert Feigl (1902– 1988), Rudolf Carnap und Friedrich Waismann (1896–1959) gehÙrten. Es handelte sich dabei aber nicht um jene fast geheimbundartigen ZusammenkÜnfte, die spÇter offiziell als die des Wiener Kreises in die Geschichte eingegangen sind. Außer den Mitgliedern gab es gelegentlich auch andere Teilnehmer. Die Nachrichten Über diese GesprÇche gehen auf Aufzeichnungen von Waismann zurÜck. Wittgenstein, sehr besch›ftigt mit anderen Dingen und besonders mit seiner Architektur, war nicht immer bereit, ¹ber Philosophie zu sprechen. Manchmal zog er es vor, Gedichte vorzulesen - besonders die von Rabindranath Tagore - f¹r gew³hnlich den Zuh³rern den R¹cken kehrend. Dennoch gab es viele Gelegenheiten, bei denen er Bemerkungen oder weitl›ufige Auslegungen seiner Ansichten machte, die man aufkl›rend und anregend fand. (Ebd. S. 15) 558

Was Wittgenstein mit dieser Lese- und Vortragshaltung zum Ausdruck bringen wollte, sagt er vielleicht in einem Brief an Norman Malcolm (1911–1990), in dem er mÙglicherweise seine eigene Darstellungsform interpretiert: Weißt du, wenn Tolstoi einfach eine Geschichte erz›hlt, macht er auf mich unendlich mehr Eindruck, als wenn er sich an den Leser wendet. Wenn er dem Leser den R¹cken kehrt, scheint er mit am allerausdrucksvollsten. [...] Seine Philosophie scheint mir durchaus wahr, wenn sie in der Erz›hlung verborgen ist. (Malcolm: Erinnerungen an Wittgenstein. S. 157) Wittgenstein, der seinen ZuhÙrern den RÜcken zukehrt, erinnert uns an SchÙnberg, der auch Maler war, und der sich einmal in einem SelbstportrÇt von hinten portrÇtierte, also auch dem Betrachter den RÜcken zukehrt (vgl. A. Berg u.a.: Arnold SchÙnberg. S. 58, oder Kandinsky/Marc: Der blaue Reiter. S. 158). Wittgenstein wollte etwas zeigen, was er nicht sagen konnte. Er war offensichtlich nicht oft bereit, Über philosophische Fragen zu sprechen. Die Mitglieder des Wiener Kreises wollten aber die GesprÇche doch fortsetzen. Schlick bringt in einem Brief seinen Wunsch zum Ausdruck, die ZusammenkÜnfte fortzusetzen und fÜgt hinzu: »Daß dabei von Wissenschaft nicht die Rede sein soll, will ich gerne versprechen.« (Wittgenstein und der Wiener Kreis. S. 16) Wir kÙnnen aus dem Verhalten Wittgensteins gegenÜber einem Kreis von Wissenschaftlern, die an seinem Tractatus hÙchst interessiert waren, entnehmen, daß Wittgenstein mit seinem berÜhmt gewordenen Satz:

Sagen und das Unsagbare

6.52

Wir f¹hlen, daß selbst, wenn alle m³glichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht ber¹hrt sind. [...]

