Philosophie als Spiel: Platon - Kant - Nietzsche 9783050078274, 9783050035123

Was ist Philosophie, und was heißt es zu philosophieren? Diese Frage, die so alt ist wie die Philosophie selbst, findet

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German Pages 195 [196] Year 2000

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Philosophie und Spiel?
I. Begriffshistorische Grundlegung: Heraklits Fragment Β 52
II. Dialog und Spiel: Zum Begriff des Spieles in Platons Phaidros
III. Spiel als Erkenntnisgrund: Zum Spielbegriff in Kants Kritik der Urteilskraft
IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel
Schlußbemerkung: Spiel und Praxis
Literaturverzeichnis
Index nominum
Index rerum
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Philosophie als Spiel: Platon - Kant - Nietzsche
 9783050078274, 9783050035123

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Alexander Aichele Philosophie als Spiel

Alexander Aichele

Philosophie als Spiel Piaton - Kant - Nietzsche

Akademie Verlag

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Aichele, Alexander: Philosophie als Spiel : Platon - Kant - Nietzsche / Alexander Aichele. - Berlin : Akad. Verl., 2000 Zugl.: Halle, Univ., Diss., 1999

ISBN 3-05-003512-9 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2000 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN / ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Druck: G A M MEDIA, Berlin Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Inhalt

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Vorwort:

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Einleitung: Philosophie und Spiel?

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I. Begriffshistorische Grundlegung: Heraklits Fragment Β 52 1. Zur Struktur des heraklitischen Denkens 2. Die Verschränkung von Spiel, Sprache und Welt in Heraklits Fragment Β 52 a) Leben und Welt als α ι ώ ν b) Apoll, Dionysos und die Sprache der Menschen α ) Das spielende Menschenkind ß) Apollon ludens γ) Der kindliche Dionysos c) Kontingenz und Ordnung: Das Spiel als offener Versuch α ) Spielen als π α ί ζ ω β) Spielen als π ε σ σ ε ύ ω d) Der Grund von O r d n u n g II. Dialog und Spiel: Z u m Begriff des Spieles in Piatons Phaidros 1. Spiel und Ernst a) Der vernünftige Bauer und der Philosoph: Spielerische und ernsthafte Tätigkeit α ) Aussaat und Wagnis ß) Spiel und P r ü f u n g b) Spiel und Schein α ) Schrift als Abbild ß) Dialog und Dichtung γ) Die Rechtfertigung des Spieles 2. Spiel und Poiesis a) Spiel und Sprache b) Spiel und Schönheit c) Spiel und Philosophie α ) Das Wagnis der Philosophie ß) Paidia und Paideia III. Spiel als Erkenntnisgrund: Z u m Spielbegriff in Kants Kritik der Urteilskraft 1. Spiel im reinen Geschmacksurteil a) Das Spiel der Einbildungskraft α ) Die Synopsis der produktiven Einbildungskraft ß) Spiel als Form γ) Die Freiheit der spielenden Einbildungskraft b) Der Verstand im reinen Geschmacksurteil

15 16 20 20 22 22 23 28 30 30 31 34 37 39 39 41 44 48 48 52 58 63 63 67 69 71 73 77 79 79 80 83 87 89

6

Inhalt

α ) Die Gesetzmäßigkeit des Verstandes ß) Die Freiheit des Verstandes c) Freies Spiel und Harmonie in der Reflexion a ) Bloße Reflexion und Spiel ß) Freies Spiel als Harmonie 2. Spiel und Lebensgefühl a) Die W a h r n e h m u n g des freien Spieles α ) E m p f i n d u n g und Gefühl ß) Lust als Lebenssteigerung b) Freies Spiel und Spiel α ) Arbeit und Spiel des Urteilens ß) Spiel und Erkenntnis IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel 1. Agon und Spiel a) Die Bändigung des Tigers: Der Agon bei Homer und Hesiod α ) Die Verdeckung des Lebensgeschehens: H o m e r ß) Die Erfindung des Agon: Hesiods gute Eris b) Die Kunst Heraklits: Kampf als Spiel α ) Der Agon als Weltprinzip ß) Philosophie als schöner Schein γ ) Spiel contra Arbeit c) Sokrates: Der vorgetäuschte Agon α ) Die Perversion der Philosophie ß) Der agonale Schein der sokratischen Dialektik d) Piaton ohne Sokratismus α ) Die Verwandlung des Sokrates ß) Nietzsche als Platoniker 2. Sprache und Welt als Spiel a) Der Bruch mit der Metaphysik a ) Die Metaphorizität der Sprache ß) Der ästhetische Zustand: Ein Rückgriff auf Kant b) Sprache als weltbildendes Spiel α ) Von der Kontemplation zur Produktion ß) Welt und Sprache γ) Philosophie als „Begriffsdichtung" δ) Jenseits des Ernstes: Philosophie zwischen Dichtung und W i s s e n s c h a f t c) Philosophie als Spiel α ) Philosophie als Weltkonstruktion des Freien Geistes ß) Jenseits von Metaphysik und Relativismus: Der schöne Weltentwurf der Philosophie γ) Das Spiel der Philosophie

89 92 94 94 96 100 100 100 102 104 104 106 109 112 113 113 115 118 118 120 124 126 127 130 133 134 137 139 140 142 144 147 147 149 151 153 156 156 161 167

Schlußbemerkung: Spiel und Praxis

171

Literaturverzeichnis Quellen Sonstige: Zitierte Sekundärliteratur:

175 175 176 177

Index n o m i n u m

187

Index rerum

191

Vorwort:

Die vorliegende Abhandlung ist eine geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 1998/99 vom Fachbereich Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angenommen wurde, welche auch die Abfassung der Arbeit durch ein Promotionsstipendium gemäß des Graduiertenförderungsgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt ermöglicht hat. Während der Arbeit an dieser Abhandlung habe ich mannigfache Unterstützung erhalten: An erster Stelle gebührt Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Manfred Riedel (Halle) Dank, der diese Studie nicht nur angeregt, sondern auch durch die große Freiheit, die ich bei der Bearbeitung des Themas genoß, entscheidend gefördert hat. Herzlich danke ich dem Zweitgutachter, Prof. Dr. Matthias Kaufmann (Halle), für sein stetes kritisches Interesse und seine dauerhafte freundschaftliche Unterstützung mit Wort und Tat, Prof. Dr. Wiebrecht Ries (Hannover) f ü r die Übernahme des Drittgutachtens und Prof. Dr. Rainer Enskat (Halle) für seine stete und freundliche Bereitschaft zu kritischer Lektüre und ebensolchem Gespräch. Einzelne Kapitel haben gelesen und kritisch kommentiert bzw. mit mir diskutiert: Prof. Dr. Heribert Boeder (Osnabrück), Dr. Friedemann Buddensiek (Erlangen), Dr. Dirk Effertz (Halle), Prof. Dr. Siegbert Peetz (Weingarten), Prof. Dr. Dr. Claus-Artur Scheier (Braunschweig), Dr. Robert Schnepf (Halle) und Prof. Dr. Jürgen Stolzenberg (Halle). Ihnen allen danke ich herzlich für ihre M ü h e und die vielen wertvollen Hinweise, die sie mir gaben. Ebenso gilt mein Dank Pier Bierbach M.A. (Halle) für seine ebenso große wie unverzichtbare computertechnische Hilfe und Frau stud. phil. A n j a Wiebach für die Übernahme der Korrekturen. Meiner Mutter und meiner Großmutter danke ich schließlich für die vielfältige Unterstützung, die sie mir während meines ganzen Studiums und der Promotion zuteilwerden ließen, Karina für ihr großes Verständnis in schwieriger Zeit und schließlich Friederike - einfach für ihr Dasein. Gewidmet aber sei dies Buch meiner verehrungswürdigen Großmutter.

Halle, im Januar 2000 Alexander Aichele

Du mußt bedenken, daß das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). Es steht da - wie unser Leben. L.

Wittgenstein

Go ahead... Make my day! Η.

Callahan

Einleitung: Philosophie und Spiel?

Die Frage, was Philosophie sei, ist ungefähr so alt wie die Philosophie selbst. 1 Weil diese Frage auch die Frage nach den Möglichkeiten und den Ergebnissen der Tätigkeit, die man 'Philosophieren' nennt, und nach der Weise, auf welche diese Tätigkeit vollzogen wird, einschließt, muß sie sich jeder Denker von Rang stellen und hat sie sich auch irgendwie gestellt - sei es als Frage nach dem Zweck der Philosophie oder als Frage nach ihrem Anspruch oder dergleichen mehr. Auch Nietzsche stellt sie sich und gibt eine, wie es scheint, überraschende Antwort: Philosophie ist Spiel, und das meint zunächst: Unernst. So schreibt er noch in Ecce homo: „Ich kenne keine andre Art, mit grossen Aufgaben zu verkehren als das Spiel"2. Und in Jenseits von Gut und Böse heißt es Uber den Philosophen im Gegensatz zum Gelehrten, daß das Denken gerade nicht „als etwas Langsames, Zögerndes, beinahe als Mühsal" zu gelten habe, wie dies unter den Gelehrten von Profession der Fall sei, sondern vielmehr im Gegenteil „als etwas Leichtes, Göttliches und dem Tanze, dem Übermuthe, Nächst-Verwandtes", so daß „ ' D e n k e n ' und eine Sache 'ernst n e h m e n ' " einander diametral entgegengesetzt seien. 3 Ernst im Denken sei erst dem 'Philosophen der Z u k u n f t ' möglich, einem „wunderliche(n), versucherische(n), gefahrenreiche(n) Ideal" 4 , zu dessen Nietzsches Denken nach seiner eigenen Auffassung 'Vorspiel' ist, wie auch der Untertitel von Jenseits von Gut und Böse besagt. Anders als jener Freie Geist, der im folgenden als Nietzsches Figur f ü r den gegenwärtig erreichbaren Philosophen - und damit auch für seine eigene Philosophie 5 - behandelt wird 1 , „spielt" der Philosoph der Z u k u n f t „naiv (...)

So zeigt bereits Heraklit, dessen Fragment Β 35 erstmals das W o r t φ ι λ ό σ ο φ ο ς bezeugt, a u s g e s p r o c h e n e T e n d e n z zur A b s e t z u n g von anderen sogenannten Weisen (vgl. Β 40, Β 4 2 u. Β 57). A n g a b e n der Fragmente beziehen sich j e w e i l s auf: Hermann Diels/Wilhelm Kranz, Die Fragmente Vorsokratiker, Zürich 6 1951. W o nicht anders angegeben werden im Falle Heraklits die Übersetzungen der A u s g a b e von Bruno Snell (Heraklit. Fragmente, Zürich 1995) h e r a n g e z o g e n .

eine Die der aus

2

Ecce homo. Warum ich so klug bin, Aph. 10, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe [= K S A ] (hg. v. Giorgio Colli u. M a z z i n o Montinari), M ü n c h e n / B e r l i n / N e w York 2 1988, Bd. VI, 297; alle Passagen, die in folgenden Zitaten kursiv w i e d e r g e g e b e n sind, sind im Original gesperrt gedruckt. 3

Jenseits von Gut und Böse, Aph. 213, KSA V, 148. Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 382, KSA III, 636; vgl. zu den A p h o r i s m e n zu den „Philosophen der Z u k u n f t " v. a. G e o r g Picht, Nietzsche (hg. v. Constanze Eisenbart mit e i n e m Vorwort v. E n n o Rudolph), Stuttgart21993. 4

5

Dies skizziert Mihailo Djuric und verbindet damit eine v e h e m e n t e Kritik an Heideggers NietzscheDeutung: Philosophie als fröhliche Wissenschaft, in: ders. (Hg.), Nietzsches Begriff der Philosophie, WUrzburg 1990, 37-52.

10

Einleitung: Philosophie und Spiel?

mit Allem, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess" 2 (Herv., A.A.)· Offenbar reflektiert also der Freie Geist bzw. der Philosoph, der mit alldem auch spielt, seine Tätigkeit und verhält sich unernst, wie dies Nietzsches Philosophie nach ihrem Selbstverständnis auch tut. Die große Bedeutung des Spielbegriffes für und in Nietzsches Philosophie ist in der Forschung unbestritten. 3 Um so überraschender ist es, daß sich bisher noch keine Studie eingehend dieser Gleichsetzung von Philosophie und Spiel zugewandt hat. 4 Zumal Nietzsche hier einen Gedanken zu Ende denkt, der der klassischen abendländischen Philosophie, namentlich bei Piaton und Kant, keineswegs fremd ist, so daß sich dabei durchaus von einem Grundgedanken einer philosophischen Tradition sprechen läßt, die sich vor allem anderen als Kritik des menschlichen Anspruches auf Wissen und Erkenntnis von Wahrheit versteht, wie dies bei den genannten Autoren in ausgezeichneter Weise der Fall ist. Insofern verfolgt die vorliegende Arbeit ein zweifaches Ziel: Zum ersten ist der Nachweis zu führen, daß in dieser Tradition, deren Grund bereits bei Heraklit gelegt wurde, an den systematisch entscheidenden Stellen der theoretischen Etablierung des metaphysischen Denkens bei Piaton und dessen Kritik durch Kant die philosophische Rede von „Spiel" auf die kritische Reflexion der Philosophie auf sich selbst bzw. auf ihren Erkenntnisanspruch führt. Z u m zweiten soll vor diesem Hintergrund Nietzsches Antwort auf die Frage, was Philosophie sei, die in ihrer Gleichsetzung mit dem Spiel besteht, erörtert werden. Dies kann als Radikalisierung der genannten Grundtendenz begriffen werden, so daß in Nietzsches Denken die Kritik der Philosophie an sich selbst sich vollendet und demzufolge ein jedes Philosophieren nach Nietzsche - zumindest nach dessen eigener Auffassung - unter die Restriktion dieser Kritik gestellt ist. Nietzsche zieht also bei seinem philosophischen Unternehmen die Konsequenzen grundlegender erkenntnis- bzw. sprachkritischer Tendenzen der Geschichte der abendländischen Philosophie, die für ihn mit den Namen Heraklit, Piaton und Kant verknüpft sind. Diese Autoren können von der Sache ihres Denkens her durchaus als die hauptsächlichen Einflüsse auf den Philosophen Nietzsche gelten, der sich mit ihnen vor dem Beginn des eigenen philosophischen

Vgl. Tilman Borsche, Fröhliche Wissenschaft Mihailo Djuric (Hg.), Nietzsches Begriff, 53-72.

freier

Geister

- eine

Philosophie

der Zukunft?,

in:

" Fröhliche Wissenschaft, Aph. 382, KSA III, 637; auch wenn im folgenden w e g e n dieser D i f f e r e n z nicht weiter auf die in Nietzsches O e u v r e monolithisch dastehende Zarathustra-Dichtung e i n g e g a n g e n wird wenngleich der schließlich exponierte Spielbegriff auch auf sie a n w e n d b a r scheint - , sei doch auf die deutliche Parallele dieser Beschreibung zur dritten der Drei V e r w a n d l u n g e n h i n g e w i e s e n , in der sich der Löwe, n a c h d e m er sich von den ü b e r k o m m e n e n Werten befreit hat, noch z u m Kind wandelt, das „Unschuld ist ( . . . ) und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste B e w e g u n g , ein heiliges Ja-sagen". Also sprach Zarathustra I. Von den drei Verwandlungen, K S A IV, 31. 3

S. u. Kap. IV., 109, A n m . 1. A u s z u n e h m e n ist hier die nur auf Mikrofilm zugängliche und in der F o r s c h u n g weitestgehend unbeachtet gebliebene Dissertation von L a w r e n c e M. Hinman ( N i e t z s c h e ' s Philosophy of Play, C h i c a g o 1974), die v o m soziologisch verstandenen Kontext des Gegensatzes von Spiel und Arbeit die hintergründig gebliebene gesellschaftstheoretische K o m p o n e n t e der nietzscheschen Philosophie zu rekonstruieren versucht und deshalb für die Fragestellung dieser Arbeit nicht einschlägig ist. Mihai I. Spariosu widmet Nietzsche in Dionysus Reborn. Play and the Aesthetic Dimension in Modern Philosophical and ScientificDiscourse, Ithaca/London 1989, zwar ein Kapitel (68-99), das aber wegen des historischen Überblickscharakters des B u c h e s die Komplexität der Konzeption Nietzsches nur oberflächlich skizzieren kann und diese einseitig auf die Perspektive eines „archaic, prerational concept of play as p o w e r " (99) reduziert. D a ß dies eine k a u m vertretbare Verkürzung darstellt, wird sich im L a u f e der U n t e r s u c h u n g zeigen. 4

11

Einleitung: Philosophie und Spiel?

S c h a f f e n s intensiv beschäftigte 1 . Nun läßt sich ein D e n k e n - N i e t z s c h e hat das o f t g e n u g betont und nahezu zu seiner M e t h o d e gemacht - i m m e r nur von seiner H e r k u n f t erschließen, die in der Regel u n b e w u ß t im j e w e i l i g e n E n d e einer G e n e a l o g i e fortwirkt 2 . W e n n N i e t z s c h e nun in Anspruch

nimmt,

gerade

mit

der

Destruktion

der

Metaphysik

einen

Grundzug

der

abendländischen P h i l o s o p h i e z u m E n d e gebracht und ü b e r w u n d e n zu haben 3 , dann ist vor der Erörterung von Nietzsches Leistung dieser G r u n d z u g , an den er radikalisierend anschließt, a u f z u w e i s e n . Der Begriff des Spieles ist als Leitfaden f ü r eine solche U n t e r s u c h u n g besonders geeignet, da er als Nietzsches B e s t i m m u n g von P h i l o s o p h i e auch die b e a n s p r u c h t e Tradition begreifen m u ß , wenn denn Nietzsche seinen A n s p r u c h zurecht erhebt und nicht eigenen methodischen E r w ä g u n g e n entgegen völlig außerhalb der Tradition argumentiert. D a ß dies nicht der Fall ist, zeigen die Analysen des j e w e i l i g e n Spielbegriffes von Heraklit, Piaton und Kant, die den ersten Hauptteil der Arbeit (I.-III.) bilden. Allen dreien eignet j e n e r sprach- bzw. erkenntniskritische Zug. Dabei ist ersterer nicht nur aus der P e r s p e k t i v e Nietzsches als „ursprüngliche W u r z e l " 4 seiner P h i l o s o p h i e zu beachten, sondern auch im systematischen Sinne im R a h m e n einer begriffshistorischen G r u n d l e g u n g , da bei Heraklit eine begriffliche Unterscheidung

e i n g e f ü h r t wird, welcher die f o l g e n d e n a c h g e z e i c h n e t e G e d a n k e n l i n i e

in

verschiedener W e i s e R e c h n u n g trägt. Diese Analysen können im ersten Teil der U n t e r s u c h u n g u n v e r b u n d e n nebeneinandergestellt werden, weil deren Grundlinien erst in Nietzsches Verwendung

des

Untersuchung

Spielbegriffes

zusammenschießen,

bildet. G e r a d e w e g e n

die

den

systematischen

Zielpunkt

der

dieser U n v e r b u n d e n h e i t k ö n n e n die drei Kapitel

zu

Heraklit, Piaton und Kant aber auch als Studien gelesen werden, die z w a r z u m einen f ü r das Verständnis Nietzsches unerläßlich sind, sich z u m anderen aber mit d e m j e w e i l s in A n s c h l a g gebrachten Begriff von Spiel befassen und erweisen, daß dieser in allen drei Fällen - auch u n a b h ä n g i g von einer 'nietzscheanischen' Interpretation - sich auf die kritische R e f l e x i o n der Philosophie auf sich selbst bezieht. So wird in der den ersten Hauptteil einleitenden begriffshistorischen G r u n d l e g u n g (I.) nach einer k n a p p e n D a r l e g u n g des S a c h g r u n d e s der g n o m i s c h e n F o r m des heraklitischen D e n k e n s in einer A n a l y s e des berühmten F r a g m e n t s Β 5 2 Heraklits V e r k n ü p f u n g von Welt, S p r a c h e und Spiel und seiner g r u n d l e g e n d e n U n t e r s c h e i d u n g zweier W e i s e n des Spieles a n h a n d

ihrer

Geregeltheit exponiert. D a s Kapitel zu Piaton (II.) bezieht sich auf die vieldiskutierte 'Schrift-

So weist Nietzsche ζ. B. in seinem Bewerbungsschreiben um die freigewordene Professur für Philosophie an der Universität Basel aus dem Januar 1871 den verantwortlichen Ratsherrn Vischer-Bilfinger nicht nur auf seine Lehrveranstaltungen zu den Vorsokratikern und Piaton hin, sondern auch darauf, daß er „(v)on neueren Philosophen (...) mit besonderer Vorliebe Kant und Schopenhauer studiert" habe: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe [=KSB] (hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari), München/Berlin/New York 1986, Bd. III, 177. Dies bestätigt auch der Brief an Mushacke vom November 1866, der mit dem Notabene endet: „Kant, Schopenhauer und dies Buch von Lange (sc. die Geschichte des Materialismus) - mehr brauche ich nicht", KSB II, 184. Alle mit sc. gekennzeichneten und eingeklammerten Einschübe in Zitate sind Bemerkungen von mir, A.A. 1 Vgl. Michel Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders., Von der Subversion des Wissens (aus dem Ital. u. Frz. u. hg. v. Walter Seitter), Reinbek 1987, 69-90, hier: 73ff. 3 Vgl. Götzen-Dämmerung: Wie die 'wahre Welt' endlich zur Fabel wurde, KSA VI, 80f. 4 Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, Stuttgart 6 1992, 13; auch Finks phänomenologisch-kosmologischer Ansatz, den er von seiner Exposition in Spiel als Weltsymbol, Stuttgart 1960, auf Nietzsche zu übertragen versucht, kann für diese Arbeit nicht herangezogen werden, da er die kritische Funktion des Ausdrucks zugunsten einer naiv affirmierenden Metapher (vgl. Nietzsche, 41) für das, was ist, ausblendet und zudem Nietzsches Rede von „Welt" nicht eingehend untersucht.

12

Einleitung: Philosophie und Spiel?

kritik' im Dialog Phaidros. Anhand derer wird ausgehend von Piatons Charakterisierung der Differenz von Spiel und Ernst die grundsätzliche Unzulänglichkeit eines jeglichen sprachlichen Mittels zur Aussage von Wahrheit und der daraus folgenden Verpflichtung der philosophischen Rede auf Schönheit aufgewiesen. Diese unhintergehbare Vorläufigkeit des philosophischen Sprechens oder Schreibens zwingt nun zur Schaffung einer komplexen schriftlichen Darstellungsform der Philosophie, nämlich der von Piaton „Spiel" genannten Dialogdichtung. In ihr fallen nach Piaton Philosophie, Dialektik und Rhetorik zusammen und ermöglichen in der dadurch gezielt herbeigeführten Mehrdeutigkeit das sprachlich unfaßbare und innerseelische Geschehen, das er Wahrheit nennt. Im dritten Kapitel geht es um die Untersuchung des Spielbegriffes, wie er konstitutiv für Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils ist. Dabei wird die von Kant als Spiel bezeichnete Tätigkeit der Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand erörtert, die sich als grundlegend für Erkenntnis überhaupt erweist. Darauf aufbauend kann gezeigt werden, daß der Mensch als endliches Wesen gerade nicht in begrifflicher Erkenntnis zu sich kommt, sondern daß er vollendetes Dasein im Bereich seines endlichen Daseins im reinen ästhetischen Urteil gewinnt. Demgegenüber stellt jedes vollendete Erkenntnisurteil rein für sich genommen einen eher unerfreulichen Abbruch der höchsten Aktivität der spielenden Erkenntnisvermögen dar, so daß der Ernst des Begriffes dem Spiel der Begriffsfreiheit aus der Perspektive des Lebensgefühles unterzuordnen ist. Im zweiten Hauptteil der Arbeit (IV.) wird Nietzsches Exposition des Spielbegriffes entfaltet, die - wenngleich zumeist nicht ausdrücklich - die bislang dargestellten Elemente in interpretierter Form umfaßt. Dabei wird ausgegangen von Nietzsches Deutung des Gedankens des Agonalen in frühgriechischer und klassischer Zeit, wie er von Homer und Hesiod entwickelt wird, bei Heraklit kulminiert, in der sokratischen Philosophie verfällt und schließlich bei Piaton in modifizierter Form wiederbelebt wird. Durch diese Untersuchung können Nietzsches Verständnis von Dekadenz und der mit deren Diagnose stets verbundene Vorwurf im Niedergang des Philosophierens zu einer zweckgebundenen Arbeit, d. h. durch die sich selbst mißverstehende Negation seiner wesenhaften Spielhaftigkeit, eingeholt werden. Sodann wird Nietzsches kritische Zurückweisung des korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffes und seine Gegenthese von der reinen Sprachlichkeit dessen, was wir „Welt" nennen, und aller Erkenntnis dargestellt. Anhand von Nietzsches Theorie der Sprachbildung, wie sie in der kleinen Schrift Lieber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne ausgeführt ist, welche für Nietzsches genuin kritische Philosophie theoretisch grundlegende Bedeutung besitzt, wird seine Auffassung über unser Verfügen über Welt dargelegt, das grundsätzlich durch die sprachliche Schaffung von Welt aus einem, in kantischem Sinne beschriebenen, ästhetischen Zustand bestimmt ist. Philosophie ist demnach für Nietzsche bewußte Weltkonstruktion, die er sowohl wegen ihres Entstehungsgrundes als auch wegen der Unfähigkeit der Sprache, auf etwas außerhalb ihrer sich zu beziehen, als Spiel begreift. D a nun DIE Wahrheit nicht mehr als Bewertungskriterium der Philosophie dienen kann, verweist Nietzsche diese A u f g a b e an die Schönheit, deren Wirkung er wiederum in der Art Kants beschreibt. U m nun den Anspruch auf die Aussage objektiver Wahrheit zu unterlaufen und gleichzeitig die Konsistenz seiner eigenen Philosophie zu sichern, muß Nietzsche genau wie Piaton eine schriftliche Darstellungsform finden, die selbst ihr eigenes spielerisches Wesen anzeigt und vorführt und ebenso ihre Rezipienten zu philosophieren anzuregen vermag. Nietzsches Reflexion über das Wesen der Philosophie als Spiel im Sinne einer Art 'Metaphilosophie', die sowohl auf dem frühgriechischen Denken als auch auf Piaton und Kant aufbaut, bringt so den überkommenen Begriff der Philosophie zu einem Ende und sucht diesen zugleich zu überwinden. Daran zeigt

Einleitung: Philosophie und Spiel?

sich gleichzeitig die Unternehmen, dessen schen Beschäftigung eigentlich Thema der sollen.

13

Einheitlichkeit 1 und die Konsequenz von Nietzsches philosophischem weitreichende Implikationen für die Geltungsansprüche einer philosophimit den Angelegenheiten der menschlichen Praxis - obschon nicht Arbeit - wenigstens in aller Knappheit abschließend angerissen werden

Die Wirkungen dieses nietzscheschen Unternehmens zeigen sich in den Versuchen zu philosophischen Neuanfängen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und deren Fortführungen in der Gegenwart. Gerade der Spielbegriff hat in diesem Kontext große Bedeutung gewonnen, wie man schon an Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen2 und Heideggers Beiträgen zur Philosophie - und auch seiner Vorlesung zur Einleitung in die Philosophie - , ebenso aber an Gadamers Versuch einer philosophischen Hermeneutik in Wahrheit und Methode3 und im sich bisweilen selbst als Spiel verstehenden französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus unschwer ersehen kann. Obschon sich vorliegende Untersuchung dieser 'modernen' Strömungen und Erweiterungen in der philosophischen Rede von „Spiel" bewußt ist, kann nicht auf sie eingegangen werden. Jedoch versteht sich diese Arbeit, die auch auf die ungebrochene Modernität der untersuchten klassischen Autoren zu verweisen sucht, nicht zuletzt als Beitrag zum Selbstverständnis der genannten, gegenwärtig in der Diskussion stehenden philosophischen Richtungen, dessen kritische Reflexion diese oftmals - sei es im Eifer des Streits, sei es aus Programmatik - ein wenig zu vernachlässigen geneigt sind.

Aus diesem Grund wird im folgenden auf die lange Zeit übliche und hie und da noch gebrauchte Periodisierung von Nietzsches Werk, deren drei Phasen unter den Schlagwörtern „ M e t a p h y s i k " , „Positivismus" und „Wille zur M a c h t " firmieren, bis auf den f r ü h e n Bruch mit der Metaphysik keine Rücksicht g e n o m m e n . Die Berechtigung dieses Vorgehens m u ß der G a n g der Arbeit selbst erweisen. 2 Vgl. dazu: Alexander Aichele, Der Unsinn der Philosophie. Spiel und Methode in Wittgensteins „Philosophischen Untersuchungen", in: Philosophisches Jahrbuch 107 (11/2000). 3 Vgl. zur Kritik an G a d a m e r s Spielbegriff: Alexander Aichele, Gadamers platonistische Ästhetik. Kunst und Spiel in „Wahrheit und Methode", in: prima philosophia 12/2 (1999), 3-18.

I. Begriffshistorische Grundlegung: Heraklits Fragment Β 52

Bereits in der Frühzeit des abendländischen Denkens, bei Heraklit, in dessen Fragment Β 35 erstmals das Wort φιλόσοφος bezeugt ist, gewinnt der Begriff des Spieles philosophische Bedeutung. Heraklit gebraucht ihn an zentraler Stelle, nämlich in dem ebenso berühmten wie sperrigen Fragment Β 52 - Αιών π α ΐ ς έστι παίζων πεσσεύων· παιδός ή βασιληίη. - , wo er ihn in zweifacher Weise einführt, um so die Stellung des Menschen zum Kosmos, dessen Teil er ist, zu bestimmen. Es beschreibt demnach auch und gerade das erkennende Verhalten des Menschen zu „Welt", um das es Heraklit in einem „für einen Denker jener Frühzeit in kaum glaublichen Maße geht" 1 . Damit wird ihm zugleich der wissenschaftliche Gebrauch von Sprache zum Problem, da ihm alles „Seiende durch die Sprache vermittelt" 2 gilt, so daß Sprache konstitutive Bedeutung für einen auf den endlichen Menschen bezogenen Begriff von Welt gewinnt. Diese, durch den Spielbegriff bestimmte, enge Beziehung von Sprache und Welt soll anhand einer detaillierten Analyse des Fragmentes Β 52 aufgewiesen werden. Vorher ist jedoch die Perspektive zu umreißen, aus der insbesondere dieses Fragment zu lesen ist, um den kritischen Impetus zu erfassen, den die Philosophie bereits bei Heraklit in ausgezeichneter Weise besitzt und der sich keineswegs in physikalisch-kosmologischer Spekulation erschöpft 3 .

Klaus Held, Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung, Berlin/New York 1980, 108. 2 Jochem Hennigfsld, Geschichte der Sprachphilosophie, Bd. 1: Antike und Mittelalter, Berlin/New York 1994, 6. 3 Nicht kann in diesem Zusammenhang auf die klassische Frage der Heraklit-Forschung eingegangen werden, ob es eine „Flußlehre" überhaupt gab, d. h. ob dieser tatsächlich - wie bei Piaton beschrieben einen unwahrnehmbaren Fluß aller in der Welt seienden Dinge und damit der Welt selbst lehrte, welcher deren adäquate Erkenntnis unmöglich macht, oder ob es ihm gerade um die Konstitution der Selbigkeit der Dinge durch die Kontinuität und das Maß des Fließens ging, wenngleich die vorgelegte Analyse durchaus eine Akzentuierung der ersten Variante nahelegt, die im übrigen auch Nietzsche präferierte, wie Uvo Hölscher, Die Wiedergewinnung des antiken Bodens. Nietzsches Rückgriff auf Heraklit, in: neue hefte für philosophie 15 (1979), 156-182, hier 166, gezeigt hat. Vgl zur kontroversen Diskussion der einschlägigen Fragmente z. B. Geoffrey S. Kirk, Heraclitus. The Cosmic Fragments, Cambridge 1962, 366ff, oder Klaus Held, Heraklit, 325ff, die für die zweite Variante plädieren, und dg. z. B. W.K.C. Guthrie, Flux and Logos in Heraclitus, in: Alexander P.D. Mourelatos (ed.), The Pre-Socratics. A Collection of Critical Essays, Princeton 1993, 197-213.

16

I. Begriffshistorische G r u n d l e g u n g : Heraklits F r a g m e n t Β 52

1. Zur Struktur des heraklitischen Denkens D a ß „Heraklits L e h r e untrennbar mit der sprachlichen F o r m v e r b u n d e n (ist), in die er sie gefaßt hat" 1 , stellt einen der wenigen in der F o r s c h u n g weithin anerkannten P u n k t e dar. G e r a d e dieser sprachlichen F o r m und ihrem hervorstechendsten Charakteristikum, der schon in der A n t i k e sprichwörtlichen „Dunkelheit", „Rätselhaftigkeit" oder ihrem „Orakelstil", m ü s s e n wir uns zunächst z u w e n d e n . Heraklits D e n k e n ist uns nur in der F o r m von an disparaten Stellen verstreuten F r a g m e n t e n überliefert. D i e s e zeichnen sich in ihrer K ü r z e d u r c h eine b e m e r k e n s w e r t e Geschlossenheit, P r ä g n a n z und sorgfältigste sprachliche D u r c h f o r m u n g 2 aus. Schon aus diesem G r u n d scheint es plausibel a n z u n e h m e n , d a ß die überlieferten F r a g m e n t e nicht einfach m e h r o d e r weniger zufällig ausgewählte Sätze oder Satzpartikel darstellen, die aus einem f o r t l a u f e n d e n Prosatext e n t n o m m e n w u r d e n . Es spricht vielmehr einiges d a f ü r , daß die heraklitische P h i l o s o p h i e in solchen „ g n o m i s c h e n " S p r ü c h e n 3 ihren adäquaten A u s d r u c k f a n d . Trotz der N ä h e der vorsokratischen Philosophie zur m ü n d l i c h e n Ü b e r l i e f e r u n g u n d d e r d a m i t v e r b u n d e n e n großen B e d e u t u n g des gesprochenen W o r t e s und w e g e n d e r kritischen W e n d u n g gegen die ältere Tradition der oral poetry eines H o m e r oder eines H e s i o d gibt es gute G r ü n d e f ü r die A n n a h m e , daß Heraklits Spruchweisheiten von A n f a n g an zur schriftlichen N i e d e r l e g u n g in B u c h f o r m , „as an o b j e c t carefully contrived and intended for careful study" 4 , konzipiert waren. So berichtet die d o x o g r a p h i s c h e Tradition an keiner Stelle von e i n e m echten, hörenden Schülerkreis Heraklits. D i o g e n e s Laertius weist vielmehr ausdrücklich auf d i e M e n s c h e n feindlichkeit und E i n s a m k e i t des „ephesischen Einsiedlers des Artemi s t e m p e i s " 5 hin. Auch w u r d e die B e w e g u n g der sogenannten „Herakliteer" nicht durch persönliche U n t e r w e i s u n g durch den N a m e n s g e b e r begründet, sondern durch die L e k t ü r e seines B u c h e s . 6 Schließlich zeugen d i e zahlreichen R e f l e x e der heraklitischen P h i l o s o p h i e in den W e r k e n späterer Autoren, vor allem in denen Piatons, v o m sorgfältigen S t u d i u m eines Textes. D i e s legt auch die b e r ü h m t e A n e k d o t e über die Sokrates gestellte Frage des Euripides zur p h i l o s o p h i s c h e n Qualität des heraklitischen B u c h e s nahe 7 : Der delische T a u c h e r benötigt A u s d a u e r f ü r seine V e r s u c h e , die Schätze aus d e m nicht o b seiner Trübheit, sondern ob seiner T i e f e d u n k l e n W a s s e r s der heraklitischen Schrift zu bergen, so d a ß Charles H. Kahn zurecht bemerkt: „As a written text f o r

Hans Diller, Weltbild und Sprache im Heraklitismus, in: ders., Kleine Schriften zur antiken Literatur (hg. v. Hans-Joachim Newiger u. Hans Seyffert), München 1971, 187-200, hier 187. Vgl. insb. Bruno Snell, Die Sprache Heraklits, in: Hermes 61 (1926), 353-381. 2 Vgl. Karl Deichgräber, Rhythmische Elemente im Logos des Heraklit, Wiesbaden 1962. 3 Vgl. Uvo Hölscher, Anfängliches Fragen. Studien zur frühen griechischen Philosophie, Göttingen 1968, 146ff. 4 Charles H. Kahn, Philosophy and the Written Word: Some Thoughts on Heraclitus and the Early Greek Uses of Prose, in: Kevin Robb (ed.), Language and Thought in Early Greek Philosophy, La Salle 1983, 110-124, hier 117. Vgl. auch Werner Jaeger, Die Theologie der frühen griechischen Denker, Darmstadt 1964, 129f. Diese Position steht nicht im Widerspruch zu der Forderung Deichgräbers, „daß die Alten und besonders auch Heraklit laut gelesen werden müssen" (Rhythmische Elemente, 5). 5 Philosophie im tragischen Zeitalter, KSA I, S.384, vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen (aus dem Griech. v. Otto Apelt, hg. v. Klaus Reich), Hamburg 3 1990, IX.3 (160). 6 Vgl. ebd., IX.6 (161f>7 Vgl. ebd., 11.22 (84).

17

1. Zur Struktur d e s heraklitischen D e n k e n s

study this (sc. Β 6 2 ) is hard e n o u g h . A s an oral text, s p o k e n but not repeated, it w o u l d be sheer mystification."' Freilich bietet auch die Lektüre einer G n o m e n s a m m l u n g n o c h g e n ü g e n d S c h w i e r i g k e i t e n , die b e i m S t u d i u m einer fortlaufenden, in sich g e s c h l o s s e n e n A b h a n d l u n g in dieser W e i s e nicht v o r k o m m e n und d i e für den m o d e r n e n Interpreten s o w o h l durch d i e U n v o l l s t ä n d i g k e i t der Sammlung

und e i n z e l n e r S p r ü c h e als auch durch die U n k e n n t n i s

ihrer R e i h e n f o l g e

noch

gesteigert w e r d e n . D i e H a u p t s c h w i e r i g k e i t liegt j e d o c h in e i n e m Sachverhalt, der d i e g n o m i s c h e Form

selbst a u s m a c h t

und mit d e m

bereits Jacob B e r n a y s

d i e heraklitischen

Fragmente

charakterisiert: S i e stellen e i n e V i e l z a h l „in sich g e s c h l o s s e n e r , nach den v e r s c h i e d e n s t e n Seiten hin treffender Sinnsprüche" 2 dar. D i e s e r p e r s p e k t i v i s c h e R e i c h t u m impliziert j e n e

zentrale

S c h w i e r i g k e i t der Heraklit-Interpretation: Je nach Erkenntnisinteresse o d e r P r o b l e m l a g e , nach A u s w a h l o d e r A n o r d n u n g der G n o m e n g e w i n n t ein und d e r s e l b e Spruch mehrere B e d e u t u n g e n o d e r B e d e u t u n g s s c h i c h t e n , die sich nicht a u s s c h l i e ß e n m ü s s e n und v e r s c h i e d e n e b e g e g n e n d e P h ä n o m e n e s i n n v o l l in ihrer äußeren und/oder inneren B e s c h a f f e n h e i t darzulegen b z w . rational n a c h z u v o l l z i e h e n d e B e z i e h u n g e n der P h ä n o m e n e untereinander a u f z u w e i s e n v e r m ö g e n , w e l c h e sich der unmittelbaren A n s i c h t e n t z i e h e n 3 . D i e T i e f e oder d i e s o g e n a n n t e „ D u n k e l h e i t " der heraklitischen

P h i l o s o p h i e liegt also gerade in ihrer charakteristischen

sprachlichen

Form,

w e l c h e die t y p i s c h e M e h r d e u t i g k e i t der G n o m e n bedingt. Strenge D u r c h f o r m u n g , K ü r z e und Prägnanz der S p r ü c h e 4 entzieht sie z u g l e i c h einer v o l l s t ä n d i g e i n d e u t i g e n Interpretation, d i e sich ein für allemal erkennen, festhalten und s c h l i e ß l i c h w i e e i n e Lehre mitteilen ließe 5 : W i e Martin H e i d e g g e r zurecht bemerkt, lehrt Heraklit e b e n gerade k e i n e Lehre, sondern „als D e n k e r gibt er nur zu denken" 6 .

1

Charles H. Kahn, Philosophy, 117. Jacob Bernays, Heraklitische Studien, in: Rheinisches Museum 7 (1850), 90-116, hier 91. 3 Vgl. Β 54 u. 123. 4 Vgl. Werner Jaeger, Theologie, 129. 5 Diese Offenheit gegenüber differierenden Interpretationsansätzen, die schon in der Gestalt der heraklitischen Philosophie sich zeigt, ist es auch, die sich strikt systematisierenden Deutungsversuchen letztlich widersetzt. Stellt man doch an solchen, sofern sie nicht im Stile eines „gewalttätige(n) Sich-Aneignen(s)" (Uvo Hölscher, Wiedergewinnung, 158, zurecht Uber Hegels Heraklit-Interpretation in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie) verfahren, eine gemeinsame Crux fest: Es ist ihnen in der Regel nicht möglich, alle Fragmente unter dem jeweiligen systematisierenden Gesichtspunkt zu integrieren, was j a ihrem Anspruch nach durchaus erforderlich wäre. Ohne deren Berechtigung in irgendeiner Weise anzuzweifeln, seien hier nur die Gesamtdarstellungen von Gigon, Guthrie, Kirk und Beets angeführt. Bei all ihren Differenzen weisen sie nämlich die auffällige Gemeinsamkeit auf, daß sie alle vor dem noch zu untersuchenden Fragment Β 52 „kapitulieren müssen" (Olof Gigon, Untersuchungen zu Heraklit, Leipzig 1935, 75, den W.K.C. Guthrie, A History of Greek Philosophy /, Cambridge 1962, 478, n. 2, zustimmend zitiert.) bzw. es aus der Untersuchung ausnehmen, da es nicht in deren Konzept paßt (vgl. Kirk, Cosmic Fragments, XIII), oder glauben feststellen zu können, daß es schlicht „zu kryptisch" für eine wie auch immer geartete Interpretation sei (M.G.J. Beets, The Coherence of Reality. Experiments in Philosophical Interpretation: Heraclitus, Parmenides, Plato, Delft 1986, 67). Gerade diese Sperrigkeit und Rätselhaftigkeit kann aber ebensogut als Argument dafür dienen, dem Fragment besondere Aufmerksamkeit zu widmen, da es sowohl einwandfrei als heraklitisch erwiesen ist, als auch in besonderer Weise den Denkstil Heraklits vor Augen zu führen vermag, wie noch zu zeigen sein wird. Eine gewisse skeptische Zurückhaltung gegen systematisierende Deutungsversuche, insbesondere dann, wenn sie den Anspruch erheben, die ursprüngliche und eigentliche Eindeutigkeit der heraklitischen Philosophie aufzuweisen, ist jedenfalls kaum zu umgehen. 2

6

Martin Heidegger, Logos (Heraklit, Fragment 50), in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 6 1990, 199-221, hier 214; vgl. auch: Heribert Boeder, Topologie der Metaphysik, Freiburg/München 1980, 96.

18

I. Begriffshistorische Grundlegung: Heraklits Fragment Β 52

Die sprachliche Gestalt und der stark poetisierende Stil 1 der heraklitischen Fragmente macht die Vermutung plausibel, daß es gerade die aufgezeigte Mehrdeutigkeit bzw. die Offenheit gegenüber verschiedenen rationalen Deutungsversuchen ist, auf die es Heraklit ankommt. Diese Polysemie ist ein Grundzug seiner Philosophie, der ihrer Sache, dem λ ό γ ο ς , selbst angehört, auf diese verweist und sie in einem im folgenden aufzuweisenden Sinne selbst repräsentiert. Sie stellt keinesfalls eine bloße Konsequenz eines „archaischen Mangels an Differenziertheit" 2 dar. Eine solche Unterstellung müßte entweder zu unkontrollierter Spekulation oder zur Ablehnung des heraklitischen Gedankenguts als vorsätzlich unverständlich und damit als der ernsthaften philosophischen Beschäftigung unwürdig führen 3 . Heraklit läßt ebensowenig - trotz der offensichtlich intendierten Mehrdeutigkeit seiner Sprüche - einen vollständigen interpretativen Relativismus zu: Die Polysemie impliziert keine Beliebigkeit. Er gibt vielmehr selbst das Kriterium f ü r die Zulässigkeit der Deutungen seiner, die Sache seines Denkens entdeckenden Sprüche selbst an: Sie müssen wie diese selbst dem Logos genügen, der allgemein gilt und dem gemäß alles eins ist, insofern er alles, auch das polar Entgegengesetzte, „beisammen-vor-liegen" läßt. 4 Diese Bedingung erfüllt allein die philosophische Rede, die ein ό μ ο λ ο γ ε ΐ ν (Β 50) ist. Sie kann dies nur deshalb sein, weil sie nicht den Logos selbst aussagt, sondern ihren Aussagen über das in der Welt Begegnende diesen zugrundelegt. Im Vertrauen 5 auf ein nicht-propositionales Wissen davon, daß der Logos als ihr Grund die Einheit von allem gewährt, ist der Philosoph auf die vernünftige Rede verpflichtet: Da der Grund von Einheit selbst nicht diskursiv faßbar ist, weil er die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen überschreitet, ist das Sprechen über ihn auf die strikte Einhaltung dieser Grenzen festgelegt. Diesem gemäß ist vielmehr die Feststellung von Unterschieden und deren begrifflicher Ausdruck, die das Wesen des menschlichen Urteilens und Erkennens ausmachen. Der Logos ist somit zwar Grund der Vernunft, er erschöpft sich aber keineswegs in der Vernunft. Deswegen widerspräche es der Einsicht in den Logos, bei den begrifflich isolierten Unterschieden 6 stehenzubleiben und sie auf diese Weise als das, was ist, festzuschreiben, d. h. in der bloß menschlichen δ ό ξ α zu verharren. Der Logos selbst verlangt vielmehr deren Überschreitung. Diese kann jedoch nicht in der Weise einer spekulativen Rationalität geschehen, da diese sich die Aussage eines Nichtaussagbaren zumutete und so die entscheidende Differenz zwischen Menschen und Göttern außer Acht ließe und einen Anspruch erhöbe, der die Götter ebenso beleidigte wie er die Menschen betröge. Im Bewußtsein der Unzulänglichkeit seiner unterscheidenden, mithin begrifflichen Rede 7 ist der Philosoph aufgefordert, sowohl auf diese Unzulänglichkeit als auch auf deren Grund hinzuweisen. Dies kann eine spezielle Mitteilungsweise leisten, die Heraklit in den Sprüchen des Delphischen Orakels vorgeformt findet 8 : Hierbei wird der jeweilige Sachverhalt nicht ausgesagt und nicht

1

Vgl. Bruno Snell, Sprache,

2

Klaus Held, Heraklit,

3

Mit dieser Begründung übergeht bereits Cicero Heraklit: De natura

357f.

177. deorum

(Lat./Dt. hrg. v. Ursula

Blank-Sangmeister), Stuttgart 1995,111.35 ( 3 0 4 f f ) . 4

Vgl. etwa Martin Heidegger, Logos,

5

Vgl. Heribert Boeder, Topologie,

6

Vgl. Andreas Graeser, On Language,

21 l f .

91 f. Thought,

and Reality

31 ( 1 9 7 7 ) , 3 5 9 - 3 8 8 , hier 3 6 6 , u. Bruno Snell, Sprache, 369. 7 Vgl. W o l f g a n g Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie Voraussetzungen.

Tübinger

Vorlesungen

Schudoma), Frankfurt/M. 1 9 7 8 , 3 8 0 . 8 Vgl. ebd., 3 8 4 .

in Ancient

Greek

bei den Griechen.

Philosophy,

in: dialectica

Die Vorsokratiker

und

ihre

Bd. / (unter Mitwirkung von Maria S c h a d e w a l d t hrg. v. Ingeborg

19

1. Z u r Struktur des heraklitischen D e n k e n s

verborgen, sondern es wird ein ihm irgendwie entsprechendes Zeichen gegeben. 1 D e s s e n Pointe liegt nun gerade darin, daß aus verschiedenen Perspektiven sich stets rationale Interpretationen finden lassen, deren Vielzahl zeigt, daß die v o r k o m m e n d e n G e g e n s ä t z e nicht strikt disjunkt sind, sondern ineinander Ubergehen können, wobei die M ö g l i c h k e i t schlichter Position und Negation

freilich

Möglichkeiten

nicht

als

aufzudecken

eine und

Interpretationsvariante

solchermaßen

die

ausgeschlossen

perspektivische

wird.

Diese

Beschränkung

der

menschlichen V e r n u n f t einsichtig zu machen, obliegt d e m Interpreten des g e g e b e n e n Zeichens. D i e M e h r d e u t i g k e i t der heraklitischen G n o m e n weist der kritischen D i s t a n z i e r u n g g e g e n ü b e r einmal g e f u n d e n e n begrifflichen Festlegungen den W e g , o h n e sie j e d o c h als schlicht falsch zu diskreditieren, da sie j a stets, sofern sie den menschlichen Rationalitätsstandards

genügen,

zumindest einen Aspekt der mitzuteilenden S a c h e zu erhellen v e r m ö g e n , o h n e diese j e d o c h zu e r s c h ö p f e n . In

seinem

Streben

nach

Genauigkeit,

Deutlichkeit

und

Angemessenheit

des

s a c h b e z o g e n e n philosophischen Sprechens wird Heraklit z u m ersten M a l die S p r a c h e z u m Problem: Sie verliert sowohl im Blick auf ihren u m g ä n g l i c h e n und poetischen als auch im Blick auf

ihren

wissenschaftlichen

Gebrauch

Heraklit ihren zugleich erhellenden

„ihre

vermeintliche

Selbstverständlichkeit" 2 ,

und verbergenden Charakter, gleichsam ihre

weil

genuine

Polysemie, b e m e r k t und durch die W e i s e seines S p r e c h e n s thematisiert. Z u g l e i c h ermöglicht gerade diese durch Heraklit o f f e n g e l e g t e P o l y s e m i e in kritischer W e n d u n g gegen den A n s p r u c h menschlichen Wissens, aussagen zu können, was ist, den H i n w e i s auf den transzendenten G r u n d der Totalität des Seienden 3 in der W e i s e v e r n ü n f t i g e n R e d e n s .

Vgl. hierzu die Interpretation des Fragmentes Β 93 - ό αναξ, οΰ t o μαντεΐόν έστι τό έν Δελφοΐς, οΰτε λέγει ούτε κρύπτει ά λ λ α σημαίνει. - von Bruno Snell, Sprache, 37If. 2 Jochem Hennigfeld, Geschichte, 13. 3 Vgl. Manfred Riedel, Logik und Akroamatik. Vom zweifachen Anfang der Philosophie, in: ders., Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik, Frankfurt/M. 1990, 383-403, hier 395f.

20

I. Begriffshistorische Grundlegung: Heraklits Fragment Β 52

2. Die Verschränkung von Spiel, Sprache und Welt in Heraklits Fragment Β 52 Vor diesem Hintergrund kann nun zum Fragment Β 52 selbst übergegangen werden. Dies soll jedoch nicht in Form einer herkömmlichen Interpretation geschehen, welche die verschiedenen Deutungsvarianten abwägt und sich dann für eine bestimmte entscheidet. Anhand einer Analyse des vorliegenden Wortmaterials 1 soll vielmehr zum einen die Berechtigung und Notwendigkeit des Variantenreichtums dargestellt und so das Fragment Β 52 als paradigmatisch für j e n e Eigentümlichkeit des heraklitischen Denkstils erwiesen werden, die oben als Mehrdeutigkeit oder Polysemie bezeichnet wurde. Hierbei soll zum anderen Heraklits Begriff des Spieles exponiert und seine untergründige Beziehung zu Sprache und Welt herausgearbeitet werden 2 .

a) Leben und Welt als αιών Bereits das erste Wort des Fragments, αιών 3 , auf das sich die folgende Personifikation bezieht, weist drei divergierende Bedeutungsstränge auf: Es bezeichnet sowohl das inhaltlich erfüllte Leben als auch die Lebenszeit als auch die Lebenskraft des Menschen. Zu beachten ist, daß eine terminologische Festlegung - und dann auch nur für die philosophische Redeweise - erst bei Piaton erfolgt, der α ι ώ ν mit der ideellen Ewigkeit identifiziert, deren Abbild in der Sinnenwelt die Zeit ist, und auch weiterhin α ι ώ ν konsequent im Sinne von Ewigkeit verwendet 4 , so daß bei der Lektüre früherer Verwendungen alle obengenannten Sinnschichten noch mitgehört werden sollten. Ungeachtet dieser platonischen und nachplatonischen Sonderverwendung nimmt das Wort α ι ώ ν „überhaupt nirgends in der griechischen Sprache" 5 die Bedeutung reiner vergehender Zeit, χρόνος, an, da ihm „nie ein inhaltliches Moment ganz abgeht" 6 . Im Blick auf die zeitliche Bedeutungsebene läßt sich Wilamowitz-Moellendorff zustimmen, für den α ι ώ ν primär „die Zeit

Vgl. hierzu die detaillierten Darstellungen von Günter Wohlfart, ,/ilso sprach Herakleitos". Heraklits Fragment Β 52 und Nietzsches Heraklit-Rezeption, Freiburg/München 1991, insb. 23-200, Theophilos Beikos, Heraclitus' Fr. 52, in: ΦΙΛΟΣΟΦΙΑ 1 (1971), 155-175, und v. a. die ebenso knappe wie genaue Untersuchung von Licia Rossi, ΑΙΩΝ. Eraclito Β 52 D.-K., in: Annali dell'istituto di filosofia di Firenze 4 (1982), 1-42. 2 Einen solchen Zusammenhang deutet auch Ingeborg Heidemann an, ohne ihn jedoch irgendwie näher zu bestimmen: Zur ästhetischen Deutung der Welt. Heraklit: Fragment 52, in: Werner Körbs/Heinz Mies/Klemens C. Wildt (Hg.), FS Carl Diem, Frankfurt/M./Wien 1962, 17-27, hier 18f. 3 Vgl. zum folgenden: Conrad Lackeit, Aion. Zeit und Ewigkeit in Sprache und Religion der Griechen. 1. Teil: Sprache, Königsberg 1916, mit den entsprechenden Belegstellen. 4 Vgl. Tim. 37d. 5 Conrad Lackeit, Aion, 30. 6 Ebd., 82.

2. Die Verschränkung von Spiel, Sprache und Welt in Heraklits Fragment Β 52

21

relativ" 1 heißt. Es ist also von der Zeit die Rede, die sich auf etwas bezieht und gerade nicht ewig währt, insofern „ewig" in strengem Sinne als sowohl anfangs- wie auch endlos verstanden wird. Als solchermaßen 'zeitliche Zeit', die irgendwann anfängt und irgendwann endet, ist sie in ihrem Vergehen der Wahrnehmung zugänglich. Die als α ι ώ ν verstandene Zeit bezieht sich stets auf ein Geschehen, das sie begrenzt. Innerhalb dessen zeigt sie sich als Bewegung, die in der Veränderung zum Vorschein kommt. Damit bezeichnet die zeitliche Bedeutungsdimension von α ι ώ ν die sinnlich als Veränderung erfahrbare innerweltliche Zeit, die sich folglich auf alles in der Welt Seiende bezieht, an welchem sich denn auch ihr Vergehen und Fortfließen zeigt. Diese Bedeutung von α ι ώ ν wird durch eine weitere Sinnschicht jedoch noch spezifiziert, die die Art des begrenzten Geschehens näherhin bestimmt. Homers Verwendung, die „allgemein für das Griechische zugrunde gelegt werden m u ß " und insofern die ursprünglichste ist, bezeichnet „den Inhalt des Lebens, nicht seine zeitliche Ausdehnung", und zugleich „das physische Lebensprinzip, durch das wir leben". 2 Freilich schwingt auch hier die zeitliche Konnotation, die in der weiteren Entwicklung des Sprachgebrauchs j a dominiert, bereits mit. Das innerweltliche Geschehen also, auf das α ι ώ ν sich bezieht, ist das Leben, und zwar in seiner jeweiligen inhaltlichen Bestimmtheit, d. h. im Blick auf die Abfolge der es charakterisierenden Veränderungen. Im Bezug auf dieses Geschehen als solches und die es verursachende, körperlich - im Gegensatz zu θ υ μ ό ς oder ψ υ χ ή - aufzufassende Lebenskraft, die sich auch im Bereich des Sinnlichen zeigt, gibt es formal keinen Unterschied zwischen lebenden Wesen, seien es Tiere, Menschen oder - nach griechischem Glauben j a entstandene, also nicht ewige Götter. Insofern aber der Inhalt des Geschehens als bestimmter und damit als gezeitigter gemäß der V e r k n ü p f u n g von Ursache und Wirkung bzw. durch die Aufspaltung in Vergangenheit, Gegenwart und Z u k u n f t überhaupt erst deutlich werden kann, scheint eine besondere Bedeutung von α ι ώ ν f ü r das Leben des Menschen schwerlich von der Hand zu weisen. Homer nämlich „gebrauchte α ι ώ ν nur in Beziehung auf das Lebensende, den Tod" 3 , so daß bereits an dieser Stelle das die Griechen so stark bewegende und prägende tragische Geschick des Menschentums in der Zeit anklingt: Die Erfahrung der Endlichkeit eines sich seiner selbst bewußten Wesens und das schreckliche Wissen um deren Notwendigkeit. Tatsächlich identifiziert etwa Pindar α ι ώ ν geradezu mit dem menschlichen Fatum: δ ό λ ι ο ς γ α ρ α ι ώ ν έπ' ά ν δ ρ ά σ ι χ ρ έ μ α τ α ι , / έ λ ί σ σ ω ν β ί ο υ π ό ρ ο ν 4 - Denn tückisch schwebt der Aion über den Menschen,/ ihr Leben hin und her schleudernd. Noch Euripides verweist auf die Unabänderlichkeit des Lebensgeschehens, das mit jedem Augenblick seinem Ende sich annähert: ά λ λ ' έ ν δ ό μ ο ι ς μεν ήν τι μ ή κ α λ ώ ς έχη,/ γ ν ώ μ α ι σ ι ν ύ σ τ έ ρ α ι σ ι ν έξορθούμεθα,/ α ι ώ ν α δ' ο υ κ εξεστιν. 5 - Denn wenn sich etwas übel fügt in unserem Haus:/ Von neuen prüfend wenden wir's zum Besseren,/ Nur unseren Lebensgang nicht. Berücksichtigt man überdies noch die stark anthropomorphe Weltsicht des früheren Griechentums, erscheint eine Übertragung des notwendig auf sein Ende zulaufenden Lebensgeschehens auf das gesamte sinnlich erfahrbare Geschehen in der Welt durchaus treffend. Αιών läßt sich also zusammenfassend wohl einigermaßen beschreiben als notwendig auf sein Ende zulaufendes innerweltliches Lebensgeschehen, das vom Menschen auch als solches wahrgenommen werden kann und wahrgenommen wird. Die behelfsmäßige Übersetzung mit „Weltzeit", wenn damit die überindividuelle sinnliche Erfahrung der fließen1 2 3 4 5

Ulrich v. W i l a m o w i t z - M o e l l e n d o r f f , Euripides, Herakles, Berlin 2 1909, 363f. Conrad Lackeit, Aion, 8f; vgl. ζ. B. Mas, IX.415 u. V.685. Conrad Lackeit, Aion, 11. Pindar, Isthmische Ode VIII.14, in: Oden (Griech./Dt. hrg. v. Eugen Dönt), Stuttgart 1986, 274. Euripides, ΙΚΕΤΙΔΕΣ 1082ff, in: Fabulae (rec. Gilbertus Murray) T o m . II, O x f o r d 3 1913.

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I. Begriffshistorische Grundlegung: Heraklits Fragment Β 52

den Zeit illustriert werden soll, erscheint damit angemessener als „Lebenszeit"; ganz abzuweisen ist für unseren Fall bloß „Zeit" oder gar „Ewigkeit". 1 Im folgenden soll jedoch wegen der stark oszillierenden Bedeutung auf eine Übersetzung verzichtet und der Ausdruck α ι ώ ν beibehalten werden.

b) Apoll, Dionysos und die Sprache der Menschen

Die Zuordnung der einfachen Wortbedeutung des folgenden Ausdrucks, π α ΐ ς π α ί ζ ω ν bzw. π α ι δ ό ς , bringt dagegen zunächst keine Schwierigkeiten: Der α ι ώ ν wird mit einem spielenden Kind - genauer wohl einem Knaben - personifiziert, was sicherlich keine bloße poetische Augenblicksleistung darstellt, die sich „im Geiste des Dichters im N u " bildet und nur durch ihre schriftliche Niederlegung vor einem „ebenso schnellen"" Verschwinden bewahrt wird. Zeugt doch wie gezeigt Heraklits Denkstil im Gegenteil von einer dezidierten Reflektiertheit des mehrdeutig Gesagten. Probleme bereitet vielmehr die Einordnung der Personifikation - der α ι ώ ν als spielendes Kind - selbst: Was kann sie bedeuten? Und ist hier ein beliebiges menschliches? - Kind gemeint, oder läßt sich die Identität des Kindes vielleicht näherhin spezifizieren? 3

α ) D a s spielende M e n s c h e n k i n d Zunächst ist das Kindbild der griechischen Antike keineswegs als eindeutig zu bezeichnen. Keinesfalls kann man aber von einer allgemeinen uneingeschränkten Geringschätzung des Kindes als „weak, foolish, and despicable" 4 ausgehen. Ein solches grundsätzlich pejorativ geprägtes Verständnis der griechischen Einschätzung des Kindseins scheint eher aus der zwar berechtigten, aber auch zu kontrollierenden Furcht zu entspringen, notwendig einen auf dem Boden des Christentums gewachsenen „Gemeinplatz des romantischen Geistes" 5 einnehmen zu müssen und der Kindheit bzw. dem Kindsein eine ebenso uneingeschränkte, und damit gleichfalls übertriebene, Hochschätzung angedeihen zu lassen. Auch scheint die Annahme, der Knabe stünde ausschließlich für die Unbewußtheit der Notwendigkeit seines Tuns, das j a doch gemäß dem Logos geschieht, zu kurz zu greifen: Wir müßten dann fragen, warum dieses Tun, das Spielen, ausgerechnet durch das Wort π ε σ σ ε ύ ω ν genauer bestimmt wird, was gerade diese Deutung kaum zuläßt, wie noch zu zeigen sein wird. '

Die Übersetzung von G ü n t e r Wohlfart, Also, 185, mit „ L e b e n s s p i e l " scheint etwas tendentiös. Dieser eigentümlichen Ansicht ist Conrad Lackeit, Aion, 83. 3 Vgl. z u m folgenden G ü n t e r Wohlfart, Also, 79-123. 4 Hermann Frankel, A Thought Pattern in Heraclitus, in: Alexander P.D. Mourelatos, Pre-Socratics, 2142 2 8 u. ö., hier 215. Auch Klaus Held schließt sich dieser These von der „ G e r i n g s c h ä t z u n g des Kindes bei Heraklit" (Heraklit, 4 3 6 f f ) mit Nachdruck an, was in dieser Schlichtheit als nicht ganz angemessen erscheint. 2

s

Tilman Borsche, Erfindung,

75.

2. Die Verschränkung von Spiel, Sprache und Welt in Heraklits Fragment Β 52

23

Ebenso macht es Schwierigkeiten, dem α ι ώ ν , an und in dem allein die Herrschaft des Logos dem Einsichtigen sich zu zeigen vermag, durch eine allzu einseitig pejorative Interpretation des Kindes gezwungen, den Logos schlechterdings entgegenzusetzen. Held tut dies, wenn er α ι ώ ν als „Titel" für das „vorphilosophische, ansichtshaft geführte L e b e n " auffaßt, obgleich α ι ώ ν doch auf die Bewußtheit des notwendigen Lebensverlaufes seinem Ende entgegen hinweist, so daß die „Todesvergessenheit bzw. Lebensverfallenheit" 1 , welche die ansichtshaft Lebenden charakterisiert, hier wohl nicht angesprochen sein kann. Auch wenn die Antike am Kind in erster Linie das Unfertige, d. h. aber auch das Noch-Nicht, bemerkte, ist eine einseitig privative Deutung so nicht vertretbar, und zwar sowohl wenn man die hohe Bedeutung des αϊών-Begriffes als auch die des Kindbildes in Kunst und Religion der Griechen in Betracht zieht. Dazu kommt in unserem speziellen Fall noch, daß Heraklit scheinbar die Gesellschaft von Kindern der Erwachsener vorzog. 2 Auch ist dann das Spiel keine irgendwie verächtliche, „willkürlichunsinnige" 3 Tätigkeit, deren Fortgang und dessen Regel im Unbewußten verharren können: Es ist eben, wie schon der gemeinsame Wortstamm nahelegt, die dem Kindsein angemessene und zugehörige Tätigkeit, die als solche ihren Sinn durchaus in sich trägt und sich freilich von der dem Erwachsenen jeweils angemessenen Tätigkeit unterscheidet. Wobei weiterhin zu bemerken ist, daß die hier durch π α ί ζ ω ν benannte kindliche Tätigkeit des Spielens im Gegensatz zu den vielerlei Weisen der dem Erwachsenen angemessenen Betätigungen noch ganz undifferenziert angesprochen wird. Es ist hier noch kein bestimmtes Spiel gemeint, sondern nur die Erfüllung der Daseinsweise des Kindseins in der dieser angemessenen Tätigkeit des Spielens, die sich so als absolut sinnvoll herausstellt. Sofern man das spielende Kind als solches im allgemeinen Sinne versteht, könnte man eingedenk der oben umrissenen formalen Beschaffenheit des Logos wohl eher davon sprechen, daß im Kind, also im noch nicht vollständig in seiner eigenen, jeweiligen Ausprägung entwickelten Menschenwesen, eine Möglichkeit vorliegt, die ihre Gegenmöglichkeit noch mit einschließt, so wie im überindividuell verstandenen Lebensgeschehen eine Unzahl sich widersprechender Möglichkeiten liegen, von denen einige innerhalb der zeitlichen Erstreckung des jeweiligen Lebens mit Notwendigkeit sich realisieren und damit zugleich andere ebenso ausschließen.

ß) A p o l l o n ludens

Neben einer solchen Deutung, die das spielende Kind als solches allgemein faßt, ist es jedoch durchaus möglich, die Identität des Kindes wenn schon nicht präzise festzulegen, so doch immerhin einzukreisen bzw. verschiedene, sich durchaus nicht widersprechende Verstehensmöglichkeiten anzugeben. Wenngleich in der klassischen, homerischen Religion die Götter stets als Jünglinge oder erwachsene, bärtige Männer vorgestellt wurden, gab es doch einen reichen

Klaus Held, Heraklit, 4 3 9 ; es fällt auf, daß sich Held gerade im Z u s a m m e n h a n g seiner Β 52-Interpretation auf den „ R a h m e n des frühen griechischen D e n k e n s " und gar auf die U n g e w ö h n l i c h k e i t des G e d a n k e n s „ f ü r den griechischen Leser" (438), also wohl auf den h e r r s c h e n d e n c o m m o n sense beruft, während er sonst gerade die A b g r e n z u n g und A b l e h n u n g der Ü b e r z e u g u n g e n der Vielen zu Heraklits Hauptanliegen erklärt. 2 Vgl. D i o g e n e s Laertius, Leben und Meinungen, IX.3 (160). 3 Bruno Snell, Sprache, 373, A n m . l .

24

I. Begriffshistorische G r u n d l e g u n g : Heraklits F r a g m e n t Β 52

Schatz an Kindheitsgeschichten der Götter, der Uber ihre bloße A b s t a m m u n g , wie sie bei Hesiod beschrieben

wird, weit hinausgeht. Inhaltlich

läßt sich die B e r e c h t i g u n g

mythologischer

D e u t u n g s v e r s u c h e unter Vorgriff auf den zweiten Teil des F r a g m e n t e s - π α ι δ ό ς ή β α σ ι λ η ί η recht

einfach

begründen:

Wenn

die

Herrschaftsfunktion

über

das

innerweltliche

L e b e n s g e s c h e h e n einem Kind obliegt und man an der Konkretheit der heraklitischen Bilder festhalten will, dann scheint das Kind göttliche Funktion zu erfüllen; zumal auch Piaton an einer Stelle auf die spielerische Leichtigkeit der Götter bei der W e l t r e g i e r u n g hinweist, die möglic h e r w e i s e als A n s p i e l u n g auf Heraklit verstanden werden darf. 1 Bereits Jacob Bernays, d e m sich Nietzsche anschließt, vertrat die A u f f a s s u n g , d a ß Heraklit hier unter A u f n a h m e eines Bildes H o m e r s das spielende Kind mit Apoll identifiziert. 2 D i e s e A n n a h m e erscheint immer noch als durchaus plausibel. 3 Bei H o m e r heißt es: τη ρ' οϊ γε προχέοντο φαλαγγηδόν, πρό δ' 'Απόλλων αίγίδ' έχων έρίτιμον. έρειπε δε τείχος 'Αχαιών ρεΐα μάλ', ώς δτε τις ψάμαθον παις ά γ χ ι θαλάσσης, δς τ' έπεί οΰν ποίηση αθύρματα νηπιέησιν, α ψ αΰτις συνέχευε ποσίν και χερσίν άθΰρων. ώς ρα σύ, ήιε Φοίβε, πολΰν κάματον και όιζύν σ ύ γ χ ε α ς Άργείων, αϋτοΐσι δε φύζαν ένώρσας. „Dort nun strömten sie vor in geschlossener Schar, und Apollon Vorn, von der Aigis umstrahlt; hinstürzt' er der Danaer Mauer Leicht, wie etwa den Sand ein Knab am Ufer des Meeres, Der, nachdem er ein Spiel aufbaut' in kindischer Freude, Wieder mit Hand und Fuße die Häuflein spielend verschüttet: So, ferntreffender Phoibos, vernichtetest du der Achaier Müh und jammernden Fleiß, und scheuchtest sie selbst mit Entsetzen." 4 G e w i ß bildet die „spielerische Leichtigkeit der Z e r s t ö r u n g " 5 der achaischen W ä l l e durch den zürnenden Gott das tertium comparationis des homerischen Gleichnisses, doch scheint es, als griffe diese A u s l e g u n g noch zu kurz: Jeder Gott k ö n n t e mit der selben Leichtigkeit M e n s c h e n w e r k zerstören. Folglich schiene eine Identifikation des spielenden K n a b e n Heraklits mit H o m e r s Apoll bei aller philologischen Wahrscheinlichkeit nicht z w i n g e n d . W e n n wir sowohl die Sorgfalt und B e w u ß t h e i t b e d e n k e n , mit der Heraklits S p r ü c h e d u r c h f o r m t sind, als auch die durch die H o m e r s t e l l e nahegelegte A n s p i e l u n g auf Apoll f ü r das Verständnis des F r a g m e n t e s f r u c h t b a r machen wollen, ist es nötig, die Gestalt des Gottes etwas n ä h e r ins A u g e zu fassen. Obgleich die h o m e r i s c h e Religiosität in ihrem Kultus w e n i g Platz f ü r die K i n d h e i t s g e s c h i c h t e der Götter bot, die j a stets, j e nach Generation, als J ü n g l i n g e oder bärtige M ä n n e r dargestellt wurden, überliefert doch der schon in der Antike H o m e r z u g e s c h r i e b e n e H y m n u s auf den

1

Vgl. Nomoi, 903df und Günter Wohlfart, Also, 91 f. Vgl. Jacob Bernays, Studien, 1 lOff. 3 Vgl. die detaillierte Interpretationsgeschichte bei Günter Wohlfart, Also, 94-108, insb. die treffende Kritik an Tilman Borsches übereilter Zurückweisung der Deutung (vgl. Erfindung, 73f), 99, Anm. 285. 4 llias (hg. u. komm. v. J.U. Faesi), Berlin 3 1858, XV. 360-366. Die Übersetzung stammt aus: Homer, Ilias (aus dem Griech. v. Johann Heinrich Voß), München o. J., 213. 5 Günter Wohlfart, Also, 103. 2

2. Die Verschränkung von Spiel, Sprache und Welt in Heraklits Fragment Β 52

25

Delischen Apoll, der wohl auf das 7. vorchristliche Jahrhundert zu datieren ist 1 , die Geburt und Jugend Apolls. Weil die in Kinder- und Jugendzeit vollbrachten Taten „den Gott bereits in der Vollkommenheit seiner Gestalt und Macht zeigen und dadurch das biographische Denken - das Denken in Lebensaltern als Stufen einer Entwicklung - eigentlich ausschliessen" 2 , kann angenommen werden, daß auch und gerade in der kindlichen Gestalt des Gottes seine wesenhaften Eigenschaften besonders deutlich zu Tage treten; zumal Attribute, die häufig erst später erworben werden, das Bild noch nicht trüben oder gar verzerren können. So sollen nach dem Delischen Hymnus die ersten Worte des neugeborenen Apoll, des Sohns der Leto und des Zeus, gewesen sein: Εϊη μοι κ ί θ α ρ ί ς τε φ ί λ η κ α ι κ α μ π ύ λ α τόξα,/ χ ρ ή σ ω δ' ά ν θ ρ ώ π ο ι σ ι Διός ν η μ ε ρ τ έ α βουλήν. - „Mein sei Leier und krummer Bogen, die werde ich lieben,/ Und ich künde den Menschen des Zeus untrüglichen Ratschluß." 3 Bei Euripides erlegt er sogar als Kind den delischen Drachen Python und erbittet von Zeus die Herrschaft über das Orakel von Delphi, das zuerst der Themis angehörte, und „daß von Gaias Groll" - deren Sproß der erschlagene Drache war - „er das pythische/ Haus und von Stimmen der Nacht erlöse." 4 All' diese Attribute der grundlegenden Wesenszüge des Apoll, Leier, Bogen und Weissagung, findet man auch bei Heraklit, der in einigen Fragmenten offenbar auf den delphischen Gott anzuspielen scheint. Der Fragerichtung entsprechend werde ich mich im folgenden auf das Orakelwesen konzentrieren. Eine gewisse Nähe des heraklitischen Denkens zur überlieferten Gestalt Apolls ist schwerlich ganz abzustreiten, wenn man zudem noch, ohne auf die Frage nach der geographischen Herkunft des Kultes eingehen zu müssen, bedenkt, daß es in „Kleinasien (...) eine große Zahl von Orakeln des Apollon (gab), von denen einige sehr berühmt waren." 5 Im Gegensatz zur induktiven Mantik der homerischen Tradition, bei der aus Träumen und natürlichen Geschehnissen wie ζ. B. dem Vogelflug auf die unbekannte Zukunft geschlossen wurde, praktizierte man in Delphi und den anderen Apollonorakeln ekstatische Mantik bzw. Inspirationsmantik. Die Unfehlbarkeit des delphischen Orakels war durch die persönliche Anwesenheit des Gottes verbürgt, ohne die an keine Tätigkeit der Pythia zu denken war. Die für uns interessante Differenz zwischen der induktiven Mantik der homerischen Religion und der ekstatischen Mantik des Apollonkultes liegt nun darin, daß bei ersterer natürliche Vorgänge als Zeichen eines Gottes, zumeist des Zeus, interpretiert wurden, während im zweiten Fall der Gott selbst durch ein Medium die Zeichen in einer Weise gibt, die diese als solche unmittelbar kenntlich macht, und zwar in der Form von Sprüchen, d. h. durch kurze Mitteilungen in der Sprache der Menschen. Besteht im ersten Fall die Schwierigkeit darin, die Zeichen überhaupt als solche zu erkennen, welche sich dann aber durch entsprechende Spezialisten eindeutig interpretieren lassen, ist im zweiten gerade die Auslegung der in sprachlicher Form gegebenen Zeichen, welche wie oben angesprochen j a Sinn und Gegensinn - und so einen ganzen Sinnkreis -

Vgl. Albin Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, M ü n c h e n 1993 (Nachdr. d. Ausg. Bern/München 3 1971), 108f. 2 Karl Kerenyi, Göttliche Kinder, in: C.G. Jung/Karl Kerenyi, Einführung in das Wesen des Mythos. Gottkindmythos, Eleusinische Mysterien, A m s t e r d a m / L e i p z i g 1941, 41-102, hier 41. 3 ΕΙΣ ΑΠΟΛΛΩΝΑ ΔΗΛΙΟΝ, 13If, in: Hymni Homerici accedentibus Epigrammatis et Batrachomyomachia Homero vulgo attributis (ed. A. Baumeister), Leipzig 1906, 7. Die Ü b e r s e t z u n g s t a m m t aus: Die Homerischen Götterhymnen (verdeutscht v. Thassilo ν. Scheffer), Leipzig 1948, 5. 4

Iphigenie bei den Taurern, 1272f, in: Euripides, Tragödien (aus d e m Griech. v. Hans v. Arnim. Mit einer E i n f ü h r u n g und Erläuterungen v. Bernhard Z i m m e r m a n n ) , M ü n c h e n 1990, 384. 5 Martin P. Nilsson, Geschichte der griechischen griechische Weltherrschaft, M ü n c h e n 1955, 545.

Religion.

Bd. I: Die Religion

Griechenlands

bis auf die

26

I. Begriffshistorische Grundlegung: Heraklits Fragment Β 52

einschließen, die kaum zu lösende Aufgabe 1 . Es ist die Mehrdeutigkeit der vom Gott in menschlicher Sprache gegebenen Mitteilungen, die das apollinische Orakel charakterisiert und auf die auch Heraklit als Problem aufmerksam macht, wobei er zugleich auf einen Grundzug der Sprache überhaupt verweist. Ebenso eigentümlich wie die Spruchform ist die Weise der Mitteilung: Sie wird mündlich gegeben, indem der Gott sich der Sibylle bemächtigt und durch sie spricht. Dabei befindet sie sich in Ekstase, d. h. sie ist im eigentlichen Sinne außer sich, da ihr Körper dem Gott gleichsam nur als Gefäß dient, so daß sie als personales Individuum in diesem Moment nicht mehr existiert. Heraklit beschreibt den Vorgang der Mitteilung der göttlichen Sprüche im Fragment Β 92: Σ ί β υ λ λ α δε μ α ι ν ο μ έ ν ω ι σ τ ό μ α τ ι καθ' Ή ρ ά κ λ ε ι τ ο ν ά γ έ λ α σ τ α κ α ι ά κ α λ λ ώ π ι σ τ α κ α ι α μ ύ ρ ι σ τ α φ θ ε γ γ ο μ έ ν η χ ι λ ί ω ν έ τ ώ ν έ ξ ι κ ν ε ΐ τ α ι τήι φωνήι δ ι ά τον θεόν. - „Die Sibylle mit rasendem Munde Ungelachtes und Ungeschminktes und Ungesalbtes hinausrufend dringt durch Jahrtausende mit der Stimme, getrieben vom Gott." Was bedeutet die göttliche Inspiration, genauer: die Anwesenheit des Gottes selbst, für die Mitteilung? Die Unterscheidung zwischen induktiver Mantik, die „zunftgerechtes Wissen" vermittelt, und ekstatischer Mantik, die enthüllt, „was nur der Gott sieht" 2 , läßt sich hier weiter vertiefen. Sie betrifft nämlich auch die Tragweite und den Bedeutungshorizont der gegebenen Sprüche. Während die Auskünfte der wandernden Zeichendeuter Homers vollständig an die räumliche und zeitliche Situation gebunden bleiben, aus der heraus und in die hinein sie gegeben werden, dringt die Stimme der durch den Gott getriebenen Sibylle „durch Jahrtausende". Der durch die von entsprechenden Spezialisten erstellte Interpretation von in der Natur vorkommenden Geschehnissen gewonnene Rat bezieht sich stets auf eine ganz bestimmte Gelegenheit, in der es scheinbar von den Göttern verursachte Schwierigkeiten zu bewältigen gilt - wie ζ. B. beim Auslaufen einer Flotte, mit einer Seuche, bei Konflikten über die am meisten erfolgversprechende Kriegstaktik usw. Der Seher - schon die Berufsbezeichnung verweist auf die Dominanz des Optischen bei seinem Geschäft, das auf der W a h r n e h m u n g der 'Zeichen' in der Natur durch den Gesichtssinn beruht - erkennt aus den 'Zeichen' die Ursache des Problems und gibt den einzig richtigen Weg zu dessen Lösung an. Es obliegt den Ratsuchenden, diesem zu folgen, um die Lage zu wenden. Dies bringt zwar häufig Schwierigkeiten mit sich, aber diese gründen keinesfalls im Verständnis der Zeichen, deren Interpretation j a durch die Kompetenz der Seher gesichert ist. Das nichtsprachliche, aus dem Naturgeschehen entnommene Zeichen hat seinen festen Sitz in der jeweiligen aktuellen Situation, die es nicht überschreitet. Seine Bedeutung erschöpft sich in der Aufklärung und Lösung jeweils einmaliger Umstände und ist deswegen eindeutig auflösbar. Ganz anders steht es im Falle der durch den Gott besessenen Sibylle. Apoll gibt durch sie das Zeichen in sprachlicher Form als Spruch, und zwar ohne irgendeine oder gar die einzig richtige Auslegung dazu zu gewähren. Obschon die Bedeutsamkeit des Zeichens als solche unschwer zu erkennen ist, bringt die Festlegung auf eine bestimmte Auslegung schier unüberwindliche Schwierigkeiten mit sich. Es ist ein „Ausleger" bzw. ein „Deuter" 3 nötig, „der urteilt, argumentiert und die Rätsel auflöst, den Visionen des Weissagers einen Sinn gibt" und der, um

Giorgio Colli geht sogar so weit, die „Geburt der Philosophie" in der B e m ü h u n g u m die L ö s u n g dieser A u f g a b e und d e m daraus resultierenden Wettstreit u m die richtige A u s l e g u n g der O r a k e l s p r ü c h e zu verorten; vgl. Die Geburl der Philosophie (aus dem Ital. v. Reimar Klein), F r a n k f u r t / M . 1990, insb. 37-64. 2 Erwin R o h d e , Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, T ü b i n g e n 5 / 6 1910, Bd.II, 68. 3 Tim. 72b.

2. Die Verschränkung von Spiel, Sprache und Welt in Heraklits Fragment Β 52

27

verstanden werden zu können, „an die Sphäre der Abstraktion und der Vernunft gebunden ist" 1 . Die daraus folgende Mehrdeutigkeit zeigt sich in zahlreichen Beispielen, welche die Bemühungen um eine korrekte Interpretation der Orakelsprüche schildern - man denke etwa an Sokrates, dessen gesamte Lebenstätigkeit j a letztlich auf die Deutung und P r ü f u n g der Auskunft Apolls zurückgeht, er sei der weiseste aller Menschen seiner Zeit 2 . Die Polysemie erhebt - auch wenn die durch sie möglichen Interpretationen häufig den Interpreten in die Katastrophe führen - die Orakelsprüche auf eine von den natürlichen Zeichen erheblich unterschiedene Ebene, um die es Heraklit in Β 92 zu gehen scheint: Im Gegensatz zu den nur optisch wahrnehmbaren und als solchen erst zu erkennenden Zeichen durchbrechen die Sprachzeichen des Orakels die raumzeitliche Gebundenheit an die jeweilige Problemsituation: sie „dringen durch Jahrtausende". Sie enthalten also eine Bedeutungsvielfalt, die sich nicht in genau einer situationsgebundenen Interpretation erschöpft. Ein starkes Interesse an der Tradierung und beständigen Auslegung der Orakelsprüche Uber die Zeiten hinweg besteht schon deshalb, weil der Gott die Sprechwerkzeuge der Pythia gebrauchte, „als ob sie seine eigenen wären" 3 , und damit das ihm allein gehörige Wissen in der Sprache des Menschen kundtut. Genau diese Übertragung göttlicher Weisheit in menschliche Sprache scheint zugleich die Ursache für die extreme Interpretationsbedürftigkeit der Mitteilungen zu sein: Die menschliche Sprache macht das Wissen des Gottes zwar überhaupt erst zugänglich und irgendwie verstehbar, zugleich aber verstellt sie es auch, da sie nicht zureicht, um das Zu-Sagende unmittelbar zu geben. 4 Oder, um noch einmal an das andere Fragment zu erinnern, das sich direkt auf das delphische Orakel bezieht: „Der Herr, dessen das Orakel von Delphi ist, spricht nicht aus und verbirgt nicht, sondern gibt ein Zeichen." Auch und insbesondere hier, bei der Mitteilung göttlichen Wissens, erweist sich die Mehrdeutigkeit sprachlicher Äußerungen, die in einem ausgezeichneten Sinne Anspruch auf Wahrheit erheben, als unhintergehbar. Dies ist auf zweierlei Weise begründet: Einerseits läßt sich das aus übermenschlicher Sphäre kommende Zu-Sagende durch das M e d i u m der menschlichen Sprache nicht adäquat fassen, sondern nur in 'Winken' ausdrücken 5 ; andererseits vermögen die an die menschlichen Denkbedingungen, d. h. an die unaufhebbaren Gesetze diskursiver Rationalität, gebundenen Deutungsversuche jeweils nur einen Aspekt des in sich mehrdeutigen, j a möglicherweise sogar widersprüchlichen Zu-Sagenden, des Logos, zu beleuchten und in die Bewußtheit zu heben. Gerade so eröffnet sich aber dem Menschen auch eine besonders wertvolle Erkenntnismöglichkeit. U m diese zu ergreifen, ist es nötig, denkend sich auf die Mehrdeutigkeit einzulassen, die das Zu-Sagende ausmacht, und in „vernünftiger Überlegung" 6 - also wiederum dem Logos gemäß - auslegend seine Perspektiven abzuschreiten, wenn auch einige davon das Zu-Sagende als entsetzlich zeigen mögen, wie wir aus mancherlei Beispielen der klassischen Tragödie wissen.

1

Giorgio Colli, Geburt, 41. Vgl. Apt. 21bff. 3 Eric Robertson Dodds, Die Griechen und das Irrationale (aus d e m Engl. v. Hermann-Josef Dirksen), D a r m s t a d t 2 1 9 9 1 , 44. 4 Auch Heidegger verweist auf diesen gleichzeitigen Vollzug von E n t b e r g u n g und V e r b e r g u n g im G e b e n des Z e i c h e n s (Martin Heidegger, Heraklit. Der Anfang des abendländischen Denkens (Vorl. SS 1943, hrg. v. M a n f r e d S. Frings), GA 55, Frankfurt/M. "1987, 179). Auf den für Heideggers Interpretation in dieser Hinsicht konstitutiven Begriff der φ ύ σ ι ς kann hier nicht näher eingegangen werden. 2

5

Vgl. Heideggers Rede vom ' W i n k ' des Gottes: ebd., 177ff. Uvo Hölscher, Fragen, 142; auch dies ist ein Hauptbedeutungsstrang des Logos. Vgl. auch: Heribert Boeder, Wortgebrauch, 85f.

6

28

I. Begriffshistorische Grundlegung: Heraklits Fragment Β 52

γ) Der kindliche D i o n y s o s

Solches enthüllt auch die Verwandlung der Welt im „Tosen der Dionysischen Ankunft" 1 : Die dem Dionysos eignende „Polarität von Frieden und Aufruhr, von lächelnder Anmut und dämonischer Vernichtung" wirkt, beispielhaft in Euripides' Bakchoi, „als Spiegel der Natur, j a wohl als Spiegel des Lebens überhaupt" 2 , in dem sich eine bestimmte Art von „Wahrheit" zeigt - „eine Wahrheit, die wahnsinnig macht" 3 . Die Widersprüchlichkeit und Zweideutigkeit der Gestalt des Dionysos, die bekanntlich meist als mehr oder weniger regelloses bzw. spontanes Umschlagen zwischen den Polen Aufbau und Zerstörung, Leben und Tod, j a sogar zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit beschrieben wird - diese Gegensatzpaare sind j a im leidenden, sterbenden und wiederkehrenden Gott, dem Sohn des Zeus und der sterblichen Mutter Semele vereint - , muß den Hintergrund für die mögliche Identifikation des spielenden Kindes mit Dionysos bilden. Im Sinne der Fragestellung werden jedoch sowohl die bekannten kosmologischen Bedeutungsschichten als auch die orphische kosmogonische Überlieferung weitgehend übergangen 4 und vielmehr mögliche Verbindungen der Gestalt des Dionysos zum Problem der Sprache untersucht. Dabei ist zunächst das Augenmerk wiederum auf das religiöse und kulturelle Zentrum Delphi zu richten, von dem Plutarch sagt, daß Dionysos daran „keinen geringeren Anteil habe als Apollon" 5 . Dieser Anteil bestand nicht nur darin, daß man sowohl während der Wintermonate, also während des Aufenthalts Apolls bei den Hyperboreern, im delphischen Tempel Dionysos anbetete und anstatt des Paian den Dithyrambos sang, als auch das Grab des leidenden Gottes im Apollonheiligtum verehrte, sondern insbesondere darin, daß wohl der wahrscheinlich aus Thrakien stammende Dionysoskult f ü r die beschriebene charakteristische Beschaffenheit des delphischen Orakels verantwortlich war, wie Erwin R o h d e gezeigt hat 6 . Erst unter diesem Einfluß wandelte sich die vorherige Weissagung „aus dem Lorbeer" - έκ δ ά φ ν ε ς - , welche noch eine Form der Interpretation eines natürlichen Phänomens als Zeichen darstellte, in inspirative bzw. ekstatische Mantik. 7 Obzwar Piaton vier von verschiedenen Göttern hervorgerufene Arten der μ α ν ί α unterscheidet und dabei die mantische Ekstase Apoll, die mystische aber Dionysos zuordnet 8 , ist doch nur letzterer der „Gott, zu dessen Wesen es gehört, wahnsinnig zu sein" 9 ; zumal festzuhalten ist, daß alle diese Formen des göttlichen Wahnsinns auf ihre Art Wirkliches sehen lassen, welches den Menschen normalerweise verborgen bleibt.

1

Walter F. Otto, Dionysos.

Mythos

2

A l b i n L e s k y , Geschichte,

450f.

3

Walter F. Otto, Dionysos,

88.

4

V g l . dazu: Günter Wohlfart, Also,

und Kultus,

Frankfurt/M. 5 1 9 8 9 , 8 7 .

1 0 8 - 1 2 3 , der sich auf die Figur d e s D i o n y s o s Z a g r e u s konzentriert,

und z u m ö g l i c h e n o r p h i s c h e n E i n f l ü s s e n auf Heraklit: V i c t o r i n o M a c c h i o r o , Eraclito: Orfismo, Orpheus 5

nuovi

studi

sull'

Bari 1922, und d e s s e n Kritik, der ich mich i m übrigen a n s c h l i e ß e , durch: W . K . C . Guthrie, and Greek

Religion.

Α Study of the Orphic

Ζ. η. Walter F. Otto, Dionysos,

6

V g l . Erwin R o h d e , Psyche,

7

V g l . Otto Kern, Die

Jahrhunderts,

Berlin : 1 9 6 3 , l l O f .

8

Phdr.

Walter F. Otto, Dionysos,

London 1935, 2 2 4 - 2 3 1 .

Bd. II, 5 6 f f .

Religion

9

Movement,

184.

265b. 124.

der

Griechen.

Bd.

