Philosophia Transalpina: Deutsch-italienische Wechselwirkungen in der Philosophie der Moderne 9783495808320, 9783495487105


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Table of contents :
Inhalt
Thomas Buchheim/Jörg Noller: Philosophia Transalpina. Einleitende Bemerkungen zu einem philosophischen Verhältnis
Teil I: Germania und Italia
Jörg Noller: Den Geist verstehen. Vico und die deutsche Aufklärung
1. Vico verstehen
2. Die Anschmiegung des Begriffs. Vico und die Hermeneutik
3. »… sibyllinische Vorahnungen des Guten und Rechten«. Vico und Hamann
4. Vom Leben der Sprache. Vico und Herder
5. »Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften«. Vico und die moderne Hermeneutik
Literaturverzeichnis
Günter Zöller: Politischer Realismus und juridischer Idealismus. Fichte und Machiavelli
1. Machiavelli, Machiavell und Anti-Machiavell
2. Herder und Hegel über Machiavelli
3. Fichte über Machiavellis Historizität
4. Fichte über Machiavellis Aktualität
5. Clausewitz an Fichte über Machiavelli
Literatur
Arne Zerbst: Von der »Neuen Mythologie« zum »Spekulativen Epos«. Schellings Dante
Literatur
Teil II: Italia und Germania
Faustino Fabbianelli: Vicos »verum-factum« in Rosminis und Giobertis Auffassung der klassischen deutschen Philosophie
Einleitung
1. Vicos »verum-factum«
2. Die Idee der »participatio rationis«
3. Pantheismus und Anthropomorphismus
4. Die Freiheit des Absoluten
5. Subjektivismus
6. Psychologismus
7. Transzendentalismus
8. Vicos Kritik der cartesianischen Evidenz
9. Die objektive Gewissheit
10. Verum, factum, bonum
Konklusion
Literatur
Massimo Mori: Realismus versus Transzendentalismus. Die Kant-Rezeption in Italien im 19. Jahrhundert
1. »L’Italia non si inkanta«
2. Zwischen Ideologie und Skeptizismus: der Kant Pasquale Galluppis
3. Für und wider Kant: Antonio Rosmini
4. Neukantianische Renaissance und Psychologie: Carlo Cantoni
5. Ein Ausgleichsversuch: Felice Tocco
Literatur
Elena Ficara: Croces Deutung der Hegel’schen Dialektik
1. Lebendiges in Hegels Philosophie
1.1. Die Logik der Philosophie
1.2. Die Dialektik als Lehre der Entgegengesetzten (»opposti«)
2. Totes in Hegels Philosophie
2.1. Das Problem der Unterschiedenen (»distinti«)
2.2. Erweiterung der Dialektik
3. Rezeption
4. Aktualität
Literatur
Fichte (und Schelling) in den späten Turiner Vorlesungen Luigi Pareysons
1. Fichtes Philosophie der Freiheit
2. Ein ›ontologischer‹ Freiheitsbegriff
3. Sein und Freiheit
4. Die Dialektik von Wissen und Nicht-Wissen
5. »Wahre Dialektik«
6. Wirklichkeit, Dialektik, Prinzip
Literatur
Claudio Ciancio: Die Schelling-Rezeption der Turiner Schule
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
Literatur
Thorsten Gubatz (Br. Simeon OSB): L’amour fou. Pareyson und Heidegger über Sein und Freiheit
1. Pareysons Frühwerk: Der ontologische Personalismus oder Jenseits von Idealismus und Existenzphilosophie
2. Pareysons Auseinandersetzung mit Heidegger im Spätwerk: Die ›Ontologie der Freiheit‹ oder Jenseits von Notwendigkeit und Sein
3. »Eppure la libertà o è illimitata o non è«. Kritische Bemerkungen zur ›Ontologie der Freiheit‹ und der ihr entsprechenden Heidegger-Lektüre
Literatur
Teil III: Europa
Ugo Perone: Italienische und Deutsche Philosophie. Von einer Asymmetrie zu einer europäischen Perspektive
1. Ein asymmetrisches Verhältnis
2. Grenzen einer Nationalphilosophie
3. Die Philosophie als Erschließung einer anderen Wirklichkeit
4. Europa und die Sprache der anders Sprechenden
5. Europa, die Inklusion als Erweiterung
Literatur
Kommentierte Auswahlbibliographie zur deutsch-italienischen Philosophie
Informationen zu den Autoren
Personenregister
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Philosophia Transalpina: Deutsch-italienische Wechselwirkungen in der Philosophie der Moderne
 9783495808320, 9783495487105

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Thomas Buchheim Jörg Noller (Hg.)

Philosophia Transalpina

Deutsch-italienische Wechselwirkungen in der Philosophie der Moderne VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495808320

.

B

Thomas Buchheim / Jörg Noller (Hg.) Philosophia Transalpina

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Der vorliegende Sammelband will die Bedeutung der italienischen Philosophie wieder stärker ins Bewusstsein rücken, darf doch die italienische Philosophie in Deutschland immer noch als »terra incognita« (Ugo Perone) gelten. In verschiedenen Beiträgen internationaler Philosophen wird dazu auf das ›transalpine‹ Wechselspiel von Rezeption und Transformation im deutsch-italienischen Denken exemplarisch eingegangen. Im Zentrum stehen die Bereiche der Aufklärung (Vico, Herder), der klassischen deutschen Philosophie (Kant, Fichte, Schelling, Hegel), der Philosophie des Risorgimento (Rosmini, Gioberti) und der Philosophie der Gegenwart (Luigi Pareyson und die Turiner Schule). Ziel des Sammelbandes ist es, auf diese Weise ein möglichst breites Spektrum an produktiven Wechselwirkungen und geistigen Verwandtschaften zwischen beiden Kulturnationen aufzuzeigen. Schließlich wird dieses deutsch-italienische Verhältnis auch in einem größeren europäischen Kontext verortet.

Die Herausgeber: Thomas Buchheim, geb. 1957, ist Inhaber des Lehrstuhls I für Metaphysik und Ontologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist u. a. geschäftsführender Herausgeber des Philosophischen Jahrbuchs der Görres-Gesellschaft. Im Jahr 2013 war er Inhaber der Internationalen Forschungsgastprofessur an der Graduate School of Human and Environmental Studies der Staatlichen Universität Kyoto in Japan. Zahlreiche Veröffentlichungen zur antiken Philosophie, zu Schelling und zur Freiheitsproblematik. Jörg Noller, Jahrgang 1984, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Redakteur des Philosophischen Jahrbuchs an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsaufenthalte an den Universitäten Notre Dame (Indiana) und Chicago (Illinois). 2014 Promotion über das Problem individueller Freiheit im Ausgang von Kant.

https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Thomas Buchheim / Jörg Noller (Hg.)

Philosophia Transalpina Deutsch-italienische Wechselwirkungen in der Philosophie der Moderne

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Friedrich Overbeck, Italia und Germania, 1828 Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48710-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80832-0

https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Inhalt

Thomas Buchheim/Jörg Noller Philosophia Transalpina. Einleitende Bemerkungen zu einem philosophischen Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Teil I: Germania und Italia Jörg Noller Den Geist verstehen. Vico und die deutsche Aufklärung . . . .

19

Günter Zöller Politischer Realismus und juridischer Idealismus. Fichte und Machiavelli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

Arne Zerbst Von der »Neuen Mythologie« zum »Spekulativen Epos«. Schellings Dante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Teil II: Italia und Germania Faustino Fabbianelli Vicos »verum-factum« in Rosminis und Giobertis Auffassung der klassischen deutschen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . .

83

Massimo Mori Realismus versus Transzendentalismus. Die Kant-Rezeption in Italien im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

124

5 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Inhalt

Elena Ficara Croces Deutung der Hegel’schen Dialektik

. . . . . . . . . . 151

Marco Ivaldo Fichte (und Schelling) in den späten Turiner Vorlesungen Luigi Pareysons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudio Ciancio Die Schelling-Rezeption der Turiner Schule

164

. . . . . . . . . . 179

Thorsten Gubatz L’amour fou. Pareyson und Heidegger über Sein und Freiheit

. . 193

Teil III: Europa Ugo Perone Italienische und Deutsche Philosophie. Von einer Asymmetrie zu einer europäischen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . .

221

Kommentierte Auswahlbibliographie zur deutsch-italienischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233

Informationen zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . .

243

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

249

6 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Philosophia Transalpina. Einleitende Bemerkungen zu einem philosophischen Verhältnis Thomas Buchheim/Jörg Noller

Der vorliegende Sammelband geht zurück auf eine deutsch-italienische Tagung, die anlässlich einer vom DAAD geförderten Gastdozentur von Prof. Faustino Fabbianelli (Parma) im Sommersemester 2013 an der Ludwig-Maximilians-Universität München vom Lehrstuhl I für Philosophie veranstaltet wurde. 1 Ziel der Tagung war es, die Bedeutung der italienischen Philosophie wieder stärker ins Bewusstsein zu rücken, darf doch die italienische Philosophie in Deutschland immer noch als »terra incognita« gelten, wie der italienische Philosoph Ugo Perone vor nicht allzu langer Zeit treffend bemerkt hat. 2 Worin liegt der Grund hierfür? Wie Thomas Sören Hoffmann in seinem Buch Philosophie in Italien vermutet, kann die Ausblendung der italienischen Tradition in der problematischen Auffassung erblickt werden, »daß der philosophische Genius auf seinem Weg von den griechischen, reinen Anfängen hin zu seiner reifen Gestaltung nördlich der Alpen einer Zwischenstation in den Quartieren des ›römischen Geistes‹ nicht bedurft hätte« 3. Denkt man an geistige Beziehungen zwischen den Kulturnationen Deutschland und Italien, so drängt sich geradezu Friedrich OverDas Programm der Tagung ist unter der Adresse http://www.philosophiatrans alpina2013.philosophie.uni-muenchen.de abrufbar. Ein Tagungsbericht von Marco Hausmann ist unter dem Titel »Filosofia Transalpina. Interazioni italo-tedesche nella filosofia moderna« in der Rivista di Storia della Filosofia (1) 2014, 183 f. erschienen. 2 Thomas Eggensperger/Ulrich Engel/Ugo Perone (Hgg.), Italienische Philosophie der Gegenwart. Ein Überblick, Freiburg/München 2004. Zwei weitere deutsche Titel, die sich der italienischen Philosophie widmen, seien noch erwähnt: Thomas Bremer/ Titus Heydenreich (Hgg.), Zibaldone. Zeitschrift für italienische Kultur und Gegenwart. Nr. 51 (2011), Schwerpunkt: Italienische Philosophie heute, Tübingen 2011; Thomas Sören Hoffmann, Philosophie in Italien. Eine Einführung in 20 Porträts, Wiesbaden 2007. Der vorliegende Band schließt eine Lücke, insofern er nicht allein die moderne italienische Philosophie ins Bewusstsein rückt, sondern zugleich die gegenseitigen Rezeptions- und Transformationsverhältnisse reflektiert. 3 Hoffmann (2007), 9. 1

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Thomas Buchheim/Jörg Noller

becks 1828 entstandenes Bild mit dem Titel »Italia und Germania« 4 auf, welches 1833 von König Ludwig I. von Bayern erworben wurde und heute in der Münchner Neuen Pinakothek zu besichtigen ist. Es ist ganz bewusst als Titelbild des vorliegenden Bandes gewählt worden. In personifizierter weiblicher Gestalt, vor dem Hintergrund romanischer Architektur auf der einen, und gotischer auf der anderen, reichen sich die beiden Nationen anmutig die Hände – ein eindeutiges Symbol der gegenseitigen Freundschaft. 5 So beschrieb dies auch der Maler selbst in einem Brief an den Frankfurter Buchhändler Johann Friedrich Wenner: »Es sind die beiden Elemente gleichsam, die sich allerdings einerseits fremd gegenüberstehen, die aber zu verschmelzen nun einmal meine Aufgabe, wenigstens in der äußeren Form meines Schaffens, ist und bleiben soll, und die ich deßhalb hier in schöner inniger Befreundung mir denke. […] Es ist endlich, wenn es allgemeiner ausgesprochen werden soll, die Sehnsucht gemeint, die den Norden beständig zum Süden hinzieht, nach seiner Kunst, seiner Natur, seiner Poesie; und dieß im bräutlichen Schmuck, beides die Sehnsucht sowohl als [der] Gegenstand ihrer Liebe, weil Beides als Idee sich fortwährend verjüngt. […] und so mag man das Bild denn auch schlechtweg die Freundschaft nennen, wenn ihm einmal ein Name gegeben werden soll.« 6

Was Overbeck hier beschreibt, darf als ein Topos klassischen und romantischen Denkens in Deutschland gelten: Immer wieder gewannen die Maler und Dichter, die Künstler und Intellektuellen neue Kräfte und Möglichkeiten durch den Überschritt über das doch inzwischen einigermaßen gut gangbare Gebirge der Alpen in beiden Richtungen. Es kommt vielleicht nicht so sehr darauf an, von wo nach wo die Reise geht – wie ja auch cisalpin und transalpin durchaus relative Orientierungen sind; sondern es kommt vielmehr darauf an, einen Schritt oder Blick über das sanft trennende Gebirge zu tun. Die Alpen sind Ursprünglich war für das Bild der Titel »Sulamith und Maria« vorgesehen gewesen. Zur kunsthistorischen Verortung des Bildes vgl. Lionel Gossmann, The Making of a Romantic Icon. The Religious Context of Friedrich Overbeck’s Italia and Germania, Philadelphia 2007. 6 Brief an Friedrich Wenner, »Rom, den 31. Januar 1829.«, in: Ph. Friedrich Gwinner: Kunst und Künstler in Frankfurt am Main vom dreizehnten Jahrhundert bis zur Eröffnung des Städel’schen Kunstinstituts, Frankfurt/M. 1862, 343 f., hier 344 (mit leichten Veränderungen abgedruckt in: Margaret Howitt: Friedrich Overbeck. Sein Leben und Schaffen, hg. v. Franz Binder, Bd. 1, 1789–1833, Freiburg i. Br. 1886, 478 f.). 4 5

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Einleitende Bemerkungen zu einem philosophischen Verhältnis

und bleiben eine Wetterscheide nicht nur für Schnee und Regen und Sonnenschein, sondern eine Wetterscheide des Geistes und der Kunst. Aber eine Wetterscheide, die gleichsam etwas entfremdete Verwandte oder ziemlich verwandte Fremde trennt. So erschließen sich denn auch dem Betrachter von Overbecks Bild, über die offensichtliche Zuneigung beider Frauen hinaus (ihre beiden Köpfe berühren sich sinnbildlich), bei genauerem Hinsehen noch weitere Details. Es scheint, als ob die mit Lorbeeren bekränzte Italia nachdenklich den Blick gesenkt halte und auf den Grund ihrer historisch erbrachten, verdienstvollen Kulturleistung zurückblicke. Germania hingegen, deren Haupt mit einem »bräutlich« werbenden Myrtenkranz geschmückt, und deren Blick geradeaus gerichtet ist, scheint Italia so bei der Hand zu nehmen, als wolle sie die Initiative ergreifen und Italia zu einem freundschaftlichen Gespräch animieren. Diese freundschaftliche Geste soll im vorliegenden Sammelband aufgegriffen und philosophisch-hermeneutisch fortgeführt werden. Die folgenden Beiträge wollen auf das beidseitige ›transalpine‹ Wechselspiel von Rezeption und Transformation – von geistiger Nähe und Ferne – im deutsch-italienischen Denken exemplarisch eingehen. Der Band ist im wahrsten Sinne des Wortes inter-national konzipiert: Es werden philosophische Wechselwirkungen untersucht, die nicht nur in eine Richtung über die Alpen weisen, sondern in beide. In diesem Sinne werden die Bereiche der Philosophie der Aufklärung, der klassischen deutschen Philosophie und der Philosophie der Gegenwart beleuchtet, um ein möglichst breites Spektrum an produktiven Wechselwirkungen und geistigen Verwandtschaften zwischen beiden Kulturnationen aufzuzeigen – ohne dabei Vollständigkeit zu beanspruchen. Repräsentativ sind die Beiträge zu diesem Thema insofern, als jeder von ihnen zentrale Stationen in der deutsch-italienischen Geistesgeschichte exemplarisch behandelt und aufeinander bezieht – sei es durch direkte Rezeptionsverhältnisse, oder gar Transformationsprozesse, sei es durch eine geistige Verwandtschaft, deren Beeinflussung sich nicht unmittelbar oder überhaupt nicht nachweisen lässt. Aus historischer Perspektive stehen, wie ein Blick in das Personenregister am Ende des Bandes zeigt, auf italienischer Seite Giambattista Vico, Benedetto Croce, Vincenzo Gioberti und Luigi Pareyson im Zentrum, während auf deutscher Seite Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling eine besondere Bedeutung zukommt. 9 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Thomas Buchheim/Jörg Noller

Die im vorliegenden Sammelband vereinten Beiträge stehen aus systematischer Sicht im Spannungsverhältnis von nationaler Eigenart der jeweiligen Philosophie und dem genuin philosophischen Anspruch von Transnationalität im Sinne einer philosophia perennis. Diese Spannung, die sich auch in Overbecks Bild entdecken lässt, wird im Folgenden zu keiner der beiden Seiten hin aufgelöst, sondern als eigenes philosophisches Thema betrachtet – wie auch in Overbecks Bild Einheit und Differenz zugleich in ein und demselben Rahmen bestehen und eine Perspektive geistiger Horizontverschmelzung über die bergige Landschaft hinaus symbolisieren, die im Hintergrund des Bildes sichtbar ist – Overbeck selbst spricht in obigem Zitat von einer »Idee«, die »sich fortwährend verjüngt«, gleichsam dem Ideal unendlicher Annäherung, welches niemals zu einer vollständigen Identität beider Seiten gelangt. Der Band ist in drei Teile gegliedert: Drei Beiträge befassen sich im ersten Teil (»I. Germania und Italia«) mit der deutschen Rezeption der italienischen Philosophie, wohingegen sich im zweiten Teil (»II. Italia und Germania«) sechs Beiträge der italienischen Rezeption der deutschen Philosophie widmen. Das deutsch-italienische Verhältnis wird im dritten und letzten Teil (»III. Europa«) durch den Beitrag von Ugo Perone aufgegriffen, reflektiert und in Richtung einer größeren, europäischen Dimension weitergedacht. Der Band wird abgerundet durch eine kommentierte Auswahlbibliographie zur deutschitalienischen Philosophie. Der Beitrag von Jörg Noller (München) behandelt die Vico-Rezeption der deutschen Tradition der Aufklärung und gibt zugleich einen Ausblick auf die Rezeption durch Ausläufer dieser Tradition im 19. und 20. Jahrhundert. Zunächst wird Vicos Denken als ein im wahrsten Sinne des Wortes ›hermeneutisches‹ herausgestellt: Sein Denken schlägt eine Brücke zwischen der an die Antike anknüpfenden Tradition des italienischen Humanismus und der im Zeichen eines Neuanfangs und Fortschrittsoptimismus stehenden Aufklärung. Durch seine Kritik am abstrakten cartesischen Vernunftideal und seine Betonung der sprachlichen Verfasstheit menschlicher Rationalität kann er in eine ideengeschichtliche Nähe zu »Kritikern der Aufklärung« (I. Berlin) wie Hamann und Herder gebracht werden. Vicos Nähe zu Hamann und Herder wird anhand ihrer jeweiligen Sprachphilosophie herausgestellt. Noller argumentiert dafür, dass trotz vereinzelter Bezüge und zahlreicher thematischer Berührungspunkte nicht von 10 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Einleitende Bemerkungen zu einem philosophischen Verhältnis

einer direkten Beeinflussung der deutschen Aufklärung durch Vico gesprochen werden kann. Die Vico-Rezeption der deutschen Aufklärung darf als geradezu paradigmatisch für die deutsche Rezeption der italienischen Philosophie gelten, da Vicos Philosophie erst mit einiger ›transalpiner‹ Verzögerung im 19. Jahrhundert bei Dilthey und im 20. Jahrhundert bei Cassirer, Gadamer und Apel größere Aufmerksamkeit erfährt. Der Beitrag von Günter Zöller (München) untersucht Fichtes Auseinandersetzung mit dem politischen Denken Machiavellis. Zöller zeigt, dass Machiavelli als Autor des Principe in Deutschland lange Zeit mit dem Vorwurf des Immoralismus belastet war, bevor eine neue Sicht auf Machiavelli entwickelt wurde, die seine politische Philosophie in ihrem historischen Kontext verortete und auch der Blick auf seinen Begriff politischer Freiheit gelenkt wurde. Zöller zeigt, dass im Kontext dieser neuen Sicht vor allem Herder, Hegel und Fichte Machiavellis Denken affirmativ rezipiert haben. Während Fichte Machiavelli vor dem Hintergrund seines philanthropischen Fortschrittsdenkens betrachtet, interpretiert der junge Hegel diesen aus der Perspektive seines eigenen Denkens um die politische Zukunft Deutschlands und seiner Idee nationalstaatlicher Einheit als einen Advokaten politischer Freiheit, der sich sowohl gegen lokale Herrschaft als auch Fremdherrschaft richtet. Vor diesem Hintergrund erscheint Fichtes Auseinandersetzung mit Machiavelli als eine Fortführung der Ansätze bei Herder und Hegel: Ihm geht es um die philosophische »Ehrenrettung« von Machiavelli und um seine Aktualität: Fichtes Machiavelli-Rezeption erweist sich als eine zeitkritische Reflexion im Rahmen einer Philosophie der Freiheit. Der Beitrag von Arne Zerbst (Kiel) untersucht anhand von Schellings Dante-Rezeption den Übergang seines Projekts einer Neuen Mythologie zum Spekulativen Epos. Es geht Schelling hierbei um die Vollendung der Philosophie in der Ästhetik, wobei Wissenschaft, Religion, Kunst und Geschichte aufs Engste miteinander verwoben sein sollen. Schellings Beschäftigung mit Dante steht im Kontext mit dessen Wiederentdeckung durch die Jenaer Frühromantik, insbesondere durch die Gebrüder Schlegel. Die Bedeutung Dantes liegt für Schelling in der sowohl inhaltlichen also auch gattungspoetischen Syntheseleistung der Göttlichen Komödie. Dieses Werk darf nach Schelling als das geschichtliche Paradigma für die zukünftig zu schaffende Neue Mythologie angesehen werden, so dass er seine Aufgabe darin erblickt, es in die Gegenwart zu transformieren und zu aktualisieren. 11 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Thomas Buchheim/Jörg Noller

Der Beitrag von Faustino Fabbianelli (Parma), der den zweiten Teil des Bandes (»Italia und Germania«) eröffnet, widmet sich der italienischen Rezeption des deutschen Idealismus, dem »italienischen Sonderweg« zur Philosophie anhand einer Auseinandersetzung mit Vicos »verum-factum«-These in Rosminis und Giobertis Auffassung der klassischen deutschen Philosophie. Fabbianelli gibt einen Einblick in die hierzulande nur wenig bekannten Rezeptions- und Transformationsprozesse der deutschen Philosophie im Italien des 19. Jahrhunderts. Die Phase, die er im Blick hat, ist die der »Philosophie des Risorgimento«, während der Italien noch nicht seine politische Unabhängigkeit und Einheit erlangt hatte und dementsprechend Versuche unternommen wurden, die eigene Philosophie gegenüber der dominanten deutschen zur Geltung zu bringen. Der Beitrag konzentriert sich auf Denker wie Antonio Rosmini und Vincenzo Gioberti, die mit zu den bedeutendsten italienischen Philosophen des »Risorgimento« gelten dürfen und die versuchten, ein »nationales Denken« gegenüber den Kulturnationen Frankreich und Deutschland zu profilieren. Die Interpretation der Philosophie Giambattista Vicos, der hierfür als Paradigma italienischen Denkens der Neuzeit beansprucht wurde, dient Fabbianelli als Hintergrundfolie, vor der die Differenzen zwischen »deutscher« und »italienischer« Philosophie im Denken Rosminis und Giobertis deutlich hervortreten. Massimo Mori (Turin) untersucht in seinem Beitrag speziell die italienische Kant-Rezeption im 19. Jahrhundert in der Phase des »Risorgimento« und vor dem Hintergrund der Frage nach der Identität der italienischen Philosophie. Mori zeigt, dass die italienische Philosophie in dieser Phase einen stark ausgeprägten Realismus vertrat und eine ganz spezielle Form einer »Philosophie der Erfahrung« entwickelte, die sich signifikant vom britischen Empirismus und französischen Sensualismus unterschied. Das Charakteristikum einer solchen Philosophie bestand darin, in ausdrücklicher Anknüpfung an Galileo Galilei Vernunft und Erfahrung miteinander zu verbinden. Dies erklärt nach Mori, warum die Kantische Transzendentalphilosophie anfangs nur wenig und sehr kritisch rezipiert, ja gar als schädlich angesehen wurde. Mori demonstriert dies anhand von Philosophen wie Pasquale Galluppi und Antonio Rosmini, aber auch von Denkern des italienischen Neukantianismus wie Carlo Cantoni und Felice Tocco, deren Kant-Interpretation von Wilhelm von Helmholtz, Friedrich Albert Lange und Jürgen Bona Meyer beeinflusst war und die durch

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Einleitende Bemerkungen zu einem philosophischen Verhältnis

eine psychologistische Lesart versuchten, die realistischen Momente in Kants Philosophie stärker hervorzuheben. Elena Ficara (Paderborn) rekonstruiert in ihrem Beitrag Bendetto Croces Deutung der Hegel’schen Dialektik in seiner in Deutschland nur wenig bekannten, gleichwohl einflussreichen Schrift Ciò che è vivo e ciò che è morto della filosofia di Hegel (1906). Nach Croce hat Hegel nicht streng genug zwischen Unterschiedenem (»distinti«), also bloß konträr Bestimmtem, und Entgegengesetztem (»opposti«), Kontradiktorischem, differenziert. Darin erblickt Croce das Grundproblem von Hegels Dialektik, insofern bei ihm jeder bloße Unterschied auf die Form der Entgegensetzung reduziert würde, so dass nach Croce Hegels philosophisches Denken nicht mehr als aktuell (»vivo«), sondern nur noch als tot (»morto«) angesehen werden kann. Croce plädiert deshalb dafür, Hegels Dialektikbegriff zu erweitern und zwischen zwei Arten von Dialektik zu unterscheiden: Er versucht, der Synthese von Entgegengesetztem (»sintesi degli opposti«) eine Synthese des Unterschiedenen (»sintesi dei distinti«) an die Seite zu stellen. Abschließend stellt Ficara die systematische Relevanz und Aktualität von Croces Transformation der Hegel’schen Dialektik im Bereich der Semantik der Negation heraus. Croces Kritik an Hegels Dialektik kann ferner als ein Leitmotiv für viele wichtige Strömungen der europäischen Philosophie des 20. Jahrhunderts angesehen werden. So hat etwa Adorno in seinen Vorlesungen über die Dialektik, die für seine Theorie der Negativen Dialektik von Bedeutung waren, Croces Hegelkritik wieder aufgegriffen. Marco Ivaldo (Neapel) untersucht die italienische Fichte-Rezeption am Beispiel des Denkens Luigi Pareysons (1918–1991). Eine besondere Bedeutung kommt Pareysons Fichte-Buch aus dem Jahr 1950 zu, das einen Meilenstein in der Fichte-Forschung darstellt, und seiner Fichte-Interpretation in seiner posthum veröffentlichen Turiner Vorlesungsreihe der Jahre 1982/1983. Ivaldo versucht, die Hauptlinien von Pareysons Fichte-Interpretation, deren Bedeutung sich interessanterweise eher unter Berücksichtigung der jeweiligen SchellingAuslegung erfassen lasse, herauszuarbeiten. Pareyson interpretiert nach Ivaldo Fichte nicht vor dem Hintergrund von hegelianischen Konzeptionen. Anders etwa als dies Walter Schulz mit seiner These der Vollendung des deutschen Idealismus getan hatte, interpretiert Pareyson Schellings Philosophie vielmehr als einen Austritt aus dem Idealismus, insofern diese den Primat des Seins vor dem Wissen betont habe. Fichtes Philosophie der Freiheit ist nach Pareyson zum 13 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Thomas Buchheim/Jörg Noller

einen charakterisiert durch die »Treue zum Standpunkt des Endlichen«; zum andern versuche sie, so Ivaldo, von diesem Standpunkt aus zu einer Theorie des Absoluten zu gelangen, die jedoch nur als »indirekte Behauptung« des Absoluten erfolgen kann, indem sie den endlichen Geist als das einzig mögliche Bewusstsein bzw. als Bild des Absoluten begrifflich durchdringt. Thorsten Gubatz (Br. Simeon OSB) (Gerleve) befasst sich in seinem Beitrag kritisch mit der Heidegger-Rezeption Luigi Pareysons. Heideggers Denken faszinierte den frühen Pareyson seit dessen Studienjahren, allerdings findet sich erst in Pareysons Spätwerk eine explizite Auseinandersetzung mit Heideggers Philosophie. Diese späte Annäherung Pareysons an Heidegger kann nach Gubatz als ein problematischer »amour fou« charakterisiert werden, auch wenn sich einige Parallelen zwischen Pareysons christlich beeinflussten Personalismus und Heideggers Daseinsontologie aufzeigen lassen. Als problematisch erscheint nach Gubatz insbesondere Pareysons Versuch, Heidegger und auch Schelling im Sinne eines »ontotheologischen Libertismus« in eine Tradition des abendländischen Denkens einzuordnen, wonach deren eigentliches Motiv eine Ontologie sei, die der Freiheit vor dem Sein den unbedingten Primat zuerkenne. Auch führe Pareysons Ontologie der Freiheit zu einer Suspendierung religiöser und theologischer Erkenntnisansprüche im Rahmen einer dialogischen Hermeneutik des religiösen Mythos. Pareyson, so Gubatz’ Kritik, stelle damit die christlich-metaphysische Tradition und ihr Fortwirken bei Schelling und bei Heidegger verzerrt dar. Der Beitrag von Ugo Perone (Berlin) beschließt den Sammelband und stellt den letzten Teil (»Europa«) dar. Er beginnt seinen Beitrag mit der Feststellung einer »frappante[n] Asymmetrie« hinsichtlich der philosophischen Beziehung zwischen Italien und Deutschland, die er an der geringen Rezeption italienischer Philosophie in Deutschland festmacht. Sodann wirft Perone die Frage auf, inwieweit die Rede von einer »nationalen Philosophie« überhaupt sinnvoll ist, und ob nicht vielmehr eine solche Vorstellung aufgegeben werden sollte zugunsten eines anderen Konzepts. Ausgehend von einer kritischen Betrachtung des philosophischen Nationalbegriffs entwirft Perone dann Perspektiven einer europäischen Philosophie im Kontext eines europäischen Denkraums, bzw. einer gemeinsamen »Gedankenwährung«. Im Zentrum steht dabei die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Philosophie, aber auch die Frage, wie die Philosophie künftig dazu beitragen kann, einen gemeinsamen euro14 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Einleitende Bemerkungen zu einem philosophischen Verhältnis

päischen Denkraum zu schaffen. Perone versucht ein Modell europäischen Philosophierens zu entwickeln, das die ursprüngliche Aufspaltung in nationale Denktraditionen dialogisch überwindet, ohne die bestehenden kulturellen Differenzen einzuebnen oder zu banalisieren.

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Teil I: Germania und Italia

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Den Geist verstehen. Vico und die deutsche Aufklärung Jörg Noller

1.

Vico verstehen

In seiner umfangreichen Einleitung in die deutsche Edition von Vicos Prinzipien einer neuen Wissenschaft hat Vittorio Hösle vor über 20 Jahren darauf hingewiesen, »daß Vico in Deutschland letztlich immer noch ein Unbekannter ist« 1. Dies darf wohl auch noch für heute gelten, trotz einiger Untersuchungen, die seitdem erschienen sind. 2 Freilich ist Vico zu Unrecht ein Unbekannter, denn die Bedeutung von Vicos Philosophie ist durchaus vergleichbar mit einem anderen modernen italienischen Ideengeber – niemand Geringerem als Galileo Galilei. Wie Thomas Sören Hoffmann in seinem kürzlich erschienenen Buch Philosophie in Italien 3 treffend bemerkt hat, verhalten sich die Leistungen Galileis und Vicos gewissermaßen komplementär: Hatte Galilei Entscheidendes zur Begründung der modernen Naturwissenschaft beigetragen, so hat, wie Hoffmann konstatiert, »einhundert Jahre danach […] Vico das gleiche für die wesentlich nicht quantitativ verfahrenden Geisteswissenschaften getan.« 4 Vicos ideengeschichtliche Leistung besteht in der Etablierung einer spezifischen Methode – dem Verstehen –, die ihrem Gegenstand – dem Geistigen, als kulturellen, sprachlichen und geschichtlichen Produkten – angemessen ist. Man hat deswegen Vico mit Recht als »Gründervater« 5 der Geisteswissenschaften bezeichnet. Dieses Verstehen ist, wie Wilhelm Dilthey 200 Jahre nach Vico gezeigt hat, wesentlich vom Erklären der Naturwissenschaften unterschieden, 6 auch Hösle (1990), XXXV. Vgl. auch ebd., CCLXIX: »Vico drang nicht eigentlich in das [deutsche] gebildete Bewußtsein ein.« 2 Z. B. Trabant (1996a); Na (2002); Marienberg (2006); Woidich (2007); König (2013). 3 Hoffmann (2007). 4 Ebd., 17. Vgl. auch Apel (1980), 334. 5 Hoffmann (2007), 353. 6 Vgl. Wilhelm Diltheys Gegenüberstellung in Zitaten wie: »Die Natur erklären wir, 1

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Jörg Noller

wenn Vico diese Erforschung des Geistes nicht als ein Alternativunternehmen zu den Naturwissenschaften, sondern – in Anknüpfung an das Novum Organon von Francis Bacon – als eine diese ergänzende »Neue Wissenschaft« verstanden wissen will. 7 Man hat Vico deswegen auch als Begründer oder Ideengeber der Disziplin der »Kulturwissenschaft« bezeichnet, 8 und in seiner Philosophie einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der modernen Hermeneutik erblickt. 9 Allerdings sind bei der vermeintlichen Modernität der Vico’schen Werke Bedenken angebracht: Ihre thematische Offenheit darf nicht dahingehend verstanden werden, in Vico einen Vorläufer sämtlicher moderner geisteswissenschaftlicher Entwicklungen zu sehen, da so der spezifische systematische Gehalt von Vicos Werk damit instrumentalisiert und der Beliebigkeit anheimgegeben würde. Nachdem Vico mit allen nur erdenklichen vor- und nachgeborenen Denkern konjugiert wurde – das Spektrum reicht von »Vico und Machiavelli« 10, »Vico und Spinoza« 11, über »Vico und Herder« 12, »Vico und Kant« 13, »Vico und Hegel« 14 bis hin zu »Vico und Nietzsche« 15, »Vico und Marx« 16, »Vico und Dilthey« 17, »Vico und Cassirer« 18, »Vico und Gadamer« 19, ja gar »Vico und Derrida« 20 – ist seit einiger das Seelenleben verstehen wir« sowie: »Wir erklären durch rein intellektuelle Prozesse, aber wir verstehen durch das Zusammenwirken aller Gemütskräfte in der Auffassung.« In: Dilthey (1894), 144; 172. Vgl. auch Hoffmann (2007), 356. 7 Zur Kontinuität mit Bacon vgl. Barnouw (1980), 609: »Vico’s development, rightly understood, rather supports the view that the ›new science‹ of the seven-teenth century, from Galileo on, provided the crucial inspiration and model for the formation of the human sciences and thus effected a fundamental break with humanistic and prudential orientations. A careful reading of Vico’s early works reveals a deep commitment to the continuity of science.« 8 Vgl. Hösle (1990). 9 Vgl. dazu die sehr instruktive und einen guten Überblick gebende Studie von Woidich (2007). 10 Morrison (1979), 1–14. 11 Morrison (1980), 49–68. 12 Berlin (1976). 13 Fellmann (1993), 213–233. 14 Na (2002); Otto (1977), 43–60. 15 Parry (1989). 16 Tagliacozzo (Hg.) (1983). 17 Hodges (1969). 18 Paci (1969); Verene (1985); Behrenberg (1991). 19 Schaeffer (1987). 20 Frankel (1983), 51–61.

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Zeit der Trend festzustellen, »Vico zunehmend als Vico« 21, d. h. als »Denker eigenen Rechts« 22 ernst zu nehmen. Bezeichnend dafür ist ein Aufsatz, der gegen die Tendenz einer beliebigen Vereinnahmung Vicos den programmatischen Titel »Vico ohne Hegel« 23 trägt. 24 Auch der lange Zeit in München lehrende Philosophiehistoriker Stephan Otto hat auf die Problematik der anachronistischen Modernisierung Vicos hingewiesen. Die Parallelisierungen mit anderen Denkern erweckten, so Otto, den Anschein »als ginge es bloß darum, wer denkt und nicht um das, was gedacht wird.« 25 Obwohl nun, wie Otto zurecht zu bedenken gibt, »Vicos Modernität und Aktualität« »durch Alliterationen im Stil von ›Vico und dieses‹, ›Vico und jenes‹ eher verspielt wird« 26, da dabei seine systematischen Argumente außer Acht gelassen werden, werde ich trotz dieser sehr berechtigten Bedenken ein weiteres »Vico und …« der langen Reihe der Konjunktionen zugesellen, indem ich ihn auf die Tradition der deutschen Aufklärung beziehe. Dies hat zwei Gründe. Zum einen darf »[die] frühe Rezeption Giambattista Vicos in Deutschland« als »eines der faszinierendsten und verworrensten Kapitel in der Geschichte der Aufnahme des neapolitanischen Philosophen in Europa« 27 gelten, wie in der jüngsten Vico-Forschung hervorgehoben wurde. 28 Zum andern existieren trotz der zahlreichen VicoTrabant (1996b), 244. Ebd. 23 Piovani (1969). Piovani wendet sich speziell gegen die Art und Weise des Vergleichs einer »a kind of Vichian metempsychosis in Hegel« (107), wie er durch Benedetto Croce getätigt wurde. Die Absicht besteht denn auch darin »to detach Vico from any necessary reference to Hegel, a reference which, from having been habitual, has become dangerously reflexive« (123). 24 Vgl. dazu Trabant (1996), 244. Allerdings hat sich bereits Löwith (1968), 16 f., gegen eine idealistische Vico-Interpretation im Stile Croces gewendet: »Die Geschichte ist nicht nur ein eigenes Tun, sondern auch und vor allem Ereignis und Geschehen und darum prinzipiell zweideutig. Vicos Darstellung dieser Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit im Geschehen stimmt viel besser zu der allgemeinen Erfahrung und dem unvoreingenommenen Sinn für geschichtliche Ereignisse als Croces philosophischer Liberalismus.« 25 Otto (1989), 33. 26 Otto (1989), 34. 27 Landolfi Petrone (2013), 25. 28 Landolfi Petrone fährt folgendermaßen fort: »Das Kapitel beginnt mit einem Missverständnis und wahrscheinlich mit einer Verleumdung und setzt sich mit einer Reihe von verpassten Begegnungen, enttäuschten Erwartungen, Fehldeutungen, Affinitäten und fast wörtlichen Übereinstimmungen fort.« (25) Vgl. König (2013), 3: »Der erratische Verlauf der Vico-Rezeption lädt geradezu ein, sich in ihre Geschichte zu ver21 22

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Konjunktionen bislang nur wenige Untersuchungen, die sich mit diesem Thema ausdrücklich befasst haben. 29 Dies mag damit zusammenhängen, dass sich die Forschung vor allem auf den Vergleich von Vicos Geschichtsphilosophie und den deutschen Idealismus konzentriert hat, wie sie durch Benedetto Croces bedeutendes Vico-Buch angeregt wurden, 30 auch wenn zwischen Vico und den deutschen Idealisten nachweislich kein direktes Rezeptionsverhältnis bestanden hat. Wie Karl Löwith bemerkt hat, blieb auch der deutschen Aufklärung Vicos Werk weitgehend unbekannt: »Nur im Umkreis von Herder, Goethe und Jacobi war man darauf aufmerksam geworden.« 31 Diese Reihe muss freilich noch durch Johann Georg Hamann und Friedrich August Wolf ergänzt werden. 32 In der Vico-Forschung wird zwischen zwei Ansätzen bezüglich seines ideengeschichtlichen Verhältnisses zu anderen, nachgeborenen Denkern unterschieden. Zum einen der »Ansatz der funktionellen Analogien«, wonach »die gedanklichen Affinitäten zwischen Vico und einigen deutschen Denkern nicht auf einen unmittelbaren Einfluss Vicos zurückzuführen seien, sondern das Produkt eigenständiger Reflexionen« sind. 33 Zum andern wird mit der »Hypothese des unmittelbaren Einflusses« operiert, wonach es gilt, »Hinweise auf eine tatsächliche Vico-Lektüre aufzuspüren« 34. Ich will im Folgenden nicht die These vertreten, dass Vico die deutsche Philosophie der Aufklärung wesentlich geprägt hat und werde also gegen die Hypothese des unmittelbaren Einflusses argumentieren. Vielmehr möchte ich – gemäß dem Ansatz der »funktiotiefen und damit zu einem genaueren Verständnis Vicos wie auch derer zu kommen, die ihn rezipiert (oder auch nicht rezipiert) haben, und den Zeit-, Kultur- und Gesellschaftsumständen, unter denen dies geschah.« 29 Hervorzuheben sind hier Marienberg (2006) und Woidich (2007). 30 Croce (1927). 31 Löwith (1968), 25. 32 Zu Hamann vgl. unten, Teil 3. Wolf urteilt in seiner kurzen Schrift Giambattista Vico über den Homer über Vicos Neue Wissenschaft: »Dies Buch des J. B. Vico ist durchaus in seinem Inhalte und der Behandlungsart seiner Materien eines der seltsamsten, das aus dem Kopfe eines belesenen und, nach eigener Weise, scharf- und spitzsinnigen Italiäners hervorgegangen ist.« (Wolf [1807], 556) Auch ist es nicht unwahrscheinlich, dass Christian Gottlob Heyne (1729–1812) im Rahmen seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Mythos von Vico beeinflusst wurde. Vgl. dazu D’Allesandro (1999). 33 Landolfi Petrone (2013), 38. 34 Ebd.

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nellen Analogie« – ideengeschichtliche Nähen und Parallelen zwischen dem großen Neapolitaner und einer Reihe von deutschen Denkern der Tradition der Aufklärung herausstellen, im Wesentlichen der von Löwith angeführten. Allerdings – und darin besteht sozusagen die Synthese beider Ansätze – nur dort, wo explizit auf ihn Bezug genommen wird. Diese historisch nachweisbaren Bezüge stellen den Rahmen der folgenden Untersuchungen dar. Das von mir zwischen Vico und die deutsche Philosophie der Aufklärung gesetzte »Und« soll also nur eine Relation darstellen, nicht eine Identität oder Kontinuität der Gedanken suggerieren. Eher schon soll dadurch eine Kongenialität herausgestellt werden, die jedoch häufig ex post konstruiert wird. 35 Es wird sich herausstellen, dass dieses »Und« gewissermaßen ein ›transalpines‹ »Und« ist. Meine These wird sein, dass das Verhältnis von Vico zur deutschen Philosophie der Aufklärung als paradigmatisch oder, genauer: symptomatisch für die deutsche Rezeption der italienischen Philosophie überhaupt angesehen werden kann. Denn der Weg der Vico-Rezeption der deutschen Aufklärung ist ein sehr mühseliger, der auf verschlungenen Wegen über die Alpen führt. Es handelt sich also weniger um eine Rezeptions- als um eine Instrumentalisierungs- und Stilisierungsgeschichte Vicos durch die deutsche Philosophie seit der Aufklärung.

2.

Die Anschmiegung des Begriffs. Vico und die Hermeneutik

So modern Vicos Idee einer Kulturwissenschaft aus heutiger Perspektive auch sein mag, so sehr bringt sie doch den gegenwärtigen Geisteswissenschaftler in Verlegenheit. Wie Stephan Otto in seiner Einführung zu Vicos Werk festgestellt hat, ist dieses »in eigenartiger Weise verschlüsselt« 36. Vor allem sein »Hauptwerk« 37, die Neue WisVgl. dazu auch König (2013), 24: »Gerade die Kongenialität nachfolgender Generationen mit dem Werk einer früheren Generation, in dem sie sich erkennen können, bietet einen Zugang – im Positiven wie im Negativen – auch zu den Späteren und damit letztlich auch zu uns Heutigen. Diese Form einer symptomatisch-dialogischen Rezeptionsgeschichte führt in Bezug auf Vico vielleicht zu den spannendsten Ergebnissen. So ließe sich durchaus fragen, warum eine Rezeption, die mehr als nahe gelegen hätte, nicht stattgefunden hat, ohne dass dies zu einem nichtsagenden Resultat führt.« 36 Otto (1989), 2. 37 Ebd., 27. 35

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senschaft, darf immer noch als ein »Rätselbuch« 38 gelten. Otto spricht deshalb von der »Herausforderung« des »unzeitgemäßen Italieners« und vom »Befremden«, welches den heutigen Leser seines Werks beschleichen muss. 39 Was für den allgemeinen Leser gilt, gilt im Speziellen für den Philosophen, der, wie Otto bemerkt, »einigermaßen hilflos vor Vico« 40 steht. Wie Thomas Sören Hoffmann in seinem Buch über die »italienische Philosophie« herausgestellt hat, kann Vico als ein Erbe des italienischen Humanismus angesehen werden, dessen Bewusstsein darin besteht, »daß wir niemals die ›Ersten‹, sondern die ›Zweiten‹, daß wir zumindest zunächst nicht Autoren, sondern nur Leser, daß wir zuerst Vernehmende, dann erst Vernünftige sind.« 41 Hoffman führt weiter aus: »[M]ehr als in anderen Ländern Europas ist in Italien im Raum einer beispiellosen kulturellen Kontinuität von mehr als zweieinhalbtausend Jahren dieses Wissen vorhanden gewesen, eine entsprechende Rezeptionskultur entstanden und der so gar nicht ›tote‹ Buchstabe gepflegt und immer wieder erweckt worden, während gegen das ›Stunde-Null-Bewußtsein‹ der neuen Anfänger eine gesunde Skepsis bestand.« 42

Schon allein durch diese ungebrochene Kontinuität sind Zweifel angebracht, wenn Vico mit dem Begriff der Aufklärung in eine zu große Nähe gerückt wird. 43 Denn Vico vertritt ein Zyklenmodell der Entwicklung des menschlichen Geistes, welches sich dagegen sperrt, mit der fortschrittsgläubigen, teleologischen Geschichtsphilosophie der Aufklärung in Verbindung gebracht zu werden. 44 Auch mit Blick auf Vicos eigene Zeit nehmen seine Werke eine kritische Stellung ein. Denn Vico grenzt seinen Begriff des Geistes von dem »reinen« Denken der cartesischen Tradition ab, für welche allein more geometrico erlangte Ergebnisse und auf Selbstbewusstsein gegründete Inhalte objektiv sind. Man könnte zugespitzt formulieren: Während es Descartes darum geht, den Geist geometrisch zu vermesEbd., 26. Ebd. 40 Ebd., 27. 41 Hoffmann (2007), 352. 42 Ebd. 43 Vgl. dagegen Trabant (1996a), 163, wonach Vicos Philosophie »ein genuiner Teil der europäischen Aufklärung« ist. Vgl. ebenfalls Berlin (2000), der Vico zur Tradition der Kritiker der Aufklärung zählt. 44 Vgl. Hösle (1990), CCLXIX. 38 39

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sen und zu erklären, geht es Vico darum, den Geist hermeneutisch zu verstehen. In seiner Autobiographie schreibt Vico über Descartes: »Es soll nun hier nicht gefabelt werden, wie Descartes schlauerweise über die Methode seiner Studien gefabelt hat, um lediglich die Philosophie und die Mathematik zu erheben, alle anderen Bestrebungen aber, welche die göttliche und menschliche Gelehrsamkeit ausmachen, herabzusetzen [Hervorh. J. N.].« 45

Gegen die cartesische Vernunftkonzeption wendet Vico ein: »[S]obald wir aus dem Verstand geistige Dinge hervorziehen wollen, müssen wir von der Phantasie unterstützt werden, um sie darstellen zu können und, wie die Maler, aus ihnen menschliche Bilder zu machen.« 46 Dieses Vermögen der Phantasie ist aufs Engste mit dem Vermögen der Sprache verbunden, ja man kann sagen, dass Vico der Sprache ihre eigene Autonomie zugesteht. 47 Die cartesische Zirbeldrüse, als die zwischen res extensa und res cogitans vermittelnde Instanz, ist bei Vico die Sprache, das Vermittelnde schlechthin: »[D]er Mensch«, so Vico, ist »eigentlich nichts anderes ist als Geist, Körper und Sprache und die Sprache [ist] gleichsam in die Mitte gesetzt […] zwischen den Geist und den Körper«. 48 Vicos Anliegen ist jedoch nicht irrational, und ebenso im Grunde keine Alternative zum cartesischen Methodenideal, sondern wesentlich komplementär: Der gesamte Bereich geistiger Entitäten soll nämlich der menschlichen Rationalität zugänglich gemacht werden – einer Rationalität, die nicht reduktiv, sondern holistisch ausgerichtet ist. Entgegen der Vermessung des Geistes »mit dem geradlinigen Lineal des Verstandes« bei Descartes – der Kritik – entwickelt Vico in Anlehnung an die antike Rhetorik einen antireduktionistischen und holistischen Ideenbegriff, der nicht nur in der analytischen Deduktion, sondern in der Anschauung des Geistigen liegt – der Topik –, die durch die Urteilskraft und die Phantasie begleitet wird. Die Topik ist, so Vico, eine Kunst, »die erste Tätigkeit unseres Geistes gut zu regeln, indem sie die Punkte lehrt, die alle zu durchlaufen sind, um all das zu erkennen, was an dem Ding ist, das man richtig, und das heißt in seiner Ganzheit, erkennen will [Hervorh. J. N.]«. 49 45 46 47 48 49

Vico (1948), 11. Vico (1990b), 189. Vgl. auch Hösle (1990), CLXIX f. Vico (1990b), 466. Vgl. auch Hösle (1990), CLXIX und Wohlfart (1984), 118. Vico (1990b), 251.

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Im Kontext seines Begriffs einer sprachlich vermittelten Urteilskraft wird sein Begriff des natürlichen Gemeinsinns (sensus communis) und der Klugheit (sapientia) zentral. Der Gemeinsinn ist nicht das Vermögen der Wahrheit, sondern nur des Wahrscheinlichen (verisimilia): »[D]as Wahrscheinliche steht gewissermaßen in der Mitte zwischen dem Wahren und dem Falschen, insofern es nämlich meistens wahr, nur ganz selten falsch ist.« 50 Es lassen sich deshalb, so Vico, »die Handlungen der Menschen nicht mit dem geradlinigen Lineal des Verstandes, das starr ist, messen«; vielmehr müssen sie »mit jener geschmeidigen Norm der Lesbier geprüft werden, die die Körper nicht an sich anpaßt, sondern sich an die Körper anschmiegt«. 51 Der Unterschied zwischen Wissenschaft (scientia) und Klugheit (sapientia) – man ist geneigt zu sagen: zwischen Erklären und Verstehen – besteht nach Vico denn auch darin, »daß in der Wissenschaft diejenigen groß sind, die von einer einzigen Ursache möglichst viele Wirkungen in der Natur ableiten, in der Klugheit aber diejenigen Meister sind, die für eine Tatsache möglichst viele Ursachen aufsuchen, um dann zu erschließen, welche die wahre ist.« 52 In Abgrenzung zum punktuellen cartesischen fundamentum inconcussum, 53 der Gewissheit des eigenen Ichs, entwickelt Vico seinen bekannten Grundsatz, der als das »Vico-Axiom« 54 Geschichte ›gemacht‹ hat, wonach gilt, »daß diese politische Welt [und politisch ist für Vico ein weiter Begriff, indem er auch ›die Welt der Völker‹ umfasst] sicherlich von den Menschen gemacht worden ist; deswegen können […] ihre Prinzipien innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes gefunden werden.« 55

Vico (1963), 21. Durch die Akzentuierung des Begriffs des Wahrscheinlichen für den epistemischen Bereich des Menschen steht Vico in einer engen Verbindung zu einem deutschen Denker, der vor ihm gelebt hatte: Nikolaus von Kues. Cusanus reserviert den Begriff der »Mutmaßung« (coniectura) für die spezifisch menschliche Erkenntnis: »Der menschliche Geist ist […] die Form der mutmaßlichen Welt (mundus coniecturalis), wie der göttliche die Form der realen. Wie also jene absolute göttliche Seinsheit in jedem Seienden all das ist, was es ist, so ist auch die Einheit des menschlichen Geistes die Seinsheit seiner Mutmaßungen« (Cusanus [1971], 7). 51 Vico (1963), 61. 52 Ebd. 53 Vgl. Trabant (1996a), 165. 54 Vgl. dazu auch Fellmann (1976). 55 Vico (1990a), 142. 50

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Es handelt sich also gegenüber dem cartesischen Selbstbewusstsein um ein erweitertes Selbstbewusstsein, in welchem der menschliche Geist nicht nur als Individuum, sondern als Gattung sich selbst, im Wirken über die Zeit hinweg, in seinen intersubjektiven Verflechtungen und Produkten (wieder-)erkennt. Vicos Neue Wissenschaft ist daher nach eigenem Bekunden »eine Geschichte der menschlichen Ideen« 56. Ihr Ziel besteht genauer darin, »eine ewige ideale Geschichte zu beschreiben, nach der die Geschichte aller Völker in der Zeit abläuft in ihrem Entstehen, ihrem Fortschritt, Höhepunkt, Niedergang und Ende. Ja, wir wagen zu behaupten, daß derjenige, der über diese Wissenschaft nachdenkt, sich selbst diese ewige ideale Geschichte insofern erzählt, als er in jenem Beweis ›es mußte, muß und wird müssen‹ sich diese Welt selbst schafft – da diese Welt der Völker sicherlich von den Menschen gemacht worden ist (was das erste unbezweifelbare Prinzip ist, das darüber hier oben aufgestellt worden ist) und daher die Weise davon innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes gefunden werden muß –; denn wenn es sich trifft, daß derjenige, der die Dinge schafft, sie selbst erzählt, dann kann es keine größere Gewißheit für die Geschichte geben. Somit verfährt diese Wissenschaft ebenso wie die Geometrie, die sich selbst die Welt der Größen schafft, während sie sie nach ihren Elementen konstruiert oder betrachtet; aber mit um so viel mehr Realität, als die Ordnungen in Rücksicht der Angelegenheiten der Menschen mehr Realität haben als Punkte, Linien, Oberflächen und Figuren.« 57

Vico hat damit die produktive Schöpfungskraft der Phantasie entdeckt, welche ihn zugleich als einen Kritiker der Aufklärung erscheinen lässt, 58 insofern er eine »Kritik an der logozentrischen Moderne« 59 äußert. Es liegt deshalb nahe, Vico zunächst mit Johann Georg Hamann, dem wohl bedeutendsten und zugleich geheimnisvollsten deutschen ›Kritiker der Aufklärung‹ in ein ideengeschichtliches Gespräch zu bringen.

Ebd., 153. Ebd., 154 f. 58 Dies zeigt sich an der siebenfachen Bestimmung der Neuen Wissenschaft (Vico [1990a]) durch die »Hauptgesichtspunkte«: sie soll erstens »eine rationale politische Theologie der Vorsehung […] sein« (178), »eine Philosophie der Autorität« (179), »eine Geschichte der menschlichen Ideen« (182), »eine ewige ideale Geschichte« (183), »ein System des natürlichen Rechts der Völker« (184), und »die Anfänge der Universalgeschichte« (186). Vgl. auch Otto (1989), 39. 59 Trabant (1996a), 166. 56 57

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3.

»… sibyllinische Vorahnungen des Guten und Rechten«. Vico und Hamann

Es war niemand Geringeres als der deutsche Dichterfürst, der Vico mit Hamann in einem Atemzug nannte und damit im Grunde die ganze Reihe der »Vico und …«-Vergleiche in Gang setzte. In sein Tagebuch vom 5. März 1787 schrieb Goethe auf seiner Italienischen Reise, er sei in Neapel »mit einem alten Schriftsteller bekannt [gemacht worden], an dessen unergründlicher Tiefe sich diese neuern italienischen Gesetzfreunde höchlich erquicken und erbauen, er heißt Johann Baptista Vico, sie ziehen ihn dem Montesquieu vor. Bei einem flüchtigen Überblick des Buches, das sie mir als ein Heiligtum mitteilten, wollte mir scheinen, hier seien sibyllinische Vorahnungen des Guten und Rechten, das einst kommen soll oder sollte, gegründet auf ernste Betrachtungen des Überlieferten und des Lebens. Es ist gar schön, wenn ein Volk solch einen Ältervater besitzt; den Deutschen wird einst Hamann ein ähnlicher Kodex werden.« 60

Überhaupt scheint Goethe hinsichtlich der frühen deutschen VicoRezeption eine Schlüsselrolle zu spielen. Denn fünf Jahre später, im Jahr 1792, leiht er die Neue Wissenschaft an Friedrich Heinrich Jacobi, 61 der wiederum Vico aufs Engste mit Kant in Verbindung bringen sollte, insofern, so Jacobi, »wir einen Gegenstand nur in so weit begreifen, als wir ihn in Gedanken vor uns werden zu lassen, ihn im Verstande zu schaffen vermögen« 62; – Vico, ein Transzendentalphilosoph ante litteram also? Gothe (2002), 192; Vgl. auch Nadler (1949), 55: »Wie schade, daß die beiden, die Goethe so verwandt empfunden hat […] nicht aufeinander gekommen sind.« 61 Vgl. Croce (1927), 244. 62 In seiner Schrift Von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung von 1811 zitiert Jacobi allerdings den Liber Metaphysicus und seine verum-factum-Theorie, die er als Vorläuferin der Kopernikanischen Wendung Kants deutet, nach der wir nur das erkennen können, was wir in Begriffe verwandelt haben. »Der Kern der Kantischen Philosophie ist die […] zur vollkommensten Evidenz gebrachte Wahrheit: daß wir einen Gegenstand nur in so weit begreifen, als wir ihn in Gedanken vor uns werden zu lassen, ihn im Verstande zu schaffen vermögen. […] Mit Grund rechnet Kant es sich zum größten Verdienst an, durch eine scheinbare Einschränkung des Vernunftgebrauchs diesen in der That erweitert, und durch Aufhebung des Wissens im Felde des Uebersinnlichen, einem dem Dogmatism der Metaphysik unantastbaren Glauben Platz gemacht zu haben.« Etwas Analoges habe »[l]ange vor Kant, zu Anfange des achtzehnten Jahrhunderts […] Joh. Bapt. Vico zu Neapel« geschrieben« (Jacobi [2000], 78 f.). 60

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Wie steht es um das direkte Rezeptionsverhältnis von Vico und Hamann? Es ist erwiesen, dass Hamann selbst ein Exemplar der Neuen Wissenschaft besaß, welches er sich im Jahr 1777 in Florenz verschaffte. 63 Er ist damit der erste Denker im deutschen Sprachraum, der über Vicos Neue Wissenschaft berichtet. In seinem Brief an Herder aus demselben Jahr schreibt Hamann: »In Vico Schwärmereyen hoffe ich noch etwas Korn zu finden, aber […] [ich habe] kaum Muße gehabt ihn anzufangen.« 64 Tags darauf schreibt er, nun allerdings von der Lektüre ernüchtert, wieder an Herder: »In Vico vermuthete ich die Quellen von der Science nouvelle der Physiocratisten. Es scheint aber mehr Philologie enthalten zu seyn und hat keine Gemeinschaft mit jenen. […] Die Einleitung ist eine sehr weitschweifige Erklärung des allegorischen Titelkupfers, worauf die Metaphysik u eine Bildsäule des Homers die Hauptfiguren, die übrigen alle hieroglyphisch sind. Es kostet[e] mir mit dem schönsten Bande 7 Lire […].« 65

Zwar assoziierte Goethe Vico, den großen Neapolitaner im Süden, mit Hamann, dem »Magus im Norden«, wie Benedetto Croce treffend bemerkt hat, »mehr aus einer glücklichen Kombination, als aus einer wirklichen Kenntnis oder klaren Anschauung« 66. Dennoch hat Goethe in seiner Parallelisierung des Sibyllinischen bei beiden Denkern einen sehr wesentlichen Punkt getroffen, so wie auch später Ernst Cassirer Vico aufs Engste in Verbindung mit Hamann bringen sollte. 67 Denn so wie Hamanns Schriften bekanntermaßen dunkel und hermetisch sind, so fällt auch Vicos Neue Wissenschaft dadurch auf, dass sie, wie Benedetto Croce festgestellt hat, »wunderlich und verworren« 68 ist und keiner strengen Systematik folgt. Zum andern besteht ihre ideengeschichtliche Nähe zu Hamann in dem linguistic turn einer Reflexion auf die Sprachlichkeit der Vernunft: Wie Vico den cartesischen Dualismus von res extensa und res cogitans, so unterzieht Hamann die kantische Trennung von mundus sensibilis und Vgl. Croce (1927), 244 f. Hamann (1957), 392. Vgl. auch Albus (2001), 125. 65 Hamann (1957), 393 f. 66 Croce (1927), 244. 67 Vgl. Cassirer (2001), 91: »In einem anderen und tieferen Sinne aber wirkten die Anschauungen Vicos bei dem Manne weiter, der von allen Denkern des achtzehnten Jahrhunderts seiner symbolischen Metaphysik und seiner symbolischen Geschichtsauffassung am nächsten steht und der gleich ihm die Poesie als die Muttersprache des menschlichen Geschlechts betrachtet.« 68 Croce (1927), 130. Vgl. Wohlfahrt (1984), 54 Fn. 63 64

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mundus intelligibilis einer sprachphilosophischen Kritik, um die getrennten Bereiche durch Hinweise auf die pragmatische Dimension der Sprache zu vermitteln. 69 In diesem Sinne schreibt Hamann in seiner Metakritik über den Purism der Vernunft von 1784 – drei Jahre nach dem Erscheinen von Kants erster Kritik: »Wörter haben also ein ästhetisches und logisches Vermögen. Als sichtliche und lautlose Gegenstände gehören sie mit ihren Elementen zur Sinnlichkeit und Anschauung, aber nach dem Geist ihrer Einsetzung und Bedeutung, zum Verstand und Begriffen. Folglich sind Wörter sowohl reine und empirische Anschauungen, als auch reine und empirische Begriffe: empirisch, weil Empfindung des Gesichts oder Gehörs durch sie bewirkt; rein in so fern ihre Bedeutung durch nichts, was zu jenen Empfindungen gehört, bestimmt wird. Wörter als unbestimmte Gegenstände empirischer Anschauungen, heissen nach dem Grundtext der reinen Vernunft, ästhetische Erscheinungen […].« 70

Für Hamann gilt mit Blick auf den Anfang der menschlichen Kultur: »Alles, was der Mensch […] hörte, mit Augen sah, beschaute und seine Hände betasteten, war ein lebendiges Wort.« 71 Der instrumentellen Vernunft, die Sprache als bloßes Kommunikationsmittel begreift, setzen Vico und Hamann also ihre KonVgl. dazu auch Marienberg (2005), 369: »Das Entscheidende an Vicos und Hamanns Ansätzen ist, daß sie nicht einfach nur die Sprachlichkeit und Perspektivität des Weltbezugs konstatieren, sondern daß es ihnen um die Dynamik der sprachlichen Vermittlung zwischen Körper und Geist oder Natur und Kultur geht, daß sie also Sprache als Handlung verstehen, nämlich als eine besondere Form, sich handelnd auf die Welt zu beziehen.« 70 Hamann (1951b), 288. Hamann führt seine Kritik weiter folgendermaßen aus: »Entspringen aber Sinnlichkeit und Verstand als zwey Stämme der menschlichen Erkenntnis aus Einer gemeinschaftlichen Wurzel, so daß sie durch jene Gegenstände gegeben und durch diesen gedacht werden; zu welchem Behuf nun eine so gewaltthätige, unbefugte, eigensinnige Scheidung desjenigen, was die Natur zusammengefügt hat! Werden nicht alle beyden Stämme durch eine Dichothomie und Zweispalt ihrer gemeinschaftlichen Wurzel ausgehen und verdorren? Sollte sich nicht zum Ebenbilde unserer Erkenntnis ein einziger Stamm besser schicken, mit zwei Wurzeln, einer obern in der Luft und einer untern in der Erde?« (286) Zur Analogie von Vico und Herder vgl. Marienberg (2005), 368. Vgl. auch Wohlfahrt (1984), 56 sowie 58, wonach »der gemeinsame Schwerpunkt beider der eine Gedanke der Sprachlichkeit ist« sowie Trabant (1996a), 177: »[I]n seinem barocken gelehrten Habitus, in seiner Christlichkeit und seinen antimodernen Impulsen – Kritik am Logozentrismus der Moderne – gemahnt Vicos Werk sicher an Hamann.« 71 Hamann (1951a), 32. Hamann fügt diesem Zitat folgenden Nebensatz bei: »denn Gott war das Wort.« Durch diese theologische Rückbindung weist Hamanns Theorie wiederum eine Nähe zu Vico auf. 69

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zeption einer konkreten philologischen Vernunft entgegen, welche nicht auf abstrakte Wahrheit (man könnte auch sagen: Richtigkeit), sondern auf anschauliche Gewissheit abzielt, die der Wirklichkeit menschlichen Lebens – der Lebenswelt – entspricht und die abstrakte Vernunft ergänzt. Für Vico und Hamann gilt es, Wahrheit und Gewissheit zusammenzubringen. Hamann schreibt: »Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glückseligkeit.« 72 Ähnlich sieht es auch Vico, wenn er schreibt: »[W]eil die Metaphysik den Geist von den Sinnen abzieht, [muss] das poetische Vermögen den Geist ganz in die Sinne hineintauchen […]; die Metaphysik erhebt sich zu den Allgemeinbegriffen, das poetische Vermögen muß sich in die Besonderheiten vertiefen« 73. Für Vico steht deshalb fest, »daß die ersten Menschen, als die Kinder des Menschengeschlechts, unfähig, intelligible Gattungsbegriffe der Dinge zu bilden, einen natürlichen Zwang empfanden, sich die poetischen Charaktere zu ersinnen, das heißt phantastische Gattungs- oder Allgemeinbegriffe, um auf sie wie auf gewisse Modelle oder ideale Porträts alle besonderen, ihrem jeweiligen Gattungsbegriff ähnelnden Arten zurückzuführen […] [Hervorh. J. N.].« 74

Diese phantastischen Allgemeinbegriffe leisten die Einheit von Wahrheit und Gewissheit; sie vermitteln den cartesischen Dualismus; es »nähern sich diese um so mehr der Wahrheit, je mehr sie sich zu den Allgemeinbegriffen erheben; und jene sind um so gewisser, je mehr sie sich dem Besonderen anschließen« 75. Sie beruhen auf dem »Prinzip der poetischen Sentenzen, die durch die Empfindung von Leidenschaften und Affekten gebildet worden sind, im Unterschied zu den philosophischen Sentenzen, die durch Vernunftschlüsse von der Reflexion gebildet werden« 76.

4.

Vom Leben der Sprache. Vico und Herder

Von allen deutschen Denkern der Aufklärung steht sicherlich Herder dem großen Neapolitaner am nächsten. Er darf als »der Vico in man72 73 74 75 76

Hamann (1950), 197. Vico (1990b), 464. Vico (1990a), 109. Vico (1990a), 112. Vico (1990a), 112.

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chem geistesverwandte deutsche Begründer einer ›Kulturphilosophie‹« 77 gelten. Wie auch im Falle Hamanns ist es unstrittig, dass Herder selbst Vico rezipiert hat. In seinem 115. Brief zur Beförderung der Humanität aus dem Jahre 1797 schreibt Herder: »[…] so sei es erlaubt, das ziemlich vergessene Andenken eines Mannes zu erneuern, der zu einer Schule menschlicher Wissenschaft im echten Sinne des Wortes an seinem Ort vor Anderen den Grund legte, Giambattista Vico. Ein Kenner und Bewunderer der Alten, ging er ihren Fußstapfen nach, indem er in der Physik, Moral, im Recht und im Recht der Völker gemeinschaftliche Grundsätze suchte. Plato, Tacitus, unter den Neuen Bacon und Grotius waren, wie er selbst sagt, seine Lieblingsautoren; in seiner neuen Wissenschaft suchte er das Principium der Humanität der Völker […] und fand dies in der Voraussicht (provvedenza) und Weisheit. Alle Elemente der Wissenschaft göttlicher und menschlicher Dinge setzte er in Kennen, Wollen, Vermögen […], deren einziges Principium der Verstand, dessen Auge die Vernunft sei, vom Lichte der ewigen Wahrheit erleuchtet. – Er gründete den Katheder dieser Wissenschaften in Neapel […], über die Haushaltung der Völker haben wir trefliche Werke aus jener Gegend erhalten, da Freiheit im Denken vor allen Ländern in Italien die Küste von Neapel beglücket und werth hält.« 78

Allerdings ist, wie im Falle Hamanns, eine direkte Beeinflussung von Herders Werk durch Vico nur schwer, wenn überhaupt nicht nachzuweisen. Studien wie diejenige von Isaiah Berlin, die, wie ihre Titel verraten, von »Vico und Herder« 79, oder den »Drei Kritikern der Aufklärung – Vico, Hamann, Herder« 80 handeln, legen nahe, dass mehr als eine nur oberflächliche Verbindung zwischen beiden existiert. So hat es zunächst den Anschein, dass von Herders lobender Erwähnung Vicos auf eine direkte Beeinflussung durch diesen geschlossen werden könnte. Es herrscht in der Forschung jedoch Uneinigkeit darüber, ob sich eine reale, faktische Nähe Vicos zu Herder finden lässt, oder ob systematische Ähnlichkeiten und funktionale Analogien nur zufällig sind oder gar nur über eine dritte Quelle – etwa die auf Platon zurückreichende Logosmystik und den Sprachhumanismus 81 – ihre Verwandtschaft erhalten. 82 Isaiah Berlin hat überzeugend heraus77 78 79 80 81 82

Hoffmann (2007), 353. Herder (1967), 245 f. Berlin (1976). Berlin (2000). Vgl. Apel (1980), 326. Vgl. Hösle (1990), CCLXIX: »[S]o wesensverwandt Vico und Herder sind, so sehr

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gestellt, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass Herder durch Vico beeinflusst wurde, da er wohl erst mit dessen Schriften in Kontakt kam, nachdem er seine Vico-ähnlichen Schriften bereits publiziert hatte. 83 Auch sonst sind die Meinungen in der Forschung bezüglich einer unmittelbaren Beeinflussung Herders durch Vico eher skeptisch. 84 Vicos Rezeptionsweg über die Alpen erweist sich also, gerade im Falle im Falle von Herder, als äußerst mühselig. Mit Blick auf die thematischen Übereinstimmungen zwischen Vico und Herder kommt der Sprachphilosophie und Phasentheorie beider Denker eine besondere Bedeutung zu. Nach Karl-Otto Apel ist es »schwer glaubhaft, daß zwischen Herders Fragment ›Von den Lebensaltern der Sprache‹ von 1766 und Vicos ›Neuer Wissenschaft‹ […] keine reale Abhängigkeit bestehen sollte. Das knapp drei Druckseiten starke Fragment Herders liest sich nach der Lektüre von Vicos Hauptwerk wie ein Kurzreferat der dort entwickelten Phasentheorie; kaum ein Hauptgesichtspunkt fehlt und – was noch wichtiger ist –: über das auch bei Vico – manchmal wörtlich – belegbare Gedankengut hinaus findet sich hier noch kein neuer, spezifisch Herderscher Gedanke.« 85

In seiner Scienza Nuova untersucht Vico den »Lauf, den die Völker nehmen« 86. Ziel einer solchen Wissenschaft ist es, wie Vico sagt, »eine ewige ideale Geschichte zu beschreiben, nach der die Geschichte aller Völker in der Zeit abläuft in ihrem Entstehen, ihrem Fortschritt,

beide etwa beanspruchen können, das Wesen der Volkspoesie entdeckt zu haben – so falsch wäre der Schluß, Herder habe Vico gründlich studiert. Vgl. Auch Clark (1947), 650: »[T]he agreements [between Vico and Herder; J. N.] are too important to le the result of mere chance; such epigenesis is most uncommon in the history of ideas.« Vgl. ebenfalls Mauthner (21912), 76: »Es kann kein Zweifel sein, dass Herder zu seinen ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹ direkt oder indirekt durch den ›Ältervater‹ Vico angeregt worden ist.« 83 Vgl. Berlin (1976), 91: »Yet the parallels with Herder’s ideas are very striking; indeed, it is difficult to think that Herder is not, at times, consciously echoing Vico’s theses. Yet Herder is not known to have seen the New Science before 1797, long after his own major ideas had been given to the world. Even if Hamann had told him something about Vico twenty years before (of which, so far as is known, there is no evidence), this still, at the earliest, came a few years after the publication of his most Vichian views.« 84 Vgl. die detaillierte Zusammenstellung von Albus (2001), 122 ff. (»Exkurs: Herders Vico-Studium«). 85 Apel (31980), 376, Anm. 643. 86 Vico (1990b), 492.

