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German Pages 293 Year 2009
Lena Behmenburg Philomela
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Trends in Medieval Philology Edited by Ingrid Kasten · Niklaus Largier Mireille Schnyder
Editorial Board Ingrid Bennewitz · John Greenfield · Christian Kiening Theo Kobusch · Peter von Moos · Uta Störmer-Caysa
Volume 15
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Lena Behmenburg
Philomela Metamorphosen eines Mythos in der deutschen und französischen Literatur des Mittelalters
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISSN 1612-443X ISBN 978-3-11-020464-3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
Für meine Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2007 vom Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Kassel sowie der Université Sorbonne Nouvelle – Paris III Discipline: Littérature et civilisation française als Dissertation angenommen. Bei ihrer Entstehung bin ich durch Familie, Freunde, Kollegen und Institutionen auf vielfältige Weise unterstützt worden. Ihnen allen möchte ich an diese Stelle danken. Das von der DFG geförderte Graduiertenkolleg „Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Dimensionen von Erfahrung“ hat die Arbeit nicht nur durch ein dreijähriges Stipendium ermöglicht, sondern auch den Druck großzügig unterstützt. Der DAAD hat einen Forschungsaufenthalt in Paris finanziert, und die Deutsch-Französische Hochschule den Abschluss der Arbeit durch ein Stipendium gefördert. Mein besonderer Dank gilt Frau Prof. Claudia Brinker-von der Heyde. Durch ihren unverzichtbaren fachlichen Rat, ihren persönlichen Einsatz, sowie ihre Ermutigung zur deutsch-französischen Ausrichtung der Dissertation hat sie mich kontinuierlich unterstützt. Ohne das Engagement von Frau Prof. Emmanuèle Baumgartner wäre eine deutsch-französische Zusammenarbeit ebenfalls nicht zustande gekommen. Ihre Publikationen haben mich bis zum Abschluss der Arbeit begleitet. Für die Selbstverständlichkeit, mit der Frau Prof. Laurence Harf die Betreuung der Dissertation auf französischer Seite übernommen hat, bin ich ihr ebenso verbunden, wie für ihre aufmerksame Lektüre des französischen Teils der Arbeit. Prof. Horst Wenzel hat meine Pläne vom Studium bis zum Abschluss der Dissertation immer gefördert. Auch bei ihm bedanke ich mich herzlich für seine Unterstützung. Alexandra Tacke hat mir durch ihre Freundschaft, den Austausch während der Entstehung dieser Arbeit und ihre aufmerksame Lektüre des Manuskripts sehr geholfen. Bei Zsuzsa Parádi und Sylvie Krause-Grégoire bedanke ich mich für die mühevollen Korrekturarbeiten und bei Rainer Stentzel für seine liebevolle Unterstützung in jeder Hinsicht.
Berlin, im Februar 2008
Lena Behmenburg
Inhalt Einleitung: „Philomela“, mediävistische Mythosforschung und Aufbau der Arbeit .............................................................................................. 1 Erster Teil Spuren der Präsenz: Zur Verknüpfung von Mythos und Literatur 14 I. II. III.
„Mythodologie“.......................................................................................14 Das Weben von Texten und Texturen: Der Mythos als Intertext...............................................................................................36 Die Präsenz des Philomela-Mythos in Maries de France Lai „Laüstic“ ...................................................................................................46
Zweiter Teil „Arbeit am Mythos“: Facetten mittelalterlichen Mythenverständnisses ............................................................................. 71 I. II. III. IV.
Die Struktur der Lust: Ovid, „Metamorphosen“ VI, V. 412-674............................................71 Die Ästhetik des Exzess: „Ovide moralisé“, V. 2217-3840...........................................................89 Mythos und christliche Auslegungspraxis: Die beiden Fassungen des „Ovide moralisé en prose“ ..................116 Übertragungen: Ovid – Albrecht von Halberstadt – Georg Wickram......................141 Die „Philomela“ Albrechts von Halberstadt ....................................149 Die „Philomela“ Georg Wickrams.....................................................160 Die Auslegung Gerhard Lorichius’.....................................................177
Dritter Teil Beständigkeit trotz Varianz: Die Mytheme des Mythos .................. 188 I.
Die Poetik der Zeichen: Das Gewebe Philomelas...........................188
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II. III. IV.
Inhalt
Sprache von Gewicht: Formen femininer Artikulation ..................211 Mordende Mütter und verschlingende Väter: Die Perversion der familiären Ordnung............................................228 Die Semantisierung des Raumes: Öffentlichkeit und Geheimnis ............................................................244
Schluss: Die Auflösung der Ordnung ......................................................259 Literaturverzeichnis .......................................................................................265 Textausgaben .........................................................................................265 Forschungsliteratur ...............................................................................267
Namensregister ...............................................................................................279
Einleitung: „Philomela“, mediävistische Mythos-Forschung und Aufbau der Arbeit „Tout commence, chez Homer, avec un rossignol qui pleure.“1 Penelope, die im neunzehnten Buch der „Odyssee“ ihre Trauer um Odysseus mit dem klagenden Gesang der Nachtigall vergleicht, die ihr Schicksal beweint, ist das erste uns erhaltene Zeugnis einer literarischen Tradition, die einen Teil des Philomela-Mythos von der griechisch-römischen Antike bis heute überliefert.2 Das unabschließbare „Spiel von Versionen, Varianten, Neukombinationen, Überschreibungen, Übersetzungen, Fortsetzungen, Versetzungen in andere Gattungen und Medien, von Exegesen, Kommentaren [und] Interpretationen“,3 das den Mythos seitdem immer wieder neu hervorgebracht hat, ist das Resultat seines Übergangs von der mündlichen in eine schriftliche Form der Tradierung zu einem Zeitpunkt, dessen Spuren sich in der Vorzeit verlieren. Die unendliche Vielfalt der Überlieferung, prominentes Charakteristikum literarischer Mythen,4 wurde dabei wesentlich durch die Fassung der „Philomela“ geprägt, die Ovid im sechsten Buch seiner „Metamorphosen“ erzählt: Tereus, König von Thrakien, vergewaltigt seine Schwägerin Philomela, schneidet ihr die Zunge heraus und schließt sie in eine Waldhütte ein, damit sie das Verbrechen nicht öffentlich machen kann. Daraufhin webt Philomela das Geschehen in ein Tuch, welches sie ihrer Schwester Progne überbringen lässt. Diese versteht die eingewirkte Botschaft, befreit die tot Geglaubte und beide üben grausame Rache. Sie töten Itys, den gemeinsamen Sohn von Progne und Tereus, und setzen ihn dem unwissenden
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Frontisi-Ducroux, Françoise: L’homme-cerf et la femme-araignée. Paris 2003, S. 225. Homer: Odyssee. Griechisch und deutsch. Übertragung von Anton Weiher. Mit Urtext, Anhang und Registern. Einführung von A. Heubeck. München, Zürich 1990, Neunzehnter Gesang, V. 518-523. Pfister, Manfred: „ ‚Merry Geeks‘: Die Spiele der Elisabethaner mit den antiken Mythen.“ In: Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Hg. v. Martin Vöhler u. Bernd Seidensticker. Berlin, New York 2005, S. 123-139, hier S. 130. Zu Definition und Diskussion des Begriffs des ‚literarischen Mythos‘ vgl. das Kapitel „Mythodologie“.
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Einleitung
Vater zum Mahl vor. Als die Schwestern ihre Tat enthüllen und Tereus sie mit seinem Schwert erschlagen will, verwandeln sich alle drei in Vögel.5 Obwohl griechische und lateinische Antike Unterschiedliches über die Transformation von Philomela und Progne berichten,6 und auch Ovid die Verwandlung der Schwestern nur andeutet, setzte sich die Verwandlung Philomelas in eine Nachtigall und Prognes in eine Schwalbe in der abendländischen Tradition als finales Bild des Mythos durch. Zwar ist die Nachtigall als Sinnbild poetischer Artikulation seit dem Minnesang fester Bestandteil des literarischen Repertoires,7 das Wissen über ihre mythische Vergangenheit ist jedoch in Vergessenheit geraten, sodass Véronique Gély und Sylvie Ballestra-Puech sich fragen, ob es Tereus nicht schließlich gelungen ist, seine Verbrechen vor der Öffentlichkeit geheim zu halten.8 Doch auch wenn dem Philomela-Mythos bislang weniger Aufmerksamkeit zuteil geworden ist als ungleich prominenteren Mythen wie Oedipus, Narziss oder Medea, lässt sich seit den 1970er Jahren eine steigende Anzahl wissenschaftlicher Publikationen beobachten, die sich einzelnen seiner literarischen Adaptationen widmen oder ihn als „instrument interprétatif“9 zeitgenössischer Literaturkritik benutzen. Grund dafür sind nicht nur die zahlreichen Künstlerinnen und Künstler, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts durch den Mythos inspirieren ließen und ihn bzw.
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Die Schreibweise der Eigennamen der Figuren des Mythos variiert in den jeweiligen Texten. Während alle französischen Texte sowie Albrecht von Halberstadt den Namen ‚Philomena‘ verwenden, wird bei Ovid, Georg Wickram und Gerhard Lorichius die Form ‚Philomela‘ verwendet. Auch der Name ihrer Schwester wird nicht einheitlich wiedergegeben. Die beiden Fassungen des „Ovide moralisé en prose“ berichten von ‚Prone‘ bzw. von ‚Procné‘, während alle anderen Texte die Version ‚Progne‘ verwenden. Um Verwirrung bei der Lektüre zu vermeiden, wird die Schreibweise zu ‚Philomela‘ und ‚Progne‘ vereinheitlicht, die auch in der Forschungsliteratur überwiegt. In den Primärzitaten wird die individuelle Schreibweise der einzelnen Texte beibehalten. Zur antiken Tradition des Mythos vgl. Frontisi-Ducroux (Anm. 1) sowie Létoublon, Françoise: „Le rossignol, l’hirondelle et l’araignée.“ In: Mythe et mythologie dans l’Antiquité gréco-romaine. Europe 904-905 (août-septembre 2004), S. 73-102. Zum Motiv der Nachtigall in der Literatur des Mittelalters vgl. Pfeffer, Wendy: The Change of Philomel: the Nightingale in Medieval Literature. New York, Bern 1985. „Térée triompherait-il, pour finir? La femme qu’il a violée et mutilée pour ne pas être dénoncé est bel et bien oubliée dans les Mythologies modernes.“ Ballestra-Puech, Sylvie/Gély, Véronique: Philomèle (Procné). In: Dictionnaire des mythes féminins. Hg. v. Pierre Brunel. Paris 2002, S. 1561-1571. Tomiche, Anne: „Philomèle dans le discours de la critique littéraire contemporaine.“ In: Philomèle. Figures du rossignol dans la tradition littéraire et artistique. Hg. v. Véronique Gély, Jean-Louis Haquette u. Anne Tomiche. Clermont-Ferrand 2006, S. 305-324.
„Philomela“, mediävistische Mythosforschung und Aufbau der Arbeit
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Teile daraus in Literatur, Musik, Malerei und Film darstellten.10 Auch verschiedene Strömungen der Forschung wie poststrukturelle,11 postkoloniale12 und feministische13 Literaturtheorie verwenden den Mythos gerne zur Illustration ihrer Thesen, sodass er in den letzten Jahren peu à peu in das Bewusstsein der Geisteswissenschaften zurückgekehrt ist. Vorläufiger Höhepunkt dieses wiedererwachten Interesses ist ein Sammelband, der die Beiträge einer internationalen und interdisziplinären Tagung zum Philomela-Mythos im November 2004 an der Universität in Reims (Frankreich) veröffentlicht.14 Diese Publikation ist bislang die einzige Monographie, die sich mit dem Mythos und seiner literarisch-künstlerischen Tradition beschäftigt. Darüber hinaus sind es lediglich Lexikoneinträge, Untersuchungen in Aufsatzform oder vereinzelte Buchkapitel, die sich „Philomela“ widmen. Ein Überblick über die vorhandene Forschung, die sich vereinfacht in zwei unterschiedliche Stränge aufteilen lässt, zeigt jedoch die folgenden
_____________ 10 So illustrierte Picasso den Mythos für eine Ausgabe der „Metamorphosen“, James Dillon komponierte 2004 eine Oper mit dem Titel „Philomela“, Timberlake Wertenbaker verfasste 1989 das Drama „The love of the nightingale“, Christoph Ransmayr räumt in seinem Roman „Die letzte Welt“ (1988) den Figuren Philomela und Progne einen bedeutenden Raum ein und Peter Greenaway drehte 1989 „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“, der ebenfalls zahlreiche Parallelen zum Geschehen des Mythos aufweist. Zu einer Aufzählung weiterer Philomela-Adaptationen des 20. und 21. Jahrhunderts siehe Tomiche (Anm. 9), S. 305. 11 Hartmann, Geoffrey: „ ,The voice of the shuttle‘: Language from the Point of View of Literature.“ In: Ders.: Beyond Formalism. Literary Essays 1958-1970. New Haven, London 1970, S. 337-355. 12 Huggan, Graham: „Philomela’s Retold Story: Silence, Music, and the Post-Colonial Text.“ In: Journal of Commonwealth Literature 1/25 (1990), S. 12-23. 13 Makward, Christiane: „Structures du silence/du délire. Marguerite Duras/Hélène Cixous“. In: Poétique 35 (septembre 1978), S. 314-324; Marcus, Jane: „Still Practice, A/Wrested Alphabet: Toward a Feminist Aesthetic.“ In: Tulsa Studies in Women’s Literature 3 (Spring-Fall 1984), S. 79-97; Miller, Nancy K.: „Arachnologies“. In: Subject to Change. Reading Feminist Writing. New York 1988, S. 270-295; Klindienst Joplin, Patricia: „The voice of the shuttle is ours.“ Stanford Literature Review 1/1 (Spring 1984), S. 25-53; Marder, Elissa: „Disarticulated voices: Feminism and Philomela“. In: Language and Liberation: Feminism, Philosophy, and Language. Hg. v. Christina Hendricks u. Kelly Oliver. Albany, New York 1999, S. 149-172; Cutter, Martha J.: „Philomela Speaks: Alice Walker’s Revisioning of Rape Archetyps in The Color Purple.“ In: MELUS: The Journal of the Society for the Study of the MultiEthnic Literature of the United States 25, n° 3-4 (Fall-Winter 2000), S. 161-180; Linklater, Beth: „Philomela’s Revenge: Challenges to Rape in Recent Writing in German.“ In: German Life and Letters 3/54 (2001), S. 253-271. 14 Gély/Haquette/Tomiche (Anm. 9).
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Einleitung
Lücken im Umgang mit dem Mythos:15 Die eine Gruppe von Publikationen, die einzelne Adaptationen in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung stellt, liefert Momentaufnahmen seiner Entwicklung, in dem sie an ausgewählten Texten exemplarisch präsentiert, wie sich einzelne Epochen oder Künstlerinnen und Künstler in den Mythos ‚hineinschreiben‘, ihn verändern und so zu seiner Rezeptionsgeschichte beitragen. Dabei liefert sie wertvolle, zwangsläufig jedoch nur beispielhafte Erkenntnisse zum Verständnis seiner Tradierung. Die andere Gruppe, zu der die Mehrheit der literaturtheoretischen Veröffentlichungen gezählt werden kann, greift auf den Mythos zurück, um an seiner Protagonistin Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen und sie auf reale historische oder soziale Gegebenheiten zu übertragen. So wird Philomela im feministischen Diskurs oftmals zum Paradigma der unterdrückten Frau in einer patriarchalen Ordnung,16 bei Graham Huggan zum Sinnbild des kolonialisierten Subjekts in einer postkolonialen Gesellschaft,17 oder auch zum hermeneutischen Schlüssel bei der Lektüre zeitgenössischer Texte, bei denen es sich nicht um ausdrückliche Adaptationen des Philomela-Mythos handelt, deren Handlung jedoch ähnliche Elemente wie z.B. das der Vergewaltigung aufweisen.18 Im Gegensatz zur ersten Gruppe wird dabei auf den Mythos in einer ahistorischen Form zurückgegriffen, ein Verfahren, das sich oftmals als problematisch erweist: „Que Philomèle puisse fonctionner tantôt comme ‚a paradigm of patriarchy and opression‘ (Elissa Marder) […], tantôt comme ‚a paradigm for the reenactment of colonial encounter‘ (Graham Huggan) […] souligne le degré de la généralisation, et de dé-contextualisation, que subit la figure mythologique.“19
Die vorliegende Arbeit möchte einen Beitrag dazu leisten, die Lücken der Forschung, die sich aus diesen beiden Ansätzen ergeben, zu schließen. Zum einen soll die Entwicklung des Mythos innerhalb der mittelalterlichen Jahrhunderte gezeigt werden, um so die vielfältigen Formen mediävistischer Mythenrezeption und –produktion zu präsentieren und
_____________ 15 Auf die vorhandene Forschungsliteratur wird an dieser Stelle nur überblickshaft verwiesen, da sie in den einzelnen Kapiteln ausführlich vorgestellt wird. Die Beobachtung einer Zweiteilung der Forschung spiegelt sich dabei im Aufbau dieser Arbeit wider. So werden die Beiträge, die einzelne mittelalterliche Adaptationen von „Philomela“ untersuchen, im ersten Teil der Arbeit und im Rahmen der jeweiligen Einzeluntersuchungen der Texte diskutiert. Während der postkoloniale Ansatz ebenso vernachlässigt wird wie der Ansatz, Philomela als Medium zur Interpretation anderer literarischer Texte zu verwenden, erfolgt eine Auseinandersetzung mit den feministischen Publikationen im dritten Teil der Arbeit. 16 Vgl. u.a. Marcus (Anm. 13). 17 Vgl. u.a. Huggan (Anm. 12). 18 Vgl. u.a. Linklater (Anm. 13). 19 Tomiche (Anm. 9), S. 316.
„Philomela“, mediävistische Mythosforschung und Aufbau der Arbeit
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eine Epoche in den Vordergrund zu stellen, die innerhalb der MythosForschung oft nur am Rande berücksichtigt wird. Dieser Teil, der einen rezeptionsästhetischen Ansatz verfolgt, wird ergänzt durch einen Weiteren, der sich den inhaltlichen Knotenpunkten des Mythos widmet, die trotz Varianz innerhalb der einzelnen Texte bestehen bleiben. Im Gegensatz zur Mehrheit der literaturtheoretischen Publikationen soll dabei die Historizität der jeweiligen Aktualisierungen und deren Umgang mir der bestehenden ‚Tiefenstruktur‘ des Mythos betont werden. Der erste Teil der Arbeit widmet sich theoretischen Fragen des Verhältnisses von Mythos und Literaturwissenschaft, erläutert die methodische Herangehensweise der Arbeit und klärt die verwendeten Termini. Die Definition des Mythos-Begriffs geht über den Umfang der Arbeit weit hinaus und die Forschung zum Mythos ist kaum zu überblicken, so dass ich mich auf die Untersuchung des dezidiert ‚literarischen Mythos‘ beschränke. Ein besonderer Platz wird an dieser Stelle der französischsprachigen Forschung eingeräumt, da diese nur in seltenen Fällen in der deutschen Literatur erwähnt wird, obgleich sie zahlreiche wertvolle Publikationen – besonders zu methodischen Fragen – bereitstellt. Vorgestellt wird insbesondere das Verfahren der „Mythocritique“, die die Präsenz mythischer Elemente innerhalb eines Textes zum Ausgangspunkt seiner Analyse macht, und die Wechselwirkung von Mythenrezeption und der Kultur einer Gesellschaft hervorhebt. Darüber hinaus werden zwei weitere Teilkapitel in diesen ersten Teil der Arbeit integriert. Ein Exkurs zu Mythos und Gewebe untersucht, ob es sich bei der Gewebemetapher, die oft für die Verbindung von Mythos und Literatur gebraucht wird, lediglich um die Übertragung einer in der Texttheorie beliebten Metapher in einen neuen Kontext handelt, oder ob es als Bild zu betrachten ist, das uns unbewusst auf Charakteristika des literarisch-mythischen Verbundes hinweist. Gleichzeitig leistet der Exkurs einen theoretischen Beitrag zur Reflexion des Gewebemotivs, dem innerhalb des Philomela-Mythos eine zentrale Bedeutung zukommt. Auch die Untersuchung von Maries de France Lai „Laüstic“ wird in diesen ersten Teil der Arbeit integriert. Obgleich zahlreiche Mytheme des Philomela-Mythos innerhalb des Lais zu beobachten sind, handelt es sich bei ihm jedoch nicht wie bei den anderen Texten um eine ‚Wiedererzählung‘. Seine Handlung ist eine andere als die des Mythos, und der Text wird auch nicht ausdrücklich durch seine Autorin als eine Adaptation kenntlich gemacht. Da er jedoch ein weiteres Beispiel mittelalterlicher Mythenrezeption liefert, und sich an diesem Text die Präsenz-Spuren des Philomela-Mythos durch die zuvor skizzierte Methode der „Mythocritique“ beispielhaft illustrieren lässt, wird er ebenfalls behandelt.
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Einleitung
Der zweite Teil der Arbeit präsentiert eine Auswahl volkssprachlicher Adaptationen des Philomela-Mythos in der Literatur des deutschen und französischen Mittelalters. Mit der Verschriftlichung der Volkssprache entwickelte sich eine Kultur, die sich schrittweise von der klerikalen Literatur und damit auch vom klerikalen Mythenverständnis emanzipierte, sowie eigenständige Formen der Antikenrezeption entwickelte. Die Autorinnen und Autoren, die aufgrund ihrer Bildung mit den antiken Quellen vertraut waren, verfuhren auf unterschiedlichste Weise damit, mythisches Material in ihre Werke zu integrieren, es zu übersetzen oder in Form von Adaptationen in die Volkssprache zu übertragen. Die Texte, die in diesem Zusammenhang den Philomela-Mythos überliefern, stellen dabei einen Ausschnitt aus der Vielfalt möglicher Bearbeitungsverfahren dar. Sie sollen in ihrem literarhistorischen Kontext verortet und analysiert werden, wobei ihre jeweiligen inhaltlichen Eigenheiten im Umgang mit dem Mythos im Vordergrund der Betrachtung stehen. Das Herausgreifen und Untersuchen einzelner mythischer Figuren wurde in der Forschung zum Teil als fragmentarisch und selektiv kritisiert.20 Dem versucht die vorliegende Arbeit zu begegnen, indem sie „Philomela“ zwar als einzelnen Mythos betrachtet, die jeweiligen Texte jedoch nie aus ihrer literarischen Umgebung herauslöst, um so eine inhaltliche Kohärenz herzustellen. Dabei konzentriert sie sich auf Überlieferungen, die – abgesehen von Maries de Frances „Laüstic“ – den vollständigen Mythos erzählen. Zwar wird der Philomela-Mythos in zahlreichen Beispielen mittelalterlicher Lyrik evoziert, und auch das Motiv der Nachtigall ist in einer Vielzahl lyrischer Texte präsent. Die Rezeptionsgeschichte des Philomela-Mythos und die des Motivs der Nachtigall kreuzen und überschneiden sich jedoch, ohne dabei völlig deckungsgleich zu sein. Dazu kommt, dass das Motiv der Nachtigall in der mittelalterlichen Literatur bereits Gegenstand einer Publikation ist, die den Schwerpunkt auf seine lyrische Präsenz legt, sodass hier epische Texte im Vordergrund stehen.21 Die untersuchten Texte decken einen Zeitraum von der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts (Marie de France, Chrétien de Troyes, Albrecht von Halberstadt22) bis 1545 (Georg Wickram) ab und umfassen deutsche und französische Adaptationen, sodass eine Entwicklung des Mythos in zeitlicher und sprachlich-kultureller Hinsicht nachgezeichnet werden kann.