nicht ein Bonmot im Anhang zu den Fragen der Logik und der Wissenschaft formulierte, sondern etwas zum Ausdruck bringen wollte, was tatsÇchlich sein Leben in den Jahren wÇhrend und nach der Abfassung des Tractatus bestimmte. Er sah aber auch die beinahe unÜberwindlichen Schwierigkeiten, Über solche Probleme zu sprechen, besonders mit den Mitgliedern des Wiener Kreises (seinem Freund Engelmann gegenÜber war er da in seinen Briefen viel aufgeschlossener). Bei Wittgenstein wÇre es wahrscheinlich auch nicht richtig zu sagen, die Biographie sei rein Çußerlich und habe mit dem Werk nichts zu tun. Die Biographie dÜrfte doch einen Hinweis auf genau dieses Werk geben, nÇmlich, daß die abschließenden Punkte des Tractatus fÜr Wittgenstein alles andere als persÙnliche, die Auffassung von Wissenschaft nicht berÜhrende Punkte darstellen. Ein Mann wie Schlick, dessen große wissenschaftliche und kulturelle Bildung außer Diskussion steht, was auch Wittgenstein anerkannte, hatte erfaßt, daß Wittgenstein damals nur sehr ungern Über Wissenschaftslogik und Çhnliche Fragen sprach, und er sicherte ihm deshalb, um den GesprÇchsfaden nicht abreißen zu lassen, zu, daß Über Wissenschaft Überhaupt nicht gesprochen werden wÜrde. Die Art der Fragen, die besprochen werden konnten, lÇßt sich aus einer spÇteren Aufzeichnung Waismanns Über ein GesprÇch mit Wittgenstein entnehmen, das sich auf Schlicks Buch Fragen der Ethik bezieht. Diese Aufzeichnung liefert uns auch gleichzeitig einen interessanten Hinweis auf den Hintergrund des Denkens von Wittgenstein, der diesem selbst - er war an Fragen der Geschichte der Philosophie verhÇltnismÇßig wenig interessiert und Über diese auch nicht besonders gut informiert - vermutlich kaum bewußt war: Schlick sagt, es gab in der theologischen Ethik zwei Auffassungen vom Wesen des Guten: nach der flacheren Deutung ist das Gute deshalb gut, weil Gott es will; nach der tieferen Deutung will Gott das Gute deshalb, weil es gut ist. Ich meine, daß die erste Auffassung die tiefere ist: gut ist, was Gott befiehlt. Denn sie schneidet den Weg einer jeden Erkl›rung, »warum« es gut ist, ab, w›hrend gerade die zweite Auffassung die flache, die rationalistische ist, die so tut, »als ob« das, was gut ist, noch begr¹ndet werden k³nnte. Die erste Auffassung sagt klar, daß das Wesen des Guten nichts mit den Tatsachen zu tun hat und daher durch keinen Satz erkl›rt werden kann. Wenn es einen Satz gibt, der gerade das ausdr¹ckt, was ich meine, so ist es der Satz: Gut ist, was Gott befiehlt. (Wittgenstein und der Wiener Kreis. S. 115) Es ist klar, daß Wittgenstein hier keine theologischen Aussagen machen will, sondern nur an Hand von theologischen Auffassungen erlÇutern will, wie er Ethik ver-

559

Ludwig Wittgenstein

steht. Es ist aber aufschlußreich, daß er ganz genau jene Auffassung vertritt, die von Duns Scotus, Ockham und den spÇteren Nominalisten des 14. Jhd.s verteidigt wurde (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 5). Die strenge Trennung von Tatsachen und Werten hat dort ihren Ausgangspunkt, und Wittgenstein zieht nur die letzte Konsequenz dieser Auffassung. Dort war die Welt zu einer reinen Ansammlung kontingenter Tatsachen geworden. Auch fÜr Wittgenstein ist alles So-Sein zufÇllig, und in dieser Welt reiner Tatsachen gibt es keinen Wert. Wittgenstein sagt alles dies ausdrÜcklich in seinem Tractatus:

560

6.41

Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles wie es ist und geschieht alles wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert - und wenn es ihn g›be, so h›tte er keinen Wert. Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muß er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen. Denn alles Geschehen und So-Sein ist zuf›llig. Was es nicht-zuf›llig macht, kann nicht in der Welt liegen, denn sonst w›re dies wieder zuf›llig. Es muß außerhalb der Welt liegen.

6.432

Wie die Welt ist, ist f¹r das H³here vollkommen gleichg¹ltig. Gott offenbart sich nicht in der Welt.

Im 14. Jhd. war bei radikalen Vertretern der ockhamschen Philosophie, zum großen Entsetzen ihrer Gegner, in konsequenter Fortsetzung dieser Kontingenz-Auffassung auch die Geltung des KausalitÇtsprinzips als metaphysisches Gesetz geleugnet worden (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 2, b). Auch dies finden wir bei Wittgenstein wieder: 6.36311 Daß die Sonne morgen aufgehen wird, ist eine Hypothese; und das heißt: wir wissen nicht, ob sie aufgehen wird. 6.37

Einen Zwang, nach dem Eines geschehen m¹ßte, weil etwas anderes geschehen ist, gibt es nicht. Es gibt nur eine logische Notwendigkeit.

6.371

Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die T›uschung zugrunde, daß die sogenannten Naturgesetze die Erkl›rungen der Naturerscheinungen seien.

Dies ist eine rein nominalistische Welt. Gott schafft die Tatsache A und die Tatsache B, und wenn sich das wiederholt, meinen wir, das mÜsse so sein. Die Nominalisten nahmen aber an, daß Gott sehr wohl die Tatsache A nochmals schaffen kÙnnte, und dann die Welt untergehen lassen kÙnnte, so daß also keine Tatsache B mehr folgt. Einen inneren, notwendigen Zusammenhang zwischen A und B gibt es nicht, es gibt nur die Tatsachen A und B. Dies ist auch die Welt Wittgensteins:

Sagen und das Unsagbare

1 1.1

Die Welt ist alles, was der Fall ist. Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen [...].