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Höhepunkt, Niedergang und Ende« 87. Wie Vico, so entdeckt auch Herder in der Geschichte des menschlichen Geistes einen mehrgliedrigen Entwicklungszyklus: »Das ganze Menschengeschlecht, ja die todte Welt selbst, jede Nation, und jede Familie haben einerlei Gesezze der Veränderung: vom Schlechten zum Guten, vom Guten zum Vortrefflichen, vom Vortrefflichen zum Schlechtern, und zum Schlechten: dieses ist der Kreislauf aller Dinge [!]. So ists mit jeder Kunst und Wissenschaft: sie keimt, trägt Knospen, blüht auf, und verblühet.« 88

Besonders auffällig ist dabei die Parallele der Phaseneinteilung der Entwicklung der menschlichen Sprache. 89 Es zeigt sich, dass bei Vico und Herder die Sprachentwicklung zwischen zwei Polen angesiedelt ist – zwischen dem Mythos, d. h. der unmittelbaren Gewissheit als der hieroglyphischen Identität von Zeichen und Bezeichnetem auf der einen, und der abstrakten Wahrheit des Verstandes auf der anderen Seite, wo Zeichen und Bezeichnetes arbiträr auseinanderklaffen. 90 Nach Vico »mußte die poetische Weisheit […] mit einer Metaphysik beginnen, doch keiner rationalen und abstrakten, wie es heute diejenige der Gelehrten ist, sondern einer sinnlich empfundenen und vorgestellten, wie sie es bei diesen ersten Menschen sein mußte, da diese kein Denkvermögen besaßen, sondern alle kräftige Sinne hatten und von äußerst starker Phantasie waren« 91.

Auch Herder spricht von einer »Sprache in ihrer Kindheit« 92 als der ersten Stufe der geistigen Entwicklung: »Eine Nation in ihrem ersten wilden Ursprunge starret, wie ein Kind, alle Gegenstände an; Schrecken, Furcht und alsdenn Bewunderung sind die Empfindungen, derer beide allein fähig sind, und die Sprache dieser Empfindungen sind Töne, – und Geberden [sic].« 93 Das Charakteristische dieser ersten Phase ist die natürliche, naive, unmittelbare und ursprüngliche Einheit von Signifikat und SigVico (1990a), 154. Herder (1967), 151 f. 89 Auch wenn sich die Frage stellt, ob Herders Theorie drei oder vier Phasen enthält. Vgl. Wohlfart (1984), 60 f. Fn. 90 Vgl. zu dieser zeichentheoretischen Interpretation Trabant (1996a), 170. 91 Vico (1990b), 170 f. 92 Herder (1766), 152. 93 Ebd. Hier ist der Anknüpfungspunkt jedoch Rousseaus Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755). 87 88

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nifikant, von Zeichen und Bezeichnetem, 94 die Materialität des Sinns, wie Vico sagt: »[D]enn durch das Begreifen entfaltet der Mensch seinen Geist und erfaßt die Dinge, doch durch das Nicht-Begreifen macht er die Dinge aus sich selbst, verwandelt sich in sie und wird selbst zum Ding.« 95 Diese Hieroglyphen waren, so Vico, »gewisse phantastische Allgemeinbegriffe, die natürlicherweise aus jener angeborenen Eigentümlichkeit des menschlichen Geistes hervorgehen mußten, sich am Gleichförmigen zu erfreuen […], was die damaligen Völker, da sie es nicht mittels der Abstraktion anhand von Gattungsbegriffen tun konnten, mittels der Phantasie anhand von Bildern taten« 96.

Die zweite Phase ist nach Vico dadurch gekennzeichnet, dass nur noch ähnliche bzw. analoge Beziehungen zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten herrschen, jedoch keine ursprünglichen mehr: »Die zweiten waren heroische Schriftzeichen, die ebenfalls phantastische Allgemeinbegriffe waren, auf die sie die mannigfachen Arten des Heroischen zurückführten, wie auf Achilles alle Taten tapferer Kämpfer, auf Odysseus alle Ratschläge der Weisen. Als der menschliche Geist sich später daran gewöhnte, die Formen und Eigenschaften von den Subjekten zu abstrahieren, gingen die phantastischen Allgemeinbegriffe in intelligible Gattungsbegriffe über, was dann die Philosophen auftreten ließ« 97.

Herder wiederum beschreibt diese zweite Phase – analog zu Vicos heroischem Zeitalter – als Zeitalter des Jünglings: »Das Kind erhob sich zum Jünglinge: die Wildheit senkte sich zur Politischen Ruhe: die Lebens- und Denkart legte ihr rauschendes Feuer ab: der Gesang der Sprache floß lieblich von der Zunge herunter, wie dem Nestor des Homers, und säuselte in die Ohren. Man nahm Begriffe, die nicht sinnlich waren, in die Sprache; man nannte sie aber, wie von selbst zu vermuthen ist, mit bekannten sinnlichen Namen; daher müssen die ersten Sprachen Bildervoll, und reich an Metaphern gewesen seyn.« 98

In der dritten Phase, die als eine Verfallsentwicklung aufgefasst werden kann, ist die Einheit von Signifikat und Signifikant ganz aufgelöst und scheint nur noch arbiträr zu sein. 99 Sie ist nach Vico die 94 95 96 97 98 99

Vgl. auch Trabant (1996a), 170. Vico (1990b), 192. Ebd., 497. Ebd. Herder (1967), 153. Vgl. Trabant (1996a), 172.

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Epoche der »zivilisierten […] oder gesitteten Zeiten« 100. Vico bringt diese dritte Phase mit der Ordnung und Scheidung des Verstandes zusammen: Sie »war eine menschliche Natur, intelligent und deshalb bescheiden, gütig und einsichtig, eine Natur, die als ihre Gesetze das Gewissen, die Vernunft, die Pflicht anerkennt.« 101 Die Sitten der dritten Phase sind »pflichtbewußt, gebildet ganz nach dem Sinn der bürgerlichen Pflichten« 102. Herder schreibt analog über die dritte Phase der menschlichen Entwicklung der Sprache: »Je älter der Jüngling wird, je mehr ernste Weisheit und Politische Geseztheit seinen Charakter bildet: je mehr wird er männlich, und hört auf Jüngling zu seyn. Eine Sprache, in ihrem männlichen Alter, ist nicht eigentlich mehr Poesie; sondern die schöne Prose. Jede hohe Stuffe neiget sich wieder zum Abfall, und wenn wir einen Zeitpunkt in der Sprache für den am meisten Poetischen annehmen: so muß nach demselben die Dichtkunst sich wieder neigen. Je mehr sie Kunst wird, je mehr entfernet sie sich von der Natur. Je eingezogener und Politischer die Sitten werden, je weniger die Leidenschaften in der Welt wirken, desto mehr verlieret sie an Gegenständen. Je mehr man am Perioden künstelt, je mehr die Inversionen abschaffet, je mehr bürgerliche und abstrakte Wörter eingeführet werden, je mehr Regeln eine Sprache enthält: desto vollkommener wird sie zwar, aber desto mehr verliert die wahre Poesie.« 103

Die Sprache der dritten Phase muss nach Herder ferner »die Fesseln einer Philosophischen Construction über sich […] nehmen, die den Poetischen Rhythmus zum Wohlklang der Prose herunter stimmte, und die vorher freie Anordnung der Worte mehr in die Runde eines Perioden einschloß: – dies ist das männliche Alter der Sprache« 104. Herder fährt fort: »Das hohe Alter weiß statt Schönheit blos von Richtigkeit [Hervorh. J. N.]. […] je mehr der Weltweise die Synonymen zu unterscheiden, oder wegzuwerfen sucht, je mehr er statt der uneigentlichen eigentliche Worte einführen kann; je mehr verlieret die Sprache Reize: aber auch desto weniger wird sie sündigen. Ein Fremder in Sparta siehet keine Unordnungen und keine Ergözzungen [sic]. Dies ist das Philosophische Zeitalter der Sprache.« 105 100 101 102 103 104 105

Vico (1990b), 522. Ebd., 494. Ebd. Herder (1967), 154. Ebd., 155. Vico (1990b), 155.

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Hier, in dieser dritten und letzten Stufe, hat sich nun die abstrakte Wahrheit als bloß formale Richtigkeit durchgesetzt: Zeichen und Bezeichnetes sind nur noch durch arbiträre Regeln und Konventionen miteinander verbunden. Vicos Theorie, wonach die Mythologie nicht in erster Linie defizitär, sondern durch eine spezifische Autonomie von eigenem Wert gekennzeichnet ist, sollte damit die Basis für die spätere Entdeckung des Mythos in der deutschen Klassik und Romantik bilden. 106

5.

»Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften«. Vico und die moderne Hermeneutik

Während im Deutschland des 18. Jahrhunderts die Bezugnahmen auf Vico nur selektiv und nicht systematisch ausfielen, hat Vico im 19. und 20. Jahrhundert verstärkte Aufmerksamkeit erfahren. Systematische Bezüge zum großen Neapolitaner finden sich vor allem bei Dilthey, Cassirer sowie bei Löwith, Gadamer und Apel und sind im Gefolge von Hamann und Herder im Wesentlichen hermeneutischer Art. 107 Nach Wilhelm Dilthey gehört Vicos »ahnungsvolle ›Neue Wissenschaft‹ zu den größten Triumphen des menschlichen Denkens« durch die darin geleistete »höchst fruchtbare […] Verbindung von Geschichte und Philosophie.« 108 Der Einfluss Vicos wird besonders dort deutlich, wo Dilthey das Wesen der Geisteswissenschaften in Abgrenzung zu den Naturwissenschaften bestimmt: »Die Geisteswissenschaften«, so Dilthey, »haben als ihre umfassende Gegebenheit die Objektivation des Lebens. Indem nun aber die Objektivation des Lebens für uns ein Verstandenes wird, enthält sie als solches überall die Beziehung des Äußeren zum Inneren. Sonach ist diese Objektivation überall bezogen im Verstehen auf das Erleben, in welchem der Lebenseinheit sich ihr eigener Gehalt erschließt und den aller anderen zu deuten gestattet. Sind nun hierin die Gegebenheiten der Geisteswissenschaften enthalten, so zeigt es sich uns sogleich, daß man Vgl. Jamme (2013), 24. Auch wenn man innerhalb dieser hermeneutischen Rezeption wiederum zwei Hermeneutikbegriffe – einen »methodologisch-geisteswissenschaftlichen« und »einen universaleren, sprachontologisch akzentuierten« unterscheiden kann. Vgl. Woidich (2007), 148. 108 Dilthey (1966), 698. 106 107

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alles Feste, alles Fremde, wie es den Bildern der physischen Welt eigen ist, wegdenken muß von dem Begriff des Gegebenen auf diesem Gebiet. Alles Gegebene ist hier hervorgebracht, also geschichtlich; es ist verstanden, also enthält es ein Gemeinsames in sich; es ist bekannt, weil verstanden, und es enthält eine Gruppierung des Mannigfaltigen in sich, da schon die Deutung der Lebensäußerung im höheren Verstehen auf einer solchen beruht. Damit ist auch das Verfahren der Klassifikation der Lebensäußerungen schon angelegt in den Gegebenheiten der Geisteswissenschaften [Hervorh. J. N.].« 109

Für Dilthey gilt damit, »daß alles, worin der Geist sich objektiviert hat, in den Umkreis der Geisteswissenschaften fällt.« 110 Wie bei Vico stehen verum und factum in einer unauflöslichen Verbindung: »Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er. Die Natur, der Gegenstand der Naturwissenschaft, umfaßt die unabhängig vom Wirken des Geistes hervorgebrachte Wirklichkeit. Alles, dem der Mensch wirkend sein Gepräge aufgedrückt hat, bildet den Gegenstand der Geisteswissenschaften.« 111 Deshalb gehen auch Subjekt und Objekt im Geistigen eine untrennbare Einheit ein: »[D]ie erste Bedingung für die Möglichkeit der Geschichtswissenschaft liegt darin, daß ich selbst ein geschichtliches Wesen bin, daß der, welcher die Geschichte erforscht, derselbe ist, der die Geschichte macht.« 112 Hermeneutisch beruft sich auch Hans Georg Gadamer in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode auf Vico und Dilthey, denn »die geschichtliche Welt«, so Gadamer, »ist immer schon eine vom Menschengeist gebildete und geformte […]. Es ist die Gleichartigkeit von Subjekt und Objekt, die die historische Erkenntnis ermöglicht.« 113 Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem sensus communis zu: »Hier werden wir«, so Gadamer, »an ein Wahrheitsmoment der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis herangeführt, das für die Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert nicht mehr zugänglich war.« 114 Gadamer fährt fort: »Sensus communis meint hier offenkundig nicht nur jene allgemeine Fähigkeit, die in allen Menschen ist, sondern er ist zugleich der Sinn, der Gemeinsamkeit stiftet. Was dem menschlichen Willen seine Richtung gebe, meint Vico, sei nicht die abstrakte Allgemeinheit der Vernunft, sondern die 109 110 111 112 113 114

Dilthey (81992), 148. Ebd. Ebd. Ebd., 347. Gadamer (61990), 226. Vgl. 231. Ebd., 29.

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konkrete Allgemeinheit, die die Gemeinsamkeit einer Gruppe, eines Volkes, einer Nation oder des gesamten Menschengeschlechtes darstelle. Die Ausbildung dieses gemeinsamen Sinnes sei daher für das Leben von entscheidender Bedeutung.« 115

Auch Ernst Cassirer hat sich verschiedentlich auf Vico berufen, jedoch weniger auf seinen Begriff der Geschichte und des Geistes, sondern eher, wie Hamann und Herder, auf seine Theorie sprachlicher Bedeutung konzentriert, wie sie in seiner Philosophie der symbolischen Formen thematisiert wird. Nach Cassirer kann »Giambattista Vico […] als der eigentliche Entdecker des Mythos bezeichnet werden. Er versenkt sich nicht nur in die bunte Formenwelt des Mythos, sondern er lernt aus ihrer Betrachtung, daß diese Welt ihre eigentliche Struktur, ihre eigentümliche Zeit und ihre eigentümliche Sprache hat. Und er macht die ersten Ansätze dazu, diese Sprache zu entziffern; er gewinnt eine Methode, kraft deren die ›heiligen Bilder‹, die Hieroglyphen des Mythos, lesbar zu werden beginnen.« 116

Vico sei, so Cassirer, »wie der Begründer der neueren Sprachphilosophie, so auch der Begründer einer von Grund aus neuen Philosophie der Mythologie geworden. Der echte und wahrhafte Einheitsbegriff des Geistes stellt sich ihm in der Trias der Sprache, der Kunst und des Mythos dar.« 117 Trotzdem hat auch Vicos Theorie ihre Grenzen: »[Z]u voller systematischer Bestimmtheit und Deutlichkeit wird dieser Gedanke Vicos erst in der Grundlegung der Geisteswissenschaft erhoben, die sich in der Philosophie der Romantik vollzieht.« 118 Schließlich hat Karl-Otto Apel in seiner Habilitationsschrift über Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, welche heute immer noch als »Standardwerk zur Geschichte der Sprachphilosophie« 119 angesehen werden kann, »die erkenntnistheoretische Grundlegung der ›Neuen Wissenschaft‹ als einer transzendentalen Philologie« 120 herausgestellt. Nach Apel ist Vico »zweifellos der erste Denker, der die Fortschrittsidee der Aufklärung (noch bevor sie Epoche machte) überholt hat, und seine Phasentheorie der Sprachentwicklung ist in diesem Punkt noch heute der 115 116 117 118 119 120

Ebd., 26. Cassirer (2000), 333 f. Ebd., 4. Ebd. Hösle (1997), 112. Apel (31980), 337.

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von E. Cassirer überlegen, die lediglich den »Aufstieg« der Sprache zum intellektuellen Begriff ins Auge faßt.« 121 Abschließend lässt sich folgendes festhalten: Vico und die Tradition der deutschen Aufklärung stehen keineswegs in einem eindeutigen Verhältnis. Während die unmittelbare Vico-Rezeption durch Hamann und Herder nicht intensiv ausfiel, teilweise gar auf Missverständnissen beruhte und thematische Nähen nur indirekt bestehen, so lässt sich doch sagen, dass die jüngeren Ausläufer der deutschen Aufklärung im 19. und 20. Jahrhundert, speziell jene hermeneutischen Zuschnitts, enorme Mühe auf sich genommen haben, eine Kontinuität zur deutschen Aufklärung ex post aufzuzeigen und Versäumtes umso intensiver nachzuholen. Vicos Philosophie scheint also mit dem Ende des 20. Jahrhunderts endlich ihren geistesgeschichtlichen Weg über die Alpen gefunden zu haben. Dennoch bleibt Vico aufgrund seiner Zwischenstellung par excellence auch »noch am Ende seiner Vergessensgeschichte ein Rätsel« 122: Hermeneutik nach Vico bedeutet nach wie vor die Herausforderung, Vico aufs Neue zu verstehen.

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Politischer Realismus und juridischer Idealismus. Fichte und Machiavelli Günter Zöller

tanto nomini nullum par eulogium 1

Der Vortrag präsentiert und analysiert Fichtes Auseinandersetzung mit dem politischen Denken Machiavellis im doppelten Kontext der Machiavelli-Rezeption der klassischen deutschen Philosophie und von Fichtes Staatsdenken. Der erste Abschnitt behandelt die historistische Wende in der Deutung Machiavellis. Der zweite Abschnitt stellt die Machiavelli-Rezeption bei Herder und Hegel vor. Der dritte Abschnitt widmet sich der Machiavelli-Auffassung von Fichte. Der vierte Abschnitt gilt der Rolle Machiavellis in Fichtes rechtlich-politischer Auffassung zwischenstaatlicher Verhältnisse. Der fünfte Abschnitt behandelt die Reaktion auf Fichtes Machiavelli-Deutung durch Carl von Clausewitz. 2

1.

Machiavelli, Machiavell und Anti-Machiavell

Wenige hundert Meter von unserem Tagungsort entfernt, in der zum Bestand der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen gehörigen Neuen Pinakothek, hängt eine Ikone der deutsch-italienischen Freundschaft – das als imago amicitiae gestaltete Doppelporträt der »Italia und Germania« von Friedrich Overbeck aus dem Jahr 1828. Weitere Fassungen des Bildes hängen in Schweinfurt und Dresden. Doch der deutsch-italienischen Parallele, um die es im folgenden gehen soll, liegt ein anderer, weniger amikabler Lokalbezug zugrunde. Im Jahre 1559 wurde an der Vorgängerinstitution der Universität, an der wir hier und jetzt tagen, die sich damals noch auf dem flachen Land, in Inschrift von Machiavellis Kenotaph in S. Croce, Florenz. Ich widme den Vortrag dem Andenken von Marsilius von Padua, dem Verfasser des Defensor Pacis, der sich als Exilant lange Jahre am Münchner Hof aufhielt und der hier vor ziemlich genau 670 Jahren starb.

1 2

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Politischer Realismus und juridischer Idealismus. Fichte und Machiavelli

Ingolstadt, befand und seit 1549 im Geist der Gegenreformation von den Jesuiten betrieben wurde, eine Effigie von Niccolò Machiavelli öffentlich verbrannt. 3 Die Immolation durch die Ingolstädter Jesuiten war kein Einzelfall. Die postum erschienene Schrift des zeitweiligen Florentiner Staatsmanns und Diplomaten und nachmaligen Staatshistorikers und -denkers über die Herrscherperson, Il principe (1513) – der frühere lateinische Titel lautete De principatibus – hatte ihren Autor binnen weniger Jahre europaweit zum Gegenstand von Verdächtigung, Verleumdung und Verfemung werden lassen, zu denen sich die Unterdrückung seines Werkes und dessen polemische Beantwortung durch Widerlegung und Anschwärzung gesellte. Schon bei Shakespeare ist der »murderous Machiavel« zum Synonym für skrupelloses Trachten und Handeln geworden (King Henry VI, Part III, Act III, Scene II, l. 210). 4 Im Zeitalter der Glaubenskriege wurde Machiavelli in beiden Lagern, dem protestantischen wie dem katholischen, für Dissens und Destruktion verantwortlich gemacht. In kirchlichen Kreisen hat man ihn wortwörtlich verteufelt, zum Zeigefinger des Teufel erklärt (digitus diaboli). Noch der preußische Kronprinz Friedrich, der nachmalige Friedrich II., fühlte sich bemüßigt, eine – bien sûr französischsprachige – Replik auf Machiavelli (Anti Machiavel ou Essai de critique sur le Prince de Machiavel) zu verfassen und veröffentlichen zu lassen (publié par M. de Voltaire; 1740), in der Machiavellis Kritik an der traditionellen politischen Lehre mit der angeblichen Schandtat eines anderen schon sprichwörtlichen Atheisten und Immoralisten in Parallele gesetzt wird – der Moralkritik und Freiheitsleugnung durch Baruch de Spinoza. Im Mittelpunkt der gut zweihundert Jahre währenden Malediktion Machiavellis stand der Vorwurf des Immoralismus. Machiavellis Herrscherhandbuch lehre und fördere die gezielte Nichtbeachtung moralischer Prinzipien und die absichtliche Übertretung sittlicher Normen. Den an den antiken Autoren des politischen Denkens geschulten Zeitgenossen und Nachfahren Machiavellis schien damit das bewährte Junktim von Moral und Macht, von Ethik und Politik, wie es von Aristoteles über Cicero bis zum Aquinaten vertreten worden war, aufgekündigt. Einmal von moralischen Maximen gelöst, würde die Politik ihrer eigenen, zur Moral konträren Gesetzlichkeit 3 4

Siehe Barthas (2010), 271. Zur frühen Rezeption Machiavellis siehe Anglo (2005).

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Günter Zöller

folgen und den Erwerb, Erhalt und Zuwachs der Macht zur alleinigen Richtschnur ihres Handelns machen. Mit dem Gesichtspunkt der Staatsräson (ragion di stato) hatte schließlich Machiavelli selbst die rein-politische Regulation herrschaftlichen Handelns herausgestellt. So tief saß die zeitgenössische Überzeugung von der Schändlichkeit und Schädlichkeit der von Machiavelli promovierten Prinzipien, dass einige nicht einmal glauben wollten, es könne Machiavelli Ernst gewesen sein mit seinen immoralischen Ratschlägen an angehende Gewaltherrscher und bedrohte Machtmenschen. Satire sei alles – als decouvrierende Persiflage auf das Intrigenwesen und die Machtmachinationen kleiner bis mittelgroßer Höfe und Herrschaften gemeint. Die perfide Fürstenfibel sollte heimlich eine humoristische Hofsatire sein. Der einzige Weg, Machiavellis Ehre zu erhalten, schien darin zu bestehen, ihm den Ernst abzusprechen. Es bedurfte des historischen Fortgangs vom Denken des Barock in Schwarz und Weiß und seinen Wertungen nach Himmel und Hölle zum Denken der Aufklärung in Schattierungen und Übergängen – von Händel zu Mozart, pour ainsi dire – und von der frühmodernen zyklischen zur hochmodern entwicklungsförmigen Geschichtsauffassung, um Machiavelli vom Machiavellismus zu befreien. Der heraufziehende Historismus des späten 18. Jahrhunderts 5 zielt nun aber nicht einfach darauf ab, Machiavelli mit geschichtlichen Mitteln zu relativieren und dergestalt zu exkulpieren nach dem Motto tout comprendre, c’est tout pardonner. Vielmehr geht es den historistischen Ehrenrettern Machiavellis darum, ihn spezifisch zu situieren und seinem zeittypischen Anliegen nach aufzufassen und einzuschätzen. Zu dieser neuen Sicht auf Machiavelli gehört auch der Versuch, das bei aller Zeitverbundenheit und Zeitgebundenheit Extraordinäre und Visionäre von Machiavellis politischem Denken herauszuarbeiten. Der historisch situierte Machiavelli erweist sich zugleich als der aktuelle oder doch aktualisierbare Machiavelli, dessen historisch-politische Gedanken mutatis mutandis auf die eigene Zeit übertragbar sind und darauf auch übertragen werden sollen. Allerdings ist der solcherart aktualisierte Machiavelli nicht mehr der Berater von politischen Machthabern (»Fürsten«), sondern der Anreger von politischen Philosophen. Die historische Situierung geht in der philosophischen Machiavelli-Rezeption des späten 18. Jahrhunderts zusammen mit der lite5

Siehe dazu Meinecke (1965).

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Politischer Realismus und juridischer Idealismus. Fichte und Machiavelli

rarischen Kontextualisierung der Einzelschrift, die bisher im Zentrum des Interesses an Machiavelli gestanden hatte, in dessen weiterem Werk. Machiavelli gilt nun nicht mehr nur als der Autor des Principe sondern auch als der Verfasser einer politischen Geschichte seiner Heimatstadt und Wirkungsstätte (Istorie Fiorentine; 1520– 1525) sowie einer Abhandlung über die Kriegskunst (Dell’arte della guerra; 1516–1520). Vor allem aber treten im Zuge dieser erweiterten Sicht auf Machiavelli die Abhandlungen über die ersten zehn Bücher der Römischen Geschichte von Livius (Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio; 1513–1519) in den Blick. Mit dem Einbezug der Discorsi gesellt sich im neuen Machiavelli-Bild zu Machiavellis Behandlung der Einzelherrschaft (principe) dessen Perspektive auf die gemeinschaftliche Herrschaftsform (reppublica) in deren historischer Ausprägung im antiken Rom. In der Sache bedeutet dies den Einbezug der Freiheit, genauer der politischen Freiheit (vivero libero), in die Erörterung von Form und Funktion des staatlichen Handelns. Zugleich erweitert sich damit die Einschätzung Machiavellis vom Ratgeber der Mächtigen zum Historiker und Theoretiker der politischen Lebensform. Neben den Advokaten der Staatsräson tritt so der engagierte Republikaner und begeisterte Patriot. Doch die beginnende Neueinschätzung Machiavellis zu Ende des 18. Jahrhunderts belässt es nicht bei der doppelten Kontextualisierung des Autors des Principe in seiner Zeit und in seinem Gesamtwerk. Mit dem zunehmenden Bewusstsein der Historizität von Machiavellis Staatsdenken geht auch die Aufmerksamkeit für zeitlich verschiedene, aber sachlich vergleichbare historische Kontexte einher, die der politischen Reflexion Machiavellis spezifische Aktualität in einer anderen Zeit verschaffen könnten. So geht der neue Blick auf Machiavelli sowohl zurück auf die Ursprungs- und Entstehungsbedingungen seiner Sicht der politischen Dinge als auch voraus auf die Anwendungsbedingungen seiner Sicht staatlicher Herrschaft auf spätere Zeiten, insbesondere auf die eigene Zeit seiner späteren Leserschaft. Das Junktim von Historizität und Aktualität in der Rezeption Machiavellis gegen Ende des 18. Jahrhunderts manifestiert sich vor allem im geschichts- und staatsphilosophischen Denken in Deutschland. Mit der Ausbildung der Geschichtsphilosophie und der Hinwendung der philosophischen Reflexion auch und gerade auf die politische Geschichte tritt neben die normative Instanz des Natur- und 47 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

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Vernunftrechts die faktische Gegeninstanz der wechselvollen Wirklichkeit politischen Handelns unter den kontingenten Individuationsbedingungen räumlicher und zeitlicher Partikularitäten. Es sind vor allem drei philosophische Autoren, die im Kontext ihres Nachdenkens über Geschichte und Gegenwart und vor dem Hintergrund der zeitgenössischen politischen Ereignisse affirmativ auf Machiavelli zurückgreifen. Am Anfang steht Herder, der in seinem fragmentarischen Spätwerk Briefe zur Beförderung der Humanität (1793–1997) eine geschichtsphilosophische Ehrenrettung Machiavellis unternimmt. Ihm folgt Hegel, in dessen früher unpublizierter Schrift über die Verfassung Deutschlands (1802) Machiavellis Denken als Spiegel für die deutsche politische Misere fungiert. Den Abschluss und Höhepunkt dieser Entwicklung bildet Fichtes Schrift Über Machiavell (1807), die Machiavellis Denken für die außenpolitische Radikalisierung im Napoleonischen Europa instrumentalisiert.

2.

Herder und Hegel über Machiavelli

Herders apologetische Behandlung Machiavellis im 58. Brief der 5. Sammlung seiner fiktiven Epistelfolge Briefe zur Beförderung der Humanität 6 steht im weiteren Kontext von Überlegungen zur Form und Bedeutung des politischen Patriotismus (»Vaterlandsliebe« 7) in Antike und Moderne und im engeren Zusammenhang mit dem historiographischen Projekt, die politische Geschichte im Rückgriff auf die populäre Ideengeschichte aufzufassen und darzustellen, um so das geschichtliche Geschehen in seiner spezifischen Prägung durch vorwaltende Ansichten und Einstellungen zu begreifen. Herder illustriert dann am Beispiel Machiavellis das Verfahren der gezielten Berücksichtigung der Mentalitäts- und Ideengeschichte für das Verständnis der Geschichte und speziell der politischen Geschichte. Zunächst weist Herder die üblichen Einschätzungen der Schrift vom Fürsten, sie sei intentional immoralisch oder satirisch gemeint, zurück und beruft sich auf Machiavellis übrige Werke und die Nachrichten über seinen Lebenswandel, um auf den weiten geistigen Horizont (»Geschichts- und Welterfahrner«), die moralische Integrität

6 7

Siehe Herder (1871), 250–252. Ebd., 244.

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Politischer Realismus und juridischer Idealismus. Fichte und Machiavelli

(»redlicher Mann«) und die patriotische Gesinnung (»warmer Freund seines Vaterlandes«) Machiavellis zu schließen. 8 Machiavellis Kenntnis und Wertschätzung anderer politischer Staatsformen als der Prinzipatsverfassung sieht Herder durch die Discorsi etabliert. Als Grund für die verbreitete Fehleinschätzung Machiavellis durch die Nachwelt benennt Herder das eigenartige Verhältnis von Moral und Politik zu Machiavellis Zeiten, die damals »sichtbar und völlig getrennet« 9 gewesen seien. Zum Beleg verweist Herder auf die Machtpolitik der italienischen Staaten, einschließlich des Kirchenstaates, im Verhältnis zueinander wie zu den um Einfluss und Vorherrschaft ringenden europäischen Großmächten. Insbesondere nennt Herder bei der Begründung seiner Einschätzung die Weltmachtpolitik Karls V., für den auch die Religion und speziell die Reformation ein rein politischer Faktor, gänzlich losgelöst von Moral, gewesen sei. Machiavelli erweist sich in dieser historischen Perspektive nicht als immoralischer Saboteur von Sittlichkeit und Zerstörer von Zutrauen im menschlichen Zusammenleben (»Verräther der Menschheit« 10), sondern als nüchterner Beobachter praktizierter Politik, die er im Principe in die Form von Handlungsgrundsätzen bringt. Insgesamt stellt Herder Machiavellis Verhältnis zur zeitgenössischen politischen Realität unter die Charakteristik des genauen Beobachters, der das politische Geschehen nach den herrschenden Vorstellungen auffasst und einschätzt (»ganz in den Begriffen seiner Zeit«). Statt einer zutiefst unmoralischen Morallehre für Fürsten oder einer literarischen Satire handelt es sich deshalb für Herder bei Machiavellis Principe um ein »rein politisches Meisterwerk für Italienische Fürsten damaliger Zeit, nach ihren Grundsätzen […] geschrieben«. 11 Herder beschreibt die Einstellung Machiavellis zum Gegenstand seiner politisch-geschichtlichen Forschungen mit Wendungen, die Tacitus’ Maxime, in der Historiographie sine ira et studio zu verfahren, aufnehmen, dabei aber die zeitkritische Perspektive, die sich bei Tacitus findet, durch bemühte Objektivität und Neutralität ersetzen. Herder zufolge studiert Machiavelli den Fürsten wie auch die übrigen Objekte seiner Betrachtungen und Darstellungen »ohne Liebe und Ebd., 250. Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd., 251; im Original Hervorhebung. 8 9

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Haß, ohne Anpreisung und Tadel«. 12 Durchweg sieht Herder in Machiavellis Blick auf den gesellschaftlich-politischen Menschen eine distanziert-degagierte Blickrichtung am Werk, die »jedes Ding in seiner Art sein [lässt], was es war oder sein wollte«. 13 Die politische Geschichte wird so bei Machiavelli, Herder zufolge, zur Naturgeschichte der Politik (»eine Erzählung von Naturbegebenheiten der Menschheit«). 14 Die Machiavelli zugeschriebene natural-historische Perspektive auf das menschliche Zusammenleben im Allgemeinen und das politische Leben im Besonderen ist getragen von Herders eigenem Ansatz in der Geschichtsphilosophie, der an die Stelle von Kants universalhistorischer Idee kosmopolitischen Rechtsfortschritts das Panorama pluraler Manifestationen menschlicher Existenz unter je spezifischen naturellen und kulturellen Umgebungsbedingungen setzt. Doch erhält sich auch bei Herder ein Element, wo nicht von Fortschritt, so doch von Entwicklung, wenn die vielgestaltige Geschichte der Menschheit unter das Kulturideal von harmonischer Ausbildung der menschlichen Fähigkeiten und Veranlagungen (»Humanität«) gestellt wird. In Herders geschichtsphilosophischer Perspektive auf die »Beförderung der Humanität« ist der in seine Zeit zurückgestellte Machiavelli denn auch nur Station. Das historisch bedingte politische Menschenbild Machiavellis repräsentiert für Herder weder das Ziel noch den Zweck geschichtlicher Entwicklung. 15 Steht bei Herder noch der philanthropische Progress im Hintergrund einer Deutung Machiavellis, die dessen politischen Realismus zeitlich lokalisiert und historisch relativiert, so rekurriert Hegel in seiner frühen Verfassungsschrift auf Machiavelli im Rahmen einer kritischen Analyse der Diskrepanz zwischen dem deutschem Staatsund Verfassungsrecht und der deutschen Politik in Geschichte und Gegenwart. Hegels politische Geschichtsbetrachtung ist getragen von der Überzeugung, dass die Wirklichkeit, einschließlich der politischen Realität, unabhängig von präliminaren Wünschen und Wertungen begrifflich zu erfassen ist. 16 Hegels spezielles Interesse gilt der Bedeutung von Machiavellis

12 13 14 15 16

Ebd. Ebd., 252. Ebd., 251; im Original teilweise Hervorhebung. Zu Herders Humanitätsbegriff siehe Zöller (2013), bes. 267 f. Siehe Hegel (1971), 463.

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Politischer Realismus und juridischer Idealismus. Fichte und Machiavelli

Machtanalyse der frühneuzeitlichen italienischen Verhältnisse für die Einschätzung der Herausbildung der europäischen Nationalstaaten im Gefolge des Westfälischen Friedens. Gegenstand von Hegels Überlegungen ist der besondere Status der deutschen Länder in der »Westfälischen Welt« und die virtuelle Aufhebung deutscher Staatlichkeit in Folge der Revolutionskriege Frankreichs mit dem Alten Europa, der wenige Jahre später die Selbstauflösung des deutsch-römischen Reichs folgen sollte (1806). Wie Hegel im Eingangssatz der Verfassungsschrift deklariert: »Deutschland ist kein Staat mehr.« 17 Hegel führt die schwache und schwindende Staatlichkeit Deutschlands, wie sie sich in der zentrifugalen Rechtsordnung des Sacrum Romanum Imperium manifestiert, auf die fortgesetzte Wirkung einer spezifischen Form von Freiheit (»deutsche Freiheit« 18) zurück, die in der weitgehenden Selbständigkeit der Glieder gegenüber dem Ganzen besteht und einer politischen Tradition von Dezentralität, Pluralität und Lokalität verpflichtet geblieben ist. Historisch betrachtet ist deshalb für Hegel das deutsche Staatsrecht auch nicht eigentlich das Recht eines je aktuellen Staates, sondern ein phantastisches Gebilde aus wesentlich privatrechtlichen Regelungen der Verhältnisse zwischen den vielzähligen und vielförmigen Konstituentien jenes föderativ-korporativen Staatengebildes, das sich »Reich« nennt und das weder als Monarchie noch als Aristokratie beschrieben werden kann. Doch für Hegel markiert die im mittelalterlichen Lehnssystem verankerte Reichsverfassung Deutschlands nicht nur die defizitäre politische Modernität Deutschlands, sondern auch dessen Potenzial für eine futurische Form von Staatlichkeit, die dem mechanischen Staatswesen, wie es im revolutionären Frankreich ebenso wie im reaktionären Preußen die Menschen kontrollistisch und dirigistisch regiert, an Freiheitlichkeit überlegen ist. Im Gegensatz zu den konsolidierten, zentralisierten und souveränen Territorialstaaten, die es begrenzen und bedrängen, ist Deutschland für Hegel der mögliche Ausgangspunkt für eine Staatsverfassung, die sich im Wesentlichen auf das innenpolitische Gewaltmonopol und das außenpolitische Streitmachtkommando des souveränen Staates beschränkt, um den Bürgern politisch Mitsprache (»Repräsentation«) und sozio-ökonomisch Selbstbestimmung einzuräumen und zu gewähren. 17 18

Ebd., 461 Ebd., 466.

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Günter Zöller

Doch hat Hegel für das zukünftige Deutschland und seine rechtliche Verfassung nicht den sprichwörtlichen »Nachtwächterstaat« der liberal-individualistischen Moderne im Sinn, der die Bürger minimal schützt, um sie maximal gewähren zu lassen. Vielmehr vertritt Hegel in der Verfassungsschrift einen quintessentiell republikanischen Staatsbegriff, demzufolge der Staat als rechtliche Lebensform von einer Gesinnung zivilbügerlicher Gemeinschaftlichkeit getragen ist. Einen solchen deutschen Nationalstaat, der ein genuiner Staat und kein phantasmagorisches Reich deutscher Nation wäre, sieht Hegel auch – anders als die kollabierenden oder kollaborierenden deutschen Gliedstaaten unter dem Ansturm des revolutionären und post-revolutionären Frankreich – bereit und in der Lage zur internationalen Selbstbehauptung. Die Konzeption einer nationalen staatlichen Einheit Deutschlands an Stelle einer diffusen und ineffektivem Reichseinheit verbunden mit einer der deutschen Rechtstradition politischer Freiheiten verpflichteten quasi-republikanischen Staatsauffassung illustriert Hegel selbst in der Verfassungsschrift mit der Parallele zu Machiavellis politischem Programm für Italien. Hegel bezieht sich insbesondere, wie schon Herder vor ihm, auf das abschließende Kapitel des Principe, in dem Machiavelli den fiktiven Adressaten seiner Schulungsschrift zur Einigung Italiens und zur Befreiung Italiens von der Fremdherrschaft (»Barbaren«) aufruft. 19 An die Stelle kleiner, untereinander zerstrittener und so durch einander geschwächter Prinzipalitäten und Republiken soll ein konsolidiertes Staatsgebilde treten, das sich gegenüber den emergierenden europäischen Großmächten zu behaupten vermag. In Hegels historisch-zeitkritischer Perspektive auf die frühneuzeitliche Machtstaatenbildung wird Machiavelli zu einem Advokaten politischer Freiheit. Innenpolitisch geht es bei Machiavellis Italienprojekt, so Hegel unter dem Blickwinkel seines eigenen Deutschlandprojekts, um die Befreiung des Landes von den Partikularinteressen lokaler Herrschaft. Außenpolitisch geht es Machiavelli, Hegel zufolge, um die Befreiung des Landes von der Fremdherrschaft. In einem der Metaphorik vom Staatskörper entlehnten Vergleich sieht Hegel denn auch – im Hinblick auf das historische Ziel nationalstaatlicher Einheit – Integralität und Souveränität als die einzig probaten Maßnahmen, um den maladen Patienten Italien von einer schweren poli19

Siehe Machiavelli (1997), 189–192.

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Politischer Realismus und juridischer Idealismus. Fichte und Machiavelli

tischen Krankheit und ihren Fiebersymptomen zu befreien: »[B]randige Glieder können nicht mit Lavendelwasser geheilt werden.« 20

3.

Fichte über Machiavellis Historizität

Fichtes Auseinandersetzung mit Machiavelli folgt zum einen der Historisierung und Kontextualisierung, die Herder an Machiavelli vorgenommen hatte, und steht zum anderen in der Fortsetzung von Hegels Bemühungen, den historisch situierten und geschichtlich gefassten Machiavelli auf seine mögliche Aktualität hin zu befragen. Stand bei Hegels Verfassungsschrift das faktische Verschwinden des deutschen Staatenreichs im Gefolge der Revolutionskriege im Vordergrund der Vergegenwärtigung, so rekurriert Fichte auf Machiavelli nach der Selbstauflösung des deutsch-römischen Reichs und der verheerenden Niederlage Preußens gegen Napoleon (1806). Doch Fichtes Schrift zu Machiavelli aus dem Jahr 1807 vermeidet den direkten Gegenwartsbezug und die ausdrückliche Applikation auf die jüngsten politischen Ereignisse. Stattdessen präsentiert sich der Text – unter dem Titel Ueber Machiavell, als Schriftsteller, und Stellen aus seinen Schriften 21 – als summarische Einschätzung Machiavellis auf der Grundlage seiner Werke und mittels ausgewählter Passagen aus seinen Schriften, die Fichte in eigener Übersetzung beifügt. Das erklärte Ziel von Fichtes Schrift ist die sympathische Darstellung des »edlen Florentiners« 22 und die »Ehrenrettung eines braven Mannes«. 23 Zu diesem Zweck präsentiert Fichte Machiavellis Werk in sechs knappen Abschnitten, die Grundfragen seines Denkens und seiner Wirkung kritisch erörtern. Die Hauptgegenstände von Fichtes Kurzdarstellung Machiavellis sind der intellektuelle und moralische Charakter des Schriftstellers Machiavelli, sein Republikanismus und sein Heidentum, ergänzt um Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Politik sowie zum Verhältnis von Politik und Moral zu Machiavellis Zeit, die auch den generellen Vergleich mit der eigenen Gegen-

Hegel (1971), 555. Fichte (1995), GA I/9. Siehe auch die Nachlassmaterialien zur Schrift, in: GA II/10, 305–369. 22 Fichte (1995), GA I/9, 224. 23 Ebd., 273. 20 21

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Günter Zöller

wart einbeziehen. Der Hauptgesichtspunkt von Fichtes Darstellung und Einschätzung Machiavellis ist die Fähigkeit des Schriftstellers Machiavelli zur nüchtern-klaren Wiedergabe des Lebens im Allgemeinen und des politischen Lebens im Besonderen. Fichte bringt seine Bewunderung und Achtung für Machiavellis genauen Blick auf die politische Wirklichkeit zum Ausdruck, stellt aber sogleich auch klar, dass Machiavellis spezifische Sicht auf den Staat nicht gedacht und auch nicht geeignet ist, den Staat in einer weiterreichenden Perspektive wahrzunehmen. Insbesondere fehlt bei Machiavelli, Fichte zufolge, der Sinn für die metapolitische Dimension staatlicher Ordnung, die – nach Fichtes Ansicht – nicht Selbstzweck ist, sondern im größeren Zusammenhang menschlicher Selbstvervollkommnung durch geschichtliche Rechts- und Freiheitsentwicklung anzusehen und einzuschätzen ist. 24 Unter der Voraussetzung der prinzipiellen Beschränkung von Machiavellis politischem und geschichtlichem Denken über Staat und Herrschaft kann Fichte sodann die Vorzüge und Errungenschaften eines historischen Staatsdenkens herausstellen, das die damalige Situation in Italien ebenso genau reflektiert wie kritisch analysiert. Machiavellis Principe erscheint in dieser pragmatischen Perspektive als ein »Noth- und Hülfsbuch« 25 für den Erwerb und Erhalt von fürstlicher Herrschaft in einem wesentlich durch Rechtlosigkeit und Gewaltregiment geprägten politischen Klima. Als primäre politische Pflicht erweist sich unter diesen faktischen Bedingungen die Pflicht zur »Selbst-Erhaltung« 26 der Herrschergewalt im Staatskörper und über die Bevölkerung. Im Hinblick auf den für Machiavellis staatspolitisches Denken zentralen Begriff der virtù verweist Fichte auf den Unterschied zwischen einem einheitlich-systematischen Tugendbegriff (»in sich selber geschloßne und zusammenstimmende Tugendhaftigkeit«), den er Machiavelli abspricht, und einem pluralen Konzept von partikularen ausgezeichneten Befähigungen (»einzelne Tugenden«), als deren oberste Fichte bei Machiavelli die unbedingte Zielstrebigkeit (»Konsequenz«) und vernünftige Überlegtheit (»Besonnenheit«) ausmacht. 27 Fichte interpretiert so die scheinbare Immoralität von Ma24 25 26 27

Zu Fichte metapolitischer Staatsphilosophie siehe Zöller (2011). Fichte (1995), GA I/9, 226. Ebd. Ebd., 226 f.

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Politischer Realismus und juridischer Idealismus. Fichte und Machiavelli

chiavellis Tugendbegriff als moralisch indifferente Konzeption eines funktional-pragmatischen Inventars von Herrschaftstechniken. Des Weiteren stellt Fichte als charakterlichen Grundzug des Schriftstellers Machiavelli die ungekünstelt-direkte sprachliche Form, die er seinen Gedanken verleiht, heraus (»Klarheit« 28). Der sachlichen Unvoreingenommenheit entspricht so bei Machiavelli, in Fichtes Einschätzung, die schonungslose Deutlichkeit der Darstellung, die sich überdies durch gute Lesbarkeit und breite Verständlichkeit (»Popularität« 29) auszeichnet. In diese Charakteristik bezieht Fichte zusätzlich zu den politisch-historischen Werken Machiavellis auch dessen literarische Werke, insbesondere die Komödien ein. Komplexer und durchwachsener als die Darstellung von Machiavellis moralischem und intellektuellem Charakter gestaltet sich Fichtes Einschätzung von Machiavellis Republikanismus. Fichte sieht Machiavelli in dem »Vorurtheil von Republik« 30 befangen, demzufolge Freiheit in der Freiheit von monarchischer Vorherrschaft besteht. Dagegen stellt Fichte die strukturelle Affinität von bürgerlicher Selbstregierung zu Gesetzlosigkeit und Willkürherrschaft (»Anarchie«). 31 Des Weiteren verweist er auf die Kurzlebigkeit freiheitlicher Selbstherrschaft in den norditalienischen Stadtrepubliken und deren universalhistorische und geschichtsphilosophische Marginalität. Im Hinblick auf die Alternative von Monarchismus und Republikanismus bezichtigt Fichte Machiavelli eines inkonsequenten Schwankens zwischen dem autokratischen Herrschermodell des Principe, das er auch durch Machiavellis historische Analysen der Florentinischen Geschichte bestätigt sieht, und den republikanischen Sympathien der Discorsi. Mit dem finalen Aufruf des Principe zur Einigung Italiens sieht Fichte dann bei Machiavelli die endgültige Einsicht in die Überlegenheit autokratischer Herrschaftsformen für die Herausbildung einer souveränen Großmacht nach dem Muster Frankreichs oder Spaniens gegeben. Fichtes kritische Äußerungen über die mittelalterlich-frühneuzeitlichen Republiken blenden allerdings die der klassischen römischen Republik entlehnten Vorstellungen Machiavellis von der Ebd., 234. Ebd., 234 f. 30 Ebd., 229. 31 Ebd., 228. Zur Assoziation des Zustandes zwischenstaatlicher rechtlicher Anarchie mit Machiavelli im Zeichen des politischen Realismus in den internationalen Beziehungen siehe Wight (1991), bes. 16 f., 30 f. u. Wright (2005). 28 29

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partizipatorischen Dimension zivilbürgerlicher Selbstregierung ebenso aus wie die spezifisch republikanische Tradition der Herrschaft von allgemeinen Gesetzen statt von persönlicher Willkür. Doch gilt Fichtes Kritik nicht der republikanischen Staatsform als solcher, sondern den populär-republikanischen Exzessen – dies wohl auch mit einem Seitenblick auf die republikanischen Experimente seiner eigenen Zeit, speziell in der Französischen Revolution, mit ihren Extremen von Parteidiktatur und Tugendterror. Im Hinblick auf das angebliche Heidentum Machiavellis vermeidet es Fichte, auf Machiavellis Kritik an der fehlenden Befähigung speziell der christlichen Religion mit ihrer Transzendenzorientierung für eine freiheitliche Gestaltung von Politik einzugehen. Stattdessen versteht er die diesseitige Orientierung von Machiavellis politischem Denken als Ausdruck einer Einstellung von menschlicher Selbständigkeit und Zutrauen in die Gestaltungsmacht über das eigene Leben, für das er auf die vom frühen Goethe rehabilitierte Figur des präolympischen Götterrebellen und Menschenfreundes Prometheus (»Prometheische Gesinnung« 32) zurückgreift. Machiavellis Paganismus erweist sich so, statt als Rückfall in den Polytheismus, als zivilreligiöses Humanitätsideal. Das von Machiavelli attackierte Christentum verkürzt Fichtes Darstellung dem gegenüber auf die apolitischen Extreme von Askese und Meditation (»Mönchthum« 33). In das Umfeld der Verhältnisbestimmung von Religion und Politik gehören auch Fichtes Ausführungen über die »große Schreibeund Preß-Freiheit in Machiavellis Zeitalter«, 34 die den genehmigten Druck und die weite Verbreitung von Machiavellis Schriften ermöglicht haben. Die Toleranz, ja Protektion von Machiavellis kritischem Denken durch hohe Kirchenkreise erklärt Fichte in radikalaufklärerischer Manier mit der These von der betrügerischen Absicht und Verfahrensform der institutionalisierten Religion. Doch Fichte will die gezielte falsche Vorspiegelung religiöser Lehren nur für die des Lesens unkundigen niederen Volksschichten (»Blendwerk für den niedrigsten Pöbel«) und die außeritalienischen Gläubigen der katholischen Kirche (»Ultramontaner«) gelten lassen. 35 Dagegen soll für die gebildete Leserschaft zu Machiavelli Zeiten 32 33 34 35

Fichte (1995), GA I/9, 231. Ebd. Ebd., 232. Ebd., 233 f.

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Politischer Realismus und juridischer Idealismus. Fichte und Machiavelli

ein hohes Ausmaß an Freizügigkeit des Denkens, Schreibens und Publizierens gegolten haben. Allerdings erkennt Fichte auch, dass mit der Kirchenreformation die Lage im nördlichen Europa, aber auch in Italien eine Änderung erfuhr. Die religiös begründete generelle Befähigung zur Bibellektüre habe ein breites Lesepublikum geschaffen, dessen Zugang zu kirchenkritischen und anderweitig aufrührerischen Schriften nunmehr weitreichende Zensurmaßnahmen erfordert hätten, deren Fortführung bis in die eigene Gegenwart Fichte mit Bedauern feststellt.

4.

Fichte über Machiavellis Aktualität

Erst im letzten Abschnitt des Darstellungsteils von Fichtes Machiavelli-Schrift steht die aktualisierende Perspektive auf Machiavelli (»Anwendung« 36) im Mittelpunkt. Als zeitlose Maxime politischen Handelns, die über Machiavellis Zeit hinaus und auch auf die eigene Zeit Anwendung findet, identifiziert Fichte die Voraussetzung allgemeiner »Bösartigkeit« 37. Politisches Handeln muss die Menschen so ansehen und behandeln, als wären sie allesamt und jeder einzeln selbstisch und auf den eigenen Nutzen und das eigene Wohl bis zum Punkt der vorsätzlichen Schädigung und Verletzung der anderen ausgerichtet. 38 Fichte zufolge ist diese Voraussetzung schon bei Machiavelli keine Aussage über das faktische Fehlverhalten partikularer Individuen, die von fallweisen Ausnahmen entkräftet oder gemildert werden könnte. Vielmehr handelt es sich um eine begründete generische Annahme, die statt auf aktuelle Schadenszufügung auf potenzielle Schadensdrohung abhebt. Die Beachtung der Maxime allgemeiner Malizität sei deshalb auch ein Prinzip politischer Klugheit und beinhaltete nicht etwa die moralische Verurteilung einzelner, vieler oder gar aller Individuen. Durch die methodische Voraussetzung allgemeiner Bosheit kommt in die zwischenmenschlichen Verhältnisse mit Machiavelli, so Fichte, ganz generell die politische Perspektive von Krieg und Frieden. Ebd., 239. Ebd. 38 Zur Kontinuität des politischen Realismus bei Fichte und zur Zurückweisung des Mythos einer machiavellistischen Wende in Fichtes rechtlich-politischem Denken siehe Radrizzani (2006). Für eine systematische Zuordnung von Fichtes MachiavelliAufsatz zu dessen politischer Publizistik siehe Freyer (1936). 36 37

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Dem Entstehen und Bestehen staatlicher Ordnung liegt der gesellschaftliche Urkonfliktzustand des »Kriegs aller gegen alle« 39 voraus. Der Staat fungiert als »Zwangsanstalt« 40 zur Errichtung und Aufrechterhaltung von rechtlicher Ordnung. Die Grundform staatlicher Herrschaft ist deshalb für Fichte, der hier in einer proto-republikanischen Tradition steht, die auf Platons Politeia zurückgeht, die »Herrschaft des Gesetzes« 41. Fichte unterscheidet sodann im Hinblick auf Machiavelli zwei Formen der gesellschaftlichen Kriegs- und Friedensordnung. Zum einen ist auszugehen von einem inneren Kriegszustand zwischen Fürst und Volk im Ringen um Herrschaft und Gehorsam. Zum anderen gibt es den äußeren Kriegsstand zwischen staatlichen Gebilden. Für Machiavellis Zeit macht Fichte den fortgesetzten inneren Kriegszustand zwischen Regierenden und Regierten geltend. Die kämpferischen Auseinandersetzungen um Vormacht und Vorherrschaft im frühneuzeitlichen norditalienischen Kleinstaat nehmen so die Züge eines Bürgerkrieges an. Für spätere Jahrhunderte und insbesondere die eigene Gegenwart reklamiert Fichte dagegen einen rechtlichen Friedensschluss zwischen den innerstaatlich streitenden Parteien und Lagern. Die Befriedung der Gesellschaft durch die rechtliche Ordnung und die Herrschaft der Gesetze bringt es mit sich, dass die Gesetzesverstöße nicht mehr massiv erfolgen sondern sporadisch, durch einzelne Gesetzesbrecher, die sich auf Dauer nicht gegenüber den Zwangsmechanismen der staatlichen Ordnung behaupten können. Anders schätzt Fichte die seit Machiavelli zu beobachtende Entwicklung der zwischenstaatlichen Verhältnisse ein, die für ihn immer noch durch das Fehlen einer verbindlichen und durchsetzungsfähigen internationalen Rechts- und Friedensordnung gekennzeichnet ist. Das innerstaatlich errungene Recht endet an der jeweiligen Landesgrenze. Nach Fichtes Einschätzung regiert deshalb auch in der Gegenwart der von Machiavelli vorausgesetzte allgemeine internationale Kriegszustand. Dementsprechend gilt in zwischenstaatlichen Disputen und Konflikten weiterhin das »Recht des Stärkern« 42.

Fichte (1995), GA I/9, 239. Ebd. 41 Ebd., 240. Zu Funktion und Bedeutung von Platons Politeia bei Fichte sowie bei Kant und Hegel, siehe Zöller (2015). 42 Fichte (1995), GA I/9, 244. 39 40

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Die zwischenstaatliche Kriegsführung unterstellt Fichte in der partikularen Perspektive der Politik, die spezifisch verschieden ist von der moralischen Perspektive, aber auch von der rein rechtlichen Perspektive in der Tradition des Naturrechts, den Grundsätzen der Geschicklichkeit und Klugheit. Unter der Grundbedingung universeller Bellizität in den internationalen Beziehungen kommt es, nach Fichtes Einschätzung, vor allem dann zu Kriegen, wenn die Herrschenden bei ihren expansiven oder defensiven Bestrebungen ihren Gegner falsch einschätzen (»Staatsfehler«). 43 In Anlehnung an Machiavelli empfiehlt Fichte gegen die generelle Kriegsgefahr zwei Maximen (»Grundregeln«) in der internationalen Politik, deren Befolgung die Wahrscheinlichkeit kriegerischer Auseinandersetzung dadurch reduzieren würde, dass ihre Beachtung bei allen Beteiligten vorauszusetzen wäre. Es ist dies die Maxime, keinen Vorteil zur Stärkung der eigenen internationalen Position ungenutzt zu lassen, und die Maxime, sich niemals nur auf das Wort und etwa getroffene Absprachen und Bündnisse zu verlassen, sondern immer auch die realpolitischen Sicherheiten für die Einhaltung von Versprechen zu erlangen zu suchen. 44 Im Übrigen verweist Fichte auf den freiheitsrechtlichen Umstand, dass die Völker nicht das Eigentum der Fürsten sind, über das diese zum Zweck militärischer Ambitionen und politischer Illusionen frei verfügen könnten. Für Fichte stehen Fürst und Volk in einem Verhältnis wechselseitiger Verpflichtung zueinander. Allerdings spricht Fichte, wiederum in Orientierung an Machiavelli, den für ihre Völker verantwortlichen Herrschern in ihrem internationalen politischen Handeln auch die Dispensation von den »Gebote[n] der individuellen Moral« zu und unterstellt sie stattdessen der Staatsräson Machiavellischer Prägung in Gestalt des politischen Imperativs »Salus et decus populi suprema lex esto«. 45 Den konkreten Gegenwartsbezug seiner an Machiavelli orientierten politischen Überlegungen stellt Fichte schließlich im Hinblick auf die Französische Revolution her. Deren Ideale von Menschenrecht, Freiheit und Gleichheit bilden für Fichte zwar »die ewigen und unerschütterlichen Grundfesten aller gesellschaftlichen Ordnung, gegen welche durchaus kein Staat verstoßen darf«. Doch fügt 43 44 45

Ebd., 243. Ebd., 242 f. Ebd., 243.

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der an Machiavelli geschulte politische Philosoph Fichte dem sogleich hinzu, dass »mit deren alleiniger Erfassung […] man einen Staat weder errichten, noch verwalten kann«. 46 Den noch spezifischeren Gegenwartsbezug auf die Eroberungskriege Napoleons und dessen Abzielen auf eine europaweite Universalmonarchie lässt Fichtes kleine Schrift über Machiavelli unausgeführt. Ihr ist aber für die zeitgenössische Leserschaft ziemlich deutlich die Ächtung des korsischen Usurpators als Feind von staatlicher Freiheit, den es mit allen kriegerischen Mitteln zu bekämpfen gilt, zu entnehmen – ebenso wie die Kritik am widerstandslosen Einlenken und Nachgeben der preußischen politischen Führung gegenüber dem Sieger von Jena und Auerstädt. 47

5.

Clausewitz an Fichte über Machiavelli

Anfang 1809 erhält Fichte aus Königsberg den anonymen Brief eines jungen Offiziers in preußischen Diensten (»ein ungenannter Militär« 48) mit detaillierten ergänzenden Überlegungen zu Fichtes eher kursorischen Hinweisen auf Machiavellis Schrift über das Kriegswesen im Machiavelli-Aufsatz. Verfasser ist der damals noch ganz unbekannte Carl Clausewitz, der nach eigener Aussage im Brief aus eigenen einschlägigen Erfahrungen schreibt. 49 Das spezielle Augenmerk der Bemerkungen des Briefes gilt Machiavellis Geringschätzung der Artillerie als frühmoderner Kriegswaffe und seiner republikanischen Nostalgie für die Hieb- und Stichwaffen kämpfender Bürgerheere. Clausewitz hält Machiavelli die Unterschätzung der Schlagkraft der Artillerie vor und kritisiert ihn für seine anachronistische Fixierung auf die massiven infanteristischen Kampfformationen von Phalanx (Griechenland) und Legion (Rom). 50 Darüber hinaus moniert Clausewitz die verbreitete und auch Machiavelli leitende Fehlvorstellung von der Kriegsführung als Handwerk, die er vom frühen Mittelalter bis in die eigene Gegenwart verbreitet findet. Gegen die defiziente Vorstellung der kämpfenden Verbände als mechanisch verfasst Ebd., 245. Zur Fichtes politisch-philosophischer Auseinandersetzung mit Napoleon siehe Zöller (2013), 92 f. 48 Fichte (1862), 575. 49 Siehe Fichte (1997), GA III/6, 284. 50 Siehe ebd., 285 f. 46 47

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Politischer Realismus und juridischer Idealismus. Fichte und Machiavelli

und maschinell verwendet, stellt er eine organische Auffassung, der zufolge die Truppen individuell agieren sollen als verhältnismäßig selbständige Bestandteile (Glieder) des Heeresorganismus. 51 Auf einer begrifflichen Ebene, die Einflüsse Kants, speziell der Kritik der Urteilskraft, verrät, aber auch ganz auf der Linie von Fichtes Vorstellungen liegt, kontrastiert Clausewitz die Orientierung traditioneller Militärdoktrin auf die fixe »Form«, mittels der die Streitkräfte zum Einsatz gebracht werden sollen und die sie in eine »große todte Maschine« verwandelt, mit dem »Geist«, der den lebendigen Heereskörper beseelen soll. 52 Resultat dieser veränderten Ansicht des Kriegswesens ist, so Clausewitz in seinem Brief an Fichte, ein Zustand der Begeisterung bei Führung wie Gefolge, der in den modernen »bürgerliche[n] Kriegen« 53 um die Erhaltung und den Fortbestand des eigenen staatlichen Gebildes erfordert wird. Fichte hat den anonymen Brief von Clausewitz allem Anschein nach nicht beantwortet. Doch zeigen Fichtes spätere Ausführungen zur Frage »Was ist ein eigentlicher – wahrhafter – Krieg, und was liegt in dem Begriffe eines solchen?« 54 im Umkreis der Schriften aus der Zeit der Befreiungskriege ein Verständnis des Krieges als Verteidigung oder Wiedergewinnung der politischen Freiheit eines Volkes, das dem republikanischen Denken Machiavellis ebenso verpflichtet ist wie der Kantischen, von Clausewitz auf das Kriegswesen adaptierten Vorstellung vom politischen Körper als Organismus gleich-freier Individuen. Fern davon ihn in einen Machiavellisten im missverstandenen Sinn verwandelt zu haben, erweist sich Fichtes Beschäftigung mit Machiavelli als integraler Bestandteil seiner zeitkritisch gewendeten Bemühungen um eine Philosophie der Freiheit.

Literatur Anglo, Sydney (2005): Machiavelli – The First Century. Studies in Enthusiasm, Hostility, and Irrelevance, Oxford. Barthas, Jérémie (2010): Machiavelli in Political Thought From the Age of Revolution to the Present, in: The Cambridge Companion to Machiavelli, hg. v. John M. Najemy, Cambridge, 256–273. 51 52 53 54

Siehe ebd., 287 f. Ebd., 288 f. Zum metaphilosophischen Begriff des Geistes bei Fichte Zöller (2009). Fichte (1997), GA III/6, 287. Fichte (2011), GA II/16, 39 (im Original Hervorhebung).

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Günter Zöller Fichte, Immanuel Hermann (Hg.) (1862), Fichte’s Leben und litterarischer Briefwechsel, Bd. 2, Actenstücke und litterarischer Briefwechsel, Leipzig, 575–581. Fichte, Johann Gottlieb (1995): Ueber Machiavell, als Schriftsteller, und Stellen aus seinen Schriften, in: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (GA), hg. v. Reinhard Lauth u. a., 42 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012, Reihe I, Band 9, 223–275. Fichte, Johann Gottlieb (1997): Briefe 1806–1810, in: GA III/6, hg. v. Reinhard Lauth u. a., Stuttgart-Bad Cannstatt. Fichte, Johann Gottlieb (2011): Die Staatslehre, oder über das Verhältniß des Urstaates zum Vernunftreiche, in: GA II/16, hg. v. Reinhard Lauth u. a., Stuttgart-Bad Cannstatt. Freyer, Hans (1936), Über Fichtes Machiavelli-Aufsatz, Leipzig. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1971), Die Verfassung Deutschlands (1800– 1802), in: Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 1, Frankfurt/M. 1971, 461–581. Herder, Johann Gottfried (1871): Briefe zur Beförderung der Humanität (1793– 1797), in: Ausgewählte Werke, hg. v. Heinrich Kurz. Bd. 4. Hildburghausen 1871, 250–252. Machiavelli, Niccolò (1997), Il Principe (1517), in: Opere, Bd. 1, hg. v. Corrado Vivanti, Turin, 189–192. Meinecke, Friedrich (1965): Die Entstehung des Historismus, hg. u. eingel. v. Carl Hinrichs, München. Radrizzani, Ives (2006), Fichte lecteur de Machiavel. Un nouveau Prince contre l’occupation napoléonienne, Basel. Wight, Martin/Porter, Brian (Hg.) (1991): International Theory. The Three Traditions, Leicester. Wight, Martin/Porter, Brian (Hg.) (2005): Four Seminal Thinkers in International Theory. Machiavelli, Grotius, Kant, and Mazzini, Oxford 2005, 3– 28. Zöller, Günter (2009): »Die Sittlichkeit des Geistes und der Geist der Sittlichkeit. Fichtes systematischer Beitrag«, in: Geist und Sittlichkeit. Ethik-Modelle von Platon bis Levinas, hg. v. Edith Düsing, Klaus Düsing u. Hans-Dieter Klein, Würzburg, 217–238. Zöller, Günter (2013), Fichte lesen, Stuttgart-Bad Cannstatt. Zöller, Günter (2013): Mensch und Erde. Die geo-anthropologische Parallelaktion von Herder und Kant, in: Herders »Metakritik«. Analysen und Interpretationen, hg. v. Marion Heinz, Stuttgart-Bad Cannstatt, 253–271. Zöller, Günter (2015), Res Publica. Plato’s »Republic« in Classical German Philosophy, Hong Kong. Zöller, Günter (Hg.) (2011): Der Staat als Mittel zum Zweck. Fichte über Freiheit, Recht und Gesetz, Baden-Baden 2011.

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Von der »Neuen Mythologie« zum »Spekulativen Epos«. Schellings Dante Arne Zerbst

Für Bruno

»Der verfasser dieser übertragungen […] weiss dass das ungeheure welt- staats- und kirchengebäude nur aus dem ganzen werk begriffen wird. Was er aber fruchtbar zu machen glaubt ist das dichterische· ton bewegung gestalt: alles wodurch Dante für jedes in betracht kommende volk (mithin auch für uns) am anfang aller Neuen Dichtung steht.« Stefan George: Dante. Die Göttliche Komödie. Übertragungen. Vorrede der ersten Auflage [1912].

An Dante Erst stiegst du furchtsam in die ew’gen Tiefen, Ins Land der Nacht, die nie gesehnen Orte, Zu schauen, wo die alten Geister schliefen. Das Herz erbebte zwar dem furchtbar’n Worte: Die ihr hier eingeht, laßt die Hoffnung sterben, Doch gingst du vorwärts durch die grause Pforte. Dann durch den Zwang der Höll’ und das Verderben Der Seelen und die schrecklichen Gesichte Drangst du, den höchsten Sieg dir zu erwerben, Nicht durch das Thor der göttlichen Gerichte, Das ewig ist und keinem überwunden, Durchs Herz der Erde selbst zum ew’gen Lichte. 1 SW 10, 441. Schellings Sohn setzt als Herausgeber noch folgende Fußnote an das Ende des Gedichts: »Vgl. zu der letzten Zeile den Aufsatz über Dante in dem Kritischen Journal der Philosophie (Band V, 152 ff.)«. Schelling wird nach folgender Ausgabe mit der Sigle SW zitiert: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche

1

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Zu diesem von Schellings Sohn im 10. Band der Sämmtlichen Werke veröffentlichten Gedicht schreibt der Herausgeber: »Dieses Sonett stand im Manuscript der Philosophie der Kunst am Ende des Abschnittes über Dantes Divina Comedia. Unter demselben war beigeschrieben: Reliqua desiderantur, woraus zu schließen ist, daß es der Anfang eines größeren Gedichts oder einer Reihe von Sonetten war, von denen übrigens nichts vorhanden ist.« Karl Friedrich August Schelling nennt das auf 1802 zu datierende Gedicht ein Sonett; genauer handelt es sich um die Dantesche Terzinenform, die Schelling als Erster in Deutschland nutzt, um ein Lobgedicht auf Dante in dessen eigenster Form zu fügen, nachdem August Wilhelm Schlegel die Dantesche Terzine 1797 mit seinem »Prometheus« allererst in die deutsche Sprache eingeführt hatte. 2 Schellings Beschäftigung mit Dante gehört mitten hinein in dessen Wiederentdeckung durch die Jenaer Frühromantik, insbesondere durch die Gebrüder Schlegel. Diese Konstellation lässt sich historisch über zahlreiche Briefe und mannigfaltige Werkverbindungen belegen; 3 systematisch wird sie bereits 1933 von Clara-Charlotte Fuchs auf den Punkt gebracht. In ihrer Dissertation über »Dante in der deutschen Romantik« heißt es zu Beginn des Abschnitts über Schelling: »Wir haben festgestellt, daß Friedrich Schlegel an Dante Gefallen gefunden hat, weil er jeglicher seiner Anforderungen an das Romantische entsprach. Wir sahen August Wilhelm Schlegel sich ihm zuneigen, weil er in ihm das Vergessene und Verkannte erblickte. Und wir werden bald erkennen, daß es ein nicht weniger romantischer Zug war, der Schelling an Dante heranführte: die philosophische Betrachtungsweise der Poesie. […] Seine Abhandlung ›Über Dante in philosophischer Beziehung‹ beginnt Schelling damit, daß er uns in Aussicht stellt, uns zu einem ›entfernten Denkmal der mit Poesie verbundenen Philosophie‹ [wohlgemerkt, nicht der mit Philosophie verbundenen Poesie!] zurückzuführen.« 4

Werke, 14 Bde., hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856– 1861. Danach stehen römische Ziffern für Bandangaben und arabische für Seitenzahlen. 2 Vgl. Fuchs (1933), 96. 3 Gemeinsame Italienisch-Studien im Frühromantikerkreis sind ab 1799 belegbar, vgl. Hogrebe (1989), 14 u. 25 f. Zur Dante-Rezeption um 1800 vgl. überdies Auerbach (1929), Becker (1987), Fuchs (1933) u. Hogrebe (1987). 4 Fuchs (1933), 89.