_____________ 20 Vgl. Blumenfeld-Kosinski, Renate: Reading Myth. Classical Mythology and its Interpretations in Medieval French Literature. Stanford 1997, S. 4; Jung, Marc-Réne: Aspects de l’Ovide moralisé. In: Ovidius redivivus. Von Ovid zu Dante. Hg. v. Michelangelo Picone u. Bernhard Zimmermann. Stuttgart 1994, S. 149-172, hier S. 149. 21 Pfeffer (Anm. 7). 22 Zur Problematik der Datierung der Metamorphosen-Übertragung Albrechts von Halberstadt vgl. S.141, zur Frage der Autorschaft Chrétiens de Troyes vgl. S. 91f.
„Philomela“, mediävistische Mythosforschung und Aufbau der Arbeit
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Da sich die Mythenforschung in vielen Fällen entweder antiken oder aber modernen Fassungen literarischer Mythen als Untersuchungsgegenstand zuwendet und dabei mittelalterliche Adaptationen oftmals vernachlässigt, wird durch die Konzentration auf Texte des hohen und späten Mittelalters eine weitere Forschungslücke gefüllt.23 Der Textkorpus soll dabei nicht als lückenlose Dokumentation aller Philomela-Adaptationen des Mittelalters verstanden werden, sondern vielmehr durch die Präsentation unterschiedlicher Formen der „Arbeit am Mythos“24 Facetten des mittelalterlichen Mythenverständnisses vor Augen führen, das vielfältiger ist, als es lange Zeit durch die Forschung angenommen wurde: „Der Blick auf das Mittelalter als eine monolithisch christliche und damit antimythische Kultur bedarf einer entscheidenden Korrektur,“25 fordern Udo Friedrich und Bruno Quast, während sich Laurence Harf-Lancner bereits 1988 in ihrem gleichnamigen Sammelband „pour une mythologie du Moyen-Age“26 ausspricht. So zeigt sich zwar in allen hier untersuchten Texten ein mehr oder weniger deutliches Bestreben, dem Mythos als einer der heidnischen Kultur verhafteten Tradition durch Formen der Christianisierung beizukommen. Dass die antiken Mythen ein gefährliches Potential beinhalten, sie jedoch nicht pauschal zu bekämpfen sind, hebt bereits Rabanus Maurus im 9. Jahrhundert hervor: „In the same way, if, when we read the pagan poets, [or] when books of secular wisdom come into our hands, we discover in them something that is useful, we have to turn it into our dogma; if there is something superfluous about idols, love or the cares for this world, we have to erase it.“27 Von einer „christlichen Gefangenschaft des
_____________ 23 Betrachtet man die in der Regel chronologisch aufgebauten Sammelbände zum Thema ‚Mythos‘, so wird das Mittelalter oftmals stiefmütterlich behandelt oder gänzlich übersprungen. So untersuchen in den „Mythenkorrekturen“ (Anm. 3) nur zwei von vierundzwanzig, in dem französischen Philomela-Band (Anm. 9) zwei von siebzehn Aufsätzen mittelalterliche Primärtexte. Auch James Heffernan, der dem Gewebe der Philomela in seiner Ekphrasis-Studie ein ganzes Kapitel widmet, verweist nur kurz auf die mittelalterlichen Adaptationen des Mythos und handelt sogar den Text Chrétiens de Troyes lediglich in einer Fußnote ab, obwohl sich gerade in diesem eine lange und interessante Ekphrase des ‚textilen Textes‘ befindet. Vgl. Heffernan, James: The Museum of Words. The Poetics of Ekphrasis from Homer to Ashbery. Chicago, London 1993. 24 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979. 25 Friedrich, Udo/Quast, Bruno: „Mediävistische Mythosforschung.“ In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Udo Friedrich und Bruno Quast. Berlin, New York 2004, S. 9-37, hier S. 37. 26 Pour une mythologie du Moyen-Age. Hg. v. Laurence Harf-Lancner u. Dominique Boutet. Paris 1988. 27 Rabanus Maurus: De clericorum institutione, 3.18. Übersetzung übernommen von Blumenfeld-Kosinski (Anm. 20), S. 2.
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Einleitung
Mythos im Mittelalter“28 im Sinne einer fehlenden Möglichkeit von Interpretation und Variation für die Autorinnen und Autoren kann daher nicht die Rede sein. Vielmehr galt es, die nützlichen von den gefährlichen Elementen eines jeweiligen Mythos zu trennen und die nützlichen für das christliche Dogma kompatibel zu machen. Um den Philomela-Mythos neu zu erzählen, in eine andere Sprache zu übersetzen, einzelne seiner narrativen Knotenpunkte („Mytheme“) in ein literarisches Werk zu übertragen oder den Mythos auslegen zu können, muss daher zunächst eine Lektüre des Textes erfolgen. Dem kreativen Akt der Übertragung muss ein rezeptiver Akt vorausgehen, aus dem zwangsläufig ein bestimmtes Verständnis des Mythos folgt, welches sich schließlich wiederum in den Adaptationen spiegelt. Dass die literarischen Resultate dieses Wiedererzählens äußerst unterschiedlich sind, wird in den Philomela-Fassungen deutlich, die im zweiten Teil der Arbeit präsentiert werden. Marie de France wählt einzelne seiner Mytheme aus, um sie völlig neu miteinander zu kombinieren und dem Lai „Laüstic“ als Subtext zu unterlegen. Dabei verzichtet sie gänzlich auf eine offensichtliche moralische oder christliche Auslegung des Mythos. Chretien de Troyes, dessen „Philomena“ als autonomer Text in den altfranzösischen „Ovide moralisé“ eingefügt wurde, ist in doppelter Hinsicht aufschlussreich für das Verständnis mittelalterlicher Mythenrezeption. Er führt exemplarisch vor Augen, wie sich sein Autor zwar an der Ovid’schen Fassung des Mythos orientiert, gleichzeitig jedoch einzelne erzählerische Elemente auswählt und im Sinne des mittelalterlichen Verfahrens der amplificatio erweitert. Zwar wird auch hier an die heidnische Verhaftetheit des Mythos erinnert und durch die Darstellung des grausamen Geschehens implizit verurteilt. Doch ist die Faszination des Autors offensichtlich, die die vielfache Überschreitung sozialer und moralischer Grenzen innerhalb des Mythos auf ihn ausübt, und die als das Gegenteil des damaligen höfischen Verhaltensideals angesehen werden kann. Auch in seiner „Philomena“ erfolgt keine allegorische Interpretation. In seiner Zerrissenheit zwischen heidnischem Stoff und literarischer Gepflogenheit der Epoche bildet die Chrétien’sche „Philomena“ einen Gegensatz zu dem sie umgebenden Text, der etwa 150 Jahre später entstand. Der „Ovide moralisé“ ist mit seinem enormen Umfang (über 72.000 Verse) und den ausufernden Interpretationen der einzelnen My-
_____________ 28 Jauss, Hans Robert: „Allegorese, Remythisierung und neuer Mythos. Bemerkungen zur christlichen Gefangenschaft der Mythologie im Mittelalter.“ In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hg. v. Manfred Fuhrmann. München 1971, S. 187209.
„Philomela“, mediävistische Mythosforschung und Aufbau der Arbeit
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then ein Paradebeispiel mittelalterlicher Allegorese. Seine geradezu exzessiven Auslegungen, Moralisierungen und Christianisierungen lassen ihn zum Sinnbild der zahlreichen ‚Schichten‘ werden, mit denen die antiken Mythen im Mittelalter durch Kommentare, Glossen oder auch die accessus ad auctores überzogen waren.29 Die drei dominierenden Ansätze, Mythen auszulegen, bestanden dabei in der historischen Interpretation (Euhemerismus), die die Götter als real existierende Herrscher vergangener Zeiten betrachteten, in der physikalischen und astronomischen Interpretation, die die Götter als Natur- und kosmische Gewalten ansahen, sowie in der moralischen und allegorischen Interpretation, in der die Auslegungsschemata geistlicher Texte auf weltliche Literatur angewandt wurden. Letzteres lässt sich beispielhaft am „Ovide moralisé“ beobachten. Versucht man jedoch, das hermeneutische System zu entschlüsseln, das sich hinter dieser ersten vollständigen Übertragung der „Metamorphosen“ Ovids in die französische Sprache verbirgt, zeigt sich eine bemerkenswerte Offenheit innerhalb der Auslegung des Textes. Zwar sollte der Interpret die ‚wahre‘, also christliche Bedeutung des Textes enthüllen und das integumentum oder involucrum, die fiktionale ‚Hülle‘ oder ‚Decke‘, von ihm lösen und so die ‚Wahrheit der Fiktion‘ herausgearbeitet werden, da dem heidnischen Autor abgesprochen wurde, die tatsächliche Bedeutung des Mythos erkannt zu haben. Da jedoch lediglich das Ziel einer christlichen Auslegung, und nicht das konkrete Verfahren der Textinterpretation selbst vorgegeben war, lässt sich dieses weniger als Beschränkung, sondern vielmehr mit Blumenfeld-Kosinski als „an explicit invitation to interpretation within the text“30 betrachten. Das christliche Korsett erweist sich weniger als Einschränkung, denn als Motor unterschiedlichen Textverstehens. Ein ähnliches Vorgehen wird innerhalb der beiden „Ovide moralisé en prose“-Fassungen deutlich. Da die Auslegungen jeweils mit einer Zusammenfassung des Philomela-Mythos beginnen, zeigen sich in diesen eigene inhaltliche Varianten des Mythos, die ebenfalls Rückschlüsse auf die Vorlagen zulassen, die die Autoren bei ihrer Arbeit verwendet haben. Auch werden dadurch die komplexen Wege der Tradierung des PhilomelaMythos sichtbar. Dass das Verfahren einer Übersetzung grundsätzlich mit dem einer Interpretation verbunden ist, lässt sich durch die Veränderung der inhaltlichen Schwerpunktsetzung innerhalb der beiden deutschen „Philomelas“ detail-
_____________ 29 „The texts a twelfth-century clerk would have encountered were not in their ,pure‘ state but were already encrusted with many layers of commentary and glosses.“ Blumenfeld-Kosinski (Anm. 20), S. 5. 30 Blumenfeld-Kosinski (Anm. 20), S. 7.
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Einleitung
liert beobachten. Zwar ist uns die Übersetzung der „Metamorphosen“ vom Lateinischen ins Mittelhochdeutsche durch Albrecht von Halberstadt um 1200 bis auf wenige Bruchstücke nur indirekt durch das Werk Georg Wickrams überliefert. Doch ist die Bedeutung seiner vollständigen Übertragung der „Metamorphosen“ trotz der fragmentarischen Überlieferung hervorzuheben: In der Regel wird der „Ovide moralisé“ durch die Forschung als erste Übertragung in die Volkssprache erwähnt, dies jedoch zu Unrecht.31 Da darüber hinaus ein Bruchstück des Albrecht’schen Textes einen Teil des Philomela-Mythos überliefert, können die Etappen seiner Veränderung von der lateinischen über die mittelhochdeutsche bis zur frühneuhochdeutschen Fassung nachvollzogen werden. Obgleich es fraglich ist, dass sich der Autor des „Ovide moralisé“ am Albrecht’schen Modell der „Metamorphosen“-Übersetzung orientiert hat, findet sich der Einfluss des „Ovide moralisé“ jedoch indirekt auch in der Fassung Georg Wickrams wieder. Während sich bereits im 12. Jahrhundert die Bedeutung Ovids für die Literatur deutlich bemerkbar machte, und dieses vereinfacht auch als aetas ovidiana bezeichnet wird,32 erfahren die „Metamorphosen“ durch die Hinwendung der Humanisten zu den klassischen Autoren erneute Aufmerksamkeit. Präsent waren sie allerdings immer, was nicht zuletzt mit dem Erfolg zu erklären ist, der dem „Ovide moralisé“ beschieden war. Der französischen Fassung folgten ähnliche Integralübertragungen und Moralisierungen in anderen europäischen Sprachen, und auch die beiden Prosa-Fassungen des „Ovide moralisé“ können als literarische Ausläufer dieses Textes betrachtet werden. Da alle in dieser Arbeit untersuchten Texte durch die Ovid’sche Überlieferung des Philomela-Mythos direkt oder indirekt geprägt sind, wird die antike Fassung ebenso wie die mittelalterlichen Adaptationen in einem jeweils eigenen Kapitel vorgestellt. Oftmals ist auch ein detaillierter Vergleich mit dem Ovid’schen Text notwendig, um sich den Änderungen der mittelalterlichen Autorin bzw. des Autors bewusst zu werden: „Sans doute est-il indispensable, pour le critique moderne, d’accomplir le rituel va-etvient entre le texte source et le texte cible, de faire la liste des emprunts, de signaler les omissions, les refontes, les déplacements, les profits et les pertes.“33 Dabei soll betont werden, dass es sich bei der Ovid’schen Fassung des Mythos nicht um einen Ursprungstext im Sinne eines ‚Originals‘ han-
_____________ 31 Vgl. zuletzt Blumfeld-Kosinski (Anm. 20), S. 3. „Not until the Ovide moralisé, in the fourteenth century, do we find another attempt to translate or adapt an entire Latin poem.“ 32 Stackmann, Karl: „Ovid im deutschen Mittelalter.“ In: arcadia 1 (1966), S. 231-254. 33 Baumgartner, Emmanuèle: „Préface“. In: Pyrame et Thisbé, Narcisse, Philomena. Trois contes du XIIe siècle français imités d’Ovide. Présentés, édités et traduits par Emmanuèle Baumgartner. Paris 2000, S. 7-19, hier S. 17.
„Philomela“, mediävistische Mythosforschung und Aufbau der Arbeit
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delt, auch wenn ihn einige Autoren als direkte Vorlage für ihre Arbeit benutzten. In Anlehnung an Claude Lévi-Strauss, der die Existenz des Mythos in der Vielzahl seiner gleichberechtigten Aktualisierungen erkennt,34 ist die „Philomela“ Ovids zwar ein Text, der für seine mittelalterlichen Varianten von besonderer Bedeutung ist und auf den im Laufe der Arbeit daher immer wieder verwiesen wird. Doch ist ihm keinesfalls eine Gründungsfunktion zuzuschreiben. Wie die meisten der literarischen Mythen ist der Ursprung „Philomelas“ kollektiv, anonym und nicht zu datieren. Vielmehr wird deutlich, dass der Mythos eine Größe ist, die sich im Zuge seiner fortschreitenden Tradierung immer wieder verändert, eine Entwicklung, für die Gérard Genette in seinem Buch „Palimpseste“ ein nützliches Vokabular bereitstellt: „Darunter [Hypertextualität] verstehe ich jede Beziehung zwischen einem Text B (den ich als Hypertext bezeichne) und einem Text A (den ich, wie zu erwarten, als Hypotext bezeichne), wobei Text B Text A auf eine Art und Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist. […] Wir gehen vom allgemeinen Begriff eines Textes zweiten Grades […], d. h. eines Textes aus, der von einem anderen, früheren Text abgeleitet ist. Diese Ableitung kann deskriptiver und intellektueller Art sein […]. Sie kann aber auch ganz anders geartet sein, wenn B zwar nicht von A spricht, aber in dieser Art ohne A gar nicht existieren könnte, aus dem er mit Hilfe einer Operation entstanden ist, die ich, wiederum provisorisch, als Transformation bezeichnen möchte, und auf den er sich auf eine mehr oder weniger offensichtliche Weise bezieht, ohne ihn unbedingt zu erwähnen oder zu zitieren.“35
In Anlehnung an diese Terminologie ließe sich die Ovid’sche „Philomela“ für viele der hier untersuchten Texte als ‚Hypotext‘ bezeichnen. Der Mythos selbst ist bei diesem Dialog der einzelnen Texte untereinander als Summe seiner Aktualisierungen einer ständigen Entwicklung unterworfen und nimmt dabei die Rolle des ‚abwesenden Dritten‘ wahr: „Der sogenannte ‚Dialog der Autoren‘ wird damit zu einem Polylog zwischen dem späteren Dichter, seinem normgebenden Vorgänger und dem Mythos als abwesendem Dritten,“36 wie Jauß konstatiert. Mit der Gleichsetzung aller Fassungen eines Mythos ist bei LéviStrauss jedoch ebenfalls deren Enthistorisierung verbunden. Um ihre tieferliegende Struktur zu erkennen und ihre einzelnen ‚Bausteine‘ auszumachen, soll die inhaltliche Schnittmenge aller seiner Varianten gebildet
_____________ 34 „Es gibt keine ,wahre‘ Fassung, im Verhältnis zu der alle anderen Kopien oder deformierte Echos wären. Alle Fassungen gehören zum Mythos.“ In: Lévi-Strauss, Claude: „Die Struktur der Mythen.“ In: Ders.: Strukturale Anthropologie I. Frankfurt a. M. 1977, S. 226-254, hier S. 241. 35 Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M. 1993, S. 14f. 36 Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a. M. 1984, S. 534.
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Einleitung
und ihre historisch-individuellen Abweichungen somit bewusst subtrahiert werden.37 Da die vorliegende Arbeit gerade einen Beitrag zur Erforschung der Formen mittelalterlicher Mythenrezeption und –produktion leisten möchte, stehen im zweiten Teil der Arbeit Beobachtung und Analyse genau dieser Abdrücke im Vordergrund, die die mittelalterlichen Autorinnen und Autoren in ihren Werken auf dem Mythos hinterlassen. Der dritte Teil der Arbeit lehnt sich an strukturalistische Verfahren zur Mythen-Analyse an, indem die inhaltlichen Knotenpunkte, die trotz Variation bestehen bleiben, genauer betrachtet und auf diese Weise die zeitlose Struktur des Mythos offen gelegt wird. So trägt die Aufteilung der Untersuchung ebenfalls der Definition Hans Blumenbergs Rechnung, der Mythen als „Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit“38 beschreibt. Während sich innerhalb des zweiten Teils der Arbeit zeigt, dass die Variationsmöglichkeiten des Philomela-Mythos im Mittelalter äußerst vielfältig sind, wird im dritten Teil der Arbeit versucht, seinen narrativen Kern aus den Varianten herauszuschälen und anhand von vier Kapiteln die zentralen Themen zu fassen, die innerhalb des Mythos verhandelt werden. Im Gegensatz zu Lévi-Strauss, der die einzelnen Mytheme ausschließlich aus den Ereignissen bildet, in die sich die Handlungskette eines Mythos unterteilen lässt, sollen hier ebenfalls weitere, inhaltliche Elemente berücksichtigt werden, die innerhalb der literarischen Varianten bestehen bleiben. Gleichzeitig versucht auch dieser Teil der historischen Entwicklung Rechnung zu tragen, die die einzelnen Motive trotz inhaltlicher Stabilität aufweisen. Dadurch wird die Geschlossenheit vermieden, die einer strukturalistischen Analyse inhärent ist, da sie den Mythos aus seinem Entstehungskontext herauslöst. Die verschiedenen Motive des PhilomelaMythos sind dabei inhaltlich miteinander verschränkt, sodass sich Überschneidungen nicht gänzlich vermeiden lassen. Diese sollen jedoch dazu genutzt werden, Verweise der Kapitel untereinander herzustellen und die Vernetzung seiner inhaltlichen Elemente deutlich werden zu lassen. Das erste Unterkapitel untersucht das Motiv der gewebten Kommunikation, das sich in mehrfacher Hinsicht als das poetologische Herzstück des Mythos erweist. So ist die Textur, in die Philomela eine Botschaft für ihre Schwester hineinwebt, nicht nur dasjenige Element, das es aufgrund seiner Plastizität und Originalität vermag, den Mythos auch in anderen
_____________ 37 Zum konkreten Verfahren der strukturalistischen Analyse eines Mythos vgl. LéviStrauss (Anm. 34), S. 226-254. 38 Blumenberg (Anm. 24), S. 40.
„Philomela“, mediävistische Mythosforschung und Aufbau der Arbeit
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Kontexten zu evozieren.39 Es erweist sich darüber hinaus auch in mehrfachen literaturtheoretischen Zusammenhängen als äußerst anschlussfähig. Eingefügt wird seine Analyse daher in die Forschung zur Ekphrasis in der Literatur des Mittelalters, der Betrachtung des Texts bzw. des Mythos als ein Gewebe, sowie dem Weben als einem Medium der Kommunikation, das traditionell dem weiblichen Geschlecht zugeordnet wird. Inhaltlich verknüpft ist das Motiv des ‚textilen Textes‘ mit dem der Sprache, das im zweiten Unterkapitel untersucht wird. Verbale und nonverbale Kommunikation, Reden und Schweigen sind innerhalb des Mythos gekoppelt an rhetorische Repräsentation, Körper, Geschlecht und Gewalt. Es wird versucht, die einzelnen Fäden dieses komplexen Konglomerats zu entwirren und zu zeigen, in welcher Form die Autorinnen und Autoren das kommunikative Verhalten der Protagonisten dazu benutzen, die Figuren zu charakterisieren. Ebenso wie Philomela durch die verbale Ankündigung der öffentlichen Anklage des Verbrechens eine soziale Sprachreglementierung überschreitet und es ihr gelingt, die Dichotomie von Reden und Schweigen durch ihr Gewebe aufzubrechen, zeigt sich innerhalb der familiären Struktur der Figuren untereinander ebenfalls eine mehrfache Grenzüberschreitung. Inwiefern körperliches Begehren eine dreifache Inzest-Struktur innerhalb des Mythos entstehen lässt, und wie die Auflösung der familiären Ordnung zur finalen Verwandlung beiträgt, wird im dritten Unterkapitel gezeigt. Dass die Kategorie des Raumes für die Struktur des Mythos konstitutiv und semantisch aufgeladen ist, wird schließlich nicht nur in der Aufteilung seiner Handlungssequenzen in die Bereiche ‚Öffentlichkeit‘ und ‚Geheimnis‘ sichtbar, sondern auch durch die Bereiche von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘. Untersucht wird, inwieweit beide Begriffspaare miteinander korrelieren und in welcher Form dies durch die mittelalterlichen Autorinnen und Autoren ausgestaltet wird.
_____________ 39 Dies wird an der Präsenz des Philomela-Mythos innerhalb Maries de France „Laüstic“, und insbesondere an der Rolle des Gewebes gezeigt. Vgl. dazu das Kapitel „Die Präsenz des Philomela-Mythos in Maries de France Lai ‚Laüstic‘ “.
Erster Teil Spuren der Präsenz: Zur Verknüpfung von Mythos und Literatur I. „Mythodologie“ Innerhalb der Geisteswissenschaften ist das Interesse am Mythos ungebrochen. Nachdem vor allem die Arbeiten von Claude Lévi-Strauss in den sechziger und siebziger Jahren - insbesondere sein Aufsatz zur Struktur der Mythen sowie die vier „Mythologica“-Bände1 - zahlreiche Publikationen nach sich gezogen haben, zeigt sich seit Beginn der neunziger Jahre eine zweite Welle von Veröffentlichungen, die sich der Erforschung der Mythen widmet. Der Blick auf dieses nach wie vor faszinierende Phänomen hat sich seitdem deutlich verändert. Betrachtet man die älteren Arbeiten zur Mythologie, so zeugen sie meist von der Erprobung und Anwendung eines neuen Instrumentariums, das der Strukturalismus den Geisteswissenschaften zur Verfügung gestellt hat, um sich vor allem die Suche nach einer „grammaire des mythes“2 zum Ziel zu setzen. Die Analyse der Struktur mündlicher Erzählungen schriftloser Völker, die LéviStrauss in bis dahin ungekanntem Umfang und einer den ‚harten‘ Wissenschaften vergleichbaren Präzision präsentierte, konzentrierte sich jedoch vorwiegend auf die Methode und weniger auf den Gegenstand, an
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Lévi-Strauss, Claude: „Die Struktur der Mythen.“ In: Ders.: Strukturale Anthropologie I. Frankfurt a. M. 1977, S. 226-254; ders.: Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte. Frankfurt a. M. 1971; ders.: Mythologica II. Vom Honig zur Asche. Frankfurt a. M. 1972; ders.: Mythologica III. Der Ursprung der Tischsitten. Frankfurt a. M. 1973; ders.: Mythologica IV. Der nackte Mensch. Frankfurt a. M. 1975. Mezzadri, Bernard: „Le mythe, objet tabou?“ In: Mythe et mythologie dans l’antiquité gréco-romaine (Europe. Revue littéraire mensuelle. 904/905 (Août/Septembre 2004), S. 3-9, hier S. 3. Von einer ‚Erzählgrammatik‘ spricht auch Röcke, Werner: „Positivierung des Mythos und Geburt des Gewissens. Lebensformen und Erzählgrammatik in Hartmanns ‚Gregorius‘.“ In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hg. v. Matthias Meyer u. Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 627-647.