II: Die

Hochblüte

bis

zum Ausgang

des

fünften

2. Die Verschränkung von Spiel, Sprache und Welt in Heraklits Fragment Β 52

29

Man könnte geradezu sagen, daß sich die Pythia während der Kundgabe des Spruches des Apoll in einem dionysischen Zustand befindet, während dessen Deutung wiederum apollinische Luzidität erfordert. Es ist dieses Wechselverhältnis von Unmittelbarkeit und Distanz, welches das delphische Orakel kennzeichnet: Obwohl der Ratsuchende den Gott unmittelbar vernimmt, was sich in der θ ε ί α μ α ν ί α der Sibylle äußert, ist der Spruch doch nur mittelbar sinnvoll zu verstehen, d. h. in hohem Grad interpretationsbedürftig. Diese Hauptaufgabe der Transformation in den Bereich der menschlichen Verstehensmöglichkeiten, der durch vernünftige Rede konstituiert wird, und damit die Möglichkeit einer Applikation auf eine konkrete Situation, ist „des Besonnenen Sache" 1 . Überdies wird Dionysos selbst im Homerischen Hymnus als σ ή μ α τ α φαίνων 2 , als Zeichen verkündend bzw. erscheinen lassend, bezeichnet, wenngleich die „Zeichen und Wunder" in der hier beschriebenen Szene dazu dienen, durch spontane Verwandlungen und Schöpfungen den tyrsenischen Seeräubern vor ihrer Bestrafung die göttliche Macht ihrer vermeintlichen Geisel vor Augen zu führen. Wir finden jedoch auch im Dionysoskult das Motiv der Notwendigkeit zur klärenden Deutung einer sprachlichen Mitteilung: Es ist im Bereich der Entstehung der Tragödie aus dem Dithyrambos bzw. der Chorlyrik verortet. Die formale Besonderheit der Tragödie besteht nach Wolfgang Schadewaldt darin, daß in ihr „zwei völlig disparate Gebilde" zu einer Einheit „verfugt" sind 3 . Diese beiden Stilgattungen sind die dem Musikalischen angehörende Chorlyrik und der dem Gebiet des Logischen, d. h. der vernünftigen Rede zugeordnete, dem Ursprung der Prosa nahestehende 4 Iambos. Damit treffen in der Kunstform der Tragödie nicht nur zwei Stilformen aufeinander, „sondern zwei Welten und, ihnen zugeordnet, zwei Seelenhaltungen: die lyrisch-ekstatische und die rationale, klar bestimmte des Logos" 5 . Der ursprüngliche Dithyrambos, der einen kultischen Gesang zur Anrufung des Dionysos mit der Bitte um seine Epiphanie darstellte, bildete in unveränderter Form das Stäsimon. Erst der „Hinzutritt" eines einzelnen Schauspielers, der dem Epeisodion seinen Namen gab, fügt dem Dithyrambos den Iambos hinzu und konstituiert so die Grundform der Tragödie. Ein in iambischen Versen vorgetragener Bericht des Schauspielers veranlaßt den Chor zu einem weiteren Lied, woraus sich dann als einfachste Handlung ein Gespräch in Form eines halb gesungenen, halb gesprochenen Dialogs entwickeln kann. Die Einführung des ersten Schauspielers durch Thespis läßt sich durch die Notwendigkeit begründen, den lyrisch-ekstatischen Dithyrambos zu erläutern und zu verdeutlichen: „Der Schauspieler brachte nun in verständlicher Form das, was der Chor sang, und damit war die spannungsreiche Harmonie des gesungenen und gesprochenen Wortes" - d. h. auch des ekstatischen, bedeutungstiefen und des rationalen, unmittelbar verständlichen Sprechens - „der Tragödie geboren." 6 Das griechische Wort für „Schauspieler", Hypokrites, bedeutet zugleich und ursprünglich „Deuter" bzw. „Antworter". Auch Piaton verwendet es in der oben angeführten Passage des Timaios als Tätigkeitsbezeichnung derer, welche die durch das Medium des Gottes kundgegebenen Orakelsprüche deuten und erklären. Wie beim delphischen Orakel fordert das ekstatische Sprechen, der Gesang des dithyrambischen Chores wie der „rasende Mund" der Pythia, Erläuterung und Deutung durch Besonnene. Die Einkehr

1

Tim. 72a. Hymni Homerici, VII.46 (67). Die Begebenheit findet sich auch bei Ovid, Metamorphosen, III.582ff. 3 W o l f g a n g Schadewaldt, Die griechische Tragödie. Tübinger Vorlesungen Bd. IV(unter M i t w i r k u n g von Maria Schadewaldt hrg. v. Ingrid Schudoma), F r a n k f u r t / M . 2 1 9 9 2 , 44f.

2

4 5 6

Vgl. Aristoteles, Poetik 1 4 5 9 a l 0 f f . W o l f g a n g Schadewaldt, Tragödie, 45. Ebd., 48.

30

I. Begriffshistorische Grundlegung: Heraklits Fragment Β 52

des Gottes in den Menschen und die damit verbundene Überschreitung der menschlichen Erkenntnis- und Mitteilungsmöglichkeiten in der unmittelbaren Kundgabe göttlichen Wissens, d. h. des Wissens über das, was in Wirklichkeit ist, mithin den Logos, nötigt zu einer R ü c k f ü h r u n g des Mitgeteilten in die Kategorien des menschlichen Erkennens und Sprechens, um verständlich zu werden, ohne daß jedoch die Differenz zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre aufgehoben werden könnte, die sich in der Mehrdeutigkeit des ekstatischen Sprechens und der damit verbundenen berechtigten Vielzahl rationaler Interpretationsmöglichkeiten manifestiert.

c) Kontingenz und Ordnung: Das Spiel als offener Versuch

Nachdem die Identifikationsmöglichkeiten des Kindes im Sinne unserer Fragestellung dargelegt wurden, wobei auf dessen bei Lasalle, Bernays und Nietzsche zu findende Interpretation als „Zeus in seiner weltbildenden Thätigkeit" 1 an späterer Stelle noch einzugehen sein wird, wenden wir uns der doppelten Tätigkeitsbeschreibung zu, die ihm Heraklit beilegt 2 . Doppelt deswegen, weil beide gebrauchten Worte - π α ί ζ ω und π ε σ σ ε ύ ω - jeweils „spielen" bedeuten, jedoch auf verschiedene Weisen.

α) Spielen als π α ί ζ ω

Das erste bezeichnet das Benehmen bzw. die Tätigkeit, die dem Kind eignet: Es ist das kindliche oder kindgemäße Spielen. Es würde nun zu weit führen, dieses Phänomen ausführlich zu beschreiben. Dennoch sei hier auf einige wenige für unseren Z u s a m m e n h a n g bedeutsame Eigenheiten hingewiesen. Zunächst gehört zu dieser Weise des Spielens ein starkes Element von Willkür und Kontingenz. Beide liegen in Beginn und Ende des Spieles. Es gibt weder einen bestimmten Anlaß noch eine bestimmte Zeit, an die es gebunden wäre. Allein der freie Impuls des Kindes bestimmt Beginn und Ende des Spieles. Die Willkür in dieser ursprünglichen Weise des Spielens besteht in ihrer inhärenten Anfangs- bzw. Endlosigkeit. Wie Hans-Georg Gadamer gezeigt hat, konstituiert diese einfachsten und unmittelbarsten Spiele „als erstes das Hin und Her einer Bewegung, die sich ständig wiederholt" 3 - genauer gesagt, die zur Wiederholung drängt.

Vgl. Jacob Bernays, Studien, 110; vgl. auch: Ferdinand Lasalle, Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos (hg. v. E. Schirmer), Leipzig 2 o.J., Bd.I, 358-362; Nietzsche, Philosophie im tragischen Zeitalter, KS A 1, S.828 pass.; s. dazu u. Kap. IV.2.b)ß). 2 Diesen z w e i f a c h e n Spielbegriff deutet Heribert Boeder an, o h n e j e d o c h seine D i f f e r e n z näherhin a u s z u f ü h r e n : Das sog. „Vergessen" im heraklitischen Gedanken, in: ders., Das Bauzeug der Geschichte. Aufsätze und Vorträge zur griechischen und mittelalterlichen Philosophie (hg. v. Gerald Meier), W ü r z b u r g 1994, 51-67, hier 62f. 3 H a n s - G e o r g G a d a m e r , Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest, in: ders., Gesammelte Werke Bd. 8: Kunst als Aussage, Tübingen 1993, 113.

2. Die Verschränkung von Spiel, Sprache und Welt in Heraklits Fragment Β 52

31

Denn anders als das von Gadamer beispielhaft angeführte „Spiel der Wellen" wird das Spiel des Kindes j a angefangen und beendet. Es muß sogar beendet werden, da es von selbst nicht an ein Ende kommt, wie das ζ. B. beim Aufschlagen eines Balles auf den Boden der Fall ist. Dies verweist auf eine wesenhafte Tendenz zur Wiederholung der Hin-und-Her-Bewegung, so daß man sagen kann, daß diese Art des Spielens zum Abbruch bzw. zur Wiederaufnahme nötigt, welche nur willkürlich geschehen können, da die sie konstituierende Bewegung von sich aus kein Ende hat. Daraus folgt zugleich, daß dieses Spiel „jeden Schein von Teleologie ausschließt", wie bereits Bernays und im Anschluß an ihn auch Nietzsche feststellten. 1 Die fundamentale Bewegung des Hin und Her ist „nicht an ein Bewegungsziel gebunden" 2 , durch dessen Erreichung sie zur Ruhe kommen könnte, sondern bestimmt sich gerade dadurch, daß sie erst durch diese ihre spezifische Bewegtheit, die eben nicht auf ein „Hin" gerichtet ist, das ist, was sie ist: gleichsam die Bewegung selbst. Die durch das π α ί ζ ω angezeigte Art des Spiels „ist ein werdendes Ganzes, und es existiert nur als dieses werdende Ganze" 3 . Eine Ganzheit dieses Ganzen ist innerhalb der kontingenten Bedingungen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit nicht zu denken, sondern ereignet sich jeweils nur als Werden, dessen A u f n a h m e und Beendigung willkürlich bestimmt wird und werden muß. Die Ziellosigkeit und Unabschließbarkeit der Spielbewegung bedeutet freilich keine Regellosigkeit im Sinne einer Abwesenheit jeglicher Struktur. Es scheint aber in Rücksicht auf Spiele mit recht komplexem Regelwerk wie z. B. Fußball, Schach oder Skat eher angebracht, bei der Geregeltheit der ursprünglichen Spiele nur von einer gewissen grundlegenden Struktur zu sprechen. Legt doch der Begriff der Spielregel immer so etwas wie „Gesetztheit" und „Wissen um Ordnung und Ordnungsprinzipien" 4 nahe, während es hier allein um die elementare Struktur der sich perpetuierenden Bewegung geht, in Bezug auf die man keinesfalls von Geregeltheit sprechen kann.

ß) Spielen als π ε σ σ ε ύ ω

Die durch das π ε σ σ ε ύ ω gekennzeichnete Weise des Spielens unterscheidet sich von dieser ursprünglichen und unmittelbaren Art, die wesenhaft durch die zur Wiederholung drängende und an sich unabschließbare Hin-und-Her-Bewegung bestimmt ist, durch eine größere, äußere wie innere Festgelegtheit. Es handelt sich um ein Spielen, das planende Vernunft erfordert und erst ab einem gewissen Alter möglich ist, also kein bloßes Kinderspiel darstellt. Solches würde eher die Verwendung des Wortes ά θ ύ ρ ω nahelegen, das Heraklit in Β 7 0 gebraucht. Es geht hier um eine von Erwachsenen wie etwas größeren Kindern gleichermaßen gepflegtes Spielen. 5 Ohne sich auf Vermutungen bezüglich des mutmaßlichen Spielverlaufs bzw. konkreter

Jacob Bernays, Studien, 112. H a n s - G e o r g G a d a m e r , Αktualität, 113. 3 Ingeborg H e i d e m a n n , Der Begriff des Spieles und das ästhetische Weltbild in der Philosophie der Gegenwart, Berlin 1968, 47. 4 Ebd., 54. 5 Licia Rossi stellt hierzu fest, daß hier von einem spielenden Kind die R e d e ist, „che gioca perö non un gioco infantile qualunque, ma un gioco da adulti"; ΑΙΩΝ, 21. Die wichtigsten Belegstellen finden sich bei Piaton, Pol. 374c bzw. Nomoi 903d/e. Vgl. auch mit weiteren Belegstellen G ü n t e r W o h l f a r t , Also, 124-149. 2

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I. Begriffshistorische Grundlegung: Heraklits Fragment Β 52

Spielregeln einzulassen 1 , sollen hier nur einige Grundzüge hervorgehoben werden, die sowohl Unterschied als auch Gemeinsamkeit zum ursprünglichen Spiel zeigen, als auch für unser Anliegen von Bedeutung sein könnten. Zunächst ist die Vorhandenheit von echten, d. h. gesetzten und logisch einwandfreien Regeln zu erwähnen 2 . Diese „sind unbedingt bindend und dulden keinen Zweifel" 3 , auch wenn sie willkürlicher Setzung bzw. daraus folgender Konvention entspringen. Die absolute Geltung der Regeln konstituiert geradezu das Spiel als solches im Sinne der Bedingung seiner Möglichkeit: Es würde durch ihre Nichtachtung im Ganzen negiert und zerstört. Ein solches Spiel ist selbst nichts anderes als Ordnung 4 , die mit seinem Sein notwendig verbunden ist. Das ursprüngliche Spiel hingegen besteht ausschließlich darin, daß es die Struktur bloßer Bewegung zur Erscheinung bringt. Die Ordnung von ersterem kann schwerlich ohne die Kenntnis der Regeln als solche erkannt werden und erscheint ohne diese eher als einigermaßen absurde Handlungsfolge, während zweiteres zumeist unmittelbar als Ordnung wahrgenommen wird, obgleich eine solche weder zugrundeliegt, noch realisiert werden soll. Wir interpretieren die erscheinende, an sich regellose Grundstruktur von Veränderung nur als Ordnung, wie das ζ. B. beim „Spiel der M ü c k e n " im Sonnenlicht, aber auch in gewisser Weise beim einfachen Ballspiel der Fall ist 5 . Beide Weisen des Spielens sind als Spiele dadurch bestimmt, daß sie keinem Zweck außer sich dienen. Das durch Regeln festgelegte Spiel impliziert jedoch eine strenge Teleologie, während das ursprüngliche Spiel geradezu deren Negation darstellt. Das bedeutet zunächst, daß das Regelspiel einen wohlbestimmten Anfang, dessen Voraussetzungen erfüllt sein müssen, und ein klar definiertes Ende besitzt. Die Hauptvoraussetzung für das Zustandekommen des Spieles besteht in der Kenntnis der Regeln, ohne die man nur bloßer Zuschauer sein kann, dem die inhärente Ordnung des Spielgeschehens verborgen bleibt. Ist dann noch der geeignete Ort und Zeitpunkt festgelegt und die zumeist nötige richtige Anzahl von Mitspielern vorhanden, kann das Spiel anfangen. Das Ende ist durch die Regeln genau definiert, und zwar so, daß es nicht nur anhand des Eintretens einer bestimmten Spielsituation festgestellt werden kann, sondern auch und insbesondere dadurch, daß das Ende durch die A n w e n d u n g der Spielregeln zwingend herbeigeführt wird. Die Spielregeln verhindern sowohl den willkürlichen Abbruch des Spieles als auch seinen Fortgang ad infinitum. Diese Begrenzung ist zwar auch äußerlich, durch ein Zeitlimit o. ä., möglich, solches aber ist ebenfalls Teil des Regelwerks und ändert nichts an der teleologischen Hinordnung des Spieles durch dessen Regeln auf sein Ende. Dieses Ende, das Telos des Regelspiels, wird in Termini des Gewinnes und des Verlustes bzw. des Gelingens oder Mißlingens beschrieben. Bei vielen Spielen, die vorläufig als „rein agonal" 6 bezeichnet werden können, hängen Gewinn und Verlust allein von der Geschicklichkeit bei der A n w e n d u n g der Regeln ab, so daß idealiter jegliche Kontingenz ausgeschlossen wird. Eine große Anzahl von Spielen besitzt jedoch Regeln, die Raum für das Kontingente, den Zufall schaffen und diesen als konstitutiv für den Spielverlauf einbeziehen, ohne die häufig zur bestmöglichen A n w e n d u n g der Regeln nötige erhebliche intellektuelle Anstrengung, wie man sie von rein agonalen Spielen kennt, einzuschränken.

1 2 3 4 5 6

Vgl. dazu: Günter W o h l f a r t , Also, 144ff. Ich beziehe mich auf Ingeborg H e i d e m a n n , Begriff, 53-66. Johan Huizinga, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek 1987, 20. Vgl. ebd. S.19. Vgl. H a n s - G e o r g G a d a m e r , Aktualität, 114. Z u m Konzept des A g o n a l e n s. u. Kap. IV. 1.

2. Die Verschränkung von Spiel, Sprache und Welt in Heraklits Fragment Β 52

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U m ein Brettspiel dieser Art, „das sowohl Geschick als auch Glück erforderte" 1 , scheint es sich auch beim π ε σ σ ε ί α - S p i e l gehandelt zu haben. Die Grundstruktur solcher Spiele läßt sich wohl wie folgt beschreiben: Vor dem Hintergrund einer bestimmten, gegebenen Anfangsordnung bildet eine Situation, die reinem Zufall, ζ. B. einem Würfelwurf o. ä., entspringt, die Vorgabe f ü r den „Zug" des Spielers. Dieser besteht in einer regelgemäßen Auslegung der vorgegebenen Situation im Blick auf den möglichen weiteren Spielverlauf. Entscheidend ist nun, daß über Wert oder Unwert genau dieser unter mehreren Möglichkeiten gewählten Auslegung für das Erreichen des Spielzieles, also Gewinn oder Verlust, erst im nachhinein definitiv entschieden werden kann, da der weitere Spielverlauf ebenfalls von zufälligen Vorgaben abhängt, welche als solche nicht vorhersehbar sind. Der Wert einer jeden möglichen Auslegung f ü r Gewinn oder Verlust des Spieles kann also nur durch den konkreten Versuch herausgefunden werden, d. h. durch die Ausführung dieses oder jenen Zuges, der nicht mehr zurückgenommen werden kann. Ähnlich wie bei der Deutung der Orakelsprüche läßt sich die Auslegung nur durch ihre Erfahrung und nicht durch Vorausberechnung bewerten; freilich ist im Falle des Spieles der Versuchscharakter der Auslegung, d. h. der Mangel bzw. die Unmöglichkeit, genau eine objektiv richtige Lösung anzugeben, bewußt, während diese Tatsache beim Orakel häufig genug erst zum Gegenstand leidvoller Erfahrung werden muß. Das Element des Zufälligen und die damit einhergehende eigentümliche Offenheit des Versuches, dessen Ausgang sich weitgehend der Berechenbarkeit entzieht, machen den Reiz dieser Art von Spielen aus, die das Wagnis des Versuchs mit o f f e n e m Ausgang als notwendig einschließen, j a sogar dadurch konstituiert werden. Die Abhängigkeit des Erfolgs der planenden Vernunft vom unbeeinflußbaren Zufall erhellt zugleich die ursprüngliche Struktur der Z u k u n f t als offenen Horizont, über den kein Wissen möglich ist und demgegenüber jeder gefaßte Plan und dessen Ausführung den Charakter des Versuches hat. Ebenso bleibt aber festzuhalten, daß die Beurteilung der Auslegungen und der ihnen entsprechenden Versuche klar und eindeutig möglich ist. Das Urteilskriterium hierfür ist ihr Wert für Gewinn und Verlust des Spieles. Es läßt sich jedoch nur ex post, vom Ende des Spieles her anwenden, wenn das Spiel als Ganzes überblickt werden kann, also bereits der Vergangenheit angehört. Das Urteil ist zudem in höchstem M a ß e speziell, weil es nur auf die eine Auslegung innerhalb der zufällig entstandenen Konstellation des jeweiligen Spielganzen zutrifft, dessen Variationsmöglichkeiten unendlich sind. Es ist nicht generalisierbar: Eine bestimmte Auslegung, die in einem Spiel zum Erfolg führte, kann im anderen katastrophale Folgen haben; sie muß stets neu gewagt werden. Die Ganzheit eines solchen Spieles, und damit die Beurteilbarkeit der konkurrierenden Auslegungsmöglichkeiten, resultiert aus der Vorhandenheit des Regelwerks, das die Parameter des Spielanfangs, des Spielverlaufs und des Spielendes eindeutig definiert. Die Ganzheit des Regelspiels entspringt also einer willkürlich gesetzten Ordnung, die an keiner Stelle - auch nicht durch das Element des Zufälligen - durchbrochen wird, während das ursprüngliche Spiel, das sich stets nur als werdendes Ganzes denken läßt, zwar auch eine grundlegende Struktur, nämlich die der Bewegung, aufweist, nicht aber geordnet ist. Die fundamentale und absolute Ordnung des Regelspiels, in dem jeder mögliche Fall klar entscheidbar ist, begründet die eigentümliche Herausgehobenheit der Sphäre des Spieles, worin „die Gesetze und Gebräuche des gewöhnlichen Lebens keine Geltung" 2 besitzen, aus der Lebenswelt. Das Regelspiel bringt - mit Johan Huizinga gesprochen - „in die unvollkommene Welt und in das verworrene Leben (...)

1 2

Günter Wohlfart, Also, 144. Johan Huizinga, Homo ludens,

21.

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I. Begriffshistorische G r u n d l e g u n g : Heraklits F r a g m e n t Β 52

eine zeitweilige, b e g r e n z t e V o l l k o m m e n h e i t " 1 , während das ursprüngliche Spiel in seiner Grundstruktur, der ziellosen B e w e g u n g bzw. V e r ä n d e r u n g , gerade den Grund f ü r U n v o l l k o m m e n h e i t und Verworrenheit von W e l t und Leben sehen läßt.

d) Der Grund von Ordnung

E i n i g e Schwierigkeiten bietet das letzte W o r t des F r a g m e n t e s , β α σ ι λ η ί η , d a es, wie W o h l f a r t gezeigt hat 2 , f ü r eine Interpretation nicht zureicht, bei dessen abstrakten B e d e u t u n g e n , K ö n i g t u m bzw. K ö n i g s h e r r s c h a f t u. ä., zu verharren, o h n e w e n i g s t e n s den V e r s u c h zu u n t e r n e h m e n , die Charakteristika dieser Herrschaftsart zu beschreiben. D e m g e m ä ß soll im f o l g e n d e n , a u s g e h e n d von der von W o h l f a r t a u f g e w i e s e n e n möglichen A n s p i e l u n g auf das altgriechische BasilindaSpiel, die strukturelle B e s c h a f f e n h e i t der mit β α σ ι λ η ί η bezeichneten H e r r s c h a f t s w e i s e herausgearbeitet w e r d e n . Bei d i e s e m Spiel handelte es sich u m ein Rollenspiel, bei d e m ein Kind d u r c h L o s oder W a h l z u m „ K ö n i g " ernannt wurde, welcher über vollständige M a c h t f ü l l e verfügt, und dann den Spielkameraden als seinen Untertanen bestimmte, f ü r die F u n k t i o n eines Staatssystems n o t w e n d i g e Rollen zuteilte. Es k a m dabei darauf an, eine m ö g l i c h s t vernünftige, f u n k t i o n a l e und einsichtige O r d n u n g zu schaffen, u m sich des K ö n i g t u m s als w ü r d i g zu erweisen. A u c h hier zeigt sich der Versuchscharakter des Regelspiels mit kontingenten E l e m e n t e n , und zwar auf zweierlei W e i s e : Z u m einen läßt sich über die E i g n u n g des a n f a n g s z u m „ K ö n i g " b e s t i m m t e n Spielers f ü r diese R o l l e erst v o m A u s g a n g des Spieles her urteilen, z u m anderen gilt das gleiche f ü r die v o m „ K ö n i g " verantwortete Rollenverteilung. Im Falle des L o s e n t s c h e i d s tritt das Z u f a l l s e l e m e n t o f f e n zutage, im Falle von W a h l und Rollenverteilung liegt es im F a k t o r des M e n s c h l i c h e n , der den Reiz des U n v o r h e r s e h b a r e n ausmacht, da sich das Verhalten der Spieler, und i n s b e s o n d e r e des K ö n i g s , nicht im V o r a u s wissen läßt. Erst die D u r c h f ü h r u n g des V e r s u c h s im Spiel gibt durch die Darstellung eines geordneten Staatswesens o d e r einer A n a r c h i e b z w . einer T y r a n n e i A u f s c h l u ß über Gelingen oder M i ß l i n g e n . W e d e r W a h l n o c h A u s l o s u n g eines b e s t i m m t e n Spielteilnehmers z u m „ K ö n i g " , der allein und letztlich willkürlich die O r d n u n g des Spieles schafft, k ö n n e n also das Gelingen des Spieles garantieren. A u s d i e s e m G r u n d scheint auch W o h l f a r t s restriktive H y p o t h e s e nicht überzeugend, daß „ f ü r den Z w e c k der Β 52-Interpretation ( . . . ) allein das Königsspiel des K y r o s e n t s c h e i d e n d " sei, w e l c h e s in H e r o d o t s „ K y r o u p ä d i e " beschrieben wird, w ä h r e n d der Ablauf des Basilinda-Spieles im allgemeinen hierfür „letztlich irrelevant" sei. 3 Dabei soll der als H i r t e n k n a b e a u s g e g e b e n e spätere K y r o s der G r o ß e von D o r f j u n g e n unwissentlich z u m „ K ö n i g " des Spieles gewählt w o r d e n sein, w o b e i sich dieser der K ö n i g s w ü r d e entsprechend gerecht und v e r n ü n f t i g verhielt, das Spiel z u m E r f o l g f ü h r t e u n d so seine k ö n i g l i c h e A b s t a m m u n g ans Licht k a m . Die „hintersinnige" P o i n t e Heraklits e r g ä b e sich n u n - so W o h l f a r t - aus „ d e m Z u s a m m e n h a n g des Spiels mit der Wirklichkeit", der darin bestünde, daß „beim Königsspiel des K y r o s () der K n a b e K ö n i g (wird), der später auch

1 2 3

Johan Huizinga, Homo ludens, 19. Vgl. Günter Wohlfart, Also, 154-179. Ebd., 163.

2. Die Verschränkung von Spiel, Sprache und Welt in Heraklits Fragment Β 52

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wirklich König wird" 1 . Daraus glaubt Wohlfart schließen zu können, daß das menschliche Leben, so die durchaus vertretbare Deutung von α ι ώ ν , zwar „vordergründig (...) als ein der Willkür und dem Zufall unterworfenes Geschehen" erscheint, diesem aber eine „auf den zweiten Blick" eindeutig erkennbare, gegebene Ordnung unterliegt, welche sich im L a u f e der Zeit unaufhaltsam enthüllt. 2 Damit verschwänden die für das ganze Fragment konstitutiven Elemente der Auslegung und des offenen Versuchs zugunsten einer dem Gesamtgeschehen des Lebens unterlegten festen und epistemisch erkennbaren metaphysischen Ordnung. Freilich läßt sich das Geschehen - sowohl das des Spieles als auch das halb sagenhafte der Biographie von Kyros dem Großen - vom Ende her als geordnet und vernünftig, d. h. in diesem Sinne dem Logos gemäß, interpretieren, aber eben nur aus der Rückschau auf das bereits vergangene Geschehen; m. a. W.: Das Geschehen eines jeden Versuches läßt sich zwar jeweils ex post als Ordnung verstehen, diese Ordnung kann jedoch nicht zuverlässig prognostiziert werden. Sie ist nichts, was einmal erkannt und dann als geltend gewußt werden kann, da sie nicht durch alle Zeiten hindurch mit sich selbst identisch ist. Sie ist ebensowenig notwendig wie vorhersagbar, sondern läßt sich eher als der immer wieder zu wagende Versuch beschreiben, aus mehr oder weniger kontingenten Elementen einen vernünftigen und sinnvollen Zusammenhang zu konstruieren, was auf vielerlei Weisen möglich ist. Im Sinne strenger Kausalität vom Ausgang einer zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gespielten bestimmten Variante eines bestimmten Spieles, d. h. eines einmaligen in der Zeit vorkommenden Ganzen, auf eine spätere „Wirklichkeit" 3 zu schließen, ist vor dem Hintergrund von Spiel, Versuch und Auslegung - und damit auch vor dem des in sich mehrdeutigen Logos, der bereits die Geschichtlichkeit und die Zeitigung der ihm gemäßen Deutungen impliziert nicht einsichtig. Die Beschränkung bei der Interpretation von β α σ ι λ η ί η auf die legendenhafte Kindheitsgeschichte des Kyros, die im übrigen nur den Archetypus der Jugend eines übermenschlichen Helden reproduziert, scheint eher vom Verständnis des Fragmentes abzuführen; zumal dann, wenn der Umstand vernachlässigt wird, daß die Bedingung der Möglichkeit der ganzen Geschichte ihrerseits erst durch den Versuch einer Auslegung gegeben wird, nämlich den der angemessenen Deutung eines visionären Traums durch den Großvater des Kyros, Astyages. Dennoch bleibt der Hinweis auf das Basilinda-Spiel als solches, wie gezeigt, ausgesprochen aufschlußreich. Und es ließe sich im Blick auf die vollständige Machtfülle des „Königs" in der Tat ein Bezug zum persischen Großkönigtum annehmen, bezeichnet doch β α σ ι λ ε ύ ς seit den Perserkriegen namentlich den persischen Großkönig 4 . Beim Basilinda-Spiel erhält einer der Spieler durch Zufall absolute Macht über seine Mitspieler. Unter diesen schafft er nach Gutdünken eine Ordnung, deren Geltung nicht straflos angezweifelt werden darf, was sich in der Geschichte des jungen Kyros zeigt, der einen seiner „Untertanen" verprügeln läßt, da dieser seine Autorität im Spiel anzweifelt. Im günstigsten Fall richtet sich die geschaffene Ordnung nach vernünftigen Kriterien, ist also nachvollziehbar, was den Erfolg des Spieles befördert. Es

1

Günter Wohlfart, Also, 166. Ebd., 168. Wohlfart zeichnet dort auch den seiner Ansicht nach dem Fragment zugrundeliegenden Gedankengang Heraklits nach, der aber so nicht recht einsichtig erscheint: „Heraklit brauchte dazu (sc. zum Nachweis der verborgenen „inneren Gerechtigkeit" des Lebens) ja nur (sie!) den schon in Herodots Geschichte implizierten Vergleich des Königsspiels des Kyros mit dem wirklichen Königtum des Kyros vom Leben des Kyros aufs Leben überhaupt zu übertragen." 2

3 4

Ebd., 167. Vgl. ebd., 150.

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I. Begriffshistorische Grundlegung: Heraklits Fragment Β 52

besteht aber keine Verpflichtung, diese zu begründen oder zu rechtfertigen. Insofern ist Martin Heidegger durchaus zuzustimmen, wenn er in seinem kurzen Deutungsansatz des Fragments am Schluß seiner Vorlesung Der Satz vom Grund bemerkt: „Das 'Weil' versinkt im Spiel."' Denn es gehört j a zum Wesen des Regelspieles, daß gegenüber seinen Regeln, obschon sie willkürlicher Setzung entspringen, also gerade nicht begründet werden, „kein Skeptizismus möglich" 2 ist, so daß die Frage nach deren „Warum" außerhalb des Spieles gar nicht sinnvoll gestellt werden kann. Und es scheint, als läge die ebenfalls von Heidegger ausgemachte Sanftheit des Spieles des königlichen Kindes 3 darin, daß es im Spiel möglich wird, die Willkür einer gesetzten, absoluten Geltung beanspruchenden, unbegründeten Ordnung als zum Geschehen notwendig und diesem konstitutiv zugehörig aufzufassen und als solche zu akzeptieren, was dem Menschen außerhalb des Spielzusammenhangs eher Qualen und Entsetzen bereiten würde. Sinngemäß und frei läßt sich abschließend das Fragment Β 52 wie folgt paraphrasieren: „Das j e endliche Lebensgeschehen in der Welt ist ein mit übermenschlicher Macht begabtes Kind, das in kindlicher Weise von sich aus zweck- und ziellose Bewegung hervorbringt, deren Regel sich weder sehen läßt noch angebbar ist und also spielt; das von sich aus vollständig geordnete Bewegung auf ein gesetztes Ziel hervorbringt und also spielt. Dem Kind obliegt die Setzung der Ordnung."

Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen 7 1992, 188. Johan Huizinga, Homo ludens, 20. 3 Vgl. Martin Heidegger, Satz, 188. Ich vermag hier weder, wie Wohlfart das tut, eine „reichlich tantenhafte Vorstellung" noch den bloßen „Anschein des Tiefsinns" (Also, 156) zu entdecken, sondern halte die angedeutete Interpretation für ausgesprochen bedenkenswert. '

2

II. Dialog und Spiel: Zum Begriff des Spieles in Piatons Phaidros

Piatons Phaidros nimmt gewiß nicht erst seit der immer noch anhaltenden Debatte um die sogenannte „ungeschriebene Lehre" und die schleiermachersche Dialogtheorie 1 eine besondere Stelle im Interesse der Piatonforschung ein. 2 Intensiver auf den Streit zwischen esoterischer und exoterischer Piatoninterpretation einzugehen, ist im Rahmen unserer Fragestellung nach dem Verhältnis des Begriffs des Spieles zur Sprache weder notwendig noch auch möglich. Freilich wird das Problem der 'richtigen' hermeneutischen Haltung bei der Piatonlektüre den Gang der Untersuchung dennoch angelegentlich streifen, da sie ebenfalls von der bekannten Schriftkritik auszugehen hat. Sie versteht sich jedoch nicht primär als Beitrag zu dieser Diskussion, obwohl nach der hier vorgelegten Interpretation die Frage nach der Existenz einer „ungeschriebenen Lehre" Piatons gar keine Frage nach der Lehre Piatons zu sein scheint. Vorgängig ist nämlich vielmehr zu fragen, ob Piaton überhaupt seinem philosophischen Selbstverständnis gemäß über so etwas wie eine „Lehre" im üblichen Sinne verfügen konnte. Es soll im folgenden nach dem Sachgrund der Hauptbestimmung der Schriftkritik gefragt werden, nämlich der Bestimmung des Schreibens auch desjenigen, „der das Wissen vom Gerechten, Schönen und Guten hat" (δικαίων τε και καλών και ά γ α θ ώ ν έπιστήμας έχοντα, 276c3f) , als Spiel im Sinne von π α ι δ ι ά bzw. παίζω. Soweit ich sehe, versteht die Forschung Vgl. zusammenfassend z. B.: Thomas A. Szlezäk, Piaton und die Schriftlichkeit der Philosophie. Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen, Berlin/New York 1985; Wolfgang Wieland, Piaton und die Formen des Wissens, Göttingen 1982. 2

Bereits Nietzsche kritisiert, obschon an der falschen Frühdatierung des Dialoges festhaltend, anhand der Schriftkritik des Phaidros Schleiermachers Interpretationsansatz, wonach Piatons Dialoge - wenigstens im Sinne der indirekten Mitteilung einer Lehre - aus sich selbst heraus verständlich seien. Nach Nietzsche nämlich leite Schleiermacher der Gedanke, „dass durch diese Schriften 'der noch nicht Wissende zum Wissen zu bringen sei'", während die Dialoge doch in Wahrheit als Nachahmung der mündlichen Unterredung „überhaupt nicht einen Lehr- oder Erziehungszweck, sondern einen Erinnerungszweck für den bereits Erzogenen und Belehrten" hätten (Einleitung in das Studium der Platonischen Dialoge (Vorl.), in: Gesammelte Werke. Musarionausgabe [=MusA ] (hg. v. Max Oehler u. a.), München 1921, Bd. IV, 370f)· Auf Nietzsches Option für den dokumentarischen bzw. hypomnematischen Charakter des platonischen Dialogwerkes hat jüngst wieder Hans J. Krämer verwiesen: Piatons ungeschriebene Lehre, in: Theo Kobusch/Burkhard Mojsisch (Hg.), Piaton. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Darmstadt 1996, 249-275, hier 253. 3

Piaton, Piatonis Opera (rec. brevique adnotatione critica instruxit Ioannes Burnet), Oxford 1899ff u. ö.; Piaton, Werke. Übersetzung und Kommentar (Im Auftrag der Kommission für Klassische Philologie der

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II. Dialog und Spiel: Zum Begriff des Spieles in Piatons Phaidros

diese Charakterisierung zwar einhellig und ganz selbstverständlich als mehr oder weniger pejorativ im Gegensatz zur σπουδή des mündlichen dialektischen Gespräches, ohne jedoch danach zu fragen, wofür „Spiel" hier genau stehen soll1, und v. a. wie sich denn „Spiel" auf das Schreiben beziehen kann, d. h. ob es denn nach Piaton eine bestimmte Eigenschaft des Schreibens geben könnte, die sich durch „Spiel" bezeichnen ließe. Ein solcher Versuch zur Einholung dieser Metapher bzw. dieses Begriffes soll nun in gebotener Kürze unternommen werden. Dabei werde ich wie folgt vorgehen: Zuerst soll der Bestimmung des Spieles aus dem Gegensatz zur σπουδή nachgegangen werden. Hierbei wird es nötig werden, sowohl die Charakterisierung der Schrift als bildliche Nachahmung als auch die Rechtfertigung ihrer Hervorbringung ins Auge zu fassen. Sodann soll den daraus sich ergebenden Konsequenzen für die Phänomene der mündlichen wie schriftlichen Rede bzw. für die Tätigkeiten des Sprechens und Schreibens nachgefragt werden, die den Begriff des Spieles zu ihrer Kennzeichnung nahelegen. Schließlich wird die Bedeutung des vorliegenden Spielbegriffes in seiner Beziehung zum platonischen Verständnis von Philosophie systematisch entfaltet.

Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz hg. v. Ernst Heitsch u. Carl Werner Müller), Bd. III.4, Phaidros (Übs. u. Komm. v. Ernst Heitsch), Göttingen 1993; alle deutschen Phaidros-Zitate ohne weitere Angabe beziehen sich auf diese Übersetzung. Alle weiteren Zitate aus den Werken nach: Piaton, Sämtliche Werke (in der Übs. v. Friedrich Schleiermacher hg. v. Walter F. Otto, Ernesto Grassi u. Gert Plamböck), Hamburg 1957 u. ö. 1 Ausnahmen von dieser vermeintlichen Selbstverständlichkeit bilden hier die einschlägigen Versuche von Hermann Gundert, Zum Spiel bei Piaton, in: ders., Piatonstudien (hg. v. Klaus Döring u. Felix Preißhofen), Amsterdam 1977, 65-98, auf dessen Differenzierungen ich mich ζ. T. im folgenden beziehe, und von Theodor Ebert, Meinung und Wissen in der Philosophie Piatons. Untersuchungen zum 'Charmides', 'Menon' und 'Staat', Berlin/New York 1974,26ff, dessen These, daß die Bezeichnung 'Spiel' eine (aufgeschriebene) ,,rhetorische() Rede()" deswegen abwerte, „weil Sokrates gegen die Bezogenheit einer Rede auf einen Adressaten ihre Bezogenheit auf eine Sache ausspiel(e)" (27), ich wenigstens für den Phaidros nicht zu folgen vermag, da mir hier zum einen Piatons Intention geradezu umgekehrt zu werden und Ebert zum anderen Sophistik-, Rhetorik- und Schriftkritik ungerechtfertigt zu vermischen scheint.

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1. Spiel und Emst

1. Spiel und Ernst Platon bezieht „Spiel" und „Ernst" auf verschiedene Weisen des Tätigseins, d. h. auf in der Zeit verlaufende Vorgänge und nicht etwa statische Zustände. Er verdeutlicht ihre Verschiedenheit anhand eines Vergleiches der Tätigkeiten des „vernünftigen Bauern" und desjenigen, der das „Wissen vom Gerechten, Schönen und Guten" hat, also des Philosophen, der um die Existenz der Ideen weiß, d. h. des Dialektikers 1 . Somit ist vorgängig festzuhalten, daß beide Tätigkeitsweisen - also auch und gerade das Spiel - dem Verhalten eines vernünftigen Menschen nicht widersprechen, ja mehr noch: Da auch der Vertreter der höchsten dem Menschen möglichen Lebens- und Vernunftform, der Philosoph, indem er schön schreibt, das schönste aller Spiele spielt (Παγκάλην λέγεις παρά φαύλην παιδιάν, 276el), ist solches Tätigsein dem Menschen im Vollsinne seines Begriffs, und nicht etwa nur in dessen defizitärer Form des Kindseins, wesenhaft zugehörig. Es kann sich also bei einer Abwertung des Spielens gegenüber dem Ernst, sofern eine solche tatsächlich vorliegen sollte, keinesfalls um eine radikale Herabwürdigung desselben als un- oder gar widervernünftig handeln. Damit müßte aber auch dieses nicht-ernste Sich-Verhalten einer vernunftgemäßen Rechtfertigung zugänglich sein, so daß es möglich sein sollte, mehr über diese Tätigkeit auszusagen, als Verweise auf den „künstlerischen Spieltrieb" 2 des Verfassers oder auf eine als bloße Lustbarkeit verstandene „Spielerei" 3 vermuten lassen.

a) Der vernünftige Bauer und der Philosoph: Spielerische und ernsthafte Tätigkeit

Das Bild, das Platon zur Illustration der beiden vernünftigen Tätigkeitsweisen verwendet, entstammt dem Bereich der Landwirtschaft, deren Termini des Säens, Wachsens und Fruchttragens später auf die philosophische Tätigkeit übertragen werden: Der vernünftige Bauer (ό νουν έχων γεωργός, 276blf) - so das Bild 276b/c - wird, wenn er denn mit seiner Getreideaussaat einen Ernteertrag erzielen möchte, seine Sämereien nicht alle in Adonisgärten, d. h. kurzfristig aufgehenden und ertraglos welkenden Topfpflanzungen, verbringen. Ebenso wird der Dialektiker, wenn er der Philosophie im Sinne der Tätigkeit des Philosophierens Dauer verleihen bzw. diese in Gang halten möchte, nicht nur Schriften verfassen, sondern sich jeweils geeigneten Seelen im dialektischen Gespräch zuwenden (276e/277a). T h o m a s A. Szlezäk, dessen Argumentation ich mich in diesem Punkt anschließe, hat wiederholt - insb. gegen Heitsch (vgl. ζ. B.: Kommentar, 185ff u. 218, Anm. 515) - nachdrücklich auf die V e r k n ü p f u n g von Ideenwissen und Dialektik hingewiesen, vgl. Platon lesen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, 156ff; Mündliche Dialektik und schriftliches 'Spiel': Phaidros, in: K o b u s c h / M o j s i s c h (Hg.), Platon, 115-130, hier 127ff; Das Wissen des Philosophen in Piatons Phaidros, in: Wiener Studien 107/108 (1994/1995), 2 5 9 - 2 7 0 . 2

T h o m a s A. Szlezäk, Lesen, 66. Ernst Heitsch, Verständigung im Gespräch, in: ders., Wege zu Platon. Argumentierens, Göttingen 1992, 102-116, hier 114, Anm. 25. 3

Beiträge

zum Verständnis

seines

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II. Dialog und Spiel: Z u m Begriff des Spieles in Piatons

Phaidros

Mit Thomas A. Szlezäk lassen sich für den ernsten Teil der bäuerlichen Tätigkeit drei Aspekte unterscheiden, die hier aber in umgekehrter Reihenfolge genannt seien, nämlich Auswahl, Dauer und Ertrag. 1 Offensichtlich liegt das Schwergewicht dieser drei M o m e n t e auf dem des Ertrages, da die beiden anderen, Auswahl und Dauer, sich zu ersterem wie Mittel zu einem Zweck verhalten: Wenn der Bauer mit seiner Aussaat einen angemessenen Ertrag erzielen will, dann muß er gemäß der Ackerbaukunst sowohl einen geeigneten Ackerboden und ebensolches Saatgut auswählen, als auch die zu Wachstum und Reife nötige Zeit abwarten. Beide Bedingungen müssen im Grundsatz für die Saat in Adonisgärten ebenfalls erfüllt werden: Gerade hier muß sogar ein besonders nährstoffreicher Untergrund mit Sorgfalt ausgewählt werden, um den Keimungsprozeß zu beschleunigen, und ebenso m u ß dessen Dauer richtig eingeschätzt werden, um in der vorgegebenen Zeit die besäten Schalen, genauer: Scherben 2 , zum Grünen und Verwelken zu bringen; selbstverständlich ohne einen Ertrag an Früchten - also wiederum Samen - zu gewinnen. Wollte man nun im Blick auf den Faktor des Ertrags zwischen der ernsthaften und der spielerischen Tätigkeit des vernünftigen Bauern eine vollständige Disjunktion konstatieren, müßte man zeigen, daß die Erfüllung der Wachstumsbedingungen im Falle der Adonisgärten ins Leere geht, daß diese mithin also keinen Zweck außer sich hätten. Zumal zu bedenken ist, daß das von Piaton hier gebrauchte Wort, ε γ κ α ρ π α (276b2), sich sowohl auf die Feldfrucht und das Getreide im besonderen als auch auf Erfolg, Nutzen und Vorteil im allgemeinen bezieht. Szlezäk scheint eine vollständige Disjunktion zwischen Ernst und Spiel zu intendieren, wenn er bei seiner Interpretation 3 sich zum einen ganz auf einen in Getreide bestehenden Ertrag als tertium comparationis konzentriert und zum anderen im Anschluß daran ganz konsequent den Vergleichspunkt zu den Adonisgärten in deren Ertragslosigkeit verortet. Damit bliebe die spielerische Tätigkeit des vernünftigen Bauern rein negativ bestimmt und als solche keiner Rechtfertigung zugänglich, welche aber ob ihrer Vernünftigkeit möglich sein müßte. Die begrifflich eher unbefriedigende Beschränkung auf eine solche bloß negative Bestimmung scheint aber nicht zwingend, da sich sehr wohl - außerhalb des Strebens nach Ertrag an Feldfrüchten - Gründe für das Tun des Bauern angeben lassen: Die Aufzucht von Adonisgärten stellte nämlich zum einen eine „ackerbauliche Institution" 4 zur Vitalitätskontrolle des Saatgutes dar und zum anderen hatte sie kultische Funktion im Rahmen der Adonisverehrung und war damit freilich nicht mehr nur auf die landwirtschaftliche Sphäre eingeschränkt, wenngleich sie die vorgängige und grundlegende agronomische Bedeutung behält. Beide Begründungsmöglichkeiten erwähnt Szlezäk im übrigen, j e d o c h nur um mit dem vorderhand ebenso kryptisch wie apodiktisch klingenden Hinweis, daß man sich um beide „wenig zu kümmern" habe, „da Piaton, der die Bekanntschaft des Lesers mit der Sache voraussetzt, nicht diese Seiten zum tertium comparationis gewählt" 5 habe, sich dem Versuch zu entziehen, diese f ü r das Phänomen der Adonisgärten als solchen wesentlichen Aspekte f ü r die Interpretation des Vergleichs fruchtbar zu machen. Gerade weil Piaton aber ausdrücklich von „Adonisgärten" und nicht von irgendwelchen anderen Topfpflanzen spricht, ist geboten, auch deren tradierte Eigentümlichkeiten zur Deutung des Bildes heranzuziehen, um so der mögli-

1

Vgl. T h o m a s A. Szlezäk, Lesen, 61 f. Vgl. A. D ü m m l e r , Art. Adonis, Pauly-Wissowa, Sp. 384-395, hier Sp. 388f. 3 Szlezäks Interpretation bleibt in all' seinen einschlägigen Publikationen (s. 37 u. 39, j e w e i l s A n m . 1) konstant. 4 Gerhard J. Baudy, Adonisgärten. Studien zur antiken Samensymbolik, F r a n k f u r t / M . 1986, 9. 5 T h o m a s A. Szlezäk, Lesen, 60. 2

1. Spiel und Ernst

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cherweise allzu schlichten Entgegensetzung beider Tätigkeiten als zweckvoll bzw. zwecklos zu entgehen, wenngleich der neuzeitliche Gebrauch des Spielbegriffes zunächst die Zweckfreiheit des Spieles nahezulegen scheint. Wenn aber, wie zu zeigen sein wird, nicht im Blick auf Affirmation oder Negation des Zweckbegriffes eine Disjunktion vorliegt, muß die Verschiedenartigkeit der Zwecke analysiert werden, um die Bedeutung des Bildes vom vernünftigen Bauern zu erfassen. Dabei wird sich zeigen, daß wir es nicht mit einer strikten begrifflichen Unterscheidung, sondern mit einer graduellen Differenzierung zu tun haben.

α ) A u s s a a t und W a g n i s

Vergegenwärtigen wir uns zunächst die ernsthafte Tätigkeit des vernünftigen Bauern und deren Übertragung auf den Philosophen: Die Wahl des geeigneten Bodens, die Auswahl und Aussaat des geeigneten Samens und das Abwarten der Reifezeit gehören zur „Kunst des Ackerbaus", γ ε ω ρ γ ι κ ή τ έ χ ν η . Diese ist einem optimalen Ertrag und damit der bestmöglichen Erreichung des vom Bauern angestrebten Zwecks vorausgesetzt. Ohne die Beherrschung der einschlägigen τ έ χ ν η ist der angestrebte Zweck also nicht zu erreichen. W i e ist dieser Z w e c k bzw. der Ertrag aber näherhin beschaffen? Er liegt allgemein formuliert in der vervielfachten Hervorbringung von Gleichem vermittels der Applikation einer bestimmten τ έ χ ν η . In letzterem allein besteht eine Tätigkeit, von welcher überhaupt nur sinnvoll ausgesagt werden kann, daß sie Spiel oder Ernst sei. Offensichtlich ist eine solche Prädikation abhängig von dem Ziel der Tätigkeit. Dies besteht im Falle des Ackerbaus im Ertrag, also strenggenommen im hervorgebrachten Mehr an Gleichem im Verhältnis zum eingesetzten Material, d. h. in der nun vervielfachten M e n g e von Samenkörnern. Sie können in zweierlei Weise gebraucht werden: Zum einen zur Weiterverarbeitung zu Lebensmitteln und zum anderen und wesentlich geringeren, aber qualitativ hochwertigen Teil zu erneuter Aussaat und Vervielfältigung. Piaton geht es nur um den letzten Aspekt, wie sich erst an der Übertragung in den philosophischen Bereich zeigen wird: Der Ernst liegt in der Hervorbringung neuen Saatgutes durch den vernünftigen Bauern, d. h. in der Gewährleistung der Möglichkeit der zyklischen Wiederholung von Aussaat, Wachstum, Reife und Ernteertrag. Es handelt sich hier um die Sicherung der Möglichkeit zur Fortzeugung bzw. Weitergabe eines lebensnotwendigen Gutes, da der letzte Zweck des Ackerbaus j a die Erhaltung und Kultivierung des Menschengeschlechts ist. Damit läßt sich das spezifisch Ernste des besprochenen Tuns neben seiner notwendigen Kunstgemäßheit in Sonderheit durch zwei Eigenschaften seines Zwecks bestimmen: Z u m ersten überschreitet der Zweck der kunstgemäßen Tätigkeit das rein private Interesse des Ausführenden und zum zweiten richtet er sich in sorgend-bewahrender Weise auf Zukünftiges. Daß die Sicherung der Ernährungsgrundlagen im allgemeinen Interesse der Polis liegt, ist evident; die Weise der Ausrichtung auf die Z u k u n f t verdient jedoch noch weitere kurze Betrachtung. Wenngleich die Reifeperiode des gesäten Korns acht Monate in Anspruch nimmt und sich nach dieser Frist der Ertrag zuverlässig einstellt - freilich nur insoweit dies in der Macht des Ackerbaukundigen steht - , reicht doch der verfolgte Zweck über diesen unmittelbaren bloßen Ertrag hinaus: Wenn der Ernst der bäuerlichen Tätigkeit sich nicht nur in der Aktualisierung und Aufrechterhaltung eines Prozesses lebendiger Fortzeugung erschöpft, sondern auch und gerade in der Aufrechterhaltung der dazu notwendigen Potentialität besteht, dann ist die vollständige

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II. Dialog und Spiel: Z u m Begriff des Spieles in Piatons

Phaidros

und endgültige Erreichung dieses Zweckes in der Zeit nicht möglich. Dasjenige, was man prima facie für solches halten könnte, der Ertrag, impliziert vielmehr schon die Weiterverfolgung des eigentlichen Zwecks als stets wieder und neu gestellter Aufgabe, von deren Erfüllung man immer gleich weit entfernt zu sein scheint, indessen man sie zugleich auf sich nimmt. Ihre Erfüllung liegt demnach im stets wiederholten Bemühen um sie, besteht also im unentwegten angemessenen Vollzug der einschlägigen τ έ χ ν η , der nicht, solange der ihr übergeordnete Zweck - hier die Menschheit - besteht, an ein Ende kommt. Der einigermaßen weitgehend kontrolliert herbeiführbare Ertrag ist selbst also wiederum Mittel zur Aufrechterhaltung eines für sich genommen endlosen Vorgangs und wird auch in diesem Sinne als überpersönlich und prozessual von Piaton aufgefaßt. Dies macht die folgende Beschreibung des ernsthaften Philosophierens deutlich (276e-277a): „Noch viel schöner aber, glaub ich, ist das ernsthafte Bemühen um diese Dinge (sc. das Gerechte, Schöne und Gute), wenn einer nach den Regeln der dialektischen Kunst, sobald er auf eine geeignete Seele trifft, zusammen mit Verständnis Worte in sie pflanzt und sät, die die Fähigkeit haben, sich selbst und ihrem Autor zu helfen, und die nicht fruchtlos bleiben, sondern Samen tragen, aus dem dann in anderen Köpfen wieder andere Worte erwachsen und so imstande sind, diesem immer neuen Prozeß ewige Dauer zu verleihen, und die den, der daran teilhat, glücklich sein lassen, soweit das für einen Menschen möglich." Wenden wir uns wiederum zunächst dem Zweck solcher Tätigkeit zu, ohne noch dessen technische Voraussetzungen und den Inhalt der Schriftkritik selbst zu berücksichtigen. Das ernsthafte Tun des Dialektikers, der als solcher zugleich wahrhafter Philosoph und wahrhafter Rhetor ist, vermag - sofern es erfolgreich ist - zwei mögliche Resultate zu zeitigen, welche die agronomische Metapher des Ertrags zumindest auszuweiten, j a zu sprengen scheinen: Z u m einen geht es um die Fortzeugung dialektischer Logoi in der Seele des als dafür geeignet ausgewählten Unterredungspartners, um diese Logoi ewig unsterblich zu erhalten, und zum anderen kann derjenige, der solches tut, das höchste dem Menschen mögliche Glück gewinnen; oder genauer: diese Tätigkeit läßt ihn glücklich sein (τον έ χ ο ν τ α ε ύ δ α ι μ ο ν ε ί ν π ο ι ο ΰ ν τ ε ς ε ι ς δ σ ο ν ά ν θ ρ ώ π ω δ υ ν α τ ό ν μ ά λ ι σ τ α , 277a3f). Das persönliche Glück scheint also nicht der eigentliche Zweck der ernsthaften philosophischen B e m ü h u n g des Dialektikers zu sein, obzwar es sich bei dessen Beförderung gleichsam wie von selbst nebenher einstellt und solchermaßen an dieses Tun gebunden ist. Zunächst ist es nötig, hier einen gewichtigen Unterschied zum ersten Teil des Vergleichs zu konstatieren, der in der Abwesenheit jeglicher Rede von Eudaimonia im Zusammenhang mit dem vernünftigen Bauern liegt. Dennoch koinzidieren die Auswirkungen der verglichenen Tätigkeiten zweifellos in formaler Hinsicht: Auch das ernsthafte Philosophieren überschreitet den rein privaten Bereich, indem es sich auf die sorgsam ausgewählte Seele eines anderen richtet, und es erfüllt sich, wenn es in dieser ebenfalls die philosophische Bewegung auslöst und damit zu deren Ewigkeit und Unsterblichkeit beiträgt. Hierzu ist zweierlei festzuhalten: Z u m ersten versteht Piaton ernsthafte Philosophie als Vollzug der Tätigkeit des Philosophierens und zwar in der Hinwendung zu einem anderen, d. h. als Gespräch, und damit wesenhaft als Dialektik, also auch als wahre und philosophische Rhetorik. Sie erfüllt ihren Begriff, wenn sie ihren Vollzug, ohne an ein Ende zu kommen, über die Generationen hinweg aufrechtzuerhalten vermag. Z u m zweiten - und hier scheint die Pointe des Vergleichs zu liegen - unterliegt die Erreichung der Absicht, also der Erfolg des Tuns, nicht vollständig der Kontrolle des dialektischen Akteurs. Denn sowohl der vernünftigste aller Bauern als auch der Dialektiker können ihrer j e spezifischen Kunst gemäß

1. Spiel und Ernst

43

immer nur in Absicht auf eine bestmögliche Ernte oder in Absicht auf Unterweisung (έν δε τοΐς διδασκομένου; και μαθήσεως χάριν λεγομένοις, 278a2) handeln. Die Kunstgemäßheit und die Absicht implizieren aber nicht schon den angestrebten Erfolg der Tätigkeit, der zu einem gewissen und durchaus entscheidenden Teil von äußeren und nicht beeinflußbaren Umständen abhängt. Es geht also aus dieser Perspektive nicht von Anfang an darum, ob eine bestimmte philosophische Lehre oder eine bestimmte Art philosophischen Wissens überhaupt gesprächsweise oder sprachlich mitteilbar und vermittelbar ist1, sondern zunächst darum, daß der Besitz solchen Wissens oder das rechte Verständnis einer solchen Lehre, seien sie direkt oder indirekt mitgeteilt, nicht mit Sicherheit gewährleistet ist noch werden kann. Das bedeutet, pointiert geprochen, daß aus dem ersten Teil des Vergleichs, der die ernsthaften Tätigkeiten schildert, auch hervorgeht, daß ackerbaulicher Ertrag oder Verständnis bzw. Wissensbesitz nicht erzwungen werden kann: Der menschliche Dialektiker kann kein vollständiges Wissen über die Beschaffenheit aller möglichen ihm begegnenden Seelen besitzen, da solches allein den Göttern zukommt (οίον μέν έστι, πάντη πάντως θείας είναι και μακράς διηγήσεως, 246a4f) 2 , und somit auch nicht für die Frucht seiner in Seelen gesäten Logoi garantieren, ebensowenig wie dies auch der vernünftigste Bauer im Blick auf seinen Ertrag kann. In beiden Fällen kann der Erfolg bzw. der Ertrag des Einsatzes unter kunstgemäßer Tätigkeit erst geraume Zeit nach dessen Einsetzung bewertet werden, d. h. mit der Überprüfung der Güte und der Keimfähigkeit des Kornes nach der Ernte oder der kritischen Überprüfung der Logoi im dialektischen Gespräch daraufhin, ob sie die Fähigkeit haben, „sich selbst zu helfen" (οϊ έαυτοΐς (...) βοηθεΐν ικανοί, 276e7f), woran sich erst zeigt, ob der Unterwiesene bloßer Doxosoph ist oder aber selbst zum Dialektiker wurde 3 . Die ernsthafte Tätigkeit des Philosophen birgt ein notwendiges Wagnis und bleibt damit letztlich ein schon um den 'Nebeneffekt' der Eudaimonia willen immer wieder neu anzugehendes Experiment, dessen Risiken Piaton beispielsweise im VII. Brief nachdrücklich beschreibt, deren Abwehr wiederum wohl durchaus beim Kampf gegen die Sophistik eine tragende Rolle innehatte. Dies Wagnis auf sich zu nehmen, nötigt das Wesen der Philosophie als Philosophieren im lebendigen Gespräch selbst. Somit zeigen sich bereits im ernsthaften Teil des Vergleichs des Bauern und des Philosophen gute Gründe für die von Wolfgang Kulimann angenommene zweifache Begründung der platonischen Schriftkritik 4 , die sich nun auch auf den mündlichen Bereich ausdehnen läßt: Das Wagnis der Philosophie bedingt das sogenannte 'esoterische Argument', wonach der Dialektiker der Verpflichtung unterliegt - soweit ihm dies unter seinen endlichen Erkenntnis- und Wissensbedingungen möglich ist - nach skrupulöser Auswahl

Vgl. ζ. B.: Wolfgang Wieland, Piaton, insb. 13-94, der von der Untauglichkeit von Sätzen und damit von Sprache überhaupt zur Vermittelung philosophischer Logoi ausgeht; T h o m a s A. Szlezäk, Lesen, der für eine „ p r i n z i p i e l l e ) " (140) schriftliche Mittelbarkeit philosophischer τ ι μ ι ώ τ ε ρ α votiert; und Ernst Heitsch, Verständnis, der eine „methodisch sichere" (109) Erreichung sprachlicher Verständigung bezüglich philosophischen Wissens annimmt. 2 Vgl. Ronna Burger, Plato's Phaedrus. Α Defense of α Philosophie Art of Writing, Alabama 1980, 70ff; Leon Robin, Notice, in: Piaton, Phedre (Notice de. L. Robin, Texte etabli par C. Moreschini et trad, par Paul Vicaire), Paris 2 1994, XCVf. 3 Szlezäk bezeichnet die Herbeiführung einer solchen βοήθεια-Situation geradewegs als „Methode, j e m a n d e n zu testen, ob er philosophos ist oder nicht" {Lesen, 140), ohne aber auf die Parallele zu unserem Vergleich hinzuweisen. 4 Vgl. Wolfgang Kullmann, Piatons Schriftkritik, in: Hermes 119 (1991), 1-21.

44

II. Dialog und Spiel: Z u m Begriff des Spieles in Piatons

Phaidros

geeigneter Seelen strikt adressatenbezogen 1 , d. h. zu einem jeden möglichen Gesprächspartner in anderer Weise zu sprechen, also auch zu wissen, wann er zu reden und zu schweigen ( λ ε κ τ έ ο ν κ α ι έ π ι σ χ ε τ έ ο ν , 272a4) hat. Z u m zweiten liegt das sogenannte 'dialektische Argument' f ü r die Schriftkritik, wonach die Philosophie als per se unabschließbares psychagogisches Tätigsein gilt 2 , in deren Wesen als Dialektik selbst. Die Kritik betrifft so eine jede satzmäßige sprachliche Äußerung 3 und ist nur nach deren jeweiliger Art und Weise graduell gestuft. Erst im Sinne einer zuallererst auf Selbsterkenntnis ausgerichteten Seelenführung wird die Rhetorik, um deren wahren Begriff es j a im Phaidros geht, zu einer τ έ χ ν η im platonischen Verständnis 4 . Sofern die Philosophie in der Fortzeugung ihrer selbst als selbstbewegtes Tätigsein zu sich kommt und sich damit leitend auf eine j e andere Seele richtet, ist sie eine dem Wahren verpflichtete Rhetorik, der es eben nicht ausschließlich auf eine bloße Überredung zu etwas Beliebigem ankommt, wie dies bei den Sophisten der Fall ist 5 . Diese 'wahre Rhetorik' ist die notwendig zu beherrschende Kunst, die zumindest die Aussicht auf Erfolg der Absicht des dialektischen Gesprächsunternehmens ermöglicht. Das im Ernst zu wagende Experiment ist solchermaßen ein rhetorisches und als solches an die Sprache als alleiniges M e d i u m gebunden, auch wenn die sprachliche Mitteilung selbst „im Erkenntnisprozeß nur subsidiäre Funktion besitzt" 6 . Dessen Verlauf vergleicht Piaton j a im VII. Brief mit der Plötzlichkeit der Entstehung eines Feuers, „das von einem springenden Funken entfacht wird" (οίον ά π ό π υ ρ ό ς π ε δ ή σ α ν τ ο ς έ ξ α φ θ ε ν φως, 341c7f), sofern, so wäre zu ergänzen, eine entsprechende Disposition vorliegt. Der vollkommene Philosoph und damit zugleich der vollkommene Rhetor wäre also derjenige, der über eine absolute Macht zur Herbeiführung wahrheitsgemäßer Einsicht mit d e m Mittel der Sprache verfügte 7 , welche Möglichkeit dem Menschen allerdings eo ipso verschlossen sein muß. Festzuhalten bleibt aber - und das sei nochmals betont - , daß Philosophie in ihrem Wesen als dem Menschen eigentümliche Tätigkeit des Philosophierens mit dem kunstgemäßen Sprechen im Sinne der von Piaton entworfenen Rhetorik notwendig verknüpft ist.

ß) Spiel und P r ü f u n g

Wir gehen damit zur zweiten im Vergleich angeführten Weise des Tätigseins des vernünftigen Bauern über, dem 'Spiel' der Aufzucht von Adonisgärten, das mit dem philosophischen Spiel mit Worten geglichen wird, die „von Gerechtigkeit und den anderen Dingen, die du erwähnst",

1

Vgl. T h o m a s A. Szlezäk, Schriftlichkeit, 47. Vgl. ζ. B. Bernhard Waldenfels, Das sokratische Fragen. Aporie, Elenchos, Anamnesis, M e i s e n h e i m a. Glan 1961, insb. 139-154. D a ß sich die Kunst der S e e l e n f ü h r u n g durch S p r a c h e auch auf die eigene Seele bezieht, zeigt Charles L. Griswold, Self-Knowledge in Plato's Phaedrus, N e w H ä v e n / L o n d o n 1986, 197f. 3 Vgl. W o l f g a n g Wieland, Piaton, 37-42. 4 Vgl. A n t j e Hellwig, Untersuchungen zur Theorie der Rhetorik bei Piaton und Aristoteles, Göttingen 1973, insb. 4 0 f f u . 7 5 f f . 5 Vgl. Heinrich Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht. Der Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik bei Piaton und in der Phänomenologie, F r a n k f u r t / M . 1987, 19. 6 Ebd., 199. 7 Dies bemerkt zurecht Franco Trabattoni, Scrivere nell'anima. Veritä, dialettica e persuasione in Piatone, Firenze 1994, 85ff. 2

45

1. Spiel und Ernst

erzählen (του έν λόγοις δυναμένου παίζειν, δικαιοσύνης τε και ά λ λ ω ν ών λέγεις πέρι μυθολογοΰντα, 276e2f'. Was also heißt und zu welchem Ende pflanzt man Adonisgärten? Wie bereits der Name vermuten läßt, stehen sie in Zusammenhang mit der religiösen Verehrung des Adonis. Sie werden bei Piaton Uberhaupt erstmals erwähnt. Entsprechende achttägige kultische Feste (εορτής, 276b5), deren Anlaß die mit der Hoffnung auf Wiederkehr des Gottes verbundene Klage um den getöteten Adonis war, wurden aber Uberall im hellenischen Bereich, und nicht nur in Athen, zur Zeit seines Todes im Hochsommer gefeiert, wenn das Getreide erntereif auf den Feldern steht. 2 Dabei stellten ursprünglich die klagenden Frauen die ihren Geliebten beweinende Aphrodite dar. Die bei dieser Gelegenheit gezogenen und das Wesen des betrauerten Gottes symbolisierenden Adonisgärten waren in Topfscherben angesäte Kräuter- oder Getreidesamen, die durch besondere Pflege innerhalb von acht Tagen zum Keimen und Welken gebracht und danach in Quellen bzw. ins Meer geworfen wurden. Der Adoniskult ist zuallererst allgemein als Vegetationskult zu verstehen, der den universellen Naturvorgang thematisiert, daß das Sterben des Lebenden - hier des Adonis bzw. der Pflanze die notwendige Voraussetzung für die Möglichkeit der Wiederkehr gleichen Lebens - die Gewinnung von Samen - darstellt. Neben dieser kultisch-symbolischen Funktion im Sinne eines „spielerische(n) Vorvollzug(s) der Auferstehung des Gottes" 3 , die trotz ihres ländlichen Usprungs freilich nicht auf die bäuerliche Sphäre beschränkt war, hat Gerhard J. Baudy eine ebenso im engeren Sinne agronomische wie handfeste Bedeutung der Adonisgärten aufgewiesen, die zugleich auf den Ursprung des Ackerbaus und damit auf „die Aufrechterhaltung des kulturellen Niveaus" 4 überhaupt verweist: Die Adonisgärten dienten nämlich primär als Probesaat zur Kontrolle der Keimfähigkeit frischgeernteten Saatgutes und zu dessen Selektion. Beide Bedeutungen der Adonisgärten sind durch einen Zweck bestimmt. Das ohne Absicht oder Hoffnung auf einen direkten Ertrag ausgebrachte Saatgut wird nicht um dieser Handlung oder um des schieren Vergnügens willen verbraucht: In der kultischen Opferhandlung - etwas anderes ist der ertraglose Verbrauch von Sämereien bei den städtischen Adonien nicht - liegt die Absicht, den damit gemeinten Gott, Adonis und in dessen Hintergrund Aphrodite als Fruchtbarkeitsgöttin selbst, im Blick auf die je individuellen Wünsche des Opfernden günstig zu stimmen, während beim landwirtschaftlichen Brauch der Zweck der Samenprüfung, bei der der Bauer jeweils einen geringen Teil des Saatgutes seiner eigenen Ernte verbraucht, unmittelbar zu greifen ist. Auch die von Piaton als Spiel bezeichnete Tätigkeit dient also einem Zweck, der in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ertrag des ernsthaften Tuns steht und sich in Termini des Ertrages beschreiben läßt, so daß mithin von einer vollständigen Disjunktion zwischen Spiel und Ernst auf diesem Grunde nicht gesprochen werden kann. Der Adonisanbeter kann - je nach Grad seiner Frömmigkeit freilich - die Erfüllung seiner speziellen Wünsche und Hoffnungen auf die durch seine Opfer bewirkte Güte des Gottes zurückführen, und der Bauer gewinnt für seine

Wilhelm Luther hat die zitierte Stelle als Anspielung auf die E r z ä h l u n g von der Gerechtigkeit, die G e g e n s t a n d der Politeia (501e u.376d) ist, erwiesen: Die Schwäche des geschriebenen Logos. Ein Beispiel humanistischer Interpretation, versucht am sogenannten Schriftmythos in Piatons Phaidros (274B6ff'), in: G y m n a s i u m 68 (1961), 526-548, hier 536. Stanley Rosen geht sogar so weit, die Politeia als „noble lie" zu bezeichnen: The Quarrel Between Philosophy and Poetry, in: ders., The Quarrel Between Philosophy and Poetry. Studies in Ancient Thought, New Y o r k / L o n d o n 1993, 1-26, hier 26. 2 3 4

Vgl. zu Kult und Mythos um Adonis Gerhard J. Baudy, Adonisgärten, Ebd., 36. Ebd., 45.

9-47.

46

II. Dialog und Spiel: Zum Begriff des Spieles in Piatons Phaidros

ernsthafte Tätigkeit hochbedeutsame Aufschlüsse über die Ertragschancen seiner kommenden nächsten Aussaat. Diese Zwecke zu erreichen - und das scheint die Pointe der von Piaton intendierten Unterscheidung zwischen ernsthafter und spielerischer Tätigkeit zu sein - , ist mit vergleichsweise geringem Aufwand - es wird ja nur ein verschwindend kleiner Teil des Saatgutes benutzt - und keiner Mühe, sondern mit Festlichkeit und Freude verbunden; m. a. W.: Die spielerische Tätigkeit birgt kein existentielles Risiko; das mit dem ernsthaften Tun notwendig verbundene Wagnis geht ihr vielmehr weitgehend ab. Im Gegenteil: Gerade ihre Unterlassung bzw. ihre unangemessene Ausführung wäre ein ebenso unvernünftiges wie unnötiges Wagnis, bei dem im einen Fall der Unmut der Götter und im anderen die Ungewißheit über die Qualität des Saatgutes drohte. Beides läßt sich aber ohne Mühe vermeiden. Das gesuchte tertium comparationis ist somit mit dem Begriff des Ertrages nicht genau genug gefaßt. Es liegt vielmehr im Begriff des Wagnisses bzw. des zu riskierenden Einsatzes, der der spielerischen Tätigkeit in der gezeigten Weise fehlt, wie bereits Karl Reinhardt im Blick auf das Verhalten der Menschen und der Götter in der Ilias gezeigt hat 1 : Die Götter spielen nur, wenn sie in die Kämpfe um Troja eingreifen, da es für sie im Gegensatz zu den agierenden Menschen nicht um Leben und Tod geht. Wie läßt sich nun die spielerische und sinnvolle Aufzucht von Adonisgärten auf das Spiel des Philosophen, d. h. das Schreiben bzw. die Aussaat philosophischer Logoi in Schriftgärten, übertragen, wie dies Piaton tut? „Sondern seine literarischen Blumenkästen wird er (sc. der u m das Gerechte, S c h ö n e und Gute weiß), so scheint es, nur aus Spielerei besäen und beschreiben, falls er schreibt, und dadurch Schätze der E r i n n e r u n g s a m m e l n sowohl für sich selbst für den Tag, da er ins Greisenalter des Vergessens k o m m t , als auch für j e d e n , der derselben Spur folgt; und f r e u e n wird er sich, w e n n er die zarten Sprossen sieht. Und wenn andere andere Spielereien pflegen, bei Gelagen sich betrinken und sonst noch treiben, was dazugehört, dann wird er, so scheint es, statt dessen bei j e n e n Spielen verweilen, von denen ich spreche. - W u n d e r b a r und viel besser als die anderen Spielereien ist das Spiel, von d e m du sprichst, wenn einer mit Worten spielen kann und erzählt von Gerechtigkeit und den anderen Dingen, die du erwähnst." (276d/e)

Dieser zweite Teil des Vergleichs, der die dem Philosophen eigentümliche Weise zu spielen beschreibt, enthält in nuce die Antwort auf die Frage, die wenigstens den zweiten Teil des Dialoges beherrscht, nämlich die Frage nach einer Art des Redens und Schreibens, die vernünftig zu rechtfertigen ist. Ersteres wird durch die Analyse und die Exposition des wahren Begriffes der Rhetorik dargetan. Im Mittelpunkt der Antwort auf die Frage, wann das Schreiben von Logoi „schön ist oder schimpflich und unter welchen Voraussetzungen es zurecht als Schande gilt oder nicht" (περί του κ α λ ό ν ή α ί σ χ ρ ό ν ε ί ν α ι τό λ ό γ ο υ ς λ έ γ ε ι ν τε κ α ι γράφειν, κ α ι δ π η γ ι γ ν ό μ ε ν ο ν έν δ ι κ η λ έ γ ο ι τ ' α ν όνειδος ή μή, 2 7 7 d I f f ) bzw. nach der Art und Weise des schönen und schlechten Schreibens (ό τρόπος του κ α λ ώ ς τε κ α ι μή γ ρ ά φ ε ι ν , 258d7), steht der Begriff des Spieles. Piaton bezieht ihn sowohl auf die Tätigkeit des Schreibens als auch auf deren Resultat. Zunächst ist zu bemerken, daß auch der spielerischen Tätigkeit des Philosophen ausdrücklich ein wohlbestimmter Zweck unterlegt wird: Durch das Anlegen von Schriftgärten sammelt er „Schätze der Erinnerung" ( υ π ο μ ν ή μ α τ α θησαυριζόμενος, 276d3) nicht nur für das eigene Vgl. Karl Reinhardt, Das Parisurteil, in: ders., Tradition (hg. v. Carl Becker), Göttingen 1960, 16-36, hier 24f.

und Geist. Gesammelte

Essays

zur

Dichtung

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1. Spiel und Ernst

Alter, sondern auch „für jeden, der derselben Spur folgt" (παντι τώ ταϋτόν ϊ χ ν ο ς μετιόντι, 276d4). Hier ist die Rede von der hypomnematischen Funktion der Schrift, die im vorausgegangenen Theuth-Mythos angesprochen wurde, auf deren Bedingungen noch einzugehen sein wird. Grundlegend für das Verständnis des zweiten Vergleichsteils ist jedoch die Verschränkung des Spielbegriffes mit einem zentralen Begriff des platonischen Denkens: Es ist der Begriff des Schönen (καλόν), der für die Rechtfertigung des Verfassens von Schriften entscheidende Bedeutung hat. Denn allein Geschriebenes, dem die Eigenschaft der Schönheit zukommt, ist des Philosophen würdig, da es schändlich ist, „nicht schön zu reden und zu schreiben, sondern häßlich und schlecht" (τό μή καλώς λέγειν τε και γράφειν άλλ' αίσχρώς τε και κακώς, 258d4f), womit sowohl auf den ethischen als auch auf den ästhetischen Kontext hingewiesen ist. Das Kriterium dafür aber, ob ein geschriebener Logos „schön" genannt werden kann, ist seine Charakterisierung als „Spiel" ( Ό δέ γε έν μεν τώ γεγραμμένφ λόγω περί έκαστου π α ι δ ι ά ν τε ηγούμενος πολλήν ά ν α γ κ α ΐ ο ν είναι, 277e5f): Etwas Geschriebenes kann nur dann „schön" genannt werden, wenn es vom Autor bewußt als „Spiel" intendiert ist und als solches auch kenntlich gemacht wird. Erst dann bescheidet sich der Text mit der ihm einzig möglichen hypomnematischen Funktion und täuscht nicht vor zu leisten, was er doch zu leisten nicht imstande ist, nämlich philosophische Logoi von „Beständigkeit und Deutlichkeit" (βεβαιότητα () και σαφήνειαν, 277d8f) im Sinne eines besitzbaren Wissens zuverlässig zu vermitteln, so daß gleichsam die betreffende Aussage oder Satzfolge nur auswendig zu lernen wäre, um über das entsprechende Wissen zu verfügen und rechtmäßig als Philosoph zu gelten. Damit ergibt sich freilich das Problem, ob und wie es denn möglich sein soll, in Abwesenheit des Autors nur anhand eines oder mehrerer vorliegender Texte deren Spielhaftigkeit zu bemerken. Bevor wir jedoch dessen Erörterung versuchen, läßt sich bereits einiges, zumindest in formaler Hinsicht, zur Frage nach der Übertragbarkeit des Bildes der Adonisgärten auf das Schreiben des Philosophen festhalten. Der Zweck der Adonisgärten bestand sowohl in ihrer kultischen Bedeutung als auch in der durch sie möglichen Fertilitätsprüfung. Beide Aspekte lassen sich auf die Schriftgärten übertragen, deren ausgezeichneter hypomnematischer Funktion in diesem Kontext später noch nachzugehen ist: Das schöne Schreiben ist ebenso gottgefällig wie das häßliche Schreiben schändlich, „auch wenn alle Welt das gutheißt" (ούδε α ν ό πάς όχλος αύτό έπαινέση, 277e2f)'. Die Konsequenzen beider Handlungsweisen kann man sich vor dem Hintergrund des Seelenmythos leicht vorstellen. 2 Auch der Punkt der Keimfähigkeitskontrolle im Sinne der Aufrechterhaltung der Möglichkeit des Lebens- und Wachstumszyklus läßt sich einholen: Wenn eine noch zu klärende Schreibweise bzw. Schreibintention als Kriterium für das Philosophentum des Autors auch in dessen Abwesenheit fungieren könnte, dann ist zugleich die Tauglichkeit des Verfassers zur Fortzeugung der Philosophie als lebendiges dialektisches Philosophieren in der gesprächsweisen Zuwendung zu dafür geeigneten Seelen erwiesen. 3 Ebenso ist das Verfassen von Texten wenn schon nicht Ursprung der Eudaimonia so doch immerhin ein Quell von Freude, ja sogar der höchsten, die durch nichternste Betätigung erreicht werden kann, welche überdies keiner großen Mühe (ούδένα πώποτε λόγον (...) μ ε γ ά λ ε ς άξιον σπουδής, 277e6ff) im Vergleich zur langwierigen, schwierigen und obendrein stets in Vgl. dazu Otto Regenbogen, Bemerkungen zur Deutung des platonischen Schriften (hrg. v. Franz Dirlmeier), München 1961, 248-269, hier 265f. 2

Phaidros,

in: ders.,

Kleine

Vgl. Leon Robin, Notice, CVIIIf. In diesem Sinne könnte man auch von dem von Konrad Gaiser herausgestellten protreptischen Zweck des Dialogwerkes sprechen, wenn es sich auch nicht darin erschöpft, vgl. Protreptik und Paränese bei Piaton. Untersuchungen zur Form des platonischen Dialogs, Stuttgart 1959. 3

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II. Dialog und Spiel: Zum Begriff des Spieles in Piatons

Phaidros

ihrem Erfolg gefährdeten Weg der Seelenführung im Gespräch bedarf. Und sofern sich der philosophische Verfasser an die spezifischen Bedingungen der schriftlichen Rede hält, ist mit ihrer Herstellung auch kein Wagnis vor den Göttern verbunden, wobei die Menschen in dieser Hinsicht gar nicht ernstlich in Betracht gezogen werden. Über diese notwendigen Einsichten verfügt jedoch nur der Philosoph (278d), so daß der platonische Befund einigermaßen radikal wirkt: Allein Texte, die der wahre Philosoph schreibt und die als solche erkennbar zum Spiel abgefaßt wurden und damit auch schön sind, allein derartige Texte sind nicht schändlich. Provokant könnte man sagen: Für Piaton muß der wahrhafte Philosoph, wenn er denn schreibt, zum wahrhaften Dichter werden 1 , und man erkennt an der Beschaffenheit seiner Texte sein Philosophentum selbst. Der Untersuchung stellt sich damit die Aufgabe, dieser begrifflichen Engführung von Philosophie, Dichtung, der Schrift und dem noch näher zu bestimmenden Schönen, die unter dem Titel des Spieles hier vorgenommen wird, weiter nachzugehen.

b) Spiel und Schein

Der Texte schreibende und so „mit Logoi spielende" Philosoph ist insofern Dichter, als er Geschichten erzählt, die die Gegenstände des Philosophierens zum Thema haben. Das schriftliche Erzählen solcher Geschichten ist das Spiel des Philosophen. Daß der Philosoph seine Sache in dieser Form allein in der Weise des μ υ θ ο λ ο γ έ ω darbieten kann, liegt vorderhand am Wesen der Schrift selbst. Zudem gibt es gute Gründe dafür anzunehmen, daß diese Nötigung durch das Wesen des platonischen Verständnisses von Philosophie selbst vorgegeben ist, worauf später einzugehen sein wird. Wie stellt sich nun die platonische Schriftkritik aus der Perspektive unserer Fragestellung dar?

α ) Schrift als Abbild

Ich gehe von der durch Sokrates bestätigten zusammenfassenden Formulierung des Phaidros 276a9 aus: ό γ ε γ ρ α μ μ έ ν ο ς εϊδωλον α ν τι λ έ γ ο ι τ ο δ ι κ α ί ω ς . Mit Recht also könne man Geschriebenes eine Art Abbild nennen. Und zwar Abbild der lebenden und beseelten (ζώντα κ α ι έ μ ψ υ χ ο ν , 276a8) Rede des Dialektikers, die in die geeignete Seele den Keim des Philosophierens sät und dessen ewiges Weiterleben befördern kann. Diese Abbildhaftigkeit der Schrift zeigt sich an vier Eigenschaften: 1. Wie die Erzeugnisse der Malerei täuscht die Schrift Lebendigkeit vor, spricht aber nicht (ώς ζώντα, έ ά ν δ' ά ν έ ρ η τι, σ ε μ ν ώ ς π ά ν υ σ ι γ α , 275d6); 2. der Text gibt, auch wenn er befragt wird, immer wieder dasselbe Zeichen (εν τι σ η μ α ί ν ε ι μόνον τ α ϋ τ ό ν άεί, 275d9), so daß er nicht sich selbst erklärend Verständnis herbeiführen kann; 3. die Verbreitung eines Textes ist, wenn er denn einmal geschrieben - und publiziert - ist,

Vgl. Helmut Kuhn, Die wahre Tragödie. Piaton als Nachfolger der Tragiker, in: K o n r a d Gaiser (Hg.), Das Piatonbild. Zehn Beiträge zum Piatonverständnis, Hildesheim 1969, 231-323.

1. Spiel und Ernst

49

unkontrollierbar ( κ υ λ ι ν δ ε ΐ τ α ι μεν π α ν τ α χ ο ύ , 2 7 5 e l ) ; 4. der Text kann sich nicht alleine gegen ungerechtfertigte Auslegungen und Kritiken ( π λ η μ μ ε λ ο ύ μ ε ν ο ς δε κ α ι ο ύ κ έν δ ί κ η λ ο ι δ ο ρ η θ ε ΐ ς , 275e3f) wehren. Die erste dieser Bestimmungen ist offensichtlich für die ganze Sache grundlegend, weswegen die Abbildhaftigkeit der Schrift primär von dieser Vortäuschung von echtem Leben her gefaßt werden soll. Dazu ist zunächst nach der Beschaffenheit des Lebens bzw. des Lebendigen zu fragen, das hier vorgetäuscht wird. Die Lebendigkeit wird von der Rede des wahrhaft Wissenden (τοΰ ε ί δ ό τ ο ς λ ό γ ο ν λ έ γ ε ι ς , 276a8) ausgesagt. Dieser ist der über die Einsicht in das Gerechte, Gute und Schöne verfügende Dialektiker, dessen eigentümliche Tätigkeit bereits beschrieben wurde. Inwiefern läßt sich nun von der Rede des Dialektikers - und es hat zumindest den Anschein, als spräche Piaton allein dieser die genannten Eigenschaften zu! sagen, daß sie lebendig und beseelt sei? Wenn nun den, offenbar mündlichen, Logoi des Wissenden eine Seele als belebendes Prinzip innewohnt, müßten diese im strikten Sinne der Darstellung der Seele 245c-246a etwas in sich haben, das unsterblich und selbstbewegt und damit auch ungeworden ist. Dieser 'Kern' der Rede wäre solchermaßen zugleich vom Sprechenden abgelöst, der ihn als ungewordenen j a nicht eigentlich hervorbringen, sondern nur zum Ausdruck bringen, d. i. darauf hinweisen bzw. ihn anzeigen kann.' Die ernsthafte mündliche Rede des Dialektikers ist gleichsam nur die Einkleidung f ü r etwas, das unabhängig von dieser f ü r sich besteht und sich in dieser inkorporiert, d. h. sinnlich erfahrbar wird. In solcher Sprache also wird jenes hyperuranische „Sein, das ohne Farbe und Gestalt und nicht zu berühren" (247c) ist und das allein die nicht in einem Körper gefangene Seele „sieht", im Bereich des veränderlichen Endlichen wahrnehmbar. Aber eben nicht so, wie es sich in Wahrheit verhält, sondern wiederum nur in den j e und j e verschiedenen, durchaus äußerlichen sprachlichen Einkleidungen, die ihm der Philosoph gemäß der begründet vermuteten Beschaffenheit der Seele seines jeweiligen Gesprächspartners und der jeweiligen Gelegenheit verleiht. Hieraus erhellt zugleich, daß eine so verstandene „Seele" der Rede nicht ein für alle Mal propositional gefaßt und festgeschrieben werden kann, weil eine jede sprachliche Äußerung dasjenige, was sie belebt, notwendig in der Wahrhaftigkeit seiner Beschaffenheit verhüllt und solchermaßen verfälscht. Ja gerade die schlichte, nicht rein formale, propositionale Äußerung, die eine solche Wahrheit ausdrücken wollte, muß dem Vorwurf der Verfälschung bzw. der Täuschung in höchstem Maße ausgesetzt sein, da sie j a ein So-und-so-und-nicht-anders-Sein suggeriert. Auch die Rede des Wissenden verhält sich als Rede zum Wahren bestenfalls bloß andeutend, aber nie aussagend, jedoch ebensowenig täuschend 2 : Das einstmals mit der Seele erschaute und ins mögliche Wissen zu hebende Sein selbst bleibt so ungesagt wie unsagbar. Mithin läßt sich vor diesem Hintergrund nun zumindest das „Pflanzen von Worten" in die Seele näher beschreiben. Es ist mittlerweile klar, daß es bei diesem Vorgang nicht um eine einfache Informations Vermittlung sich handeln kann: Die „distinction entre information et connaissance" 3 ist gerade hier strikt zu beachten. Bei diesem Klärungsversuch mag präzisierend auf die oben gebrauchte Metapher vom „Kern" der Rede zurückgegriffen werden: Der Kern ist nicht der Samen selbst, sondern enthält und schützt diesen. Der im Kern enthaltene Same ist die Voraussetzung der Möglichkeit der Keimung, d. h. das, was Leben ermöglicht. Der Keimling 1

Vgl. W o l f g a n g Wieland, Piaton, 68. Auf die auffällige Parallele dieser Struktur zu Heraklits F r a g m e n t Β 9 3 (s. o. Kap. 1.1.) kann hier nur hingewiesen werden. 3 Luc Brisson, Introduction, in: Piaton, Phedre (Trad., introduction et notes par Luc Brisson), Paris 1995, 2

60.

50

II. Dialog und Spiel: Zum Begriff des Spieles in Piatons

Phaidros

selbst durchbricht und zerstört die schützende Schale des Kerns. Das so in die Erscheinung getretene aktuale Leben inkorporiert sich, obschon gleicher Art, in anderer Weise. Es wird also nicht identisch vervielfacht, gleichsam geklont, sondern in immer neue und andere Erscheinungen variiert, obzwar es sich ebenso gleich bleibt. Analog spricht Piaton davon, daß aus den gesäten Worten „in anderen Köpfen wieder andere Worte erwachsen" (δθεν ά λ λ ο ι έν ά λ λ ο ι ς ήθεσι φυόμενοι, 277alf), um diesen Prozeß als unsterblich, d. h. solange das Menschengeschlecht währt, aufrechtzuerhalten. Damit ist nochmals die Äußerlichkeit und geschichtliche Bedingtheit des sprachlichen Ausdrucks hervorgehoben, der seine lebende Seele, das nichtpropositionale Wissen um das wahrhafte Sein, in der Art der Erscheinung umkleidet. Ohne dies aber wäre das philosophische Tätigsein als Geschichtenerzählen in der endlichen und sinnlichen Welt, zu dem der Mensch aufgrund seiner besonderen wesensmäßigen Beschaffenheit genötigt ist, gar nicht möglich. Damit soll jedoch die mythenkritische Position Piatons nicht in Zweifel gezogen werden: Der nicht mythische Logos bleibt dem Mythos freilich epistemologisch überlegen. Seine Gewinnung liegt allerdings einigermaßen häufig außerhalb der Reichweite der endlichen, also nichtgöttlichen Menschenvernunft, so „daß der Mythos an besonders wichtigen Stellen der platonischen Schriften den Logos ablöst, weil er offenbar die einzige Form ist, in der der Philosoph das Größte und das Ganze sagen kann", da er für Piaton diesbezüglich „die dem Menschen mögliche, der UnVollkommenheit seiner Seele entsprechende Betrachtungsweise" darstellt 1 . Wobei freilich wiederum die Sonderstellung des platonischen Mythos 2 stets zu beachten ist, der ja den jeweiligen philosophischen Bedingungen der Kontexte angepaßt und häufig anläßlich dieser Gelegenheiten komponiert ist. Es bleibt aber festzuhalten, daß die von Sokrates ausdrücklich gebilligte zusammenfassende Charakterisierung der geschriebenen Rede des Wissenden durch Phaidros grundsätzlich auch auf die mündliche zutrifft: Auch diese könnte in der genannten Weise füglich eine Art Abbild genannt werden. Die Frage, worin denn nun die ausgezeichnete Überlegenheit der mündlichen Rede über die Schrift besteht, liegt nahe. Formal kann man darauf antworten, daß die Schrift offenbar nur den Status des Abbildes eines Abbildes hat. Dennoch scheint diese Auskunft noch wenig befriedigend, läßt doch die schriftliche Fixierung philosophischer Logoi auf den ersten Blick vermuten, daß sie aufgrund der Bereitstellung der Möglichkeit steter wiederholender Vergewisserung der Lehren und ihrer, den besten Zugang zur Seele gewährenden, optischen Wahrnehmbarkeit (250d) den Vorzug vor der rein mündlichen Mitteilung genösse. Dies zu meinen, hieße jedoch dem Irrtum zu verfallen, dem bereits der Erfinder der Schrift, der Dämon Theuth, unterlag. 3 Es ist hier nicht nötig, die bekannten Argumente Piatons gegen diese Auffassung ausführlich darzustellen, die vor dem Hintergrund, daß paradoxerweise ein propositional nicht faßbares ZuWissendes in schriftlichen Sätzen zu vermitteln wäre, nur noch an Schärfe gewinnen. Um die behauptete Charakterisierung der geschriebenen Rede als Abbild zweiten Grades einzuholen, ist vielmehr kurz ins Auge zu fassen, was diese eigentlich abbildet und was sie

Gerhard Krüger, Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens, F r a n k f u r t / M . "1992, 8 u. 17. 2 Vgl. hierzu Perceval Frutiger, Les Mythes de Piaton. Etude philosophique et litteraire, Paris 1930, u. Karl Reinhardt, Piatons Mythen, Bonn 1927. 3 Vgl. Jacques Derrida, La pharmacie de Piaton, in: ders., La dissemination, Paris 1972, 77-213, insb. 104-118; Leon Robin, Notice, L X I V f f ; u. Mario Vegetti, Dans l'ombre de Thoth. Dynamiques de l'ecriture chez Piaton, in: Marcel Detienne (Hg.), Les savoirs de l'ecriture. En Grete ancienne, Lille 1988, 387-419, hier 389ff.