Die Folge von Tatsachen liefert keine ErklÇrung derselben, eine solche ErklÇrung in den »sogenannten Naturgesetzen« anzunehmen ist nur eine TÇuschung. Wittgenstein wußte, daß hinter dieser TÇuschung ein Glaube steckt, so wie frÜher der an Gott oder an das Schicksal (vgl. 6.372). Alles dies hat aber mit den Lebensproblemen nichts zu tun. Denn bei allen diesen ErklÇrungen geht es immer nur um das »wie« der Welt, wÇhrend fÜr Wittgenstein das »daß« der Welt das Mystische ist (vgl. 6.44). Wittgenstein vermutete, daß irgendein Zusammenhang zwischen dem Dasein der Welt und dem Ethischen besteht (Wittgenstein und der Wiener Kreis. S. 118). Leider hat er sich zu diesem Überlegenswerten Gedanken nur andeutungsweise geÇußert. Bei beidem geht es nach Wittgenstein um etwas »HÙheres«. - Wir kÙnnen versuchsweise fragen, wie Wittgenstein dieses »HÙhere« suchte, von dem er sich die LÙsung des Problems des Lebens erhoffte, obwohl er sagt: 6.521

Die L³sung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. (Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langem Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand.)

Wittgenstein zog sich mehrmals fÜr lÇngere Zeit von der Welt, deren »wie« fÜr das »HÙhere« vollkommen gleichgÜltig ist, zurÜck, und fÜhrte ein vÙllig weltabgewandtes, geradezu eremitenhaftes Leben. Nach seinen Studien bei Russell sonderte sich Wittgenstein in einer einsamen selbstgebauten HolzhÜtte in Norwegen von der Welt ab, wo er bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs blieb. Wittgenstein scheint erst 1928 wieder mehr Interesse an der Philosophie gewonnen zu haben. Der jedenfalls Çußere Anlaß war ein Vortrag Jan Brouwers (1881–1966), des BegrÜnders der intuitionistischen Mathematik. 1929 ging Wittgenstein nach Cambridge und legte dort seinen inzwischen schon berÜhmt gewordenen Tractatus als Dissertation vor und wurde 1930 Fellow am Trinity College in Cambridge. 1936 unterbrach er seine LehrtÇtigkeit und ging fÜr ein Jahr wiederum in die Einsamkeit nach Norwegen. Dann nahm er seine LehrtÇtigkeit in Cambridge wieder auf, gab aber 1947 seine Professur auf und ging nach Irland, wo er wiederum in vÙlliger Einsamkeit lebte. Manche Biographen fÜhren diesen Hang zum RÜckzug aus der Welt einfach auf die besondere PersÙnlichkeit Wittgensteins (oder auf dessen HomosexualitÇt) zurÜck, ohne sich zu fragen, ob dies vielleicht etwas mit der Ethik und den Lebensproblemen zu tun hat, von denen Wittgenstein ausdrÜcklich im Tractatus spricht. - Wittgenstein stand unter dem Eindruck einer zerfallenden Welt (vgl. weiter oben 1). Vom Wissenschaftsund Fortschrittsoptimismus der Vertreter des Wiener Kreises, die in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hofften, nach dem Zusammenbruch der alten Welt die neue