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dem sie angewendet wurde. Das folgende Zitat ist bezeichnend für LéviStrauss’ ‚Arbeit am Mythos‘: „Die Poesie ist eine Form der Sprache, die nur unter großen Schwierigkeiten in eine andere Sprache übersetzt werden kann, und jede Übersetzung bringt zahlreiche Deformationen mit sich. Dagegen bleibt der Mythos als Mythos trotz der schlimmsten Übersetzung bestehen. Unsere Unkenntnis der Sprache und der Kultur der Bevölkerung, bei der man einen Mythos entdeckte, mag noch so groß sein, er wird doch von allen Lesern in der ganzen Welt als Mythos erkannt.“3
Auch wenn es dem Anthropologen in dieser oft zitierten Passage gelingt, zwei wesentliche Merkmale des Mythos, seine universelle Gültigkeit und seinen unmittelbaren, vorsprachlichen Charakter in Worte zu fassen, zeigt sich darin ebenso wie in seinen Werken, dass es ihm vor allem um den Aufbau des Mythos geht - was ein Mythos ist, verstand sich für ihn von selbst. Dass es sich bei allem‚ was sich unter die Rubrik des ‚Mythos‘ subsumieren lässt, um eine homogene Entität handelt, wurde bald angezweifelt. Nicht nur die Tatsache, dass sich dieser Terminus kulturübergreifend anwenden lässt, sondern auch, dass mit dem altgriechischen ‚muthos‘ tatsächlich das benannt werden kann, was wir heute unter einem ‚Mythos‘ verstehen,4 sind nur zwei von einer Vielzahl von Einwänden, die die scheinbar alles umfassende Kategorie des ‚Mythos‘ ziemlich bald sprengte. „Was ist ein Mythos?“ fragt sich die Forschung bis heute, obgleich sie, was die Antwort auf diese Frage anbelangt, pessimistisch geworden ist: „Eine gültige, fest umrissene Theorie des Mythos wird es nicht geben.“5 Walter Burkert gibt ebenfalls zu bedenken, dass – sollte es tatsächlich eine verbindliche Definition des Mythos geben – diese von einem statischen kulturwissenschaftlichen Begriffssystem ausgehen müsste, und so das Fehlen einer solchen Begriffsbestimmung weniger als Nachteil, sondern als Vorteil zu betrachten sei.6 Trotz dieses letztendlich fraglichen Gewinns einer Definition des Mythos existieren, und dies nicht erst seit Lévi-Strauss, die verschiedensten theore-
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Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie (Anm. 1), S. 230f. Vgl. die zahlreichen Arbeiten von Claude Calame, u.a.: Poétique des mythes dans la Grèce antique. Paris 2002; ders.: Le récit en Grèce ancienne. Énonciations et représentations de poètes. Berlin 2000; ders.: Mythe et histoire dans l’Antiquité grecque. La création symbolique d’une colonie. Lausanne 1996; zur Bedeutung des altgriechischen ‚muthos‘ und des anthropologischen ‚Mythos‘ siehe auch ders.: „Du muthos des anciens Grecs au mythes des anthropologues.“ In: Mythe et mythologie dans l’antiquité gréco-romaine (Anm. 2), S. 11-37. Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Udo Friedrich u. Bruno Quast. Berlin, New York 2004, S. 10. Vgl. Burkert, Walter: „Antiker Mythos – Begriff und Funktion.“ In: Antike Mythen in der europäischen Tradition. Hg. v. Heinz Hofmann. Tübingen 1999, S. 11-26.
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Verknüpfung von Mythos und Literatur
tischen Ansätze, dem Mythos beizukommen, seine Existenz zu erklären, sein Wesen zu entschlüsseln. Die Geschichte der Anwendung und Verwerfung des Mythosbegriffs ist lang, zumal „das Phänomen Mythos [sich] geradezu als Schnittstelle verschiedener kulturwissenschaftlicher Diskurse“7 erweist. Im Umfeld des „mythophilen Klimas“8 der letzten Jahre sind diese unterschiedlichen Herangehensweisen in einigen kürzlich erschienenen Publikationen zusammengefasst worden, auf die ich an dieser Stelle verweisen möchte.9 Ein detaillierter Überblick über alle existierenden Mythos-Theorien kann an dieser Stelle nicht geleistet werden, und ist zudem – wenngleich nicht umfassend, so doch ausführlicher, als mir in dieser Arbeit möglich ist - bereits an anderer Stelle geschehen. Besonders hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang den Artikel zum Stichwort „Mythos“ von Aleida und Jan Assmann aus dem Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, in dem die Verfasser die Unterscheidung sieben verschiedener Mythos-Begriffe der Definition eines notwendigerweise immer zu engen Mythosbegriffs vorziehen. Dieses Verfahren erscheint mir angesichts der treibsandhaften Definitionsproblematik sinnvoll, sodass ich darauf im Folgenden wiederholt zurückgreifen werde. Trotz der nahezu unübersehbaren Mythosforschung soll diese keinesfalls ausgeblendet werden. Anstelle eines eigenen Kapitels zum Stand der Forschung möchte ich vielmehr meine eigene Herangehensweise an den vorliegenden Textkorpus deutlich machen. Dabei soll zu Kon-
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Bürkle, Susanne: „Erzählen vom Ursprung: Mythos und kollektives Gedächtnis im Annolied.“ In: Präsenz des Mythos (Anm. 5), S. 99-130, hier S. 99. Assmann, Aleida u. Assmann, Jan: Artikel „Mythos“. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Hg. v. Hubert Cancik, Burkhard Gladigow und KarlHeinz Kohl. Bd. 4. Stuttgart, Berlin, Köln 1998, S. 179-200, hier S. 197. Friedrich/Quast (Anm. 5), S. 9-15; Texte zur modernen Mythentheorie. Hg. v. Wilfried Barner, Anke Detken u. Jörg Wesche. Stuttgart 2003; Jamme, Christoph: „Gott hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt a.M. 1999; Burkert; Walter: „Mythos und Mythologie.“ In: Propyläen Geschichte der Literatur. Literatur und Geschichte der westlichen Welt. Bd. 1: Die Welt der Antike 1200 v.Chr. bis 600 n.Chr. Berlin 1988, S. 11-35; Assmann/Assmann (Anm.8), S. 179-200; Brisson, Luc: Einführung in die Philosophie des Mythos. Bd. 1: Antike, Mittelalter und Renaissance. Aus dem Französischen von Achim Russer. Darmstadt 1996; Mohn, Jürgen: Mythostheorien. Eine religionswissenschaftliche Untersuchung zu Mythos und Interkulturalität. München 1998; Komparatistik als Arbeit am Mythos. Hg. von Monika Schmitz-Emans u. Uwe Lindemann. Heidelberg 2004; Mythen in der Geschichte. Hg. v. Helmut Altrichter, Klaus Herbers u. Helmut Neuhaus. Freiburg/Br. 2004; Finley, Moses I.: Die Welt des Odysseus. Frankfurt a. M., New York 2005; Auf klassischem Boden begeistert. Antike-Rezeption in der deutschen Literatur. Hg. v. Olaf Hildebrand u. Thomas Pittrof. Freiburg/Br. 2004. Einige dieser Veröffentlichungen werden besprochen von Inge Stephan. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 3 (2006), S. 656-659.
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trastzwecken bzw. zum Darlegen von Gemeinsamkeiten auf einzelne Theorien zurückgegriffen, und der kleine Ausschnitt der MythenTheorien, auf die ich mich konzentrieren möchte, detaillierter betrachtet werden. Da die vorliegende Arbeit sich nicht dem Phänomen Mythos an sich, sondern seinen literarischen Variationen widmet, wird im Folgenden das Verhältnis von Mythos und Literatur in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Ebenfalls sollen wesentliche Begriffe geklärt werden, die für die spätere Untersuchung der einzelnen Texte verwendet werden. Auch wenn hier keine umfassende Vorstellung aller Mythos-Theorien geleistet werden kann, sind einige Sätze zum Begriff des Mythos unverzichtbar. Nicht nur, um Missverständnissen vorzubeugen und das eigene Untersuchungsinstrumentarium zu klären, sondern auch, da der Terminus ‚Mythologie‘ oftmals herangezogen wird, um die Unmöglichkeit einer fest umrissenen Mythostheorie zu belegen: „Die Forderung nach einem Mythos-Begriff oder selbst der Terminus Mytho-Logie binden schon zwei heterogene Größen aneinander. Denn der Mythos lässt sich als das Andere der Vernunft verstehen, das sich einer vollständigen rationalen Auflösung entzieht.“10 Dass sich der Mythos dem Intellekt gänzlich erschließt, ist in der Tat zweifelhaft, und nicht ohne Grund werden Träume und Mythen häufig miteinander verglichen.11 So realitätsfern der Inhalt von Träumen sein kann, so wird ihre Trägerschaft tieferer Bedeutungen jedoch nicht angezweifelt. Und daher ist auch die Dichotomie Mythos – Logos als Gegenüberstellung von Irrationalem und Rationalem nicht so eindeutig, wie es in der Forschung oft erscheint, ebenso wie die zeitliche Abfolge beider Kategorien zu hinterfragen ist, die sich in dem Titel des oft zitierten Werkes Wilhelm Nestles „Vom Mythos zum Logos“ niedergeschlagen, und das sich zur häufig gebrauchten Formel verdichtet hat.12 So betont z.B. Hans Blumenberg, der die Mythen als Erzählungen betrachtet, durch die der Mensch sich von der lähmenden, Angst einflößenden Umwelt distanziert, die ähnliche Distanzierungsleistung von Mythos und einem wissenschaftlichen, begrifflichen Aussagesystem, dem Logos. Der belgische Philosoph Jean-Jaques Wunenburger, der den Mythos als einen unendlichen, flexiblen Text versteht, der sich in einem permanenten Spannungsverhältnis zu der ihn umgebenden Gesellschaft befindet und so zu ewiger Weiterentwicklung gezwungen ist, versucht ebenfalls die Ge-
_____________ 10 Friedrich/Quast (Anm. 5), S. 10. 11 Smith, Pierre: Artikel „Mythe. Approche ethnosociologique“. In: Encyclopaedia universalis. Band 15 (Messiaen – Natalité). Paris 1994, S. 1037-1039, hier S. 1039. 12 Nestle, Wilhelm: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates. 2. Auflage [Nachdruck der Ausgabe von 1942]. Stuttgart 1975.
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gensätze zwischen Mythos und Logos, Oralität und Literalität, Fiktionalität und Rationalität abzuschwächen. Darüber hinaus unterstreichen seit einigen Jahren Hellenisten wie z.B. Claude Calame, dass es sich bei dem altgriechischen ‚muthos‘ um einen Terminus handelt, der in den unterschiedlichsten Kontexten vorkommen und dementsprechend verschiedene Bedeutungen annehmen kann. So lässt sich ‚muthos‘ als ‚argumentative‘ oder ‚effiziente Rede‘, ‚machtvoller Ausspruch‘‚ oder auch ‚argumentative Erzählung‘ übersetzen und ist somit nur schwer vom Terminus ‚logos‘ zu unterscheiden, der oftmals mit einer analogen Bedeutung gebraucht wird.13 Daher handelt es sich weniger um eine Opposition, die sich aus etymologischen Gründen herleiten lässt, als vielmehr um eine, die die Spaltung zweier Wissenssysteme offenbart: Trivium und Quadrivium, Mythos und Logos, auf deren einer Seite jeweils die ästhetische, mystische, poetische, auf der anderen Seiten die ‚harte‘ und exakte Erkenntnis steht, zwei Pole, die sich jedoch aufeinander zubewegen, und sich komplementär zueinander verhalten: „Gesteht man dem Mythischen in historischer Perspektive eine eigene Rationalität zu, nimmt man überdies an, dass eine rein rationale Haltung gar nicht erreichbar ist, dann erhält das Mythische einen anderen Stellenwert.“14 Erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts hat der Mythos-Begriff seine moderne Bedeutung erhalten, die sich auch in der Alltagssprache weitgehend etabliert hat und nach der es sich bei einem Mythos um eine unwahre Geschichte handelt, der man als primitiver Form der mündlichen Erzählung nach aufklärerischen Maßstäben keinerlei Glaubwürdigkeit zubilligt. Neben diesem bei Aleida und Jan Assmann als „polemisch“ bezeichneten Mythosbegriff unterscheiden diese weitere sechs Definitionen, die die unterschiedlichen Verwendungsbereiche des Terminus ‚Mythos‘ unterstreichen, die oft einzelnen Disziplinen zuzuordnen sind und im Folgenden kurz dargestellt werden sollen. Der „historisch-kritische Mythosbegriff“ verwirft im Gegensatz zum „polemischen Mythosbegriff“ den Mythos nicht pauschal, sondern versucht, durch Interpretation seinen Wahrheitsgehalt herauszuschälen. Die vorwiegend von der Religionswissenschaft und der Ethnologie verwendete Mythos-Definition wird von Aleida und Jan Assmann als „funktionalistisch“ bezeichnet, da sie die lebenspraktische Eingebundenheit des Mythos betont und ihn als fundierende, legitimierende und weltmodellierende Erzählung thematisiert.15 Neben dem „Alltags-Mythos“, der vor
_____________ 13 Calame: „Du muthos des anciens Grecs au mythe des anthropologes“ (Anm. 4), S. 11. 14 Friedrich/Quast (Anm. 5), S. 9. 15 Zur Unterscheidung der einzelnen Definitionen vgl. ausführlich Assmann/Assmann (Anm. 8), S. 179-181.
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allem mit den „Mythologies“ Roland Barthes verbunden ist und sich auf kollektive Leitbilder bzw. gesellschaftliche Institutionen bezieht (z.B. ‚the american dream‘ oder Einsteins Gehirn),16 wird in der Wissenschaft auch der „narrative Mythos-Begriff“ verwendet, der den Mythos als integrale Erzählung versteht und auf den sich die poetologische Diskussion der fabula sowie die Erzähltheorie stützen. Als weitere Mythos-Begriffe finden sich bei Aleida und Jan Assmann schließlich die „literarischen“ und die „neuen und nichtnarrativen“ Mythen, wobei die erste Kategorie die aus zahlreichen Variationen bestehende Tradition literarischer Figuren wie z.B. Don Juan oder Carmen beinhaltet, und sich die zweite Kategorie auf allumfassende Weltdeutungen wie z.B. Nietzsches „Ewige Wiederkehr“ bezieht. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Ansätzen, dass Mythen als Denkformen für die menschliche Auseinandersetzung mit der sie umgebenden Welt verstanden werden. Die vor dem Hintergrund des Missbrauchs des Mythenbegriffs durch Faschismus und Antisemitismus stehende Beobachtung, dass Mythen nicht nur Gelegenheit zur Erkenntnis, sondern auch zur Unterwerfung und Instrumentalisierung bieten, steht im Vordergrund der Mythenkritik nach 1945. Die beiden Pole, zwischen denen sich die verschiedenen Lesarten der Mythen ansiedeln, finden sich im Titel des von Manfred Fuhrmann herausgegebenen Werkes „Terror und Spiel“ wieder,17 der zahlreiche Beiträge zur Problematik der Mythenrezeption versammelt, und in dem Hans Blumenberg seine Mythos-Philosophie zum ersten Mal in dem Aufsatz „Wirklichkeitsbegriff und Wirklichkeitspotential des Mythos“ dargelegt hat.18 Während lange die Demythisierung als „aufgeklärte Entlarvung der ideologischen Inhalte des Mythos“19 im Vordergrund der Beschäftigung mit dem Mythos stand, werden diesen Herangehensweisen heute im Zuge der Mythenrenaissance der Postmoderne „Tendenzen zur Remythisierung als poetischer Verzauberung einer entzauberten Welt gegenübergestellt.“20 Zwar leisten die oben genannten Begriffe von Aleida und Jan Assmann einen unverzichtbaren Beitrag zur Strukturierung der Verwendung des Terminus „Mythos“ innerhalb der Forschung. Für den Fortgang der Untersuchung sind sie jedoch lediglich zu Abgrenzungszwecken von Bedeutung. Der im Folgenden benutzte Mythosbegriff lehnt sich an den bei Aleida und Jan Assmann verwendeten Begriff des „literarischen My_____________ 16 Barthes, Roland: Mythologies. Paris 1957. 17 Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hg. v. Manfred Fuhrmann. München 1971. 18 Blumenberg, Hans: „Wirklichkeitsbegriff und Wirklichkeitspotential des Mythos.“ In: Fuhrmann (Anm. 17), S. 1-66. 19 Bartel, Heike: Mythos in der Literatur. Münster 2004, S. 96. 20 Bartel (Anm. 19), S. 96.
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Aleida und Jan Assmann verwendeten Begriff des „literarischen Mythos“ an, möchte diesen jedoch ausführlicher darstellen, als dies in einem Lexikonartikel zwangsläufig der Fall sein kann. Die Verbindung von Mythos und Literatur erscheint auf den ersten Blick paradox: Eine der wenigen Dinge, über die in der MythosForschung vorwiegende Einigkeit herrscht, ist der mündliche Charakter der Mythen. Durch ihren Status der Vorzeitigkeit, ihre Zugehörigkeit zu einer vorgeschichtlich-heroischen Epoche, die sich weit vor der Antike situiert und als ‚archaisch‘ bezeichnet wird, handelt es sich um mündliche Erzählungen, die durch das Weitererzählen von Generation zu Generation ihre eindrückliche und unmittelbar verständliche Form erhalten haben, und auf deren vorsprachlichen Charakter die eingangs zitierte Passage Levi-Strauss’ anspielt. Es handelt sich bei Mythen, so der Religionswissenschaftler Mircea Eliade, um ‚orale Texte‘.21 Doch auch, wenn sich die Mythen einer Gesellschaft lediglich auf mündlichem Wege tradierten, sind sie uns doch in Schriftform überliefert. Oft werden Mythos und Literatur in der Forschung als zwei sich ausschließende Größen betrachtet: Sobald der Mythos schriftlich fixiert ist, verliere er seinen mythischen Charakter. Seine Verschriftlichung wird oft als Bruch dargestellt und als eine Art der Degradation verstanden. So betont z.B. der französische Literaturwissenschaftler Raymond Trousson, dass sich lediglich die Struktur als mythisches Relikt im literarischen Erzählen beobachten lässt: „Le mythe a déjà perdu sa fonction étiologique et religieuse, même si la structure du mythe continue à se manifester sous la structure narrative.“22 Die Tatsache, dass der Mythos durch das zeitlose, mündliche Tradieren eine fundamentale Aussagekraft erhalten hat, lässt ihn für einige Mythologen als den ‚gewöhnlichen‘ literarischen Werken überlegen erscheinen, die nur wie ein Zerrspiegel ein unzureichendes Bild des ‚eigentlichen‘ Mythos abbilden können. Nicht zuletzt Levi-Strauss konstatiert, dass die Struktur der Mythen in der Literatur völlig verwässert und aufgeweicht wird, und er diese kunstvolle Organisation lediglich in manchen musikalischen Kompositionen wiederzuerkennen vermag, nicht jedoch in der Literatur.23 Anders gesagt: „La littérature naît lorsque le mythe meurt.“24 Die Literatur und ihr Verhältnis zum Mythos musste also neu verhandelt werden. Daher verwundert es nicht, dass im Vergleich zu den anderen Mythos-Definitionen, die bei Assmann/Assmann aufgezählt werden, der
_____________ 21 Eliade, Mircea: Aspects du mythe. Paris 1963. 22 Trousson, Raymond: Thèmes et mythes. Bruxelles 1981, S. 19. 23 Levi-Strauss, Claude: L’origine de les manières de table. Paris, 1968, S. 105-106; ders. : L’homme nu. Paris, 1973, S. 583-584. 24 Monneyron, Frédéric/Thomas, Joël: Mythes et littérature. Paris 2002, S. 44.
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„literarische Mythos“ – stellte man unter den verschiedenen Begriffen eine chronologische Abfolge ihrer Entstehung auf – zusammen mit dem „Alltags-Mythos“ und den „neuen und nicht-narrativen Mythen“ als einer der letzten in der Reihe zu platzieren wäre. Bezeichnend für diese Beobachtung ist die Begründung einer Reihe „Mythes“ bei Coline Paris 1970 oder auch der Reihe „Mythos“ bei Reclam Leipzig im Jahre 1995, was nicht nur als Indikator für das erst spät erwachte Interesse am dezidiert literarischen Mythos, sondern auch für die unterschiedliche Forschungslandschaft im Bereich der Mythologie innerhalb Deutschlands und Frankreichs bezeichnet werden kann. Während die Beschäftigung mit literarischen Mythen in Frankreich zwar im Vergleich zur sonstigen Mythenforschung verhältnismäßig spät begann, lässt sich auf diesem Gebiet seitdem, vor allem im Bereich der Komparatistik, ein ausgeprägtes Interesse feststellen, was sich nicht nur innerhalb der Forschung, sondern auch in der Lehre niederschlägt: „En première, en second ou en troisième cycle, quelle que soit l’université considérée, un cours ou un seminaire au moins est généralement consacré à l’étude d’un mythe ‚littéraire‘.“25 Zwar sind in Deutschland in den letzten Jahren zahlreiche Studien zum Mythos entstanden, doch bleibt die Anzahl der Veröffentlichungen überschaubar, die sich exklusiv dem Verhältnis von Literatur und Mythos widmen. Die meisten Veröffentlichungen beschränken sich dabei auf die Studie einer mythischen Figur wie Medea, Faust oder Oedipus; umfassende theoretische Arbeiten zum Verhältnis von Mythos und Literatur sind jedoch ebenso selten wie grundsätzliche methodische Überlegungen zur Analyse mythischer Stoffe innerhalb literarischer Texte.26 Als eine wichtige Ausnahme sind die Arbeiten von Hans Blumenberg zu nennen, die zwar weniger eine methodische als eine theoretische Beschäftigung mit dem Verhältnis von Mythos und Literatur darstellen, gleichzeitig jedoch wesentliche Prämissen zur Definition des literarischen Mythos beinhalten, auf die die Assmann’sche Definition explizit zurückgreift.27 Mit der Formulierung der „Arbeit am Mythos“ betont Blumenberg in seinem gleichnamigen Werk die Literarisierung und Ästhetisierung des Mythos als Indiz für die Unabschließbarkeit seiner Rezeptions- und
_____________ 25 Monneyron/Thomas (Anm. 24), S. 4. 26 Eine Ausnahme bilden die folgenden, kürzlich erschienen Arbeiten: Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Hg. v. Martin Vöhler und Bernd Seidensticker in Zusammenarbeit mit Wolfgang Emmerich. Berlin, New York 2005; Tepe, Peter: Mythos und Literatur. Aufbau einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung. Würzburg 2001; Komparatistik als Arbeit am Mythos. Hg. v. Monika Schmitz-Emans und Uwe Lindemann. Heidelberg 2004. 27 Assmann/Assmann (Anm. 8), S. 190.