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Von der »Neuen Mythologie« zum »Spekulativen Epos«. Schellings Dante

Schelling und Dante: Der dichtende Denker und der denkende Dichter. Am Beginn der Fragestellung steht also das grundlegende Verhältnis von Philosophie und Poesie. Deshalb wählt die vorliegende Untersuchung auch nicht Schellings Aufsatz »Über Dante« zum zentralen Ausgangspunkt, sondern nimmt die systematische Stellung Dantes im Schelling’schen Gedankengang und dessen historischen Horizont in den Blick. Und als in dieser Hinsicht zentral erweist sich die Frage nach der »Neuen Mythologie«, die ihrerseits in der Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Poesie wurzelt. »Der Philosoph muß eben so viel ästhetische Kraft besizen, als der Dichter.« 5 So fordert es das zwischen Ende 1796 und Anfang 1797 entstandene Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, das in Hegels Handschrift überliefert und gleichzeitig deutlich von Schelling beeinflusst ist. Eine Vorprägung der universellen Bedeutung der Poesie als »Lehrerin der Menschheit« 6 findet sich bereits in Hamanns 1762 formuliertem Diktum: »Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts«. 7 Dabei schwingt in der Bedeutung von Dichtung und Poesie stets die ursprünglich gedachte poiêsis als Hervorbringung, als Produktivität mit, so dass hier, wie in der ästhetischen Debatte um 1800 überhaupt, letztlich das Verhältnis von Philosophie und Kunst – und die Produktivität als ihre gemeinsame Wurzel – in Frage stehen. Als Beispiel einer Annäherung an dieses Verhältnis von Seiten der Kunst sei Jean Paul genannt, der 1804 in der Vorrede zur ersten Auflage seiner Vorschule der Ästhetik schreibt: »Die rechte Ästhetik wird daher nur einst von einem, der Dichter und Philosoph zugleich zu sein vermag, geschrieben werden« 8. Den entsprechenden philosophischen Blick auf das Verhältnis und eine damit verknüpfte Zukunftshoffnung wirft Schelling kurz zuvor in den Vorlesungen zur Philosophie der Kunst, die er erstmals 1802/1803 in Jena hält und in denen es heißt: »Der Ursprung des absoluten Lehrgedichts oder des speculativen Epos fällt also mit der Vollendung der Wissenschaft in eins zusammen, und wie die Wissenschaft erst von der Poesie aus-

Anonym (1984), 12. Ebd., 13 (dabei ersetzt im Manuskript das Wort »Menschheit« das zuvor gestrichene Wort »Geschichte«). 7 Hamann (1988), 81. 8 Jean Paul (1990), 24. 5 6

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ging, so ist es auch ihre schönste und letzte Bestimmung, in diesen Ocean zurückzufließen.« (664) 9 Nach dem Verhältnis von Philosophie und Poesie fragt – geschichtlich gedacht – zunächst auch Herder, der den Frühromantikern und dem Systemprogramm die ästhetische Annäherung an den Mythos vorprägt und das entscheidende Stichwort liefert – nämlich das der »Neuen Mythologie«. Das Stichwort wohlgemerkt, nicht die Sache selbst. Auf Herders Text Vom neuern Gebrauch der Mythologie fußt das frühromantische, auf künstlerische Produktivität abzielende Programm der Neuen Mythologie. Der zentrale fünfte Abschnitt dieses 1767 veröffentlichten Aufsatzes hebt an: »Jetzt will ich mich einigen praktischen Betrachtungen überlassen, wie wir die Mythologie zur Bildung unsrer Erfindungskraft nutzen können, um uns den Alten mehr an Geist, als durch Nachahmen, zu nähern.« 10 Herder versteht die Mythologie also als Grundlage von Inspiration und Produktivität, wie er wenig später präzisiert: »Kurz! als poetische Heuristik wollen wir die Mythologie der Alten studieren, um selbst Erfinder zu werden.« 11 Die entscheidende Textpartie folgt sogleich: »Da diese Erfindungskunst aber zwei Kräfte voraussetzt, die selten beisammen sind, und oft gegen einander würken: den Reduktions- und den Fiktionsgeist: die Zergliederung des Philosophen und die Zusammensetzung des Dichters: so sind hier viele Schwierigkeiten, uns gleichsam eine ganz neue Mythologie zu schaffen.« 12 Die Neue Mythologie ist vor allem eine ästhetische Projektion und das Herdersche Ideal, »der philosophische Dichter«, 13 wird auch im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus gefordert. Ebenfalls in Entfaltung Herderscher Ideen verlangt es gegen die verrechnende Rationalität der »BuchstabenPhilosophen«: 14 »[…] wir müßen eine neue Mythologie haben […]. Ehe wir die Ideen ästhetisch d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse und umgekehrt ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen.« 15 Das Systemprogramm also will Philosophie Seitenangaben ohne nähere Bezeichnung entstammen der Philosophie der Kunst (SW V, 353–737). 10 Herder (1985), 447. 11 Ebd., 449. 12 Ebd., 450. 13 Ebd., 454. 14 Anonym (1984). 15 Ebd., 13 (hier ohne Unterstreichung und eckige Klammern). 9

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Von der »Neuen Mythologie« zum »Spekulativen Epos«. Schellings Dante

und Popularität versöhnen und erhebt den Anspruch einer Verbindung von allgemeinster Verständlichkeit, tiefster Erkenntnis und größter Wirkung. Damit ist aus der Frage deutender Aneignung des überlieferten Mythos die Idee einer gegenwartsbezogenen Neuschöpfung geworden: Von der produktiven Rezeption zur rezeptiven Produktion. Und für diesen Umkehrpunkt in der Geschichte der MythosAuffassung steht insbesondere die Philosophie Schellings. Es geht um nichts weniger als die Vollendung der Philosophie in der Ästhetik. Das Grundproblem ist dabei die Erschaffung einer angemessenen Form, die Darstellungsweise. Ganz ähnlich formuliert es auch Friedrich Schlegel in seiner emphatischen Rede über die Mythologie, dem maßgeblichen Mittelteil des 1800 im Athenäum erschienenen Gesprächs über die Poesie. »Ich gehe gleich zum Ziel«, bemerkt der im Gesprächsverlauf referierende Ludovico, »[e]s fehlt, behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die der Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, läßt sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie. Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.« 16 Das korrigierende »oder vielmehr« leitet also vom passiven »erhalten« über zum aktiven Mitwirken und Hervorbringen. Auch Schlegel verbindet diese Hoffnung auf eine Neue Mythologie mit dem »Urquell der Poesie« 17 und in der an das Referat Ludovicos anknüpfenden Diskussion bemerkt Lothario: Die »innersten Mysterien aller Künste und Wissenschaften [sind] ein Eigentum der Poesie. Von da ist alles ausgegangen, und dahin muß alles zurückfließen. In einem idealischen Zustande der Menschheit würde es nur Poesie geben; nämlich die Künste und Wissenschaften sind alsdann noch eins. In unserm Zustande würde nur der wahre Dichter ein idealischer Mensch sein und ein universeller Künstler.« 18 Außerdem tauchen im »Gespräch über die Poesie« bereits wichtige Elemente der Schelling’schen Dante-Auffassung auf. So bemerkt Friedrich Schlegel über den einzuschlagenden »Rückweg zum Altertum«: »Diesen betrat Religion und Poesie verbindend, der große

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Schlegel (1967), 312. Ebd. Ebd., 324.

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Dante, der heilige Stifter und Vater der modernen Poesie.« 19 Und ebenfalls bei Schlegel läßt sich bereits die Vorbildstellung Dantes für die Neue Mythologie ablesen. So entwirft Ludoviko in der Diskussionsrunde zur »Rede über die Mythologie« eine Möglichkeit für den künftigen Verfasser der Neuen Mythologie, 20 wenn er verlauten läßt: »Er müßte, wie er [Dante], nur Ein Gedicht im Geist und im Herzen haben, und würde oft verzweifeln müssen ob sichs überhaupt darstellen läßt. Gelänge es aber, so hätte er genug getan.« 21 Darauf antwortet der Gesprächspartner Andrea: »Sie haben ein würdiges Vorbild aufgestellt! Gewiß ist Dante der einzige, der unter einigen begünstigenden und unsäglich vielen erschwerenden Umständen durch eigne Riesenkraft, er selbst ganz allein, eine Art von Mythologie, wie sie damals möglich war, erfunden und gebildet hat.« 22 Diesen Ansatz wird Schelling weitertreiben, indem er ihn aus der Systematik seiner Philosophie entwickelt. Wie steht es also mit Schelling in der Konstellation zwischen Philosophie und Poesie um 1800? Und wie steht er dabei zur Frage nach der Neuen Mythologie? Wie kommt er von dort zum »Spekulativen Epos«? Und welche systematische Stellung nimmt Dante ein in diesem Gedankengang? Unabhängig von der Verfasserfrage des Systemprogramms – Claus-Artur Scheier hat 2011 wieder sehr gute Argumente für Schelling vorgebracht – 23 soll hier besonders auf die »Konstruktion des Stoffs« aus der »Philosophie der Kunst« eingegangen werden. 24 Der Kernsatz dieses zweiten Abschnittes des allgemeinen Teils lautet: »Mythologie ist die nothwendige Bedingung und der erste Stoff aller Kunst.« (§ 38, Abs. 1, 405). 25 Schelling beginnt den Weg zu diesem Gedanken mit der Frage, wie besondere Formen im Absoluten überhaupt sein können – übertragen auf die allgemeine Philosophie, also die Frage nach dem Unendlichen im Endlichen, der Vielheit in der

Ebd., 297. Im Kontext bedeutet Neue Mythologie hier, »den Geist des Spinosa in einer schönen Form darstellen« zu können (ebd., 327). 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Scheier (2011). 24 Zur näheren Ausführung der im Folgenden angedeuteten Sachverhalte im umfassenden Zusammenhang der Schelling’schen »Philosophie der Kunst« vgl. Zerbst (2011). 25 Einen ersten richtungsweisenden Hinweis auf die Mythologie gibt bereits die Einleitung (Abs. 40, 370). 19 20

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Einheit. 26 Die Antwort liegt in der Unteilbarkeit des Absoluten, welche bedingt, dass jedes besondere Ding für sich ein Universum, ein absolutes Ganzes ist. Solche besonderen Dinge heißen Ideen, die einerseits selbst absolut sind und andererseits als Besonderes aufgenommen werden ins Absolute. »Diese gedoppelte Einheit jeder Idee ist eigentlich das Geheimnis, wodurch das Besondere im Absoluten, und gleichwohl wieder als Besonderes begriffen werden kann.« (§ 27, Abs. 3, 390). Schelling entfaltet diese beiden Seiten, indem er fortfährt: »Dieselben Ineinsbildungen des Allgemeinen und Besonderen, die an sich selbst betrachtet Ideen, d. h. Bilder des Göttlichen sind, sind real betrachtet Götter.« (§ 28, Abs. 1, 390). Sogleich werden diese allgemein gewonnenen Prinzipien auf die Kunst und auf ihr Verhältnis zur Philosophie übertragen: »Die Idee der Götter ist nothwendig für die Kunst. Die wissenschaftliche Construktion derselben führt uns eben dahin zurück, wohin der Instinkt die Poesie in ihrem ersten Beginn schon geführt hat. Was für die Philosophie Ideen sind, sind für die Kunst Götter, und umgekehrt.« (§ 28, Abs. 2, 391). Indem die Kunst solche Göttergestalten – verstanden als real angeschaute Ideen – darstellt, erhält sie nicht nur eine begrenzte, und dadurch überhaupt erst darstellbare Gestalt, sondern auch die ungeteilte Absolutheit. Dabei ist »die griechische Mythologie das höchste Urbild der poetischen Welt« (§ 30, Abs. 2, 392). Ein Paradigma, welches auch ohne explizite Nennung allein aus den gewählten Beispielen deutlich wird und für dessen Erschließung Schelling eine seiner wesentlichen Quellen aufdeckt, nämlich die 1791 erschienene Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten von Karl Philipp Moritz. 27 Bezüglich der Zugangsmöglichkeit zu den Göttergestalten wird unterschieden zwischen erstens dem trennenden, fixierenden, an der Begrenzung haftenden Verstand, zweitens der Vgl. die Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre von 1796/1797, deren erster Abdruck im Philosophischen Journal unter dem Titel »Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literaturen« erschien: »Alle Handlungen des Geistes also gehen darauf, das Unendliche im Endlichen darzustellen.« SW I, 382. 27 Moritz (1993). An dieser Stelle (§ 30, Abs. 3, 393) steht übrigens »Moriz«, obwohl später korrekt von »Moritz« die Rede ist (§ 39, Abs. 19, 412). Außerdem tritt zu Moritz ebendort noch die Nennung Goethes als zusätzliche Quelle, die Spuren in der Götterlehre hinterlassen hat. In § 42, Abs. 12, 421 (Fußnote) nennt Schelling (oder sein Sohn) ein weiteres wichtiges Werk für die Ausarbeitung der Mythologie als Stoff der Kunst: Friedrich Schlegels »Geschichte der Poesie der Griechen und Römer«, erschienen 1798 (Schlegel [1979]). 26

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Vernunft, welche nur eine ideelle Darstellung der Einheit von Absolutem und Besonderem vermag und drittens der Phantasie, die reell eben dazu in der Lage ist. »Die Welt der Götter ist kein Objekt weder des bloßen Verstandes noch der Vernunft, sondern einzig mit der Phantasie aufzufassen.« (§ 31, Abs. 1, 395). In seinem ›kleinen Programm der Romantik‹ führt Schelling die Phantasie auf die göttliche Imagination zurück (§ 30, Abs. 3, 393). Außerdem parallelisiert er das Verhältnis von Einbildungskraft und Phantasie auf Seiten der Kunst mit demjenigen von Vernunft und intellektueller Anschauung auf Seiten der Philosophie. Dabei kommt es zu folgenden Definitionen: »Im Verhältnis zur Phantasie bestimme ich Einbildungskraft als das, worin die Produktionen der Kunst empfangen und ausgebildet werden, Phantasie, was sie äußerlich anschaut, sie aus sich hinauswirft gleichsam, insofern auch darstellt.« (§ 31, Abs. 2, 395). Indem sich diese Göttergestalten im erschaffenen Weltkreis der Phantasie vereinigen, spinnen sich die Geschichten fort, bis in der somit geschaffenen Mythologie alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind (§§ 34/35, 399/400). Die Mythologie ist also die Gesamtheit der Götterdichtungen und als solche Stoff der Kunst (§ 37, 405 u. § 38, Abs. 1, 405). Denn nur in den Ideen der Götter löst sich der Widerspruch einer »Idee der Kunst als Darstellung des absolut, des an sich Schönen durch besondere schöne Dinge; also Darstellung des Absoluten in Begrenzung ohne Aufhebung des Absoluten« (§ 38, Abs. 2, 405). Im Zuge des die Frage der Mythologie einkreisenden Gedankengangs seiner Philosophie der Kunst kommt Schelling auch auf das grundlegende Verhältnis von Philosophie und ursprünglich gedachter Poesie zu sprechen. Besonders aufschlussreich ist das bereits erwähnte Bild vom Ozean als Herkunft und Ziel der Ströme, mit dem Schelling an Formulierungen seines Systems anknüpft und darüber hinaus an Hölderlins Briefroman Hyperion. Dieses Bild soll nun näher betrachtet werden: Innerhalb der Philosophie der Kunst liefert bereits die Mythologie den Urstoff für die Poesie, »aus dem alles hervorging, der Ocean, um ein Bild der Alten zu gebrauchen, aus dem alle Ströme ausfließen, wie sie alle in ihn zurückkehren« (§ 42, Abs. 3, 416). Im System des transzendentalen Idealismus dagegen repräsentiert die Poesie selbst diesen Urstoff: »Wenn es nun aber die Kunst allein ist, welcher das, was der Philosoph nur subjektiv darzustellen vermag, mit allgemeiner Gültigkeit objektiv zu machen gelingen kann, so ist, um noch diesen Schluß daraus zu ziehen, zu

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erwarten, daß die Philosophie, so wie sie in der Kindheit der Wissenschaft von der Poesie geboren und genährt worden ist, und mit ihr alle diejenigen Wissenschaften, welche durch sie der Vollkommenheit entgegengeführt werden, nach ihrer Vollendung als ebenso viel einzelne Ströme in den allgemeinen Ozean der Poesie zurückfließen, von welchem sie ausgegangen waren.« 28

Eine Formulierung, welche sich direkt beziehen lässt auf den sogenannten Athenerbrief, den letzten Brief des 1797 erschienenen ersten Bandes von Hölderlins Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Dort berichtet Hyperion an Bellarmin von einem Gespräch über die »Treflichkeit des alten Athenervolks« 29 und antwortet auf die Frage nach dem Zusammenhang von Philosophie und Dichtung: »Die Dichtung, sagt’ ich, meiner Sache gewiß, ist der Anfang und das Ende dieser Wissenschaft. Wie Minerva aus Jupiters Haupt, entspringt sie aus der Dichtung eines unendlichen göttlichen Seyns. Und so läuft am End’ auch wieder in ihr das Unvereinbare in der geheimnisvollen Quelle der Dichtung zusammen.« 30 Die Mythologie, welche in der Philosophie der Kunst zum Urstoff, zum Ozean, zur Quelle wird, nimmt im System noch eine vermittelnde Stellung zwischen Wissenschaft und Poesie ein. Schelling verbindet diesen Gedanken mit der Hoffnung auf eine Neue Mythologie, welche nur von einem ›individuellen Geschlecht‹ hervorgebracht werden kann: »Welches aber das Mittelglied der Rückkehr der Wissenschaft zur Poesie sein werde, ist im allgemeinen nicht schwer zu sagen, da ein solches Mittelglied in der Mythologie existiert hat […]. Wie aber eine neue Mythologie, welche nicht Erfindung des einzelnen Dichters, sondern eines neuen, nur Einen Dichter gleichsam vorstellenden Geschlechts sein kann, selbst entstehen könne, dies ist ein Problem, dessen Auflösung allein von den künftigen Schicksalen der Welt und dem weiteren Verlauf der Geschichte zu erwarten ist.« 31

Auch dies also Formulierungen des Systems, welche für das System der Kunstphilosophie aufgegriffen werden. An sehr viel späterer Stelle, im Abschnitt zur epischen Poesie innerhalb des besonderen Teils der Philosophie der Kunst, werden die genannten Aspekte noch ein28 29 30 31

6. Hauptabschnitt, § 3, Abs. 9 (SW III, 629). Hölderlin (1993), Bd. 1, 681. Ebd., 685. 6. Hauptabschnitt, § 3, Abs. 9 (SW III, 629).

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mal verdichtet: »Der Ursprung des absoluten Lehrgedichts oder des speculativen Epos fällt also mit der Vollendung der Wissenschaft in eins zusammen, und wie die Wissenschaft erst von der Poesie ausging, so ist es auch ihre schönste und letzte Bestimmung, in diesen Ocean zurückzufließen.« (667). So wie das Wunder die christliche Moderne auszeichnet, so das Epos die griechische Antike. Im Gegensatz zur abgeschlossenen Antike jedoch verfügt die Moderne über geschichtliche Offenheit. Zwar besitzt »die moderne Welt kein wahres Epos« (§ 42, Abs. 54, 442) und damit »auch keine geschlossene Mythologie«, aber ein modernes Epos als Träger einer Neuen Mythologie kann künftig geschaffen werden. Damit ist die Philosophie der Kunst eben auch klares Bekenntnis zum Programm der Neuen Mythologie. Aus der Erfahrung der Geschichte, die nur wenige herausragende Künstler kennt, 32 bestimmt Schelling dieses Zukunftsprojekt näher: »Wer den ganzen Stoff seiner Zeit, sofern sie als Gegenwart auch die Vergangenheit wieder begreift, poetisch unterjochen und verdauen könnte, wäre der epische Dichter seiner Zeit.« (§ 42, Abs. 56, 444). Bis in die Formulierungen hinein gemahnt dieser Gedanke an Passagen aus Friedrich Nietzsches 1874 erschienener Schrift Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Der lebenserdrückende Nachteil geschichtlichen Wissens nämlich ist nach Nietzsche abhängig von der Produktivität, vom Maß der ›plastischen Kraft‹ : »[…] ich meine jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen« 33. Eine fast übermenschliche Produktivkraft fordert ja bereits Schelling vom Dichter, welcher, wie bereits zitiert, »den ganzen Stoff seiner Zeit […] poetisch unterjochen und verdauen« muß, um das neue Epos zu erschaffen. Schellings Forderung entspricht damit Nietzsches Projektion einer »innersten Natur« des Menschen, die so kraftvoll sein kann, dass es überhaupt kein schädliches Übermaß an Historie mehr gibt: »[…] und dächte man sich die

Vgl. die Ausführungen zum goldenen Zeitalter der Künste in der Einleitung (Abs. 7, 360). 33 Nietzsche (1988), Bd. 1, 251. Zur ›plastischen Kraft‹ vgl. auch Schellings Begriff der ›werktätigen Wissenschaft‹ in der Rede Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur (SW VII, 289–329). 32

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mächtigste und ungeheuerste Natur, so wäre sie daran zu erkennen, dass es für sie gar keine Grenze des historischen Sinnes geben würde, an der er überwuchernd und schädlich zu wirken vermöchte; alles Vergangene, eigenes und fremdestes, würde sie an sich heran, in sich hineinziehen und gleichsam zu Blut umschaffen.« Ein solcher nur an den Rändern dieses Aufsatzes aufblitzender Vorblick auf das späte 19. Jahrhundert soll neben den subkutanen geistesgeschichtlichen Bezügen der beiden Philosophen, die freilich auf den gemeinsamen Blutspender der Antike zurückweisen, 34 vor allem verdeutlichen, welchen enorm hohen Anspruch Schelling an das neue Epos stellt. Er legt diesen Anspruch näher aus, indem er ihn mit der Schaffung einer Neuen Mythologie verbindet: »Universalität, die nothwendige Forderung an alle Poesie, ist in der neueren Zeit nur dem möglich, der sich aus seiner Begrenzung selbst eine Mythologie, einen abgeschlossenen Kreis der Poesie schaffen kann.« (§ 42, Abs. 56, 444). In ungewisser Zukunft also wird »der Weltgeist das große Gedicht, auf das er sinnt, selbst vollendet haben, und das Nacheinander der modernen Welt sich in ein Zumal verwandelt haben« (§ 42, Abs. 59, 445). Und genau an dieser Stelle des Gedankens öffnet sich der Blick auf Dante. Bis zu diesem in der Zukunft liegenden Ereignis nämlich ist »jeder große Dichter berufen […], von dieser noch im Werden begriffenen (mythologischen) Welt, von der ihm seine Zeit nur einen Theil offenbaren kann, – von dieser Welt, sage ich, diesen ihm offenbaren Theil zu einem Ganzen zu bilden und aus dem Stoff derselben sich s e i n e Mythologie zu schaffen. So, um dieß an dem Beispiel des größten Individuums der modernen Welt deutlich zu machen, schuf sich D a n t e aus der Barbarei und der noch barbarischeren Gelehrsamkeit seiner Zeit, aus den Gräueln der Geschichte, die er selbst erlebt hatte, wie aus dem Stoff der bestehenden Hierarchie, eine eigne Mythologie und mit dieser sein göttliches Gedicht.« (Ebd.)

Dante also ist das große Beispiel Schellings für die historische Verwirklichung des Anspruchs einer Neuen Mythologie, nicht aber der eigentlichen Neuen Mythologie, die eben nur neu, also gegenwärtig sein kann. 35 34 Vgl. Seneca: Ad Lucilium. Epistulae morales, XI, 84, 6 f. (Seneca [2011], Bd. 4, 226 f.). 35 Vgl. Hogrebe (1989), 27: »Aus dieser Sicht erhält die Divina Commedia etwas Vorbildliches und Vorläufiges zugleich.«

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Bevor Schelling die Frage aufwirft, aus welchem Stoff diese eigentliche Neue Mythologie zu bilden sei, betont er die Originalität als Erkennungszeichen der Moderne: »Jeder originell behandelte Stoff ist eben dadurch auch universell poetisch.« (§ 42, Abs. 62, 447) Und den originellsten Stoff für die ebenso eingeforderte wie erhoffte Neue Mythologie erkennt Schelling in der spekulativen Physik und damit auf seinem eigensten Gebiet: »[…] ich verhehle meine Ueberzeugung nicht, daß in der Naturphilosophie, wie sie sich aus dem idealistischen Princip gebildet hat, die erste ferne Anlage jeder künftigen Symbolik und derjenigen Mythologie gemacht ist, welche nicht ein Einzelner, sondern die ganze Zeit geschaffen haben wird.« (§ 42, Abs. 64, 449) Allen Gesten der Bescheidenheit zum Trotz betont Schelling damit in dem ihm eigenen Pathos, dass er es war, der einen Anfang gemacht hat. Denn seine bereits vorgelegte Naturphilosophie kann als ein erster, gewichtiger und damit fundamentaler Baustein der Neuen Mythologie gelten. Letztlich ist hier von konkreter Kunst die Rede, nämlich von dem großen Werk der Zukunft. Auch für diese Verbindung, ja wechselseitige Durchdringung von Wissenschaft und Dichtung findet Schelling sein Vorbild in Dante. Innerhalb der »Construktion der einzelnen Dichtarten«, ganz am Ende des Abschnitts zur epischen Poesie heißt es: »Für die Bildung der neueren Welt ist aber die Wissenschaft, die Religion, ja selbst die Kunst von nicht minder allgemeiner Beziehung und Bedeutung als die Geschichte, und in der unauflöslichen Mischung dieser Elemente würde eben das wahre Epos für die moderne Zeit bestehen müssen. […] Ein Versuch dieser Art hat die Geschichte der neueren Poesie begonnen, es ist die göttliche Komödie des Dante […]. Sie fordert ihre eigne Theorie, sie ist ein Wesen einer eignen Gattung, eine Welt für sich.« (686)

Und Schelling verdeutlicht: »Dieß ist der Grund, warum ich die göttliche Komödie des Dante zum Gegenstand einer besondern Betrachtung mache, sie unter keine Gattung subsumire, sondern hiemit als Gattung für sich selbst constituire.« (687) Ausgeführt wird dieser Gedanke in dem ursprünglich an genau dieser Stelle der Philosophie der Kunst befindlichen Abschnitt, den Schelling herauslöst und 1803 unter dem Titel »Ueber Dante in philosophischer Beziehung« im Kritischen Journal der Philosophie erscheinen lässt. Gleich zu Beginn dieses Aufsatzes »steht Dante als Hohepriester und weiht die ganze moderne Kunst für ihre Bestim-

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mung ein«. 36 Das geniale Individuum und sein Werk also stehen am Beginn der Moderne (immer im Sinne Schellings verstanden als Epoche, die mit dem Christentum einsetzt) und repräsentieren damit eine Produktivität, die in der Antike (als der vorchristlichen Zeit) von der gesamten Gattung getragen wurde. 37 So erwächst aus dem Vorbild Dantes hinsichtlich der Produktivität folgerichtig auch das Vorbild hinsichtlich der Neuen Mythologie: »Das nothwendige Gesetz [der modernen Poesie] bis zu dem in noch unbestimmbarer Ferne liegenden Punct, wo das große Epos der neuen Zeit, das bis jetzt nur rhapsodisch und in einzelnen Erscheinungen sich verkündet, als beschlossene Totalität hervortritt, ist: daß das Individuum den ihm offenbaren Theil der Welt zu einem Ganzen bilde und aus dem Stoff seiner Zeit, ihrer Geschichte und ihrer Wissenschaft sich seine Mythologie erschaffe.« 38

Anders formuliert: »Dante ist in dieser Rücksicht urbildlich, da er ausgesprochen hat, was der moderne Dichter zu thun hat, um das Ganze der Geschichte und Bildung seiner Zeit, den einzigen mythologischen Stoff, der ihm vorliegt, in einem poetischen Ganzen niederzulegen.« 39 Die Bedeutung Dantes liegt für Schelling mithin in der sowohl inhaltlichen also auch gattungspoetischen Syntheseleistung der »Göttlichen Komödie«. Dieses Werk ist das geschichtliche Paradigma für die zukünftig zu schaffende Neue Mythologie und die Aufgabe der Gegenwart besteht in der aktualisierenden Transformation. Aber auch wenn die Verbindung von Philosophie und Poesie hinsichtlich der wissenschaftlichen Erkenntnisse auf dem Stand der jeweiligen Gegenwart sein muss, so bleibt diese Verbindung selbst das Entscheidende: »Es könnte nur ein sehr untergeordnetes Interesse haben, die Philosophie, Physik und Astronomie des Dante an und für sich darzustellen, da seine wahre Eigenthümlichkeit nur in der Art ihrer Verschmelzung mit der Poesie liegt.« 40 Angesichts der näheren Untersuchung der »Trichotomie des Dante« 41 beginnt sich der Kreis zu schließen, da Schellings Dante36 37 38 39 40 41

Schelling (1802/1803), 36. Vgl. Knatz (1999), 260. Schelling (1802/1803), 37. Ebd., 40. Ebd., 41. Vgl. Jamme (1991), 40. Schelling (1802/1803), 43.

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Aufsatz in direkten Bezug tritt zu seinem eingangs zitierten Gedicht An Dante. Dessen letzte Zeile lautet: »Durchs Herz der Erde selbst zum ew’gen Lichte«. Und der Aufsatz führt nun näher aus: »Der Dichter ist durch das Herz der Erde selbst zum Lichte gedrungen; im Dunkel der Unterwelt konnte nur die Gestalt unterschieden werden, im Purgatorium entzündet sich das Licht noch gleichsam mit dem irdischen Stoff und wird Farbe. Im Paradies bleibt nur die reine Musik des Lichtes, der Reflex hört auf, und der Dichter erhebt sich stufenweise zur Anschauung der farblosen reinen Substanz der Gottheit selbst.« 42 Schelling fährt fort: »Es ist nothwendig, daß in dem Verhältniß, als die Anschauung in das rein Allgemeine sich auflöst, die Poesie Musik wird, die Gestaltung verschwindet und daß in dieser Beziehung das Infernum als der poetischere Theil erscheinen kann.« 43 Diese feine Beobachtung über das Verhältnis von Philosophie und Poesie erklärt ganz nebenbei und höchst philosophisch, warum der bis heute weitaus populärste Teil der Göttlichen Komödie die Hölle ist. 44 Schließlich wird auch das Motiv der Quelle von Schelling am Ende seines Aufsatzes erneut bemüht, nun, um Dante und seine Göttliche Komödie zusammenfassend und emphatisch als Urbild jeder ernsthaften Dichtung, jeder ursprünglichen poiêsis herauszustellen: »Die die Poesie der späteren Zeit nicht nach oberflächlichen Begriffen, sondern in ihrem Quell kennen lernen wollen, mögen an diesem großen und strengen Geist sich üben, um zu wissen, durch welche Mittel die Ganzheit der neueren Zeit umfaßt werde und daß kein so leicht geknüpftes Band sie vereinige. Die hiezu nicht berufen sind, mögen gleich die Worte am Anfang des ersten Theils auf sich selbst beziehen: Laßt alle Hofnung fahren, die ihr eingeht!« 45

Die in der Philosophie der Kunst herausgearbeitete hohe Bedeutung der konkreten Kunst für die Philosophie, nämlich als notwendige Anschauung des Absoluten, transformiert Schelling im Laufe seiner gedanklichen Entwicklung in ein Konkretwerden der Philosophie. Indem die Philosophie selbst Kunstwerk wird, soll sie die reale und die Ebd., 48 f. Ebd., 49. 44 Jüngstes Beispiel ist Dan Browns am 14. Mai 2013 gleichzeitig in zahlreichen Ländern erschienener Bestseller Inferno. 45 Schelling (1802/1803), 50. 42 43

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ideale Seite in sich vereinigen. Die philosophische Spekulation kann Konkretes nur einholen, nicht aber selbst produzieren. Dieser Stachel im nicht vorhandenen Fleisch der Philosophie treibt die Philosophie der Kunst in verschiedenen Passagen um und Schelling eröffnet den künftigen Horizont einer Durchdringung von Poesie und Philosophie – erinnert sei an das mehrfach aufgezeigte Quellen-Bild. Schellings späteres Denken wird dem Versuch der Versinnlichung der Idee in der Idee, die höchste Form in einer philosophischen Erzählung zu verwirklichen, treu bleiben. Die Not des Gedankens schließt die Sprachnot mit ein, welche dort sich eröffnet, wo die höchste Idee um sprachliche Entsprechung ringt. Schelling spricht, wie zitiert, vom »speculativen Epos« oder auch – mit Bezug auf Dantes Göttliche Komödie – vom »wahren Epos für die moderne Zeit«, in dem sich Wissenschaft, Religion, Kunst und Geschichte unauflöslich mischen. Aus der systematischen Gattungshierarchie der Philosophie der Kunst gedacht, müsste er für diese zukünftige Philosophie auch die höchste Form der redenden Kunst, das Drama, wählen. Und in der Tat ist der tatsächlich von Schelling unternommene Versuch selbst schon ein philosophisches Drama: das Ringen um die Fragment gebliebenen Weltalter. 1810 beginnt Schelling sein Großunternehmen mit dem aus dem Systemprogramm des deutschen Idealismus vertrauten Anspruch einer Verbindung von allgemeinster Verständlichkeit, tiefster Erkenntnis und größter Wirkung. Auch die Weltalter weisen auf die Nähe von Dichten und Denken hin, wenn es in der Einleitung heißt: »nicht der Dichter allein, auch der Philosoph hat seine Entzückungen.« 46 Freilich ist Schelling vorsichtig genug, den Weltaltern keineswegs die Erfüllung dieses Anspruches aufzubürden, sondern mit diesem Projekt lediglich den ersten Schritt geht auf dieses künftige Ziel hin. »Vielleicht kommt der noch, der das größte Heldengedicht singt, im Geist umfassend, wie von Sehern der Vorzeit gerühmt wird, was war, was ist und was seyn wird. Aber noch ist diese Zeit nicht gekommen. Wir dürfen unsere Zeit nicht verkennen. Verkündiger derselben, wollen wir ihre Frucht nicht brechen, ehe sie reif ist, noch die unsrige verkennen. Noch ist sie eine Zeit des Kampfs. Noch ist des Untersuchens Ziel nicht erreicht; noch muß, wie die Rede von Rhythmus, Wissenschaft von Dialektik getragen und begleitet werden. Nicht Erzähler können wir seyn, nur Forscher, abwägend das Für

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Schelling (1966), 6.

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und das Wider jeglicher Meynung, bis die rechte feststeht, unzweifelhaft, für immer gewurzelt.« 47

Allein der Anspruch ist formuliert, ein Anfang gemacht und die These aufzustellen, dass das Ringen um die Weltalter, das energische Verwerfen und ritualhafte Neubeginnen, eine völlig authentische und angemessene Form darstellt für das stets in Bewegung bleibende Denken Schellings.

Literatur Anonym [Georg Wilhelm Friedrich Hegel und/oder Friedrich Wilhelm Joseph Schelling] (1984): Das »älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus« – Kritische Edition, in: Mythologie der Vernunft. Hegels »ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus«, hg. v. Christoph Jamme u. Helmut Schneider, Frankfurt/M., 7–14. Auerbach, Erich (1929): »Entdeckung Dantes in der Romantik«, in: Deutsche Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 7, 682– 692. Becker, Claudia (1987): »›Im Allerheiligsten, wo Religion und Poesie verbündet‹. F. W. J. Schellings Aufsatz ›Über Dante in philosophischer Beziehung‹ im Kontext der idealistischen Bemühungen um eine Neue Mythologie«, in: Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche Goethes und Hölderlins, hg. v. Helmut Bachmaier u. Thomas Rentsch, Stuttgart, 308–328. Fuchs, Clara-Charlotte (1933): »Dante in der deutschen Romantik«, in: Deutsches Dante-Jahrbuch 15 (NF 6), 61–131 [bes. 89–97]. Hamann, Johann Georg (1988), Aesthetica in nuce (1760), in: ders.: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce, hg. v. Sven-Aage Jørgensen, 77–147. Herder, Johann Gottfried (1985): Vom neuern Gebrauch der Mythologie, in: ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt/M., 432–455. Hogrebe, Wolfgang (1987): »Schelling und Dante«, in: Deutsches Dante-Jahrbuch 62, 7–31. Hogrebe, Wolfgang (1989): Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings »Die Weltalter«, Frankfurt/M. Hölderlin, Friedrich (1993): Sämtliche Werke und Briefe, drei Bde., hg. v. Michael Knaupp, München. Jamme, Christoph (1991): Einführung in die Philosophie des Mythos, Bd. 2, Neuzeit und Gegenwart, Darmstadt. Jean Paul [eigentl. Johann Paul Friedrich Richter] (1990): Vorschule der Ästhetik, nach d. Ausg. v. Norbert Miller hg. v. Wolfhart Henckmann, Hamburg.

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Ebd., 9.

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Von der »Neuen Mythologie« zum »Spekulativen Epos«. Schellings Dante Knatz, Lothar (1999): Geschichte – Kunst – Mythos. Schellings Philosophie und die Perspektive einer philosophischen Mythostheorie, Würzburg. Moritz, Karl Philipp (1993): Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten, in: ders.: Werke, Bd. 2: Reisen. Schriften zur Kunst und Mythologie, hg. v. Horst Günther, Frankfurt/M., 609–842. Nietzsche, Friedrich (1988): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, 2., durchges. Aufl., München. Scheier, Claus-Artur (2011): »Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus und Hegels ›Differenzschrift‹«, in: Coincidentia 2/2, 471–480. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von (1802/1803): »Ueber Dante in philosophischer Beziehung«, in: Kritisches Journal der Philosophie, Bd. 2, 3. Stück, hg. v. Dems. u. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Tübingen, 37–50 u. 57–62 [Anhang]. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von (1856–1861): Schellings sämmtliche Werke [SW], 14 Bde., hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/Augsburg. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von (1966): Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813, hg. v. Manfred Schroter, München, 1– 107. Schlegel, Friedrich (1967): Gespräch über die Poesie, in: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), hg. v. Hans Eichner, München u. a., 284–351 [darin: Rede über die Mythologie, 311–328]. Schlegel, Friedrich (1979): Geschichte der Poesie der Griechen und Römer, in: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 1: Studien des klassischen Altertums, hg. v. Ernst Behler, Paderborn u. a., 395–568. Seneca (2011): Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch, fünf Bde., hg. v. Manfred Rosenbach, Darmstadt. Zerbst, Arne (2011): Schelling und die bildende Kunst. Zum Verhältnis von kunstphilosophischem System und konkreter Werkkenntnis, München.

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Teil II: Italia und Germania

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Vicos »verum-factum« in Rosminis und Giobertis Auffassung der klassischen deutschen Philosophie Faustino Fabbianelli

Einleitung Im Folgenden möchte ich mich einer Frage widmen, die in Italien lang und mit mehr oder minder großen zeitlichen Unterbrechungen die philosophische Diskussion prägte, als es noch wichtig war, die eigene nationale Identität aufzubauen: dem italienischen Sonderweg zur Philosophie. Es war die Zeit des XIX. Jahrhunderts, als Italien seine politische Einheit und Unabhängigkeit noch nicht erreicht hatte; und dann wieder nach dem ersten Weltkrieg, als es noch wichtig war, den italienischen vom deutschen Weg zum Idealismus zu differenzieren sowie dessen »spekulative Originalität« 1 hervorzuheben. In der Fragestellung schien fast von selbst das starke Wollen durch, eine weltweit eher unbekannte Philosophie, wie die italienische es eben war (und leider noch ist), gegenüber dem viel bekannteren deutschen Denken geltend zu machen. Um jede Verallgemeinerung zu vermeiden und einen wissenschaftlich tragbaren historiographischen Versuch anzustellen, sollte die noch auf die erwähnte Frage zu gebende Antwort nicht von den Thesen abgekoppelt sein, die die Philosophen selbst vertreten haben. Damit sie Objektivität beanspruchen kann, muss sie sich anders gesagt darauf stützen, wie die Protagonisten dieser Beziehungen ihr eigenes Denken selbst angesehen und bewertet haben. Ich möchte hier deshalb den Versuch unternehmen, den Differenzen zwischen den zwei Arten des Philosophierens in Italien und in Deutschland anhand der Reflexionen nachzugehen, die Antonio Rosmini und Vincenzo Gioberti aufgestellt haben. Dies hat seinen Grund: Rosmini und Gioberti stellen nämlich zwei der wichtigsten Denker der italienischen Neuzeit dar; sie gehören zur »Philosophie des Risorgimen-

1

Carabellese (21946).

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to«, für welche es von großer Bedeutung war, ein »nationales Denken« gegen die Franzosen sowie die Deutschen aufzubauen. 2 Eine derartige Gegenüberstellung erhebt selbstverständlich nicht den Anspruch, einen vollständigen Überblick der facettenreichen sowie kontroversen Streitigkeiten anzubieten, die die Verhältnisse zwischen Italien und Deutschland im XIX. Jahrhundert kennzeichnen. Es wird also von vornherein zugestanden, dass der Vergleich nicht nur indirekt, sondern auch partiell ausfällt. Zur »Filosofia des Risorgimento« zählen nämlich auch Autoren wie Bertrando Spaventa oder Francesco De Sanctis (und im Allgemeinen die ganze hegelianische Schule von Neapel), welche zweifellos zu einer anderen Seele des Gedankenguts Italiens gehören, die sich als kritische Fortsetzung und nicht als Ersetzung der sogenannten klassischen deutschen Philosophie betrachtet, wie es hingegen bei Rosmini und Gioberti der Fall ist. Damit der Vergleich konkreter und präziser ausfällt, will mein theoretischer sowie hermeneutischer Vorschlag die Differenzen zwischen der italienischen und der deutschen Philosophie anhand der Interpretationen von Giambattista Vico hervorheben, die Rosmini und Gioberti anbieten. 3 Vico stellt nämlich für beide Philosophen einen der größten Repräsentanten des italienischen Denkens der Neuzeit dar. Im Nuovo saggio sull’origine delle idee behauptet Rosmini insbesondere, dass »die Nation, wo der Faden der traditionellen Ideen am wenigsten zerriss, die italienische war, und dies dank den großen Prinzipien des Christentums, die dort sozusagen verinnerlicht sind« 4. In Italien, fährt Rosmini fort, sah man, wie die Neuheiten aus dem Ausland eine Opposition fanden und z. B. Descartes von Vico bekämpft wurde. Für Gioberti ist Vico sogar der größte Name der italienischen Philosophie. Er habe zusammen mit Ficino, Bruno oder Rosmini dazu beigetragen, letztere zu erweitern und zu vervollMan kann prinzipiell die Frage stellen, ob beide Autoren, Rosmini und Gioberti, zur »Philosophie des Risorgimento« im strengen Sinne gehören. Aufgrund seiner politischen Tätigkeit wäre es vielleicht korrekter, nur Gioberti unter diesen Begriff zu subsumieren. Bezeichnet man jedoch mit diesem Namen die philosophische Tätigkeit, die in der historischen Zeit des italienischen Risorgimento ausgeübt wurde, dann muss auch Rosmini zu den Vertretern dieser Philosophie gezählt werden. 3 Eine allgemeine Zusammenfassung und Evaluierung der Auseinandersetzung zwischen Rosmini und der klassischen deutschen Philosophie bietet Troilo (1934). Dazu vgl. auch Krienke (2007). 4 Rosmini (2003), Nr. 220, Anm. (113), EC 3, 285. 2

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kommnen. 5 Bereits an diesen Stellen zeichnet sich ein Leitfaden des theoretischen Denkens ab, der von den Italienern als der italienische Weg der Philosophie gegenüber dem ausländischen aufgefasst wird. Durch das vorliegende hermeneutische Unternehmen werden sich außerdem zwei Nebenthesen stellen, die für unseren Zusammenhang ebenso von Bedeutung sind: 1. Es gibt eine Kontinuität innerhalb derjenigen Flügel der Philosophie des Risorgimento, die von Autoren wie Rosmini und Gioberti dargestellt ist, und dies trotz aller nicht zu leugnenden Unterschiede, die zwischen ihnen bestehen und von ihnen selber unterstrichen wurden. 6 Vicos Denken übernimmt diesbezüglich die Funktion eines Katalysators, um die Nähe zwischen Rosmini und Gioberti einerseits, und die Distanz zwischen der italienischen und der deutschen Philosophie andererseits zu markieren. 2. Die Philosophie von Giambattista Vico erlaubt und verlangt eine andere Lesung und Bewertung als diejenige, die Benedetto Croce und Giovanni Gentile am Anfang des XX. Jahrhunderts in Italien angeboten haben. Vico nimmt nicht den Immanentismus der klassischen deutschen Philosophie vorweg, er stellt also insofern keinen Hegel ante litteram dar, als er eine andere Art des Philosophierens vertritt. Gerade indem man würdigt und aufwertet, wie Rosmini und Gioberti Vicos Gedanken gegen die deutschen Philosophen ausspielen, wird man sich dessen bewusst, dass die Spekulation des neapolitanischen Denkers nicht ohne Vorbehalt die Rede einer Wiederaufnahme innerhalb der deutschen Philosophie gestattet, ja dass sie vielmehr für eine Kontinuität der italienischen Tradition gegenüber Deutschland spricht. In meinen Ausführungen werde ich mein Augenmerk auf diejenigen Themen von Vicos Philosophie legen, auf welche Rosmini und Gioberti sich direkt und positiv beziehen; sie werden dann hinsichtlich der Funktion diskutiert werden, die sie innerhalb der kritischen Auseinandersetzung der zwei italienischen Denker mit der klassischen deutschen Philosophie übernehmen. Eine derartige Ver-

Gioberti (1970), 408 u. 133. Die Einwände Giobertis gegen Rosminis Philosophie wurden von Ersterem in seinem Buch Degli errori filosofici di Antonio Rosmini (1841) erhoben. Diese Schrift zeigt gut, wie die ontologische Dimension, die die Ansätze beider Philosophen kennzeichnet, nicht ein und dieselbe ist. Rosmini nimmt insbesondere in der 1846 anonym erschienenen Schrift Vincenzo Gioberti e il panteismo. Lezioni filosofiche Stellung zu Giobertis Denken.

5 6

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bindung zwischen der positiven Rezeption Vicos und der Widerlegung der deutschen Philosophie bietet sich, wie ich meine, bei unseren Denkern von selbst an. Sie lässt sich im Allgemeinen unter dem Begriff des verum-factum subsumieren.

1.

Vicos »verum-factum«

Laut der berühmten Interpretation von Benedetto Croce kann man innerhalb von Vicos Denken zwei Formen der Erkenntnislehre unterscheiden: Die erste, die in den Jahren 1708–1712 und in Schriften wie De ratione studiorum, De antiquissima italorum sapientia dargestellt wird, ist eine »Gnoseologie der D e m u t (umiltà)«. Gegenüber der cartesianischen Erkenntnislehre der »H o c h m u t (superbia)«, nach welcher alles wahr ist, was den Menschen evident ist, und die Evidenz die Grundlage der ganzen Metaphysik darstellt, stellt Vico fest, dass die Wahrheit nicht mit der Klarheit und Deutlichkeit der Ideen übereinstimmt, sondern das Resultat des menschlichen Tuns ist. Diese Konvertierbarkeit des »verum« und des »factum« findet der Vico dieser Jahre nur in einem kleinen Bereich des Wissens, und zwar in der Mathematik, die Gleichwertigkeit bezüglich der Erkenntnis der Natur kann hingegen nur Gott zugesprochen werden. Daher der demütige Charakter seines Philosophierens. Erst als Vico zu der Ansicht kommt, dass das Kriterium der Produktion bzw. Konstruktion des Wahren vom mathematischen Bereich auf das Gebiet der Geschichte erweitert werden kann, gewinnt er »etwas von Descartes’ Hochmut« sowie »von demjenigen protestantischen Geist, der ihm so gefährlich erschien«. Somit sind wir nach Croce zur zweiten Form der Erkenntnislehre Vicos übergegangen, die dessen philosophische Reife kennzeichnet und der Phase der Scienza nuova zugrunde liegt. 7 Verändert haben soll sich dabei Croce zufolge nicht die These des »verumfactum«, sondern nur dessen Anwendbarkeit auf unterschiedliche Bereiche des menschlichen Wissens. Für Croce heißt dies, Vico habe eingesehen, dass es eine für den Menschen würdige Philosophie gibt, die seiner Natur besser entspricht. Der Mensch ist nämlich »gleichzeitig schwach und stark«; hinsichtlich der Mathematik und dann der Geschichte sowie aller Kulturphänomene müsse man behaupten, der

7

Croce (1911), Kap. 1–2, bes. 19.

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Mensch sei nicht nur Mensch, sondern auch Gott. Für die von ihm selbst geschaffene Welt sei der Mensch tatsächlich wie ein Gott. 8 Diesem Vico von Croce steht nun der Vico von Rosmini und Gioberti entgegen. 9 Beide italienischen Denker heben bezüglich des »verum-factum« eine Unterscheidung hervor, die Vico im Liber metaphysicus zwischen dem erschaffenen Wahren (verum creatum) und dem unerschaffenen Wahren (verum increatum) macht. Diese Differenz erweist sich nach Vico als notwendig, um den Pantheismus zu vermeiden; geht man davon aus, dass das Wahre nur das Geschaffene ist, muss man schließen, dass für Gott wahr ist, was er gemacht hat, und dass deshalb die Schöpfung und die Welt so ewig wie Gott selbst sind. Das haben tatsächlich die heidnischen Philosophen gemeint; sie sprachen vom »verum-factum«, sie hielten dabei die Welt für ewig und verehrten einen Gott, der »kontinuierlich nach außen hin wirkt«. 10 Dies bestreitet nun die christliche Theologie, nach welcher die Welt aus dem Nichts erschaffen wurde. Die Welt ist nicht gleich ewig wie Gott; aus diesem Grund muss man nach Vico behaupten, dass die Konvertierbarkeit vom Wahren und Geschaffenen nur für das erschaffene Wahre gilt, dass es aber auch ein unerschaffenes Wahres gibt, das mit dem Gezeugten (genitum) identifizierbar ist. All dies zeigt für Vico eine unüberholbare Distanz zwischen Gott und dem Menschen; nur für den Ersten gilt nämlich, dass es neben einem äußerlichen Tun (facere) auch ein innerliches Tun (gignere) gibt. Die heilige Schrift habe diesen Sachverhalt dadurch erklärt, dass sie die Weisheit Gottes Wort (Verbum) genannt hat. Das Verbum ist nun nicht das Geschaffene, sondern das Gezeugte Gottes. Im Wort selbst haben wir ein unerschaffenes Wahres, für welches das Begreifen aller Elemente Wahrheit ist. Im Wort Gottes finden wir ein Begreifen, das das »Universum der Dinge zusammenordnet, und das, wenn es wollte, unzählige Welten erschaffen könnte« 11. Für Rosmini und Gioberti hat der Vico des Liber metaphysicus richtig eingesehen, dass es zwischen Gott und dem Menschen eine wesentliche ontologische Differenz gibt, die auch innerhalb der Erkenntnislehre (ideologia) bedeutende Auswirkungen hat. Beide Wesen

Ebd., 19; 29. Zum Verhältnis zwischen Vico und Rosmini bzw. Vico und Gioberti vgl. Caramella (1922); Piovani (1953); Bonafede (1968); Ottonello (1991). 10 Vico (1979), 37. 11 Ebd. 8 9

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miteinander zu vermengen ist sowohl theologisch als auch philosophisch unstatthaft. Vico hat nach ihnen zu Recht das göttliche intelligere als ein vollständiges Zusammenlesen (perfecte legere) bzw. ein offenes Erkennen (aperte cognoscere) definiert und es vom menschlichen cogitare insofern unterschieden, als er unter Letzterem das verstand, was man auf Italienisch pensare (Denken) oder andar raccogliendo (Zusammensuchen) nennt. Somit hat er auf perfekte Weise die Idee zum Ausdruck gebracht, dass Gott alles weiß, »weil er jene Elemente in sich enthält, aus denen er alles zusammenfügt«, wohingegen der Mensch dazu gezwungen ist, sich »um das Wissen dieser Elemente [zu bemühen], indem er zergliedert«. 12 Ist somit das göttliche Wahre ein umfassendes Bild der Dinge, »gleichsam eine plastische Figur«, kann hingegen das menschliche Wahre mit einer Skizze oder einem flächenhaften Bild verglichen werden.

2.

Die Idee der »participatio rationis«

Vicos ontologische Differenz zwischen dem Absoluten und dem Endlichen wird nun von Rosmini durch die Idee der menschlichen participatio an der göttlichen Vernunft begrifflich übersetzt. Der Mensch nimmt daran teil und unterscheidet sich insofern von den Tieren, er ist der absoluten Vernunft jedoch nicht unbegrenzt mächtig. In seinem Rinnovamento della filosofia in Italia geht Rosmini von Vicos Prinzip des »verum-factum« aus, um die von Terenzio Mamiani vertretene Lehre der Wahrheit als eines vom Menschen geschaffenen Faktums zu widerlegen. Nach Ansicht Rosminis spricht Vico von einem erschaffenen und unerschaffenen Wahren nicht, als ob er die These der doppelten Wahrheit zugeben möchte. Das Wahre an sich ist nach Rosmini »ein einziges und wesentlich ewiges«. Wenn bei Vico also von einer zweifachen Art des Wahren die Rede ist, will man dadurch nur zwischen einem von Gott und einem vom Menschen erkannten Wahren unterscheiden. Ist das erstere das unerschaffene Wahre, ist das andere das erschaffene Wahre, das die Geschöpfe »durch diejenigen Formen und Beschränkungen« erkennen können, die ihnen eigentümlich sind. 13 Vico will also nicht behaupten – so Rosmini –, dass der Mensch der Autor und Schöpfer des Wahren ist; 12 13

Ebd., 39. Rosmini (2008), Nr. 396, Anm. (218), EC 7, 96 f.

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wäre das Wahre vom Menschen geschaffen, wäre es nicht mehr wahr. Die Notwendigkeit, die Allgemeinheit sowie alle anderen der Wahrheit eigentümlichen Eigenschaften kommen vom Absoluten bzw. von Gott. Aus diesem Grund könne Vico in seiner zweiten Antwort behaupten, dass der menschliche Geist einen Spiegel des göttlichen Geistes darstellt. Es gibt also nur eine Vernunft, an der das Geschöpf nur beschränkt teilnimmt. Vico sagt dies nach Rosmini ganz deutlich, z. B. wenn er im De antiquissima gegen die Skeptiker behauptet, dass derjenige Inbegriff der Ursachen, in welchem alle Gattungen und Formen enthalten sind, deshalb das erste Wahre ist, »weil es alles in sich umgreift, worin auch die letzten Gründe der Dinge liegen«. Es stellt anders gesagt diejenige Wahrheitsnorm dar, an welcher wir »alles menschliche Wahre messen« müssen. Nach Vico beschränke sich der Mensch darauf, die Wahrheitselemente zusammenzusetzen, er bringe das Wahre nur »auf dem Wege der zusammensetzenden Erkenntnis hervor«. 14 Dies zeigt nach Rosmini klar, dass Vico, wenn er von der Konvertierbarkeit des »verum« mit dem »factum« spricht, gar nicht meint, der Mensch sei Schöpfer der Wahrheit, sondern ihn nur als Zusammensetzer (compositore) von Elementen, die er nur bekommen hat, ansieht. 15 Diese an sich richtige Lehre Vicos muss nach Rosmini gegen die klassische deutsche Philosophie geltend gemacht werden. Die Idee der menschlichen participatio rationis geht ihm zufolge jedes Mal verloren, wenn dem menschlichen Wesen bzw. der Subjektivität zu viel zugesprochen wird. Dies ist sowohl in der Wissenschaftslehre Fichtes passiert, die das sich setzende Ich als das Prinzip der Philosophie versteht, sowie auch in Schellings Philosophie der Identität, für welche das Absolute einen Indifferenzpunkt des Subjektiven und Objektiven darstellt. Um das im Vergleich zur Wissenschaftslehre Fichtes theoretische Neue in Schellings Philosophie zu bezeichnen, benutzt Rosmini den Begriff »Gefühl«. Das Denken, das kein Objekt hat – dies will schließlich die absolute Vernunft von Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie sein –, ist eher wie ein Gefühl zu verstehen, weil es eben kein Objekt hat. 16 Mit dem Philosophen von Vico (1979), 55. Rosmini (2008), Nr. 396, Anm. (218), EC 7, 98; vgl. auch Nr. 558, Anm. (186)– (187), EC 7, 293. 16 Ebd., Nr. 353, 56. Wie unterschiedlich jedoch Schelling in seiner Darstellung meines Systems der Philosophie vom Gefühl spricht, entnimmt man aus der Anmerkung, die sich am Schluss seiner Schrift findet: Vgl. Schelling (2009), HKA, I/10, 211. 14 15

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Leonberg zu behaupten, dass das Subjekt sich selbst finden kann, indem es sich von der Beziehung losmacht, die es mit dem Objekt verbindet, bedeutet nun aber nach Rosmini, eine falsche Interpretation sowohl der Subjekt-Objekt Beziehung als auch dessen, was ein Objekt sein kann, zu geben. Er ist der Meinung, dass das Subjekt nicht immer höher ist, wenn es sich vom sinnlichen Objekt befreit. Ist das vor dem Subjekt stehende Objekt eine objektive und ewige Idee, wie die Idee des Seins es ist, dann gilt gerade das Gegenteil von dem, was Schelling behauptet: »[I]ch glaube« – so Rosmini –, »dass das intellektuelle Objekt immer wesentlich vornehmer (nobile) als das es wahrnehmende Subjekt ist: alle Objekte des Verstandes von uns fortzuschaffen bedeutet also, uns in einen Zustand der vollständigen Unwissenheit herabzusetzen, in einen Zustand von reinem Gefühl, wo unsere Tätigkeit viel kleiner ist als vorher«. 17 Dieser Zustand von absoluter Unbestimmtheit des Subjekts ist nach Rosmini »ein salto mortale« von der psychologischen Dimension, die die moderne Philosophie seit Descartes kennzeichnet, »in das Meer der Ontologie«. 18 Eine Ontologie, die falsch ist, weil sie die wahre Natur des Menschen sowie dessen Verhältnis zum Absoluten missversteht. Das Subjekt ist nämlich für Rosmini ein menschliches Subjekt, das als solches nicht absolut sein kann. Die Tätigkeit des Subjekts geht immer und notwendigerweise mit dessen Passivität gegenüber dem intellektuellen Objekt einher; die Selbstbestimmung des absoluten und objektlosen Subjekts (so wie Fichte und Schelling es ansehen) hat nach Rosmini den Sinn einer Bestimmung des Nichts, aus welchem das Subjekt selbst herkommen sollte. Wenn nämlich das Subjekt sich anhand seiner bestimmten Beziehung zum Objekt definiert, kommt die Rede von einem Subjekt, das vor dieser Beziehung ist, einer Produktion des Positiven aus dem Negativen gleich. Daher Rosminis Frage: »Wird das Nichts das Etwas hervorbringen (produrre)?« Wenn das Subjekt seine Relation zum Objekt verliert, verliert es auch jede Möglichkeit, etwas zu kennen. »Die Überlegung von Schelling wäre derjenigen von jemandem ähnlich, der während eines nächtlichen Gesprächs beweisen wollte, dass, wenn man alle Kerzen auslöscht, das Sonnenlicht erstrahlen wird (si accenderà)«. 19 Das Subjekt ist also nach Rosmini dasjenige, das erkennt und aus diesem Grund das er17 18 19

Rosmini (2005), Nr. 1396, Anm. (14), EC 5, 265. Ebd. Ebd.

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kannte Objekt vor sich hat; wer wie Schelling von einem Absoluten spricht, das die Wiedervereinigung von beiden ist, schweift in eine unvertretbare Ansicht der Subjektivität ab. Für Rosmini hat Schelling das authentische Wahre nicht verstanden, weil er ein übermäßiges Kriterium dafür angegeben hat. Seine Idee des Absoluten ist anders gesagt »zu komplex«, denn sie definiert sich durch die Identität des Idealen und des Realen. Auf diese Weise geht nach Rosmini jedoch der Unterschied verloren zwischen dem, was man kennt – die Realität – und dem, was das Erkennen ermöglicht – die Idealität. 20 Wäre Schelling bei der menschlichen Erkenntnis geblieben, hätte er deren Quellen und Arten untersucht, hätte er ihre Grenzen bemerkt. Er hätte dann verstanden, dass unser Begriff von Gott (in Schellings Worten: vom Absoluten) nur negativ ist, dass der Mensch also nur ein relationshaftes »Wesen« der göttlichen Natur besitzt, dass also zwischen Gott und dem Menschen keine quantitative, sondern nur eine qualitative Differenz besteht. 21

3.

Pantheismus und Anthropomorphismus

Auch nach Gioberti hebt Vicos verum-factum den wesentlichen Unterschied zwischen Gott und dem Menschen hervor. Dies will für Gioberti heißen, dass die Austauschbarkeit der zwei Begriffe zweifellos wahr ist in Bezug auf Gott, jedoch falsch, wenn man sie auf den Menschen anwendet. Das von uns erkennbare Wahre ist nämlich keine menschliche Geburt (parto) und kein menschliches Faktum, beide gehören vielmehr Gott. Wahrheit und Tatsächlichkeit können sich nach Gioberti so miteinander konvertieren, wie sich Ideales und Reales identifizieren. Die Gleichheit des Idealen mit dem Realen findet nun aber nur im Seienden (Ente) statt, und nicht im Bereich der Existenzen. 22 In seiner Introduzione allo studio della filosofia kann Gioberti aufgrund dieser Unterscheidung der Tätigkeiten behaupten, dass die idealen Wahrheiten nur durch Gott geschaffen werden, dass der Mensch hingegen sich darauf beschränkt, sie wieder herzustellen, indem er dank der Reflexion die durch das Anschauen (intuito) erkannten »Gewebe« nochmals webt. Sind die idealen Wahrheiten die ur20 21 22

Rosmini (2008), Nr. 347, EC 7, 47. Rosmini (2005), Nr. 1402 u. Anm. (19), EC 5, 273. Gioberti (1846), bes. II, 283.

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sprünglichen Wahrheiten, wiederholt sie der philosophierende Mensch durch seine Vernunft. Vico hat in seinen Augen eingesehen, dass das Seiende kein Daseiendes ist. Sofern das Erste intelligent und intelligibel ist, zeugt es sich selbst; sofern es allmächtig ist, schöpft es die Existenzen. Gioberti ist der Meinung, dass diese Zeugung sowie Schöpfung das intelligible Wahre darstellen, welches gegenüber dem menschlichen Wahren übersinnlich ist und als solches anhand des naturalen sowie des geoffenbarten Lichtes (lume) zum Objekt unserer Apprehension werden kann. 23 Vicos Axiom des verum-factum stellt somit für Gioberti eine Widerlegung ante litteram der Auffassungen des Absoluten dar, sofern diese in Schellings oder Hegels Systemen der Philosophie vertreten werden. Sie müssen beide als pantheistisch betrachtet werden, weil sie zu Unrecht Merkmale, die dem Wesen gehören, und Merkmale, die hingegen dem Existierenden eigentümlich sind, miteinander vermengen. In Hegel z. B. »entwickelt und wickelt sich die Idee objektiv ab« 24; diese Beschaffenheit der Entwicklung gehört nun aber nach Gioberti nicht dem Seienden, das als solches absolute und unbewegliche Realität ist, sondern nur dem menschlichen Geist. In diesem Sinn kann er behaupten, dass auch Hegel ein Psychologist ist, weil er dem Seienden Beschaffenheiten beigemessen hat, die dem Existierenden gehören. Dasselbe kann bezüglich der Einheit der Gegensätze behauptet werden, die nach Hegel die Dialektik sowohl des Endlichen als auch des Unendlichen bilden. Nach Gioberti geschieht eine solche synthetische Einheit, die durch den Aufhebungsprozess wieder hergestellt wird, nicht im Seienden, sondern »nur in der endlichen Tätigkeit«. Gottes unendliche Tätigkeit der Schöpfung enthält in sich keine Duplizität; obwohl durch sie ein Verhältnis zwischen dem tätigen Wesen und dessen Geschöpf entsteht, ist dieses Verhältnis sui generis, weil deren Momente »nicht parallel sind, sie nicht koexistieren, und das Eine das Andere produziert und es aus dem Nichts herauszieht«. Die christliche Schöpfung stellt nun aber nur die »äußere unendliche Beziehung Gottes« dar, die sein Urbild in der »inneren unendlichen Beziehung« hat, die von der Dreiheit der Personen dargestellt ist. 25 Das Seiende ist ein reiner Akt, der auf unendliche Weise sowohl innerlich als auch äußerlich tätig ist. Es ist »Dreieinig23 24 25

Ebd. Ebd., II, 240. Gioberti (1857), I, 288.

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keit und Schöpfung«. 26 Unterscheidet man zwischen diesen zwei Sinnen der unendlichen Beziehung nicht, ist man der theoretischen Täuschung ausgesetzt, die eine Art des Verhältnisses mit der anderen zu vermischen und eine innere Beziehung (Vater-Sohn-Heiliger Geist), die keine Entwicklung in sich birgt, als gleichwertig mit der anderen (Schöpfung des Endlichen aus dem Unendlichen) zu betrachten, die als prozesshaft bezeichnet werden kann. Die Konsequenz davon besteht darin, dass im Seienden das wiedergefunden wird, was nur im Existierenden vorhanden ist. Dies ist nach Gioberti in Hegel geschehen, der die Prozesshaftigkeit als ein allgemein gültiges Merkmal verstanden und somit »das unendliche mit dem endlichen Verhältnis« vermengt hat; daher sein Pantheismus. Ein solches Absolutes zeigt sich aus diesem Grund als etwas, das »von allen Seiten absurd ist«; es muss nämlich eines und mannigfaltig, identisch und verschieden, endlich und unendlich sein. 27 »Der Widerspruch ist das Wahre«, sagt Hegel. Dies stimmt nach Gioberti nur insofern, als man vom »scheinenden Widerspruch« spricht, der aus der Forderung entsteht, das Endliche in das Unendliche hineinzubringen. 28 Man setzt sich dem Missverständnis aus, wenn man wie Hegel von der Einheit der Widersprüche in Gott spricht. Man kann also behaupten, dass die widersprüchlichen Elemente in Gott sind, dies aber nur insofern, als man meint, dass sie in ihm gar nicht widersprechend sind, weil der Widerspruch nicht mehr gilt. Für Gioberti entsteht der Widerspruch nur im Endlichen, »weil jeder Widerspruch Mannigfaltigkeit und somit wechselseitige Beschränkung voraussetzt«, Merkmale, die dem Seienden nicht eigen sind. Wenn die widersprechenden Elemente vom Endlichen in das Unendliche gebracht werden, verlieren sie ihre Mannigfaltigkeit, es verschwindet somit der Grund des Widerspruchs selbst. »Will man korrekt sprechen, muss man nicht sagen, dass die widersprechenden Elemente sich in Gott identifizieren, sondern dass Gottes Einheit all das Positive in sich hat (importa), das in den widersprechenden Elementen vorhanden ist«. Dies ist nach Gioberti der eigentliche Sinn von Cusanos Lehre der coincidentia oppositorum. Hegel hingegen – und mit ihm alle deutschen Pantheisten (Gioberti zählt auch Schelling dazu) – setzt »eine wahre Mannigfaltigkeit [in Gott selbst], und lässt für das Absolute das gelten, was nur für das 26 27 28

Ebd., I, 359. Gioberti (1846), II, 240. Gioberti (1857), I, 361.

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Endliche gilt«. Wenn Hegel Sein und Nichts identifiziert – Gioberti bezieht sich hier auf die ersten Kategorien der Wissenschaft der Logik –, spricht er Gott ein absolut widersprüchliches Element zu. Das Nichts ist nämlich für Gioberti »das absolut widersprechende Element«, weil es keine Positivität in sich hat. Hegel behauptet also zu Recht, dass das Nichts die absolute Negativität ist, gerade aus diesem Grund hätte er es aber nicht dem Absoluten beimessen sollen, wie er es hingegen tut. Das Nichts befindet sich als solches weder in Gott noch irgendwo. 29 Das Absolute der deutschen Pantheisten denkt; dies stellt nach Gioberti die Folge einer hermeneutischen Operation dar, nach welcher das cartesianische cogito vom Menschen auf Gott übertragen worden ist. Nach Gioberti hingegen ist das menschliche Denken »der Natur des Absoluten unwürdig«, weil es »nichts Notwendiges, Apodiktisches, Unendliches« enthält. Und wenn Hegel (und mit ihm Schelling) vom reinen, und insofern grenzen- und mangellosen Denken spricht, scheint er letztendlich dasselbe zu behaupten. Das absolute Denken hat nämlich die Natur, in sich zurückzukommen, sich als Subjekt und Objekt zu setzen, das Ideale und Reale zu erzeugen. Dies bedeutet also, dass dieses reine Denken nicht so »rein und echt ist«, wie es angegeben wird, »sondern den Grenzen und Unvollkommenheiten der kontingenten und geschöpften Geistigkeit untersteht«. 30 Eine derartige Prozesshaftigkeit gehört für Gioberti nur der Endlichkeit. Von einem reinen Denken können wir Menschen nur eine inadäquate Vorstellung haben; unser Begriff von ihm ist »generell (generico)« und aus einer Vorstellung unseres Denkens »analogisch gewonnen«, dem einzigen, von dem wir einen adäquaten Begriff haben können. In diesem Sinne kann das göttliche Denken als »eine Vollkommenheit [definiert werden], die auf unendliche Weise das Positive des menschlichen Denkens ohne das Negative enthält«. 31 Nach Gioberti war diesbezüglich Spinoza »tollkühner und kohärenter« als die deutschen Philosophen; er hat nämlich in seiner absoluten Substanz sowohl das Attribut des Denkens als auch das der Ausdehnung gesetzt. Wohingegen man nicht versteht, warum der deutsche Pantheismus nur das Denken als ein dem Absoluten angemessenes Merkmal betrachtet und andererseits behauptet, dass die Ausdeh29 30 31

Ebd., I, 364. Gioberti (1846), II, 241. Ebd., II, 241 f.

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Vicos »verum-factum«

nung nur der phänomenischen Welt gehört. Das Denken ist für Gioberti ebenso kontingent und endlich wie die Ausdehnung, beide gehören nicht dem Seienden, sondern dem Existierenden. Was tun hingegen die deutschen Pantheisten? Sie verstehen das Absolute durch dessen Analogie zum Endlichen, machen das Absolute zu »einer bloßen Erweiterung des Relativen«, 32 erzeugen sich ein menschliches Bild von Gott und verfallen somit in einen regelrechten Anthropomorphismus. Um den Anthropomorphismus zu widerlegen, ist es nötig, die falsche ontologische Perspektive der deutschen Pantheisten aufzugeben, die eine Perspektive der ersten Person ist und gerade deshalb nicht imstande ist, das absolute Ich oder die absolute Vernunft vom Endlichen durch eine qualitative Differenz zu unterscheiden, sondern nur durch eine quantitative. Man muss nach Gioberti hingegen den wahren Ontologismus annehmen, der »sich auf die dritte Person: das Seiende schöpft« gründet. 33

4.

Die Freiheit des Absoluten

Die ontologische Differenz zwischen dem Absoluten und dem Endlichen zeigt sich auch in der unterschiedlichen Art und Weise, wie die ihnen eigentümlichen Tätigkeiten sich ausdrücken. Vicos Lehre des verum-factum übernimmt auch in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle. Nach Gioberti nimmt sie vorweg, was er selbst »formola ideale« (ideale Formel) nennt. Letztere stellt einen Satz dar, der die Idee (das Absolute) insofern korrekt ausdrückt, als sie all diejenigen Elemente enthält – weder eines zu wenig, noch eines zu viel –, welche die Idee zusammensetzen. Die ideale Formel behauptet, dass das Seiende das Existierende schöpft. Dies ist nach Gioberti das wahre synthetische Urteil a priori; Kant hat die wahre Bedeutung der Synthese gegenüber der Analyse verstanden, er hat aber deren Struktur nicht erklären können, »die sich nicht außerhalb der Schöpfung befinden kann«. 34 Die ideale Formel stellt insofern das wahre synthetische Urteil a priori dar, als sie zum Ausdruck bringt, dass die wahre Synthese a priori eine freie Verursachung a priori ist, die als solche nur in der Schöpfung stattfinden kann. Sofern man vom philosophi32 33 34

Ebd., II, 244. Gioberti (1857), I, 363. Ebd., I, 228.

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schen Ersten als Einheit des Idealen und des Realen ausgeht, man aber nicht begreift, dass seine ursprüngliche Tätigkeit eine freie Schöpfung ist, verfällt man nun nach Gioberti in den Pantheismus. Dies ist in Schellings und Hegels Systemen der Philosophie geschehen. Vicos Axiom des verum-factum stellt somit eine Widerlegung ante litteram derselben dar. Es zeigt nämlich, dass die unausfüllbare Distanz, die zwischen dem Absoluten und dem Endlichen besteht, das Moment der Freiheit in sich enthält. Die Schöpfung ist anders gesagt ein Faktum a priori, durch welches kontingente Realitäten ins Dasein gesetzt werden; es ist a priori, weil es zu einer Ordnung der idealen, metaphysischen Realität gehört. Der Pantheismus ist nun diejenige Auffassung, nach welcher die Existenz a priori bewiesen werden kann. Wenn also die daseienden Realitäten nicht kontingent, sondern notwendig sind, weil sie logisch und notwendig aus dem Absoluten abgeleitet werden, dann dürfen sie nicht mehr als relativ angesehen werden, sondern müssen vergöttlicht werden. Um sich Giobertis Denken zu veranschaulichen, kann man auf die Deduktion der Kategorie des Daseins verweisen, die Hegel in seiner Logik aufstellt: Das Dasein ist das »Resultat« des Prozesses, durch welchen das Sein und das Nichts im Werden verschwinden; 35 und auch die Existenz, die im logischen System viel später vorkommt, wird als eine Kategorie betrachtet, die a priori aus der Notwendigkeit des Erscheinens des Wesens abgeleitet wird. 36 Das Absolute kann sich somit nach Gioberti im Endlichen nur durch einen notwendigen Emanationsprozess äußern; zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen gibt es demgemäß keinen »Vermittler«. 37 Das Absolute hat nämlich das Mannigfaltige bereits in sich, es muss es nur aus seiner Natur (essenza) herausziehen; Hegel z. B. »fängt mit der Dualität an, weil sein reines Wesen die Gegensätze bereits in sich enthält« 38. Der Vorgang, durch welchen das Existierende gesetzt wird, kann somit als nichts anderes als das Herausgehen des Aktualen aus dem Potentiellen aufgefasst werden. Das Absolute der deutschen Pantheisten will Gioberti durch den christlichen Gott ersetzen, der die existierenden Dinge in sich nicht enthält, als ob diese seiner Natur gehören, sondern sie frei schöpft. Für ihn gleicht der Pantheist einer Person, die, »um die architekto35 36 37 38

Hegel (1992), GW 20, § 89, 128. Hegel (1978), GW 11, 323 f. Gioberti (1857), I, 85. Ebd., 472.

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Vicos »verum-factum«

nische und skulptorische Exzellenz von Michelangelo zu zelebrieren und zu rühmen, sagen würde, dass der Moses und die Kuppel des Petersdoms nicht das Werk des großen Schöpfers, sondern er selbst sind« 39. Michelangelos Werk ist nicht Michelangelo selbst, der aus sich herausgegangen ist, es ist vielmehr ein kontingentes und selbständiges Geschöpf von Michelangelo.

5.

Subjektivismus

Der Begriff der participatio rationis, der das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen nach Rosmini auf korrekte Weise definiert, zeigt auch, warum die Wahrheit nicht aufgrund bestimmter, dem Menschen eigentümlichen Beschaffenheiten erklärt werden kann. Die Beschränktheit seiner Natur, d. h. der subjektive Charakter seiner Wesenheit, gestatten nicht, von einer auf dem Menschen beruhenden Wahrheit zu sprechen. Dem Tun des Menschen kann deshalb gegenüber dem göttlichen Schaffen nur eine zweitrangige Rolle beigemessen werden. Eine menschliche Wahrheit kann nur subjektiv ausfallen; um wahr zu sein, muss sie sich an eine höhere Wahrheit anlehnen. Dies hat Vicos Lehre des verum-factum gezeigt. Diejenigen Philosophen, die von einer menschlichen Wahrheit unabhängig von der absoluten Wahrheit gesprochen haben, sind insofern gegenüber Vico zurückgefallen. Dies ist für Rosmini innerhalb der klassischen deutschen Philosophie geschehen. Wendet man sich z. B. der Kantischen Kritik zu, kommt man aufgrund derselben zwangsläufig zur Konklusion, dass wahr nur das ist, was durch die menschlichen Vermögen ermöglicht wird. Rosmini glaubt aus diesem Grund, die kantische Lehre der Synthese a priori in Frage stellen zu können. Obwohl er mit Kant einverstanden ist, dass die Wahrheit nur im Moment des Urteils zustande kommt, meint der italienische Philosoph, Kant habe zu wenige Elemente angegeben, um die Erfahrung der Erkenntnis zu erklären. Er bewege sich ausschließlich innerhalb der menschlichen Subjektivität; Kants synthetisches Tun des Verstandes begründet für Rosmini einen Begriff des Wahren, der deshalb nur subjektiv sein kann. Dies ist passiert, weil Kant nicht eingesehen hat, dass jede menschliche Wahrheit auf einem objektiven Element beruht, das von der angebo39

Gioberti (1846), II, 245.