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1. Spiel und Ernst

dementsprechend nicht abzubilden vermag. Zweifellos fungiert der platonische Dialog nicht als schlichtes Protokoll tatsächlich geführter Unterredungen, werden doch auch in äußerst kunstvoller Manier Umstände mitgeteilt und berücksichtigt, die im Genre des Protokolls an sich nichts zu suchen hätten. Gleichwohl scheint die noch anzusprechende hypomnematische Funktion der Dialoge für deren dokumentarischen Charakter zu sprechen. Was also wird im Dialog abgebildet bzw. dokumentiert? Allgemein formuliert ein Gespräch, in dessen Verlauf von einem Wissenden mit sprachlichen Mitteln in einer bestimmten Seele philosophische Einsicht herbeigeführt werden soll, d. h. eine Handlung. Diese erreicht im günstigsten Falle als ihr Ziel wiederum ein Geschehen, nämlich die sich nur im dialektischen Gespräch ereignende Wahrheit 1 , deren Ort die Seele des j e angesprochenen Partners ist und die sich jeder unmittelbaren Wiedergabe entzieht. Gezeigt werden können nur die äußeren Umstände, die die Möglichkeit des Wahrheitsgeschehens jeweils bedingen, ohne daß aber dessen Faktizität erwiesen werden könnte. Diese Umstände umfassen Zeit und Ort der Handlung, die an ihr beteiligten Personen und deren Gestimmtheit und strenggenommen auch das jeweils vom Wissenden Gesagte, das j a strikt auf den Gesprächspartner abgestimmt sein muß. Die vollständige Gesprächssituation, zu der sowohl ihr inneres Geschehen als auch ihre Einmaligkeit gehören, ist nicht darstellbar. Sie erschlösse sich in ihrer Bedeutung allein durch die vollständige Kenntnis und Einsicht des jeweiligen situativen - mit Wolfgang Wieland gesprochen - „Realkontextes" der dargebotenen sprachlichen Äußerungen, der deren intendierte Bedeutungen zu einem Gutteil determiniert. Ein solcher Zugang steht letztlich nur in gewissem Grade den selbst am Geschehen Beteiligten offen, da „jedes sprachliche Gebilde von Hause aus nur Moment im Rahmen eines Realkontextes ist, innerhalb dessen nicht der greifbare Wortlaut, sondern die Seelen der Beteiligten die eigentlichen Fixpunkte bilden" 2 . Es ist gleichsam bloß die Oberfläche dieses Kontextes „im Besonderen von Situation, Gebärde und Gesprächsweise der Unterredner" 3 , die abgebildet werden kann. Oder wiederum mit Wieland - pointiert formuliert: „Im platonischen Dialog wird zu j e d e m ausgesprochenen Satz sein Realkontext gleichsam mitgeliefert." 4 Jedoch so, daß diese „Randbedingungen", durch die die Rede erst verständlich werden kann und die durch diese weder intendiert sind noch auch werden können, nicht selbst ausgesagt, sondern gezeigt werden. Damit erhellt zugleich, daß der moderne Piatonleser, der den historischen und biographischen Ort der jeweils am Gespräch Beteiligten erst mühsam und unzulänglich rekonstruieren muß, vor erheblich größeren Verständnisschwierigkeiten als der zeitgenössische Rezipient steht. Dennoch bleibt das Gezeigte anwesend und sich selbst gleich im Sinne des im Dialog abgebildeten belebenden Prinzips der Rede: Die Zeichenfunktion des Dialogs bleibt unbeeinträchtigt von den Zeitläuften bestehen, da sie als solche unabhängig von ihrem Verstehen bleibt, weil sie j a keine propositionale Struktur aufweist und sich solchermaßen weder bestätigen noch verwerfen läßt. Piaton liefert weit mehr als ein Protokoll von Unterhaltungen allgemein bekannter Personen der Zeitgeschichte; hierfür würde auch die einfache Liste der dramatis personae ausreichen. Er versetzt die Akteure vielmehr noch in Umgebungen, Situationen und Stimmungen, die ihrerseits wieder als Zeichen zu deuten sind und zu einem möglichen Verständnis des Gespräches beitragen. Die Auswahl bestimmter Personen und ebensolcher Umstände für bestimmte Gesprächsthemen, die Piaton vornimmt, hebt die geschilderte Handlung ins Paradigmatische

2 3 4

Vgl. H e r m a n n Gundert, Der platonische W o l f g a n g Wieland, Piaton, 23. H e r m a n n Gundert, Dialog, 23. W o l f g a n g Wieland, Piaton, 54.

Dialog,

Heidelberg 1968, 11.

52

II. Dialog und Spiel: Z u m Begriff des Spieles in Piatons

Phaidros

bzw. Typische, wie sich ζ. B. an der Möglichkeit der A u f n a h m e und Darstellung an sich dialogunfähiger Extrempositionen in den Dialog zeigt. Gerade der Phaidros stellt f ü r diese kunstvolle Gestaltung ein Beispiel im ausgezeichneten Sinn dar: Die Personnage ist mit den zwei Unterrednern Sokrates und Phaidros auf die ideale Gesprächssituation reduziert, in der die dargestellte wahre Rhetorik erst zu sich kommen kann, da diese j a die Hinwendung zu einer bestimmten, als geeignet beurteilten Seele voraussetzt; die Gesprächspartner sind durch eine erotische Beziehung verbunden 1 . Und nicht zuletzt ist der Ort der Handlung zum ersten und einzigen Mal im platonischen Werk in die freie Natur außerhalb der Mauern Athens 2 verlegt, so daß man bereits an seiner Lokalisierung den exceptionellen Standpunkt des Dialogs erkennen kann, der die Außenperspektive auf das Geschehen in der Stadt und damit auch den Ort der übrigen Dialoge einnimmt und so die Reflexion auf die Form des Dialogs - gleichsam im Blick von außen auf den Dialog - anzeigt. Zudem ist die Atmosphäre der Landschaft durch dämonische Präsenzen aufgeladen 3 , die den auch dem Philosophen nötigen Grad an Besessenheit 4 präludieren, und die Handlung findet zur - wie sich am Zikadenmythos 5 zeigt - gefahrvollen Stunde, da der große Pan schläft, statt. Es wird also keine tatsächlich geschehene Handlung rein und unverfälscht abgeschildert, da ein solcher Versuch ohnehin keine Aussicht auf Erfolg hätte und als striktes Protokoll, das etwa nur für die jeweiligen Gesprächspartner hergestellt wäre, für alle außerhalb dieses engen Kreises schlechterdings hermetisch sein müßte, so daß dessen Veröffentlichung einigermaßen widersinnig wäre.

ß) D i a l o g und D i c h t u n g

Daß es sich bei Piatons Dialogen um bis ins letzte Detail durchkomponierte und mit höchster Bewußtheit ausgestaltete Kunstwerke handelt, ist mittlerweile unumstritten. Der Dialog als schriftlich fixiertes Werk entwirft eine literarische Fiktion, dergegenüber sein Leser eine Rolle übernimmt, „die der eines Zuhörers oder Zuschauers vergleichbar ist" 6 . Er ist, da er j a eine Handlung darbietet, eine Art Lesedrama, das als solches die Distanz zwischen dem Leser und dem dargestellten Gesprächsgeschehen nicht aufhebt. Anders als die alte Tragödie ist der Dialog

'

Vgl. Charles L. Griswold, Self-Knowledge, 25ff. Vgl. die detaillierte Rekonstruktion bei J. Travlos, Bildlexikon zur Topographie des alten Athen, T ü b i n g e n 1971, 291. 3 Vgl. Diskin Clay, Socrates' Prayer to Pan, in: Glen W . B o w e r s o c k / W a l t e r Burkert/Michael C.J. P u t n a m (Hg.), Arktouros. Hellenic Studies presented to Bernard M.W. Knox on the occasion of his 65th birthday, Berlin/New York 1979, 345-353, insb. 3 4 6 f f ; Kenneth Dorter, Imagery and Philosophy in Plato's Phaedrus, in: Journal of the History of Philosophy 9 (1971), 279-288, insb. 2 8 0 f f ; dg. Herwig G ö r g e m a n n s , Zur Deutung der Szene am Iiissos in Piatons Phaidros, in: Glenn W. M o s t / H u b e r t Petermann/Adolf Martin Ritter (Hg.), PHILANTROPIA KAI EUSEBEIA. FS für Albrecht Dihle zum 70. Geburtstag, Göttingen 1993, 122-147. 4 Vgl. Kenneth Dorter, Imagery, 281; Hermann Gundert, Enthusiasmos und Logos bei Piaton, in: Konrad Gaiser (Hg.), Piatonbild, 176-197, insb. 188ff. 2

5

Vgl. Giovanni R.F. Ferrari, Listening 25ff. 6 W o l f g a n g Wieland, Platon, 53.

to the Cicades.

Α Study of Plato's

Phaedrus,

C a m b r i d g e 1987,

1. Spiel und Ernst

53

von „seiner Konzeption her ( . . . ) nicht daraufhin angelegt, den L e s e r einzubeziehen" 1 . E r bildet die Umstände im Sinne einer typischen Gesprächshandlung ab, innerhalb derer das weder darstellbare noch aussagbare, weil innerseelische Wahrheitsgeschehen sich ereignen kann. D e r D i a l o g führt das ' W i e ' solchen Geschehens vor, und zwar in musterhafter W e i s e , so daß man sehen kann, „wie man im R a h m e n philosophischer Gespräche Einsichten gewinnen und wie man

auf der B a s i s

solcher

Einsichten

Gespräche

führen

kann" 2 .

Darin

liegt auch

sein

zweistufiges Abbildverhältnis zur mündlichen dialektischen R e d e , denn diese ist schließlich ganz individuell an die j e und j e verschiedene Situation, d. h. an die unzähligen möglichen seelischen Beschaffenheiten der jeweiligen Gesprächspartner und der Umstände, unter denen das Gespräch stattfindet, gebunden. D i e s e Reden werden in der literarischen F o r m des Dialoges schriftlich fixiert, stillgestellt 3 und um ihrer Musterhaftigkeit willen gleichsam entindividuiert. D e r Dialog ist dann in strengem S i n n e nicht selbst 'Philosophie', sofern Philosophie mit Piaton fundamental als Tätigsein verstanden wird, sondern nur deren Abbildung, wobei stets im Auge bleiben muß, daß dasjenige, worauf dieses Tätigsein selbst ausgerichtet ist, die Wahrheit, auch dabei selbst nicht explizit zur Sprache kommt, da sie j a nicht propositional faßbar ist. D e r D i a l o g stellt also als „Muster philosophischen T ä t i g s e i n s " 4 etwas vor, was er nicht selbst ist und, insofern er etwas wesenhaft B e l e b t e s bzw. B e w e g t e s stillstellen muß, auch gar nicht sein kann. E s handelt sich um ein Abbildungsverhältnis, bei dem Lebendiges durch L e b l o s e s abgebildet wird, wie Sokrates im Vergleich der Schrift mit der Malerei (ζωγράφία) bestätigt. E s liegt sogar nahe, diesen kritischen Vergleich noch zu verschärfen: Denn ohne Z w e i f e l ist der so verstandene D i a l o g eine Gattung von Dichtung, und zwar scheinbar der gefährlichsten Sorte, dem Drama, das wirkliche, lebende Personen auf die B ü h n e bringt, die den Eindruck erwecken, daß das dargestellte Geschehen Wirklichkeit sei. A u f den ersten B l i c k müßte damit auch der platonische Dialog dem platonischen Verdikt des täuschenden Scheins der Dichtung unterliegen.

Das

Schreiben von Dialogen, d. h. das Schaffen von solcherlei Abbildungen, und diese selber werden

aber als das schönste dem M e n s c h e n

mögliche Spiel bezeichnet, das allein

der

Dialektiker zu treiben imstande ist. Daraus erhellt, daß es offenbar am Spielcharakter dieser spezifischen S c h r e i b w e i s e liegen wird, daß sie der bekannten platonischen

Dichtungskritik

entgeht. Ohne F r a g e gehört der D i a l o g dem B e r e i c h des dichterischen S c h e i n e s an: er ist mimetisch strukturiert und stellt eine Handlung dar, innerhalb derer, d. h. für die dramatis personae, die Schriftkritik aufgehoben ist. D e n n o c h verwirft Piaton weder seine Herstellung noch Rezeption. In der Politeia

bestimmt er alle Dichtung als Spiel: Ihr „Wesen

seine

ist fraglose

Nachahmung ( μ ί μ η σ ι ς ) , nicht Befragung des Seienden selbst; Ziel der Nachahmung aber ist die Lust und Freude (ήδονή) an der Vielfalt des Werdens, nicht die einfältige S c h ö n h e i t des Seins, ihr Charakter das Spiel ( π α ι δ ι ά ) , nicht der Ernst des im L e b e n gebrauchten W e r k e s " 5 . Es besteht demnach eine Differenz zwischen der W e i s e , wie ' S p i e l ' im F a l l e der Dichtung im allgemeinen und im Falle des Dialogs als besonderer Dichtungsgattung verstanden wird. W a s unterscheidet also das Spiel des bloßen Dichters vom Spiel des dichtenden Philosophen, die beide in literarischen Werken sich erzeigen?

' 2 3 4 5

Wolfgang Wieland, Piaton, 57. Ebd. Vgl. Mario Vegetti, L'ombre, 400. Wolfgang Wieland, Piaton, 67. Hermann Gundert, Enthusiasmos, 184.

54

II. Dialog und Spiel: Zum Begriff des Spieles in Piatons

Phaidros

Es ist nicht nötig, die gesamte platonische Dichterkritik aus der Politeia zur Feststellung dieser Differenz aufzurollen. Ich hebe nur die für unsere Frage ausschlaggebenden Vergleichspunkte hervor. Sowohl der Dichter als auch der schreibende Philosoph gehören wie die Maler zu den „Nachbildnern", wie Schleiermacher μιμητής (597e2) Ubersetzt. Da sich die „Nachbildnerei" nicht auf die Wahrheit, sondern deren innerweltliche Erscheinung bezieht, ist sie als bloßes „Schattenbild" (εϊδωλον, 598b8) „um das dreifache von der Wahrheit" bzw. vom wahrhaft Seienden (τριττά ά π έ χ ο ν τ α του οντος, 5 9 9 a l ) entfernt. Dies muß im Falle des Dichters auch so sein, weil er als reiner Nachbildner „weder Einsicht (...) noch richtige Vorstellung von dem, was er nachbildet, was Güte und Schlechtigkeit anbelangt" (Ούτε α ρ α ε ϊ σ ε τ α ι οϋτε όρθά δ ο ξ ά σ ε ι ό μιμητής περί ων α ν μ ι μ ή τ α ι προς κ ά λ λ ο ς ή πονηρίαν, 602a8f), besitzt. Von Homer an (600e) verfügten und verfügen die Dichter niemals über epistematisches Wissen oder die rechte, vom Wissenden gehörte Meinung (ή δ ό ξ α ν όρθήν δ ι ά τό έξ ά ν ά γ κ η ς σ υ ν ε ΐ ν α ι τω είδότι κ α ι έ π ι τ ά τ τ ε σ θ α ι , 602a4f) über alle Gegenstände, die sie nachgebildet haben und nachbilden, eingeschlossen die Tugenden. Ihr Kriterium für Auswahl und Gestaltung des abzubildenden Gegenstandes ist also nicht die Wahrheit, d. h. dessen wesensmäßige Formation, sondern einzig und allein „was dem Volk und den Unkundigen als schön erscheint, das bilden sie nach" ( φ α ί ν ε τ α ι κ α λ ό ν ε ί ν α ι τοις π ο λ λ ο ί ς τε κ α ι μεδεν είδόσιν, τοΰτο μ ι μ ή σ ε τ α ι , 602b2ff). Aufgrund dieses Mangels an Einsicht in das Wahre und damit der Angewiesenheit auf die Meinung der Vielen befindet sich der Dichter auch im Irrtum über Status und Wert seiner eigenen Tätigkeit: Er bemerkt nicht, daß sein Tun und dessen Ergebnis „eben nur Spiel ist und kein Ernst" (είναι π α ι δ ι ά ν τ ι ν α κ α ι οϋ σ π ο υ δ ή ν τήν μίμησιν, 602b8). Wüßte er dies, „würde er ja weit eher seine Mühe an die Werke selbst wenden als an deren Nachbildungen, und würde versuchen, viele und treffliche Werke als Denkmale von sich zurückzulassen" (599b). So gilt aber für die Dichter wie für ihre Hörer und Leser, „daß man sich um diese Dichtkunst nicht ernsthaft bemühen dürfe, als ob sie selbst ernsthaft sei und die Wahrheit treffe (Hervh. A.A.)." (οϋ σ π ο υ δ α σ τ έ ο ν έπί τή τ ο ι α ύ τ η π ο ι ή σ ε ι ώς α λ η θ ε ί α ς τε ά π τ ο μ έ ν η κ α ι σ π ο υ δ α ί α , 608a6f). Die Unterschiede zwischen den jeweils als Spiel charakterisierten Tätigkeiten des Dichters in der Politeia und des Philosophen im Phaidros sind augenfällig. Vor deren Feststellung muß jedoch ihre basale Gemeinsamkeit herausgestellt werden: Sowohl der Dichter als auch der Philosoph bringen ε ί δ ω λ α hervor, und auch für die Elaborate des letzteren gilt der dreifache Abstand von der Wahrheit. Erst auf diesem Fundament wird die von Piaton eingeklagte Differenz recht eigentlich deutlich: Im Gegensatz zum Dichter verfügt der Dialektiker über Einsicht in das Wesen dessen, was er nachbildet, d. h. Einsicht in dessen nicht propositional wißbare Beschaffenheit und damit über deren Nicht-Aussagbarkeit, die nur ein Hinweisen und Geben von Zeichen zuläßt; m. a. W.: Er besitzt das diesbezügliche, grundsätzliche sokratische Wissen des Nicht-Wissens, sofern Wissen als propositional verfaßt bzw. faßbar gedacht wird. Der Philosoph verfügt über einen epistematischen Vorteil, der darin besteht, daß er weiß, daß er spielt, wenn er in seinen Schriften Geschichten von den Gegenständen der Philosophie erzählt und nicht im Ernst die Wahrheit aussagt, während der Dichter im bloßen unreflektierten Schein des Wissens befangen bleibt. Die dem Dialektiker in Befolgung des Delphischen Imperativs aufgegebene eigentümliche Reflexion des eigenen Tuns bürgt für seine Wahrhaftigkeit. Um aber dem Vorwurf der Täuschung zu entgehen, dem der Dichter notwendig verfällt, muß der der Wahrheit und nicht der Meinung verpflichtete Dialektiker den Spielcharakter seines schriftlichen Werkes offenlegen. Die Enthüllung des ontologischen Status des Werks als Schein macht den kategorialen Unterschied zwischen dem unbewußten Spiel des Dichters und dem bewußten

55

1. Spiel und Ernst

bzw. als Spiel durchschauten und durchschaubaren Spiel des Philosophen aus 1 . Sie geschieht und kann nur geschehen - in der Form des Dialogs 2 , der damit gerade nicht die geheimnisvolle Eigenschaft hat, ein an und für sich nicht mitteilbares Wissen irgendwie doch mitzuteilen, sondern nur seine eigene Struktur und die Unmöglichkeit ebendieser Eigenschaft. Wenn es nun im Blick auf das im Spiel produzierte Werk entscheidend ist, daß dessen Spielhaftigkeit deutlich wird, muß gefragt werden, wie diese Reflexivität des eigenen Tuns angezeigt werden kann. Dabei ist zu beachten, daß die Scheidung der jeweiligen Bewußtseinszustände der Spielenden im Blick auf ihre Aktivität in bewußt und unbewußt nicht so leicht vollzogen werden zu können scheint, wie es der erste Blick nahelegen möchte. Befinden sich doch beide im Rahmen des Wahrheitsgeschehens in einem außerordentlichen Zustand, der ausgerechnet das zentrale Moment der Selbstreflexion auszuschließen scheint: Die Begegnung mit dem Göttlichen der Wahrheit widerfährt sowohl dem Dichter als auch dem Philosophen im Zustand des Enthusiasmos. Es handelt sich hierbei jedoch um zwei verschiedene Arten, die bereits durch ihre Ursprünge unterschieden sind: Der Wahnsinn der Dichter stammt von den Musen, während die philosophische μ α ν ί α ihrem Wesen nach erotisch ist, also der besten Art des Wahnes angehört und ihre Herkunft vom „Gebieter" (δεσπότην, 265c2) des Sokrates, Eros, hat. In der erotischen Lebensform, die im Philosophen zu sich kommt und so ihre höchste Ausprägung im Menschen erfährt, da der Eros selbst einen „aspect fondamental de la methode" 3 bildet, wird der musische Enthusiasmos des Dichters, wie Hermann Gundert gezeigt hat, umgekehrt: Nicht die Stimme des Gottes spricht „durch die menschliche Rede hindurch wie durch ein fremdes Organ, sondern der Logos selbst ist es, in dem das Göttliche begegnet" 4 , so daß das innerweltlich begegnende Seiende als das Unwahre erkannt und abgewertet werden kann. Bis auf die noch anzusprechende Teilausnahme des Schönen kommt so das weltliche Seiende gänzlich in das Verhältnis des Spieles im privativen Sinn zum Ernst des überweltlichen Wirklichen. 5 Dies entdeckt der erotische Enthusiasmos des Philosophen, der ein logischer ist. Zugleich aber bleibt in ihm die Einsicht von der dargetanen Abbildhaftigkeit der menschlichen Logoi selbst im Blick auf das Wahre enthalten, die auch dem guten - und d. h. dem enthusiasmierten - Dichter vollständig abgeht. Konsequent gedacht kann der Dichter gar nicht an der Tauglichkeit seiner Logoi zur Erfassung und Vermittlung der Wahrheit zweifeln, da er nur wie ein Instrument den Musen seine Stimme leiht, die aber nach Hesiod auch „täuschend echte Lügen (...) viele zu sagen,/ Wahres jedoch, wenn (sie) wollen, (...) gleichfalls zu künden" 6 wissen. Dem enthusiasmierten Außer-sich-Sein des Dichters, der eine Unterscheidung zwischen Schein und Wahrheit, zwischen unreflektiertem Spiel der Sprache und wahrhaftigem, ernsthaften und gleichwohl ebenso scheinhaften Sprechen aufgrund der Unbewußtheit seines Tuns nicht zu machen imstande ist, steht die Entrückung 7 des Philosophen gegenüber. Diese zeichnet sich gerade durch ein scharfes Bewußtsein der Beschaffenheit des eigenen Wesens und seiner

Dies zeigt auch Piatons Option für die ägyptische Kunst; vgl. Michel Haar, L'oeuvre l'ontologie des Oeuvres, Paris 1994, 15ff. 2

d'art.

Essai

sur

Vgl. dazu Hermann Gundert, Dialog, 15f; u. Wolfgang Wieland, Piaton, 50-70. Leon Robin, Piaton, Paris 3 1994, 58. 4 Hermann Gundert, Enthusiamos, 190. 5 Vgl. Nom. 644dff u. 803bff. 6 Theogonie 27f, nach: Hesiod, Theogonie. Werke und Tage (Gr. u. Dt. hg. u. übs. v. Albert v. Schirnding, mit einer Einführung und Register von Ernst Günther Schmidt), München/Zürich 1991. 7 Vgl. Tht. 173cff. 3

56

II. D i a l o g und Spiel: Z u m B e g r i f f des Spieles in Piatons

Möglichkeiten

aus,

worin

sich

die

durch

das

delphische

Orakel

gestellte

Phaidros

Aufgabe

des

Philosophierens zuallererst erfüllt. I m Sein bei der eigenen S e e l e durchschaut der Philosoph paradigmatisch der Sokrates aus dem Phaidros Unzulänglichkeit

des

ausgesprochenen

- den eigenen Enthusiasmos und so auch die

Logos

zur unverhüllten

Mitteilung

der

göttlichen

Wahrheit im Gegensatz zum Dichter, der sich des Ausgesagten und des eigenen Zustandes gar nicht bewußt ist und das durch ihn Gesprochene gewohnt ist, fraglos als göttlich und wahr hinzunehmen - Sokrates parodiert diese Haltung im übrigen (ζ. B . 2 6 3 d ) . Damit entgeht dem Dichter auch die fundamentale Differenz zwischen Aussagemöglichkeit,

die in der notwendigen

göttlicher Wahrheit und

Nutzung

menschlicher

menschlicher

und als

solcher

für

göttliches Wissen unzureichender Sprache ihre Begrenzung erfährt. D i e s e R e f l e x i o n auf die eigenen W e s e n s m ö g l i c h k e i t e n , die innigst mit dem delphischen G e b o t des „Erkenne dich selbst!" verknüpft ist, bildet die D o m ä n e des wahrhaften Philosophen, der sein Spielen als Spielen in seiner Notwendigkeit erkennt. D i e s e Einsicht ist die notwendige Voraussetzung für die M ö g l i c h k e i t der Kennzeichnung des eigenen Tuns und dessen werkmäßiger E r g e b n i s s e als Spiel, dessen Rechtfertigung durch den Aufweis seiner Unumgänglichkeit erbracht wäre, und so auch für das Verfertigen nicht schändlicher Schriften. W i e läßt sich nun eine solche Kennzeichnung des im schriftlichen W e r k gespielten Spieles als Spiel realisieren, so daß der L e s e r diese Struktur des W e r k e s bemerken kann? D i e K e n n zeichnung liegt zunächst in der F o r m des Dialogs „als M i m e s i s des lebendigen G e s p r ä c h s " 1 selbst, die als diese die Zugehörigkeit der in ihr abgefaßten Schrift zur Dichtung durch sich selbst erweist. D e r D i a l o g täuscht j e d o c h , obschon er Dichtung ist, nicht das Aussagen von Wahrheit vor, da sich in seinem R a h m e n auf zweierlei, hier nur gröblich zu unterscheidende W e i s e n die stete Vorläufigkeit des Gesagten dokumentiert: Z u m einen zeigt das e b e n s o logische wie p s y c h a g o g i s c h e Hin-und-Her des dialektischen Gespräches, das sich im übrigen auch in einer monologischen R e d e bzw. im Sinne des zur Sprache gebrachten und wiederum in seiner Veräußerlichung verhüllten

solchermaßen

„einsamen Gespräches der S e e l e mit sich

selbst" 2 entfalten kann, die Unabschließbarkeit der liebenden S u c h e nach der Wahrheit im unendlichen Gang des Philosophierens 3 , der als stillgestellt gar nie wahrhaft sein kann und der auch noch in der mündlichen R e d e vom innerseelischen Wahrheitsgeschehen abstehen muß. Z u m anderen erweist der Gebrauch des Mythos die Unsagbarkeit des Wahren „als Gleichnis dessen, was nicht mehr zu sagen war" 4 , und führt auf andere W e i s e dasselbe W e s e n der Philosophie vor Augen, nämlich durch das mythische Sprechen im Gegensatz zum logischen des dialektischen Zwiegesprächs oder M o n o l o g s . Keiner der beiden genannten Sageweisen wird so zugetraut, Endgültiges auszusagen, als o b sich eine davon im S i n n e einer schlichten Aussage des Wahren in übertriebener W e i s e ernstnähme. Ihr im Phaidros

paradigmatisch

vorliegendes

Zusammen im Dialog erzeigt dessen Scheinhaftigkeit im Verhältnis zur Wahrheit und macht so im Gegensatz zur übrigen, kritisierten Dichtung diese als solche transparent. Den dennoch sowohl im dialektischen wie im mythischen Sprechen durch die sprachliche Formulierung erweckten Anschein von Eindeutigkeit unterläuft Piaton mit dem „in der Gestalt des Sokrates ( . . . ) allgegenwärtig(en)" 5 Stilmittel der Ironie in Richtung auf Mehrdeutigkeit, deren platonische Verknüpfung mit dem Spielbegriff noch darzustellen ist. S i e ist als E i n -

2 3 4 5

Hermann Gundert, Enthusiasmos, 196. Tht. 189e. Vgl. dg. Karl Albert, Über Piatons Begriff der Philosophie, Hermann Gundert, Enthusiasmos, 196. Wolfgang Wieland, Piaton, 61 f.

St. Augustin 1989.

1. Spiel und Ernst

57

Stellung dem die stete Erfahrung des Nichtwissens bewahrenden Dialektiker unumgänglich: „Thus the true philosopher lives in a self-corrective dialogue, in which the inadequacies of one attempt lead inevitably to another one, and then to yet another." 1 So zeigt die sokratische Ironie nicht nur das Nichtwissen bzw. die Nichtmitteilbarkeit eines bestimmten Wissens in sprachlicher Form durch die ironische Verstellung, sondern verweist auch „mit den Mitteln der Sprache auf etwas, das nicht ausgesprochen wird" 2 . Sie gewinnt damit die Bedeutung des Hinweisens auf einen bestimmten, als problematisch und zentral anzuzeigenden Sachverhalt unter Nutzung des dafür nach platonischer Auffassung am besten geeigneten Mittels, der Sprache. Der Sprecher verfällt ihr aber durch seine ihr gegenüber eingenommene ironische Distanz nicht, sondern beherrscht sie souverän in ihrem subsidiären Wesen. Die sokratische Ironie ist also so verstanden keineswegs im romantischen bzw. hegelschen Sinne ein verzweifeltes Mittel zur Destruktion der Realität eines jeden Phänomens zum Z w e c k e der Selbsterhaltung des Subjekts 3 , sondern vielmehr Signal f ü r den sprachlich unzugänglichen Ernst, der sich hinter dem ironischen Spiel der Sprache verbirgt. Auch die ironische Sprechhaltung läßt sich als Spiel bestimmen, weil sich der Sprecher dabei verstellt: „Eironeia vor und bei Piaton bezeichnet ein Tun-als-ob" 4 . Er trägt gleichsam - um ein Bild Kierkegaards aufzunehmen 5 eine Maske, insofern er schlicht etwas anderes will, als der bloße Wortlaut glauben machen könnte. Dies tut er jedoch nicht in Täuschungsabsicht, sondern „setzt dabei ein nicht verbalisiertes Verstehen bei seinem Adressaten voraus" 6 . Dieses Geschehen im anderen kann jedoch nicht garantiert werden, so daß die Mehrdeutigkeit des ironisch Gesagten niemals im Bereich der Sprache aufgehoben werden kann, da ja die mögliche Einsicht in die Wahrheit innerhalb der angesprochenen Seele nonverbal sich ereignet. Der Ironiker ist gar nicht imstande, sich zu demaskieren, da er zum einen in seiner philosophischen Tätigkeit auf die Mittel sprachlicher Kommunikation verwiesen bleibt, und er zum anderen deswegen mit der Aufgabe der ironischen Einstellung auch die mitzuteilende Sache aufgeben würde zugunsten einer propositionalen Eindeutigkeit, die gänzlich der Sphäre des unreflektierten und damit täuschenden Scheins angehörte, so daß unter der abgelegten Maske nur eine andere, gefährlichere zum Vorschein käme. In der Haltung der sokratischen Ironie fallen demnach Ernst und Spiel zusammen 7 , sofern die Bewußtheit der Abständigkeit einer jeden sprachlichen Äußerung vom innerseelischen Wahrheitsgeschehen diese begründet und dem wahren Philosophen notwendig macht. Der Begriff des Spieles gewinnt solchermaßen konsequent verstanden eine zentrale Position bei Piaton: Weil er eine jede sprachliche Äußerung unter sich zu begreifen vermag und Philosophieren unhintergehbar an Sprache gebunden ist, drückt der Spielbegriff das Reflexionsniveau der platonischen Philosophie aus, so daß Piaton das sokratische Verdikt gegen das Schreiben durchbrechen kann. Dies ist im folgenden weiter auszudifferenzieren.

1

Wayne C. Booth, A Rhetoric of Irony, Chicago/London 1974, 275. Wolfgang Wieland, Platan, 63. 3 Vgl. Sören Kierkegaard, Der Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht Wilhelm Rütemeyer), München 1929, 265. 4 Werner Boder, Die Sokratische Ironie in den platonischen Frühdialogen, 2

auf Sokrates

(aus dem Dan. v.

Amsterdam 1973, 15.

5

Vgl. Sören Kierkegaard, Ironie, 47. 6 Wolfgang Wieland, Piaton, 61. 7 Vgl. Claus-Artur Scheier, Klassische und existentielle sches Jahrbuch 97 (1990), 238-250, hier 240.

Ironie: Piaton und Kierkegaard,

in: Philosophi-

58

II. Dialog und Spiel: Z u m Begriff des Spieles in Piatons Phaidros

γ) D i e R e c h t f e r t i g u n g d e s Spieles

Dazu betrachten wir nochmals sowohl die Gründe für die Überschreitung des innerseelischen Monologs in Richtung der gesprächsweisen Wendung des Philosophierens an die andere Seele als auch insbesondere den Adressatenkreis, an den sich die Schriften Piatons richten. Daß der Grund der Tätigkeit des Philosophierens, die freilich, wie man noch sehen wird, aus philosophischer Perspektive ebenfalls als Spiel zu bezeichnen ist, in der gottgefälligen Erreichung der höchsten menschlichen Lebensmöglichkeit besteht, deren Fortzeugung und A u f g a n g mit Eudaimonia verbunden ist, wurde bereits gezeigt. Noch fehlt aber eine Begründung ihres im eigentlichen Sinne spielerischen Teiles, welche durch die Analyse des Adonisgärtchenvergleiches nahegelegt wurde: Ebensowenig wie der Adonisverehrer legt der Philosoph seine Schriftgärten um ihrer selbst willen an; und ebensowenig wie das ernste dialektische Gespräch primär um der Glückseligkeit der Unterredner willen geführt wird, erfolgt die Pflege der Schriftgärten um der bloßen Freude bei der Betrachtung ihrer „zarten Sprossen" (276d) willen. Sie dienen nämlich einem wohlbestimmten Zweck als Kollektionen von „Schätzen der Erinnerung" ( υ π ο μ ν ή μ α τ α θ η σ α υ ρ ι ζ ό μ ε ν ο ς , 276d3), die sich an einen ebenso wohlbestimmten doppelten Adressatenkreis richten: Z u m einen an den Autor selbst, wenn „er ins Greisenalter des Vergessens kommt" (εις τό λ ή θ η ς γ ή ρ α ς έ ά ν ϊ κ η τ α ι , 276d3f), und zum anderen an alle diejenigen, die „derselben Spur" ( τ α ύ τ ό ν ϊ'χνος, 276d4) wie der philosophische Verfasser folgen. Gemäß der auf den ersten Blick vernichtend anmutenden Kritik des Gottkönigs Thamos an der Erfindung des Dämons Theuth tauge die Schrift allein als Hilfsmittel zur Erinnerung an bereits Gewußtes, könne also die eigentliche Gedächtnisleistung (μνήμη) nicht ersetzen und schon gar nicht eine Art Königsweg zur ά ν ά μ ν η σ ι ς anbieten. Dennoch wird der Gebrauch der Schrift in bestimmten Fällen auf vernünftige Weise gerechtfertigt. Dies geschieht aus zwei Gründen: Z u m ersten kann sie als υ π ό μ ν η μ α , d. h. als Erinnerungsmittel bzw. als private Notiz dienen. Z u m zweiten ist ihr Gebrauch dann nicht schändlich, wenn sie schön ist. Diese beiden Rechtfertigungsgründe und die Möglichkeit oder Notwendigkeit ihrer Vereinigung gilt es im folgenden darzustellen. Wir wenden uns zunächst der ersten Bedingung zu, die mit der Frage nach dem Adressatenkreis der Schriften koinzidiert, weil j a deren Charakter als Hypomnemata davon abhängt, ob ihr Leser bereits über Erkanntes verfügt, zu dessen Erinnerung sie dann beitragen können. Wir sehen uns dabei schon der formalen Schwierigkeit gegenüber, wie denn überhaupt etwas als Erinnerungsnotiz konzipiert werden kann, wenn genau diese Konzeption von einer bestimmten Eigenschaft des Lesers der Notiz dependiert, um deren Vorhandenheit nicht gewußt werden kann. Ohne näher auf den Fall einzugehen, erscheint die für den Schreiber selbst durch ihn selbst abgefaßte Notiz zur Förderung einer Art 'Autohypomnese' durchaus möglich, j a von der alltäglichen Erfahrung her betrachtet - man denke etwa an den schlichten Einkaufszettel - als vollständig üblich und unproblematisch. 1 Wir konzentrieren uns deshalb auf den anderen Fall, bei dem sich das abgefaßte H y p o m n e m a nicht allein auf den Autor, sondern auch auf eine

Vgl. dg. Detlef Thiel, Piatons Hypomnemata. Die Genese des Piatonismus aus dem Gedächtnis der Schrift, Freiburg/München 1993, der das Schreiben des Philosophen ausgehend von einem „privaten Spiel" mit „Merkzetteln" (115 pass.) versteht und von da aus zu einer allgemeinen philosophischen Theorie der Schrift vor dem Hintergrund der Untersuchungen Derridas gelangen will. Vgl. auch die Rezension von Hans J. Krämer, Zu neuen Büchern über Piaton, in: Allg. Z. f. Phil. 2 2 (1997), 49-68, hier 59-63.

1. Spiel und Ernst

59

bestimmte Personengruppe, auf eine ,,besondere() Art von Lesern" 1 beziehen soll. Auch für diese sollen die im Spiel vom Philosophen verfaßten Schriften als Erinnerungsmittel fungieren, was wie gesagt nicht in der Macht des Autors liegt, sondern in der seelischen Beschaffenheit der Rezipienten. Piaton bezeichnet deren notwendiges Spezifikum, wenn er den eigentlichen Adressatenkreis der philosophischen Schriften, also nicht deren Verfasser selbst, nennt als alle, die der derselben Spur folgen ( κ α ι π α ν τ ι τω τ α ύ τ ό ν ϊ χ ν ο ς μ ε τ ι ό ν τ ι , 276d4). Welche „Spur" ist hier gemeint, und wer sind diejenigen, die ihr folgen? Piaton gebraucht das auffällige Bild des Verfolgens einer Spur im Phaidros noch ein weiteres Mal. Der Kontext dieser Stelle ist geeignet, auf unsere Fragen Antwort zu geben. Sie findet sich wiederum im Z u s a m m e n h a n g des Seelenmythos. Dort werden diejenigen, die als „Freunde der Erkenntnis" (252e3), d. h. als φ ι λ ό σ ο φ ο ι , dem Gefolge des Zeus angehören, also deren Seelengespanne dem vorausfahrenden obersten Gott zu folgen und sich selbst und den Geliebten diesem so weit dem Menschen möglich anzuähneln suchen, als ί χ ν ε ΰ ο ν τ ε ς (252e7) bezeichnet. Die erotische Hinwendung des Zeusdieners zum als wesensverwandt Angesehenen geht in eins mit dem erkennenden Sich-Richten auf das Wesen des Gottes ( ά ν ε υ ρ ί σ κ ε ι ν τ ή ν τ ο υ α φ ε τ έ ρ ο υ θεοΰ φ ΰ σ ι ν , 252e7f). Dies ist zum einen nötig, um den Geliebten dem Gott immer noch ähnlicher zu machen, und führt zum anderen zur weiteren Selbstangleichung an den Gott. Mit dieser „Wechselwirkung" 2 geht das erinnernde Verweilen „bei jenen Dingen, auf deren Gegenwart die Göttlichkeit der Götter beruht" (πρός ο ΐ σ π ε ρ θεός ων θ ε ΐ ό ς έ σ τ ι ν , 249c6), einher, also beim wahrhaften Sein, nach dessen erkennendem Anblick die Seele des Philosophen strebt. Da es sich bei den obengenannten Erinnerungsmitteln um solche handelt, die genuin philosophische Einsichten in der Seele des Lesers anrühren sollen, so daß es zum eigentlichen Geschehen des Erinnerns kommen kann, das von der Lektüre des Textes grundsätzlich verschieden ist, darf man die „Spur" (276d4) wohl als die des Gottes der Philosophen, d. h. als die des Zeus, identifizieren. Sie ist so auch - wie Jacques Derrida zurecht feststellt - eine „trace dialectique" 3 , die den W e g zur Wahrheit weist. Damit läßt sich über den Adressatenkreis der philosophischen H y p o m n e m a t a - man könnte auch sagen: der platonischen Dialoge - über die gerade angedeutete mythische Rede hinaus noch mehr bemerken. Weil es nicht bloß auf das im jeweils aktual geführten Leben Gelernte ankommt, sondern in erster Linie darauf, inwieweit die inkorporierte Seele vor ihrer ersten irdischen Geburt an der Schau des wahrhaften Seins teilhatte, kann der mögliche Adressatenkreis der Dialoge nicht nur in den Angehörigen der Akademie bestehen 4 , sofern man nicht behaupten wollte, daß alle Personen von entsprechender seelischer Disposition zum Philosophieren, die der Wesensähnlichkeit zu Zeus entspricht, immer schon Mitglieder der Akademie gewesen wären, sein würden oder hätten sein müssen. Dies ist insofern bedeutsam, als die platonischen Dialoge in ihrem Verständnis als Hypomnemata ebendiese Funktion auch dann erfüllen können, wenn sie außerhalb des engen Schulzusammenhangs der Akademie oder gar des persönlichen Umgangs mit Piaton gelesen werden. Die durch H y p o m n e m a t a zumindest mögliche Erinnerung an bereits Gewußtes ist also nicht im strengen Sinne von einer im akademischen Rahmen mitgeteilten Lehre abhängig. Die Funktion der Dialoge, genauer: deren erfolgreiche Erfüllung, dependiert allein von der im Seelenmythos beschriebenen Beschaffenheit 1 Michael Erler, Der Sinn der Aporien in den Dialogen Piatons. Übungsstücke zur Anleitung philosophischen Denken, Berlin/New York 1987, 288. 2 Ernst Heitsch, Kommentar, 202. 3 Jacques Derrida, Pharmacie, 194. 4 So auch G.J. de Vries, A Commentary on the Phaedrus of Plato, A m s t e r d a m 1969, 255.

im

60

II. Dialog und Spiel: Z u m Begriff des Spieles in Piatons

Phaidros

der Seele und d e m daraus f o l g e n d e n , ihr entsprechenden H e r a u s b i l d u n g des p h i l o s o p h i s c h e n T y p o s des F r e u n d e s des W i s s e n s und des Schönen. D a nun aber spezifisch p h i l o s o p h i s c h e s Wissen b z w . d e m e n t s p r e c h e n d e innerseelische Einsicht in keiner W e i s e durch b l o ß e sprachliche Mittel mitgeteilt werden kann und außer den platonischen Dialogen keine anderen Schriften, die über rein private und persönliche Notizen h i n a u s g e h e n d e h y p o m n e m a t i s c h e F u n k t i o n zu erfüllen scheinen, ist noch d i e j e n i g e E i g e n s c h a f t der Texte a u f z u s u c h e n , die Uber die b l o ß e Schriftlichkeit des Geschriebenen und dessen adäquate Organisation in f o r m a l e r H i n s i c h t hinausweist und als Mittel zur E r m ö g l i c h u n g von E r i n n e r u n g dienen kann, o h n e L ü g e n zu verbreiten oder d e m V o r w u r f der Schändlichkeit anheimzufallen und o h n e einschlägige Geübtheit b z w . Gelehrtheit i m m e r schon voraussetzen zu müssen. D i e bereits a n g e s p r o c h e n e n stilistischen Mittel der mythischen und dialektischen Schreibweise und v. a. das der Ironie gewährleisten die n o t w e n d i g e B e d i n g u n g f ü r die Zulässigkeit des Schreibens, nämlich die A u f d e c k u n g der Tatsache, daß der T e x t nicht die W a h r h e i t aussagt, j a diese gar nicht aussagbar ist, indem er d e m L e s e r im Blick auf die in ihm erzählten Geschichten von G e g e n s t ä n d e n des Philosophierens gleichsam zuruft: „This story i s n ' t true" 1 . W i e aber a n h a n d des Adonisgärtchenvergleiches und d e m h y p o m n e m a t i s c h e n Z w e c k zulässiger T e x t e zu sehen war, e r s c h ö p f t sich der Dialog nicht in einer solchen b l o ß negativen F u n k t i o n . In ihnen m u ß z u m i n d e s t die Möglichkeit liegen, o h n e bereits eine p h i l o s o p h i s c h e Lehre vorauszusetzen, positiv, d. h. h y p o m n e m a t i s c h , zu wirken. Dabei ist die U n g l e i c h h e i t dieser W i r k u n g mit der eigentlichen M n e m e oder gar der A n a m n e s i s k o n s e q u e n t festzuhalten. W i e also vermag der Text, die W a h r h e i t nur anzudeuten bzw. auf sie so h i n z u w e i s e n , o h n e sie f ü r sich als solche zu b e a n s p r u c h e n oder die Sucher ( ί χ ν ε ύ ο ν τ ε ς ) gänzlich in die Irre zu f ü h r e n ? In der d a f ü r nötigen eigentümlichen Stellung zwischen N i c h t - W a h r h e i t und N i c h t - L ü g e hält den platonischen Dialog die E i g e n s c h a f t der Schönheit. Angezeigt w e r d e n soll im D i a l o g die an sich n o t w e n d i g verhüllte Wahrheit, d. h. das einst von der Seele „mit M ü h e " ( μ ό γ ι ς , 2 4 8 a 4 ) kurz erblickte Sein, dessen Schau die Seele erinnernd zu wiederholen bestrebt ist. Dieses Streben läßt gewisse M e n s c h e n in der Art eines W a h n s i n n s das S c h ö n e begehren, w e l c h e dann L i e b e n d e genannt w e r d e n ( τ η ς μ α ν ί α ς ό έ ρ ώ ν τ ω ν κ α λ ώ ν έ ρ α σ τ ή ς κ α λ ε ί τ α ι , 2 4 9 e 3 f ) , die außer sich geraten, „ w e n n sie von den D i n g e n da oben irgendeine A b b i l d u n g s e h e n " ( δ τ α ν τι τ ω ν έ κ ε ΐ ο μ ο ί ω μ α 'ίδωσιν, έ κ π λ ή τ τ ο ν τ α ι , 250a6). V o n den d u r c h die Seele auf ihrem F l u g e erblickten hyperuranischen W e s e n h e i t e n war die Schönheit diejenige, die „strahlend" (τε έ λ α μ π ε ν öv, 2 5 0 d l ) war u n d deren Anblick folglich am kräftigsten in der Seele sich erhielt, so daß zugleich die E r i n n e r u n g an sie nach d e m Sturz der Seele und ihrer Inkorporation durch die irdische, b e g e g n e n d e Schönheit a m ehesten möglich wird. I m G e g e n s a t z zu „Gerechtigkeit, B e s o n n e n h e i t und all den anderen D i n g e n , die f ü r die Seelen von W e r t sind" und „auf deren irdischen Abbildern keinerlei G l a n z " liegt ( δ ι κ α ι ο σ ύ ν η ς μ ε ν ο ΰ ν κ α ι σ ω φ ρ ο σ ύ ν η ς κ α ι δ σ α ά λ λ α τ ί μ ι α ψ υ χ α ΐ ς ο ϋ κ ενεστι φ έ γ γ ο ς ουδέν έν τοις τηδε ό μ ο ι ώ μ α σ ι ν , 2 5 0 b l f f ) , können wir die Schönheit im Bereich der E r s c h e i n u n g e n „mit d e m klarsten unserer S i n n e " ( δ ι α τ η ς έ ν α ρ γ ε σ τ ά τ η ς α ϊ σ θ ή σ ε ω ς τ ω ν η μ ε τ έ ρ ω ν , 250d2), d. h. sehend erfassen. D i e Schönheit allein ist nach Piaton έ κ φ α ν έ σ τ α τ ο ν () κ α ϊ έ ρ α σ μ ι ώ τ α τ ο ν (250d7f): Sie „allein hat diese Gabe, von allen geliebt zu werden und sichtbar zu sein", oder - philosophisch deutlicher - mit Martin H e i d e g g e r übersetzt: Sie ist „das H e r v o r s c h e i n e n d s t e ( . . . ) , aber auch das

Martha Nussbaum, „This Story Isn't True": Poetry, Goodness, and Understanding in Plato's Phaedrus, in: Julius Moravcsik/Philip Temko (Hg.), Plato on Beauty, Wisdom, and the Arts, Totowa 1982, 79-124, hier 117.

1. Spiel und Ernst

61

Entrückendste" 1 . Das Schöne also vermag allein die beiden bei Piaton geschiedenen Bereiche der Wahrheit des Seins und des in der Welt erscheinenden Scheins zusammenzuspannen. Es bringt „im nächsten Anschein des Begegnenden zugleich am ehesten das entfernteste Sein zum Vorschein" 2 , indem es sich in der Erscheinung zeigt, auch aus dieser noch hervorglänzt und den Menschen so anzieht und für sich einnimmt, daß er von „Sehnsucht" ( π ο θ ο ύ σ α , 251e2) nach ihm erfüllt dem Schönen verehrend nachstrebt, d. h. dem erotischen Wahn verfällt. Das Scheinen des Schönen läßt dann auch für denjenigen „zugleich das Sein aufleuchten" 3 , der das größte Erinnerungspotential besitzt, weil seine Seele „viel gesehen hat von den damaligen Dingen" (ό τ ω ν τότε π ο λ υ θ ε ά μ ω ν , 251a2) - von einem „Ideenhimmel" ist dabei nicht die Rede 4 - und deshalb sich inkarniert in einem „homme ami du savoir et de la beaute, c'est-ä-dire un philosophe" 5 . Das Sein aber ist für Piaton nichtsinnlich und damit auch auf keine Weise für sich wahrnehmbar. Die irdisch begegnende Schönheit gehört damit streng dem Bereich des Scheines als des Nichtwahren an. Die Aufdeckung oder genauer: die Möglichkeit zur E r ö f f n u n g des Seins als Wahrheit geschieht also dort, „wo, von der Wahrheit aus geschätzt, das μ ή öv (έιδολων), das Nichtseiende west" 6 . Trotz des großen Abstandes zur Wahrheit des im Bereich des wahrnehmbaren Sinnlichen, d. h. des Nichtwahren, vom Menschen durch Kunst ( τ έ χ ν η ) hervorgebrachten Schönen bietet allein die Schönheit durch ihren Glanz, der selbst noch durch die irdischen Erscheinungen dringt, die Möglichkeit zur Erinnerung an das Sein. Ihr - mit einem prägnanten heideggerschen Ausdruck formuliert - „Geleucht" 7 vermag auch die an sich glanzlosen irdischen Abbilder der übrigen durch die Seele erschauten Urbilder mitzubeleuchten, jedoch nur f ü r die Philosophen, deren Seelen im Gefolge „hinter Z e u s " ( μ ε τ ά μεν Διός ή μ ε ΐ ς , 250b7) blickend ins Sein eingeweiht wurden. Wenn nun aber die Schönheit eines Gegenstandes diejenige Eigenschaft ist, die den Zugang zu dessen Wesenserkenntnis auf einfachstmögliche Weise eröffnet, indem sie den Beschauer durch ihren Glanz erotisch an sich zieht und gleichsam zur Erkenntnis einlädt, und zugleich die Dialoge Piatons nicht nur in protokollarischer Weise für die Akademiemitglieder oder gar nur den Autor gedacht sind, sondern f ü r alle, die der Spur des Zeus folgen, also von ihrer seelischen Verfassung her Philosophen sein können, müssen auch diese Schriften als Hypomnemata ebendiese Eigenschaft der Schönheit aufweisen, wenn sie trotz der vollständigen Fremdheit zwischen Schriftzeichen und bezeichneter Sache „Anstoß" sein können sollen, „zu den Sachen selbst zurückzugehen" 8 . Auch das rechtzufertigende Schreiben muß ein Hervorbringen von Schönem sein, wobei freilich ebenfalls die Abständigkeit von der Wahrheit beachtet werden muß; so nämlich, daß das schriftlich hervorgebrachte Schöne das eigentliche Schöne wiederum mit einer doppelten Umhüllung versieht, so daß sein Glanz nur von entsprechend seelisch Disponierten gerade noch vernommen werden kann.

1

Martin Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 5 1989, Bd. I, 227. Ebd., 226. 3 Ebd., 228. 4 So mit N a c h d r u c k schon Julius Stenzel: Studien zur Entwicklung der platonischen Dialektik von Sokrates zu Aristoteles, Leipzig/Berlin 2 1931, 111. 5 Leon Robin, Notice, CVI. 6 Martin Heidegger, Nietzsche /, 230. 7 Ebd., 228. 8 Martin Heidegger, Piaton: Sophistes (Vorl. W S 1924/25, hg. v. Ingeborg Schüßler), F r a n k f u r t / M . 1992, G A Bd.19, 343. 2

62

II. Dialog und Spiel: Z u m Begriff des Spieles in Piatons

Phaidros

Genau diese poietische Tätigkeit ist das von Piaton gemeinte beste aller Spiele, nämlich das des Schreibens von Erzählungen über die Gegenstände der Philosophie. Seine Merkmale lassen sich nunmehr grob und formal in zwei Gruppen einteilen: Zum einen stehen auf der negativen, sprachkritischen Seite Dialektik, Mythos und Ironie, um den Leser darüber aufzuklären, daß die erzählten Geschichten nicht identisch mit der Wahrheit sind; zum anderen aber schlägt positiv die Schönheit der Dialoge zu Buche, die die Tätigkeit des Schreibens auch als nichternste rechtfertigt und den entsprechend seelisch Disponierten wenigstens die Möglichkeit zur Erinnerung durch Hypomnemata eröffnet.

2. Spiel und Poiesis

63

2. Spiel und Poiesis Es gilt nun in einem abschließenden Durchgang zu fragen, wie vor dem herausgearbeiteten Hintergrund der platonische Spielbegriff zu fassen ist und welche systematische Bedeutung er hat. Dies kann anhand des Leitfadens der immer auf innerweltlich Begegnendes bezogenen Poiesis geschehen, welche zugleich in den Grenzen unserer Fragestellung als Grundzug des im Phaidros exponierten platonischen Spielbegriffes aufzuweisen ist. Poiesis wird dabei basal verstanden als Hervorbringung von etwas, das vorher in dieser Weise noch nicht im Bereich des sinnlich Vernehmbaren „da" war, als ein Herausbringen von etwas in die Erscheinung 1 , wobei diese in unserem besonderen Fall einen Vorschein der Wahrheit bedeutet und solchermaßen in eigentümlicher Weise über sich hinausweist. Dieser Zusammenhang von Spiel und Poiesis wird dabei in gebotener Kürze unter den bislang als zentral ausgemachten Aspekten von Sprache, Schönheit und Philosophie behandelt, so daß die bereits von Gundert und Eugen Fink angedeutete 2 große Bedeutung des Spielbegriffes für die Denkungsart Piatons ein Stück weit deutlicher werden möchte.

a) Spiel und Sprache

Die Antwort auf die Frage, was denn im Spiel par excellence, nämlich im Spiel des Philosophen hervorgebracht wird, scheint auf den ersten Blick trivial: Der Philosoph bringt im Spiel Schriften hervor und nur dann, wenn deren Hervorbringung im Zeichen des Spieles geschieht, sind die Produkte nicht schändlich bzw. häßlich (αισχρός), sondern sowohl in ethischer wie auch in sinnlicher Hinsicht schön. Was sind aber nun laut Piaton die Eigenschaften der Schrift, genauer: der Dialoge, in denen sich die bereits erörterten Intentionen des Autors zeigen könnten? Was weist die Produkte eines Spieles, sofern ein Spiel überhaupt in einem werkhaften Produkt terminieren kann, als solche aus? Diese Frage nach dem Spielerischen in den Dialogen, die auch als Frage nach den Auswirkungen der sich ergänzenden kritischen Schreibweisen Dialektik, Mythos und Ironie gestellt werden könnte, läßt sich im Zusammenhang mit einem Aspekt der Schriftkritik untersuchen, der bislang noch nicht zu Sprache kam: Piaton weist mehrfach darauf hin, daß aus Buchstaben nichts Klares und Sicheres bzw. Beständiges hervorgehen könne (σαφές κ α ι βέβαιον έκ γ ρ α μ μ ά τ ω ν , 275c6f; βεβαιότητα () κ α ι σ α φ ή ν ε ι α ν , 277d8f). Die Bedeutung des schriftlich Niedergelegten läßt sich allein durch den Leser nicht zweifelsfrei und eindeutig feststellen und 1

Vgl. Symp. 205b/c. Vgl. Eugen Fink, Spiel, 89-124, der „das platonische Denken selbst im E l e m e n t des S p i e l h a f t e n " (89) verortet, und H e r m a n n Gundert, Spiel, der bemerkt, „dass von den Denkern der Metaphysik wohl keiner sein eigenes Werk so als Spiel verstanden hat wie der ' B e g r ü n d e r ' - es sei denn vielleicht der 'letzte', sein entschiedenster G e g n e r ? " (98). Im übrigen schließe ich mich Gunderts grundsätzlicher Kritik an Finks Piatoninterpretation, die den Spielbegriff ausschließlich von der Spiegelmetaphorik her faßt und auf diese reduziert, an. 2

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II. Dialog und Spiel: Zum Begriff des Spieles in Piatons

Phaidros

bestimmen, d. h. eine jede Schrift ist als solche mehrdeutig. Die Mehrdeutigkeit der Schrift ist deren konstitutive und unhintergehbare Eigenschaft, die auch nicht durch strikt propositionalen Gebrauch aufgehoben werden kann, welche die Mehrdeutigkeit des geschriebenen Satzes bloß zu einer schlichten Unwahrheit verengen würde, sofern es sich nicht um einen rein formalen Ausdruck handelt. Wer schreibt, produziert also notwendigerweise λ ό γ ο υ ς άμφιβόλους 1 , um eine Wendung aus dem Panathenaikos des Isokrates aufzugreifen, auf den sich Piaton hier bezieht 2 , d. h. doppelsinnige bzw. ungewisse und umstrittene Sätze bzw. Reden und Wörter. Im Gegensatz zu Isokrates aber, der die Herstellung solcher doppeldeutiger Logoi zum einen für „schön und philosophisch" 3 hält und zum anderen glaubt, daß diese bei ausreichender Akribie bei der Textauslegung geklärt und durch logische Verfahren zur Eindeutigkeit aufgelöst werden könnten 4 , ist Piaton der Auffassung, - wenngleich er erstere Annahme wohl zugeben würde daß sich die Mehrdeutigkeit von Texten auch durch eine noch so ausgefeilte Hermeneutik nicht aufheben läßt, Texte mithin nicht autonom sind. Vielmehr sind es ausgerechnet diese in ihrer Bedeutung umstrittenen und ungewissen (άμφισβητοΰμεν, 2 6 3 a l 0 ; ά μ φ ι σ β η τ η σ ί μ ω ν , 263c9) Logoi - hier im Sinne von „Wörter" verstanden - , als welcher Beispiele Piaton das Gerechte oder das Gute ( δ ι κ α ί ο υ ή ά γ α θ ο ΰ , 263a9) anführt, an deren Klärung sich die Dialektik abarbeitet und die dergestalt die Gegenstände der Philosophie bilden, so daß man sagen kann, daß die in den Dialogen erzählten Geschichten allesamt Geschichten von diesbezüglichen Klärungsversuchen erzählen und so tatsächlich als Muster für eigene derartige Unternehmen der Rezipienten zu dienen vermögen. Piaton begründet diese bedeutungsmäßige Unauflösbarkeit schriftlicher Logoi sowohl mit deren Unfähigkeit, auf Fragen zu antworten, als auch mit der Unkontrollierbarkeit ihrer Verbreitung. Ersteres bezeichnet die Unmöglichkeit, mit dem Text in ein realiter geführtes, mündliches dialektisches Gespräch in Frage und Antwort einzutreten, das durch die Mittel der wahrhaften Rhetorik die größtmöglichen Erfolgschancen zur Erörterung des Begriffes und HinfUhrung zur innerseelischen Einsicht in die Wahrheit über diesen eröffnet. Die Möglichkeit zu fragen bringt zugleich die Möglichkeit, die die Erfassung des eigentlich fraglichen Sachverhaltes verstellende Mehrdeutigkeit der Logoi soweit zu reduzieren, daß das innerseelische Wahrheitsgeschehen angestoßen werden kann, indem durch die beständige Fragebewegung ebenso abwegige wie alltägliche und vorphilosophische Verstehensweisen - im Gespräch und nur im Gespräch - als ungerechtfertigt eliminiert werden können. Zum zweiten ist zunächst nur zu bemerken, daß Piaton ausdrücklich die Möglichkeit einräumt, daß auch entsprechend gebaute Texte angemessen verstanden werden können, wenn diesen nicht eine Leistung zugetraut wird, die sie zu erbringen nicht imstande sind; die einschlägigen Herstellungsbedingungen wurden bereits ausgeführt. Ein fundamentales Mißverstehen des Textes ist also nicht notwendig, sofern der Leser um die wesentlichen Eigenschaften der Schrift weiß, über die entsprechenden seelischen Voraussetzungen verfügt und philosophische Texte dementsprechend gebraucht. Diejenigen aber, „für die er nicht paßt" (παρ' οΐς ούδεν προσήκει, 275e2), d. h. die

Isocrates, Panathenaicus 240, in: ders., Opera (ed. with an English translation by G. Norlin) Vol. II, C a m b r i d g e / M a s s . / L o n d o n 6 1992, 520. 2 Vgl. Otto A. B a u m h a u e r , Die sophistische Rhetorik. Eine Theorie sprachlicher Kommunikation, Stuttgart 1986, 78f; Michael Erler, Hilfe und Hintersinn. Isokrates' 'Panathenaikos' und die Schriftkritik im 'Phaidros', in: Livio Rossetti (Hg.), Understanding the 'Phaedrus'. Proceedings of the II Symposium Platonicum, St. Augustin 1992, 122-137; Ernst Heitsch, Kommentar: Appendix VI, 2 5 7 - 2 6 2 . 3 Panathenaicus 240. 4 Vgl. Michael Erler, Hilfe, 128ff.

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2. Spiel und Poiesis

nicht als zum Philosophieren Disponierte das Wissenswürdige und das Schöne lieben, werden die Texte notwendig in unangemessener Weise auslegen: Sie mißhandeln sie und tadeln sie zu Unrecht. Das meint in positiver Wendung: Das Verständnis eines Textes ist von der grundsätzlichen seelischen Verfassung des jeweiligen Lesers abhängig. Worin diese besteht, haben wir bereits zu zeigen versucht: Sie äußert sich insbesondere darin, daß der Leser vom Text nicht erwartet, was dieser nicht leisten kann; nämlich die unverstellte Mitteilung von Wahrheit, die sich doch nur als Geschehen des ά λ η θ ε ΰ ω 1 in der Seele ereignen kann. Dies gilt freilich nur f ü r die Wenigsten, auch unter dem Gefolge des Zeus. Die Stärke der Disponiertheit ist j e nach dem zeitlichen Abstand zur Einweihung der Seele in das Sein (250ef) graduell gestaffelt. Die Vielen, deren Einweihung „schon länger zurückliegt" (μή ν ε ο τ ε λ ή ς , 2 5 0 e l ) und die deswegen von sich aus das Schöne der Texte nicht angemessen als Vorschein des Wahren auszulegen vermögen, sondern nur vom Begehren nach dessen distanzloser Aneignung erfüllt werden, bedürfen nun erst recht eigentlich der mündlichen Unterweisung im dialektischen Gespräch. Nur im Blick auf diese Gefolgsleute des Zeus macht die Rede von der ρ η τ ο ρ ι κ ή τ έ χ ν η als ψ υ χ α γ ω γ ί α , d. h. als Führung der dafür geeigneten Seelen in die dialektische Denkbewegung, die das Philosophieren ausmacht, überhaupt Sinn. Denn der „frisch Eingeweihte" ( ά ρ τ ι τ ε λ ή ς , 251a2), der vom Wahren gesehen und dessen Seele im Sturz nur begrenzten Schaden genommen hat, ist j a bereits in der Bewegung des Denkens, so daß ihm die einschlägigen Texte hypomnematisch sowohl als musterhafter Anhalt wie auch als thematischer Anstoß dienen können. Ein in Frage und Antwort bzw. in Sprechen und Hören vollständig gleichberechtigtes Gespräch zweier Philosophen untereinander ohne unterweisenden Charakter, das Piaton im übrigen nie beschreibt, wäre bloß noch in wesentlich eingeschränktem Sinne gegenseitige Seelenführung, da es dieser im Vollsinne auf die Weisung der Wegrichtung des Denkens nur ankommen kann. Die Gegenstände des Philosophierens entziehen sich einer finalen Feststellung und begrifflicher Inbesitznahme, sofern damit der Anspruch auf Aussage der Wahrheit verbunden wird, welche Reflexion auf die Möglichkeiten von Sprache in der Entwicklung von Piatons Denken einen „ever greater influence on his epistemology" 2 gewinnt. Das Gespräch gleichermaßen vollendeter Dialektiker müßte endlos sein und kann daher gar nicht sinnvoll dargestellt werden. Es läge dabei bestenfalls eine Affirmation und Vertiefung durch Wiederholung der Einsicht in bereits Eingesehenes, was doch nicht auf einen im eigentlichen Sinne wahren Begriff oder Satz gebracht werden kann, vor, jedoch nicht die höchste dem Menschen mögliche Tätigkeit, die in der Fortzeugung der dialektischen Denkbewegung in geeigneten Seelen besteht und das Wesen der Philosophie ausmacht, sofern man die strenge begriffliche Koppelung von Philosophie, Rhetorik und Dialektik ernstnimmt. Philosophie in dem von Piaton herausgestellten Sinn ist dann gebunden an mündliche und gesprächsweise kundgegebene und vernehmbare Sprache, der die erotische Tendenz hin zur π ε ι θ ώ innewohnt. Der platonische Philosophiebegriff enthält so bereits die W e n d u n g an den jeweils anderen vermittels gesprochener Sprache und ist damit von der ganz als innerseelisch bestimmten Tätigkeit des Denkens ( δ ι α ο ν ε ΐ σ θ α ι ) als stilles Gespräch der Seele mit sich selbst über ihre Untersuchungsgegenstände 3 zu unterscheiden; zumal diesem Gespräch auch der für das Philosophieren mitkonstitutive Zug zur Überredung 4 abgeht 5 . Ohne nun näher auf eine

2 3 4 5

Vgl. dazu: Martin Heidegger, Sophistes, 21-64. Nicholas P. White, Plato on Knowledge and Reality, Tht. 189e. Vgl. Franco Trabattoni, Scrivere, 65 u. 74. Tht. 190b.

Indianapolis 1987, 125.

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II. Dialog und Spiel: Zum Begriff des Spieles in Piatons Phaidros

mögliche Differenz zwischen innerseelischem und geäußertem sprachlichen Vermögen eingehen zu können, bleibt die Bindung des Philosophierens an vernehmbare Sprache festzuhalten. Hier ist der Ort der Identifikation der wahren Philosophie mit der wahrhaften Rhetorik, die Piaton im Phaidros vornimmt. Und ebenso festgehalten sei eine Verhältnisbestimmung, die später noch zu erörtern sein wird: Wenn Piaton einerseits das Schreiben von philosophischen Texten wegen der geringeren Erfolgsaussichten im Vergleich zum rhetorisch-philosophischen Gesprächsunternehmen als Spiel bezeichnet und andererseits auch auf alle Logoi des Dialektikers die Schriftkritik, sofern sie den Abstand der Schrift von der Wahrheit trifft, in vollem Umfange angewendet werden muß, dann ist es nur konsequent, die gesprochene Sprache, die als solche, genau wie die Schrift, der Erscheinungswelt zugehört und nur ungleich vergänglicher ist, ebenfalls unter den Spielbegriff zu fassen, da nach diesem Verhältnis nur noch graduelle, aber keine begrifflichen Unterschiede zwischen mündlicher und schriftlicher Rede bestehen. Die Unterscheidung von σπουδή und π α ι δ ι ά hat solchermaßen allein für den Bereich des sinnlichen Scheines Gültigkeit, und sie entspringt allererst dem alltäglichen, unreflektierten und vorphilosophischen In-der-Welt-Sein des Menschen, das die Philosophie nach seiner Rechtfertigung befragt. Auch dies ist noch anzusprechen. Freilich ist dabei zu bemerken, daß sich mündliche und schriftliche Rede als Erscheinungen durchaus gemäß ihrer Zustände unterscheiden lassen 1 : Die Schrift ist vollständig statisch. Ihr fehlt damit der konstitutive Grundzug alles Lebendigen, nämlich von selbst durch eine ihm innewohnende Seele sich zu bewegen. Es scheint indes - insbesondere im Blick auf die platonischen Dialoge - die Rede, daß die schriftliche Rede etwas Totes sei2, nicht hinreichend präzise: Texte sind bloß nichtlebendige Gebilde, die aus nichtlebendigem Material hergestellt werden und die Täuschung von Lebendigkeit hervorrufen können, sofern sie in schändlicher Absicht oder auf häßliche Weise gearbeitet wurden. Texte haben und hatten gar nie die Möglichkeit, lebendig zu sein. Insofern ist es auch wenig sinnvoll, sie mit dem Komplementärbegriff des Toten zu belegen. Sie befinden sich vielmehr in einer eigentümlich neutralen Schwebe zwischen den Begriffen Tod und Leben, so daß - wenn denn ein Ausdruck hierfür vorgeschlagen werden sollte - vielleicht der mythologische des „Untoten" die Sache genauer träfe. Zumal hierin ebenfalls läge, daß eine jede Bewegung, d. h. ein jedes Aufbrechen der Statik des untoten Körpers von einer äußeren Kraft induziert ist, was durch den Autor oder den verständigen Rezipienten bzw. Interpreten geleistet werden kann. Im Gegensatz dazu trägt die zwar nicht im Vollsinne der Selbstbewegtheit lebendige mündliche Rede keimhaft die Möglichkeit zur Entfaltung von eigenem Leben in sich. Deren Aktualisierung ist jedoch, wie bereits gezeigt, vorgängig abhängig von dem Untergrund, auf den sie trifft, d. i. die Seele des jeweiligen Hörenden. Anders als der von sich aus statischen Schrift eignet also dem gesprochenen Wort mittelbar ein dynamisches Element, das wesentlich umstandsloser wenngleich noch unsicher genug - Wirkung, und zwar halbwegs kontrollierbare Wirkung als erstere entfalten kann.

1 Man kann also nicht wie Tilman Borsche von der „Belanglosigkeit der Unterscheidung zwischen Stimme und Schrift sprechen": Der Herr der Situation verliert die Übersicht. Bemerkungen zu Piatons Schriftkritik und Derridas Piatonkritik, in: KODIKAS/CODE. Ars Semeiotica 9 (1986), 317-330, hier 321. 2 Vgl. Ronna Burger, Plato's Phaedrus, 28ff.

2. Spiel und Poiesis

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b) Spiel und Schönheit

Wie dieses dynamische Element, das durch einen Zug über sich hinaus sich anzeigt, in der mündlichen Rede aufscheint, bzw. wie die Statik des Schriftlichen immerhin dem Ansatz zu einer Dynamisierung offensteht, sei nun anhand des Zusammenhanges des Spieles mit dem Schönen kurz umrissen. Wenn das innerweltlich bzw. sinnlich erscheinende Schöne als Vorschein der Wahrheit allein der Seele den Weg zur Einsicht in diese anzuzeigen vermag und sowohl die dialektisch strukturierte mündliche Rede im Sinne der wahren Rhetorik als Seelenleitung als auch die Dialogschrift als Hypomnema der Seele die Möglichkeit zum Einschlagen dieses Weges anbieten soll, wobei eine jede Veräußerung der Sprache, d. h. Rede und Schrift, aufgrund ihrer Abständigkeit von der Wahrheit strenggenommen als Spiel zu qualifizieren ist, dann muß das Schöne auch durch Rede und Schrift scheinen, um deren psychagogischen bzw. hypomnematischen Anspruch erfüllen zu können. Dies geschieht im Falle der mündlichen Rede durch die Erfüllung der Bedingungen, durch die die wahre Rhetorik bestimmt wird1: Neben der Einsicht in die Wahrheit, die die Ausrichtung der Psychagoge vorgibt, und der größtmöglichen Kenntnis der seelischen Verfaßtheit des Unterredungspartners, auf die die Rede zugeschnitten sein muß, um entsprechende Erfolgschancen zu eröffnen, ist v. a. auf ein weiteres Kriterium hinzuweisen, das eine Rede erfüllen muß, um als gelungen und angemessen gelten zu können. Es ist die Kompositionsweise einer jeden Rede (πάντα λόγον, 264c2), die analog zum Bau eines Lebewesens gebildet werden soll, d. h. daß sich die verschiedenen Redeteile organisch zu einem Ganzen zusammenordnen sollen. Das meint zugleich, daß ein jeder in den Bereich der Erscheinung hervorgebrachte Logos abgesehen von seiner körpermäßigen Strukturiertheit und Funktionstüchtigkeit ein für sich einzigartiges Individuum darstellt, wie auch innerhalb der gattungsmäßen Bestimmtheit eine unendliche Anzahl von individuellen Ausprägungen möglich ist. Dies verhält sich adäquat zur Forderung der Adressatenbezogenheit, wenngleich diese auch in mündlicher Rede nicht in vollkommener Weise realisierbar ist2. Ebenso nimmt auch im Bereich der Rhetorik, d. h. der kunstgemäßen Sprachäußerung, die belebte Natur den Status des Vorbildes ein. Derjenige, der die ρηθορική τέχνη beherrscht, orientiert sich in seiner Produktion an der φύσις als dem, was von sich aus in die Erscheinung kommt und somit das wahrhafte Sein, wenn nicht am deutlichsten, so doch am ursprünglichsten abbildet. Was der Rhetor nachzuahmen hat, ist einerseits die Belebtheit des Lebewesens selbst und andererseits deren jeweilige Organisation, in der sich diese auf vortreffliche Weise zeigt. Piaton erweitert damit die architektonischtechnische Bedeutung des σνεστάναι (264c3) um das Moment des organisch Belebten. 3 Mit dieser Verbindung von Organizität und Konstruktionsprinzip ist der Produktion des wahren Redners zugleich die Forderung nach Schönheit seiner Produkte beigefügt 4 . Heißt es doch im Philebos - wiederum im Blick auf eine mündliche Rede - , daß „eine unkörperliche Ordnung (...) schön über einen belebten/beseelten Körper herrschen soll", um diesen zu vollenden (έμοι μεν γαρ καθαπερεΐ κόσμος τις ασώματος άρξων καλώς έμψυχου Vgl. u. a. Luc Brisson, L'unite du Phedre de Piaton. Rhetorique et philosophie dans le Phedre, in: Livio Rossetti (Hg.), Understanding, 61-76; Ernst Heitsch, Kommentar, 162-188; Antje Hellwig, Untersuchungen, 181-232. 2 Vgl. Ronna Burger, Plato's Phaedrus, 88f. 3 Vgl. G.J. de Vries, Commentary, 21 If. 4 Vgl. Gerhard Krüger, Einsicht, 233ff.

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II. Dialog und Spiel: Z u m Begriff des Spieles in Piatons

Phaidros

σ ώ μ α τ ο ς ό ν υ ν λ ό γ ο ς ά π ε ι ρ γ ά σ θ α ι φ α ί ν ε τ α ι . 64b6ff). Schönheit als Vorschein der Wahrheit läßt sich auch im Bereich der akustischen Phänomene hervorbringen. Ihre W a h r n e h m u n g obliegt dann aber dem Gehör und nicht dem klarsten aller Sinne, dem Gesicht. Die mimetische Tätigkeit des wahrhaften Redners unterscheidet sich so durch die Art der hervorgebrachten Erscheinung von der des Malers, Bildhauers oder Dichters, der nicht zugleich Philosoph ist: Letztere bringen sichtbare Erscheinungen hervor, die unwandelbaren Bestand besitzen und in sich abgeschlossen scheinen, d. h. stets sich selbst gleiche Werke, während erstere gerade keine in sich selbst stehenden und ruhenden Werke hervorbringen, sondern in höchstem Maße ephemere und strikt auf den jeweiligen Realkontext angepaßte Gebilde. Hieraus erhellt der höhere Grad an Wahrhaftigkeit und Ernsthaftigkeit der durch den philosophischen Redner hervorgebrachten Erscheinungen, die nicht den Eindruck werkhafter Abgeschlossenheit vermitteln und solchermaßen weniger über ihren Status im Blick auf die Wahrheit täuschen werden: Das Wesen der Schönheit als Vorschein der Wahrheit kommt in seiner Vorläufigkeit im Blick auf das Sein im Falle der gesprochenen philosophischen Rede deutlicher heraus. Und j e dialektischer die Rede im Hin und Her von Frage und Antwort sich um die Klärung der in Rede stehenden umstrittenen und mehrdeutigen Logoi bemüht, die den Gegenstand des Philosophierens bilden, desto deutlicher wird dies Wesen der Schönheit, das in sich selbst psychagogisch ist, in seiner genannten Vorläufigkeit. Dies kann man den hyperbolischen Charakter des Schönen nennen, das als solches immer auf etwas nicht erscheinungshaft Vernehmbares über sich hinausweist und nur in diesem Von-sichaus-über-sich-Hinausweisen besteht, ohne als Täuschung verstanden und abgewiesen werden zu müssen. Die πειθώ, auf die die philosophische Rhetorik als erotische τ έ χ ν η immer noch abzielt, ist hier also keine schiere Überredung, die beliebige und fraglose Überzeugung nach sich zieht, sondern vielmehr die von außen durch nichts zu erzwingende E r ö f f n u n g des innerseelischen Wahrheitsgeschehens, das das vernommene Schöne als Möglichkeit seiner eigenen Überschreitung in Richtung auf das Wahre benötigt. Es wird noch auf die Gefahr der Herbeiführung einer unreflektierten π ε ι θ ώ durch die rhetorische Betätigung des Philosophen einzugehen sein. Hier sollte zunächst nur deutlich werden, daß die Struktur der rechten mündlichen Rede von sich aus auf ihren Status als Spiel im Abstand von der Wahrheit zu verweisen vermag: für diejenigen, die es anhand der Rede „fassen können" 1 . So zwar, daß der Begriff des Spieles geradezu das genannte hyperbolische Wesen des Schönen faßt und zur Sprache bringt, indem dem derart poietischen Spielbegriff gleichsam die Leistung einer „bridge between the rational and sensuous spheres" 2 zugetraut wird. W i e geschieht dies nun im ausdrücklich als Spiel bezeichneten Fall der Schrift? U m nämlich sowohl ihren Zweck zu erfüllen als auch dem Verdikt der Schändlichkeit zu entgehen, muß ein Text jenes hyperbolische Moment aufweisen, das wesenhaft dem Schönen eignet. Diese Anforderung scheint auf den ersten Blick mit Schwierigkeiten verbunden, j a fast unmöglich. Ist doch die dialektische Bewegtheit der mündlichen Rede, die sowohl den unmittelbaren Anschein ihrer Belebtheit ausmacht als auch die Möglichkeit der Belebung als Keim in sich trägt, in der Schrift stillgestellt, so daß sie „in aller Majestät schweigt" ( σ ε μ ν ώ ς π ά ν υ σ ι γ ά , 275d6). Der Text trägt nun einmal in seiner festgestellten Unwandelbarkeit und Unbeweglichkeit, die sich in der steten Wiederholung der selben Zeichen zeigt, das Gepräge des in sich abgeschlossenen

'

Vgl. Pltk. 277e. Paul Plass, „Play" and Philosophie Detachment in Plato, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 98 (1967), 343-364, hier 343.

2

2. Spiel und Poiesis

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Werkes, zumal auch hier die Forderung nach organischer Struktur der Logoi mutatis mutandis gilt. Das geordnete Ganze, das der Text ist, muß als Erscheinung, durch die hindurch das Schöne als Vorschein des Wahren scheint, auf dieses selbst und damit über sich hinausweisen; und zwar so, daß zugleich die Richtung auf den Ort des Geschehens dieses Wahren mit gewiesen wird. Dazu reichen die obschon konstitutiven formalen sprachkritischen Elemente der in Rede stehenden Texte, d. h. der platonischen Dialoge, nicht zu: Sie öffnen zwar das Werkganze und treiben das dort Gesagte über sich hinaus, indem sie es sogleich wieder in seine Fraglichkeit zurücknehmen, ohne aber die weiterführende Richtung der Fragebewegung positiv zu bestimmen. Den Anhalt hierfür bieten die λόγοι αμφίβολοι, die gerade durch ihre Mehrdeutigkeit zum Ort des Scheinens des Schönen prädestiniert sind, da das irdisch begegnende Schöne aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Bereich des Scheines selbst mehrdeutig ist. Die mehrdeutigen Logoi, die die Gegenstände der philosophischen Tätigkeit bilden, sind innerhalb dieser schön, weil sie auf das Wahre verweisen. Die sie im Versuch ihrer Klärung thematisierenden Texte sind schön, weil sie auf diesen Verweisungscharakter aufmerksam machen und so die dialektische Bewegung über sich hinaus in Richtung auf das Wahre anleiten, d. h. in die Seele des fragend Denkenden. Dadurch und vermittels der Mehrdeutigkeit der in den dann als werkhaft möglichen Dialogen dargestellten Klärungsgänge ist das Schreiben als Schreiben von Dialogen durch deren Wahrhaftigkeit gerechtfertigt. Diese Wahrhaftigkeit besteht in der verweisenden Aufdeckung der eigenen Seinsweise als Spiel. Die Aufdeckung der Vorläufigkeit des organischen Ganzen des Textes als Spiel macht die Schönheit der Texte. Das Spielen des Philosophen ist solchermaßen durch seine Nichtinanspruchnahme einer eindeutigen Aussage von Wahrheit im erstellten Ganzen des Textes als Hervorbringung des Schönen als Vorschein der Wahrheit bestimmt, die gar nie vollständig im Bereich der Erscheinungen gefaßt werden kann. Diesen Sachverhalt zeigt das durch den Philosophen hervorgebrachte Schöne durch seinen nichternsten Status, d. h. durch sein Spiel-Sein, an.

c) Spiel und Philosophie

Die Vorläufigkeit der Logoi im Blick auf das Wahre gilt nun aber für alle Reden. Dennoch spricht Piaton von einer ernsthaften und einer spielerischen Tätigkeit des Philosophen. Ohne weiter auf die berühmten Stellen im VII. Brief einzugehen, wo Piaton einerseits feststellt, daß sich die Sache seines Denkens überhaupt nicht wie andere Wissensarten in Worte fassen ließe (ρητόν γαρ ουδαμώς έστιν ώς ά λ λ α μαθήματα, 341c5f), und andererseits bemerkt, daß das „Allerernsthafteste" des eigentlichen Denkens „irgendwo am schönsten Punkte" der Besitzungen des Denkers versteckt liege (ώς ουκ ήν τούτω τ α ΰ τ α σπουδαιότατα, εϊπερ έστ' αυτός σπουδαίος, κείται δέ που έν χώρα τη κ α λ λ ί σ τ η των τούτου, 344c6ff'), ist nun noch abschließend darzulegen, wie zum einen alle philosophische Betätigung als Spiel zu begreifen

Vgl. z u m Begriff der C h o r a ζ. Β. Jacques Derrida, Chora (aus d e m Frz. v. Hans-Dieter G o n d e k ) , Wien 1990.

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II. Dialog und Spiel: Z u m Begriff des Spieles in Piatons

ist und z u m anderen, d a ß die genannte, von grundsätzlichen B e f u n d nicht widersprechen m u ß .

Piaton

gemachte Unterscheidung

Phaidros

diesem

Mit W o l f g a n g W i e l a n d hatten wir bereits die U n z u l ä n g l i c h k e i t einer j e d e n sprachlichen Ä u ß e r u n g z u m adäquaten A u s d r u c k des W a h r e n 1 bzw. zur zuverlässigen V e r m i t t l u n g p h i l o s o p h i s c h e r Einsichten betont 2 . Aus d e m B e w u ß t s e i n dieses Defizits, das der ursprünglichen Einsicht in das w a h r e Sein und der nachmaligen B e f r e u n d e t h e i t mit d e m W a h r e n u n d Schönen entspringt und also d e m Philosophen eignet, m u ß sich eine spielerische Einstellung g e g e n ü b e r der Sprache seitens des Philosophen ergeben, wenn er d e n n nicht ü b e r h a u p t j e g l i c h e S p r a c h ä u ß e r u n g einstellen und in S c h w e i g e n versinken will. W a h r h a f t i g e s Sprechen, zu d e m der Philosoph als wahrer R h e t o r im G e g e n s a t z z u m allein die M a s s e zu w e c h s e l n d e n politischen Z w e c k e n überredenden sophistischen R e d n e r verpflichtet ist 3 , ist nur unter der V o r a u s s e t z u n g der R e f l e x i o n auf das durch ihre Abbildhaftigkeit und ihren d y n a m i s c h - h y p e r b o l i s c h e n Charakter bezeichnete spielhafte W e s e n der Sprache möglich. Auf diese aber ist die P h i l o s o p h i e als Tätigkeit, die sich i m m e r schon an andere wendet, vollständig a n g e w i e s e n . P h i l o s o p h i e vollzieht sich von ihrem W e s e n her n o t w e n d i g i m m e r schon im Bereich des Spielens u n d als Spiel, sofern sie w a h r h a f t i g und solchermaßen überhaupt erst P h i l o s o p h i e sein will. D i e platonische P h i l o s o p h i e trägt damit die f u n d a m e n t a l e D i f f e r e n z zwischen M e n s c h e n und Göttern, deren Spielzeug die M e n s c h e n sind 4 , aus, insofern sie diese stets b e w u ß t zu machen und im B e w u ß t s e i n zu halten sucht und nicht der Hybris verfällt, indem sie w i e die Sophisten suggeriert, im Besitz einer aussagbaren und damit unmittelbar - w o m ö g l i c h g e g e n B e z a h l u n g lehrbaren W a h r h e i t zu sein. Sie tut dies nur dann in der rechten W e i s e , w e n n sie u m ihre Spielhaftigkeit weiß, d. h. sich selbst als Spielen versteht und somit b e w u ß t spielt. Spielen in diesem platonischen S i n n e setzt i m m e r die Reflektiertheit der eigenen Tätigkeit voraus. U n b e w u ß t e s Spielen, das sich selbst als Ernst mißversteht, ist dann kein Spielen im eigentlichen Sinne, sondern bestenfalls das Ergebnis göttlicher Mania, bei der i m m e r h i n die M ö g l i c h k e i t der Erkenntnis des inspirierten Z u s t a n d e s ex post gegeben ist, oder ein e n t w i c k l u n g s b e d i n g t e r defizitärer Zustand des M e n s c h s e i n s wie e t w a der Kindheit und s c h l i m m s t e n f a l l s ein Z u s t a n d der vollendeten T ä u s c h u n g über das, was ist, wie er ζ. B. im H ö h l e n g l e i c h n i s beschrieben wird. Insofern läßt sich sagen, d a ß allein der Philosoph in diesem eigentlichen Sinne spielt, und nicht etwa j e d e r m a n n , o b s c h o n doch j e d e r m a n n der Götter Spielzeug ist. V o r diesem Hintergrund m u ß die U n t e r s c h e i d u n g zwischen der ernsthaften und spielerischen Tätigkeit des Philosophen gesehen w e r d e n . Sie soll nun noch zunächst a n h a n d des a n f a n g s a u f g e w i e s e n e n tertium comparationis des Vergleichs des Bauern und des A d o n i s v e r e h r e r s , d. h. des W a g n i s s e s , dargestellt und schließlich v o m Verhältnis von π α ι δ ι ά und π α ι δ ε ί α her weiter verdeutlicht w e r d e n .

1

Vgl. dg. ζ. B. Michael Erler, Aporien, 273f; Ernst Heitsch, Verständnis, 109; Thomas A. Szlezäk, Lesen, 140. 2 Vgl. auch Dorothea Frede, Appendix III: Peras, Apeiron und der 'esoterische Piaton' in: Piaton, Werke, Bd. III.2, Philebos (Übs. u. Komm. v. Dorothea Frede), Göttingen 1997, 403-417, hier404ff. 3 Vgl. Seth Bernadete, The Rhetoric of Morality and Philosophy. Plato's Gorgias and Phaedrus, Chicago/London 1991. 4 Nom. 644d7ff: θαΰμα μεν εκαστον ημών ήγησώμεθα των ζφων θείον, είτε ώς παίγνιον εκείνων είτε ώς σπουδή τινι συνεστηκός: u. 803c4ff: ανθρωπον δέ (...) θεοΰ τι παίγνιον ε ΐ ν α ι μεμηχανημένον, καί όντως τοΰτο αύτοϋ τό βέλτιστον γεγονέναι: usw.

2. Spiel und Poiesis

71

α) Das Wagnis der Philosophie

Der graduelle Unterschied des Wagnischarakters, der zwischen der Ausführung der ernsthaften Tätigkeit und der Unterlassung bzw. unzulänglichen Ausübung des spielerischen Tuns bestand, erweist sich sowohl als Wagnis für den jeweils Handelnden wie auch in der Ausrichtung seiner Handlung auf den anderen. Im philosophischen Unterweisungsgespräch zur Fortpflanzung der dialektischen Logoi, d. h. des Philosophierens, geht der Rhetor ein mehrfaches Wagnis für sich selbst ein. Seine Tätigkeit gefährdet sowohl seinen Leib wie auch seine Seele. Beider Gefährdung ist notwendig mit dem Führen philosophischer Unterredungen verknüpft und gehört somit zum Wesen des Spieles des Philosophierens. Erstere braucht nicht weiter thematisiert werden: Der Hinweis auf die Verfolgung des nichtschreibenden Sokrates einerseits und die Zweitrangigkeit des leiblichen gegenüber dem seelischen Wohl in der platonischen Philosophie 1 mag hier genügen. Wesentlich ist vielmehr die Gefahr, der die Seele des Philosophen bei seiner riskanten Tätigkeit unhintergehbar ausgesetzt bleibt. Sie besteht in der latenten Möglichkeit der Selbsttäuschung des Philosophen über seine eigenen Wissensmöglichkeiten, die das Vergehen der Hybris in sich birgt. Sokrates betont im Phaidros zweimal, daß die Einsicht in das Wahre als Hauptvoraussetzung der Rhetorik als Kunst zuallererst notwendig ist, um die Selbsttäuschung des Redners zu vermeiden (αυτόν δε μή άπατήσεσθαι, 262a5f; ή αυτός τοΰτο διαφεύγει ν, 262b7). Und ebenso bemerkt er, daß der Philosoph in all seinen Äußerungen allein und zuerst den Göttern verantwortlich ist, d. h. keinesfalls die Distanz zwischen Göttern und Menschen zu verwischen oder in täuschender Absicht zu verschleiern hat. Im Gegensatz zu den seligen Göttern, die den Anblick des Wahren unmittelbar genießen, ist „for an embodied soul, logos unavoidable in its effort to remember what i'j"2. Wenn der menschliche Logos erst in seinem Gebrauch durch den Rhetor-Philosophen in angemessener Weise gebraucht wird und so zu sich kommt, dann ist er auch in seinem Wesen mit der Kunst der Seelenführung verbunden, auch wenn die Seele sich gleichsam selbst führt oder sich selbst folgt 3 . Wenn zum zweiten wahre Rhetorik als angemessener philosophischer Gebrauch von Sprache ebenso grundsätzlich auf die Hinführung zu einer πειθώ gerichtet ist, ist auch der zu sich gekommene Logos stets mit einer solchen persuasiven Tendenz verkoppelt 4 . So führt das Denken als Betätigung der Dianoia im stillen Gespräch der Seele mit sich selbst stets bloß zu einer Überzeugung (δόξα). 5 Das διανοεΐσθαι ist bereits eine Vermittlung des früheren Blicks der Seele auf das Sein. Erst in der Wendung der innerseelischen Logoi nach außen, in der erotischen Veräußerung des διανοεΐσθαι zum φιλοσοφέω gelangt der zwischen Weisen und Unverständigen stehende Denkende zum eigentlichen Philosophieren 6 , das neben der Fortzeugung und Beförderung der dialektischen Denkbewegung ja ebenso die Aufklärung des Philosophierenden über sich selbst gemäß dem Delphischen Imperativ zum Ziel hat; was Sokrates gleich zu Anfang des Phaidros an dem eindrucksvollen Beispiel des Typhon (230a) verdeutlicht, das die Möglichkeit extremer Komplexität der Beschaffenheit einer einzelnen

1 2 3 4 5 6

Vgl. z . B . Phd. 64a - 6 8 b . Charles L. Griswold, Self-Knowledge, 171. Vgl. ebd., 172. Vgl. ebd. und Franco Trabattoni, Scrivere, 65 u. 74. Vgl. Tht. 190a. Vgl. Symp. 204af.