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Wirkungsgeschichte.28 Während die Variation in schriftlosen Kulturen durch die mündliche Tradierung der Mythen geleistet wird, setzen sich Schriftkulturen bewusst mit den in Textform vorliegenden Fassungen auseinander: „Die Schriftform macht die Variante bezugsfertig.“29 Dabei wird die Variation nicht als Degradation, sondern im Gegenteil als wesentliches Charakteristikum des Mythos betrachtet. Blumenberg definiert den Mythos weniger als Antwort auf Fragen an die menschliche Existenz oder das den Menschen umgebende Universum, seine theoretische Lösungsund Erklärungskompetenz steht nicht im Vordergrund seiner Bedeutung. Vielmehr evozieren die Mythen immer wieder neue, immerwährende Probleme: „Nicht die Überzeugungskraft alter Antworten auf vorgeblich zeitlose Menschheitsrätsel begründet die Andringlichkeit mythologischer Konfigurationen, sondern die Implizität der Fragen, die in der Rezeption und ihrer Arbeit an ihnen entdeckt, ausgelöst, artikuliert werden.“30 Diese „institutionalisierte Beweglichkeit“31 des Blumenberg’schen Mythenverständnisses liegt der Assmann’schen Betonung der Variation als Charakteristikum des literarischen Mythos zugrunde. Auch wenn in den Arbeiten Blumenbergs Betrachtungen zum Aspekt der Funktionalität des Mythos überwiegen, so sind sie für die Untersuchung der Variation literarischer Mythen unverzichtbar: „In Blumenbergs Arbeit am Mythos zeigt sich der Philosoph als vergleichender Literaturwissenschaftler. Und dies nicht im Nebenberuf, sondern im Hauptgeschäft.“32 Im Vergleich zu den zahlenmäßig geringen Ansätzen zur Erforschung der Verbindung von Mythos und Literatur im deutschsprachigen Raum haben sich in Frankreich innerhalb der letzten zwanzig Jahre mehrere Ansätze, ja ganze Schulen herausgebildet, deren Arbeiten bislang kaum in der deutschen Forschung zur Kenntnis genommen werden. Aufgrund der zwar umfangreichen, jedoch gleichzeitig disparaten Positionen zum Verhältnis von Mythos und Literatur sowie zum Terminus des „literarischen Mythos“ lässt sich augenblicklich in französischen Publikationen und Tagungen die Tendenz erkennen, eine Bilanz zu ziehen und die Ergebnis-
_____________ 28 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 1979; ders.: Wirklichkeitsbegriff und Wirklichkeitspotential des Mythos (Anm. 18). 29 Blumenberg (Anm. 28), S. 168. 30 Blumenberg (Anm. 18), S. 34. 31 Frick, Werner: Die Mythische Methode. Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne. Tübingen 1998, S. 10. 32 Matuschek, Stefan: „Mythosbegriff und vergleichende Literaturanalyse.“ In: SchmitzEmans/Lindemann (Anm. 9), S. 95-107.
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se der vergangenen Jahre überblickshaft festzuhalten.33 Bevor der Stand der Forschung bezüglich des „literarischen Mythos“ in seinen Grundzügen präsentiert werden kann, muss die Assmann’sche Definition erweitert, und der eigene Gebrauch des Terminus „literarischer Mythos“ ausführlicher dargestellt werden. Zum Zwecke der präziseren Abgrenzung soll sie an dieser Stelle vollständig zitiert werden: „M6 (literarische Mythen) beziehen sich insbesondere auf die europäische Mythentradition und deren Bedeutung für die abendländische Schriftkultur. Im Gegensatz zum gelebten Mythos (M3) will dieser ständig neu aktualisiert, d.h. umgedeutet und umgeschrieben werden. M6 will gerade nicht in seiner Ursprünglichkeit und Verbindlichkeit verstanden werden, sondern als ‚immer schon in Rezeption übergegangen‘; statt Heiligkeit gilt hier essentielle Distanz, statt Unveränderlichkeit gilt spielerische Behandlung, Variation und Freiheit der Imagination. Ihr Gegenstand sind Stoffe der antiken und mittelalterlichen Mythologien, aber auch neuere literarische Schöpfungen, sofern diesen als kollektiven Identifikationsangeboten eine entsprechende Resonanz beschieden ist (z.B. Prometheus, Parzival, Faust, Don Juan, Robinson, Werther, Carmen).“34
Aleida und Jan Assmann stellen somit in Anlehnung an Blumenberg den literarischen Mythos dem von Ihnen als „gelebten“ oder auch „funktionalistisch“ bezeichneten Mythosbegriff gegenüber, der hauptsächlich in den Religionswissenschaften und der Ethnologie verwendet wird, und der – betrachtet man die wissenschaftliche Forschung zum Mythos insgesamt – wohl der am meisten Verbreitete unter den sieben aufgezählten MythosDefinitionen ist. Aus dieser Perspektive ist eine Gegenüberstellung von „funktionalistischem“ und „literarischem“ Mythos-Begriff sinnvoll, um so die Charakteristika beider besonders deutlich werden zu lassen. Unbestreitbar ist dabei die Annahme, dass sich der literarische Mythos durch seine Variation auszeichnet. Der Titel des „Amphitryon 38“ von Jean Giraudoux spielt ausdrücklich mit dieser intertextuellen Reihe, die sich im Rahmen einer literarischen Bearbeitung zwangsläufig ergibt, in dem er suggeriert, es handele sich um die achtunddreißigste Fassung dieses Stoffes.35 Damit einher geht ebenfalls das Verneinen einer Wertigkeit der einzelnen Texte, die sich entsprechend der chronologischen Abfolge
_____________ 33 Beispielhaft für diese Tendenz ist die Tagung „Le mythe en littérature comparée. Bilans et perspectives de recherche“ anzusehen, die am 14./15. März 2005 an der Sorbonne – Paris IV stattgefunden hat und unter der Leitung von Prof. Pierre Brunel organisiert wurde, dessen Publikationen im Folgenden noch genauer berücksichtigt werden. Auch das Erscheinen eines Bandes zum Thema ‚Mythe et Littérature‘ innerhalb der Reihe „Que sais-je?“ (s. Anm. 24), die in Frankreich als studentisches Einführungswerk gilt, belegt sowohl ein universitäres Interesse am Thema, als auch die Existenz einer entsprechenden Menge an Publikationen. 34 Assmann/Assmann (Anm. 8), S. 180. 35 Zur Problematik der Variation siehe Frick (Anm. 31), S. 4-22.
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Verknüpfung von Mythos und Literatur
ergibt und sich aus der Nähe zu einem vermeintlichen Original begründet. Nicht die Ähnlichkeit, sondern vielmehr das kunstvoll-ästhetische Spiel eines „zugleich traditionsbezogenen und innovativen Schreibens im Spannungsfeld von Anknüpfung und Abweichung, Wiederholung und Widerspruch, von imitatio, variatio und aemulatio“36 bildet den Maßstab einer Bewertung. Bezüglich des Gegenstandes des literarischen Mythos unterscheiden Assmann/Assmann zwischen Stoffen antiker und mittelalterlicher Mythologie sowie neueren literarischen Schöpfungen mit kollektiven Identifikationsangeboten. In der französischen Forschung hat sich diesbezüglich die Unterscheidung zweier verschiedener Kategorien etabliert, die ich an dieser Stelle aufgreifen möchte. Dabei wird der sogenannte ‚mythe littéraire‘ vom so genannten ‚mythe littérarisé‘ unterschieden, eine Klassifikation, die zunächst von Philippe Sellier37 angedacht und von André Siganos38 weiterentwickelt wurde und mittlerweile zum festen Bestandteil der aktuellen Terminologie in Frankreichs Mythenforschung geworden ist. Es handelt sich um einen ‚mythe littéraire‘, wenn den Variationen eines Stoffes ein eindeutig definierbarer, verhältnismäßig neuer literarischer, und einem einzelnen Autor zuzuordnender Ursprungstext zugrunde liegt (z.B. Don Juan). Dem gegenüber handelt es sich um einen ‚mythe littérarisé‘, wenn sich im Laufe der Zeit ein Ursprungstext aus einer kollektiven, oralen und archaischen Tradition herauskristallisiert (z.B. Minotaurus).39 Dass es sich bei dieser Unterscheidung lediglich um eine terminologische Hilfestellung handelt, deren zwei Kategorien sich nur selten die einzelnen Mythen eindeutig zuordnen lassen, wird vom Autor selbst zu bedenken gegeben. So ist auch der Philomela-Mythos als Mischform zu betrachten, da zwar die Überlieferung in den „Metamorphosen“ Ovids oft als Referenztext der zahlreichen Adaptationen fungiert, diesem jedoch andere Varianten des Mythos vorausgehen.40 Innerhalb seiner Unterscheidungskriterien von
_____________ 36 Frick (Anm. 31), S. 11. 37 Sellier, Philippe: „Qu’est-ce qu’un mythe littéraire?“ In: Littérature 55 (1984), S. 112126. 38 Siganos, André: Le Minotaure et son mythe. Paris 1993, S. 32. 39 „Il s’agira d’un „mythe littérarisé“ si le texte fondateur, non littéraire, reprend luimême une création collective orale archaïque décantée par le temps (type Minotaure). Il s’agira d’un mythe littéraire si le texte fondateur se passe de toute hypotexte non fragmentaire connu, création littéraire fort ancienne qui détermine toutes les reprises à venir, en triant dans un ensemble mythique trop long (type Œdipe-Roi ou Dionysos avec Les Bacchantes) ou si le texte fondateur s’avère être une création littéraire individuelle récente (type Don Juan).“ Siganos (Anm. 38), S. 30. 40 Zu den Varianten des Mythos in der griechisch-römischen Antike vgl. u.a. Létoublon, Françoise: „Le rossignol, l’hirondelle et l’araignée. Comparaison, métaphore et métamorphose.“ In: Mythe et mythologie dans l’antiquité gréco-romaine (Anm. 2), S. 73-
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‚mythe littéraire‘ und ‚mythe litterarisé‘ befinden sich weitere Elemente, um die ich die Assmann’sche Definition des literarischen Mythos ergänzen möchte, und die seine Charakteristika noch deutlicher vor Augen treten lassen. Während die Perspektive des funktionalistischen Mythosbegriffs meist an exotischen Befunden schriftloser Kulturen entwickelt wird, handelt es sich beim Gegenstand des literarischen Mythos eindeutig um Befunde literarischer Texte. Darüber hinaus ist der funktionalistische Mythos kollektiv und anonym, während der literarische Mythos meist als das Produkt einer einzelnen Person angesehen werden kann, die in der Regel auch namentlich bekannt ist. Zwar ist ihr der Inhalt des Mythos nicht zuzuschreiben, jedoch die vorliegende literarische Variante. Dazu kommt, dass der funktionalistische Mythos als Träger einer bestimmten Wahrheit betrachtet wird. Gebunden an präzise Umstände, innerhalb derer er erzählt wird, und darüber hinaus mit einer Art magischen Effizienz ausgestattet, grenzt er sich in dieser Hinsicht eindeutig von anderen Formen der Erzählung, wie z.B. der Fabel oder dem Märchen ab – oder eben auch vom literarischen Mythos, dessen Wahrheitsgehalt im Sinne einer Abbildung tatsächlicher Begebenheiten klar verneint wird. Auch der vorzeitliche Charakter unterscheidet den funktionalistischen vom literarischen Mythos. Während es sich bei ersterem in der Regel um einen Gründungsmythos handelt, der bestimmte Riten oder Verhaltensregeln einer menschlichen Gemeinschaft thematisiert und sich in einer nicht definierbaren Vorzeit abspielt, ist dieses begründende Element beim literarischen Mythos nicht mehr vorhanden. Vielmehr schreiben sich im Zusammenhang seiner zahlreichen Variationen oft Merkmale der literarischen Epochen ein, innerhalb derer er entstanden ist. Wie lässt sich unter diesen Umständen erklären, dass zur Bezeichnung von literarischen Mythen ebenfalls der Terminus ‚Mythos‘ verwendet wird – obwohl auf diesen bei näherem Hinsehen keine der dem funktionalistischen Mythosverständnis eigenen Attribute ‚anonym‘, ‚kollektiv‘, ‚wahr‘ und ‚begründend‘ zutreffen? Philippe Sellier vermutet in seinem Aufsatz „Qu’est-ce qu’un mythe littéraire?“ dennoch eine Schnittmenge von Charakteristika zwischen literarischem und funktionalistischem Mythos, was
_____________ 102; Dubel, Sandrine: „L’hirondelle et l’épervier, le rossignole et la huppe (Achille Tatius, Leucippé et Clitophon, V, 3-5): notes sur la difficulté d’établir un mythe.“ In: Philomèle. Figures du rossignol dans la tradition littéraire et artistique. Hg. v. Véronique Gély, Jean-Louis Haquette u. Anne Tomiche. Clerment-Ferrand 2006, S. 37-52; Chevalier, Jean-Frédéric: „La métamorphose de Philomèle ou les métamorphoses du mythe dans la poésie latine et neo-latine.“ In: Gély/Haquette/Tomiche (Anm. 40), S. 5372.
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der Definition von Aleida und Jan Assmann teilweise widerspricht.41 Während Assmann/Assmann eine „Entflechtung aus der Empraxie gesellschaftlicher Lebenszusammenhänge“ sowie „statt Heiligkeit […] essentielle Distanz“ innerhalb der literarischen Mythen beobachten, betont Sellier die nach wie vor vorhandene metaphysische Dimension, ebenso wie die strukturelle Organisation und den symbolhaften Charakter der literarischen Mythen. Somit macht er die Verwirrung nachvollziehbar, die sich bei der Benennung von relativ unterschiedlichen Gegenständen als Mythos beobachten lässt, indem er neben den Unterschieden von literarischem und funktionalistischem Mythos auch deren Gemeinsamkeiten deutlich macht. Am Beispiel der literarischen Varianten von „Don Juan“ zeigt er, dass sich dort ebenso wie im ethnisch-religiösen Mythos zahlreiche Symbole wiederfinden lassen, die aus der Psychoanalyse bekannt sind. Während die Mythen eine Zeit lang als Abbildung psychischer Grundkonflikte gelesen wurden (vgl. z.B. den Oedipuskomplex oder den Narzissmus), wird heute aus der Sicht der Literaturwissenschaft zu bedenken gegeben, dass sich die Texte nicht auf eine einfache Anordnung von Symbolen reduzieren lassen, und die Vielschichtigkeit der literarischen Werke durch ein psychoanalytisches Instrumentarium nur sehr unzureichend abgebildet werden kann. So ist der symbolische Gehalt literarischer Mythen zwar zu beobachten, jedoch lediglich als eine von zahlreichen Bedeutungsschichten, nicht als alleiniger interpretativer Verständnisschlüssel. Ebenfalls hervorzuheben ist die klare Struktur, die trotz des Übergangs vom mündlichen zum schriftlich fixierten Mythos immer noch deutlich in den literarischen Fassungen zu erkennen ist.42 Auch wenn Levi-Strauss sich über den „manque de plus en plus évident d’une charpente interne“43 der in literarischer Form vorliegenden Mythen beklagt, kann Sellier am „Don Juan“ beispielhaft zeigen, dass es sich bei der Fassung Molières um eine regelrechte Reformalisierung handelt, deren Elemente sich in ein strukturelles Raster einfügen lassen, welches beim Vergleich der unterschiedlichen Fassungen des „Don Juan“ sichtbar wird. Ebenso wie es die strukturalistische Methode vorschlägt, lassen sich die einzelnen Handlungsknoten des Mythos in chronologischer Reihenfolge horizontal notieren. Das Hinzufügen der entsprechenden Handlungsknoten von weiteren Versionen des Mythos, die unter den vorhergehenden vermerkt werden, erlaubt schließlich auch eine vertikale Lesart, bei der sich eine
_____________ 41 Vgl. Sellier (Anm. 37). 42 Dies zeigt sich beispielhaft an der Struktur des Philomela-Mythos, und wird besonders bei der Analyse des Ovid’schen Textes offenbar. Vgl. dazu das Kapitel „Die Struktur der Lust (Ovid, „Metamorphosen“ VI, V. 412-674)“. 43 Levi-Strauss, Claude: L’homme nue. Paris 1973, S. 583f.
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strukturelle Übereinstimmung der verschiedenen Fassungen feststellen lässt. Diese konzentrierte Handlungsstruktur ist, so Sellier, der Grund für die Tatsache, dass zahlreiche mythische Stoffe vor allem in Form einer Tragödie oder eines Dramas ihren Eintritt in die Welt der literarischen Mythen gefunden haben (vgl. Antigone, Elektra, Phèdre, Faust etc.): „La forte structure qui y est de rigueur convenaient parfaitement pour introduire dans la littérature la puissante organisation du mythe.“44 In diesem Zusammenhang verweist Sellier ebenfalls auf die Bedeutung der Länge als konstitutives Element für den literarischen Mythos. Da dieser nicht nur einer Heldin oder eines Helden bedarf, sondern auch einer dramenhaften, komplexen Situation, in der sich diese oder dieser befindet, kann der Umfang des Werkes konstitutiv für die Gattung werden, dessen Gestalt das literarische Werk letztendlich annimmt. Ist die Situation zu einfach, erstarrt der Mythos im Bild und wird so zum Emblem reduziert (z.B. Sisyphus, der den Stein rollt, oder der Turmbau zu Babel). Ist die Struktur hingegen zu komplex, spannt sich der Mythos zum Epos aus, wie es z.B. bei der „Odyssee“ oder beim Alexander-Stoff zu beobachten ist. Schließlich – und an dieser Stelle soll die Definition von Aleida und Jan Assmann nicht nur ergänzt, sondern auch hinterfragt werden – teilt der literarische Mythos mit dem funktionalistischen Mythos wenn nicht seine dezidiert religiöse, so doch seine metaphysische Dimension, was ihn u.a. auch vom Märchen abgrenzt. Während Assmann/Assmann „statt Heiligkeit […] essentielle Distanz“ als Charakteristikum des literarischen Mythos annehmen, zeigt sich innerhalb der Don Juan-Analyse Selliers sehr wohl ein solcher Bereich, den er als „face-à-face avec l’au-delà“45 bezeichnet. Seine strukturalistische Analyse des Werkes offenbart innerhalb der Handlungsknoten eine Konzentration von Elementen, die eine Dichotomie von Momenthaftigkeit und Dauer offenbaren. Der Mensch kann dem Tod nur durch dauerhafte Bindungen und durch das Befolgen der göttlichen Gesetze entgegentreten; das Stück wird im Rahmen einer strukturalistischen Untersuchung zur Apologie der monogamen Heirat. Aus Gründen des Umfangs ist eine ausführliche Diskussion dieses Aspektes nicht möglich, für den Fortgang der Untersuchung lässt sich jedoch das Folgende festhalten: Der literarische Mythos, dessen zahlreichen Realisierungen sich in einem Fächer zwischen den beiden Polen des ‚mythe littéraire‘ und des ‚mythe littérarisé‘ ansiedeln lassen, zeichnet sich im Gegensatz zum ethnologischen bzw. religiösen Mythosbegriff durch die Eigenschaften der Variation, der Fiktionalität sowie der Urheberschaft einer einzelnen, zumeist namentlich bekannten Person aus. Seiner Entste-
_____________ 44 Sellier (Anm. 37), S. 118. 45 Sellier (Anm. 37), S. 124.
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hungszeit verbunden, erzählt er in klarer Struktur und auf symbolisch aufgeladene Weise die Geschichte einer/eines oder mehrerer Heldinnen oder Helden, die sich in einer dramatischen, den Grundkonflikten der menschlichen Existenz zuzuordnenden Situation befinden. Auch wenn sich bezüglich der Definition eines literarischen Mythos innerhalb der Forschung unterschiedliche Positionen feststellen lassen, herrscht Einigkeit darüber, dass die literarischen Realisierungen eines Mythos und der ‚eigentliche‘ Mythos selbst nicht deckungsgleich sind. Zwar schimmert die ausgeprägte Struktur des Mythos unter der narrativen Oberfläche des literarischen Textes hindurch, doch tritt sie weniger klar zu Tage, als es bei den sehr viel konzentrierteren Fassungen der ethnoreligiösen Mythen der Fall ist, die sich in der Regel auf wenige Seiten begrenzen. Im Laufe der Zeit und im Rahmen der Verschriftlichung der Mythen lässt sich dabei eine Zunahme an Komplexität erkennen, mit der die Literatur sich ihr mythisches Erbe ‚einverleibt‘. Dies kann in unterschiedlichster Form und in für den Leser auf mehr oder weniger deutlich sichtbare Weise geschehen. Ob es sich um den Titel eines literarischen Werkes handelt, der aus dem Namen einer mythischen Figur besteht,46 der Titel eines Werkes zwar einen Mythos evoziert, sein Inhalt jedoch keinerlei expliziten Zusammenhang zu mythologischen Elementen aufweist,47 oder ein ganzer Roman zahlreiche mythologische Figuren in eine andere Zeit und eine andere Umgebung verpflanzt48 – das Verhältnis von Mythos und Literatur ist vielschichtig, komplex und schwer klassifizierbar. Trotz – oder möglicherweise aufgrund ― dieser komplexen Verstrickung fehlt in der deutschen Forschung eine ausgearbeitete Methode, die beim Entwirren dieser mythisch-literarischen Verflechtung hilft, hinter dem literarischen Text ein mythologisches Element herauszuarbeiten, das für die Interpretation von wesentlicher Bedeutung sein kann. Der Einfluss, den die europäische Mythentradition für die abendländische Schriftkultur innehat, ist dabei kaum zu überschätzen, und seine Bedeutung lässt sich nicht nur auf die Literatur beschränken, sondern wird auch über diese Fachgrenze hinaus betont. So spricht Philippe Sellier vom „place stratégique du mythe, au carrefour des sciences humaines,“49 und Susanne Bürkle
_____________ 46 Vgl. bspw. „Medea“ von Christa Wolf oder „Ulysses“ von James Joyes. 47 So findet man innerhalb des Textes „Dans le labyrinthe“ von Alain Robbe-Grillet weder Ariadne noch Teseus noch Minotaurus, sondern das Labyrinth einer Stadt, das nur noch aus Kreuzungen und namenlosen Straßen besteht. 48 So z.B. „Die letzte Welt“ von Christoph Ransmayr. 49 Sellier, Philippe: „Récits mythiques et productions littéraires.“ In: Mythes, images, représentations. Trames. (Actes du XIVe Congrèsde la Société française de littérature générale et comparée à Limoges en 1977). Limoges, Paris 1981, S. 69.
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vom „Mythos als Schnittstelle verschiedener kulturwissenschaftlicher Diskurse.“50 Die französische Antwort auf diese Problematik lautet ‚Mythanalyse‘ und ‚Mythocritique‘, und ihre Entstehung sowie ihr Anliegen soll im Folgenden in groben Zügen entwickelt werden. Auch wenn sich die literaturwissenschaftlichen Mythologen gegen die Levi-Strauss’sche Degradierung des literarischen Mythos sträuben, greifen sie doch in der Regel in zwei Punkten auf seine strukturalistische Methode zurück. Sowohl die ‚demokratische‘ Berücksichtigung aller literarischen Realisierungen eines Mythos unabhängig ihrer Qualität,51 als auch die Aufteilung in Bedeutungsknoten bzw. Mytheme eines Mythos zur besseren Erkenntnis seiner Struktur bleiben nach wie vor essentielle Bestandteile der ‚mythischen Methode‘.52 Trotz dieser beiden Konstanten gehen die methodischen Ansätze der französischen Mythenforscher, allen voran die Arbeiten Gilbert Durands und Pierre Brunels, weit über den strukturalistischen Ansatz hinaus. Der Terminus der ‚Mythanalyse‘ wurde zunächst durch den Schweizer Denis de Rougemeont benutzt, der ihn nur sehr vage verwendete. Ein Zusammenhang mit dem Werk C.G. Jungs ist dabei nicht nur durch den Neologismus der ‚Mythanalyse‘ in Anlehnung an die Psychoanalyse, sondern ebenfalls inhaltlich zu erkennen, indem de Rougemont die literarischen Mythen als Spiegel der Gesellschaft analysiert und interpretiert. Auch er geht dabei vom „paradis perdu du mythe“53 aus, in dem er den literarischen Mythos als Deformation des ‚eigentlichen‘ Mythos versteht, der sich im Laufe seiner literarischen Versionen immer mehr profanisiert, und den er als Abbild der kollektiven Psyche versteht. Später wurde die ‚Mythanalyse‘ von einer Forschergruppe der Universität Grenoble um den Anthropologen Gilbert Durand als Instrument der Mythen-Analyse weiter ausgebaut.54 Da Durand den Mythos in allen menschlichen Aktivitäten am Werk sieht, betrachtet er als Gegenstand der ‚Mythanalyse‘ alle anthropologisch relevanten Bereiche, denn der Mythos schlägt sich, so Durand, in symbolischer Form von der Mode über die gesellschaftliche Moral bis hin zum juristischen System nieder. Auch Durand arbeitet auf der Basis von Mythemen, die er als kleinste Einheit symbolischer Bedeutung definiert, als eine kurze Sequenz, die sich
_____________ 50 Bürkle (Anm. 7), S. 99. 51 „Wir schlagen stattdessen vor, jeden Mythos durch die Gesamtheit seiner Fassungen zu definieren.“ Lévi-Strauss (Anm. 1), S. 238f. 52 Vgl. Monneyron/Thomas (Anm. 24), S. 47. 53 Brunel, Pierre: Mythocritique. Théorie et parcours. Paris 1992, S. 41. 54 Durand, Gilbert: Introduction à la Mythodologie. Mythes et sociétés. Paris 1996.