561

Ludwig Wittgenstein

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Welt nun rational verstehen und ordnen zu kÙnnen, trennte ihn ein unÜberbrÜckbarer Abgrund. Es kommt nicht von ungefÇhr, daß Wittgenstein in dem zu Beginn angefÜhrten Zitat der Autoren, die fÜr ihn Bedeutung gehabt haben, auch Schopenhauer, auf den er sich auch an anderen Stellen bezieht, nennt. Schopenhauers Auffassung nach ist es eine reine Illusion, in der Welt einen Sinn finden zu wollen. Schopenhauer war der Meinung, daß die einzige MÙglichkeit, fÜr kurze Momente von dem unsinnigen Streben des Individuums, sich in dieser Welt zu behaupten, frei zu werden, die Erfahrung der Musik sei: reines, subjektfreies Wohlgefallen (vgl. Kap. XXIII, 3). In den Vermischten Bemerkungen kommt Wittgenstein immer wieder auf die Musik zu sprechen. Mit seinem Freund Moore, dessen Nachfolger als Professor der Philosophie in Cambridge Wittgenstein 1939 wurde, sprach er auch Über Musik (Moore war selbst ein ganz guter Pianist), und die beiden stimmten z. B. in dem sicheren Urteil Über den außerordentlichen Rang von Schuberts Quintett op. 163 Überein (vgl. Briefwechsel. S. 221). Wir wissen auch von Wittgenstein, daß er Ùfter mit umfangreichen Partituren zu einem Kollegen ging, um sich StÜcke auf dem Klavier vorspielen zu lassen. FÜr Wittgenstein hatte die Musik eine sehr große, bei den Wittgenstein-Interpreten vermutlich noch nicht wirklich genÜgend ernstgenommene Bedeutung. In einem GesprÇch Über seine Philosophischen Untersuchungen sagte er: Ich finde es unm³glich, in meinem Buch auch nur ein einziges Wort zu sagen ¹ber alles das, was die Musik f¹r mich in meinem Leben bedeutet hat. Wie kann ich dann darauf hoffen, daß man mich versteht? (Drury: Gespr›che mit Wittgenstein. S. 220) Die Musik spielte fÜr Wittgenstein eine große Rolle. Konnte das »Unsagbare« vielleicht zwar nicht gesagt, wohl aber in TÙne gesetzt und gehÙrt werden? - Wir mÜssen aber noch etwas Weiteres heranziehen. Wittgenstein hat sich nachweisbar mit zwei Autoren beschÇftigt, die im Wien der ersten Jahrzehnte des 20. Jhd.s viel gelesen wurden: Kierkegaard und Tolstoi. Dies sind Namen, von denen wir eigentlich nicht erwarten, ihnen im Zusammenhang mit Wittgenstein zu begegnen. Kierkegaard wurde zu dieser Zeit in ²sterreich, ausgehend von dem Kreis der Autoren, die sich um die Innsbrucker Zeitschrift Der Brenner versammelt hatten, bekannt (Wittgenstein hielt allerdings den Brenner als eine christliche Zeitschrift fÜr Unsinn; vgl. Briefwechsel. S. 120). Kierkegaard vertrat die Auffassung, daß die Fragen des Lebens prinzipiell nicht beantwortbar sind, sie kÙnnen von dieser Welt aus Überhaupt nicht gestellt werden. Kierkegaard setzte hier das Paradox ein, das nur in einem Sprung erreicht werden kann (vgl. Kap. XXI, 3 und 4). Wittgenstein bringt dieses kierkegaardsche Paradox ausdrÜcklich in Zusammenhang mit dem Problem der Grenze der Sprache, also dem Problem des Tractatus, und ebenso mit der Frage der Ethik in dem Sinne, in dem er davon im Tractatus spricht:

Sagen und das Unsagbare

Trotzdem rennen wir gegen die Grenze der Sprache an. Dieses Anrennen hat auch Kierkegaard gesehen und es sogar ganz ›hnlich (als Anrennen gegen das Paradoxon) bezeichnet. Dieses Anrennen gegen die Grenzen der Sprache ist die Ethik. (Wittgenstein und der Wiener Kreis. S. 68) FÜr Kierkegaard gibt es keinen Weg von der Welt der Tatsachen zur Welt der Werte und des Sinns, die beiden Bereiche sind vÙllig getrennt. Und fÜr diesen »hÙheren« Bereich gibt es fÜr Kierkegaard auch eigentlich keine Sprache. Es gibt dafÜr bei Kierkegaard nur eine »indirekte Mitteilung«. Wittgenstein anerkannte eine solche »indirekte Mitteilung« (auch wenn er diesen Begriff nicht gebrauchte) in der Kunst. In Bezug auf ein Gedicht von Uhland sagt er einmal: Wenn man sich nicht bem¹ht das Unaussprechliche auszusprechen, so geht nichts verloren. Sondern das Unaussprechliche ist, - unaussprechlich - in dem Ausgesprochenen enthalten. (Briefwechsel. S. 78). Die SÇtze des Tractatus ab 6.41 sind eine solche Form »indirekter Mitteilung«. Von der Welt der Tatsachen aus, also von dem aus, »wie die Welt ist« (6.432), lÇßt sich Überhaupt nichts Über das »HÙhere« mitteilen: 6.42 6.421

Darum kann es auch keine S›tze der Ethik geben. S›tze k³nnen nichts H³heres ausdr¹cken. Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen l›ßt.