72

II. Dialog und Spiel: Z u m Begriff des Spieles in Piatons

Phaidros

Seele illustriert 1 . Erst im Logon didonai der mündlichen Unterredung kann die vom vergangenen Seinsblick derivierte innerseelische Doxa stets wiederholend gerechtfertigt und auf die Probe gestellt werden. Dadurch wird sowohl die Abständigkeit der immer sprachlich vermittelten Überzeugung über das Wahre vom ursprünglichen innerseelischen Wahrheitsgeschehen als auch die unüberbrückbare Kluft, die zwischen Menschen und Göttern im Blick auf die Wahrheit besteht, im Bewußtsein gehalten. Insofern ist also das Philosophieren für diejenigen, deren Seelen das Wahre und Schöne geschaut haben und die fähig sind, diese Schau erinnernd zu wiederholen, eine notwendige Tätigkeit. Jedoch ist mit dieser zum Seelenheil notwendigen Tätigkeit des mündlichen Philosophierens auch die fundamentale Gefährdung desselben verbunden: Der Philosoph kann jederzeit gleichsam zum Sophisten degenerieren. Dies kann dann geschehen, wenn die dialogische Gesprächsform des Hin und Her von Frage und Antwort mit ihren schwer vorausberechenbaren - Sokrates wird u. a. gerade f ü r seine Übertretungen der Regeln der juristischen bzw. politischen Rhetorik bzw. Elenktik getadelt - Wendungen zugunsten des monologischen Vortrags verlassen wird, der nur bereits geübten Philosophen für die Vertiefung ihrer Fragestellungen zuträglich sein kann. Sobald also die mündlichen Logoi nicht mehr um der Wahrheit, zu der man immer nur - unter Wegweisung der Philosophie - unterwegs sein kann, sondern nur um der Überredung des oder der Angeredeten willen geäußert werden, ohne daß durch unterbrechendes und klärendes Fragen die Möglichkeit zur Erkenntnis der Vorläufigkeit ebendieser Logoi im Blick auf das Wahre selbst gegeben würde, vergeht sich der Redner durch sein Auftreten als σοφός an den Göttern, denen dieses Attribut allein zukommt (σοφόν (...) θ ε ώ μ ό ν φ π ρ έ π ε ι ν, 278d3f), weswegen sie j a auch nicht zu philosophieren brauchen 2 . Daß dieses Vergehen höchste Gefahr für die Seele des Redners bedeutet, bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung. Da der zur Philosophie Begabte auf sprachliche Äußerung angewiesen ist, wird er versuchen, dieses einzugehende Risiko möglichst gering zu halten. Dazu gereicht neben der steten fragenden Bewegtheit des eigenen Denkens die sorgfältige Auswahl der Gesprächspartner, deren Seelen zur A u f n a h m e der dialektischen Bewegung geeignet sein müssen. Sowohl in dieser Auswahl als auch in der auf die jeweilige Seele zugeschnittenen erotischen und rhetorischen H i n w e n d u n g zu dieser liegen Aufgabe und Verantwortung des Philosophen. So geht auch die Gefahr für dessen Mitunterredner von der Möglichkeit der Fehleinschätzung seiner seelischen Verfassung aus. Sie besteht in der unbeabsichtigten Herbeiführung einer der Sache des Philosophierens unangemessenen π ε ι θ ώ dergestalt, daß der Angesprochene nicht die Vorläufigkeit der geäußerten Logoi durchschaut und an die propositionale Faßbarkeit der Wahrheit glaubt. Dieses Risiko ist insofern auch im Verlauf des Gespräches nicht auszuschalten, da von außen nie völlige Gewißheit über das korrekte Verständnis der mitgeteilten Logoi in der Seele des anderen erreicht werden kann. Solches zeigte sich erst in eigenständiger dialektischer Tätigkeit in Abwesenheit des Lehrers. 3 Falls ein derartiges Mißverständnis geschieht, kann die Saat der Dialektik nicht in der Seele des Angeredeten aufgehen und die B e m ü h u n g des

1 Vgl. Charles L. Griswold, Self-Knowledge, 40, und zur Gestalt des Typhon: Joseph Fontenrose, Python. Α Study of Delphic Myth and Its Origins, Berkeley/Los Angeles 1959, 70-93. 2 Vgl. Symp. 204a. 3 Eine mit der hier gebotenen Interpretation kompatible Rekonstruktion der platonischen Theorie des Wissenserwerbs findet sich bei Rainer Enskat, Authentisches Wissen. Was die Erkenntnistheorie beim Platonischen Sokrates lernen kann, in: ders. (Hg.), Amicus Plato magis arnica Veritas. FS Wolfgang Wieland, Berlin/New York 1998, 101-143.

2. Spiel und Poiesis

Philosophen war bestenfalls nur umsonst oder hat aber schlimmstenfalls einen Sophisten bzw. einen Doxosophen generiert.

73

weiteren

Im Gegensatz zu diesem wesenhaft mit dem Philosophieren verbundenen Wagnis, welche Tätigkeit in gedrängter Form als Wagnis der in Schönheit zeugenden erotischen Hinwendung zum anderen zum Zwecke der gottgefälligen Fortpflanzung der Dialektik im Sinne der Bewahrung der Differenz zwischen Menschen und Göttern aufgefaßt werden kann, ist das Risiko des Verfassens von philosophischen Schriften, d. h. Dialogen, viel geringer und nicht mit M ü h e belastet. D a diese in der dargetanen Weise von vornherein bloß als Hypomnemata konzipiert sind, ist nur auf die dementsprechende sprachliche Gestaltung zu achten, um die die Götter beleidigende Schändlichkeit von Texten zu vermeiden - wie bei den Adonisgärten liegt die Gefahr also in der Trübung der Beziehung zu den Göttern, die durch einfache Befolgung der einschlägigen Vorschriften vermieden werden kann. Mit diesem im Vergleich zum mündlichen Gespräch geringeren, aber doch bestehenden Wagnis sinkt jedoch auch die Wahrscheinlichkeit zur Fortzeugung des dialektischen als des wahren Philosophierens, zu dem Texte nur in den seltensten Fällen in Abwesenheit ihres Autors Anstoß geben können. Dies zeigt sich daran, daß die erfolgreiche philosophische Unterredung mit der Erfüllung ihrer Aufgabe Eudaimonia verheißt, während das Schreiben und Veröffentlichen von Texten lediglich mit Freude verbunden sein kann.

ß) Paidia und Paideia

Wir kommen damit zur abschließenden kurzen Darstellung des Verhältnisses von Paidia und Paideia im philosophischen Spielgeschehen. Dabei soll weiter verdeutlicht werden, daß sowohl die mündliche dialektische Rede als auch die schriftliche im Blick auf die Wahrheit als Spiele zu gelten haben und dennoch die Bestimmung dieser als ernsthaft und jener als spielerisch mit Rücksicht auf die vor diesem Hintergrund immer noch mögliche Unterscheidung von Paideia und Paidia sinnvoll ist. Vorgängig ist dazu festzuhalten, daß auch die zu Erziehung und Bildung tauglichen Paideia vom Begriff des Spieles als Nichternst und Schein her verstanden werden müssen. Sind doch die spielerisch zu Erziehungszwecken ausgeführten Handlungen bei aller nötigen Ernsthaftigkeit aufgrund ihres situativen Kontextes nicht die 'ernsten' Handlungen selbst, sondern ruhen auf einer Als-ob-Struktur ebendieses Handlungskontextes auf: Im Gegensatz zur Schlacht im Kriege etwa geht es im athletischen Agon nicht um Leben und Tod. Der Spielcharakter der Handlung ergibt sich aus dem Ganzen des situativen Kontextes und aus den möglichen aus ihr folgenden Wirkungen. Es kann hier nicht weiter darauf eingegangen werden, inwieweit diese Grundstellung den solchermaßen ernsthaft, d. h. zur rechten Bewältigung eines möglicherweise einstmals eintretenden Ernstfalles, Spielenden bewußt ist. Es spricht jedoch vieles dafür, daß das Bewußtsein der Spielhaftigkeit des Tuns unter vernünftigen Bedingungen die Spieler nicht verläßt. Hier geht es vielmehr um die eigentümliche Perspektivität, die dem Spielen im Verhältnis von philosophischen Erziehungsspielen und dem gleichsam reinen philosophischen Spielen anhängt. Es ist wohl schwer zu bestreiten, daß die mündlich geführten dialektisch-rhetorischen Reden, die an eine ganz bestimmte Person zur Fortzeugung des Philosophierens gerichtet

74

II. D i a l o g und Spiel: Z u m Begriff des Spieles in Piatons

Phaidros

werden, unter die Paideia zu rechnen sind. Die dabei durch den Dialektiker vollzogene spielerische H a n d l u n g gewinnt allein durch die durch sie möglichen Folgen ihre Ernsthaftigkeit. Der P h i l o s o p h weiß - gerade weil er Philosoph ist - u m ihren n o t w e n d i g e n Spielcharakter. U n d ein solches Gespräch erfüllt dann seinen Z w e c k , w e n n dieses W i s s e n u n d die d a m i t v e r k n ü p f t e F r a g e b e w e g u n g in der Seele des Gesprächspartners L e b e n gewinnt, d. h. d i e dialektische B e w e g u n g selbständig f o r t g e f ü h r t wird. Die philosophischen Paideia richten sich also darauf, die Einsicht in den Paidiacharakter alles innerweltlich B e g e g n e n d e n , mithin auch ihrer selbst zu befördern, und unterscheiden sich solchermaßen von aller anderen E r z i e h u n g , d i e eher die Bestätigung der Ernsthaftigkeit ebendieses alltäglichen und v o r p h i l o s o p h i s c h verstandenen G e s c h e h e n s ins A u g e faßt. Auch hieraus erhellt der größere W a g n i s c h a r a k t e r der m ü n d l i c h e n dialektischen U n t e r w e i s u n g , deren E r f o l g nie mit Sicherheit festgestellt w e r d e n kann, g e g e n ü b e r der A b f a s s u n g philosophischer Schriften. D i e s e sind einerseits immer schon als Paidia konzipiert u n d w e r d e n andererseits nicht vollständig o h n e Z w e c k außer ihrer selbst verfaßt. Unter den e n t s p r e c h e n d e n V o r k e h r u n g e n a b g e f a ß t e Texte bieten immerhin die M ö g l i c h k e i t zu positiver W i r k u n g : Z u m einen k ö n n e n sie einen Auslöser f ü r m ü n d l i c h e Unterredungen bilden 1 , wenn ihr „Vater" (275e) selbst auf R ü c k f r a g e n zu den Texten mit τ ι μ ι ώ τ ε ρ α antworten 2 und so die f u n d a m e n t a l e Einsicht in die Spielhaftigkeit recht verstandener philosophischer B e m ü h u n g e n vorbereiten k a n n . Z u m anderen, w e n n solche T e x t e von Lesern zur Kenntnis g e n o m m e n w e r d e n , d i e von ihrer seelischen B e s c h a f f e n h e i t her - man k ö n n t e sagen: als b e w u ß t e Z e u s n a c h f o l g e r - i m s t a n d e sind, die Schriften in rechter W e i s e als H y p o m n e m a t a in G e b r a u c h zu n e h m e n . Als Paidia hergestellte Texte k ö n n e n also d u r c h a u s unter bestimmten U m s t ä n d e n mittelbar als Paideia wirken. Allein ist dabei nicht nur das W a g n i s f ü r den Philosophen - auch die m ü n d l i c h e R ü c k f r a g e und das B e m ü h e n u m ein G e s p r ä c h mit d e m Autor zeugen j a bereits von einer g e w i s s e n erotischen Attraktion u n d machen damit die seelische E i g n u n g des Fragers i m m e r h i n wahrscheinlich sondern auch die A u s s i c h t auf E r f o l g im Blick auf die F o r t z e u g u n g s a u f g a b e geringer. E b e n s o ermöglicht aber das Schreiben von Dialogen d e m Philosophen auch dann die F o r t f ü h r u n g seiner eigentlichen A u f g a b e in der philosophierenden W e n d u n g an den anderen, u m dieser Tätigkeit selbst E w i g k e i t unter den M e n s c h e n zu verleihen, wenn er im äußersten Falle a u f g r u n d eines eklatanten M a n g e l s an geeigneten Seelen in seiner U m g e b u n g in S c h w e i g e n verfallen m ü ß t e und damit zugleich sein P h i l o s o p h e n t u m preisgäbe. D e r Begriff des Spieles n i m m t also eine zentrale Stellung in der platonischen P h i l o s o p h i e ein: Z e i g t sich in ihm doch in geradezu kondensierter F o r m die radikale m e t a p h y s i s c h e Struktur der platonischen D e n k u n g s a r t , die im letzten sowohl die begriffliche wie auch s a t z m ä ß i g e F a s s u n g des w a h r h a f t e n Seins unter H i n w e i s auf deren eigene u n a u f h e b b a r e S c h e i n h a f t i g k e i t verweigert. Der Philosoph n i m m t im innerweltlichen S p i e l z u s a m m e n h a n g , der im Verhältnis z u m übersinnlichen Sein gründet, welches allein partiell innerseelisch erschaut und in i m m e r n u r vorläufige S p r a c h g e b i l d e übertragen werden kann, und der folglich bloß den Status des Scheines beanspruchen kann, eine Sonderstellung ein: Er kann sich nämlich in a n g e m e s s e n e r W e i s e z u m W e l t g e s c h e h e n und damit auch g e m ä ß der Kluft zwischen M e n s c h e n und Göttern verhalten, d. i. spielend. Der P h i l o s o p h ist a u f g r u n d seiner seelischen und einsichtsmäßigen V e r f a ß t h e i t der eigentliche und seltene Spieler bzw. Mitspieler in der sinnlich b e s t i m m t e n Welt der

1 Allein diesen Aspekt betont Günter Figal: Im Spielraum des Schönen. Geliehene Rede nach Phaidros, in: ders., Das Untier und die Liebe. Sieben platonische Essays, Stuttgart 1991, 128-143, hier 142. 2 Vgl. Thomas A. Szlezäk, Lesen, 7Iff u. ö.

2. Spiel und Poiesis

75

Erscheinungen, der er selbst samt all seinen sprachlichen Äußerungen angehört und die er durch seine Weise zu spielen in einem nicht beendbaren Über-sich-hinaus zu transzendieren vermag und so die höchste dem Menschen mögliche Lebensform verwirklicht.

III. Spiel als Erkenntnisgrund: Zum Spielbegriff in Kants Kritik der Urteilskraft

Der Begriff des Spieles, genauer: der des „freien Spieles", gewinnt in der Kritik der Urteilskraft entscheidende Bedeutung für Kants Theorie des reinen ästhetischen Urteils. Konstituiert er doch das Erlebnis des Schönen, welches das Urteil der Form „Dies ist schön." reponiert. Dieses freie Spiel bringt Kant bei seiner Einführung im Paragraphen 9 der Kritik der Urteilskraft in enge Beziehung zum erkennenden Ausgriff des Menschen auf die Gegenstände der Welt: Es geht hier nämlich um die Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand, die in irgendeiner Weise spielen und sich dabei in demjenigen „subjektiven Verhältnis" befinden, das „zum Erkenntnis überhaupt schicklich()" ist, da „es eine jede bestimmte Erkenntnis ist, die doch immer auf jenem Verhältnis als subjektiver Bedingung beruht." (KU 29, S.132) 1 Obschon dabei die Grundstruktur aller Urteile überhaupt vorliegt 2 , da diese nach Kants allgemeiner Bestimmung nur „Vereinigung(en) von Vorstellungen in einem Bewußtsein" 3 darstellen, dienen die reinen Geschmacksurteile „zu gar keinem Erkenntnisse" (9, S.118). U m solches dann in der Form des logischen Urteils zu ermöglichen, muß das Grundverhältnis der Erkenntnisvermögen weiter qualifiziert werden. Dieser gewissermaßen graduelle Zusammenhang von ästhetischem und logischem Urteil zeigt sich in Kants auffälliger Betonung der Freiheit des Spieles. Die Auffälligkeit der Rede von einem freien Spiel besteht auf den ersten Blick darin, daß hier ein Pleonasmus vorzuliegen scheint. Kant bestätigt dies, wenn er in einer Reflexion notiert: „ein Zwangsspiel ist Wiederspruch" 4 . Möchte man Kants ostentativ wiederholten Ausdruck nicht schlicht als Pleonasmus

Stellenangaben in Klammern bezeichnen unter A n g a b e der Originalpaginierung stets e n t w e d e r die Kritik der reinen Vernunft [= KrV] oder die Kritik der Urteilskraft [= KU, A u f l a g e B] bzw. die Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft [= EE], die wie alle anderen publizierten W e r k e Kants zitiert werden nach: I m m a n u e l Kant, Werkausgabe [= W A ] (hg. v. Wilhelm Weischedel), F r a n k f u r t / M . 1974ff, auf die sich die nachgestellten Seitenangaben beziehen; kursiv gedruckte Passagen sind im Original stets gesperrt. Alle weiteren Schriften werden zitiert nach: Immanuel Kant, Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe [= AA], Berlin 1902ff. Die R e f l e x i o n e n aus dem N a c h l a ß und die Vorlesungen werden nur zur Verdeutlichung der Positionen aus d e m publizierten W e r k beigezogen. 2

Vgl. W i l h e l m Vossenkuhl, Schönheit als Symbol der Sittlichkeit. Über die gemeinsame Wurzel von Ethik und Ästhetik bei Kant, in: Philosophisches Jahrbuch 99 (1992), 91-104, hier 97. 3 Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, W A V, 171 (A 88). 4

Refl. 807, A A XV. 1 , 3 5 8 .

78

III. Spiel als Erkenntnisgrund: Zum Spielbegriff in Kants Kritik der Urteilskraft

verstehen, wird es nötig, „freies Spiel" und „Spiel" zu differenzieren. Diese Unterscheidung soll im folgenden im Blick von der Kritik der Urteilskraft auf die Kritik der reinen Vernunft versucht werden, in welch letzterer recht häufig Wendungen wie „ins Spiel setzen", „ins Spiel kommen" u. ä. begegnen, von denen bereits Paul Menzer bemerkt, daß sie „mehr als ein Bild" 1 seien. Auf diesen Hinweis scheint die Forschung kaum erkennbar reagiert zu haben und behandelt die Rede Kants von „Spiel" bei aller sonstigen Subtilität so, als sei sie ohne weiteres aus sich heraus verständlich. 2 Deswegen soll hier die grundlegende Funktion ein Stück weit aufgezeigt werden, die der Spielbegriff sowohl für den Selbst- wie auch den Weltbezug des Menschen in der theoretischen Philosophie Kants besitzt und solchermaßen indiziert, daß das dem Menschen eigene bloß diskursive Erkennen durch Begriffe von seinerseits begrifflich unfaßbaren Voraussetzungen abhängig ist3. Zu diesem Zweck soll die Differenz zwischen freiem Spiel und Spiel als Differenz zwischen der Struktur des ästhetischen Urteilens und des logischen Urteils erwiesen werden. Dies soll zunächst durch eine Erörterung des Spielbegriffes im Kontext von Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils geschehen. In einem zweiten Schritt soll dann vor diesem Hintergrund das Gefühl der Lust im reinen ästhetischen Urteil über das Naturschöne, das als Spiel „directe ein Gefühl der Beförderung des Lebens bei sich führt" (75, S.165), untersucht und anhand dieses Lehrstückes 4 im Vergleich zum Erkenntnisurteil die Konsequenzen des kantischen Spielbegriffes dargelegt werden.

1

Paul Menzer, Kants Ästhetik in ihrer Entwicklung, Berlin 1952, 81. Gerade weil dies so ist, muß im folgenden schon aus Mangel an unmittelbar einschlägigen Studien und insbesondere wegen der spezifischen, nicht auf Kant eingeschränkten Fragestellung vorliegender Arbeit auf eine ausführlichere kritische Würdigung der beigezogenen Literatur verzichtet werden. Eine Ausnahme macht hier Ingeborg Heidemann, Begriff, 125-216, von der ich die Wendung vom „werdenden Ganzen" übernehme und bisweilen als Synonym für „unbestimmte Ganzheit" gebrauche. Heidemanns These von einer strikten Disjunktion von Spiel und Erkenntnis (vgl. ebd., 139) hingegen scheint nach der im folgenden vorgelegten Interpretation revisionsbedürftig. 3 Vgl. Wolfgang Wieland, Die Erfahrung des Urteils. Warum Kant keine Ästhetik begründet hat, in: DVjs 6 4 ( 1 9 9 0 ) , 604-623, hier 622. 4 Jacques Derrida nennt es zurecht „plus nietzscheenne que Nietzsche ne l'aurait cru", La verite en peinture, Paris 1978, 117; s. dazu u. Kap. IV.2.a)ß) u. c)ß). 2

79

1. Spiel im reinen Geschmacksurteil

1. Spiel im reinen Geschmacksurteil Die beim reinen Geschmacksurteil miteinander in der Beziehung eines freien Spieles stehenden Erkenntnisvermögen sind Einbildungskraft und Verstand, und zwar insgenauere die „Einbildungskraft in ihrer Freiheit" und der ,,Verstand() mit seiner Gesetzmäßigkeit" (KU 146, S.217). Um zu einer Klärung dieser Beziehung zu gelangen, scheint es sinnvoll, die jeweiligen Leistungen der beiden beteiligten Erkenntnisvermögen zu untersuchen und dann zu erörtern, warum Kant dieses Verhältnis als freies Spiel bezeichnet. Dabei ist in Sonderheit die Freiheit dieses Spieles in den Blick zu fassen.

a) Das Spiel der Einbildungskraft

Worin also besteht die spezifische Leistung der Einbildungskraft im reinen ästhetischen Urteil und in welcher Weise wird sie erbracht? Nach einer allgemeinen Bestimmung aus der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ist die Einbildungskraft „ein Vermögen der Anschauungen auch ohne Gegenwart des Gegenstandes" 1 . Sie wirkt im Geschmacksurteil „produktiv und selbsttätig" und ist so nicht „den Assoziationsgesetzen unterworfen" (69, S.160), wie dies bei ihrer „reproduktiven" Funktion der Fall wäre, „welche eine vorher gehabte empirische Anschauung ins Gemüt zurückbringt" 2 . Die in Rede stehende produktive Einbildungskraft hingegen ist „ein Vermögen der ursprünglichen Darstellung des letzteren [sc. des abwesenden Gegenstandes] (exhibitio originaria), welche also der Erfahrung vorhergeht" 3 ; sie wirkt im reinen Geschmacksurteil „als Urheberin willkürlicher Formen möglicher Anschauungen" (ebd.). Die Weise der Tätigkeit der Einbildungskraft nennt Kant Spielen; der Zustand, in dem sie sich dabei befindet, begreift er als Freiheit. Wie ist diese Tätigkeitsweise der produktiven Einbildungskraft näherhin zu bestimmen? Obzwar Kant die Einbildungskraft als produktives Vermögen charakterisiert, kann sie doch nicht als „ s c h ö p f e r i s c h " gelten, da sie „nicht vermögend (ist), eine Sinnesvorstellung, die vorher unserem Sinnesvermögen nie gegeben war, hervorzubringen" 4 . Die dem Verstandesbereich angehörige Einbildungskraft (vgl. KrV Β 153, S.150) muß also auch in ihrer produktiven Funktion auf „vermittelst der Sinne" (KU 65, S.158) gegebenen Stoff, d. h. Mannigfaltiges zuückgreifen 5 , um überhaupt tätig zu werden. Produktiv ist sie allein in der Herstellung der

1

Anthropologie

2

Ebd. Ebd. Ebd., Β 69/A 68, 466.

3 4 5

in pragmatischer

Vgl. ebd., Β 70/A 69, 468.

Hinsicht,

Β 68/A 67, W A XII, 466.

80

III. Spiel als Erkenntnisgrund: Z u m Spielbegriff in Kants Kritik der

Urteilskraft

reinen Formen der Anschauung, d. h. R a u m und Zeit. 1 Die Einbildungskraft wird somit im Zusammenhang des reinen Geschmacksurteils als „Vermögen der Anschauungen a priori" (XLIV, S.100) thematisch, als welches sie sich „nur die Form ihres Gegenstandes (die raumzeitliche Form) (schafft); den Stoff, den sinnlichen Gehalt, muß sie dadurch bekommen, daß sie einen einmal dem Sinn gegebenen Inhalt reproduziert." 2 Da die produktive Einbildungskraft gewissermaßen auf der reproduktiven aufruht, verbleiben die hervorgebrachten Formen von Raum und Zeit auch nicht in ihrer bloßen Leere, sondern können sich auf ein sinnlich gegebenes Mannigfaltiges beziehen, sind also Formen von etwas. Insofern spielt die Einbildungskraft hier eher weniger „an der vorgestellten Form" 3 , sondern vielmehr in der Formung der gegebenen Empfindungen. Es ist festzuhalten, daß die Rede vom Spiel als Tätigkeit der produktiven Einbildungskraft genau die Hervorbringung jener Bedingungen all' unserer Wahrnehmungen als der reinen Anschauung trifft.

α ) D i e S y n o p s i s der p r o d u k t i v e n E i n b i l d u n g s k r a f t

Vor diesem Hintergrund gilt es nun zu beleuchten, in welcher Weise diese spielende Einbildungskraft auf die durch die Sinnlichkeit gegebenen Empfindungen wirkt. Allgemein gesprochen leistet die Einbildungskraft die „Zusammensetzung des Mannigfaltigen" (65, S.158) der Sinnlichkeit, indem sie diesem Form verleiht. Die Form des Mannigfaltigen ist beim reinen Geschmacksurteil das Ergebnis des Spieles der Einbildungskraft. Allein durch diese Form gefällt die Vorstellung des schönen Gegenstandes (vgl. 39ff, S.139ff). Bereits die spielende produktive Einbildungskraft generiert in der reinen Anschauung eine „Verbindung verschiedener Vorstellungen" (40, S.140) durch die von ihr hergestellte raumzeitliche Form. Diese Form, die Kant wiederum als „das regelmäßige Spiel der Eindrücke" (ebd.) bezeichnet so daß auch das Resultat der spielenden Tätigkeit wiederum als Spiel im Sinne von Form charakterisiert werden kann wird nicht gedacht oder erkannt, sondern in irgendeiner anderen Weise bemerkt oder wahrgenommen. Es geht dabei demnach um ein aus Anschauungen formiertes Gebilde, das noch unterhalb der Ebene des diskursiven Bewußtseins bzw. dieser vorgelagert bleibt 4 und dennoch eine Art von Ganzheit darstellt, die - wie dies Martin Heidegger ausdrückt - in der reinen Anschauung nur „erblickt" 5 wird. Es handelt sich um eine

Ich beziehe mich in diesem Z u s a m m e n h a n g auf die detaillierte Analyse von Beatrice L o n g u e n e s s e , Kant et le pouvoir de juger. Sensibilite et discursivite dans l'„Analytique transcendentale " de la „ Critique de la raison pure", Paris 1993, insb. 219-253. 2 John Sallis, Die Krisis der Vernunft. Metaphysik und das Spiel der Einbildungskraft (aus d e m Amerik. v. Gisela Shaw), H a m b u r g 1983, 148f. 3 A n d r e a Marlen Esser, Kunst als Symbol. Die Struktur ästhetischer Reflexion in Kants Theorie des Schönen, M ü n c h e n 1997, 163. 4 A n d r e a Esser setzt o f f e n b a r schon auf dieser Ebene eine b e w u ß t e Tätigkeit an, w e n n sie schreibt, daß die „qualitativen, ästhetischen Werte einer V o r l a g e " - also wohl zunächst die A n s c h a u u n g e n , o b w o h l dies nicht recht deutlich wird, da der in Anschlag gebrachte Begriff des Wertes nicht eigens geklärt wird - „den b e w u ß t e n Vollzug der freien Einbildung im Sinne der ästhetischen Kontemplation v o r a u s ( s e t z e n ) " (Kunst, 165). Ein ästhetisches Erlebnis würde dann wohl willentlich nicht nur anstrebbar, sondern auch durch diesen Vorsatz erreichbar, was die kantische A u f f a s s u n g zu verfehlen scheint. S. u. Kap. III.l.c)ß). 5 Vgl. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, F r a n k f u r t / M . 5 1 9 9 1 , 142.

1. Spiel im reinen Geschmacksurteil

81

Konfiguration von Anschauungen, die nicht im denkenden oder erkennenden Bewußtsein eigens festgestellt wird, obzwar sie reflektierend bemerkt wird und durchaus, schlicht insofern sie Vorstellung ist, vom „Ich denke" begleitet werden kann: Das bloße Vorliegen von etwas schließt noch nicht dessen Erkenntnis ein. Die Tätigkeit der Einbildungskraft „may involve synthesis or combination, it does not involve the representation of synthesis or combination" 1 . Dieser Befund widerspricht nicht Kants kategorischer Festlegung aus der zweiten Fassung der transzendentalen Deduktion, daß alle Verbindung eine Synthesis als Handlung des Verstandes impliziere. Die Verbindung als „Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen" (KrV Β 130f, S.135) ist vielmehr insofern synthetisch und verstandesmäßig, als daß die „Vorstellung dieser Einheit (...) zur Vorstellung des Mannigfaltigen hinzukommt" (B 131, S.135). Dabei kommt es allerdings „allein" „auf die Synthesis dieses (möglichen) Bewußtseins" (ebd., Anm.) an, so daß die begriffliche Bestimmung einer Synthesis mit ihrer Bewußtheit zusammenfällt 2 . Das Spiel der produktiven Einbildungskraft geschieht j e d o c h vorbewußt und gelangt erst in der Reflexion zu Bewußtsein (vgl. K U 40, S.140), worauf später einzugehen sein wird. Dazu kommt die eigentümliche Beschaffenheit der durch die spielende Einbildungskraft hervorgebrachten Form selbst, die sich der synthetischen Verbindungsdefinition aus der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft zu entziehen scheint. Die formale Einheit - ich spreche dabei im folgenden von „Ganzheit", um Mißverständlichkeiten zu vermeiden - unter den Anschauungen ist nämlich nicht in bestimmter, etwa mathematischer Weise fixiert und mithin statisch. Diese Form ist vielmehr selbst in sich durch Bewegtheit - also dynamisch - charakterisiert. Die im reinen Geschmacksurteil dem Mannigfaltigen gegebenen Formen widerstreben von sich aus der Zusammen-Stellung bzw. -Setzung durch das synthetisch feststellende Bewußtsein. Die ihnen angemessene Weise der Ganzheitsstiftung ist die der Synopsis 3 , vermittels welcher das „Mannigfaltige a priori durch den Sinn" (KrV A 95, Anm., S.134) zusammengeschaut und damit zugleich irgendwie registriert wird. Einer jeden solchen Synopsis „korrespondiert" (A 97, S. 161) zwar eine Synthesis, letztere ist aber nicht mit ersterer identisch, sondern nur dann von Interesse, wenn „so etwas als Erkenntnis ist, entspringen" soll, „welche ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen ist" (ebd.): Somit ist weiterhin die Angabe der Funktion der Synthesis als Vereinigung von Vorstellungen festzuhalten, jedoch mit Kant dahingehend zu spezifizieren, daß dabei „nicht irgendwie" 4 und ganz allgemein Vorstellungen vereinigt werden, sondern dies eben genau „im Objekt" (B 130, S.135) geschieht. Die Synopsis, deren unbestimmte Ganzheit durch die reinen Formen der Anschauung gegeben wird, liefert als solche noch keine Erkenntnis, sie taugt nicht einmal unmittelbar dazu, obwohl sie aller Erkenntnis vorangeht. Denn was hierin vorgestellt bzw. in noch zu klärender Weise vorbewußt bzw. nicht-bewußt bemerkt wird, ist in strengem Sinne kein Gegenstand, da ja erst der Verstand, sofern er den Zweck der Erkenntnis verfolgt, durch die A n w e n d u n g der

1

J. Michael Y o u n g , Kant's View of Imagination, in: Kant-Studien 79 (1988), 140-164, hier 154. Vgl. Robert Paul Wolff, Kant's Theory of Mental Activity. A Commentary on the Transcendental Analytic of the „Critique of Pure Reason", Gloucester/Mass. 1973, 75, A n m . 3 Vgl. Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (Vorl. W S 1927/28, hg. v. Ingtraud Görland), GA Bd. 25, F r a n k f u r t / M . 3 1995, 134. 4 H a n s g e o r g Hoppe, Synthesis bei Kant. Das Problem der Verbindung von Vorstellungen und ihrer Gegenstandsbeziehung in der „Kritik der reinen Vernunft", Berlin/New York 1983, 118. 2

82

III. Spiel als Erkenntnisgrund: Z u m Spielbegriff in Kants Kritik der

Urteilskraft

Kategorien einen Gegenstand konstituiert 1 , so daß erst diese das sinnliche Material als ein Objekt auffassen bzw. bestimmen 2 . Die „Gegenstände der Sinne", auf die sich in unserem Fall der Formbegriff bezieht, können nicht unmittelbar Gegenstände des erkennenden Verstandes sein, so daß auch ihr Erscheinen noch nicht gleichbedeutend mit ihrer Erfahrung sein muß, die als empirische Erkenntnis immer „mit dem Begriffe vom Gegenstande verbunden" 3 ist. Gerade dies aber ist im reinen Geschmacksurteil nicht der Fall, in dem folglich auch nicht die Erfahrung eines Gegenstandes mitgeteilt wird, so daß im Sinne Kants die Rede von „ästhetischen Gegenständen" als mißverständlich vermieden werden sollte. Die spielende produktive Einbildungskraft, die nicht schöpferisch genannt werden kann, weil sie „den Stoff zu ihren Bildungen von den Sinnen hernehmen" 4 muß, bringt in der reinen Anschauung nur eine verstandesmäßig unbestimmte Ganzheit, nämlich die Synopsis eines Mannigfaltigen hervor. Dies widerspricht nicht den Lehren von R a u m und Zeit als apriorischen Formen der Anschauung aus der transzendentalen Ästhetik, die die produktive Einbildungskraft allein hervorbringt: Kant betont j a deren strikte Rückgebundenheit an den sinnlich vermittelten Stoff, die darin besteht, daß ohne diesen die Einbildungskraft gar nie produktiv tätig werden könnte. Deren Produktion eröffnet ein unbestimmtes Ganzes „bloße(r) Verhältnisvorstellungen" (B 67, S.92) in R a u m und Zeit, zu denen die von der Anschauung durch ihre Passivität geschiedenen Empfindungen 5 formiert werden. Diese mit der Kritik der reinen Vernunft konforme Trennung von Anschauung und Empfindung ist zu erinnern, da das reine Geschmacksurteil j a das Wohlgefallen an einer anschauenden Tätigkeit 6 und nicht den bloß leidenden Genuß einer angenehmen Empfindung aussagt. Aus der Perspektive der produktiven Einbildungskraft war diese formierende Tätigkeit als Synopsis gekennzeichnet worden, um sowohl deren vorbewußten Status als „bloße Wirkung (...) einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele" (Β 103/A 78, S. 117) als auch ihre Distanz zur Erkenntnis festzuhalten. Die produktive Einbildungskraft hat es solchermaßen in ihrem Spiel nur mit den „Gegenständen der Sinne" zu tun, die noch gar keine „Gegenstände" im obigen Sinne sind, denen sie ihre Formen verleiht. Kant charakterisiert diese näher: „Alle Form der Gegenstände der Sinne (der äußern sowohl als mittelbar auch des innern) ist entweder Gestalt, oder Spiel: im letztern Falle entweder Spiel der Gestalten (im Räume, die Mimik und der Tanz); oder bloßes Spiel der Empfindungen (in der Zeit)." (KU 42, S. 141) Die Synopsis des Mannigfaltigen der reinen Anschauung durch die produktive Einbildungskraft gibt die unbestimmte Ganzheit der Gegenstände der Sinne, die zwar Erscheinungen aber damit noch keine Gegenstände im Vollsinne von Objekten sind: Der durch die reine Anschauung gewährte Anblick ist „im Kantischen Sinne ungegenständlich" 7 . Diese durch die Sinneswahrnehmung angeregte und in der reinen Anschauung zusammengeschaute gänzlich unbestimmte Erscheinung ist dasjenige, was Kant in der angeführten Stelle „Spiel" nennt. „Denn in 1 Vgl. Günther Patzig, Immanuel Kant: Wie sind synthetische (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen: Philosophie der 2 Vgl. Günter Zöller, Theoretische Gegenstandsbeziehung bei Termini „objektive Realität" und „objektive Gültigkeit" in der York 1984, 205f. 3 4

Urteile α priori möglich?, in: Josef Speck Neuzeit II, Göttingen 3 1 9 8 8 , 9-70, hier 29. Kant. Zur systematischen Bedeutung der „Kritik der reinen Vernunft", B e r l i n / N e w

Anthropologie, Β 68/A 67, 466. Ebd., Β 70/ A 69, 468.

5

Vgl. Heribert Boeder, Topologie, 456. Vgl. Dirk Effertz, Kants Metaphysik: Welt und Freiheit. der Kritik der Urteilskraft, F r e i b u r g / M ü n c h e n 1994, 119. 7 Martin Heidegger, Kant, 145. 6

Zur Transformation

des Systems

der Ideen in

83

1. Spiel im reinen Geschmacksurteil

der E r s c h e i n u n g ist e n t w e d e r ein obiect: dieses wird iederzeit im r ä u m e gesetzt; o d e r lediglich eine E m p f i n d u n g , aber nach Verhältnissen der Zeit; das erste heißt d i e Gestalt, das z w e y t e das Spiel" 1 . Der Begriff der Gestalt involviert also bereits die Setzung eines O b j e k t e s im R a u m und d a m i t auch die synthetische Konstitution eines bestimmten G e g e n s t a n d e s . Solches Uberstiege aber die in R e d e stehende Tätigkeit der E i n b i l d u n g s k r a f t in ihrem p r o d u k t i v e n A s p e k t , sofern er als Spiel bezeichnet wird. D i e produktive E i n b i l d u n g s k r a f t bringt in ihrem Spiel die reine F o r m eines G e g e n s t a n d e s der Sinne hervor, die Kant Spiel nennt. D a m i t ist freilich noch nichts über die mit d e m selben A u s d r u c k b e n a n n t e Tätigkeitsweise der E i n b i l d u n g s k r a f t gesagt. D i e s kann erst nach einer B e l e u c h t u n g der durch sie hervorgebrachten F o r m geleistet w e r d e n .

ß) S p i e l als F o r m

Kant unterteilt diese F o r m des Spieles w i e d e r u m in das „Spiel der Gestalten (im R ä u m e , die M i m i k und der Tanz); oder bloßes Spiel der E m p f i n d u n g e n (in der Z e i t ) " (ebd.). Er illustriert im f o l g e n d e n Satz auch den zweiten Teil der Disjunktion, das Spiel der E m p f i n d u n g e n in der Zeit, mit Beispielen aus d e m Bereich der schönen K ü n s t e v e r b l ü f f e n d e r W e i s e : „Der Reiz

und dies in auf den ersten Blick

der Farben, oder a n g e n e h m e r T ö n e des Instruments, kann

h i n z u k o m m e n , aber die Zeichnung,

in der ersten und die K o m p o s i t i o n in d e m letzten machen

den eigentlichen G e g e n s t a n d des reinen Geschmacksurteils a u s " (ebd.). D a s V e r b l ü f f e n d e an diesen Beispielen ist zunächst, daß s o w o h l die einer Farbigkeit unterlegte Z e i c h n u n g als auch die e i n e m T ö n e n unterlegte K o m p o s i t i o n der F o r m des „bloßen Spieles der E m p f i n d u n g e n (in der Zeit)" z u g e o r d n e t werden, j a daß beide - in Sonderheit die Z e i c h n u n g , d i e man d o c h eher auf der Seite des gestalteten

R a u m e s erwarten

würde -

produktiven

verortet

d.

Einbildungskraft

werden,

h.

in

überhaupt dem

im freien Spiel

Bereich,

der

vor

der aller

Syntheseleistung des Verstandes liegt. D e n n es „ist die Zeit die B e d i n g u n g des Spiels der E m p f i n d u n g e n , der R a u m aber das Spiel der Gestalten" 2 . G e r a d e in der S c h a f f u n g u n b e s t i m m t e r und doch geordneter F o r m e n in der Sukzession, dies m ö c h t e ich im f o l g e n d e n zeigen, scheint die B e s t i m m u n g der spielenden Tätigkeit der produktiven E i n b i l d u n g s k r a f t im reinen Geschmacksurteil zu liegen. Z u v o r m u ß j e d o c h noch kurz auf die erste F o r m des Spieles als F o r m der G e g e n s t ä n d e der Sinne e i n g e g a n g e n werden, nämlich auf das „Spiel der Gestalten im Räume",

u m die w o m ö g l i c h

nicht auf den ersten Blick e i n l e u c h t e n d e H o m o g e n i t ä t

des

kantischen G e b r a u c h e s des Spielbegriffes zu klären. D i e h i e r f ü r gegebenen Beispiele aus d e m Bereich des K u n s t s c h ö n e n , „ M i m i k " - d. h. P a n t o m i m e - und „Tanz", sind j e d o c h „nicht speziell auf die W e l t des S c h ö n e n und der Künste, sondern ganz allgemein auf den Bereich von W a h r n e h m u n g , A n s c h a u u n g , E m p f i n d u n g und G e f ü h l , kurz auf den Bereich von Sinnlichkeit ü b e r h a u p t " 3 zu beziehen. B e h a n d e l t doch die Kritik

der

Urteilskraft

das P h ä n o m e n des Schönen „bloß in transzendentaler A b s i c h t " (IX,

S.76). Die Beispiele selbst dienen lediglich der A n n ä h e r u n g an ein begrifflich nicht vollständig b e s t i m m b a r e s Prinzip, das seinerseits nur über diese reflektierend und letztlich o h n e G e w ä h r

1 2 3

Refl. 655, AA XV. 1 , 2 8 9 . Metaphysik L,, A A XXVIII, 179. W o l f g a n g Wieland, Erfahrung, 609.

84

III. Spiel als Erkenntnisgrund: Zum Spielbegriff in Kants Kritik der

Urteilskraft

erschlossen werden kann 1 , da wir uns ja im vorbewußten Bereich der produktiven Einbildungskraft befinden. Obgleich oben der Begriff der Gestalt in seiner Gegensetzung zum Spiel so bestimmt worden war, daß er schon die synthetische Setzung eines bestimmten Gegenstandes enthielt, geht er nun in die eine Teilbestimmung seines Gegenbegriffes ein. Das Spiel der Gestalten darf somit selbst keine Gestalt im genannten objektiven Sinne ergeben, sondern muß vielmehr im Bemerken einer unbestimmten Ganzheit verbleiben. Dies ist möglich, weil es - wie die nicht-statuarischen Beispiele zeigen - um ein „Gefolge" 2 von Bewegung bzw. Veränderung geht, die nicht in der Erkenntnis gefaßt wird. Die unbestimmte Ganzheit der Anschauung bezieht sich also auf die Sukzession. Kant bemerkt: „Alle Gegenstände können sinnlich oder anschauend erkannt werden nur unter einer Gestalt. Andere Erscheinungen stellen gar nicht gegenstände, sondern Veränderungen vor. Eine anschauende Form von einer Reihenfolge von Gestalten von Menschen ist die Pantomime, von einer folge der Bewegungen nach Abtheilung der Zeit der Tantz" 3 . Was im Spiel der Gestalten diese sowohl von bestimmter Gegenständlichkeit als auch Erkenntnis trennt, ist offenbar ihre Bewegtheit. Diese als Bewegung mehrerer Gestalten bzw. einer einzelnen Gestalt im Raum kann nur so beschaffen sein, daß sie nicht in einem begrifflich bestimmten Ziel terminiert. Dies wäre dann nämlich eine im Objekt eindeutig festgelegte Gestalt. Der Spielcharakter der Form der Sinnesgegenstände bleibt somit erhalten, da - obschon die sich bewegenden Gestalten als solche bestimmt werden können - die einzelnen beteiligten Gestalten als diese oder jene nicht eigens in den Blick genommen werden. Von deren jeweiliger Bestimmung wird vielmehr zugunsten ihres Insgesamt als unbestimmtes Ganzes in der Zeit abgesehen. Diesem Absehen kann freilich die Bestimmung der Gestalten als dieser oder jener voraufgehen, so daß die Form des Spieles nur mittelbar vorliegt, da sie auf der Gegebenheit von Gestalten aufruht: Es gäbe sonst nichts, was die Synopsis zusammenschauen könnte. Auf dieses Verhältnis scheint auch die von Kant ab der zweiten Auflage der Kritik der Urteilskraft eingefügte Ergänzung „bloßes" Spiel für das vom Spiel der Gestalten unterschiedene Spiel der Empfindungen hinzuweisen, die wohl nicht pejorativ wie sonst, sondern eher im Sinne von „rein" bzw. „einfach" zu lesen ist. Kant sucht letzteres analog zum Spiel der Gestalten anhand zweier Beispiele aus dem Bereich der schönen Künste zu verdeutlichen: „Musik und Farbenkunst" als „künstliche(s) Spiel der Empfindungen des Gehörs und der des Gesichts" (211, S.262). Da ein Geschmacksurteil „nur sofern rein (ist), als kein bloß empirisches Wohlgefallen dem Bestimmungsgrunde desselben beigemischt wird" (39, S.139), kann bei der Begegnung mit entsprechenden Werken allein deren „Komposition" bzw. „Zeichnung" der ,,eigentliche() Gegenstand des reinen Geschmacksurteils" (42, S.141) sein. Die durch die produktive Einbildungskraft in ihrem Spiel hervorgebrachte Form erfährt im reinen ästhetischen Urteil eine weitere Bestimmung: Das Spiel der Empfindungen in der Zeit weist als formale Verhältnisvorstellung eine Struktur auf, die dem inneren Sinn als Zeichnung oder Komposition erscheint. Die in der Synopsis der reinen Anschauung bemerkte Ganzheit weist offenbar bereits eine gewisse Ordnung auf, die nicht auf der Stufe der bewußten Gegenstandsvorstellung situiert ist. Und es scheint zumindest bislang so, als sei genau diese nur synoptisch erfaßte Geordnetheit der Anschauungen in der Erscheinung das Kriterium, welches das Spiel der produktiven Einbildungskraft von anderer Tätigkeit Vgl. Ingeborg H e i d e m a n n , Die Funktion des Beispieles in der kritischen Metaphysik. FS Heinz Heimsoeth, Berlin 1966, 21-38, insb. 36f. 2 Vgl. Ingeborg H e i d e m a n n , Begriff, 160. 3 R e n . 683, A A XV. 1 , 3 0 4 .

Philosophie,

in: Kritik

und

85

1. Spiel im reinen Geschmacksurteil

scheidet. Die Überlegung, daß eine Art von Ordnung in nichtbegrifflicher Weise realisiert werde, wird damit sinnvoll. Zu ihrer näheren Klärung greife ich zunächst auf den 51. Paragraphen der Kritik der

Urteils-

kraft „Von der Einteilung der schönen Künste" zurück. Er enthält insbesondere im Blick auf den hier thematisierten Spielbegriff im Zusammenhang der Unterscheidung von Farben- und Tonkunst Erwägungen von solcher Allgemeinheit, daß der enge Rahmen des bloßen Kunstschönen überschritten wird, der für vorliegende Untersuchung ohnehin irrelevant ist. Kant behandelt hier die nicht „mit Gewißheit" lösbare Frage, „ob eine Farbe oder ein Ton (Klang) bloß angenehme Empfindungen, oder an sich schon ein schönes Spiel von Empfindungen sei, und als ein solches ein Wohlgefallen an der Form in der ästhetischen Beurteilung bei sich führe" (212, S.263), mithin also ob Musik und Farbenkunst reine ästhetische Urteile zulassen, d. h. ob Werke beider Künste

überhaupt

schön

genannt

werden

können.

Dies

ist

aus

der

Perspektive

der

Einbildungskraft dann der Fall, wenn die beurteilten Töne und Farben als Gegenstände der Sinne in der Anschauung die Form des Spieles aufweisen. Kants Kriterium dafür ist wiederum in einer Reflexion aus dem Nachlaß skizziert: „Das Spiel der Gestalten und der Empfindungen erfodert erstlich gleiche Abtheilungen der Zeit (Einförmigkeit im Zeitmaaße) oder den Tact, 2. eine begreifliche Proportion, die aus den Verhältnissen der Theilveränderungen

gezogen

werden." 1 Genau an dieser Zeiteinteilung entscheidet sich die Frage, ob in der Wahrnehmung von Tönen oder Farben ein ästhetisches Urteil über das Angenehme oder das Schöne vollzogen wird. V o r dem Hintergrund der Eulerschen Theorie des Lichtes und des Schalles 2 als hochfrequentieller Schwingungen des Äthers bzw. der Luft, die für Kant „die einzigen Empfindungen (sind), welche nicht bloß Sinnengefühl, sondern auch Reflexion über die Form dieser Modifikationen der Sinne verstatten" (172, S.235), stellt sich das Problem wie folgt dar: „Wenn man die Schnelligkeit der Licht- oder, in der zweiten Art, der Luftbebungen, die alles unser Vermögen, die Proportion der Zeiteinteilung durch dieselbe unmittelbar bei der Wahrnehmung zu beurteilen, wahrscheinlicherweise bei weitem übertrifft, bedenkt: so sollte man glauben, nur die Wirkung

dieser Zitterungen auf die elastischen Teile unsers Körpers werde empfunden, die

Zeiteinteilung

durch dieselbe aber nicht bemerkt und in Beurteilung gezogen, mithin mit Farben

und Tönen nur Annehmlichkeit, nicht Schönheit ihrer Komposition, verbunden." ( 2 1 2 , S . 2 6 3 )

Die Form, die im reinen Geschmacksurteil gefällt, entspricht einer Zeiteinteilung, nämlich der des reinen Spieles der Empfindungen in der Zeit. Dieses ist selbst keine bloße Empfindung, sondern

eine

unbestimmte

Ganzheit

„vieler Empfindungen"

(213,

S.264)

in der

reinen

Anschauung. Sie wird durch die produktive Einbildungskraft hervorgebracht und „durch die R e f l e x i o n " „bemerkt" bzw. „wahrgenommen" (40, S . 1 4 0 ) , auf welch letzteres noch einzugehen sein wird. Diese durch die Synopsis der produktiven Einbildungskraft zusammengeschaute Ganzheit ist eine „Zusammenordnung der Empfindungen nach Verhältnis der Zeit" und bildet die „Form der [Empfindungen] Erscheinung ohne Vorstellung eines Gegenstandes" 3 . Im Falle des Schönen ist 1

Refl. 6 8 5 , AA X V . 1 , 3 0 5 .

2

Ich beziehe mich auf: Theodore E. Uehling, Ir., The Notion of Form

Judgment",

Kant, in: Herman Parret (Hg.), Kants Ästhetik. 1 9 9 8 , 5 3 0 - 5 4 4 , insb. 536ff. 3

in Kant's

The Hague/Paris 1971, 24ff. Vgl. auch Claudio L a R o c c a , Forme

Refl. 6 8 3 , AA X V . 1 , 3 0 4 .

Kant's Aesthetics.

L'esthetique

„Critique

of

Aesthetic

et signe dans l'esthetique

de

de Kant, Berlin/New Y o r k

86

III. Spiel als Erkenntnisgrund: Z u m Spielbegriff in Kants Kritik der

Urteilskraft

sie Zeichnung bzw. Komposition. Dabei verfährt die Einbildungskraft offensichtlich nicht konstruierend wie bei den Gegenständen der Mathematik, sondern koordinierend 1 . Daß bereits die produktive Einbildungskraft in ihrer spielenden Tätigkeit eine geordnete Ganzheit in der Sukzession, nämlich den „caractere indetermine des formes" 2 von Zeichnung oder Komposition darbietet, wovon die Schönheit von Ton- und Farbenkunst gänzlich abhängt, sucht Kant mit einigen Indizien zu belegen, da in den Bereich der Einbildungskraft, der vor allem Begriff liegt, nur rückschließend gedrungen werden kann. Kants Beobachtungen sprechen nach seiner Auffassung dafür, daß die „Affektibilität" (211, S.263) für Farben- bzw. Tonkunst nicht in der Weise einer schon hinreichenden Bedingung von der schlichten „Empfänglichkeit für Eindrücke" (ebd.) durch die entsprechenden Sinne abhängt. Sie geht vielmehr auf eine „besondere" mit der Sinnesleistung ,,verbundene()" - also nicht mit ihr identische - „Empfindung" zurück, die von dem „Gebrauch" der Sinne „zum Erkenntnis der Objekte" (ebd.) geschieden ist. Hierfür führt Kant nun Indizien an, die sich in zwei Gruppen unterteilen lassen: Auf der einen Seite verweist er darauf, daß auch bei an sich intakter Sinnesfunktion nicht immer bunte von nichtbunten Farben bzw. Töne von bloßen Geräuschen unterschieden werden können 3 bzw. - falls dies noch möglich ist - nicht über deren bloße Intensität hinaus auch noch deren qualitative Verschiedenheit bemerkt wird, etwa rot von grün oder a' von cis'. Auf der anderen Seite zieht Kant auch die Schwingungsverhältnisse selbst in Betracht: Z u m einen lassen sich deren Proportionen mathematisch ausdrücken, zum anderen ist - so Kant - die Zahl der verschiedenen Qualitäten „auf der Farben- oder Tonleiter (...) für begreifliche" - nicht begriffliche - „Unterschiede bestimmt" (213, S.263f). Dies heißt doch wohl, daß die herrschenden Schwingungsverhältnisse, die Kant als Einteilungen der Zeit versteht, nicht nur abstrakt darstellbar sind - wie etwa der Ton a' eine Frequenz von 4 4 0 Hertz bezeichnet - und in ein mathematisches System gebracht werden können, sondern auch daß sie von sich aus eine solche Ordnung darbieten. Diese erschließt sich in der Form des Spieles der Synopsis der produktiven Einbildungskraft als unbestimmte Ganzheit von Zeichnung oder Komposition, welche auf dieser Ebene allein koordinierte Verhältnisse der Zeit darstellen. Das Spiel der produktiven Einbildungskraft besteht in der Konstitution des „regelmäßige(n) Spiel(es) der Eindrücke (mithin d(er) Form in der Verbindung verschiedener Vorstellungen)" (40, S.140) als eines unbestimmten und doch geordneten Ganzen. Dieses Ganze entspricht dem Gegebenen, das die Tätigkeit der Einbildungskraft anregt, insofern, als dabei die produktive Einbildungskraft „must act passively" 4 , indem sie zum einen das regelmäßige Spiel der Eindrücke zusammenschaut als das, was es ist, nämlich ein unbestimmtes Ganzes, und nicht zu bestimmten Konstruktionsanweisungen in Raum und Zeit gelangt 5 , und zum anderen zwar nicht spontan, sondern auf eine Anregung hin eine Tätigkeit aufnimmt, die von sich aus zu keinem Ende kommt. In das Spiel der Eindrücke wird nicht eingegriffen, da es stets als ein Ganzes zusammengesehen wird, ohne aber mit allgemeinen Bestimmungen zusammengebracht zu werden. Nur in dieser ihrer spielenden Tätigkeit entwirft die produktive Einbildungskraft Formen, die nicht in das Spiel der Eindrücke zu dem Zwecke eingreifen, es für den Verstand, oder allgemein:

1

Vgl. Refl. 683, AA XV. 1 , 3 0 5 . Jules Vuillemin, La conception kantienne des beaux-arts comme exemple de theorie intuitionniste, in: ders., L'intuitionnisme kanlien, Paris 1994, 203-233, hier 216. 3 Vgl. Anthropologie, Β 6 9 f / A 68f, 467. 4 Robert L. Z i m m e r m a n n , Kant: The Aesthetic Judgment, in: Robert Paul W o l f f (Hg.), Kant. A Collection of Critical Essays, L o n d o n / M e l b o u r n e 1968, 385-406, hier 385. 5 Vgl. Donald W. C r a w f o r d , Kant's Aesthetic Theory, Madison 1974, 89f. 2

1. Spiel im reinen Geschmacksurteil

87

eine Erkenntnis, zurechtzumachen. Sie verweilt vielmehr in der Synopsis einer unbestimmten Ganzheit, die aufgrund ihrer Form selbst von sich aus ihre Bestimmung verweigert. Die als Spiel bezeichnete Tätigkeit der produktiven Einbildungskraft terminiert also nicht in einem bestimmten Ergebnis, sondern erhält sich in dieser. Damit läßt sich nun die Frage angehen, worin die Freiheit des Spieles der produktiven Einbildungskraft im reinen Geschmacksurteil zu sehen ist.

γ ) Die Freiheit der spielenden Einbildungskraft

Diese Freiheit besteht nach Kant „darin, daß die Einbildungskraft ohne Begriff schematisiert" (146, S.217). Zuvorderst ist davon auszugehen, daß es hier um die reine Tätigkeit der Einbildungskraft geht und nicht um ein dadurch mögliches oder konkretes Ergebnis, d. h. ein herausgebildetes Schema, das selbst der Einbildungskraft zugehört. Kant betont gerade diesen Punkt 1 . Durch die Betonung des Tätigkeitsaspektes des Schematisierens erhalten wir bereits auf der Stufe der Einbildungskraft einen ersten Hinweis darauf, daß es im reinen ästhetischen Urteil nicht zu einem Gebrauch der Kategorien kommt 2 . Ist doch die Funktion der Schemata die Ermöglichung der ,.Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen" (KrV Β 176/A 137, S.187). Ohne das Schema muß es bei ihrem bloß logischen Gebrauch als Urteilsfunktionen bleiben. Freilich scheint es, als stünde die Untersuchung nun vor einer erheblichen Schwierigkeit, nennt Kant doch den Schematismus „eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele" (B 180/A 141, S.189). Zur Erörterung unserer Frage nach der Freiheit der spielenden Einbildungskraft reicht es jedoch wohl zu, von ihren Resultaten auf ihre dazu erforderliche Tätigkeit zurückzuschließen. Der Schematismus der reinen Verstandesbegriffe bringt nicht nur die „reine Synthesis" gemäß der Kategorien hervor, sondern auch „Bilder" und Schemata „sinnlicher Begriffe" (B 181/A 141f, S.190). Erstere beziehen sich auf empirische Begriffe 3 und erfordern die Einbildungskraft als nach den Assoziationsgesetzen verfahrendes empirisches Vermögen, scheiden also als Kandidaten für die Zuordnung zur spielenden produktiven Einbildungskraft aus. Letztere aber beschreibt Kant als „ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wornach die Bilder allererst möglich werden, die aber" um Erkenntnis zu gewinnen - „mit dem Begriffe nur immer vermittelst des Schemas, welches sie bezeichnen, verknüpft werden müssen, und an sich demselben nicht völlig kongruieren" (B 181/A 142, S.190). Die Schemata der sinnlichen Begriffe, als deren Beispiel Kant die „Figuren im Räume" (ebd.) nennt, sind damit im Bereich der reinen Anschauung zu verorten 4 , dem ja auch die dargestellten Spielformen Komposition und Zeichnung angehören.

Vgl. dazu Andreas Heinrich Trebels, Einbildungskraft und Spiet. Untersuchungen zur Kantischen Ästhetik, Bonn 1967, 45. 2 Vgl. auch T h e o d o r e E. Uehling, Notion, 38. 3 Vgl. Rudolf A. Makkreel, Einbildungskraft und Interpretation. Die hermeneutische Tragweite von Kants „Kritik der Urteilskraft" (aus d e m Amerik. v. Ernst Michael Lange), Paderborn 1997, 47f. 4 Vgl. Henry E. Allison, Kant's Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense, N e w Haven/ L o n d o n 1983, 184.

88

III. Spiel als Erkenntnisgrund: Z u m Spielbegriff in Kants Kritik der

Urteilskraft

Kant greift die Rede vom M o n o g r a m m nochmals im Kapitel „Vom Ideale überhaupt" der Transzendentalen Dialektik auf, um das Ideal der Vernunft, „welches jederzeit auf bestimmten Begriffen beruhen und zu Regel und Urbilde, es sei der Befolgung, oder Beurteilung, dienen m u ß " (Β 598/A 570, S.514), von den „Geschöpfen der Einbildungskraft" abzugrenzen. Von diesen gilt, daß „darüber sich niemand erklären und einen verständlichen Begriff geben kann" (ebd.); sie entsprechen „gleichsam Monogrammen, die nur einzelne, o b z w a r nach keiner angeblichen Regel b e s t i m m t e Z ü g e sind, welche m e h r eine im Mittel verschiedener E r f a h r u n g e n gleichsam s c h w e b e n d e Z e i c h n u n g , als ein bestimmtes Bild a u s m a c h e n , dergleichen Maler und P h y s i o g n o m e n in ihrem K o p f e zu haben vorgeben, und die ein nicht mitzuteilendes Schattenbild ihrer Produkte oder auch Beurteilungen sein sollen. Sie können, o b z w a r nur uneigentlich, Ideale der Sinnlichkeit genannt werden, weil sie das nicht erreichbare Muster möglicher empirischer A n s c h a u u n g e n sein sollen, und gleichwohl keine der Erklärung und P r ü f u n g f ä h i g e Regel a b g e b e n . " (B 5 9 8 f / A 5 7 0 f , S.514)

Anders als etwa bei dem Schema eines Dreiecks, das „eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft, in Ansehung reiner Gestalten im R ä u m e " (Β 180/A 141, S.189) zur Konstruktion derselben bedeutet, fungiert das beide Male vergleichsweise eingeführte M o n o g r a m m als Zeichnung, die weder einen bestimmten Gegenstand darstellt, noch auch für einen solchen eine Konstruktionsregel angeben könnte: Die Einbildungskraft schematisiert ohne Begriff und bietet zugleich den unbestimmten Rahmen für mögliche Bilder, indem sie eine Zeichnung oder - so dürfen wir hinzufügen - eine Komposition hervorbringt. Diese ist nicht mathematischen, sondern dynamischen Charakters. Die Einbildungskraft kommt bei ihrem begriffslosen Schematisieren an kein Ende und ist damit in ihrem Tätigsein völlig ungehindert. Die Synopsis des regelmäßigen Spieles der Eindrücke zu den Anschauungsformen von Komposition oder Zeichnung zeichnet sich durch Offenheit aus. Diese Unabgeschlossenheit 1 bewirkt die Unbestimmtheit des Ganzen als dieser Formen. Aufgrund der Regelmäßigkeit des zusammengeschauten Spieles der Empfindungen kann dieses trotz seiner unabschließbaren Offenheit stets als ein unbestimmtes Ganzes angesehen werden, insofern dessen Grenzen wegen der Abwesenheit eines Begriffes nicht lokalisiert werden können. Die auf solcher Regularität gründende, durch die Einbildungskraft bewirkte Koordination der Empfindungen in der Anschauung verbürgt die Sinnhaftigkeit 2 des formalen Entwurfs, die nicht etwa einem Chaos von Empfindungen bzw. einem „Gewühle von Erscheinungen" (A 111, S.170) abgerungen werden muß. Die durch die Abwesenheit eines Begriffes negativ bestimmte Freiheit der produktiven Einbildungskraft im Spiel bedeutet zugleich - neben ihrem ungehinderten Tätigsein die positive Freiheit der Möglichkeit eines unerschöpflichen Angebotes von Sinnmöglichkeiten 3 , deren versuchendes Deuten in der Reflexion geschieht 4 , ohne noch zur Bildung eines Begriffes oder einer Idee zu führen: „Das Urtheil über das Schöne entspringt nicht

Vgl. Josef Simon, Wahrheit als Freiheit. Zur Entwicklung der Wahrheitsfrage in der neueren Philosophie, Berlin/New York 1978, 197. 2 Vgl. Anthropologie, Β 7 0 f / A 69f, 468. 3 Vgl. H a n s B l u m e n b e r g , Die essentielle Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes, in: Kritik und Metaphysik, 174-179. 4 Vgl. M a n f r e d Riedel, Vernunft und Sprache. Grundmodell der transzendentalen Grammatik in Kants Lehre vom Kategoriengebrauch, in: ders., Urteilskraft und Vernunft. Kants ursprüngliche Fragestellung, F r a n k f u r t / M . 1989, 44-60, hier 56f.

1. Spiel im reinen Geschmacksurteil

89

aus der auslegung, sondern bringt sie hervor und erkennet nicht d i e V e r n u n f t z u m Richter, sondern z u m D o l m e t s c h e r vor die, w e l c h e die S i n n e n s p r a c h e nicht g n u g verstehen." 1 N a c h d e m nun die L e i s t u n g der produktiven E i n b i l d u n g s k r a f t im reinen Geschmacksurteil, d. h. d i e H e r v o r b r i n g u n g der F o r m e n von Z e i c h n u n g und K o m p o s i t i o n als Spiel, und die Freiheit ihrer Tätigkeit als Spielen dargetan wurden, kann zur U n t e r s u c h u n g des anderen Teiles im Spiel der E r k e n n t n i s v e r m ö g e n geschritten werden.

b) Der Verstand im reinen Geschmacksurteil

Die E i n b i l d u n g s k r a f t stellt in ihrem freien Spiel die reine A n s c h a u u n g einer u n b e s t i m m t e n G a n z h e i t eines koordinierten G e f o l g e s regelmäßiger E i n d r ü c k e f ü r das reine Geschmacksurteil bereit. D a m i t leistet sie die allgemein geforderte „ Z u s a m m e n s e t z u n g des M a n n i g f a l t i g e n der A n s c h a u u n g " ( K U 28, S.132) in der W e i s e der Synopsis, die „verschiedene E i n d r ü c k e als Teile eines G a n z e n " 2 auffaßt. D a die E r k e n n t n i s v e r m ö g e n E i n b i l d u n g s k r a f t u n d Verstand im reinen Geschmacksurteil so untereinander z u s a m m e n s t i m m e n müssen, „wie es zu e i n e m überhaupt

Erkentnisse

erforderlich ist" (29, S.132), m u ß nun noch der „ V e r s t a n d f ü r die Einheit des Be-

griffs, der die Vorstellungen vereinigt" (28, S.132), hinzutreten. D i e synoptisch g e w o n n e n e u n b e s t i m m t e Ganzheit m u ß also in eine Einheit gebracht w e r d e n .

α) Die Gesetzmäßigkeit des Verstandes

Dabei ist zu beachten, daß die hierzu nötige Operation des V e r s t a n d e s nicht in e i n e m „Begriff v o m G e g e n s t a n d e " (28, S.131) terminieren darf, da bei der Beurteilung von G e g e n s t ä n d e n „bloß nach B e g r i f f e n ( . . . ) alle Vorstellung des Schönen verloren(geht)" (25, S.130). D a s d a d u r c h e n t s t e h e n d e G e b i l d e kann somit nicht die Struktur eines logischen Urteils a u f w e i s e n , das einem b e s t i m m t e n O b j e k t X das Prädikat ρ zuspricht. Allein die u m g a n g s s p r a c h l i c h e R e d e erlaubt v o m Schönen so „zu sprechen, als o b Schönheit eine B e s c h a f f e n h e i t des G e g e n s t a n d e s und das Urteil logisch (durch B e g r i f f e v o m O b j e k t e eine Erkenntnis desselben a u s m a c h e ) w ä r e " (18f, S.124f). D i e korrekte F o r m e l des reinen ästhetischen Urteils lautet vielmehr bloß: „Dies ist s c h ö n . " 3 Es ist diese Einheitsstruktur, die durch die Tätigkeit des Verstandes als „ V e r m ö g e n zu

urteilen"

(KrV Β 9 4 / A 69, S . l 10) erzielt werden m u ß . „Alle Urteile" nun sind „Funktionen der Einheit unter unseren V o r s t e l l u n g e n " (ebd.). E i n e F u n k t i o n b e s t i m m t Kant als „Einheit der H a n d l u n g , verschiedene Vorstellungen unter einer g e m e i n s c h a f t l i c h e n zu o r d n e n " (Β 9 3 / A 68, S.109f)· D u r c h die v e r s t a n d e s m ä ß i g e H a n d l u n g des

1

Reil. 748, AA XV.l, 328. Rudolf A. Makkreel, Einbildungskraft, 38. 3 Vgl. ζ. B. Martin Heidegger, Nietzsche /, 129; Eva Schaper, The Pleasures of Taste, in: diess. (Hg.), Pleasure, Preference & Value. Studies in Philosophical Aesthetics, Cambridge 1987, 39-56, hier 45; u. a. 2

III. Spiel als Erkenntnisgrund: Z u m Spielbegriff in K a n t s Kritik der

90

Urteilskraft

Urteilens werden „ g e g e b e n e Vorstellungen zuerst E r k e n n t n i s s e eines Objekts" 1 . Sie ist also zumindest n o t w e n d i g e B e d i n g u n g einer Erkenntnis. Als „ n o r m a t i v e F o r m (), die f ü r alle urteilenden S u b j e k t e gilt" 2 , stellt die Urteilsstruktur im allgemeinen d a s j e n i g e dar, was Kant „Erkenntnis ü b e r h a u p t " nennt. Die Frage ist also, ob ein ästhetisches Urteil ü b e r h a u p t ein Urteil darstellt. Weil Kant aber, wie die angeführten Stellen wohl zeigen, das Urteil nicht von seiner sprachlichen Struktur im Sinne einer Proposition her 3 , sondern f u n d a m e n t a l als H a n d l u n g versteht 4 , ist es nötig, dieser einheitsstiftenden Tätigkeit des V e r s t a n d e s näherhin n a c h z u f r a g e n , die einen „ Ü b e r g a n g O von der A n s c h a u u n g zur bloßen F o r m eines B e g r i f f s " 5 s c h a f f t . D i e s e formale

Tätigkeitsbeschreibung

widerspricht

nicht

der

Restriktion,

daß

das

reine

Geschmacksurteil nicht zu e i n e m bestimmten Begriff eines G e g e n s t a n d e s f ü h r e n darf. D i e A b w e s e n h e i t eines bestimmten B e g r i f f e s ist vielmehr nicht g l e i c h b e d e u t e n d mit der „völligen Begriffslosigkeit der E m p f i n d u n g des A n g e n e h m e n " 6 , sondern läßt einen u n b e s t i m m t e n Begriff allerdings zu. Die bloße F o r m des Begriffes, ihre Z w e c k m ä ß i g k e i t f ü r die E r k e n n t n i s v e r m ö g e n , bedeutet zugleich dessen U n b e s t i m m t h e i t . W i e gelangt aber der V e r s t a n d im Urteilen zu einer solchen, o h n e einerseits zu seiner B e s t i m m u n g fortzuschreiten und andererseits das G e f ü h l der Lust nicht dadurch zu g e f ä h r d e n , daß er sich o h n e Aussicht auf E r f o l g bei der B e s t i m m u n g der ästhetischen

Vorstellung

endlos

abmüht

und

so

das

ästhetische

Urteil

zu

einem

eher

frustrierenden Erlebnis macht, wie dies in Christel Frickes Interpretation der Fall zu sein scheint 7 ? B e g r i f f e sind ihrem U r s p r u n g nach durch den Verstand in seiner Spontaneität selbst hervorgebrachte Vorstellungen (vgl. Β 7 5 / A 51, S.97). Sie dienen dazu, „seine A n s c h a u u n g e n sich verständlich zu m a c h e n " (B 7 5 / A 51, S.98). Dies geschieht in der W e i s e ihrer Vereinheitlichung: E t w a s unter einen Begriff bringen, bedeutet nach Kant eine H a n d l u n g , „ v e r s c h i e d e n e Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu o r d n e n " (Β 9 3 / A 68, S.109). B e g r i f f e „beruhen ( . . . ) also auf F u n k t i o n e n " (ebd.), während Urteile selbst solche darstellen -

gemäß

der

grundsätzlichen Feststellung, daß „alle H a n d l u n g e n des Verstandes auf Urteile" (Β 9 4 / A 69, S . l 10) z u r ü c k g e f ü h r t w e r d e n können. N u r als Vorstellungen von Vorstellungen k ö n n e n B e g r i f f e „Prädikate

möglicher

Urteile"

sein,

da

allein

durch

die

unter

dem

Begriff

enthaltenen

Vorstellungen der Verstand sich auf G e g e n s t ä n d e beziehen kann (ebd.). Alle B e g r i f f e sind also 1

Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A XIX, Anm., W A IX, 21. Jens Kulenkampff, Kants Logik des ästhetisc hen Urteils, F r a n k f u r t / M . 2 1 9 9 4 , 91 f. 3 Vgl. Wolfgang Wieland, Erfahrung, 613. 4 Vgl. Rainer Stuhlmann-Laeisz, Kants Logik. Eine Interpretation auf der Grundlage von Vorlesungen, veröffentlichten Werken und Nachlaß, Berlin/New York 1976, 56, dessen Diktum, daß „(j)ede Handlung (...) ein Ergebnis" habe, freilich nur auf logische Urteile, nicht aber auf reine Geschmacksurteile zu beziehen ist. 5 Jürgen Stolzenberg, Das freie Spiel der Erkenntniskräfte. Zu Kants Theorie des Geschmacksurteils (Manuskript), Halle 1998, 10; erscheint in: Ursula Franke (Hg.), Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks. Ästhetische Erfahrung heute - Studien zur „Kritik der Urteilskraft" [Beiheft der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft ], Bonn 2000. 6 Dirk Effertz, Kants Metaphysik, S. 120. 7 Vgl. Christel Fricke, Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils, Berlin/New York 1990, 133ff, bei der die Erkenntnisvermögen ohne Aussicht auf den Erfolg einer durchgehenden begrifflichen Bestimmung des Gegenstands sich zunächst unentwegt „ b e m ü h e n " (49 pass.), in ein freies Spiel zu gelangen, und dann „sich der Vorstellung eines Ideals zumindest anzunähern" (134). Fricke faßt den Spielbegriff, von dem aus sich gerade das Gefühl der Lust sichern läßt, allein als „Metapher" (50, Anm.) auf und verfehlt damit wohl die Intention der kantischen Theorie, da sie offenbar das reine Geschmacksurteil als defizientes Erkenntnisurteil versteht.

91

1. S p i e l i m reinen G e s c h m a c k s u r t e i l

trennende oder z u s a m m e n n e h m e n d e Verbindungen v o n Vorstellungen. Ihnen liegt demnach i m m e r s c h o n e i n Urteil z u g r u n d e . E i n s o l c h e s beruht auf der V o r s t e l l u n g e n v e r b i n d e n d e n o d e r trennenden

Tätigkeit

Vorstellungsrelationen

des

Verstandes.

bildender

Die

hierbei

Tätigkeitsweisen

des

möglichen

Funktionen

Verstandes

„können

()

im

Sinne

insgesamt

g e f u n d e n w e r d e n " (Β 9 4 / A 6 9 , S . l l l ) . A l l e 1 m ö g l i c h e n T ä t i g k e i t s w e i s e n d e s V e r s t a n d e s f i n d e n s i c h g e m ä ß der F o r m der durch s i e g e s t i f t e t e n V e r b i n d u n g in der „ U r t e i l s t a f e l " a u s der der

reinen

Andere

Vernunft

Funktionen

Kritik

b z w . korrekter: in der „ T a f e l der l o g i s c h e n F u n k t i o n e n " ( B 1 1 1 , S . 1 2 2 ) 2 . des

Verstandes

stehen

nicht z u V e r f ü g u n g :

Eine jede,

mehrere

Vor-

s t e l l u n g e n z u e i n e r a n d e r e n V o r s t e l l u n g v e r b i n d e n d e V e r s t a n d e s t ä t i g k e i t f o l g t i r g e n d w i e d e n in der s o g e n a n n t e n „ U r t e i l s t a f e l " a u f g e l i s t e t e n l o g i s c h e n F o r m e n der U r t e i l e , d i e „ i n s g e s a m t " d i e „ F u n k t i o n e n d e s V e r s t a n d e s " b i l d e n ( B 9 4 / A 6 9 , S. 1 1 1 ) . E i n e i r g e n d w i e a n d e r e o d e r v o n d i e s e n a b w e i c h e n d e w i l l k ü r l i c h e v e r b i n d e n d e T ä t i g k e i t ist für K a n t n i c h t denkbar 3 : D e r

Verstand

verfährt in s e i n e m I n - B e z i e h u n g - S e t z e n v o n V o r s t e l l u n g e n i m m e r l o g i s c h . 4 D a s s o l l n u n nicht b e d e u t e n , d a ß e s hier z u e i n e r b e g r i f f l i c h e n o . ä. F i x i e r u n g der e i n h e i t s s t i f t e n d e n T ä t i g k e i t d e s V e r s t a n d e s k ä m e , m i t h i n z u e i n e r B e s t i m m u n g d i e s e r E i n h e i t durch d i e K a t e g o r i e n . S i e b l e i b t v i e l m e h r w e g e n der U n a b s c h l i e ß b a r k e i t b z w . Freiheit d i e s e r v e r s t a n d e s m ä ß i g e n A k t i v i t ä t durch Vgl. dazu insb. den immer noch vieldiskutierten Vollständigkeitsbeweis Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel, H a m b u r g 3 1986.

von Klaus Reich,

Die

2

Auf diese Klarstellung macht Michael W o l f f , Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Mit einem Essay über Freges „Begriffsschrift", F r a n k f u r t / M . 1995, 19-32, a u f m e r k s a m . 3 Darauf verweist nachdrücklich Beatrice Longuenesse, The Divisions of the Transcendental Logic and the Uading Thread (A 50/B 74 - A 83/B 109; Β 109 - 116), in: G e o r g M o h r / M a r c u s Willaschek (Hg.), Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1998, 131-158, hier 141 ff, insb. 143. 4

Diese gänzlich f o r m a l e Beschreibung m a g in ihrer Abstraktheit w o m ö g l i c h als nicht recht befriedigend erscheinen, da sie darauf verzichtet, die Geschichten einzelner möglicher V e r b i n d u n g s a k t e und k o n g l o m e r a t e zu erzählen und allein auf deren generelle Logizität verweist, mithin d a v o n Abstand nimmt, in concreto das unablässige D u r c h l a u f e n von V e r s t a n d e s f u n k t i o n e n als k o m p l e x e H a n d l u n g e n (vgl. Michael W o l f f , Vollständigkeit, 2 0 f f ) am Einzelfall nachzuzeichnen. Verlangte man dies j e d o c h , stieße man wenigstens an zwei Stellen an die Grenzen der kantischen Theorie: Z u m ersten überschritte ein solcher versuchter Blick ins Innere der grundlegenden und (vor allem für die Kategorien) ursprünglichen V e r s t a n d e s f u n k t i o n e n nach Kants A u f f a s s u n g die Schwelle der f o r m a l e n Logik zu einer auf das Subjekt gerichteten Psychologie, so daß d e m e n t s p r e c h e n d über diese inneren Verhältnisse der Verstandestätigkeit keine allgemein gültigen A u s s a g e n mehr möglich wären. Ein solcher Versuch überschritte infolgedessen auch die Möglichkeiten des kantischen B e g r i f f s i n s t r u m e n t a r i u m s und damit seines K o n z e p t e s von Transzendentalphilosophie, für die eine prägnante Notiz Kants aus d e m Jahre 1769 Geltung besitzt, die wie folgt lautet: „Von den ersten Verhältnissen nach Gesetzen unseres Verstandes läßt sich weiter kein Grund a n g e b e n . " ( R e f l . 3929, AA XVII, 351) Z u m zweiten m ü ß t e eine Position, die sich nicht mit der A u s k u n f t zufriedengibt, daß im reinen Geschmacksurteil die selben V e r s t a n d e s f u n k t i o n e n wie im Erkenntnisurteil einmal in u n a b g e s c h l o s s e n e m Tätigsein, das andere Mal als Resultat der gleichen, dann aber abgeschlossenen Tätigkeit kategorial terminierend - vorlägen, j e d e n f a l l s Kants A n s p r u c h auf die Vollständigkeit seiner Tafel der Verstandesfunktionen bestreiten. Dies wäre gleichbedeutend mit der A n n a h m e einer eigenständigen „ästhetischen Tätigkeit" des Verstandes, deren systematische Notwendigkeit zuerst zu b e g r ü n d e n wäre, bevor die entsprechenden ästhetischen Funktionen des Verstandes zur Stiftung derartiger, spezifisch ästhetischer Vorstellungsrelationen n a m h a f t g e m a c h t werden müßten. V o m Standpunkt der vorliegenden Interpretation indes scheint eine solche A n n a h m e nicht nötig, da auch o h n e sie die Konsistenz der kantischen Theorie gewährleistet ist. Damit soll freilich nicht die Legitimität eines möglichen philosophischen U n b e h a g e n s bei der schieren Feststellung j e n e s „ F a k t u m s des V e r s t a n d e s " bestritten werden, das die nachkantische, insbesondere idealistische Philosophie austrug. Die e i n g e h e n d e Diskussion dieses Problems j e d o c h ist für das T h e m a der vorliegenden U n t e r s u c h u n g , der es um die Exposition und die Implikationen des Spielbegriffes innerhalb der kantischen Theorie geht, nicht nötig.

92

III. Spiel als E r k e n n t n i s g r u n d : Z u m Spielbegriff in K a n t s Kritik der

Urteilskraft

ein E r g e b n i s unbestimmt, aber eben d e n n o c h logisch. D a s Verlassen des Repertoires der vorstellungsverbindenden F u n k t i o n e n des Verstandes, d. h. der Urteilsformen, hieße, die kantische B e s t i m m u n g des V e r s t a n d e s selbst zu verlassen. Dies ist im reinen G e s c h m a c k s u r t e i l j a gerade nicht der Fall: A u c h hier durchbricht der Verstand nicht seine „ G e s e t z m ä ß i g k e i t " . D e s w e g e n sind K a n t s B e n e n n u n g e n des Verstandes sowohl als „ V e r m ö g e n zu urteilen" als auch als „Verm ö g e n der B e g r i f f e " als auch als „ V e r m ö g e n der R e g e l n " s y n o n y m . 1 D i e b l o ß e F o r m eines B e g r i f f e s besteht im Z u g r u n d e l i e g e n einer Urteilsfunktion: Sie ist die b l o ß e Logizität dieser V e r b i n d u n g selbst.

ß) D i e F r e i h e i t d e s V e r s t a n d e s

Im reinen ästhetischen Urteil ist diese Gesetzmäßigkeit des Verstandes „frei" ( K U 69, S . I 6 1 ) . D i e s e Freiheit der Tätigkeit des Verstandes liegt darin, daß er in der V e r b i n d u n g von Vorstellungen nicht auf eine b e s t i m m t e logische Funktion festgelegt ist. E r sammelt, trennt und verbindet im Einklang mit den Urteilsfunktionen, gelangt aber zu k e i n e m b e s t i m m t e n Begriff, da er sich nicht f ü r genau eine V e r b i n d u n g s r e g e l entscheidet und diese dann einheitlich a n w e n d e t bzw. in seinem Tun zu e i n e m E n d e k o m m t , so daß auch nicht die Regel a n g e g e b e n werden kann, nach der er verfährt, da dies nur ex post von der Kategorialisierung her m ö g l i c h sein kann. G l e i c h w o h l verfährt er den f o r m a l e n B e d i n g u n g e n eines B e g r i f f e s k o n f o r m , der aber s o l c h e r m a ß e n u n b e s t i m m t bleibt (vgl. K r V Β 128, S.133). Sie dienen als Einheitshinsichten, unter d e n e n die V e r b i n d u n g des M a n n i g f a l t i g e n des angeschauten G e g e n s t a n d e s zu e i n e m u n b e s t i m m t e n , w e r d e n d e n G e g e n s t a n d des B e w u ß t s e i n s 2 allererst möglich wird. D a sich die Einzigartigkeit des d i e k o n t e m p l i e r e n d e B e t r a c h t u n g anregenden G e g e n s t a n d e s von sich aus gegen eine begriffliche B e s t i m m u n g sperrt, kann der Verstand in seiner eigentlichen Tätigkeit, d e m V e r b i n d e n von Vorstellungen nach Einheit e r m ö g l i c h e n d e n R e g e l n , verbleiben: Sie endet nicht d u r c h den G e b r a u c h einer Kategorie im Begriff und verharrt in e i n e m von sich aus unendlichen Stiften von B e z i e h u n g e n von Vorstellungen. E b e n s o wie die durch die E i n b i l d u n g s k r a f t hervorgebrachte F o r m der A n s c h a u u n g ist auch die v e r s t a n d e s m ä ß i g e F o r m der Einheit w e s e n h a f t d y n a m i s c h und s o l c h e r m a ß e n keiner Bestimm u n g zugänglich. In beiden Fällen meint die R e d e von ' S p i e l ' somit eine von sich aus unabschließbare, ziellose B e w e g u n g , deren Regel sich nicht begrifflich a n g e b e n läßt, o h n e dieser B e w e g u n g selbst ihr W e s e n , eben ihre Spielhaftigkeit, zu n e h m e n . Dies g e s c h ä h e durch die kategoriale Fixierung d e r Einheit, die die Verstandestätigkeit zu e i n e m E n d e brächte und abschnitte. D a s ästhetische Urteil w ä r e zu e i n e m logischen g e w o r d e n und d i e im s c h ö n e n G e g e n s t a n d durch seine radikale Einzelheit angelegte M ö g l i c h k e i t des n i c h t - e r k e n n e n d e n Verweilens bei ihm verfehlt: D i e durch den Kategoriengebrauch b e w i r k t e E r k e n n t n i s bedeutete

Wobei aber der Bestimmung des Verstandes als „Vermögen zu urteilen" das Primat als fundamentalste Bestimmung eingeräumt werden muß, wie Beatrice Longuenesse, Kant, eindrucksvoll gezeigt hat. 2 Auf die Implikation, daß der Gegenstandsbegriff im Falle „ästhetischer Gegenstände" nur uneigentlich verwendet werden kann, da es sich hier gar nicht um „Gegenstände" im strengen kantischen Sinne handelt, weist bereits Martin Heidegger, Kant, 145, hin. Diese Frage kann jedoch an dieser Stelle nicht ausführlich diskutiert werden, da ihre Exposition und Beantwortung den thematischen Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen würde.

1. Spiel im reinen Geschmacksurteil

93

die Negation bzw. Destruktion der Kontemplation. Im reinen Geschmacksurteil geht es allein um die Aktivität des Verstandes und nicht um deren Resultat. Sie genügt sich selbst und besitzt keinen Zweck außer sich. Dennoch verfährt sie in ihrer Logizität ihrem möglichen Zweck, der begrifflichen Bestimmung, gemäß. Sie ist aus dieser urteilstheoretischen Perspektive in ihrer „freien Gesetzmäßigkeit" die „Zweckmäßigkeit ohne Z w e c k " (KU 69, S.161) selbst. Die ursprünglich als Urteilen bestimmte freie Tätigkeit des Verstandes ist demnach für sich genommen ebenfalls als Spiel auszuweisen. Kant notiert: „Eine jede Handlung ist entweder ein Geschäfte (was einen Zwek hat) oder ein Spiel (was (zur Unterhaltung dient) zwar eine Absicht hat, aber keinen Zwek). In dem letzteren hat die Handlung keinen Zwek, sondern sie ist selber der Bewegungsgrund." 1 Die zweckfreie spielende Tätigkeit des Verstandes erlaubt es durch ihre Produktion von Gegenständen des Bewußtseins, die nicht auf einen Begriff gebracht werden, erst, daß „die Erscheinungen so festgehalten (werden), wie sie sich phänomenal geben" 2 . Dieses Festhalten ist freilich kein Begreifen, sondern ein Freilassen in der Distanz. Die Erscheinungen geben sich zuerst als einzelne. Als dieses und nur dieses Einzelne kommt der Gegenstand allein im reinen Geschmacksurteil in den Blick. Die Unbestimmtheit des Gegenstandes, der es anregt, bedeutet dessen radikale Individualität. Sie wird allein bei Gegenständen, die wir „schön" nennen, aufgrund ihrer formalen Struktur bemerkt, die keine Hinsicht auf ein Allgemeines erlaubt. Deren Schönheit besteht nachgerade in der „impossibilite d'arreter la differance en son contour" 3 , wie dies in der erkennenden Gegenstandsbeziehung geschehen soll. Das Urteil über das Schöne entspricht so genau der formalen Beschaffenheit seines Gegenstandes, des „Dies", das somit keineswegs im Dunkel des bloß Subjektiven sich auflöst. Der Verstand gewährleistet die „Zusammenstimmung" der Auffassung des Mannigfaltigen der Einbildungskraft „zu Einem (unbestimmt was es sein solle)" (45f, S.144). Dies ist das „Formale der Vorstellung eines Dinges" (45, S.144). Der Verstand trägt demnach in seiner freien Gesetzmäßigkeit Sorge dafür, daß im reinen Geschmacksurteil überhaupt eine einheitliche Vorstellung, wenngleich unbestimmt und nicht im strengen Sinne gegenständlich, gedacht wird. Insofern ist er in diesem der Einbildungskraft „zu Diensten" (71, S.162), indem er sie „ohne Begriffe (...) in ein regelmäßiges Spiel versetzt" (B 161, S.228). Wäre er dies nicht, so würde im reinen ästhetischen Urteil nicht nur nichts erkannt, sondern auch nichts gedacht, so daß der durch es angezeigte Zustand nichts als eine Art dumpfes Gaffen darstellen könnte: Der Verstand ist die Bedingung der Möglichkeit von Vorstellungen, zu denen sich „viel Unnennbares hinzu denken läßt" (197, S.253). Auf der anderen Seite sichert der Verstand auch die Allgemeinheit des Urteils, da er selbst das Intersubjektive ist, das die absolute Privatheit einer schwärmenden oder rasenden Einbildungskraft, an der der Verstand „Anstoß" litte (71, S.162), aufbricht bzw. zügelt. Der unbestimmte Gegenstand, der nunmehr vorliegt, wird somit als sinnvoll und nicht als Unsinn aufgefaßt, bei dem nichts gedacht wird, oder als Sinnleere, bei der ein undurchdringliches Vorstellungschaos gegeben wird 4 . Dieser Sinn ist nicht eindeutig festgelegt, sondern bleibt unbestimmt und bietet damit unerschöpfliche Möglichkeiten zu deutender Beschäftigung. '

Refl. 618, A A XV. 1 , 2 6 7 . M a n f r e d Riedel, Sensibilität für die Natur. Zum Verhältnis von Geschmacksurteil und Interpretation Kants Philosophie des Schönen, in: Gerhard Schönrich/Yasushi Kato (Hg.), Kant in der Diskussion Moderne, F r a n k f u r t / M . 1996, 506-525, hier 511. 2

3 4

Jacques Derrida, Verite, 93. Vgl. Anthropologie, Β 7 0 f / A 69f, 468.

in der

94

III. Spiel als Erkenntnisgrund: Z u m Spielbegriff in Kants Kritik der

Urteilskraft

Nachdem die jeweiligen Tätigkeiten der beiden Erkenntnisvermögen im reinen Geschmacksurteil für sich betrachtet und in ihrer doppelten Spielhaftigkeit und Freiheit, nämlich sowohl der von ihnen hervorgebrachten Produkte als auch ihrer Tätigkeitsweisen, erörtert wurden, ist im folgenden der Blick auf deren Verhältnis zueinander zu richten.

c) Freies Spiel und Harmonie in der Reflexion

Die Beziehung der unbestimmten Produkte der in Tätigkeit befindlichen Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand bzw. dieser selbst aufeinander leistet die Urteilskraft. Sie kommt im reinen Geschmacksurteil, das auch ästhetisches Reflexionsurteil genannt werden könnte, in ihrem reflektierenden Aspekt in den Blick. Damit gilt sie nach Kant „als bloßes Vermögen, über eine gegebene Vorstellung, zum Behuf eines dadurch möglichen Begriffs, nach einem gewissen Prinzip zu reflektieren" (EE S.24). Dieses besteht in der apriorischen Voraussetzung der Natur „als eines Systems für unsere Urteilskraft", die als „Bedingung der A n w e n d u n g der Logik auf die Natur" (ebd., Anm.) fungiert. Ohne weiter auf dies transzendentale Prinzip der Urteilskraft eingehen zu müssen, ist doch festzuhalten, daß mit ihm von vorneherein durch die A n n a h m e einer gewissen Ordnung in der Natur die Tätigkeit des Reflektierens stets als sinnvoll gewährleistet wird 1 , obschon kein endgültiges Resultat erzielt würde: Eine vollständige Bestimmung des vorausgesetzten Systems kann zwar nie erreicht werden, dennoch bewegt sich die Reflexion in einem Prozeß der unendlichen Annäherung an es heran.

a) B l o ß e R e f l e x i o n und Spiel

„Reflektieren (Überlegen) aber ist:" - so Kant - „gegebene Vorstellungen entweder mit andern, oder mit seinem Erkenntnisvermögen, in Beziehung auf einen dadurch möglichen Begriff, zu vergleichen und zusammen zu halten." (ebd.) Die reflektierende Urteilskraft kennt nun zweierlei Weisen ihres Gebrauches: Es sind dies einerseits ihr logischer, andererseits ihr ästhetischer Gebrauch. Für ersteren gilt inhaltlich das genannte transzendentale Prinzip, demgemäß es der Urteilskraft möglich ist, „in der Vergleichung der Naturformen Einhelligkeit anzutreffen und zu empirischen Begriffen, und dem Zusammenhange derselben untereinander, durch Aufsteigen zu allgemeinern gleichfalls empirischen Begriffen zu gelangen" (S.25, Anm.). Bei diesem Geschäft, „gegebene Erscheinungen (...) unter empirische Begriffe von bestimmten Naturdingen zu bringen" (S.26), verfährt die Urteilskraft „technisch", sie entwirft die empirischen Begriffe auf die „Möglichkeit der Erfahrung (sc. der Natur) als eines Systems" (ebd.) hin. Im reinen ästhetischen Urteil geht es aber nicht um einen, auf einen höheren hin zu übersteigenden empirischen Begriff noch um die Erfahrung eines irgend bestimmten Gegenstandes.