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gleichzeitig in ein größeres mythisches System eingliedert. Die Literatur übernimmt dabei Auswahl, Übertragung und Modifikation der Mytheme entsprechend der spezifischen Färbung des einzelnen Werkes und bietet daher auch einen wesentlichen Ansatzpunkt zum Verständnis der Mythen. Aus diesem Grund entwickelt Durand auch eine Vorstufe der ‚Mythanalyse‘, die sich mit der konkreten Analyse literarischer Texte im Hinblick auf deren Verschränkung mit dem Mythos beschäftigt, und die er als ‚Mythocritique‘ bezeichnet. Darunter versteht er die Vorgehensweise „à déceler derrière le récit qu’est un texte, oral ou écrit, un noyau mythologique, ou mieux un patron (pattern) mythique.“55 Dabei weist er wiederholt auf die Verwobenheit der Mythen mit Kultur und Sprache hin, die sich in den tieferen Bedeutungsschichten eines Textes wiederfinden lässt, und deren Analyse er für sein Verständnis als unabdingbar erachtet. Die einzelnen Mytheme sieht er den folgenden Stadien der Evolution unterworfen:56 Unter der ‚Dauerhaftigkeit‘ („pérennité“) eines Mythos versteht Durand die Existenz eines idealen, puren Mythos, um den sich die unterschiedlichen Mytheme auf verschiedene Weise herum gruppieren. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen real existierenden Ursprungs- oder Gründungsmythos, sondern vielmehr um eine Synthese seiner verschiedenen literarischen Realisierungen. Doch auch, wenn ein solcher Idealtypus zeitlos alle Varianten überdauert, so stehen dieser stabilen Form zahlreiche ‚Abweichungen‘ („dérivations“) gegenüber, die als dynamisches Gegengewicht zu dieser Grundstruktur funktionieren, und deren Fehlen Durand den Strukturalisten vorwirft, die sich seiner Meinung nach damit begnügen, eine leere Form zu fixieren, die sie schließlich unterschiedslos auf alles anwenden.57 Schließlich können sich die Abweichung zu ‚Be- bzw. Abnutzungen‘ („usure“) entwickeln, wenn sie überzeichnet oder auch ‚falsch‘ angewandt werden. Als eine solche Degradation des Mythos ließe sich der Text „Prometheus“ André Gides bezeichnen: Dessen Leber wird nicht von einem Adler zerfressen, sondern er verleibt sich selbst den Adler ein und verkehrt somit den ‚eigentlichen‘ Mythos in sein Gegenteil.58 Zwar handelt es sich dabei um eine Distanzierung vom ‚Idealtyp‘, doch bleibt der Mythos durch diese Veränderung lebendig. So konstruiert sich der literarische Mythos zwischen den beiden Polen der Einheit und der Variation des ‚Idealtyps‘, wobei eine semantische Brücke diese beiden Tendenzen zusammenhält. So geht Durand auch davon aus, dass kein
_____________ 55 Durand (Anm. 54), S. 190. 56 Vgl. Durand, Gilbert: „Pérennité, dérivations et usure du mythe.“ In: Ders.: Champs de l’imaginaire. Grenoble 1996, S. 87. 57 Durand (Anm. 56), S. 87. 58 Monneyron/Thomas (Anm. 24), S. 76.
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Mythos jemals verschwindet; vielmehr ist er – wenn er sich einmal in dem sog. ‚semantischen Becken‘ („bassin sémantique“), das heißt dem kulturellen Erbe einer Gesellschaft befindet - einem ewigen Kreislauf unterworfen, den Durand mit Worten einer ‚hydraulischen‘ Metaphorik wie einen Fluss beschreibt: Es entstehen zunächst unabhängig von einander kleine ‚Wasseransammlungen‘ oder ‚Rinnsale‘, die sich schließlich zusammenschließen und einen Strom bilden. Aus dem Zusammenschluss einer Geschichte, einer (zum Teil) wahren Begebenheit, einer Person oder einem Symbol bildet sich ein Mythos, der für dieses ‚semantische Becken‘, diese Epoche einer Gesellschaft bezeichnend wird. Dieser Strom verzweigt sich wiederum – z.B. durch die unterschiedlichen Versionen und Derivate literarischer Mythen – und seine Treibkraft wird durch das Ausbilden unterschiedlicher ‚Arme‘ schwächer, bis diese schließlich von anderen Strömungen mitgerissen werden. So unterscheidet Durand auch drei verschiedene Stadien, in denen sich die Mythen einer Gesellschaft befinden können: Mythen, die dabei sind, aus dem ‚semantischen Becken‘ zu verschwinden, solche, die innerhalb einer Gesellschaft auf fruchtbaren Boden fallen und daher dominieren, und solche, die sich gerade im Entstehen befinden. In diesem Zusammenhang hat die von Gilbert Durand inspirierte Soziologie überraschende Koinzidenzen zwischen der Aufnahme bestimmter Mythen und ihrer Gesellschaft feststellen können, beispielsweise eine verstärkte Rezeption des Hermes-Mythos in den vergangenen Jahrzehnten, die vor allem durch technologischen Fortschritt und damit einhergehend die Nivellierung von Distanzen sowie der Revolution medialer Kommunikation geprägt sind. Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich, dass die Mythenforschung Gilbert Durands, die er selbst als „Mythodologie“ bezeichnet, die Merkmale ‚epochenübergreifend‘ und ‚transdisziplinär‘ für sich in Anspruch nimmt. Epochenübergreifend, da sich die Entwicklung, die ein Mythos durchläuft, über Epochen und Gesellschaftsstadien hinweg bewegt, und somit Momentaufnahmen lediglich einen Ausschnitt aus der ‚Karriere‘ eines Mythos abbilden können. Monneyron/Thomas bezeichnen den Mythos in der Theorie Durands auch als „la mémoire du corps social et l’histoire […] sa respiration.“59 Transdisziplinär, da sich das ‚semantische Becken‘ nicht allein aus literarischen Texten, sondern aus allen für die Anthropologie relevanten Bereichen speist, und daher u.a. auch auf die Zusammenarbeit mit Soziologen, Kunsthistorikern, Philosophen, Religionswissenschaftlern usw. angewiesen ist. So besitzen die beiden Elemente, aus denen die „Mythodologie“ Durands zusammengesetzt ist, einen Synergieeffekt: die „Mythocritique“, die sich auf die Textanalyse und die
_____________ 59 Monneyron/Thomas (Anm. 24), S. 82.
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Verknüpfung von Mythos und Literatur
Untersuchung literarischer Mythen konzentriert und durch die Begrenzung auf einen ‚Baustein‘ ihre wissenschaftliche Präzision bewahrt, sowie die „Mythanalyse“, die es erlaubt, die im Rahmen der „Mythocritique“ erhaltenen Ergebnisse in einen größeren, gesamtgesellschaftlichen Kontext einzubetten und so vom Text zum Kontext zu gelangen. Die „Mythodologie“ Gilbert Durands wurde besonders in den Literaturwissenschaften mit Interesse aufgenommen und der Bestandteil, der sich mit der Analyse literarischer Texte beschäftigt, die „Mythocritique“, zur Grundlage für eine intensivere Beschäftigung mit dem komplexen Verhältnis von Mythos und Literatur genommen. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang insbesondere das von Pierre Brunel 1992 veröffentlichte Werk „Mythocritique. Théorie et parcours“, in dem er an die Ausführungen Durands anknüpft, einen aufmerksameren Blick auf die mythischen Elemente eines literarischen Textes einfordert und deren Analyse als unbedingten Baustein, ja sogar als Ausgangspunkt der Interpretation betrachtet.60 Dabei benutzt er die Kategorie der ‚Struktur‘ als Basis der Untersuchung und betont, dass sich die „Mythocritique“ vor allen Dingen für die Analogien interessiert, die sich zwischen der Struktur eines Mythos und der Struktur eines Textes erkennen lassen. Als gemeinsames Element stellt er dabei die Gewebestruktur beider Formen heraus und greift auf den Textbegriff Roland Barthes zurück, der den Text als ein Gewebe definiert, in dessen Verknüpfungen, Codes und Formulierungen sich das Subjekt ebenso platzieren und auflösen kann, wie eine Spinne in ihrem Netz.61 Und so konstatiert Brunel auch für das Verhältnis von Literatur und Mythos, dass „le mythe, language préexistant au texte, mais diffus dans le texte, est l’un des textes qui fonctionne en lui“,62 dass es sich also bei Mythos und Literatur um zwei verschiedene Gewebe handelt, die mitund ineinander verstrickt sind. Die verschiedenen Arten, auf die mythische Elemente in einem literarischen Text auftreten können, klassifiziert Brunel in drei Gruppen, die er ‚Auftauchen‘ („emergence“), ‚Flexibilität‘ („flexibilité“) und ‚Strahlkraft‘ („irradiation“) benennt, die er jedoch lediglich als Orientierungshilfe bei der Analyse und keinesfalls als statische, allumfassende Kategorien verstanden wissen möchte. Beim Auftauchen einer mythischen Figur innerhalb eines Textes betont Brunel dabei die Problematik, den Mythos entweder nur da zu erkennen, wo er explizit z.B. durch den Namen einer mythischen Figur erwähnt wird, oder zum anderen überall eine mythische ‚Patenschaft‘ zu sehen,
_____________ 60 Brunel (Anm. 53), S. 83. 61 Vgl. Barthes, Roland: Le plaisir du texte. Paris 1973, S. 85f. 62 Brunel (Anm. 53), S. 61.
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obwohl es sich lediglich um einen Typus handelt, der sich mythenunabhängig herausgebildet hat. „A s’en tenir à l’explicite pur, la mythocritique risque de commettre l’erreur inverse, soit qu’elle se réduise à une description paraphrastique, soit que par prudence elle se dérobe devant les textes qui ne la sollicite pas immédiatement.“63 Als Beispiel nennt er Baudelaire, der in seinem Gedicht „Voyage“ drei verschiedene Typen von Reisenden wie folgt beschreibt: Les uns, joyeux de fuir une patrie infâme, D’autres, l’horreur de leurs berceaux, et quelques-uns, Astrologues noyés dans les yeux d’une femme, La Circé tyrannique aux dangereux parfums. Pour n’être pas changés en bêtes, ils s’envirent D’espace et de lumière et de cieux embrasés; La glace qui les mord, les soleils qui les cuivrent, Effacent lentement la marque des baisers.64
Name (Circé), Attribut (tyrannisch) und bedeutsame Handlung (Verwandlung) evozieren eindeutig die Episode der Circe in Homers „Odyssee“ und liefern dem Gedicht dadurch einen Subtext, auf den sich dieses explizit bezieht und dessen Kenntnis für seine Interpretation unabdingbar ist. Auf die Bedeutung der mythischen Eigennamen im literarischen Text weist bereits Blumenberg hin: „Die Namen, die das Erste gewesen waren, stehen als das Letzte noch bereit, wenn die Geschichten schon fast wieder vergessen sind.“65 Brunel stellt diesem relativ eindeutigen Fall des mythischen Zitats die Analyse der „Chartreuse de Parme“ durch Gilbert Durand gegenüber, in der dieser das Motiv der unklaren Vaterschaft als Anlehnung an den Mythos des Theseus liest, welcher sowohl der Sohn eines menschlichen (Aigeus), als auch eines göttlichen Vaters (Neptun) ist. Doch handelt es sich hier tatsächlich um einen mythologischen Verweis, oder nicht vielmehr um die Beschreibung eines Motivs, das man in zahllosen Texten wiederfindet? Wenn Letzteres der Fall ist: Kann nur ein explizites Nennen von Namen einen mythologischen Verweis garantieren oder liefert man die ‚Mythocritique‘ auf diese Weise nicht auch einer zu deutlichen, zwangsläufig an der Oberfläche bleibenden mythischen Verweisstruktur aus? Brunel favorisiert trotz seiner Kritik an der Analyse Durands, das Spielen und Verarbeiten mythischer Texte nicht nur z.B. auf das Nennen von Namen oder paraphrastische Rückgriffe auf einen Mythos zu beschränken, da auch bei der vergeblichen Suche nach einem
_____________ 63 Brunel (Anm. 53), S. 75. 64 Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal. CXXVI. Édition établie par John E. Jackson. Préface d’Yves Bonnefoy. Paris 1999, S. 186-192. 65 Blumenberg (Anm. 28) , S. 51.
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mythischen Echo, einer mythischen Spur, die Struktur des Textes deutlicher zu Tage tritt. Neben dem Auftauchen mythischer Inhalte beobachtet Brunel weiterhin als ‚Flexibilität‘ das wandelbare und zugleich resistente Gesicht der Mythen. Wenn Baudelaire seiner Circe die Einladung in den Mund legt, die Fremden sollen von den Lotusfrüchten kosten, so verschmelzen dort die Episode der Circe sowie die der Lotophagen der „Odyssee“ Homers. Ein poetischer Synkretismus entsteht, eine Synthese mehrerer mythischer Elemente, die auf diese Weise gleichzeitig modifiziert und konserviert werden, je nach Intention des Autors. Schließlich hebt Brunel hervor, dass mythische Elemente oft mit ein wenig Herablassung als ‚Überbleibsel‘ oder lediglich nostalgische Verzierungen eines Textes betrachtet werden. Dem entgegengesetzt betont er die Strahlkraft der Mythen: Auch wenn es sich ‚nur‘ um mythische Bruchstücke handelt, die sich innerhalb eines Textes feststellen lassen, so lassen sie den gesamten Text oftmals in einem anderen Licht erscheinen. Ohne den Titel, der auf den mittelalterlichen Mythos verweist, würde z.B. die Novelle „Tristan“ von Thomas Mann kaum im Zusammenhang mit diesem verstanden werden. Aus den vorangehenden Beobachtungen lässt sich erkennen, dass sich „Mythocritique“ und „Mythanalyse“ auf einander beziehen, sich gegenseitig ergänzen, und dass automatisch die eine aus der anderen erwächst. Will die auf der sprachlichen Ebene anzusiedelnde „Mythocritique“ nicht ausschließlich textimmanent bleiben und sich einem übergeordneten Erkenntnishorizont verschließen, muss sie ihre Ergebnisse zwangläufig in einen größeren Kontext stellen. Parallel dazu kann die sich auf einer außersprachlichen Ebene bewegende „Mythanalyse“ nicht auf einen so dichten und reichhaltigen Untersuchungsgegenstand wie den der literarischen Texte verzichten, ohne dabei ihren konkreten Gegenstand, ihre wissenschaftliche Basis aufzugeben. Ein ebenso ausgearbeiteter Ansatz zur Erforschung der Verbindung von Mythos und Literatur sowie einer Methode zu deren Analyse ist im deutschsprachigen Raum nur in Ansätzen vorhanden. In Heike Bartels Werk „Mythos in der Literatur“ beschränkt sich die Autorin auf ein kurzes Kapitel, in welchem sie am Beispiel von Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ (1951) unter dem Titel „Kreuzungen“ die zusätzliche Bedeutungsebene von Texten beschreibt, die diese durch mythische Elemente erhalten. Am Protagonisten des Romans, Odysseus Cotton, zeigt sie, dass „der Roman nicht nur einseitig bestimmte Motive aus dem Mythos (Odysseus) adaptiert, sondern Elemente des Romans auch rückwirkend zur Lesart des Mythos beitragen (Cotton). […] Hier wirken Mythos
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und Literatur wechselweise und gleichberechtigt aufeinander.“66 In einem weiteren Kapitel zum Thema „Intertextualität“ weist Bartel auf die enge Verbindung von Mythenrezeption und Intertextualität hin, indem sie die unterschiedlichen, dynamischen Beziehungen erwähnt, die zwischen neuem und altem Mythentext entstehen können. „Das Verhältnis zwischen neuem und altem Mythentext kann sich dabei auf ganz unterschiedliche Weise gestalten. Der neue Text kann sich auf die antike Vorlage beziehen, indem er mehr oder weniger deutlich auf sie anspielt, ihr treu folgt oder sich deutlich von ihr distanziert, sie affirmiert oder in ihr Gegenteil verkehrt. Literarische Formen wie Travestie oder Parodie können zusätzliche Ansätze zur Klassifizierung liefern, und postmoderne Konzepte geben Beispiele für radikale, subversive und universale Intertextualität.“67
Des Weiteren hebt Bartel hervor, dass sich durch die immer größer und komplexer werdende Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte der intertextuelle Bezug zwischen den einzelnen Werken um ein Vielfaches erweitert. Diese Beobachtung wird in der nachfolgenden Präsentation und Analyse einzelner „Philomela“-Adaptationen vor Augen geführt.
_____________ 66 Bartel (Anm. 19), S. 30. 67 Bartel (Anm. 19), S. 34.
II. Das Weben von Texten und Texturen: Der Mythos als Intertext Trotz der dargestellten Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Mythos, sowie einer ersten Klassifizierung mythischer Elemente in literarischen Texten durch Pierre Brunel in seinem Werk „Mythocritique“ lässt sich beobachten, dass die Forschung oft unbeholfen mit der Beschreibung dieser komplexen Liaison verfährt, was sich darin niederschlägt, dass sie ihre Ergebnisse oftmals mit Adjektiven wie „provisoirement“1 oder „plus ou moins“2 relativiert und ihnen dadurch einen vorläufigen Charakter verleiht. Auffällig ist in diesem Zusammenhang ebenfalls das Verwenden sprachlicher Bilder, mit denen versucht wird, auf anschauliche Weise die Beziehung von Mythos und Literatur deutlicher und somit leichter verständlich werden zu lassen – hinter der Suche nach adäquaten Ausdrucksformen verbirgt sich die Suche nach einer klaren, verbalisierbaren Struktur. Autoren- und sprachübergreifend erfreut sich in diesem Kontext die Bezeichnung der Verbindung von Mythos und literarischem Text als ‚Gewebe‘ einer besonderen Beliebtheit. Die Gewebemetapher spielt bereits seit vielen Jahren in der Texttheorie eine bedeutende Rolle. Wird sie nun in diesem Zusammenhang lediglich innerhalb eines neuen Kontextes angewendet, oder handelt es sich bei dieser terminologischen ‚Renaissance‘ um den Gebrauch eines Bildes, das uns unbewusst auf Charakteristika des literarisch-mythischen Verbundes hinweist? Dass es sich bei dem Bild des Textes als eines Gewebes um einen regelrechten Topos der Literaturwissenschaft handelt, ist in erster Linie durch die Etymologie des Terminus ‚Text‘ von lateinisch texere (‚weben‘) begründet. Trotz der Omnipräsenz des Gewebebegriffs in der Literaturwissenschaft bleibt dieser oftmals vage, was sich sicherlich durch das Überlappen der unterschiedlichen Diskurse erklären lässt, innerhalb derer diese rhetorische Figur verwendet wird. Zwischen sprachlichem Bild, poetologischer Reflexion und Literaturtheorie vermischen sich oft diverse Untersuchungsebenen, sodass diese zahlreichen Überlagerungen meist nur schwer wieder von einander gelöst werden können und die Literaturwissenschaft bereits als „ein einziger Textilmarkt“3 bezeichnet wurde.
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Brunel, Pierre: Mythocritique. Théorie et parcours. Paris 1992, S. 61. Sellier, Philippe: „Qu’est-ce qu’un mythe littéraire?“ In: Littérature 55 (1984), S. 112126, hier S. 116. Greber, Erika: Textile Texte: poetologische Metaphorik und Literaturtheorie; Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln, Weimar, Wien 2002, S. 1.
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Innerhalb dieser verwirrenden Vielfalt ist die folgende Passage aus Roland Barthes Werk „Die Lust am Text“ eine erhellende Konstante: „Texte veut dire Tissu; mais alors que jusqu’ici on a toujours pris ce tissu pour un produit, un voile tout fait, derrière se tient, plus ou moins caché, le sens (la vérité), nous accentuons maintenant, dans le tissu, l’idée générative que le texte se fait, se travaille à travers un entrelacs perpétuel; perdu dans ce tissu – cette texture – le sujet s’y défait, telle une araignée qui se dissoudrait elle-même dans […] sa toile. Si nous aimions les néo-logismes, nous pourrions définir la théorie du texte comme une hypologie (hyphos, c’est le tissu et la toile d’araignée).“4
Barthes gelingt es in diesem Zitat, die reziproke Beziehung zwischen Text und Subjekt in Worte zu fassen. Auf der einen Seite kann sich das Subjekt im Labyrinth des Textes und dessen vielschichtigen Bedeutungen verlieren, auf der anderen Seite ist es aktiv an seiner Herstellung beteiligt, ebenso wie eine Spinne, die mit ihrem Sekret den eigenen Faden produziert und ihr eigenes Netz spinnt. Auch das Verflechten der linguistischen Dimension und dem Aspekt der Erfahrung, die sich im Phänomen ‚Sprache‘ vereinigen und die diese zu einem Gewebe werden lassen, dessen einzelne Fäden kaum von einander zu trennen sind, kommt in der zitierten Passage zum Ausdruck. Darüber hinaus lässt sich durch die Gewebe-Metapher versinnbildlichen, dass sich in jedem Text Formulierungen und Textteile seiner vorangehenden und umgebenden Kultur vereinigen, so dass jeder Text eine Spur in allen nachfolgenden Texten hinterlässt und somit ein großes Netz von Verweisen, ein allumfassender ‚Inter-Text‘ entsteht. Schließlich wird sogar der Erfolg des Terminus ‚Intertextualität‘ aufgrund seiner Kompatibilität mit der verführerischen Text-Metapher vermutet.5 Dies sind nur drei von zahlreichen Aspekten, die die theoretische Bedeutung des Verständnisses von Text als Gewebe vor Augen führen, und deren erschöpfende Darstellung kaum zu leisten ist. Aus diesem Grund möchte ich meine Untersuchung auf jene Beobachtungen beschränken, die sich innerhalb der Forschungsliteratur zum literarischen Mythos machen lassen. Dort wird die Struktur mythischer Elemente innerhalb eines Textes als „toile de fond“,6 „tissage de la matière mythique“,7 „broderie“8
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Barthes, Roland: Le plaisir du texte. Paris 1973, S. 85f. Ette, Ottmar: Intertextualität. Ein Forschungsbericht mit literatursoziologischen Anmerkungen. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 9, 3/4 (1985), S. 497-522, hier S. 498. Trousson, Raymond: Un problème de littérature comparée: les études de thèmes. Paris 1965, S. 12. Vgl. die Ausschreibung der Tagung „L’étude des mythes en littérature comparée“ unter www.fabula.de. Brunel (Anm. 1), S. 74.