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renen Idee des Seins dargestellt ist. Diese objektive Idee des Seins befindet sich zwar im menschlichen Geist – deshalb ist sie eine Idee und kein materielles Ding –, sie stammt aber insofern von Gott, als sie die Art und Weise darstellt, wie das Sein Gottes dem Menschen selbst erscheint. Rosmini führt das Beispiel eines Urteils ein: »[D]ieses Objekt existiert.« Durch ein solches Urteil wird die reale Existenz (von ihm auch Subsistenz genannt) mit der idealen Existenz vereinigt bzw. unter die letztere subsumiert. Gehört die erstere dem Objekt – und dies gilt für jede andere von uns beurteilte reale Beschaffenheit (z. B. die Größe des Hauses, von welchem ich behaupte, dass das Haus groß ist, gehört dem Haus selbst) –, ist die Idee der Existenz hingegen eine objektive Allgemeinheit, von welcher wir Gebrauch machen, um ein objektives Urteil auszusprechen. Kant hingegen meint, dass die Existenz des wahrgenommenen Gegenstandes deshalb durch den Verstand gesetzt wird, weil sie nur eine Kategorie, d. h. eine leere Form ist, die auf die Empfindung angewendet wird. Dies heißt aber nach Rosmini, dass wir die allgemeine Existenz, welche unserem Verstand in Form einer Kategorie angehört, in den Gegenstand hineinlegen. Die Sachlage ist somit aber falsch wiedergegeben worden: Wir »bemerken die besondere Existenz im Realen, die für es allein bestimmt ist, wir legen sie nicht hinein« 40. Der Verstand findet die reale Existenz, d. h. die Subsistenz des Gegenstandes vor und synthetisiert sie mit der idealen Idee des Seins, die ihm angeboren ist. Er benutzt insofern die allgemeine und objektive Idee des Seins, »um das zu erkennen, was im Empfundenen schon ist« 41. Kants Begriff der Wahrheit spricht zugunsten einer Theorie der tätigen Konstruktion, die für Rosmini insofern als fehlerhaft angesehen werden muss, als sie auf einer menschlichen und deshalb nur subjektiven Basis begründet ist. Für unseren Zusammenhang ist es bedeutend, dass Rosmini, wenn auch kurz, auf die Einwände verweist, die Gottlob Schulze (den er explizit nennt) gegen Kant in seinem Aenesidemus erhoben hatte. Die kritische Philosophie – dies der Einwand von Rosmini und von Schulze – nimmt einige subjektive Formen als Möglichkeitsbedingungen der menschlichen Erkenntnis an. Wie beweist aber Kant die Existenz solcher Formen? Indem er das Kausalitätsprinzip anwendet: die Formen a priori sind die Ursachen der wirklichen Erkenntnis, die

40 41

Rosmini (2003), Nr. 332, EC 3, 416. Ebd., 417.

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als solche der Effekt von ihnen ist. »Ausgezeichnet« – fährt Rosmini fort: »Was für einen Wert hat nun das Kausalitätsprinzip innerhalb der kritischen Philosophie? Keinen anderen als einen subjektiven: Es selbst ist eine Form des Verstandes. Kant schloß also, dass es Formen des Geistes gibt, welche die Erkenntnis subjektiv machen; er baute diesen Gedankengang eben anhand einer dieser subjektiven Formen auf, somit setzte er sie voraus. Er kommt deshalb in einen unendlichen Zirkel hinein. Er leitet die Quellen der Subjektivität der Erkenntnis, d. h. die Formen, von einer der Quellen der Subjektivität selbst, d. h. von einer Form ab: er beweist die Formen durch die vorausgesetzten Formen«. 42

Wenn ich einen Gegenstand wahrnehme, nehme ich ihn nach Rosmini in seinem Ansichsein wahr. Das Ding steht anders gesagt vor mir als etwas Unabhängiges von mir, das Denken von ihm präsentiert mir das Ding als nicht in mir, sondern außerhalb von mir. Wenn ich etwas empfinde, synthetisiere ich dieses empfundene Etwas mit der Idee der Existenz bzw. des Seins und erhalte das Denken eines Dinges, das an sich und unabhängig von mir ist, der es denkt. Das Problem, wie ein Subjekt von sich ausgeht, um die Wirklichkeit zu erreichen, erweist sich deshalb als ein falsches Problem: ausgehen, von hier zu dort übergehen – dies sind nach Rosmini metaphorische Ausdrücke, welche die Sachlage auf eine materielle bzw. mechanische Weise wiedergeben. Das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt ist hingegen eine geistige Beziehung, für welche das Bild der Brücke, auf der man vom Inneren zum Äußeren und umgekehrt laufen würde, völlig inadäquat ist. Die Lösung des Problems der Existenz der äußeren Realität hängt vom Anerkennen der Tatsache ab, dass ich sie als etwas Verschiedenes von mir denke, und dies kann ich tun, weil es in mir eine angeborene und objektive Idee gibt – die Idee des Seins –, die mir dies ermöglicht. Man befindet sich insofern jenseits der Kantischen Philosophie, die den Unterschied zwischen dem Sein an sich als Noumenon und dem Sein für mich als Phänomenon festgelegt hatte. Durch die intellektuelle Wahrnehmung (percezione intellettuale) 43 denkt nach Rosmini der menschliche Geist das Ding in seinem Ansichsein; das bestimmte, subsistente Sein der Dinge bietet sich in seiner reinen Gegenständ-

Rosmini (2005), Nr. 1133, Anm. (93), EC 5, 89. Grundlegend zu Rosminis Begriff der »percezione intellettuale« sind einige Studien von Carabellese (1907); (1911); (1912).

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lichkeit dar, es muss nur gedacht, d. h. anhand der angeborenen Idee des Seins verstanden werden. 44 Die Distanz, die Rosmini von Kant trennt, lässt sich auch hinsichtlich des Begriffs des »Apriori« wahrnehmen. Beide Autoren meinen, dass die Merkmale einer Erkenntnis a priori die Notwendigkeit und die Allgemeinheit sind; während aber nach Kant eine solche Erkenntnis den Formen eigen ist, durch welche der Geist das sinnliche Materiale ordnet, kennt das erkennende Subjekt bei Rosmini etwas a priori, weil es die angeborene Idee des Seins intellektuell wahrnimmt. Kant sagt: Die menschliche Erkenntnis ist allgemein und notwendig, weil unsere Akte es sind; Rosmini behauptet: sie ist es, weil ihr Objekt allgemein und notwendig ist. Haben wir es im Kantischen Fall mit einer transzendentalen Auffassung des Apriori als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung zu tun, stellt das Apriori Rosminis ein ontologisches Objekt dar, das sich durch sein Angeborensein kennzeichnet. Der eben genannte Unterschied zwischen Akt und Objekt der Erkenntnis erklärt nun, warum Rosmini der Meinung ist, dass nur seine Theorie das wahre Apriori ausdrückt; sofern sie nur Akte sind, stellen die Kantischen Formen nach ihm nur potentielle Tätigkeiten dar, die sich dann realisieren, wenn ein materieller sinnlicher Inhalt da ist. Dies zeigt, in welchem Sinne sie als zufällig aufgefasst werden müssen. Kants Formen a priori sind kein aktuelles Objekt des Geistes auch in der Hinsicht, dass sie nur philosophisch analysiert werden können; in diesem Sinne kann Rosmini behaupten, dass die Erkenntnis des Kantischen Apriori »erworben« (acquisita) ist. 45 Rosminis intellektuelle Wahrnehmung ist eine Wahrnehmung des Seins, sie stimmt insofern nicht mit Fichtes intellektueller Anschauung überein. Obwohl beide Denker von einem intellektuellen Vermögen sprechen, anhand dessen das Ansich erreicht wird, meinen sie nicht dasselbe. Auch Fichtes Wissenschaftslehre stellt zwar gegenüber Kant fest, dass das Subjekt über die intellektuelle Anschauung verfügt; nach ihm jedoch schaut das Subjekt durch seinen Verstand nicht das Sein der Dinge an, wie Rosmini meint, sondern nur die Tätigkeit des Denkens. Eine Stelle der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre ist diesbezüglich besonders einleuchtend: »Die intellectuelle Anschauung im Kantischen Sinne ist ihr [= der WL] ein Unding, das uns unter den Händen verschwindet, wenn man es denken will, und das überhaupt keines Namens werth ist. Die intellectuelle Anschauung, von welcher die WissenschaftsLehre redet, geht gar nicht auf ein Seyn, sondern auf ein Handeln, und sie ist bei Kant gar nicht bezeichnet.« (Fichte [1970], GA I/4, 225) Zu Fichtes Begriff des intellektuellen Anschauens vgl. Stolzenberg (1986). 45 Rosmini (2005), Nr. 1380, Anm. (4), EC 5, 252. Zu Rosminis Kant-Kritik vgl. Sala (2007). 44

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Vicos »verum-factum«

6.

Psychologismus

Gioberti versteht ein solches theoretisches Verfahren, wie man ihm bei Kant begegnet, als eine Psychologisierung des Ontologischen. Die Begründung der Ontologie auf der Psychologie ist nun ein gemeinsamer Fehler der meisten Rationalisten, die alle durch die These verbunden sind, dass für sie »die Idee ein bloßer Effekt der Geistestätigkeit ist« 46. Dies ist aber ein unvollkommener Rationalismus, weil er, obwohl er die Tatsachen von den Ideen unterscheidet, der Auffassung ist, dass die Ideen der Objekte »ganz und teilweise unser Werk sind«; indem man aber den menschlichen Geist zu einem schöpferischen Vermögen macht, tut man schlussendlich nichts anderes als »ganz oder teilweise die Erkenntnis zu subjektivieren«. 47 Ein derartiger Rationalismus versteht die Gegenständlichkeit als das Resultat von psychologischen, d. h. menschlichen und deshalb subjektiven Vorrichtungen und hebt sich im springenden Punkt letztendlich nicht vom Sensualismus ab, der die Psychologie als eine Derivation der Physiologie ansieht. Gioberti unterscheidet diesbezüglich fünf Klassen des Sensualismus. Sensualismus ist für ihn im Allgemeinen diejenige Auffassung, nach welcher man von der objektiven Wahrheit nur in Bezug auf den menschlichen Sinn sprechen kann. Kant gehört in die »vierte Klasse« des Sensualismus hinein, der im cartesianischen Psychologismus seinen »wahren und legitimen Vorfahren (progenitore)« hat. 48 Psychologismus und Sensualismus sind nämlich zwei Seiten desselben Problems: »der eine [der Psychologismus] ist der auf die Methode angewandte Sensismus, der andere [der Sensualismus] ist der auf die Prinzipien angepaßte Psychologismus«. 49 Auch Fichte ist für Gioberti ein Psychologist. Die Wissenschaftslehre, die das Verhältnis zwischen dem Absoluten und dem Relativen, dem Unendlichen und dem Endlichen erklärt, stellt fest, dass das menschliche Gemüt (animo) in seiner Absolutheit und Unendlichkeit »die Welt, und mit der Welt sich selbst als beschränktes und bestimmtes Subjekt setzt, besser gesagt: schöpft« 50. Diese Formel ist wie schon gesehen nach Gioberti absurd, wenn man sie auf den

46 47 48 49 50

Gioberti (1849), 338. Ebd. Gioberti (1846), II, 98. Ebd., 99. Ebd., 185.

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Menschen bezieht, sie ist hingegen wahr, wenn sie auf das absolut Seiende angewendet wird. Somit wird durch Gioberti aber indirekt zum Ausdruck gebracht, dass Fichtes Wissenschaftslehre das spekulative Projekt darstellt, um aus dem Standpunkt des Endlichen vom Absoluten zu sprechen. Darin soll zweifellos auch für Fichte eine wohl durchdachte Transzendentalphilosophie bestehen. Innerhalb eines solchen Unternehmens wird die Absolutheit als diejenige Eigenschaft verstanden, die dem menschlichen Ich zugesprochen werden kann, wenn man von aller empirischen Tatsächlichkeit absieht und das Sein des Ich als absolute Tathandlung, d. h. als sich Setzen für sich auffasst. Das schlechthin Gesetzte, sagt Fichte ausdrücklich, ist der reine Charakter des menschlichen Geistes, »der reine Charakter der Thätigkeit an sich: abgesehen von den besondern empirischen Bedingungen derselben« 51. Diesbezüglich könnte man sich auf Vicos Lehre des verum-factum beziehen; auch für Fichte ist das egologische Sein – man könnte sagen: die Wahrheit des Faktischen –, konvertierbar mit dem Tun: »Sich selbst setzen, und Seyn, sind vom Ich gebraucht, völlig gleich« 52. Das absolute Handeln bleibt hier innerhalb des Subjektiven, und dies muss nach Fichte unbedingt der Fall sein, wenn man innerhalb der Grenzen der Transzendentalphilosophie bleiben will, nach welcher es nicht um die Dinge der Welt, sondern um das Wissen derselben geht. Deshalb versteht Fichte sein Unternehmen als die kohärente Fortsetzung der Philosophie von Descartes, von Kant und von Reinhold (s. diesbezüglich den 1. Grundsatz der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre), welche alle dazu beigetragen haben, eine Philosophie des absoluten Bewusstseins zu fundieren. Aber gerade dies ist der Punkt, der nach Gioberti jede Art von Psychologismus kennzeichnet. Descartes’ erstes Wahres – das cogito – sowie Fichtes absolutes Ich stellen für ihn nur ein sekundäres Wahres dar, das mit der absoluten Idee nicht vermengt werden darf. Das Absolute ist nicht das Resultat der menschlichen Spekulation: letztere »besitzt es, weil [sie] es bekommen, nicht weil [sie] es herausgefunden (trovato) hat« 53. Descartes – aber dies gilt nach Gioberti auch für Fichte – hat nicht bemerkt, dass die philosophische Reflexion bloß eine mentale Synthese der konstitutiven Elemente ist, mit welcher die wahre, d. h. ideale Synthese des Seienden nachgemacht, jedoch 51 52 53

Fichte (1965), GA, I/2, 258 f. Ebd., 260. Gioberti (1846), II, 60.

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nicht geschöpft wird. Vico hat dies für Gioberti gemerkt und gegen die cartesianische Philosophie die These des verum-factum aufgestellt: Machen bedeutet für Vico nachmachen, nicht ursprünglich schöpfen. Das von uns erkannte Wahre ist kein menschliches, sondern ein göttliches Faktum. Die Idee setzt sich und organisiert sich selbständig, der menschliche Geist schaut sie an, weil sie sich ihm offenbart; erst dann kehrt der Geist auf seine Anschauung zurück und bildet die Idee in seinem Geist nach. Dies ist aber eine mentale Synthese, die sich darauf beschränkt, die in der Idee und durch die Idee real ausgeführte Synthese zu rekonstruieren. Der Psychologismus stellt nun gerade diejenige Einstellung des Denkens dar, nach welcher das menschliche Wissen ein ursprüngliches und nicht, wie es in der Tat ist, ein abgeleitetes Wissen ist. Descartes kann deshalb nach Gioberti als Vater des modernen Psychologismus angesehen werden. Man sieht gut, wie nach einer solchen Auffassung jede Lehre psychologistisch ist, die erstens das Absolute durch das Endliche ersetzt und zweitens gerade deshalb das Sein aufgrund des Wissens verständlich machen will. Das Verschwinden des ontologischen Problems geht anders gesagt mit der Reduzierung des ersten Wahren auf ein abgeleitetes Wahres einher, welch letzteres das absolute Wissen des Subjekts ist.

7.

Transzendentalismus

Die richtige ontologische Einstellung schließt nach Gioberti nicht nur jede Art von Psychologismus aus, sie geht auch mit einer wahren Form des Transzendentalismus einher. Gioberti kann diesbezüglich in einer seiner Reflexionen erklären, dass nur Gott die Sachen so sieht, wie sie in sich selbst sind; »der Mensch und jedes Geschöpf (außer, dass es sie in Gott sieht, wie die Seligen) mischt darin immer etwas von Seinem« 54. Gioberti unterscheidet diesbezüglich zwischen einem göttlichen und einem menschlichen Transzendentalismus, wobei nur der erste vollkommen ist, der zweite hingegen unvollkommen. Gottes Erkenntnis ist transzendental par excellence, nur er hat nämlich alles nach den archetypischen und unwandelbaren Ideen geschöpft, die sich in ihm selbst befinden. Er kann aus diesem Grund alle Dinge in seiner eigenen Vernunft anschauen; das heißt für Gio54

Gioberti (1859), I, 328.

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berti, dass für Gott Phänomena und Noumena ein und dasselbe sind. Dies gilt für den Menschen insofern nicht, als er nicht der Schöpfer dessen ist, was er sieht; »er sieht zwar das Geschaffene (creato), jedoch nicht auf die diesem, sondern auf die ihm selbst eigentümliche Art« 55. Gioberti übernimmt hier Kants Unterschied zwischen Phänomena und Noumena, indem er wie der deutsche Philosoph negiert, dass der Mensch immer und ohne Beschränkung die Dinge sehen kann, wie sie sind. Das endliche Wesen erblickt die Ersteren, ist jedoch »blind für die Noumena« 56. Diese wesentliche Differenz schließt jedoch nicht aus, dass der Mensch in seiner phänomenischen Erkenntnis die Wahrheit erkennen kann. Gioberti spricht diesbezüglich von einer doppelten Form des Transzendentalismus, rein bzw. absolut und hypothetisch. Während nun Kant, und nach ihm auf eine kohärentere Weise Fichte, Vertreter eines reinen und absoluten Transzendentalismus sind, nach welchem alle Gegenstände der menschlichen Erkenntnis bloß Phänomene sind, spricht Gioberti von einem hypothetischen Transzendentalismus, demzufolge es evidente und nicht evidente Erkenntnisse gibt; hinsichtlich der ersteren sind Noumenon und Phänomenon »für uns, sowie für Gott, dasselbe […] (so dass, mit Bezug auf diese Erkenntnisse unsere Wissenschaft wahr, gewiß so wie die von Gott ist)« 57. Die vom Transzendentalismus vorgenommene Unterscheidung zwischen Phänomena und Noumena gilt nach Gioberti nur für die menschlichen Erkenntnisse, die nicht evident sind, sie gilt jedoch nicht für die menschlichen Erkenntnisse, die evident sind. Hat Kant ausgeschlossen, dass die menschliche Wissenschaft so wahr ist wie die göttliche, ist Gioberti hingegen der Meinung, dass ein moderater Transzendentalismus, aufgrund dessen die menschliche Evidenz mit der absoluten Wahrheit übereinstimmt, zu Recht besteht. Deshalb kann er auch behaupten, dass die menschliche Notwendigkeit eine sachliche Notwendigkeit ist. Das, was unser Verstand als notwendig betrachtet, ist in sich selbst notwendig. 58 Eine solche Korrespondenz sieht Gioberti nun aber dadurch gewährleistet, dass erstens die Vernunft eine Erscheinung Gottes darstellt 59 und dass zweitens die absolut wahre Idee sich dem Menschen

55 56 57 58 59

Ebd., 329. Ebd. Ebd. Gioberti (1860), II, 485. Gioberti (1859), I, 657.

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offenbart; der Mensch ist anders gesagt fähig, die wahre Idee, die Gott auch sieht, anzuschauen. Dies reicht für seine Erkenntnis jedoch nicht; er muss darüber reflektieren. Die Anschauung »gibt uns alle Wahrheiten, so miteinander auf- und zusammengewickelt, dass sie wie Eines scheinen; so wie eine Gebirgskette, die aus der Entfernung wie ein einziger Berg aussieht« 60. Erst wenn die Reflexion der Anschauung nachfolgt, merkt man, dass das, was sich als Einheit gibt, Mannigfaltigkeit ist. »Die Anschauung – behauptet Gioberti in der Protologia – erfaßt das Intelligible in der unendlichen Einheit des Logos ganz vereinigt. Eine solche Einheit ist subjektiv und objektiv«. Sie ist subjektiv, sofern sie aus dem menschlichen Geist entsteht und auf diese Weise »die Verwirrung (confusione) der intuitiven Erkenntnis« darstellt; sie ist hingegen objektiv, sofern sie aus der Einheit der Idee entsteht. Die Reflexion ersetzt die Einheit der Verwirrung, die in der intuitiven Erkenntnis vorhanden ist, durch die Unterscheidung und durch die Einheit der reflexiven Harmonie. »Die Reflexion verläuft also über zwei dialektische Momente; im ersten unterscheidet, ja zerbricht sie sogar die Einheit der Idee; im anderen harmonisiert sie die zerbrochenen Teile, jedoch so, dass sie ihre Unterscheidung aufrechterhält«. 61 Nach Gioberti ist es wesentlich, die zwei Momente der Anschauung und der Reflexion zusammenzuhalten; trennt man sie voneinander, entstehen philosophische Systeme wie das von Schelling, in welchem die Anschauung die Hauptrolle spielt, weil die Erkenntnis des Absoluten »aus einer unmittelbaren Wahrnehmung« stammt, oder wie das von Hegel, das im Gegenteil den Akzent auf die Reflexion, die Mittelbarkeit setzt. 62 Ebenso wesentlich ist es nach Gioberti, den wahren Begriff der Reflexion von einem bloß psychologischen Begriff derselben zu unterscheiden; ist die erstere Art eine »kontemplative und ontologische Reflexion«, die nur auf die objektive Idee gerichtet ist, ist hingegen eine Reflexion, wie man sie z. B. innerhalb der deutschen Systeme der Philosophie trifft, eine bloß psychologische Reflexion, weil sie letztendlich die Tätigkeit des menschlichen Geistes zum Objekt hat, mit dem Resultat, dass hier am Schluss ein unendliches sich Wiederholen des menschlichen Geistes stattfindet. Das intelligible Objekt wird also angeschaut, dann durch die ontologische Reflexion mit einer sinnlichen Form bezogen. 60 61 62

Gioberti (1857), I, 154. Ebd., 155. Ebd., 157.

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Diese Transformation eines intelligiblen Objekts in ein sinnliches Objekt kann nicht willkürlich geschehen, sondern sie muss letztendlich darauf gründen, wie die Idee selbst sich dem menschlichen Geist darstellt. Die das intelligible Objekte transformierende sinnliche Form ist nach Gioberti das Wort oder die Sprache, durch die die Idee selbst sich offenbart. Es ist also klar, dass ohne die dem Menschen beistehende Offenbarung, die ihm die richtige Sprache anbietet, um das ideale Objekt sinnlich zu begreifen, dass also ohne eine »gebieterische Lehrtätigkeit (magisterio)« – Gioberti denkt hier offensichtlich an die katholische Kirche –, die »die gebührende Korrespondenz zwischen der Idee und den sie ausdrückenden Zeichen« sichert, all die »ontologischen Abweichungen (aberrazioni)« folgen müssen, die in den modernen Philosophien, besonders in den pantheistischen Systemen aus Deutschland vorhanden sind. Nicht die Psychologie, sondern die Theologie muss nach Gioberti »eine Vorbereitung (preliminare) zur ontologischen Wissenschaft« bilden. 63 Wahrheit kommt insofern nicht vom menschlichen Geist, sondern von der Idee selbst; dieses Absolute stellt jenes »Verstandeslicht« dar, das den Akt des menschlichen Denkens erleuchtet.

8.

Vicos Kritik der cartesianischen Evidenz

Vicos De antiquissima liefert auch eine Widerlegung der Lehre Descartes’ über die Evidenz als Kriterium der Wahrheit. Sie wird nun von Rosmini und Gioberti übernommen und mit anpassender Transformation in eine Reflexion integriert, die gegen die klassische deutsche Philosophie gerichtet ist. Vico ist wie bekannt der Meinung, dass das vom cogito dargestellte Wahre skeptischen Einwänden ausgesetzt ist, die es nicht überwinden kann. Behaupte ich mit Descartes, dass es mir unmöglich ist, zu denken, ohne mir dessen bewusst zu sein, so kann ich auch »aus dem Bewußtsein des Denkaktes das Gewißheitsmoment gewinnen«, dass ich existiere. Damit muss sich nun aber der Skeptiker überhaupt nicht als besiegt erklären; er hat nämlich jeden Grund zu bemerken, dass er gar nicht bezweifelt zu denken. Er bezweifelt gar nicht, dass er existiert, »[v]on der Gewißheit des Denkaktes jedoch behauptet er, sie sei bloße Bewußtseinsgewißheit, nicht jedoch Wis63

Gioberti (1846), II, 127 f.

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senschaft« 64. Mit einer derartigen Gewissheit könne sich nun auch der Sosias vom Plautus zufrieden erklären, der wie Descartes seine Ruhe beim Wahren des Denkaktes fand. »Sed quom cogito, equidem certo sum ac semper fui.« (Plautus, Amphytrion, 447) Vico ist der Meinung, dass das wissenschaftliche Wissen sich vom bloßen Bewusstsein des Wissens dadurch unterscheidet, dass man »im Besitz der Weise und der Form« ist, »durch die ein Ding zur Entstehung kommt«. 65 Wahrheit ist anderes gesagt Tun, und Tun heißt, die Ursachen zur Verfügung zu haben, durch welche etwas entsteht. Das Denken ist für Vico im Gegensatz zu Descartes »nicht die Ursache dafür, dass ich Geist bin, sondern lediglich das Zeichen« 66. Eine derartige Gewissheit von Anzeichen wird nun aber vom Skeptiker gar nicht in Frage gestellt. Damit also der Skeptizismus endgültig widerlegt wird, muss man Vico zufolge das Kriterium der Evidenz durch dasjenige des Gemachthabens ersetzen. Eine bloß klare und deutliche Idee kann deshalb nicht die Wahrheitsnorm darstellen; sie kann nicht einmal das Kriterium und die Regel unseres Geistes selbst sein: »denn während der Geist sich erkennt, ist er nicht tätig, und weil er nicht tätig ist, kennt er auch nicht die Art und die Modalität, in der er sich erkennt« 67. Vico stellt hier ante litteram die Konvertierbarkeit in Frage, die man z. B. in Fichtes Wissenschaftslehre findet: Ist das Erkennen bzw. sich Erkennen für Fichte dasselbe wie Tätigsein, kann ein Erkenntnisakt für Vico nur außerhalb des Aktes und hinsichtlich eines Zustandes stattfinden. Damit die Wahrheit eines Sachverhaltes festgestellt werden kann, muss man Vico zufolge alle Elemente kennen, die in ihm enthalten sind und zu ihm gehören. 68 Und dies heißt auch, alle Ursachen zu wissen, die den Sachverhalt selbst hervorgebracht haben. Dieses Erkennen des Wahren darf nun aber mit dem Tun des Wahren nicht vermengt werden. Das erste Wahre kann für Vico insofern nur Gott sein, weil er jener Inbegriff der Ursachen ist, in welchem alle Formen enthalten sind, durch die die Wirklichkeit gemacht wird. Vico versteht in diesem Zusammenhang die Ursache als Synonym von Tätigkeit; dies stimmt seiner Meinung nach mit dem Axiom des verum-factum überein, denn »begründet erweisen«

64 65 66 67 68

Vico (1979), 51. Ebd. Ebd., 53. Ebd., 45. Ebd., 131–133.

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(probare per caussas) bedeutet dasselbe wie »hervorbringen« (efficere). »Auf diese Weise wird ›Ursachesein‹ und ›Tätigsein‹ sich als identisch erweisen, nämlich als tätiges Hervorbringen; ebenso wird sich als identisch erweisen das ›Hervorgebrachte‹ und das Wahre, nämlich die Wirkung.« 69 Er kann deshalb zugestehen, dass Malebranche doch Recht hat, wenn er behauptet, dass der Mensch die Ideen in Gott sieht. Wäre er kohärenter gewesen, hätte er gegen Descartes jedoch zur Konklusion kommen müssen, dass der Geist sich im Denken nur insofern kennen kann, als er sich in Gott kennt: Es ist anders gesagt Gott, der in ihm selbst denkt. Im Akt des Denkens kommt der Geist zum Erscheinen; in mir aber denke nicht ich, sondern Gott, ich begreife deshalb mein Denken als Darstellung des göttlichen Denkens. 70 All dies hat eine erhebliche Konsequenz hinsichtlich des Wahrheitskriteriums: Es muss nämlich nicht subjektiv, sondern objektiv sein. Auch dabei bemerkt man den Ontologismus Vicos gegenüber einer subjektiven Auffassung des Wahren, die man nach dem neapolitanischen Philosophen z. B. bei Descartes trifft. Rosmini und Gioberti zeigen sich mit dieser Objektivierung des Wahrheitskriteriums Vicos einverstanden. Dies bedeutet für beide, den Gravitationspunkt allen Erkennens vom menschlichen Subjekt in das göttliche Absolute zu verlagern. Durch eine solche Verschiebung wird auch ausgeschlossen, dass die Wahrheit sich durch die bloß subjektive Evidenz erkennen lässt.

9.

Die objektive Gewissheit

Gegen eine Subjektivierung der Gewissheit bzw. der Wahrheit spricht sich Rosmini aus. Im Teil seines Rinnovamento, der der Diskussion der unterschiedlichen Auffassungen der Gewissheit gewidmet ist, erklärt sich der italienische Philosoph für ein objektives Kriterium, das bereits im Nuovo Saggio dargestellt wurde und mit welchem eine alte italienische Tradition fortgesetzt wird: das ideale Sein. 71 Letzteres ist kein bloßes Zeichen der Wahrheit, das man entweder innerhalb oder außerhalb der Seele oder sowohl innerhalb als auch außerhalb der Seele findet. Es stellt vielmehr das erste Wahre selbst dar, sofern es 69 70 71

Ebd., 67. Ebd., 117. Rosmini (2008), Nr. 363, EC 7, 67.

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unserer Seele erscheint. Ist das Wahre (Gott) außerhalb der Seele, ist hingegen dessen Kriterium in der Seele selbst. Dies bedeutet, dass, wenn man von einem Kriterium des Wahren spricht, es um etwas Ideales, d. h. Mentales geht, anhand dessen die wirkliche Welt erkannt wird. Dieses Mentale stellt jedoch etwas Objektives dar, das sich wesenhaft vom menschlichen Bewusstsein unterscheidet. Aufgrund dieser Auffassung kann Rosmini unter anderem die cartesianische sowie die kantische Definition des Wahrheitskriteriums ablehnen, weil beide nur von einem bloßen Zeichen des Wahren sprechen. Descartes’ Klarheit und Deutlichkeit des cogito verweist auf ein Kriterium, das sich nur in demjenigen Akt der Seele befindet, durch welches das Denken sich absolut setzt. Es ist nichts Objektives im Sinne Rosminis, weil es in derselben Aktualität des subjektiven Denkens besteht. Auch Kant gehört in die Klasse der Theorie des Wahrheitskriteriums als Zeichen des Wahren; er ist nämlich der Auffassung, dass die Wahrheit durch die Formen der Seele (Anschauungen und Begriffe a priori) ermöglicht wird. In beiden Fällen handelt es sich um eine subjektive Definition der Gewissheit bzw. Wahrheit. Aber auch diejenigen Theorien aus Deutschland, die ein objektives Kriterium aufstellen möchten, missverstehen das korrekte Verhältnis zwischen der menschlichen Seele und dem Absoluten. Das ist für Rosmini sowohl bei Schelling als auch bei Hegel geschehen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Haben die subjektiven Lehren das Wahrheitskriterium als ein nur vom Subjekt selbst abhängiges Moment aufgefasst, erkennen Schellings und Hegels Systeme der Philosophie zu Recht, dass es sich dabei nur um etwas Objektives handeln kann; sie begehen jedoch den Fehler, dieses Objektive entweder als ein zu starkes oder ein zu schwaches Element in seiner Beziehung zur Seele anzusehen. Schelling hat nach Rosmini richtig hervorgehoben, dass die Philosophie nicht auf einem absoluten Akt des Ich beruhen kann. In seiner Identitätslehre (auf diese bezieht sich Rosmini) spricht er von einem Absoluten, das weder Subjekt noch Objekt ist. Ein solcher Begriff stellt nach unserem italienischen Denker das Resultat eines falschen Gebrauchs der Sprache dar. So wie man vom Nichts spricht, wenn auch das Nichts kein Objekt ist, ebenso hat Schelling von einem Absoluten gesprochen, das weder Subjekt noch Objekt, sondern nur deren Indifferenzpunkt ist. Ein solcher Begriff ist nur eine Erfindung der Sprache. Es stellt darüber hinaus eine zu komplexe Idee dar, in welcher Reales und Ideales übereinstimmen; somit wird ein Wahrheitskriterium aufgestellt, für welches die Realität selbst nicht das 109 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

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Erkenntnisobjekt, sondern das Mittel ist, wodurch man erkennt. »Und deshalb kann es auf keinen Fall zum Kriterium des Wahren gehören, weil das Kriterium das sein muss, was alle Dinge mit Gewißheit erkennen läßt.« 72 Die Aufhebung jeder Differenz, insbesondere derjenigen zwischen Idealem und Realem, die für den Erkenntnisakt absolut notwendig ist, stellt für Rosmini offensichtlich den Grundfehler von Schellings Philosophie der Identität dar. Wird das Absolute als die »totale Indifferenz des Subjectiven und Objectiven« gedacht, 73 kann das Wahre nur dann erkannt werden, wenn man den Standpunkt der Vernunft einnimmt. Dies ist tatsächlich, was Schelling verlangt; aber gerade darin besteht nach Rosmini das Falsche einer Philosophie, die der menschlichen Seele zu viel zumutet, indem sie davon ausgeht, letztere könne von jeder Differenz abstrahieren und sich auf den Standpunkt der absoluten Indifferenz setzen. Hegel sucht nach einem Absoluten, das nicht wie bei Schelling am Anfang des Philosophierens ist und durch einen Akt des Anschauens erreicht wird. Er will eine Idee aufstellen, die gleichzeitig fruchtbar und einfach ist, da sie alle Mannigfaltigkeit potentiell in sich selbst enthält. Die Idee als Einheit des Seins und des Denkens, die durch ihre Bewegung alles Endliche produziert und in ihm erscheint, das ist für Rosmini das Absolute von Hegel. Ein Absolutes, welches gerade aufgrund seines als Werden aufgefaßten Seins an den griechischen Begriff der ersten Materie erinnert, die nicht in Akt, sondern nur »in Potenz« ist. War Schellings Definition des Absoluten zu übermäßig, ist Hegels Prinzip insofern mangelhaft, als von ihm nicht alles abgeleitet werden kann. So wie jedes Ding, das noch nicht da ist, benötigt Hegels Absolutes ein anderes Prinzip, das es wie bezüglich der ersten Materie werden lässt. Die Unruhe des Begriffs, von welcher Hegel spricht, um gerade den dynamischen und selbstgenügsamen Charakter seines Philosophierens zu bezeichnen, wird von Rosmini als das Merkmal einer Ungenügsamkeit verstanden. 74 Dies weist noch einmal darauf hin, wie das Absolute nach dem italienischen Philosophen aufgefasst werden muss; nicht als etwas, das nur im Werden ist, sondern als ein Unwandelbares und Unbewegliches, wie es der Gott der christlichen Tradition ist. Hegels Philosophie steht und fällt nach Rosmini mit dem Begriff der Zeit, mit wel72 73 74

Ebd., Nr. 347, EC, 7 47. Schelling (2009), HKA, I/10, 116. Rosmini (2008), Nr. 355–362, EC 7, 58–66.

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chem das Werden wesenhaft zusammenhängt; sie bewegt sich innerhalb der Zeitlichkeit und gilt somit nur für sie.

10. Verum, factum, bonum In seinem Liber metaphysicus hatte Vico die Gleichwertigkeit des Wahren und des Gemachten auch mit Bezug auf den Begriff des Guten begründet. »Schließlich, um das Ganze in einem Wort zusammenzufassen: Das Wahre wird dann mit dem Guten konvertibel, wenn das, was als wahr erkannt wird, sein Sein von dem Geist hat, von dem es auch erkannt hat« 75. Das göttliche Tun kann nämlich nicht von dem absehen, was er als für gut hält. Die Konvertierbarkeit des verum mit dem factum bedeutet deshalb, dass das, was Gott getan hat, nicht nur wahr, sondern auch gut ist. Das praktische Moment des Guten erweist sich auf eine doppelte Weise als zentral in der Definition der Wahrheit: Das Wahre ist auch gut, weil es von Gott gemacht worden ist – Vico zitiert diesbezüglich die biblische Stelle »Und Gott sah, dass es gut war« 76. Gott teilt in dieser Hinsicht die Gutheit all dem mit, was er tut. Sein Tun orientiert sich außerdem an einem absoluten Guten, das Gott selber kennt. Die göttliche Tätigkeit kann insofern nicht von einer normierenden Idee des Praktischen absehen, die jedoch mit dem Wissen und dem Sein Gottes übereinstimmt und ihm nicht vorangeht. Somit verschränkt sich das theoretische Problem der Wahrheit mit dem praktischen Thema des Guten, mit der Konsequenz, dass das der Moralität zwangsläufig eine ontologische Dimension erhält. Gioberti zeigt sich diesbezüglich mit Vico einverstanden, wenn er z. B. in einer Reflexion behauptet, dass das Gute nichts anderes als das vom Bewusstsein gefühlte Wahre ist, dass andererseits das Wahre nichts anderes als das Gute darstellt, sofern es durch die Vernunft gesehen wird. 77 Dies hat auch hinsichtlich des Verhältnisses zwischen dem Gewissen und dem Wahren eine Auswirkung. Dazu unterscheidet Gioberti in der Introduzione allo studio della filosofia zwischen drei Formen der Gewissheit: die physische, die man von der tatsächlichen Existenz der Dinge hat, die metaphysische, die sich »über die 75 76 77

Vico (1979), 47. Ebd. Gioberti (1860), II, 448 f.

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Ideen ausübt (si esercita)«, und die moralische, die die mittlere Stelle zwischen beiden einnimmt. Gioberti ist der Meinung, dass die »Gewißheit aus der Evidenz entsteht«, welch letztere »in der Intelligibilität der Dinge« besteht. 78 Bereits diese Unterscheidung zeugt von einer Auffassung des Evidenten, die man wohl ontologisch nennen kann und die den Anspruch erhebt, sich von der bloß psychologischen Evidenz à la Descartes als Klarheit und Deutlichkeit der Ideen zu distanzieren. Evidenz ist anders gesagt ein gegenständliches Kriterium des Wahren, und dies weil »die intuitive Ordnung der Erkenntnis und die reale Ordnung der Sachen identisch sind« 79. So wie für die Gewissheit kann man auch bezüglich der Evidenz zwischen einer metaphysischen Art unterscheiden, die »die innerliche Intelligibilität des Seienden, und sozusagen das Intelligible selbst (in persona)« ist, und einer physischen, die die äußerliche Intelligibilität der Existenzen darstellt. Ist erstere »direkt, unmittelbar, vollkommen, und fast wie ein brechender Strahl (raggio incidente), der aus der Lichtquelle selbst und dem Objekt herkommt, das alles erleuchtet«, ist die andere »indirekt, mittelbar, unvollkommen und wie ein reflektierter (riflesso) und gebrochener (rifratto) Strahl«, welcher »aus einem Prinzip herkommt, das dem verstandenen Objekt äußerlich ist«. Gioberti unterstreicht, dass es in der Tat nur eine einzige Intelligibilität gibt: die göttliche, welche, »indem sie sich in sich selbst reflektiert (riflettere) und ihr eigenes Wesen (entità) veranschaulicht, die metaphysische Evidenz gebärt«, und die, »indem sie sich über die anderen Objekte widerspiegelt und sie aufhellt, die anderen Arten der Evidenz erzeugt«. 80 Schließt die metaphysische Evidenz die Möglichkeit des Gegenteils aus, besteht sie also in der absoluten Notwendigkeit, erlaubt hingegen die physische Evidenz, die nur eine relative Notwendigkeit in sich birgt, die absolute Möglichkeit des Gegenteils. Der Zusammenhang zwischen den zwei Evidenzarten ist nach Gioberti derselbe wie derjenige ihrer Objekte, des Seienden und des Existierenden. So wie das Seiende nach der idealen Formel die Existenzen schöpft, ebenso schafft die metaphysische Evidenz die anderen Gattungen der Evidenz. 81 Das echte Wahrheitskriterium ist somit eine Evidenz, die nicht vom Subjekt abhängt, sondern aus dem Objekt selbst, letztend78 79 80 81

Gioberti (1846), II, 197. Ebd. Ebd., 198. Ebd., 198 f.

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lich aus dem Absoluten herrührt. Giobertis Darstellung der Relationen zwischen dem Gewissen und dem Evidenten erinnern sehr stark an Vicos Bild, das der Scienza nuova vorangestellt ist, in dem man die von einer Statue repräsentierte Metaphysik sieht, die einen Strahl von Gott bekommt, welcher sich in ihrer Brust widerspiegelt und nach unten zum Bereich des Physischen und Moralischen weiterläuft. Wie Vico selbst erklärt: »Der Lichtstrahl der göttlichen Vorsehung, der einen konvexen Edelstein beleuchtet, mit dem die Metaphysik ihre Brust schmückt, deutet das klare und reine Herz an, das hier die Metaphysik haben muss«; derselbe Lichtstrahl geht dann von der Brust der Metaphysik auf die Statue Homers über, welche für die Anfänge der Menschheit steht. 82 Man sieht, wie unter der Aufsicht der göttlichen Vorsehung alles entstanden ist. Gioberti rezipiert diese ontologische Auffassung Vicos und verwendet sie gegen jede Form der subjektiven bzw. psychologischen Evidenz. 83 Die von Vico aufgestellte und von Gioberti übernommene innerliche Verschränkung von verum, factum und bonum schließt nun aus, dass man eine Auffassung vertreten kann, wie man sie bei Kant oder Fichte vorfindet. Nach der Definition der Kritik der reinen Vernunft ist die Gewissheit derjenige Zustand, von dem man behaupten kann, das subjektive Fürwahrhalten besitze eine objektive Zulänglichkeit. 84 Sie unterscheidet sich von der Wahrheit, die Kant als die »Übereinstimmung mit dem Objekte« betrachtet, welche aber verlangt, dass »die Urteile eines jeden Verstandes einstimmig sein müssen«. 85 Die Gewissheit ist somit für Kant ein theoretisches Fürwahrhalten, welches in praktischer Beziehung durch einen Glauben ersetzt werden kann. 86 Die Norm des Gewissens ist anders gesagt ein theoretisches Wahres, das in sich selbst keine praktische Komponente enthält; Theoretisches und Praktisches stellen nämlich für Kant zwei verschiedene Bereiche des Wissens dar. In diesem Sinne fehlt dabei das Moment des bonum, das sowohl für Vico als auch für Gioberti einen

Vico (1990), 6 f. Durch Vicos These der Konvertierbarkeit des Wahren mit dem Guten wird für Gioberti zum Ausdruck gebracht, dass es unmöglich wird, vom Wahren zu sprechen, wenn man sich nicht auf eine freie Schöpfung bezieht, die von Gott gewollt wurde: vgl. diesbezüglich Gioberti (1857), I, 490. 84 Kant (1787), B 850. 85 Ebd., B 848. 86 Ebd., B 851. 82 83

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notwendigen Bestandteil des Wahren darstellt. Aber auch bei Fichte, der bekanntermaßen Kants Trennung des Theoretischen und des Praktischen überwindet und einen Begriff des absoluten Ich aufstellt, der in sich selbst beide Komponenten enthält, 87 hat man mit einer Auffassung zu tun, die nicht mit der von Gioberti oder Vico übereinstimmt. Fichte ist zwar der Meinung, dass das die absolute Tätigkeit des Ich normierende Gesetz das Sittengesetz ist, er kann auch deshalb zum Schluss kommen, der von Kant nur als praktisch verstandene Glaube habe eine absolute Relevanz für das Sicherkennen des Ich selbst. 88 Ist also das Wahre Fichtes ein durch die Tätigkeit des Ich Gemachtes, welches auch durch das Sittengesetz normiert ist, implizieren sich insofern verum, factum und bonum wechselseitig, es gilt jedoch nach wie vor, dass diese innere Verschränkung im Subjekt und nicht im Objekt, im Ich und nicht im Absoluten aufgefunden wird. Eine Stelle aus der ersten Sittenlehre ist diesbezüglich sehr erleuchtend: »Das Gefühl der Gewißheit […] ist stets eine umittelbare Uebereinstimmung unseres Bewußtseyns mit unserm ursprünglichen Ich; wie es in einer Philosophie, die vom Ich ausgeht, nicht anders kommen konnte. Dieses Gefühl täuscht nie, denn es ist […] unsers empirischen Ich mit dem reinen; und das letztere ist unser einziges wahres Seyn und alles möglich Seyn, und alle mögliche Wahrheit.« 89

Das Wahrheitskriterium bleibt bei Fichte ein dem Ich internes und immanentes Merkmal; gerade darin besteht nach Gioberti dessen philosophischer Psychologismus.

Konklusion Hegel hat in seiner Wissenschaft der Logik den Idealismus der Philosophie durch den Satz zusammengefasst, nach welchem dem Endlichen nur eine Idealität zugesprochen werden kann. Dies heißt für ihn, dass »das Endliche nicht als ein wahrhaft Seyendes anzuerkenEine diesbezüglich grundlegende Interpretation von Fichtes Wissenschaftslehre bietet Cesa (1992); Cesa (1994). 88 Günter Zöller hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Fichtes neuer Begriff des Glauben mit der intellektuellen Anschauung bzw. der Tathandlung übereinstimmt, die nach Fichte das absolute Ich selbst kennzeichnet. Vgl. Zöller (1998), bes. 34. 89 Fichte (1977), GA, I/5, 158. 87

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nen« ist. 90 Philosophieren bedeutet nämlich für ihn, den Standpunkt des Absoluten einzunehmen und somit jede nur für die Endlichkeit gültige und gerade deshalb zufällige und unwahre Bestimmtheit aufzuheben. Dadurch wird ganz offensichtlich ein Ontologismus definiert, welcher den Anspruch erhebt, alle Determinationen nicht nur wie innerhalb des Transzendentalismus Kants oder Fichtes als Bestimmtheiten des Wissens, sondern auch als Bestimmtheiten des Seins zu betrachten. Bekannt ist die Formel der Philosophie des Rechts, welche die entsprechende Identität des Idealen und Realen feststellt: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.« 91 Hegel hat demgemäß den Primat des Subjekts in Frage gestellt, der hingegen den transzendentalphilosophischen Ansatz von Kants Kritik sowie von Fichtes Wissenschaftslehre kennzeichnete. In dieser Hinsicht setzte er Schellings Projekt der Identitätsphilosophie fort, für die auch das Absolute nicht die ursprüngliche Apperzeption oder das absolute Ich, sondern die weder subjektive noch objektive, sondern absolute Vernunft darstellt: »Ich nenne Vernunft die absolute Vernunft, oder die Vernunft, insofern sie als totale Indifferenz des Subjectiven und Objectiven gedacht wird.« 92 Mit dieser Erklärung, die eingangs seiner Darstellung meines Systems der Philosophie zu lesen ist, wollte Schelling seinem Denken eine Dimension des Wissens und des Seins beimessen. Man weiß, was für theoretische Implikationen ein derartiges Unternehmen mit sich brachte: 1. Die philosophische Erkenntnis ist die »Erkenntniß der Dinge, wie sie an sich, d. h. wie sie in der Vernunft sind« 93; 2. Da die Vernunft absolut ist, findet sie nichts, das sie selbst nicht auch ist. Dies bedeutet: »Außer der Vernunft ist nichts, und in ihr ist alles.« 94 Von Ontologismus sowie von einer damit zusammenhängenden Erkenntnislehre, für welche der Mensch die Dinge kennt, wie sie an sich sind, war auch bei Rosmini und Gioberti die Rede. Wir haben auch gesehen, in welchem Sinn Vicos Grundsatz des verum-factum die Funktion übernahm, zur Aufstellung einer Philosophie des Ontologischen beizutragen, die gegenüber der klassischen deutschen Philosophie geltend zu machen war. Zwei Arten des Ontologismus haben

90 91 92 93 94

Hegel (1985), GW 21, 142. Hegel (2009) GW 14/1, 14. Schelling (2009), HKA, I/10, 116. Ebd., 117. Ebd.

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sich uns anders gesagt dargestellt: Für die eine, die italienische, kann das echt ontologische Denken nur darin bestehen, die wesenhafte Differenz zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen aufrechtzuhalten. Rosmini und Gioberti lehnen entschieden jede Auffassung des Absoluten ab, die diesem Beschaffenheiten zuspricht, die in der Tat dem Menschen gehören. Für die andere, die insbesondere von Schelling und Hegel auf unterschiedliche Weise vertreten wird, ist das Absolute dieselbe Endlichkeit, sofern sie von jeder Beschränkung bzw. internen Dialektik befreit ist. 95 Rosmini kann somit in seiner Teosofia behaupten, dass das absolute Ich der deutschen Philosophie »nichts anderes als das menschliche Ich, sofern dies als absolut angenommen wird« 96, ist. Diesbezüglich kann man auf unterschiedliche Stellungnahmen innerhalb der klassischen deutschen Philosophie verweisen. Wenn z. B. Hegel das Absolute als »die Bewegung des sich selbst Setzens, oder die Vermittlung des sich anders Werdens mit sich selbst« definiert und aus diesem Grund mit dem »Werden seiner selbst« identifiziert, 97 für welches Ende und Zweck sich wechselseitig voraussetzen, scheint er die Dimension der Veränderung, die das zeitliche Leben des Menschen sowie alles Endlichen kennzeichnet, auf die Ebene des Absoluten emporzuheben. Und selbst Fichtes absolutes Subjekt erweist sich letztendlich als das endliche Ich, das nicht mehr in der Entgegensetzung zum Nicht-Ich, sondern in der absoluten Reinheit und Unteilbarkeit aufgefasst wird. Das Ich »ist sich selbst gleich in Absicht des Bewußtseyns«, in welchem das absolute Ich gesetzt ist; das Ich ist aber auch dem Nicht-Ich entgegengesetzt und insofern teilbar. 98 Die Teilbarkeit bzw. Nichtteilbarkeit des Ich kommen hier zwei unterschiedlichen Richtungen des Denkens gleich, sie implizieren jedoch keine ontologische Differenz. Diese Sachlage kann zur Erklärung beitragen, warum der italienische Ontologismus eines Gioberti die deutschen Systeme der Philosophie als Formen des Anthropologismus versteht. In ihnen haben wir es in dieser Hinsicht zu tun mit einer Vermenschlichung des Absoluten, die davon abhängt, dass die ontologische Differenz zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen verloren gegangen ist. Rosmini kann diesbezüglich auch von Formen des Denkens sprechen, die sich vom Subjekt deshalb nicht 95 96 97 98

Dazu vgl. auch Caramella (1957), I, bes. 511. Rosmini (1998), Nr. 264, EC 12, 247. Hegel (1980), GW 9, 18. Fichte (1965), GA, I/2, 271.

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verabschiedet haben, weil sie das Wissen als »eine Produktion des denkenden Subjekts« verstanden haben. 99 Schelling geht zwar vom Absoluten aus, und darin besteht der objektive Charakter seiner Philosophie, er findet aber die Idee des Absoluten in einem objektlosen Denken und damit bringt er seinen Ansatz wieder in den Bereich des Subjekts zurück. Dies ist letztendlich der große Widerspruch von Schellings Philosophie der Identität. Für Rosmini ist nämlich Denken, sei es endlich oder unendlich, Synonym von Subjektivität. Das Denken stellt nämlich immer »einen Akt, und nicht ein Objekt« dar, und als solches »gehört es immer einem Subjekt«. 100 Schellings und Hegels Überwindung der egologischen Philosophie, so wie diese von Kant und Fichte vertreten wird, erweist sich in dieser Hinsicht für den italienischen Ontologismus Rosminis und Giobertis als ein sekundäres Problem. Beide Denker sind zwar damit einverstanden, dass das Absolute nicht das menschliche Subjekt sein kann, sei dies als das kantische Ich-denke oder das absolute Ich der Wissenschaftslehre verstanden. Rosmini kann in dieser Hinsicht zeigen, dass das cartesianische Ich, das für den deutschen Idealismus zentral ist, in der Tat einen von der Seele insofern abgeleiteten Begriff darstellt, als er »keine reine Idee« ist, sondern nur die Selbstwahrnehmung der Seele ausdrückt. 101 Eine nicht-egologische Philosophie muss aber Vicos Lehre des verum-factum treu bleiben, nach welcher das menschliche Wahre nicht das göttliche Wahre ist. Das Absolute ist und bleibt ein ontologisch Verschiedenes gegenüber dem Endlichen. Es ist dasjenige absolute Objekt, das dem menschlichen Bewusstsein erscheint, von dem es aber nie restlos eingeholt werden kann; nur dadurch kann derjenige Überschuss erklärt werden, der zwischen dem subjektiven Denken und dem objektiven Sein (Gioberti) bzw. der objektiven Idee des Seins (Rosmini) besteht. Verwischt man diese ontologische Differenz, ist man nach den italienischen Denkern gezwungen, das Absolute selbst als ein Subjekt zu betrachten, das sich durch einen Akt denkt und nur sich selbst denkt. Der Subjektivismus der klassischen deutschen Philosophie stellt somit Rosmini (2008), Nr. 353, EC 7, 56. Ebd. Rosminis Behauptung scheint philologisch zumindest nicht ganz unkorrekt, denn sie kann auch durch Hegels Worte unterstützt werden, laut derer das Wahre, d. h. das Absolute nicht nur im Sinne von Spinoza »als S u b s t a n z , sondern eben so sehr als S u b j e c t « verstanden werden muss ([1980], GW 9, 18). 101 Rosmini (1988), I, EC 9, 62. Zu einer Evaluierung von Rosminis Rezeption des Begriffs vom Ich, besonders bei Schelling, vgl. Jacobs (2007). 99

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nur die kohärente Konsequenz des Verlusts der echt ontologischen Dimension des Objektiven dar. Somit ist aber bereits ein zweites Moment angekündigt, das die italienische und die deutsche Philosophie voneinander trennt. Ist und bleibt nämlich das Verhältnis zwischen dem Absoluten und dem Endlichen für Rosmini und Gioberti eine Beziehung der ›immanenten Transzendenz‹ zeigt sich dasselbe bei den deutschen Denkern als eine Beziehung der ›immanenten Immanenz‹. Das Absolute erscheint in dieser letzten Ansicht restlos in seinen Erscheinungen, ohne in einer einzigen endlichen Gestalt gefangen zu bleiben; deshalb kann Hegel behaupten, dass die phänomenologische Reflexion die Länge des Weges ertragen muss, »denn jedes Moment ist nothwendig«; man muss außerdem bei jedem verweilen, »denn jedes ist selbst eine individuelle ganze Gestalt, und wird nur absolut betrachtet, insofern seine Bestimmtheit als Ganzes oder Concretes, oder das Ganze in der Eigenthümlichkeit dieser Bestimmung betrachtet wird«. 102 Rosminis Theorie der participatio rationis zielt nun gerade darauf ab, die Idee der menschlichen Teilnahme an der Vernünftigkeit Gottes auszudrücken, ohne dass die Differenz der zwei Pole der Beziehung verwischt wird. Man könnte zwar auch insofern einen Sinn der participatio innerhalb der deutschen Philosophien des Absoluten wiederfinden, als auch für die letzteren die Endlichkeit an der Rationalität des Absoluten teilnimmt. Während nun aber innerhalb der italienischen Philosophie eine derartige Teilnahme Folge einer freien Handlung ist – die Schöpfung Gottes –, stellt sie bei den deutschen Denkern einen absolut notwendigen (und gleichzeitig freien) Akt der Selbstsetzung dar. Schelling kann somit behaupten, dass dem Sein nach nichts entstanden ist, »[d]enn alles, was an sich ist, ist die absolute Identität selbst« 103. Und Hegel kann seinerseits hervorheben, dass das bloße Leben Gottes »wohl als ein Spielen der Liebe mit sich selbst« verstanden werden kann, dass diese Idee jedoch »zur Erbaulichkeit und selbst zur Fadheit« herabsinkt, »wenn der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen darin fehlt«. 104 Das Absolute muss erscheinen und außer sich gehen, weil es nur dadurch nicht nur ein Ansichsein, d. h. eine »abstracte Allgemeinheit«, sondern ein Fürsichsein sein kann. 105 Gio102 103 104 105

Hegel (1980), GW 9, 25. Schelling (2009), HKA, I/10, 121. Hegel (1980), GW 9, 18. Ebd., 19.

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bertis »formola ideale« setzt sich ausdrücklich als theoretische Alternative zu einem solchen Verständnis des Absoluten; auf Vicos Fußstapfen tretend, verweist sie wie gesehen auf den für Gioberti selbst einzig möglichen Sinn des Synthetischen a priori, der in der göttlichen, absolut freien Tätigkeit der Schöpfung enthalten ist. Übersieht man dies, fällt man notwendig in den Pantheismus. Rosmini kann diesbezüglich behaupten, dass die deutsche Philosophie die an sich kontingente Welt zu einem absolut notwendigen Nicht-Ich bzw. Natur erhoben hat und somit das Band zwischen Gott und der Welt im Sinne des Fatalismus verstanden hat. 106 Seinerseits plädiert er hingegen für einen »ontologischen Synthetismus« (sintesismo ontologico), dem zufolge die absolute Abhängigkeit des Endlichen vom Unendlichen – darin besteht der freie Charakter deren Beziehung – mit der These einhergeht, dass das Endliche nicht das Absolute ist, von welchem es abhängt. 107 Hier zeigt sich deutlich eine dritte Differenz zwischen Rosmini und Gioberti einerseits und der klassischen deutschen Philosophie andererseits. Ich möchte sie durch die Opposition zwischen einem gnoseologischen und einem metaphysischen Ontologismus verdeutlichen. Wir haben bereits gesehen, dass das Verhältnis zwischen dem Absoluten und seinen Erscheinungen von Hegel als eine Beziehung des Absoluten zu sich selbst betrachtet wird. Indem das Absolute sich dadurch entwickelt, erreicht es eine höhere Stufe der Selbsterkenntnis; die Selbstbewegung des Begriffs verlässt somit das Stadium der Abstraktheit, um immer konkreter zu werden. Aber auch Schelling identifiziert das Sein der absoluten Vernunft der Form nach mit dem Erkennen: »[D]as Erkennen ist das ursprüngliche Seyn selbst, seiner Form nach betrachtet« 108. Deshalb kann er behaupten, dass die absolute Identität nur auf eine Weise sein kann, und zwar »unter der Form des Erkennens ihrer Identität mit sich selbst« 109. Sein bedeutet für die Vernunft Sicherkennen. Diese gnoseologische Konnotation des Absoluten, die dem ganzen deutschen Idealismus eigen ist, geht offensichtlich mit einer Definition der Philosophie einher, die das Erkenntnisproblem als das Hauptproblem bewertet. Bereits Kant hatte nicht zufällig die Philosophie als die Vernunfterkenntnis »aus Begriffen« 106 107 108 109

Rosmini (1998), Nr. 264, EC 12, 247. Ebd., Nr. 837, EC 13, 136. Schelling (2009), HKA, I/10, 123. Ebd.

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definiert und sie der Mathematik entgegengestellt, die Vernunfterkenntnis »aus der Konstruktion der Begriffe« ist. 110 Und Fichte setzt diesen erkenntnistheoretischen Ansatz kohärent fort und findet, dass die Aufgabe der Philosophie darin besteht, herauszufinden, »[w]ie ein Objektives jemals zu einem subjektiven, ein Seyn für sich zu einem vorgestellten werden möge« 111. Die Ichheit als derjenige Punkt aufgefasst, in dem das Objektive und das Subjektive »nicht geschieden, sondern ganz Eins sind«, bestimmt sich dann im wirklichen Bewusstsein durch die Trennung dieser zwei Momente. 112 Wendet man sich Rosminis und Giobertis Systemen der Philosophie zu, entnimmt man, dass für sie das Erscheinen des Absoluten in der Welt kein gnoseologisches Problem des Sicherkennens des Absoluten darstellt. Die Ontologie kann zwar für beide Denker nicht von der Ideologie als derjenigen Wissenschaft absehen, die sich mit den Ideen befasst, durch die der Mensch das Sein erkennt; in diesem Sinne kann z. B. Rosmini behaupten, die Ontologie habe damit zu tun, wie »die unterschiedlichen Arten, in denen das Seiende dem Menschen erscheint, sich mit dem Begriff des Seins vereinbaren« 113. Und auch für Hegel geht es nicht darum, »was a n s i c h oder i n n e r l i c h vorhanden sey, sondern um das Daseyn des Innerlichen im D e n k e n , und um die B e s t i m m t h e i t , die ein solches in diesem Daseyn hat« 114. Damit erklärt sich Rosmini einverstanden; auch für ihn besteht nämlich die Aufgabe der Philosophie darin, nicht die Objekte des Wissens, sondern das Wissen selbst zu untersuchen. 115 Wenn also unsere Überlegungen aus dem Standpunkt der Ordnung der realen Wesen vom Absoluten abhängen – wir sind und können nämlich überlegen, weil es ein Absolutes gibt –, muss jedoch aus dem Standpunkt der Erkenntnisse die Überlegung dem Absoluten vorangehen. Wir können nämlich das Absolute nur durch unser Erkenntnisvermögen kennen. In diesem Sinne geht die Erkenntnisordnung der Objektsordnung voran. Für uns sind die Objekte nichts, wenn wir sie nicht kennen. »Es ist deshalb besser, die Philosophie vom Problem der Gültigkeit unserer Erkenntnisse ausgehen zu lassen, bevor man über irgendwelche wirkliche Objekte, sei es auch das Absolute, nach110 111 112 113 114 115

Kant (1787), B 865. Fichte (1977), GA, I/5, 21. Ebd. Rosmini (1998), Nr. 43, EC 12, 84. Hegel (1985), GW 21, 64. Rosmini (2003), Nr. 1407, EC 5, 278.

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Vicos »verum-factum«

denkt« 116. Dies kommt jedoch nicht der Vermengung der Ontologie mit der Ideologie gleich. Dies bedeutet somit nicht, wie Hegel meint, dass die Wissenschaft der Philosophie nur dann erreicht werden kann, wenn alle Endlichkeit vom Absoluten abgeleitet werden kann, als ob »das Sein keine andere Art (modo) hätte als die wissenschaftliche« 117. Das Erkennen des Seins stimmt anders gesagt nicht mit dem Sein als Sicherkennen überein.

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116 117

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Realismus versus Transzendentalismus. Die Kant-Rezeption in Italien im 19. Jahrhundert Massimo Mori

1.

»L’Italia non si inkanta«

In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstand in Italien, nicht zuletzt infolge des neuen Klimas des Risorgimento, eine breite Debatte über die Identität der italienischen Philosophie. Es soll hier nicht darum gehen, Niveau und Tiefe dieser Diskussion zu bewerten. 1 Auch lässt sich nicht sagen, inwiefern es ihr tatsächlich gelungen ist, die Existenz einer »italienischen philosophischen Schule« zu belegen. Was hier zählt ist, dass die italienische Philosophie sich im Anschluss an diese Debatte als eine tief realistische wahrnahm. Ihre Eigentümlichkeit bestand dieser Wahrnehmung nach darin, sich stets an eine besondere Version der »Philosophie der Erfahrung« gehalten zu haben. Gian Domenico Romagnosi, Terenzio Mamiani della Rovere, Baldassare Poli, Clemente Sancasciani, Giuseppe Pezza-Rossa und viele andere variierten dieses Grundthema in unterschiedlichen Formen. Doch nirgends fehlte der Hinweis auf das, was Mamiani »die gute natürliche Methode« zu nennen pflegte, die fest in »einer positiven Philosophie und gesicherten experimentellen Verfahren« verankert war. 2 Der Titel eines Bändchens von Sancasciani, der zugleich Arzt und Philosoph war, spricht für sich: Difesa della filosofia italiana dell’osservazione e dell’esperienza (1840). »Es ist also offensichtlich«, bekräftigt Giuseppe Pezza-Rossa, »dass Italien, mal mehr mal weniger, stets eine ausgezeichnete eigene Philosophie hatte, dass sie die induktive und experimentelle analytische Methode nicht nur kannte, sondern praktizierte und keine bloßen Abstraktionen, keine allgemeinen und beliebigen Grundsätze ihr als

1 2

Vgl. Tolomio (1999). Mamiani della Rovere (1836), 50.

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Realismus versus Transzendentalismus

Leitschnur dienten, sondern die Beobachtung der Tatsachen und die Erfahrung«. 3 Doch setzte sich die italienische »Philosophie der Erfahrung« nicht nur den idealistischen Strömungen entgegen, die in der deutschen Kultur vorherrschend waren. Sie wies eine Besonderheit auf, die sie trotz vieler Affinitäten auch von der Locke’schen Tradition des englischen Empirismus und derjenigen des französischen Sensualismus um Condillac abhob. Die italienische Philosophie wollte die experimentelle Beobachtung und das Zeugnis der Sinne mit der Kraft der Vernunft und der Reflexion verbinden. Daraus erklärt sich die exemplarische Stellung, die bei vielen italienischen Empirikern der Gestalt Galileo Galileis zukam, die man Bacon ausdrücklich entgegengesetzte. Nicht allein suchte man so – auf recht ungewisse und jedenfalls unfruchtbare Weise – den chronologischen Vorrang der wissenschaftlichen Wende Italiens zu behaupten, sondern man wollte vor allem eine methodische Überlegenheit geltend machen: die Verbindung von Erfahrung und Vernunft – Galileis »sensate esperienze« – entgegen dem Pragmatismus der Bacon’schen Induktion. 4 Auch fehlte es, von Poli bis zu Pezza-Rossa, nicht an denen, die feststellten, dass Galilei seinerseits nur eine italische Wissenstradition fortsetzte, die ebenfalls durch die Verbindung von Vernunft und Erfahrung gekennzeichnet war und auf Archimedes bzw. auf die pythagoreische Schule zurückging. 5 Ganz sicher war dies kein fruchtbarer Boden, auf dem die Transzendentalphilosophie Kants hätte gedeihen können, abgesehen davon, dass man oft unzulänglich, durch Übersetzungen oder Zusammenfassungen, mit Kant vertraut war. Francesco Soave schloss die erste italienische Darstellung der kantischen Philosophie mit einem Kapitel, das den bezeichnenden Titel trug: »Della filosofia sperimentale opposta alla trascendentale« 6. Die Nähe des italienischen philosophischen Empirismus zur erstarkenden medizinischen Kultur, welche die kognitiven Prozesse streng physiologisch erklärte, spitzte diese Position weiter zu. Sancasciani erwähnte Kant in der Difesa della fi-

Pezza-Rossa (1842), 45. Der ganze Text ist am Ende des Buches von Tolomio reproduziert. 4 Vgl. Mamiani della Rovere (1836), 48 f.; Romagnosi (1841), 677, Fn. 7; Sanscasciani (1847), 4; Centofanti (1864). 5 Vgl. dazu Tolomio (1999), 159–171. Im Allgemeineren vgl. Casini (1998). 6 Vgl. Soave (1803), 100–106. 3

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losofia italiana mit keinem Wort, wandte sich aber wiederholt polemisch gegen »die falsche Argumentationsmethode anhand von a priori festgelegten Grundsätzen« 7. Ihm schloss sich Pezza-Rossa an, der es sehr bedauerte, auch unter den Italienern den ein oder anderen zu sehen, der »es sich angelegen sein ließ, eine übersinnliche und transzendente Lehre a priori aufzustellen« 8. Die Transzendentalphilosophie erschien abstrakt, abwegig und unnütz dunkel. Die »verwickelten, undurchschaubaren Theorieformen, die transzendental genannt werden, mit ihrer verhunzten, ungewöhnlichen Sprache«, galten als unvereinbar mit »jenem gesunden Menschenverstand, mit dem die Vorsehung die Italiener bedacht hat«. 9 Die Transzendentalphilosophie wurde jedoch nicht nur als künstlich und dunkel betrachtet, sondern auch als schädlich. Der häufigste Vorwurf, der vor allem wegen des Dualismus zwischen Phänomen und Noumenon und der Beschränkung der Erkenntnis auf den phänomenalen Bereich vorgebracht wurde, war der des Skeptizismus. Die kantische Philosophie habe den Hume’schen Skeptizismus, den sie bekämpfen wollte, nicht überwunden; erschwerend komme hinzu, dass der erklärte Skeptizismus von Hume wenigstens das Zeugnis der Erfahrung rette, während der uneingestandene von Kant auch diese noch einbeziehe. Wer sich mit den Mechanismen der Kritik der reinen Vernunft etwas genauer auseinandersetzte, fand zudem unschwer den gedanklichen Kern des Idealismus darin, der für einen empirischen Geist ein noch schlimmeres Übel war als der Skeptizismus. Womöglich stützte man sich dabei – so im Fall von Romagnosi – auf die Handbücher von Johann Gottlieb Buhle, der sich die von Beck und Fichte gegen Kant vorgebrachte Kritik zu eigen gemacht hatte. 10 Allen erschien es also notwendig, im Namen der »Philosophie der Erfahrung« das Eindringen der Transzendentalphilosophie in Italien zu verhindern und mit Melchiorre Gioia zu versichern, dass »l’Italia non s’inkanta« (mit einem Wortspiel: dass Italien sich nicht von Kant verzaubern lässt).

Der Text ist in Tolomio (1999), 301–320, reproduziert. Zitat auf Seite 301. Pezza-Rossa (1842), 45. 9 Romagnosi (1835), Bd. 13, 3. 10 Vgl. Romagnosi (1835), 186–189. 7 8

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Realismus versus Transzendentalismus

2.

Zwischen Ideologie und Skeptizismus: der Kant Pasquale Galluppis

Obwohl die italienische »Philosophie der Erfahrung« eine spezifisch nationale Besonderheit für sich in Anspruch nahm, waren viele der italienischen Empiriker noch weitgehend, mit gewissen Unterschieden, an die empiristische Tradition von Locke und ihre sensualistische Fassung à la Condillac gebunden. Auch der Einfluss der jüngeren (und geografisch nahen) französischen Idéologie, insbesondere in der sensualistischen Variante von Destutt de Tracy und der stärker physiologisch geprägten von Cabanis, kam zum Tragen. Dies galt freilich vor allem für diejenigen, die entweder der medizinischen Kultur angehörten bzw. ihr nahestanden oder noch in der Kultur der Spätaufklärung verwurzelt waren, wie Romagnosi und Gioia. Dennoch hatte sich das neue Klima der Restauration nicht nur auf politischer, sondern auch auf philosophischer und kultureller Ebene ausgewirkt. Vor diesem Hintergrund konnte der Begriff Erfahrung nicht mehr in dem tendenziell sensualistischen Sinn verwendet werden, in dem er im 18. Jahrhundert in den empiristischen Untersuchungen der Erkenntnisfrage gebraucht worden war. Er musste eine weiterreichende Bedeutung erlangen und die innere Erfahrung umfassen, die nicht mehr bloß, wie bei Locke, als Beobachtung der Verstandesoperationen, sondern auch als geistiges Bewusstsein aufgefasst wurde. Der »ideologische« Ansatz spielte zwar weiterhin eine entscheidende Rolle bei der Erkenntnisfrage, aber es war nicht mehr der von Destutt de Tracy oder Cabanis, sondern eine spiritualistisch korrigierte Fassung, die unter anderen Joseph-Marie Degérando und Pierre Laromiguière lieferten. Der Kunstgriff bestand darin, das innere Selbstgefühl als »Aufmerksamkeit« zu interpretieren – nicht zufällig ein Schlüsselbegriff im Denken von Maine de Biran –, das heißt als ein Vermögen, das sich nicht auf die rein sinnlichen und physiologischen Vorgänge zurückführen lässt und stattdessen eng mit dem inneren Bewusstsein zusammenhängt, in dem sich das Wesen des Ich ausdrückt. Neben dem Einfluss der spiritualistisch orientierten Idéologues hatte sich außerdem derjenige von Victor Cousin stark bemerkbar gemacht, dessen Eklektizismus – auch im Sinn der Zusammenführung von Erfahrung und Vernunft – im Grunde eine ausdrückliche Form von Spiritualismus und eine Philosophie der »guten Gründe« hervorgebracht hatte. Zu diesen »guten Gründen« zählte in Frankreich wie in Italien auch der Rückgriff aufs Christentum, wenngleich man es 127 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

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nicht in reaktionärem, sondern in nachrevolutionärem Sinn auffasste. In diesem Klima ist Pasquale Galluppis Denken und folglich auch seine größere Offenheit für die kantische Philosophie zu verorten. Im Unterschied zu einem Großteil des »naiven« Realismus seiner Zeit geht Galluppi von einer im weiteren Sinn kritischen Perspektive aus, wonach das zentrale Problem der Philosophie die Grundlegung der Erkenntnis ist. Dasselbe gilt, wie gleich zu zeigen sein wird, für Rosmini. Die Philosophie sei nicht nur »objektive Wissenschaft« (»Wissenschaft der Dinge«), sondern in erster Linie »subjektive Wissenschaft« (»Wissenschaft des menschlichen Wissens«). 11 Bedeutsamerweise wird der Ausgangspunkt der modernen Philosophie nicht mehr an Galilei festgemacht, der das Buch der Natur erforscht hatte, sondern an Descartes, der das Philosophiegebäude auf das cogito, das selbstbewusste Subjekt, gründete. Die Untersuchungen der französischen Idéologie versuchten eine Antwort auf die von Descartes gestellte und offen gelassene Frage zu geben, wie die äußere Erfahrung zustande komme. Doch die Lösung der Idéologues ist Galluppi zufolge durch ihren Ausgang bei Condillac getrübt, das heißt durch die Überzeugung, dass die Ideen aus der Mechanik der Empfindungen entspringen müssten, wobei übersehen wird, dass die Allgemeingültigkeit der Erkenntnis eine formale Komponente verlangt, die nur vom Subjekt abgeleitet werden kann. Daher die Bedeutung Kants, den Galluppi bezeichnenderweise in eine Kontinuität mit der Idéologie stellt 12: Kants Denken sei die Fortentwicklung des Problems der Idéologues, dem er den aus der leibnizschen Tradition übernommenen Aspekt des Apriori hinzugefügt habe. Galluppi zufolge, der auch darin mit Rosmini übereinstimmt, ist Kant jedoch über das Ziel hinausgeschossen. Kants Form a priori sei vorherrschend geworden, statt vom realen Gegenstand, von der zu erkennenden Materie, abzuhängen. Zum einen bedinge sie den Gegenstand so weit, dass er zu einer bloßen Erscheinung werde, über welche die Erkenntnis nicht hinausgehen kann (Skeptizismus); zum anderen drohe sie aus dem Gegenstand eine Hervorbringung des Subjekts zu machen (Idealismus). Obgleich Galluppi dies nicht immer gebührend verdeutlicht, bestand Kants Grundirrtum seines Erachtens darin, die Erkenntnistheo11 12

Vgl. Galluppi (21925), 4. Vgl. Galluppi (1822), 319. Vgl. auch Galluppi (21925), 74.