1

Vgl. Paul Guyer, Kant and the Claims of Taste, Cambridge 2 1997, 41ff.

95

1. Spiel im reinen Geschmacksurteil

Der Gebrauch der reflektierenden Urteilskraft in bezug auf einen „gegebenen

einzelnen

Gegenstand" ist nur dann ästhetisch zu nennen, „wenn (ehe noch auf die Vergleichung desselben mit andren gesehen wird) die Urteilskraft, die keinen Begriff für die g e g e b e n e A n s c h a u u n g bereit hat, die E i n b i l d u n g s k r a f t (bloß in der A u f f a s s u n g desselben) mit d e m Verstände (in Darstellung eines B e g r i f f s überhaupt) z u s a m m e n h ä l t und ein Verhältnis beider E r k e n n t n i s v e r m ö g e n w a h r n i m m t , welches die subjektive bloß empfindbare Bedingung des objektiven Gebrauchs der Urteilskraft (nämlich die Z u s a m m e n s t i m m u n g j e n e r beiden V e r m ö g e n unter einander) überhaupt a u s m a c h t . " (S.37)

Wie bei den durch sie aufeinander bezogenen Erkenntnisvermögen legt Kant auch im Falle der reflektierenden Urteilskraft den Akzent auf deren Tätigsein 1 und nicht auf dessen Resultat. Diese Tätigkeit ist in zweifacher Weise charakterisiert: Z u m einen durch das Zusammenhalten und zum anderen durch das Wahrnehmen. Ersteres bezieht sich einerseits auf die Zusammenhaltung einer gegebenen Anschauung mit dem Erkenntnisvermögen ohne deren Vergleichung mit anderen, also ohne die Möglichkeit zu einem empirischen Begriff zu gelangen. Andererseits hält die Urteilskraft die aktive Einbildungskraft mit dem ebenso aktiven Verstand zusammen: Sie befindet sich „in der A u f f a s s u n g " bzw. „in Darstellung" (ebd.), ohne aber zu einem empirischen Begriff zu gelangen. Dies ist hier auch gar nicht anders möglich, wurde doch die Unabschließbarkeit beider spielenden Tätigkeitsweisen aufgewiesen. Sowohl die synoptische Auffassung der Mannigfaltigkeit der Anschauung zu einem unbestimmten, werdenden Ganzen als auch die stete Tätigkeit bei der Bildung der Form eines diesem angemessenen Begriffes, der Möglichkeit seiner Darstellung also, geschehen ohne eine bestimmte Erkenntnisregel und terminieren folglich weder in einer Erkenntnis noch in einer vollendeten Darstellung 2 , obschon deren Bedingungen gegeben sein müssen 3 . Die Urteilskraft selbst muß bei ihrem bloßen Zusammenhalten der beiden an sich voneinander geschiedenen Erkenntnisvermögen zugleich bei jeder von ihnen sein. Diese Gleichberechtigung beider Erkenntnisvermögen für die reflektierende Urteilskraft in ihrem ästhetischen Gebrauch macht einen signifikanten Unterschied zu ihrem logischen Gebrauch aus. Bestand dieser in der Bildung von und im Aufstieg zu immer höheren empirischen Begriffen, fehlt nun genau diese Ausrichtung ihrer Tätigkeit: In der ästhetischen Reflexion geht die Urteilskraft nicht ausschließlich zu dem Zwecke „hinaus zu dem, was schlechthin verschieden ist von

1 Vgl. Rüdiger Bubner, Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, in: neue h e f t e für philosophic 5 (1973), 38-73, hier 65. 2 Dies n i m m t offensichtlich Dieter Henrich an, wenn er schreibt, daß sich das h a r m o n i s c h e Spiel der E r k e n n t n i s v e r m ö g e n nicht eher einstellt, „before the free e m p l o y m e n t of imagination results by itself in the creation of f o r m s that correspond to the general feature of an exhibition of an empirical c o n c e p t " (Kant's Explanation of Aesthetic Judgment, in: ders., Aesthetic Judgment and the Moral Image of the World, Stanford 1992, 29-56, hier 51). Dies f ü g e sich in freier W e i s e der G e s e t z m ä ß i g k e i t des Verstandes und stärke so „the u n d e r s t a n d i n g ' s readiness to f o r m concepts and to apply them, which m e a n s to exhibit t h e m . " (ebd.) Henrich übergeht damit ebenso die kantische Akzentuierung des Tätigseins der E r k e n n t n i s v e r m ö g e n wie er deren Gleichberechtigung im reinen Geschmacksurteil zerstört, indem er fälschlicherweise d e m Verstand neben der Bereitstellung der Form eines Begriffes auch noch die Fähigkeit, diesen a n z u w e n d e n , zuschreibt, was j e d o c h allein A u f g a b e der Urteilskraft, hier: der reflektierenden Urteilskraft ist. Vgl. dazu insb. Jürgen Stolzenberg, Spiel, 13f, Anm. 22. 3

Vgl. Donald W . C r a w f o r d , Kant's Theory of Creative Imagination, Essays in Kant's Aesthetics, C h i c a g o / L o n d o n 1982, 151-178, hier 159.

in: Ted Cohen/Paul G u y e r (Hg.),

96

III. Spiel als Erkenntnisgrund: Z u m Spielbegriff in K a n t s Kritik der

Urteilskraft

der V e r n u n f t - u m es in das Gebiet der V e r n u n f t einzuholen" 1 . D a m i t wird das Subordinationsverhältnis von E i n b i l d u n g s k r a f t und Verstand durch die Urteilskraft a u f g e h o b e n , „die keinen Begriff f ü r die g e g e b e n e A n s c h a u u n g bereit hat" (ebd.): I m bloßen Z u s a m m e n h a l t e n ,

der

„bloßen R e f l e x i o n " , läßt die Urteilskraft die E i n b i l d u n g s k r a f t frei, o h n e d a m i t d e m Verstand Gewalt anzutun, sondern diesen vielmehr ebenfalls freier verbindender Tätigkeit zu überlassen. D a die Urteilskraft überdies die E r k e n n t n i s v e r m ö g e n nicht z u m Z w e c k e einer b e s t i m m t e n Erkenntnis a u f e i n a n d e r bezieht, sondern nur in ihrer Freiheit z u s a m m e n h ä l t , ist sie so selbst in den reinen Vollzug ihrer Tätigkeit freigelassen: S o l c h e r m a ß e n spielt die Urteilskraft selbst. D i e ursprünglichste F o r m der R e f l e x i o n ist das Spiel, das im Falle des ästhetischen R e f l e k t i e r e n s frei zu n e n n e n ist. D u r c h die Freiheit unterscheidet dies sich auch von der logischen R e f l e x i o n , worin diese entscheidend beschränkt wird, worauf später noch h i n z u w e i s e n sein wird. Als andere Tätigkeit der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft setzt K a n t das W a h r n e h m e n an. B e v o r aber dessen spezifische W e i s e untersucht und so der W e g z u m eigentlichen Inhalt des reinen G e s c h m a c k s u r t e i l s gebahnt wird, ist das A u g e n m e r k noch auf d a s j e n i g e zu richten, was in der R e f l e x i o n w a h r g e n o m m e n wird.

ß) F r e i e s S p i e l als H a r m o n i e

W a h r g e n o m m e n wird „ein Verhältnis beider E r k e n n t n i s v e r m ö g e n (), w e l c h e s die s u b j e k t i v e bloß e m p f i n d b a r e B e d i n g u n g des objektiven G e b r a u c h s der Urteilskraft (nämlich die Z u s a m m e n s t i m m u n g j e n e r beiden E r k e n n t n i s v e r m ö g e n unter einander) ü b e r h a u p t a u s m a c h t . " (S. 37) D i e s e s Verhältnis der Z u s a m m e n s t i m m u n g b e s t i m m t Kant im S c h l ü s s e l p a r a g r a p h e n 9 der Kritik der Urteilskraft näher, indem er sie als „ H a r m o n i e " ( K U 29, S.132) charakterisiert. In R e d e steht also nicht j e d e s der beiden E r k e n n t n i s v e r m ö g e n f ü r sich, sondern nur die Proportion, die beider Tätigkeiten ergeben. Dabei greift die Urteilskraft nicht in irgendeiner W e i s e harmonisierend in dieses Verhältnis ein: Sie n i m m t es nur w a h r und beläßt es in s e i n e m „freien Spiel" (ebd.). Das freie Spiel der E r k e n n t n i s v e r m ö g e n ist also noch von deren bzw. dessen H a r m o n i e zu unterscheiden und nicht o h n e weiteres s y n o n y m zu behandeln 2 . D a s freie Spiel ist z u n ä c h s t der Zustand „freier Tätigkeit" 3 , in d e m sich b e i d e K r ä f t e j e w e i l s f ü r sich b e f i n d e n . N u r als so v o n e i n a n d e r u n a b h ä n g i g tätig k ö n n e n sie ü b e r h a u p t in das Verhältnis einer H a r m o n i e k o m m e n , erfordert solches doch zuallererst „Mannigfaltigkeit" 4 , d. h. eine M e h r z a h l v o n e i n a n d e r geschiedener Elemente. 5 D i e s e sind E i n b i l d u n g s k r a f t und Verstand in ihrem freien Spiel. Ihr Verhältnis zueinander ist nur dann als „ H a r m o n i e " zu bezeichnen, „sofern sie unter einander, wie es zu e i n e m Erkenntnisse überhaupt erforderlich ist, z u s a m m e n s t i m m e n " (ebd.). Dabei fallen H a r m o n i e und freies Spiel nicht n o t w e n d i g z u s a m m e n : D i e E r k e n n t n i s v e r m ö g e n k ö n n e n d u r c h a u s von der logisch reflektierenden Urteilskraft erst in Ü b e r e i n s t i m m u n g gebracht werden, so daß dabei kein freies Spiel vorliegt. E b e n s o ist es möglich, daß sich die E r k e n n t n i s v e r m ö g e n in f r e i e m Spiel b e f i n d e n , o h n e dabei zugleich auch 1

Dirk Effertz, Kants Metaphysik, 94.

2

Paul Guyer etwa tut dies konsequent; vgl. Kant, lOf pass. Andreas Heinrich Trebels, Einbildungskraft, 50. Refl. 806, A A XV. 1 , 3 5 8 . Vgl. Dieter Henrich, Kant's Explanation, 52.

3 4 5

97

1. Spiel im reinen Geschmacksurteil

eine Harmonie zu bilden. 1 In solchen Fällen kommt es dann nicht nur nicht zu einem reinen Geschmacksurteil, sondern in strengem Sinne zu überhaupt keinem Urteil 2 . Einem Urteil etwa der Struktur „Dies ist häßlich.", das als solches die Harmonie der Erkenntnisvermögen negiert, fehlte damit zugleich ebenso die allgemeine Mitteilbarkeit, da j a die „subjektiven Bedingungen der Beurteilung der Gegenstände" (ebd.) nicht erfüllt werden. Wie aber ist nun diese Harmonie insgenauere beschaffen? Und vor allem: Warum ergibt sich hier kein logisches Urteil, obwohl doch alle Voraussetzungen zur Erkenntnis vorliegen? Oder umgekehrt: Warum müssen dann nicht ausnahmslos alle Gegenstände als schön beurteilt werden? 3 Die reflektierende Urteilskraft bemerkt die Harmonie der spielenden Erkenntnisvermögen, wenn „Erkenntnis überhaupt" möglich ist. Dies war allgemein als Struktur des Urteils erwiesen worden, wobei „Urteil" mit Kant als Handlung, d. h. als Urteilen verstanden worden war. Dies wurde fundamental als unendliches Verbinden von Anschauungen in dynamischer Form aufgefaßt. Damit zeigt sich, daß im reinen Geschmacksurteil mit der Struktur von Erkenntnis überhaupt gerade keine fertige Erkenntnis, sondern vielmehr das „Erkennen überhaupt"4 durch die Reflexion in den Blick kommt. Dieser als freies Spiel beschriebene Vorgang liegt zugrunde, wo immer etwas erkannt wird 5 : „Dieses geschieht auch wirklich jederzeit, wenn ein gegebener Gegenstand vermittelst der Sinne die Einbildungskraft zur Zusammensetzung des Mannigfaltigen, diese aber den Verstand zur Einheit derselben in Begriffen, in Tätigkeit bringt." (65, S.158) Diese Tätigkeit aber muß nicht notwendig zu einem konkreten bzw. vollendeten logischen oder ästhetischen Urteil führen, das allgemeine Gültigkeit beansprucht. Dies ist nur dann der Fall, wenn Harmonie der beteiligten Erkenntnisvermögen herrscht, die sich ohne den Zwang des Erkenntniszwecks einstellt. Sie gerät als solche allein im reinen Geschmacksurteil in den Blick. Dies stellt sich unabhängig von Streben und Wollen des Subjektes ein: Das reine ästhetische Urteil hat „weniger den Charakter einer Leistung als den eines Widerfahrnisses" 6 . Ohne noch näher auf die Konsequenzen dieser Feststellung einzugehen, läßt sich doch schon der Grund des Bemerkens des freien Spieles der Erkenntnisvermögen als Harmonie im gegebenen Gegenstand verorten. Dies tut auch Kant: „Aber diese (sc. harmonische) Stimmung der Erkenntniskräfte hat, nach Verschiedenheit der Objekte, die gegeben werden, eine verschiedene Proportion. Gleichwohl aber muß es eine geben, in welcher dieses innere Verhältnis zur Belebung (einer durch die andere) die zuträglichste für beide Gemütskräfte in Absicht a u f ' nicht: zum Zweck der! - „Erkenntnis (gegebener Gegenstände) überhaupt ist." (ebd.f) Als entscheidend erweist sich nunmehr die Frage nach dem Grund dieser Differenz zwischen einem bloß harmonischen Verhältnis und dessen Superlativ. Denn in der Konfiguration der Erkenntnisvermögen, die beidesmal in ihrer Harmonie zu Erkenntnis überhaupt zusammenstimmen, als solcher kann kein Unterschied liegen. Wohl aber läßt sich eine Differenz ausmachen, wenn man die Weise betrachtet, in der sich jenes Verhältnis einstellt. Dies ist zuerst Vgl. Christel Fricke, Kants Theorie, 50. Vgl. Reinhard Brandt, Zur Logik des ästhetischen Urteils, in: Herman Parret (Hg.), Kants Ästhetik, 229245, hier 238ff, dessen diesbezüglicher Kritik an Christel Fricke, Kants Theorie, ζ. B. 47f, ich mich anschließe. 2

3 Vgl. Ralf Meerbote, Reflection on Beauty, in: Ted Cohen/Paul Guyer (Hg.), Essays, 55-86, insb. 81ff. Zur Kritik an dieser Auffassung s. Manfred Baum, Subjektivität, Allgemeingültigkeit und Apriorität des Geschmacksurteils bei Kant, in: Dt. Zf. f. Philos. 39 (1991), 272-284. 4

Bernd Dörflinger, Die Realität des Schönen in Kants Theorie rein ästhetischer Gegenstandsbedeutung subjektiver und formaler Ästhetik, Bonn 1988, 126. 5 Vgl. Andreas Heinrich Trebels, Einbildungskraft, 50. 6 Wolfgang Wieland, Erfahrung, 618.

Urteilskraft.

Zur

98

III. Spiel als Erkenntnisgrund: Zum Spielbegriff in Kants Kritik der

Urteilskraft

vom gegebenen Gegenstand abhängig, nach dem sich die Proportion der Stimmung 1 in der Vorstellung richtet. 2 Während die Erkenntnis ermöglichende Harmonie im logischen Urteil durch den „objektiven Schematism der Urteilskraft" (30, S.133) hergestellt wird, hat die Urteilskraft im reinen ästhetischen Urteil keinen bestimmten Begriff als Regel der Einstimmung zur Verfügung: Die Harmonie der Erkenntnisvermögen muß sich also von selbst einstellen, sie ist ein „libre accord des facultes" 3 . Da ausschließlich das gegebene Mannigfaltige die Vermögen „in Tätigkeit bringt", ist diese von selbst sich einstellende Harmonie als Wirkung dieses Mannigfaltigen auf die Erkenntnisvermögen aufzufassen. Dies weist als werdendes Ganzes wie gezeigt - als radikal einzelnes eine unbestimmte und nur für es gültige Regel der Verbindung seiner Elemente auf, die eben deswegen weder begrifflich erfaßt noch verallgemeinert noch als Bewertungskriterium für irgendeinen Gegenstand gelten kann, da diese Regel wiederum propositional erfaßt werden müßte, was das konstitutive freie Spiel der Erkenntnisvermögen negierte und das Verweilen bei der Einzelheit des unbestimmten Ganzen als unbestimmtem „Gegenstand" aufhöbe. Einen solchen „Gegenstand" heißt man ein Exemplar: „L'exemplaire (exemplarisch), c'est un produit (Produkt) singulier" 4 . Das reine Geschmacksurteil ist deswegen von einer Notwendigkeit, die „nur exemplarisch genannt werden" (62, S.156) kann. Kant gebraucht aus diesem Grund auch den Ausdruck „Beispiel" nur vergleichsweise: Das reine ästhetische Urteil wird „wie Beispiel einer allgemeinen Regel, die man nicht angeben kann, angesehen" (63, S.156). Der bloße vergleichsweise Gebrauch ist notwendig, weil von einer solchen Regel, die nur auf einen einzigen Fall zutrifft, genaugenommen kein Beispiel angegeben 5 , sondern nur das jeweilige sie realisierende Exemplar aufgewiesen bzw. gezeigt werden kann. Dies ist der Grund dafür, daß „man a priori nicht bestimmen (kann), welcher Gegenstand dem Geschmacke gemäß sein werde, oder nicht" (XLVII, S.102), warum man also kein allgemeingültiges Prinzip des Geschmacks angeben kann 6 . Vielmehr gilt für jeden möglichen Gegenstand des Geschmacksurteils: „man muß ihn versuchen" (ebd.). Daraus erhellt die Priorität des Naturschönen, insbesondere der „freie(n) Naturschönheiten" (49, S.146): Jedes Exemplar einer Gattung verhält sich dieser gegenüber als absolut einzigartige Varietät ihrer. Kant betont dies noch indirekt durch das aus der Reisebeschreibung des „eben so geistreiche(n) als gründliche(n)" (127, S.204) Horace Benedicte de Saussure, einer der Begründer der modernen Geologie, Voyage dans les

1

Zu Kants Begriff der „Stimmung" vgl. die detaillierte Analyse von Rodolphe Gasche, Transcendentality, in Play, in: Herman Parret (Hg.), Kants Ästhetik, 297-312. 2 Vgl. dg. Marcus Otto, Ästhetische Wertschätzung. Bausteine zu einer Theorie des Ästhetischen, Berlin 1993, 189, für den „die konkrete Existenz eines Gegenstandes unerheblich ist", „wenn man sich das Gegebene (sie!) nur genau genug im Geiste präsent halten" kann. 3

Gilles Deleuze, La philosophie critique de Kant. Doctrine des facultes, Paris s 1 9 9 4 , 72. Jacques Derrida, Verite, 124. 5 Vgl. Alfred Baeumler, Kants Kritik der Urteilskraft. Ihre Geschichte und Systematik. Bd. I: Das Irrationalitätsproblem in der Aesthetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Halle/S. 1 9 2 3 , 2 9 1 . 6 Gerade dies scheint Jens Kulenkampff von Kants Theorie zu erwarten, wenn er von ihr „die Angabe notwendiger Bedingungen, die die Gegenstände erfüllen müssen, sollen sie ( . . . ) schön sein" ( K a n t s Logik, 125) verlangt. Diese Erwartung weist Jürgen Stolzenberg, Spiel, 20ff, nach und bezeichnet sie folgerichtig als „objektivistisches Mißverständnis" (ebd., 23). 4

1. Spiel im reinen Geschmacksurteil

99

Alpes (1779ff) entlehnte Beispiel einer Tulpe, die „naturelle, absolument sauvage" 1 ist. Allein die Vorstellung eines solchermaßen beschaffenen Einzelgegenstandes vermag „unmittelbar" (51, S.147) die Harmonie unserer Erkenntnisvermögen zu bewirken. Dazu muß das entsprechende Exemplar selbst „versucht" werden. Jedoch ist dieser Effekt auf unsere Erkenntnisvermögen, den wir im reinen Geschmacksurteil ausdrücken, kein notwendiger: Sein tatsächliches Eintreten ist vollständig kontingent. Es handelt sich j a bei ihm um einen möglichen optimalen inneren Zustand des Subjekts, der allen möglichen störenden Einflüssen unterworfen bleibt, die nicht durch das Subjekt kontrolliert werden können. „Gewiß kann man Bedingungen herstellen, die derartigen Widerfahrnissen günstig sind. Trotzdem hat man niemals die Garantie, daß einem die entsprechende Erfahrung zu teil wird." 2 Man kann sich etwa durchaus eine Karte für einen hochkarätigen Klavierabend erstehen, ohne schon deshalb die Gewißheit haben zu können, an j e n e m Abend so disponiert zu sein, daß beim vorausgesetzten Gelingen des Konzertes die Erkenntnisvermögen dadurch jene Harmonisierung erfahren. Stellt sich dies aber im günstigsten Fall ein, wird allein in der von selbst sich einstellenden Harmonie der Erkenntnisvermögen deren fundamentales freies Spiel bemerkt. Nun ist freilich strenggenommen ein jeder gegebene Gegenstand ein einzelner, auch im Sinne jener radikalen Einzelheit. Die Differenz der harmonischen Proportionen in den entsprechenden Urteilsweisen besteht aber nicht nur im Grund ihrer Entstehung. Ein weiterer Unterschied liegt in ihrer zeitlichen Erstreckung: Die harmonische Stimmung des reinen Geschmacksurteils ist dadurch ausgezeichnet, daß sie „in der Anschauung des Schönen sich erhält", während sie in der empirischen Reflexion als „flüchtig, weil verschwindend in den bestimmten B e g r i f f ' 3 , nicht für sich bemerkt wird. Die Weile der ästhetischen Reflexion ergibt sich durch deren Richtung. Die bloße Reflexion beugt sich im bloßen Zusammenhalten der tätigen Erkenntnisvermögen auf das reflektierende Subjekt selbst zurück: „Denn in der Urteilskraft werden Verstand und Einbildungskraft im Verhältnisse gegen einander betrachtet, und dieses kann zwar erstlich objektiv, als zum Erkenntnis gehörig, in Betracht gezogen werden (wie in dem transzendentalen Schematism der Urteilskraft geschah); aber man kann eben dieses Verhältnis zweier Erkenntnisvermögen doch auch bloß subjektiv betrachten, so fern eins das andere in eben derselben Vorstellung befördert oder hindert und dadurch den Gemütszustand affiziert und also ein Verhältnis, welches empfindbar ist (ein Fall, der bei dem abgesonderten Gebrauch keines andern Erkenntnisvermögens statt findet)." (EE, S.36)

Jacques Derrida, Verite, 97; Derrida führt auch die Referenzstelle aus dem ersten Band (413) von de Saussures Werk an: „Je trouvai, dans les bois au-dessus de l'hermitage, la tulipe sauvage, que je n'avais jamais vue auparavant." 2 Wolfgang Wieland, Erfahrung, 618. 3 Dirk Effertz, Kants Metaphysik, 139, mit den verschiedenen Textnachweisen.

100

III. Spiel als Erkenntnisgrund: Zum Spielbegriff in Kants Kritik der

Urteilskraft

2. Spiel und Lebensgefühl Nachdem bislang nur die Gegebenheitsweise des Gegenstandes im reinen ästhetischen Urteil und die dementsprechende Struktur der daran beteiligten Erkenntnisvermögen, das „Dies" des Urteils also, erörtert wurde, ist nunmehr die Aufmerksamkeit auf denjenigen Ausdruck zu richten, der die Stelle des Prädikates im reinen Geschmacksurteil einnimmt. Dabei ist zum Gebrauch des Prädikatbegriffs eine kurze Bemerkung vorauszuschicken, um Mißverständlichkeiten aus dem Weg zu gehen. Der Ausdruck „schön" wird nur so verwandt, „als ob" er „eine Beschaffenheit des Gegenstandes" anzeige, während er doch in Wahrheit „bloß eine Beziehung der Vorstellung des Gegenstandes auf das Subjekt enthält" (KU 18, S.124f). Kant selbst verwendet den Prädikatbegriff zwar gelegentlich, aber doch nur in Rücksicht auf den Gemütszustand des Subjekts und stets unter der Voraussetzung, daß die Bezogenheit der Vorstellung auf das Subjekt „zu gar keinem Erkenntnisse (dient), auch nicht zu demjenigen, wodurch sich das Subjekt selbst erkennt" (9, S.l 18).

a) Die Wahrnehmung des freien Spieles

Damit verbunden ist die Klärung der noch ungelösten Frage, auf welche Weise das beschriebene Verhältnis der Erkenntnisvermögen zur Kenntnis genommen werden kann. Bisher wurde diesbezüglich nur, freilich im Einklang mit Kant, von „bemerken" bzw. „wahrnehmen" gesprochen, ohne dies näher zu erläutern. Kant nennt dies eine „mindere Frage" und exponiert sie wie folgt: „auf welche Art wir uns einer wechselseitigen subjektiven Übereinstimmung der Erkenntniskräfte unter einander im Geschmacksurteile bewußt werden, ob ästhetisch durch den bloßen innern Sinn und Empfindung, oder intellektuell durch das Bewußtsein unserer absichtlichen Tätigkeit, womit wir jene ins Spiel setzen." (30, S.133) 1

α) Empfindung und Gefühl

Die zweite Alternative ist nach der bereits geleisteten Erörterung der Art der gegebenen Vorstellung mit Kant auszuschließen: Ist sie doch kein bestimmter „Begriff, welcher Verstand und Einbildungskraft in der Beurteilung des Gegenstandes zu einem Erkenntnisse des Objekts vereinigte (...) (wie im objektiven Schematism der Urteilskraft, wovon die Kritik handelt)" (ebd.). Die freie Harmonie als Verhältnis der Erkenntnisvermögen im reinen Geschmacksurteil 1

Andrea Esser, Kunst,

165, scheint für die zweite Alternative zu optieren.

101

2. Spiel und Lebensgefühl

kann sich also „nur durch Empfindung kenntlich machen" (31, S.133). Die Empfindung ist die gesuchte Weise der Kenntnisnahme, die auf der ästhetischen Reflexion aufruht. Diese bemerkt etwas, was dem Subjekt intern ist, indem sie die gegebene Vorstellung begriffsfrei bloß auf dieses bezieht. Dies ermöglicht erst die Empfindung. Sie versteht Kant in diesem Kontext nicht im Erfahrung ermöglichenden Sinne als „bloße reflektierte Formen der Anschauung" (8, S. 118) bzw. als irgendeine Art von Vorstellungen eines Gegenstandes, wie dies zur Bereitstellung derjenigen Vorstellung, die auf das Subjekt bezogen wird, unumgänglich ist. Empfindung gilt Kant in diesem Zusammenhang vielmehr als „Wirkung auf das Gefühl der Lust" bzw. als „Bestimmung des Gefühls der Lust oder Unlust" (ebd.). Eine solche subjektive Empfindung benennt er, „um nicht immer Gefahr zu laufen, mißgedeutet zu werden (...) mit dem sonst üblichen Namen des Gefühls" (9, S. 119), ohne sich indes konsequent an diese Terminologie zu halten. Empfunden wird also die Wirkung derjenigen Stimmung des Gemüts als Inbegriff der Erkenntnisvermögen, die dem Erkennen überhaupt im Sinne einer reinen Tätigkeit eignet. Diese modifiziert den „inwendige(n) Sinn" 1 , der das Gefühl der Lust und Unlust ist. Ohne die harmonische Konfiguration der Erkenntnisvermögen, die allein im reinen Geschmacksurteil eigens bemerkt wird, käme es nicht zur genannten Wirkung auf den inwendigen Sinn. Sie ist Voraussetzung der ihr entsprechenden Modifikation des Gefühls der Lust und Unlust. Insofern ist auch ohne weiteres ersichtlich, warum diese „subjektiven Bedingungen der Beurteilung der Gegenstände" (30, S.133) jener Wirkung vorhergehen müssen. Bevor auf diese selbst eingegangen werden kann, ist jedoch noch anzumerken, daß die so gesicherte „allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes in der gegebenen Vorstellung" (27, S.131) - deren Inhalt weder mitgeteilt wird, noch werden kann 2 - in keiner Weise mit irgendwie sprachlich verfaßten Strukturen zusammenhängt - ; dies widerspräche im übrigen auch dem damaligen Sprachgebrauch, der „mittheilen" im Sinne von jemanden an etwas teilhaben lassen verwandte 3 : Es geht nur um einen Gemütszustand, dessen Möglichkeit bei jedem wahrer Erkenntnis fähigen endlichen Wesen eo ipso vorausgesetzt werden kann 4 , dessen faktisches Eintreten und dessen für sich genommene Wahrnehmung jedoch kontingent ist. Aus ersterem Grunde gilt das reine Geschmacksurteil allgemein; aus zweiterem ist es gleichwohl nur subjektiv und kann jedermann nur angesonnen und nicht durch Beweise abgezwungen werden (vgl. 135, S.210).

'

Refl. 605, A A XV. 1 , 2 6 0 . Vgl. Wilhelm Vossenkuhl, Die Norm des Gemeinsinns. Andrea Esser (Hg.), Autonomie der Kunst? Zur Aktualität 120.

2

Über die Modalität des Geschmacksurteils, in: von Kants Ästhetik, Berlin 1995, 99-123, hier

3

Grimms Wörterbuch, das auch den Wortschatz seiner Vorgänger samt Quellen bietet, führt im entsprechenden Artikel nur eine äußerst ungebräuchliche Verwendung von „mittheilen" mit sprachlicher Konnotation an, deren erster Beleg um einiges nach Kant liegt, und verweist für Kants Zeit auf die Bedeutung „eines bloszen hin- oder Übergebens" (Sp. 2422). 4

Vgl. Hermann Schmitz, Die transzendentale Kommunikationsgemeinschaft bei Kant, Kuhlmann/Dietrich Böhler (Hg.), Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der pragmatik. Antworten auf Karl-Otto Apel, Frankfurt/M. 1982, 240-248, hier 242.

in: Wolfgang Transzendental-

102

III. Spiel als Erkenntnisgrund: Z u m Spielbegriff in Kants Kritik der

Urteilskraft

ß) L u s t als L e b e n s s t e i g e r u n g

Was aber ist nun unter dem Gefühl der Lust und Unlust näherhin zu verstehen, und wie ist dessen Modifikation durch das harmonische freie Spiel der Erkenntnisvermögen beschaffen? Der inwendige Sinn für Lust und Unlust geht immer auf das „Lebensgefühl" (3, S. 115) des Subjektes, das noch vom Leben selbst als bloßem „innere(m) Princip der Selbstthätigkeit" 1 zu unterscheiden ist. Kant notiert ganz allgemein: „Vergnügen ist ein Gefühl von der Beförderung des Lebens, Schmerz von der Hindernis. Leben allein ist keines von beydem." 2 Gefühl nun ist die E m p f i n d u n g seiner selbst durch das Subjekt, und zwar so, daß es nur a n k o m m t auf „das Verhältniß der Gegenstände (...) zur gesammten Kraft des Gemüths, dieselben entweder innigst zu recipiren oder auszuschließen. Das Recipiren ist das Gefühl der Lust und das Ausschließen der Unlust." 3 Wir befinden uns damit im Bereich des menschlichen, d. h. des sowohl sinnlich als auch verstandesmäßig geprägten Lebensgefühls, in welchem auch das reine ästhetische Urteil zu verorten ist: „Weil Alles, was das Gefühl des Lebens befördert oder vergrößert, gefällt, so betrift es entweder das thierische oder menschliche oder Geistige Leben. Das erste Gefällt in der Empfindung, das zweyte in der Anschauung oder Erscheinung, das dritte im Begriff. Alles vergrößert oder befordert das Gefühl des Lebens, was die Thätigkeit und Gebrauch seiner Kräfte, so wohl der Erkennenden als der Ausführenden, begünstigt." 4 Dies wird für das Gebiet des reinen Geschmacksurteils weiter verdeutlicht: „Die (sc. Lust) an der Beförderung des Lebens im Spiel der Erkentniskrafte überhaupt heißt Geschmak." 5 Genau dies liegt dem reinen ästhetischen Urteil zugrunde. Der Inhalt des reinen Geschmacksurteils besteht also in der Anzeige des Gefühls der Beförderung des Lebens als spezifisch menschlichem, d. h. weder bloß tierischem noch rein geistigem. Dies ruht auf dem für das Erkennen überhaupt zweckmäßigen Verhältnis der frei tätigen theoretischen Erkenntnisvermögen zueinander auf. Dabei wird die diese Harmonie hervorrufende Vorstellung in der Reflexion nicht durch den Begriff auf das sie anregende Objekt bezogen, sondern nur durch ihre Empfindungsqualität auf das Subjekt. Damit ist keine wie auch immer zu verstehende Selbsterkenntnis des Subjekts verbunden 6 , sondern allein das Selbstgefühl eines sich in der ästhetischen Reflexion selbst empfindenden Subjekts 7 . Im Urteil „Dies ist schön." bekundet das Subjekt seinen durch die unbestimmte Form des Gegenstandes angeregten und erst als solchen bemerkten Zustand, den es zurecht allen Subjekten seinesgleichen als endlichen Vernunftwesen zumuten kann, ohne j e d o c h deren Beitritt hierzu erzwingen zu können, da das Eintreten des allen Subjekten nur möglichen Zustandes j a kontingent ist.

1

Metaphysik L,, A A XXVIII. 1, 247. Refl. 1487, A A XV.2, 722. 3 Metaphysik Li, AA XXVIII. 1, 247. 4 Refl. 567, A A XV. 1 , 2 4 6 . 5 Refl. 988, A A XV. 1 , 4 3 3 . 6 Vgl. Eva Schaper, Aesthetic Appraisals, in: diess., Studies in Kant's Aesthetics, Edinburgh 1979, 53-77, hier 59. 7 Vgl. Friedrich Kaulbach, Ästhetische Welterkenntnis bei Kant, Würzburg 1984, 71.

2

2. Spiel und Lebensgefühl

103

Das Schöne steht also kurzgefaßt für die Beförderung des Lebensgefühls, und zwar des spezifischen Lebensgefühls des Menschen und nur des Menschen. Und diese Beförderung geschieht in und durch das freie Spiel der theoretischen Vermögen, also im reinen Geschmacksurteil und nicht im logischen bzw. Erkenntnisurteil; diesem Zusammenhang ist im folgenden noch nachzugehen. Dabei wird nicht auf die praktisch-sittliche Dimension eingegangen werden, in der sich das menschliche Leben als geistiges vollendet 1 . Es geht nämlich im reinen Geschmacksurteil über das Schöne allein um die menschlichen Vermögen im theoretischen Sinne, die für sich die Endlichkeit des Menschen nicht zu transzendieren vermögen. Aus diesem Grunde konnte das ästhetische Urteil über das Erhabene von vorneherein beiseitegelassen werden 2 , bei dem die praktische „Vernunft der Sinnlichkeit Gewalt antun muß (...) durch die Einbildungskraft selbst, als einem Werkzeuge der Vernunft" (116f, S.194). Diese „Beraubung (...) zum Behuf der innern Freiheit" deckt hingegen erst „eine unergründliche Tiefe dieses übersinnlichen Vermögens, mit ihren ins Unabsehliche sich erstreckenden Folgen, in uns" auf (120, S.197f). Was also ist unter einer Beförderung des bloß menschlichen Lebensgefühls zu verstehen, in welcher das spezifische Gefühl der Lust am Schönen besteht? Kant beschreibt sie als „Belebung beider Vermögen (der Einbildungskraft und des Verstandes) zu unbestimmter, aber doch, vermittelst des Anlasses der gegebenen Vorstellung, einhelliger Tätigkeit" (31, S.133f). Es handelt sich um eine Steigerung der Aktivität der Vermögen, die - einmal durch die gegebene Vorstellung in beschriebener Weise angestoßen - Eigendynamik entwickelt: Die Erkenntnisvermögen beleben sich sowohl durch die ununterbrochene synoptische Tätigkeit der Einbildungskraft und die ebenso ununterbrochene Verbindung der Anschauungen durch den Verstand gegenseitig (vgl. 66, S.158). Insofern hat die Lust am Schönen „Kausalität in sich, nämlich den Zustand der Vorstellung selbst und die Beschäftigung der Erkenntniskräfte ohne weitere Absicht zu erhalten." (37, S.138) Darin liegt, daß das Spielen der Erkenntniskräfte keinen immanenten Grund aufweist, von sich aus zu einem Ende zu kommen: Es fehlt die bestimmte Regel, die es in einer Erkenntnis terminieren läßt. In dieser Differenz von „Erkenntnis überhaupt" und bestimmter Erkenntnis als Differenz von sich aus endloser Bewegtheit und in einem bestimmten Ziel sich vollendender Bewegung, d. h. zwischen freiem Spiel und Regelspiel, gründet, wie abschließend zu zeigen ist, der spezifische Charakter der Lust am Schönen. Diese ist die Lust des Subjektes an sich selbst, die sich jedoch nur dann einstellt, wenn die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis in der Reflexion positiv vorliegen 3 . Deren bloßes Vorliegen wird als Intensivierung des genuin menschlichen Lebensgefühls empfunden: Sie gilt dem endlichen Verstandeswesen als ein Mehr an Leben. Es vermag sich im Bewußtsein seines Erkenntnisvermögens auch in seiner Endlichkeit zu genießen. Dies geschieht allein im reinen Geschmacksurteil. Ein solches kann deswegen nicht über das hier nicht weiter zu thematisierende Ideal der Schönheit gefällt werden, weil die Verknüpfung des gegebenen Gegenstandes „mit allem dem, was unsere Vernunft mit dem Sittlich-Guten in der Idee der höchsten Zweckmäßigkeit" (60, S.154) denkt, dessen Überschreitung involviert. Im spezifisch menschlichen Lebensgefühl und dessen Steigerung, die das Gefühl der Lust am freien Schönen 1

Vgl. Metaphysik Lu AA XXVIII. 1, 248ff. Vgl. John H. Z a m m i t o , The Genesis of Kant's Critique of Judgment, C h i c a g o / L o n d o n 1992, 282. 3 Vgl. Johann Heinrich Trede, Die Differenz von theoretischem und praktischem Vernunftgebrauch und dessen Einheit innerhalb der Kritik der Urteilskraft. Ein Beitrag zur Interpretation der Ästhetik Kants, Diss. Heidelberg 1969, 32. 2

104

darstellt,

III. Spiel als Erkenntnisgrund: Z u m Spielbegriff in Kants Kritik der

wird

das

übersinnliche

Vermögen

des

Menschen

als

möglicher

Urteilskraft

Bürger

einer

intelligiblen W e l t nicht thematisch. Sofern das reine ästhetische Urteil nur das f r e i e Spiel der E r k e n n t n i s v e r m ö g e n als lustvollen, subjektiven Z u s t a n d anzeigt, der in der zur theoretischen Erkenntnis geeigneten B e w e g t h e i t des G e m ü t s besteht, ist es v o m moralischen Urteil disjunkt: „Beaute pure et beaute ideale sont

incompatibles."'

b) Freies Spiel und Spiel

N a c h dieser knappen Darstellung des besonderen G e f ü h l s der Lust i m reinen G e s c h m a c k s u r t e i l kann nun abschließend eine e n t s c h e i d e n d e Implikation des kantischen Spielbegriffes herausgearbeitet w e r d e n . Sie besteht in e i n e m bestimmten Aspekt der D i f f e r e n z z w i s c h e n ästhetischen

Urteil

und

theoretischem

Erkenntnisurteil.

Dazu

ist

wiederum

von

reinem einem

besonderen G e f ü h l der Lust auszugehen.

cc) A r b e i t u n d S p i e l d e s U r t e i l e n s

A u c h das Erkenntnisurteil führt nach Kants A u f f a s s u n g ein G e f ü h l d e r L u s t mit sich: D i e begriffliche B e s t i m m u n g eines gegebenen G e g e n s t a n d e s „ist ein Z w e c k in A n s e h u n g der Erkenntnis; und in B e z i e h u n g auf diese ist sie auch jederzeit mit W o h l g e f a l l e n (welches die B e w i r k u n g einer j e d e n auch bloß problematischen Absicht begleitet) v e r b u n d e n . Es ist aber alsdann b l o ß die Billigung der A u f l ö s u n g , die einer A u f g a b e G n ü g e t u t " (71, S.162). Z w e i f e l l o s erweist sich somit j e d e b e s t i m m t e Erkenntnis im G e g e n s a t z zu einer solchen v o r g ä n g i g e n Erkenntnis ü b e r h a u p t als Arbeit bzw. als G e s c h ä f t . K a n t notiert: D i e „Arbeit (Bestrebung) misfällt, so lange sie dauert, und vergnügt nur d u r c h das E n d e , n e m l i c h den Z w e k . D a s Spiel () gefällt, so lange es dauert ( . . . ) . Die B e s c h ä f t i g u n g , w e l c h e keinen Z w e k hat, ist kein G e s c h ä f t , sondern Spiel; die, so u m eines Z w e k s willen da ist, ist Arbeit." 2 Es scheint also so, als o b das selbe Verhältnis der aktiven E r k e n n t n i s v e r m ö g e n im einen Fall als mit Lust und im anderen Fall als mit Unlust verbunden gedacht w e r d e n m ü ß t e . W i e läßt sich dieser auf den ersten Blick irritierende B e f u n d interpretieren? I m Z u s a m m e n h a n g dieser F r a g e kann nun eine U n t e r s c h e i d u n g zwischen Spiel und f r e i e m Spiel weiterhelfen. Es war bereits gezeigt worden, daß das freie Spiel in der allein allgemein mitteilbaren F o r m eines h a r m o n i s c h e n Verhältnisses der tätigen E r k e n n t n i s k r ä f t e im Sinne der diese h e r b e i f ü h renden Tätigkeit einer j e d e n Erkenntnis voraufgeht. U n d es w u r d e e b e n s o gezeigt, d a ß das reine Geschmacksurteil gerade die E m p f i n d u n g dieses E r k e n n t n i s g r u n d e s 3 z u m A u s d r u c k bringt. Diese reine Tätigkeit des freien Spielens wird als ein G e f ü h l der Lust, d. h. der Steigerung des

2 3

Jacques Derrida, Verite, 127. Refl. 810, AA XV. 1,360. Vgl. Bernd Dörflinger, Realität, 179.

105

2. Spiel und Lebensgefühl

typischen Lebensgefühls des endlichen Subjektes, erfahren. Wird dem freien Spiel ein Zweck gesetzt, soll also das Erkennen überhaupt in einer bestimmten Erkenntnis terminieren, hat es als Arbeit zu gelten, da dann die Tätigkeit allein durch die Erreichung ihres Zwecks ein Lustgefühl erregt. Die Arbeit der Erkenntnis ruht auf dem freien Spiel des Erkennens auf. Insofern wird es nunmehr zweifelhaft, ob zwischen beiden überhaupt eine vollständige Disjunktion vorliegt. Entspringt doch nicht nur die eine aus dem anderen, sondern liegt doch auch in beiden Fällen dieselbe Tätigkeit vor, nur eben entweder in infiniter oder in finalisierter Form. Es ist also durchaus sinnvoll, sofern man Kants Rede von „Erkenntnis überhaupt" ernstnehmen möchte, dasjenige, was Kant als Arbeit auffaßt, Erkenntnis nämlich, von seiner ursprünglichen Form im Sinne seines „Überhaupt", d. h. vom freien Spiel her, zu bestimmen. Denn es scheint aus dieser Perspektive zumindest so, als stelle die Arbeit der Erkenntnis nur eine Modifikation bzw. ein Derivat des freien Spieles des Erkennens dar 1 . Aus diesem Grund ist es nötig, nach der Ursache dieser Veränderung des freien Spieles zu fragen, die es in der Ausrichtung auf bestimmte Erkenntnis erfährt. Das freie Spiel der Erkenntnisvermögen wird durch die unbestimmte Vorstellung eines gegebenen Gegenstandes angeregt. Dessen formale Beschaffenheit kann nicht inhaltlichbegrifflich angegeben werden - sonst gäbe es j a ein objektiv gültiges Prinzip des Geschmacks sondern nur formal als radikale Einzelheit, die jeweils erst in der Vorstellung bemerkt werden kann. In der bestimmten Erkenntnis hingegen als der Verknüpfung einer bestimmten Anschauung mit einem bestimmten Begriff wird der vorgestellte Gegenstand als Fall einer angebbaren Regel, d. h. eines Begriffes, 2 festgestellt. Dies bewirkt das Erfahrung ermöglichende Verfahren der Urteilskraft, das Kant Schematismus nennt. Die Schemata selbst sind die Regeln zur Verbindung von Vorstellungen der Einbildungskraft und des Verstandes, die empirische Begriffe ausdrücken, so daß konkrete Erkenntnisurteile sich ergeben können. Deren transzendentale Bedingungen sind die Kategorien. Sie fungieren als reine Verstandesbegriffe im Verhältnis zu empirischen Begriffen als „second-order rules" 3 , da sie die Gesamtheit der verschiedenen Möglichkeiten des Denkens bestimmter Gegenstände bilden. Die Kategorien als ,,allgemeine() Bedingung(en) zu Regeln" (KrV Β 174/A 135, S.186) werden durch empirische Begriffe beispielhaft konkretisiert 4 . Ihr konkreter, d. h. unter den Bedingungen der Sinnlichkeit stehender, Gebrauch geschieht durch den Schematismus des reinen Verstandes. Wie aber die Allgemeinheit der Regel, die sowohl zur Subsumtion unter Begriffe als auch zu deren Entwurf nötig ist, gesichert bzw. erreicht wird, bleibt „eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden" (B 180f/A 141, S.190). Die Möglichkeit einer bestimmten allgemeinen Regel - sei es die „der Einheit nach Begriffen überhaupt" (Β 181/A 142, S.190), sei es die „der Bestimmung unserer Anschauung, gemäß einem gewissen allgemeinen Begriffe" (B 180/A 141, S.190) - ist zugleich die Möglichkeit genuin menschlicher, d. h. diskursiver,

Gerhard See! verfährt gerade umgekehrt und sieht in seiner eigenen Unterstellung, „daß Kant die Tätigkeit, die der ästhetischen Lust zugrunde liegt, als Simulation eines anderen Typus von Tätigkeit, nämlich der Erkenntnis begreift", den „erste(n) schwache(n) Punkt" von Kants Theorie: Über den Grund der Lust an schönen Gegenständen. Kritische Fragen an die Ästhetik Kants, in: Hariolf Oberer/Gerhard Seel (Hg.), Kant. Analysen - Probleme - Kritik, Würzburg 1988, 317-356, hier 347. 2

Vgl. Robert E. Butts, Kant's Schemata as Semantical Today, LaSalle 1969, 290-300, hier 295f. 3 Robert Paul Wolff, Kant 's Theory, 213. 4 Vgl. ebd.

Rules, in: Lewis White Beck (Hg.), Kant

Studies

106

III. Spiel als Erkenntnisgrund: Z u m Spielbegriff in Kants Kritik der

Urteilskraft

Erkenntnis. Deren W i e kann zwar rekonstruiert und deren objektive Gültigkeit kann zwar gerechtfertigt werden; dies unternimmt j a Kant in der Kritik der reinen Vernunft. Ihr Grund selbst aber entzieht sich der Erkenntnis durch Begriffe: Das freie Spiel der Erkenntnisvermögen als reine Tätigkeit des Urteilens kann nur durch seine Empfindung im reinen Geschmacksurteil in seiner schieren Vorhandenheit wahrgenommen werden. Damit erweist sich die oben gestellte Frage nach der Ursache der Veränderung des Spieles des Erkennens zur Arbeit der Erkenntnis als nicht beantwortbar, weil sie mit der Frage nach dem Grund des Vorhandenseins bestimmter diskursiver Erkenntnis zusammenfällt: Die Kritik der ästhetischen Urteilskraft zeigt, - wie Wolfgang Wieland pointiert formuliert - „daß die Arbeit des Begriffs von Voraussetzungen abhängig ist, Uber die er nicht Herr werden kann" 1 . Dies läßt sich dahingehend spezifizieren, daß sich insgenauere nicht klären läßt, aus welchem Grund bestimmte Erkenntnis erlangt wird, ohne daß diese jeweils eigens bewußt als Zweck gesetzt wird.

ß) Spiel und E r k e n n t n i s

Dennoch eröffnet die Exposition dieser Frage die Möglichkeit weiterer Verdeutlichung des Verhältnisses beider Tätigkeiten und die Verortung ihres Übergangs bzw. ihres Umschlags, wenngleich dieser selbst nicht begründet werden kann. Der Unterschied beider Tätigkeiten besteht darin, daß die Erkenntniskräfte im reinen Geschmacksurteil nicht auf eine bestimmte Erkenntnisregel festgelegt sind, obschon sie gegen deren mögliche Formen nicht verstoßen, während die bestimmte Erkenntnis gerade auf eine solche Festlegung zurückgeht. Diese Fixierung wird durch den Gebrauch der Kategorien als Regeln von Regeln zur begrifflichen Bestimmung gegebener Vorstellungen geleistet. Hierdurch wird das freie Spiel der Erkenntnisvermögen so modifiziert, daß es notwendig auf ein bestimmtes Ende zuläuft, d. h. in einem Begriff terminiert. Die Harmonie der Erkenntnisvermögen stellt sich in ihrem freien Spiel nicht von selbst ein, sondern ihre Aktivität wird erst durch den Schematismus zur Harmonie geregelt. Das Spiel der Urteilens - Erkenntnis Uberhaupt - verhält sich also zur Arbeit des Begriffes - bestimmter Erkenntnis - so wie das freie Spiel ohne angebbare, fixierte Regeln, das von sich aus zu keinem Ende kommt 2 und sich in reiner B e w e g u n g hält, zu einem Spiel, das absolut gültigen Regeln folgt und aufgrund jener zu einem ganz bestimmten, bewertbaren Ende führt. 3 Dies ist mehr als eine bloße Analogie, insofern f ü r Kant die faktische Anwesenheit von etwas immer ihre eigene Möglichkeit als Grund voraussetzt. Von hier aus läßt sich nun die im Verhältnis zum Wohlgefallen im reinen Geschmacksurteil defizitäre Struktur des Gefühls der Lust als bloßer Billigung der gelungenen Lösung einer Aufgabe im Erkenntnisurteil klären 4 . Die Lösung dieser normalerweise nicht bewußt, sondern nur durch Gefühl als solcher wahrgenommenen Aufgabe, d. h. die Gewinnung bestimmter

1

Wolfgang Wieland, Erfahrung, 622. Vgl. Thomas Sören Hoffmann, Die absolute Form. Modalität, Individualität und das Prinzip der Philosophie nach Kant und Hegel, Berlin/New York 1991, 66. 3 Vgl. die Unterscheidung von π α ί ζ ω und π ε σ σ ε ύ ω im einleitenden Heraklit-Kapitel: 1.2.c). Eine solche Differenzierung deutet für Kant auch Mihai I. Spariosu, Dionysus, 40, an. 4 Vgl. dg. Richard E. Aquila, A New Look at Kant's Aesthetic Judgments, in: Ted Cohen/Paul Guyer (Hg.), Essays, 87-114, hier 90. 2

107

2. Spiel und Lebensgefühl

Erkenntnis, besteht in der Befolgung und fehlerfreien Anwendung der gesetzmäßig gültigen, zum Erkenntnisgewinn nötigen Regeln des Spieles der Erkenntnisvermögen. Dies geschieht, ohne eigens Gegenstand der Reflexion zu werden, und erfordert Anstrengung. Diese wird dann unaufhebbar als Unlust empfunden, wenn sie ihren Zweck nicht erreicht, so daß das Interesse des Subjektes am Gegenstand unbefriedigt bleibt. Zur Verfehlung des Zwecks kommt es durch Verstoß gegen die oder durch inkorrekte Anwendung der Regeln, die die Möglichkeit seiner Erreichung allererst konstituieren. Wird die absolute Ordnung, die das Regelspiel setzt und in der es sich realisiert, an irgendeiner Stelle durchbrochen, schlägt sie in unsinnige bzw. sinnleere Betätigung um, die - sofern keine pathologische Dispositionen vorliegen - keine Lust verschafft: Das Spiel, in das die Erkenntnisvermögen durch den nicht bewußt gesetzten Zweck bestimmter Erkenntnis gesetzt sind, mißlingt. Es gelangt durch das Verschulden des Subjektes nicht an das durch seine eigene Struktur vorgegebene Ende, wodurch sich allein sein Gelingen zeigt. Vor dieses - freilich nur dem Transzendentalphilosophen bewußte - Wagnis sieht sich jeder Versuch zur Erkenntnisgewinnung gestellt, da Erfolg oder Mißerfolg erst von seinem Ende her bewertbar ist. Und zwar im Sinne seiner Angemessenheit an das apriorisch vorausgesetzte Ganze wissenschaftlicher Erfahrung als eines Systems von Gesetzen, dessen transzendentale Bedingungen die kritische Philosophie als Leitfaden zur Aufdeckung von Regeln von Regeln untersucht. Das Regelspiel, als welches der Transzendentalphilosoph bestimmte Erkenntnis auffassen kann, erweist sich somit als Wissenschaft überhaupt, innerhalb derer allein die objektive Gültigkeit der Erkenntnisregeln gerechtfertigt und beansprucht werden kann. Weil aber der tatsächliche Grund unseres Erkennens, das harmonische und freie Spiel der Erkenntnisvermögen als rätselhafter Grund der Spontaneität des transzendentalen Subjektes selbst, wissenschaftlicher Erkenntnis nicht zugänglich ist, sondern sich nur im Lebensgefühl ausweist 1 , kann das System als absoluter Regelzusammenhang, das die Wissenschaft darstellen soll, ohne Objektivitätsverslust „selbst nicht notwendig, sondern kontingent" 2 sein, wie Karen Gloy pointiert formuliert. Gerade der Ausgang vom Spielbegriff und die damit verbundene Anerkennung der begrifflichen Unfaßbarkeit des Übergangs bzw. des Umschlags vom freien Spiel der Erkenntniskräfte als Erkennen überhaupt zum Regelspiel bestimmter Erkenntnis - oder die Unfaßlichkeit der Setzung von Erkenntnis als Zweck - wahrt so in kantischem Geist die Haltung „kritischer Selbstbescheidung" und das Bewußtsein „der Endlichkeit und Überholbarkeit ihres Standpunkts" 3 , die der Philosophie, die sich um die Klärung dieser Spielregeln bemüht, ansteht. In seiner eigentümlichen Stellung in der Welt als „Wesen der Mitte" 4 , das sich weder bloß empfindend wie das Tier noch ausschließlich erkennend wie ein reines Geistwesen zum Seienden verhalten muß, ist der Zustand des freien Spieles der Erkenntnisvermögen dem Menschen ursprünglich zu eigen 5 . Es zeigt sich, daß seine Erkenntnisvermögen nicht in ihrer jeweiligen konkreten Aktualisierung in bestimmter Erkenntnis ihren Idealzustand erreichen.

Vgl. Rudolf A. Makkreel, The Feeling of Life: Some Kantian Sources of Life-Philosophy, in: DiltheyJahrbuch 3 (1985), 83-104, hier lOOf. 2 Karen Gloy, Kants Philosophie und das Experiment, in: Gerhard Schönrich/Y asushi Kato (Hg.), Kant, 64-91, hier 91. 3 Ebd. 4 Walter Biemel, Die Bedeutung von Kants Begründung der Ästhetik für die Philosophie der Kunst, Köln 1959,39. 5

Vgl. Andreas Heinrich Trebels, Einbildungskraft,

135.

108

III. Spiel als Erkenntnisgrund: Z u m Spielbegriff in Kants Kritik der

Urteilskraft

Dieser stellt sich vielmehr ein, indem die Vermögen als bloße Vermögen in ihrem ebenso zweckmäßigen wie zweckfreien reinen Tätigsein zu Bewußtsein gelangen: Das freie Spiel der Erkenntniskräfte in der Form der Harmonie liegt dem reinen Geschmacksurteil zugrunde. Dies zeigt zugleich ein fundamentales Einverständnis des Menschen mit seinem eigenen Wesen und seinem Aufenthalt in der Welt an. Ohne seine Endlichkeit transzendieren zu müssen 1 und ohne in der Weise der Tiere allein im Sinnlichen aufzugehen, empfindet der Mensch durch das Schöne Lust an seiner eigentümlichen Daseinsweise. Sein In-der-Welt-Sein wird ihm im reinen Geschmacksurteil selbst zur Lust. Daraus erhellt die Haltung der „Gunst (), womit wir die Natur a u f n e h m e n " (KU 253, S.293). Wir verharren in der Wahrnehmung der „innere(n) Zweckmäßigkeit in dem Verhältnisse unserer Gemütskräfte in Beurteilung gewisser Produkte" (ebd.) der Natur, ohne uns dieser erkennend zu bemächtigen und damit zurechtzumachen; die Distanz zum gegebenen Gegenstand wird in der Kontemplation gewahrt 2 . In diesem „Ohne", „qui compte pour la beaute" 3 , gründet die Möglichkeit der W e n d u n g an das Naturschöne, „um hier gleichsam Wollust für seinen Geist in einem Gedankengange zu finden, den er sich nie völlig entwickeln kann" (168, S.233). Dieser Sinn für das Schöne, der durch die Möglichkeit des freien Spieles der Erkenntnisvermögen konstituiert wird, ist aus der Perspektive seiner Endlichkeit genau das Spezifikum, das den Menschen als Menschen auszeichnet und nicht die Realisierung bestimmter Erkenntnis noch seine Moralität.

Vgl. dg. Peter Heintel, Die Bedeutung der Kritik der ästhetischen Urteilskraft für die transzendentale Systematik, B o n n 1970, 58. 2 Vgl. Georg Kohler, Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung. Beiträge zur Auslegung von Kants „Kritik der ästhetischen Urteilskraft", Berlin/New York 1980, 152ff, und J o a c h i m Peter, Das transzendentale Prinzip der Urteilskraft. Eine Untersuchung zur Funktion und Struktur der reflektierenden Urteilskraft bei Kant, Berlin/New York 1992, 115f. 3 J a c q u e s Derrida, Verite, 101.

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

Daß

das

Phänomen

Nietzsches

des

zugehört,

ist

Spieles

bzw.

in

Forschung

der

ein

spielerisches

Element

unumstritten.

wesentlich

Interpreten

der

dem

Denken

verschiedensten

p h i l o s o p h i s c h e n S t r ö m u n g e n b i l l i g e n d e m B e g r i f f d e s S p i e l e s e r h e b l i c h e B e d e u t u n g für d e n G e h a l t der n i e t z s c h e s c h e n P h i l o s o p h i e zu. 1 D i e s e H o c h s c h ä t z u n g g e h t b i s w e i l e n s o w e i t , d a ß der S p i e l g e d a n k e als „einer ihrer g r u n d l e g e n d e n , j a e i n e r ihrer zentralen G e d a n k e n " 2

angesehen

wird. U m s o ü b e r r a s c h e n d e r m u t e t e s v o r d i e s e m H i n t e r g r u n d an, w e n n d i e B e d e u t u n g d i e s e r „grandiose(n) Nietzsches)

praktischen

sprungslosen

Metapher"3,

kosmische(n)

Überlegungen"4

„Welt aus Z e i c h e n

ausführlicheren Untersuchung Nietzsches

die

Rede

von

(...),

gewürdigt

„Spiel"

dieses

„untrennbaren

oder auch dieses

Bestandteil(s)

seiner

Titels einer wahrheits-

d i e e i n e r tätigen D e u t u n g o f f e n ist" 5 , n o c h wurde; gerade

unmittelbar

so,

verständlich.

als sei Ein

ausgerechnet

solches

(sc.

und

ur-

keiner

im

Falle

unausdrückliches

i n t u i t i v e s E i n v e r s t ä n d n i s s c h e i n t j e d o c h e h e r g e e i g n e t , d a s V e r s t ä n d n i s d e s in R e d e s t e h e n d e n Ausdrucks

zu

verstellen

o d e r ihn

1

von

vorneherein

im Unklaren

zu belassen.

Er

scheint

Vorerst nur beispielhaft seien hier genannt: Günter Abel, ζ. B. Logik und Ästhetik, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), 112-148, hier 146f; Ernst Behler, ζ. B. Nietzsche und die romantische Metapher von der Kunst als Spiel, in: Michael S. Batts/Anthony W. Riley/Heinz Wetzel (Hg.), Echoes and Influences of German Romanticism. FS H a n s Eichner, N e w York u. a. 1987, 11-28, hier 27f; M a u r i c e Blanchot, L'entretien infini, Paris 1969, insb. 313-322; Eric Blondel, Nietzsche: The Body and Culture. Philosophy as Philological Genealogy (transl. by Sean Hand), London 1991, 2 4 3 f f ; Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie (aus d e m Franz, v. Bernd Schwibs), H a m b u r g 1991, 29ff pass.; Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz (aus d e m Franz. v. R o d o l p h e Gasche), F r a n k f u r t / M . 5 1992, 4 2 5 pass.; Mihailo Djuric, Nietzsche und die Metaphysik, Berlin/New York 1985, insb. 148-187; Eugen Fink, Nietzsche-, Michel Foucault, Nietzsche, 80 pass.; Michel Haar, ζ. B. Nietzsche et la metaphysique, Paris 1993, 21 f pass.; Sarah K o f m a n , Nietzsche et la metaphore, Paris 1983, 31 pass.; Georg Picht, Nietzsche, S. XXf pass, und M a n f r e d Riedel, Für einen anderen Umgang mit Nietzsche, in: Z. f. phil. Fo. 50 (1996), 224-235, hier 234f. Zu nennen ist in diesem Kontext auch Friedrich Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, B o n n / W i e n 1980, insb. 131 -185, d e m diese Studie einige A n r e g u n g e n verdankt, wenngleich Kaulbach mit seiner Konzentration auf einen methodisch vollständig kontrollierbaren, zu allgemeinen Gültigkeitsanspruch e r h e b e n d e n Ergebnissen f ü h r e n d e n Begriff des Experimentes unter A u s b l e n d u n g des Spielbegriffes und v. a. mit der entschiedenen A k z e n t u i e r u n g des Bereiches der Praxis (s. u. S c h l u ß b e m e r k u n g ) nach der vorliegenden Interpretation Nietzsches theoretische Pointe wohl verfehlt. 2 3 4 5

Mihailo Djuric, Nietzsche, 152. Eugen Fink, Nietzsche, 41. Mihailo Djuric, Nietzsche, 173. Jacques Derrida, Schrift,

441.

110

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

'selbstverständlich' - nach Nietzsche ein „skandalös gebildete(s) Modewort" 1 . Eine einigermaßen präzise Erfassung dessen, was von Nietzsche mit dem Begriff des Spieles angesprochen ist, ist zudem erst - was sich im folgenden zeigen wird - vor dem Hintergrund der philosophischen Tradition zu gewinnen, die im bisherigen Gang der Untersuchung herausgearbeitet wurde. Eine solche Klärung des philosophischen Ortes des Spielbegriffs in Nietzsches Denken soll nunmehr versucht werden. Keinesfalls jedoch wird damit ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, soll doch nur eine, wenngleich, wie es scheint, grundlegende Perspektive beleuchtet werden: die des Verhältnisses von Spiel und Sprache bzw. Erkennen. Ebenso wie sich die Rede vom Spiel „wie ein Leitmotiv durch die gesamte Philosophie Nietzsches bis in die späteste Zeit" 2 hindurchzieht und so f ü r diese auch einheitsstiftende Funktion zu gewinnen vermag, so beschäftigt auch das Problem der Sprache und damit der Möglichkeit von Philosophie überhaupt Nietzsche unablässig. Dies erscheint nur konsequent: Wird doch das Alltägliche, „was als ungeheures Räthsel vor Aller Augen liegt, von den Wenigsten als Räthsel verstanden", so daß „für die wenigen rechten Philosophen eben diese Probleme unberührt, mitten auf der Fahrstraße und gleichsam unter den Füßen der Menge, liegen bleiben, um von ihnen dann sorgsam aufgehoben zu werden und von nun an als Edelsteine der Erkenntniß zu leuchten." 3 Das „alleralltäglichste" aber ist die Sprache, und „es muß ein Philosoph sein, der sich mit ihr abgiebt." 4 So hat die Untersuchung nunmehr die Aufgabe, Nietzsches Auffassung von Sprache am Leitfaden des Spieles darzulegen und zu klären, um sodann deren Implikationen und Konsequenzen deutlich zu machen, die die Möglichkeit betreffen, nach Nietzsche überhaupt noch Philosophie und Wissenschaft treiben zu können. 5 Dabei wird sich zeigen, daß Nietzsche unter A u f n a h m e des doppelten Spielbegriffes Heraklits sowohl die in Termini des Spielens auftretende Sprachkritik Piatons und dessen damit verbundenes Philosophieverständnis als auch die kantische Erkenntnis- bzw. Metaphysikkritik und den damit verbundenen und auf die Grundlosigkeit der begrifflichen Erkenntnis hindeutenden Begriff des freien Spieles radikalisiert. 6 Damit bricht Nietzsche anhand des „Angelpunkt(es)" 1 'Spiel' aus der Tradition der Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten,

KSA I, 646.

2

Günter Wohlfart, Artisten-Metaphysik. Ein Nietzsche-Brevier, Würzburg 1991, 95. Wohlfart konzentriert sich in seinen einschlägigen Publikationen (s. a. ders., Also) auf die ästhetische Dimension des heraklitisch-nietzscheschen „Welt-Spiels" als „Art-fiction-Vision" einer sog. „Vorpostmoderne" (ArtistenMetaphysik, 103, pass.), ohne jedoch Nietzsches Weltbegriff oder die über Heraklit hinausfuhrende philosophische Tradition des Spielbegriffes zu thematisieren. 3

Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, KSA I, 737. Nachlaß, in: Friedrich Nietzsche, Frühe Schriften. Beck'sche Ausgabe Werke [= B A W ] (hg. v. Hans Joachim Mette), München 1933ff [ND München/Berlin/New York 1995], Bd. V, 268. 4

5

Dies überhaupt zu erwägen, weigert sich Margot Fleischer, wenn sie davor warnt, daß ein solcher Versuch unter Austreibung „alle(r) Probleme wie auch alle(r) Erkenntnisse" aus Nietzsches Werk ebendies in ein Spiel „auflösen" würde, ohne freilich zu klären, was denn unter einem solchen verstanden werden könnte: Der „Sinn der Erde" und die Entzauberung des Übermenschen. Eine Auseinandersetzung mit Nietzsche, Darmstadt 1993, 329, Anm. 8. 6 Trotz „Nietzsches üble(r) Angewohnheit, seine Informationen aus der Literatur zweiter oder dritter Hand ( . . . ) zu beziehen" (so Giorgio Colli im Nachwort zu KSA I, 917), ist doch auch in der Nietzsche-Philologie Nietzsches Kenntnis des platonischen Werkes und wenigstens der Kritik der Urteilskraft aus eigener Lektüre nicht umstritten. Zu anderen Werken Kants, insbesondere der Kritik der reinen Vernunft, kann hier nur bemerkt werden, daß es auch einer noch so ausgefeilten Philologie nicht möglich sein wird zu beweisen, daß Nietzsche ein ihm erreichbares Buch nicht gelesen hat. Zu Nietzsches Kant-Kenntnis s. u. 2.a)ß) u. c)ß).

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

111

Metaphysik aus und entwirft eine neue Form von Philosophie, die hier noch ganz vorläufig unter dem Titel des Unernstes genannt werden soll. Die Darstellung dieses Zusammenhangs gliedert sich in drei Schritte: Zunächst soll der agonale Charakter des Spieles, das Nietzsche von der antiken Philosophie her zu verstehen sucht, beschrieben werden. Sodann soll anhand einer Analyse der Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne die Spielhaftigkeit der Sprache im allgemeinen erwiesen werden. Von hier aus läßt sich nun gemäß der Sprachabhängigkeit allen Denkens Erkennen insgesamt als Spiel dartun und die Notwendigkeit einer Wissenschaft oder einer Philosophie umreißen, der weder erlaubt ist, auf einen in weitestem Sinne korrespondenztheoretisch verstandenen Wahrheitsbegriff zurückzugreifen, noch auch auf eine in diesem Sinne als wahr begriffene systematisch-eindeutige Interpretation von Welt. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung kann dann abschließend im Ausgang von der Idee einer „Fröhlichen Wissenschaft" Nietzsches Begriff einer gegenwärtig möglichen Philosophie des Freien Geistes erschlossen werden, die keinesfalls mit jener unschuldig schaffenden Philosophie der Zukunft, die gänzlich lustvoll bejahtes Spielen sein soll, identifiziert werden darf, welche Nietzsche in manchen Passagen der Zarathustra-Dichtung - wohl parodistisch, wenigstens aber ironisierend anzukündigen scheint. Dabei soll zugleich auch die unvermeidbare Zweischneidigkeit der Konsequenzen einer solchen, von Nietzsche vertretenen „freigeistigen" Auffassung von Philosophie in den Blick genommen werden.

1

Mihailo Djuric, Nietzsche,

152

112

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

1. Agon und Spiel Die Bestimmung der hellenischen Kultur von ihrer frühen Zeit an als wesenhaft agonal gehört spätestens seit Ernst Curtius' Griechischer Geschichte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zum festen Bestand der griechischen Altertumswissenschaft.' Insbesondere nach Jacob Burckhardts umfassenden Werk zur Griechischen Kulturgeschichte, das aus einer langen Reihe von an der Baseler Universität abgehaltenen Kollegien entstand, wurde „nach dem Ausgang des heroischen Königtums alles höhere Leben der Griechen, das äußere wie das geistige, zum Agon" 2 . Diese Lehrveranstaltungen fanden auch während Nietzsches Professur in Basel statt. Obschon er diese nicht persönlich besuchte 3 , befand er sich doch in regem mündlichen Austausch mit seinem Kollegen Burckhardt. Darüberhinaus besaß er auch zwei Nachschriften dieser Kollegs. 4 Nietzsches eigene Überlegungen zum „agonalen Instinkt" 5 der Griechen durchziehen sein Werk seit den späten sechziger Jahren und sind stark von Burckhardt inspiriert 6 , wie die Untersuchung des Agonbegriffes zeigen wird. Aus dieser Perspektive kann Nietzsches Wertung der sokratischen Kultur als dekadent gegenüber der durch Heraklit repräsentierten vorsokratischen dargestellt werden. Dieses Motiv läßt sich auch in Nietzsches Beschreibung von Dialektik und Rhetorik als unterschiedlicher Weisen des Agon auffinden: Er betont v. a. den agonalen Charakter bestimmter Weisen des Philosophierens, die dadurch den Grundzug des griechischen Wesens in sich aufnehmen. Hieraus erklärt Nietzsche die Faszination, die Sokrates auf die athenische Jugend ausübt: Sie besteht darin, daß „er eine neue Art Agon entdeckte" 7 , die Dialektik, welche erst Piaton zur „Kunstform" 8 erhob. Bei der Untersuchung dieser Zusammenhänge wird der Akzent insbesondere auf der Verwurzelung des nietzscheschen Spielbegriffes in der griechisch verstandenen agonalen Struktur 9 liegen.

Ob dies einen originären Zug der griechischen Antike oder, wie Johan Huizinga, Homo ludens, 84ff, meint, ein allen Hochkulturen zugrundeliegendes Phänomen darstellt, kann hier dahingestellt bleiben. 2 Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Berlin o. J., Bd. IV, 89. 3 Vgl. Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Eine Biographie, München/Wien 2 1995, Bd. I, 575. 4 Vgl. an Gersdorff vom 21. Juli 1875, KS Β V, 87, und an Overbeck vom 30. Mai 1875, ebd., 58. 5 Götzen-Dämmerung. Was ich den Alten verdanke, Aph. 3, KSA VI, 157. 6 Vgl. auch Mihai I. Spariosu, Dionysus, 72, Anm. Daß Burckhardts Wertung des Agon in der Tat für Nietzsches Interpretation ausschlaggebend ist, zeigt sich auch daran, daß sich in den Schriften vor der Baseler Zeit keine inhaltliche Thematisierung des Begriffes findet, sondern allein philologische Untersuchungen zum alten griechischen „Volksbuch" - so Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Die llias und Homer, Berlin 1916, 396 - über den Wettstreit Homers und Hesiods. Nietzsches Studie erschien im Rheinischen Museum für Philologie 25 (1870). Vgl. dazu aus philologischer Sicht Martin L. West, The Contest of Homer and Hesiod, in: Classical Quarterly N.S. 17 (1967), 433-450. 7 Götzen-Dämmerung. Das Problem des Sokrates, Aph. 8, KSA VI, 71. 8 Ebd., Streifzüge eines Unzeitgemässen, Aph. 23, 126. 9 Darauf weist Ingeborg Heidemann, Nietzsches Kritik der Metaphysik, in: Kant-Studien 53 (1961/62), 507-543, hier 534, hin, ohne dies jedoch näher auszuführen.

113

1. Agon und Spiel

a) Die Bändigung des Tigers: Der Agon bei Homer und Hesiod

Wie für Jacob Burckhardt ist der Agon-Gedanke auch für Nietzsche ein nachhomerisches Phänomen. Er entsteht aus der Sublimierung eines ursprünglichen Triebes, der nach Nietzsches Auffassung noch durch die homerischen Epen, insbesondere der Ilias, hindurchscheint. U m das Wesen des Agonalen näher fassen zu können, ist also zunächst von Nietzsches einschlägiger Einschätzung der homerischen Dichtung auszugehen, bevor dessen mythische Begründung bei Hesiod, die Nietzsche ausführlich zitiert, ins Auge gefaßt werden kann. Auf diesem Grund läßt sich dann unter steter Rücksicht auf Burckhardt Nietzsches Exposition des Agon in klassischer Zeit und dessen Verfall entfalten.

α ) D i e V e r d e c k u n g des L e b e n s g e s c h e h e n s : H o m e r

Gegen den „weichlichen Begriff der modernen Humanität" betont Nietzsche in der Vorrede zu dem 'ungeschriebenen Buch' über Homer's Wettkampf die Untrennbarkeit der „'natürlichen' Eigenschaften (sc. des Menschen) und d(er) eigentlich 'menschlich' genannten" 1 . Der homerische Mensch ist Nietzsche „ganz Natur und trägt ihren unheimlichen Doppelcharakter an sich" 2 . Nietzsche scheint hier auf die „künstlerischen Mächte" des Apollinischen und Dionysischen anzuspielen, „die aus der Natur selbst, ohne Vermittelung des menschlichen Künstlers, hervorbrechen" 3 . Jedoch geht es in der Stelle von Homer's Wettkampf noch gar nicht um die Doppelung beider Kunsttriebe, die die Entstehung der gestalthaften Erscheinung aus dem Chaos des Werdens ermöglicht. Es geht vielmehr um den „fruchtbare(n) Boden" 4 , dem diese entwachsen. Er besteht in den „furchtbaren und als unmenschlich geltenden Befähigungen" 5 im Untergrund der Menschlichkeit des Menschen. Da im Bereich der Poiesis das Apollinische und das Dionysische sich notwendig komplementär verhalten und ersteres gemäß der Gleichung „Chaos sive natura"6 im Blick auf dasjenige, was Nietzsche 'Wirklichkeit' nennt, letzterem gleichsam als Epiphänomen einbezogen bleibt, scheint der „unheimliche Doppelcharakter der Natur" im Dionysischen als Lebensgrund selbst aufzugehen. Dessen Doppelung besteht in der häufig thematisierten Ambivalenz des Dionysischen als „ewige(r) Lust des Werdens (...), die auch noch die Lust am Vernichten in sich schliesst" 7 , ohne noch von Regularität und Dauerhaftigkeit abgemildert zu sein. Den entsprechenden

Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern: 5. Homer's Wettkampf K S A I, 783; auf die selten b e m e r k t e g r o ß e Bedeutung dieser Schrift weist hin: Alexis Philonenko, Nietzsche. Le rire et le tragique, Paris 1995, 32ff. 2 3 4

Homer's Wettkampf KSA I, 783. Die Geburt der Tragödie, KSA I, 30. Homer's Wettkampf KSA I, 783.

5

Ebd. Nachlaß, K S A IX, 519, 11 [ 197], vgl. dazu Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York 1984, insb. 300f u. 4 4 2 f f . 7 Götzen-Dämmerung. Was ich den Alten verdanke, KSA VI, 160 u. ö. 6

der Willen zur

Macht

114

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

untergründigen „Zug von Grausamkeit, von tigerartiger Vernichtungslust" 1 rechnet Nietzsche den Griechen der vorhomerischen Welt als Teil einer gänzlich unmenschlichen Natur 2 , d. h. auch der Welt der vorolympischen chthonischen Religion, ungemindert zu. Nietzsche beschreibt sie als eine von den „ K i n d e r ( η ) der Nacht, de(m) Streit, d(er) Liebesbegier, d(er) Täuschung, d(em) Alter und de(m) T o d " durchherrschte „Welt des Kampfes und der Grausamkeit", die sich in den „widerlich-furchtbaren theogonischen Sagen" widerspiegelt. 3 Der tigerhafte Trieb zu Kampf und Vernichtung bildet für Nietzsche die Wurzel des Lebens. 4 Dies erscheint somit zunächst allein durchwaltet von der späterhin „böse" genannten Eris aus Hesiods Theogonie, welche die Menschen nur „zum feindseligen Vernichtungskampfe gegen einander führt" 5 . Beispielhaft hierfür ist die Schändung des Leichnams des gefallenen Hektor durch Achill: Nicht im tödlichen Ausgang des Zweikampfes zeigt sich - um in Nietzsches Bild zu bleiben - die 'wollüstige Grausamkeit des hervorschnellenden Tigers' 6 , sondern im Streben nach vollständiger Vernichtung des Gegners als Individuum durch die Auflösung seiner körperlichen Gestalt wie der Zeichen seiner sozialen und dynastischen Stellung - wovor in der Ilias das Eingreifen Apolls den Körper Hektars behütet. Was dem vor Zorn wahnsinnigen oder trunkenen (δτι φ ρ ε σ ί μ α ι ν ο μ έ ν η σ ι ν ) 7 Achill, der also außer sich ist bzw. in einem dionysischen Zustand sich befindet, widerfährt, interpretiert Nietzsche als Rückfall in eine vorkulturelle krude Entwicklungsstufe, d. h. den Naturzustand, des Menschen, die sich dadurch als latent vorhanden erweist. D e m ihr entsprechenden Vernichtungstrieb scheinen allein durch die Götter zwar gewisse Grenzen gesetzt, die etwa bestimmte Kampfregeln oder den U m g a n g mit Gefangenen und Gefallenen betreffen, dennoch wird das entsetzliche Kampfgeschehen nur durch die Kunst erträglich. In Nietzsches Terminologie: Das homerische Epos, dessen extreme Künstlichkeit die Weimarer Klassik 'naiv' nannte, „ist nur als der vollkommene Sieg der apollinischen Illusion zu begreifen" 8 . Dieser Sieg ist aber nur als „Verdeckung" des Wirklichen, d. h. des dionysischen Treibens „durch ein Wahnbild" zu verstehen 9 : Das Verdeckte bleibt unter dem Deckenden unverändert bestehen. Es gibt hier nach Nietzsches früher Ästhetik, die hier nicht näher beschäftigen muß 1 0 , keine notwendige organische und gleichberechtigt-komplementäre Verbindung von dionysischem Stoff und apollinischer Form, wie dies später beim „Bruderbund" 1 1 beider Kunstmächte in der alten Tragödie als höchster Verklärung des Daseins der Fall war.

1 2

Homer's

Wettkampf,

KS A I, 783.

Vgl. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA I, 831. 3 Vgl. Homer's Wettkampf, KSA I, 785. Nietzsche bezieht sich in seiner A u f z ä h l u n g der Töchter der Nyx auf Hesiod, Theogonie, 211-232. 4 Vgl. Homer's Wettkampf KSA I, 786. 5 Ebd., 787. 6 Vgl. ebd., 784. 7 Ilias X X I V , 114. 8 Geburt der Tragödie, KSA I, 37. 9 Ebd. 10 Vgl. etwa Volker Gerhardt, Artisten-Metaphysik. Zu Nietzsches frühem Programm einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt, in: ders., Pathos und Distanz• Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, 12-45, u. Eckhard Heftrich, Die „Geburt der Tragödie". Eine Präfiguration von Nietzsches Philosophie, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), 103-126. 11 Geburt der Tragödie, K S A I, 140.

115

1. Agon und Spiel

Indes reicht f ü r Nietzsche die „künstlerische T ä u s c h u n g " 1 H o m e r s nicht zu, von den K o n sequenzen abzuhalten, zu welchen „der unausgesetzte Anblick einer W e l t des K a m p f e s und der Grausamkeit

drängte -

z u m Ekel am Dasein, zur A u f f a s s u n g dieses D a s e i n s

als

einer

a b z u b ü ß e n d e n Strafe, z u m Glauben an die Identität von Dasein u n d V e r s c h u l d e t s e i n . " 2 E i n e solche pessimistische V e r n e i n u n g des f u n d a m e n t a l e n Lebenstriebes und d a m i t des L e b e n s selbst -

ein „ P e s s i m i s m u s der S c h w ä c h e " also - erscheint bereits d e m j u n g e n N i e t z s c h e „nicht

spezifisch hellenisch" 3 . Hellenisch erscheint vielmehr dessen A n e r k e n n u n g als L e b e n s g r u n d und d a v o n a u s g e h e n d seine F o r m u n g , die über eine b l o ß e V e r d e c k u n g oder eine schlichte A n k e t t u n g des Tigers b z w . des „ g r a u s a m e n L ö w e n " 4 , u m ein h o m e r i s c h e s Bild f ü r den rasenden Achill zu v e r w e n d e n , hinausgeht. Anstatt diese Grundtatsache angeekelt zu verneinen, wird sie vielmehr einer ganzen Kultur zugrundegelegt.

ß) D i e E r f i n d u n g d e s A g o n : H e s i o d s g u t e E r i s

D a z u wird eine Neuinterpretation des nun „einmal so f u r c h t b a r v o r h a n d e n e n Trieb(s)" 5 selbst nötig. N i e t z s c h e weist auf den u m d e u t e n d e n und damit d u r c h a u s verfälschenden C h a r a k t e r der kulturstiftenden Leistung hin, die mit d e m „Krystallisationspunkt" 6 H o m e r anhebt u n d sich über H e s i o d s Erga

schließlich in den Vorsokratikern vollendet, u m endlich eine A n t w o r t auf die

F r a g e nach d e m Sinn eines L e b e n s des ständigen „ K a m p f e s und des Sieges" 7 zu (er)finden. N i e t z s c h e spricht nämlich in Homer's

Wettkampf

von einer b e s o n d e r e n „Färbung",

die auf den

ersten Blick d u r c h w e g negativ besetzte ,,einzelne() ethische() B e g r i f f e ζ. B. der Eris und des Neides"

erhalten 8 . Verantwortlich f ü r diese Operation zeichnet der Dichter. D i e s wird deutlich in

einer A u f z e i c h n u n g aus den Vorarbeiten z u m K o m p l e x der f r ü h e n Baseler Studien über die griechische Antike. N i e t z s c h e notiert: „Der Dichter ü b e r w i n d e t den K a m p f u m ' s Dasein, indem er ihn zu e i n e m freien W e t t k a m p f e idealisirt. ( . . . ) Der Dichter erzieht·,

die

tigerartigen

Z e r f l e i s c h u n g s t r i e b e der Griechen weiß er zu übertragen in die gute Eris." 9 D e r Unterschied zwischen der h o m e r i s c h e n und der hesiodischen D i c h t u n g tritt o f f e n zu T a g e : Sind es bei H o m e r die schrecklichen Folgen des Vernichtungstriebes, über deren Entsetzlichkeit die apollinische F o r m hinwegtäuscht, wird bei H e s i o d ebendieser Trieb selbst verklärt. O b s c h o n sich also beide Dichter d u r c h die S t u f e des Wirklichen unterscheiden, an der ihre Tätigkeit ansetzt, ist ihnen j e d o c h diese selbst g e m e i n . Nietzsche beschreibt sie als „idealisiren", „ ü b e r t r a g e n " „ f ä r b e n " . Sie gehören z u m Bereich der „künstlerischen

Täuschung".

„Täuschung"

bzw. meint

zunächst ganz allgemein in aktivischer B e d e u t u n g , auf die es N i e t z s c h e hier a n k o m m t , d a sie die

1 2 3 4 5 6 7 8 9

Homer's Wettkampf, KSA I, 784. Ebd., 785. Ebd. Ilms XXIV, 41. Homer's Wettkampf KSA I, 785. Vgl. Nachlaß, KSA VII, 506, 19[278], Homer's Wettkampf KSA I, 785. Ebd., 786. Nachlaß, KSA VII, 398, 16[15],

116

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

Dichter j a absichtsvoll hervorbringen 1 , die Darstellung eines Sachverhaltes, die so beschaffen ist, daß dieser in seiner Darstellung so zum Erscheinen gebracht wird, wie er in Wirklichkeit gerade nicht ist. Künstlerisch an einer solchen Täuschung ist daran im weiteren Sinne des Poietischen, daß die fälschende Form, unter welcher der Sachverhalt dargestellt wird, durch den Darstellenden erst hervorgebracht werden muß, und in einem engeren Sinne die Eigenschaft dieser Form selbst: Diese ist nämlich 'schön'. 2 Dabei ist darauf hinzuweisen, daß diese Schönheit zunächst nur von ihrer Wirkung als „herrliche Illusion" her zu verstehen ist, „die in j e d e m Augenblick das Dasein überhaupt lebenswerth mach(t) und zum Erleben des nächsten Augenblicks dräng(t)". 3 Konstitutiv für diesen 'schönen Schein' ist das „Maass"4, das dem dionysischen Lebensgetriebe gesetzt wird, so daß es begrenzte, geordnete und solchermaßen faßbare Gestalt gewinnt. In dieser gestalthaften Ordnung liegt bereits die fundamentale Täuschung: Das von sich aus regellos dahinflutende Werden der Natur wird unter eine begreifliche Ordnung gebracht, die nicht die seine ist. Das Resultat des dichterischen Täuschungsverfahrens, das Homer und Hesiod anwenden, kann somit wenigstens vorläufig als Inversion, d. h. als Umdrehung beschrieben werden - ein Verfahren, das Nietzsche in seinen Analysen von Dichtung und Philosophie immer wieder diagnostizieren wird. Diese durch die frühgriechische Dichtung vollzogene inverse Auslegung des Lebensgeschehens steht im Dienst der Beförderung der Lust des Menschen am Leben selbst: Der hervorgebrachte schöne Schein der Ordnung ermöglicht allererst sowohl die Behandlung des einzelnen als Individuum als auch die Bildung stabiler Staatswesen 5 . Dies ändert jedoch nichts daran, daß diese Ordnung den Status einer um der Lebensmöglichkeit des Menschen willen durch den Menschen hervorgebrachten Täuschung über dessen Lebensgrund selbst behält, die ihren Wert allein mit der durch sie bewirkten „Verwendung des Schädlichen zum Nützlichen" 6 gewinnt und mit der Wirklichkeit des Lebensgeschehens nicht viel zu tun haben muß. Dies bedeutet für das in Rede stehende Phänomen des Kampfes, daß die Sublimierung des bestialischen Vernichtungskampfes der vorhomerischen Welt zum freien Wettstreit der nachhomerischen Kultur genau einer solchen invertierenden Umdeutung entspricht. Man könnte einen solchen Eingriff des Dichters durchaus in der berühmten Differenz der Theogonie und der Erga Hesiods erkennen, die Nietzsche für den entscheidenden Punkt der griechischen Kulturbildung erachtete, wie die Vorrede zu Homer's Wettkampf zeigt. Hesiod verdoppelt nämlich in den Erga die Göttin des Streits, während er in der Theogonie nur von einer Eris berichtete. Letztere wird durchgehend negativ bewertet: Sie wird schon in der Theogonie „verhaßt" genannt, und ihr wird eine ausnahmslos unangenehme Nachkommenschaft, die f ü r die Folgen des Streits steht, zugesprochen. 7 Nach den Erga verdient sie Abscheu, da sie nur „den schlimmen Krieg und Hader" 8 fördert. Ihr gesellt Hesiod nun in den Erga eine gleichnamige, sogar ältere Schwester - sie ist ebenfalls Nyx' Tochter - bei, die ein jeder Verständige loben kann, da sie den Menschen nützt, indem sie zur Arbeit anreizt. O h n e freilich detailliert auf diese

Vgl. Maria Bindschedler, Nietzsche und die poetische Lüge, Berlin 1966, 80ff. Dazu s.u. Kap. IV.2.c)ß). 3 Geburt der Tragödie, KSA I, 155. 4 Ebd., 40. 5 Vgl. Nachlaß, KSA VII, 401, 16[21] u. ö. 6 Ebd., 399, 16[18], 7 Vgl. Theogonie, 225-232. 8 Erga, 14, in Nietzsches Übertragung; Nietzsche übersetzt in Homer's Wettkampf, gesamte Passage (11-26) über die beiden Eris. 2

KSA I, 786, die

1. Agon und Spiel

117

philologische Frage eingehen zu können, scheint Hesiod doch selbst einen Hinweis zum Verständnis dieser zunächst befremdlich anmutenden Korrektur zu geben. Er betont durch eine syntaktische Umstellung auffällig den Wirkungskreis der verdoppelten Göttin: „auf Erden/ sind es zwei" 1 . D a die Erde hauptsächlich der Aufenthaltsort der Menschen ist und Hesiod in den Erga von „Wahrhaftigem" 2 aus dem Bereich des menschlichen Lebens unter der Herrschaft des Zeus singt, nachdem er hierzu von sich aus die Musen angerufen hat, und nicht wieder wie in der Theogonie, von dem, was war, ist und sein wird, von göttlichen Dingen also, wozu ihn die Musen gleichsam bloß als Medium nutzen, ist es wohl möglich, daß die Aufspaltung der Eris eine durch den die Lebensphänomene deutenden Dichter eigens für die Menschen seiner Zeit erfundene Wahrheit darstellt: Der Gesang ist j a nicht durch die Musen diktiert. Zumal die Bewertung beider Aspekte der Eris als schädlich bzw. nützlich sich allein auf die Menschen bezieht, nicht also auch aus göttlicher Perspektive zu gelten hätte. Hier würde nach wie vor die Eine Eris unter den Olympiern Kabbeleien verursachen, wie etwa eine Schönheitskonkurrenz zwischen Hera, Athene und Aphrodite, die zwar den Trojanischen Krieg herbeiführt, der jedoch, wie die olympischen Streitereien insgesamt, für die Götter von vorneherein eine vergnügliche Unternehmung darstellt 3 . Die üblen Folgen der Taten der Eris tragen allein die Sterblichen, so daß es nötig wird, sie bzw. das ihr zugrundeliegende Phänomen umzudeuten bzw. den nutzbringenden Aspekt daran hervorzuheben. Diese gute Eris Hesiods rückt nun f ü r die Menschen an die Stelle der finsteren, indem sie deren Grundstruktur des Kampfes um des Siegens willen erhält, diese aber in bestimmte Regeln einbindet. Das Ergebnis der Neuinterpretation der Eris durch Hesiod und der mit ihr verbundenen ethischen Begriffe faßt Nietzsche wie folgt zusammen: Das „gesammte griechische Alterthum denkt anders über Groll und Neid als wir und urtheilt wie Hesiod, der einmal eine Eris als böse bezeichnet, diejenige nämlich, welche die Menschen zum feindseligen Vernichtungskampfe gegen einander führt, und dann wieder eine andre Eris als gute preist, die als Eifersucht Groll Neid die Menschen zur That reizt, aber nicht zur That des Vernichtungskampfes, sondern zur That des Wettkampfes."4

Die gute Eris reizt also zum Agon, während die schlimme zum allgemeinen und unkontrollierten π ό λ ε μ ο ς κ α κ ό ς treibt. Der Agon zeichnet sich demgegenüber aus durch die Einschränkung auf einen bestimmten Bereich bzw. eine Fertigkeit und die jeweilige Festsetzung einer strengen Rechtsordnung, einer δίκη, dergemäß er durchgeführt wird. 5 Nietzsche spricht in seinen Vorarbeiten diesbezüglich von einer Bändigung durch ,,ewige() Gesetze()" 6 , was offensichtlich auf die absolute Geltung der Regeln während des Agon verweist, da diese j a erst für jenen entworfen werden müssen und durchaus geändert werden können. Die Erfindung des Agon sublimiert also den natürlichen Kampfes- und Vernichtungstrieb des Menschen, indem sie ihn unter Regeln bringt und ihn in dieser Form auf bestimmte Bereiche einschränkt, und steigert die

Erga, 11; diese Betonung bemerkt auch W. J. Verdenius, A Commentary on Hesiod. Works and Days, vv. 1-382, Leiden 1985, 17, zurecht gegen Martin L. West, Works and Days (ed. with Prolegomena and a Commentary by M. L. West), Oxford 1978, der den umgestellten Ausdruck έπϊ γ α ΐ α ν als „unemphatic phrase" (143) lieber korrekt am Satzende sähe. 2 3 4 5 6

Erga, 10. Vgl. Karl Reinhardt, Parisurteil. Homer's Wettkampf, KS A I, 787. Vgl. Nachlaß, KSA VII, 402, 16[22], Ebd.