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oder „tissu de la mythologie“9 bezeichnet, Sellier spricht sogar von der Herstellung literarischer Mythen als „tramer le mythe littéraire“,10 ohne dass dieses bedeutungsträchtige Vokabular inhaltlich reflektiert wird. Auch in der deutschsprachigen Forschung ist die Gewebemetapher allgegenwärtig. Heike Bartel spricht davon, dass der Leser durch mythische Verweise innerhalb eines Textes diesen „weiterspinnen“11 kann, ebenso wie von einem „Gewebe von Sinnorientierungen“,12 einem „Netz von Verweisen“13 oder einem „dichtmaschigen Gewebe“ mythischer Elemente die Rede ist, das „eine Metaebene zum Text bildet.“14 Doch nicht nur die Verbindung von Literatur und Mythos wird als Gewebe bezeichnet: Monika Schmitz-Emans spricht sogar von einem „artifiziellen Geflecht […], das den Erzähler als eine moderne Arachne erscheinen lässt, die planvoll ihr Material in Kunst verwandelt.“15 Gewebe, Verflechtungen und Bedeutungsnetze tauchen überall dort auf, wo bei dem Versuch, die Verbindung von Mythos und Literatur zu bezeichnen, nach Worten gerungen wird. Worin bestehen jedoch Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Analyse und Bezeichnung eines mit mythischen Elementen durchsetzten Textes und der schon geradezu klassischen Gewebemetapher? Pierre Brunel stellt bei der Untersuchung von Mythos und Textstruktur Folgendes fest: „Provisoirement, je peux […] poser en principe que le mythe, langage préexistant au texte, mais diffus dans le texte, est l’un des textes qui fonctionnent en lui.“16 Die nachfolgenden Überlegungen sollen dazu beitragen, diese Beobachtung etwas weniger provisorisch werden zu lassen. Dies soll durch die Analyse von Funktion und Repräsentation konkreter Gewebe im literarischen Mythos erfolgen. Auf diese Weise werden die Eigenschaften von Geweben, so wie sie innerhalb der Mythen selbst dargestellt werden, herauspräpariert, um im Anschluss daran zu überprüfen, ob das Bild des Gewebes dazu geeignet ist, die komplexe Verbindung von Mythos und literarischem Text darzustellen. Doch ist diese Untersuchung nicht nur von sprachlichtheoretischer Bedeutung. Die Tatsache, dass sich das Motiv des ‚textilen Textes‘ als Mythem in allen Varianten des Philomela-Mythos wiederfinden lässt, und es noch dazu eine zentrale Stelle innerhalb des Mythos ein-
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Sellier (Anm. 2), S. 123. Sellier (Anm. 2), S. 123. Bartel, Heike: Mythos in der Literatur. Münster 2004, S. 9. Bartel (Anm. 11), S. 18. Bartel (Anm. 11), S. 30. Bartel (Anm. 11), S. 30. Schmitz-Emans, Monika: Zur Einleitung. In: Komparatistik als Arbeit am Mythos. Hg. v. Monika Schmitz-Emans und Uwe Lindemann. Heidelberg 2004, S. 25. 16 Brunel (Anm. 1), S. 61.
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nimmt, lässt der Analyse des mythischen Gewebes eine doppelte Bedeutung zukommen. Betrachtet man die unterschiedlichen Realisierungen des PhilomelaMythos, zeigt sich, dass sich die stumme Heldin immer wieder durch Gewebe verständlich macht und es ihr auf diese Weise gelingt, ihre Geschichte auch ohne Stimme zu erzählen. Ob als purpurfarbene Zeichen auf weißem Grund in Ovids „Metamorphosen“, als Teppich, der in einzelnen Bildsequenzen im altfranzösischen „Ovide moralisé“ Philomelas Geschichte darstellt, als gestickte Botschaft in Maries de Frances „Laüstic“ oder Schriftzeichen in einem Gürtel bei Albrecht von Halberstadt und Georg Wickram – es bleiben Stoffe und Gewebe, die als Träger der heimlichen Botschaft fungieren. Dazu kommt, dass die gewebte Botschaft über das Geschehen eindrücklicher berichten kann, als es Worte vermögen. Ebenso wie die textilen Texte wird auch das Verstummen Prognes als Konstante des Mythos überliefert. Der Anblick der grausamen Geschichte, die in das Gewebe hineingewirkt ist, verschlägt ihr die Sprache, und in ihrer Wortlosigkeit teilt sie, zumindest für wenige Momente, das Schicksal der Schwester. Der Mythos und die Geschichte der Vergewaltigung und Verstümmelung, die Philomela für die Augen ihrer Schwester erzählt, scheint somit die ideale literarische Bestätigung für die textile Textmetapher und seine theoretischen Implikationen zu sein. Ebenso wie die Spinne in der zitierten Passage Roland Barthes produziert Philomela ihr eigenes bedeutungstragendes Material, ihre eigenen Signifikanten, und erschafft sich aus diesen ein Medium, das an ihrer Stelle spricht. „Par le statut même d’antériorité qui les caractérise, les mythes se situent en dehors du texte. « Appelés tôt ou tard à une carrière littéraire propre, », comme l’écrit Georges Dumézil, ils sont des pré-textes, mais aussi des hors-textes. En effet le rapport originel qu’ils entretiennent n’est pas avec l’écrit, mais avec les hommes, qui les racontent […]. Ce sont, pour Mircea Eliade, des „textes oraux“. […] L’étymologie autorise cet emploi qui peut sembler à première vue surprenant: textum, c’est ce qui est tissé ou mieux tissu – de la laine aussi bien que des paroles.“17
Dieses Zitat Pierre Brunels legt den Schwerpunkt auf ein Charakteristikum des Mythos, über das – so disparat die Forschung zum Mythos auch sein mag – in der Regel Einigkeit herrscht: die Oralität des Mythos. So sind auch Erzählformeln wie „es war einmal“ oder „es wurde Abend und Morgen“ als Überreste eines verbalen Gestus anzusehen, die innerhalb eines literarischen Textes vom mündlichen Ursprung der Mythen zeugen. Indem Brunel jedoch den oralen Charakter der Mythen hervorhebt, betont er, dass nicht nur Wolle, sondern auch Worte gesponnen werden können.
_____________ 17 Brunel (Anm. 1), S. 59.
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Auch wenn sich dies nicht direkt von der ursprünglichen Bedeutung des Verbs texere ableiten lässt, das sich eindeutig auf die materielle Dimension des Webens bezieht, lassen sich jedoch noch heute zahlreiche Ausdrücke feststellen, die auf die manuelle und artisanale Dimension des Dichterhandwerks zurückgreifen wie z.B. ‚Verse schmieden‘, ‚Sätze feilen‘, ‚Gedanken spinnen‘ etc.). Das Verb texere scheint also zwei verschiedene Typen von Sprache in sich zu vereinen: Nicht nur das Gewebe im eigentlichen Sinne des Wortes bzw. den Text, wie er in der aktuellen Texttheorie definiert wird, sondern auch im übertragenen Sinne als Rede, Sprache. Dies ist umso interessanter, als dass es sich dabei um die beiden Aspekte handelt, die sich im Gewebe Philomelas wiederfinden lassen: Indem es als Substitut ihrer Stimme funktioniert, die sie verloren hat, ist ihr Kunstwerk Text und Gewebe zugleich. Diese Beobachtung wirft die Frage auf, ob es nur der Mythos von Philomela ist, der als einziger die Elemente Stimme, Text und Gewebe in sich vereint, oder ob sich diese Konstellation auch in anderen Mythen feststellen lässt. Um dies zu überprüfen bietet sich die Untersuchung zweier anderer Mythen an, deren Protagonistinnen ebenfalls durch ihre Webkunst bekannt sind: Arachne und Penelope. Für die Untersuchung der Penelope lehne ich mich an die Arbeiten Ioanna Papadopoulou Belmedis an, die in ihrem Buch „Le chant de Pénélope“ unter anderem das Motiv des Webens innerhalb der „Odyssee“ analysiert. Dabei beobachtet sie, dass die Tätigkeit des Webens auf zwei unterschiedliche, geschlechtsspezifische Arten erfolgt. Zunächst wird das griechische Verb huphainô (weben) bei Homer im Zusammenhang einer Redewendung gebraucht, um Männer zu bezeichnen, die ‚Listen weben‘, aber auch ihre Gedanken oder Pläne darlegen. Dies bestätigt noch einmal die metaphorische Verwendung des Verbs. Dem gegenüber sind die Frauen diejenigen, die im wahrsten Sinne des Wortes weben, ihr Platz ist „am Webstuhl und an der Spindel“, wie Telemachos es zweimal zu Penelope sagt. „Pendant que les hommes sont exclus du tissage littérale, les femmes sont exclus du tissage métaphorique.“18 Penelope benutzt das Weben jedoch ebenfalls als List und benutzt so eine männlich codierte Artikulationsform, die ihr eigentlich traditionell verwehrt ist. Tagsüber webt sie das Leichentuch ihres Schwiegervaters Laertes, trennt das Gewebe nachts wieder auf. Auf diese Weise gelingt es ihr, die Wahl eines neuen Ehemannes drei Jahre lang hinauszuzögern. Obwohl Penelope keine Zeichen in ihre Arbeit hineinwebt, wählt sie ebenfalls ein Gewebe, um so in chiffrier-
_____________ 18 Papadopoulou-Belmehdi, Ioanna: Le chant de Pénélope. Poétique du tissage féminin dans l’Odyssée. Paris, Berlin 1994, S. 82f.
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ter Form ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Die Tatsache, dass das Gewebe dabei die Rolle eines Kommunikationsmediums einnimmt, wird dadurch unterstrichen, dass das Gewebe in der „Odyssee“ als Gegenstück zum männlichen Diskurs verwendet wird, der seinerseits durch das Wort muthos ausgedrückt wird. Als Penelope in einer langen Rede die Freier anklagt und sie dazu auffordert, als Probe mit Odysseus’ Bogen durch die Stiellöcher hintereinander aufgereihter Äxte zu schießen, und somit die den Männern vorbehaltene öffentliche Rede für sich selbst in Anspruch nimmt, wird sie von ihrem Sohn an den Webstuhl zurückgeschickt.19 Anstatt den Gegensatz von Reden und Schweigen zu demonstrieren, wird an dieser Stelle deutlich, dass diese Trennlinie nicht so eindeutig vollzogen werden, und dass sich an der Stelle des Schweigens eine weibliche Form der Rede, das Weben, befinden kann. Im Vergleich mit dem Gewebe Penelopes situiert sich das Werk der Arachne viel näher an dem Philomelas: Auch sie webt eine Geschichte in ein Tuch, doch im Gegensatz zu den Zeichen Philomelas, die nicht eindeutig als Schriftzeichen oder Bilder identifiziert werden können, berichtet Ovid in einer langen Ekphrase davon, dass „sich im Gewebe eine alte Geschichte entwickelt.“20 In der Überzeugung, die beste Weberin auf der Welt zu sein, rivalisiert Arachne mit der Göttin Minerva. Obwohl die göttliche Kontrahentin auf ihrem Gewebe den Glanz der Götter sowie deren grausame Rache an ungehorsamen Sterblichen abbildet, lässt sich Arachne durch diesen Machtgestus nicht einschüchtern. Im Gegensatz zur Darstellung Arachnes webt sie Szenen in ihr Tuch, auf denen Götter zu sehen sind, die sterbliche Frauen vergewaltigen. Ebenso wie die Zeichen Philomelas provozieren auch die Bilder Arachnes eine heftige Reaktion von Seiten der Betrachterin: „Ich will nicht mehr dulden, dass man ungestraft meine göttliche Macht gering schätzt!“21 Mit diesen Worten Minervas beginnt die Episode von Arachne und Minerva und ebenso das sechste Buch der Metamorphosen, das zwanzig Seiten später mit der Geschichte Philomelas endet und auf diese Weise von zwei Weberinnen eingerahmt wird. Unfähig, die offensichtliche Anklage der zweifelhaften göttlichen Moral zu ertragen, schlägt Minerva Arachne mit dem Webschiffchen auf den Kopf und verwandelt sie in eine Spinne, so dass diese von nun an dazu verurteilt ist, Netze zu weben, die nichts mehr bedeuten.
_____________ 19 „Doch gehe du in das Haus hinein und besorge deine eigenen Werke: Webstuhl und Spindel, und befiehl den Dienerinnen, dass sie an ihr Werk gehen.“ Homer: Die Odyssee. Übersetzt von Wolfgang Schadewald, mit einem Nachwort von Rainer Nickel. Düsseldorf, Zürich 2001. Einundzwanzigster Gesang, S. 379. 20 V. 69; et vetus in tela deducitur argumentum. 21 V. 4f.; ‚ipsae numina nec sperni sine poen nostra sinamus!’
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Es lässt sich festhalten, dass sich alle drei, Philomela, Arachne und Penelope, mittels ihrer Gewebe mitteilen, so dass diese weniger die klassische Beschäftigung der folgsamen Ehefrau, sondern vielmehr als chiffrierte weibliche Ausdrucksform betrachtet werden können, die zur Durchsetzung femininer Interessen eingesetzt werden. Dabei wird das Gewebe als Substitut des männlichen, mündlichen Diskurses vornehmlich dazu eingesetzt, unangenehme Wahrheiten, unbequeme Tatsachen und traumatische Erlebnisse zu enthüllen, was auf mündlichem Wege nicht möglich ist: Philomela hindert ihre Stummheit, ihr abgelegenes Gefängnis sowie ihre Scham daran, ihr Schicksal zu verbalisieren; Penelopes Stimme wird weder durch ihren Sohn Telemachos, noch durch die Freier gehört oder befolgt; Arachne erwidert auf die Einschüchterungsversuche Minervas in derselben Bildersprache wie diese selbst, und hält ihr die zahlreichen moralischen Verfehlungen der Götter vor Augen. Während es sich bei den Kunstwerken Philomelas und Arachnes um regelrechte ‚sprechende Textilien‘ handelt, ist das Weben und Auftrennen von Penelopes Leichentuch des Schwiegervaters im Kontrast zur machtvollen Stimme ihres Sohnes Telemachos zu verstehen, und kann somit ebenfalls als Stimmersatz und Kommunikationsmittel gewertet werden. Die Tatsache, dass auch die Göttin Minerva das Webschiffchen als Ausdrucksmittel wählt, unterstreicht den femininen Charakter der Kommunikationsform und zeigt gleichzeitig, dass trotz des Machtgefälles zwischen Göttin und Sterblicher bildhafte Darstellungen gewaltige emotionale Reaktionen hervorrufen können, was die textile Stimme auf denselben Rang wie die verbale Stimme stellt. Wenn man den Philomela-Mythos unter dem Blickwinkel der Komplementarität zweier unterschiedlicher Ausdrucksformen betrachtet, so scheint es, dass er geradezu um diese beiden Pole herum konstruiert ist. Tereus charakterisiert sich den gesamten Mythos hindurch vorwiegend durch sein Sprechen.22 Um Philomelas Vater Pandion davon zu überzeugen, seine Tochter mit ihm reisen zu lassen, versucht er, vor allem durch schmeichelnde Worte an sein Ziel zu gelangen: „Schon erträgt er den Aufschub kaum; er kehrt zu der Progne Auftrag voll Eifer zurück, dient seinem Wunsch als dem ihren. Und die Liebe macht ihn beredt. So oft er da bat – und öfter bat er als recht – bringt er vor, so wolle es Progne.“23 Und sobald sich Philomela auf dem Schiff des Tereus befindet, kann sich dieser nicht zurückhalten und ruft: „Gewonnen, gewonnen, das Ziel mei-
_____________ 22 Dem Aspekt der Sprache widmet sich ausführlich das Kapitel „Sprache von Gewicht: Formen femininer Artikulation“. 23 V. 467-470; Iamque moras male fert cupidoque revertitur ore ad mandata Prognes et agit sua vota sub illa. Facundum faciebat amor, quotiensque rogabat ulterius iusto, Prognen ita velle ferebat.
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ner Wünsche, mit mir wird es geführt!“24 Selbst seine verbrecherische Absicht kündigt er Philomela gegenüber mit Worten an.25 Nachdem er sie schließlich vergewaltigt und verstümmelt hat, kehrt er zu seiner Frau Progne zurück und berichtet ihr lügnerisch vom Tod der Schwester. Und schließlich verlangt er während des kannibalischen Festmahls mehrfach nach seinem Sohn Itys, dort ist es das letzte Mal, dass er seinem Willen verbal Ausdruck verleiht: Wenn er wenige Augenblicke später in einen Wiedehopf verwandelt wird, verliert er seine menschliche Stimme sowie seine ehemals verbale Macht, lediglich sein langer Schnabel zeugt noch von seiner oralen Gier. Philomela erhält demgegenüber ihre Stimme als Nachtigall zurück. Während sich Tereus den gesamten Mythos hindurch durch sein Reden charakterisiert, ergreift Philomela nur ein einziges Mal das Wort, dies jedoch umso eindrücklicher. Nach ihrer Vergewaltigung klagt sie ihren Schwager in einem langen und eloquenten Monolog an und droht ihm, das Verbrechen öffentlich zu machen. Erst nach dieser Rede schneidet ihr Tereus die Zunge ab, was sie schließlich dazu zwingt, sich auf andere Weise verständlich zu machen. Obgleich Ovid lediglich zwei Verse auf die Beschreibung des Gewebes verwendet, gelingt ihm dies eindrücklich: „Klug bespannt sie mit Fäden den fremden, barbarischen Webstuhl, webt in den weißen Stoff die purpurnen Zeichen: der Untat Künder.“26 Das Adjektiv „barbarisch“ erstaunt zunächst für die Beschreibung eines Webstuhls, doch fällt dieses Wort bereits zuvor zweimal, um die Taten des Tereus zu beschreiben. Zunächst, als dieser sich anschickt, Philomela zu vergewaltigen, und schließlich durch diese selbst, wenn sie ihm droht, von seinem Verbrechen zu berichten. „Or le barbare se définit en fonction de sa langue: il est celui qui ne parle pas grec, celui qui émet des sons perçus comme inarticulés, d’où l’onomatopée qui le désigne.“27 So wird schließlich ein weiteres Mal sichtbar, dass das Gewebe der Philomela als Kommunikationsmedium, der Stoff als Bote betrachtet werden kann: Er artikuliert sich auf nicht artikulierte, ‚wilde‘ Weise, und macht wie in einem Spiegel die grausame Tat des Tereus sichtbar. Was lassen sich nun aus diesen Beobachtungen für Schlüsse für das Verhältnis von Mythos und literarischem Text ziehen? Was berichten uns die Mythen über das tatsächliche, ‚wörtliche‘ Weben? Und ist das, was wir über das mythische Weben erfahren, dazu geeignet, die Verbindung von
_____________ 24 V. 513; „vicimus“ exclamat „mecum mea vota feruntur.“ 25 Er gesteht seinen frevelnden Wunsch (V. 524; fassusque nefas). 26 V. 576f.; stamina barbarica suspendit callida tela purpureasque notas filis intexuit albis indiciuj sceleris. 27 Ballestra-Puech, Sylvie/Gély, Véronique: Philomèle (Procné). Dans: Dictionnaire des mythes féminins. Hg. v. Pierre Brunel. Paris 2002, S. 1566.
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Mythos und Text auf geeignete Weise metaphorisch zu benennen? Es lassen sich aus der obigen Analyse insgesamt drei Aspekte herausfiltern, die die Gewebemetapher für das Verhältnis von Mythos und Text rechtfertigen, ja geradezu für prädestiniert erscheinen lassen. Zunächst zeigt sich innerhalb des mythischen Gewebes dieselbe Verbindung zwischen Sprache und Schrift, wie sie sich auch für das Verhältnis von Text und Mythos beobachten lässt. Wie am Beispiel des Philomela-Mythos gezeigt werden konnte, übernimmt das Gewebe im Mythos oft eine sprachliche Ersatzfunktion. Zwar ist der textile Text ebenso wirkmächtig wie die Sprache, doch unterscheidet er sich von dieser durch seine Materialität. Indem er Schrift oder Bilder in Form von Fäden aus Wolle, Seide oder anderem Material konserviert, ist er im Gegensatz zur mündlichen Sprache dazu in der Lage, räumliche Entfernungen zu überbrücken und somit auch die Zeit zu überdauern. Dafür ist der Mythos der Philomela ein eindrucksvolles Beispiel: Während sich die Heldin in ihrem isolierten Gefängnis befindet, ist ihr Gewebe dazu in der Lage, die räumliche Distanz zwischen ihr und ihrer Schwester zu überwinden und an Philomelas Statt über deren Schicksal zu berichten. Ähnliches gilt für die literarischen Mythen: In Textform auf Pergament oder Papier gebannt, konservieren sie ihre Geschichten über Jahrhunderte hinweg. Trotzdem tragen sie noch sichtbare Spuren ihres oralen Ursprungs, die sich nicht nur in verbalen Gesten, sondern auch in ihren zahlreichen Varianten niederschlagen. Gewebe, Gürtel, Stickerei oder Kleidungsstück – die Modifikationen des Kunstwerks der Philomela zeigen, dass es sich bei literarischen Mythen keinesfalls um statische Texte handelt, sondern dass auch sie der mündlichen Tradition ähnliche Änderungen durchlaufen. Doch ist es nicht nur das Verhältnis von Sprache und Text, das die Gewebemetapher zur Bezeichnung für die Verbindung von Mythos und Literatur legitimiert. Die Bezeichnung des literarischen Schreibens als ein Gewebe entstammt einer Epoche, in der die Mythen noch nicht in Textform existierten, sondern mündlich tradiert wurden. „La métaphore du tissage verbal semble porteuse d’une vérité lointaine, dont les langues indo-européennes gardent le souvenir lexical.“28 Sie ist Zeuge einer archaischen, prähistorischen Zeit, in denen das Dichten noch als Handwerk angesehen wurde, ein einfaches Bild, das zumindest für das Beispiel des Gewebes so komplex ist, dass es die Forschung noch immer beschäftigt. Auch soll noch einmal an die Technik des Webens selbst erinnert werden. Seine Grundform besteht aus dem Übereinanderlegen zweier rechtwinklig zueinander angeordneter Fäden, aus Kette und Schuss. Und
_____________ 28 Scheid, John/Svenbro Jesper: Le métier de Zeus. Mythe du tissage et du tissu dans le monde gréco-romain. Paris 2003, S. 93.
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es sind ebenfalls antagonistische Parameter, die sich im mythologischen Weben, jedoch auch im Verhältnis von Text und Mythos wiederfinden lassen: „La sonorité de la voix remédie au caractère inanimé et silencieux de l’écrit. Opposition nette de deux contraires irréductibles mais complémentaires: la chaîne, c’est ici l’écrit, qui n’attend que la trame de la voix lectrice pour se réaliser pleinement.“29 Gleichzeitig zeigen uns die literarischen Mythen die harmonische Einheit zweier scheinbar unvereinbarer Gegensätze: Stimme und Schweigen, männlich und weiblich schließen sich zu einer Einheit zusammen, wie ein Gewebe, dessen Auflösung unmöglich scheint. Nicht zuletzt ist das eingangs erwähnte Konzept der Intertextualität ein weiterer Schlüsselbegriff, der sowohl für die Beschreibung des mythopoetischen Prozesses, als auch für die Metapher des textilen Textes fruchtbar gemacht werden kann und so ein zusätzliches Scharnier zwischen beiden Bereichen bildet. Durch das unendliche Umschreiben literarischer Mythen, das mit Blumenberg weniger als Degradierung, sondern vielmehr als Charakteristikum des Mythos bezeichnet werden kann, bildet sich im Laufe der Zeit ein immer größer werdender ‚Supertext‘, eine „Echokammer“ (Barthes), in dem Zitate, Verweise und Überlagerungen widerhallen, so dass die festen Konturen der Einzeltexte verschwimmen und Subjekt und Werk dezentriert werden. So bezeichnet auch Roland Barthes, der neben Julia Kristeva, Renate Lachmann und Gérard Genette das Konzept der Intertextualität wesentlich prägte, den literarischen Mythos als ein Gewebe, dessen unzählige Fäden nicht mehr der Autor, sondern allein der Leser zusammenführt: „Wir wissen, dass der Mythos umgekehrt werden muss, um der Schrift [écriture] eine Zukunft zu geben. Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.“30 Ebenso unendlich und dezentriert ist die Struktur eines Gewebes, wofür Scheid/Svenbro das eindrückliche Beispiel der Navaho-Indianer und deren Regeln bei der Herstellung von Geweben anführen. Dort wird den Weberinnen geraten, ein Gewebe nie vollständig zu beenden, sondern immer an einer Stelle eine Öffnung zu lassen, an der später angeknüpft und das Werk erweitert werden kann.31
_____________ 29 Scheid/Svenbro (Anm. 28), S. 101. 30 Barthes, Roland: „Der Tod des Autors.“ In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. u. kommentiert von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez und Simone Winko. Stuttgart 2000, S. 185-193, hier S. 193. 31 Scheid/Svenbro (Anm. 28), S. 10.