Hier sind wir im Umkreis von Kierkegaard und Schopenhauer. Wittgenstein parodierte einmal den Satz Schopenhauers »Moral predigen ist leicht, Moral begrÜnden schwer« in konsequenter FortfÜhrung so: »Moral predigen ist schwer, Moral begrÜnden unmÙglich« (Wittgenstein und der Wiener Kreis. S. 118). FÜr Wittgenstein persÙnlich war aber vermutlich Tolstoi noch wichtiger als Kierkegaard und Schopenhauer. Daß bei Kierkegaard und Tolstoi eine große ’hnlichkeit der Auffassungen vorliegt, ohne daß irgendeine AbhÇngigkeit besteht, ist oft hervorgehoben worden. Von dem großen Eindruck, den Tolstois Schriften auf Wittgenstein gemacht haben, spricht eine Eintragung in sein Tagebuch, die er wÇhrend des Kriegsdienstes 1914 schrieb: »Gestern fing ich an in Tolstois ErlÇuterungen zu den Evangelien zu lesen. Ein herrliches Werk.« (Briefwechsel. S. 73) Darauf bezieht er sich auch in einem Brief an Ludwig von Ficker aus dem Jahre 1915: Vor einer Woche erhielt ich Ihren Brief vom 11ten. Am selben Tag erlitt ich durch eine Explosion in der Werkst›tte einen Nervenschock und ein paar leichte Verletzungen, konnte also nicht gleich antworten. Dies schreibe ich im Spital. [...] Ihre traurige Nachrichten verstehe ich nur zu gut. Sie leben sozusagen im Dunkel dahin und haben das

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Ludwig Wittgenstein

erl³sende Wort nicht gefunden. Und wenn ich, der so grund verschieden von Ihnen bin, etwas raten will, so scheint das vielleicht eine Eselei. Ich wage es aber trotzdem. Kennen Sie die »Kurze Erl›uterung des Evangeliums« von Tolstoi? Dieses Buch hat mich seinerzeit geradezu am Leben erhalten. W¹rden Sie sich dieses Buch kaufen und es lesen?! Wenn Sie es nicht kennen, so k³nnen Sie sich auch nicht denken, wie es auf den Menschen wirken kann. W›ren Sie jetzt hier so m³chte ich vieles sagen. (Briefwechsel. S. 72 f.)

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Auch Russell wußte von diesem Hintergrund von Wittgensteins Tractatus. Das problematische VerhÇltnis von Logik und Mystik war ihm durchaus bekannt. Schon 1914 Çußerte er sich dazu in einem Aufsatz zu Mysticism and Logic. Russell bezog sich dabei auf Heraklit, Parmenides, Platon, Spinoza und unter den neueren Autoren auf Henri Bergson (1859–1841). Wittgenstein konnte in diesem Zusammenhang natÜrlich noch nicht erwÇhnt werden. Russell blieb dabei durchaus auf der Üblichen Linie einer GegenÜberstellung von Logik und intuitiver Ganzheitsschau, er behandelte also die ganze Frage - wittgensteinisch gesprochen - auf der Ebene des Sagens, nicht des Sich-Zeigens. Russell hat die Probleme Wittgensteins wohl gar nicht als wirklich philosophische, sondern eher als individual-psychologische oder -pathologische betrachtet. Dennoch ist sein Bericht von 1919 an Lady Ottoline aufschlußreich: Ich habe Dir viel Interessantes mitzuteilen. [...] Wittgenstein war eine Woche lang hier, und jeden Tag haben wir miteinander ¹ber sein Buch diskutiert. Mittlerweile halte ich noch mehr davon als fr¹her; ich bin sicher, daß es ein wirklich großartiges Buch ist, obgleich ich mir nicht so sicher bin, daß es auch richtig ist. Ich habe ihm gesagt, ich k³nne es nicht widerlegen, und daß ich sicher bin, es sei entweder alles richtig oder alles falsch, was ich f¹r das Kennzeichen eines guten Buches halte; es w¹rde allerdings Jahre dauern, bis ich zu einer Entscheidung dar¹ber gelangen k³nne. Damit war er nat¹rlich nicht zufrieden, doch mehr konnte ich nicht sagen. Aus seinem Buch hatte ich schon einen Anflug von Mystik herausgesp¹rt, war aber doch erstaunt, als ich herausfand, daß er ganz zum Mystiker geworden ist. Er liest solche Leute wie Kierkegaard und Angelus Silesius und denkt ernsthaft dar¹ber nach, M³nch zu werden. Dies hat alles mit William James’ Varieties of Religious Experience angefangen und nahm (was ja nicht unnat¹rlich ist) w›hrend des Winters zu, den er vor dem Krieg allein in Norwegen verbrachte, als er nahezu verr¹ckt war. Dann geschah w›hrend des Kriegs etwas Merkw¹rdiges. Er ging dienstlich in das St›dtchen Tarnow in Galizien und stieß durch Zufall auf einen Buchladen, in dem es jedoch anscheinend nichts als Ansichtskarten gab. Er ging jedoch hinein und fand, daß es dort nur ein Buch gab, n›mlich Tolstois Schrift ¹ber die Evangelien. Dieses Buch kaufte er nun bloß deshalb, weil es kein anderes gab. Er las es und las es noch einmal, und von da an hatte er es immer bei sich, im Feuergefecht und zu jeder Zeit. Alles in