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Realismus versus Transzendentalismus

rie auf ein rein formales Vermögen wie die transzendentale Apperzeption gegründet zu haben, die unweigerlich zu einem antirealistischen Ergebnis führe. Galluppis Realismus ist dagegen dadurch gewährleistet, dass er seiner erkenntnistheoretischen Lehre den Begriff des »ursprünglichen Selbstgefühls« (bzw. »inneren Gefühls«) zugrunde legt, der offensichtlich ein Erbe der »spiritualisierten« Tradition der Idéologues darstellt. Es handelt sich um das ursprüngliche »Bewusstsein«, das sowohl die unmittelbare Erkenntnis des Selbst und seiner Veränderungen als auch die Gewissheit einer diese Veränderungen verursachenden äußeren Wirklichkeit einschließt. Diese realistische Sicht hinderte Galluppi jedoch nicht daran, innerhalb gewisser Grenzen einen Phänomenismus zu vertreten, der im Übrigen auch in den stärker empiristischen und sogar in den sensualistischen Konzeptionen der Zeit verbreitet war. Wie bereits Condillac feststellte, kennen wir nicht die absoluten Eigenschaften der Körper, sondern nur »ihre Eigenschaften in Bezug zu uns« 13. Kants zweiter Irrtum, den Galluppi besonders hervorhebt, folgt aus dem ersten. Bei der Definition der Formen a priori, die notwendig sind, um die Allgemeingültigkeit der Erkenntnis zu garantieren, stellte Kant der Synthese als einem fruchtbaren Erkenntnisverfahren die Analyse als ein steriles Verfahren gegenüber und gründete die Erkenntnis folglich auf synthetische Urteile a priori. Stattdessen drückt sich nach Galluppi das Element a priori, das die notwendige subjektive Komponente der Erkenntnis bildet, in erster Linie in der Analyse aus. Die auf den materiellen Inhalt des Selbstgefühls gerichtete formale Tätigkeit des Verstandes bestehe nämlich in einer Klärung durch logische Zerlegung, das heißt durch eine Analyse, die auf den Sätzen der Identität und Widerspruchsfreiheit fußt. Denn die Empfindungen, die das ursprüngliche Selbstgefühl bereitstellt und die den Gegenstand der Analyse bilden, sind Galluppi zufolge keine einheitlichen Bestandteile, sondern »komplexe Wahrnehmungen«, bezogen auf vielfältige, durch mannigfache Beziehungen miteinander verknüpfte Gegenstände, die der Klärung harren. Deshalb sind die analytischen Urteile, auf denen die Erkenntnis hauptsächlich beruht, keineswegs steril, wie Kant meinte, sondern ermöglichen eine reale Ausweitung der Erkenntnis, indem sie zuvor unbekannte Beziehungen aufzeigen, wie schon der »Dogmatiker« Christian Wolff annahm, auf den Galluppi sich allerdings nicht ausdrücklich bezieht. 13

Galluppi (1841), Bd. 1, 217.

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Der Synthese erkennt Galluppi lediglich eine zweitrangige Hilfsfunktion zu. Sie hat die Aufgabe, die analytisch zerlegten und dadurch erklärten Bestandteile wieder zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Offensichtlich erlangen die Begriffe Analyse und Synthese hier eine Bedeutung, die mit der kantischen wenig zu tun hat und stattdessen der kartesianischen Definition näher kommt. Die Analyse, obgleich sie einen vagen Zusammenhang mit dem Identitätsprinzip im Sinn der Leibniz-Wolff’schen Logik bewahrt, wird begriffen als die Zerlegung des Komplexen in seine einfachsten Teile gemäß der klassischen geometrischen Tradition von Pappos, auf die Descartes ausdrücklich Bezug nahm. Die Synthese hingegen bildet den Prozess, der die so analysierten Bestandteile wieder zu einem Ganzen zusammenfügt. Doch so führt die Synthese keinen neuen Inhalt gegenüber dem von der Empfindung gelieferten ein, sondern beschränkt sich darauf, den mit der Analyse begonnenen Klärungsvorgang zu vollenden. Die so definierte Synthese umfasst drei Arten, je nach dem Grad ihrer Entsprechung zur Wirklichkeit. Die wichtigste, die »reale Synthese«, ahmt bereits im Gegenstand gegebene Beziehungen nach, beispielsweise die objektiv auf dem ursprünglichen Selbstgefühl beruhende Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, durch die das Subjekt zugleich sich selbst als Wirkung einer Veränderung und den äußeren Gegenstand als deren Ursache wahrnimmt. Die »ideale Synthese«, die logische Beziehungen zwischen den Ideen herstellt, kann objektiv sein, wenn diese logischen Beziehungen wirkliche Gegenstände betreffen, also solche der ursprünglichen Wahrnehmung (etwa wenn man die Höhe zweier Berge oder Bäume miteinander vergleicht), oder subjektiv, wenn die logischen Beziehungen nur ideale Gegenstände betreffen, wie im Fall der mathematischen Größen. Dank der »Vorstellungssynthese« schließlich können mehrere Ideen zu einer komplexen Idee zusammengesetzt werden, aber auch in diesem Fall haben die vereinten Vorstellungen einfach einen poetischen Wert, falls sie mit der Wirklichkeit unvereinbar sind, wie die Sphinx oder das geflügelte Pferd, während sie als konstruktiv gelten, wenn sie realisierbare Gegenstände vorwegnehmen, wie ein Haus, die Anlage eines Gartens sowie alle Artefakte überhaupt. 14 »Unterscheidet man die verschiedenen Arten der Synthese, so wie ich es getan habe«, resümiert Galluppi, seinen Realismus betonend, »stellt man die Wirklichkeit der Erkenntnis sicher und setzt nicht die logischen Ge14

Galluppi (1841), Bd. 2, 350. Vgl. dazu Galluppi (1822), Bd. 3, 157–171.

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setze unseres Verstandes mit den Eigenschaften und den wirklichen Gesetzen der Dinge gleich«. 15 Da die synthetischen Urteile sich darauf beschränken, die analytisch zerlegte empirische Wirklichkeit zu einer neuen Ordnung zusammenzufügen, sind sie folglich immer a posteriori. Das synthetische Urteil a priori, auf das Kant sein gesamtes erkenntnistheoretisches Gebäude stützt, ist nach Galluppi »ein Absurdum« 16. Er hält dagegen, dass die Einführung von Verbindungen, die nicht durch die Erfahrung belegt (also synthetisch a posteriori) bzw. aus deren Analyse ableitbar (also analytisch a priori) sind, einer subjektiven, willkürlichen Vereinigung von Elementen gleichkäme, die nicht zusammengehören; sie sei also ein widersprüchliches Verfahren. 17 Tatsächlich will Galluppi mit seinem Einwand jedoch sagen, dass die Bildung eines Erkenntnisgegenstands durch subjektiv bestimmte formale Regeln der Erfindung einer Erscheinungswirklichkeit entspräche, die keinerlei Beziehung zur wahren Wirklichkeit habe und auf ein unerkennbares Noumenon reduziert werde. An diesem Punkt hätte man nur noch zwischen Skeptizismus und Idealismus die Wahl. Galluppis Realismus verlangt dagegen, dass der Verstand Zugang zur Wirklichkeit der Dinge habe (unbeschadet des empiristischen Phänomenismus, von dem bereits die Rede war), denn seine Tätigkeit besteht in der Erweiterung von Erkenntnissen mit Hilfe der analytischsynthetischen Methode, die aufgrund des ursprünglichen Selbstgefühls unmittelbar gesichert sind. Doch die Zerstörung des transzendentalen Gebäudes durch die Leugnung der synthetischen Urteile a priori wirkt sich nicht nur auf der Ebene der Analytik aus, sondern geht zwangsläufig auf die der transzendentalen Dialektik über. Da nämlich die Beweisführungen der Vernunft nur aus anderen Urteilen bestehende Urteile sind, sind auch sie analytischer Art. Der Übergang vom Bedingten zum Unbedingten bzw., wie Galluppi schreibt, vom »Bedingten« zum »Absoluten« bereitet daher keinerlei Schwierigkeit. Das Kausalitätsgesetz selbst ermöglicht uns die Ableitung des Absoluten aus dem Bedingten: Das Bedingte kann nicht ohne seine Bedingung bestehen. Die Metaphysik als Wissenschaft der Beziehungen zwischen dem Beding-

15 16 17

Ebd., 375. Galluppi (1822), 495. Vgl. auch Galluppi (1841), Bd. 1, 105. Vgl. Galluppi (1819), 289 f.; Galluppi (1821), 494–497; 500–502.

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ten und dem Absoluten ist somit gerettet. 18 Galluppis Realismus, der auf dem Boden der Erkenntnistheorie entstanden ist, enthüllt dergestalt – im Einklang mit den Kanons der siegreichen Restauration – seine apologetische Tendenz gegenüber einer religiösen und spiritualistischen Daseinsauffassung.

3.

Für und wider Kant: Antonio Rosmini

Galluppis Philosophie steht noch auf dem Boden des Empirismus, obgleich er diesem eine kritische Dimension hinzufügt. Die vom Subjekt ausgehenden Formen a priori haben keinen anderen Inhalt als die Materie der Empfindung, sondern sind nur das notwendige methodische Werkzeug für deren Klärung. Antonio Rosmini Serbati geht einen Schritt weiter. Ihn als den »italienischen Kant« zu bezeichnen, wie Giovanni Gentile, 19 setzt freilich voraus, dass man meint, die wahre Bedeutung seines Denkens liege nicht in dem, was er tatsächlich gesagt hat, sondern darin, wie man das Gesagte interpretieren kann. 20 Rosmini selbst warnte vor jenen, die ihn den Kritizisten zurechneten. 21 Dennoch war er unter den italienischen Philosophen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sicher derjenige, der dem kritizistischen Ansatz am nächsten kam. Der subjektive Aspekt der Erkenntnis war für Rosmini kein bloßer logischer Apparat zur Klärung der Erfahrung wie für Galluppi. Dem »Priester von Rovereto« zufolge hatte Kant einen »beachtlichen Schritt« für den Fortgang der »philosophischen Wissenschaft« getan, indem er im Erkenntnisvorgang eine reale Form a priori eindeutig von der Materie a posteriori unterschied. 22 Rosmini war jedoch der Ansicht, dass man auf den komplexen transzendentalen Aufbau der Kritik der reinen Vernunft verzichten könne, der seiner etwas pauschalen Berechnung nach siebzehn Formen umfasst: zwei reine Anschauungen, zwölf Kategorien und drei Vernunftideen. Stattdessen führt er die gesamte formale Struktur der Erkenntnis auf eine einzige Idee zurück, die »erste Idee«, die an sich erkennbar ist und aus der alle Vgl. Galluppi (1827); 192; 357–358. Gentile (1998), V u. 62. 20 Vgl. ebd., 160. 21 Vgl. Garin (1966), 1113. 22 Rosmini (1934), Bd. 2, § 394, 7 (bekanntermaßen ist der Nuovo saggio in der neuesten Stresa-Ausgabe von Rosminis Werken noch nicht erschienen). 18 19

132 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

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anderen ihre Erkennbarkeit beziehen. Als solche sei sie angeboren und dem Verstand, der seinerseits als Anschauungsvermögen aufgefasst wird, unmittelbar gegeben. Diese erste Idee ist die »Idee des Seins« als gänzlich unbestimmtes Sein im Allgemeinen und eben deshalb Bedingung für die Denkbarkeit aller anderen Ideen. Mit einer gewissen Ambivalenz nähert sich Rosminis Idee des Seins derjenigen der Existenz, die allerdings nicht als aktuelle Existenz des Besonderen verstanden wird (die er vorzugsweise »Bestehen« nennt), sondern als rein ideelle Existenzmöglichkeit. Klar unterschieden vom »idealen Sein«, das die formale Komponente der Erkenntnis bildet, ist bei Rosmini das »reale Sein«, die materielle Komponente, die in der Empfindung oder besser gesagt in der »sinnlichen Wahrnehmung« besteht. Drückt das »ideale Sein« die Möglichkeit der Dinge aus, so verweist das »reale Sein« auf ihre tatsächliche Existenz. Auch Rosmini führt die sinnliche Wahrnehmung, wie Galluppi, auf ein »grundlegendes Gefühl« zurück, das sowohl das Selbst wie seine Veränderungen betrifft. Doch obwohl die in dem grundlegenden Gefühl gegebene Empfindung einen realen Inhalt ausdrückt, geht sie nicht über die rein subjektive Dimension der sinnlichen Wahrnehmung hinaus, ist formlos und kann keine Erkenntnis bilden. Diese tritt erst hinzu, wenn das sinnliche Material mittels einer »ursprünglichen Synthese« mit der Verstandesidee des Seins verbunden wird, die es verständlich macht und objektiviert, indem sie die sinnliche Wahrnehmung in eine »verstandesmäßige Wahrnehmung« verwandelt. Die Natur dieser Synthese bleibt zwiespältig und ahmt in gewisser Weise die Ambiguität zwischen den Begriffen des Seins und der (wenn auch nur möglichen) Existenz nach, die das ideale Sein kennzeichnet. Einerseits scheint die Idee des Seins einem an sich kognitiv dunklen sinnlichen Inhalt bloße Verständlichkeit zu verleihen, andererseits fällt sie dagegen tendenziell mit dem Vernunfturteil in eins, das die Existenz als reine Möglichkeit in die Existenz als Bestehen überführt. Im ersten Fall kommt man nicht aus dem Psychologismus hinaus, im zweiten stellen sich andere Schwierigkeiten. Wenn die Behauptung der realen Existenz durch die apriorische Idee des Seins bestimmt ist, bleibt man auf der Ebene des Phänomenismus: »Alle Gegenstände bleiben ideal; jede Wirklichkeit entzieht sich mir«, klagt Galluppi in der Tat, »und der skeptische Ausgang des Kritizismus ist unumgänglich«. 23 Wenn die »ursprüngliche Synthe23

Galluppi (21925), 283.

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se« dagegen in der Verschmelzung der Idealität des Verstandes mit der Wirklichkeit der Empfindung besteht, so versteht man nicht recht, auf welche Weise sie zustande kommt, wie Gioberti trotz Rosminis Hinweis auf »die Einheit des Menschen, die Einfachheit des menschlichen Geistes« 24 oder allgemeiner auf das in der menschlichen Wirklichkeit wirkende Gesetz des von ihm sogenannten »Synthetismus« wiederholt einwendet. Eine theoretisch stärkere Lösung liefert vielleicht erst die späte Teosofia, in der Rosmini die metaphysische Wurzel seiner Erkenntnislehre darlegt. Bei der Behandlung des »Seienden in seiner Gesamtheit« geht er in diesem Werk von der wesentlichen Einheit der Formen des Seins aus. Ideales und reales Sein erscheinen lediglich als zwei Formen ein und desselben Seins. Weniger ausdrücklich durchzieht diese Annahme allerdings Rosminis ganzes Denken. Schon im Nuovo saggio sull’origine delle idee liest man, in einem anderen Zusammenhang, dass »das Sein zwei Modi kennt« – das »subjektive« Sein, das von den Sinnen herrührt, und das »objektive«, das die Idee des Verstandes ist –, aber in Wirklichkeit »ist das Sein in den beiden Modi identisch«. 25 Später wird im Sistema filosofico betont, dass »es dasselbe Seiende ist, das sich dem Menschen zum einen als passiv erkennbar, zum anderen als das Gefühl aktiv produzierend zeigt« 26. Vor diesem Hintergrund ändert sich zudem auch die Natur der ursprünglichen Synthese. An anderer Stelle hatte Rosmini die einzige authentische Konzeption der Synthese für sich beansprucht, insofern sie Verbindung zweier unterschiedlicher Dinge, der sinnlichen Materie und der verstandesmäßigen Form sei, entgegen der kantischen, welche als Vereinigung eines Vielfältigen, das nur in seiner notwendigen Einheit erfasst werden kann, eigentlich eine verhüllte Analyse darstelle. 27 Im Sistema räumt er aber ein, dass die ursprüngliche Synthese analytisch in »einem Identitätsurteil [aufgeht], in dem durch die Idee (ihre Erkennbarkeit) eine Gleichung zwischen dem Gefühl und dem Wesen des Seins aufgestellt wird« 28. Doch ist dies nicht der einzige Unterschied zu Kant, auch wenn alle übrigen aus demselben realistischen Anliegen erwachsen. RosmiRosmini (1979), 238. Rosmini (1934), Bd. 1, § 332, 309. 26 Rosmini (1979), 238. 27 Vgl. Garin (1966), 1125: »Nach Rosmini befindet sich der Kernpunkt in der Einheit des wirklichen Subjekts, nicht in der des Denkens, wie bei Kant«. 28 Rosmini (1979), 244 f. 24 25

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ni selbst zeigt die Punkte auf, in denen sein erkenntnistheoretischer Ansatz von demjenigen Kants abweicht. In erster Linie lehnt er die transzendentale These ab, wonach die Formen a priori den Erkenntnisgegenstand »konstituieren«, was zwangsläufig zum Dualismus zwischen Phänomen und Noumenon führe. Vielmehr bringe die Idee des Seins lediglich die Bedingung der Erkennbarkeit des Gegenstandes zum Ausdruck, dessen Inhalt durch das grundlegende Gefühl bereits ganz gegeben sei, wenngleich in Form der blinden Empfindung. Im Unterschied zu Kants Annahme beschränke sich »der Anteil des Verstandes an der Erkenntnis darauf, das, was bereits im Ding ist, zur Kenntnis zu bringen, ohne ihm irgendetwas hinzuzufügen« 29. Nur so würde die Lehre des Apriori dem Realismus keinen Abbruch tun. Kant aber vermenge die Ideen mit den Dingen, die Erkenntnislehre mit der Ontologie. Mit »dieser üblichen Art, mit der er zu überzeugen denkt«, glaube er, er habe den Skeptizismus besiegt, indem er die Entsprechung zwischen dem erkannten Gegenstand und den Formen des Erkennens aufzeige, wo die antiskeptische Gewissheit doch verlange, zu zeigen, dass die Formen des Erkennens nicht den von ihnen selbst geschaffenen Begriffen, sondern den Dingen, die unabhängig vom Denken existieren, entsprechen. 30 Es gibt aber einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen Kant und Rosmini. Nach Kant entsprechen die Formen a priori in den logischen Funktionen der transzendentalen Synthese. Sie sind daher vollkommen formal und subjektiv. Rosminis Seinsidee hat dagegen einen objektiven Inhalt, der nicht vom Subjekt abhängt. Der Grundirrtum des Kritizismus, von dem alle anderen herrührten, bestehe darin, zu denken, die Sinne und das erkennende Subjekt seien die einzigen beiden Quellen der Erkenntnis. Folglich würden die universellen Erkenntnisformen, da sie nicht von Ersteren abstammen können, dem Subjekt zugeordnet. Dabei habe Kant übersehen, dass gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen Ursache und Wirkung das endliche und kontingente Subjekt nicht Sitz universeller und notwendiger Ideen sein könne. Zwar sei die Seinsidee dem Subjekt angeboren, doch komme sie nicht von ihm, sondern von der ewigen Quelle allen Seins, dem absoluten Sein. 31 Rosminis Erkenntnislehre ist also alles andere als die Fortentwicklung einer trans29 30 31

Rosmini (1934), Bd. 1, § 333, 310. Ebd., 307 f. Vgl. Rosmini (1977), Kap. V, § IV, 159–61.

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zendentalen Lehre. Sie führt de facto zu einer Lehre der Erkenntnis als Erleuchtung, in welcher der fortwährend verkündete Aristotelismus und Tomismus in Wirklichkeit durch Platon, Augustinus und vor allem durch das Itinerarium mentis in Deum von Bonaventura da Bagnoregio gefiltert sind. Die Seinsidee ist keine transzendentale Form, sondern ein lumen naturale, das »Licht der Vernunft«, das die Dinge und Ideen erkennbar macht, indem es sie mit dem Licht des Verstandes erhellt. 32 Entsprechend der platonischen Lehre deckt sich das Erkenntnisprinzip mit dem Wirklichkeitsprinzip und die Erkenntnislehre geht grundsätzlich in der Ontologie auf. Dass die Haupttrennlinie zwischen Rosmini und Kant, aus der auch die unterschiedliche Auffassung der Formen a priori resultiert, vor allem in Rosminis Abhängigkeit von einem ontologischen Prinzip besteht, wird noch klarer ersichtlich an seinem praktischen Denken, mit dem er ausdrücklich an die erst augustinische, später scholastische Tradition anknüpft, wonach ens et bonum convertuntur. Das Gute beruht auf der Erkenntnis des Seins, da es nichts anderes ist als das »Erkennen« bzw. das »Gefühl« der Vollkommenheit des Seins, das heißt der Ordnung, die das Sein im Zuge seiner Verwirklichung ausführt: »Das Sein und das Gute sind folglich dasselbe, nur ist das Gute das Sein in seiner Ordnung betrachtet, die vom Intellekt erkannt wird, der an diesem Erkennen eine Freude hat.« 33 Was die Spezifik des moralisch Guten gegenüber dem ontologisch Guten ausmacht, ist allein die Tatsache, dass es nicht nur vom Intellekt erkannt, sondern auch vom Willen gewollt wird. 34 Das moralische Subjekt hat also an der Definition des Guten keinerlei Anteil und seine Tätigkeit bei der Bestimmung der Moralität besteht allein darin, zu wollen, was ontologisch als das Gute definiert ist. Nicht von ungefähr erscheint in der Teosofia das »moralische Sein« als dritte Modalität neben dem »idealen« und dem »realen Sein«. Daraus folgt auf der ethischen Ebene der Gegensatz zwischen Rosmini und Galluppi. Denn Galluppi unterschied mit Hilfe der empiristischen Voraussetzung den theoretischen Bereich, das heißt den des Seins, der ausgehend vom Zeugnis des ursprünglichen Selbstgefühls zu beschreiben war, vom praktischen Bereich, der hingegen die präskriptive Ebene des Seinsollens betraf. Hier musste eine andere 32 33 34

Vgl. Garin (1966), 1119–1125. Rosmini (1990), 83. Vgl. ebd.

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als die empirisch-deskriptive Grundlegung zum Tragen kommen und die Bezugnahme auf den Realismus des inneren Selbstgefühls war nicht mehr ausreichend. Deshalb konnte Galluppi auf der praktischen Ebene die synthetischen Urteile a priori aufgreifen, die er auf theoretischer Ebene abgelehnt hatte. Vielmehr konnte nur der synthetische Charakter des Urteils a priori die Neuheit der normativen Dimension erklären, die sich jeder sinnlichen Wahrnehmung und folglich jeder analytischen Klärung entzieht, um eine Imperativität einzuführen, die in den Dingen nicht auffindbar ist, sondern vom Subjekt selbst gesetzt werden muss. 35 Rosmini dagegen konnte keinerlei Verständnis für eine ethische Theorie aufbringen, welche die Norm als ein dem Sein entgegengesetztes Seinsollen begriff, statt sie in der Ordnung der Dinge zu erkennen. Das kantische Autonomieprinzip, das »den Menschen vergöttlicht«, hat seines Erachtens denselben relativistischen Charakter wie die sensualistischen Moraltheorien, mit dem einzigen Unterschied, dass die Relativität hier nicht von der äußeren Umgebung, sondern vom inneren Subjekt abhängt. 36 In beiden Fällen – im sensualistischen Empirismus wie in der transzendentalen Ethik – fehlt die Bezugnahme auf das Sein, für Rosmini die einzige objektive und dauerhafte Grundlage der Moralität, zu welcher der Mensch unweigerlich eine auf der Ebene der Erkenntnis rezeptive und auf der Ebene des Willens bejahende Haltung einnehmen muss; in Kants Augen ein System der vollendeten Heteronomie der Moral.

4.

Neukantianische Renaissance und Psychologie: Carlo Cantoni

War die naive »Philosophie der Erfahrung« unempfänglich für jegliche positive Kant-Rezeption in Italien und verhinderten der empiristische Realismus von Galluppi und der ontologische von Rosmini eine wahrhaft transzendentale Lesart der Formen a priori, so könnte man meinen, dass Kants Denken einen Aufschwung erlebte, als gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch in Italien der Wind des Neukantianismus zu wehen begann. Die Bewegung, die daraus hervorging, war nämlich trotz des Banns, den Gentile über sie aussprach und der sie

35 36

Vgl. Galluppi (1827), 206. Rosmini (1990), 62–64.

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lange Zeit belastete, keineswegs unbeachtlich. 37 Grundsätzlich stimmt das. Aber auch in diesem Fall setzte der italienische philosophische Realismus, hier im Gewand des Psychologismus, der Akzeptanz der transzendentalen Perspektive klare Grenzen. Der italienische Neukritizismus wurde, genau wie der deutsche, aus der Überzeugung geboren, dass die Rückkehr zu Kant es gestatte, den festen Boden zurückzugewinnen, der infolge des idealistischen Irrwegs verloren gegangen war. Man hoffte, eine enge Verbindung zwischen der Philosophie und den Wissenschaften zu schaffen – den experimentellen wie jenen Geisteswissenschaften, die an einer Erneuerung ihrer Methodologie arbeiteten –, ohne in die Untiefen des Positivismus zu geraten. Auch der in Italien aufblühende Neukantianismus nahm den reifsten Ausdruck der neukantianischen Richtung auf, der in Deutschland mit der Reflexion von Hermann Cohen seinen Anfang nahm. Weitaus stärker wurde er jedoch durch die Kant-Interpretation in psychologistischer Perspektive beeinflusst, die eine unmittelbare Beziehung zwischen der kritischen Philosophie und der Wissenschaft bereitzustellen schien. Besonders bedeutsam waren in diesem Sinn daher die Arbeiten von Wilhelm von Helmholtz und Friedrich Albert Lange, der in der Mitte der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts Helmholtz’ Vorlesungen an der Universität Bonn besuchte. In diesen Beiträgen wurde eine »Physiologie der Sinnesorgane« vertreten, welche die kantischen Formen a priori als der Wahrnehmung zugrunde liegende psychophysiologische Strukturen deutete. 38 Große Resonanz fand außerdem Jürgen Bona Meyer, der nicht nur die kritische Philosophie psychologistisch interpretierte, sondern auch hervorhob, dass allein diese Lesart die Vagheit der Metaphysik vermeide und auf dem Boden des Realismus und der Wissenschaft stehe. 39 Die Italiener waren also für das, was man als »Zauber der Psychologie« 40 bezeichnet hat, sehr empfänglich. Vgl. Gentile (1957), 3–10. In Beziehung auf die berühmte Rede Ueber das Sehen des Menschen, die am 27 Februar 1855 in Königsberg gehalten wurde (Helmholtz [2002], 85–117), schrieb Helmholtz an seinen Vater: »Ich habe letzten Dienstag zum besten des Kant-Denkmals einen Vortrag über das Sehen des Menschen gehalten, worin ich die Übereinstimmung zwischen den empirischen Tatsachen der Physiologie der Sinnesorgane mit der philosophischen Auffassung von Kant und auch von Fichte namentlich deutlich zu machen suchte« (zitiert bei Köhnke [1993], 152). 39 Mayer (1857), 401. 40 Salvucci (1989), 44. 37 38

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Deutlich kommt diese Richtung im Werk Carlo Cantonis zum Ausdruck, der zwischen 1879 und 1884 die wichtigste Monografie der Zeit zu Kants Denken in drei Bänden vorgelegt hat. 41 Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Bona Meyer wirft Cantoni Kant vor, den verhängnisvollen Fehler begangen zu haben, die psychologische Erklärung aus seiner Untersuchung zur Erkenntnis auszuklammern und sich in einem »aprioristischen Formalismus« 42 zu verschließen. Er schließt die Möglichkeit eines reinen Apriori aus und begrüßt stattdessen das »gemischte Apriori«, auf das auch Kant anspielt, ohne indes real Gebrauch davon zu machen. Doch das gemischte Apriori Cantonis geht über das kantische weit hinaus und überträgt sich in eine wahre Rechtfertigung der psychologischen Entstehung der Erkenntnis. Cantoni unterscheidet nämlich zwischen »logischem« und »psychologischem« Apriori (bzw. Aposteriori). Was ein logisches Apriori ausmache, sei nicht zwangsläufig auch ein psychologisches Apriori. Wie in der Mathematik seien die allgemeingültigen und notwendigen Prinzipien, die unter logischem Gesichtspunkt als a priori gelten, von Verallgemeinerungen der Erfahrung abgeleitet; aus diesen sei die psychologische Gewissheit ihrer Notwendigkeit hervorgegangen, so dass sie unter psychologischem Gesichtspunkt a posteriori seien. Natürlich betrifft dieser Vorgang in erster Linie den Bereich der Sinnlichkeit. Auf den »Impuls« der sinnlichen Tatsachen hin »vollziehen sich in uns allgemeingültige und notwendige Prinzipien«, das heißt »gewisse Denkweisen […] denen wir dann aus psychologischer Notwendigkeit diese Tatsachen anpassen, indem wir alle Begriffe des gemeinen wie des wissenschaftlichen Wissens aus ihnen ziehen«. 43 Es entsteht also ein Kreislauf, wonach bestimmte Erfahrungen psychologische Prozesse in Gang setzen, die ihrerseits logische Prinzipien befestigen, auf deren Grundlage man wiederum die sinnlichen Tatsachen interpretiert. Zum Beispiel entsteht die Vorstellung des Raumes aus der Wahrnehmung begrenzter Räume mittels des Seh- und Tastsinns. Diese ermöglicht dann, durch die geistige Reflexion erhellt, die Bildung des Begriffs von einem unendlichen Raum, der als notwendig gilt, um die relativen Räume als Einschränkungen eines einzigen Raumes zu deuten. Der Raum – und dasselbe gilt für die Zeit – kann folglich mit Kant als reine Anschauung be41 42 43

Cantoni (21907); Bd. 1 (1879); Bd. 2 (1883); Bd. 3 (1884). Cantoni (21907), Bd. 1. Ebd.

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trachtet werden, insofern er die allgemeingültigen Kriterien liefert, um jedem bestimmten Raum einen Platz zuzuweisen. Sein Ursprung ist aber nicht rein, weil er nicht unabhängig von der Erfahrung vom Subjekt herrührt, sondern aus einer empirischen und psychologischen Quelle entspringt. Dank dieser Psychologisierung lassen sich Cantoni zufolge die verschiedenen Dualismen von Kants Denken überwinden, die allesamt aus dem grundlegenden Dualismus zwischen dem Apriori und dem Aposteriori folgen – allen voran der zwischen Form und Materie. Wenn die Prinzipien logisch a priori, psychologisch dagegen a posteriori sind, weil sie aus in der sinnlichen Erfahrung verankerten psychologischen Gewissheiten entstehen, dann bilden die formale und die materielle Dimension ursprünglich eine einzige Wirklichkeit, die sich erst durch die Abstraktion der Prinzipien von dem Sinneszusammenhang, dem sie entsprungen sind, in zwei Hinsichten scheidet. So kann zum Beispiel die Form des Raumes von dem materiellen Aspekt der Seh- und Tastwahrnehmungen, die sie hervorbringen, nicht getrennt werden. 44 Diese Gleichsetzung hat jedoch äußerste Folgen für die Phänomenisierung: Wenn die Form des Gegenstandes nicht die Folge einer Anwendung der subjektiven Strukturen auf den materiellen und sinnlichen Inhalt ist, sondern diesem Inhalt innewohnt, dann heißt das, wie unten noch genauer zu zeigen sein wird, dass sich durch die Erkenntnisform die Wirklichkeit irgendwie offenbaren muss, nicht wie sie vom Subjekt konstituiert wird, sondern wie sie an und für sich ist. Aus ähnlichen Gründen entfällt auch der Dualismus zwischen Sinn und Verstand. Da der formale Erkenntnisapparat aus der Erfahrung und den aus ihr hervorgehenden psychologischen Vorgängen entsteht, erlangt die Sinnlichkeit eine erstrangige Bedeutung als Ursprungsort des Erkenntnisprozesses. Da weiter die Formen a priori nicht vom Subjekt ausgehen, sondern letztlich eine reflektierte Bewusstwerdung der empirisch-psychologischen Prozesse sind, die das Subjekt prägen, steht der Verstand nicht im Gegensatz zur Sinnlichkeit, sondern bildet eine Klärung der Sinnlichkeit durch die Reflexion. Die Sinnlichkeit »intellektualisiert sich gewissermaßen«. Der Verstand bildet weniger ein unterschiedenes Vermögen als vielmehr die neue Modalität, in welcher der durch die Reflexion über sich selbst veränderte Sinn dahin gelangt, »sich, seiner Natur entspre44

Vgl. z. B. ebd., 133 f.

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chend, die Dinge nach gewissen Kombinationen und Verbindungen vorzustellen, die er für sich allein niemals hätte herstellen können« 45. Was den Verstand von der Sinnlichkeit unterscheidet, ist das »wahre reflektierte Bewusstsein«, ohne das ein rein sinnliches Wesen nicht zur Verallgemeinerung der aus der Erfahrung zu entnehmenden Prinzipien gelangen kann. Unter Anwendung eines regressiven Verfahrens verfolgt Cantoni die Verbindung zwischen Sinn und Verstand bis zum Prinzip der transzendentalen Apperzeption zurück, von dem der gesamte Erkenntnisprozess logisch abhängt. Wenn man unter logischem Gesichtspunkt von der Apperzeption ausgehen müsse, um die sinnliche Synthese mittels der Einbildungskraft, das heißt der Projektion des Verstandes auf die Sinnlichkeit, zu erklären, so müsse der Prozess genetisch gesehen jedoch umgekehrt werden. Folge man nämlich »dem natürlichen Gang unseres Geistes«, so enthielten die Empfindungen, wenngleich implizit, nicht nur das Material der Erkenntnis, sondern auch die Bedingungen für dessen formale Entfaltung in sich. Die transzendentale Ästhetik hat also deutlich Vorrang vor der Analytik (und diese ihrerseits vor der Dialektik, die lediglich ihre Fortentwicklung ist, womit auch der Dualismus zwischen Verstand und Vernunft ausgeräumt wird). Dagegen führe die Umkehrung dieser Logik – mit der Folge des Vorrangs der Analytik und der transzendentalen Apperzeption gegenüber der Ästhetik und der Sinnlichkeit – unvermeidlich auf idealistische Abwege, die Kants Ansatz de facto bereits enthalte. Im Grunde beschreitet Cantoni aufgrund seiner realistischen Forderung in durchdachterer Form denselben Weg, der Galluppi dazu geführt hatte, im Verstand und seiner formalen Tätigkeit wenig mehr als einen Klärungsprozess der sinnlichen Erfahrung zu sehen. Die Aufhebung des Abstands zwischen reinen Anschauungen und Kategorien war freilich in der neukantianischen Tradition ebenso wenig neu wie die Zusammenführung von Materie und Form. Schon Cohen hatte diese Gedanken vertreten und mindestens der Marburger Schule als Erbe hinterlassen. 46 Doch hatte diese Operation bei ihm Ebd., 177. Cohen (31983), 203: »Wo ist denn die Materie zu allererst gegeben? Wo ist das a posteriori selbst, mit dem alle unsere Erkenntnis anhebt, entsprungen? Ist sie etwa gleich dem Marmor, vorher da, ehe sie eine Form empfangen? Ist sie nicht vielmehr erst in der ganzen Erscheinung da, also innerlich in und mit und der Form verbunden, aus der Wirkung auf unsere Sinnlichkeit hinterher heraus analysirt? So ist denn Beides nur in uns in allem Anfang gegeben – als Ganzes einer Erscheinung«.

45 46

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eine völlig andere Bedeutung als bei Cantoni. Durch die Reform der kantischen »Aprioritätslehre« strebte Cohen eine Mathematisierung der (auf die wissenschaftliche Erkenntnis reduzierten) Erfahrung an, wobei der Erkenntnisgegenstand von den Formen a priori nicht nur »bestimmt«, sondern in voller Übereinstimmung mit den mathematischen Begriffen »konstruiert« wurde. Das Element a posteriori wurde seiner ursprünglichen Faktizität beraubt und – nicht zuletzt dank einer verzerrten Interpretation von Kants Satz, »daß wir nähmlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen« 47 – als eine Hervorbringung des Apriori gesehen. Als echter Psychologist tat Cantoni genau das Gegenteil. Da für ihn das Aposteriori das Ursprüngliche war, suchte er darin die Strukturen a priori – oder wenigstens die Wurzel solcher Strukturen –, die den formalen Apparat bereitstellen konnten, um das Aposteriori rational zu begreifen. Aus der Zusammenführung von Sinnlichkeit und Verstand und von Materie und Form folgt die Aufhebung des wichtigsten Dualismus: des Dualismus zwischen Phänomen und Noumenon – wiederum mit einem Ergebnis, das im Gegensatz zu den Absichten der Marburger stand. Wenn die Sinnlichkeit eine noch unreflektierte Wirklichkeit unmittelbar erfasst und der Verstand nur eine reflektierte Bewusstmachung der Sinnlichkeit ist, dann müssen die Kategorien – die Formen a priori des Verstandes, die den Gegenstand konstituieren – ganz anders als bei Kant vorkommen. Zum einen befinden sie sich bereits in dem »absoluten Wirklichen«, das sich der Sinnlichkeit darbietet; zum anderen müssen sie aufgrund von Gesetzen, die nicht nur dem Subjekt, sondern der gesamten, das Subjekt selbst einbegreifenden Wirklichkeit innewohnen, erklären, warum dieses absolute Wirkliche der menschlichen Erkenntnis auf bestimmte Weise erscheint. Anders gesagt muss es eine wesentliche Übereinstimmung geben zwischen »den Gesetzen, nach denen unser Denken uns das Wirkliche vorstellt, und der Weise, in der dieses Wirkliche an sich absolut existiert« 48. Wenn »unsere Einsicht«, das heißt die Klärung des Sinnes durch den Verstand, »den höchsten Grad ihrer Entfaltung erreicht hätte, dann wäre das Phänomen im Prinzip entweder das Noumenon selbst oder es wäre das Noumenon, so wie es uns nach den allgemeinen Gesetzen der absoluten Wirklichkeit erscheinen 47 48

Kant (1787), B XIII. Vgl. unter anderem Cohen (31983), 124; 130; 142; 216. Cantoni (21907), Bd. 1, 208.

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muss, zu der wir selbst gehören«. Gleich ob das Phänomenon im Noumenon aufgeht oder bei Unterscheidung der beiden Ebenen das Phänomenon als Erscheinung des Noumenon gemäß den notwendigen Gesetzen der Wirklichkeit und nicht nur des Subjekts gilt, ist jedenfalls klar, dass das Phänomen »ein notwendiger Teil des Noumenon ist« 49. Würden die Kategorien umgekehrt nur von der synthetischen Tätigkeit des Subjekts abhängen und hätte das durch sie gebildete Phänomen keine Entsprechung im Noumenon, dann gäbe es keinen Grund, um nicht nur die Form, sondern auch die Materie der Erkenntnis vom Subjekt herzuleiten, und man geriete unweigerlich in den »Bann des Idealismus«. Die Ablehnung des Dualismus zwischen a priori und a posteriori und die daraus folgende Kritik am Formalismus liegen auch der von Cantoni unternommenen Revision der kantischen Ethik zugrunde. 50 Er ist nämlich der Ansicht, dass die moralischen Prinzipien nicht nur formaler, sondern auch materieller Art seien. Der formale Aspekt reduziert sich auf das »feierliche Prinzip der Pflicht um der Pflicht und des Gesetzes um des Gesetzes willen« 51, also darauf, dass das moralische Gesetz an sich gebietet, ohne eine Nebenabsicht. Doch muss der sich so äußernde moralische Wille zwangsläufig einen materiellen Gegenstand haben, er kann nicht rein formal sein. »Wollen, das reines Wollen ist, ist absurd; auch Vernunft, die nur Vernunft ist, ist absurd. Wenn man also sagt, das moralische Wollen sei vernunftgemäß, dann sollte man auch sagen, welchen Vernunftgegenständen dieses Wollen gemäß sein soll und das eine wie das andere Vermögen heteronom bestimmen« 52. Der materielle Inhalt der Moral »ist nichts anderes als die höchste Einheit, die perfekte Übereinstimmung der Vernunftwesen« 53. Dieser Inhalt ist ursprünglich durch ein Gefühl gegeben, das die Vernunft dann erhellt und zugleich mit einer allgemeingültigen Grundlage versieht. Auch auf der praktischen Ebene kehrt somit die Vorstellung wieder, dass die Inhalte des Wissens durch die Erfahrung gegeben seien (im theoretischen Bereich durch die Sinnlichkeit, im moralischen durch das Gefühl) und die Funktion der formalen Vermögen – dort der Verstand, hier die Vernunft – nur Ebd., 211. Über die Relevanz des italienischen Neukantianismus, was die Moral angeht, vgl. Ferrari (2006), bes. 26–31. 51 Cantoni (21907), Bd. 2, 226. 52 Ebd., 240. 53 Ebd., 232. 49 50

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darin bestehe, ihre Klärung herbeizuführen, die zugleich ihre Verallgemeinerung und Rechtfertigung einschließt. Doch auch hier läuft die Überwindung des Dualismus zwischen a priori und a posteriori, Form und Materie, Vernunft und Gefühl in der Leugnung der Zweiheit von Phänomen und Noumenon zusammen. Kants Gegenüberstellung zwischen der Autonomie eines noumenischen moralischen Willens und der Heteronomie einer phänomenischen Sinnlichkeit wird vollständig aufgegeben. Das Phänomen (die durch das Gefühl gegebene Moralität) und das Noumenon (das moralische Gesetz der Vernunft) sind ein und dasselbe, ersteres in seinem ursprünglichen und unreflektierten Moment betrachtet, letzteres in seiner vollkommenen Bewusstheit und rationalen Begründung.

5.

Ein Ausgleichsversuch: Felice Tocco

Cantonis psychologistische Kant-Interpretation ist der transzendentalen Philosophie nicht sehr treu. Nicht ohne Grund rückte Felice Tocco ihn »mehr auf die Seite der Gegner als der Anhänger« 54 Kants. Noch mehr aber entfernten sich diejenigen von Kants Text, die der psychologistischen Lesart überdies aufgrund expliziter Einflüsse oder allgemeiner Anregungen durch Spencer und Darwin eine genetischevolutionistische Wendung verliehen. 55 Sogar ein reuiger Hegelianer wie Francesco Fiorentino, der aus der Schule Spaventas kam und wie viele andere in Kant eine Vermittlung zwischen Idealismus und Positivismus suchte, ließ sich von Spencer verlocken. In der Erstausgabe der Elementi di filosofia von 1877 stellte er zwar »die Unmöglichkeit jeder empirischen Deduktion für Zeit und Raum« 56 fest. Doch deutete er drei Jahre später – in Wirklichkeit allerdings nur in einer Anmerkung, der vielleicht zu viel Bedeutung beigelegt wurde 57 – an, dass das kantische Apriori womöglich durch die Lehren des Assoziationismus auf der einen und des Evolutionismus auf der anderen Seite eine bessere Erklärung erhalte. Aufgrund dieser Theorien »wäre das Apriori des Individuums das, was für die Gattung a posteriori ist« 58. Bleibt die

54 55 56 57 58

Tocco (1909), 50 f. Vgl. Ferrari (1990). Fiorentino (1877), 34. Vgl. Ferrari (1990), 207. Fiorentino (1880), 31, Fn. 1.

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spencersche »Konversion« von Fiorentino indes fraglich – noch 1881 sprach er sich für Kant gegen Spencer aus –, so ist die Position seines Schülers Giuseppe Tarantino dagegen ein klares Bekenntnis. 1880 versuchte er, die empiristische Theorie von Helmholtz mit den genetischen Theorien von Spencer zu verbinden, um das Apriori in entschieden evolutionistischem Sinn zu erklären. 59 Wenige Jahre später, 1885, schritt Giovanni Cesca auf demselben Weg fort und erblickte in Spencers evolutionistischem Positivismus, den er bezeichnenderweise »neuen Kritizismus« nannte, die wahre Vollendung der kantischen Philosophie. De facto rettet sich von ihr nur die Form a priori der Erkenntnissynthese, die jedoch nicht mehr als transzendentale Funktion, sondern als Ergebnis eines bestimmten menschlichen Entwicklungsprozesses betrachtet wird. 60 Gegen diese reduktionistischen Versuche erhoben sich viele Gegenstimmen, wie die Alessandro Chiappellis, 61 der ausdrücklich auf Tarantino antwortete, Filippo Mascis, 62 vor allem aber Felice Toccos, der ein Lehrer des Erstgenannten war und mit Letzterem, mit dem ihn eine lange intellektuelle Gemeinschaft in Bologna verband, die gleiche kulturelle und geografische Herkunft teilte: Beide waren Neapolitaner und kamen aus der Schule von Spaventa. Alle drei Autoren unternahmen eine aufrichtige Anstrengung, um zu einer Kant-Interpretation zurückzukehren, die sich in den Bahnen des Kritizismus hielt. Nichtsdestotrotz waren sie sich – mit unterschiedlichen Akzentsetzungen, die hier übergangen werden können – darüber im Klaren, dass das Fehlen einer psychologischen Analyse der Wahrnehmung bei Kant eine erhebliche Begrenzung seiner Erkenntnislehre bedeutet hat. Für diese Spannung zwischen dem Anspruch, die Rechte der Psychologie und der experimentellen Wissenschaft anzuerkennen, und dem Vorhaben, die Autonomie des transzendentalen Ansatzes zu bewahren – ebenfalls zum Zweck der Verteidigung des wissenschaftlichen Wissens – ist der Fall Felice Toccos besonders exemplarisch. Tocco grenzt das psychologische Problem der Entstehung der Erfahrung klar gegenüber dem kritischen der Grundlegung der Erkenntnis, das heißt der Suche nach ihren Möglichkeitsbedingungen 59 60 61 62

Vgl. Tarantino (1880), 430–448. Cesca (1885). Chiappelli (1880). Masci (1881).

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ab. In der transzendentalen Ästhetik neige Kant dagegen dazu, beide Ebenen zu vermischen, indem er den Bildungsprozess der Erfahrung zu erklären suche, ohne auf die Psychologie zurückzugreifen. Daraus ergebe sich eine Reihe von Problemen, die ungeklärt blieben: Die Grundlage der Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Sinn (warum fallen gewisse Phänomene unter den einen und andere unter den anderen?), zwischen Materie und Form (warum kommt die Materie vom äußeren Gegenstand und die Form vom inneren Subjekt?) und zwischen a priori und a posteriori (warum haben Tiere eine räumliche Wahrnehmung, obwohl sie keine Formen a priori haben?). Vor allem aber mache der Versuch, auf der kritischen Ebene zu erklären, was auf der psychologischen erklärt werden müsste, Kants Lehre der reinen Anschauungen unwirksam. Sicher sei die reine Anschauung für die Entwicklung der mathematischen Konstruktionen notwendig, aber das bedeute nicht, meint Tocco in Übereinstimmung mit Cantoni, dass sie »jeder Erfahrung vorausgehen muss«. Er geht sogar weiter als Cantoni und stellt in Frage, dass sie »an der Bildung der Erfahrung mitwirken müsse«, denn die Anschauungen von Raum und Zeit im Allgemeinen würden zwar als Abstraktionen aus der Erfahrung begriffen, seien aber keine Bedingungen für die Bestimmung des relativen Raumes. 63 Deshalb gibt Tocco der Darstellung der Prolegomeni, wo das Problem »hauptsächlich kritisch [ist], nämlich zu untersuchen, welches die Bedingungen der Gültigkeit der Mathematik sind«, vor der transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft den Vorzug, wo das Problem »vielmehr psychologisch [sein müsste], nämlich zu untersuchen, welches die Elemente des intuitiven Erkennens bzw. der Wahrnehmung sind«. 64 Die kritische Frage, bei der es um die Untersuchung der Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis geht, ist dagegen zu Recht der zentrale Punkt der Kritik. Das Kernstück des Problems ist die Vereinigung, welche die Bestimmung des Erkenntnisgegenstandes ermöglicht. Doch Tocco betont fortwährend, dass diese Vereinigung auf zwei Ebenen stattfinde: Nicht nur auf der letztlich maßgeblichen der verstandesmäßigen Vereinigung mehrerer Anschauungen in einem Begriff, sondern auch auf der gewissermaßen anfänglichen der sinnlichen Vereinigung mehrerer Anschauungen in einer Wahr-

63 64

Tocco (1909), 46. Ebd., 47.

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Realismus versus Transzendentalismus

nehmung. 65 »Hätte Kant sich dieser Untersuchung zugewandt, so wäre die Analytik ein Teil der Ästhetik geworden; denn wer sagt uns, dass nicht auch auf dieser ersten Stufe der Erkenntnis, die wir Wahrnehmung zu nennen pflegen, Urteile vorkämen?« 66. Auch Tocco unternimmt also, genau wie Cantoni, eine regressive Rekonstruktion des Erkenntnisprozesses, die von der Wahrnehmung zum Verstand führt, das heißt von der untersten Form der Synthese, derjenigen der Apprehension, bis zur höchsten, der Synthese der transzendentalen Apperzeption. Doch die Bedeutung des Vorgehens kehrt sich um. Cantoni, der die Thesen von Helmholtz und Lange in vereinfachter Form ausarbeitete, glaubte, dass der gesamte synthetische Prozess, einschließlich der transzendentalen Apperzeption, bereits irgendwie in der Sinnlichkeit angelegt sei und nur darauf warte, mit Hilfe der Reflexion expliziert zu werden. Als aufmerksamer Leser Cohens hält Tocco die sinnliche Wahrnehmung dagegen nur für die erste Anwendung eines synthetischen Vorgangs, der in der transzendentalen Apperzeption verankert ist. Anders gesagt versuchte Cantoni die Kritik auf der Basis des psychologischen Anliegens zu revidieren, das Kant ausgespart hatte, während Tocco sich von dieser Ebene abwandte, nachdem er zur Kenntnis genommen hatte, dass das wahre Problem nicht die psychologische Erklärung war, die es bei Kant nicht gab und nicht geben konnte. Stattdessen rekonstruierte er den gesamten Prozess ausschließlich unter dem kritischen Gesichtspunkt. So werden auch die Anschauungen a priori, die Kant noch auf zweideutige Weise konzipierte, manchmal mehr als förmliche Sinnlichkeitsgefäße denn als Vereinigungsfunktionen, von jeder kryptopsychologischen Analyse befreit und ausschließlich auf den transzendentalen Vereinigungsprozess bezogen. Dies erklärt, warum Tocco im Unterschied zu Cantoni die zweite Ausgabe der Kritik der ersten und natürlich die Analytik der Ästhetik vorzieht. Es erklärt aber auch, warum er im Unterschied zu Cantoni nicht Gefahr läuft, bei der Interpretation des Noumenon, das er rigoros auf seine negative Natur eines Grenzbegriffs zurückführt, in die Metaphysik zurückzuverfallen. 67 In dieser Kant-Auslegung durch Tocco ist sicher Riehls und vor allem Cohens Einfluss erkennbar. Aber paradoxerweise verdankt sich die Tatsache, dass er unter den italienischen Neukantianern dem 65 66 67

Vgl. z. B. ebd., 68–70. Ebd., 48. Vgl. ebd., 110.

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Massimo Mori

Geist der kritischen Philosophie wohl am ehesten treu blieb, seiner Herkunft von Bertrando Spaventa, den Tocco für einen auch von Cantoni verkannten Vorläufer Cohens hielt. 68 Bekanntlich machte Spaventa in seinem Entwurf zur Revision des Hegelismus einen Circulus virtuosus ausfindig, wonach sich Kant erst im späteren Idealismus »bewahrheite« und andererseits die hegelsche Dialektik im Lichte der Lehre des Denkaktes reformiert werden müsse, deren ursprünglicher Kern in Kants transzendentaler Apperzeption zu finden sei. Obwohl Tocco sich zwischenzeitlich vom Idealismus Spaventas losgesagt hat, treten verschiedene Affinitäten zur Grundthese von Kant e l’empirismo zutage, wo sein Lehrer in der Polemik gegen die psychologisierenden Kant-Interpretationen daran erinnerte, dass die Empfindung nicht physiologisch erklärt werden könne, sondern stets einen »potenziellen Akt« voraussetze, der letztendlich auf die grundlegende synthetische Tätigkeit des Geistes zurückzuführen sei. 69 Tocco hatte auch La filosofia di Kant gegenwärtig, worin Spaventa Kants gesamtes Denken um die Funktion des synthetischen Urteils kreisen ließ, die einzige Bedingung, um die empirische Anschauung in einen Begriff zu verwandeln, und folglich die einzige Bedingung, um der experimentellen Philosophie eine echte Grundlage zu verschaffen. 70 Diese Sichtweise kommt – mit Anklängen an schon überwundene kulturelle Haltungen – auch in Toccos Feststellung zum Ausdruck, wonach Kants Philosophie »eine synthetische Kraft im Geist anerkennt, die eine Bedingung und kein Ergebnis der Erfahrung ist« 71. So wird in einem Kurzschluss, wie er in der italienischen Philosophie vielleicht nicht selten ist, eine tendenziell idealistische Annahme zurechtgebogen, um die epistemischen Bedingungen einer konkreten und wissenschaftlichen Kenntnis zu definieren, um also zumindest lato sensu eine realistische Position zu verteidigen. Übersetzung von Leonie Schröder

68 69 70 71

Ebd., 54 f. Spaventa (1972b), 276. Spaventa (1972a), 182 f. Tocco (1909), 172.

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Realismus versus Transzendentalismus

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Croces Deutung der Hegel’schen Dialektik Elena Ficara

Im Folgenden werde ich Bendetto Croces Deutung der Hegel’schen Dialektik in Ciò che è vivo e ciò che è morto della filosofia di Hegel 1 rekonstruieren sowie auf ihre Rezeption und auf ihre Aktualität in heutigen Diskussionen im Bereich der Semantik der Negation hinweisen.

1. 1.1.

Lebendiges in Hegels Philosophie Die Logik der Philosophie

Croce unterscheidet bekanntlich das, was von der Hegel’schen Philosophie »tot« ist von dem, was an ihr noch »lebendig« ist. Das Lebendige der Hegel’schen Philosophie ist das, was man als ihren »metaphilosophischen« Ansatz definieren könnte, nämlich – wie Croce bemerkt – die Tatsache, dass Hegel »die Philosophie selbst zum Gegenstand seines Denkens gemacht hat.« »Hegel è uno di quei filosofi che hanno fatto oggetto del loro pensiero […] la filosofia stessa, contribuendo così a elaborare una logica della filosofia«. 2

Somit hat Hegel dazu beigetragen, das, was Croce »Logik der Philosophie« nennt, zu entwickeln. Die Idee einer Logik der Philosophie stimmt mit der Auffassung der Logik als »Philosophie der Philosophie« überein oder, um einen Fichte’schen Ausdruck zu verwenden, Wissenschaftslehre. Wie Claudio Cesa in seiner Notiz zur neuen Auflage von Croces Ciò che è vivo e ciò che è morto della filosofia di Hegel bemerkt, 3 hat die Idee, dass 1 2 3

Croce (1906). Ebd., 11. Cesa (2006), 450 f.

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Elena Ficara

die spezifisch idealistische Logik mit der Logik der Philosophie oder einer »Philosophie der Philosophie« übereinstimmt, eine lange Tradition. Sie wurde bereits von Kuno Fischer im System der Logik und Metaphysik oder Wissenschaftslehre 4 entwickelt. Auch Windelband greift in Was ist Philosophie? 5 mit dem Ziel auf sie zurück, den spezifischen Charakter der modernen Philosophie vor Augen zu führen. Somit hat Hegel laut Croce dazu beigetragen, die Frage zu beantworten »Welche ist die Natur des philosophischen Denkens? Welche sind die spezifisch philosophischen Gegenstände und welche die Methode der Philosophie?«. Das philosophische Denken wird von Hegel – so Croce – als das »konkrete Allgemeine« definiert. Dies bedeutet, dass die Philosophie einen dreifachen Charakter hat: sie ist 1) begrifflich, 2) allgemein und 3) konkret. 1) Dass sie begrifflich ist, bedeutet, dass die Philosophie rational bzw. logisch ist, und sich als solche sowohl von der Mystik als auch vom unmittelbaren Wissen unterscheidet. Das philosophische Denken hat nicht einen psychologischen, sondern einen begrifflichen und logischen Charakter. 6 2) Dass sie allgemein ist, heißt, dass sie eine besondere Form der Allgemeinheit einschließt und sich als solche von den Natur- und empirischen Wissenschaften unterscheidet, welche mit »allgemeinen Vorstellungen« (wie »Haus« oder »Pferd« die aus Abstraktionen resultieren) zu tun haben. 7 Aus diesem Grund betont Croce, dass das philosophische Denken allgemein im Sinne von universell (universale) und nicht von generell (generale) ist. 3) Dass sie konkret ist, bedeutet, dass die Philosophie mit Begriffen operiert, die die Realität darstellen. Ihre Entwicklung entspricht der reellen Entwicklung und nicht einem arbiträren Verfahren: »Le astrazioni filosofiche non sono arbitrarie ma necessarie, e perciò si adeguano al reale, e non lo mutilano o falsificano.« 8 Anders als die Mathematik, die ihre Begriffe nicht aus der Erfahrung entnimmt, sondern konstruiert, und die Croce deswegen als eine »willkürliche Wissenschaft«, als eine »Skelettierung der Realität« definiert, ist die Philosophie notwendig. Die Abstraktionen der Philosophie folgen

4 5 6 7 8

Fischer (21865). Windelband (91924). Croce (1906), 13 f. Ebd., 14. Ebd.

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Croces Deutung der Hegel’schen Dialektik

nämlich der Natur und Bewegung der natürlichen Sprache und haben das Ziel, das, was ist, zu begreifen. 9

1.2.

Die Dialektik als Lehre der Entgegengesetzten (»opposti«)

Hegels zweite entscheidende Entdeckung ist laut Croce die Konzeption der Dialektik als eine Lehre der Entgegengesetzten. 10 Sie unterscheidet sich hierbei von einer bloßen Lehre der coincidentia oppositorum, da sie nicht nur von der Einheit, sondern auch von der echten Entgegensetzung Rechnung trägt. 11 Hegel – so Croce – konzipiert das Verhältnis zwischen Entgegengesetzten als aus drei Elementen oder Momenten bestehend. In ihm ist das Verhältnis des zweiten zum ersten als Negation, des dritten zum zweiten als Negation der Negation, des Dritten zum Ersten als Aufhebung (nämlich als Überwindung und Bewahrung) bestimmt. Auch wenn Hegel über die Dialektik als eine Dreiheit spricht, äußert er sich gegen jegliche Form des Symbolismus. Somit ist laut Croce eine mystische bzw. religiöse Interpretation der Hegel’schen Dialektik irreführend. 12 Laut dem italienischen Philosophen ist die Konzeption der Dialektik als Lehre der Entgegengesetzten (opposti) in der Natur des philosophischen Denkens und des philosophischen Begriffs als das konkrete Allgemeine verwurzelt. Croce unterstreicht diesbezüglich, dass es bei der dialektischen Synthesis nicht um drei sondern um einen einzelnen Begriff geht, nämlich um den philosophischen Begriff bzw. das konkrete Allgemeine. So sind z. B. im Fall des Verhältnisses zwischen Sein und Nichts am Anfang der Hegel’schen Wissenschaft der Logik Sein und Nichts isoliert betrachtet nicht zwei Begriffe, sondern bloße Abstraktionen; erst das Werden, nämlich der Kampf zwischen Sein und Nichts ist der eigentliche philosophische Begriff. Dies Ebd. Wie sich im Folgenden klarer herausstellen wird, heißen opposti (Entgegengesetzte) bei Croce explizit Elemente innerhalb eines Begriffs, die sich zueinander kontradiktorisch und nicht bloß konträr entgegensetzen, d. h. bei denen das eine die logische Negation des anderen ist. Croce benutzt daher wiederholt in Ciò che è vivo … die Redewendung: »opposizione o contradizione«. Vgl. z. B. Croce (1906), 28. 11 Vgl. Croce (1906), 22 f.: »Hegel chiama la sua dottrina circa gli opposti la dialettica, rifiutando, come atte a ingenerare equivoci, le altre formule dell’unità e della concidenzia degli opposti, perché in queste si dà rilievo all’unità e non già anche, insieme, all’opposizione«. 12 Ebd., 23. 9

10

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impliziert, dass der philosophische Begriff eine komplexe Struktur darstellt, die in sich verschiedene und in echtem Konflikt stehende Elemente trägt, Elemente die – wie im Folgenden klar zur Geltung kommen wird – nicht bloß als Unterschiedene sondern als kontradiktorisch Entgegengesetzte aufgefasst werden. Aus diesem Grund schreibt Croce: »Una paura irragionevole di fronte alla dialettica hegeliana è che, con tale logica, venga sottratta all’uomo la base stessa, o la regola, del suo pensiero: il principio di identità e contradizione.« 13

Daher stellt sich die Frage, ob die Dialektik – so gefasst als eine Lehre der kontradiktorischen Gegensätze – eine Kritik am Satz vom Widerspruch und am Satz der Identität impliziert. »Hegel non nega il principio di identità perché altrimenti avrebbe dovuto ammettere che la sua teoria logica sia vera e non vera insieme, vera e falsa […] e tutta la sua polemica, la sua filosofia, non avrebbe più nessun significato, non sarebbe stata fatta sul serio; laddove non ci vuol molto ad avvedersi che è serissima.« 14

Hegel kritisiert somit laut Croce nicht den Satz der Identität und den Satz vom Widerspruch, sondern vielmehr deren fehlschlüssigen Gebrauch, einen Gebrauch, der darin besteht, dass man entweder nur an der Einheit der Entgegengesetzten festhält und dabei deren Entgegensetzung vergisst, oder dass man nur an deren Entgegensetzung festhält und dabei die Einheit streicht. »Hegel nega fede semplicemente al fallace uso del principio di identità: all’uso che se ne fa dagli astrattisti, col ritenere l’unità cancellando l’opposizione e col ritenere l’opposizione cancellando l’unità.« 15

Die Wurzel des abstrakten, fehlschlüssigen Gebrauchs des Satzes der Identität ist die Einsicht, dass der Widerspruch einen Mangel darstellt, der beseitigt werden muss. Dagegen ist der Widerspruch – so Croce – das wahre Wesen der Dinge. Erst diese spezifisch Hegel’sche Auffassung erlaubt, vor Augen zu führen, dass der Satz der Identität darin besteht, die Entgegensetzung nur dadurch zu überwinden, dass man sie gedanklich erfasst:

13 14 15

Ebd., 28. Ebd. Ebd., 28.

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Croces Deutung der Hegel’schen Dialektik

»Quell’uso ha luogo, perché non si vuol riconoscere che l’opposizione o contradizione non è già un difetto […] ma è l’essere vero delle cose: tutte le cose si contradicono in loro stesse, e il pensiero è il pensiero della contradizione. Il che vale a stabilire davvero e saldamente il principio d’identità, che trionfa dell’opposizione col pensarla.« 16

2. 2.1.

Totes in Hegels Philosophie Das Problem der Unterschiedenen (»distinti«)

Hegels große Errungenschaft ist daher laut Croce die Ansicht, derzufolge das konkrete Allgemeine heterogen ist, d. h. Entgegensetzungen in sich enthält. Dennoch hat Hegel nicht klar genug zwischen Unterschiedenen, die Croce distinti nennt, und Entgegengesetzten (opposti) unterschieden. Hierin liegt, so Croce, das gravierende Problem der Hegel’schen Philosophie. Insbesondere läuft die Dialektik darauf hinaus, jeglichen Unterschied als eine Entgegensetzung zu interpretieren. »Hegel non fece, fra teoria degli opposti e teoria dei distinti, la distinzione importantissima, che io mi sono sforzato di dilucidare […] Teoria degli opposti e teoria dei distinti diventarono per lui tutt’uno.« 17

Das ist genau der Grund, warum die Hegel’sche Philosophie laut Croce nicht mehr aktuell, sondern »tot« ist. Hegel hat nicht erkannt, dass es eine Differenz zwischen entgegengesetzten (A und nicht A) und unterschiedenen (A und B) Elementen gibt und hat den Unterschied auf die Entgegensetzung reduziert. Wie Aristoteles bereits differenzierte 18 und wie Trendelenburg im Anschluss an Aristoteles gegen Hegel gelten lies, 19 gibt es einen Unterschied zwischen konträr und kontradiktorisch entgegengesetzten Elementen (Aussagen, bzw. Prädikaten, bzw. Eigenschaften usw.). Croce nennt die Ersteren distinti und die Letzteren opposti und betont ebenfalls, dass Differenzen und Entgegensetzungen kategorial verschieden sind und nicht aufeinander reduziert werden können. Ebd., 28 f. Ebd., 69. 18 Vgl. Aristoteles’ Differenzierung zwischen konträren und kontradiktorischen Gegensätzen in De Interpretatione, Kap. 6 und 7 (Aristoteles [1994]). 19 Trendelenburg (1870). 16 17

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Die Letzteren schließen sich gegenseitig aus, das Leben des einen impliziert den Tod des anderen, wie im Fall der Antithesen von wahr und falsch, Sein und Nichts usw. Unterschiedene Elemente können dagegen friedlich nebeneinander bestehen. Ein Beispiel für die Beziehung des Unterschieds ist das Verhältnis zwischen Einbildungskraft und Verstand. Sie sind voneinander und vom Begriff des Geistes verschieden. Trotzdem gehören sie zum Geist als seine Momente. Sie gehören zum Geist in einer Art und Weise, die sich wesentlich von der Art und Weise unterscheidet, in der Sein und Nichts im Begriff des Werdens enthalten sind. Während Sein und Nichts gegeneinander kämpfen (das Leben des einen impliziert den Tod des anderen), schließen sich Einbildungskraft und Verstand nicht gegenseitig aus, sie gehören vielmehr zusammen, obwohl sie sich voneinander unterscheiden. Obwohl die Einbildungskraft ein besonderer Begriff und vom Verstand verschieden ist, bildet sie den Grund des Verstandes. Obwohl Einbildungskraft und Verstand vom Begriff des Geistes unterschieden sind, gehören sie zum Geist. Laut Croce ergeben sich zwei gravierende Folgen aus Hegels Fehler: 1. Besondere Begriffe werden als Fehler interpretiert; 2. Fehler werden zu besonderen Begriffen und Graden der Wahrheit gemacht. Ein Beispiel für 1. ist die Behandlung der Verhältnisse zwischen Kunst, Religion und Philosophie. Hegel fasst sie als Elemente einer Synthesis von Entgegengesetzten auf, ihr Verhältnis wird auf eine bloße Dialektik der Entgegengesetzten verflacht, während es laut Croce nach dem Muster der Synthesis der Unterschiedenen entwickelt werden sollte. So werden Kunst und Religion von Hegel als unvollkommene Formen der Philosophie und die Philosophie als der eigentliche konkrete Begriff interpretiert. Dabei geht es aber – wie Croce sagt – um ein Verhältnis zwischen autonomen Disziplinen, die sich nicht gegenseitig ausschließen und überwinden, sondern friedlich und autonom nebeneinander bestehen. Ein Beispiel für 2. ist die Konfusion zwischen der Phänomenologie des Fehlers und der ideellen Geschichte der Wahrheit. In der Wissenschaft der Logik werden die abstrakten und als solche falschen Elemente der Entgegensetzung als notwendige Begriffe aufgefasst. Z. B. beginnt Hegel die Logik mit dem Begriff des Seins und versucht an manchen Stellen, diesen Anfang der Logik als notwendig zu rechtfertigen. Aber in Wahrheit ist der Begriff des Seins ein willkürlicher Anfang – wie jeder Anfang, da mit dem Beginnen immer ein Abs156 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Croces Deutung der Hegel’schen Dialektik

traktionsmoment enthalten ist – und isoliert genommen ein bloßer Fehler. Erst die Dialektik von Sein, Nichts und Werden ist der eigentliche philosophische Begriff und die Wahrheit des Seinsbegriffs selbst. 20

2.2.

Erweiterung der Dialektik

Somit ist es nach Croce notwendig, Hegels Dialektikbegriff zu erweitern bzw. zwischen zwei Dialektiken zu unterscheiden. Die Dialektik ist nicht nur Synthesis der Entgegengesetzten (sintesi degli opposti), sie soll vielmehr durch ihre Auffassung als Synthesis der Unterschiedenen (sintesi dei distinti) vervollständigt werden. »Se si applicano ai due nessi i simboli aritmetici, nel primo [il nesso dei distinti] abbiamo una diade, nel secondo un’unità, o, se si vuole, una triade, che è triunità. Se si vorrà chiamare dialettica […] tanto la sintesi degli opposti quanto il nesso dei gradi, si dovrà poi non perdere di vista che l’una dialettica ha processo diverso da quello dell’altra.« 21

An dieser Stelle betont Croce, dass, da die zwei Beziehungen (das Verhältnis zwischen Unterschiedenen und dasjenige zwischen Entgegengesetzten) verschieden sind, die Theorie, die dem ersten Rechnung trägt anders ist als diejenige, die dem zweiten Rechnung trägt. Somit ist es notwendig, zwischen einer Dialektik der Unterschiedenen und einer Dialektik der Entgegengesetzten zu unterscheiden. Auch die sog. Croce’sche »Dialektik der Unterschiedenen« entwickelt sich gemäß der drei Momente: Negation, Negation der Negation und Aufhebung. Die drei Momente haben aber eine andere Bedeutung als diejenige, die sie im Rahmen der Dialektik der Entgegengesetzten erlangen: »[Nella sintesi dei distinti] i due momenti, come si è notato, sono entrambi concreti; nella sintesi degli opposti, entrambi astratti, l’essere puro e il nonessere. Nel nesso dei gradi, a è superato in b, cioè soppresso come indipendente e conservato come dipendente […] nel nesso degli opposti, considerato oggettivamente, α e β, distinti tra loro, sono entrambi soppressi e conservati; ma solo metaforicamente, perché non esistono mai come α e β distinti.« 22 20 21 22

Croce (1906), 81–83. Croce (1906), 66. Ebd.

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In der Dialektik der Unterschiedenen sind die zwei Momente (z. B.: Kunst und Philosophie, oder Einbildungskraft und Verstand) beide konkrete Begriffe, während die zwei Momente im Rahmen der Synthesis der Entgegengesetzten abstrakt sind (Sein und Nichts oder das Schöne und das Hässliche). Aufhebung bedeutet daher im ersten Fall, dass die zwei Elemente (a und b: Kunst und Philosophie) als unabhängig überwunden und als voneinander abhängig erhalten werden. Im Rahmen der Dialektik der Entgegengesetzten bedeutet Aufhebung dagegen, dass die zwei Elemente, die zunächst voneinander verschieden zu sein scheinen (α und β: Sein und Nichts), nur metaphorisch überwunden und bewahrt werden, weil sie in Wahrheit nicht als verschiedene α und β existieren. Das, was existiert, ist nur der konkrete Begriff α, der sich selbst und seine Negation enthält.

3.

Rezeption

Benedetto Croces Ciò che è vivo e ciò che è morto della filosofia di Hegel erschien in Italien im Jahr 1906, 23 wurde rasch ins Deutsche (1909), Französische (1910), Englische (1915) und Spanische (1943) übersetzt und rief bereits kurz nach seinem Erscheinen lebhafte Reaktionen hervor. Zu Croces Lebzeiten wurde es insgesamt viermal publiziert. Giovanni Gentile, der als erster den Entwurf von Ciò che è vivo … las, war sofort begeistert. In einem Brief an Croce kommentierte er:

Als Erscheinungsjahr gebe ich dasjenige an, das Croce selbst in seiner Anmerkung zum Neudruck von Ciò che è vivo e ciò che è morto della filosofia di Hegel von 1912 anführt: »Lo studio: Ciò che è vivo e ciò che è morto della filosofia di Hegel, fu pubblicato nel 1906 (Bari, Laterza)«, Croce (1906), 7. Vgl. auch Cesa (2006), 447–449, der die Phasen der Arbeit Croces rekonstruiert, die zur Veröffentlichung von Ciò che è vivo … im September 1906 geführt haben. In den ersten Exemplaren von Ciò che è vivo … erscheint das Jahr 1907 als Publikationsdatum, obwohl das Buch am 17. September 1906 veröffentlicht wurde und Croce die ersten Kopien bereits am 26. September 1906 Freunden und Kollegen übersandt hatte. Diese Unstimmigkeit führt Savorelli in seiner Anmerkung zur neuen Auflage von Ciò che è vivo … (Croce [1906], 467) darauf zurück, dass der Verlag Laterza für das Jahr 1907 die Publikation von Croces Übersetzung der Hegel’schen Enzyklopädie plante, mit der Ciò che è vivo … ursprünglich verknüpft war.