III. Die Präsenz des Philomela-Mythos in Maries de France Lai „Laüstic“ Der Titel des Lais „Laüstic“ Maries de France war den damaligen Rezipientinnen und Rezipienten, die einem anderen als dem bretonischen Sprachraum entstammten, wahrscheinlich nicht geläufig: In Wörterbüchern der altfranzösischen Sprache sucht man vergeblich nach einem Eintrag zu diesem Terminus. Dennoch bleibt der Titel der kurzen Verserzählung nicht lange rätselhaft, denn Marie erläutert in den Versen 1 bis 6 ausführlich seine Bedeutung: Une aventure vus dirai, Dunt li Bretun firent un lai: Laüstic ad nun, ceo m’est vis, Si l’apelent en lur païs; Ceo est russignol en franceis E nihtegale en dreit engleis.1
Diese sprachliche Präzisierung ist nichts Ungewöhnliches in den Texten Maries.2 Sie weist nicht nur in zahlreichen ihrer Lais auf den bretonischen Ursprung ihre Inhalte hin3 und benennt mehr als einmal den genauen Ort der Handlung,4 sondern übersetzt auch die Titel ihrer Texte oft ins Französische oder Englische.5 Diese Informationen sind für den heutigen Le-
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V. 1-6; Ich werde Euch von einer abenteuerlichen Geschichte erzählen, über welche die Bretonen einen Lai verfertigten. Er trägt den Titel Laüstic [Nachtigall], wie mir scheint, so nennen sie ihn (jedenfalls) in ihrem Land; im Französischen ist dies „russignol“ und in richtigem Englisch „nihtegale“. Die Übersetzungen ins Deutsche sind jeweils entnommen aus: Marie de France: Die Lais. Übersetzt, mit einer Einleitung, einer Bibliographie sowie Anmerkungen versehen von Dietmar Rieger unter Mitarbeit von Renate Kroll. München 1980. Es existieren zahlreiche Editionen der Lais der Marie de France. Im Folgenden wird die Ausgabe von Philippe Walter verwendet. Sie ist zum einen die zuletzt Erschienene, zum anderen aktualisiert sie besonders im Hinblick auf die Zeichensetzung die Edition Alfred Ewerts (Marie de France: Lais. Edited by Alfred Ewert. Oxford 1944), welche am dichtesten der Handschrift H (British Museum, ms. Harley 978 f° 118-160) folgt. Dies ist die einzige Handschrift, in der alle zwölf Lais überliefert sind, Laüstic ist nur in dieser Handschrift zu finden. Marie de France: Lais. Préface, traduction nouvelle et notes de Philippe Walter. Edition bilingue. Paris 2000. Dunt lis Bretun unt fait des lais (Guigemar V. 20; über welche die Bretonen die Lais verfertigt haben); De un mut ancïen lai bretun (Eliduc V. 1; von einem sehr alten bretonischen Lai). A Kardoel; Lanval, V. 5; En Seint Mallo; Laüstic, V. 7. Quant de lais faire m’entrement, Ne voil ublïer Bisclavret: Bisclavret ad nun en bretan, Garwaf l’apelent li Norman (Bisclavret V. 1-4; Wenn ich (schon) daran gehe, die Lais zu verfertigen, will ich Bisclavret nicht vergessen; Bisclavret heißt er auf bretonisch, Garwaf nennen ihn die Normannen).
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ser in mehrfacher Hinsicht wertvoll. Dadurch, dass sich Marie explizit auf die orale Tradition der Bretonen beruft, verweist sie auf eine ihren Lais vorausgehende Geschichte und eine mündliche Vorläuferschaft, die unmöglich genau zurückzuverfolgen ist und deren Quellen sich in einer undefinierbaren Vorzeit verlieren. So ist auch der Inhalt der Lais, die Marie nach eigenen Angaben lediglich gesammelt und in Versform gebracht hat,6 nicht ihr eigenes Werk, sondern sie erwachsen aus einem kulturellen Fond bretonischer Folklore, überliefert und aufgeführt vor allem durch fahrende Künstler. In diesem Sammelbecken mündlicher Erzählungen befinden sich darüber hinaus nicht nur klare Züge der keltischen Mythologie – so ist z.B. das Element des Feenhaften oft zu beobachten ―, sondern auch der griechisch-römischen. In welcher Form Marie die Geschichten vorlagen, ist nicht eindeutig festzustellen. Zwar spricht sie davon, dass sie diese gehört habe,7 betont wenig später allerdings auch, sie in Reime umgewandelt zu haben.8 Sollte Marie über eine Textvorlage verfügt haben, auf die sie bei ihrer Arbeit zurückgreifen konnte, so ist uns diese nicht mehr erhalten. Die Tatsache, dass sie sich auf eine vorgängige mündliche Tradition der Lais beruft, ist für die Zeit der Entstehung ihrer Werke, die etwa zwischen 1160 und 1189 angenommen wird, nichts Ungewöhnliches.9 Bemerkenswert ist jedoch, dass sie sich in dem Prolog deutlich von dem Unternehmen ihrer Zeitgenossen abgrenzt, Geschichten lediglich vom Lateinischen ins Französische zu übertragen: Pur ceo començai a penser De aukune bone estoire faire E de latin en romaunz traire; Mais ne me fust guaires de pris: Itant s’en sunt altre entremis.10
Damit spielt sie auf die ersten französischsprachigen Romane an, die sich wie z.B. Benoîts de Sainte-Maure „Roman de Troie“, der „Roman de Thèbes“ oder der „Roman d’Eneas“ von den lateinischen Antikenromanen wie der „Thebais“ von Statius oder der „Eneid“ Vergils inspirieren
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M’entremis des lais assembler, Par rime faire e reconter (Prolog V. 47f.; ich machte mich daran, die Lais zusammenzutragen, sie in Reime zu fassen und wiederzuerzählen). 7 Plusurs en ai oï conter (Prolog, V. 39; Mehrere davon habe ich erzählen hören). 8 Rimez en ai e fait ditié (V. 41; Ich habe (davon) einige in Reime gefasst und eine Dichtung daraus gemacht). 9 Zur Datierung der Lais vgl. u.a. Rychner, Jean: Les Lais de Marie de France. Paris 1966, S. X-XII. 10 Prolog, V. 28-32; Deshalb dachte ich zuerst daran, irgendeine gute Geschichte zu verfassen und sie vom Lateinischen in die romanische Volksprache zu übertragen; aber das würde mir kaum Anerkennung einbringen: So viele andere haben sich daran gemacht!
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ließen. Im Gegensatz zu ihren Zeitgenossen möchte sie nicht bereits Bestehendes übersetzen, sondern vielmehr die mündlichen Erzählungen vor dem Vergessen bewahren: Plusurs en ai oï conter, / Ne[s] voil laisser në oblïer.11 Durch die Anfangsverse sowie den Prolog ihrer Lais lässt sich Maries Werk nicht nur innerhalb ihres zeitgenössischen literarischen Kontextes situieren. Auch deren lokaler Entstehungsraum wird für den Leser erschließbar, wenn französische, englische und bretonische Termini ihren Texten vorangestellt bzw. übersetzt werden. Zum einen rechnete Marie augenscheinlich mit Rezipientinnen und Rezipienten, die diesen verschiedenen Sprachräumen entstammten, zum anderen legt sie selbst Zeugnis von ihrer sprachlichen Kompetenz ab, mit der ihr dieser Kulturtransfer gelingt. Was ihre eigene Person betrifft, stimmt die Forschung darin überein, dass Marie im anglo-normannischen England lebte und schrieb. Ein Hinweis dafür ist zum einen ihr Name: Marie ai num, si sui de France,12 so benennt sie sich selbst im Epilog ihrer „Fables“, ein Hinweis, der nur dann sinnvoll erscheint, wenn sie sich zum Zeitpunkt der Äußerung außerhalb der France, das heißt außerhalb der Region der heutigen Ile-de-France aufgehalten hat.13 Über ihre Herkunft hinaus lassen sich in ihrem Werk zahlreiche literarische Einflüsse des „Roman de Brut“ von Wace, sowie des „Roman d’Éneas“ erkennen,14 sodass ihr Standort in diesem kulturellen Umfeld zu vermuten ist. Die Tatsache, dass die Widmung ihrer Lais ebenso wie die der „Fables“ vermutlich englischen Königen zugedacht waren,15 lassen wie ihre gelegentlich von englischen Worten durchzogene Sprache sowie in zwei ihrer Lais offensichtlichen Ortskenntnisse vermuten,16 dass sie im anglo-normannischen England gelebt und gearbeitet hat. Entgegen ihres Namens, der eine Herkunft aus der Pariser Region vermuten lässt, handelt es sich bei der Sprache Maries nicht um den dort benutzten regional gefärbten Dialekt des Altfranzösischen, das sog. ‚Francien‘,
_____________ 11 Prolog, V. 39f.; Mehrere davon habe ich erzählen hören, und ich will sie nicht auf sich beruhen lassen und vergessen. 12 Epilog, V. 4. 13 Über die Nennung des eigenen Namens im Prolog der „Fables“ hinaus fällt der Name ‚Marie’ nur ein einziges Mal innerhalb ihrer Lais (Guigemar V. 3) und ein weiteres Mal in dem ihr zugeschriebenen Text „L’espurgatoire seint Patrice.“ Ob es sich bei allen drei Maries um dieselbe Person handelt, ist nicht mir Sicherheit festzustellen. 14 Zu den Spuren zeitgenössischer Werke in den Texten Maries, sowie Biographie und Chronologie ihrer Werke vgl. die einführende Darstellung von Rychner (Anm. 9), S. VII-XLV. 15 Als Adressat der Widmung der Lais geht die Forschung von Heinrich II. aus, der von 1154 bis 1189 König in England war; die „Fables“ waren wahrscheinlich Guillaume de Mandeville gewidmet, der ebenfalls 1189 starb. 16 „Milon“, V. 332f.; „Eliduc“, V. 486.
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sondern um die Sprache der damaligen intellektuellen Elite, das neben dem Lateinischen im Anglo-Normannischen bestand. Dieser Dialekt wurde vorwiegend in der Normandie und in weiten Teilen Englands gesprochen, linguistisches Resultat der Eroberung Englands unter William the Conquerer 1066. Die Tatsache, dass die damalige Dynastie der Plantagenêts sowohl über England als auch über Westfrankreich herrschte, hatte zur Folge, dass zwischen den Teilen dies- und jenseits des Ärmelkanals trotz geographischer Entfernung literarische Verbindungen geknüpft wurden, für die nicht nur die Werke Maries, sondern auch der „Roman de Brut“ oder auch die Tristan-Dichtungen Bérouls und Thomas’ als prominente Beispiele zu nennen sind. Aus diesen Merkmalen lässt sich ebenfalls die Bildung folgern, die Marie genossen hat. Nicht nur die Tatsache, dass sie – wie aus ihren Widmungen ersichtlich ist ― Verbindungen zum englischen Königshof besaß, und darüber hinaus der Einfluss anderer Werke ihrer Zeit in ihren Texten offenbar ist, sondern auch ihr expliziter Verweis auf Ovid17 sowie Anspielungen auf traditionelle Themen der antiken Rhetorik in dem den Lais vorangehenden Prolog18 unterstreichen ihre Kenntnis des klassischen literarischen Kanons. Ebenfalls wichtig für das Vorgehen bei der Analyse des Lais ist die Bezeichnung, die Marie in ihrem Prolog für ihre Geschichten wählt: Als aventures19 benennt sie die Texte, die sie - wie bereits zitiert - in Versform umwandelt: Rimez en ai e fait ditié. Dadurch werden explizit die beiden großen poetischen Strömungen dieser Zeit, die Troubadour-Lyrik und der höfische Roman, evoziert und miteinander verknüpft, eine Beobachtung, auf die im Folgenden noch zurückgegriffen werden soll, und die die Lais zu einem „socle d’une culture littéraire courtoise en plein épanouissement“20 werden lassen. Innerhalb der vergangenen Jahrzehnte, in denen sich die Forschung mit den Lais der Marie de France auseinandergesetzt hat, hat sich der Schwerpunkt des Interesses mehrfach verschoben. Während z.B. die Interpretation des Prologs noch immer die Forschung beschäftigt, lässt sich in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse an Analysen beobachten, die sich
_____________ 17 Le livre Ovide, ou il enseine / Coment chascun s’amur estreine, / En un fu ardant le gettout. (Guigemar, V. 240-242; Das Buch Ovids, in dem dieser lehrt, wie jeder seine Liebe unterdrücken soll, das warf sie in ein loderndes Feuer). 18 So wird u.a. in V. 10 auf den lateinischen Grammatiker Priscien verwiesen (Priscien en témoigne), oder in V. 15 ausdrücklich auf das Auslegungsverfahren des mehrfachen Schriftsinns angespielt (K’i peüssent gloser la lettre). 19 Prolog, V. 36. 20 Walter (Anm. 2), S. 7.
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jeweils einem einzelnen der insgesamt zwölf überlieferten Lais widmen. In diesem Kontext wurde auch „Laüstic“ neu bewertet. So bezeichnete Ernest Hoepffner diesen Text 1971 noch als „simple anecdote“, „conte primitif“ und „historiette faite de rien“,21 Jaques Ribard spricht von der erdrückenden Nachbarschaft des Textes, der unter der Prominenz der beiden ungleich bekannteren Lais „Chievrefoil“ und „Lanval“ leidet,22 während ihn Michelle A. Freeman 1984 bereits als einen „frequently discussed lai“23 klassifiziert und Kristine Brightenback aufgrund der inhaltlichen Komplexität von einer „poetic tour de force“24 „Laüstics“ spricht. Dass der Lai noch vor dreißig Jahren nicht sehr positiv bewertet wurde, lässt sich aufgrund der frappierenden Symbolkraft des Textes heute nur noch schwer nachvollziehen: Eine verheiratete, höfische Dame wohnt direkt neben einem Ritter, der eine ebenso anerkannte gesellschaftliche Stellung inne hat, wie ihr eigener Ehemann. Favorisiert durch die örtliche Nähe verlieben sich beide, doch sind ihre Zusammenkünfte auf nächtliche Begegnungen beschränkt, bei denen sie sich durch zwei einander gegenüberliegende Fenster der beiden Burgen unterhalten und Geschenke austauschen. Die häufige Abwesenheit der Dame im Ehebett lässt den Mann nach einiger Zeit Verdacht schöpfen und er stellt seine Frau zur Rede. Diese antwortet ihm, dass sie ihn in der Nacht verließe, um dem Gesang der Nachtigall zu lauschen. Daraufhin lässt der verärgerte Ehemann im Garten mehrere Fallen aufstellen, in denen er tatsächlich eine Nachtigall fängt. Diese präsentiert er seiner Frau mit den Worten, nun werde sie nicht mehr um den Schlaf gebracht, dreht dem Vogel den Hals um und wirft ihn ihr an die Brust, wobei er einen blutigen Fleck auf ihrem Gewand hinterlässt. Die Dame, nunmehr einer Entschuldigung für die gemeinsamen Zusammenkünfte am Fenster beraubt, stickt daraufhin eine Botschaft in einen Brokatstoff, in den sie die tote Nachtigall einschlägt und durch einen Boten dem Geliebten überbringen lässt. Dieser ist untröstlich und lässt einen goldenen und mit Edelsteinen besetzten Schrein anfertigen, in dem er den Vogel von nun an immer bei sich trägt.
_____________ 21 Hoepffner, Ernest: Les Lais de Marie de France. Paris 1971, S. 138. 22 Ribard, Jaques: „Le Lai du Laostic: Structure et Signification.“ In: Ders.: Du mythique au mystique. La littérature médiévale et ses symboles. Recueil d’articles offert par ses amis, collègues et disciples. Paris 1995, S. 207-218, hier S. 207. 23 Freeman, Michelle A.: „Marie de France’s Poetics of Silence: The Implications for a Feminine Translatio.“ In: Publications of the Modern Language Association of America 4/99 (September 1984), S. 860-883, hier S. 860. 24 Brightenback, Kristine: „The Metamorphoses and the narrative conjointure in „Deus Amanz“, „Yonec“, and „Le Laüstic“ “. In: Romanic Review LXXII (1981), S. 1-12, hier S. 7.
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So unterschiedlich sich die Bewertungen des Lais in der Forschungsliteratur im Laufe der Jahre darstellen, so konstant ist die Beobachtung der mythischen Elemente, die sich bei der Lektüre offenbaren.25 Insgesamt werden dabei drei verschiedene mythologische Rückgriffe innerhalb des Textes ausgemacht: zum einen die Nähe zu der Geschichte von Pyramus und Thisbe, die sich ebenso wie das bei Marie dargestellte namenlose Paar nur heimlich treffen können und lediglich durch einen Spalt in der Wand, die die benachbarten Häuser von einander trennt, kommunizieren und Geschenke austauschen. Zum anderen erinnert ein Teil des Marie’schen Lais an die Episode des heimlichen Liebespaares Venus und Mars. Auch dort versucht der eifersüchtige Ehemann, Vulcanus, seine Vermutung über den Verbleib seiner treulosen Ehefrau durch eine Falle zu bestätigen. Das Paar verstrickt sich in flagranti in einem von Vulcanus geschmiedeten, haarfeinen Netz, aus dem sie sich nicht mehr befreien können, sodass ihre Liaison für alle sichtbar wird. Schließlich greift der Lai zahlreiche Elemente des Philomela-Mythos auf, eine Beobachtung, die in der Forschung bislang fast ausschließlich durch die Tatsache gestützt wurde, dass beide, Philomela und die namenlose höfische Dame, mit Hilfe eines Gewebes kommunizieren, in das sie Zeichen weben bzw. sticken. Alle drei Geschichten lassen sich in den „Metamorphosen“ Ovids wiederfinden und tauchen im Lai „Laüstic“ in derselben Reihenfolge ihrer Nennung bei Ovid auf. Zunächst wird die Episode von Pyramus und Thisbe zu Beginn des vierten Buches der „Metamorphosen“ erzählt, auf die direkt im Anschluss die der Ergreifung und ‚Verstrickung‘ von Mars und Venus folgt; die Geschichte der Philomela befindet sich schließlich im sechsten Buch des Werkes, sodass die entsprechenden Stationen der Handlung des „Laüstic“ – verbotene Liaison und Kommunikation durch eine Öffnung zwischen benachbarten Häusern, Ertappen der Liebenden durch eine Falle des Ehemanns, stumme Kommunikation durch gestickte bzw. gewebte Zeichen - mit der Abfolge der von Ovid erzählen Mythen übereinstimmen. Obgleich das Rekurrieren Maries auf mythische Elemente fester Bestandteil der Forschung zu ihren Lais ist, gehen die einzelnen Publikationen selten über die Aufzählung der Gemeinsamkeiten hinaus, die sich bei einem entsprechenden Textvergleich feststellen lassen. Auch werden die Beobachtungen oft als Beleg für die Vertrautheit Maries mit den lateini-
_____________ 25 Vgl. u.a. Ferguson, Mary H.: „Folklore in the Lais of Marie de France.“ In: Romanic Review 57 (1966), S. 3-24; Mickel, Emanuel J.: „Antiquities in Marie’s Lais.“ In: In quest of Marie de France, a twelfth-century poet. Edited with an introduction by Chantal A. Maréchal. Lewiston/Queenston/Lampeter 1992, S. 123-137; Walter (Anm. 2), S. 18f.; Aubailly, Jean-Claude: La Fée et le Chevalier. Essai de mythanalyse de quelques lais féeriques des XIIe et XIIIe siècle. Paris 1986.
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schen Klassikern herangezogen, ohne zu berücksichtigen, dass die Autorin möglicherweise bewusst mit dem Subtext spielt, den sie ihren Texten unterlegt,26 um dadurch ihren Werken eine zusätzliche Bedeutungsebene zu verleihen: Die Rezipientinnen und Rezipienten rufen bei der Lektüre zwangsläufig Wissen über andere ihm bekannte Texte auf und integrieren sie in ihre Interpretation.27 Dazu kommt, dass im Falle des hier im Zentrum stehenden Lais „Laüstic“ die Nähe zum Philomela-Mythos in der Forschungsliteratur auf die ‚gewebte Kommunikation‘ der Protagonistinnen beschränkt, wenn nicht sogar völlig negiert wird.28 Aus diesen Gründen steht in den folgenden Überlegungen die Analyse der Präsenz des Philomela-Mythos innerhalb des Lais im Vordergrund. Dabei sollen nicht nur die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Mythemen diskutiert werden, die sowohl bei Marie als auch bei Ovid zu finden sind, sondern ebenfalls danach gefragt werden, wann und aus welchen Gründen bei der Lektüre eine Verbindung zu anderen, thematisch verwandten Texten hergestellt wird. Schließlich soll gezeigt werden, dass die Präsenz des Philomela-Mythos innerhalb des Lais auch bei dessen Interpretation von wesentlicher Bedeutung ist und berücksichtigt werden muss. Um die Präsenz des Philomela-Mythos in Marie de Frances Lai strukturiert analysieren zu können, sollen zunächst die Mytheme mit einander verglichen werden, die sich sowohl in „Laüstic“ als auch in den „Metamorphosen“ beobachten lassen. Auf die Eigenheit Maries, die Titel ihrer Verserzählungen ins Französische oder Englische zu übersetzen, wurde bereits hingewiesen. Dadurch tritt jedoch nicht nur der sprachlich-kulturelle Hintergrund ihres Schaffens deutlicher hervor. Im Fall „Laüstic“ geht dies auch mit der Ankündigung der zentralen Bedeutung einher, die die Nachtigall innerhalb der erzählten Geschichte einnehmen wird. Der bretonische Terminus prangt als Titel über dem Lai, was unzweifelhaft auf seine weitere Symbolkraft hindeutet, und wird in den ersten sechs Versen des Textes insgesamt drei Mal in
_____________ 26 Als Ausnahmen sind jedoch die beiden Aufsätze Freeman (Anm. 23) und Brightenback (Anm. 24) zu nennen, auf die im Folgenden zurückgegriffen werden soll. 27 Die Tatsache, dass Maries Anspielungen auf Ovid nicht nur als Beleg für ihre Kenntnis seiner Werke gelesen werden müssen, betont auch Brightenback: „Thus, when we turn to the lais we must pay heed to specific textual relations which are worked out through precisely adapted frameworks. For this reason, among others, we must be careful to treat Marie’s allusions to the Metamorphoses as more than tags merely to advertise Marie’s familiarity with the Ovidian collection.“ Brigthenback (Anm. 24), S. 2. 28 „What contact, if any, is there between Laüstic and the nightingale or Philomela myth, a myth of life and death?“ Burgess, Glyn S.: „Symbolism in Marie de France’s Laüstic and Le Fresne.“ In: Bulletin bibliographique de la société internationale arthurienne. Vol. 32-33 (1980/1981), S. 258-268, hier S. 259.