Sagen und das Unsagbare

allem mag er Tolstoi aber nicht so gern wie Dostojewski (insbesondere Karamasow). Er ist tief in mystische Denk- und Empfindungsweisen eingedrungen, aber ich glaube (obgleich er dem nicht zustimmen w¹rde), daß er an der Mystik am h³chsten ihr Verm³gen sch›tzt, ihn vom Denken abzuhalten. [...] (Wittgenstein: Briefwechsel. S. 100 f.) Es geht hier Überhaupt nicht darum, Wittgenstein irgendeine Form christlichen Glaubens zuzuschreiben (er war zwar jÜdischer Abstammung, in seiner Familie war aber ein ethisch rigoroser Protestantismus maßgebend, fast ein Modellfall der MaxWeber-Theorie Über den Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus). Wittgenstein sagte selbst, daß er keinen Glauben habe (vgl. Briefwechsel. S. 81). Aber es ist doch auffÇllig, daß er sich zu der Zeit, wÇhrend der er den Tractatus verfaßte, auch intensiv, und wie er sagte, »lebenserhaltend«, mit Tolstois Evangelien-Auslegung beschÇftigte. Ganz gleich, ob Wittgenstein das folgende Tolstoi-Zitat kannte oder nicht, es kommt in ihm Tolstois Auffassung Über das VerhÇltnis von Wissenschaft und Lebensfragen deutlich zum Ausdruck, und es ist ganz genau auch die Auffassung Wittgensteins im Tractatus: Wendet man sich an die Gruppe der Wissenschaften, die sich nicht mit der L³sung der Fragen des Lebens besch›ftigen, die nur auf die besonderen, ihrer Wissenschaft eigenen Fragen antworten, so bewundert man wohl voll Entz¹cken die Kraft des menschlichen Geistes, weiß aber im vorhinein, daß sie auf die Fragen des Lebens keine Antwort haben. Diese Wissenschaften ignorieren geradezu die Frage des Lebens. (Tolstoi: Meine Beichte. S. 52) Von der Wissenschaft darf man sich also nach Tolstoi gar keine Antwort auf die Fragen des Lebens erwarten. Aber auch die Philosophie kann auf diese Fragen keine Antwort geben, weil es darauf Überhaupt keine Antwort gibt. Dies ist die einzige Auskunft, die Tolstoi gibt, und genau dasselbe gilt auch fÜr Wittgenstein. Ich mag demnach diese spekulativen Antworten der Philosophie drehen und wenden wie ich will, ich erhalte nichts, was einer Antwort ›hnlich s›he - und nicht etwa deshalb, weil die Antwort, wie in dem klaren Gebiet der Erfahrungswissenschaften, sich nicht auf meine Frage bezieht, sondern weil es hier, obwohl die ganze geistige Arbeit sich gerade auf meine Frage richtet, eine Antwort nicht gibt, und weil man statt der Antwort die Frage zur¹ckerh›lt, nur in noch komplizierterer Form. (Tolstoi: Meine Beichte. S. 57) Wittgenstein war von den Fragen der Sprache der Wissenschaft und der Mathematik fasziniert und widmete ihr einen großen Teil seiner Arbeit, er war begeistert von der Kraft der Logik, und er war gleichzeitig Überzeugt, daß alles dies fÜr die Probleme