23

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Croces Deutung der Hegel’schen Dialektik

»Il primo capitolo è magnifico e produrrà in Italia un grandissimo bene. Lucidissimo il secondo ed esatto in ogni particolare. Il terzo è veramente un capolavoro, che ho letto con viva commozione.« 24

Zurückhaltender äußerte sich Gentile zum zweiten, kritischen Teil des Hegel-Buchs. Das Buch wurde rasch rezensiert und löste animierte Debatten in den internationalen philosophischen Zeitschriften aus. In seiner Notiz zur neuen Auflage von Ciò che è vivo e ciò che è morto della filosofia di Hegel, 25 erinnert Cesa an das Entsetzen des orthodoxen Hegelianers Gerardus Bolland und des Spaventa-Schülers Sebastiano Maturi, an die Perplexität von Karl Vossler; an die zahlreichen Besprechungen von Papini, Prezzolini, Casati, Amendola und vor allem aber an diejenigen Arturo Monis, Julius Ebbinghaus’ und Paul Roques, denen Croce eine ausführlichere Antwort widmete. Croces Unterscheidung zwischen Unterschiedenen und Entgegengesetzten und seine Betonung der Notwendigkeit, Hegels Dialektik durch eine Betrachtung der Verhältnisse zwischen Unterschieden – die nicht auf Entgegensetzungen reduziert werden können – zu erweitern wird zudem zu einem Leitmotiv in den wichtigsten Strömungen der Europäischen Philosophie im 20. Jahrhundert. Adorno greift in seinen Vorlesungen über die Dialektik (die zur Entstehung der Negativen Dialektik geführt haben) die Croce’sche Hegelkritik wieder auf: »Gibt es denn wirklich nur Widerspruch, und gibt es nicht auch einfache Differenzen? […] Ich glaube, daß es gar nicht gut wäre, wenn man [diesen Einwand] nun einfach mit einer eleganten Geste erledigen wollte, sondern daß man sich dem zu stellen hat. Er ist zum ersten Mal und mit aller Schärfe formuliert worden […] von dem Aristoteliker Trendelenburg […] und dann schließlich wieder in einem ganz anderen Sinn zu Beginn der sog. HegelRenaissance aufgenommen worden in dem Buch von Benedetto Croce über Hegel.« 26

Ähnlich liest man in der Negativen Dialektik:

»Das erste Kapitel ist herausragend und wird in Italien ein ungeheures Gut produzieren. Das zweite ist brillant und exakt in jeder Einzelheit. Das dritte ist wirklich ein Meisterwerk, das ich mit lebendiger Berührung gelesen habe.« Gentile (1974), 269. 25 Cesa (2006), 448 f. 26 Adorno (2010), 84. 24

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»Die Dialektik bringt alles, was in ihre Mühle gerät, auf die logische Form des Widerspruchs und lässt – so argumentierte noch Croce – die volle Mannigfaltigkeit des nicht Kontradiktorischen, des einfach Unterschiedenen beiseite.« 27

In Différence et Répétition betont Deleuze analog zu Croce und Adorno die Notwendigkeit, zwischen Widerspruch und Differenz zu unterscheiden: »Meine These ist nicht nur, dass die Differenz in sich selbst noch keinen Widerspruch ausmacht, sondern dass sie nicht auf den Widerspruch reduziert werden kann.« 28

Obwohl Deleuze hier nicht explizit an Croce anknüpft, ist seine Behandlung der Negationsfrage in Différence et Répétition eindeutig ein Beleg für die Wichtigkeit des Themas, worauf Croce zuerst hingewiesen hatte. In Qu’est ce que la philosophie? verteidigen Deleuze und Guattari durch direkte Anknüpfung an Hegel den Begriff der Dialektik als Logik der Philosophie in einer Art, die ebenfalls von dem mehr oder weniger bewussten Einfluss Croces auf die Europäische philosophische Kultur des 20. Jahrhunderts zeugt: »Ce sont le post-kantiens qui ont porté le plus d’attention en ce sens au concept comme réalité philosophique, notamment […] Hegel« 29.

4.

Aktualität

In seiner Hegelinterpretation greift Croce auf Trendelenburgs berühmte Hegelkritik 30 zurück und betont die Notwendigkeit, zwischen Entgegengesetzten und Unterschiedenen zu differenzieren. Diese Kritik, die nicht zufällig im kulturellen Kontext des Berliner Aristotelismus entstand, betrifft die spezifisch logische Dimension der Dialektik. Croces Differenzierung stimmt mit dem überein, was in der Logik seit Aristoteles als der Unterschied zwischen konträren AusAdorno (1966), 15. Deleuze (1992), 78. 29 »Die Post-Kantianer, und insbesondere Hegel, hatten am meisten die Natur des Begriff als philosophische Realität [in unserem Sinne] betont«. Deleuze/Guattari (1991), 16. 30 Trendelenburg (1870). 27 28

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Croces Deutung der Hegel’schen Dialektik

sagen bzw. Eigenschaften und kontradiktorischen Aussagen bzw. Eigenschaften bekannt ist. Heute wird diese Frage auf dem Boden der Philosophie der Logik behandelt und macht einen Schwerpunkt der Diskussionen zur Semantik der Negation aus. 31 Wie Graham Priest in Doubt Truth to Be a Liar 32 bemerkt, ist es in der philosophischen Logik üblich, zwischen vielen verschiedenen Negationen zu unterscheiden. »How, then, does negation behave? There is a short way with this question. There are lots of different negations: Boolean negation, intuitionist negation, de Morgan negation« 33.

Außerdem ist die Negationsfrage in der zeitgenössischen Philosophie der Logik hoch kontrovers. Heinrich Wansing bemerkt in »Negation«, die Sekundärliteratur zur Negation sei »immense and abounds with disagreement« 34. An dieser Stelle möchte ich lediglich auf das Phänomen der Pluralisierung der Negation in Logiken hinweisen, die sich polemisch gegen die klassische, auf Russell und Frege zurückgehende Logik wenden. Bemerkenswert ist insbesondere, dass die von Croce betonte und von Hegel unterschätzte Differenz zwischen distinti und opposti in der zeitgenössischen Logik als Frage nach der Spaltung der Negation in eine klassische und eine nicht-klassische Auffassung nachgewiesen werden kann. 35 Klassisch wird die Negation als ein widerspruchsbildender Operator verstanden, d. h. als ein Operator, der den Wahrheitswert der Aussage umkehrt: Wenn A wahr ist, ist die Negation von A falsch und umgekehrt. Diese Auffassung der Negation hängt mit den klassischen logischen Gesetzen des tertium non datur (entweder A ist wahr oder nicht-A ist wahr und es gibt keine dritte Möglichkeit) und der doppelten Negation (nicht-nicht-A stimmt mit A überein) zusammen. In den nicht-klassischen (intuitionistischen, aber auch in den drei- oder mehrwertigen) Logiken ist es dagegen Priest (2006). Vgl. auch Priest (1999). Vgl. auch Wansing (1999). Zur Geschichte der Negation vgl. Horn (1989). 32 Priest (2006), Kap. 4. Vgl. auch Priest (1999). 33 Priest (1999), 76. 34 Wansing (1999), 415. 35 Vgl. zur der Spaltung der Negation in den nicht klassischen Logiken: Horn (1989), 122–153. Zu den Kontinuitäten zwischen der Rezeption der Hegel’schen Dialektik in der Europäischen Philosophie des 20. Jahrhunderts und den Entwicklungen der Logik nach Frege und Russell vgl. D’Agostini (2000). 31

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Elena Ficara

möglich, dass A und nicht-A beide falsch, bzw. dass es einen dritten bzw. vierten fünften usw. Wahrheitswert gibt. Somit impliziert die Annahme eines dritten Wahrheitswerts (bzw. mehrerer Wahrheitswerte zwischen wahr und falsch) den Versuch, die klassische Auffassung der Negation als Widerspruch (demzufolge der Satz vom ausgeschlossenen Dritten gilt) zu erweitern und sie von einer anderen Art der Negation zu unterscheiden, für die der Satz vom ausgeschlossenen Dritten nicht gilt. Diese Art der Negation impliziert, dass a und seine Negation nicht – wie Croce schreibt – »gegeneinander kämpfen« (d. h. in einem kontradiktorischen, exklusiven und exhaustiven Verhältnis zueinander stehen), sondern dass sie bloß verschieden sind und »friedlich nebeneinander existieren« können. Diese Entwicklungen, auf die hier nur skizzenhaft hingewiesen werden kann, erweisen sich somit als grundsätzlich konform mit Croces Vorschlag, die Hegel’sche Dialektik zu erweitern. Es ist interessant, abschließend zu bemerken, dass das neue Verständnis der Negation im Rahmen von bestimmten (intuitionistischen, drei- oder mehrwertigen) Logiken entwickelt wird, und nicht einen Ausgang aus der Logik darstellt. Analog dazu betont Croce, dass es notwendig ist, die Theorie der Negation als Differenz im Rahmen einer anderen Logik, und nicht außerhalb der Logik, zu entwickeln.

Literatur Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik, Frankfurt/M. Adorno, Theodor W. (2010): Einführung in die Dialektik, Frankfurt/M. Aristoteles (1994): De Interpretatione, in: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, hg. v. Ernst Grumach u. Hellmut Flashar, Bd. 1/1, Berlin. Cesa, Claudio (2006): Nota zu Saggio sullo Hegel. Seguito da altri scritti di storia della filosofia, Napoli, 441–484. Croce, Benedetto (1906): Ciò che è vivo e ciò che è morto della filosofia di Hegel, Bari. Croce, Benedetto (2006): Saggio sullo Hegel. Seguito da altri scritti di storia della filosofia, a cura di Alessandro Savorelli, con una nota al testo di Claudio Cesa, Napoli. D’Agostini, Franca (2000): Logica del nichilismo. Dialettica, Differenza, Ricorsività, Roma/Bari. Deleuze, Gilles (1992): Différence et Répétition (1968), übers. v. Joseph Vogl, München. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1991): Qu’est-ce que la philosophie?, Paris.

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Croces Deutung der Hegel’schen Dialektik Fischer, Kuno (21865): System der Logik und Metaphysik oder Wissenschaftslehre, Heidelberg. Gentile, Giovanni (1974): Lettere a Benedetto Croce, a cura di Simona Giannantoni, Firenze. Horn, Laurence R. (1989): A Natural History of Negation, Chicago. Priest, Graham (1999): »What Not? A Defence of a Dialetheic Account of Negation«, in: What is Negation?, hg. v. Dov M. Gabbay u. Heinrich Wansing, Dordrecht, 101–120. Priest, Graham (2006): Doubt Truth to Be a Liar, Oxford. Trendelenburg, Friedrich A. (1870): Logische Untersuchungen, Leipzig. Wansing, Heinrich (1999): »Negation«, in: What is Negation?, hg. v. Dov M. Gabbay u. Heinrich Wansing, Dordrecht, 415–436. Windelband, Wilhelm (91924): Was ist Philosophie? (1882), in: ders.: Präludien, Bd. 1, Tübingen.

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Fichte (und Schelling) in den späten Turiner Vorlesungen Luigi Pareysons 1 Marco Ivaldo

1.

Fichtes Philosophie der Freiheit

Luigi Pareyson (1918–1991) hat in seinen späten Turiner Vorlesungen zu Anfang der achtziger Jahre die Philosophie Fichtes und Schellings zum Gegenstand scharfsinniger und tiefgreifender Überlegungen gemacht. Die Hauptlinien seiner Fichte-Interpretation, deren Bedeutung sich allerdings eher unter Berücksichtigung der jeweiligen Schelling-Auslegung erfassen lässt, möchte ich im Folgenden darstellen. Es ist zunächst angebracht, das Grundanliegen des Fichte-Buches von Pareyson aus dem Jahre 1950 (zweite, erweiterte Auflage 1976) kurz zusammenzufassen, eines Buches, das einen Meilenstein der Fichte-Forschung darstellt und Claudio Cesa zufolge »die gleiche Position« in Italien innehabe, die »das klassische Werk Martial Guéroults in Frankreich« hatte. 2 Pareyson hatte sich früher mit der Existenzphilosophie und insbesondere mit Karl Jaspers beschäftigt, bevor er sich Fichte zugewandte, dessen Philosophie er frei von philosophiehistorischen Schemata hegelianischer Herkunft deutete. Dieser Zugang ist ein Wesenszug auch seiner späteren Schelling-Interpretation im Rahmen der »Ontologie der Freiheit«. Er sieht einen gemeinsamen Charakter bei Fichte und Schelling: Fichtes »ganze Philosophie [sei] eine Kritik ante litteram der Hegel’schen Philosophie«; der »zweite Schelling« – unter dieser Benennung versteht Pareyson grundsätzlich die Philosophie Schellings in der »neun Jahrfünften« ab der Freiheitsschrift 1809 – sei »deutlich ein nachhegelianischer Denker«. Schellings Philosophie – betont Pareyson in Abhebung von der berühmten These von Walter Schulz – stellt keine Selbstauflösung des Idealismus im Sinne einer »Vollendung« desselben dar, sondern sie muss als eine Selbstauflösung im Sinne eins »Austritts« 1 2

Für die wertvollen Sprachverbesserungen bin ich Erich Fuchs sehr dankbar. Cesa (2001), 550.

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Fichte (und Schelling) in den späten Turiner Vorlesungen Luigi Pareysons

aus dem Idealismus selbst angesehen werden: Schelling tritt aus dem Idealismus insofern heraus, so Pareyson, als er nach der Freiheitsschrift immer deutlicher »den Vorrang des Seins vor dem Wissen erkennt«. 3 Nun ist eine der zentralen Thesen des Werkes über Fichte, dass dieser als Kritiker ante litteram Hegels gerade deshalb auftreten konnte, weil er die spätere Perspektive Hegels einer von einem absoluten Standpunkt aus verfassten Philosophie oder »Logik« des Absoluten hellsichtig vorausgesehen und im Voraus widerlegt habe. Fichtes Philosophie der Freiheit (»System der Freiheit«) ist nämlich einerseits durch die »Treue zum Standpunkt des Endlichen« bzw. des »endlichen Geistes« innerlich-methodisch gekennzeichnet; andererseits will sie von diesem Standpunkt ausgehend zu einer Behauptung des Absoluten gelangen, die aber erst als »indirekte Behauptung« desselben erfolgen kann, indem sie den endlichen Geist als das einzig mögliche Bewusstsein bzw. als Bild des Absoluten begreift und durchdringt. Nach Fichte kann die Philosophie nicht direkt das Absolute, sondern das Bewusstsein des Absoluten oder sein Bild zum Thema haben. Somit muss die Philosophie sich zugleich als »kritisch« und als »radikal« erweisen. Zunächst zum kritischen Aspekt: Nach der Wissenschaftslehre besteht die Aufgabe der Philosophie nicht darin, die menschliche Erkenntnis horizontal zu erweitern bzw. neue Erkenntnisse zu den älteren prozessual hinzuzufügen – dies ist Sache des empirisch-faktischen Wissens und der Einzelwissenschaften. Die Philosophie soll hingegen die Erkenntnis selbst (das »Wissen« oder die »Erfahrung«) begründen. Transzendentalphilosophie ist »Reflexion in der zweiten Potenz« (Reflexion in der ersten Potenz ist das faktische Erfahrungswissen); Philosophie ist zweite Reflexion, Wissenswissen. Diesem Philosophie-Begriff gemäß muss sich der Transzendentalphilosoph seines eigenen Standpunktes und seiner Denkleistungen im Akt des Philosophierens ständig bewusst bleiben und beide zugleich in der Selbstreflexion rechtfertigen. Die Transzendentalphilosophie soll dementsprechend auf die Koinzidenz von Sagen und Tun des Philosophen abzielen. Zum zweiten Wesenszug, dem der Radikalität: Die Wissenschaftslehre ist, wie gerade angedeutet, »Philosophie aus dem Standpunkt des Endlichen«, welche sich die Aufgabe stellt und legitimiert, 3

Pareyson (1982/1983), 50 f.

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das Absolute »behaupten« zu können, ohne »den Standpunkt des Endlichen aufzugeben«. 4 Sie entwickelt einerseits eine »Erklärung der Wesensstruktur des menschlichen Wissens und des Endlichen« 5, wobei die drei Grundsätze der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre keine »spekulative Logik« des Absoluten, sondern »die ideellen Bedingungen des reellen Bewusstseins« wiedergeben, welche als »ursprüngliche Handlungen« im faktischen Wissen schon immer tätig sind. Andererseits läßt sich im Laufe des Fichte’schen Philosophierens ein Übergang im Denken des Absoluten selbst feststellen. In ihrer internen Entwicklung durch die unterschiedlichen Darstellungen hindurch geht die Wissenschaftslehre von einer Behauptung der »Idealität« zu einer der »Realität« des Absoluten über. Dem entspricht eine (mitlaufende) Entwicklung im Denken des Endlichen selbst: Zunächst wird das Endliche als »Tendenz zum idealen Absoluten«, dann als »Präsenz des realen Absoluten« begriffen. Genauer ausgesprochen: Von 1793 bis 1799 werden Idealität des Absoluten und Praktizität des Endlichen zusammen gedacht und zugleich ausgearbeitet. Der endliche Geist handelt nach dieser Auffassung dank der Tätigkeit (Agilität) des Absoluten selbst, das aber vorwiegend als ein in sich ideales Absolutes gedacht wird. Diese Auffassung musste aber nach Pareysons Auslegung konsequenterweise zu einer »Verabsolutierung des Endlichen« führen, mit der sich Fichte wegen seiner echten religiösen Gesinnungen nicht zufrieden geben konnte. Mit der Bestimmung des Menschen (1800) kommt Fichte demnach zum Denken eines realen Absoluten. Damit wird jedoch die (epistemologische) Treue der Wissenschaftslehre zum Standpunkt des Endlichen nicht zurückgenommen: Der endliche Geist, und nicht der absolute, wird von nun an als das Bewusstsein, genauer: »als das einzig mögliche Bewusstsein des Absoluten« 6 angesehen. Dementsprechend wird die spätere Wissenschaftslehre zur »Rekonstruktion« des endlichen Geistes als Bewusstsein eines als solchen selbst nicht-objektivierbaren Absoluten. Das bringt eine »ganz sonderbare Dialektik« von Wissen und Nicht-Wissen bzw. Nicht-Sein und Sein zum Vorschein, der zufolge das Sein als Ursprung des Wissens erfasst wird, indem es als das Nicht-Sein des Wissens selbst, als das Andere des

4 5 6

Pareyson (1976), 7. Ebd., 170. Ebd., 7.

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Fichte (und Schelling) in den späten Turiner Vorlesungen Luigi Pareysons

Wissens verstanden wird. Das Sein ist Ursprung erst als Grenze, es ist Wissensgrund nur als Negation des Wissens.

2.

Ein ›ontologischer‹ Freiheitsbegriff

Pareyson beabsichtigte, dem Fichte-Band vom Jahre 1950 einen zweiten Band folgen zu lassen, der eigentlich als die zweite Stufe »eines umfassenden Werkes über den ganzen Fichte« 7 angesehen werden sollte. Sogar die Überschrift dieses Bandes wurde angekündigt: Während der erste Band (ursprünglich nur »Fichte« betitelt) den Untertitel »Das System der Freiheit« hätte tragen sollen (wie bei der zweiten Auflage desselben tatsächlich geschehen), sollte die Fortsetzung mit dem Untertitel »Das System des Absoluten« versehen werden. Im Vorwort zur zweiten Auflage des Fichte-Buches bzw. des ersten Bandes – die im Jahre 1976 erschien – schreibt der Verfasser, dass »andere Interessen [ihn] von der Vervollständigung der Arbeit bis zu jenem Zeitpunkt abgehalten« 8 hatten. Das bedeutet aber nicht, dass Pareyson in der Zwischenzeit sein Interesse an Fichte verloren hätte. In einem Brief an Reinhard Lauth vom 16. Juli 1963, dessen Kenntnisnahme ich Erich Fuchs verdanke und der am Anfang der Beziehungen und dann der Freundschaft zwischen ihm und Lauth steht, schrieb Pareyson: »Die Studien über Fichte habe ich nicht aufgegeben. Selbst wenn in diesen letzten Jahren mit anderen Arbeiten beschäftigt, werde ich bald zu Fichte zurückkommen, um mein Buch, von dem nur der erste Band erschienen ist, fortzusetzen und zu Ende zu führen«. Dieser zweite Band wurde aber nicht mehr herausgebracht. Dass aber Fichte ein lebendiges Thema bis in die letzten Jahre hinein geblieben ist, lässt sich u. a. aus einer Bemerkung entnehmen, die Pareyson in Neapel im Jahr 1988 in den Vorlesungen über die Philosophie der Freiheit gemacht hat. Pareyson schreibt: »Es war genau Fichte, von dem ich einen weit ursprünglicheren und tieferen Freiheitsbegriff als den moralischen erkennen lernte, wie aus seiner Absicht, ein System der Freiheit aufzubauen, und aus seiner Konzeption einer Art eines ›moralischen Pantheismus‹ deutlich wird« 9. Eben diesen ursprünglicheren und radikaleren – man könnte 7 8 9

Ebd., 9. Ebd. Pareyson (1995), 8.

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hinzufügen: ›ontologischen‹ – Freiheitsbegriff legt Pareyson seiner Ontologie der Freiheit zugrunde, für die die Freiheit nicht nur als Hauptthema (›Objekt‹), sondern auch als ›Subjekt‹ gilt. Dies kommt in diesen neapolitanischen Vorlesungen eindrucksvoll zum Ausdruck. Es ist aber vor allem die posthum veröffentliche Turiner Vorlesungsreihe der Jahre 1982/1983, die von der lebendigen Präsenz der Philosophie Fichtes im Denken Pareysons Zeugnis ablegt. Hier, insbesondere in der sechsten und siebenten Vorlesungsstunde, findet sich – könnte man sagen – ein Abriss jenes »Systems des Absoluten«, das Pareyson nicht mehr zu einer geschlossenen Publikation, d. h. zum geplanten, zweiten Fichte-Band hat führen können.

3.

Sein und Freiheit

Ich möchte zunächst einige Erläuterungen zum eigentlichen Thema der Vorlesungsreihe vorausschicken. Ihr vom Verfasser selbst angekündigter Titel heißt: »Sein und Freiheit. Das Prinzip und die Dialektik«. Zur Verdeutlichung des ersten Begriffspaares (»Sein und Freiheit«) wird von Pareyson zu Beginn der Vorlesungen eine eigentümliche These seiner Ontologie der Freiheit bündig vorgelegt: Der Mensch ist »ontologischer Bezug«, und das bedeutet, dass der Mensch nicht etwas ist, das zusätzlich einen Seinsbezug hat, sondern der Mensch ist durch und durch, oder konstitutiv »Bezug zum Sein«. Nun ist der Kern des Seinsbezuges, der der Mensch ist, die Freiheit. Zum Sein in Bezug zu sein, heißt, frei zu sein. Allein über die Freiheit verwirklicht sich jene »Intentionalität zum Sein«, die der Mensch in sich ist. Einziger Zugang zum Sein ist mithin die Freiheit. Sein und Freiheit sind so eng miteinander verbunden, dass es angebracht ist, zu sagen, dass das Sein sich nicht so sehr in die Freiheit »auflöst«, sondern eher auf sie »hinausläuft«. Freiheit und Sein convertuntur (lassen sich ineinander konvertieren). Wie zu lesen ist: »Das Sein selbst ist Freiheit, d. h. unsere Freiheit macht das Wesen des Seins offenbar […]. Das Sein kann seinerseits nicht anders denn als Freiheit verstanden werden« 10. Zum zweiten Begriffspaar: »Prinzip und Dialektik«. Sich auf Sein und Freiheit zu besinnen, heißt, über das Ursprüngliche, oder über das (Ur-)Prinzip nachzudenken. Mit solchen Überlegungen zu 10

Pareyson (1982/1983), 12.

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Fichte (und Schelling) in den späten Turiner Vorlesungen Luigi Pareysons

Sein und Freiheit – erklärt Pareyson – »befinden [wir] uns an der Wurzel, an der Quelle, am Ursprung, wir stehen am Anfang, wir sind beim Prinzip« 11. Prinzip ist aber nicht dasselbe wie »Grund«. Pareyson hält »die gegen den Grund[-Begriff] geführte Polemik für sehr richtig« 12, eine Polemik, die ihm zufolge bereits auf die Kritik von Plotin gegen Aristoteles zurückzuführen ist. Der Begriff des Grundes, vor dem das Denken stehen bleiben müsse (ανάγκη στηναι), sei letzten Endes nur eine »Versteifung« dessen, was das Prinzip eigentlich ist. Wie Fichte durch seine verschiedenen Wissenschaftslehren deutlich gemacht hat, tritt das Prinzip in Bezug auf das Wissen, das es zu erfassen beansprucht, »ständig zurück«. Diese Konzeption des »fortwährenden, unaufhaltsamen Rückgangs« des Prinzips stellt die Errungenschaft Fichtes in Vergleich zu Descartes dar. Das Prinzip ist nicht Grund; vielmehr ist es »Abgrund«. Im Gefolge von Plotin, und auch von Fichte und Schelling, sollte man aber zugleich erkennen – und hier tritt die eigentliche Paradoxie des Prinzips, in der seine Aporetik steckt, zum Vorschein –, dass der Abgrund gar nicht dem »Leeren« (= einem bloßen Nichts) gleichzusetzen ist. Dass das Sein (bzw. die Freiheit) abgründig sei, bedeutet überhaupt nicht, dass es leer, sondern dass es »unausschöpfbar« ist. Nichts darf ausschließen, hebt Pareyson hervor, dass der Abgrund nicht das Leere, sondern eher »das Volle, d. h. die Quelle, die Ursprünglichkeit, der Ursprung« sei. Denn, nur wenn der Abgrund nicht das Leere, sondern die Quelle ist und bleibt, erhält und behält das Leben seine eigentümliche Unruhe und Beweglichkeit. Diesbezüglich wird eine zweite Form der Paradoxie des Prinzips offenbar: Plotin, aber auch Schelling, setzen Pareyson zufolge auf dem Höhepunkt ihrer Philosophie das, was Letzterer als einen »undurchdringbaren Begriff«, einen »verwirklichten Widerspruch« bezeichnet. Der Ursprung (als absolute Freiheit) ist bei ihnen einerseits Abgrund, und demnach ist er nichts dessen, was nicht Prinzip ist; er ist »absolute Negation«. Andererseits, und in eins damit, muss diese absolute Negation (auch »absolute Transzendenz« genannt) die Quelle sein, dank der sich alles andere, was nicht Prinzip ist, erklären lässt. Das Prinzip muss außerhalb jeglicher Bestimmung sein; zugleich muss es die Erklärung aller Bestimmungen, aller Behauptungen in sich bewahren, ein Thema, das Pareyson in dieser Vorlesung ausführlich aus Plotin verfolgt 11 12

Ebd., 13 Ebd., 15.

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und rekonstruiert, aber auch in den Erlanger Vorlesungen Schellings über die Natur der Philosophie als Wissenschaft (1821) hatte lesen können. 13 Gerade die Paradoxie des Prinzips eröffnet den Raum einer »Dialektik«, die dem Hegel’schen Bild von Dialektik entgegengesetzt ist. Pareyson stellt einer »Dialektik der Notwendigkeit« eine »Dialektik der Freiheit«, einer »Dialektik des Prozesses« eine »Dialektik der Spannung«, einer synthetischen eine antithetische oder antinomische Dialektik gegenüber. In ersteren wird der Widerspruch aufgehoben und vernichtet; in letzteren wird er offen gehalten. Den Widerspruch vernichten zu wollen, würde bedeuten, das Leben selbst zu vernichten, jenes Leben, das – so Pareyson – »fortwährender Widerspruch« ist (hieraus kann man ersehen, dass Pareyson den Widerspruch nicht so sehr als logischen, sondern als konkret-existentiellen Begriff versteht). Der Widerspruch muss also offengehalten werden, und dies in demselben Augenblick, in dem man den Versuch unternimmt, ihn zu »erklären«; dabei muss aber ganz klar bleiben, dass jeglicher Erklärungsversuch keine endgültige Beilegung des Widerstreits erbringen darf. Auf eine Beilegung des Widerspruches könne man nur hoffen; sie sei »eschatologisch«, d. h. außerhalb aller Zeit.

4.

Die Dialektik von Wissen und Nicht-Wissen

Was ist nun das eigentümliche Wort, welches das Fichte’sche Philosophieren hinsichtlich dieses Spannungsfeldes zwischen Prinzip und Dialektik ausspricht? Fichte stellt eine besondere Dialektik von Wissen und Nicht-Wissen (Hauptmotiv: »Das Wissen ist Nicht-Sein und das Sein ist Nicht-Wissen«) heraus, die – so Pareyson – einen »höchst interessanten« und sehr »aufschlussreichen« Weg bahnt, um über das Prinzip philosophieren zu können. Verfolgen wir einige Hauptpunkte dieser Fichte-Lektüre, die sich vorwiegend auf eine Wiederbesinnung der Darstellungen der Wissenschaftslehre aus den Jahren 1801/2 und 1804 (Frühjahr) stützt. Ohne aufzugeben, ein – sogar: das – System der Freiheit zu sein, will die Wissenschaftslehre zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Entfaltung, ein – sogar: das – System des Absoluten liefern. Pareyson hatte 1974 in einem Schelling-Sammelband eine italienische Übersetzung dieses Werkes herausgegeben; vgl. Schelling (1974), 195–226.

13

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Fichte (und Schelling) in den späten Turiner Vorlesungen Luigi Pareysons

Letzteres stellt keine Negation des ersteren dar. Anders ausgedrückt: »Kritizismus, Dialektik und Ontologie sind [bei Fichte] am innigsten miteinander verbunden« 14. Gerade diese Verknüpfung stellt das Eigentümliche des Fichte’schen Weges im Vergleich zu anderen philosophischen Ansätzen dar, die zur selben geistesgeschichtlichen Konstellation gehören. Die Wissenschaftslehre beabsichtigt, zu einer Behauptung des Absoluten zu gelangen, ohne den Standpunkt des Endlichen – nämlich: den kritischen Ansatz – aufzugeben. Pareyson zufolge macht Fichte deutlich, dass der Reflexionsakt des Ich auf sich selbst einen tiefer liegenden Vollzug in sich enthält, den Pareyson als »Akt der Seinsanschauung« (Seinserfassung) bezeichnet: »Der Akt, durch den sich das Ich sich selbst zu eigen macht, ist derselbe Akt, durch den das Ich das Sein erfasst.« 15 Die Sich-Aneignung (des Ich) ist nur als (mitlaufende) Seinserfassung möglich. Die kritische Ebene wird aber damit nicht verlassen. Pareyson erklärt: Das Wissen erweist sich als wahrhaft kritisch, selbstbewusst, selbstreflexiv nur dann, wenn es – ein Ideal von vollkommener Selbstbewusstheit bzw. perfekter Selbstdurchdringung verfolgend – sich selbst in seiner »Entstehung« (Genesis) erfasst. Sich selbst aber in seiner Entstehung zu erfassen, bedeutet, seinen eigenen »Ursprung« zu ergreifen. Nun ist Wissen durch und durch »Intentionalität«: Wissen ist immer Wissen von etwas, auch in der Form des Wissens von sich selbst, des Wissenswissens. Auch die Freiheit – die hier dem Wissen gleichgesetzt wird, indem sie dessen eigentliches Wesen konstituiert – ist in sich selbst »Offenheit«, »Aufgeschlossenheit zum Sein«. Wenn sich also das Wissen am eigenen »Ursprung« ergreift, (an)erkennt es jenes Sein, von dem wir allein behaupten können, dass es qua Ursprung NichtWissen ist. Hieraus kommt die (antinomische) Dialektik von Wissen und Nicht-Wissen bzw. von Wissen und Sein zum Vorschein: »Das Sein ist das Nicht-Sein des Wissens [= Nicht-Wissen], und das Wissen ist insofern ein Wissen, als es das Sein nicht ist, als es also das Nicht-Sein des Seins ist, Nicht-Sein.« 16 Vertiefen wir noch einmal die springenden Punkte dieses Hauptgedankens. Zunächst zum Verhältnis Kritizismus-Dialektik. Wie wir gerade gesehen haben, ergibt sich nach selbstkritischer Ansicht, dass 14 15 16

Pareyson (1982/1983), 56. Ebd., 49. Ebd., 51.

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das Wissen dadurch ausgezeichnet ist, »Intention« bzw. »Intentionalität« zu sein. Das Wissen ist nach Pareyson per definitionem »sekundär«, und zwar in dem genauen Sinne, dass es nicht Ursprung, Ursprünglichkeit ist, sondern erst Aufgeschlossenheit (Aufgeschlossensein) zu dem, was Plato θάτερον (das Andere) nannte. Ein »absolutes Wissen«, welches Ursprung von sich selbst zu sein beanspruchte, wäre Wissen von Nichts, also kein Wissen; das Ergebnis solchen Anspruches wäre die Selbstauflösung des Wissens. Ursprung des Wissens kann nur das Andere des Wissens sein, und zwar das, bezüglich dessen das Wissen Intentionalität ist: das Sein. Das Sein wird als der Ursprung des Wissens insofern (an)erkannt, als es als Nicht-Wissen bzw. als Nicht-Sein des Wissens erfasst wird. Sein ist Ursprung nur als »Grenze«, Entstehung nur als »Schranke«, als »Einschränkung«, es ist »Begründung nur als Negation«. Das Sein ist per definitionem das, was das Wissen beschränkt, und diese Beschränkung erweist sich in eins als Begründung, sie ist Beschränkung als Begründung, unzertrennlich Negation und Position des Wissens. Wenn Fichte (z. B. in der Wissenschaftslehre 1804) von einer Selbstvernichtung des Wissens vor dem Sein redet, in dem Sinne, dass »der Begriff nur sich selbst vernichtend zum Sein kommt«, bedeutet dies keine »schwache Wiederholung der Schwärmerei« 17, sondern das Ergebnis vollkommener und luzider Selbstaufklärung des Wissens, der zufolge sich letzteres als Nicht-Sein erkennt. Dann zum Verhältnis Dialektik-Ontologie: Nur dank Selbstvernichtung des Denkens und des Begriffes erfasst man das Absolute, ohne den Standpunkt des Endlichen zu verlassen. Im Wissen selbst und durch es wird sein »Boden« erreicht; es wird seine »Tiefe« als jener »Grund« erkannt, den Pareyson in den Vorlesungen durch deutsche Worte wie »Ungrund«, und »Abgrund« bezeichnet. Das Sein erweist sich damit als die Vernichtung des Denkens, und der Begriff kommt insofern zum Sein, als er sich selbst vernichtet. Auf diese Weise tritt eine »ursprüngliche Komplizität von Sein und Begriff« zum Vorschein, welche dialektischen Charakter hat: Sie besteht in der Unzertrennlichkeit zweier Termini (Sein/Begriff), die sich gegenseitig negieren. Sein und Begriff sind unzertrennlich, und zugleich ist das Eine die Negation des Anderen. Gerade in einer solchen »originären Unzertrennlichkeit« – könnte man sagen: In dieser Unzertrennlichkeit per negationem – liegt jenes »Licht«, von dem die 17

Ebd., 56.

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Fichte (und Schelling) in den späten Turiner Vorlesungen Luigi Pareysons

Wissenschaftslehre 1804 spricht, das Licht nämlich als dialektische Einheit von Sein und Begriff, der zufolge das Sein sich als das Unbegreifliche, das Un-durchdringbare, als die Vernichtung des Begriffes erweist, und der Begriff nur dann zum Sein kommen kann, wenn er sich selbst negiert. Fichte habe viel früher als Heidegger eingesehen, dass das Licht die Genesis des Wissens bzw. des Denkens jenseits der Trennung im Bewusstsein von Subjekt und Objekt ist.

5.

»Wahre Dialektik«

Beinahe am Ende der zweiten Fichte gewidmeten Vorlesung, und zwar der siebenten der Reihe, findet sich jedoch eine entscheidende Bemerkung, die für meine Erörterung von großem Interesse ist. Pareyson stellt fest, die Fichte’sche Dialektik von Wissen und NichtWissen – die Pareyson auf Cusanus’ docta ignorantia anspielend auch als »Dialektik von nicht-wissendem Wissen und wissendem NichtWissen« bezeichnet – bewege sich auf dem »allerhöchstem Niveau der Spekulation« 18. Aber diese »sehr tiefgehende«, »sehr hohe« »sehr subtile« Dialektik wäre noch nicht die »wahre Dialektik«, welche »Entgegengesetzte, die radikal entgegengesetzt sind«, zum Thema haben muss. Man kann sich diese Bemerkung noch folgendermaßen erläutern: Wissen und Nicht-Wissen seien Pareyson zufolge Begriffe, die nicht »wahrhaft und radikal entgegengesetzt« sind, denn zwischen ihnen bestehe – wie eben gesagt – eine gewisse Komplizität. Radikal entgegengesetzt, und deshalb Thema einer »wahren Dialektik«, seien hingegen – so Pareyson – »Gut und Böse, Leiden und Seligkeit, Wahrheit und Irrtum«. Die »wahre Dialektik« sei daher diejenige, die zwischen diesen Begriffspaaren zustande kommt und den einschlägigen Widerspruch offen zu halten weiß. Damit will aber Pareyson nicht sagen, dass die Dialektik von Wissen und Sein falsch sei. Seine Ansicht ist vielmehr, dass sie »äußerst dienlich« bleibt, um sich mit der Frage nach dem Prinzip auseinanderzusetzen, aber als solche noch nicht ausreichend ist, um die Aporetik des Prinzips selbst zu fassen. Die Dialektik von Wissen und Nicht-Wissen bewegt sich auf der Ebene dessen, was Pareyson »Hermeneutik« in seinem Sinne nennt, nämlich auf der Ebene der Interpretation, die er als das ZurOffenbarung-Führen einer unendlichen, unausschöpfbaren, jenseiti18

Ebd., 58.

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gen Wahrheit begreift (wie wohl bekannt ist, hat Pareyson der Hermeneutik das entscheidende Werk: Verità e interpretazione [Wahrheit und Interpretation] [1971] gewidmet). Die Ebene aber, die die »wahre Dialektik« im Unterschied zur Hermeneutik zu erreichen hat, ist diejenige, in der die Entgegengesetzten sich bereits im Prinzip selbst befinden und sich in ihm dialektisch einander entgegensetzen. Gerade eine solche Dialektik will Pareyson seiner »Ontologie der Freiheit« zugrunde legen, in der Schelling, insbesondere seine Freiheitsschrift, eine erhebliche Rolle spielt. Ich lasse hier die grundlegende Frage außer Acht, ob Pareyson mit seiner Kritik an der Unzulänglichkeit der Transzendentalphilosophie hinsichtlich der Dialektik von Gut und Böse ohne Weiteres recht hat, oder ob vielmehr die Transzendentalphilosophie als offenes System der wirklichen Freiheit prinzipiell imstande ist, jener (ethischreligiösen) Dialektik gerecht zu werden, und das, selbst wenn Fichte persönlich das Problem des Bösen, dessen ›negative Realität‹, in seinen Schriften nicht genug erkannt und bedacht habe. Zu diesem Thema schließe ich mich an die Überlegungen an, die Reinhard Lauth in seinen Erinnerungen aus meinen Gesprächen mit Luigi Pareyson entwickelt hat, 19 und an seine Bestimmung der Freiheit vom absoluten Sollen her im interpersonalen Nexus. 20 Hier möchte ich nur auf zwei Punkte eingehen, welche die Aufnahme und die Aufwertung von Schelling in den Turiner Vorlesungen betreffen.

6.

Wirklichkeit, Dialektik, Prinzip

Zum ersten Punkt: Mit Rücksicht auf die Modalkategorien (Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit) vertritt Pareyson die These, dass eine Philosophie der Freiheit, welche mit der Behauptung der Irriduzibilität (in bloß logischer Hinsicht) des konkret Geschichtlichen einhergeht, das Primat der Wirklichkeit vor der Möglichkeit und der Notwendigkeit anerkennen muss. Damit Freiheit und Faktum in ihrer bestimmten Seinsart (Modalität) bzw. in ihrer logisch unableitbaren Konkretheit erfasst und bewertet werden können, setzen sie das Primat der Kategorie der Wirklichkeit vor den anderen voraus. Nun hat gerade Schelling »auf angemessene Weise behauptet, dass die Mög19 20

Vgl. Lauth (1996). Vgl. Lauth (2004).

174 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Fichte (und Schelling) in den späten Turiner Vorlesungen Luigi Pareysons

lichkeit der Wirklichkeit nicht vorausgeht, sondern ihr folgt« 21. Die Wirklichkeit kann nicht als Verwirklichung einer ihr im Voraus gegebenen Möglichkeit angesehen werden: »Etwas ist nicht wirklich, weil es möglich ist, sondern vielmehr ist etwas, das wirklich ist, möglich.« Ebenso wenig darf sich das Wirkliche mit dem Notwendigen vermengen: »Vom Standpunkt des Wirklichen her gibt es nichts Notwendiges, nichts, das so definiert werden könne, dass es nicht-nichtsein könne.« (Ebd.) Die Wirklichkeit ist »immer voraus«: Ein Seiendes ist nicht wirklich, weil es möglich oder notwendig ist, sondern ein Seiendes kann (Möglichkeit) und muss (Notwendigkeit) deshalb existieren, weil es wirklich ist. Wenn Schelling die Figur der »Verwunderung der Vernunft« vor dem »rein Seienden« (der Pareyson 1979 einen meisterhaften Essay widmete) zum Thema seiner späteren Philosophie macht und dieses Vernunft-Moment in die »Zäsur« – in die ›unterbrochene Kontinuität‹ – zwischen negativer und positiver Philosophie hineinlegt, gibt er gerade diesem Vorrang der Wirklichkeit vor dem Denken Ausdruck: »Das bloß, das nur Existierende – liest man in der Berliner Vorlesung: »Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie« (1842– 1843) – ist gerade das, wodurch alles, was vom Denken herkommen möchte, niedergeschlagen wird, das, vor dem das Denken verstummt, vor dem die Vernunft sich selbst beugt« 22; es ist jenes »alles überwältigende Seyn«, vor dem die Vernunft »wie regungslos, wie erstarrt, quasi attonita [auf Italienisch!]« ist, »um durch diese Unterwerfung zu ihrem wahren und ewigen Inhalt […] zu gelangen« 23. Der zweite Punkt, den ich hervorheben möchte, betrifft die oben erwähnte Idee einer Dialektik im Prinzip, die Pareyson einer Dialektik von Wissen und Nicht-Wissen in Bezug auf das Prinzip gegenüberstellt. »Sowohl das Positive als das Negative« – behauptet Pareyson – »befinden sich innerhalb des Prinzips und setzen sich einander gerade deshalb dialektisch entgegen, weil sie sich bereits im selben Prinzip finden. Das Prinzip ist nicht ausschließlich positiv; in Wahrheit kann es wirklich positiv nur dann sein, indem es in sich bereits die Möglichkeit des Negativen hat.« 24 Nun scheint mir in diesen Überlegungen bereits jener Schelling unüberhörbar anwesend zu 21 22 23 24

Pareyson (1982/1983), 77. Schelling (1858), 161. Ebd., 165. Pareyson (1982/1983), 58.

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Marco Ivaldo

sein, den Pareyson in Zusammenhang mit der Tradition der Theosophie und mit Jacob Böhme auslegt. In seiner Einführung zu der italienischen Ausgabe eines Schelling-Sammelbandes mit Schriften über »Philosophie, Religion und Freiheit« des Jahres 1974 25 – in der auch die Freiheitsschrift enthalten ist –, greift Pareyson das Schelling’sche Hauptthema der Unterscheidung (Duplizität) zwischen dem Wesen, sofern es existiere, und dem Wesen, sofern es bloß »Grund von Existenz« sei, auf. Schelling habe damit »die Konzeption der Identität der Entgegengesetzten im Absoluten, d. h. in Gott, aufbewahrt, aber jetzt werde sie in dem Sinne verstanden, dass es in Gott auch die Antithese gibt, das negative Prinzip, den blinden Willen, die egoistische Begierde« 26. Die »Persönlichkeit« Gottes ergebe sich erst aus dem Sieg des positiven über das negative Prinzip: Gott ist nicht, sondern wird zum persönlichen Gott. Seine Persönlichkeit ist »in gewisser Hinsicht eine Errungenschaft«. Genau dieses Hauptmotiv tritt in den Mittelpunkt Pareysons eigener Ontologie der Freiheit: Ihr zufolge existiert das Positive ab aeterno als Sieg über das Negative. Anders formuliert: Die ursprüngliche, abgründige Freiheit (Gottes) existiert als solche – d. h. in ihrer unmittelbaren »Selbstzeugung« – als endgültiger Sieg über das Böse, jenes Böse, das auf ewig (= de jure, in seinem Anspruch) in Gott besiegt ist, aber als ständig drohende Möglichkeit für die menschliche Freiheit weiter besteht. Pareyson vertritt sogar die These, man sollte, um zu diesem abgründigen Freiheitsbegriff zu gelangen, »Schelling selbst von jeglicher übrig bleibenden Sorge um die Idee der Notwendigkeit frei machen« 27 – möglicherweise bezieht er sich hier auf die Fragestellung ›notwendiges Vernunft-System und Freiheit‹, die das Anfangsmoment der Freiheitsschrift bildet. Man solle Schelling mit Heideggers Nichtsbegriff integrieren bzw. kompensieren, und seinen Freiheitsbegriff im Zusammenhang nicht mehr mit der Notwendigkeit, sondern mit dem »Nichts« durchdenken, jenem Nichts (ihrer) – als »Nichts der Freiheit« bezeichnet –, von dem her die ursprüngliche, abgründige Freiheit sich selbst ›zeugt‹. Zum Thema »Prinzip und Dialektik« ergeben sich letzten Endes aus den Turiner Vorlesungen zwei Gedankenmuster, mit deren kurzer Schilderung ich meinen Beitrag abschließen möchte. Nach dem 25 26 27

Vgl. Schelling (1974). Ebd., 14. Pareyson (1995), 464.

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Fichte (und Schelling) in den späten Turiner Vorlesungen Luigi Pareysons

einen erfolgt die Dialektik in Bezug auf das Prinzip als dessen Bild: Das Wissen erweist sich somit als Bild des Seins, und insofern als Nicht-Sein, als Bezug auf das Sein. Der Widerspruch liegt nicht im Sein, in der Wahrheit, er bildet vielmehr ein mögliches Moment des Reflektierens, dessen sich Letzteres bewusst werden kann und das es zu bewältigen hat. Nach dem anderen Muster erfolgt die Dialektik im Prinzip selbst, als Entfaltung von dessen innerer Logik bzw. als spekulative ›Erzählung‹ von dessen überzeitlicher ›Geschichte‹. Der Widerspruch gehört in die Wahrheit selbst. Mit diesem zweiten Denkbild wird aber – so denke ich – der Boden einer Philosophie aus dem Standpunkt des Endlichen, auf den Pareyson selbst in den fünfziger Jahren den Akzent legte, der Boden des Kritizismus, verlassen; eine Preisgabe des Kritizismus, die mir eine Implikation – oder möglicherweise eine Voraussetzung – einiger Ansätze der Ontologie der Freiheit zu sein scheint. Besteht denn nicht dadurch die Gefahr, dass damit die Ontologie der Freiheit zu ›unkritischen‹ Aussagen über das innere Wesen des Absoluten kommen kann? Im Brief an Schelling vom 15. Januar 1802 ist folgender, berühmter Ausspruch Fichtes zu lesen: »Das absolute selbst aber ist kein Seyn, noch ist es ein Wissen, noch ist es Identität, oder Indifferenz beider: sondern es ist eben – das absolute – und jedes zweite Wort ist vom Uebel.« 28 Dieses Diktum bringt das Eigentümliche einer Transzendentalphilosophie im Kantischen und Fichte’schen Sinne mit Rücksicht auf die Frage nach dem Absoluten bündig zum Ausdruck, ohne den spezifischen Raum des ›Geschichtlichen‹ zu tilgen. Möglicherweise erweist sich dieses Diktum auch bezüglich einer gründlichen Diskussion des epistemologischen Status der Ontologie der Freiheit in der Sicht Pareysons als noch immer ergiebig.

Literatur Cesa, Claudio (2001): »Die Rezeption der Philosophie Fichtes in Italien«, in: Der transzendentalphilosophische Zugang zur Wirklichkeit. Beiträge aus der aktuellen Fichte-Forschung (= Spekulation und Erfahrung; II, 45), hg. v. Erich Fuchs, Marco Ivaldo u. Giovanni Moretto, Stuttgart-Bad Cannstatt, 533–551. Fichte, Johann Gottlieb (1982): Briefe 1801–1805, in: Gesamtausgabe III/5, hg. v. Reinhard Lauth u. Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt.

28

Fichte (1982), GA III/5, 113.

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Marco Ivaldo Lauth, Reinhard (1996): Il pensiero trascendentale della libertà. Interpretazioni di Fichte, hg. v. Marco Ivaldo, Mailand. Lauth, Reinhard (2004): Con Fichte, oltre Fichte, hg. v. Marco Ivaldo, Turin. Pareyson, Luigi (21976): Fichte. Il sistema della libertà (11950) (= Biblioteca di filosofia. Saggi 10), Mailand. Pareyson, Luigi (1979): »Lo stupore della ragione in Schelling«, in: Romanticismo, Esistenzialismo, Ontologia della libertà, hg v. Giuseppe Riconda, Gianni Vattimo u. Valerio Verra, Mailand, 138–180. Pareyson, Luigi (1982/1983): »Essere e libertà. Il principio e la dialettica«. Corso di Filosofia teoretica tenuto nell’Università di Torino nell’a. a. 1982/1983, in: Annuario filosofico 10 (1994), 11–88. Pareyson, Luigi (1998): Essere, ambiguità, libertà, in: Opere complete, Bd. XIX, hg. v. Francesco Tomatis, Mailand. Pareyson, Luigi (1995): Ontologia della libertà. Il male e la sofferenza, Turin. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1858): Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie (1842–1843), in: ders.: Sämmtliche Werke, II/3, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/Augsburg. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1974): Scritti sulla filosofia, la religione, la libertà, hg. v. Luigi Pareyson, Mailand.

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Die Schelling-Rezeption der Turiner Schule Claudio Ciancio

I. Luigi Pareysons großes Verdienst ist es gewesen, in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts Schellings Denken wieder vorgeschlagen zu haben, und zwar nicht nur in historiographischer Hinsicht, sondern vor allem in theoretischer. Sein Bemühen, die Aktualität Schellings einzufordern, war analog zu dem von Jaspers, Fuhrmans, Schulz, Kasper und Tilliette. Pareyson ging es darum, einerseits aus der vom Neoidealismus und Marxismus gekennzeichneten italienischen Tradition herauszutreten und folglich Hegels Primat abzulehnen, andererseits aber auch sich von Heidegger zu distanzieren, um eine hermeneutische Ontologie aufzubauen, die auf dem Gedanken basierte, dass das Ursprüngliche als reine und absolute Freiheit zu verstehen sei. Diesem Gedanken hatte sich der reifere Schelling genähert. Dieser Gedanke ist jedoch Heidegger in seiner grandiosen und radikalen Neubetrachtung der Ontologie fremd geblieben, in der eine negative und schicksalhafte Konzeption des Seins überwog. Pareyson hatte sich Schelling über die Ästhetik genähert, aber sein Interesse galt vor allem der Wiederentdeckung und Aufwertung des späten Schelling. Seine Begegnung mit Schellings später Philosophie ist, in seinen eigenen Worten, eine glückliche Begegnung im Alter seiner Reife gewesen. Auch wenn man nicht eigentlich behaupten kann, dass Schelling eine Wende in seinem Denken bewirkt habe, so kann doch gesagt werden, dass er ihm eine grundlegende Hilfe dargeboten hat, durch die er seine eigene Perspektive entfalten und vertiefen konnte. Für Pareyson ist Schelling einer der wenigen großen Philosophen, durch die er sich selbst gefunden hat. Pareyson befasst sich ab den sechziger Jahren aktiv mit Schelling. In diesen Jahren war er damit beschäftigt, seine Interpretation der Auflösung des Hegelismus, die er in seinen ersten Schriften dargebracht hatte, zu korrigieren, oder, besser gesagt, sie zu integrieren: 179 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Claudio Ciancio

Ausgang dieser Auflösung sind somit nicht mehr nur Feuerbach und Kierkegaard, denn auch Schelling wird neben Letzteren gestellt, als derjenige, der die erste entscheidende und radikale Kritik an Hegel ausgeübt hat. In der Tat meint Pareyson, dass Schelling zuerst Hegel vorweggenommen und vorbereitet, und ihn dann selbst überholt hat, indem er den Idealismus zur Selbstauflösung gebracht, sich vollkommen von Hegel abgesetzt, und einen beachtlichen Anteil der darauf folgenden Kritik Hegels beeinflusst hat. 1 Pareyson weist Schelling eine zentrale Stellung in der Geschichte des modernen und zeitgenössischen Denkens zu. Er erscheint darin als derjenige, der das Programm der modernen Philosophie 2 erneuert hat und die lebendigsten Themen des zeitgenössischen Denkens initiiert hat. Erstens kommt ihm dabei der Verdienst zu, eine Hermeneutik des Mythos und des Symbols erarbeitet und Themen des tragischen Denkens vorweggenommen zu haben. 3 Dabei sollte man festhalten, dass Schellings Anschauung nicht eigentlich pessimistisch, sondern eher vom Thema der Melancholie und der Tragik der Existenz gezeichnet ist. 4 Dieses Thema erscheint schon in den Weltaltern 5 und findet Nachhall in der Philosophie der Offenbarung in der metaphysischen Grundfrage, deren möglicher Ausgang ins Nichts aus dem Leid, ja sogar aus der Verzweiflung entsteht. 6 Die metaphysische Grundfrage Schellings würde dann den Weg bahnen für eine Überwindung der ontischen Metaphysik. 7 Schon in den Erlanger Vorträgen erkennt Pareyson die Präsenz einer Ontologie des Unausschöpflichen, welche die ontologische Differenz vorwegnimmt. 8 Doch nicht nur das, denn Pareyson findet in Schelling, neben der ontologischen Differenz, auch und vor allem die Deklination des Seins im Sinne der Freiheit. Schelling stünde somit am Ursprung der Ontologie der Freiheit, in einer Reihe, die von Plotin und Pascal 9 aus-

Siehe Pareyson (1998), 57; Pareyson (1995), 407; Pareyson (1985), 260–264; Pareyson (2007), 243. 2 Siehe Pareyson (1995), 463. 3 Siehe Pareyson (1998), 70. 4 Siehe Pareyson (1985), 31; Pareyson (1998), 128 f. 5 Siehe Pareyson (1975), 60. 6 Siehe Pareyson (1998), 76; Pareyson (1995), 376. 7 Siehe Pareyson (1985), 260; Pareyson (1995), 386. 8 Siehe Pareyson (2005), 163 f.; 250. 9 Siehe Pareyson (1995), 9. 1

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Die Schelling-Rezeption der Turiner Schule

geht und sich durch den Beitrag des Existenzialismus und der Heidegger’schen Thematik des Nichts bereichern wird. 10

II. Obwohl Pareyson von vielen grundlegenden Themen Schellings angesprochen ist, ist die Verknüpfung von positiver und negativer Philosophie im Erstaunen der Vernunft das Thema, auf das er vor allem seine Aufmerksamkeit richtet und dem er eine zentrale Stellung zuweist. So schreibt er in der Ontologie der Freiheit: »Das Erstaunen der Vernunft, obwohl eigentlich eine Metapher […] würde so eine zentrale Stellung im philosophischen Denken Schellings erlangen. […] Zu Recht kann dies als die letzte und reifste Verarbeitung dessen betrachtet werden, was den Kern der Philosophie Schellings ausmacht: die intellektuelle Anschauung, die Mitwissenschaft, das wissende Nichtwissen, die Ekstase« 11. Die Art, wie das Erstaunen der Vernunft begriffen wird, entscheidet nach Pareyson die Interpretation der Philosophie des späten Schelling, und zwar »ob sie aufgefasst werden soll als eine anhaltende Form des Rationalismus oder als expliziter und ausgesprochener Irrationalismus oder noch als eine Philosophie, die sich diesen beiden Ergebnissen entzieht und deren Originalität gerade darin besteht, dass sie sich dieser Alternative entzieht« 12.

III. Nach Pareyson ist das Erstaunen der Vernunft das wesentliche Moment gerade der Ekstase der Vernunft, 13 das den Übergang bestimmt zwischen negativer und positiver Philosophie, ein Übergang, der »den Höhepunkt der philosophischen Entwicklung Schellings darstellt und zugleich das höchste Ergebnis seines Denkens ist« 14. Es lohnt sich daher auch und vor allem die Interpretation der Ekstase der Vernunft zu schildern um hierauf die Natur und Funktion des Erstaunens zu

10 11 12 13 14

Siehe ebd., 458. Ebd., 436 f. Ebd., 422. Ebd., 390. Ebd., 385.

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Claudio Ciancio

erläutern. Pareyson trägt Sorge, dass er den Schelling’schen Begriff der Ekstase aus einer Abflachung auf die mystische Tradition befreit: auch ist diese Tradition zweifellos vorhanden, wird sie jedoch von Schelling spekulativ behandelt. 15 Wir könnten sagen, dass die Interpretation Pareysons vom Übergang von der negativen zur positiven Philosophie die Unterschiede und die Zusammenhänge sehr gut vereint, indem er sich den zwei extremen Tendenzen der Kritik widersetzt: der, die den Gegensatz radikalisiert und der, die ihn abschwächt. Auf der einen Seite impliziert der Übergang »einen Sprung und eine Umkehrung« 16, auf der anderen Seite »ist es die Vernunft selber, die den Sprung und die Umkehrung ausübt, die vom Übergang verlangt werden: Sie beruhen eben gerade auf dem Herausgehen der Vernunft aus sich selbst« 17, so dass die »Ekstase kein Verzicht der Vernunft ist, sondern ihre höchst mögliche Bejahung unter den Zuständen in denen sie sich befindet« 18. Der Übergang ist weder eine dialektische Bewegung innerhalb der Vernunft, noch ein einfaches Ausschließen der Vernunft, denn er vollzieht sich als Unterwerfung. Der heikle Aspekt, den es zu verstehen gilt, ist, dass dieser Akt der »Endpunkt der negativen Philosophie ist« 19 und d. h., dass er der Vernunft sicherlich nicht fremd ist; andererseits aber ist diese Unterwerfung – die Ekstase der Vernunft – eben noch keine positive Philosophie, sondern nur die Voraussetzung dazu, wo dann aber doch »die positive Philosophie sofort ihren Anlauf nimmt, um ihre Aufgabe zu erfüllen, d. h. die Benennung und Definition des reinen Existierenden, das an sich keinen Namen und keinen Begriff besitzt« 20. Es geht um das Verständnis der Ekstase als »eine Form der Erkenntnis, in welcher der positive Aspekt, in dem sie ihr Objekt erreicht und begreift – falls man so über etwas sprechen kann, das nie objektiviert werden kann –, mit dem negativen Aspekt voranschreitet, in welchem ihr Objekt sie trifft und gleichsam blendet« 21. Demzufolge ist die Ekstase nicht nur eine Erniedrigung der Vernunft, sondern auch ein Zurückführen zu ihrer wahren Natur: »[I]n der Ekstase, gerade wenn das Denken seine wahre Ohnmacht 15 16 17 18 19 20 21

Siehe ebd., 389 f. Ebd., 387. Ebd., 390. Ebd., 394. Ebd., 397. Ebd., 398. Ebd., 392.

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vor dem Nichtverständlichen zeigt, findet die Vernunft ihre eigene echte und ursprüngliche Wirklichkeit wieder und erlangt ihre ganze und ungebrochene Fähigkeit zurück, d. h. sie entdeckt, dass das unerfassbare Objekt das Korrelat seiner reinen und ursprünglichen Fähigkeit ist: der nackten Vernunft entspricht das nackte Sein.« 22 So ist also die Philosophie Schellings nicht Rationalismus, denn die Vernunft verliert ihre absolute Autonomie und wird zu einem folgsamen Zuhören; doch auch kein Irrationalismus, denn die Vernunft ist imstande, das Sein zu verstehen und darin eine rationale Ordnung zu erkennen, auch wenn sich das Sein nicht darauf reduzieren lässt.

IV. Der springende Punkt der Interpretation der Ekstase der Vernunft nach Pareyson besteht jedoch nicht nur darin, dass er dessen spekulative Funktion erkennt, sondern, wie gesagt, auch darin, dass er die Dimension des Erstaunens hervorhebt: Denn, meint Pareyson, das Erstaunen »stellt das Wesen selbst der Ekstatischen Vernunft dar« 23. Im Erstaunen werden drei wesentliche Aspekte der Ekstase der Vernunft zusammengefasst, und zwar die Machtlosigkeit, das Verstummen, die Unterwerfung. Das Erstaunen ist also ein »Trauma der Vernunft« 24, das sie lähmt und zum Schweigen zwingt vor etwas, das höher ist und dem sie gehorchen muss. Die Stumpfheit und Lähmung des Erstaunens sind die Reaktion der Vernunft zum Akt der Einfangung des reinen Existierenden, der »die ursprüngliche und wesentliche Beziehung erschließt, die den Menschen an das Transzendente bindet« 25. Dies ist nach Pareyson der Kern der Philosophie des späten Schelling, also die Entdeckung einer ursprünglichen Bindung des Menschen mit dem Sein, eine Bindung, die unauflöslich ontologischer und gnoseologischer Art ist, eine unmittelbare – weil ursprüngliche – Beziehung, auf der die Möglichkeit der wahren Erkenntnis gründet: »[D]ie Intentionalität und Ontologizität sind nicht so sehr Eigenschaften des Bewusstseins, son22 23 24 25

Ebd., 395; 396. Ebd., 398. Ebd., 404. Ebd., 422.

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dern vielmehr dessen eigene Natur: sie bezeichnen es nicht nur, sondern sie gründen es sogar.« 26 Noch besser kann man sagen, dass »das Wesentliche des Menschen darin besteht, dass er reales Bewusstsein des Absoluten ist« 27. »Das ursprüngliche Bewusstsein ist kein wachsamer und aufmerksamer Akt der Erkenntnis, sondern ein Zustand der Stumpfheit und der Vergessenheit. Das Bewusstsein kann Gott nur besitzen in Form eines Besessenseins […]. Ursprünglich hat der Mensch kein Bewusstsein, sondern ist Bewusstsein, also Bewusstsein, das nicht spricht; sein Wissen weiß nicht um es selbst, da es nicht im Licht der Erkenntnis, sondern in der Dunkelheit der Vorahnung lebt.« 28

Gerade weil dies der Anfang jeder echten Erkenntnis ist, handelt es sich, auch trotz der Unmittelbarkeit, 29 nicht wirklich um Unbewusstsein, sondern vielmehr um »stillschweigendes oder stummes Bewusstsein« 30. Dies bringt eine tiefe Verwandlung der Natur des Wissens mit sich, das Pareyson schon in Wahrheit und Interpretation als Wissen darstellte, das auf das Sein weist ohne es durch sich zu erklären. 31 Die Stumpfheit des Bewusstseins, die in der Ekstase der Vernunft erfahren wird, ist ihr also nicht fremd, sie ist nicht einfach verletzend und begrenzend; vielmehr ist es das Wiederaufgreifen jenes ursprünglichen Bewusstseins der Menschheit innerhalb der Philosophie, das Schelling in der Philosophie der Mythologie beschrieben hat; die Theoplessie der primitiven Menschheit, ihr ursprünglicher Monotheismus, in dem es »wie getroffen, und, wir können sagen, bezaubert und fasziniert ist von Gott, wie ergriffen oder erfüllt oder eingenommen von ihm; besessen von ihm wie von einer fremden Macht, die es seiner selbst und seiner eigenen Macht entzieht« 32. Dieses unmittelbare Bewusstsein Gottes ist in doppeltem Sinne ursprünglich: in ontologischem und auch in historischem Sinn. Eigentlich müsste man hier zwischen dem Bewusstsein des Urmenschen auf der einen und dem Bewusstsein der primitiven von der Erbsünde ge-

26 27 28 29 30 31 32

Ebd., 413. Pareyson (1985), 21. Pareyson (1998), 156. Siehe Pareyson (1995), 405. Ebd., 413. Siehe Pareyson (2005), 164. Pareyson (1995), 411.

184 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Die Schelling-Rezeption der Turiner Schule

zeichneten Menschheit, auf der anderen Seite unterscheiden. Was in jedem Fall zu unterstreichen ist, ist dass der Mensch, auf die eine oder auf die andere Weise, reales Bewusstsein des Absoluten ist. Im Erstaunen aber unterscheidet Pareyson, neben der Stumpfheit, ein zweites Moment, das eine zweite, komplementäre Reaktion vor dem reinen, grundlosen Existierenden darstellt. Es ist das Moment des rauschenden Schwindels, der die Reaktion »vor der abgründigen Grundlosigkeit des unvordenklichen Seins« 33 bezeichnet. Der Verweis auf den Abgrund der Vernunft, von dem Kant in der Transzendentalen Dialektik der KrV spricht, gilt hier nicht nur als bedeutender Vorgänger, sondern auch, in der Interpretation Pareysons, als Bestätigung, dass der Schwindel nicht vor dem Nichts, sondern vor dem Sein entsteht, das in seiner Grundlosigkeit, in seiner radikalen Kontingenz und Willkürlichkeit, enigmatisch und unheimlich ist. 34

V. Auf Grund der Untersuchung des Begriffes des Erstaunens kann man nun mit größerer Genauigkeit zurück zum Thema der Verknüpfung von positiver und negativer Philosophie. Das Erstaunen bildet eine Unterbrechung im Fortschreiten der Vernunft, eine Unterbrechung aber, die dadurch entsteht, dass die Vernunft erkennt, was sie selber gründet: Es entsteht eine Unterbrechung, da die Vernunft unfähig ist, ihr eigenes Prinzip zu vermitteln, denn sie ist davon gefangen und beherrscht. Gerade darin jedoch findet die Vernunft ihr eigenes Prinzip, das, was sie zur Erkenntnis und Wahrheit fähig macht. So wird man denn sprechen müssen von einer »Zweideutigkeit der rationalen Ekstase, die als Angelpunkt der zwei Philosophien sie einerseits vereint und andererseits trennt« 35. Dieses perfekte Gleichgewicht ermöglicht den Übergang, denn es macht aus der Ekstase gleichzeitig den letzten Moment der negativen und den ersten der positiven Philosophie: »[D]as Ende der ersten und der Anfang der zweiten sind auf die gleiche Weise ekstatisch.« 36

33 34 35 36

Ebd., 409. Siehe ebd., 421 f. Ebd., 424. Ebd., 425.

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VI. Die These des Primats des Seins über das Bewusstsein scheint jedoch noch nichts auszusagen über seine Natur. Es ist aber Pareyson klar, dass ein Sein, das dem Bewusstsein vorausgeht und es ermöglicht, nur als Freiheit gedacht werden kann; und Bestätigung dessen sucht er nun auch bei Schelling. In der Neuausgabe von Existenz und Person sowie in den Vorlesungen von 1983, die im Band Sein Freiheit Zweideutigkeit erschienen sind, interpretiert er das Primat des Seins über das Denken als Primat der Kategorie Wirklichkeit über die Kategorien Möglichkeit und Notwendigkeit, und gründet auf diesem Primat seine Ontologie der Freiheit: »Die Wirklichkeit setzt nichts voraus, außer der Freiheit. Dies ist schließlich auch die Lehre Plotins und Schellings, die zu diesem Punkt aus dem höchsten Gipfel des Denkens Worte gesagt haben, die weder ignoriert noch vernachlässigt werden können, und dies noch mehr, da sie auf ihrem Weg die definitive Auflösung des Begriffs eines notwendigen Seins durch die Kritik Kants treffen und somit den Begriff der Freiheit an Stelle des Letzteren begünstigen können.« 37

Das Primat der Kategorie der Wirklichkeit besagt ihre schenkende Grundlosigkeit, also das, was nur aus der Freiheit gedacht werden kann. 38 Hiermit gelangen wir zu den grundsätzlichen Thesen des späten Pareyson, zum Gedanken des Ursprünglichen als reiner und absoluter Freiheit. Nach Pareyson ist Schelling derjenige, der Gott als Urwollen gedacht hat, ihn frei gedacht hat nicht nur in Bezug auf die Schöpfung, also als frei zu schaffen oder nicht zu schaffen; sondern sogar frei zu sein oder nicht zu sein: so sehr Herr des Seins, dass er Herr auch des eigenen Seins ist. 39 Meiner Meinung nach bleibt aber das Primat der Freiheit bei Schelling sehr problematisch und nicht eindeutig. In zwei seiner späten Schriften ist selbst Pareyson gezwungen zu erkennen, dass Schelling befreit werden muss »von der Verpflichtung seines Denkens gegenüber der Notwendigkeit, die sein Denken belastet hat« 40, und »befreit von jeder übrigen Sorge um die Idee der Notwendigkeit« 41. 37 38 39 40 41

Pareyson (1985), 29. Siehe Pareyson (1998), 44 u. 80. Siehe ebd., 38; 89; 139. Pareyson (1995), 457. Pareyson (1995), 464.

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Die Schelling-Rezeption der Turiner Schule

Diese Aussagen mögen, nach dem wiederholten Versuch, Schelling an den Ursprung der Ontologie der Freiheit zu setzen, verblüffen, doch sind sie zweifellos treffend.

VII. Was ich der Analyse Pareysons hinzufügen möchte ist eine Weiterführung dieser Vorbehalte. Das Wesentliche ist, dass das Sein, welches dem Denken im späten Schelling vorausgeht, sich definiert als das »nothwendig Existierende«, und verstanden wird als »das nicht in Folge eines vorausgehenden Begriffes, sondern das von selbst, wie man es ehemals ausdrückte, a se, d. h. spontan, ultra, ohne vorausgehenden Grund, Existierende« 42. Der Begriff der Notwendigkeit soll hier das definieren, dem keine Potenz vorausgeht, das reine Wirklichkeit ist. Trotzdem muss hier manche Unsicherheit aufkommen, da der Begriff der Notwendigkeit überwiegend auf andere Weise benutzt wird, um »das nicht mehr nicht sein Könnende« 43 zu beschreiben, also das Potentielle (das Zufällige, da es sein oder nicht sein kann), das, zum Akt geschritten, die Potenz verliert und daher nichts anderes sein kann als das, was es geworden ist, erstarrt und unfähig, sich aus sich selbst zu verwandeln. Das reine Existierende wird in nicht ganz treffender Weise als notwendig definiert, da, wie Schelling sagt, sein Sinn der des unzweifelhaft Existierenden ist, womit nicht das gemeint ist, was gezwungen ist, sondern das, was nicht bezweifelt wird, da ihm die Potenz nicht vorausgeht. 44 Es ist, als gäbe es für Schelling ausschließlich die Kategorien der Möglichkeit und der Notwendigkeit, und als wäre er damit gezwungen, das reine Existierende in die Sphäre des Notwendigen zu ziehen, in die es sich schlecht fügt: Die Wirklichkeit, als reine Existenz verstanden, kann nämlich gedacht werden als ein nicht auf die Möglichkeit und Notwendigkeit Reduzierbares. Schelling geht nicht so weit, und wenn er dem reinen Existierenden eine Kategorie zuweisen muss, bleibt ihm nur die Kategorie der Notwendigkeit, die auf das objektivierte Seiende besser passte, das die zweite Potenz definiert. Schelling verspürt deutlich, dass hier ein Problem besteht. So 42 43 44

Schelling (1858), II/3, 168. Ebd., 208. Siehe ebd., 158; 168.