118

IV. Nietzsche: P h i l o s o p h i e als Spiel

Lust des M e n s c h e n a m L e b e n . D a ß sich dies nicht nur in e i n e m bloßen Z u g e w i n n an Sicherheit erschöpft, sondern auch eine b e s t i m m t e Perspektive auf L e b e n und W e l t bedingt, kann nun dargestellt w e r d e n .

b) Die Kunst Heraklits: Kampf als Spiel

Dabei scheint es sinnvoll, der A n w e i s u n g Nietzsches zu einer geplanten Studie z u m „ W e t t k a m p f bei den G r i e c h e n " 1 zu folgen. Sie lautet: „Begriff des W e t t k a m p f s aus Heraclit Den E p h e s i e r aber charakterisiert Nietzsche unmittelbar vorher Geschichte

der

vorplatonischen

Philosophen

mit

den

zu entwickeln." 2

in einer Disposition

Hauptpunkten:

„Verklärung

zur des

W e t t k a m p f s . Die W e l t ein Spiel." 3 Nicht nur a u f g r u n d dieser Notiz, sondern auch weil f ü r N i e t z s c h e P o l e m o s und A g o n nicht z u s a m m e n f a l l e n und das F r a g m e n t Β 52 o h n e h i n das Z e n t r u m seiner Heraklit-Interpretation bildet 4 , soll nun dieses F r a g m e n t auch der E n t f a l t u n g von Nietzsches Interpretation des A g o n zugrundegelegt w e r d e n . D i e s kann hier in aller K ü r z e geschehen,

d a die e n t s c h e i d e n d e n

B e g r i f f e bereits

in der

ausführlichen Auslegung

des

F r a g m e n t s erörtert wurden 5 . Es geht im f o l g e n d e n d a r u m zu sehen, wie N i e t z s c h e im A u s g a n g von Heraklit W e t t k a m p f und Spiel z u s a m m e n d e n k t . D i e Konzentration richtet sich dabei allein auf den A g o n - B e g r i f f und enthält sich noch der Diskussion um die k o s m o l o g i s c h e D e u t u n g des Spieles 6 , die - w o h l d u r c h Nietzsches f r ü h e n Entwurf einer Artisten-Metaphysik verführt - von e i n e m m e t a p h y s i s c h verstandenen Weltbegriff ausgeht. D a s nietzschesche Spiel wird damit auf eine b l o ß e und nicht einmal sonderlich originelle A n a l o g i e z u m p h ä n o m e n a l

betrachteten

W e l t g e s c h e h e n restringiert. D a d u r c h gehen aber, wie zu sehen sein wird, s o w o h l d i e P o i n t e von Nietzsches A u f f a s s u n g als auch die A n s c h l u ß m ö g l i c h k e i t e n an sein weiteres W e r k fast gänzlich verloren.

α ) D e r A g o n als W e l t p r i n z i p

Β 5 2 kann nach der geleisteten A n a l y s e s i n n g e m ä ß und frei paraphrasiert wie folgt wied e r g e g e b e n werden: D a s j e endliche innerweltliche L e b e n s g e s c h e h e n ist ein mit ü b e r m e n s c h licher M a c h t begabtes Kind, das von sich aus u m ihrer selbst willen in kindlicher W e i s e regel-

'

Nachlaß, KSA VII, 407, 16[40], Ebd., 400, 16[21], 3 Ebd., 399, 16[L7]. 4 Der Ausdruck „Zentrum" ist in diesem Zusammenhang durchaus wörtlich zu verstehen: Ist doch die Vielzahl der verschiedenen Fragmente, die Nietzsche in seine Interpretation aufnimmt, um Β 52 gleichsam so herumgruppiert, daß diese in jenem zusammenzuschießen scheinen. Vgl. dazu die Zusammenstellung der angeführten Fragmente bei Günter Wohlfart, Also, 234. 5 S. o. Kap. 1.2. 6 Vgl. Eugen Fink, Nietzsche, 187 pass. 2

119

1. Agon und Spiel

und ziellose Bewegung hervorbringt und also spielt; das von sich aus um ihrer selbst willen vollständig auf ein gesetztes Ziel hin geordnete Bewegung hervorbringt und also spielt. D e m Kind obliegt die Setzung der jeweiligen Ordnung. Schon die beiden hier genannten Weisen des Spielens erinnern in ihrer Struktur an die dargelegte Differenz zwischen ungezähmtem Vernichtungskampf und geregeltem Wettstreit, die Hesiod durch die Einführung der guten Eris allererst mythologisch begründet. Die gleiche hier gebrauchte Operation, die wir Inversion genannt hatten, nutzt nach Nietzsche auch Heraklit. Im Rahmen dieser Interpretation macht Nietzsche, ohne jedoch ausdrücklich darauf einzugehen, den doppelten Spielbegriff aus Β 52 fruchtbar. Heraklits vermeintliche Grundeinsicht 1 , mit der sich Nietzsche bis zuletzt noch identifiziert, ist die Leugnung des Seins zugunsten des „ewige(n) und alleinige(n) Werden(s), d(er) gänzliche(n) Unbeständigkeit alles Wirklichen, das fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist" 2 . Dies aber „ist eine furchtbare und betäubende Vorstellung und in ihrem Einflüsse am nächsten der Empfindung verwandt, mit der Jemand, bei einem Erdbeben, das Zutrauen zu der festgegründeten Erde verliert." 3 Genau wie angesichts des abscheulichen Kampfes ums Dasein ist es geradezu lebensnotwendig, diese verstörende und zur Lebensverneinung anregende „Wirkung in das Entgegengesetzte, in das Erhabne und das beglückte Erstaunen zu übertragen" 4 . Hierin besteht für Nietzsche die eigentliche Leistung der heraklitischen Philosophie in ihrem Kulminationspunkt, nämlich dem Fragment Β 52. Nietzsche interpretiert das Werden von der Gegensatzlehre aus als entspringend aus dem „Krieg des Entgegengesetzten" 5 , der ewig andauert. 6 Bereits auf dieser Stufe des heraklitischen Denkens scheint es nun zu einer Inversion zu kommen: Dieser unablässige Krieg der Qualitäten bzw. Kräfte wird in seinem Wesen als das fortwährende Walten einer vereinheitlichenden und „einheitlichen, strengen, an ewige Gesetze gebundenen Gerechtigkeit" 7 ausgelegt, dergemäß alles geschieht und der somit das Werden unterworfen wäre. Diese Vorstellung bildet das „Fundament einer Kosmodicee" 8 , d. h. der Rechtfertigung des Kosmos angesichts der darin sinnlich bemerkten und damit als vorhanden geglaubten Entsetzlichkeiten. Heraklits Strategie besteht nun darin zu zeigen, daß es in seinem Kosmosentwurf überhaupt nichts gibt, was entsetzlich genannt werden könnte. Dies nämlich als Vergänglichkeit begriffen setzte bereits Gewordenes von gewisser Dauer voraus; gerade solches aber ist in Heraklits Kosmos ausgeschlossen. Damit ist freilich nicht das gedankliche Erdbeben des ewigen Flusses aller Dinge schon beruhigt. Die eigentliche „Rechtfertigung des Werdens" 9 , auf die es Heraklit nach Nietzsche ankommt, geschieht erst durch die „Verklärung" der „gute(n) Eris Hesiods zum 1

S. o. 15, Anm. 3. Philosophie im tragischen Zeitalter, KSA I, 824. 3 Ebd. 4 Ebd., 825. 5 Ebd. 6 Vgl. dazu: Jackson P. Hershbell/Stephen A. Nimis, Nietzsche and Herclitus, in: Nietzsche-Studien 8 (1979), 17-38, insb. 22ff, die zurecht beider Philosophen Streit-Begriffe als grundlegend für einen Weltentwurf der „plurality of things as a dynamical unity" (24) ohne einen „concept of a fixed and static Being, and ( . . . ) an unchanging metaphysical reality which lies behind the world of becoming" (28), ansehen. Pietro Ciaravolo versucht hingegen etwas gewaltsam, aus Nietzsches Interpretation der Gegensatzlehre die Lehre von der ewigen Wiederkunft abzuleiten: Nietzsche, Eracliteo, Roma 1983, 24ff. 2

7 8 9

Philosophie Ebd. Ebd., 822.

im tragischen

Zeitalter,

KSA I, 825.

120

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

Weltprincip", durch die „Übertragung" des „Wettkampfgedanken(s) des einzelnen Griechen und des griechischen Staates (...) in's Allgemeinste" 1 , d. h. durch die A n w e n d u n g eines dichterischen bzw. fälschenden Verfahrens, nämlich der Metaphernbildung 2 . W a r durch Hesiod also noch der blanke Lebenstrieb durch die gute Eris zum Kulturtrieb umgedeutet worden, wird dieser jetzt durch Heraklit zum kosmologischen Prinzip erhoben. Welchen Status besitzt dies aber? Denn es sieht an dieser Stelle von Nietzsches Interpretation zumindest so aus, als fiele Heraklit in diejenige Denkform zurück, die er an seinem Vorgänger Anaximander vehement kritisiert, nämlich die Etablierung einer „Zweiheit ganz diverser Welten" 3 durch die Scheidung einer metaphysischen von der physischen Welt. Könnte doch das Werden so als das bloße „Sichtbarwerden eines Kampfes ewiger Qualitäten" 4 verstanden werden, der oder die dann ihrerseits ewige unveränderliche Gesetzmäßigkeiten oder Entitäten darstellten. Diese Gefahr des Rückfalls in eine Zweiweltentheorie überwindet Heraklit nach Nietzsche nun „durch ein erhabnes Gleichniß" 5 : „Die Welt ist das Spiel des Zeus" bzw. „des großen Weltenkindes Zeus". 6 Das agonale Prinzip der guten Eris, das vom menschlichen Leben in der Gemeinschaft auf das gesamte Lebensgeschehen übertragen wurde, wird nun als Spiel verstanden, das der mit einem Kind geglichene oberste Gott spielt; und diese Figur soll wiederum so zu denken sein, daß die werdende Welt nicht zur bloßen Erscheinung eines unveränderlichen Prinzips reduziert werden kann. Obschon offensichtlich ein entscheidender Zug der Interpretation Nietzsches das Verständnis des Weltbegriffes ist, der in diesem Zusammenhang die Rede vom Kosmos konsequent ablöst, wenden wir uns zuerst allein der Identifikation von Spiel und Agon zu; die in Anschlag gebrachte Auffassung von „Welt" erschließt sich erst im Rahmen der später folgenden Erörterung der Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne.

ß) P h i l o s o p h i e als s c h ö n e r Schein

Zunächst ist also nach den Implikationen zu fragen, die sich aus genannter Gleichsetzung ergeben. Die W e n d u n g des Polemos zum Spiel bildet den Hauptpunkt von Nietzsches Heraklitinterpretation: Genau hierdurch wird ihm das Lebensgeschehen zum rein ästhetischen Phänomen. 7 Nietzsches Intention verdeutlicht eine einschlägige Stelle aus den Baseler Vorlesungen zu den vorplatonischen Philosophen, die Β 52 behandelt: „Das e w i g lebende Feuer, der ά ι ώ ν , spielt, baut auf und zerstört: der Π ό λ ε μ ο ς , j e n e s G e g e n e i n ander der verschiedenen Eigenschaften, geleitet von der Δ ί κ η , ist nur als künstlerisches P h ä n o m e n zu erfassen. Es ist eine rein ästhetische Weltbetrachtung. Ebensosehr die moralische T e n d e n z des G a n z e n als die Teleologie ist ausgeschlossen: denn das Weltkind handelt nicht nach Z w e c k e n ,

2 3 4

Philosophie im tragischen S. u. 2.a)ct). Philosophie im tragischen Ebd., 827.

Zeitalter,

K S A I, 825.

Zeitalter,

KSA I, 822.

5

Ebd., 830. Ebd., 828 bzw. 834. 7 Nietzsche verwendet in diesem Z u s a m m e n h a n g s y n o n y m ; vgl. Günter Wohlfart, Also, 259. 6

die A u s d r ü c k e

„ästhetisch" und

„künstlerisch"

121

1. Agon und Spiel

sondern nur nach einer immanenten δίκη. Es kann nur zweckmässig und gesetzmässig handeln, aber es soll nicht dies und jenes." 1

Daraus erhellt, daß die Rechtsordnung keine überweltliche Entität darstellt, die in der Welt zur Erscheinung gelangt: Sie ist dem Lebensgeschehen immanent und zwar so, daß sie diesem seine nun als Dike zu sehende „Form des Prozesses" 2 gibt. Gleichwohl ist sie veränderlich, d. h. ihr Regelwerk läßt sich nicht ein für allemal festhalten. Die Ordnung von Leben bzw. Welt bleibt unprognostizierbar. Die von Nietzsche erwähnte „Ewigkeit" der Gesetze bezieht sich allein auf ihr Daß, nicht aber auf ihr Was bzw. ihr Wie. Ihre Vorhandenheit kann weder „mit dialektischem Spürsinn und gleichsam rechnend" 3 erkannt noch „an der Strickleiter der Logik erklettert()" 4 werden. Dies ist Sache einer „alles überschauenden Intuition" 5 , wie sie in Heraklits Philosophie zum Ausdruck kommt. Sie erfüllt sich in einer „künstlerische(n) Weltbetrachtung" 6 : Heraklit ist f ü r Nietzsche der die Welt anschauende „ästhetische Mensch" 7 . Allein dieser vermag im allumfassenden Getriebe des Werdens und Vergehens nicht „Schuld Ungerechtigkeit Widerspruch Leid" 8 , sondern Ordnung bzw. Schönheit zu sehen, die das „Gleichniß" des Spieles anzeigen soll. Die schöne Ordnung der Dike entspringt also einer bestimmten Weise, die Welt anzuschauen, zu der nur wenige begabt sind und die Nietzsche „ästhetisch" bzw. „künstlerisch" nennt. Sie fordert einen außermoralischen Standpunkt, der dem des „beschaulichen Gotte(s) ähnlich ist" 9 . „Heraklit beschreibt nur die vorhandne Welt" 1 0 , sucht sie nicht zu ändern oder gar zu verbessern und entbehrt jeden Begehrens „helfen heilen und retten zu wollen" 1 1 . Diese Anschauungsweise beruht auf „Imagination" und Kontemplation, die mit Introspektion zusammenfallen: Heraklits „Auge, lodernd nach innen gerichtet, blickt erstorben und eisig, wie zum Scheine nur nach außen." 1 2 Die „Kosmodicee" wird gerade im Absehen von der wahrgenommenen Welt erreicht, da dem Menschen sein mangelhaftes Wahrnehmungsvermögen über die Wirklichkeit hinwegtäuscht 1 3 . Sie eröffnet sich nun der Meditation des Denkers, der sich selbst erforscht 1 4 . Darin vereinigen sich sowohl Lebensgeschehen und Agon als auch Agon und Spiel. Die ästhetische Anschauung

1 Die vorplatonischen Philosophen (Vorl.), MusA IV, 310. Die Vertrautheit Nietzsches mit der Ästhetik Kants, dessen Kritik der Urteilkraft er 1868 las (vgl. Gianni Vattimo, Friedrich Nietzsche, Stuttgart 1992, 99), zeigt sich auch hier in der Betonung der Differenz von Zweck und Zweckmäßigkeit. 2

Die vorplatonischen Philosophen (Vorl.), in: Nietzsche's Nietzsche- Archiv Weimar), Leipzig 1905ff, Bd. XIX, 186. 3 Philosophie im tragischen Zeitalter, KSA I, 828. 4 Ebd., 835. 5 Die vorplatonischen Philosophen, GOA XIX, 186. 6 Nachlaß, KSA VII, 83, 3[84], 7 Philosophie im tragischen Zeitalter, KSA I, 831.

Werke. Großoktavausgabe [= G O A ] (hg. v.

8

Ebd., 830. Ebd. 10 Ebd., 832. 11 Ebd., 834. 12 Ebd. 13 Vgl. ebd., 831; Nietzsche stützt sich hier auf Β 107: κ α κ ο ί μάρτυρες ά ν θ ρ ώ π ο ι σ ι ν ο φ θ α λ μ ο ί κ α ι ώτα βαρβάρους ψ υ χ ά ς έχόντων. - Schlimme Zeugen sind den Menschen Augen und Ohren, sofern sie Barbarenseelen haben. 9

14 Vgl. Β 101: έ δ ι ζ η σ ά μ η ν έμεωυτόν., das Nietzsche in der Philosophie 835, zitiert.

im tragischen

Zeitalter,

KSA I,

122

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

der Welt als außermoralisches und schönes agonales Spiel nennt Nietzsche „Illusion" 1 . Erst mit diesem Interpretationsschritt erschließt sich die Bedeutung der Identifikation des Agon mit dem Spiel. Heraklit gilt Nietzsche nämlich hier als der apollinische Philosoph par excellence. Er notiert: „Heraklit: apollinisches Ideal, alles Schein und Spiel." 2 Heraklits Philosophie muß demnach also als schöner Schein verstanden werden. Dies hat weitreichende Implikationen. Offenbar ist auch Heraklits „aesthetische Grundperception vom Spiel der Welt" 3 , welche die vorhandene Wirklichkeit im Ganzen rechtfertigen soll, eine lebensnotwendige Täuschung, die sich in der Sprache seiner Philosophie ausdrückt. Sie zählt als Sprachkunst zur Dichtung und besitzt somit prinzipiell den selben Status wie das Werk Homers oder Hesiods. Folglich teilt Heraklits Philosophie auch mit diesen ihr fälschendes Wesen. Dabei besitzt sie diesen gegenüber jedoch einen gewichtigen Unterschied: Sie leistet zwar die „Verklärung" all' dessen, was ist, d. h. sie bringt „die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins" 4 in eine Form, die es ermöglicht, ebendieses Lebensgeschehen zu bejahen, ohne es aber wie in der homerischen „künstlerischen Mittelwelt der Olympier" 5 bloß zu verhüllen oder es wie Hesiod nur im Blick auf die menschliche Gesellschaft zu ordnen. Für Heraklit nämlich ist ein Standpunkt außerhalb der imaginierten Regeln des Weltgeschehens gar nicht mehr möglich: Die introspektive Abwendung von der bereits durch die bewußte Wahrnehmung verfälschten Welt begründet deren Anschauung als ästhetisch. Dennoch führt solches nicht zu einer Zweiweltentheorie. Es wird nicht einer als scheinhaft aufgefaßten Welt des Werdens eine als wesenhaft begriffene Welt des Seins oder ähnlich stabiler Strukturen entgegengesetzt. Heraklit kennt nur „diese eine Welt (sc. des Werdens), die er übrig behielt" nach seiner Leugnung der anaximandrinischen Doppelung. Diese Eine Welt gewinnt ihre Ordnung durch die ästhetische Anschauung, sofern der das Werden anschauende Mensch „mit Bewußtsein in dem Logos (...) des alles überschauenden Künstlerauges" 6 lebt, d. h. sofern er weiß, daß das, was ist, sich nur gleichnishaft und mehrdeutig anzeigen läßt 7 . Die Vielen, denen „ihr Intellekt ein schlechter Zeuge ist" 8 , gebrauchen im Gegensatz dazu in ihren Äußerungen über die Welt fälschlicherweise „Namen der Dinge als ob sie eine starre Dauer hätten" 9 , ohne sich über diese Täuschung im klaren zu sein. Der Künstler-Philosoph Heraklit zeigt jedoch die apollinische Scheinhaftigkeit, unter die auch seine Philosophie fällt, durch deren sprachliche Form selbst an. 10 Trotz und gerade wegen dieses Bewußtseins der Unaussagbarkeit des Werdens erfüllt diese Philosophie jedoch ihren Zweck, indem sie ein Beispiel f ü r die Möglichkeit einer vollständigen Verklärung des Weltgeschehens als schön und geordnet bietet, ohne auf ewige Satzungen zurückgreifen zu müssen. Allein die Vorhandenheit einer Ordnung wird angezeigt, ohne jedoch deren Regeln aussagen und festlegen zu können. Solche Eindeutigkeit würde die sich selbst als solche offenlegende apollinische Illusion zur Lüge machen und die ästhetische

1

Nachlaß, KS A VII, 449, 19[89], Ebd., 540, 23[8], Philosophie im tragischen Zeitalter, KSA I, 833. Geburt der Tragödie, KSA I, 35. 5 Ebd., 36. 6 Philosophie im tragischen Zeitalter, KSA I, 831. 7 S. o., Kap. 1.1., die Bemerkungen zur Bedeutung des Logos bei Heraklit und die kurze Interpretation des Fragments Β 93. 8 Philosophie im tragischen Zeitalter, KSA I, 831. 9 Ebd., 823. Insbesondere an dieser Stelle wird die ausgesprochene Nähe der Philosophie im tragischen Zeitalter zu Ueber Wahrheit und Lüge deutlich. 10 S. o. Kap. 1.1. 2

1. Agon und Spiel

123

Anschauung zu notwendig inadäquater Abstraktion reduzieren, die propositional verfaßt sein müßte und sogleich in eine Zweiweltenlehre und/oder in eine teleologische Auffassung der Welt umschlüge. Die „dem K a m p f e immanenten Gesetze() und Maaße()"' sind dagegen Resultate der ästhetischen Anschauung, wodurch dieser verklärt und Gegenstand der Bejahung wird. Und anders als Homer und Hesiod ist sich Heraklit dieser Herkunft seiner Weltauslegung aus der Imagination und ihres illusionären Status bewußt 2 : Er interpretiert den ordnungslosen Kampf des Lebensgeschehens als geordneten Agon und weist zugleich auf diese poietische Operation als solche hin, indem er beides Spiel nennt. Hier zeigt sich, daß Nietzsche für seine Heraklit-Interpretation die oben herausgearbeitete Doppelung des Spielens in π α ί ξ ω und π ε σ σ ε ΰ ω 3 fruchtbar macht: Eine an sich unabschließbare und ziellose Bewegung wird als gesetzmäßig auf ein Ziel hin geordnet gefaßt, wobei sich diese Ordnung nur der ästhetischen Intuition erschließt und allein schon ihre bloße Vorhandenheit nicht anders als in mehrdeutiger Weise ausgedrückt werden kann. Das reine Werden, als welches Nietzsche wohl das π α ί ζ ω versteht, kann - und wird immer schon und kann also, wie sich zeigen wird, gar nicht anders - durch den Menschen unter der Form des π ε σ σ ε ύ ω aufgefaßt und geschaut werden. Diese Doppelung ist deutlich im 7. Abschnitt der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, der der Auslegung des Fragments Β 52 gewidmet ist: „Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung, in e w i g gleicher Unschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld - und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich. Sich verwandelnd in Wasser und Erde thürmt er, wie ein Kind Sandhaufen am Meere, thürmt auf und zertrümmert; von Zeit zu Zeit fängt er das Spiel von Neuem an. Ein Augenblick der Sättigung: dann ergreift ihn von Neuem das Bedürfniß, wie den Künstler zum Schaffen das Bedürfniß zwingt. Nicht Frevelmuth, sondern der immer neu erwachende Spieltrieb ruft andre Welten ins Leben. Das Kind wirft einmal das Spielzeug weg: bald aber fängt es wieder an, in unschuldiger Laune. Sobald es aber baut, knüpft und fügt und formt es gesetzmäßig und nach inneren Ordnungen." 4

Nietzsche unterscheidet hier zwischen dem ordnungslosen Werden als Zertrümmern und dem Impuls zum neuerlichen A u f b a u - „zur Wollust des Werden-machens, d. h. des Schaffens und Vernichtens" 5 - einerseits und dem diesem entspringenden jeweiligen Bauen andererseits. Letzteres ist nur nach Regeln möglich: Sofern Etwas wird und dieses Werden-von-Etwas als ein Hervorbringen gedacht wird, unterliegt es in dieser seiner Realisation Ordnungen. Diese freilich sind bereits illusionär verfaßt, da ja 'an sich' nur Werden und nichts außerdem 'ist'. Dies ist jedoch überhaupt nur unter der Vorstellung einer Ordnung zugänglich, die unter den Vorstellungs- und damit Erkenntnisbedingungen des Menschen steht. Unter der Form des agonalen Spieles allein wird die reine Bewegtheit des Werdens unter endlichen Bedingungen vorstellbar, und zwar so, daß durch die in es hineingelegte Ordnung zugleich dem Menschen eine Möglichkeit darin zu leben eröffnet wird.

Philosophie im tragischen Zeitalter, KSA I, 826. D e s w e g e n etwa kann Heraklit Homer und Hesiod Unwissenheit und auch Lüge vorwerfen, wie er dies in Β 40, Β 42, Β 56 und Β 57 tut. 3 S. ο. Kap. I.2.c). 4 Philosophie im tragischen Zeitalter, KSA I, 830f. 5 Nachlaß, KSA XII, 115, 2[110], 2

124

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

Genau dies leistet nach Nietzsches Auffassung die in Β 52 gipfelnde Philosophie Heraklits: Sie bewahrt das Andenken an den bewußt unzugänglichen, entsetzlichen Lebensgrund und sichert die dem Menschen als bewußtem Wesen lebensnotwendige Ordnung, ohne die wirkliche Welt abzuwerten und zu ihrer Verneinung zu verführen. Die Verwendung des doppelten Spielbegriffes Heraklits hat hierfür eine dreifache Bedeutung: Zum ersten stellt das Spielen eine Aktivität dar, die weder einer Begründung außerhalb ihrer zugänglich ist, noch auch einer solchen bedarf; damit ist die wesentliche Grund- bzw. Sinnlosigkeit des Lebensgeschehens angezeigt. Zum zweiten ist das Spiel ein außermoralisches Phänomen und schließt somit jede moralische Bewertung seines Geschehens von sich her als inadäquat aus; es folgt allein willkürlich gesetzten Regeln, die ihm vollständig immanent sind und keiner wertenden Instanz außerhalb seiner zugänglich sind - freilich wäre eine 'Moral' noch als solches willkürliches Regelsystem denkbar, die dann jedoch wiederum in den Bereich des Spieles fiele. Zum dritten verweist das Spiel von sich aus auf seine eigene Scheinhaftigkeit: Es erhebt keinen Anspruch darauf, dasjenige auszusagen oder darzustellen, was außerhalb seiner und unabhängig von ihm ist, sondern konstituiert sich als Ganzes gerade durch die Künstlichkeit seiner Ordnung; es ist wesenhaft unwahr und nur immanent absolut bindend. Nietzsches früher Terminologie folgend ließen sich wohl der erste Aspekt dem Dionysischen, für das das Geschehen des παίζω bzw. das wirkliche Lebens- und Weltgeschehen steht, die anderen beiden eher dem Apollinischen, das das πεσσεύω bzw. die dem Menschen mögliche Weltsicht ausdrückt, zuordnen. All diese Eigenschaften treffen nun auch auf den Agon zu, der somit wesenhaft dem Spiel angehört.

γ) Spiel contra Arbeit Nietzsches Hauptpunkt bei dieser Zuordnung ist - wiederum im Anschluß an Burckhardt 1 - die Zweckfreiheit des Agon, d. h. seine Entgegensetzung zur Arbeit. Nietzsche behandelt die Bewertung der Arbeit in der griechischen Kultur in der dritten der Fünf Vorreden mit dem Titel Der griechische Staat, die sich zu Homer's Wettkampf komplementär verhält 2 . Er stellt fest: „Die Arbeit ist eine Schmach, weil das Dasein keinen Werth an sich hat: wenn aber eben dieses Dasein im verführenden Schmuck künstlerischer Illusionen erglänzt und jetzt wirklich einen Werth an sich zu haben scheint, so gilt auch dann noch jener Satz daß die Arbeit eine Schmach sei - und zwar im Gefühle der Unmöglichkeit, daß der um das nackte Fortleben kämpfende Mensch Künstler sein könne." 3

Nietzsche begründet diese Einschätzung damit, daß die Arbeit „doch nur ein qualvolles Mittel" zur schieren Erhaltung des an sich wertlosen Daseins im „Existenz-KampfO" ist4. Von diesem entsetzlichen Lebensgrund zeugt die Arbeit als seine unmittelbare Folge: Anstatt ihn wie der Agon oder die Philosophie zu verklären und zum bejahten Gegenstand lustvoller Erfahrung umzudrehen, weist sie gerade auf ihn hin. Das agonale Zeitalter, in dem das gesamte Lebens-

1 2 3 4

Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Vgl. Kommentar, KS A XV, 106. Der griechische Staat, KSA I, 765. Ebd., 764f.

117ff.

125

1. A g o n und Spiel

und W e l t g e s c h e h e n im Zeichen des A g o n ästhetisiert bzw. idealisiert wurde, w o v o n nach Nietzsche Heraklits P h i l o s o p h i e zeugt, m u ß t e „die Denkart, w e l c h e die körperliche Arbeit verachtet, noch unvermeidlicher hervorbringen" 1 . W a r doch w e d e r bei H o m e r , dessen Epen den bestialischen K a m p f der Adelsgeschlechter nur in eine s c h ö n e F o r m brachten, noch bei H e s i o d , dessen gute Eris ihre b ö s e Schwester nicht vergessen machen k o n n t e und v. a. z u m Vergleich der besseren D a s e i n s b e w ä l t i g u n g s v e r s u c h e durch Arbeit reizte, die G r u n d s t r u k t u r des L e b e n s so weit verdeckt, daß sie insgesamt unter der e b e n s o w o h l schönen wie auch u n w a h r e n F o r m des agonalen Spieles angeschaut werden konnte. D i e G e r i n g s c h ä t z u n g der Arbeit - und solchermaßen ließe sich auch ihr Begriff f ü r das „tragische Zeitalter" b e s t i m m e n - ist so radikal, daß eine j e d e Tätigkeit, d i e um eines Z w e c k s außerhalb ihrer selbst willen u n t e r n o m m e n wurde, der Ä c h t u n g durch die j a im allgemeinen durch Grundrenten städtische

der unmittelbaren

Aristokratie

bzw.

Sorge u m die Sicherung ihrer Existenz

Bürgerschaft

verfiel:

Jede

dem

Gütererwerb

enthobene oder

dem

Lebensunterhalt g e w i d m e t e Tätigkeit, auch die der A u s b i l d u n g z u m A g o n dienende, galt als banausisch 2 . D a v o n ist auch das „künstlerische S c h a f f e n " k e i n e s w e g s a u s g e n o m m e n :

„Das

lustvolle Staunen über das S c h ö n e hat ihn (sc. den Griechen) nicht über sein W e r d e n verblendet - das ihm wie alles W e r d e n in der Natur erschien, als eine gewaltige N o t h " 3 . D e m e n t s p r e c h e n d baut sich die Hierarchie der verschiedenen K ü n s t e auf, nämlich nach d e m G r a d e der j e w e i l s zur Produktion der W e r k e nötigen höheren oder geringeren körperlichen A n s t r e n g u n g ; so ist der Dichter in dieser R e i h e n f o l g e d e m Maler und d e m Plastiker übergeordnet. W o z u freilich noch als weiteres Kriterium hinzutritt, ob die j e w e i l i g e K u n s t e r w e r b s m ä ß i g betrieben wird oder nicht. Es liegt auf der H a n d , daß der nach e i n e m W o r t von Plutarch in und aus der „Fülle der M u ß e " 4 betriebene Agon den G i p f e l p u n k t einer d e r m a ß e n

strikt antibanausischen

Kultur

darstellt, die nach blutigen A n f ä n g e n n u n m e h r d e m s o w o h l persönlichen als auch gesellschaftlich-staatlichen E x i s t e n z k a m p f enthoben ist. G e r a d e mit dieser extrem hohen Schätzung des A g o n wird seine weitere S u b l i m i e r u n g nötig. W a r in der Blütezeit der Poliskultur der „Sieg an sich" 5 das alleinige Ziel des Wettstreits, der keinerlei materiellen Z w e c k e n diente, wie noch Pindars O d e n bezeugen, 6 beginnt schon im 5. und 4. Jahrhundert mit der

„übermässigen

A u s z e i c h n u n g der Sieger" 7 der Verfall des eigentlichen A g o n - G e d a n k e n s . S o w o h l in den musischen wie auch in den gymnastischen Disziplinen bildeten sich e i g e n e B e r u f s s t ä n d e von Virtuosen und Athleten heraus, so d a ß sich das eigentliche W e s e n des A g o n in sein Gegenteil verkehrt. D i e s spiegelt sich noch in der M a h n u n g der aristotelischen

Politik:

Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, 118. Vgl. Prot. 312b pass. 3 Der griechische Staat, KSA I, 766. 4 Z. n. Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, 118. 5 Vgl. ebd., 100. Dies übersieht Margot Fleischer, wenn sie den Akzent der Deutung des Willens zur Macht bzw. des Lebens allein auf das ewig sich verändernde Kampfgeschehen legt, welches j a gerade durch den Sieg augenblickshaft und vorläufig zu wertenden und zur Überbietung auffordernden Anhalt finden könnte, so daß es kein Wunder ist, wenn das Denken hier für Fleischer keinen Grund gewinnt: vgl. Wahrheit und Wahrheitsgrund. Zum Wahrheitsproblem und seiner Geschichte, Berlin/New York 1984, 167; ähnlich in: „Sinn der Erde", 63. 6 Vgl. Hermann Frankel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. Eine Geschichte der griechischen Epik, Lyrik und Prosa bis zur Mitte des fünften Jahrhunderts, München 4 1993, 498. 7 J. Reisch, Art. Agones, Pauly-Wissowa, Sp. 836-867, hier Sp. 864. 2

126

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

„Aber auch von manchen eines freien Mannes an sich nicht unwürdigen Wissensgegenständen gilt es doch, daß sie nur bis zu einem gewissen Grade betrieben wirklich einem freien Mann ziemen, wogegen eine allzu gründliche Beschäftigung mit ihnen ganz den gleichen Übelständen (sc. der Banausierung des diese Künste Übenden) unterworfen ist. Dazu macht es auch einen großen Unterschied, zu welchem Zweck man etwas ausübt oder lernt. Denn manches kann man für sich selbst oder für seine Freunde oder um der Tugend willen tun, ohne daß es für einen freien Mann unschicklich wäre; wenn man aber ganz dasselbe für andere tut, wird man häufig als jemand gelten, der Tagelöhner- oder Sklavenarbeiten verrichtet." 1 Mit der zunehmenden schleichenden Verdrängung der ursprünglichen Teilnehmerschaft, nämlich aller freien Bürger des jeweiligen Einzugsbereiches, 2 durch den Entzug ihrer Siegeschancen durch die professionelle Agonistik, stellt sich die später von Aristoteles gestellte Frage nach der Tätigkeit, die, seine Muße auszufüllen, eines freien Mannes würdig ist, also jedenfalls irgendwie agonalen Charakter besitzen muß.

c) Sokrates: Der vorgetäuschte Agon

Das für die Griechen bis in späteste Zeit im Sinne eines anzustrebenden Ideals gültige „Phantasiebild ihrer heroischen Zeit, d. h. einer Welt ohne Nutzen" 3 , und die ungebrochene Lust am Sieg im Wettstreit Freier und Gleicher führen nun nach Nietzsche zur Entdeckung „eine(r) neue(n) Art Agon"* durch Sokrates, d. h. zur Verlagerung des agonalen Spieles in die Philosophie. Außerhalb derselben stand nämlich die Gesellschaft durch die sich ausbreitende Spezialisierung, Professionalisierung und Kommerzialisierung der Polis unter den Bedingungen des „Sclavenhaften": Sie machte zur Regel ein „Wesen, das nicht über sich selber verfügen kann und dem die Müsse fehlt" 5 . D e m entgegen steht allein noch der - schon insofern zum Dekadenzsymptom werdende - Philosoph, dessen Ausnahmestellung, die sich durch die Aufrechterhaltung des agonalen Wesenszuges in seiner Lebensweise dokumentiert, Nietzsche in einem, mit Antiker Stolz überschriebenen Aphorismus beschreibt: „Der griechische Philosoph gieng durch das Leben mit dem geheimen Gefühle, dass es viel mehr Sclaven gebe, als man vermeine - nämlich, dass Jedermann Sclave sei, der nicht Philosoph sei" 6 . Allein dies war für Nietzsche der Grund für Sokrates' Erfolg bei der vornehmen athenischen Jugend: „Er fascinirte, indem er an den agonalen Trieb der Hellenen rührte"7.

1 Aristoteles, Politik (Nach der Übers, v. Franz Susemihl mit Einleitung, Bibliographie u. zusätzl. Anmerkungen hg. v. Wolfgang Kullmann), Reinbek 1994, 1337bl4ff (342). Die Diskussion des aristotelischen Spielbegriffes als medikamentöses Mittel zur Entspannung von der Arbeit und dessen Differenzierung von der Muße (1337b32ff) würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Es sei dennoch bemerkt, daß sich die aristotelische Muße vielleicht im Sinne des agonalen Spielens deuten ließe. 2 Vgl. J. Reisch, Agones, Sp. 844ff. 3 Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, 117. 4 Götzen-Dämmerung. Das Problem des Sokrates, Aph. 8, KSA VI, 71. 5 Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 18, KSA III, 389. 6 Ebd. f. 7 Götzen-Dämmerung. Das Problem des Sokrates, Aph. 8, KSA VI, 71.

1. Agon und Spiel

127

Diese Interpretation Nietzsches umfaßt drei wesentliche Züge: Zunächst bedeutet der Rückzug des eigentlichen Agon-Gedankens in das R e f u g i u m der Philosophie, den Sokrates weist, trotz der „starke(n) Gesundheit und Kraft im ganzen Habitus, in der Dialektik und Tüchtigkeit, Straffheit des wissenschaftlichen Menschen sich zeigt" 1 , ein Symptom der Dekadenz des Griechentums 2 . Sodann verortet Nietzsche den Grund für den überwältigenden Erfolg der sokratischen Art zu philosophieren nicht in deren alleinigen Gegenstand, nämlich der Arete bzw. der Moral 3 , sondern nur in ihrer Form, der Dialektik. Schließlich liegt in dieser noch der für die Bewahrung des Agonalen unentbehrliche Akzent auf dem Aspekt des zweckfreien und unabschließbaren Tätigseins 4 im Philosophieren selbst. In einem ersten Schritt soll nun Nietzsches Diagnose des Sokrates 5 als Gestalt der Dekadenz aus der Perspektive des agonalen Spieles erörtert werden. Danach ist der Blick auf die nur scheinbar agonale Struktur der sokratischen Dialektik zu richten, welche diesen Schein erst in ihrer Transformation durch Piaton ablegt, wie später noch zu zeigen sein wird.

α ) D i e P e r v e r s i o n der P h i l o s o p h i e

Der Umschlag der agonalen Sublimierung durch invertierende Interpretation, wie sie sich bei Homer, Hesiod und Heraklit, der in dieser Hinsicht stellvertretend f ü r die ganze Vorsokratik stehen kann, zeigte, in die Dekadenz bei Sokrates wird in der Zielsetzung greifbar, die das Philosophieren nun erhält. Dies kann ein ganz formaler kontrastiver Vergleich mit Heraklits Weise, zu philosophieren und mit dem agonalen Gedanken umzugehen, verdeutlichen. Heraklit stellt nach Nietzsches Auffassung die vollkommene Stufe der Inversion des entsetzlichen, als grausamen Kampf ums Dasein aufgefaßten Weltgeschehens in einen schönen Kosmos dar, die die Dichtung vorbereitet hatte. Er vollendet sie, indem er nicht nur Teile der menschlichen Lebenswelt, sondern das All als geordnete Kunstwelt deutet. Deren apollinische Künstlichkeit und damit Scheinhaftigkeit macht er beispielhaft in Β 52 transparent, wenn er gleichsam den ' S t o f f ' zur „Produktion der Kunstwelt" 6 - das chaotische Werden, das Nietzsche in die Doppelung von Vernichten und Schaffen unter den Begriff des Dionysischen faßt - im π α ί ζ ω nennt und in der apollinischen Form des Aufbauens im π ε σ σ ε ύ ω aufgehen läßt. Dies ist

1

Nachlaß, KSA XIII, 268, 14[92], Vgl. z. B. Ecce homo. Die Geburt der Tragödie, Aph. 2, KSA VI, 311. 3 Vgl. Nachlaß, KSA XI, 16, 25[17]. In neuerer Zeit betont auch Gregory Vlastos die ausschließliche Konzentration des Sokrates auf Moralphilosophie: Vgl. die erste seiner zehn Thesen in: Socrates. Ironist and Moral Philosopher, Cambridge/New York 1991, 47ff. Vlastos plädiert im übrigen wie auch Nietzsche für eine strikte Trennung zwischen dem historischen und platonischen Sokrates und den entsprechenden Differenzen der Sokrates-Figur in den Dialogen. 2

4

Vgl. Homer's Wettkampf; KSA I, 788. Vgl. auch die ausführliche Darstellung dieses hochkomplexen Verhältnisses durch Hermann l o s e f Schmidt, Nietzsche und Sokrates. Philosophische Untersuchungen zu Nietzsches Sokratesbild, Meisenheim/Glan 1969, und die Interpretation von Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph - Psychologe Antichrist (aus dem Amerik v. Jörg Salaquarda), Darmstadt 2 1988, 455-478, die aber beide den Aspekt des Agonalen nicht eigens thematisieren, und v. a. Sarah Kofman, Socrate(s), Paris 1989, 291-318, auf die ich mich in den Passagen über Sokrates' Schauspielertum z. T. beziehe. 5

6

Der griechische

Staat, KSA I, 767.

128

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

das Resultat einer besonderen Art der Anschauung, nämlich der des Künstlers. Dieser ist dadurch Künstler, daß er allein in das entsetzliche Weltgetriebe Ordnung hineinsieht und wie der ,,beschauliche() Gott()"' als Spiel zu sehen vermag. Entscheidend ist nun - dies betont Nietzsche - , daß „Heraklit nur die vorhandne Welt (beschreibt) und an ihr das beschauliche Wohlgefallen (hat), mit dem der Künstler auf sein werdendes Werk schaut" 2 . Dies geschieht, ohne auf eine Zweiweltentheorie zurückgreifen zu müssen, durch die dem Philosophen und Künstler, als den sich Heraklit begriff, notwendige Form der ästhetischen Anschauung: Seine Weltdeutung ist für Nietzsche Sache der Intuition, nicht der Angabe von Gründen, die diese selbst rechtfertigten. 3 Die Interpretation des Weltgeschehens als agonales Spiel und somit die Philosophie hat keinen Zweck außer sich und reflektiert so die Struktur des Agon selbst. Von dieser Auffassung des Agon und der Philosophie ist die des Sokrates nach Nietzsche wenigstens in zweifacher Weise geschieden. War bei Heraklit das Agonale noch Gegenstand der Verklärung, wird es bei Sokrates nun durch die Tugend „verborgen"; die Wahrhaftigkeit des apollinischen Scheines wird zur „Heuchelei". 4 Das heißt zugleich: Der schaffende KünstlerPhilosoph, der im Entwurf „schöner neuer Lebensmöglichkeiten" Erfüllung findet, wird vom, wesensmäßig Gegebenes ausführenden, Schauspieler abgelöst. Nicht nur, daß die „PhilosophenMoral von Sokrates ab (...) ein gutes Stück Schauspielerei" 5 ist, Sokrates selbst ist auch - was ihn in Nietzsches Augen Wagner annähert - „der Hanswurst, der sich ernst nehmen machte"6. Weiter heißt es Uber Sokrates: „Alles ist übertrieben, buffo, Karikatur an ihm, Alles ist zugleich versteckt, hintergedanklich, unterirdisch." 7 Unter der Tyrannei der Logik und der Klugheit verbergen sich immer noch die selben „gefährlich(en) und untergangsdrohend(en)" Triebe, die bereits das vorhomerische Zeitalter durchherrschten; jedoch nun in größerer „Wildheit und Anarchie", 8 da gerade durch Sokrates' Tätigkeit, die die Angabe vernünftiger Gründe für alles Geschehen einforderte, die Möglichkeit zu dessen intuitiver Verherrlichung, wie sie etwa noch Aischylos eignete, eliminiert wurde 9 . Gerade durch die Bewußtheit der eigenen typhonischen Monstrosität der „Laster und Begierden" 10 , die durch den Zwang der Vernunft weder an die Kette genommen noch umgeformt, sondern schlicht geleugnet werden, repräsentiert auch Sokrates „die ganze Psychologie des Schauspielers", die Nietzsche im Grundsatz des französischen Theaterreformers Talma formuliert findet: „Man ist Schauspieler damit, dass man Eine Einsicht vor dem Rest der Menschen voraus hat: was als wahr wirken soll, darf nicht wahr sein." 11 Im Gegensatz zu seinen Vorgängern, deren Weltentwürfe ihre Kunsthaftigkeit schon durch ihre literarische Form - Spruchsammlung, Lehrgedicht o. ä. - und deren dadurch erzielte unaufhebbare Mehrdeutigkeit offenlegten, nimmt der nichtschreibende Sokrates durch seine allzu hohe Einschätzung der Möglichkeit gesprochener Sprache eine Art von Wahrheit in Anspruch, die über die ästhetische Intuition weit hinausgeht. Die damit verbundene

' Philosophie im tragischen Zeitalter, KSA I, 832. Ebd. 3 Vgl. ebd., 822fu. 833f. 4 Vgl. Nachlaß, KSA XI, 226, 26[285]. 5 Nachlaß, KSA XII, 302, 7[20]. 6 Götzen-Dämmerung. Das Problem des Sokrates, Aph. 5, KSA VI, 70. 7 Ebd., Aph. 4, 69. 8 Nachlaß, KSA XIII, 269, 14[92], 9 Vgl. dazu etwa Nietzsches Interpretation der Differenz der aischyleischen und euripideischen Tragödie: Geburt der Tragödie, KSA I, 81-89. 10 Götzen-Dämmerung. Das Problem des Sokrates, Aph. 3, KSA VI, 69. " Der Fall Wagner, KSA VI, 31. 2

1. Agon und Spiel

129

Verabsolutierung der Vernünftigkeit ist jedoch nach Nietzsche Ergebnis einer „Nothlage", d. h. einer Zwangslage, die eine Applikation des sokratischen Fragens auf die sie begründende Auffassung selbst gar nicht mehr zuläßt, da hier nur „Eine W a h l " besteht: „entweder zu Grunde zu gehn oder - absurd-vernünftig zu sein". 1 Das Wissen darum unterstellt Nietzsche Sokrates 2 zumindest. In jedem Fall erweist sich Sokrates' Folgerung aus dieser Situation als verhängnisvoll: Was seine Vorgänger von Homer bis Heraklit in aufsteigender Linie verklärten und in dieser Form bejahten, den instinktiven 'dionysischen' Lebensgrund, muß nun bekämpft werden 3 . Die poietische Inversion wird zur dekadenten, d. h. moralischen Perversion und Sokrates selbst „ein Moment der tiefsten Perversität in der Geschichte des Menschen" 4 . Zugleich wird durch Sokrates die Philosophie, wie sie bisher dagewesen war, in ihrem Wesen verkehrt: Sie verliert ihre Zweckfreiheit - ihre „Unschuld" gleichsam - und wird zum zweckgebundenen Mittel, verkehrt sich also von Spiel in Ernst bzw. Arbeit. Ihre A u f g a b e ist nunmehr die Verbesserung des Daseins im Streben nach dem Glück des Menschen und nicht die Verklärung des Daseins selbst im künstlerischen Entwurf eines werkartigen Ganzen, das als solches zwar verworfen, kritisiert, akzeptiert oder ausgedeutet, aber nicht korrigiert werden kann - so daß es scheint, als sei über ein so verstandenes philosophisches Gebäude nur eine Art Geschmacksurteil möglich; entgegengesetzt kann einem solchen Werk demzufolge allein ein eigener Entwurf werden. Die Produktion von Werken bleibt im Falle des Sokrates als des „erste(n) negative(n) Philosoph(en)" 5 jedoch schon, von dem dichtenden und musiktreibenden Todeskandidaten einmal abgesehen, durch seine Ablehnung des Schreibens aus: „er will nichts mittheilen, sondern nur erfragen." 6 Sokrates glaubt, „dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei." 7 Dazu unterwirft er die überkommenen Begriffe der Philosophie der dialektischen Untersuchung und destruiert deren Gebrauch, ohne aber den Wert dieser Begriffe selbst in Zweifel zu ziehen oder zu einer eigenen Position zu gelangen 8 . Die einem jeden Geschehen gegenüber erhebbare Forderung nach der Angabe von Gründen 9 lahmt die zu einem Gutteil auf Instinkten aufruhende produktive Kraft. Damit ist zugleich das Agonale depotenziert und womöglich gänzlich aufgegeben: Es geht jedenfalls keineswegs darum, den jeweils anderen durch eine wie immer geartete eigene Hervorbringung zu übertreffen. Vielmehr hat die sokratische Philosophie allein den Zweck der begrifflichen Vergewisserung um die Tugenden, wobei die Gleichsetzung des Wissens um die Tugend mit deren Habe einen diesbezüglichen Agon ausschließt, da es hier nicht um ein Mehr oder Weniger an Tugend, sondern zunächst nur um deren Haben oder NichtHaben geht. Die in der rechten Weise um die Tugend Wissenden sind damit in Bezug auf das für Götzen-Dämmerung. Das Problem des Sokrates, Aph. 10, KSA VI, 72. Vgl. ebd., Aph. 12, 73 u. Fröhliche Wissenschaft, Aph. 340, KSA III, 569f. 3 „Die Instinkte bekämpfen müssen - das ist die Formel für decadence: so lange das Leben aufsteigt, Glück gleich Instinkt." Götzen-Dämmerung. Das Problem des Sokrates, Aph. 11, KSA VI, 73. 2

ist

4

Nachlaß, KSA XIII, 289, 14[11], Nachlaß, KSA VII, 399, 16[17], 6 Ebd., 17, 1 [25]. 7 Geburt der Tragödie, KSA I, 99. 8 Dies ist der Sinn der sokratischen Rede vom έ λ έ γ χ ω , das nur eine Widerlegung vermittels des A u f w e i s e s logischer Fehler in der Argumentation meint, was ohne weiteres möglich ist, ohne selbst über eine als wahr geglaubte Meinung über die strittige Sache zu verfügen. Vgl. Gorg. 458a3ff. 5

9

Vgl. Aristophanes' Persiflage des λ ό γ ο ν διδόναι in den Wolken, 160-168, w o es um die Frage nach der Art der Klangerzeugung bei den Mücken geht.

130

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

den Menschen erreichbare Wichtigste 1 gleich, und der Versuch, einander hierin zu übertreffen, ist insofern weder sinnvoll noch im eigentlichen Sinne möglich, da er ja eine Verkennung des Wesens der Tugend voraussetzte. Zusammenfassend könnte man also sagen, daß das, was Sokrates mit der Philosophie und dem Agonalen tut, der Mahnung, die Nietzsche dem Philosophen par excellence, Heraklit, in den Mund liegt, diametral entgegengesetzt ist: „es ist ein Spiel, nehmt's nicht zu pathetisch, und vor Allem nicht moralisch!" 2

ß) Der agonale Schein der sokratischen Dialektik

Trotz dieser Perversion des philosophischen Spiels zum Ernsthaften bzw. Arbeits artigen spricht Sokrates' Methode den agonalen Instinkt der Athener an; dies jedoch nur durch ihre formale Beschaffenheit. Der agonale Trieb erfüllt sich nicht in der sokratischen Dialektik. Er wird vielmehr nur „angerührt", d. h. er befriedigt sich mangels angemessener Anlässe bestenfalls scheinbar in ihr. Die Dekadenzform des Agon, die in der Eliminierung seines Spielcharakters besteht, ist selbst kein echter Agon mehr, wenngleich allein der „Schauspieler" Sokrates über dieses Wissen verfügt. Die Falschheit des agonalen Prozesses liegt im Falle der sokratischen Dialektik nach Nietzsches Auffassung in ihrem rein destruktiven Impetus, in einer Art von Unberechenbarkeit, die Sokrates von vorneherein bei der Begegnung mit seinen Kontrahenten in Vorteil setzt, und darin, daß sie gleichsam vollendete, nicht mehr überbietbare Tatsachen schafft. Die dialektische Destruktion zielt stets auf die Meinung der jeweiligen Unterredungspartner, daß sie ein Wissen von einem bestimmten Logos bzw. einer bestimmten Techne hätten. Diese Meinung wird als bloße solche aufgedeckt und damit widerlegt, so daß sich das Nicht-Wissen der Mitunterredner genau auf dem Gebiet zeigt, in dem sie sich kompetent glaubten. Nietzsche beschreibt diese Wirkung in der Götzen-Dämmerung: „Man hat, als Dialektiker, ein schonungsloses Werkzeug in der Hand; man kann mit ihm den Tyrannen machen; man stellt bloß, indem man siegt. Der Dialektiker überlässt seinem Gegner den Nachweis, kein Idiot zu sein: er macht wüthend, er macht zugleich hülflos. Der Dialektiker depotenzirt den Intellekt seines Gegners." 3

In der dialektischen Unterredung erweist der nichtdialektische Partner des Sokrates sich selbst und den Zuhörern, sofern vorhanden, zweifelsfrei seine eigene intellektuelle Insuffizienz, und dies in der Regel gerade hinsichtlich derjenigen Tätigkeit, der er sein Leben gewidmet hat und für die er in der Polis als kompetent gilt. Dies geschieht zudem häufig, ohne daß sich die solchermaßen den dialektischen Wissenskriterien Nichtgenügenden der Art und Weise bewußt wären, wie sie denn eigentlich zum

1 Vgl. Günter Figal, Sokrates,21998, 52, der im übrigen die entschiedene Differenzierung zwischen dem sokratischen und dem platonischen Sokrates in den Dialogen Piatons, für die Vlastos - und Nietzsche plädieren, ablehnt. 2 Philosophie im tragischen Zeitalter, KSA 1, 832. 3 Götzen-Dämmerung. Das Problem des Sokrates, Aph. 7, KSA VI, 70.

131

1. Agon und Spiel

Selbsteingeständnis ihres Nichtwissens gebracht wurden, da sie ja nicht über Sokrates' Erfindung verfügen. Anders als beim klassischen musischen oder gymnastischen Agon 1 werden im dialektischen Gespräch nicht verschiedene erbrachte Leistungen von einem ausgewählten Kampfgericht - und sei dies die athenische Bürgerschaft - beurteilt, sondern sie erweisen ihre Güte allein anhand des von Sokrates vertretenen Begriffs der Vernünftigkeit einer Rede, der das entsprechende Kriterium orts- und zeitunabhängig bereits in sich enthält. Es ist dies das Phänomen, das Nietzsche eine „Superfötation" - eine erneute Befruchtung der Schwangeren noch vor der Niederkunft also - des Logischen nennt 2 , da Sokrates nicht etwa die von ihm neu erfundene Logik zur Ausdeutung oder produktiven Überbietung der vorliegenden intuitiv gewonnenen philosophischen Entwürfe, sondern nur zu deren Auflösung nutzt. Dies besagt die totale Subordination des Ästhetischen unter die Form der Logizität 3 , d. h. der intuitiv als mehrdeutige Ganzheit erfaßten Wirklichkeit unter eine allein durch logische Operationen bestimmte, begrifflich eindeutig festgelegte Wahrheit. Die ersten logischen Prinzipien - für Nietzsche hier der Satz des Widerspruches und der Satz vom Grund 4 - gelten Sokrates damit nicht mehr als bloße zur gelingenden sprachlichen Verständigung nötige Konventionen, sondern werden von ihm zu unabhängig von der Geschichte für sich bestehenden, ewig mit sich selbst identischen Gesetzen erhoben; weswegen Nietzsche der Dialektik, die sich allein an diesen orientiert, einen „absolute(n) Mangel an 'historischem Sinn'" 5 vorwerfen kann. Die Erhebung der Logik zum absoluten Wahrheitskriterium, dessen schnelle Akzeptanz sich durch den allein von Sokrates gewußten und allgemein unbewußt empfundenen Notstand der Dekadenz „5 Schritt weit vom Exceß, von der Anarchie, von der Ausschweifung" 6 , erklären läßt, verändert die ganze griechische Welt nachhaltig. Im sprachlichen Agon kann nämlich nunmehr vermittels der Dialektik die Beistimmung der Unterredner bzw. der Zuhörerschaft durch Beweise erzwungen werden. 7 Sokrates bricht damit nicht nur mit der Tradition der Philosophie, indem er keinen ebenso das Ganze umfassenden wie mehrdeutigen Weltentwurf bietet, über den nur ästhetisch - und damit auch von allen - geurteilt werden kann, sondern auch mit dem Paradigma der sprachlichen Agonistik, der vor den Schranken des Gerichts praktizierten Rhetorik. Das Kriterium des Erfolgs bei diesem Agon, so der griechische Ausdruck für den Prozeß vor Gericht, war allein die πειθώ, die, im Griechischen nicht unterschiedene, Überredung oder Überzeugung der über den Fall entscheidenden Zuhörer. Die Entstehung der πειθώ bei den Hörern ist in erster Linie kein bewußt verlaufender Vorgang, der strikt auf Gründe und Gegengründe zurückzuführen wäre. Von Seiten des Rhetors werden vielmehr alle sprachlichen Mittel eingesetzt, um die von ihm gewünschte Überzeugung hervorzubringen. Dies geschieht mittels einer durch und durch bewußten Kunst, die sich insbesondere „der sinnlichen Seite der Sprache (), der irrationalen Wirkungen, die sich durch Eine explizite Anwendung der Analysen Burckhardts und Nietzsches auf die musischen A g o n e liefert Renata v. Scheliha, Vom Wettkampf der Dichter. Der musische Agon bei den Griechen, Amsterdam 2 1987. Zu den gymnastischen Agonen vgl. Wolfgang Decker, Sport in der griechischen Antike. Vom minoischen Wettkampf bis zu den olympischen Spielen, München 1995, 39-65. 1

Vgl. ζ. B. Geburt der Tragödie, KSA I, 90, Socrates und die Tragödie, KSA I, 546 u. ö. Dies ist nach Nietzsche der Grund für den Vorzug unter den Tragikern, den Sokrates Euripides wegen dessen „aesthetischen Sokratismus ( . . . ) , dessen oberstes Gesetz ungefähr so lautet: 'alles muss verständig sein, um schön zu sein'", einräumt; Geburt der Tragödie, KSA I, 85. 4 Vgl. ζ. B. Philosophie im tragischen Zeitalter, KSA I, 823, und Geburt der Tragödie, KSA I, 99. 3

5 6 7

Vgl. Nachlaß, KSA XII, 303, 7[20]. Nachlaß, KSA XIII, 270, 14[92], Vgl. Götzen-Dämmerung. Das Problem

des Sokrates,

Aph. 5 u. 6, KSA VI, 69f.

132

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

Rhythmus und Klang erzielen lassen"', bedient. Gerade die von Sokrates und Piaton erbittert bekämpfte gorgianische Variante der Theorie setzt entschieden auf „die rauschhafte Wirkung der Stilmittel" 2 . Das so gestaltete Werk der Rhetorik wird demnach intuitiv erfaßt. Seine Güte zeigt sich durch seinen Erfolg. Über die Kunstfertigkeit der wetteifernden Rhetoren und damit den Sieg in ihrem Agon entscheidet nicht die begründende Vernunft, sondern die Intuition. Daraus erhellt zweierlei: Zum einen wird schon wegen der Abwesenheit einer rein logischen und argumentativen Begründung von der Zuhörerschaft nicht über die in diesem Sinne wahre oder falsche Darlegung des strittigen Sachverhalts entschieden 3 , sondern allein über die jeweilige künstlerische Leistung des Rhetors. Aus dem gleichen Grund kann zum anderen der Sieg im rhetorischen Wettkampf kein endgültiger sein: Die Leistung des Rhetors kann stets überboten werden. Dies liegt auch gar nicht in der Intention der Rhetorik, der es ja gerade nicht um die wahrheitsgemäße Feststellung eines Sachverhalts geht, die entweder erreicht oder verfehlt wird, sondern nur um den Sieg im jeweiligen Agon, der unter ständig wechselnden Bedingungen steht. Diese beiden Charakteristika der Rhetorik gehen mit dem Wesen des agonalen Spieles konform, und mit beiden bricht Sokrates' Dialektik. Ebenso entzieht sie sich der überkommenen Regeln der Kunst des Streitgespräches, der Eristik, wie entsprechende Beschwerden von dieser mächtigen Unterredungspartnern zeigen 4 . Sokrates, der als erster der griechischen Philosophen „versucht sich selbst zu erzeugen und alle Traditionen abzuweisen" 5 , folgt allein den von ihm als entdeckt geglaubten - in Wahrheit erfundenen - und den anderen folglich unbekannten Regeln der Dialektik. Mit ihr vermag er seinen Gegnern ein Streitgespräch aufzuzwingen, bei dem Übereinstimmung mit ihm - entweder in bezug auf den in Rede stehenden Begriff oder auf die diesen betreffende Unwissenheit - oder der Abbruch des Gespräches entweder durch die Flucht des Partners oder durch von diesem vorgebrachte Drohungen resultiert. Solche Hilflosigkeit ist nicht nur die Folge der für die Gesprächspartner unberechenbaren und unbekannten neuen Art des Streitgespräches, das eben nicht mehr um seiner selbst und des Sieges, sondern um der Wahrheit bzw. eines Begriffes willen geführt wird 6 . Sie entsteht auch durch Sokrates' aus der Prüfung des delphischen Spruches hervorgegangene „Maske" des Nichtwissens, als die jedenfalls Nietzsche jene Haltung interpretiert. Er hält sie für „listige Selbst-Verkleinerung (...), um damit seinen Gegner arglos und sicher zu machen, so daß er sich gehn läßt und gerade heraus sagt, was er denkt: ein Kunstgriff des Pöbel-manns!" 7 Auch Sokrates setzt also alle Mittel ein, um zum Sieg im Streitgespräch zu gelangen, jedoch ohne daß es ihm allein um den Sieg als solchen ginge. Er ist ihm vielmehr Mittel zum Zweck. Dabei bedeutet 'Sieg' hier allererst die Destruktion der gegnerischen Position und erfordert somit nicht die agonale Juxtaposition einer eigenen. Bislang scheint es, als sei dieses sokratische Unternehmen vollständig destruktiv und radikalisiere solchermaßen sogar noch das vorhomerische Grauen des Lebenskampfes. Dennoch kann man hier keinesfalls, gerade nicht nach Nietzsches extremer Auslegung, von ungehemmter dionysischer Zerstörung sprechen, die 1 2 3 4 5 6 7

Manfred Fuhrmann, Die antike Rhetorik. Eine Einführung, Zürich 4 1995, 19. Ebd. Vgl. dazu die Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen Gorg. 454c-455a. Vgl. ζ. B. Michael Erler, Sinn, 242ff. Nachlaß, KS A VIII, 104, 6[17]. Vgl. Gorg. 457d/e. Nachlaß, KSA XI, 435, 34[47].

1. Agon und Spiel

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ja auch den Impuls des Schaffens mit sich führen müßte. Freilich zeitigt die sokratische Dialektik durchaus positive Resultate. Doch zeigt sich, daß gerade deswegen das spielerische Wesen des Agon bei Sokrates vollends ausgelöscht wird. 1 Die sokratische Dialektik terminiert nämlich nicht mehr in im eigentlichen Sinne fraglichen Ergebnissen. Zum einen ist der erreichte Nachweis des Nichtwissens nicht zu überholen, ohne das Vergehen der Hybris auf sich zu laden, da hier ja Gewißheit durch den Spruch des Delphischen Gottes verbürgt ist. Zum anderen ist das den Sterblichen erreichbare Wissen über denjenigen Gegenstand, der für die Menschen das Wichtigste ist, nämlich die Tugend, stets sich selbst gleich und solchermaßen Gegenstand des bewahrenden Vollzugs. Es kann also gar nicht der Fortentwicklung oder sonstiger Veränderung zugänglich sein, so daß auch diesbezüglich ein agonales Streben nach Überbietung unsinnig wäre. Auch bei der Feststellung von Einsichten in die Tugenden durchbricht die Dialektik nach Nietzsche im übrigen nicht ihr destruktives Wesen: Das gewonnene Wissen ist nicht das Ergebnis einer aufbauenden Produktion, sondern vielmehr eines Abbaus der hergebrachten Meinungen und Sitten 2 , dessen Richtigkeit durch den Spruch des Gottes und die scheinbar unveränderlichen Gesetze der Logik gewährleistet wird. Diese abbauende Tendenz macht jedoch halt vor den mit Sokrates souverän gewordenen Begriffen 3 , die der Moral zugrundeliegen und somit nicht erst hervorgebracht, sondern vielmehr aufgedeckt werden müssen. Dementsprechend gelangt Sokrates nicht mehr zu einem geschlossenen philosophischen Weltentwurf wie seine Vorgänger, genauer: seine Dialektik ist vielmehr geeignet, solches als bloßen lügenhaften Schein zu decouvrieren und so von vorneherein unmöglich zu machen.

d) Platon ohne Sokratismus

Es ist diese, die philosophische Poiesis verhindernde reine Destruktivität, die nach Nietzsche Sokrates von Platon trennt. Diese Kluft hält Nietzsche für so tief, daß er es für „keine müssige Frage" erachtet, „ob nicht Plato, von der sokratischen Verzauberung frei geblieben, einen noch höheren Typus des philosophischen Menschen gefunden hätte, der uns auf immer verloren ist" 4 . Um diese ,,neue(), bis dahin unentdeckt gebliebene() höchste() Möglichkeit des philosophischen Lebens"5 erschließend zu entwerfen, denkt Nietzsche an den „Versuch einer Characteristik Piatos ohne Socrates" 6 . Dabei wäre die Krankheit zu heilen, die Platon verdirbt' und zum ersten Auf diese Exstinktion, die nicht über die Destruktion hinausgelangt, bezieht sich letztlich Nietzsches vehemente Sokrates-Kritik, die seiner Bewunderung für Sokrates gerade wegen seiner kritischen Methode keinen Abtrag tut. Ran Sigad verfehlt gerade erstere, obschon und weil er nur zweitere in den Blick nimmt, wenn er Nietzsches Position auf die eines „absolute criticism" fixiert, der „total negation" zum alleinigen Inhalt hat, welche Sigad nur noch mit Mitteln der von Nietzsche zutiefst verabscheuten hegelschen Dialektik in einen positiven Entwurf umzukehren vermag: The Socratic Nietzsche, in: Yirmiyahu Yovel (ed.), Nietzsche as Affirmative Thinker. Papers Presented at the Fifth Jerusalem Philosophical Encounter, April 1983, Dordrecht/Boston/Lancaster 1986, 109-118, hier 117. 2 3 4 5 6

Vgl. ζ. Β. Geburt der Tragödie, KS A I, 89f. Vgl. Nachlaß, KS A VII, 399, 16[17], Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 261, 216. Ebd. Nachlaß, KS A VIII, 105, 6[18],

134

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

„Mischcharakter" 2 in der Geschichte der Philosophie überhaupt macht: „Es giebt Etwas in der Moral Plato's, das nicht eigentlich zu Plato gehört, sondern sich nur an seiner Philosophie vorfindet, man könnte sagen, trotz Plato: nämlich der Sokratismus, f ü r den er eigentlich zu vornehm war." 3 Der von Nietzsche als Krankheit diagnostizierte Sokratismus Piatons ist nun genau die offenbare Identifikation von Philosophie mit „Moral-Philosophie" 4 , die dem Zweck der Besserung des Menschen und des Staatswesens eine j e d e philosophische Besinnung als Mittel unterordnet 5 . D e m g e m ä ß kann Nietzsche auch „Plato's Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten an sich" als den „schlimmste(n), langwierigste(n) und gefährlichste(n) aller Irrthümer" 6 bezeichnen. Entscheidend zu bemerken ist jedoch, daß Nietzsche nicht die Dialektik als sokratische Infektion Piatons zu eliminieren wünscht. 7 Piaton nämlich als „der verwegenste aller Interpreten" 8 unterzieht die sokratische Dialektik einer radikalen Umdeutung: Er kehrt ihr Wesen als schiere Negation, in Sonderheit von Rhetorik und Dichtung, und bloße Vortäuschung des Agon um, indem er sie zu einer „neue(n) Kunstform des griechischen Agon" 9 macht. Nietzsche trägt damit in seiner Platon-Interpretation, die sich v. a. auf die Dialoge Phaidros, Symposion und Politeia stützt 10 , der im Phaidros wie gezeigt manifesten Gleichsetzung von Dialektik, Rhetorik und Philosophie und deren Form als Spiel Rechnung. Dieses Verständnis der platonischen Philosophie als agonales Spiel bedarf noch weiterer Erläuterung.

α) Die Verwandlung des Sokrates

Piaton durchbricht mit seiner Konzeption der dialektischen Philosophie als Spiel die agonale Illusion der sokratischen Dialektik, indem er sie verwandelt. Diese Verwandlung hat wiederum den Charakter einer invertierenden Interpretation, insofern Piaton die „ p l e b e j i s c h ( e ) " n Herkunft der Dialektik, die ihre reaktive Negativität bedingt 1 2 , in die aristokratische Aktivität des Spielens umzukehren versucht: „Plato hat Alles gethan, um etwas Feines und Vornehmes in den Satz

1

Vgl. Jenseits von Gut und Böse, KSA V, 12. Philosophie im tragischen Zeitalter, KSA I, 810. 3 Jenseits von Gut und Böse, Aph. 190, KSA V, 111. 4 Vgl. Nachlaß, KSA XI, 16, 25[17], u. ö. 5 Vgl. Robert Duval, Le point de depart de la pensee de Nietzsche: Nietzsche et le Platonisme, in: Revue des sciences philosophiques et theologiques 53 (1969), 601-637, insb. 620f. Das Argument, mit dem Dieter Bremer, Platonisches, Antiplatonisches. Aspekte der Platon-Rezeption in Nietzsches Versuch einer Wiederherstellung des frühgriechischen Daseinsverständnisses, in: Nietzsche-Studien 8 (1979), 3 9 - 1 0 3 , 6 2 , Anm. 98, auch nur eine Diskussion der Interpretation von Duval verweigert, nämlich daß hier Duval - wie auch Nietzsche - einer inadäquaten Heraklit-Interpretation folgen würden, ist schon wegen der unentschiedenen Diskussionslage (s. o. 15, Anm. 3) unzureichend. 2

6

Jenseits von Gut und Böse, KSA V, 12. Dies deutet auch Dieter Bremer, Platonisches, 84, an. 8 Jenseits von Gut und Böse, Aph. 190, KSA V, 111. 9 Götzen-Dämmerung. Streifzüge eines Unzeitgemässen, Aph. 23, KSA VI, 126. 10 Vgl. Robert Duval, Point, 604, u. Dieter Bremer, Platonisches, 84f. " Nachlaß, KSA XI, 87, 25[297], 12 Vgl. Gilles Deleuze, Nietzsche, 62ff. 7

135

1. Agon und Spiel

seines Lehrers (sc. über den festgelegten Zweck und die Nützlichkeit der Philosophie) hinein zu interpretiren, vor Allem sich selbst" 1 . Dieses „Selbst" bestimmt Nietzsche näher in einer Notiz aus dem Nachlaß: „der Fanatismus Plato's der einer poetischen Natur für ihr Gegenstück. Zugleich merkt er, als agonale Natur, daß hier das Mittel zum Siege gegeben ist gegen alle Mitkämpfer, und daß die Fähigkeit selten ist." 2 Es hatte sich bereits erwiesen, daß die Dialektik sokratischen Ursprungs als rein destruktiv den Gegensatz zur Poiesis bzw. zur Kunst darstellt und letztere insofern wesentlich zum Agon gehört, als hierbei verschiedene erbrachte Leistungen verglichen werden 3 . Der Sieg im Agon erfordert also nicht primär die Zerstörung der gegnerischen Leistung, sondern zuallererst eine eigene Hervorbringung. Piaton verbindet beides, weil er in der Dialektik das unfehlbare Mittel zum Sieg im Wettkampf erkennt. Seine Philosophie erschöpft sich demnach nicht im sokratischen Modell, sondern benutzt es und erweitert es zum künstlerischen Mittel. Als solches geht es in die platonische Philosophiekonzeption ein und dient mithin zur Hervorbringung von sich selbst reflektierenden Sprachkunstwerken, deren ebenso schöner wie wahrhaftiger Schein Piaton den Sieg im rhetorisch-sprachlichen bzw. philosophischen Agon erringen läßt, der in seiner Spielhaftigkeit im platonischen Dialog erst recht eigentlich zu sich kommt 4 . Nach Nietzsches ironisierender Interpretation gelangt Sokrates nicht aus freiem Willen, sondern aus Zwang zu seiner eigentlichen Tätigkeit: Nicht nur der delphische Spruch zwingt ihn dazu, er wird auch und vor allem durch seine ihm durchaus angemessene Gemahlin Xanthippe vom heimischen Herd vertrieben und kommt so erst „in seinen eigenthümlichen Beruf immer mehr hinein", um „überall dort zu leben, wo man schwätzen und müssig sein konnte", und als „grösste(r) athenische(r) Gassen-Dialektiker" 5 die zweckgebundene Paideia des dialektischen Besserungsunternehmens seinen Mitbürgern angedeihen zu lassen. Dies geschieht ob des großen Ernstes der Aufgabe, der die Kunstfeindlichkeit und damit auch die Verwerfung des Schreibens von Seiten des Sokrates begründet, mit der Aufdringlichkeit einer Pferdebremse. Piaton hingegen enthält sich solcher in ihrer blanken Zweckgerichtetheit nachgerade banausischen Tätigkeit, philosophiert aus freiem Entschluß und beschränkt die direkte mündliche Unterweisung auf den vom Getriebe der Polis abgeschiedenen, ausgewählten und dementsprechend qualifizierten Schülerkreis der Akademie. Die eigentliche und angemessene Tätigkeit des Aristokraten Piaton, dessen Charakter Nietzsche mit Heraklit gleicht 6 , mußte jedoch - auch und gerade im Rahmen von Nietzsches Interpretation des Agonalen - im Verfassen der Dialoge als der dem wahren Philosophen adäquaten Beschäftigung im Sinne des schönsten aller Spiele, liegen. In der philosophischen Kunstform des Dialogs 7 , der als einzige Dichtungsgattung 1

Jenseits von Gut und Böse, Aph. 190, KS A V, 111. Nachlaß, KSA XI, 87, 25[297). 3 Vgl. Nachlaß, KSA VII, 402, 16[23]: ,,άγών vielleicht das 'Wägen'." Auch beschreibt Nietzsche das Vergleichen als ursprüngliche Denkoperation, vgl.: ebd., 489, 19[226]. 4 So befindet Jacob Burckhardt, daß „der Dialog als Form der philosophischen Darstellung ein Agon" ist, Griechische Kulturgeschichte, 115. Auch Nietzsche nennt in seiner Vorlesung zur Einleitung in das Studium der platonischen Dialoge etwa den Protagoras einen Agon: MusA IV, 395. 2

5

Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 433, KSA II, 282. Vgl. Manfred Riedel, Nachwort, in: Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Griechen (mit einem Nachwort hg. v. Manfred Riedel), Stuttgart 1994, 199-227, hier 218.

6

7

Zeitalter

der

Nietzsche schätzte Piaton als „reichbegabten Prosaiker, höchst versatil, alle Tonarten beherrschend, der vollendete Gebildete in der gebildetsten Zeit. In der Composition zeigt er eine grosse dramatische Begabung."; Einleitung in das Studium der platonischen Dialoge, MusA IV, 368. Ähnliche Urteile finden sich ζ. B. in: Homer's Wettkampf, KSA I, 790f; Menschliches, Allzumenschliches II, Aph. 271, KSA II,

136

IV. Nietzsche: P h i l o s o p h i e als Spiel

überhaupt im platonischen „ v o l l k o m m e n e n Staate gelesen w e r d e n " darf 1 , g e w i n n e n e b e n s o D i c h t u n g , A g o n und Spiel ihre Einheit wieder, wie sich Rhetorik, Dialektik u n d P h i l o s o p h i e vereinigen. In dieser F o r m des Dialogs k o m m t die gleichermaßen a g o n a l e wie p o i e t i s c h e N a t u r des

Philosophen

Piaton

zum

Ausdruck,

der

wie

Heraklit

„zugleich

Künstler

ist" 2 .

D e m e n t s p r e c h e n d motiviert Piatons Philosophieren nach N i e t z s c h e auch nicht das Bestreben nach der B e s s e r u n g seiner Mitbürger in Sachen T u g e n d , sondern der urgriechische agonale Instinkt, der sowohl p r o d u k t i v e wie destruktive Spieltrieb: „Das, was ζ. B. bei Plato von besonderer künstlerischer Bedeutung an seinen Dialogen ist, ist meistens das Resultat eines Wetteifers mit der Kunst der Redner, der Sophisten, der Dramatiker seiner Zeit, zu dem Zweck erfunden, daß er zuletzt sagen konnte: 'Seht, ich kann das auch, was meine großen Nebenbuhler können; ja, ich kann es besser als sie. Kein Protagoras hat so schöne Mythen gedichtet wie ich, kein Dramatiker ein so belebtes und fesselndes Ganze, wie das Symposium, kein Redner solche Rede verfaßt, wie ich sie im Gorgias hinstelle - und nun verwerfe ich das alles zusammen und verurtheile alle nachbildende Kunst! Nur der Wettkampf machte mich zum Dichter, zum Sophisten, zum Redner!'" 3 Nietzsche betont auffällig die b e s o n d e r e A b l e h n u n g der „ N a c h b i l d n e r e i " d u r c h Piaton. W i e wir schon gesehen haben, tut er dies zurecht, wenn er bemerkt, daß es „ f ü r den platonischen D i a l o g nichts Naturwirkliches geben (sollte), das n a c h g e a h m t worden wäre" 4 . D e n n schließlich legt j a der platonische Dialog z u m einen von sich aus seinen Status als D i c h t u n g und d a m i t als Schein o f f e n und z u m anderen erhebt er nirgends A n s p r u c h auf die A u s s a g e dessen, was in W a h r h e i t ist, noch auf dessen Aussagbarkeit. Diese Reflektiertheit, die sich im Selbstverständnis der platonischen P h i l o s o p h i e als Spiel ausweist, erfüllt Nietzsches o f t m a l s f o r m u l i e r t e F o r d e r u n g nach B e w u ß t h e i t der Scheinhaftigkeit des eigenen W e r k e s und d i e s b e z ü g l i c h e W a h r h a f t i g k e i t des Autors. Z u m i n d e s t letztere verbürgt die Ü b e r l e g e n h e i t - oder s c h w ä c h e r formuliert: die D i f f e r e n z - der Philosophie, auch und gerade w e n n sie f u n d a m e n t a l als Poiesis verstanden wird, über die als l ü g e n h a f t verstandene D i c h t u n g . V o r d i e s e m H i n t e r g r u n d erscheint Nietzsches E i n s c h ä t z u n g des platonischen Sokrates nur konsequent: Piaton gilt ihm als „der verwegenste aller Interpreten, der den ganzen Sokrates nur wie ein populäres T h e m a und Volkslied von der G a s s e n a h m , u m es in's U n e n d l i c h e und U n m ö g l i c h e zu variiren: nämlich in alle seine eignen M a s k e n und Vielfältigkeiten." 5 Für Nietzsche ist der in den platonischen Dialogen auftretende Sokrates also eine reine K u n s t f i g u r , w e s w e g e n er folgerichtig auf X e n o p h o n verweist, w e n n es um den historischen Sokrates geht 6 .

494; Morgenröthe, Aph. 544, KSA III, 314f. Die despektierlichen Äußerung über den im Vergleich zu Thukydides langweiligen Stil Piatons in der Götzen-Dämmerung (Was ich den Alten verdanke, Aph. 2, KSA VI, 155) zählen zweifellos zu den von Nietzsche gerne um zu schockieren gebrauchten ironischen Antithesen, deren bekanntestes Beispiel Bizets Überordnung über Wagner ist, von der Nietzsche schreibt: „Das, was ich über Bizet sage, dürfen Sie nicht ernst nehmen; so wie ich bin, kommt B Tausend Mal für mich nicht in Betracht. Aber als ironische Antithese gegen W wirkt es sehr stark". An Fuchs, 27. Dez. 1888, KS Β VIII, 553. 1 Socrates und die Tragödie, KSA I, 543. 2 Einleitung in das Studium der platonischen Dialoge, MusA IV, 368. 3 Homer's Wettkampf, KSA I, 790. 4 Socrates und die Tragödie, KSA I, 543. 5 Jenseits von Gut und Böse, Aph. 190, KSA V, 111. 6 Vgl. Nachlaß, KSA VIII, 327, 18[47],

1. Agon und Spiel

137

β) N i e t z s c h e als P l a t o n i k e r

Insofern ist auch die Umwandlung der sokratischen Dialektik in lustvolles Spiel als eine Leistung Piatons zu sehen, wie ein Aphorismus aus der Morgenröthe deutlich macht: „Wer das fortwährende Jauchzen nicht hört, welches durch jede Rede und Gegenrede eines platonischen Dialogs geht, das Jauchzen über die neue Erfindung des vernünftigen Denkens, was versteht der von Plato, was von der alten Philosophie? Damals füllten sich die Seelen mit Trunkenheit, wenn das strenge und nüchterne Spiel der Begriffe, der Verallgemeinerung, Widerlegung, Engführung getrieben wurde, - mit jener Trunkenheit, welche vielleicht auch die alten grossen strengen und nüchternen Contrapunktiker der Musik gekannt haben." 1

Erst in der platonischen Variante der Dialektik kommen das (dionysische) π α ί ζ ω und das (apollinische) π ε σ σ ε ύ ω , wenn auch ersteres in den allzeit bewußten Bereich der Sprache eingehegt ist, wieder zu der ehedem von Sokrates bzw. Euripides aufgelösten Vereinigung: Ersteres wird insofern bewahrt, als die Dialektik im Hin und Her von Begriffsexposition als schaffender Verallgemeinerung und destruierender Widerlegung von sich aus nie zu einem Ende kommt. Zweiteres wird paradigmatisch erfüllt durch die strenge Regelung ebendieser unabschließbaren Bewegung durch die Gesetze der Logik, wobei Nietzsche noch betont, daß diese Regeln willkürlich gesetzt bzw. „erfunden" 2 sind. Mit dieser Fixierung der Spielregeln, d. h. mit der Forderung nach Logizität des philosophischen Sprechens, wird überhaupt erst ein anderes als ein ästhetisches Verhalten bzw. als ein ästhetisches Urteil in der Begegnung mit einem philosophischen Werk möglich. Damit sagt sich Nietzsche keineswegs von der Einschätzung und Anerkennung der Philosophie als künstlerischer Tätigkeitsform und ihrer Hervorbringung im ästhetischen Prozeß los, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag, wenn er im weiteren Verlauf des schon zitierten Aphorismus als Dialektiker und „Antipode des Irrationalismus und Anwalt der Vernunft" 3 - der er im übrigen auch immer bleiben wird - auftritt: „(...) wir modernen Menschen sind so sehr an die Nothdurft der Logik gewöhnt und zu ihr erzogen, dass sie uns als der normale Geschmack auf der Zunge liegt und als solche den Lüsternen und Dünkelhaften zuwider sein muss. Was sich gegen ihn abhebt, entzückt diese: ihr feinerer Ehrgeiz möchte gar zu gerne sich glauben machen, dass ihre Seelen Ausnahmen seien, nicht dialektische und vernünftige Wesen, sondern - nun zum Beispiel 'intuitive Wesen', begabt mit dem 'inneren Sinn' oder mit der 'intellectualen Anschauung'. Vor Allem aber wollen sie 'künstlerische Naturen' sein, mit einem Genius im Kopfe und einem Dämon im Leibe und folglich auch mit Sonderrechten für diese und jene Welt, namentlich mit dem Götter-Vorrecht, unbegreiflich zu sein. - Das treibt nun auch Philosophie! Ich fürchte, sie merken eines Tages, dass sie sich vergriffen haben, - das, was sie wollen, ist Religion!" 4

'

Morgenröthe, Aph. 544, KSA III, 314. Vgl. z. B. Nachlaß, KSA VII, 453, 19[102], wo Nietzsche auf die „Wunderbare Erfindung der Logik" hinweist. 3 Dieter Bremer, Piaionisches, 84. 4 Morgenrothe, Aph. 544, KSA III, 315. 2

138

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

Man könnte bei oberflächlicher Lektüre hierin gleichsam einen Verrat an Heraklit vermuten, wäre der Aphorismus nicht Wie man jetzt Philosophie treibt (Hervh., A.A.) überschrieben und bezöge er sich nicht auf die nach Nietzsches Auffassung ebenso antiaufklärerisch wie theologisch-christlich motivierte Spekulation des Deutschen Idealismus, in dem die „verhaltene und lange aufgestaute Frömmigkeit der Deutschen (...) endlich explodirte" 1 . O h n e näher auf Nietzsches komplexes Verhältnis zum Deutschen Idealismus eingehen zu müssen, dürfte klar sein, daß dessen Unterschiede zu Heraklits Art zu philosophieren oder zur eigentlichen Dialektik Piatons insbesondere darin liegen, daß Heraklit und Piaton weder den Anspruch erheben, begrifflich erfassen und aussagen zu können, was in Wahrheit ist, und d e m g e m ä ß auf die Kunsthaftigkeit ihres Philosophierens hinweisen, noch zulassen, ihre Weltdeutung in ein geschlossenes und solchermaßen eindeutiges System zu bringen - es wurde j a ausführlich die intendierte essentielle Mehrdeutigkeit und Interpretationsoffenheit beider Werke dargetan. Dies zeigt sich gerade der ebensowohl logischen wie philologischen Analyse und läßt schon deswegen R a u m für eine Vielzahl von Interpretationen, die zunächst bereits aufgrund ihrer eigenen Logizität miteinander in Konkurrenz treten können 2 . In der Akzeptanz der Dialektik platonischer Prägung sowohl als Kontroll- und Interpretationsinstrument philosophischer Texte als auch als Weise des Philosophierens kann man Nietzsche also durchaus einen Platoniker heißen. Es ist jedoch j e n e sokratische Krankheit, die Nietzsche als Unterordnung der Philosophie unter das Projekt einer Verbesserung dessen, was ist, vermittels der Vorgabe eines absolut gültigen Verbesserungszieles in der Setzung einer entsprechenden Moral diagnostiziert, die ihn den Piatonismus erbittert bekämpfen läßt. Denn der Sokratismus erfährt gerade durch Piatons 'poetische Natur' eine Steigerung in der „Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten an sich" 3 , die als solche nicht deutlich wird und zu einer dogmatischen Metaphysik führt. Dies kann deshalb geschehen, weil Piaton wie gezeigt die Wahrheit unter dem Titel der Idee des Guten dem Bereich der Sprache und damit auch dem Spiel der Dialektik entzieht, obschon diese jener als mögliche Hinleitung zu dienen hat. So wird der Philosophie ein oberster Begriff vorgegeben, den sie aber gar nie einholen kann und dessen Einsicht, die sprachlos und innerseelisch geschieht, weder kontrolliert noch methodisch zwingend nachvollzogen werden kann. Durch diese Abschottung der Idee des Guten vom sprachlich-analysierenden Zugriff und ihrer gleichzeitigen Exposition in den Schreibweisen des Mythos und des Gleichnisses überschreitet Piaton den Rubikon zur Lüge, gerade weil sie eine „heilige L ü g e " zum Z w e c k e der Menschheitsverbesserung ist 4 . Der Punkt, an dem Nietzsche von Piaton Abschied nimmt, ist die mit menschlichen Mitteln nicht mehr zu rechtfertigende Festlegung eines Satzes als objektiv gültig, ohne daß dieser Gegenstand des philosophischen Spielens werden sollte. Dies kann nur geschehen, indem er als stets mit sich selbst identisch der zeitlichen Welt enthoben und in eine nichtzeitliche, der menschlichen Sprache entzogene und gleichwohl als eindeutig festgestellt beanspruchte Welt entrückt wird. Es ist genau dies der erste Schritt der „Geschichte eines Irrthums", die Nietzsche unter dem Titel „Wie die , wahre' Welt endlich zur Fabel wurde" erzählt. 5

'

Nachlaß, KSA XI, 605, 38[7]; vgl. auch: Antichrist, Aph. 10, KS A VI, 176f u. ö. Vgl. Richard Schacht, Nietzsche on Philosophy, Interpretation and Truth, in: Yirmiyahu Yovel (ed.), Nietzsche, 1-19. 3 Jenseits von Gut und Böse, KSA V, 12. 4 Vgl. Antichrist, Aph. 55, KSA VI, 238. 5 Vgl. Götzen-Dämmerung, KSA VI, 80f. 2

139

2. Sprache und Welt als Spiel

2. Sprache und Welt als Spiel Bevor nun auf die für Nietzsches Philosophie eigentümliche Verknüpfung der Begriffe von Welt und Sprache und deren begriffliche Erfassung als Spiel eingegangen werden kann, ist noch eine Bemerkung zu Nietzsches Wahrheitsbegriff einzuschalten. Nietzsche versteht Wahrheit generell im Sinne der klassischen Korrespondenztheorie 1 , wonach eine Aussage dann wahr ist, wenn sie mit einem bestehenden Sachverhalt in der Welt, auf den sie sich bezieht, übereinstimmt. Hierauf zielt im Anschluß an Kants Nachweis der Unmöglichkeit eines materialen bzw. objektiven Wahrheitskriteriums und in der Radikalisierung und „Wiederholung des kritischen Projekts" 2 Nietzsches fundamentale Kritik an Wahrheit und Erkenntnis, sofern diese auf jene bezogen ist. Dies bedeutet jedoch noch nicht die vollständige Abwesenheit eines positiven Begriffes von Wahrheit in Nietzsches Philosophie, die möglicherweise auf einen pragmatischen 3 oder einen kohärenztheoretischen 4 zurückgreift, was späterhin ein Stück weit zu klären sein wird. Im folgenden wird es zunächst darum gehen, Nietzsches Diagnose der Sprachgebundenheit sowohl dessen, was wir Welt nennen, als auch allen Denkens und Erkennens zu erörtern. Dazu ist seine Theorie der Sprachentstehung und der Leistungsfähigkeit von Sprache in den Blick zu nehmen, die er in seiner grundlegenden Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne ausführt. Sie wird sich in einem ersten Schritt auf den ersten Teil der Studie konzentrieren, die vor dem Hintergrund der dort exponierten Theorie der Sprachgenese das dichterische und wissenschaftliche Sprechen einer Kritik unterzieht. Dabei zeigt sich, daß Nietzsche den von Kant aufgewiesenen Zustand der Erkenntnisvermögen im reinen Geschmacksurteil von der Kontemplation in die Produktivität bzw. die platonisch verstandene Poiesis wendet. Es sei bei dieser Gelegenheit noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, daß hierbei nicht die Frage diskutiert werden soll, ob Nietzsche Piaton oder Kant, in welchem Sinne auch immer, 'korrekt' interpretiert. Es geht vielmehr darum zu sehen, daß Nietzsche - bewußt oder nicht - erkenntnis- bzw. philosophiekritische Tendenzen Piatons und Kants, wie sie in den einschlägigen Kapiteln herauspräpariert wurden, aufnimmt und radikalisiert, um so in doppelter Abgrenzung von Dichtung und Wissenschaft zu einem neuen Verständnis von Philosophie zu gelangen. Schließlich werden anhand einer Interpretation des zweiten Teiles von Ueber Wahrheit und Lüge die Möglichkeiten erörtert, die Philosophie nach Nietzsche überhaupt besitzt. Philosophie bedeutet demnach 'Weltkonstruktion' durch Sprache, die nichts mit dem, was ist, zu tun haben Darüber ist sich die Forschung, soweit ich sehe, einig; vgl. dazu insbesondere ζ. B. die Arbeiten von G ü n t e r Abel, Interpretatorische Vernunft und menschlicher Leib, in: Mihailo Djuric (Hg.), Nietzsches Begriff der Philosophie, W ü r z b u r g 1990, 100-130, hier 108f; Ruediger H. G r i m m , Nietzsche's Theory of Knowledge, Berlin/New York 1977, 63ff; Josef Simon, Die Krise des Wahrheitsbegriffs als Krise der Metaphysik. Nietzsches Alethiologie auf dem Hintergrund der Kantischen Kritik, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), 242-259, hier 254ff. 2

Gilles Deleuze, Nietzsche, 59; auf diesen kantischen A u s g a n g s p u n k t weisen u. a. auch hin: Günter Abel, Interpretatorische Vernunft, 108f; Keith J. Ansell-Pearson, Nietzsche's Overcoming of Kant and Metaphysics: From Tragedy to Nihilism, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), 310-339, hier 3 1 5 f f ; G e o r g Picht, Nietzsche, 282; Josef Simon, Krise, 254. 3 4

Vgl. Arthur C. Danto, Nietzsche as Philosopher, Vgl. Günter Abel, Interpretatorische Vernunft,

N e w York 1980, 72ff. 102.