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Ludwig Wittgenstein

des Lebens und des Todes nicht nur nichts aussagt, sondern grundsÇtzlich nichts aussagen kann. Wittgenstein analysierte scharf die Sprache, mit der wir von dieser Welt in der Wissenschaft sprechen, und er benannte die Grenze der Sprache, die gleichzeitig die Grenze der Welt ist (vgl. 5.6, 5.61 und 5.62). Aber er persÙnlich und mit seinen eigenen Lebensfragen war von Anfang an nicht in dieser Welt zu Hause. Seine Lebensprobleme lagen ganz woanders. Wahrscheinlich zog er sich deshalb immer wieder aus dieser Welt auch rÇumlich zurÜck, ging in die Einsamkeit, was eben mehr oder eigentlich etwas ganz anderes ist als der RÜckzug des vielbeschÇftigten Mannes an einen Hort der Ruhe. Obwohl die orthodoxen Wittgensteinianer dies als Verrat ansehen werden, wÜrde ich doch folgendes sagen: Wittgensteins Haltung hat etwas von einem Gnostiker an sich. Ein Logiker, der gleichzeitig ein Gnostiker ist, bedeutet keinen Widerspruch. Gnosis bedeutet Erfassen der Welt als Leid und gleichzeitig Erkenntnis. 1916 schrieb Wittgenstein in sein Tagebuch:

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Wie kann der Mensch ¹berhaupt gl¹cklich sein, da er doch die Not dieser Welt nicht abwehren kann? Eben durch das Leben der Erkenntnis. Das Leben der Erkenntnis ist das Leben, welches gl¹cklich ist, der Not der Welt zum Trotz. (Tageb¹cher. S. 173 f.) Dies ist die Haltung eines Gnostikers, der die Welt - als Lebensproblem, nicht als Tatsachenfeststellung - als Not erfÇhrt, der aber GlÜck in der Erkenntnis findet. Die Tatsachen der Welt Çndern sich dadurch in keiner Weise, und dennoch ist die Welt des GlÜcklichen eine andere als die des UnglÜcklichen (vgl. 6.43). Unter den Erkenntnissen ist aber auch die, daß alle metaphysischen SÇtze sinnlos sind (vgl. 6.53). Beinahe alles von dem, was die Philosophen von der ganzen linken Seite unseres Schemas in Kap. XIV gesagt haben, wird im Sinne Wittgensteins zu »transzendentalem GeschwÇtz« (vgl. Briefwechsel. S. 81), einfach deshalb, weil sie meinten, etwas sagen zu kÙnnen, was innerhalb der Grenzen der Sprache nicht gesagt werden kann. Das war zwar auch die ¾berzeugung Russells und der Mitglieder des Wiener Kreises, fÜr diese war aber damit die Frage erledigt - fÜr Wittgenstein nicht: 6.522

Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.

Das »es gibt« ist im Sinne von Wittgenstein selbstverstÇndlich ein sinnloser Ausdruck und darf in keiner Weise als metaphysischer Satz verstanden werden. Aber Wittgenstein lÇßt zu, daß sich etwas »zeigt«: »das Mystische«. Mythos - Logos, Logik - das Mystische. Wir haben die Vorlesung im 1. Teil mit dem von den Griechen postulierten ¾bergang vom Mythos zum Logos begonnen (vgl. 1. Teil, Kap. I, Vorbemerkungen). Dieses Postulat wurde und konnte jedoch nicht eingelÙst werden, der pythagoreisch-platonische Mythos blieb prÇsent. Den Griechen