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definiert er in den Vorlesungen von 1827/28 das Sein, in dem sich die erste Potenz verwirklicht, als »nur nothwendig« und stellt es dem »Uebernothwendigen«, also Gott, gegenüber, 45 und drückt damit den Bedarf nach einer neuen Kategorie aus. In der Reinrationalen Philosophie finden wir dann auch eine sehr aufschlussreiche Präzisierung: Schelling bemerkt gelegentlich, dass das reine Existierende, das einfach Existierende, das jeden Begriff ausschließt, deutlich zu unterscheiden ist von der zweiten Potenz; 46 hiermit gibt er die Ähnlichkeit beider Elemente zu erkennen und verrät, dass er das rein göttliche Existierende nach der zweiten Potenz geformt hat. Das Bedürfnis, sich über die Notwendigkeit hinwegzusetzen und das Ursprüngliche durch andere Modalkategorien auszudrücken, wird dann auch im Begriff der Zufälligkeit erkennbar, der die Kontingenz, aber auch und vor allem das unerwartete und unvorhersehbare Geschehen, das Ereignis, bezeichnet. Schon in den Vorlesungen von 1832/33 hatte Schelling zwei verschiedene Bedeutungen des Begriffes unterschieden. Meist ist das zufällig, was nicht um es selbst willen ist, sondern um etwas anderes willen. »Es gibt aber außer dieses Zufälligen noch ein Zufälliges einer höheren Art, dem es absolut möglich ist, zu sein und nicht zu sein. Hier muss das Sein, wenn es ist, ein schlechterdings positives sein. Wir können nur sagen, dass es ist, dass es nicht nicht sein kann. Es ist, weil es ist, oder: es ist ohne Grund; oder: es ist ›von selbst‹. […] Wo die Natur des Seienden selbst nicht erlaubt, dass es einen Grund habe, da ist das ›zufällig Existirende‹ im höchsten Sinn.« 47

Hier drückt Schelling den Begriff der reinen, grundlosen Wirklichkeit aus, die sich der Kategorie der Notwendigkeit entzieht: Die Zufälligkeit scheint als dritte Kategorie der Modalität zu funktionieren, jene Wirklichkeit, die kein Warum hat (nach dem bekannten Spruch von Angelus Silesius) und die nur von der Freiheit aus gedacht werden kann. Dieser Weg aber ist, wie gesagt, von Schelling nicht bis zum Ende begangen. Trotzdem ist es höchst interessant zu sehen, wie Schelling das göttliche Sein problematisieren und in gewissem Maße seine Notwendigkeit leugnen musste, um eben genau diese Freiheit zu gewährleisten.

45 46 47

Schelling (1990), 154. Siehe Schelling (1856), II/1, 315. Schelling (1972), 127.

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Die Schelling-Rezeption der Turiner Schule

VIII. In meiner eigenen Entwicklung der Ontologie der Freiheit wird ein zweiter Aspekt des späten Schelling hervorgehoben, nämlich dass das Ursprüngliche nicht einfach, sondern zwiefach ist. Das göttliche Sein ist nicht einfach. Wäre es einfach, wäre kein Raum für seine Freiheit. Die Art, in der es dem späten Schelling gelingt, die göttliche Freiheit zu denken, ist eben diese Zweifachheit, um es genauer zu sagen, die Differenz, die er zwischen reine Existenz und Seinkönnen setzt. Hier wurzelt der Urzufall, die Zufälligkeit oder das ursprüngliche Geschehnis, in dem das reine Existierende das Seinkönnen anzieht und es eigentlich Gott wird. In jenem Geschehnis hat nicht nur die Freiheit der Schöpfung ihre Wurzel; hier wurzelt jene noch radikalere Freiheit, die schon Pareyson unterstrichen hat, die Freiheit Gottes sich selbst gegenüber, sein Freiheit-Sein: Gott geschieht, ist ein ungegründetes Geschehnis. Dennoch ist das nicht, wie gesagt, die These, die Schelling vertritt, für den es bei der göttlichen Freiheit um die Übertragung der göttlichen Existenz und des göttlichen Wesens in die Schöpfung und deren Konsequenzen für Gott geht. Nur weil die Schöpfung die Art des Gottseins verändert, kann man von einer Freiheit Gottes gegenüber des eigenen Seins sprechen, doch letztlich ist die Freiheit Gottes die Freiheit der Schöpfung. Die Schelling’sche Zweifachheit Gottes ist jedenfalls ein wichtiger Gedanke, den ich in meiner eigenen Ausarbeitung der Ontologie der Freiheit aufzuwerten versucht habe. Das Sich-selbst-Setzen der Freiheit, als Setzen des Seins, ist Setzen einer Anderheit, eine Uranderheit, die die Grundlage jeglicher weiterer Anderheit ist. Die Urfreiheit führt eine Trennung im Selbst ein und ermöglicht die Anderheit, bricht die Kompaktheit der reinen Identität ohne dass dies zur Zerstörung der Einheit führt. Sie ist das Eine, das die Zweiheit gebiert, nicht auf Grund einer inneren Spaltung, auch nicht durch Selbstvervielfältigung: keine Spaltung des Einen, weder fatale und unerklärbare Trennung des mannigfaltigen Endlichen von der Einheit, auch keine Selbstreflexion des Einen. Die Zeugung des Seins, als Werk der Urfreiheit, ist Entscheidung für das Sein, die es nicht voraussetzt, ebenso wenig wie sie sein Gegenteil voraussetzt, jedoch die möglichen Gegensätze setzt, das Sein und das Nicht-sein, im Akt selbst, in dem die Urfreiheit sich setzt. Deshalb ist die Urfreiheit, wie Pareyson ausdrücklich betont, nicht nur Anfang, sondern dabei auch Entscheidung. Die Tatsache, dass sie sich in Bezug auf das Sein ent189 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Claudio Ciancio

scheidet, heißt, dass sie sich davon unterscheidet, dass das Sein anderes ist. Ein reines Sich-selbst-Setzen wäre einfach nur eine Duplikation. Im Gegenteil, wenn das Sein (dank einer Entscheidung) gesetzt wird, obwohl es ebenso nicht gesetzt werden könnte, dann wird es vom Setzenden als Anderes gesetzt. Wäre die Urfreiheit einfach nur ein Sich-selbst-Setzen, dann hätten wir tatsächlich eine Dualität, die dennoch unmittelbar zur Einheit zurückgeführt werden würde, von ihr wieder verschlungen; wir hätten eine Dualität, die zurückfließt und die im Hinblick auf die Setzung der Einheit zweckdienlich ist. Die Urfreiheit dupliziert sich nicht, umso weniger teilt sie sich, denn das Sein, das gesetzt worden ist, ist immer noch das Sein der Freiheit, und trotzdem, die Freiheit artikuliert sich, um zu existieren, setzt das Andere seines Selbst, das Sein. Zum Sein ist die Freiheit nicht gezwungen; im Sein setzt sie, nicht unbedingt sich selbst, eher die Voraussetzung ihrer Existenz, ohne die sie ins Nichts zurückfließen würde. Die Anderheit zwischen Freiheit und Sein ist der ursprünglichste Unterschied: Die Freiheit ist ganz und gar jenseits des Seins und nicht darauf zurückführbar; zwischen der Freiheit und dem Sein ist ein Sprung.

IX. Zum Schluss sollte nicht vergessen werden, dass die lange und gründliche Auseinandersetzung Pareysons mit Schellings Philosophie in der Turiner Schule Interesse auch an anderen Aspekten des Schelling’schen Werkes angeregt hat. Gerade in München, wo er lange Studienaufenthalte hatte und Mitglied der Schelling-Kommission gewesen ist, gilt es insbesondere Francesco Moisos zu gedenken, dem eine grandiose und außergewöhnliche Forschungsarbeit über Schellings Philosophie zu verdanken ist, insbesondere der Naturphilosophie. Es ist weitgehend bekannt, dass ohne seine historisch-philosophische und historisch-wissenschaftliche Arbeit die Naturphilosophie Schellings nur schwer zu verstehen sein würde. Ich beziehe mich dabei insbesondere auf den Band Vita natura libertà von 1990, 48 der die grundlegenden Themen des frühen Schelling behandelt und auf die beeindruckende Abhandlung Magnetismus, Elektrizität, Galvanismus aus dem Buch, das die Bände 5–9 der Historisch-Kritische Aus48

Francesco Moiso, Vita, natura, libertà. Schelling (1795–1809), Milano 1990.

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Die Schelling-Rezeption der Turiner Schule

gabe begleitet. 49 Doch sollte auch sein Engagement erwähnt werden zur Verbreitung der Schelling-Studien innerhalb der Schelling-Gesellschaft und seine Verlagsaktivitäten. Am Ende seien auch die Arbeiten von Giuseppe Riconda erwähnt, über die Geschichte der Philosophie bei Schelling, 50 die Bearbeitung der Nachschrift Secrétan-Amiel der Philosophie der Mythologie von Maurizio Pagano, 51 die Arbeiten von Francesco Tomatis zu Philosophie der Offenbarung, 52 von Tonino Griffero über die Ästhetik Schellings 53 und über den Einfluss von Oetinger 54, das Buch von Leonardo Lotito über die Kritik an Hegel 55 und das Buch von Enrico Guglielminetti zum Thema des Individuums, 56 bis hin zu den Arbeiten der Jüngeren wie Emilio Corriero 57 und Davide Sisto, 58 die beweisen, dass der Impuls Pareysons fruchtbar gewesen ist und es immer noch ist.

Literatur Pareyson, Luigi (1975): Schelling, presentazione e antologia, Torino. Pareyson, Luigi (1985): Esistenza e persona, Genova. Pareyson, Luigi (1995): Ontologia della libertà, Torino. Pareyson, Luigi (1998): Essere libertà ambiguità, Milano. Pareyson, Luigi (2005): Verità e interpretazione, Milano. Pareyson, Luigi (2007): Interpretazione e storia, Milano. 49 Francesco Moiso, Magnetismus, Elektrizität, Galvanismus, Ergänzungsband zu den Werken Band 5–9 der Historisch-kritischen Ausgabe von Schellings Schriften, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994. 50 Giuseppe Riconda, Schelling storico della filosofia (1794–1820), Milano 1990. 51 Maurizio Pagano/Luigi Pareyson, La philosophie de la mythologie de Schelling: d’après Charles Secrétan (Munich 1835–36) et Henri-Frédéric Amiel (Berlin 1845– 46), Milano 1991. 52 Francesco Tomatis, Kenosis del logos. Ragione e rivelazione nell’ultimo Schelling, Roma 1994. 53 Tonino Griffero, L’estetica di Schelling, Roma/Bari 1996. 54 Tonino Griffero, Oetinger e Schelling. Teosofia e realismo biblico alle origini dell’idealismo tedesco, Segrate/Milano 2000. 55 Leonardo Lotito, Potenza e concetto nella critica schellinghiana a Hegel, Milano 2006. 56 Enrico Guglielminetti, L’altro assoluto. Oscurità e trasparenza dell’individuo nel giovane Schelling (1792–1799), Milano 1996. 57 Emilio C. Corriero, Libertà e conflitto. Da Heidegger a Schelling, Torino 2013. 58 Davide Sisto, Lo specchio e il talismano. Schelling e la filosofia della natura, Milano 2009.

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Claudio Ciancio Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1856): Einleitung in die Philosophie der Mythologie, in: Sämmtliche Werke, II/1, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/Augsburg. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1858): Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie (1842–1843), in: Sämmtliche Werke, II/3, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/ Augsburg. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1972): Grundlegung der positiven Philosophie; Schellings System der Weltalter oder II. Teil der positiven Philosophie; System der positiven Philosophie I. Teil, hg. v. Horst Fuhrmans, Torino. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1990): System der Weltalter. Münchener Vorlesungen 1827/28 in einer Nachschrift von Ernst von Lasaulx, hg. v. Siegbert Peetz, Frankfurt/M.

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L’amour fou. Pareyson und Heidegger über Sein und Freiheit Thorsten Gubatz (Br. Simeon OSB)

In den Jahren 1936 und 1937 reist Luigi Pareyson als Philosophiestudent zweimal nach Deutschland. Er hört Jaspers in Heidelberg und wird – noch keine 20 Jahre alt – von Heidegger am 21. September 1937 sogar in dessen Haus empfangen. 1 So tief ihn aber Heidegger auch beeindruckt, dauert es doch lange, bis er sich in expliziter Weise mit seinem Denken auseinandersetzt: Erst in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens wird es dazu kommen, und noch in den drei letzten Lebensjahren Pareysons, in denen sich der Großteil seiner Äußerungen über Heidegger konzentriert, bekennt er, »daß man angesichts von Denkern seiner Größe nur lernen und schweigen kann« 2.

1.

Pareysons Frühwerk: Der ontologische Personalismus oder Jenseits von Idealismus und Existenzphilosophie

In seiner Heimat Piemont hat der 1918 geborene Pareyson eine katholische Erziehung erfahren, gefolgt von einer akademischen Ausbildung in der durch den Neoidealismus von Benedetto Croce und Giovanni Gentile geprägten Universitätsphilosophie Italiens. So hätte sich erwarten lassen, dass der junge Pareyson vielleicht aufgrund der zeitgenössischen deutschen Existenz- und Existentialphilosophie sich von den religiösen wie auch von den philosophischen Traditionen seiner Herkunft emanzipieren würde. Doch so einfach ist es nicht; schon Pareysons Turiner Doktorvater Augusto Guzzo, bei dem er 1939 promoviert mit einer Arbeit über Jaspers und die Existenzphilosophie, war ein Vertreter jener philosophischen Strömung in Italien, die kaVgl. Pareyson (1995), 441 f., und Tomatis (2003), 10. »[Non mi metterò certo fra i critici di Heidegger], consapevole che di fronte a pensatori della sua statura non c’è che da imparare e tacere« (Pareyson [1989a], 454).

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Thorsten Gubatz (Br. Simeon OSB)

tholischen Glauben und idealistisches Denken in einem christlichen Spiritualismus miteinander zu versöhnen suchten. 3 Pareyson wird sich nun seinerseits nicht nur aufgrund der Existenzphilosophie vom Idealismus emanzipieren, sondern auf der Grundlage des christlichen Personbegriffs gleichermaßen auf Distanz zu beiden gehen. Pareysons philosophische Zeitdiagnose und Selbstverortung geht in Esistenza e persona, einer Sammlung von zwischen 1942 und 1949 entstandenen Beiträgen, vom Scheitern der idealistischen Philosophie aus, einschließlich des italienischen Neoidealismus und insbesondere desjenigen von Benedetto Croce. 4 Indem der Idealismus die Person als Individuum entwertet, nimmt er sich nach Pareyson die Möglichkeit zu zeigen, »in welcher Weise es der Totalität des Geistes gelingt, sich in der Partikularität des Werkes niederzuschlagen« 5. Mit der individuellen Identität wird nolens volens auch die Alterität entwertet, so dass dunkel bleibt, »in welcher Weise eine Universalität, die nicht persönlich ist, der Anerkennung von Alterität sich öffnet«. 6 Die geschichtliche Bedeutung der Existenzphilosophie erscheint als jener des Idealismus diametral entgegengesetzt. Ihr Hauptverdienst sieht Pareyson darin, dass sie die Bestimmtheit allen persönlichen Wirkens durch die individuelle Initiative stark hervorgehoben hat. Doch in bloßer Umkehrung der idealistischen Einseitigkeit wird nun eben nicht die Universalität der Wahrheit, sondern deren Individualität zu sehr betont. Indem die Existenzphilosophie die Universalität der Person dadurch im wahrsten Sinn entwertet, dass sie auf keiner Wertgrundlage mehr bestimmbar scheint, nimmt sie sich nach Pareyson die Möglichkeit zu zeigen, »in welcher Weise diese unwiederholbare Singularität sich von jener unterscheidet, der man in der Zu Guzzo vgl. Pareyson (1954), Höllhuber (1969), 311–325, Pareyson (1987), Bagetto (1995), 108–127 (Kap. 5), und Stauder (2004), 127 ff. – In seinen »Sguardi su la filosofia contemporanea« nennt Guzzo den gerade 22-jährigen Pareyson den »più giovane e più intelligente dei miei scolari, [e] ora mio assistente« (Guzzo [1940], 49), zu Deutsch: den »jüngsten und intelligentesten meiner Schüler, [der] nun mein Assistent [ist]«. 4 Für eine ausführlichere Behandlung des Pareyson’schen Frühwerkes und der Auseinandersetzung mit Croce, als sie hier möglich ist, vgl. Gubatz (2007), 5–14, und Gubatz (2009), 229–246. 5 »[I]n qual modo la totalità dello spirito riesca a condensarsi nella particolarità dell’opera« (Pareyson [1950], 177). 6 »[I]n qual modo una universalità che non sia personale si apra al riconoscimento dell’alterità« (ebd., 177). 3

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L’amour fou. Pareyson und Heidegger über Sein und Freiheit

natürlichen Welt begegnet« 7, das heißt, inwiefern die Person als Person nicht bloß zählbares Eines unter vielen ist; überdies wird wiederum die Alterität entwertet, weil dunkel bleibt, »in welcher Weise einer Singularität, die nicht universal ist, es denn gelingt, sich der Anerkennung der Alterität zu öffnen.« 8 Die Realität des Endlichen wird für Pareyson so lange philosophisch nicht sachgemäß verstanden worden sein, wie das philosophische Verständnis der Singularität der Person sich als nicht sachgemäß erweist. Zugleich wird aber auch das philosophische Verständnis des Unendlichen so lange kein sachgemäßes sein, wie jenes ihrer Universalität es nicht ist. Weder durch Idealismus noch durch Existenzphilosophie sind also Pareyson zufolge das Endliche und das Unendliche philosophisch sachgemäß verstanden worden. Wie aber Pareyson aus der Kritik am Idealismus einerseits und an der Existenzphilosophie andererseits eine Alternative zu gewinnen sucht, ist durch die Rede von Überbetonungen und Einseitigkeiten hier schon angedeutet worden – nämlich durch deren Vermeidung. Singularität und Universalität der Person sind als gleichursprünglich zu verstehen: »Die Person ist singulär, weil sie universal ist, und sie ist universal, weil sie singulär ist. Das Fundament der Singularität der Person ist jenes selbst, das ihre Universalität fundiert, und umgekehrt. Es handelt sich im Grunde um einen einzigen Prozess, mit dem die Person zugleich sich singularisiert und sich universalisiert.« 9

Durch diese Reformulierung des klassischen Begriffs von der Person als rationalis naturæ individua substantia wird nach Pareyson ein angemessenes philosophisches Verständnis der Person als Einheit von Identität und Alterität, und das heißt konkreter: als Verhältnis zugleich zu sich selbst und anderen in einer Welt, erst wieder möglich. Das ›Fundament‹ von Singularität und Universalität der Person sieht Pareyson in der Initiative. Als Forderung, und das heißt zugleich

»[I]n qual modo questa singolarità irrepitibile si distingua da quella che si rinviene nel mondo naturale« (ebd., 176). 8 »[I]n qual modo una singolarità che non sia universale riesca poi ad aprirsi al riconoscimento dell’alterità« (ebd.). 9 »La persona è singolare perché è universale ed è universale perché è singolare. Il fondamento della singolarità della persona è quello stesso che fonda la sua universalità, e viceversa. Si tratta, in fondo, di un unico processo, col quale la persona a un tempo si singolarizza e si universalizza« (ebd., 178). 7

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Thorsten Gubatz (Br. Simeon OSB)

als Entscheidung und als Wertung, singularisiert und universalisiert sich die Initiative; durch die Entscheidung nämlich wird sie faktisch und konkret bestimmt, durch die Wertung aber in einen normativen und offenen Horizont gestellt. Die Faktizität der Person ist eine wesentlich normative, die Normativität der Person ist eine wesentlich faktische. Die Person ist also faktisch-normative Unitotalität, und diese Unitotalität ist aus sich selbst heraus dynamisch: Die Initiative ist als ›Fundament‹ von Singularität und Universalität der Person zugleich auch der Beweger von deren Geschichte. »In der Tat ist die Person in jedem Augenblick ihrer Geschichte einerseits das, was sie schon ist, und andererseits das, was sie noch zu sein hat: stets geschlossen und offen zugleich.« 10 Mithin ist die Geschichte der Person das Hin und Her, die Pulsation zwischen Identität als faktisch-historischer Geschlossenheit in sich und normativ-überhistorischer Offenheit für die Alterität. Dank der Offenheit persönlicher Identität wird die Geschichte der Person in ihrem Verlauf durch die jeweilige Alterität mitbestimmt. Als immer schon mit sich identisch und zugleich insuffizient ist die Person zur in welchem Maß auch immer unabhängigen Gestaltung ihrer Zukunft auf ihr Anderes angewiesen. 11 ›Ihr Anderes‹ bedeutet aber vielerlei – so die von der singulären Person stets noch nicht hinreichend realisierte universale Menschheit; da deren Universalität sich immer schon in einer Welt als Mit- und Umwelt singularisiert hat, meint ›das Andere‹ auch die anderen Personen oder Gegenstände; da all deren Bestimmtheit durch Personen niemals endgültig hinreicht, ist das Andere auch man selbst oder andere Personen oder Gegenstände nicht so, wie sie durch ein singuläres (Vor-)Urteil bestimmt sind, sondern so, wie sie sich durch das eigene (Vor-)Urteil zu einem anderen Zeitpunkt, (Vor-)Urteile anderer Personen oder gar von ihnen selbst her zeigen – so kann es auch das individuelle oder kollektive Unbewusste sein. Auf dieser personalistischen Grundlage erörtert Pareyson schließlich auch die Frage nach der Möglichkeit der Philosophie im

»Infatti la persona, in ogni istante della sua storia, per un verso è quel ch’è già, e per l’altro dev’essere ancora: sempre conclusa e aperta a un tempo« (ebd., 181). 11 Vgl. ebd., 182: »La persona è totalità in quanto è l’unità dei suoi atti, ed è insufficienza in quanto è la possibilità di atti sempre nuovi. La persona è sempre sé stessa, eppure dev’esser altro ancora, e quest’altro ch’è per essere sarà ancora lei stessa: questa è la pulsazione della persona e il ritmo della sua storia.« 10

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L’amour fou. Pareyson und Heidegger über Sein und Freiheit

Hinblick auf die falsche Alternative, die Philosophie müsse entweder in die Vielheit der Philosophien zerfallen oder diese Vielheit zu einer Totalität zusammenzwingen. Versteht die Philosophie sich selbst als Werk von Personen für Personen, so gründet ihre Einheit in der Einheit der Person. Besteht diese aber in der Pulsation von Identität als faktisch-historischer Geschlossenheit in sich und normativ-überhistorischer Offenheit für die Alterität, dann gibt es nur eine mögliche Einheit der Philosophie – und zwar den Dialog der mannigfaltigen Philosophien. 12 Den Begriff der Person als solchen sucht der junge Pareyson nicht abzulösen von der christlichen Tradition, aus der er ihn gewinnt. Vielmehr empfiehlt für ihn die Tauglichkeit des Personbegriffs bei der Beseitigung von zeitgenössen philosophischen Einseitigkeiten wie den idealistischen oder existenzphilosophischen die christliche Religion als solche. So scheut er auch die Grenzüberschreitung von der Philosophie zur Theologie hin nicht – sie wird ihm gar nicht zum Problem. In dem Vortrag Tempo ed eternità von 1943, den er ebenfalls in Esistenza e persona aufnimmt, sagt er etwa: »Das theandrische Verhältnis besteht, insofern Gott es gründet; und insofern Gott, und Gott allein, es gründet, insofern ist er außerhalb jedes möglichen Verhältnisses. Gott ist die Möglichkeit und die Unmöglichkeit des theandrischen Bezugs […]; mithin ist gerade die Irrelativität Gottes Fundament seiner Relativität. […] Die Relativität Gottes ist also seine Transzendenz. Als transzendent ist Gott Krönung, Komplement und Konklusion der geschichtlichen Welt: Ziel der Initiative und Sinn der Geschichte.« 13

Das ist nichts anderes als eine abstrahierende Reformulierung des schöpfungstheologischen Verhältnisses von göttlicher und menschlicher Personalität. Es ist theologische Rede, die in wie auch immer impliziter Weise und in wie auch immer abstrakter Formulierung letztlich doch die biblische Schöpfungslehre als Offenbarung und diese Offenbarung als Grundlage einer Theorie der Person als solcher anerkennt.

Vgl. Pareyson (1958), 217. »In tanto sussiste la relazione teandrica in quanto Dio la fonda; e in tanto Dio, e Dio solo, la fonda, in quanto egli è fuori da ogni possibile relazione. Dio è l’impossibilità e la possibilità del rapporto teandrico […]; quindi proprio l’irrelatività di Dio è fondamento della sua relatività. […] La relatività di Dio è, dunque, la sua trascendenza. Come trascendente, Dio è coronamento, complemento, conclusione del mondo storico: fine dell’iniziativa e senso della storia« (Pareyson [1943], 167 f.).

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Thorsten Gubatz (Br. Simeon OSB)

Was konnte einen solchen christlichen Personalisten wie den frühen Pareyson nun an Heidegger interessieren, der erklärt hatte, die Philosophie sei grundsätzlich ›a-theistisch‹, das heißt, sie müsse sich »radikal und klar ohne Seitenblicke auf weltanschauliche Betriebsamkeiten« dafür entscheiden, »das faktische Leben von ihm selbst her aus seinen eigenen faktischen Möglichkeiten auf sich selbst zu stellen«? 14 In seinem Marburger Vortrag Phänomenologie und Theologie von 1928 heißt es bekanntlich gar, »daß der Glaube in seinem innersten Kern als eine spezifische Existenzmöglichkeit gegenüber der wesenhaft zur Philosophie gehörigen und faktisch höchst veränderlichen Existenzform der Todfeind bleibt«, weshalb es so etwas wie eine christliche Philosophie nicht gebe: Das sei ein ›hölzernes Eisen‹. 15 Freilich stammen diese heutzutage weithin bekannten Zitate aus Texten Heideggers, die dem jungen Pareyson nicht zugänglich waren; dass aber der Autor von Sein und Zeit, Was ist Metaphysik? und der Freiburger Rektoratsrede nicht als christlicher Philosoph verstanden werden wollte und sich in Sein und Zeit von Diltheys, Husserls oder Schelers personalistischen Entwürfen distanziert hatte, 16 musste auch dem jungen Pareyson bekannt sein. Eine sachliche Parallele zwischen Pareysons Personalismus und Heideggers Daseinsanalytik lässt sich allenfalls rekonstruieren. Man könnte nämlich fragen, ob nicht Pareyson mit der Person als Einheit von Identität und Alterität, das heißt als ein Verhältnis zugleich zu sich selbst und zu anderen Personen in einer Welt, dasselbe Grundphänomen in seiner Ganzheit philosophisch zu bewahren suche, das Heidegger in Sein und Zeit auf eine quasi säkularisierte Weise ebenfalls philosophisch zu bewahren suche – und zwar als Dasein im Sinne einer ›selbsthaftekstatisch-horizontalen Erschlossenheit‹. 17 Wenn Gianni Vattimo zuHeidegger (1922), 28. Heidegger (1928), 66. – Vgl. die Bemerkung über Kierkegaard in Heideggers Freiburger Vorlesung über Schelling vom ersten Trimester 1941: »Kierkegaard ist ein ›religiöser Denker‹ ; d. h. nicht Theologe und nicht ›christlicher Philosoph‹ (Unbegriff)« (Heidegger [1941], 19). 16 Vgl. Heidegger (1926), 63 f., und Heidegger (1925b), 157–182 (§ 13). 17 Dieser Ausdruck stammt von Friedrich-Wilhelm von Herrmann: »Die Erschlossenheit, in der sich mein eigenes Sein als Existenz hält, nennen wir […] die selbsthaft-erstreckte bzw. die selbsthaft-ekstatische Erschlossenheit; die Erschlossenheit des Zuhandenseins (und überhaupt des Seins des nichtmenschlichen Seienden), in die ich in meiner selbsthaft-ekstatischen Erschlossenheit erstreckt bin, bezeichnen wir als horizontale Erschlossenheit. Die selbsthaft-ekstatische und die horizontale Erschlossenheit bilden eine unzerreißbare Einheit und Ganzheit. […] Die Ganzheit 14 15

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L’amour fou. Pareyson und Heidegger über Sein und Freiheit

gleich an das Denken seines Lehrers Pareyson wie auch an das Heidegger’sche Denken anschließt, wird er dementsprechend auch das erstere ›säkularisieren‹. 18

2.

Pareysons Auseinandersetzung mit Heidegger im Spätwerk: Die ›Ontologie der Freiheit‹ oder Jenseits von Notwendigkeit und Sein

Pareyson selbst aber vollzieht solch eine ›Säkularisierung‹ seines eigenen Denkens nicht. Das opus magnum seines Spätwerks ist die unvollendete, posthum veröffentlichte Ontologia della libertà, deren wichtigste Abschnitte zwei noch zu Lebzeiten Pareysons gedruckte Vorträge sind. 19 Es handelt sich dabei um die Turiner Abschiedsvorlesung Filosofia della libertà von 1988 und um den ein Jahr jüngeren Neapolitaner Tagungsbeitrag Heidegger. La libertà e il nulla. In der Abschiedsvorlesung sieht Pareyson sich zu der Überzeugung gekommen, dass das wahre Programm – man könnte auch sagen: die heimliche Sehnsucht – der modernen Philosophie von Descartes bis Fichte eine Philosophie der Freiheit sei, die der Freiheit den unbedingten ontologischen Primat noch vor dem Sein selbst zuerkenne. 20 Als die bedeutendsten Vorbereiter der Erfüllung dieser heimlichen Sehnsucht identifiziert er vornehmlich den Heidegger von Was ist Metaphysik? und den Schelling der Freiheitsschrift – in eben dieser Reihenfolge, da er Schelling allen äußerlichen Zeitmaßen zum Trotz als einen ›postheideggerianischen Denker‹ einschätzt. 21 Ähnlich wie im Frühwerk, wo der christliche Personbegriff Pareyson zur Überwindung idealistischer und existenzphilosophischer Einseitigkeiten dienen sollte, will er auch im Spätwerk durch eine genuin christliche Position erreichen, was der auf sich allein gestellten neuzeitlichen Philosophie nicht gelungen und doch ganz in deren eigentlichem Sinne sei; denn, so Pareyson: »Der Gedanke, alles an die Freiheit zu hängen, alles von ihr abhängen zu lassen, ihr die zentrale dieser selbsthaft-ekstatisch-horizontalen Erschlossenheit des Seins ist der Sache nach das, was Heidegger in dem Titel ›Dasein‹ denkt« (Herrmann [1981], 32). 18 Vgl. Gubatz (2009), 355–390. 19 Zum Pareyson’schen Spätwerk vgl. ebd., 299–355. 20 Vgl. Pareyson (1988), 463, dt. 93. – Zur Herausbildung dieser Überzeugung im Pareyson’schen Denken vgl. Longo (2000), 115 ff. 21 Vgl. Pareyson (1989a), 450; Pareyson (1995), 9.

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Thorsten Gubatz (Br. Simeon OSB)

Stellung zu verleihen, sie zum Ursprung und zur Quelle zu erheben, kann nur ein christlicher sein.« 22 Im Neapolitaner Vortrag behauptet Pareyson, Heidegger habe jene genuin christliche radikale Möglichkeit des Denkens wegen seiner Aversion gegen das Christentum nicht ergreifen können, so dass seine Rede vom Nichts in Was ist Metaphysik? in einer zweideutigen Austauschbarkeit mit seiner Rede vom Sein gefangen bleibe. Aus »Angst vor einer wie auch immer gearteten Verabsolutierung«, so Pareyson, habe Heidegger die Möglichkeit versäumt, sich auf den Begriff des Nichts festzulegen und von dort zu dem der Ursprungsfreiheit zu gelangen, aus der die gesamte Realität entspringe. 23 Was nun Schelling als ›postheideggerianischen‹ Denker anbelangt, so deutet Pareyson – ganz ohne sich dabei zu irgendeiner ›schellingianischen Orthodoxie‹ zu verpflichten 24 – die Schelling’sche Unterscheidung in der Freiheitsschrift »zwischen dem Wesen, sofern es existiert, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist« 25, »[L]’idea di appendere tutto alla libertà, di farne dipendere ogni cosa, di darle la posizione di centro, di elevarla a origine e fonte, non può essere che cristiana« (Pareyson [1989a], 460). 23 »Il pensiero di Heidegger è una filosofia dell’ambiguità, ove l’ambiguità è originaria, senza che tuttavia ne sia tematizzato il principio, che di fatto risiede sia nella reciproca scambiabilità di essere e nulla che domina il pensiero di Heidegger, sia nel suo spontaneo radicalismo, che per timore di una qualsiasi assolutizzazione rifiuta di fissarsi in uno dei due termini. Ma si tratta di un radicalismo bloccato, perché non giunge a cogliere il principio dell’ambiguità, il quale non può essere che la libertà cui è appesa l’intera realtà. La libertà, che è di per sé duplice e ambigua, sempre volta al tempo stesso a una direzione positiva e a una direzione negativa, è l’unica fonte possibile dell’ambiguità universale, e al tempo stesso viene incontro all’esigenza del radicalismo, perché è un fondamento che si nega come fondamento. Io sono propenso a ritenere che Heidegger avrebbe potuto trarre un grande vantaggio – proprio ai suoi fini, relativi all’inseparabilità di essere e nulla e all’esigenza di radicalismo – da un approfondimento della libertà, anzi da una sua elevazione a libertà originaria« (ebd., 454). – Zum ›radicalismo bloccato‹ vgl. Pareyson (1990), 152. 24 »Devo notare che ciascuno si sceglie i suoi autori, e li ho nominati tutti, da ultimo Schelling, felice scoperta dei miei anni piú tardi. E ciascuno legge i suoi autori e li medita molto selettivamente, secondo quello che dice Pascal: ›Non è in Montaigne, ma in me che trovo tutto quello che ci vedo‹. Coloro che per mostrare che io mi rifaccio a Schelling usano, per esporre Schelling, la stessa interpretazione che io do di Schelling [non agiscono in maniera corretta]: in questo senso, quindi, voglio sottolineare il mio debito indubbio verso Schelling, ma anche il modo non del tutto schellinghiano con cui io lo svolgo« (Pareyson [1995], 9); vgl. ebd., 131. – Die Textstelle in eckigen Klammern ist eine Konjektur der Herausgeber. 25 Schelling (1809), 29 f. 22

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L’amour fou. Pareyson und Heidegger über Sein und Freiheit

als Vorstufe zu seiner eigenen Unterscheidung zwischen Sein und Freiheit. Schelling selbst wendet eine im Bezug auf das Verhältnis zwischen Gott und Schöpfung klassische christliche Unterscheidung auf das Selbstverhältnis Gottes an, wenn er schreibt: »Der erste Anfang zur Schöpfung ist die Sehnsucht des Einen, sich selbst zu gebären, oder der Wille des Grundes. Der zweite ist der Wille der Liebe, wodurch das Wort in die Natur ausgesprochen wird, und durch den Gott sich erst persönlich macht. Der Wille des Grundes kann daher nicht frei sein in dem Sinne, in welchem es der Wille der Liebe ist. Er ist kein bewußter oder mit Reflexion verbundener Wille, obgleich auch kein völlig bewußtloser, der nach blinder mechanischer Notwendigkeit sich bewegte, sondern mittlerer Natur, wie Begierde oder Lust, und am ehesten dem schönen Drang einer werdenden Natur vergleichbar, die sich zu entfalten strebt, und deren innere Bewegungen unwillkürlich sind (nicht unterlassen werden können), ohne daß sie doch sich in ihnen gezwungen fühlte. Schlechthin freier und bewußter Wille aber ist der Wille der Liebe, eben weil er dies ist; die aus ihm folgende Offenbarung ist Handlung und Tat. […] Die Schöpfung ist keine Begebenheit, sondern eine Tat.« 26

Während das noch gleichsam vegetativ oder animalisch rudimentär bewusste Hervorgehen Gottes aus dem Grund in expliziter Weise nach dem neuplatonischen Vorbild des sich im Anfang gleichsam selbst emanierenden Einen gedacht ist, so entspricht das schaffende Sichoffenbaren Gottes weitgehend dem traditionellen christlichen Modell Gottes als Person, d. h. als immanente wie als ökonomische Trinität, die sich liebend zu sich selbst verhält wie auch zu dem, was sie geschaffen hat. Liebe aber (vgl. 1 Joh 4,8) heißt hier eine so spannungsreiche wie untrennbare Einheit von Freiheit und Notwendigkeit aufgrund der freiwilligen Selbstentäußerung (der κένωσις; vgl. Phil 2,6 ff.), zu der die Liebe fähig macht und die sie will. Eben damit harmoniert es auch, wenn Schelling von der schaffenden Selbstoffenbarung Gottes schreibt, dass sie »nicht als eine unbedingt willkürliche, sondern als eine sittlich-notwendige Tat betrachtet werden müsse« 27. Pareyson aber hält es für nötig, Schellings Gedanken »von allen Resten« solcher, wie er meint, idealistischen »Sorge um die Idee der Notwendigkeit zu befreien«. 28 Weder eine un- oder halbbewusste Ebd., 67. Ebd., 74. 28 »Ma bisogna liberare Schelling da ogni residua preoccupazione per l’idea di necessità« (Pareyson [1988], 464 f., dt. 94*). 26 27

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Emanation noch eine sittlich-notwendige Schöpfungstat will er im Uranfang sehen, sondern jenen Freiheitsakt, »mit dem Gott zu seinem eigenen Ursprung geworden ist« 29. Dem entspricht, dass Gott für Pareyson im Gegensatz zu Schelling in der Tat die Welt nicht hätte erschaffen müssen und sie auch nicht im Bestehen halten müsste, ja dass er es gar auch hätte unterlassen können, selbst in die Existenz zu treten. Die Freiheit als solche wird von Pareyson zwar wie von Schelling als »Vermögen des Guten und des Bösen« 30 aufgefasst, und wie bei Schelling ergibt sich so die Schwierigkeit, das Verhältnis zwischen Gott und der Möglichkeit des Bösen richtig darzulegen. Diese Schwierigkeit sucht Schelling, so weit möglich, dadurch zu bewältigen, dass er das Böse von dem Grund der Existenz in Gott her denkt als »jenes durch die Offenbarung Gottes zur Aktualisierung erregte Wesen, das nie aus der Potenz zum Aktus gelangen kann, das zwar nie ist, aber immer sein will« 31. Da Pareyson aber Gott von allem Anbeginn als volle, absolute Freiheit denkt, so wird für ihn das Nichts nicht erst im Offenbarungs-, d. h. Schöpfungsakt zur Kraft des Bösen ›erregt‹, sondern schon im Akt der Selbstbejahung Gottes vor der Schöpfung: 32 »Nichts ist so dramatisch wie der Akt, mit dem Gott zu seinem eigenen Ursprung wird, da er ein Kampf ist zwischen dem Willen und der Sehnsucht Gottes, sich selbst zu bejahen und zu existieren, und der Gefahr, daß das Nichts und das Böse siegen könnten.« 33 Die Schelling’sche Unterscheidung zwischen existierendem Gott und Grund der Existenz in Gott verwandelt sich somit bei Pareyson in jene zwischen Gott als ursprünglicher Freiheit und dem Nichts. In gewisser Hinsicht stellt hier Pareyson Heidegger dann doch als ›post-

»[L]’atto primo con cui Dio origina se stesso« (Pareyson [1988], 470, dt. 98*). Schelling (1809), 25; vgl. 54 ff. 31 Ebd., 61; vgl. 52. 32 Vom ›Bösen in Gott‹ schreibt Pareyson: »Non si tratta propriamente d’un aspetto tenebroso della divinità o d’un suo fondo oscuro, ma semplicemente d’un’ombra, di una specie di scurimento del suo fulgore.« Zu Deutsch: »Es handelt sich dabei nicht eigentlich um einen düsteren Aspekt der Gottheit oder um ihren dunklen Grund, sondern einfach um einen Schatten, um eine Art von Trübung ihres Glanzes« (Pareyson [1988], 473, dt. 101*). – Vgl. die Beiträge von Xavier Tilliette auf dem PareysonKolloquium in Macerata (Ferretti [1993], 75–95, hier 79; 178). 33 »Nulla è drammatico come l’atto con cui Dio origina se stesso, perché è una lotta fra la volontà e il desiderio di Dio di affermarsi ed esistere e il pericolo che vincano il nulla e il male« (Pareyson [1988], 472, dt. 100 f.*). – Vgl. Pareyson (1995), 79. 29 30

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schellingianischen‹ Denker dar – und nicht etwa umgekehrt –, wenn er erklärt, »daß aus der Freiheit nur dann ein authentisches Problem gemacht werden kann, wenn man sie nicht länger in den Bezug zur Notwendigkeit setzt, wie es in so steriler Weise die moderne Philosophie getan hat, sondern zum Nichts, wie Heidegger es so eindrucksvoll beschworen hat« 34. Ähnlich aber wie die Grundgedanken Schellings durch die unangemessene Sorge um den Begriff der Notwendigkeit kompromittiert würden, so Heideggers durch dessen unangemessene Sorge um den Begriff des Seins. Durch die Selbstbejahung Gottes, das heißt, seine Entscheidung für die eigene Existenz, wird nach Pareyson das inerte Nichtsein zum aktiven Nichts ›erregt‹, das heißt, zur Möglichkeit des Bösen. Wenn es in Heideggers Antrittsvorlesung etwa heißt: »Ohne ursprüngliche Offenbarkeit des Nichts kein Selbstsein und keine Freiheit«, und: »Das Nichts ist die Ermöglichung der Offenbarkeit des Seienden als eines solchen für das menschliche Dasein«, 35 dann wäre also jene ursprüngliche Offenbarkeit des Nichts mit Pareyson entgegen Heideggers eigenen Intentionen von der uranfänglichen Selbstbejahung Gottes her zu deuten. Das Nichten des Nichts, wie es laut Heidegger das menschliche Dasein ja ›durchschüttert‹, rührte aber her vom Sündenfall, das heißt: von jener ursprünglichen Entscheidung des Menschen für das Böse, die bei Schelling als ›intelligible Tat‹ gedeutet wird. 36 »Die Durchdrungenheit des Daseins vom nichtenden Verhalten« – so Heidegger – »bezeugt die ständige und freilich verdunkelte Offenbarkeit des Nichts, das ursprünglich nur die Angst enthüllt. Darin liegt aber: diese ursprüngliche Angst wird im Dasein zumeist niedergehalten«; 37 und warum? Weil – wie es im Pareyson’schen Sinne umzudeuten wäre – das Nichts im ursprünglichen Sinne das Böse ist, und das Nichten des Nichts die das ganze menschliche Dasein durchwaltende Erbsünde. Die Angst erinnert, so interpretiert, den Menschen an nichts anderes als seine eigene ›intelligible Tat‹, und

»[S]i può fare della libertà un problema autentico solo se la si rapporta non alla necessità, come infruttuosamente ha fatto la filosofia moderna, ma al nulla, cosí opportunamene evocato da Heidegger« (Pareyson [1988], 463 f., dt. 93*). – Gegen den Notwendigkeitsbegriff vor allem hinsichtlich der Hegel’schen Dialektik vgl. Pareyson (1995), 67 ff., 331–338. 35 Heidegger (1929), 115. 36 Vgl. Schelling (1809), 61. 37 Heidegger (1929), 117. 34

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schließt ihm auf, »dass in jedem Augenblick des geschichtlichen Prozesses eine Alternative zwischen dem Positiven und dem Negativen besteht und alles davon abhängt, durch eine freie Entscheidung das Erste über das Zweite überwiegen zu lassen« 38. Mit diesen Worten hatte Pareyson bereits im Vorwort seines Buches Verità e interpretazione von 1971 angezeigt, in welchem Sinne Heideggers Denkanregungen in positiver Weise fortzuführen wären. Die ›Verwegenheit‹ und der ›Mut zur eigentlichen Angst‹, von denen Heidegger mit deutlich nietzscheanischem Vokabular spricht in polemischer Umdeutung der Jesusworte vom ›Ja Ja‹ und vom ›Nein Nein‹, 39 erscheint demnach als die durchaus nicht irreführende, dann aber a-theistisch doch falsch explizierte Ahnung, dass der Mensch dem Nichts, das heißt, dem Bösen in ihm selbst, ins Angesicht zu blicken und das Leiden als die Folge seiner Sünde freiwillig auf sich zu nehmen hat, wo er das göttliche Angebot denn annehmen will, aus ihren Fängen wieder freizukommen, also daran mitzuwirken, dass die ganze Schöpfung, die an seiner Sünde leidet – die ›unter den Tritten Adams stöhnt‹ –, von ihr erlöst wird. Eben dadurch wird die religiöse Leidensbereitschaft zur höchsten ontologischen Tugend, dass die Erlösung des Menschen zur Erlösung der ganzen Schöpfung führt und sie vom Schleier allen trügerischen Scheins befreit; und so gipfelt Pareysons ›Ontologie der Freiheit‹ im pensiero tragico, mit dem er nicht zuletzt auch allen Theodizee-Versuchen eine Absage erteilt: »Das Leiden erscheint zunächst als Strafe, als die Geißel, die dem Menschen seines Sündenfalles wegen auferlegt ist. Doch auf diese reduziert, droht es eine bloße Vermehrung der Negativität zu werden – ein Böses, das dem Bösen noch hinzugefügt wird. […] Der Schmerz aber, der stärker als das Böse ist und der es gar besiegt, ist jener der Sühne, der akzeptierte, ja ge-

»[I]n ogni punto del processo storico sussiste un’alternativa fra il positivo e il negativo, e tutto sta a far liberamente prevalere il primo sul secondo« (Pareyson [1971], 9 f.) 39 »Die Angst ist da. Sie schläft nur. Ihr Atem zittert ständig durch das Dasein: am wenigsten durch das ›ängstliche‹ und unvernehmlich für das ›Ja Ja‹ und ›Nein Nein‹ des betriebsamen; am ehesten durch das verhaltene; am sichersten durch das im Grunde verwegene Dasein. Dieses aber geschieht nur aus dem, wofür es sich verschwendet, um so die letzte Größe des Daseins zu bewahren. Die Angst des Verwegenen duldet keine Gegenstellung zur Freude oder gar zum behaglichen Vergnügen des beruhigten Dahintreibens. Sie steht – diesseits solcher Gegensätze – im geheimen Bunde mit der Heiterkeit und Milde der schaffenden Sehnsucht« (Heidegger [1929], 117 f.). 38

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wollte, ja gewünschte und gesuchte Schmerz. […] Mit dem Sündenfall wollte der Mensch den göttlichen Selbstursprung selbst vollziehen und scheiterte katastrophal. Nun sieht er, dass die wahre menschliche Wiederholung des göttlichen Selbstursprungs das Leiden als Sühne ist, das heißt, als Sieg über das Böse. Aber die Macht des Schmerzes endet hier noch nicht. Wenn es sich seines eigenen erlösenden Wertes bewusst wird, dann wird das Leiden enthüllend: Es öffnet das von Schmerz erfüllte Herz der Realität und entschleiert das Geheimnis des Seins. Es lehrt, dass das Schicksal des Menschen die Sühne ist, und dass der Schmerz, weil er stärker als das Böse ist, der Sinn des Lebens und die Seele des Universums ist.« 40

Diese Steigerung der religiösen Leidensbereitschaft zur höchsten ontologischen Tugend ließe sich auch als eine christliche Umdeutung Heidegger’scher Gedanken lesen, insofern der Schmerz in Heideggers Bremer Vorträgen der kreuzförmige »Riß« genannt wird, »in den der Grundriß des Gevierts der Welt eingezeichnet ist«. 41 Gerade aber den Verdacht, dass er »Heidegger eine Lektion im Christentum« erteilen wolle, »oder schlimmer noch, ihn dazu auffordern, christliche Konsequenzen aus seinen Reden zu ziehen«, weist Pareyson mit aller Heftigkeit von sich und kommt aus eben diesem Anlass auf die Problematik des Verhältnisses von Philosophie und christlicher Religion zurück. Ihr sucht er nun durch eine ›Hermeneutik des religiösen Mythos‹ beizukommen, die seiner frühen dialogischen Konzeption von der Einheit der Philosophie als Dialog der mannigfaltigen Philosophien nah verwandt ist: »Es ist nicht meine Absicht, eine eklektische Nebeneinanderstellung zweier Konzeptionen anzubieten, deren Inspirationen äußerst unterschiedliche und im Grunde unversöhnliche sind, und noch weniger schwebt mir vor, »La sofferenza appare in primo luogo come punizione: è il castigo inflitto all’uomo per la sua caduta. Ma ridotta a questo essa rischia d’essere un incremento della negatività: un male aggiunto al male. […] Ma il dolore piú forte del male e vittorioso su di esso è quello dell’espiazione, il dolore accettato, anzi voluto, anzi desiderato e cercato. […] Con la caduta l’uomo ha voluto rifare l’originazione divina, ed è miseramente naufragato. Egli vede ora che la vera ripetizione umana dell’originazione divina è la sofferenza come espiazione, e quindi come vittoria sul male. Ma la potenza del dolore non si ferma qui. Consapevole del proprio valore redentivo la sofferenza diventa rivelativa: apre il cuore dolorante della realtà e svela il segreto dell’essere. Essa insegna che il destino dell’uomo è l’espiazione, e che come piú forte del male il dolore è il senso della vita e l’anima dell’universo« (Pareyson [1988], 476 f., dt. 103 f.*). 41 Heidegger (1949), 57. 40

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auf die Religion oder auf den Mythos zurückzuverweisen, weil ich daran festhalten oder dazu auffordern wollte, darin zu verbleiben – das würde das Gewissen oder die praktische Einstellung jedes Einzelnen angehen. Hier befinden wir uns auf einer philosophischen Ebene, und da ist es, wo wir bleiben müssen. Wenn ich auf das religiöse Bewusstsein zurückverweise, dann tue ich dies, weil ich es für philosophisch fruchtbar halte, dank seiner eine philosophische Hermeneutik zu entwickeln, insbesondere wenn es ums Problem der Freiheit und um das des Bösen geht, in deren Behandlung die Philosophie so jämmerlich gescheitert ist. Es geht nicht darum, den Gott als Freiheit und die Freiheit als Vermögen des Guten und des Bösen in philosophische Begriffe zu übersetzen, so als ob man religiöse Ideen vollständig in Termini der Begrifflichkeit und Rationalität umschreiben könnte. Hier ist weder das religiöse Bewusstsein des Gläubigen im Spiel, noch eine positive Theologie, noch die Metaphysik des philosophischen Gottes, sondern die Hermeneutik des Mythos, die den Mythos in sich selbst respektiert, nicht um ihn zu ersetzen, sondern um ihn strikt in seinem eigenen Feld zu bewahren. Was hier versucht wird, um diese Probleme in angemessener Weise zu erforschen, ist eine Hermeneutik des religiösen Bewusstseins, die seine im weitesten Sinne menschliche Bedeutung klären und deren universalen Sinn gewinnen soll, so dass sie alle Menschen, Gläubige wie Nichtgläubige, wenn nicht im Konsens, so doch zumindest im Interesse vereint.« 42

»Non intendo suggerire una giustapposizione eclettica di due concezioni d’ispirazione diversissima e in fondo inconciliabili, né tanto meno ho in mente di fare un rinvio alla religione o al mito in generale per rimanervi o invitare a restarvi: ciò riguarderebbe la coscienza e l’atteggiamento pratico di ciascuno. Qui siamo su un piano filosofico e vi dobbiamo restare. Se rinvio alla coscienza religiosa è perché considero filosoficamente produttivo farne un’ermeneutica filosofica, specialmente quando si tratta del problema della libertà e del problema del male, nel trattare i quali la filosofia ha cosí miseramente fallito. Non si tratta di tradurre il Dio come libertà e la libertà come facoltà del bene e del male in termini filosofici, quasi che idee religiose potessero ritrascriversi compiutamente in termini di concettualità e razionalità. Non la coscienza religiosa del credente né una teologia positiva né la metafisica del Dio dei filosofi sono in gioco, ma l’ermeneutica del mito, che rispetti il mito in se stesso, senza volerlo surrogare, ma appunto perciò lo mantenga rigorosamente nel suo campo. Qui si tenta, per indagare questi problemi in modo adeguato, un’ermeneutica della coscienza religiosa, intesa a chiarirne il significato ampiamente umano e a trarne sensi universali, tali da coinvolgere nell’interesse, se non nel consenso, tutti gli uomini, credenti o non credenti« (Pareyson 1989a, 461 f.). – Vgl. Pareyson 1989b, 183 f.

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»Eppure la libertà o è illimitata o non è«. Kritische Bemerkungen zur ›Ontologie der Freiheit‹ und der ihr entsprechenden Heidegger-Lektüre

Pareyson entscheidet sich somit für eine dialogische Suspendierung religiöser und theologischer Erkenntnisansprüche, die er selbst gleichwohl erhebt und für die philosophische Reflexion über Themen wie die Freiheit und das Böse fruchtbar zu machen sucht. Wie aber diese Fruchtbarmachung aussehen könnte, also welche konkreten Ergebnisse seine ›Hermeneutik des religiösen Mythos‹ zeitigen könnte, ohne dass die besagte Suspendierung aufgehoben und so dem Verhältnis von Philosophie und Theologie seine Problematizität zurückgegeben würde, bleibt im Dunkeln. Pareyson behauptet, dass seine ›Ontologie der Freiheit‹ »keine explizit begriffliche Theorie der Gottheit sein will, sondern sich vielmehr als eine rein philosophische Interpretation des Mythos darstellt, als eine Reflexion auf die religiöse Erfahrung aufgrund einer nicht demonstrativen Auffassung, einer Hermeneutik der Philosophie« 43. Tatsächlich aber ist sie schon als ein Versuch, die Schelling’schen und Heidegger’schen Reden von der Freiheit und vom Nichts zu überbieten, sehr wohl eine begriffliche Theorie der Gottheit, und vollends in ihrer Rückbezogenheit auf christlichen Offenbarungsglauben ist sie ein Beitrag zur Theologie, nicht zur Philosophie. Pareysons Suspendierung ihrer Wahrheitsansprüche im Rahmen einer dialogischen Hermeneutik des religiösen Mythos ist sein einziges Argument, um die ›Ontologie der Freiheit‹ als ein philosophisches Programm darzustellen; und es ist ein schwaches Argument. Des Weiteren wird die ›Ontologie der Freiheit‹ von Pareyson als eine radikale christliche Option des Denkens behauptet. Auch die Frage, ob dies zutrifft oder nicht, ist nicht eigentlich eine philosophische, sondern eine theologische; aber da Pareyson mögliche Zweifel an dieser Behauptung gar nicht erst erörtert, sei sie hier gestellt. Massimo Cacciari hat auf eine Geistesverwandtschaft der Pareyson’schen ›Ontologie der Freiheit‹ mit dem Voluntarismus von Duns »[Qui poi le sollecitazioni provengono da quell’autentico crogiolo ardente ch’è l’esperienza religiosa: non si dimentichi che la presente trattazione di Dio come libertà assoluta] non intende essere una teoria esplicitamente concettuale della divinità, ma si presenta piuttosto come un’interpretazione, sia pure filosofica, del mito, come una riflessione sull’esperienza religiosa, in base a una concezione non dimostrativa, una ermeneutica della filosofia« (Pareyson [1995], 131).

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Scotus hingewiesen, 44 dem zufolge der Wille Gottes unabhängig ist von einem Guten, das der göttliche Verstand erkennt und auf das sich Gottes Wollen notwendigerweise richten müsse. Auch der PareysonSchüler Piero Coda, ein katholischer Theologe, weist in diese Richtung, nämlich auf die marginale spätmittelalterliche Strömung des Arbitrarismus, welche die Freiheit Gottes allerdings »hauptsächlich, wenn nicht gar ausschließlich im Bezug auf das Verhältnis zwischen Gott – als Schöpfer und Erlöser – und der Welt als Gegenstand einer freien Wahl der Schöpfung und Erlösung herausgestellt und erforscht« 45 habe. Von der Selbstbejahung Gottes als absoluter Freiheit noch vor allem Sein, mithin von einer radikalen Trennung zwischen Sein und Freiheit in Gott selbst, kann dort darum noch keine Rede sein. Analoges gilt für Kierkegaard; denn es spricht zwar viel dafür, dass dessen Darstellung der Selbstwahl in Entweder – Oder Pareyson das Vorbild lieferte für die Darstellung der ursprünglichen Selbstwahl Gottes. 46 Kierkegaard aber unterscheidet deutlich zwischen Selbstwahl und Selbsterschaffung und bereitet damit den Heidegger’schen »potrebbero ricordare un certo neoplatonismo cristiano, in particolare Giovanni Scoto: Dio crea dal nulla, cioè da sé, cioè dal fondo abissale della sua libertà« (Cacciari [1993], 63). 45 »[A parte la corrente minoritaria e in definitiva marginale dell’arbitrarismo divino […], azzarderei la tesi che il tema […] della libertà di Dio sia stato, sì, vigorosamente] esposto e sviscerato, ma principalmente, se non esclusivamente, a proposito della relazione di Dio – quale Creatore e Salvatore – e il mondo, in quanto oggetto, appunto, d’una libera scelta di creazione e di salvezza« (Coda [2001], 198 f.). 46 »Han vælger sig selv, ikke i endelig Forstand, thi saa blev jo dette ›Selv‹ en Endelighed, der gik med mellem andre Endeligheder, men i absolut Forstand, og dog vælger han jo sig selv og ikke en Anden. Dette Selv, han saaledes vælger, er uendelig concret, thi det er ham selv, og dog er det absolut forskjelligt fra hans tidligere Selv, thi han har valgt det absolut. Dette ›Selv‹ har ikke været til før, thi det blev til ved Valget, og dog har det været til, thi det var jo ›ham selv‹« – zu Deutsch: »Er wählt sich selbst, nicht in endlichem Sinne, denn dann würde dies ›Selbst‹ ja zu einer Endlichkeit, die unter andern Endlichkeiten mit unterliefe, sondern in absolutem Sinne; und doch wählt er ja sich selbst und nicht einen andern. Dies Selbst, das er dergestalt wählt, ist unendlich konkret, denn es ist er selbst; dennoch ist es schlechthin verschieden von seinem früheren Selbst, denn er hat es absolut gewählt. Dies Selbst ist zuvor nicht dagewesen, denn es ist durch die Wahl geworden, und doch ist es dagewesen, denn es war ja ›er selbst‹« (Kierkegaard [1843], II, 206 f., dt. II, 229). »Se (con Kierkegaard) l’esperienza basilare dell’esistenza è la libertà, l’essere, con cui la libertà che il singolo esperisce è in rapporto, non può configurarsi come ›causa‹ o ›principio di ragione‹ ; ma solo, a sua volta, come libertà, infondatezza, baratro che non si arresta a un principio ultimo la cui ultimità non potrebbe che coincidere con la necessità dell’arché metafisica« (Vattimo [1986], 55). 44

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Gedanken vom Dasein als geworfenem Entwurf schon vor, wogegen Pareyson bezüglich Gottes beide gleichsetzt. Die christliche Tradition hütet sich durchweg, die Freiheit Gottes von jeglicher Notwendigkeit zu ›reinigen‹ ; und das muss sie auch, wenn sie sich selbst für möglich halten will. Für die notwendige Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit (und überhaupt jedweder Möglichkeit) betrachtet sie schließlich Gottes Selbstoffenbarung; wie aber sollte diese möglich sein ohne Gottes Selbstbestimmung, und also ohne eine gewisse Aufopferung der eigenen Freiheit von Seiten Gottes? Der christlich-metaphysische Grundgedanke, Gott sei Liebe, sucht ihm eben darum eine Einheit von Freiheit und Offenbarungsfähigkeit, von Transzendenz und Bestimmbarkeit zuzusprechen, und damit harmoniert es auch – wie oben schon gesagt –, wenn Schelling von der schaffenden Selbstoffenbarung Gottes schreibt, dass sie »nicht als eine unbedingt willkürliche, sondern als eine sittlich-notwendige Tat betrachtet werden müsse« 47. Auch wenn der Voluntarismus das Gute als solches der Willkür Gottes weitgehend unterwirft und damit in Frage stellt, wie offenbar das absolut Gute ist und sein kann, führt dies immerhin zu keiner Leugnung einer positiven Selbstoffenbarung Gottes überhaupt. Die Selbstoffenbarung Gottes ist in der christlichen Tradition ein Wechselspiel des Sichöffnens und -verschließens einer Identität auf ihr Anderes hin, kurz: Personalität. Als immanente Trinität wird Gott sich selbst in seiner Identität ein Anderer, zu dem er sich verhält, und als ökonomische Trinität verhält er sich zugleich zu jenem Anderen, das er geschaffen hat. Doch nicht allein die Öffnung auf das Andere hin setzt eine κένωσις voraus im Sinne einer freiwilligen Selbsteinschränkung Gottes, sondern auch bereits, dass er sich selbst eine Identität gibt und sie beibehält, ja sie sogar dem Menschen offenbart. So allerdings erweist sich gerade ein Versuch, Pareysons ›Ontologie der Freiheit‹ trinitarisch zu vertiefen, wie ihn Piero Coda unternommen hat, als äußerst problematisch – denn die Ursprungsfreiheit könnte sich zwar in der Tat so für sich selbst entscheiden, dass ihr Sein ein personal verfasstes wäre; doch sie müsste dies in keiner Weise. Die Frage: Cur Deus homo? ist mit dem späten Pareyson deswegen unbeantwortbar. Man könnte bestenfalls zur Antwort geben: Aus der radikalen Freiheit des Ursprungs heraus – aber das ist eine Antwort, die gar keine ist, und die im Grunde auch gar keine sein will. Mit 47

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Pareysons ›Ontologie der Freiheit‹ lässt sich weder begründen, warum die Ursprungsfreiheit sich überhaupt entscheidet und sich also selbst bejaht, noch warum das Sein, in das sie durch die Selbstbejahung tritt, ein trinitarisch-personal verfasstes wäre – will Pareyson ja doch um jeden Preis vermeiden, Freiheit durch Notwendigkeit zu kompromittieren; so dass man sich fragen kann: Verdient denn eine derart abgründige, grundlose Offenbarung überhaupt den Namen Offenbarung? Wie einst für Hegel in der Schelling’schen Identität von Identität und Nichtidentität, so sind auch in der Nacht von Pareysons Ursprungsfreiheit alle Kühe (oder Katzen) grau. Pareysons Radikalismus hinsichtlich des Freiheitsbegriffs, d. h. sein Streben, die Freiheit als schlechthin unbegrenzt zu denken, hat nicht nur, was die göttliche Freiheit, sondern auch, was die menschliche Freiheit anbelangt, verheerende Folgen. Pareyson schreibt: »Entweder ist die Freiheit unbegrenzt, oder sie ist nicht. Sie kennt keine Grenze und kein Gesetz, die sie nicht freiwillig angenommen hätte. Die Entgegnung (contestazione) ist die primäre Form ihrer Ausübung als Möglichkeit des Einverständnisses oder der Ablehnung. Sie endet nicht einmal vor Gott, indem sie das Recht beansprucht, mit ihm zu diskutieren; und ein Gott wäre kein Gott, der ihr dieses Recht bestreiten wollte und sie nicht dazu anregen würde, Gebrauch von ihm zu machen. Er selber will sich in Gefahr bringen, auch wenn er sich des Risikos sehr wohl bewusst ist, das er eingeht, wenn er fordert, dass die menschliche Antwort auf seine Frage eine absolut freie sei.« 48

Schon in seiner ›Selbstgeburt‹ oder Selbstbejahung setzt Gott sich aus absoluter Freiheit selbst aufs Spiel, indem er sich das Nichts zum Feind macht – zu einem Feind, den er selbst zwar vollständig verwirft, dem dann aber der Mensch, das abgefallene Geschöpf, von neuem Macht verleiht, und zwar sehr große Macht, da auch die menschliche Freiheit qua Freiheit nicht einmal durch Gott begrenzt ist. Nun ist schon dies auch mit den Maßstäben metaphysischer Spekulation ein widersinniger Gedanke – denn wenn es ein unbegrenzt freies Wesen gibt, dann kann es, streng genommen, auch nur dieses eine Wesen »Eppure la libertà o è illimitata o non è. Essa ignora ogni limite e legge se non quelli che ha volontariamente accettato. La contestazione è la prima forma del suo esercizio, come possibilità di consenso o rifiuto. Non s’arresta neppure di fronte a Dio, rivendicandolo il diritto di metterlo in discussione; e non sarebbe Dio quello che le contrastasse questo dirittto e non ne solecitasse l’uso. Egli stesso vuol mettersi nel pericolo ben consapevole del rischio che corre esigendo che la risposta umana alla sua domanda sia assolutamente libera« (Pareyson [1988], 467, dt. 96 f.*).

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geben, und kein anderes; von einem anderen unbegrenzt freien Wesen, ja von einem anderen unbegrenzt freien endlichen Wesen ganz zu schweigen. Aber selbst wenn man sich diese Widersinnigkeit gefallen lässt – worum einer, der vorhat, christliche Theologie zu treiben, zugegebenermaßen kaum herumkommt –, ergeben sich theologisch äußerst unerfreuliche Konsequenzen. Gott geriete nämlich durch den Sündenfall auch selbst von neuem in Gefahr, und er erlöste so nicht nur den Menschen und die ganze Schöpfung, sondern eben dadurch auch sich selbst. Er bedürfte der Mitwirkung des Menschen für die eigene Erlösung – übrigens ähnlich wie das Heidegger’sche Seyn, das sich technisch selbst gefährdet und des Menschen als seines ›Hirten‹ bedarf. 49 Gianni Vattimo wirft seinem Lehrer diesbezüglich nicht zu Unrecht Anthropomorphismus vor, und auch Massimo Cacciari und Xavier Tilliette haben auf dieses Problem schon hingewiesen. 50 Giuseppe Castronuovo geht in seiner Neapolitaner Dissertation so weit, dass er den Pareyson’schen Stachel der Kritik an Schellings »Das Seyn braucht den Menschen, damit es wese, und der Mensch gehört dem Seyn, auf daß er seine äußerste Bestimmung als Da-sein vollbringe«, heißt es in den Beiträgen (Heidegger [1938], 251). 50 »Se anche Dio […] è nella condizione della libertà minacciata, allora che significa il rapporto dell’esistenza con lui, o con l’essere? Se questo rapporto deve stabilirsi come tensione e differenza, in che cosa cosisteranno queste ultime? Nonostante il gran parlare di tragicità, questa ontologia rischia di apparire, come del resto è stata spesso la metafisica, solo una reduplicazione dei caratteri dell’esistenza« – zu Deutsch: »Wenn auch Gott […] in der conditio der bedrohten Freiheit ist, was bedeutet dann das Verhältnis der Existenz zu ihm, oder zum Sein? Wenn dieses Verhältnis sich als Spannung oder Differenz stabilisieren soll, worin soll diese Spannung oder Differenz bestehen? Trotz der großen Rede vom Tragischen riskiert diese Ontologie – wie es die Metaphysik im Übrigen so oft tut –, als eine bloße Verdoppelung der Charakteristika der Existenz zu erscheinen« (Vattimo 1986, 59). – Vgl. Furnari (1994), 224 ff., Possenti (1995), 12, und Sgreccia (2006), 157 ff. Massimo Cacciari fragt: »Come può essere nell’uomo il potere della perdizione se questo è stato totalmente vinto in Dio? La libertà di male dell’uomo, la libertà che ha l’uomo di ridestare il male già vinto, non comporta necessariamente che esso si ridesti anche in Dio?« – zu Deutsch: »Wie kann im Menschen die Macht des Verderbens bestehen, wenn diese in Gott doch völlig besiegt ist? Bringt die Freiheit des Menschen zum Bösen, seine Freiheit, das schon besiegte Böse wiederzuerwecken, nicht notwendigerweise mit sich, daß es auch wieder in Gott erwache?« (Cacciari [1993], 65). Xavier Tilliette bemerkt in seinen Questions posthumes à Luigi Pareyson, die Sünde des Menschen liefere in dessen Denken »den Gegenbeweis zum anfänglichen Siege Gottes« über das Böse, so daß sie ihn »nötigt, sich erneut ans Werk zu machen«: »[Le péché de l’homme, tenté mais libre,] fournit la contre-épreuve de la victoire initiale de Dieu, qu’il oblige à se remettre à l’ouvrage« (Tilliette [1996], 735). 49

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übergroßer Sorge um den Notwendigkeitsbegriff auch gegen Pareysons eigenes Denken kehrt: Dieses nämlich mache »aus dem Kreuz ein notwendiges und konstitutives Moment Gottes«, denn es beraube die erlösende »göttliche Initiative ihrer fundamentalen Ungeschuldetheit, die von der Sünde nirgendwie […] zu irgendetwas je genötigt werden kann«. 51 Da Pareyson die Freiheit stets als unbegrenzte denken will, gilt ihm sogar die menschliche Freiheit als unbegrenzt, und so muss er durch sie auch Gott selbst von neuem in Gefahr geraten lassen – das aber bedeutet, dass die Freiheit Gottes nolens volens eingeschränkt und, wie Castronuovo anmahnt, der Notwendigkeit des Kreuzes unterworfen wird; womit der übertriebene theandrische Libertismus Pareysons zum Nezessitarismus kollabiert. Von der Behauptung her: »Entweder ist die Freiheit unbegrenzt, oder sie ist nicht« werden auch Gewaltsamkeiten in der Pareyson’schen Heidegger-Lektüre verständlicher, zumindest was ihre Motive anbelangt. Wie oben schon erwähnt, will Pareyson die zweideutige Rede von Sein und Nichts in Was ist Metaphysik? mit vermeintlich genuin christlicher Radikalität zugunsten einer Rede vom Nichts als der unbegrenzten Freiheit beseitigen. Warum aber – vorausgesetzt, das wäre so sinnvoll und so wünschenswert wie Pareyson es meint – sollte Heidegger mit einer Rede vom Sein nicht dasselbe leisten können? In seinem Vortrag Heidegger. La libertà e il nulla sagt Pareyson dazu: »In einer Metaphysik oder Philosophie des Seins fehlt die Alternative, wie sie in der Freiheit als Wahl inbegriffen ist, und so gibt es dort nur die kompakte Positivität, die für das Nichts gar keinen Raum lässt und das Böse deswegen aufs Nichtsein, auf das Fehlen, auf den Mangel (die privatio) reduziert, wodurch das Nichts und das Böse irrigerweise durchgestrichen und beseitigt werden. In einer Philosophie der Freiheit hingegen ist das Nichts von zentraler und tiefer Bedeutung: Nur dasjenige verdient den Namen des Positiven, das auch negativ hätte sein können, und nur dasjenige den Namen des Guten, das riskiert hat, böse zu sein.« 52

»[Egli fa] della croce un momento necessario e costitutivo di Dio, […] privando l’iniziativa divina della sua fondamentale gratuità, non necessitata in alcun modo, [e meno che mai,] dal peccato« (Castronuovo [1999], 54); vgl. Castronuovo (2001). 52 »In una metafisica o filosofia dell’essere manca l’alternativa insita nella libertà come scelta, e quindi non c’è se non compatta positività, la quale non lascia posto al nulla, e cosí riduce il male a non essere, mancanza, privazione, con che vengono ingannevolmente cancellati e soppressi il nulla e il male. Invece in una filosofia della libertà il nulla è centrale e profondo: merita il nome di positivo solo ciò che sarebbe 51

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L’amour fou. Pareyson und Heidegger über Sein und Freiheit

Pareyson scheint hier allen Ernstes Heidegger den wie auch immer unfreiwilligen Rückfall in eine parmenideische Ontologie vorzuwerfen, da er sich des falschen Ausdrucks bediene, jene Sache zu bezeichnen, um die es ihm in Wahrheit gehe. Man wird unweigerlich an Lévinas erinnert, der die Heidegger’sche Rede vom Sein im Sinne einer sich quasi ›parmenideisch‹ in sich selbst vollenden wollenden und demgemäß ihr Anderes so weit wie möglich ausschließenden Immanenz verstehen konnte. Es sei angemerkt – auch wenn hier nicht der Ort ist, um es weiter auszuführen –, dass die von Pareyson geprägte Heidegger-Interpretation auch die Gadamer-Interpretation in der Turiner Schule eigentümlich deformiert hat. 53 Hat aber Heidegger nicht selbst die eigene Rede von der Zusammengehörigkeit von Sein und Nichts verwandelt und ausgelegt in seiner Rede von der Zusammengehörigkeit der φύσις und des κρύπτεσθαι im Sein als ›Anwesen‹ ? 54 Was soll ein solches Sein, das sich – mit Heraklit gesprochen – »zu verbergen liebt«, noch mit der Parmenideischen Seinskugel gemein haben? Vielmehr bereitet Heidegger anhand des Heraklitischen Diktums seine späte Auslegung des Seins von der eigentlichen Zeit her vor. Eine der ›Dimensionen‹ dieser eigentlichen Zeit nennt Heidegger ›Gewesen‹. Vom Gewesen kann man sagen, dass es ›ankommt‹, dass es ›aufgeht‹, also ›φύσις‹ ist, dass es sich ›entbirgt‹ – dies aber immer schon doch aus Verborgenheit heraus und in ein Verbergen (κρύπτεσθαι) hinein, das der φύσις in einem ursprünglichen Zusammenspiel gleichsam antwortet und sie sich nie zur vollen, gänzlich ungetrübten Gegenwart vervollkommnen lässt. Diese Gegenwart wäre die reine Präsenz, in welcher das Gewesen nunmehr vollständig bestimmt, geschlossen und in absoluter Weise ›aufgehoben‹ wäre – woraus verständlich wird, dass so etwas wie Zukunft sich gerade jenem κρύπτεσθαι verdankt, aufgrund dessen das Gewesen immer hinter seiner vollen Gegenwart zurückbleibt, in aller Bestimmtheit und Geschlossenheit doch immer auch noch unbestimmt und offen bleibt. Diese Unbestimmtheit und Offenheit ist es, die Heidegger mit dem eigentümlichen Neologismus ›Gewesen‹ spürbar machen will: Das κρύπτεσθαι, von dem das Sein durchwaltet ist, potuto esser negativo, di bene ciò che ha rischiato di esser male« (Pareyson [1989a], 459). 53 Vgl. Gubatz (2009), 281–299. 54 Vgl. Heideggers – übrigens zuerst in einer italienischen Zeitschrift erschienenen – Text »Vom Wesen und Begriff der φύσις. Aristoteles, Physik B, 1« (Heidegger [1939]).