140

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

muß. Nietzsche bestimmt die Philosophie als Spiel und gleitet gerade deswegen, wie zu zeigen sein wird, weder in eine wie immer geprägte Metaphysik noch in grenzenlosen Relativismus ab. Er führt nämlich als ein Kriterium zu Bewertung verschiedener Weltentwürfe die Schönheit ein, die er wie Kant von ihrer Wirkung auf das Lebensgefühl versteht, welche er in eine an Heraklit und Piaton gemahnende Form der Mitteilung von Philosophie setzt.

a) Der Bruch mit der Metaphysik

Der Platon-Kenner Nietzsche, der, wie es scheint, den Schöpfer der philosophisch-literarischen Kunstform des Dialoges ebensowohl als Vorbild wie als Hauptgegner schätzte, hält diesen überraschenderweise auch in einem Punkt für seinen möglichen Vorläufer, dessen entschiedene Betonung und Problematisierung Nietzsche allenthalben als eine seiner originären philosophischen Leistungen zugeschrieben wird. Er notiert - und man könnte füglich behaupten, daß sich der Rest der Arbeit mit der Deutung dieses Nachlaßfragmentes beschäftigt - , er notiert also 1885 unter Rückgriff auf seine Sprachtheorie: „NB. Was am letzten den Philosophen aufdämmert: sie müssen die Begriffe nicht mehr sich nur schenken lassen, nicht nur sie reinigen und aufhellen, sondern sie allererst machen, schaffen, hinstellen und zu ihnen überreden. Bisher vertraute man im Ganzen seinen Begriffen, wie als einer wunderbaren Mitgift aus irgendwelcher Wunder-Welt: aber es waren zuletzt die Erbschaften unserer fernsten, ebenso dümmsten als gescheitesten Vorfahren. ( . . . ) Zunächst thut die absolute Scepsis gegen alle überlieferten Begriffe noth (wie sie vielleicht schon einmal Ein Philosoph besessen hat - Plato: natürlich das Gegentheil gelehrt - -)"'

Es ist das Thema der Sprachkritik, das in Form der genealogischen Untersuchung der Herkunft der Begriffe Nietzsches Destruktion des Anspruches von Moral und Erkenntnis auf Wahrheit und damit zu begründender objektiver Geltung insofern zugrundeliegt, als die kritische Reflexion auf Sprache offenlegt, daß es stets „hinter allen Dingen 'etwas ganz anderes' gibt: nicht ihr wesenhaftes und zeitloses Geheimnis, sondern das Geheimnis, daß sie ohne Wesen sind oder daß ihr Wesen Stück für Stück aus Figuren, die ihm fremd waren, aufgebaut worden ist." 2 Es liegt auf der Hand, daß eine solche Auffassung mit einer jeden begriffs- oder wesensmetaphysischen Denkweise zu brechen genötigt ist. Aus diesem Grund läßt sich auch Nietzsches strikte Abkehr von der Metaphysik mit ziemlicher Genauigkeit verorten, wenngleich entsprechende Skepsis bereits in seinen frühen und frühesten Schriften aufscheint: Dieser bewußte „scharfeQ Bruch()" 3 ereignet sich nach der

'

Nachlaß, K S A X I , 486f, 34[195]. Michel Foucault, Nietzsche, 71. 3 Hans Gerald Hödl, Nietzsches frühe Sprachkritik. Lektüren zu „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (1873), Wien 1997, 20. Diesen Bruch - und damit auch den einheitlichen Grundzug von Nietzsches Philosophie nach ihm - konstatierte zuerst Philippe Lacoue-Labarthe, La detour (Nietzsche et la rhetorique), in: Poetique 2 (1971), 53-76. Vgl. dazu auch Ernst Behler, Derrida - Nietzsche. Nietzsche - Derrida, München u. a. 1988, 95f, und ders., Die Sprachtheorie des frühen Nietzsche, in: Tilman Borsche/Federico Gerratana/Aldo Venturelli (Hg.), 'Centauren-Geburten'. Wissenschaft, Kunst und 2

141

2. Sprache und Welt als Spiel

Fertigstellung der Geburt

der Tragödie,

in der Nietzsche noch im Ausgang von einem diony-

sisch verfaßten „Ur-Einen", aus dem er das Seiende im Ganzen ableiten will, Schopenhauers Willensmetaphysik zu überbieten versucht und noch dessen Theorie der „absoluten Repräsentationsfunktion der Sprache in der Musik" 1 anhängt. 2 Diesen systematischen Konstruktionsversuch einer Metaphysik kommentiert sein Urheber im Versuch einer Selbstkritik die zur Folge hatte, „dass ich mir nämlich überhaupt das grandiose griechische

als Verirrung, Problem,'''' - das

direkt zur auch hier bearbeiteten Frage nach dem Wert von Wahrheit und Wissenschaft führt „wie mir es aufgegangen war, durch Einmischung der modernsten D i n g e verdarbV'3

Angeregt

von der intensiven Beschäftigung mit der klassischen antiken Rhetorik 4 und der zeitgenössischen Sprachwissenschaft 5 im Zuge seiner Baseler Lehrtätigkeit und der Arbeit an dem geplanten sogenannten „Philosophenbuch", das die Frage nach Wesen und Tätigkeit des Philosophen erörtern sollte, entsteht das Fragment über die Philosophie der Griechen

im tragischen

und im unmittelbaren Zusammenhang damit 6 Ueber Wahrheit

und

Zeitalter

Lüge.

Dieses als persönliches „pro memoria" 7 konzipierte „geheim gehaltene() Schriftsück" zeugt von Nietzsches damaliger Lage „mitten in der moralistischen Skepsis und Auflösung"' und ist Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin/New York 1994, 99-111, hier 99. Die detaillierte Studie von Claudia Crawford, The Beginnings of Nietzsche's Theory of Language, Berlin/New York 1988, konzentriert sich ausschließlich auf Einflüsse der Philosophie des 19. Jahrhunderts (Hartmann, Lange, Schopenhauer) auf Nietzsche, ignoriert also die Antike vollständig und sieht zudem in den sehr allgemein gehaltenen, kurzen Passagen zu Kant diesen von vorneherein durch die Brille Schopenhauers. 1 Ernst Behler, Nietzsches Sprachtheorie und der Aussagecharakter seiner Schriften, in: NietzscheStudien 25 (1996), 64-86, hier 71. 2 Vgl. Diana Behler, Nietzsches Versuch einer Artistenmetaphysik, in: Mihailo Djuric/Josef Simon (Hg.), Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche, Würzburg 1986, 130-149. 3 Geburt der Tragödie, KSA I, 20. 4 Es ist erstaunlich, daß sich die philologische Forschung ausschließlich mit Nietzsches Lektüre von sekundären Darstellungen (ζ. B. Richard Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und Römer in systematischer Übersicht, Leipzig 1868 etc.) der Geschichte der Rhetorik in Antike, Renaissance und früher Neuzeit beschäftigt zu haben scheint, ohne auf die zugrundeliegenden Primärtexte zurückzugreifen, über die der klassische Philologe ζ. T. sehr intensiv gearbeitet hat. Diesen Mißstand behebt erst Angele KremerMarietti, Nietzsche et la rhetorique, Paris 1992, auf die ich mich in diesem Zusammenhang beziehe. 5 Hier ist freilich auf Gustav Gerber, Die Sprache als Kunst, Bromberg 1871, hinzuweisen, von dem sich Nietzsche nicht nur anregen ließ, sondern aus dem er auch einzelne Formulierungen übernahm. Vgl. Anthonie Meijers/Martin Stingelin, Konkordanz zu den wörtlichen Abschriften und Übernahmen von Beispielen und Zitaten aus Gustav Gerber: Die Sprache als Kunst (Bromberg 1871) in Nietzsches RhetorikVorlesung und in „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne", in: Nietzsche-Studien 17 (1988), 350-368; Anthonie Meijers, Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche. Zum historischen Hintergrund der sprachphilosophischen Auffassungen des frühen Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 17 (1988), 369-390; und Thomas Fries/Glenn Most, Die Quellen von Nietzsches Rhetorik-Vorlesung, in: Tilman Borsche/Federico Gerratana/Aldo Venturelli (Hg.), Centauren-Geburten, 17-46. Zu den bisweilen ausufernden Reduktionsversuchen von Nietzsches Theorie auf Gerber ist zweierlei zu bemerken: Zum einen betont er bereits vor der Erscheinung des gerberschen Werks den unbewußten Ursprung der Sprache, wie das Fragment Vom Ursprung der Sprache von 1869 zeigt (MusA V, 467-470; vgl. insgesamt zur Relativierung des gerberschen Einflusses: Ernst Behler, Nietzsches Sprachtheorie, Iii, und Claudia Crawford, Beginnings, 205). Zum anderen ist Tilman Borsche zuzustimmen, der die schlichte Tatsache in Erinnerung ruft, daß „es der Gebrauch (sc. der Übernahmen) ist, der die Bedeutung macht": Natur-Sprache. Herder - Humboldt - Nietzsche, in: ders./Federico Gerratana/Aldo Venturelli (Hg.), Centauren-Geburten, 112-130, hier 120. 6 7

Vgl. Hans Gerald Hödl, Sprachkritik, Nachlaß, KSA XI, 249, 26[372).

51.

142

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

Zeichen eines grundsätzlichen Mißtrauens in die Philosophie und ihres Anspruches, den sie seit Piaton erhebt. Bei seinem daraus entspringenden kritischen Unternehmen, das Nietzsche als Radikalisierung des kantischen 2 bis zum Ende seines Philosophierens verfolgte, geht er von der These der vollständigen Rhetorizität der Sprache aus, die „Literatur und Wissenschaft", d. h. zuallererst verschriftlichte Sprache, paradigmatisch vor Augen führt 3 . In der 1872/73 entstandenen Schrift Ueber Wahrheit und Lüge entwickelt Nietzsche eine Theorie der Sprachentstehung, die er samt ihren Konsequenzen in seinem weiteren Werk konstant beibehält und die die Wahrheitsfähigkeit von Sprache im Sinne der Möglichkeit des adäquaten Ausdrucks eines Sachverhaltes bzw. „aller Realitäten" 4 destruiert. Nietzsche differenziert dabei zwischen der unbewußten „Genesis" von Wörtern und der bewußten „Bildung" von Begriffen.

a) Die Metaphorizität der Sprache

Jedoch teilen beide Hervorbringungen die Operation, der sie ihre Entstehung verdanken. Nietzsche entnimmt den Terminus, der sie bezeichnet, der Tropenlehre der klassischen Rhetorik: Es ist die Metapher 5 , die Nietzsche als ursprünglich sprachbildendes Verfahren auszeichnet, und zwar zunächst im aristotelischen Sinne einer Übertragung des eigentlich Gemeinten in eine davon unterschiedene Vorstellung. 6 Diese Übertragung geschieht bei Aristoteles innerhalb der Sprache: ein bekanntes Wort bzw. eine Benennung wird von dem Sachverhalt, den sie repräsentiert, auf einen diesem fremden, anderen angewandt, so daß jene diesen nur 'uneigentlich' benennt. Nietzsche überschreitet diese Begrenzung auf die Sprache. Ihm erscheint die Übertragung als Übersprung, d. h. er betont die im sprachlichen Gebrauch durch mögliche interne Ähnlichkeits- und Verweisungsbeziehungen verdeckte Diskontinuität, die freilich in Aristoteles' Definition schon angelegt ist. Diese Diskontinuität setzt Nietzsche in seiner Theorie absolut. Sie tritt bis zur Entstehung der Worte bereits zweimal auf: „Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einen Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue" 7 .

1

Menschliches, Allzumenschliches II. Vorrede (1886), KSA II, 370. Vgl. Gilles Deleuze, Nietzsche, 97ff. 3 Vgl. Paul de Man, Rhetorik der Tropen (Nietzsche), in: ders., Allegorien des Lesens (aus d e m A m e r i k . mit einer Einleitung v. W e r n e r H a m a c h e r ) F r a n k f u r t / M . 1988, 146-163, hier 152f. 4 Ueber Wahrheit und Lüge, KSA I, 878. 5 Vgl. die ausführliche Darstellung von A n n e Tebartz-van Eist, Ästhetik der Metapher. Zum Streit zwischen Philosophie und Rhetorik bei Friedrich Nietzsche, F r e i b u r g / M ü n c h e n 1994, die j e d o c h trotz des inflationären G e b r a u c h e s der R e d e vom „ Ä s t h e t i s c h e n " dessen B e s t i m m u n g selbst unterläßt und sich trotz der erhellenden W i r k u n g dieser theoretischen Folie allzu stark an die Theorie der M e t a p h e r anlehnt, die Paul Ricoeur in La metaphore vive, Paris 1975, entwickelt hat. Zur g e g e n w ä r t i g e n Diskussion vgl.: A n s e l m H a v e r k a m p (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt21996. 6 Vgl. Poet. 1457b7-10. Es ist Nietzsche also nicht u m den von Quintilian geprägten Begriff der Metapher als verkürztem Vergleich (Inst. orat. VII.6, 8) zu tun, sondern u m eine wesentlich tiefere, vorsprachliche Ebene. 7 Ueber Wahrheit und Lüge, KSA I, 879. 2

2. Sprache und Welt als Spiel

143

Der Metaphorisierungsprozeß setzt also bei einem 'Nervenreiz' an und nicht bei einem 'Ding an sich' 1 . Letzteres bedeutete für Nietzsche „die reine folgenlose Wahrheit", die „auch dem Sprachbildner ganz unfasslich" ist2. Nietzsche geht schon hier bis zur Leugnung der Konstruktion „Ding an sich", wenn er darauf hinweist, daß sich ursprünglich dessen „räthselhafte(s) X (...) als Nervenreiz ausnimmt" 3 . Damit ist aber nur gesagt, daß die Sprache als „das ganze Material worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, (...) wenn nicht aus Wolkenkukusheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge" 4 stammt; daß wir uns also mit unseren wie immer gearteten sprachlichen Äußerungen nicht oder wenigstens nicht unmittelbar auf etwas außer uns beziehen. Damit bestreitet Nietzsche keineswegs die Existenz von irgendetwas außer uns; er spricht vielmehr ganz ungeschützt von der Inadäquatheit der Rede im Verhältnis zu den „ursprünglichen Wesenheiten" 5 der „Natur" als „für uns unzugängliches und undefinirbares X" 6 . Was Nietzsche allerdings bestreitet, ist die objektive Gültigkeit eines Schlusses „von dem Nervenreiz (...) auf eine Ursache ausser uns" 7 . Ein solcher Schluß wäre nämlich „bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes vom Grunde" 8 . Obzwar die hier in Gebrauch genommene Logik überhaupt erst Erfahrung und deren Verbindung zu einer Welt ermöglicht, ist sie zum einen eine rein sprachinterne Ordnungsstruktur des Denkens, die auf nichts außerhalb der Sprache verweist, und setzt zum anderen den gesamten Prozeß der Sprachund Begriffsbildung schon voraus, die zugleich die Regeln ihres Gebrauchs einschließt. Dabei ist noch eine weitere Einschränkung zu machen: Nietzsche bestreitet wiederum allein den durch eine solche Operation gemäß der Logik erhobenen Anspruch auf die Aussage von Wahrheit im korrespondenztheoretischen Sinne, nicht jedoch die Notwendigkeit des Vollzuges solcher Operationen selbst, die er oft genug als für den Menschen lebensnotwendig bezeichnet 9 . Der Nervenreiz, auf den die Sprachgenese gründet, verbürgt und transportiert also keine Information Uber irgendeine Beschaffenheit außer ihm. Zwischen einem möglichen Außen und dem Nervenreiz besteht damit eine absolute Diskontinuität, wobei Nietzsche wiederum nicht behauptet, daß hier faktisch gar keine Übereinstimmung vorliegen könne, sondern nur daß, selbst wenn solches der Fall wäre, wir über kein Kriterium verfügten, dies zu überprüfen. So betont Nietzsche angelegentlich der Behandlung „unser(es) Gegensatz(es) von Individuum und

' Dies unterstellt Anthonie Meijers, Gerber, 386, fälschlich, w e n n sie bei ihrem Ü b e r t r a g u n g s v e r s u c h des gerberschen Modells auf Nietzsches Theorie schreibt: „Gerber unterschied D i n g an sich -> Nervenreiz -> E m p f i n d u n g -> Laut -> Vorstellung -> Wurzel -> W o r t -> Begriff; bei Nietzsche gibt es ein vereinfachtes Schema: Ding an sich -> Bild (oder A n s c h a u u n g s m e t a p h e r ) -> Laut (oder Wort) -> B e g r i f f . " D a m i t wäre freilich Nietzsches Kritik des W a h r h e i t s a n s p r u c h e s der Metaphysik der B o d e n e n t z o g e n und seine eigene Theorie h o f f n u n g s l o s inkonsistent. 2

Ueber Wahrheit und Luge, KS A I, 879. Ebd. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Ebd., 880. 7 Ebd., 878. 8 Ebd. 9 Nietzsche spricht hierbei h ä u f i g vom „Logisiren". Vgl. dazu ζ. B.: Günter Abel, Logik und Ästhetik, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), 112-148, hier 122f; M a r g o t Fleischer, Sinn der Erde, 5ff; Rüdiger H. G r i m m , Nietzsche's Theory, 78ff; Michel Haar, Nietzsche, 36ff; und Josef Simon, Sprache und Sprachkritik bei Nietzsche, in: Matthias L u t z - B a c h m a n n (Hg.), Über Friedrich Nietzsche. Eine Einführung in seine Philosophie, F r a n k f u r t / M . 1985, 63-97, hier 92ff. 3

144

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

Gattung", daß „wir auch nicht zu sagen wagen, dass er ihm (sc. dem Wesen der Dinge) nicht entspricht: das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche eben so unerweislich wie ihr Gegenteil" 1 . An dem auf seine Außenbeziehung hin unüberprüfbaren Nervenreiz setzt nun die doppelte Metaphorisierung an, die nach Nietzsche zur Entstehung des Wortes führt, das letztlich eine „Abbildung eines Nervenreizes in Lauten" 2 darstellt. Beiden hierzu nötigen Schritten - vom Reiz zum Bild und vom Bild zum Laut - eignet die herausgestellte Diskontinuität: Es handelt sich bei beiden Metaphern um ein „vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue" 3 . Dieser Sprung von einem zum anderen vollständig in sich abgeschlossenen Bezirk gründet nach Nietzsche als „künstlerische Uebertragung" in „künstlerisch schajfende(m)" bzw. „ästhetische(m) Verhalten" 4 .

ß) Der ästhetische Z u s t a n d : Ein R ü c k g r i f f auf K a n t

Es ist demnach offenkundig zum Verständnis dieses zentralen Lehrstückes nötig zu fragen, was ein solches ästhetisches bzw. künstlerisches Verhalten ausmacht 5 . Nietzsche beschreibt es als „eine andeutende Uebertragung, eine nachstammelnde Uebersetzung in eine ganz fremde Sprache. Wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und Mittelkraft bedarf." 6 Dies trifft auf beide Metaphorisierungen zu. Erstere führt zu einer 'Anschauung', die „individuell und ohne ihres Gleichen ist" 7 , bzw. zu einem ' B i l d ' . Dabei ist die vollständige physiologische Erklärung dieses Prozesses über die „Nerventhätigkeit" als „das eigentliche Geheimniß" 8 der Genese sogenannter Erkenntnis bzw. der Sprache nach Nietzsche (noch) nicht zu leisten. Dennoch gibt Nietzsche etliche, jedoch nicht systematisch ausgeführte Hinweise zu deren philosophischer Klärung. Er bedient sich dabei weitestgehend der klassischen Begrifflichkeit der theoretischen Philosophie Kants, wenngleich er diese freilich keineswegs strikt schulmäßig verwendet. Es ist aber in diesem Zusammenhang eigens darauf aufmerksam zu machen, daß Nietzsches Auffassung über die Entstehung dessen, was man gemeinhin 'Erkenntnis' nennt, bei allen Differenzen durchaus kantisch ist: „Nietzsche reste parfaitement kantien" 9 , sofern er keinerlei unmittelbare bewußte Verbindung zu einem möglichen Geschehen

Ueber Wahrheit und Lüge, KSA I, 880; Nietzsche greift hier einen G e d a n k e n X e n o p h a n e s ' auf, dessen F r a g m e n t Β 34 lautet: „Und das G a n z e freilich erblickte kein M e n s c h und es wird auch nie j e m a n d sein, der es weiß in b e z u g auf die Götter und alle Dinge, die ich nur immer e r w ä h n e ; denn selbst w e n n es e i n e m im höchsten M a ß e gelänge, ein Vollendetes auszusprechen, so hat er selbst trotzdem kein Wissen d a v o n ; M e i n e n haftet an allem." 2

Ueber Wahrheit und Lüge, KSA I, 878. Ebd., 879. 4 Ebd., 882ff. 5 Vgl. 120, A n m . 3. 6 Ueber Wahrheit und Lüge, KSA I, 884. 7 Ebd., 882. 8 Nachlaß, KSA VII, 448, 19[84], 9 Michel Haar, Nietzsche, 256. Zu Nietzsches Kritik an Kant vgl.: Rüdiger H. G r i m m , Nietzsche's 53ff. 3

Theory,

2. Sprache und Welt als Spiel

145

außer uns zu sehen vermag, die bei Schopenhauer j a immer noch in der Musik liegt, sondern betont, daß wir in jedem Bezug immer auf Vorstellungen angewiesen sind. 1 Zur Hervorbringung jener Vorstellungen setzt Nietzsche eine „künstlerische Kraft" 2 an, „die die Bilderfülle erzeugt", wobei diese sich „zu der darunter sich bewegenden Nerventhätigkeit" so verhält „wie die Chladni'schen Klangfiguren zu dem Klang selbst" 3 , bei denen grob gesprochen ein ' X ' , das Phänomen eines Schwingungskomplexes, einmal im R ä u m e bzw. sichtbar und zum anderen Mal in der Zeit bzw. hörbar sich darstellt 4 . Die Kraft, die aus der sich in den „allerzartesten Lust- und Unlustempfindungen" 5 äußernden Nerventätigkeit Bilder erzeugt, die Nietzsche gelegentlich auch spezieller 'Anschauungen' oder allgemeiner 'Formen' nennt, denkt er aber nicht als ein „künstlerisches ganz freies Erfinden: das wäre etwas Willkürliches, also Unmögliches" 6 . Nietzsche greift hier Kants Unterscheidung von intuitivem und diskursivem Verstand auf, die sich in der Abgrenzung der schöpferischen von der produktiven Einbildungskraft wiederholt, wobei er diese Kraft als „Phantasie" zu bezeichnen pflegt 7 . Deren Tätigkeit, die „die außerordentliche Produktivität des Intellekts" 8 sehenläßt, verwandelt bzw. übersetzt die Empfindungen der Nerven in Anschauungen. Trotz aller Vagheit der fragmentarischen Notizen, die sich an der teilweise äquivoken Verwendung von Anschauung, Bild und Form beispielhaft äußert, so daß hier etwa keine Scheidung von empirischer und reiner produktiver Einbildungskraft im Sinne Kants möglich ist, wird doch folgendes deutlich: Nietzsche qualifiziert die Tätigkeit der Phantasie, vulgo: der Einbildungskraft, näherhin und verharrt nicht etwa beim bloßen Haben bzw. Gegebensein von Anschauungen, wenngleich er den Zusammenhang von Reiz und Auslösung der Tätigkeit als unaufhellbar erachtet. Nietzsche beschreibt die künstlerische Tätigkeit der bildererzeugenden Kraft ganz allgemein als „unbewußte(s) Denken (...) ohne Begriffe (...): also in Anschau-

Diese Kritik an S c h o p e n h a u e r s Willensmetaphysik aus kantischer Perspektive findet sich bereits in Nietzsches Vorarbeiten zu seiner geplanten philosophischen Dissertation, die O r g a n i s m u s und Teleologie in der Philosophie Kants z u m T h e m a haben sollte: vgl. ζ. B. B A W III, 354f und Nachlaß, K S A VII, 360, 12[1], 2

Nachlaß, KSA VII, 445, 19[79].

3

Ebd., 19[78]. 4 Auf die e b e n f a l l s kantisch a n m u t e n d e n Begriffe von R a u m und Zeit, über die Nietzsche verfügt, kann an dieser Stelle nicht e i n g e g a n g e n werden. 5

Nachlaß, K S A VII, 448, 19(84], Ebd., 446, 19[79], 7 Vgl. etwa ebd. mit ebd., 4 4 3 f , 19[75]. Zur Unterscheidung von intuitivem und d i s k u r s i v e m Verstand vgl. ζ. B.: B A W III, 381. Es ist hier die Stelle zu b e m e r k e n , d a ß das weitverbreitete Vorurteil, Nietzsche h a b e Kants Philosophie, insbesondere die Kritik der reinen Vernunft, allein über die d a m a l s übliche Sekundärliteratur (v. a. K u n o Fischer, Immanuel Kant, Entwicklungsgeschichte und System der kritischen Philosophie [= Geschichte der neuern Philosophie, Bde. 3 u. 4], M a n n h e i m 1860; Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus, Iserlohn 1866; A f r i k a n Spir, Denken und Wirklichkeit, Leipzig 1873) zur Kenntnis g e n o m m e n , möglicherweise zu revidieren ist: Finden sich doch weder bei Fischer, dessen Werk mir allerdings nur in der zweiten A u f l a g e - Heidelberg 1869 - zur V e r f ü g u n g stand, noch bei Lange, bei weitem nicht sämtliche von Nietzsche notierten Zitate aus der Ersten Kritik; zum gleichen Ergebnis führt auch der kritische Nachbericht zur geplanten Dissertation in B A W III, 4 5 2 f f , der sich m e h r f a c h auf die A u s g a b e der Kritik der reinen Vernunft von Karl Rosenkranz, Leipzig 1838, bezieht. Die Lektüre der Kritik der Urteilskraft in der gleichen A u s g a b e ist ohnehin belegt. S. zur D e u t u n g des kantischen Lehrstückes: Kap. III. 1. 6

8

Nachlaß, KSA VII, 445, 19[77],

146

IV. Nietzsche: P h i l o s o p h i e als Spiel

ungen"1. Sie bleibt damit wie bei Kants spielender E i n b i l d u n g s k r a f t im vor- b z w . u n b e w u ß t e n Bereich. Dies wäre f ü r sich g e n o m m e n eine bloße Trivialität, triebe N i e t z s c h e nicht seinen B e s c h r e i b u n g s v e r s u c h weiter: D i e begriffsfreie Gemütstätigkeit - sofern diese Begrifflichkeit hier gestattet ist - beinhaltet nämlich ,,unbewußte() Schlüsse", die in einem „ Ü b e r g e h n von Bild zu Bild" bestehen, w o b e i „das letzterreichte Bild () dann als Reiz und M o t i v (wirkt)" 2 . D i e s e zunächst einigermaßen dunkel klingenden Ü b e r l e g u n g e n w e r d e n ein Stück weit deutlicher, w e n n man sich vergegenwärtigt, was denn das u n b e w u ß t e Schließen b z w . D e n k e n überhaupt zu e i n e m ' D e n k e n ' macht. Nietzsche notiert: „Dieses B i l d e r d e n k e n ist nicht von vorn herein streng logischer Natur, aber doch mehr oder weniger logisch." 3 D i e aus den E m p f i n d u n g e n produzierten A n s c h a u u n g e n sind also o f f e n b a r schon auf v o r b e w u ß t e r S t u f e i r g e n d w i e geordnet; dies j e d o c h nicht streng logisch, da solches allein b e w u ß t und d. h. mit und unter B e g r i f f e n möglich wäre. N u n v e r m a g es w e d e r Kants E i n b i l d u n g s k r a f t noch Nietzsches b i l d e r z e u g e n d e Kraft, die Phantasie, ihre H e r v o r b r i n g u n g e n untereinander zu verbinden bzw. einen Ü b e r g a n g von e i n e m z u m anderen zu bewirken. U n d e b e n s o w i e bei K a n t der spielende Verstand verbindend tätig wird, setzt Nietzsche b e i m noch v o r b e w u ß t e n B i l d e r d e n k e n eine zweite K r a f t an, „ w e l c h e das Ä h n l i c h e auswählt u n d betont" 4 , „aber auch g a n z andre Verhältnisse, Contrast den Contrast, und u n a u f h ö r l i c h " 5 schafft. D i e s e K r a f t ordnet N i e t z s c h e d e m „Intellekt" zu. B e i d e K r ä f t e befördern sich in ihrer Tätigkeit gegenseitig: „Es ist vielmehr von Bilderreihen im Gehirn, als z u m D e n k e n verbraucht wird: der Intellekt wählt schnell ä h n l i c h e Bilder: das G e w ä h l t e " - eine in ein Bild z u s a m m e n g e n o m m e n e M e h r z a h l von Bildern also - „erzeugt wieder eine ganze Fülle von Bildern: schnell aber wählt er w i e d e r eines d a v o n u s w . " 6 Dabei greift der Intellekt auf diejenigen erzeugten A n s c h a u u n g e n bzw. Bilder zu, d i e sich in einer, o f f e n b a r logisch gedachten Relation zu d e n j e n i g e n F o r m e n f ü g e n läßt, die der Intellekt bereits mit sich f ü h r t bzw. in sich vorfindet. Anders als bei Kant - und das ist in dieser Hinsicht die e n t s c h e i d e n d e D i f f e r e n z zu Nietzsches Konzeption - die Urteilsformen oder die Kategorien sind j e n e F o r m e n , deren H e r a u s h e b u n g f ü r Nietzsche das D e n k e n a u s m a c h t , Bestand der E r i n n e r u n g bzw. des Gedächtnisses 7 : Solchermaßen sind sie im L a u f e der m e n s c h l i c h e n und noch vormenschlichen G a t t u n g s g e s c h i c h t e geworden und damit historisch kontingent, also auch veränderlich und keineswegs von objektiver Gültigkeit bzw. apriorisch. D e n n o c h ist festzuhalten, daß bei der Konstitution der v o r b e w u ß t e n A n s c h a u u n g s g e b i l d e auch bei N i e t z s c h e zwei K r ä f t e beteiligt sind, die er j e w e i l s mit den gebräuchlichsten F r e m d w ö r t e r n f ü r Einb i l d u n g s k r a f t und Verstand - Phantasie und Intellekt - bezeichnet. Dieser Zustand, dessen B e s c h a f f e n h e i t sich weitestgehend und in seinen G r u n d z ü g e n mit d e m j e n i g e n des reinen Geschmacksurteils deckt, reicht j e d o c h noch nicht hin, d a s j e n i g e Resultat zu erbringen, bei d e m die zweite M e t a p h e r ihren A u s g a n g n e h m e n kann, n ä m l i c h das absolut einzigartige 'letzterreichte B i l d ' , das d e m zweiten Ü b e r s p r u n g als R e i z und M o t i v dienen kann. Hierzu ist es wie in Kants Theorie begrifflicher Erkenntnis 8 nötig, aus d e m i m m e r z u nur

1 2 3 4 5 6 7 8

Nachlaß, KSA VII, 454, 19[107]. Ebd. Ebd. Ebd., 445, 19[78], Ebd., 19[77]. Ebd., 19[78], Vgl. ebd., 465f, 19[147]; 469f, 19[161]; 474f, 19[179], S. o. Kap. III. 2.

2. Sprache und Welt als Spiel

147

fragmentarischen bzw. unabgeschlossenen und im Sinne von 'Wahrheit' auch unabschließbaren - werdenden Ganzen ein wirkliches, wenn auch unwahres Ganzes zu machen. Erst hierin erfüllt sich der Prozeß, den Nietzsche mit dem „Trieb zur Metaphernbildung" identifiziert, „jene(m) Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde" 1 , und den er später unter dem Titel der Interpretation 2 fassen wird.

b) Sprache als weltbildendes Spiel

An dieser Stelle geht Nietzsche einen bedeutenden Schritt über Kant hinaus. Er tut dies bewußt und mit Notwendigkeit, da es ihm von jeher um die Auslegung eines anderen Phänomens als Kant geht: Nietzsche versucht keine Theorie des reinen Geschmacksurteils, die letztlich die Wirkung des Schönen beschreibt, wenngleich er an späterer Stelle seiner Theorie noch darauf zurückgreifen wird, sondern eine Erörterung der künstlerischen Produktion, d. h. der Poiesis überhaupt 3 . O h n e Kants Theorie des ästhetischen Urteils zu diskutieren oder zu verwerfen zumindest mit der Beschreibung seines Zustandekommens und seiner Wirkung müßte Nietzsche grundsätzlich konform gegangen sein - , stellt er klar: „was ich allein unterstreichen will, ist, dass Kant, gleich allen Philosophen, statt von den Erfahrungen des Künstlers (des Schaffenden) aus das ästhetische Problem zu visiren, allein vom 'Zuschauer' aus über die Kunst und das Schöne nachgedacht" 4 hat.

α ) V o n der K o n t e m p l a t i o n zur P r o d u k t i o n

Es ist Nietzsche also nicht um Kontemplation, sondern um die ästhetische Produktion zu tun. Sie hebt ursprünglich mit der Übertragung eines Nervenreizes in ein Bild an, der bis auf den letzten Schritt schon rekonstruiert wurde. Um dieses immer als vorläufig und unwahr aufzufassende, individuelle und kontingente Bild, von dem alle weitere Tätigkeit ausgeht, hervorzubringen, genügt es nicht, in der Formung der gegebenen Empfindungen zu spielen, sondern es ist nötig, gleichsam etwas aus dem j e verschiedenen eigenen Fundus an gattungsgeschichtlich 'vererbten' Bildern unbewußt hinzuzufügen. Nietzsche beschreibt dies in einer späteren Notiz im Rahmen wiederholter Beschäftigung mit erkenntnistheoretischen Fragen:

1

Ueber Wahrheit und Lüge, KS A I, 887. Vgl. zu Nietzsches Begriff der Interpretation: Günter Abel, Nominalismus und Interpretation. Die Überwindung der Metaphysik im Denken Nietzsches, in: Josef Simon (Hg.), Nietzsche und die philosophische Tradition II, W ü r z b u r g 1985, 35-89; ders., Interpretatorische Vernunft; und insb. Alan D. Schrift, Nietzsche and the Question of Interpretation. Between Hermeneutics and Deconstruction, New Y o r k / L o n d o n 1990, insb. 180ff. 3 S. o. Kap. 11.2. 4 Zur Genealogie der Moral, III. Abhandlung, Aph. 6, KSA 5, 346. 2

148

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

„Das Vervollständigen (ζ. B. w e n n wir die B e w e g u n g eines Vogels als B e w e g u n g zu sehen meinen) das sofortige Ausdichten geht schon in den S i n n e s w a h r n e h m u n g e n los. Wir formuliren immer ganze M e n s c h e n aus dem, was wir von ihnen sehen und wissen. Wir ertragen die Leere nicht - dies ist die U n v e r s c h ä m t h e i t unserer Phantasie: wie w e n i g an W a h r h e i t ist sie g e b u n d e n und gewöhnt! Wir b e g n ü g e n uns keinen Augenblick mit d e m Erkannten (oder E r k e n n b a r e n ! ) Das spielende Verarbeiten des Materials ist unsere f o r t w ä h r e n d e Grund-Thätigkeit, Ü b u n g also der Phantasie. ( . . . ) Die Lügnerei wird doch gar nicht darin gefühlt! Dieses spontane Spiel von phantasirender K r a f t ist unser geistiges G r u n d l e b e n : die G e d a n k e n erscheinen uns, das Bewußtwerden, die Spiegelung des Prozesses im Prozeß ist vielleicht nur eine v e r h ä l t n i ß m ä ß i g e Ausnahme - vielleicht ein Brechen am Contraste." 1

Die spielende und fortlaufende Tätigkeit der Phantasie ergänzt also die fragmentarischen Anschauungskonglomerate zu in sich geschlossenen Ganzheiten bzw. Bildern, wobei deren ganzheitlicher Beschaffenheit keine Notwendigkeit entspricht, sondern aufgrund ihrer für die endliche Vernunft unaufhellbaren physiologischen und historischen Bedingtheit kontingent ist. Gleichwohl geschieht dieser ergänzende Entwurf nicht in ordnungsloser Weise, sondern die wegen des Mangels an intuitivem Verstand hierfür nötige Verbindung der Anschauungen vollzieht sich nach denjenigen Regeln, die auf der jeweiligen Stufe der Bewußtheit bzw. der Sprache den Inbegriff der Logik konstituieren. Deren scheinbare Dauerhaftigkeit ergibt sich allein aus ihrem erfolgreichen Gebrauch im Lebenskampf, den die Gattung Mensch mit den Mitteln des Intellekts bestreiten muß, da sie hierzu nicht auf ,,Hörner() oder scharfe(s) Raubthier-Gebiss" 2 zurückzugreifen vermag. Die sich gegenseitig anregende Tätigkeit von Phantasie und Intellekt, die beide freilich wie schon bei Kant vollständig von den bloßen Sinnesdaten getrennt sind und vorbewußte Aktivitäten des Vorstellens darstellen, bezeichnet Nietzsche als Spiel, j a sogar in einer Notiz in deutlicher Anlehnung an Kant 3 als „freie(s) Spiel", das an die „Stelle des UnaesthetischPathologischen" 4 in der Erkenntnis zu treten habe. Ebensowohl wie für Kant ist dieser ästhetische Zustand 5 für Nietzsche die Grundbedingung allen Erkennens, welches jedoch aufgrund seiner radikalisierten Erkenntniskritik selbst künstlerische Produktion darstellt, wenngleich dies wie gezeigt in Kants Theorie wenigstens subkutan angelegt scheint. So nämlich, daß Phantasie und Intellekt gerade nicht - wie dies der jede im korrespondenztheoretischem Sinne wahre Erkenntnis ausschließenden Lage des Menschen entsprechend angemessen wäre - in ihrer unendlichen Tätigkeit das Erkenntnisurteil unendlich suspendieren, sondern ein ganzheitliches Bild hervorbringen, das dann den eigentlichen sprachlichen Bemächtigungsprozeß von 'Welt', den wir nach Nietzsche 'Erkennen' nennen, in Gang bringt. Die Reflexion auf das Ästhetische bzw. die Kunst ist daher zunächst ganz allgemein „als die auf

1 2 3 4 5

Nachlaß, KSA IX, 430, 10[D79]; vgl auch: Nachlaß, K S A VII, 440f, 19[67] u. ö. Ueber Wahrheit und Luge, KSA 1, 876; vgl. ζ. B. Fröhliche Wissenschaft, Aph. 1 lOf, K S A III, 4 6 9 f f . Dies vermerkt auch Günter Wohlfart, Artisten-Metaphysik, 96, A n m . 458. Nachlaß, KSA VII, 508, 19[285].

Es ist daher eine Verkürzung, wenn Gerold U n g e h e u e r in unmittelbarem A n s c h l u ß an die Geburt der Tragödie eine generelle und undifferenzierte Identifikation v o r n i m m t und schreibt: „Dieser 'aesthetische Z u s t a n d ' ist sicherlich der Zustand des dionysischen Rausches", Nietzsche über Sprache und Sprechen, über Wahrheit und Traum, in: Nietzsche-Studien 12 (1983), 134-213, hier 193. D e n n U n g e h e u e r suggeriert hier noch den G e g e n s a t z z u m Apollinischen, das aber als geregelte Konstruktion, in die hier gemeinte Tätigkeit schon e i n g e g a n g e n ist, deren eigentlicher Widerpart dann aber die sokratische Setzung des Einen Erkenntniszieles wäre.

2. Sprache und Welt als Spiel

149

die Formen sinnlicher Anschauung bezogene Organisationslehre" 1 verstanden, ohne etwa auf eine Theorie der schönen Künste oder dergleichen eingeschränkt zu sein. Freilich beginnt diese erkennende Tätigkeit eigentlich erst mit der zweiten Metaphorisierung, d. h. dem Sprung von dem konstituierten Bild zur Lautäußerung im Wort, an dem sich zugleich auch Dichtung und Philosophie voneinander scheiden. Der Übergang zur verlautbarten Sprache entspricht ebenso demjenigen vom ursprünglichen Urdenken in Anschauungen zum bewußten, eigentlichen Denken, das für Nietzsche immer „erst mit Hülfe der Sprache möglich" 2 ist. Dabei ereignet sich notwendig die gleiche Verfälschung wie bei der ersten Metaphorisierung, wobei hier die 'letzterreichte', noch unbestimmte Ganzheit als Reiz zu weiterer Tätigkeit von Phantasie und Intellekt wirkt, die den Sprung über die zweite Diskontinuität ermöglicht. Auch dies ist noch eine Sache des an sich tierischen Instinktes, der - wie Nietzsche wiederum unter Hinweis auf Kant bemerkt - „zweckmässig () ohne ein Bewusstsein" 3 tätig ist. Sein alleiniger und an sich nicht notwendiger Zweck ist die bloße Sicherung des nackten Überlebens, ohne auf etwas außerhalb dessen hingeordnet zu sein.

ß) W e l t und S p r a c h e

Mit der Verlautlichung der Ganzheiten der Anschauung, die zugleich eine erste gestalthafte Fixierung des Bildes in der Einheit des Wortes, genauer im Falle der Mitteilung: des Satzes bedeutet, deren Gesetzgebung ihrerseits von den unbewußten Vorstellungsverbindungen in unaufhellbarer Weise dependiert und in kontingenter Weise dem Bedürfnis nach gesellschaftlicher Existenz „aus Noth und Langeweile" und damit der Notwendigkeit zur Kommunikation entspringt 4 , mit dieser ersten Fixierung also verfügt der Mensch zum ersten Mal über so etwas wie „empirische Welt" 5 bzw. Uber Gegenstände. Sofern man also den Begriff des Transzendentalen ganz allgemein als das verstehen möchte, was Erfahrung ermöglicht, und Sprache dies leistet, wäre Nietzsche als Transzendentalphilosoph anzusprechen 6 . Der Mensch verfügt als bewußtes Wesen also nur über 'Welt', sofem er über Sprache verfügt, die in doppeltem Sinn der einzige Gegenstand des Denkens ist: Z u m einen, indem dies Denken nur in und durch Sprache Denken ist, und zum anderen, indem sich die Sprache, die das Denken

1

Günter Abel, Logik, 113. Vom Ursprung der Sprache, MusA V, 467. 3 Ebd., 470. 4 Ueber Wahrheit und Lüge, KSA I, 877. 5 Ebd., 884. 6 Dies tut auch Georg Picht, setzt aber die Geschichte transzendental, was insofern nicht weit genug zu gehen scheint, da wir ja auch Uber Zeitlichkeit bewußt nach Nietzsche nur durch Sprache verfügen können bzw. sie als Geschichte erst durch Sprache konstituieren, vgl. Nietzsche, 16f u. 305. Eric Blondel hingegen spricht mit einem glücklichen Ausdruck von einem „sprachlichen Transzendentalismus", geht aber dennoch, wie es scheint, nicht von einem solchen Programm aus, das im übrigen auch nicht näher ausgeführt wird, sondern legt seiner Interpretation vielmehr den Begriff des Leibes als letztem Grund, auf den man kommen könnte, zugrunde; vgl. Vom Nutzen und Nachteil der Sprache für das Verständnis Nietzsches: Nietzsche und der französische Strukturalismus, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), 518537, hier 535ff. Blondeis Nietzsche-Interpretation am „Leitfaden des Leibes", die die Idee eines sprachlichen Transzendentalismus wieder aufgegeben zu haben scheint, findet sich in: Body. 2

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

150

ausmacht, auf nichts außerhalb ihrer sich beziehen kann, da alles, was als bewußt Gegenstand dieses Denkens sein kann, immer schon Sprache ist. Die Welt ist insofern nach Nietzsche nur als Sprache, j a sie ist nichts anderes als durch den Menschen unter zufälligen Bedingungen hervorgebrachtes sprachliches Kunstwerk. Weswegen gerade der die Welt ästhetisch anschauende, bedenkende und dies zum Ausdruck bringende Mensch, der sich kontemplierend selbst genießt, in Wahrheit produktiv bzw. im platonischen Sinne poietisch tätig ist: „Ihm, als dem Dichter, ist gewiss vis contemplativa und der Rückblick auf sein Werk zu eigen, aber zugleich und vorerst die vis creativa, welche dem handelnden Menschen fehlt, was auch der Augenschein und der Allerweltsglaube sagen mag. Wir, die Denkend-Empfindenden, sind es, die wirklich und immerfort Etwas machen, das noch nicht da ist: die ganze e w i g wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspectiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen. Diese von uns erfundene Dichtung wird fortwährend von den sogenannten practischen Menschen (unsern Schauspielern wie gesagt) eingelernt, eingeübt, in Fleisch und Wirklichkeit, ja Alltäglichkeit übersetzt. Was nur Werth hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur nach, - die Natur ist immer werthlos: - sondern dem hat man einen Werth einmal gegeben, geschenkt, und wir waren diese Gebenden und Schenkenden! Wir erst haben die Welt, die den Menschen Etwas angeht, geschaffen!"'

Es hat nun freilich den Anschein, als wären wir über Nietzsches Gedanken der sprachlichen Verfaßtheit von Welt bei der Analyse der Sprachentstehung mit der Nötigung zur Kommunikation und zur lebensnotwendigen Aufrechterhaltung einer einigermaßen stabilen Welt unversehens schon über die Genese des Wortes hinaus in den Gebrauch von Begriffen geraten. Und in der Tat scheint es so, als wäre der Unterschied zwischen Wort und Begriff gänzlich aufgehoben, wenn Nietzsche zur „Bildung der Begriffe" feststellt: . j e d e s Wort wird sofort dadurch Begriff, das es eben nicht für das einmalige Urerlebniss (sc. die komplexe, unbestimmte Anschauung), dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d. h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des NichtGleichen." 2 Es liegt auf der Hand, daß nach dieser Bestimmung jedes Wort, sofern es zur Mitteilung von etwas irgend Gedachtem oder zum lebensnotwendigen Abschluß des Urteilsprozesses über einen auftretenden Reiz 3 gebraucht wird, j a sofern es nach seiner Erschaffung überhaupt weiter in Gebrauch genommen wird, Begriff ist. Dies ist Nietzsche im Rahmen seines idealtypisch gestuften Rekonstruktionsversuchs der Geschichte der Sprachgenese und des daraus folgenden Verhältnisses von Sprache und Wahrheit durchaus bewußt, welche Verwandtschaft von ursprünglich sprachschaffender Dichtung zur Philosophie er schon damit anzeigt, daß er Ueber Wahrheit und Lüge mit einer Fabel beginnt und episch ausklingen läßt. Ebenso macht er die Schwierigkeit einer strikten Unterscheidung zwischen Wort und Begriff, die sich nach Nietzsches Theorie der Begriffsbildung realiter kaum einholen läßt, deutlich, wenn er die fundamentale Bedeutung der Begriffsbildung gattungsspezifisch universalisiert: „Alles, was den Menschen gegen das Thier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff

1 2 3

Fröhliche Wissenschaft, Aph. 301, KSA III, 540. Ueber Wahrheit und Lüge, KSA I, 879f. Vgl. Fröhliche Wissenschaft, Aph. 111, KSA III, 471 f.

151

2. Sprache und Welt als Spiel

aufzulösen; im Bereich jener Schemata nämlich ist etwas möglich, was niemals unter den anschaulichen ersten Eindrücken gelingen möchte: eine pyramidale Ordnung nach Kasten und Graden aufzubauen, eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Gränzbestimmungen zu schaffen, die nun der anderen anschaulichen Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulirende und Imperativische." 1 Ausgehend von einem an Kant angelehnten Schemabegriff 2 deutet Nietzsche die hier nur graduelle Differenz zwischen dichterischem Wort und philosophischem Begriff an, die beide aber - dies ist zu betonen - Ergebnis künstlerischer Tätigkeit sind. D i e schematische Auflösung führt nämlich nicht zwingend zur Bildung eines Begriffes im strengen Sinn, der für die sprachinterne „Gewissheit bei den Bezeichnungen" 3 bürgt. Solche enge Fixierung ist durch die Schemata

nur

möglich.

Sie

führt

unter Voraussetzung

der Vergessenheit

der

zufällig

entstandenen Begriffsbildungsregeln, d. h. der Schemata, zur Konstituierung einer eindeutig bestimmten und vollständig geordneten Welt, die dann gerade durch diese Eindeutigkeit und Einheit vollständig erlogen im aussermoralischen Sinne sein muß. Über den Wert solcher ,,Begriffsdome()" 4 , d. h. philosophischer bzw. wissenschaftlicher Systeme, wird noch zu handeln sein. Jedenfalls erweist sich der Grad der Eindeutigkeit der konventionalisierten Zuordnung im Begriffsgebrauch als Kriterium der Wahrheit im jeweiligen Sprachsystem. Dies entspricht jedoch nur der im Zuge des menschlichen Wunsches nach immer größerer „Ruhe, Sicherheit und Consequenz" 5 in deswegen sowohl immer komplexer als auch eindeutiger werdenden sprachlichen Weltkonstruktionen, wie Nietzsche mit der Steigerung der Komplexität der aus der Architektur entlehnten Vergleiche illustriert 6 .

γ ) P h i l o s o p h i e als „ B e g r i f f s d i c h t u n g "

Wenn eine solche fortschreitende Fixierung und Systematisierung der ursprünglich vollständig zufälligen Benennungen bzw. Lautäußerungen im Wesen des menschlichen Intellekts als Überlebensmittel gründet, werden ebendiese ursprünglichen Äußerungen von großer Vieldeutigkeit gewesen sein. D i e s trifft nach Nietzsche auf die vorphilosophische dichterische Rede zu, die freilich jeweils ein Sprachregelsystem, jedoch noch keine strikt festgesetzte Begrifflichkeit voraussetzt. Der vorphilosophische und vorwissenschaftliche Dichter gebraucht die Metapher, die seinem Sagen zugrundeliegt, noch nicht als rhetorische Figur, d. h. als bewußt generierten oder gewählten uneigentlichen Ausdruck für eine von ihm als diese oder jene gewußte oder anderweitig eindeutig aussagbare 'Sache', als bewußten Kunstausdruck, der w o m ö g l i c h sich restlos begrifflich auflösen ließe. Der „ächte Dichter" produziert vielmehr recht eigentlich erst die jeweilige Metapher als „stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes,

1 2 3 4 5 6

Ueber Wahrheit und Lüge, KS A 1, 881 f. Vgl. Werner Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche, Göttingen 1992, 326f. Ueber Wahrheit und Lüge, KS A I, 878. Ebd., 882. Ebd., 883. Vgl. zur Deutung dieser Architekturbeispiele Nietzsches: Sarah Kofman, Nietzsche, 89-106.

152

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

vorschwebt" 1 . Somit bewahrt er das metaphorische Wesen der Sprache, wenn er seiner Ubersetzenden Tätigkeit bewußt die jeweilige ästhetische Anschauung fragmentarisch nachstammelnd in Laute bringt, wobei jedoch die dabei bestehende absolute Diskontinuität sich seiner Reflexion entzieht und im Unbewußten verbleibt. Diese Lautmetapher kann allein für den Dichter im produktiven ästhetischen Zustand als adäquat gelten und ist diesem auch nur in dieser Hinsicht zugänglich, obwohl ihr Schöpfer zumindest glaubt, sie der absoluten Sprachinternalität des Bedeutens entziehen zu können bzw. entzogen zu haben. Dies gilt für sie jedoch wenigstens insofern scheinbar, als sich das dichterische Sagen der begrifflichen Fixierung verweigert. In dieser unauflösbaren Vieldeutigkeit ist sie jedoch auch im strengen Sinne nicht recht verstehbar, sofern darunter wiederum ein innersprachlicher Begriff verstanden werden muß. Nun liegt f ü r Nietzsche das Streben nach möglichst großer Geregeltheit der sprachlich verfaßten Welt durch Begriffe zwar im menschlichen Bedürfnis nach größtmöglicher Sicherheit im Daseinskampf verankert und gehört dem Menschen als bloßem endlichen Lebewesen zu 2 . Jedoch ist, wie sich noch zeigen wird, solche maximale Festlegung nicht die eigentliche Sache der Philosophie. Nietzsche konstatiert weder einen Gegensatz zwischen Dichtung und Philosophie noch einen solchen zwischen Philosophie und Wissenschaft, sondern weist hier vielmehr nur graduelle Differenzen auf. Es herrscht also eine „(g)roße Verlegenheit, ob die Philosophie eine Kunst oder eine Wissenschaft ist. Es ist eine Kunst in ihren Zwecken und in ihrer Produktion. Aber das Mittel, die Darstellung in Begriffen, hat sie mit der Wissenschaft gemein. Es ist eine Form der Dichtkunst." 3 Philosophie ist für Nietzsche „Begriffsdichtung", die gar nie „etwas mit dem sogenannten 'An sich Wahren oder Seienden' zu thun hat" 4 . Es kommt nun darauf an, diese Charakterisierung nicht von vorneherein pejorativ zu verstehen. Das Gegenteil ist nämlich der Fall, wie sich anhand einer weiteren Betrachtung des Verhältnisses von Sprache und Welt zeigen läßt. Es war bereits deutlich geworden, daß sich nach Nietzsche der Mensch ursprünglich ästhetisch, d. h. in unaufhörlichem produktivem Spiel, verhält, und sich dadurch erst Gegenstände und Welt schafft, über welche er nur als Sprache verfügt. Dies impliziert, daß seit dem Bruch mit der Metaphysik bzw. mit der schopenhauerisch-wagnerischen philosophischen Grundhaltung f ü r Nietzsche die Kunst auch jeden transzendenten Anspruch verliert, da es keine absolute Instanz außerhalb der Sprache des Menschen selbst mehr gibt, zu deren Ausdruck der Dichter oder sonst irgend ein Mensch als Medium fungieren könnte. Nietzsche ist insofern alles andere als ein Irrationalist irgendwelcher Couleur. Zweifellos sind Dichtung und Philosophie schon von sich aus wesentlich sprachliche Gebilde und verweisen insofern zugleich auf die ursprüngliche Poiesis überhaupt. Sie unterscheiden sich weder durch ihren ' Z w e c k ' noch durch ihre 'Produktion', sehr wohl aber durch ihre Darstellungsmittel: Die Philosophie gebraucht wie die Wissenschaft 'Begriffe', also strikt konventionalisierte, d. h. eindeutig gemachte metaphorische Ausdrücke 5 , während die Dichtung die Vieldeutigkeit der Metaphorizität in ihrem 'Andeuten' und 'Übersetzen' bewahrt. Beider Zweck ist die „Verklärung" 6 des Lebensgeschehens. Dies geschieht wie gezeigt in zweierlei 1 2 3 4 5 6

Geburt der Tragödie, KSA I, 60. Vgl. Nachlaß, KS A VII, 429f, 19[37], u. KSA VIII, 99f, 6[7], Nachlaß, KSA VII, 439, 19[62], An Deussen, April/Mai 1868, KSB II, 269. Vgl. dazu Anne Tebartz-van Eist, Ästhetik, 48ff. Nachlaß, KSA VII, S. 420, 19[13],

2. Sprache und Welt als Spiel

153

Weise: Die Dichtung bringt die Entsetzlichkeit des Geschehens in eine schöne Form und verhüllt es durch diese, ohne jedoch dessen entsetzlichen Gehalt zu eliminieren. Die Philosophie überschreitet aber diesen durch die Dichtung zurechtgemachten Erfahrungsbereich und nimmt sich verklärend der Welt im Ganzen an, wobei sie zugleich, anders als die Dichtung, auf ihr eigenes Wesen als Kunstwerk hinweist und idealiter damit ebenso ihre eigene Zweckhaftigkeit auslöscht. Damit wäre erst j e n e Totalität der Täuschung erreicht, die das menschliche Dasein als Spiel erscheinen läßt und dessen höchsten Verklärungsgrad bildet. Damit wird die Philosophie als höchstmögliche Lebensform ebenfalls zum göttlichen Spiel und löst die abgründige Notlage auf, aus der die Dichtung entspringt. Die Philosophie hätte demnach zugleich als höchste Form der Dichtkunst zu gelten, was für Nietzsche nicht nur Heraklit sondern auch das Nichtsokratische an Piaton paradigmatisch verdeutlichen. Dementsprechend setzt auch die Produktion beider Dichtungsformen den gleichen ästhetischen Zustand voraus, der als bewußtes Schaffen von Welt durch Sprache zu verstehen ist und im Falle des Philosophen die Reflexion auf genau dieses Tun selbst erfordert 1 , so daß dieser bei seiner Tätigkeit auch das Bewußtsein zu spielen besitzen muß.

δ) Jenseits des Ernstes: P h i l o s o p h i e z w i s c h e n D i c h t u n g und W i s s e n s c h a f t

Dies läßt sich im Rekurs auf den Weltbegriff in Nietzsches Heraklitinterpretation, dessen Darlegung noch ausstand, weiter verdeutlichen, so daß zugleich auf dieser Grundlage die noch zu leistende Differenzierung von Philosophie und Wissenschaft möglich wird. Zuvor ist jedoch im selben Kontext die Unterscheidung von Dichtung und Philosophie noch um ein geringes zu verschärfen. Welt ist nach Nietzsche für den Menschen allein durch Sprache konstituiert und nur in ihr verfügbar und zugänglich. Diesen Weltbegriff führt Nietzsche erstmals zusammenhängend in unmittelbarem Kontext seiner Heraklitinterpretation aus. Im Zuge seiner Deutung des Fragmentes Β 52 begreift er die in doppelter Weise spielende Tätigkeit des göttlichen Kindes als ,,weltenbildend()" 2 . Sie ist demnach auf die entsprechenden sprachbildenden und -gebrauchenden Tätigkeiten zu übertragen, die Nietzsche mit Dichtung, Philosophie und Wissenschaft identifiziert. Im Blick auf deren Verhältnisse zueinander läßt sich der doppelte Spielbegriff Heraklits als Differenzkriterium begreifen, das zugleich auf deren fundamentale Gemeinsamkeit verweist, so daß diese nicht als vollständig disjunkt, sondern allenfalls als graduell different aufzufassen sind. Diese Differenzen erweisen sich als verschiedene Grade der Reflektiertheit bzw. des Verständnisses des eigenen Tuns. Die Doppelung des als weltbildend ausgezeichneten Spielbegriffes beinhaltet zum einen das kindliche Spielen, das insofern ziel- und regellos ist, als es einer rein immanenten, stets durch den Spielenden selbst willkürlich veränderbaren und von

Dies betont Eric Blondel zurecht, wenn er zusammenfassend konstatiert: „Philosophy does not depart from discourse, but turns discourse back on itself through an imaginary game. In this way, it is a Fürsprecher des Lebens, neither a purely conceptual discourse, nor an extra-discursive poetic work." Body, 258. 2

Die vorplatonischen Philosophen, MusA IV, 305; vgl. Ueber das Pathos der Wahrheit, KSA I, 758, u. Philosophie im tragischen Zeitalter, KSA I, 830ff. Nietzsche übernimmt hier eine Wendung von Jacob Bernays, Studien, 110. Vgl. dazu: Günter Wohlfart, Also, 2 5 l f .

154

IV. Nietzsche: P h i l o s o p h i e als Spiel

daher keiner lehrbaren Struktur folgt, die nicht begrifflich e r f a ß b a r u n d eindeutig mitteilbar Z u m anderen liegt e b e n s o die Möglichkeit eines - freilich ebenfalls strikt i m m a n e n t begreifenden - vollständig geregelten und zielgerichteten T u n s vor, dessen R e g e l u n g aber Spielenden entzogen und der vollständigen E r f a s s u n g durch B e g r i f f e z u g ä n g l i c h ist, w a s mit Systematizität j e n e r S p i e l f o r m z u s a m m e n f ä l l t .

ist. zu den der

N i e t z s c h e f ü g t nun d e m Begriff des π α ί ζ ω , das er mit d e m T u n des Künstlers gleicht 1 , mit d e m H i n w e i s auf den unmittelbaren G e b r a u c h der L a u t m e t a p h e r bei der W e l t e r z e u g u n g b z w . dessen durch den u n s c h u l d i g e n Spieltrieb geprägte Instinktivität b z w . der u n b e w u ß t e n und zufälligen F o r m u n g der ursprünglichen ästhetischen A n s c h a u u n g e n eine weitere B e s t i m m u n g hinzu. Er formuliert sie im Z u s a m m e n h a n g einiger kritischer Notizen zu E u g e n D ü h r i n g s Wert des Lebens: „Das Spielen ist die eigentliche Arbeit des Kindes u n d ihm e b e n s o B e d ü r f n i ß , wie d e m reifen Alter s c h a f f e n d e Thätigkeit. ( . . . ) Spiel ist die ernsteste A n g e l e g e n h e i t f ü r ein Kind, nichts Unterhaltendes-Überflüssiges, wie E r w a c h s e n e es häufig beurtheilen." 2 D i e s ist nun nicht in d e r m a ß e n a b w e r t e n d e m Sinne zu verstehen wie in der Darstellung der D i c h o t o m i e zwischen Arbeit und Spiel im alten Griechenland. Hier wie dort geht es z w a r um die B e f r i e d i g u n g der täglichen L e b e n s b e d ü r f n i s s e , j e d o c h ist dies bei Kindern und Künstlern durch die m a n g e l n d e B e w u ß t h e i t des T u n s v o m B a n a u s e n t u m geschieden. I m Falle der b a n a u s i s c h e n Arbeit handelt es sich u m grundsätzlich als Unlust mit sich f ü h r e n d verstandene Tätigkeit z u m Z w e c k e des Lebenserhalts, und dieses B e f u n d e s ist der Arbeiter üblicherweise auch teilhaftig. Er weiß u m die Not, unter der seine Tätigkeit steht und sucht im Spiele bestenfalls E r h o l u n g d a v o n : Arbeit und Spiel sind f ü r ihn entgegengesetzt und völlig disjunkt. 3 Diesen G e g e n s a t z gibt es w e d e r f ü r das Kind noch f ü r den Künstler. Ihr Spiel (miß)versteht sich als Ernst und ist somit recht eigentlich Schein im Sinne der Illusion. Deren Totalität läßt f ü r die j e w e i l s in ihr A g i e r e n d e n keine Reflexion auf ihr T u n und auch keine d i e s b e z ü g l i c h e W a h r h a f t i g k e i t zu. D i e Selbstverständnis dieser eigentlich e x i s t e n z e r m ö g l i c h e n d e n Tätigkeit verbleibt d e m n a c h in e i n e m Zustand radikaler I m m a n e n z , die sich a u f g r u n d ihrer vollständigen Reflektionslosigkeit von sich aus als einzig m ö g l i c h e und schon d e s w e g e n w a h r e verstehen m u ß . W i r d dies n u n auf die weltbildende Tätigkeit durch Sprache übertragen, wie sie nach Nietzsche d e m Dichter eignet, gelangt m a n zur H e r v o r b r i n g u n g eines W e l t e n t w u r f e s , der in der W e i s e etwa eines T r a u m e s f ü r w a h r gehalten wird 4 . Dieser A n s p r u c h auf W a h r h e i t läßt sich zwar bestreiten, j e d o c h nicht widerlegen, da gerade die A b g e s c h l o s s e n h e i t dieser erdichteten W e l t und die U n b e s t i m m b a r k e i t der ihr z u g r u n d e l i e g e n d e n Konstruktionsprinzipien eine u n e n d l i c h e M e n g e von Interpretationen zulassen. Deren U n e n d l i c h k e i t ergibt sich w i e d e r u m aus der U n m ö g l i c h k e i t , außerhalb dieses w e s e n h a f t begrifflich u n f a ß b a r e n Gebildes adäquate Kriterien f ü r seine Beurteilung a n z u g e b e n . Ein solcher Versuch, der es auf E r k e n n t n i s anlegte, griffe j a immer schon, allein u m seiner Sprache Mitteilbarkeit zu gewährleisten, auf bereits konventionalisierte W e l t s c h e m a t a zurück, w e l c h e der Originalität des noch in ursprünglicher W e i s e metaphorischen W e l t e n t w u r f e s eo ipso nicht gerecht w e r d e n könnten. Ü b e r ihn ist ganz im Sinne Kants nur ein Geschmacksurteil möglich. E i n e ganz ähnliche Struktur liegt nun der zweiten nichtphilosophischen W e i s e der sprachlichen W e l t b i l d u n g vor, sofern man diese f ü r sich g e n o m m e n betrachtet. N i e t z s c h e identifiziert Vgl. Philosophie im tragischen Zeitalter, KSA I, 830f. Nachlaß, KSA VIII, 148, 9[1], 3 Vgl. dazu generell: Vitorio Mathieu, Gioco e lavoro, Milano 1989, der im Rahmen eines ethischen Entwurfes einen eudaimonistischen Versöhnugsversuch beider Begriffe unternimmt. 4 Vgl. Gerold Ungeheuer, Nietzsche. 2

2. Sprache und Welt als Spiel

155

sie als die Wissenschaft. Sie baut aus des Metapherntriebes „verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen, eine reguläre und starre neue Welt als eine Zwingburg f ü r ihn" 1 , die schließlich in höchster Ausformung die Architektonik „eines unendlich complicirten Begriffsdomes" 2 besitzt. Dabei ist entscheidend zu bemerken, daß nach Nietzsche nicht der Wissenschaftler selbst es ist, welcher den grundlegenden Bauplan dieses Werkes, d. h. den zugrundeliegenden Systementwurf hervorbringt. Der Wissenschaftler stellt sich vielmehr schon von vorneherein unter diesen. Für ihn „ist alles, soweit wir dringen, nach der Höhe der teleskopischen und nach der Tiefe der mikroskopischen Welt, so sicher, ausgebaut, endlos, gesetzmässig und ohne Lücken; die Wissenschaft wird ewig in diesen Schachten mit Erfolg zu graben haben und alles Gefundene wird zusammenstimmen und sich nicht widersprechen." 3 Der Wissenschaftler bringt also weder den Regelkomplex hervor, der die systematische Einheit seiner Forschungen bzw. der durch sie konstituierten Welt gewährleistet, noch reflektiert er auf deren Wahrheit oder Ursprung. Wie der Facharbeiter, der einen vorgegebenen Entwurf, auf den er keinen Einfluß besitzt, zu erfüllen hat, ist er „vor allem bemüht, jenes in's Ungeheuerliche aufgethürmte Fachwerk zu füllen und die ganze empirische Welt (...) hineinzuordnen" 4 , um sodann den Bau zu erhalten und zu vervollständigen. Auch der Wissenschaftler ist weltbildend tätig. Er ist dies jedoch innerhalb eines jeweils nicht von ihm selbst festgelegten Rahmens, ζ. B. der Naturgesetze, der für ihn im Sinne „ewige(r) Consequenz, Allgegenwärtigkeit und Unfehlbarkeit" 5 objektive Geltung besitzt, mithin nicht angezweifelt oder gar durchbrochen würde. Dieser Rahmen ist begrifflich verfaßt. D e m Wissenschaftler obliegt also nicht die Begriffsbildung, d. h. die Vorgabe der Regeln zur Konstruktion der Welt als eines einheitlichen Ganzen, dem er selbst vielmehr angehört. Zweifel an seinem Tun führten demnach zur Selbstdestruktion des Wissenschaftlers, so daß seine wesentlich auf die Affirmierung des Weltentwurfes, in den er gestellt ist, gerichtete Tätigkeit den Charakter höchsten Ernstes gewinnt, da sie seine Existenz sichert und erhält. Insofern ist die Tätigkeit des Wissenschaftlers als Arbeit zu verstehen, die wie das sogenannte Spiel des Kindes und des Künstlers elementarste Bedürfnisse befriedigt. In diesem Feld ist auch die Gemeinsamkeit zu verorten, die beide weltbildenden Tätigkeitsweisen trotz ihrer Differenz im Blick auf die Regeln - einmal in ihrer Hervorbringung, einmal in ihrer Befolgung - besitzen. Beide sehen sie nämlich als absolut bindend an, und zwar deswegen, weil diese einer Welt unabhängig und außerhalb von ihnen selbst, d. h. außerhalb der allein gegenstands- und weltkonstituierenden Sprache, zu korrespondieren scheinen. Auf diesem selbstverständlich und damit unreflektiert erhobenen Anspruch gründet auch das Selbstmißverständnis der Wissenschaft über den Status ihrer jeweils ausgeübten Tätigkeit als Ernst bzw. Arbeit. Denn da auch die Wissenschaft weltbildend durch Sprache wirkt, müßte auch sie sich als Spiel auffassen lassen. Dies geschieht in der Tat gemäß des vollständig geregelten Spieles mit eindeutiger Zielvorgabe - dem π ε σ σ ε ύ ω das bei korrekter Applikation seiner Regeln sich selbst als vollständiges und widerspruchsfreies System affirmiert und zu diesem seinem Ziel auch bei der scheinbaren Entdeckung neuer 'Tatsachen' gelangt, weil hierbei „Jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt, es eben dort wieder sucht und auch findet" 6 . 1 2 3 4 3 6

Ueber Wahrheit und Lüge, KS A I, 887. Ebd., 882. Ebd., 885. Ebd., 886. Ebd., 885. Ebd., 883.

156

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

c) Philosophie als Spiel

In dieser Kritik sowohl des dichterischen als auch des wissenschaftlichen Sprechens erweist sich die Tragweite und die Konsequenz, die Nietzsches vom Konzept des Spieles ausgehende Sprach- und Erkenntniskritik trägt, welche das Fundament seines Philosophieverständnisses bildet. Denn nun tritt zum grundlegenden Lehrstück der Weltkonstitution durch Sprache dem Spielbegriff noch eine Bestimmung hinzu, die die bislang herausgearbeiteten Grundlinien der unabschließbaren agonalen Poiesis, der Zweckfreiheit und der basalen Verstandestätigkeit zusammenschießen läßt: Es ist die des Unernstes, die die Tätigkeit des Philosophen ausmacht. Dabei ist hier unter Unernst einfach die Bewußtheit der Unmöglichkeit zu verstehen, ein sprachexternes Kriterium für Wahrheit zu gewinnen, mithin also der wahrhafte Abschied vom korrespondenztheoretischen Verständnis von Wahrheit und damit auch die Aufgabe des Glaubens an die Möglichkeit der Gewinnung oder des Besitzes unverbrüchlich gewisser Aussagen, die sich auf etwas außerhalb der zufällig hervorgebrachten sprachinternen Bedeutungsrelationen bezögen. Eine solche Haltung setzt freilich, dies sei vorausschickend bemerkt, stets die Reflektiertheit des eigenen Tuns voraus, und das bedeutet im Falle dieser besonderen Tätigkeit eine eigentümliche Distanz zum Gebrauch von Sprache, die die Philosophie zu einer bestimmten Form schriftlicher Mitteilung nötigt. So ist also abschließend und zusammenfassend zu fragen, wodurch sich nach Nietzsche das philosophische Sprechen gegenüber dem dichterischen und dem wissenschaftlichen auszeichnet. Dabei wird sich erweisen, daß und in welcher Weise nach Nietzsche Philosophie nicht nur allein als Spiel zu verstehen ist, sondern auch daß Philosophie allein im eigentlichen Sinne Spiel genannt werden kann. In Nietzsches Philosophie finden damit über das bisher gezeigte Maß hinaus Tendenzen ihre Fortsetzung, die bereits bei Piaton und Kant angelegt sind.

α ) Philosophie als Weltkonstruktion des Freien Geistes

Auszugehen ist dabei von Nietzsches bereits erwähnter, jedoch noch nicht positiv erörterter Bestimmung der Philosophie als Begriffsdichtung, die der ebenfalls bereits zitierten späten Aufzeichnung zu Piaton korrespondiert, welche die Konsequenzen aus der dem Philosophen nötigen „absolute(n) Scepsis gegen alle überlieferten Begriffe" zieht, nämlich die unausweichliche Notwendigkeit, die Begriffe „allererst machen, schaffen, hinstellen und zu ihnen überreden" zu müssen. 1 Es kommt nun darauf an, sich über dieses 'Machen' bzw. 'Schaffen' klar zu werden. Nicht gemeint sein kann mit dieser Wendung das beschriebene ursprüngliche Denken und dessen originäre Verlautbarung, das dem Dichter eignet, da der Philosoph im Gegensatz zu dessen absolut individueller Sicht durch den „Weitblick seines Standpunktes (...)

1

Nachlaß, KSA XI, 486f, 34[ 195].

157

2. Sprache und Welt als Spiel

zur Mittheilung" 1 gezwungen ist und es auch für Nietzsche „keine aparte von der Wissenschaft

(giebt): dort wie hier wird gleich

gedacht"2,

Philosophie,

getrennt

nämlich in Begriffen und

unter den Regeln der Logik. Auch kann sich die Philosophie nur unter der Voraussetzung von Dichtung entwickeln, da sie erst in der „relative(n) Vollendung" des Daseins und in der „herrlichen Kunstwelt" der Griechen auftritt 3 . Das Philosophieren verfügt also bereits über sprachliches Material, das der Dichtung entstammt und sofort durch den gemeinschaftlichen Gebrauch zur vorphilosophischen und vorwissenschaftlichen „usuellen Metaphern" 4 wurde, also noch nicht zu Begriffen im strengen Sinne konventionalisiert ist. Auf dieser Sprachebene, die etwa Hesiod oder die Sieben

Weisen

verkörpern,

kann nun frühestens das

eigentliche

philosophische Machen und Schaffen von Begriffen einsetzen. Eine berühmte Passage aus Ueber

Wahrheit

und Lüge kann geradezu als Erläuterung dieser Tätigkeit gelesen werden. Sie

sei ob ihrer Bedeutung hier ausnahmsweise im Zusammenhang wiedergegeben: „Der Intellekt, jener Meister der Verstellung, ist so lange frei, und seinem sonstigen Sklavendienste enthoben, als er täuschen kann ohne zu schaden und feiert dann seine Saturnalien; nie ist er üppiger, reicher, stolzer, gewandter und verwegener. Mit schöpferischem Behagen wirft er die Metaphern durcheinander und verrückt die Gränzsteine der Abstraktion, so dass er ζ. B. den Strom als den beweglichen Weg bezeichnet, der den Menschen trägt, dorthin, wohin er sonst geht. Jetzt hat er das Zeichen der Dienstbarkeit von sich geworfen: sonst mit trübsinniger Geschäftigkeit bemüht, einem armen Individuum, dem es nach Dasein gelüstet, den Weg und die Werkzeuge zu zeigen und wie ein Diener für seinen Herrn auf Raub und Beute ausziehend ist er jetzt zum Herrn geworden und darf den Ausdruck der Bedürftigkeit aus seinen Mienen wegwischen. Was er jetzt auch thut, Alles trägt im Vergleich mit seinem früheren Thun die Verstellung, wie das frühere die Verzerrung an sich. Er copirt das Menschenleben, nimmt es aber für eine gute Sache und scheint mit ihm sich recht zufrieden zu geben. Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, dass er jene Nothbehelfe der Bedürftigkeit nicht braucht, und dass er jetzt nicht von Begriffen sondern von Intuitionen geleitet wird. Von diesen Intuitionen aus führt kein regelmässiger Weg in das Land der gespenstischen Schemata, der Abstraktionen: für sie ist das Wort nicht gemacht, der Mensch verstummt, wenn er sie sieht, oder redet in lauter verbotenen Metaphern und unerhörten Begriffsfügungen, um wenigstens durch das Zertrümmern und Verhöhnen der alten Begriffsschranken dem Eindrucke der mächtigen gegenwärtigen Intuition schöpferisch zu entsprechen." 5

Obschon Nietzsche sich in diesem Abschnitt nicht unmittelbar auf den Philosophen bezieht, deutet sich schon ohne großen hermeneutischen Aufwand anhand einiger Indizien an, daß der in ihm beschriebene befreite Intellekt einem Philosophen aus dem tragischen bzw. klassischen Zeitalter der Griechen gehört. Denn neben seiner Entlastung von der bloßen Lebenserhaltung, deren Mittel er den Menschen mangels „Hörnern oder scharfem Raubthier-Gebiss" 6 ist, bezieht er sich in seiner Tätigkeit auf bereits vorliegende Begriffsstrukturen. D i e s e befinden sich jedoch noch nicht auf einer sonderlich hohen Entwicklungsstufe, wie Nietzsches Metaphorik zeigt, die

' 2 3 4 5 6

Nachlaß, KSA VII, 453, 19[ 103]. Ebd., 444, 19[76], Ebd., 418, 9[5], Ueber Wahrheit und Lüge, KSA I, 881. Ebd., 888f. Ebd., 876.

158

IV. Nietzsche: P h i l o s o p h i e als Spiel

hier w e d e r klassische T e m p e l noch k o m p l e x e D o m b a u t e n nennt, sondern v o m „ G e b ä l k und Bretterwerk der B e g r i f f e " spricht, was eher an H o l z v e r s c h l ä g e v o m architektonischen Niveau eines Hühnerstalles g e m a h n t . Die u n g e f ä h r e Datierung ergibt sich aus der späteren E r w ä h n u n g der B e g r i f f e v o m G l ü c k des „Widerspiel(s)" des Besitzers des freien Intellekts, d. h. des Freien Geistes: Der rein „ v e r n ü n f t i g e M e n s c h " strebt allein nach „Freiheit von S c h m e r z e n " , d. h. nach epikureischer Lust bzw. nach stoischer Apathia 1 . B e i d e hellenistische Ethiken beruhten j a auf e i n e m vollständigen rationalen E r k l ä r u n g s m o d e l l des K o s m o s , das f ü r den j e w e i l i g e n Glücksbegriff bürgte. 2 J e d o c h kann trotz dieser Indizien erst die a u s f ü h r l i c h e A n a l y s e der in der zitierten Passage beschriebenen Tätigkeit Klarheit über die Z u o r d n u n g des freien Intellekts bringen. Nietzsche bestimmt diese Freiheit g e m ä ß der klassischen D o p p e l u n g von ihrer negativen und ihrer positiven Seite her. Dieser Zweiteilung soll auch hier gefolgt w e r d e n . W o v o n also ist der freie Intellekt frei? D i e A n t w o r t darauf ist o f f e n k u n d i g : W i e e r w ä h n t ist er der ausschließlichen B e m ü h u n g u m die D a s e i n s s i c h e r u n g des I n d i v i d u u m s e n t h o b e n . Dies verfügt also schon u m eine gesicherte Welt, in der die c h a o t i s c h e D y n a m i k des W e r d e n s insoweit festgestellt ist, d a ß menschliche G e m e i n s c h a f t als solche bereits d u r c h sprachliche K o n v e n t i o n e n konstituiert ist. In Nietzsches Diktion gründet diese auf „der V e r p f l i c h t u n g nach einer festen C o n v e n t i o n zu lügen, schaarenweise in e i n e m f ü r alle verbindlichen Stile zu lügen" 3 . D i e s e K o n v e n t i o n ist als K o n v e n t i o n vergessen, so d a ß sie „ u n b e w u s s t und nach hundertjährigen G e w ö h n u n g e n " 4 in den Verstandeshaushalt vollständig e i n g e s c h l i f f e n ist und nicht mehr abgelegt werden kann. Der von Nietzsche genannten Freiheit ist somit stets der Besitz einer allgemeinen S p r a c h k o n v e n t i o n , d. h. eines g e m e i n s a m anerkannten W e l t e n t w u r f e s vorausgesetzt, deren Grund, d. h. die M ö g l i c h k e i t des mitteilbaren E n t w u r f e s von W e l t e n , durch die B e f r e i u n g nicht in seinem W e s e n tangiert wird: „ G l ü c k l i c h e r w e i s e ist es zu spät, als dass es die E n t w i c k e l u n g der V e r n u n f t , die auf j e n e m Glauben (sc. an die S p r a c h e und v. a. an ihre Regeln, d. h. Logik bzw. G r a m m a t i k ) beruht, wieder r ü c k g ä n g i g m a c h e n k ö n n t e . " 5 D e r f r e i e Intellekt bezieht sich auf d i e usuellen, gemein gebrauchten M e t a p h e r n , v e r w e n d e t sie und die Regeln ihrer V e r b i n d u n g und D i f f e r e n z i e r u n g . E r verläßt und durchbricht die ü b e r k o m m e n e K o n v e n t i o n nicht gänzlich, die er vollständig beherrschen m u ß , weil sie gar nicht m e h r a u f g e g e b e n w e r d e n kann. Befreit ist der Intellekt nämlich nur von dieser oder j e n e r so und so bestimmten ü b e r k o m m e n e n Gestalt eines W e l t e n t w u r f e s , nicht j e d o c h von d e s s e n R e g e l h a f t i g keit, die allein seine Mitteilbarkeit ermöglicht und so auch den Daseinserhalt sichert. W o v o n der Intellekt also gar nie frei ist, ist die Ausrichtung seiner Tätigkeit auf die K o n s t r u k t i o n von W e l t überhaupt als regelhaft geordnetes Ganzes, da dessen Negation selbstdestruktiv wirken w ü r d e . Dies ist die G r e n z e seiner Freiheit: Er ist „so lange frei, ( . . . ) als er täuschen kann, o h n e zu schaden". Dabei ist mit N i e t z s c h e d u r c h a u s zu b e z w e i f e l n , o b die Ü b e r s c h r e i t u n g dieser G r e n z e d e m so v e r n ü n f t i g g e w o r d e n e n menschlichen Intellekt o b seiner Sprachlichkeit überhaupt möglich sein könnte. Seine negative Freiheit besteht d e m n a c h in der A b w e s e n h e i t jeglicher, o b j e k t i v e Gültigkeit b e a n s p r u c h e n d e r F e s t l e g u n g auf eine b e s t i m m t e Art oder Gestalt der Welt, d i e er entwirft: Im

1

Ueber Wahrheit und Lüge, KS A I, 889. Vgl. zum Epikureismus: Maximilian Forschner, Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant, Darmstadt 1993, 22-44; und zur Stoa: ders., Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, Darmstadt 2 1995. 3 Ueber Wahrheit und Lüge, KS A 1,881. 4 Ebd. 5 Menschliches, Allzumenschliches /, Aph. 11, KSA II, 31. 2

2. Sprache und Welt als Spiel

159

Bereich des Weltentwurfes genießt dieser Intellekt absolute Freiheit, die auch und gerade nicht von moralischen Konventionen beschränkt ist. Mit beiden Aspekten dieser negativen Freiheit des Intellekts charakterisiert Nietzsche die Tätigkeit des Philosophen. Er schreibt: „Die großen griechischen Philosophen leben noch ganz in dieser Berechtigung zur Lüge", die in „Schönheit und Anmuth der Lüge, vorausgesetzt daß sie nicht schadet", besteht und im Prinzip gründet: „Wo man nichts Wahres wissen kann, ist die Lüge erlaubt." 1 Diese Lüge ist die „Weltconstruktion (alias Philosophie)" 2 selbst. Es zeigt sich, daß die negative Freiheit des Intellekts bereits Nietzsches Sprachtheorie voraussetzt, mithin also die Überzeugung von der Unmöglichkeit adäquater sprachlicher Aussagen außersprachlicher „Tatsachen" oder „Sachverhalte". Das Bewußtsein vollständiger Freiheit in der Weltkonstruktion schließt den Anspruch auf deren Wahrheit aus; ihre Hervorbringung ist Lüge im außermoralischen Sinne. Das Wissen darum ist wie gezeigt dem echten Philosophen eigentümlich. Die Antwort auf die Frage nach der positiven Freiheit des Intellekts scheint sonach trivial: Sie besteht schlicht in der Freiheit zur Weltkonstruktion innerhalb der genannten Grenzen. Dennoch erlaubt erst gerade ihre Analyse die Einsicht in Nietzsches Verständnis von Philosophie und die Begründung ihrer Identifikation mit Spiel. Was tut also der freie Intellekt? Schon auf den ersten Blick auf die zitierte Passage lassen sich zwei komplementäre Tätigkeiten ausmachen, die ganz allgemein als Destruktion und Konstruktion begriffen werden können. Beide wiederum verweisen auf den aufgezeigten agonalen Grundzug der Philosophie. Die Destruktion richtet sich nun gegen den jeweils als lebensnotwendig geglaubten Weltentwurf, der zu Unrecht den Anspruch erhebt, der einzig mögliche zu sein, der das Überleben sichert, und solchermaßen objektiv zu gelten, also gegen „(j)enes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet". Durch deren Zerschlagung zeigt der freie Intellekt, daß es nicht auf diese oder jene bestimmte Begriffskonstellation, d. h. nicht auf diesen oder jenen bestimmten Weltentwurf ankommt, um das Bedürfnis nach blanker Existenzfristung zu befriedigen. Die Festlegung auf einen solchen ,,Nothbehelf() der Bedürftigkeit" zeugt vielmehr von einer Fehleinschätzung der Erkenntnismöglichkeiten des Menschen, die es gar nicht zulassen, sich auf einen bestimmten Weltentwurf als wahren festzulegen. Deren Zertrümmerung zeigt somit, daß das Bedürfnis des Menschen nicht auf Wahrheit, sondern auf Welt gerichtet ist. Die erste Bedingung der Weltkonstruktion muß demnach f ü r Nietzsche - wie für Kant - Kritik sein, deren Wesen Gilles Deleuze im Sinne Nietzsches beschreibt: „Die Kritik genau stellt die Verneinung in ihrer neuen Form dar: aktiv gewordene Zerstörung, fest an die Bejahung gebundene Aggressivität. Kritik ist die Zerstörung als Freude, die Aggressivität des Schaffenden." 3 Es geht der philosophischen Kritik nicht um restlose Vernichtung des Kritisierten, sondern um Zerlegung, wobei deren Ergebnisse, gleichsam die Einzelteile des Zerlegten, wiederum als Material zu nutzen sind. Denn das in seine Partikel, d. h. in seine Begriffe und deren Herkunftsgeschichte zerlegte „Bretterwerk", mithin der atomisierte überkommene Weltentwurf „ist dem frei gewordenen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke". Aus der kritischen Destruktion erwächst also eine konstruktive Tätigkeit, die keinen Zweck außer ihrer selbst dient. Das Konstruktionsmaterial, das der freie Intellekt gebraucht, sind die überkommenen Begriffe. Sie dienen sowohl als Gerüst, insofern ihre vormalige Fügung und ihre

1

N a c h l a ß , K S A VII, 4 5 1 , 1 9 [ 9 7 ] .

2

Ebd., 4 3 4 , 1 9 [ 4 7 ] .

3

G i l l e s D e l e u z e , Nietzsche,

95.