Sagen und das Unsagbare

war es durchaus bewußt, daß mit Pythagoras und auch mit dem Skeptizismus etwas Fremdes in ihre Kultur eingedrungen war (vgl. 1. Teil, Kap. III, 1 und 2, und Kap. XIV). Es soll daher - nicht schon als These, aber als Denkanstoß - folgende Vermutung geÇußert werden: Es gab seit dem Ursprung der europÇischen Philosophie eine griechische und eine nicht-griechische Vernunftauffassung, wobei die Herkunft der letzteren fernÙstlich ist. Diesen beiden liegt ein grundlegend verschiedenes VerstÇndnis von der Aufgabe der Philosophie, ihren Methoden und ihren Zielen zugrunde. Die Wurzel eines Çquivoken Philosophiebegriffs ist so alt wie die Philosophie selbst. Man kann diesen Unterschied simplifizierend so kennzeichnen: Mit dem einen VerstÇndnis - reprÇsentiert durch Aristoteles - soll mit der Philosophie die Welt erkl›rt und gestaltet werden. Entscheidend wichtige Mittel bei diesem Versuch sind die Wissenschaften und die Logik. In beiden sind klare Unterscheidungen erforderlich. Mit dem anderen VerstÇndnis wird versucht, den Menschen, vor allem seine Seele, zu erl³sen. Die Seele soll in eine ursprÜngliche Einheit zurÜckgefÜhrt werden. Ein wichtiges Mittel ist dabei die schrittweise Aufhebung aller Unterscheidungen. Hier soll die Welt nicht erklÇrt werden, die Welt ist irrelevant fÜr die Seele. Das Ziel liegt in der Seele, und diese ist außerhalb der Welt. Dies ist Mystik. - Die gesamte Geschichte der Philosophie ist von einer mehr oder weniger ausdrÜcklichen Auseinandersetzung um dieses verschiedene und letztlich unvereinbare VerstÇndnis von Vernunft durchzogen. In der spÇten Antike versuchte man es mit einer Hierarchie des Wissens: Aristoteles und seine Logik sollten die »niedere«, weltbezogene Philosophie liefern, Platon bzw. der gnostisierende Neuplatonismus hingegen die »hÙhere« Philosophie, und entsprechend wurden dem menschlichen Erkennen zwei verschieden Funktionen oder VermÙgen - Verstand (ratio) und Vernunft (intellectus) - zugeschrieben (vgl. 1. Teil, Kap. IX, 4, und Kap. XV–XVII). Die christliche Philosophie des Mittelalters, die das Mythische fÜr die Verortung der Offenbarung benÙtigte, Übernahm dieses Schema. Erst am Ende des Mittelalters - als Konsequenz eines »radikalen« Aristotelismus (vgl. 2. Teil, Kap. XI und XV) -, im 14. Jhd., traten die beiden Bereiche deutlich auseinander und einander gegenÜber. Auf der einen Seite dominierten mit Ockham und seiner Gefolgschaft Logik und Wissenschaft in einer radikal kontingent gewordenen Welt (vgl. 2. Teil, Kap. XVII, 2 und 3), auf der anderen Seite bildete sich mit Eckhart eine Mystik heraus, in der allerdings der sagbare Gehalt des Mythos aufgegeben wird und nur ein »armer Mensch« bleibt, der »nichts will und nichts weiß und nichts hat« (vgl. 2. Teil, Kap. XVIII, 1). Ockham und Eckhart waren mÙglicherweise

1327 gleichzeitig (als HÇresieverdÇchtige angeklagt) in Avignon. Ob sie sich getroffen haben, ist nicht bekannt, aber sie hÇtten einander kaum verstehen kÙnnen, sie sprachen verschiedene Sprachen, anders ausgedrÜckt: Der eine sagte etwas, und der andere sagte, daß er nichts sagen konnte. In der Neuzeit wurde die RadikalitÇt dieser Positionen zunÇchst nicht durchgehalten. Der Mythos wurde wiederum mit »Sagbarem« aufgefÜllt, und die radikale Kontingenz der Welt wurde wiederum metaphysisch aufgefangen. Auch bei Galilei, Newton und Leibniz findet sich noch immer ein

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Ludwig Wittgenstein

in seinen Grenzen unscharfes und ungeklÇrtes Nebeneinander von Logik, Wissenschaft und Mythos. Erst im 19. Jhd. grenzen sich die beiden Bereiche wieder scharf voneinander ab, und da sind wir bei dem Trennungsstrich in unserem Schema (vgl. Kap. XIV), der aber nur das klar herausstellt, was prinzipiell immer schon da war. Wittgenstein radikalisiert jene Positionen, die bereits im 14. Jhd. vorhanden waren. Wittgenstein ist Ockham und Eckhart in einem und doch getrennt durch die Grenze der Sprache, die das Sagbare und Denkbare vom Unsagbaren und Undenkbaren scharf abgrenzt. Indem er das Sagbare klar darstellt, »bedeutet« er das Unsagbare (vgl. 4.115). Im Anrennen gegen die Grenze der Sprache »zeigt« sich ihm etwas, das aber prinzipiell nicht in SÇtzen ausgesprochen werden kann. Der Mythos hat keinen Gehalt, nichts Sagbares mehr, aber gegenÜber dem formalen Ort der Logik - auch die Logik zeigt sich ja nur, und kann nicht »gesagt« werden! - bleibt der formale Ort - aber eben nichts anderes als dieser - des Mythos im Mystischen erhalten. Und dieses Sich-Zeigen des Mystischen trennte Wittgenstein von den GrundÜberzeugungen Russells ebenso wie von denen der Mitglieder des Wiener Kreises. Wittgenstein wußte das und schrieb einmal, kurz nach der Fertigstellung des Tractatus, an Russell: »Sei herzlichst gegrÜßt und glaube nicht, daß alles Dummheit ist, was du nicht verstehen wirst.« (Briefwechsel. S. 87) 568

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