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Thorsten Gubatz (Br. Simeon OSB)

eröffnet Zukunft, weil es die vollständige Vergegenständlichung alles Gewesen zum Gewesenen verweigert. 55 Was Heidegger hier denkt, ist das Sein als eine zweideutige Einheit von Geschlossenheit und Offenheit, Bestimmtheit und Freiheit. Das steht der christlich gedachten Einheit der Person als auf ihr Anderes hin offenen Identität, wenn auch in einem gleichsam säkularisierten Sinne, gar nicht fern, sehr fern jedoch sowohl der Parmenideischen Kugelontologie als auch der Pareyson’schen ›Ontologie der Freiheit‹. So lässt sich zusammenfassend sagen: Die Einheit von Identität und Offenheit auf Alterität hin, wie sie von der christlichen Tradition im Personbegriff gedacht wird und wie sie mutatis mutandis bei Schelling wie bei Heidegger immer noch gewahrt ist, wird vom radikalen Libertismus des späten Pareyson zerstört, der ihm somit auch jeden Rückweg in den Personalismus des eigenen Frühwerks unmöglich macht. Wie auch immer man zu Pareysons Versuch im Allgemeinen steht, die christliche Metaphysik der Philosophie zur Lösung genuin philosophischer Probleme anzuempfehlen: Wenn ihm ein fruchtbarer Vorschlag dieser Art gelungen ist, dann ist es sicher nicht die späte ›Ontologie der Freiheit‹, sondern sein früherer Personalismus in Esistenza e persona, den er übrigens in einer hierzulande kaum beachteten, doch höchst beachtenswerten Ästhetik fortentwickelt hat. 56

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55 56

214 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

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Teil III: Europa

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Italienische und Deutsche Philosophie. Von einer Asymmetrie zu einer europäischen Perspektive Ugo Perone

1.

Ein asymmetrisches Verhältnis

Die Philosophie spricht Deutsch, würden viele Italiener bei einer Umfrage behaupten. Nur dem Diktum Heideggers, der ausschließlich dem Altgriechischen (wohlgemerkt!) und dem Deutschen die Würde einer philosophischen Sprache anerkennt, hätten sie wahrscheinlich größere Schwierigkeit zuzustimmen, nicht nur wegen einer gewissen Fremdheit gegenüber diesen schwierigen Sprachen, sondern auch wegen einer verbreiteten Zugehörigkeit zur lateinisch-romanischen Tradition und der Einseitigkeit und Radikalität dieser Behauptung. Dieselben Italiener, die ich hier als fingierte Gesprächspartner stilisiere, wären aber tief überrascht zu hören, welche marginale Rolle die Philosophie im deutschen Schul- und Ausbildungssystem spielt. Die Philosophie spricht zwar scheinbar Deutsch, aber anscheinend braucht sie in Deutschland nicht gelernt zu werden, zumindest nicht als Schulfach. Anders als in Italien, wird sie nur Fachphilosophen angeboten. Auf der anderen Seite könnte man mit einer vergleichbaren Überraschung feststellen, wie nebensächlich die musische Ausbildung (Kunst und Musik) in den italienischen Schulen ist, selbst wenn Kunst und Musik oft dem italienischen Geist zugesprochen werden. Resigniert könnte man daraus schließen, wie wenig die schulische Ausbildung zur Bildung des nationalen Geists beiträgt oder (alternative Hypothese), dass die Schule vor allem die jeweiligen Defizite einer Kultur auszugleichen versucht. Aber auch wenn wir uns nicht auf gewagte und in keiner Weise bestätigte Hypothesen einlassen wollen, fest steht, dass eine frappante Asymmetrie die philosophische Beziehung zwischen Italien und Deutschland prägt. Ein philosophischer Primat Deutschlands gegenüber Italien ist nicht zu leugnen, insbesondere seit Kants Zeiten. Gleichzeitig muss man der italienischen Kultur eine deutlich größere Anerkennung der sozialen und pädagogischen Funktion der Philoso221 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Ugo Perone

phie zugestehen. Die breitere Funktion der Philosophie in Italien wird nicht nur durch unser Schulsystem bestätigt, sondern auch durch die zahlreichen philosophischen Festivals, die von einem größeren Publikum immer wieder besucht werden. Diese deutliche Asymmetrie spiegelt sich auch im allgemeinen Panorama der philosophischen Veröffentlichungen wieder, die in Italien zahlreicher sind als in Deutschland, die aber mit größerer Mühe einen vergleichbaren Bekanntschaftsgrad erreichen und nur selten ins Deutsche übersetzt werden. Man könnte sogar behaupten, dass gerade dieses breitere Spektrum zu einem Hindernis wird. Ohne dem nachfolgenden Experiment die Würde einer wissenschaftlichen Analyse zuzuschreiben, findet man doch eine gewisse Bestätigung dieses Zustands in einem Vergleich, den ich fast spielerisch unternommen habe. Wenn man bekannte Philosophen (jeweils 30 Deutsche und 30 Italiener) der letzten 50 Jahre aussucht und sich die Mühe gibt zu untersuchen, wie viele von ihnen (und wie viele ihrer Werke) übersetzt worden sind, kommt man zu folgendem Ergebnis: Die italienischen Autoren, die ins Deutsche mit mindestens vier Werken übersetzt worden sind, sind fünf; die deutschen Autoren, die ins Italienische übersetzt worden sind, sind 16. Die italienische Philosophie – schrieb ich vor ungefähr zehn Jahren – gilt in Deutschland immer noch als »terra incognita« 1. Seitdem hat sich – fürchte ich – wenig geändert. Würde man das gleiche Experiment gegenüber anderen Sprachen fortführen, wie zum Beispiel Englisch, Französisch oder Spanisch, käme man im Großen und Ganzen auf das gleiche Ergebnis. Auch in diese Richtung lässt sich dieselbe Asymmetrie feststellen, mit nur einer Abweichung: Sie ist viel schwächer bei Sprachen, die zur selben linguistischen Gruppe gehören, und verstärkt sich gegenüber den Sprachen der anderen Gruppe. Ein Zeichen, das die Übersetzung nicht in erster Linie von dem Schwierigkeitsgrad und von der Entfernung zur Originalsprache bestimmt wird, sondern viel mehr von der kulturellen Nähe der in Frage kommenden Sprache. Alles in allem kann man wohl wiederholen, dass mindestens für die meisten Italiener die Philosophie Deutsch spricht, selbst wenn sie in Deutschland eher marginal erscheint. Ähnliches kann man in den heutigen Universitäten beobachten: Im Humboldtianischen Univer1 Vgl. Italienische Philosophie der Gegenwart. Ein Überblick, hg. v. Thomas Eggensperger, Ulrich Engel u. Ugo Perone, Freiburg/München 2004.

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Italienische und Deutsche Philosophie

sitätssystem genießen Philosophie und Theologie einen Vorrang, jedoch handelt es sich hierbei um eine fast ausschließlich formale Anerkennung, ähnlich zu der, die ersichtlich wird in den bibliothekarischen Signaturen, wo sie traditionsgemäß immer noch die erste Position innehaben.

2.

Grenzen einer Nationalphilosophie

Diese Beschreibung ist jedoch leider unzulänglich. Sie gibt nur ein statisches Bild der Beziehung wieder und vernachlässigt die möglichen Entwicklungen der Zukunft. Der Primat Deutschlands droht zu verschwinden, wenn die deutsche Philosophie ihren Aufmarsch in Richtung der analytischen Philosophie fortsetzt: auch die Mythen sind einem Verbrauch ausgesetzt. Und wenn die Philosophie eine analytische Richtung einschlägt, wird sie Englisch (oder Amerikanisch) reden. Aber auch die ausgedehnte soziale Funktion der Philosophie in Italien riskiert in einer weiterhin schwierigen politischen Lage in salonhafte Unbedeutsamkeit zu versinken. Der Weg einer produktiven Auseinandersetzung geht heute über die Grenze einer Nationalphilosophie, welche eine partielle Rechtfertigung nur in bestimmten historischen Epochen bekommen hat (siehe zum Beispiel die überholten Versuche, Standardwerke über die Geschichten der Philosophie nach einem nationalen Muster zu schreiben), und die heutzutage, meiner Meinung nach, nicht mehr haltbar sind. Wenn man auf die Geschichte der Philosophie zurückschaut, stellt man fest, dass die Zeiten einer nationalen Philosophie sehr beschränkt sind. Sicher ist die Philosophie in Griechenland geboren, aber nie hat sie in der Antike eine rein nationale Bedeutung gehabt (Griechenland selbst war, wie wir wissen, kein einheitliches Land). Bald hat sie durch die Römer eine Ausbreitung erlebt, die ihr für die ganze damals bekannte Welt eine Würde und eine Bedeutung zuschrieb, die lange maßgeblich blieb. Durch das christliche Mittelalter und die Einheit der lateinischen Sprache bekräftigte sie ihre universalistische Rolle. Nur in der Moderne bekommen, auch durch die Entzweiung der Sprachen, nationale Charaktere größere Bedeutung. Aber die Republik der Gelehrten blieb lange Zeit ein gemeinsam betretenes Feld. Sicher war Descartes Franzose (und dies besonders durch die nachfolgende Rezeption), aber er lebte in den Niederlanden, 223 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Ugo Perone

korrespondierte mit deutschen und niederländischen Gelehrten, polemisierte mit Hobbes, schrieb für eine böhmische Prinzessin wie Elisabeth und unterrichtete die schwedische Königin Maria Christine. Und Spinoza, war er Niederländer? Wer unter den Studenten würde wissen, dass Leibniz Deutscher war? Nur die Engländer wurden (schon damals) durch einen starken nationalen Charakter geprägt (das führt uns zu der gewagten Hypothese, dass die einzige Philosophie mit einer nationalen Ausprägung der Empirismus und als späterer Nachfolger die analytische Philosophie ist). Nur ab dem 18. Jahrhundert und höchstens bis Mitte des 20. Jahrhunderts haben wir, besonders in Frankreich und in Deutschland (und in Italien nur durch meistens misslungene Versuche), deutliche Züge einer national geprägten Philosophie. Aber es handelt sich um weniger als 300 Jahre angesichts einer Geschichte von 2500 Jahren. Es ist an der Zeit, diese eng gewordene Perspektive aufzugeben und sich zu einem breiteren Verständnis zu bekennen. Die Philosophie ist eine typische Kulturform des Abendlandes. Sie ist ein Versuch, mit rationalen Mitteln eine universell gültige Anschauung der Welt (ich vermeide bewusst das – übrigens zu Unrecht – in Misskredit geratene Wort Weltanschauung) anzubieten. Nach dem Scheitern eines absoluten und exklusiven Wahrheitsbegriffs hat die neuere Philosophie lernen müssen, dialogisch unterschiedliche Wahrheitsauffassungen anzuerkennen, ohne einen exklusiven Anspruch auf den Begriff Wahrheit zu erheben. Dies ist der Verdienst einer guten hermeneutischen Philosophie. Dies ist aber gleichzeitig die Bestimmung jenes Abendlandes, das wir Europa nennen und das gegenüber den USA eigene Züge aufweist. In diesem erbbeladenen und erbfähigen Kontext entscheidet sich das Schicksal der Philosophie, wie wir sie Jahrhunderte lang verstanden haben. Die Aufgabe ist alt, gleichzeitig bekommt sie eine neue aktuelle und soziale Brisanz. Die Frage ist: Wie gehen wir mit Differenzen um? Wir haben bis jetzt drei Formen dieses Umgangs ausprobiert: Zunächst die monistische Ausradierung der Differenzen im Namen einer hierarchischen und politischen Dominanz der Einheit; dann die dialektische Aufhebung der Differenzen, die am Ende jede Spannung als Stufe einer höheren Einheit sieht; und schließlich die progressive Schwächung einer in eine Pluralität von Differenzen ohne jeden Anspruch auf Wahrheit aufgelösten Einheit. Die Alternative, wie wir sie kennen, ist entweder der Verzicht auf Wahrheit – d. h. die Pluralität wird anerkannt, aber die unterschiedlichen Positionen erheben kei224 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Italienische und Deutsche Philosophie

nen normativen Wahrheitsanspruch – oder die Negation bzw. die Bagatellisierung der Differenzen. Die politischen Folgen einer solchen Einstellung stehen uns vor Augen: Einerseits ein mehr oder weniger expliziter Absolutismus und Imperialismus, andererseits eine Demokratie, die nicht in der Lage ist, den Grundwert ihres Bestehens zu rechtfertigen und nachzuerzählen, und die aus diesem Grund versucht, sich durch eine Umwandlung in ein mehr oder weniger funktionalistisches System zu retten. Das Letztere ist offenkundig unsere allgemeinere Erfahrung. Sie hat aber die Unfähigkeit zur Folge, gemeinsam anerkannte Sinnhorizonte zu teilen. Letztendlich verursacht sie ein politisches Gleichgültigkeitsgefühl, das nicht wagt, über einen geregelten Kampf der Interessen hinaus zu schreiten. Die Art und Weise, wie Europa entstanden ist und sich am Leben hält, ist ein Musterbeispiel dafür. Der europäische Kontinent hat in seiner historischen Entwicklung gleichzeitig die kulturelle Einheit des Abendlandes und den kriegerischen Konflikt der Differenzen erlebt und versucht jetzt ausgehend von den anerkannten Differenzen eine politische (und nicht nur kulturelle) Einheit zu bilden. Die schlichte Vermittlung der nationalen Interessen wird nicht im Stande sein, diese Entwicklung zu fordern. Man braucht Sinnhorizonte; man muss sich an Inhalten bedienen können, welche den Mut haben, die Form der Wahrheit und des Guten anzunehmen. Aber dafür tut mehr Philosophie – und nicht weniger Philosophie – Not. Der Weg ist nicht der der bloßen Toleranz, sondern der der Aufwertung der Differenzen. Dafür braucht man aber eine solide philosophische Begründung, einen adäquaten und offenen und nicht einen geschwächten und letztendlich gleichgültigen Wahrheitsbegriff. Ohne eine tiefergehende kulturelle Begründung werden wir unseren politischen Ambitionen auf Dauer nicht gewachsen sein.

3.

Die Philosophie als Erschließung einer anderen Wirklichkeit

Kehren wir zu unserem Thema der Wechselwirkung der Philosophie zwischen Italien und Deutschland zurück. Ich glaube, ich habe deutlich genug betont, wie wenig zukunftsfähig ein Vergleich zwischen zwei nationalen philosophischen Traditionen ist. Bedeutet dies, dass aus dieser Gegenüberstellung nichts Verwertbares entstehen kann? Ganz im Gegenteil. Wichtig ist aber, dass wir uns nicht auf die Ver225 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Ugo Perone

gangenheit oder auf die Gegenwart beschränken, sondern dass wir, reich an unserer Erfahrung, in Richtung Zukunft schauen. Die Philosophie beginnt ihren Flug nicht mit der einbrechenden Dämmerung, denn sie besitzt Augen, die in die Geschichte von gestern und heute so tiefgründig schauen, dass sie uns unbekannte aber ersehnte Wege entdeckt. In der Tat begegnet die Philosophie durch Erfindung unerwartet einem Begehrten und macht es uns durch ihre Formulierung allen erfahrbar, d. h. zugänglich. Als ich vor fast 20 Jahren die politische Funktion des Kulturdezernenten der Stadt Turin innehatte, habe ich ein Stadtfestival mit dem stolzen (und Heideggerianischen) Titel »Identität und Differenz« initiiert (und jahrelang fortgesetzt). Es handelte sich dabei um einen Versuch, den unterschiedlichen ethnischen Kulturen der Immigrierten eine Bühne zu bieten, wo sie sich zeigen und vorstellen konnten, eine Bühne, die das Stadtzentrum symbolisch an sozial marginalisierten Gruppen und Kulturen übergab und die diese Gruppen zu Hauptfiguren des Stadtlebens umwandelte. Es waren Jahre, in denen die italienische Gesellschaft große Schwierigkeiten mit dem Phänomen der Einwanderung hatte und solche kulturelle Initiativen sollten zu einer breiteren Akzeptanz und sogar zu einer Anerkennung führen. Die Zeiten haben sich deutlich geändert. Einerseits zum Besseren, da dieses Problem heute weniger akut erscheint (wir haben sogar eine schwarze Ministerin). Andererseits ist mir klar, dass die Verflechtung von Identität und Differenz die tiefen Schichten unserer Gesellschaft viel subtiler beeinträchtigt und spaltet. Der Pluralismus der Identitäten macht für uns alle – und nicht nur für die Einwanderer – die Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft schwer, wie sich anhand der brisanten Themen der differenten Eheformen sowie der sexuellen Identität deutlich zeigt. Wie wir wissen, ist die Struktur einer Gesellschaft keineswegs statisch, sondern vielmehr, um mit Zygmunt Bauman zu sprechen, flüchtig. 2 Dies bedeutet aber, dass wir Schwierigkeiten haben, gemeinsame Punkte zu finden, an die wir uns halten können. Gerade für diese Aufgabe kann aber die Philosophie eine entscheidende Rolle spielen. Sie könnte der gemeinsame Nenner werden, welcher das Erbe unserer europäischen Geschichte auf sich nimmt und damit ein Stück einer möglichen gemeinsamen Zukunft baut. Es muss aber eine Philosophie sein, welche die großen Themen nicht scheut und welche solche anspruchsvollen Worte wie Wahrheit, 2

Bauman (2000).

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Italienische und Deutsche Philosophie

Gerechtigkeit, Gut und Böse, Verantwortung usw. wagt. Nach dem flüchtigen Phänomen einer Postmoderne (die eigentlich keine gesellschaftliche Basis hatte und nichts weiter als eine eher müde Hinausschiebung der Moderne war) zeigt sich als Reaktion zu dieser eine Umkehrung zum philosophischen Realismus, welcher aber nur eine reaktive und kritische Bedeutung hat. Wie kaltes Wasser über die Träume einer irrealen Welt soll sie uns aus dieser Träumerei erwecken. Die Ontologie bekommt neuen Antrieb, aber sie hütet sich vor jedem metaphysischen Ansatz. Als vorübergehende Therapie kann dieser Realismus sogar positive Folgen haben, aber auf lange Sicht besitzt er keine grundlegende identitätsstiftende Kraft. Eine Philosophie, welche auf der Höhe ihrer Ansprüche sein will, ringt unvermeidlich immer wieder mit ihrem metaphysischen und idealistischen Erbe. Damit will ich sagen, dass sie nie nur glatte Wiederspiegelung des Reellen sein darf (ganz einfach weil sie dies nicht kann). Um dieses zu verstehen, muss die Philosophie zwangsläufig über und hinter das Reelle hinausgehen. Gerade weil sie die Wirklichkeit nie besitzen kann (das Denken kann sich schließlich nicht des Lebens bemächtigen), darf sie nie den gleichen Platz des Reellen besetzen. Sie versucht es zu umgeben und zu umgrenzen. Sie wird in diesem Sinne immer vor, nach oder hinter dem Reellen sein. Nie hat sie ein vollständiges Bild dieses Ganzen. Aber sie ringt darum. Auch die Sprache ist, ähnlich wie die Philosophie, ein Versuch Wirklichkeit einzugrenzen und ihrer habhaft zu werden. Jedoch ermöglicht die Benennung der Dinge nur »fiktiv« diese zu erfassen und über sie zu verfügen. Denn Sprache ist niemals Wirklichkeit. Sie bildet Wirklichkeit ab (oder versucht sie abzubilden), ähnlich wie die Philosophie. Hier, an dem Punkt, wo sich Sprache und Philosophie treffen, ist die Kraft einer gemeinsamen Identität, nach der jeder strebt, ohne sie jemals als Besitz betrachten zu können. Unterschiedlich sind die Perspektiven, die man in diesem Versuch aufwirft. Nicht alle besitzen den gleichen Wert und sie sind auch nicht unbedingt harmonisch kompatibel. Sie setzen aber die Möglichkeit eines Streits und eines Vergleichs voraus und gerade dadurch erlangen sie eine gegenseitige Anerkennung, welche ihre Wurzeln in einem gemeinsamen Bestreben hat. Sie nähern sich alle an etwas an, das metaphysisch ist, und zwar in dem Sinne, dass sie alle von der Funktion »meta« Gebrauch machen. Diese Funktion »meta« sollte eingestanden und nicht abgetan werden wie eine Schwäche, die man lieber verbergen sollte. Sie ist eher eine strukturelle Voraussetzung, die grandiose Erfolge ermög227 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Ugo Perone

licht, weil sie in der Suche nach dem Reellen mehrere Welten erschließt. Die Philosophie erschließt bzw. erfindet für uns Möglichkeiten, an die wir vorher nie gedacht hätten. Gerade dadurch und gerade in dieser viel umfassenderen Perspektive, werden die Differenzen, ohne die Unterschiede zu leugnen, miteinander kompatibel. Dies ist aber, genau betrachtet, in irgendeiner Weise Idealismus. Nicht unbedingt im Sinne des klassischen Deutschen Idealismus, obwohl es angebracht wäre, die Entstehungsgründe dieser Philosophie genauer zu untersuchen, sondern in dem banalen aber zu oft verleugneten Sinn, dass die Philosophie mit Ideen und nur mit Ideen zu tun hat. Und die Ideen sind keine mentale Abbildung der Wirklichkeit, sondern ein geistiges Bild, durch welches wir uns in dem Realen orientieren, um kreativ auf es einzuwirken. Man denkt nicht, um sich neutral eine Abbildung der Realität zu verschaffen, sondern um eine Beziehung entstehen zu lassen, die mich mit den Anderen und mit dem Anderssein der Objekte in Verbindung setzt. Das ist, was wir gewöhnlich Welt nennen. Und das ist auch das Werk der Philosophie. Sie schafft Welten. Sie könnte sogar Europa schaffen, d. h. eine neue politische Welt, die nicht aus einem Gewaltakt entsteht, sondern die Erfindung eines neuen politischen öffentlichen Raums ist, in dem die Einheit aus Differenzen und durch die Differenzen erreicht wird.

4.

Europa und die Sprache der anders Sprechenden

In diesem Vorschlag einer europäischen Philosophie für ein neues Europa (das Wort »neu« soll hier im Sinne des altgriechischen und biblischen kainòs verstanden werden und nicht im Sinne eines einfachen néos, d. h. als etwas, das eine Art Vollkommenheit anstrebt und sogar vorwegnehmend besitzt) nehmen die Sprachen eine wichtige Rolle ein. Ein Widerstand gegen die Dominanz des Englischen erscheint mir in der heutigen Zeit anmaßend. Englisch ist in der Tat heute die Sprache der Welt, aber sie ist nicht unbedingt die Sprache Europas. Wenn wir die Differenzen ernst nehmen wollen, müssen wir uns dreisprachig erziehen: Englisch, um mit der Welt kommunizieren zu können, unsere Heimatsprache, um unsere Wurzeln zu pflegen sowie eine dritte Sprache, um unsere europäischen Mitbürger zu verstehen. Mit der wichtigen Regel, dass diese dritte Sprache nicht mit unserer Heimatsprache verwandt ist, d. h. im Falle des Italienischen keine der romanischen Sprachen (Französisch oder Spanisch etc.), 228 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Italienische und Deutsche Philosophie

sondern eine Sprache einer anderen Sprachgruppe, z. B. eine germanische (wie Deutsch, Niederländisch, o. ä.). Warum ein so großer Aufwand? Sicher nicht nur, um die Kommunikation zu vereinfachen. Dafür wäre die Weltsprache Englisch völlig ausreichend. Die Kenntnis der Sprachen dient keinesfalls nur zur Kommunikation, wie irrtümlicherweise immer wieder behauptet wird, sondern zu einem besseren Verständnis der Anderen, der anders denkenden Anderen. Die Fremdsprachen eröffnen unbekannte Welten, sie sind Schlüssel zu uns unbekannten Erkenntnis- und Erfahrungsschichten. Ich lerne Sprachen nicht, um mich verstehen zu lassen, sondern um die anders Sprechenden und Denkenden zu verstehen. Ich lerne Sprachen, um mich in diesem »anders Denken« zu üben. Ich lerne Sprachen, weil ich die Differenzen zu Wort kommen lassen will, die in mir liegen und die unsere gemeinsamen europäischen Wurzeln sind. Wir müssen lernen, durch die Differenzen der Sprachen die Differenzen der Kulturen zu schätzen. Das gilt aber nicht philologisch in Richtung Vergangenheit. Dies haben unsere Vorfahren gepflegt, um eine stark einheitliche Kultur in einen größeren Kulturrahmen zu versetzen (zum Beispiel das alte Griechenland, Rom usw.). Das Andere war damals mit der Vergangenheit gleichzusetzen. Doch heutzutage ist es anders. Wir müssen lernen, in den Differenzen und aus den Differenzen zu leben, ohne gleichgültig zu werden. Die Philosophie kann uns zu dieser Aufgabe helfen, indem sie nach einer Anschauung der Welt strebt, welche keine ideologische Weltanschauung ist, sondern ein Versuch, die Differenzen zu vermitteln, so dass man aus ihnen eine gesamte Welt-Anschauung bieten kann. Es ist das, was ich Sinn zu nennen pflege, d. h. eine Perspektive der Inklusion bzw. Einschließung, die aus unterschiedlichen Bedeutungen eine Gesamtperspektive wagt. Es wäre natürlich zu einfach zu denken, dass das Thema Identität/Differenzen durch die einfache Verdoppelung zwischen Sinn, welcher die einheitliche Identität bietet, und Bedeutungen, die die Vielfalt der Teilperspektiven darstellen, zu einer Lösung kommt. Es ist aber dennoch meines Erachtens ein erster Schritt. Viele Differenzen betreffen in der Tat das, was ich Bedeutung nenne, und können doch ohne weiteres eine Vermittlung in einem gemeinsamen Sinn finden. Die echten und entscheidenden Differenzen beziehen aber gerade ein, was ich Sinn genannt habe. Der mögliche Konflikt der Interpretationen betrifft unausweichlich die unterschiedlichen Sinnperspektiven. Wenn man nichtsdestoweniger, meinem Vorschlag folgend, den 229 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Ugo Perone

Sinn als jene Fähigkeit versteht, unterschiedliche Bedeutungen in eine konvergierende Richtung zu schnüren, hat man die Möglichkeit, die Sinnperspektiven zu einem Dialog zu zwingen. Wenn die Opposition ein starrer Kontrast von Ideologien ist, gibt es keinen möglichen Dialog. Wenn jedoch jeder Sinn, sich danach messen lassen muss, ob er den Bedeutungen, die darin, d. h. im Spannungsfeld eines jeden wahren Dialoges, miteinbezogen sind, gerecht werden kann, dann ergibt sich daraus ein viel reicheres Kommunikationsfeld. Jeder Sinn enthält mehrere Bedeutungen, aber keine Bedeutung gehört ausschließlich einem einzigen Sinn an. Die Perspektiven kreuzen sich und keine kann behaupten, das Ganze ausgeschöpft zu haben. Solange sie nicht ideologisch erstarren, sind Sinne dialogfähig; philosophisch gedacht, verlangen sie sogar den Dialog. Sinne geben in der Tat eine Richtung an, die über sie hinaus geht. Sie streben nach einem Mehr und andere Sinnperspektiven können dabei helfen. Solange sie stumm bleiben, lassen sich Bedeutungen nicht vermitteln. Aber um ihre Bedeutung zu entfalten, brauchen sie eben eine Deutung, d. h. sie brauchen die Inklusion in einen Sinnvorschlag. Gerade in diesem Moment findet eine riskante Entscheidung statt, die unidimensional Sinn und Bedeutung zu einer gefährlichen Einheit führt. Der Sinn wird zu einer ideologischen Rechtfertigung der Bedeutung und die Bedeutung zu einer stumpfen Darstellung eines Sinns. Aber Sinn und Bedeutungen ergänzen sich nicht, erst bekämpfen sie sich: Der Sinn urteilt über die Bedeutungen und die Bedeutungen fordern die Abstraktheit des Sinns heraus. Sinn und Bedeutung stehen zueinander in einem Verhältnis der Transzendenz. Deswegen hüten sie die Differenzen.

5.

Europa, die Inklusion als Erweiterung

Die alte Lösung, dialektisch zwischen Sinn und Bedeutung zu vermitteln, hat sich als unzulänglich erwiesen. Man muss nach einer Inklusion drängen, die im Gegenteil durch eine Erweiterung entsteht. Es ist in Richtung Zukunft wichtig, dass neue Formen des Zusammenlebens gedacht werden können, wo das Zusammenleben zu einer inklusiven Zusammengehörigkeit gelangt, die für jede Differenz einen breiteren Entfaltungsraum schafft. Aber diese Zukunft kann nur erdacht werden, wenn wir schon in der Gegenwart Erlebnisse eines solchen Zustands antizipieren. Dies ist Aufgabe des Lebens, bzw. ins230 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Italienische und Deutsche Philosophie

besondere der Kreativität jeden Lebewesens, und der Politik. Aber um dies zu erleichtern und gleichzeitig um ihm eine universelle Bedeutsamkeit zu verleihen, sollen neue Welten erschlossen werden. Und dies kann die Philosophie. Hierfür brauchen wir dieses neue Konzept einer europäischen Philosophie, das jenseits der früheren nationalen Asymmetrie in der Lage ist, neue europäischen »Welten« im Dialog zu eröffnen. Und vielleicht sogar nicht nur die Philosophie tut hier not, sondern alle Arten der menschlichen Kreativität (d. h. Literatur, Theater, bildende Kunst usw.) tragen ihren Teil dazu bei, diesen Erfahrungs- und Denkraum eines multiplen Sinns zu erschließen und zur Entfaltung zu bringen. Durch die Einführung des Euro bekam das europäische Projekt eine gemeinsame ökonomische Grundlage. Auf kultureller Ebene hat dieses Projekt jedoch erst begonnen. In einer europäischen Dimension zu denken, abseits der nationalen Asymmetrie, wie ich sie eingangs beschrieb, ist heute mehr denn je die aktuelle Forderung des Tages. Denn einen wirklichen gemeinsamen europäischen Denkraum, in dem man sozusagen mit gleicher »Währung« Gedanken austauschen könnte, gilt es erst noch zu erschaffen. Seine spezifische Besonderheit liegt darin, dass er – ähnlich wie die unterschiedlichen Motive auf den Münzen der europäischen Währung (jedes Land hat seine eigenen Motive) – aus den unterschiedlichen Differenzen der Sprachen und Traditionen der einzelnen Länder und Kulturen lebt und sich aus ihnen nährt. In diesem Wechselspiel der Differenzen von Sinn und Bedeutung erwächst eine immer wieder von neuem entstehende Transzendenz, die letztlich auf den Schutz der Alterität des anders Denkenden bzw. des anderen Menschen ausgerichtet ist. Der Prüfstein ist hierbei (immer wieder von neuem) der Dialog, das gesprochene Wort zwischen Menschen, das was Emmanuel Levinas einmal »das Wunder aller Wunder« nannte: »Das banale Faktum des Gesprächs verläßt […] die Ordnung der Gewalt. Dieses banale Faktum ist das Wunder aller Wunder« 3. In der Tat offenbart sich an dieser Fähigkeit zum Dialog zwischen den Differenzen, d. h. zu einem Gespräch, das diese Differenzen nicht nivelliert, sondern anerkennt, die Möglichkeit, eine dauerhafte Basis der friedlichen Koexistenz in Europa zu stiften. Hiermit ist ein Friede gemeint, der etwas wesentlich anderes wäre, als der bloße Zustand des Nicht-Krieges, in dessen Schutz wir uns heute sicher wähnen und der doch (auf Dauer) fragil 3

Levinas (1992), 17, kursiv gesetzt von mir.

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ist. Diese Fähigkeit zum Gespräch ist keineswegs selbstverständlich, wie Martin Buber es in seiner Rede zum Erhalt des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels darlegte: »Dass die Völker, die Völkermenschen kein echtes Gespräch mehr miteinander führen können, ist nicht bloß das aktuellste, es ist auch das uns am dringendsten anfordernde Phänomen der Pathologie unserer Zeit. Ich glaube trotz allem, dass die Völker in dieser Stunde ins Gespräch, in ein echtes Gespräch miteinander kommen können. Ein echtes Gespräch ist eins, in dem jeder der Partner den andern, auch wo er in einem Gegensatz zu ihm steht, als diesen existenten andern wahrnimmt, bejaht und bestätigt; nur so kann der Gegensatz zwar gewiss nicht aus der Welt geschafft, aber menschlich ausgetragen und der Überwindung zugeführt werden.« 4

An diesem Projekt mitzuwirken sind alle aufgerufen, allen voran jedoch die Philosophen des neuen europäischen Zeitalters, das gerade erst begonnen hat. 5

Literatur Bauman, Zygmunt (2000): Liquid Modernity, Cambridge [im Deutschen erschienen als Flüchtige Moderne, Frankfurt 2003, übers. v. Reinhard Kreissl]. Buber, Martin (2003): Das echte Gespräch und die Möglichkeit des Friedens, in: ders., Sprachphilosophische Schriften (Martin Buber Werkausgabe, Band 6), hg. v. Paul Mendes-Flohr u. Peter Schäfer, Gütersloh, 95–102. Eggensperger, Thomas/Engel, Ulrich/Perone, Ugo (Hgg.) (2004): Italienische Philosophie der Gegenwart. Ein Überblick, Freiburg. Levinas, Emmanuel (1992): Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt/M.

Buber (2003), 101. Frau Dr. Silvia Richter war mir bei der Redaktion des Aufsatzes behilflich. Bei ihr möchte ich mich ausdrücklich bedanken.

4 5

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Kommentierte Auswahlbibliographie zur deutsch-italienischen Philosophie*

Barale, Massimo (1981): »Kant heute in Italien«, in: Kant-Studien, 72/1, 96–109. Benso, Silvia/Schroeder, Brian (2007): Contemporary Italian Philosophy: Crossing the Borders of Ethics, Politics, and Religion, Albany. Bertalot, Ludwig (1975): Studien zum italienischen und deutschen Humanismus (= Storia e letteratura 129), hg. v. Oskar Kristeller, zwei Bde., Roma. Bianco, Franco (1993): Beiträge zur Hermeneutik aus Italien. Freiburg/München. Der Sammelband umfasst Beiträge gegenwärtiger italienischer Philosophen wie Luigi Pareyson, Umberto Eco und Gianni Vattimo.

Bremer, Thomas/Heydenreich, Titus (Hgg.) (2011): Zibaldone. Zeitschrift für italienische Kultur und Gegenwart. Nr. 51 (2011), Schwerpunkt: Italienische Philosophie heute. Tübingen. Der Band will ein »Panorama zur italienischen Gegenwartsphilosophie« (7) geben und befasst sich mit zeitgenössischen italienischen Philosophen wie Giorgio Agamben, Roberto Esposito, Emanuele Severino, Massimo Cacciari, Gianni Vattimo und Toni Negri, die neben bekannteren Persönlichkeiten wie Croce, Eco, Gramsci und Gentile in der neueren Zeit immer mehr an Bedeutung gewinnen. Hierbei werden auch deren verschiedene Hintergründe mitreflektiert, die zwischen Postmarxismus und Metaphysik changieren.

* Die Recherche wurde teilweise mit Hilfe des »Philosopher’s Index« durchgeführt, wobei auch auf die von den jeweiligen Autoren erstellten Kurzcharakterisierungen zurückgegriffen wurde.

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Kommentierte Auswahlbibliographie zur deutsch-italienischen Philosophie

Bazzan, Marco Rampazzo (2006): »Sammelrezension: Überblick über die Hauptrichtungen der aktuellen Fichte-Forschung in Italien (1994–2005)«, in: Fichte-Studien 27, 223–241. Borradori, Giovanna (Hg.) (1988): Recoding Metaphysics: The New Italian Philosophy. Evanston. Der englischsprachige Sammelband setzt sich zum Ziel, die Philosophie zeitgenössischer italienischer Denker einem angelsächsischen Publikum näherzubringen gegenüber der französisch-deutschen Vorherrschaft im modernen Diskurs. Beiträge u. a. von Umberto Eco, Gianni Vattimo und Emanuele Severino. Die Beiträge kreisen u. a. um das Philosophem des »schwachen Denkens« (pensiero debole) in Auseinandersetzung mit dem Marxismus sowie der Philosophie Nietzsches und Heideggers.

Campa, Riccardo (2005): »Über die italienische Philosophie des 20. Jahrhunderts«, in: ders, Zwischen Italien und Deutschland. Zwei kulturwissenschaftliche Schriften, Hamburg, 119–167. Cantillo, Giuseppe (1995): »Italienische Philosophie und deutscher Existentialismus«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 3, 251–265. Der Aufsatz untersucht die italienische Rezeption des deutschen Existentialismus, von der ersten Rezeption der Philosophie Heideggers und Jaspers bis hin zur Heidegger-Rezeption in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum der italienischen Philosophie stehen der »positive« Existentialismus Nicola Abbagnanos und die existentialistische Philosophie der Person und Ontologie der Freiheit bei Luigi Pareyson.

Cassano, Franco (Hg.) (1973): Marxismo e filosofia in Italia, 1958– 1971, Bari. Cecchinato, Giorgia (2013): »Weder Historismus noch Hegelianismus. Fichte in der Existenzphilosophie Luigi Pareysons«, in: Fichte-Studien 38, 103–112. Cesa, Claudio (1994): »La première réception de Fichte et de Schelling en Italie (1804–1862)«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 99/1, 9–18. Cesarone, Virgilio (2005): »Die Hauptzüge der Rezeption von Heideggers Nietzsche-Interpretation in Italien«, in: Heidegger-Jahrbuch 2: Heidegger und Nietzsche, Freiburg, 354–362. 234 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Kommentierte Auswahlbibliographie zur deutsch-italienischen Philosophie

Cristin, Renato (Hg.) (1995): Phänomenologie in Italien, Würzburg. Der Sammelband thematisiert die italienische Rezeption der husserlschen und nachhusserlschen Phänomenologie. Behandelt wird die initiale Rezeption und Transformation durch Antonio Banfi und Enzo Paci. Auch systematische Fragestellungen werden verfolgt, und es wird die Nähe zur Heidegger-Forschung hergestellt.

Di Giovanni, Piero (1996): Kant e Hegel in Italia. Alle origine del neoidealismo, Roma/Bari. Eggensperger, Thomas/Engel, Ulrich/Perone, Ugo (Hgg.) (2004): Italienische Philosophie der Gegenwart. Ein Überblick, Freiburg/ München. Der Sammelband gibt einen guten Einblick in die italienische Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Thematisiert wird die gegenwärtige italienische Philosophie im Sinne einer »diffusen hermeneutischen Koiné« (10), wobei der Philosoph Luigi Pareyson eine zentrale Position einnimmt. Behandelt werden ebenfalls die verschiedenen Schulrichtungen der gegenwärtigen italienischen Philosophie (Mailand, Neapel, Pisa, Turin).

Esposito, Roberto (2012): Living Thought: The Origins and Actuality of Italian Philosophy, Stanford. Esposito konstatiert in diesem Buch ein neu erwachtes Interesse an der spezifisch italienischen Philosophie. Er untersucht die Vielfältigkeit, Aktualität und Attraktivität der italienischen Philsosophie in ihren Bezügen zu Literatur(kritik), Malerei, Filmkunst und Politik. Er stellt die enge Verwobenheit italienischen Denkens mit der konkreten Realität des Lebens und den eigenen historischen Wurzeln heraus, was ihn zu dem Begriff eines »lebendigen Denkens« (»living thought«) bzw. eines Denkens in Aktion (»un pensiero in atto«) führt, der für die italienische Philosophie charakteristisch sei.

Fabbianelli, Faustino (2006): »Ist die späte Wissenschaftslehre ein ›Aktualer Idealismus‹ ? Ein spekulativer Vergleich zwischen Fichtes und Gentiles Denken«, in: Fichte-Studien 30, 37–47. Fabbianelli, Faustino (2013): »Fichtes transzendentaler Ansatz in der Metaphysik des Geistes von Bertrando Spaventa«, in: FichteStudien 38, 113–123.

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Kommentierte Auswahlbibliographie zur deutsch-italienischen Philosophie

Fazio, Domenico M. (1993): »Nietzsche in Italien: Ein historischer Abriss der Nietzsche- Rezeption in Italien anhand der Übersetzungen seiner Schriften (1872–1940)«, in: Nietzsche-Studien 22, 304–319. Ferraguto, Federico (2013): »Selbstbegrenzung der kritischen Metaphysik? Momente der italienischen Fichte-Rezeption (1841– 1948) unter besonderer Berücksichtigung des kritischen Ontologismus von Pantaleo Carabellese«, in: Fichte-Studien 38, 125– 142. Ferrari, Massimo (2009): »Non solo ›sentieri interrotti‹. Immagini della filosofia tedesca nella cultura italiana dopo il 1945«, in: Rivista di Filosofia 100/3, 397–419. Der Aufsatz thematisiert und problematisiert die Rezeption der deutschen Philosophie in Italien nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Besondere Bedeutung komme dabei dem Denken Nietzsches, Heideggers und Gadamers zu, welches als eine Kritik der Moderne rezipiert werde, wohingegen Strömungen wie Neo-Kantianismus, Historizismus und Anthropologie weniger Beachtung finden. Der Aufsatz plädiert für eine stärkere italienische Rezeption von Denkern wie Cassirer und Carnap, die jenseits der Trennung von analytischer und kontinentaler Philosophie stehen.

Firrao, Francesco Paolo (Hg.) (2001): La filosofia italiana in discussione, Milano. Frigo, Gian Franco (1990): »La prima diffusione del kantismo a Padova. Cesare Baldinotti e Jacopo Bonfadini studiosi di Kant«, in: Kant e la finalità nella natura. A due cento dalla »Critica del Giudizio«, convegno presso l’Accademia Patavina di Scienze, Padova, 215–248. Furnari Luvarà, Giusi/Di Bella, Santi (Hgg.) (2011): Benedetto Croce und die Deutschen, Sankt Augustin. Der Sammelband vereint Beiträge über Croces Verhältnis zu vielen bedeutenden deutschen Denkern aus den Bereichen Literatur, Philosophie und Theologie wie Hölderlin, Schleiermacher, Hegel, Troeltsch, Nietzsche, Max Weber, Heinrich Rickert und Thomas Mann.

Garin, Eugenio (2008): History of Italian Philosophy, zwei Bde., übers. v. Giorgio Pinton, Amsterdam/New York.

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Grassi, Ernesto (1939): Vom Vorrang des Logos. Das Problem der Antike und die Auseinandersetzung zwischen italienischer und deutscher Philosophie, München. Grassi, Ernesto (1986): Einführung in philosophische Probleme des Humanismus, Darmstadt. Gentile, Giovanni (2015): Storia della filosofia italiana. Dalle origini al XV secolo [1904–1915], Brindisi. Das Buch zeichnet die Entwicklung des philosophischen Denkens im Italien des Mittelalters und seine komplexe Beziehung zur griechischen Philosophie (Platon, Aristoteles) nach. Behandelte Denker sind Thomas von Aquin, Franz von Assisi, Dante und Lorenzo Valla.

Gentile, Marino (1965): »Die italienische Philosophie nach dem zweiten Weltkrieg«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 19/ 1, 139–145. Hausmann, Frank-Rutger (Hg.) (1986): »Italien in Germanien«. Deutsche Italien-Rezeption von 1750–1850. Akten des Symposions der Stiftung Weimarer Klassik Herzog Anna Amalia Bibliothek, Schiller-Museum 24.–26. März 1994, Tübingen. Hösle, Vittorio (2014): Dantes »Commedia« und Goethes »Faust«. Ein Vergleich der beiden wichtigsten philosophischen Dichtungen Europas, Basel. Ein konziser ideengeschichtlicher Essay über zwei kanonische Werke der Weltliteratur aus dem italienischen und deutschen Kulturraum, die ein halbes Jahrtausend voneinander getrennt sind. Behandelt werden u. a. die Bedeutung von Natur und Wissenschaft, Geschichte und Politik, Philosophie und Religion sowie die Person von Goethes Faust und die Person des Pilgers Dante. Dabei wird sowohl auf inhaltliche wie auch auf formale Aspekte der beiden Werke reflektiert.

Höllhuber, Ivo (1969): Geschichte der italienischen Philosophie von den Anfängen des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, München. Das Übersichtswerk beabsichtigt, im deutschen Sprachraum weniger bekannte italienische Denker konzise und übersichtlich zu behandeln und die Bedeutung von bekannteren Denkern wie Antonio Rosmini und Benedetto Croce sowie Giovanni Gentile im Zuge einer »weitgehende[n] Schwergewichtsverlagerung« (9) zu relativieren. Dafür werden auch Denker behandelt wie der Philosoph, Schriftsteller und

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Maler Carlo Michelstaedter, ferner u. a. Ugo Spirito (»Problematizismus und konstruktiver Aktualismus«), Armando Carlini (»realistischer Spiritualismus«), Augusto Guzzo (»theistischer Idealismus«), Michele Federico Sciacca (»integrale Philosophie der objektiven Innerlichkeit«). Daneben finden aber auch weniger bekannte Denker des italienischen Neukantianismus (Francesco Fiorentino, Carlo Cantoni, Filippo Masci) und der modernen Rechtsphilosophie (u. a. Giorgio Del Vecchio, Guiseppe Capograssi, Antonio Anzilotti) Beachtung. Der Band zeichnet sich dadurch aus, dass er zu jedem dieser in Deutschland nur wenig bekannten Denker eine Kurzbiographie sowie eine Bibliographie liefert.

Hoffmann, Thomas Sören (2007): Philosophie in Italien. Eine Einführung in 20 Porträts, Wiesbaden. Ein sehr verdienstvolles und instruktives Übersichtswerk, welches in Einzelstudien zentrale Figuren des italienischen Geisteslebens darstellt. Zunächst wird die spezifisch italienische Geistesgeschichte thematisiert im Spannungsfeld von »singulärer Kontinuität« und »vitaler Rezeptionskultur«. Fünf Abteilungen widmen sich den Neoplatonikern (u. a. Marcelo Ficino und Giovanni Pico della Mirándola), den Paduaner Aristotelikern (Pietro Pomponazzi u. a.), den Humanisten und politischen Denkern wie Francesco Petrarca und Niccolò Machiavelli, den Naturphilosophen (u. a. Giordano Bruno und Galileo Galilei) sowie den Denkern der Geschichtsphilosophie und Ontologie (Giambattista Vico und Emanuele Severino).

Ivaldo, Marco (2010): »Fichte in Italien«, in: Fichte-Studien 35, Wissen, Freiheit, Geschichte: Die Philosophie Fichtes im 19. und 20. Jahrhundert, 205–225. Italienisches Kulturinstitut Stuttgart (Hg.) (1990): Nietzsche und Italien. Ein Weg vom Logos zum Mythos?, Tübingen. Kaltenbacher, Wolfgang (2004): Der Gedanke. Sieben Studien zu den deutsch-italienischen Beziehungen in Philosophie und Kunst, Würzburg. Krienke, Markus (2007): Rosmini und die deutsche Philosophie – Rosmini e la filosofia tedesca, Berlin. Der aus Anlass von Rosminis 150. Todestag entstandene umfangreiche Sammelband (er umfasst über 500 Seiten) untersucht dessen Rezeption der klassischen deutschen Philosophie, seine kritische Interpretation derselben und auch die systematische Relevanz der rosminischen Philosophie für die aktuelle Zeit. Rosmini wird dabei als »Dia-

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logfigur« und »Brückenbauer« zwischen Deutschland und Italien begriffen.

Marri, Fabio/Lieber, Maria (Hgg.) (1999): Die Glückseligkeit des gemeinen Wesens. Wege der Ideen zwischen Italien und Deutschland im Zeitalter der Aufklärung, Bern u. a. Mehlis, Georg (1932): Italienische Philosophie der Gegenwart. Berlin. Die Studie untersucht die Entwicklung in der italienischen Philosophie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und versteht diese als eine Abwendung vom Positivismus und Hinwendung zu einer Philosophie idealistischer Prägung. Insofern der Positivismus mit Frankreich assoziiert wird und der Idealismus mit Deutschland, wird eine Annäherung an Deutschland konstatiert. Die philosophische Entwicklung beider Kulturnationen wird – nicht unproblematisch – parallelisiert und Benedetto Croce und Giovanni Gentile eine besondere Bedeutung für die Zunahme des italienischen »Neu-Idealismus« zugesprochen. Besonders die Philosophie Hegels stellt hier einen zentralen Bezugspunkt dar. Problematisch ist an dieser Studie ebenfalls die enge Verflechtung mit politischen und faschistischen Tendenzen ihrer Zeit, denen im Zeitraum vor der »Machtergreifung« in Deutschland das Wort geredet wird (»Es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß Philosophie und Politik nichts miteinander zu tun haben. Wie Kants kategorischer Imperativ dem friderizianischen Staat entsprach, so entspricht die Aktivitätslehre von Gentile dem faschistischen Staat Mussolinis.«, [3]).

Nuzzo, Angelica (2013): »Fichte’s Thathandlung and Gentile’s ›Attualismo‹ – Dialectic and its Counter-Reformation«, in: Fichte-Studien 38, 163–178. Olivetti, Marco M. (Hg.) (1989): La Recezione Italiana Di Heidegger, Padova. Pettoello, Renato/Moro, Nadia (2014), Dizionarietto di tedesco per filosofi, Brescia. Das kompakte Wörterbuch (es umfasst 224 Seiten) versteht sich als ein flexibles Werkzeug, um sich aus italienischer Perspektive der Terminologie zentraler moderner deutscher Philosophen anzunähern, und um diese Denker auch in der Originalsprache zu lesen. Behandelte deutsche Denker sind Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Marx, Herbart, Nietzsche, Heidegger und Carnap.

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Poggi, Stefano (1991): »Heidegger in Italien: Vom Neuidealismus bis zur Postmoderne«, in: Dietrich Papenfuss/Otto Pöggeler (Hgg.): Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. 3: Im Spiegel der Welt: Sprache, Übersetzung, Auseinandersetzung, Frankfurt/M., 210–218. Portinaro, Pier Paolo (2007): »›Begriffsgeschichte‹ e filosofia politica: acquisizioni e malintesi«, in: Filosofia Politica, 53–64. Rohbeck, Johannes/Rother, Johannes (Hgg.) (2010): Grundriss der Geschichte der Philosophie, Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Bd. 3: Italien, Basel. Ruggiero, Guido de (1925): Italienische Philosophie, übers. v. Philipp A. Becker, Breslau. Die recht kurze Studie aus der Reihe »Jedermanns Bücherei« des HirtVerlags beansprucht, »die erste Geschichte der italienischen Philosophie in deutscher Sprache« (5) zu sein und will die Verbindungen zwischen dem deutschen und dem italienischen Denken aufzeigen. Das Bändchen versucht in sechs Kapiteln einen möglichst umfassenden Überblick zu geben über die italienische Philosophie von der Renaissance (Dante, Petrarca, Humanismus) über die Philosophie des 15. und 16. Jahrhunderts, über Bruno und Vico bis hin zur Philosophie des Risorgimento und den idealistischen Entwürfen Croces und Gentiles in Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie. Der italienische »Geist« wird dargelegt, der sich laut Verf. durch Individualismus, Humanismus und Naturalismus manifestiert. Hervorzuheben ist der umfangreiche Bildteil am Ende des Buches mit 16 Portraits der vorgestellten Denker von Dante bis Gentile.

Sciacca, Michele Federico (1948): Italienische Philosophie der Gegenwart, übers. v. Ernst Schneider, Bern. Es handelt sich um eine 36 Seiten umfassende Bibliographie, eine Art Forschungsbericht zur italienischen Philosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dieser ist dreigliedrig strukturiert. Zunächst und propädeutisch wird ein Überblick über die wichtigsten Vorläufer der italienischen Gegenwartsphilosophie gegeben, wobei Vico im 18. und Rosmini, Gioberti, Spaventa und Ardigò im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle spielen. Es schließt sich ein eher systematisch gehaltener allgemeiner Teil (»allgemeine Bibliographie«) an, der einen Überblick über die wichtigsten Teilgebiete, die Sammlungen, Bibliographien, Monographien und Zeitschriften gibt. Der spezielle Teil schließlich gibt einen Überblick über Strömungen wie den neuhegelianischen

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Idealismus, den kritischen Idealismus, den Christlichen Spiritualismus, über den Neothomismus, den Positivismus und die Phänomenologie, über den Neokantianismus, realistischen Spiritualismus, Skeptizismus, Pragmatismus sowie über Existenzphilosophie und Marxismus.

Sträter, Theodor (1991): Briefe über die italienische Philosophie, hg. v. Antonio Gargano. Köln. Thurner, Martin (Hg.) (2003): Nicolaus Cusanus zwischen Deutschland und Italien (Beiträge eines deutsch-italienischen Symposiums in der Villa Vigoni), München. Der Sammelband widmet sich anlässlich Cusanus’ 600. Geburtstag dessen Aktualität aus einer deutsch-italienischen Perspektive. Die Beiträge behandeln u. a. die Einflüsse der deutschen und italienischen Kultur auf Cusanus, die Wirkungen des Cusanus auf seine deutschen und italienischen Zeitgenossen sowie Cusanus in der Gesamtperspektive der deutsch-italienischen Philosophie vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Schrift Vite di uomi illustri des Florentiner Buchhändlers Vespasiano da Bisticci, in welcher Cusanus als einziger deutscher Philosoph neben zahlreichen italienischen Denkern der Frührenaissance vorgestellt wird.

Viano, Carlo A. (2006): La filosofia italiana del Novecento, Bologna. Volpi, Franco (1977): »Hauptvertreter und Entwicklungstendenzen der italienischen Philosophie der Gegenwart (1945–1975)«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 31/2, 289–296. Werner, Karl (1881): Kant in Italien, Wien. Werner, Karl (1884–1886): Die italienische Philosophie des 19. Jahrhunderts, fünf Bde., Wien. Dieses sehr umfangreiche fünfbändige Werk (die meisten Bände umfassen an die 500 Seiten) hat zum Ziel, »ein deutliches und ausdrucksvolles Bild des philosophischen Denklebens der Italiener« zu zeichnen (I, V) und möglichst einen vollständigen Überblick über die philosophischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts zu geben. Es behandelt »Antonio Rosmini und seine Schule« (1. Band), den »Ontologismus als Philosophie des nationalen Gedankens« (2. Band), die »kritische Versetzung und speculative Umbildung des Ontologismus« (3. Band), die »italienische Philosophie der Gegenwart« (4. Band) sowie die »Selbstvermittelung des nationalen Culturgedankens in der neuzeitlichen italienischen Philosophie« (5. Band). Dabei wird auch auf den

241 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Kommentierte Auswahlbibliographie zur deutsch-italienischen Philosophie

Zusammenhang der italienischen Philosophie mit den nationalen und politischen Bestrebungen eingegangen. Die italienische Philosophie des 19. Jahrhunderts wird charakterisiert als »Bemühungen um eine geistige Regeneration des italienischen Volkes nach Vorübergang der napoleonischen Gewaltherrschaft in Italien und nach Unterdrückung der ihr nachfolgenden revolutionären Zuckungen und conspiratorischen Regungen« (I, 1).

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Thomas Buchheim (Ludwig-Maximilians-Universität München) ist Inhaber des Lehrstuhls I für Metaphysik und Ontologie und geschäftsführender Herausgeber des Philosophischen Jahrbuchs. Er forscht und lehrt u. a. zur Aristotelischen Philosophie, der Schelling’schen Philosophie und der Philosophie der Freiheit. Er ist u.a. Autor des Buches Unser Verlangen nach Freiheit. Kein Traum, sondern Drama mit Zukunft, Hamburg: Meiner 2006. Claudio Ciancio (Università degli Studi del Piemonte Orientale) studierte bei Luigi Pareyson an der Universität Turin und verbrachte auch einen Forschungsaufenthalt an der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Er ist Präsident des Centro Studi Filosofico-religiosi »Luigi Pareyson« in Turin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der klassischen deutschen Philosophie, insbesondere Schelling. Systematisch ist für ihn vor allem das Verhältnis von Freiheit und Ontologie von Interesse. Seine jüngsten Werke sind Libertà e dono dell’essere, Genova-Milano: Marietti 2009 sowie Percorsi della libertà, Milano/Udine: Mimesis 2012. Faustino Fabbianelli (Università degli Studi di Parma) studierte in Florenz. Nach Studienaufenthalten in Bochum, Zürich und München wurde er 1998 an der Scuola Normale Superiore (Pisa) bei Claudio Cesa mit einer Dissertation über die praktische Philosophie J. G. Fichtes promoviert. Von 1998 bis 1999 hielt er sich als Forschungsstipendiat des DAAD in München an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften auf. Von 2000 bis 2002 war er DFG-Forschungsstipendiat am Philosophie-Department der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er von 2001 bis 2002 einen Lehrauftrag für moderne italienische Philosophie innehatte. Seit 2006 ist er Professor an der Universität Parma. Von 2008 bis 2010 war er Forschungsstipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung am Husserl-Archiv der 243 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

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Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Im Sommersemester 2013 nahm er eine DAAD-Gastdozentur an der LMU München wahr. Seine Forschungsschwerpunkte liegen historisch auf der klassischen deutschen Philosophie, der modernen italienischen Philosophie, der deutschen Phänomenologie sowie der deutschen Aufklärung. Systematisch gelten seine Forschungsinteressen der Transzendentalphilosophie, der Phänomenologie, der philosophischen Psychologie und der Ontologie. Er ist u. a. Hauptherausgeber der K. L. Reinhold-Korrespondenzausgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Autor der Bücher Impulsi e libertà. »Psicologia« e »trascendentale« nella filosofia pratica di J. G. Fichte, Genova: Pantograf 1998; Antropologia trascendentale e visione morale del mondo. Il primo Fichte e suo contesto, Milano: Guerini e Associati 2000 sowie Coscienza e realtà. Un saggio su Reinhold, Pisa: Edizioni della Normale 2011. Elena Ficara (Universität Paderborn) studierte an der Universität Turin »Palazzo Nuovo« bei Prof. Gianni Vattimo. Sie promovierte im Jahr 2006 an der Universität Köln mit einer Studie über Die Ontologie in der Kritik der reinen Vernunft, die von Prof. Klaus Düsing betreut wurde. Sie war »Visiting Scholar« an der University of St Andrews und am Graduate Center der City University of New York, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Technischen Universität zu Berlin/Innovationszentrum Wissensforschung sowie Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität Paderborn. Seit 2012 ist sie Juniorprofessorin an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen systematisch im Bereich der Metaphysik und geschichtlich in der Klassischen Deutschen Philosophie, insbesondere auf Kant, Hegel und Heidegger. Sie ist u. a. Autorin des Buches Heidegger e il problema della metafisica, Roma: Casini Editore 2010 und Herausgeberin der Sammelbände Die Begründung der Philosophie im Deutschen Idealismus, Würzburg: Königshausen und Neumann 2011 und Contradictions. Logic, History, Actuality, Berlin/New York: De Gruyter 2014. Thorsten Gubatz (Gerleve), geb. 1975 in Aalen. Studium der Philosophie und Germanistik in Konstanz, Pittsburgh und Freiburg im Breisgau. Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Mitautor der Neuauflage der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie (dort u. a. Artikel über Dante und Umberto Eco). Magister244 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

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arbeit 2007 erschienen unter dem Titel Umberto Eco und sein Lehrer Luigi Pareyson. Vom ontologischen Personalismus zur Semiotik. Promotion 2009 in Freiburg über Heidegger, Gadamer und die Turiner Schule. Die Verwindung der Metaphysik im Spannungsfeld zwischen Glaube und Philosophie. Nach Habilitationsprojekt in Bonn 2012 Eintritt in die Benediktinerabtei Gerleve (Ordensname: Br. Simeon). Seit 2014 Student der katholischen Theologie in Münster. Marco Ivaldo (Università degli studi »Federico II« di Napoli). Seine Forschungsschwerpunkte liegen historisch auf dem Bereich der klassischen deutschen Philosophie (Leibniz, Jacobi, Reinhold, Kant und besonders Fichte, aber auch Humboldt). Systematisch ist für ihn besonders das Problem einer Transzendentalphilosophie von Interesse. Auch befasst er sich in seinen Forschungen mit Moral- und Religionsphilosophie. Von 1989 bis 1991 war er Gastforscher an der FichteKommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Er ist u. a. Co-Editor der Fichte-Studien und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Philosophischen Jahrbuchs. Zu seinen jüngsten Publikationen zählen Ragione pratica. Kant, Reinhold, Fichte, Pisa: ETS 2012; Fichte, Brescia: La Scuola 2014. Massimo Mori (Università di Torino) ist Professor für Geschichte der Philosophie. Er forschte an den Universitäten Frankfurt/M. und Erlangen-Nürnberg als Stipendiat des DAAD und der Alexander von Humboldt-Stiftung. Er ist Mitglied der Turiner Akademie der Wissenschaften und Herausgeber der Rivista di filosofia. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf den Bereichen der deutschen und französischen Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts. Zu seinen neueren Publikationen zählen Libertà, necessità, determinismo, Bologna: il Mulino 2001; Storia della filosofia moderna, Roma/Bari: Laterza 2005; La pace e la ragione: Kant e le relazioni internazionali, Bologna: il Mulino 2008; Storia della filosofia contemporanea (mit G. Cambiano), Roma/Bari: Laterza 2014. Zusammen mit G. Cambiano und L. Fonnesu ist er Herausgeber der Storia della filosofia occidentale, Bologna: il Mulino 2014–15, in sieben Bänden. Jörg Noller (Ludwig-Maximilians-Universität München) studierte an den Universitäten Tübingen und München Philosophie, neuere deutsche Literatur und neuere und neueste Geschichte. Von 2011–2012 war er Gastforscher an den Universitäten Notre Dame/USA und an 245 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

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der University of Chicago. Er ist Mitarbeiter am Lehrstuhl I für Philosophie der LMU München und Redakteur des Philosophischen Jahrbuchs. 2014 promovierte er mit einer Studie zum Problem individueller Freiheit im Ausgang von Kant. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Metaphysik, Anthropologie, Philosophie der Freiheit und Philosophie der Person. Ugo Perone (Humboldt-Universität Berlin) studierte bei Luigi Pareyson und war tätig als Professor für Religionsphilosophie an der Universität Turin (1982), für theoretische Philosophie an der Universität Roma II (1989) und für Religions- und Moralphilosophie an der Universität Amedeo Avogadro (Ost-Piemont) (1993), wo er von 2005 bis 2008 Beauftragter des Präsidenten für internationale Angelegenheiten und von 2005 bis 2011 Direktor des »Istituto di Studi umanistici« war. Von 1993 bis 2001 war er Stadtrat für Kultur (»assessore per la cultura«) der Stadt Turin und in den Jahren 1997 bis 2001 Präsident des italienischen Vereins zur Förderung junger Künstler sowie Präsident der Gemeinschaft der Kunst- und Kulturstädte (CIDAC = Città d’arte e di cultura), zu der 18 der größten Städte Italiens gehören. 2001 bis 2003 war er Direktor des Italienischen Kulturinstituts in Berlin und gleichzeitig Botschaftsrat für Kultur der Italienischen Botschaft in Berlin. 2006 wurde er Präsident der Società Filosofia Italiana in Turin und begründete, ebenfalls in Turin, die Scuola di Alta Formazione Filosofica. Er ist Präsident der Associazione Italiana per gli Studi di Filosofia e Teologia und Fellow des Collegium Budapest. Von 2009 bis 2013 war er Stadtrat für Kultur der Provinz Turin und seit 2008 Mitglied des Kuratoriums der Vereinigung Deutsch-Italienischer Kulturgesellschaften e. V. Zurzeit hat er die Guardini Professur an der Humboldt-Universität Berlin inne. Seine Forschungsschwerpunkte betreffen u. a. die Themen Gedächtnis, Erinnerung, Memoria; Subjekt, Bewusstsein, Endlichkeit sowie die Definition der Moderne und die Säkularisation. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen: Filosofia e spazio pubblico (Hg.), Bologna: Moulino 2012; Ripensare il sentimento. Elementi per una teoria, Assisi: Cittadella 2014; L’ essenza della religione, Brescia: Queriniana 2014; Endlichkeit. Von Grenzen und Passionen, St. Ottilien: EOS 2015. Arne Zerbst (Muthesius Kunsthochschule Kiel) studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Deutsche Literaturwissenschaft. Von 2010 bis 2014 war er Wissenschaftlicher Sekretär (geschäftsführender Ar246 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

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beitsstellenleiter) der Kommission zur Herausgabe der Schriften von Schelling der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. Seit 2014 ist er Präsident der Muthesius Kunsthochschule in Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Klassischen Deutschen Philosophie (insbes. Schelling), der Ästhetik und Kunstphilosophie sowie der Geschichtsphilosophie. Er ist Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 19. Jahrhunderts, Mitglied der Kulturkommission des Landes Schleswig-Holstein, der LRK (Landesrektorenkonferenz Schleswig-Holstein), der RKK (Rektorenkonferenz der deutschen Kunsthochschulen) sowie des Kultur- und Wissenschaftssenats der Landeshauptstadt Kiel. Er ist u. a. Autor des Buches Schelling und die bildende Kunst: Zum Verhältnis von kunstphilosophischem System und konkreter Werkkenntnis, München: Fink 2011 und Mitherausgeber des Sammelbandes Gestalten des 19. Jahrhunderts. Von Lou Andreas-Salomé bis Leopold von Sacher-Masoch, München: Fink 2010. Günter Zöller (Ludwig-Maximilians-Universität München) studierte an der Universität Bonn Philosophie, Romanistik, Komparatistik und Kunstgeschichte, vor allem bei Hans Wagner, Ingeborg Heidemann und Peter Baumanns, und studierte darüber hinaus Philosophie an der Ecole normale supérieure (Paris), primär bei Jacques Derrida, und an der Brown University (Providence/USA), insbesondere bei Roderick Chisholm. Er wurde im Jahr 1982 in Bonn mit einer systematischen Arbeit zur Erkenntnistheorie Kants promoviert. Er war Professor für Philosophie am Grinnell College (USA) mit Schwerpunkt auf moderner europäischer Philosophie und Professor für Philosophie mit Schwerpunkt auf Kant und dem deutschen Idealismus an der University of Iowa (USA). Seit 1999 lehrt er als Universitätsprofessor für Philosophie an der LMU München. Er war Gastprofessor an der Princeton University, der Emory University, der Seoul National University, der McGill University, der Venice International University, der Chinese University of Hong Kong und der Università Ca’Foscari Venezia sowie Visiting Fellow am Center for Literary and Cultural Studies der Harvard University und Visiting Professor (Senior Fellow) am Istituto di Studi Avanzati der Universität Bologna. Von 2000 bis 2012 war er Herausgeber der J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und von 2001 bis 2012 Mitglied der Fichte-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften sowie von 2007 bis 2012 Mitglied der Kant-Kommis247 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

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sion der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Von 2000 bis 2003 fungierte er als Präsident der Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft. Im Jahr 2011 erhielt Prof. Zöller den John G. Diefenbaker-Preis des Canadian Council for the Arts. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der Philosophie Kants und des deutschen Idealismus, sowie der politischen Philosophie und der Musikphilosophie. Er ist Autor, Herausgeber oder Mitherausgeber von 35 Büchern und Verfasser von über 300 Aufsatzpublikationen, die in 13 Sprachen weltweit erschienen sind.

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Personenregister

Agamben, Giorgio 233 Amendola, Giovanni 159 Anzilotti, Antonio 238 Aristoteles 45, 155, 160, 169, 213, 237 Augustinus 136 Bacon, John 20, 32, 125 Beck, Jacob Sigismund 126 Biran, François-Pierre-Gonthier 127 Bolland, Gerardus 159 Bonaventura 136 Bruno, Giordano 84, 238 Buhle, Johann Gottlieb 126 Cabanis, Pierre-Jean-Georges 127 Cacciari, Massimo 233 Cantoni, Carlo 12, 137, 139–144, 146–148, 238 Capograssi, Giuseppe 238 Carlini, Armando 238 Casati, Luisa 159 Cesca, Giovanni 145 Chiappelli, Alessandro 145 Cohen, Hermann 138, 141–142, 147– 148 Condillac, Étienne Bonnot de 125, 127–129 Cousin, Victor 127 Croce, Benedetto 13, 21–22, 29, 85– 87, 151–162, 193–194, 233, 236– 237, 239–240 Cusanus 26, 173, 241 Dante 11, 39, 63–65, 68, 73–77, 237, 240 De Sanctis, Francesco 84

Degérando, Joseph-Marie 127 Del Vecchio, Giorgio 238 Deleuze, Gilles 160 Derrida, Jacques 20 Descartes, René 24–25, 84, 86, 90, 102–103, 106–109, 112, 128, 130, 169, 199, 223 Destutt de Tracy, Antoine Louis Claude 127 Ebbinghaus, Julius 159 Eco, Umberto 233 Esposito, Roberto 233 Feuerbach, Ludwig 180 Fichte, Johann Gottlieb 11, 13, 44, 48, 53–61, 89–90, 100–102, 104, 107, 113–117, 120, 126, 138, 151, 164– 174, 177, 199, 239 Ficino, Marsilio 84, 238 Fiorentino, Francesco 144–145, 238 Fischer, Kuno 152 Franz von Assisi 237 Frege, Gottlob 161 Gadamer, Hans-Georg 11, 37–38, 213, 236 Galilei, Galileo 12, 19, 125, 128, 238 Galluppi, Pasquale 12, 127–133, 136– 137, 141 Gentile, Giovanni 85, 132, 137, 158– 159, 193, 233, 237, 239–240 Gioberti, Vincenzo 12, 83–85, 87, 91– 96, 101–106, 108, 111–120, 134, 240 Gioia, Melchiorre 126–127

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Personenregister Goethe, Johann Wolfgang 22, 28–29, 56, 237 Gramsci, Antonio 233 Guattari, Félix 160 Guzzo, Augusto 193–194, 238 Hamann, Johann Georg 10, 22, 27– 33, 37, 39–41, 78 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 11, 13, 20–21, 44, 48, 50–53, 58, 65, 84–85, 92–94, 96, 105, 109–110, 114–122, 151–156, 158–162, 164– 165, 170, 179–180, 191, 210, 236, 239–240 Heidegger, Martin 14, 173, 176, 179, 181, 191, 193, 198–200, 202–205, 207, 211–214, 216, 226, 234–236, 239 Helmholtz, Wilhelm von 12, 138, 145, 147 Herder, Johann Gottfried 10–11, 20, 22, 29–37, 39–41, 44, 48–50, 52–53, 62, 66, 78 Heyne, Christian Gottlob 22 Hölderlin, Friedrich 70–71, 236 Hume, David 126 Husserl, Edmund 198, 235 Jaspers, Karl 164, 179, 193, 234 Jean Paul 65 Kant, Immanuel 12, 20, 28, 30, 50, 58, 61, 95, 97–102, 104, 109, 113–115, 117, 119–120, 124–132, 134–142, 144–150, 185, 221, 233, 239 Kierkegaard, Søren 180, 198, 208 Lange, Friedrich Albert 12, 138, 147 Laromiguière, Pierre 127 Lauth, Reinhard 167, 174 Leibniz, Gottfried Wilhelm 128, 130, 224 Locke, John 125, 127 Mamiani della Rovere, Terenzio 88, 124

Mann, Thomas 236 Marx, Karl 20, 179, 233–234, 239, 241 Masci, Filippo 145, 238 Maturi, Sebastiano 159 Meyer, Jürgen Bona 12, 138–139 Moni, Arturo 159 Moritz, Karl Philipp 69 Negri, Antonio 233 Nietzsche, Friedrich 20, 72, 234, 236, 239 Overbeck, Friedrich 8, 44 Papini, Giovanni 159 Pareyson, Luigi 13–14, 164–177, 179–186, 189–190, 193–205, 207– 210, 212–214, 233–235 Pezza-Rossa, Giuseppe 124–126 Pico della Mirándola, Giovanni 238 Platon 32, 58, 136, 237 Plotin 169, 180, 186 Poli, Baldassare 124–125 Prezzolini, Giuseppe 159 Rickert, Heinrich 236 Riehl, Alois 147 Romagnosi, Gian Domenico 124, 126–127 Roques, Paul 159 Rosmini, Antonio 12, 83–85, 87–91, 97–100, 106, 108–110, 115–120, 128, 132–137, 150, 237–238, 240– 241 Rousseau, Jean-Jacques 34 Russell, Bertrand 161 Sancasciani, Clemente 124–125 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 11, 13–14, 63–65, 67–78, 89–94, 96, 105, 109–110, 115–119, 164–165, 169–170, 174–177, 179–181, 183– 184, 186–191, 198–203, 207, 209– 211, 214, 239 Schelling, Karl Friedrich August 63– 64, 69

250 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

Personenregister Schlegel, August Wilhelm 11, 64 Schlegel, Friedrich 11, 64, 67–68 Schleiermacher, Friedrich 236 Sciacca, Michele Federico 238 Seneca 73 Severino, Emanuele 233, 238 Soave, Francesco 125 Spaventa, Bertrando 84, 144–145, 148, 159, 240 Spencer, Herbert 144–145 Spinoza, Baruch de 20, 45, 94, 117, 224

Tocco, Felice 12, 144–148 Trendelenburg, Friedrich Adolf 155, 159–160 Troeltsch, Ernst 236

Tarantino, Giuseppe 145 Thomas von Aquin 45, 237 Tilliette, Xavier 179, 202, 211

Weber, Max 236 Wenner, Friedrich 8 Windelband, Wilhelm 152

Valla, Lorenzo 237 Vattimo, Gianni 198, 211, 233–234 Vico, Giambattista 10–12, 19–40, 83– 89, 91–92, 95–97, 102–103, 106– 108, 111, 113–115, 117, 119, 238, 240 Vossler, Karl 159

251 https://doi.org/10.5771/9783495808320 .

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