160

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

Fügbarkeit ein beliebiges Beispiel für die vorgegebene Form einer Welt überhaupt bzw. eines entsprechenden architektonischen Entwurfs hierzu dienen kann, als auch als Spielzeug, das den internen Erfordernissen des Spieles, d. h. des Weltentwurfes gemäß willkürlich gebraucht und geformt 1 wird. Die Tätigkeit des freien Intellekts umfaßt wiederum zwei komplementäre Teilaktivitäten, nämlich das „Durcheinanderwerfen" des Bauzeugs nach der Zerlegung und dessen neuerliche „Zusammensetzung". Dies mündet jedoch nicht in schierer Kombinatorik, wie sowohl die Begrenztheit des Materials als auch die Beschränktheit des Repertoires des Verstandes an anwendbaren Bau- und Kombinationsregeln - etwa Kategorien oder logische bzw. grammatische Formen - vermuten ließe. Ein solches strenges „Würfelspiel der Begriffe" 2 spielt wie gezeigt allein die Wissenschaft, deren vorgegebenes und als absolut verbindlich verstandenes Begriffssystem mit seiner Gewißheit des Metapherngebrauches und ihres SichBeziehens ihren Bestand gewährleistet. Die Weltkonstruktion des freien Intellekts verläuft nicht als derart mechanischer Prozeß, sondern einerseits „schöpferisch" und andererseits in „ironischer" Haltung. Dies rührt daher, daß auch der befreite Intellekt seinen instrumenteilen Status beibehält. Er leistet jedoch nicht mehr unreflektierten Sklavendienst im Streben nach Selbsterhaltung, sondern unterstellt sich der Leitung von Intuitionen, d. h. der ästhetischen Anschauung 3 . Dies impliziert wegen der Enthobenheit von der bloßen Existenzsicherung zugleich auch die Verfolgung und Betonung von Aspekten der Anschauungsgebilde der spielenden Phantasie, die sonst als solche schlicht vergessen und für „die Dinge selbst" genommen werden. Der freigewordene Intellekt befindet sich damit in dem selben ästhetischen Zustand, der auch der Tätigkeit des Dichters zugrundeliegt und der im Zusammenhang mit der Deutung des Heraklit-Fragments erörtert wurde. Der freie Intellekt ist dann insofern schöpferisch, als er bei seiner Tätigkeit zu den ursprünglichen Metaphern der Anschauung zurückgeht - also genealogisch verfährt - und diese in die bestehende Sprache zu übertragen sucht. Jedoch weiß er um die absolute Diskontinuität, die diese Tätigkeit prägt, d. h. sowohl um den metaphorischen Charakter seiner Konstrukte als auch um die Unmöglichkeit einer adäquaten sprachlichen Fassung seiner ästhetischen Anschauungen: Es „führt kein regelmässiger Weg in das Land der gespenstischen Schema, der Abstraktionen", auf die der nicht nur dichtende Intellekt um die Möglichkeit der Mitteilung willen ohnehin angewiesen ist. In der ironisch betriebenen Konstruktion von Welt liegt die Reflektiertheit des freien Intellekts, die sowohl dem Dichter als auch dem Wissenschaftler abgeht. Anders als diese schafft er neue Begriffe bzw. Welten, d. h. „unerhörte" - also schlicht bislang noch nicht vernommene „Begriffsfügungen", die keinen Anspruch darauf erheben, mit dem zu korrespondieren, was ist. Er weiß demnach um den Unernst seines Tuns und die unendliche Anzahl möglicher Weltkonstruktionen und agiert gerade darin seiner Menschheit gemäß, daß er seine Endlichkeit nicht zu überschreiten sucht, indem er ein außersprachliches Wahrheitskriterium ernsthaft setzt oder anerkennt. Diese distanzierte und reflektierte Haltung zum eigenen Tun der Begriffsdichtung bzw. Weltkonstruktion, die sich allein im philosophischen Gebrauch der

Vgl. Friedrich G e o r g Jünger, Die Spiele. Ein Schlüssel zu ihrer Bedeutung, F r a n k f u r t / M . 1953, 118. Vgl. dazu: Günter Abel, Nietzsche, 346-349; u. Gilles Deleuze, Nietzsche, 3 I f f u. 3 8 f f ; die sich aber beide vor d e m Hintergrund des W i e d e r k u n f t s g e d a n k e n s auf die Kategorien von Zufall und Notwendigkeit konzentrieren, o h n e das Spielmaterial des Würfelspiels, die Begriffe nämlich, eigens zu thematisieren. 3 S. o. Kap. IV.2.a)ß). 2

2. Sprache und Welt als Spiel

161

Sprache äußern kann oder aber im nichtphilosophischen Verstummen 1 , dem die Distanz zur Negation gerät und sowohl den Verzicht auf die weltbildende Aktivität im Agon als auch damit auf die Aufklärung Uber deren Status bedeutete, ist dem Philosophen eigentümlich 2 : „Ist es dann nicht erlaubt, gegen Subjekt, wie gegen Prädikat und Objekt, nachgerade ein wenig ironisch zu sein? Dürfte sich nicht der Philosoph über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben?" 3 Ebensowenig wie im Falle des platonischen Sokrates ist aber diese Ironie Ausfluß oder Zeichen von Verzweiflung 4 , sondern der Intellekt feiert sich hierbei in seiner eigenen Funktion der ästhetischen Täuschung mit „schöpferischem Behagen" selber 5 : „nie ist er üppiger, reicher, stolzer, gewandter und verwegener." Diesen optimalen Zustand erreicht er nur, indem er in gezeigter Weise spielt. Dies tut er aber nur dann, wenn er weiß, daß er spielt. Der Philosoph ist gerade dadurch Philosoph, daß er nicht nur Welt durch von ihm neu- oder umgeschaffene Begriffe konstruiert und insofern spielt, sondern auch um die Spielhaftigkeit seines Tuns weiß und daran Lust empfindet, wie dies bei stets durch die Not erzwungener Arbeit nicht möglich ist.

ß) Jenseits von M e t a p h y s i k und Relativismus: D e r s c h ö n e W e l t e n t w u r f d e r P h i l o s o p h i e

Nun sieht es freilich auf den ersten Blick so aus, als ob wenigstens unter den philosophischen Weltentwürfen vollständiger Relativismus herrsche, da der Begriff der Wahrheit als diesbezügliches Entscheidungskriterium ausfällt. Nietzsche gibt jedoch sehr wohl ein solches Kriterium an, das zugleich dazu taugt, den eigentlichen Philosophen, der freilich höchst selten ist, vom ehrbaren philosophischen Arbeiter zu scheiden 6 . Es ist die Schönheit, die nunmehr über den Wert einer Weltkonstruktion entscheidet. 7 Bei der nun folgenden abschließenden Erörterung von Nietzsches Auffassung von Schönheit, die sich auf den formalen Bezug von Spiel, Sprache und Philosophie beschränkt, ist wiederum insbesondere auf deren Nähe zu den Konzeptionen Piatons bzw. Kants zu achten, um den Schritt zu erkennen, den Nietzsche mit seinem Entwurf einer Philosophie des Freien Geistes darüber hinaus zu tun versucht. Es ist dazu vorausschickend zu erinnern, daß Schönheit f ü r Nietzsche immer notwendig an Kunst im Sinne von Poiesis gebunden ist, da es so etwas wie Natur als

Dies analysiert für die Figur des Zarathustra, der „die G r e n z e der Sprache () als Schweigen" vernehmbar macht und nicht m e h r als Philosoph im hier erörterten Sinne gelten kann, Barbara N a u m a n n , Nietzsches Sprache „aus der Natur". Ansätze zu einer Sprachtheorie in den frühen Schriften und ihre metaphorische Einlösung in „Also sprach Zarathustra", in: Nietzsche-Studien 14 (1985), 126-163, hier 147. 1 Diese Haltung erörtert Sabrina E b b e r s m e y e r anhand von Nietzsches G e b r a u c h der T r o b a d o r - bzw. M i n n e s ä n g e r - M e t a p h o r i k : Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis". Zur erkenntnistheoretischen Metaphorik in den Schriften Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 24 (1995), 17-44. 3 Jenseits von Gut und Böse, Aph. 34, KSA V, 54. 4 Dies scheint Rainer T h u r n h e r zu insinuieren, wenn er resümiert, daß die „ V e r f r e m d u n g der Sprache die letzte Möglichkeit zu sein (scheint), mit der sich der durch die Sprache e n t f r e m d e t e a u t o n o m e Intellekt an der Sprache selbst rächt": Sprache und Welt bei Friedrich Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 9 (1980), 38-60, hier 59f. 5 6 7

Vgl. Ernst Behler, Nietzsches Auffassung der Ironie, in: Nietzsche-Studien 4 (1975), 1-35. Vgl. Jenseits von Gut und Böse, Aph. 211, KSA V, 144f. Vgl. Nachlaß, K S A VII, 434, 19[47], u. 444, 19[76],

162

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

Etwas unabhängig von uns außerhalb der Sprache Bestehendes schlechthin nicht gibt, sofern es uns angehen soll. Jedes Verfügen über Welt ist ja bereits eine Zurechtmachung in den Formen der Sprache: Die Natur selbst ist vollständig form- und gestaltlos 1 , sie ist nichts Seiendes im statischen Verständnis und absolut vom sich seiner selbst bewußten Menschen geschieden, da jeder Ausgriff auf sie - sei es im bloßen Empfinden, sei es im erkennenwollenden Sich-Richten auf sie - schon eine metaphorische Überspringung, mithin eine gattungsgeschichtlich bedingte Zurechtmachung darstellt. Kunst ist deswegen in einer wesentlich umfassenderen, nämlich universalen Bedeutung verstanden, als der umgangssprachliche bzw. neuzeitliche Sprachgebrauch vermuten läßt, der immer irgendwie auf einen besonderen, von anderen wohlunterschiedenen Daseinsbereich verweist, auf den Kunst beschränkt sei. Dies ist aber nicht der Fall, wenn alles, was den Menschen irgend angeht, von diesem erst hervorgebracht wird, wie Nietzsche zu betonen nicht müde wird. Diese Hervorbringungen nennt Nietzsche in der Wendung gegen den überkommenen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff „Illusionen", „Irrthümer" oder „Schein". Sie sind sprachlich verfaßt und bilden das, was wir „Welt" nennen. Damit wird die nach Nietzsche typisch metaphysische Disjunktion zwischen wahrer bzw. seiender und scheinbarer bzw. werdender, sinnlicher, nichtseiender o. ä. Welt aufgelöst. Zwischen solchen oder anderen verschiedenen Welten gibt es nur noch graduelle Abstufungen nach Maßgabe der Schönheit ihrer Konstruktion. Kunst ist damit nach Nietzsche wesenhaft sprachliche Poiesis, d. h. ganz allgemein verstanden das Hervorbringen von irgendwie geordneten Ganzheiten. Die Regularität und Ordnung dieses Schaffens kann sich dabei nicht in nachahmender, sich annähernder oder ähnlicher Weise auf etwas außerhalb seiner richten und vermag somit gar nie bewußt Seiendes werkhaft zu repräsentieren. Aus dieser Perspektive zeigt sich nun, daß Nietzsche schlicht nichts anderes übrigbleibt, als über die frühe Absicht einer bloßen Umdrehung des Piatonismus hinauszugehen. Er bestimmt sie wie folgt: „je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist." 2 Bei der Interpretation dieses berühmten frühen Nachlaßfragments sind zwei entgegengesetzte Deutungen philosophisches Gemeingut geworden, die vereinfachend ontologische und sprachkritische genannt werden können. Beider Differenz wie auch beider Unzulänglichkeit erweist sich an ihrem Verständnis der Wendung „wahrhaft Seiendes". Die ontologische Interpretation faßt Nietzsches Notiz inhaltlich wohlbestimmt auf, dergestalt daß Nietzsche hier eine wahre Aussage Uber das Seiende im Ganzen zu machen sucht, die sich umdrehend auf die entsprechende Piatons bezieht. Wenn die Metaphysik „die Wahrheit des Seienden als eines solchen im Ganzen" 3 aussagt, dann betriebe auch Nietzsche Metaphysik. Seine Bemerkung würde dann indirekt unter Beanspruchung des korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffes die Beschaffenheit des Seienden im Ganzen nennen, mithin eine Aussage machen über das, was in Wahrheit unabhängig vom Menschen und seiner Sprache ist. Diese 1

Vgl. Nachlaß, KSA VII, 462, 19[ 133], u. 465, 19[144]. Ebd., 199, 7[156]. 3 Martin Heidegger, Nietzsche II, 257. Eine ausführliche Kritik an Heideggers Deutung kann und soll hier nicht geleistet werden, da dies eine Auseinandersetzung mit der heideggerschen Philosophie selbst erfordern würde, was eine eigene Arbeit notwendig machte. Zumal Heideggers Werk keineswegs im engeren Sinne als Nietzsche-Interpretation gelesen werden sollte. Hierzu sei zum einen auf Heideggers Antwort auf schulmäßige Kritik an seiner Kant-Interpretation verwiesen, die besagte, daß diese vielleicht kein guter Kant, aber ausgezeichneter Heidegger sei (Alan D. Schrift, Nietzsche, 14), und zum anderen auf die Vielzahl von Studien, die sich mit Heideggers Nietzsche-Lektüre beschäftigen: vgl. hierzu Ernst Behler, Derrida - Nietzsche, u. Alan D. Schrift, Nietzsche, die die ausgedehnte Diskussion zusammenzufassen suchen. 2

2. Sprache und Welt als Spiel

163

besagte dann, daß im Gegensatz zum Piatonismus - es ist zu bemerken, daß Nietzsche hier nicht Piaton nennt - nicht das Übersinnliche, sondern das Sinnliche das Wahre sei, mithin also dasjenige, was Piaton das Nicht-Seiende bzw. das Werdende nennt. Dabei bliebe Nietzsche „die mit dem Piatonismus gemeinsame Überzeugung als selbstverständlich [sie!] erhalten, daß die Wahrheit, d. h. das wahrhaft Seiende, auf dem Wege des Erkennens gesichert werden muß." 1 Nietzsche verfügte dann über eine „absolute Seinsthese" 2 , wie dies Margot Fleischer im Anschluß an Heidegger nennt. Diese These ließe sich knapp so formulieren: „Das, was in Wahrheit ist, ist Werden." Nietzsche verträte demnach als absolute Seinsthese eine bestimmte Interpretation der Philosophie Heraklits. Daß er dies in der Tat in gewisser, hochreflektierter Weise tut, wurde bereits gezeigt. Wenn man nun die Forderung nach größtmöglichem Abstand zum wahrhaft Seienden genauso ernstnimmt, wie die Rede vom umgedrehten Piatonismus, die sie expliziert, indem sie die Konsequenzen der sogenannten absoluten Seinsthese nennt, gelangt man zu einem eigentümlichen Paradoxon: Wenn nämlich das Seiende im Ganzen in Wahrheit Werden bzw. Nicht-Seiendes ist, dann läge der größte Abstand davon in einer völligen Fixierung und Feststellung ebendieses Werdens, mit anderen Worten: Eine entsprechende Philosophie müßte selbst Piatonismus sein, um dem Nicht-Seienden beständig Seiendes entgegensetzen zu können, und ein geschlossenes System darstellen, um dies in seinem Bestand vor dem Andrang des Werdens sichern zu können. Dabei wird freilich der Hinweis nötig, daß es Nietzsche nicht möglich war - sei es wegen des zu früh ausbrechenden Wahnsinns 3 , sei es schlicht aus Unvermögen 4 - , dies System selbst noch zu schaffen, so daß die Rekonstruktion von Nietzsches Philosophie als System als Vorgabe jeder Interpretation verpflichtend wird. Bei dessen Konstruktion dürfte nicht mehr auf übersinnliche Instanzen, die außerhalb des menschlichen Bereiches lägen, zugunsten des Werdenden, das dann irgendwie als Seiendes eingeholt werden müßte, zurückgegriffen werden. Dies aber wäre nur einer Metaphysik des radikalen Subjektivismus möglich, der die Festsetzung des Bestehenden gegen das Wahre ganz der Macht des allein auf sich gestellten und absolut gesetzten Subjekts anheimgibt. Gerade eine solche Interpretation von Nietzsches Denken, genauer: der späten Nachlaßfragmente, als doppelten Gipfel der abendländischen Metaphysik wie des Subjektivismus gibt Heidegger. Aus der Perspektive der vorliegenden Arbeit ist jedoch offenkundig, daß bei einer derartigen Interpretation, für die die heideggersche nur das paradigmatische Modell gibt, weswegen sie auch hier kurz herangezogen wurde, die herausgearbeiteten Aspekte der Sprach- bzw. Erkenntniskritik und die Destruktion des korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffes wie auch Nietzsches Verständnis von Philosophie als bewußtem Spiel ignoriert werden müssen, da sie sich in die Konstruktion eines metaphysischen Systems mit absolutem Wahrheitsanspruch kaum integrieren lassen. Ebenso muß eine solche Auslegung ignorieren, daß Nietzsche den

2 3

Martin Heidegger, Nietzsche /, 188. Vgl. Margot Fleischer, Sinn, etwa 133ff.

Vgl. ζ. B. Martin Heidegger, Nietzsche /, 17 u. ö. Diese These vertritt Edmund Heller, Nietzsches Scheitern am Werk, Freiburg/München 1989, für den Nietzsche in „der Meinung, ein haltbares ohnehin nicht zustande bringen zu können" (125), konsequenterweise auf die Schaffung eines eigenen Werkes gleich verzichtet - wobei es den Anschein hat, als würde Heller „Werk" und „System" identifizieren. Die weiterführende These Hellers, daß Nietzsches Oeuvre insgesamt Nachlaßcharakter habe (vgl. 111), scheint schon aufgrund der unbestreitbaren Ausgefeiltheit der publizierten Schriften überzogen. 4

164

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

Anspruch auf die Aussage einer metaphysischen Wahrheit gar nicht erhebt, sondern mehrfach „absolute Seinsthesen" und dergleichen als dogmatisch und unwahrhaftig abweist 1 . Die hier sogenannte sprachkritische Interpretation hingegen zeichnet sich durch die Inanspruchnahme einer weiteren Radikalisierung der genannten Kritikpunkte Nietzsches aus, scheint aber dafür den ebenfalls aufgewiesenen konstruktiven Anspruch von Nietzsches Philosophie aufgeben zu müssen, den die ontologisch-systematische Deutung unziemlich übertont hatte. Die sprachkritische Interpretation, die insbesondere dem Umfeld des Strukturalismus zuzurechnen ist, begreift von einem linguistisch-psychoanalytischen Hintergrund aus die Rede vom „wahrhaft Seienden" von vorneherein als metaphysische Setzung, die der Struktur der Sprache selbst entspringt. Durch ihre Verpflichtung auf den fiktiven Begriff der Einheit im Satz bzw. im Satzzusammenhang des Textes suggeriert sie unberechtigt Ganzheit, w o nur Diskontinuität und Fragment ist 2 . Jegliche sprachliche Mitteilung, die den elementaren Ansprüchen von Sinn wenigstens die intendierte Möglichkeit des Sich-Beziehens auf etwas und Widerspruchsfreiheit - genügt, steht demnach immer schon unter Metaphysik- bzw. Ideologieverdacht. Nietzsches Philosophie bzw. seine Texte erfüllten sich dann ausschließlich in „einer beständigen sprachlichen Destruktion des Sinnes" 3 . Ihre Interpretation dürfte sich demnach auch nicht auf einen bestimmten zusammenhängenden Sinn einlassen, um nicht selber unter den genannten Verdacht zu geraten. Deswegen kann es auch keine eigentlich strukturalen Interpretationen Nietzsches geben: „die strukturalistischen Theorien sind programmatische Theorien, deren Programm kaum ausgeführt ist." 4 Dieses Paradoxon zeugt von Konsequenz: Wenn nämlich der programmatischen Forderung nach größtmöglicher Entfernung vom wahrhaft Seienden genügt werden soll und dies mit einer bestimmten Sprachform, nämlich der Verfassung zusammenhängender sinnhaltiger Texte identifiziert wird, ohne neuartige Schreibweisen aufgefunden zu haben 5 , dann ist genau vom Verfassen sinnhaltiger und zusammenhängender Texte Abstand zu nehmen. Nietzsches Bemerkung wird damit - freilich im Ausgang von einer sehr spezifischen Interpretation von de Saussures Sprachtheorie - zu einer als absolut bindend angenommenen Schreibanweisung, die letztlich entweder zum Verstummen oder zur Produktion vollständig hermetischer Texte oder zur Produktion von Unsinn führen müßte, sofern solches überhaupt bewußt möglich ist. Es dürfte sich auch nach diesen zugegebenermaßen knappen Kritikversuchen gezeigt haben, daß beide Interpretationsrichtungen zumindest Nietzsches Verständnis des Philosophierens verfehlen, indem sie j e eine der beiden das philosophische Spiel konstituierenden Tätigkeiten verabsolutieren. Damit verfehlen auch beide Nietzsches Konzept der Philosophie als Spiel, weil die ontologische Auslegung seine Philosophie von vorneherein auf Metaphysik festlegt und ihr dann als solcher den Ernst objektiven Wahrheitsanspruches unterschiebt, und die sprachkritische Interpretation der philosophierenden Tätigkeit, die ohnehin keinen Zweck außer sich haben kann, sogar noch ihre immanente Zweckmäßigkeit entzieht, so daß man zugespitzt sagen könnte: Sie wäre dann nicht nur kein Spiel, sondern schlicht nichts, da sie jeden Weltentwurf als solchen schon ohne jede Unterscheidung negieren muß.

1

Vgl. ζ. B. Ueber Wahrheit und Lüge, KS A I, 880. Vgl. M a u r i c e Blanchot, Entretien, 227-255. 3 Eric Blondel, Nutzen, 525. 4 Ebd., 532. 5 Solches versuchen paradigmatisch zumindest: Maurice Blanchot, Entretien-, Jacques Derrida, Eperons, les styles de Nietzsche, Paris 1978; und Pierre Klossowski, Nietzsche et le cercle vicieux, Paris ' 1 9 6 9 . 2

165

2. Sprache und W e l t als Spiel

G a n z im Gegenteil ist f ü r Nietzsche Philosophie aber W e l t k o n s t r u k t i o n , die ihre bereits a u f g e w i e s e n e n V o r a u s s e t z u n g e n reflektiert und s o l c h e r m a ß e n Spiel sein kann. Sie e r s c h ö p f t sich j e d o c h nicht in der aus der Kritik entspringenden Exposition neu- oder u m g e s c h a f f e n e r Begriffe: Sie m u ß auch „zu ihnen überreden" 1 . Hierzu m u ß sie S c h ö n h e i t besitzen, d a dies j a das von Nietzsche g e g e b e n e Wertungskriterium f ü r P h i l o s o p h i e darstellt, dessen

angekündigte

Erörterung nun erst a u s g e f ü h r t werden kann. E b e n s o wie Piaton und Kant bestimmt Nietzsche das S c h ö n e von seiner W i r k u n g auf d e n j e n i gen her, d e m es b e g e g n e t oder widerfährt, wobei es f ü r diesen begrifflich u n b e s t i m m b a r bleibt. Dabei m ü n d e t Nietzsches P h i l o s o p h i e schon w e g e n ihres universalen K u n s t b e g r i f f e s j e d o c h keinesfalls in einen wie i m m e r gearteten Ästhetizismus im neuzeitlichen Sinne 2 ,

welchen

N i e t z s c h e im Gegenteil m e h r f a c h als d e k a d e n t qualifiziert. N i e t z s c h e b e s t i m m t die W i r k u n g des Schönen b e s o n d e r s prägnant aus ihrem Gegenteil heraus, w e n n er sich in einer an Wahrheit

Ueber

und Lüge anschließenden Notiz aus d e m späten N a c h l a ß der W i r k u n g des H ä ß l i c h e n

z u w e n d e t , w o b e i hier wie so o f t die R e d e von Kunst s y n o n y m mit S c h ö n h e i t zu verstehen ist: „Alle Kunst wirkt tonisch, mehrt die Kraft, entzündet die Lust (d. h. das Gefühl der Kraft) (...) Das Häßliche wirkt depressiv, es ist der Ausdruck einer Depression. Es nimmt Kraft, es verarmt, es drückt... (...) das Häßliche hinkt, das Häßliche stolpert: - Gegensatz einer göttlichen Leichtfertigkeit des Tanzenden...Der aesthetische Zustand hat einen Überreichthum von Mittheilungsmitteln, zugleich mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen. Er ist der Höhepunkt der Mittheilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen, - er ist die Quelle der Sprachen. (...) Jede reife Kunst hat eine Fülle Convention zur Grundlage: insofern sie Sprache ist. Die Convention ist die Bedingung der großen Kunst, nicht deren Verhinderung... " 3 D a s S c h ö n e entspringt also nicht nur aus d e m ästhetischen Z u s t a n d , der j a bereits als freies Spiel des Intellekts unter der Anleitung der Phantasie in den Grenzen der S p r a c h e dargetan wurde, es ruft ihn auch hervor 4 . Er wird als Lust e m p f u n d e n , d. h. als Intensivierung der Lebensintensität im Sinne des G e f ü h l s von Kraft. Dies u m f a ß t sowohl die p h y s i o l o g i s c h e n als auch

die

intellektuellen V e r m ö g e n des M e n s c h e n , drückt sich j e d o c h hauptsächlich durch letztere aus, die stets

auf

den

Bereich

der

Sprache

bezogen

sind,

nämlich

in

Mitteilungs-

und

A u f n a h m e f ä h i g k e i t . Deren Mächtigkeit erweist sich wie gezeigt ursprünglich und beständig in der

verklärenden

Formung

des

andrängenden

Chaos

von

Reizen

bzw.

der

ungeordnet

fluktuierenden W i l l e n - z u r - M a c h t - Q u a n t e n 5 zu Welt. D i e s e B e w ä l t i g u n g s - u n d O r d n u n g s l e i s t u n g m a c h t f ü r N i e t z s c h e das W e s e n des Schönen aus 6 , so d a ß einer j e d e n W e l t k o n s t r u k t i o n als solcher bereits Schönheit zuzusprechen ist. D i e s e ist nun f ü r Nietzsche w e n i g e r in der D i c h t u n g als vielmehr in der P h i l o s o p h i e zu verorten, die b e w u ß t und u n g e h i n d e r t auf die g a n z e Fülle der S p r a c h k o n v e n t i o n e n zurückgreifen kann.

1

Nachlaß, KSA XI, 487, 34[195], Dies ist die These von Alexander Nehamas, Nietzsche: Life as Literature, Cambridge/Mass. 1985, 3 u. ö.; neben dem hier Vorgebrachten vgl. dg. Bernd Magnus/Stanley Stewart/Jean-Pierre Mileur, Nietzsche's Case. Philosophy as/and Literature, NewYork/London 1993, 135ff. 3 Nachlaß, KSA XIII, 296f, 14[119], 4 Darauf verweist auch Michel Haar, The Play of Nietzsche in Derrida (transl. by Will McNeill), in: David Wood (ed.), Derrida: A Critical Reader, Oxford/Cambridge/Mass. 1992, 52-71, hier 57ff. 5 Vgl. dazu generell: Günter Abel, Nietzsche, u. Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Nietzsche-Studien 3 (1974), 1-60. 6 Vgl. Georg Picht, Nietzsche, 201. 2

166

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

Die Schönheit der philosophischen Weltentwürfe kann nun offensichtlich nach dem Grad ihrer Wirkung hierarchisiert werden. Dieser ist von der Form ihrer Mitteilung abhängig, die ja wie gezeigt ein Indikator für die Vorhandenheit des ästhetischen Zustandes beim Philosophierenden selbst ist, mithin auch der Schönheit des Mitgeteilten. Nietzsche unterscheidet zwei verschiedene Mitteilungsformen einer „gefundenen Wahrheit", d. h. eines in sich stimmigen sprachlichen Weltentwurfes: „Man kann sie nun doppelt mittheilen: in ihren Wirkungen, so daß die Anderen durch sie rückwärts von dem Werthe des Fundamentes überzeugt sind. Oder durch Beweisen der Entstehung und logischen Verflechtung von lauter sichern und bereits erkannten Wahrheiten. Die Verflechtung besteht im richtigen Unterordnen spezieller Fälle unter allgemeine Sätze - ist ein reines Rubriziren." 1 Die Mitteilung der Wirkung des Entwurfs im ersten Fall entspricht der Versetzung des Hörers oder Lesers in den ästhetischen Zustand, dessen Bewirkung das einzige tragfähige Kriterium für den Wert von Weltkonstruktionen ist: Er bewertet nicht ihre Wahrheit, sondern die Wirkung, die sie auf ihn ausübt. Man könnte geradezu sagen, er fälle im kantischen Sinne dabei ein ästhetisches Urteil. Phantasie und Intellekt werden in die beschriebene Aktivität versetzt und wirken ergänzend und fortführend auf den vorgelegten Entwurf, der gerade wegen dieser Möglichkeit seinen Wert gewinnt. Dieser Effekt scheint im zweiten Fall zu fehlen, da eine strikte Bindung an die Architektonik des Mitgeteilten besteht, das nur reproduziert werden kann und in sich völlig geschlossen anmutet, so daß die Regeln des philosophischen Spieles verpflichtend vorgegeben sind. Zweifellos tragen jene systematischen Begriffsverflechtungen das architektonische Gepräge „unendlich complicirter Begriffsdome", die von sich aus keinerlei Raum für das destruierende und konstruierende Spiel der Philosophie bieten. Ja solche Systeme unterbinden dies sogar mit ihrem autoritären Anspruch auf absolute Wahrheit, wie auch der Dom die Wohnung Gottes auf Erden zu sein beansprucht. 2 Das begriffliche Spielen ist hier nur innerhalb der als bindend anerkannten strikten Bauregeln möglich, insofern kommt es nur zu einer den vorgegebenen Bau und die Tätigkeit selbst affirmierenden unentwegten Rekonstruktion. Wird aber dieser Wahrheitsanspruch nicht nur als Spielregel anerkannt sondern geglaubt, endet mit dem Bewußtsein zu spielen auch das Spiel selbst. Angestoßen durch die demonstrierende und abgeschlossene Mitteilungsform des Systems kann sich dessen Rezipient von eigenständiger Kritik und originärem Entwurf von Regeln, d. h. Begriffen, entlasten. Er gewinnt damit zwar an Sicherheit hinsichtlich seiner Auffassung über die Beschaffenheit der Welt und seinem eigenen Tun, verfehlt damit aber den Begriff der Philosophie völlig, da er, von Ernst, Wahrheit und Wert seines Tuns überzeugt, sich zum bloßen Arbeiter macht, dessen zweckgebundene Tätigkeit - hier die Sicherung vorgegebener Wahrheit zur Erhaltung der bestehenden Weltkonstruktion durch vorgegebene Weisen des Erkenntnisgewinns - von einer grundsätzlichen Passivität ist, während Philosophie einen wesentlich aggressiven und agonalen Impetus besitzt. Daraus erhellt, daß die Perversion der Philosophie nicht im Entwurf von Systemen liegt, sondern vielmehr im Glauben an deren Wahrheit bzw. in ihrer kritiklosen Akzeptanz aus Sicherheitserwägungen. In beiden Fällen besteht eine fundamentale Täuschung über die menschlichen Erkenntnismöglichkeiten, deren sogenanntes Transzendieren für Nietzsche nichts weiter als ein geschicktes, feingesponnenes und nachgerade notwendiges

' 2

Nachlaß, KS A VII, 498, 19[251]. Vgl. Sarah K o f m a n , Nietzsche, 99f.

2. Sprache und W e l t als Spiel

167

H i n z u g e l o g e n e s ist 1 , dies aber nach d e m Prinzip: „ W o man nichts W a h r e s wissen kann, ist die L ü g e erlaubt." 2

γ) D a s Spiel der Philosophie

U n v e r s e h e n s wandelt sich damit vor d e m Hintergrund der W i r k u n g von P h i l o s o p h i e die Frage nach ihrem durch ihre S c h ö n h e i t beurteilbaren W e r t zur Frage nach ihrer Darstellungsweise. Dies ist n u r konsequent: D a Nietzsche davon ausgeht, daß wir über „ W e l t " als Inbegriff aller möglichen E r f a h r u n g und damit als Inbegriff „alle(r) unsere(r) n o t h w e n d i g e n U n w i s s e n h e i t e n " 3 ausschließlich in und durch Sprache v e r f ü g e n , kann eine P h i l o s o p h i e ü b e r h a u p t nur ihre Darstellung in der Sprache sein. Nietzsche weist auf die zu f i n d e n d e F o r m hin, w e n n er schreibt: „Es gehört eine ganz verschiedene K r a f t und B e w e g l i c h k e i t dazu, in e i n e m unvollendeten System, mit freien u n a b g e s c h l o s s e n e n Aussichten, sich festzuhalten: als in einer

dogmatischen

Welt."4 Drei B e d i n g u n g e n f ü r eine solche P h i l o s o p h i e nennt N i e t z s c h e hier: Z u m ersten Logizität, die ein System, auch ein unvollendetes, überhaupt erst ermöglicht und das damit

verbundene

Streben nach Einheit; z u m zweiten Unvollendetheit, d. h. ein Innehalten vor der V e r w i r k l i c h u n g dieser Einheit, die zugleich eine F e s t l e g u n g des Systems auf eine eindeutige A u s s a g e bzw. Wahrheit bedeutete, so daß nur durch eine solche im W e r d e n b e g r i f f e n e Einheit die M ö g l i c h k e i t einer

Vielzahl

von

Wahrheitsentwürfen

gegeben

wird;

zum

dritten

schließlich,

daran

anschließend, die Nichtfestgelegtheit dieser Einheitsperspektiven u n d deren U n v o r h e r s a g b a r k e i t . Ein solches o f f e n e s System, das zwar den R e g e l u n g e n der Sprache folgt u n d der N o t w e n d i g k e i t zur W e l t h a f t i g k e i t genügt, bietet aber d e n n o c h keine eindeutige, d. h. vollständig b e s t i m m t e oder g e m ä ß seinen Regeln eindeutig zu rekonstruierende W e l t dar. E s ist der „ d o g m a t i s c h e n W e l t " entgegengesetzt, die genau eine d u r c h g ä n g i g festgelegte u n d alternativlos A n s p r u c h auf W a h r h e i t e r h e b e n d e W e l t ist. N i e t z s c h e scheint also der A u f f a s s u n g zu sein, daß d i e R e f l e x i o n auf den U n e r n s t des eigenen T u n s , die den wahren P h i l o s o p h e n auszeichnet, also dessen B e w u ß t s e i n , ein Spiel zu spielen, tatsächlich durch die literarische D a r s t e l l u n g s f o r m mitteilen oder w e n i g s t e n s anzeigen läßt. Es ist offensichtlich, daß f ü r eine solche Darstellung die kalkulierte E r r e i c h u n g von M e h r d e u t i g k e i t wesentlich sein muß, die gleichwohl nicht in vollständige P o l y s e m i e oder die b l o ß e Negation von Sinn getrieben sein darf, sondern eben eine Vielzahl von W e l t k o n s t r u k t i o n s m ö g l i c h k e i t e n , d. h. Interpretationen im nietzscheschen Sinne, darbietet. W a s sich N i e t z s c h e darunter vorstellen k ö n n t e - denn freilich ist eine eigene P h i l o s o p h i e nur dann eine solche, w e n n sie auch ihre originäre D a r s t e l l u n g s f o r m findet - illustriert er durch das Beispiel L a u r e n c e Sternes, dessen

Als Beispiel dafür gelten Nietzsche etwa synthetische Urteile a priori: vgl. Jenseits von Gut und Böse, Aph. 11, KSA V, 24ff. 2 Nachlaß, KSA VII, 452, 19[97], 3 Nachlaß, KSA XII, 237, 6[10], 4 Nachlaß, KSA XI, 429, 34[24],

168

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

„scheinbar freie(), in Wirklichkeit aber höchst durchdachte() Tollheit ( . . . ) jede umzustürzen scheint"':

Regel

„Der freieste Schriftsteller. - W i e d ü r f t e in einem Buch für freie Geister L o r e n z Sterne u n g e n a n n t bleiben, er, den G o e t h e als den freiesten Geist seines Jahrhunderts geehrt hat! M ö g e er hier mit der Ehre fürlieb n e h m e n , der freieste Schriftsteller aller Zeiten genannt zu werden, in Vergleich mit w e l c h e m alle Andern steif vierschrötig, unduldsam und bäurisch-geradezu erscheinen. An ihm d ü r f t e nicht die geschlossene, klare sondern die ' u n e n d l i c h e M e l o d i e ' g e r ü h m t werden: w e n n mit diesem W o r t e ein Stil der Kunst zu einem N a m e n kommt, bei d e m die b e s t i m m t e F o r m f o r t w ä h r e n d gebrochen, verschoben, in das U n b e s t i m m t e zurückübersetzt wird, so dass sie das Eine und zugleich das A n d e r e bedeutet. Sterne ist der grosse Meister der Zweideutigkeit, - diess W o r t billigerweise viel weiter g e n o m m e n als m a n gemeinhin thut, w e n n m a n dabei an geschlechtliche B e z i e h u n g e n denkt. Der Leser ist verloren zu geben, der jederzeit genau wissen will, was Sterne eigentlich über eine Sache denkt, ob er bei ihr ein ernsthaftes oder ein lächelndes Gesicht macht: denn er versteht sich auf Beides in Einer Faltung seines Gesichtes; er versteht es e b e n f a l l s und will es sogar, zugleich Recht und Unrecht zu verknäueln. Seine A b s c h w e i f u n g e n sind zugleich Forterzählungen und W e i t e r e n t w i c k l u n g e n der Geschichte; seine Sentenzen enthalten zugleich eine Ironie auf alles Sentenziöse, sein Widerwille gegen das Ernsthafte ist e i n e m H a n g e a n g e k n ü p f t , keine Sache nur flach und äusserlich n e h m e n zu können. So bringt er bei d e m rechten Leser ein G e f ü h l von Unsicherheit darüber hervor, ob m a n gehe, stehe oder liege: ein G e f ü h l , w e l c h e s d e m des S c h w e b e n s am verwandtesten ist." 2

Nietzsche beschreibt indes hier nicht nur den Personalstil des freien Geistes Sterne und seine Mittel, die den ästhetischen Zustand beim rechten, philologischen Leser 3 als lustvolles Gefühl der Unsicherheit - also als genaues Gegenteil des affirmierenden Systematismus - bewirken, sondern auch und vor allem dasjenige, was er in der Götzen-Dämmerung und an vielen anderen Stellen die „Meisterschaft" des Denkens bzw. des Philosophierens nennt: „Tanzenkönnen mit den Füssen, mit den Begriffen, mit den Worten; habe ich noch zu sagen, dass man es auch mit der Feder können muss, - dass man schreiben lernen muss?" 4 In der offenen, vielwendigen Mitteilungsweise, die für ihn notwendige Bedingung für den Philosophen - nicht aber für den philosophischen Arbeiter - ist, fügt Nietzsche seiner Bestimmung der Philosophie als Spiel noch ein letztes Merkmal hinzu: Es ist der Charakter des Wagnisses, der die Zurückweisung der bloß rekonstruierenden Interpretationshaltung zugunsten der aktiven Interpretation als „bewußte(r) Auswechselung von Perspektiven" 5 enthält. Das Wagnis besteht darin, die Destruktion des korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffes nicht dogmatisch mitteilen zu wollen noch zu können, um nicht in einen Selbstwiderspruch zu geraten. U m dies zu vermeiden, betont Nietzsche immer wieder den Interpretationscharakter auch seines Philosophierens und geht statt dessen von einer innersprachlichen bzw. -interpretatorischen Zirkularität des Denkens 6 aus. Indes kann dies freilich nur bestritten werden,

Vivetta Vivarelli, Nietzsche und die Masken des freien Geistes: Montaigne, Pascal, Sterne, W ü r z b u r g 1998,27. 2 Menschliches, Allzumenschliches II, Aph. 113, KSA II, 424f. 3 Vgl. Morgenröthe. Vorrede, KSA III, 17. 4 Götzen-Dämmerung. Was den Deutschen abgeht, Aph. 7, KSA VI, S. 10. Vgl. d a z u : Michel Haar, Nietzsche, 20; u. ders., Nietzsche und die Sprache (aus d e m Franz. v. A n g e l i k a Schober), Manuskript 1994, 11-18, erschienen in M a n f r e d Riedel (Hg.), „Jedes Wort ist ein Vorurteil". Philologie und Philosophie in Nietzsches Denken, W e i m a r / B o n n / W i e n 1999, 63-75. 5 Ernst Behler, Nietzsche - Derrida, 97. 6 Vgl. Günter Abel, Nominalismus, 60ff.

169

2. Sprache und Welt als Spiel

wenn der Opponent selbst einen Standpunkt des Wissens oder wenigstens der Wißbarkeit objektiver Wahrheit außerhalb der Sprache annähme, so daß Nietzsches Theorie konsistent ist. 1 Nietzsche versucht nun infolgedessen, diesen Grundgedanken von seinen Konsequenzen her vorzuführen, so daß man ohne zu übertreiben sagen kann, daß unter allen Gegenständen, die seine Philosophie berührt, bei all' ihrer Heterogenität die stete Reflexion auf dieses Philosophieren selbst mitklingt. Damit wird dies freilich in einem eminenten Sinn esoterisch 2 was Nietzsche häufig betont - und provoziert damit geradezu vorsätzlich Mißverständnisse was Nietzsche noch häufiger betont. Die Gefährlichkeit dieses Philosophierens, deren geringstes es ist, daß der Autor einer vernünftigen Mitteilung unfähig erachtet wird, und deren äußerstes in der Verabsolutierung einzelner Aussagen unter Ansetzung des von Nietzsche zurückgewiesenen Wahrheitsbegriffes besteht, zeigt die Komplexität und die Schwierigkeiten an, in die konsequent nachmetaphysisches Denken gerät, das noch Denken und kein Rechnen noch ein Mystifizieren sein will. Nietzsche hat diesen Schwierigkeiten, die immer noch neuartig oder schlimmer: selbstverständlich erscheinen, Rechnung getragen, in dem er seine Philosophie und das Wesen der Philosophie überhaupt als Spiel auffaßt. Wie deutlich geworden sein dürfte, bedeutet dies jedoch keine relativistische Beliebigkeit im Sinne eines allumfassenden „anything goes". Solches beschränkt Nietzsches Begriff von Spiel, der in vorliegender Arbeit exponiert werden sollte. Er kann dann derart wirken, wenn er genau auf die transzendental verstandene Sprache bezogen wird und bleibt, die selber sowohl in ihrer Bildung und ihrem Gebrauch metaphorisches Spiel ist. Das Philosophieren steht dann gerade als Spiel in und mit der Sprache, als welches es nach Nietzsche allein möglich ist, auch unter strikten formalen Kriterien. Es ist agonal verfaßt und impliziert damit die kritisch-auflösende Wendung gegen bestehende Weltentwürfe, zum zweiten die konstruktive positive Leistung des „Hinstellens" eines eigenen Weltentwurfs, zum dritten die Zweckfreiheit dieser Tätigkeit außerhalb ihrer selbst und viertens deren Unabschließbarkeit. Die Weltkonstruktionen müssen den historisch gewordenen Regeln von Sprache, die zu ihrer Mitteilung nötig sind, entsprechen oder wenigstens sich irgend auf diese beziehen - gerade die Durchbrechung der „Fülle der Convention", aus der der Philosoph schöpfen kann, setzt j a die Beherrschung und Kenntlichmachung der durchbrochenen Konvention voraus. Diese Philosophie (alias „Weltconstruktion") muß wenigstens systematisierbar angelegt sein und die Bildung von Systemen gemäß ihrer begrifflichen Regeln erlauben, darf selbst jedoch kein in sich geschlossenes System im strengen Sinne der Vollständigkeit und Einheit darbieten, das Anspruch auf objektive Wahrheit erhöbe. Damit verfällt der Systematiker keineswegs vollständig der Verdammnis, da er die „ungeheure und wundervolle Aufgabe" bewältigt, „alles bisher Geschehene und Geschätzte übersichtlich, überdenklich, fasslich, handlich zu machen" 3 . Er hat als philosophischer Arbeiter wie der reine Kritiker nur keinen Anspruch auf den Titel des Philosophen, sondern liefert vielmehr dem spielenden Freien Geist Spielmaterial zu. Nachdem der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff mit der Radikalisierung der kantischen Erkenntniskritik destruiert wurde, kann Wahrheit in diesem Sinne auch nicht mehr als Bewertungskriterium philosophischer Weltentwürfe fungieren. Diese A u f g a b e weist Nietzsche deswegen der Schönheit zu. Er versteht sie wie Kant von ihrer Wirkung her, die in einer Steigerung der wesentlich menschlichen Verstandeskräfte Phantasie und Intellekt besteht und als

1 2 3

Vgl. Rüdiger H. Grimm, Nietzsche 's Theory, 65; u. Alan D. Schrift, Nietzsche, Vgl. Manfred Riedel, Umgang, 234f. Jenseits von Gut und Böse, Aph. 211, KS A V, 145.

183.

170

IV. Nietzsche: Philosophie als Spiel

Steigerung bzw. Intensivierung des Lebensgefühles lustvoll empfunden wird. Dieser ästhetische Zustand ist jedoch nicht kontemplativ, sondern produktiv als ursprüngliche weltbildende Tätigkeit zu verstehen, deren Spiel aller Kunst bzw. aller Poiesis zugrundeliegt, wie dies im übrigen auch im Falle der kantischen Theorie für Erkenntnis überhaupt gilt. Diese spielende Tätigkeit ist der Ursprung von Philosophie selbst, so daß es Nietzsches Philosophieren ebenso wie demjenigen Piatons darum geht, die Bewegung des Philosophierens selbst weiterzugeben, da hier wie dort Wahrheit nicht schlicht ausgesagt und gelernt werden kann. Beiden gilt deswegen das Philosophieren als Spiel, jedoch mit umgekehrter Begründung: Für Piaton, weil die außersprachlich für sich bestehende Wahrheit nicht mit Mitteln der Sprache erfaßt und ausgedrückt, sondern nur innerseelisch erschaut werden kann; für Nietzsche hingegen ist die Rede von einer irgendwie außersprachlich bestehenden Wahrheit widersinnig, weil wir sämtliche Gegenstände, Erfahrungen und die Welt selbst nur als Gegenstände, Erfahrungen und Welt in und durch sprachliche Funktionen haben, also so absolut von allem möglichen Außersprachlichen getrennt sind, daß wir darüber gar keine verifizierbaren oder falsifizierbaren Aussagen mit dem Anspruch objektiver Geltung machen können - Nietzsche bestreitet ja weder die Existenz von etwas überhaupt, sondern nur dessen Existenz als Etwas oder als dieses oder jenes, noch behauptet er die objektive Falschheit des korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffes, sondern nur daß für diesen kein außersprachliches Überprüfungskriterium gewonnen werden kann, womit er ihm den Boden entzieht. Um solche mit der objektiven Wahrheitsanspruch erhebenden eindeutigen, propositionalen Aussage verbundene Dogmatik zu vermeiden, wählen sowohl Nietzsche als auch Piaton eine Schreibweise, die zwar klar aber notwendig mehrdeutig ist und auch vor Widersprüchlichkeiten nicht zurückschreckt, um so anzuzeigen und vorzuführen, daß dieses Philosophieren seine Tätigkeit und seine Möglichkeiten reflektiert und sich demzufolge als Spiel versteht. Und ebenfalls wie Piaton und Kant denkt Nietzsche die Auslösung dieses ästhetischen Zustandes als Geschehen, das sowohl dem Einfluß des Urhebers des Schönen als auch dem Rezipienten entzogen ist, weswegen es in seinem Charakter als Widerfahrnis gar nicht sinnvoll als Zweck angestrebt werden kann, obschon der Autor des philosophischen Weltentwurfs sein Eintreten durch seine Schreibweise immerhin befördern kann. Diese komplexe und recht bescheiden anmutende Auffassung von Philosophie, oder wenn man so möchte: diese Metaphilosophie, entwickelt Nietzsche unter Aufnahme platonischer und kantischer Tendenzen, die sich jeweils ebenfalls am Begriff des Spieles zeigten, und vor dem Hintergrund der frühgriechischen Reflexion auf Spiel und Welt, die Heraklits Fragment Β 52 ausspricht. Dies sei nun noch einmal - vielleicht in Nietzsches Sinne - sehr frei paraphrasiert: „Der je endliche Weltbau ist eines Spielenden, der mit Sprache Welten zerstört und nach selbst gesetzten Regeln für sich neu aufbaut, der die Regeln mitteilt und nach ihnen zu spielen einladet. Der Philosoph ist der alleinige Weltenschöpfer."

Schlußbemerkung: Spiel und Praxis

Bedeutet nun aber ein solches, ebenso kritisches wie poietisches, spielendes Philosophieren, wie es nach Nietzsche allein für redlich gelten kann, nicht eine gänzlich zweckfreie, wenn nicht gar zwecklose, Beschäftigung im Sinne eines l'art pour l'art, die nur einer verschwindend geringen Anzahl von Menschen, die zudem der unmittelbaren Sorge um die Sicherung der eigenen Existenz enthoben sind, Vergnügen bereitet und die somit, wenn nicht generell, so doch unter bestimmten historischen Umständen als überflüssiger Luxus zu bezeichnen ist? Die Diskussion dieser ebenso naheliegenden wie legitimen weiterführenden Frage an ein Konzept der Philosophie als Spiel, wie sie bei Nietzsche im Anschluß an eine selbstkritische Tradition der Philosophie zur Vollendung kommt, soll nun noch in einigen wenigen knappen, abschließenden Bemerkungen zumindest angerissen werden. Dabei soll auf die Plausibilität jener Annahme hingewiesen werden, daß möglicherweise gerade im Philosophieren als Tätigkeit, die keinem Zweck außer sich selbst dient, d. h. in seiner Zweckfreiheit, der eigentliche Wert des Philosophierens liegt. Im bereits zitierten Aphorismus 301 der Fröhlichen Wissenschaft, der „Wahn der Contemplativen" überschrieben ist, deckt Nietzsche das Selbstmißverständnis des erkennenden Menschen auf, der „meint als Zuschauer und Zuhörer vor das grosse Schau- und Tonspiel gestellt zu sein, welches das Leben ist" 1 . Dies geschieht in einer Gegenüberstellung mit „dem sogenannten handelnden" bzw. dem „sogenannten practischen Menschen". 2 Dieser unterscheidet sich vom theoretischen bzw. 'contemplativen' Menschen dadurch, daß ihm „die vis creativa (...) fehlt, was auch der Augenschein und der Allerweltsglaube sagen mag" 3 . Der Theoretiker handelt nämlich nicht wie der Praktiker, der nur zur Erreichung bestimmter Zwecke - aus welchem Interesse auch immer - tätig wird. In diesem Sinne handelt der Theoretiker als ein solcher überhaupt nicht, sondern er „mach(t)" etwas, „das noch nicht da ist", nämlich „die Welt, die den Menschen Etwas angeht",4 indem er vermittels der Genese und Interpretation von Begriffen Welten konstruiert, die den Rahmen abgeben, innerhalb dessen der Praktiker allererst handeln kann, ohne daß diese Vorgaben ob ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit oder Alltäglichkeit jenem in seinem Handeln als künstliche Hervorbringungen bewußt würden.

1 2 3 4

Frühliche Wissenschaft, Ebd. Ebd. Ebd.

Aph. 301, KS Α III, 540.

172

Schlußbemerkung: Spiel und Praxis

Die Praxis nun faßt Nietzsche als Arbeit auf, die ja als Tätigkeit allein durch die Erreichung des vorgesetzten Zwecks gerechtfertigt werden kann, und setzt sie im Sinne der griechischen Antike der „vita contemplativa" entgegen. 1 Damit wird zugleich die wegen ihrer alleinigen Rechtfertigung als Mittel zu einem Zweck als Arbeit verstandene Praxis ihrerseits der zweckfreien Kontemplation - oder mit dem griechischen Wort dafür benannt: der Theorie entgegengesetzt, die als Spiel verstanden wird. Solchermaßen als Gegenbegriff zum Handeln verstandene, theoretische Weltkonstruktion aber ist auch für Nietzsche Philosophie. Damit scheint freilich bloß eine schlichte Trivialität zum wiederholten Male eingeholt zu sein, nämlich jene, daß „das philosophische Tun (...) immer theoretisch ist"1, mithin also Philosophie für sich selber niemals praktisch sein kann. Nietzsches Bestimmung der Philosophie als Spiel, die die Komplementarität der kritisch-analytischen und der konstruktiv-poietischen Seiten des Philosophierens betont, erweist die Nichttrivialität der genannten Feststellung, indem sie von jenem, durch Nietzsches Analysen gewonnenen Boden aus ihre Implikationen und Konsequenzen vor Augen führt. Das in positivem Sinne als Spiel verstandene Philosophieren des Freien Geistes, d e r , jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewissheit den Abschied giebt" 3 , welches durch Nietzsches Radikalisierung der Kritik philosophischer Erkenntnis möglich wird, kann sich nunmehr zurecht jedes Anspruches auf die Bewirkung gesellschaftlicher Veränderung oder auf die Umsetzung einer philosophischen Theorie in die Praxis enthalten. Fühlte vielmehr der Philosophierende sich zu solchen Eingriffen berufen und handelte dementsprechend öffentlich, hörte er zugleich auf, Philosoph zu sein. Philosophie verlöre dann nämlich ihre wesentliche Freiheit von Zwecken und pervertierte zum bloßen Mittel zur Erreichung eines Zwecks, der in der Herbeiführung einer bestimmten Situation unter bestimmten historischen Umständen bestünde. Die Indienstnahme der Philosophie zur Erreichung solcher Zwecke, mit der zu Arbeit sie sich verwandelte, nötigte zum Glauben an die Richtigkeit bzw. Notwendigkeit des angestrebten Zwecks bzw. an die Wahrheit der hervorgebrachten eigenen Weltkonstruktion, die sie beide nunmehr der beständigen Reflexionsbewegung des Schaffens und Vernichtens entzöge und so als allgemeingültige Ergebnisse fixierte. Dabei würden wiederum die Möglichkeiten redlichen Philosophierens überschritten, indem dessen Unabschließbarkeit durch seinen gewaltsamen Abbruch negiert wird. Geschehe dies nun in der Befriedigung jenes instinktiven „Verlangen(s) nach Gewissheit"4 oder geschehe es aus einem irgendwie - möglicherweise durchaus durch den Anstoß an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen - motivierten Bedürfnis öffentlich zu handeln: Ein solcher Entschluß beendete jedenfalls zugleich mit der Tätigkeit des Philosophierens auch die philosophische Lebensform, denn in einem solchen Falle verwandelt sich der Philosoph in den Politiker, ebenso wie sich sein Tun von Spiel zu Arbeit verwandelt. Das heißt aber ebenfalls, daß der in politischer Aktion begriffene ehedem Philosophierende zum Lügner wird, wenn er noch als Politiker sein

' Fröhliche Wissenschaft, Aph. 329, KSA III, 556f; s. dazu etwa die signifikante Bemerkung, mit der Chairephon den platonischen Gorgias zur Fortsetzung der Unterredung mit Sokrates auffordert: έμοϊ δ' οΰν και α ύ τ ω μή γένοιτο τ ο σ α ΰ τ η ά ς χ ο λ ί α , ώστε τοιούτων λόγων κ α ι οϋτω λεγομένων άφεμένω προϋργιαίτερόν τι γ ε ν έ σ θ α ι ά λ λ ο πράττειν; Gorg. 458c5ff. 2 So mit Nachdruck Manfred Riedel, Wissenschaft, Ideologie, praktische Philosophie. Ein Interview mit Joachim Schickel, in: ders., Norm und Werturteil. Grundprobleme der Ethik, Stuttgart 1979, 115-134, hier 132. 3 Fröhliche Wissenschaft, Aph. 347, KSA III, 583. 4 Ebd. 581.

Schlußbemerkung: Spiel und Praxis

Philosophentum behauptet - schlicht deswegen, weil er nunmehr eine seiner kontradiktorisch entgegengesetzte Tätigkeit betreibt.

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vorherigen

Dies besagt freilich nicht den Ausschluß des Philosophierenden von der Möglichkeit zur Hinwendung zur Praxis im Sinne politischer Betätigung. Es besagt gleichfalls nicht den Ausschluß der Ethik als „Beratungsdisziplin für Tun und Lassen des Menschen" 1 in der Weise kritischer Problem-, Argumentations- oder Begriffsanalyse 2 aus dem Kanon der Philosophie. Es besagt vielmehr nur, daß der Philosoph sich nicht als Philosoph politisch-praktisch betätigen kann, sondern allein als Politiker - wie er auch nicht durch sein Philosophentum von Z w a n g und Not des alltäglichen Entscheiden- und Handelnmüssens entlastet wird. Und es besagt damit auch, daß nicht sinnvoll von einer Pflicht des Philosophen gesprochen werden kann, solche Aktivitäten zu entwickeln. 3 Das Konzept des Philosophierens als Spiel ermöglicht und sichert demnach die vollständige Freiheit zur Destruktion oder Revision bestehender Weltentwürfe und die Schaffung neuer Weltkonstruktionen, ohne auf wie immer geartete Tabubereiche Rücksicht nehmen zu müssen noch zu sollen, so daß die allzumal nötige Kritik und die ebenso nötige Diskussion alternativer Erkenntnismodelle und Praxisentwürfe im Spiel des Freien Geistes ihre Vollendung findet.

M a n f r e d Riedel, Einleitung, in: ders., Norm, 5-16, hier 7. Vgl. dazu Matthias K a u f m a n n , Ethikbegründung und Ethikanwendung, in: J a h r b u c h für Recht und Ethik 4 ( 1 9 9 6 ) , 575-589, hier 581. 3 Vgl. zur Sache Odo Marquard, Über die Unvermeidlichkeil von Üblichkeiten, in: ders., Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen, M ü n c h e n 2 1996, 62-74, insb. 72ff. 2

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Index nominum

Abel, Günter 109, 113, 139, 143, 147, 149, 160, 165,168 Achill

114, 115

Aichele, Alexander 13 Aischylos 128 Albert, Karl 55 Allison, Henry Ε 87 Anaximander 120 Ansell-Pearson, Keith J 139 Apoll 22, 24, 26, 28 Aquila, Richard Ε 106 Aristophanes 129 Aristoteles 2 9 , 4 4 , 6 1 , 126, 142, 158 Astyages Baeumler, Alfred Baudy, Gerhard J

35 98 40, 45

Baum, Manfred 97 Baumhauer, Otto A 64 Beets, M.G.J 17 Behler, Diana 141 Behler, Ernst 109, 140, 141, 161, 162, 168 Beikos, Theophilos 20 Bernadete, Seth 70 Bernays, Jacob 17, 24, 30, 31, 153 Biemel, Walter 107 Bindschedler, Maria 116 Bizet, Georges 136 Blanchot, Maurice 109, 164 Blondel, Eric 109, 149, 153, 164 Blumenberg, Hans 88 Boder, Werner 57 Boeder, Heribert 17, 18, 27, 30, 82 Booth, W a y n e C 57 Borsche, Tilman 10, 22, 66, 140, 141, 177 Brandt, Reinhard 97 Bremer, Dieter 134, 137 Brisson, Luc 49, 67 Bubner, Rüdiger 95 Burckhardt, J a c o b . 112, 113, 124, 125, 126, 135 Burger, R o n n a 43, 66, 67

Butts, Robert Ε Chairephon Ciaravolo, Pietro

105 172 119

Cicero Clay, Diskin Colli, Giorgio 9, 1 1 , 2 6 , 27, Crawford, Claudia Curtius, Ernst Danto, A r t h u r C Decker, W o l f g a n g Deichgräber, Karl Deleuze, Gilles98, 109, 134, 139, 142, 159, Derrida, Jacques 50, 59, 69, 78, 93, 98, 99, 108, 109, 140, 162, 164, 165, 168 Deussen, Paul

18 52 110 141 112 139 131 16 160 104,

Diels, Hermann Diller, Hans

152 9 16

Diogenes Laertius 16, 23 Dionysos 22, 28, 29 Djuric, Mihailo 9, 10, 109, 111, 139, 141 Dodds, Eric Robertson 27 Dörflinger, Bernd 97, 104 Dorter, Kenneth 52 Dümmler, A 40 Duval, Robert 134 Ebbersmeyer, Sabrina 161 Ebert, Theodor 38 Effertz, Dirk 8 2 , 9 0 , 96, 99 Enskat, Rainer 72 Eris 114, 115, 116, 117, 119, 120, 125 Erler, Michael 59, 64, 70, 132 Esser, Andrea 80, 100, 101 Euripides 1 6 , 2 1 , 2 5 , 2 8 , 131, 137 Ferrari, Giovanni R . F 52 Figal, Günter 74, 130 Fink, Eugen 1 1 , 6 3 , 109, 118 Fischer, Kuno 145 Fleischer, Margot 110, 125, 143, 163 Fontenrose, Joseph 72 Forschner, Maximilian 158

188 Foucault, Michel 11, 109, 140 Frankel, Hermann 22, 125 Frede, Dorothea 70 Fricke, Christel 90, 97 Fries, Thomas 141 Frutiger, Perceval 50 Fuchs, Carl 136 Fuhrmann, Manfred 132 Gadamer, Hans-Georg 30, 31, 32 Gaiser, Konrad 47, 48, 52 Gasche, Rodolphe 98, 109 Gerber, Gustav 141, 143 Gerhardt, Volker 114 Gersdorff, Carl ν 112 Gigon, Olof 17 Gloy, Karen 107 Goethe, Johann Wolfgang ν 168 Görgemanns, Herwig 52 Gorgias 70, 136, 172 Graeser, Andreas 18 Grimm, Ruediger Η 139, 143, 144, 169 Griswold, Charles L 44, 52, 71, 72 Gundert, Hermann 38, 51, 52, 53, 55, 56, 63 Guthrie, W.K.C 15, 17,28 Guyer, Paul 94, 95, 96, 97, 106 Haar, Michel 55, 109, 143, 144, 165, 168 Haverkamp, Anselm 142 Heftrich, Eckhard 114 Hegel, G.W.F 17, 106 Heidegger, Martin 17, 18, 27, 36, 60, 61, 65, 80, 81, 82, 89, 92, 162, 163 Heidemann, Ingeborg 20, 31, 32, 78, 84, 112 Heintel, Peter 108 Heitsch, Ernst 38, 39, 43, 59, 64, 67, 70 Hektor 114 Held, Klaus 15, 18, 22, 23 Heller, Edmund 163 Hellwig, Antje 44, 67 Hennigfeld, Jochem 15, 19 Henrich, Dieter 95, 96 Heraklit 9, 10, 11, 12, 15-36, 106, 110, 112, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 127, 128, 130, 134, 135, 138, 140, 153, 160 Hershbell, Jackson Ρ 119 Hesiod 12, 16, 24, 55, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 119, 120, 122, 123, 125, 127, 157 Hinman, Lawrence Μ 10 Hödl, Hans Gerald 140, 141 Hoffmann, Thomas Sören 106 Hölscher, Uvo 15, 16, 17, 27 Homer 12, 16, 21, 24, 54, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 123, 124, 125, 127, 129, 135, 136 Hoppe, Hansgeorg 81

Index nominum

Huizinga, Johan 32, 34, 36, 112 Isokrates 64 Jaeger, Werner 16, 17 Janz, Curt Paul 112 Jünger, Friedrich Georg 160 Kahn, Charles Η 16, 17 Kant, Immanuel 10, 11, 12, 77-108, 110, 112, 139, 140, 141, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 151, 156, 158, 159, 162, 165, 169, 170 Kaufmann, Matthias 173 Kaulbach, Friedrich 102, 109 Kerenyi, Karl 25 Kern, Otto 28, 49 Kierkegaard, Sören 57 Kirk, Geoffrey S 15, 17 Klossowski, Pierre 164 Kofman, Sarah 109, 127, 151, 166 Kohler, Georg 108 Krämer, Hans J 37, 58 Kranz, Wilhelm 9 Kremer-Marietti, Angele 141 Krüger, Gerhard 50, 67 Kuhn, Helmut 48 Kulenkampff, Jens 90, 98 Kullmann, Wolfgang 43, 126 Kyros 34, 35, 36 La Rocca, Claudio 85 Lackeit, Conrad 20,21,22 Lacoue-Labarthe, Philippe 140 Lange, Friedrich Albert 11, 87, 141, 145 Lasalle, Ferdinand 30 Lesky, Albin 25, 28 Longuenesse, Beatrice 80, 91, 92 Luther, Wilhelm 45 Macchioro, Victorino 28 Magnus, Bernd 165 Makkreel, Rudolf A 87, 89, 107 Man, Paul de 142 Marquard, Odo 173 Mathieu, Vitorio 154 Meerbote, Ralf 97 Meijers, Anthonie 141, 143 Menzer, Paul 78 Mileur, Jean-Pierre 165 Most, Glenn 52, 141 Mourelatos, Alexander P.D 15, 22 Müller-Lauter, Wolfgang 165, 182 Mushacke, Hermann 11 Naumann, Barbara 161 Nehamas, Alexander 165 Niehues-Pröbsting, Heinrich 44 Nietzsche, Friedrich 9, 10, 11, 12, 15, 24, 30, 31, 37, 61, 78, 89, 109-170, 171, 172

Index nominum

Nilsson, Martin Ρ 25 Nimis, Stephen A 119 Otto, Marcus 98 Otto, Walter F 28, 38 Overbeck, Franz 112 Ovid 29 Patzig, Günther 82 Peter, Joachim 108 Philonenko, Alexis 113 Picht, Georg 9, 109, 139, 149, 165 Pindar 21 Plass, Paul 68 Piaton 10, 11, 12, 15, 20, 24, 28, 29, 32, 37-75, 112, 127, 132, 133, 134, 135, 136, 138, 139, 140, 142, 153, 156, 162, 163, 165, 170 Plutarch 28, 125 Protagoras 135, 136 Quintilian 142 Regenbogen, Otto 47 Reich, Klaus 16,91 Reinhardt, Karl 46, 50, 117 Reisch, J 125, 126 Ricoeur, Paul 142 Riedel, Manfred 19, 88, 93, 109, 135, 168, 169, 172, 173 Robb, Kevin 16 Robin, Leon 43, 4 7 , 5 0 , 5 5 , 6 1 Rohde, Erwin 26, 28 Rosen, Stanley 45 Rosenkranz, Karl 145 Rossi, Licia 20, 32 Sallis, John 80 Saussure, Ferdinand de 164 Saussure, Horace Benedicte de 98 Schacht, Richard 138 Schadewaldt, Wolfgang 18, 29 Schaper, Eva 89, 102 Scheier, Claus-Artur 7, 57 Scheliha, Renata ν 131 Schleiermacher, F.D.Ε 37, 38, 54 Schmidt, Hermann Josef 55, 127 Schmitz, Hermann 101 Schopenhauer, Arthur 11, 141, 145 Schrift, Alan D 147, 162, 169 Seel, Gerhard 105 Sigad, Ran 133 Simon, Josef 88, 139, 141, 143, 147 Snell, Bruno 9, 16, 18, 19, 23 Sokrates 16, 27, 38, 48, 50, 52, 53, 55, 56, 57, 6 1 , 7 1 , 7 2 , 112, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 161, 172

189 Spariosu, Mihai 1 10, 106, 112 Stegmaier, Werner 151 Stenzel, Julius 61 Sterne, Laurence 168 Stewart, Stanley 165 Stingelin, Martin 141 Stolzenberg, Jürgen 90, 95, 98 Stuhlmann-Laeisz, Rainer 90 Szlezäk, Thomas A 37, 39, 40, 43, 44, 70, 74 Talma, Frangois Joseph 128 Tebartz-van Eist, Anne 142, 152 Thiel, Detlef 58 Thukydides 136 Thumher, Rainer 161 Trabattoni, Franco 44, 65, 71 Travlos, J 52 Trebels, Andreas Heinrich 87, 96, 97, 107 Trede, Johann Heinrich 103 Uehling, Theodore Ε 85, 87 Ungeheuer, Gerold 148, 154 Vattimo, Gianni 121 Vegetti, Mario 50, 53 Verdenius, W.J 117 Vischer-Bilfinger, Wilhelm 11 Vivarelli, Vivetta 168 Vlastos, Gregory 127, 130 Volkmann, Richard 141 Vossenkuhl, Wilhelm 77, 101 Vries, G.J. de 59,67 Vuillemin, Jules 86 Wagner, Richard 128, 136 Waldenfels, Bernhard 44 West, Martin L 112, 117 White, Nicholas Ρ 65, 105 Wieland, Wolfgang 37, 43, 44, 49, 51, 52, 53, 55, 56, 57, 70, 72, 78, 83, 90, 97, 99, 106 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich v. 20, 21, 112 Wohlfart, Günter 20, 22, 24, 28, 32, 33, 34, 35, 36, 110, 118, 120, 148, 153 Wolff, Michael 91 Wolff, Robert Paul 81, 86, 105 Xanthippe 135 Xenophanes 144 Xenophon 136 Young, J. Michael 81 Zammito, John Η 103 Zeus 25, 28, 30, 59, 61, 65, 117, 120 Zimmermann, Robert L 86 Zöller, Günter 82, 185

Index rerum

Abbild 20, 48, 50 Absicht 42, 44, 4 5 , 6 6 , 7 1 , 8 3 , 9 3 , 9 7 , 103, 104, 162 Adonisgärten 39, 40, 44, 45, 46, 47, 73, 177 Aggressivität

159

Agon 73, 112, 113, 115, 117, 118, 120, 121, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 161 A n s c h a u u n g 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 87, 88, 89, 90, 92, 95, 99, 101, 102, 105, 121, 122, 128, 137, 144, 145, 149, 150, 152, 160 Anspruch 9, 11, 12, 17, 18, 27, 41, 65, 67, 91, 110, 124, 128, 136, 138, 143, 152, 154, 155, 159, 160, 164, 166, 167, 169, 170 Apoll Arbeit 7, 10, 11, 12, 1 3 , 7 8 , 104, 124, 125, 126, 129, 140, 141, 162, 163, 169, 172 Aussage 12, 18, 31, 47, 56, 65, 143, 162, 167, 170 Basilinda-Spiel

22, 24, 26, 28 105, 106, 116, 154, 155, 161, 69, 136, 139, 34, 35

Begriff 9, 10, 11, 12, 15, 20, 27, 31, 32, 37, 38, 42, 44, 46, 47, 56, 57, 65, 68, 69, 73, 74, 77, 78, 80, 83, 84, 86, 87, 88, 89, 90, 92, 93, 94, 9 5 , 9 8 , 9 9 , 100, 102, 105, 106, 109, 110, 113, 118, 125, 127, 132, 138, 139, 142, 143, 147, 149, 150, 151, 152, 154, 161, 164, 166, 169, 170 Begriffsbildung 143, 150, 155 Begriffsdichtung 151, 152, 156, 160 B e w e g u n g 10, 16, 21, 31, 33, 36, 42, 65, 66, 69, 72, 74, 84, 92, 103, 106, 119, 123, 137, 148, 170 Bewußtsein 18, 55, 70, 72, 73, 77, 81, 100, 103, 108, 122, 153, 159, 166, 167 Bild 25, 39, 57, 59, 78, 88, 114, 115, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151 Darstellung 34, 49, 52, 73, 79, 95, 104, 111, 116, 127, 135, 142, 152, 154, 167 Darstellungsform

12, 167

Dekadenz 12, 127, 131 Delphi 2 5 , 2 7 , 28 Denken 9, 10, 11, 12, 16, 25, 59, 63, 65, 71, 109, 125, 129, 145, 146, 147, 149, 156, 163, 168, 169 Destruktion 1 1 , 5 7 , 9 3 , 130, 132, 133, 140, 159, 163, 164, 168, 173 Dialektik 12, 39, 42, 44, 61, 62, 63, 65, 72, 73, 88, 112, 127, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138 Dialektiker 39, 42, 43, 49, 53, 54, 57, 65, 74, 130, 135, 137 Dialog 12, 37, 51, 52, 53, 55, 56, 60, 135, 136, 180 Dichter 48, 54, 55, 56, 115, 117, 125, 131, 136, 150, 151, 152, 154, 156, 160 Dichtung 10, 46, 48, 52, 53, 56, 113, 115, 122, 125, 127, 134, 136, 139, 149, 150, 152, 153, 157, 165 Dike Ding an sich

121 143

Dionysos 22, 28, 29 Diskontinuität 142, 143, 144, 149, 152, 160, 164 Distanz 29, 52, 57, 71, 82, 93, 108, 114, 156, 161, 180 Einbildungskraft 12, 77, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 99, 100, 103, 105, 107, 145, 146 Einbildungskraft, produktive 79, 80, 82, 84, 85,

86 Eindeutigkeit 17, 56, 64, 122, 151 Einheit 18, 29, 81, 89, 91, 92, 97, 103, 105, 136, 149, 151, 155, 164, 167, 169 E m p f i n d u n g 82, 83, 85, 86, 90, 100, 101, 102, 104, 106, 119, 143 Endlichkeit 2 1 , 2 8 , 103, 107, 108, 160 E r f a h r u n g 21, 33, 57, 58, 78, 79, 82, 83, 90, 94, 97, 99, 101, 105, 106, 107, 108, 124, 143, 149, 167, 181, 184, 185 Eris 114, 115, 116, 117, 119, 120, 125

192

Index rerum

Eristik 132 Erkennen 78, 97, 101, 102, 105, 107, 110, 111, 148

Geschichte 7, 10, 11, 15, 17, 19, 25, 28, 30, 35, 36, 98, 1 12, 118, 125, 129, 131, 134, 138, 141, 145, 149, 150, 168

Erkenntnis 10, 12, 15, 30, 43, 59, 61, 70, 72, 77, 78, 81, 82, 84, 86, 87, 89, 90, 92, 95, 97, 99, 101, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 110, 139,

Gesetz Gesetzmäßigkeit

140, 144, 146, 148, 154, 161, 170, 172 Erkenntniskritik 148, 156, 163, 169 Erkenntnismöglichkeit 27 Erkenntnisurteil 12, 78, 90, 91, 103, 104, 106, 148 Erkenntnisvermögen 12, 77, 96, 9 7 , 9 9 , 100, 101, 102, 107, 108, 139 Ernst 9, 12, 38, 39, 40, 41, 55, 57, 59, 64, 67, 70, 87,

79, 89, 90, 94, 95, 103, 104, 105, 106, 43, 44, 45, 53, 54, 109, 112, 129, 140,

141, 154, 155, 161, 162, 164, 166, 168 Erscheinung 32, 50, 54, 61, 63, 67, 68, 69, 82, 84, 85, 102, 113, 120, 121, 141 Ethik 77, 158, 172, 173 Eudaimonia 42, 43, 47, 58, 7 3 Ewigkeit 20, 2 2 , 4 2 , 74, 121 Exemplar 98 Experiment 4 3 , 4 4 , 107 Flußlehre 15 F o r m 11, 12, 16, 17, 20, 25, 26, 28, 29, 39, 47, 48, 50, 52, 53, 55, 56, 57, 73, 74, 77, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 90, 91, 92, 95, 97, 102, 104, 106, 108, 111, 114, 115, 117, 121, 122, 123, 125, 127, 128, 131, 134, 135, 136, 140, 145, 152, 153, 156, 159, 160, 166, 167, 168 Freiheit 7, 77, 79, 82, 87, 88, 89, 91, 92, 94, 96, 103, 158, 159, 172, 173 Funktion 11, 24, 34, 40, 44, 45, 47, 51, 59, 60, 78, 7 9 , 8 1 , 8 2 , 84, 87, 89, 92, 108, 110, 161 Ganzes 31, 33, 81, 82, 84, 86, 88, 98, 124, 147, 158 Ganzheit 31, 33, 78, 80, 81, 82, 84, 85, 86, 87, 89, 131, 149, 164 G e f ü h l 78, 83, 90, 100, 101, 102, 103, 104, 106, 165, 168 Gegenstand 33, 45, 68, 81, 83, 84, 88, 92, 93, 95, 97, 98, 99, 105, 107, 108, 123, 124, 127, 128, 133, 138, 149 Geltung 32, 34, 35, 91, 117, 140, 155, 170 Genealogie 11, 147 Gerechte, das 42, 46, 49, 64 Gerechtigkeit 35, 44, 45, 46, 60, 119 Geschäft 26, 94, 104 Geschehen 12, 21, 35, 36, 51, 52, 53, 57, 59, 65, 124, 128, 129, 144, 170

131 79, 89, 92, 93, 95

Gespräch 29, 39, 42, 43, 48, 51, 53, 58, 64, 65, 7 1 , 7 3 , 7 4 , 131 Gestalt 17, 18, 24, 25, 28, 49, 56, 72, 82, 83, 84, 114, 116, 127, 158 Glück 3 3 , 4 2 , 129, 158, 173 Grundlosigkeit 110 Gültigkeit ...66, 82, 97, 106, 107, 143, 146, 158 Gute, das 42,46,49,64 Harmonie 29, 94, 96, 97, 99, 100, 102, 106, 108 Hervorbringung 38, 41, 63, 69, 80, 89, 129, 135, 137, 145, 154, 155, 159 Hybris 70, 71, 133 Hypomnemata 58, 59, 61, 62, 73, 74, 184 Idealismus 138 Idee 88, 103, 109, 111, 138, 149 Illusion 114, 116, 122, 134, 154 Immanenz 154 Intellekt 122, 130, 146, 148, 149, 157, 158, 159, 160, 161, 166, 169 Interpretation 11, 17, 19, 20, 23, 26, 27, 28, 30, 34, 35, 36, 37, 40, 45, 72, 78, 81, 87, 90, 91, 93, 103, 109, 111, 112, 118, 119, 120, 122, 123, 127, 128, 134, 135, 138, 139, 147, 149, 162, 164, 168, 171 Intuition 121, 123, 128, 132, 157 Inversion 116, 119, 127, 129 Ironie 56, 57, 60, 62, 63, 161, 168 Irrationalismus 137 Juxtaposition 132 Kampf 43, 114, 115, 118, 123, 124, 127, 131 Kategorie 87, 92 Kind 10, 22, 23, 24, 25, 30, 32, 34, 36, 118, 120, 123,154 Komposition 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89 Konstruktion 88, 143, 148, 155, 158, 159, 160, 162, 163 Kontemplation ..80, 93, 108, 121, 139, 147, 172 Kontingenz 30, 32 Konvention 32, 158, 169 korrespondenztheoretisch 111 Korrespondenztheorie 139 Kosmodicee 119, 121 Kosmos 15, 119, 120, 127, 158 Kritik 9, 10, 13, 24, 28, 44, 58, 63, 77, 78, 81, 82, 83, 84, 85, 87, 88, 90, 91, 96, 97, 98, 100, 103, 105, 106, 108, 110, 112, 121, 133, 139, 143, 144, 145, 156, 159, 162, 165, 166, 172, 173

193

Index rerum

Kunst 13, 23, 31, 41, 42, 44, 55, 61, 71, 80, 87, 100, 101, 105, 107, 109, 114, 118, 125, 131, 132, 135, 136, 140, 141, 147, 148, 152, 161, 162, 165, 168, 170 Kunstwerk 150, 153 Laut 142, 143, 144 Leben 16, 20, 21, 23, 28, 34, 35, 46, 49, 53, 59, 66, 73, 74, 102, 103, 112, 116, 118, 120, 121, 123, 126, 129, 130, 157, 159, 171 Lebensgefühl Lebensprinzip

100, 102, 103, 107, 140 21

Logik 19, 90, 91, 94, 97, 98, 109, 121, 128, 131, 133, 137, 143, 148, 149, 157, 158 Logizität 9 1 , 9 2 , 93, 131, 137, 138, 167 L o g o s 15, 16, 17, 18, 22, 27, 29, 35, 45, 47, 50, 52, 55, 56, 6 7 , 7 1 , 122, 130 L ü g e 12, 60, 111, 116, 120, 122, 123, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 147, 148, 149, 150, 151, 155, 157, 158, 159, 164, 165, 167 Lust 53, 78, 90, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 108, 113, 116, 118, 126, 145, 158, 161, 165 Mannigfaltige, das 81,98 Mannigfaltigkeit 95, 9 6 Mantik 25, 26, 28 Mehrdeutigkeit 12, 17, 18, 19, 20, 26, 27, 30, 56, 64, 69, 128, 138, 167 Metapher 11, 38, 4 2 , 4 9 , 90, 109, 142, 146, 151, 177, 180, 184 Metaphilosophie 12, 170 Metaphysik 11, 13, 17, 63, 77, 80, 82, 83, 84, 88, 90, 96, 99, 102, 103, 109, 110, 111, 112, 114, 118, 138, 139, 140, 143, 147, 148, 152, 161, 162, 164 Mitteilbarkeit 97, 154, 158 Mitteilungsfähigkeit 101 Mittel 12, 40, 42, 44, 57, 60, 64, 88, 124, 126, 129, 131, 132, 134, 135, 144, 152, 157, 168, 172 Monogramm 87, 88 Moral 95, 124, 127, 128, 133, 134, 138, 140, 147 Moralität 108 Mücken 32, 129 Muße 125, 126 Mythos 25, 28, 45, 47, 50, 56, 62, 63, 138 Natur 26, 28, 52, 67, 93, 94, 105, 108, 113, 114, 116, 125, 135, 136, 138, 141, 143, 146, 150, 158, 161 Naturschöne, das Nervenreiz Objekt Orakel

78, 108 142, 143, 144 81, 82, 84, 89, 102, 161 25, 26, 2 7 , 2 9 , 3 3 , 5 6

O r d n u n g 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 67, 84, 86, 94, 107, 116, 119, 121, 122, 123, 124, 128, 151, 162 π α ί ζ ω 15, 22, 23, 30, 31, 37, 106, 123, 124, 127, 137, 154 Paideia 7 3 , 7 4 , 135 Paidia 73, 74 Perversion 127, 129, 130, 166 π ε σ σ ε ύ ω . . . 3 0 , 31, 106, 123, 124, 127, 137, 155 Pferdebremse 135 Phantasie 145, 146, 148, 149, 160, 165, 166, 169 Philosoph 9, 18, 39, 4 2 , 44, 47, 48, 49, 50, 54, 56, 58, 63, 68, 70, 71, 72, 74, 110, 122, 126, 127, 128, 129, 140, 143, 156, 161, 169, 170, 172, 173 Philosophie 9, 10, 11, 12, 13, 15, 16, 17, 18, 19, 26, 30, 31, 37, 38, 39, 42, 43, 44, 47, 48, 53, 54, 56, 57, 62, 63, 64, 65, 69, 70, 71, 72, 74, 78, 82, 84, 88, 91, 93, 106, 107, 109, 110, 111, 114, 116, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 156, 159, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173 Philosophieren 9, 10, 42, 43, 47, 57, 59, 65, 71, 73, 127, 136, 157, 169, 170, 171, 172 Piatonismus

58, 138, 162, 163, 184

Poiesis 63, 113, 133, 135, 136, 139, 147, 152, 156, 161, 162, 170 poietisch 150 Politiker 172, 173 Polysemie 18, 1 9 , 2 0 , 27, Praktiker Praxis 13, 109, 171, 172, Produktion 67, 82, 93, 125, 127, 129, 133, 148, 152, 164

167 171 173 147,

Produktivität 139, 145 Proportion 85, 96, 97, 98 Rationalität 18, 27 Realkontext 51, 68 Reflektiertheit 22, 70, 136, 153, 156, 160 Reflexion 10, 11, 12, 13, 52, 54, 56, 65, 70, 77, 80, 81, 85, 88, 94, 95, 96, 97, 99, 101, 102, 103, 107, 140, 148, 152, 153, 154, 167, 169, 170 Regel 11, 17, 23, 36, 88, 92, 98, 103, 105, 126, 130, 168 Regelspiel 32, 34, 103, 107 Relativismus 18, 140, 161 Rhetor 42, 44, 67, 7 0 , 7 1

194

Index rerum

Rhetorik 12, 38, 42, 44, 46, 52, 64, 65, 66, 67, 6 8 , 7 1 , 7 2 , 112, 131, 132, 134, 136, 141, 142 Satz v o m Grund 36, 131, Satz v o m Widerspruch Schaffen 3 3 , 3 4 , 140, 151, 156, Schauspieler 29, 128,

143 131 163 130

Schein 31, 48, 54, 55, 73, 116, 120, 122, 127, 130, 133, 135, 136, 154, 162 Scheinhaftigkeit 56, 74, 122, 124, 127, 136 Schema 87, 88, 143, 150, 160 Schematismus 87, 105, 106 Schöne, das 42, 46, 49, 60, 61, 65, 67, 68, 69, 72, 85, 88, 93, 103, 108, 125, 147, 165 Schönheit 12, 47, 53, 60, 61, 62, 63, 67, 69, 73, 77, 85, 86, 89, 93, 103, 116, 121, 140, 159, 161, 162, 165, 166, 167, 169 Schreiben 38, 46, 47, 53, 57, 58, 61, 66, 69, 73, 74 Schrift 12, 16, 38, 47, 48, 49, 50, 53, 56, 58, 63, 64, 66, 67, 68, 109, 1 1 1 , 1 1 3 , 120, 139, 142, 162 Schriftkritik 12, 37, 38, 42, 43, 48, 53, 63, 64,

66 Seele 42, 44, 48, 49, 50, 51, 52, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 65, 66, 67, 69, 71, 72, 74, 82, 87, 105 Sein 32, 49, 50, 55, 59, 60, 61, 65, 66, 67, 68, 69, 7 0 , 7 1 , 7 4 , 99, 108, 129, 149 Selbsterkenntnis 44, 102 Selbstmißverständnis 155, 171 Sinnlichkeit 80, 83, 88, 103, 105 Spiel 9, 10, 11, 12, 13, 20, 23, 24, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 37, 38, 39, 40, 41, 44, 45, 46, 47, 48, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 63, 66, 67, 68, 69, 70, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 118, 120, 121, 123, 124, 128, 129, 130, 134, 136, 137, 138, 139, 140, 147, 148, 152, 153, 154, 155, 156, 159, 161, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173 Spiel, freies 94, 96, 104 Spielbegriff 10, 13, 15, 30, 56, 63, 66, 68, 77, 78, 85, 90, 107, 119, 153, 156 Spielregel 31, 166 Spontaneität 90, 107 Sprachabhängigkeit 111 Sprache 11, 12, 15, 16, 18, 19, 20, 22, 23, 25, 27, 28, 37, 43, 44, 49, 53, 55, 56, 57, 63, 65, 67, 68, 70, 71, 88, 110, 111, 122, 128, 131, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 147, 148, 149, 150, 152, 153, 154, 155, 156, 158, 160, 161, 162, 164, 165, 167, 168, 169, 170

Sprachentstehung 139, 142, 150 Sprachkritik 110, 140, 141, 143 Sprechen 18, 29, 44, 55, 56, 65, 70, 139, 148, 156 Spur 46, 47, 5 8 , 5 9 , 6 1 Stimmung 97, 98, 99, 101 Subjekt 9 1 , 9 9 , 100, 101, 102, 161 Synopsis 80, 81, 82, 84, 85, 86, 87, 88, 89 Synthesis 81, 87, 88 System 86, 107, 138, 145, 155, 158, 163, 167, 169 Tätigkeit 9, 10, 12, 23, 25, 30, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 49, 54, 57, 58, 62, 65, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 79, 80, 82, 83, 84, 86, 87, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 100, 101, 103, 104, 105, 106, 115, 125, 126, 128, 130, 135, 141, 145, 146, 147, 148, 149, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 164, 166, 169, 170, 171, 172 Tätigsein 39, 44, 50, 53, 88, 91, 95, 108 T ä u s c h u n g 49, 54, 66, 68, 70, 114, 115, 122, 153, 161, 166 Teleologie 31, 32, 120, 145 Telos 32 Theoretiker 171 Tragödie 27, 29, 48, 52, 113, 114, 116, 122, 127, 128, 129, 131, 133, 136, 141, 148, 152 Transzendentalphilosoph 107, 149 Transzendieren 75, 103, 108 Tugend 126, 128, 129, 133, 136 Unabschließbarkeit 3 1 , 5 6 , 9 1 , 9 5 , 169, 172 Unernst 9, 156, 160, 167 Unlust 101, 102, 104, 107, 154 Ursache 2 1 , 2 6 , 27, 105, 106, 143 Urteil 12, 33, 77, 78, 79, 84, 87, 89, 90, 91, 92, 9 3 , 9 4 , 9 7 , 9 8 , 100, 102, 103, 104 Urteil, ästhetisches 8 5 , 9 0 , 137, 166 Urteil, logisches 97 Urteilen 9 0 , 9 3 , 97 Urteilskraft 77, 78, 82, 83, 84, 85, 87, 88, 90, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 103, 105, 108, 110, 145 Verklärung.... 114, 118, 119, 122, 128, 129, 152 V e r m ö g e n 66, 79, 85, 87, 89, 92, 94, 95, 98, 103, 104, 108, 165 Vernichten 113, 127 V ernunft 18, 27, 31, 33, 77, 78, 80, 81, 82, 88, 8 9 , 9 1 , 9 6 , 103, 106, 110, 128, 132, 137, 139, 145, 147, 148, 158 Verstand 12, 77, 79, 81, 86, 89, 90, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 99, 100, 103, 145, 146, 148 Verstandeswesen 103

Index rerum

Versuch 13, 30, 33, 34, 35, 38, 40, 52, 69, 91, 107, 110, 130, 133, 134, 141, 154 Vollständigkeit 91, 110, 169 Vorbewußt 81, 148 Vorstellung 36, 54, 80, 81, 85, 89, 90, 91, 93, 94, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 105, 119, 123, 142, 143 Wagnis.. 33, 41, 43, 46, 48, 71, 73, 74, 107, 168 Wahrhaftigkeit 49, 54, 68, 69, 128, 136, 154 Wahrheit 10, 12, 13, 27, 28, 37, 49, 51, 53, 54, 55, 56, 57, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 72, 73, 88, 100, 111, 117, 120, 122, 125, 128, 131, 132, 136, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 147, 148, 149, 150, 151, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 161, 162, 164, 165, 166, 167, 169, 170, 172 Wahrheitsbegriff 111, 139, 162, 169 Wahrheitsgeschehen 53, 56, 57, 64, 72 Wahrheitskriterium 131, 160 W a h r n e h m u n g 21, 26, 6 8 , 8 3 , 85, 100, 101, 108, 122 Welt 11, 12, 15, 18, 20, 21, 28, 34, 36, 47, 50, 61, 66, 74, 77, 82, 83, 104, 107, 109, 110, 111, 114, 115, 116, 118, 120, 121, 122, 123, 124, 126, 128, 131, 137, 138, 139, 140, 143, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 158, 159, 160, 161, 162, 165, 166, 167, 170, 171 Weltentwurf 119, 131, 133, 159, 161, 164 Weltkonstruktion 12, 139, 156, 159, 160, 161, 165, 166, 172 W e r d e n 31, 116, 119, 120, 122, 123, 125, 127, 163,167

195

W e r k 13, 52, 55, 56, 63, 77, 99, 110, 112, 118, 122, 128, 129, 132, 137, 142, 145, 150, 162, 163 Willkür 30, 35, 36 Wissen 10, 18, 21, 26, 27, 31, 33, 37, 38, 39, 43, 47, 49, 50, 54, 56, 60, 72, 74, 129, 130, 132, 133, 144, 159 W i s s e n s c h a f t 9, 10, 15, 77, 107, 110, 111, 126, 129, 139, 140, 141, 142, 148, 150, 152, 153, 155, 157, 160, 171, 172 Wissenschaftler 155, 160 W o r t 7, 9, 15, 20, 22, 29, 34, 40, 66, 125, 142, 143, 149, 150, 151, 157, 168, 172 Würfelspiel 160 Zeichen 19, 25, 26, 28, 48, 51, 54, 63, 68, 109, 114, 125, 142, 157, 161, 165 Zeit 7, 12, 13, 20, 21, 27, 30, 35, 39, 40, 42, 43, 45, 51, 80, 82, 83, 84, 85, 86, 110, 112, 113, 117, 123, 126, 127, 135, 136, 145 Zeus 2 5 , 2 8 , 30, 5 9 , 6 1 , 6 5 , 117, 120 Ziel 10, 36, 41, 51, 53, 71, 84, 103, 119, 123, 125, 155 Ziellosigkeit 31 Zirkularität 168 Z w e c k 9, 32, 34, 40, 41, 42, 45, 46, 47, 58, 60, 68, 74, 78, 81, 93, 97, 104, 105, 106, 107, 121, 122, 126, 128, 129, 132, 134, 135, 136, 149, 152, 159, 164, 170, 171, 172 Zweckfreiheit 41, 129, 156, 169, 171 Zwei weltentheorie 120, 122, 128