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kurzem Abstand wiederholt.29 Nach dieser auffällig deutlichen, zunächst abstrakt bleibenden Nennung fällt das Wort laüstic zum ersten Mal innerhalb der Handlung erst dann, als diese bereits zur Hälfte erzählt ist: Es ist die höfische, namenlose Dame, die die Nachtigall gegenüber ihres Ehemannes erwähnt, indem sie deren Gesang als Grund ihrer nächtlichen Abwesenheit im Ehebett anführt: Il nen ad joië en cest mund / Ki n’ot le laüstic chanter.30 Freeman weist zu Recht darauf hin, dass Vers fünfundachzig, innerhalb dessen die Nennung erfolgt, eine fast mittige Zäsur innerhalb des hundertsechzig Verse umfassenden Textes bildet, ein Detail, das ebenfalls die besondere Bedeutung der Nachtigall andeutet.31 Doch verweist die höfische Dame nicht im wörtlichen Sinne auf den Singvogel: Es ist nicht wirklicher Vogelgesang, der sie nicht schlafen lässt, sondern vielmehr die Sehnsucht nach ihrem Liebhaber und dessen Stimme.32 Ebenso wie der Gesang der Nachtigall nur nachts zu hören ist, bleiben den beiden Liebenden nur die heimlichen, nächtlichen Zusammenkünfte, bei denen sie – verursacht durch die räumliche Trennung - auch lediglich den Anblick und die Stimme des anderen wahrnehmen und dessen Geschenke empfangen können.33 Die nächtliche Dunkelheit sorgt dabei für die stärkere Wahrnehmung akustischer Reize, was sowohl den Gesang der Nachtigall, als auch die Worte der Liebenden sinnlich intensiver erfahrbar machen. Die Nachtigall wird in den Worten der höfischen Dame somit zum Symbol der Leidenschaft des heimlichen Paares, wobei Marie auf einen zeitgenössisch durchaus geläufigen Topos der Troubadour-Lyrik zurückgreift, was der Leserin und dem Leser - und wahrscheinlich auch dem betrogenen Ehemann - bewusst ist. Seine Reaktion auf die Entschuldigung der Dame, sein Lachen „aus Zorn und Unmut“,34 lässt dabei eindeutig darauf schließen, dass er die hintergründige Bedeutung ihrer Worte
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V. 3 Laüstic; V. 5 russignol; V. 6 nihtegale. V. 84f.; Wer die Nachtigall nicht singen hört, der hat auf dieser Welt keine Freude. Freeman (Anm. 23), S. 867. In der Forschungsliteratur wird gelegentlich die Auffassung vertreten, dass das Paar tatsächlich am Fenster dem Gesang einer Nachtigall lauscht. Da jedoch an keiner Stelle des Textes das Singen der Nachtigall beschrieben wird und allein von der nächtlichen Kommunikation des Paares die Rede ist, halte ich diese Interpretation m.E. für zu einfach. Vgl. z.B. Pfeffer, Wendy: The change of Philomel. The Nightingale in Medieval Literature. New York, Bern, Frankfurt a.M. 1985, S. 164. 33 Tatsächlich überwiegen bei der Beschreibung der heimlichen Treffen des Paares Verben, die das Hören und Sprechen beschreiben: Tant pur le bien quë ele oï (V. 27; die Vorzüge, von denen sie hörte); Poeit parler a sun ami / De l’autre part, e il a li (V. 41f.; sie konnte mit ihrem Geliebten reden, und er mit ihr); Que ensemble poeient parler (V. 53; sie konnten miteinander sprechen); E iloec [ne] s’entreveïssent (V. 56; dass sie sich unterhielten). 34 V. 92; De ire e [de] maltalent en rist.
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verstanden hat. Und so beschließt er, der Nachtigall - und damit auch dem heimlichen Paar - eine Falle zu stellen: Le laüstic enginnera.35 Hier ist die Verwendung des Wortes plötzlich ambivalent. Einerseits wird die von der Dame geäußerte, metaphorische Bedeutung aufgegriffen, andererseits das konkrete Handeln des Mannes vorweg genommen, der mit Hilfe seiner Bediensteten eine große Anzahl unterschiedlichster Fallen im Garten aufstellen lässt, um tatsächlich eine Nachtigall zu fangen.36 Freeman, die diese den gesamten Lai hindurch anhaltende, wechselnde Interpretation des Terminus ‚Nachtigall‘ als „changing relationships between object and word“37 bezeichnet, sieht die Ursache dieses initialen Missverständnisses in der Tatsache, dass die höfische Dame eine dem Liebesdiskurs eigene Metapher nicht ihrem Liebsten, sondern dem eifersüchtigen Ehemann gegenüber benutzt und somit einen falschen Code verwendet. Der Ehemann versteht zwar die lyrische Ausdrucksweise seiner Frau, erwidert sie jedoch nicht, sondern reagiert auf sie, indem er sie regelrecht ‚dekonstruiert‘: „The husband has, so to speak, „deconstructed“ the original text.”38 Der Vogel, und mit ihm das Paar, gehen ihm im wahrsten Sinne des Wortes auf den Leim,39 die Dame ist nunmehr ihrer Entschuldigung zum Stelldichein am Fenster beraubt. Indem sie ihren Ehemann um den Vogel bittet, den dieser ihr triumphierend präsentiert,40 bittet sie ihn gleichzeitig um die Möglichkeit, ihre heimliche Beziehung fortzusetzen. Diese Hoffnung wird jedoch zunichte gemacht, als der Mann dem Vogel das Genick bricht, eine Geste, die nicht nur auf das nunmehr zerstörte Singvermögen der Nachtigall – ihren gebrochenen Hals ― anspielt, sondern auch den Tod der nächtlichen Kommunikation des Paares am Fenster bedeutet. Die Tatsache, dass Marie die Verurteilung dieser Handlung als einzige Stelle innerhalb des Lais durch Spiegelstriche in den Text einfügt,41 verleiht ihrer Missbilligung der grausamen Tat ein zusätzliches Gewicht. Ebenfalls charakteristisch für den symbolischen Tod der verbotenen Liebe ist der Blutfleck, den die Nachtigall auf der Brust der Dame hinterlässt, wo sie der eifersüchtige Ehemann hingeschleudert hat. Zwar wird
_____________ 35 V. 94; Er wird der Nachtigall eine Falle stellen. 36 Die Tatsache, dass Marie über fünf Verse hinweg die verschiedenen Arten der Fallen beschreibt, die von den Bediensteten im Garten verteilt werden, verleiht der Szene einen komischen Unterton. 37 Freeman (Anm. 23), S. 866. 38 Freeman (Anm. 23), S. 868. 39 N’i ot codre ne chastainier / U il ne mettent laz u glu (V.98f.; Es gab keinen Haselnussstrauch und keinen Kastanienbaum, wo sie keine Schlinge oder keinen Vogelleim auslegen). 40 A sun seignur l’ad demandé (V. 262; Sie hat sie [die Nachtigall] von ihrem Ehemann erbeten). 41 - De ceo fist il que trop vileins - (V. 116; Damit tat er etwas gar zu Schändliches).
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die genaue Stelle im Text in der deutschen Übersetzung als „Fleck, vorne auf der Brust“42 bezeichnet, doch trifft sicherlich die Übersetzung der französischen Textausgabe Philippe Walters die Bedeutung dieses Ausdrucks am besten, wenn er den Fleck als „genau auf der Stelle des Herzens“43 befindlich bezeichnet: Der Tod der Nachtigall, das Ende der Kommunikation mit ihrem Liebhaber bricht der Dame das Herz. Auch wenn die Nachtigall in ihrer metaphorischen Bedeutung durch die Handlung des Ehemannes auf ein konkretes Objekt reduziert wird, bleibt sie jedoch nicht als solches bestehen, sondern behält innerhalb des Textes durchgehend eine symbolische Bedeutungsebene bei. Während die namenlose Dame noch zuvor das Wort laüstic völlig unabhängig von einer realen Nachtigall verwendete – zwar wird der beginnende Frühling und der Vogelgesang erwähnt und damit auch die Jahreszeit benannt, in der die Nachtigall traditionellerweise zu singen beginnt, doch ist nie die Rede vom Gesang einer Nachtigall – verbindet sie nun ihren eigenen, metaphorischen Gebrauch mit dem tatsächlichen Vogel, um den Liebsten über die veränderten Umstände in Kenntnis zu setzen. Während ihr die unglücklich gewählte und von ihrem Ehemann ‚dekonstruierte‘ Äußerung zum Verhängnis wurde, nutzt sie dieses sprachliche Missverständnis nun, um noch einmal im Verborgenen zu kommunizieren. Die getötete Nachtigall setzt zwar einerseits ihrer nächtlichen Kommunikation am Fenster ein Ende, gibt ihr jedoch andererseits die Möglichkeit zu einem letzten Austausch, in dem sich symbolische Bedeutung und tatsächliche Nachtigall miteinander verbinden. Eingehüllt in einen Stoff mit erklärenden Zeichen sowie begleitet durch einen Boten, sendet sie die tote Nachtigall ihrem Liebhaber und berichtet ihm so von den Ereignissen. Dabei war zuvor ihre besondere Sorge, dass dieser glaubte, sie würde ihn vernachlässigen, wenn sie sich nicht mehr am Fenster einfinde44 – die Kommunikation könnte ein weiteres Mal misslingen, so wie sie zuvor mit ihrem Ehemann misslang. Doch ihr Plan ist erfolgreich, der Geliebte versteht – im Gegensatz zum Ehemann – die überbrachte Botschaft. Während sie zu Beginn einen falschen Code zur Kommunikation wählte und eine metaphorische Formulierung an ihren eifersüchtigen Mann und nicht an ihren Liebhaber richtete, geschieht nun das Gegenteil. Der tatsächliche Vogel wird durch eine explizite Botschaft begleitet, und trotzdem von ihrem Liebsten als Symbol ihrer Verbindung verstanden. Indem dieser den toten Vogel schließlich in einem kostbaren Schrein verschließt, wird die Nachtigall
_____________ 42 V. 119; Un poi desur le piz devant. 43 „[…] juste à l’endroit du coeur.“ In: Walter (Anm. 2), S. 265. 44 Il quid[e]era que jeo me feigne (V. 131; Er wird glauben, dass ich säumig bin).
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auch unabhängig von dem bestickten Stoff zum Sinnbild ihrer gegenseitigen Zuneigung. Besonders interessant ist, dass an keiner Stelle des Lais der Gesang der Nachtigall erwähnt wird, obgleich es doch ihre außergewöhnliche Stimme ist, der sie ihren besonderen Ruf verdankt. Im Gegenteil: Zunächst als Metapher für die heimlichen Gespräche des Liebespaares verwendet, führt ihre Erwähnung schließlich zum Verstummen dieser Stimmen, ein Schicksal, dass durch ihren umgedrehten Hals besonders deutlich wird. Ebenso bedarf das Versenden des toten Körpers sowohl des bestickten Stoffes als auch der erklärenden Worte des Boten, um dem Ritter das Geschehen mitzuteilen – selbst die tote Nachtigall spricht nicht für sich. Erst nachdem sie nicht nur stumm, sondern auch im Innern des versiegelten Schreins völlig unsichtbar geworden ist, regt ihre Existenz die Stimmen der Menschen an. Das auffällig kostbare Kästchen lädt nicht nur zum Erzählen der Begebenheit ein, auch der vorliegende Lai selbst resultiert aus der Geschichte, in dessen Zentrum sich die Nachtigall befindet. Ihre Nennung in der Mitte des Lais und ihr dreifaches Erwähnen zu seinem Beginn zeigen dies ebenso an wie die letzten beiden Verse, die wiederum auf den Anfang verweisen und die Geschichte durch die Nachtigall regelrecht einrahmen: Un lai firent li Bretun: / Le Laüstic l’apelë hum.45 Auf diese Weise erinnert der kostbare Schrein an prachtvolle mittelalterliche Codices: Als Statussymbole begehrt und mit Schmuck prunkvoll verziert, beinhalten sie Geschichten, ebenso wie aus dem wertvollen Kästchen die Begebenheit der Nachtigall entspringt. Es lässt sich festhalten, dass ein wesentliches Moment des Lais in der Umkehr traditioneller literarischer Bilder besteht. Die Nachtigall, bekannt durch ihren Gesang, bleibt die gesamte Verserzählung hindurch stumm; es ist das Paar, das an ihrer Stelle spricht und ihren Gesang lediglich zitiert. Auch das Aufrufen des Bildes der Nachtigall geschieht nicht wie gewöhnlich durch die Autorin oder den Autor, sondern Marie legt es ihrer Protagonistin in den Mund, die es wiederum auf metaphorische Weise verwendet. Zwar funktioniert die Nachtigall in den Worten der höfischen Dame als Symbol ihrer Liebe, doch trägt sie nicht zur Vereinigung, sondern zur Trennung des Paares bei. Es ist nicht die Stimme der Nachtigall, sondern ihr Tod, ihre Stummheit und ihre Unsichtbarkeit, die dazu führen, dass der Lai als solcher entstanden ist. Betrachtet man Präsenz und Funktion der Nachtigall in der Ovid’schen Fassung des Mythos, so lassen sich zahlreiche Parallelen sowie Spiegelun-
_____________ 45 V. 159f.; Die Bretonen verfertigten einen Lai darüber: Man nennt ihn Le Laüstic (Die Nachtigall).
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gen und Auslassungen bei der Verwendung dieses Motivs feststellen. Zunächst fällt auf, dass das Wort ‚Nachtigall‘ kein einziges Mal innerhalb des Ovid’schen Textes genannt wird, ja es sogar überhaupt nicht klar ist, in was für einen Vogel sich Philomela verwandelt. Während die Beschreibung des Federkleides die Metamorphose Prognes in eine Rauchschwalbe nahe legt,46 und Tereus’ Verwandlung in einen Wiedehopf explizit erwähnt wird,47 bleibt die Transformation Philomelas vage. Zum einen rechtfertigt die kurze Bemerkung, dass der Vogel, in den sie sich verwandelt, „zum Walde strebt“48 die Annahme, dass sie zur Nachtigall wird. Auch die Tatsache, dass Philomela in einem langen Klagemonolog nach ihrer Schändung ankündigt, sie wolle den Wald mit ihrer Stimme erfüllen und die Steine mit ihrer Klage erweichen, kann als Hinweis auf ihre spätere Metamorphose gelesen werden. Dass sich trotz dieser nicht sehr präzisen Passagen die Verwandlung Philomelas in eine Nachtigall bereits zur Zeit Maries de France als Interpretation durchgesetzt hat,49 lässt sich unter anderem daran feststellen, dass sich in der Literatur des europäischen Mittelalters ‚philomela‘ als Synonym für ‚luscinia‘, dem klassischen lateinischen Wort für Nachtigall, etabliert hat. Auch die Tatsache, dass die in dieser Arbeit untersuchten Texte, die in etwa zeitgleich zu Maries Lais entstanden sind – die „Philomena“ Chrestiens de Troyes, sowie die durch Wickram überlieferte Version Albrechts von Halberstadt – von der Verwandlung Philomelas in eine Nachtigall berichten, bestätigt die Vermutung, dass Marie – trotz der Vagheit Ovids – diese Tradition kannte. Dort, wo Ovid sich über die Verwandlung Philomelas bedeckt hält, steht die Nachtigall sowohl als Objekt, als auch als Symbol im Mittelpunkt des Marie’schen Textes - dies jedoch, ohne dass auch nur ein einziges Mal der Name ‚Philomela‘ verwendet wird. Eine ebenso konträre Beobachtung lässt sich bezüglich des Auftauchens der Nachtigall innerhalb der beiden Texte machen. Die Nachtigall bei Marie ist mit dem Titel des Lais und somit direkt zu Beginn präsent, wird in den ersten Versen wiederholt erwähnt und ist anschließend auf zwei verschiedenen Bedeutungsebenen – als Objekt und als Symbol –
_____________ 46 Neque adhuc de pectore caedis excessere notae, signataque sanguine pluma est (V. 669f.; Noch heute sind die Male des Mordes nicht von der Brust ihr getilgt und mit Blute gezeichnet die Federn). 47 nomen epops volucri (V. 674; Wiedehopf heißt er). 48 V. 686; quarum petit altera silvas. 49 So bezeichnet z.B. Cargo die Verwandlung Philomelas in eine Nachtigall als den Mittelpunkt des Mythos: „[…] the story in Book VI of the Metamorphoses, where Ovid treats the Greek legend which, in it’s adapted form, has at it’s center the story of Philomela and her metamorphosis into the nightingale.“ Cargo, Robert T.: „Marie de France’s Le Laustic and Ovid’s Metamorphoses.“ In: Comparative Literature 18 (Spring 1966), S. 162-166, hier S. 162.
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existent. Dabei ist zu beobachten, dass die tatsächliche Nachtigall in der Mitte der Erzählung auftaucht, dann jedoch nach und nach verschwindet. Erst wird sie mit einer Falle gefangen, dann von dem Ehemann getötet, danach von der höfischen Dame in ein Gewebe eingehüllt und schließlich in einem Schrein versiegelt. Von dem öffentlichen Einfangen im Garten bis zum völligen Verschwinden unter dem Deckel des Kästchens wird die Nachtigall in der Geschichte Maries immer weniger sichtbar, während sie bei Ovid erst am Ende des Mythos auftaucht, ja regelrecht dynamisch entsteht: „Wie auf Flügeln schienen die attischen Frauen zu schweben, und – sie schwebten.“50 Es sind die Vögel, in die sich die drei Hauptfiguren Tereus, Philomela und Progne verwandeln, die als ‚Endprodukte‘ das Geschehen bezeugen und als gewöhnliche Tiere die Welt bevölkern. Nur wer den Mythos kennt, weiß die Geschichte zu erzählen, die sich hinter den Vögeln verbirgt. Bei Marie ist es genau anders herum. Das ungewöhnlich kostbare Kästchen gibt den Anlass, von der Nachtigall in seinem Inneren und der Begebenheit zu berichten. Dabei wird die Nachtigall zum Ausgangspunkt, von allen drei beteiligten Figuren – denn hier geht es ebenfalls um eine Dreiecksgeschichte, bestehend aus der Dame, ihrem Mann und dem Liebhaber – zu berichten, aus ihr ‚entstehen‘ alle drei Personen. Auch der Akt der Metamorphose ist in beiden Texten vorhanden, doch an jeweils unterschiedlichen Stellen und aus anderen Motiven. Bei Ovid erfolgt die Verwandlung am Ende der Geschichte, um den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen und Tereus daran zu hindern, die beiden Schwestern mit dem Schwert zu erschlagen. Bei Marie ist die Gewalt bereits durch das Töten der Nachtigall erfolgt, ebenso wie die Metamorphose. Die Nachtigall verwandelt sich vom Symbol zum Objekt und vereint schließlich beides in sich selbst, wenn sie sich am Ende der Geschichte in dem kostbaren Schrein befindet. Die Idee der Metamorphose wird bei Marie somit einen Schritt weiter gedacht. Dort, wo Ovid den Mythos mit der Verwandlung Philomelas in eine Nachtigall beendet, beginnt Marie mit eben dieser Nachtigall, die sich nicht wie bei Ovid von einem Seinszustand in einen anderen verwandelt, sondern deren Bedeutung einem Wandel unterliegt. Schließlich weisen auch die beiden weiblichen Hauptfiguren der zwei Texte, Philomela und die namenlose höfische Dame, einige Parallelen auf. Beide werden unter Zuhilfenahme von Gewalt zum Schweigen gebracht: Philomela durch das Verstümmeln ihrer Zunge und das Einsperren in der Abgeschiedenheit, die höfische Dame durch die strenge Überwachung
_____________ 50 Ebda, V. 667f.
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durch ihren eifersüchtigen Ehemann51 sowie durch das Töten der Nachtigall, das ihr die Möglichkeit der nächtlichen Unterhaltung mit ihrem Liebhaber nimmt. In beiden Fällen ist es auch die Figur des Singvogels, die die Geschichte der Gewalt in gewissem Sinne ‚öffentlich‘ macht. Auch wenn er bei Marie innerhalb des Schreins unsichtbar ist, gibt der Vogel den Anlass, dem Betrachter des Kästchens die Begebenheit zu erzählen und vom traurigen Schicksal des Paares zu berichten. Auf diese Weise erhalten sowohl die namenlose Dame bei Marie, als auch Philomela nach ihrem gewaltsamen Verstummen in der Rolle der Nachtigall eine Art ‚Sprachrohr‘, mit dessen Hilfe ihr Schicksal an eine Außenwelt kommuniziert wird. Neben den unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen, die mit der Figur der Nachtigall verknüpft sind und die in den Texten Maries und Ovids festgestellt werden konnten, lassen sich zahlreiche weitere Parallelen beobachten, die um den Motivkomplex des Gewebes herum angesiedelt werden können. Auch dort zeigen sich Gemeinsamkeiten sowie gegensätzliche Verwendungen im Umgang mit diesem Mythem. Während es im Philomela-Mythos Ovids nur ein Gewebe gibt, in das die Protagonistin das ihr Widerfahrene hineinwebt und das sie ihrer Schwester überbringen lässt, werden bei Marie sogar zwei verschiedene Gewebe erwähnt, die für das Geschehen bedeutsam sind. Das erste Mal wird im Text über ein Textil berichtet, als der Ehemann die Nachtigall tötet und seiner Frau den toten Vogel an die Brust schleudert. Dabei hinterlässt die Nachtigall einen blutigen Fleck auf dem Gewand der Dame: Sur la dame le cors geta, / Se que sun chainse ensanglanta.52 Das altfranzösische chainse lässt sich als Leinen- oder Nesselstoff, als Bluse oder langes Damen-Gewand übersetzen, dass aufgrund der Definition über seine Qualität in der Regel als weißes Kleidungsstück angesehen werden kann, was verschiedene altfranzösische Wörterbücher bestätigen.53 Das Blut der Nachtigall auf dem weißen Kleid der Dame erinnert dabei in seinem farblichen Kontrast stark an das Gewebe der Philomela in der Fassung Ovids: purpureasque notas filis intexuit albis, indicium sceleris.54 Die Tatsache, dass es
_____________ 51 Kar la dame ert estreit gardee, / Quant cil esteit en la cuntree (V. 49f.; denn die Dame wurde streng bewacht, wenn jener [Ritter] in der Gegend war). 52 V. 117f.; Auf die Dame warf er den Leichnam (des Vogels), so dass er ihr (Unter)Kleid – vorne, auf der Brust – ein wenig blutig machte. 53 Dies bestätigen einschlägige Wörterbücher des Altfranzösischen; vgl. Greimas, Algirdas Julien: Dictionnaire de l’ancien français. Paris 2001, S. 93, Eintrag ‚chainse‘: „[…] ordinairement blanc.“ Auch die Textbeispiele, die der Tobler-Lommatzsch anführt, zeigen, dass in etwa der Hälfte der Fälle das Wort chainse durch das Adjektiv blanc/blanche begleitet wird. Vgl. Tobler, Adolf/Lommatzsch, Erhard: Altfranzösisches Wörterbuch. Zweiter Band C-D. Berlin 1939, S. 166f., Eintrag ‚chainse‘. 54 V. 577; sie webt in den weissen Stoff die purpurnen Zeichen: der Untat Künder.
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sich bei dem Gewebe um ein Kleidungsstück handelt, das sie auf ihrem Körper trägt, wahrscheinlich sogar um ihr Unter- oder Nachtkleid, verleiht der Szene ebenfalls eine sexuelle Konnotation, die somit ein weiteres Mal an die purpurfarbenen Zeichen der Philomela denken lassen, die auf weißem Stoff das Blut ihrer Vergewaltigung und Verstümmelung versinnbildlichen. Auch bei Marie ist es Blut, das mit Gewalt vergossen wurde – zwar ist es nicht das der höfischen Dame, doch die Tatsache, dass sich der Blutfleck über ihrem Herzen befindet, macht deutlich, dass der Tod der Nachtigall und somit das Ende der Kommunikation mit ihrem Liebhaber auch ihr Innerstes betreffen. Darüber hinaus erinnert dieser Gestus an die Passage des Ovid’schen Philomela-Mythos, in der Philomela ihrem Peiniger das abgetrennte, blutige Haupt des Itys ins Gesicht wirft. In beiden Momenten wird Rache genommen und gleichzeitig durch das Blut auf Kleidung und Körper das Ende einer Bindung demonstriert. Die getötete Nachtigall verdeutlicht unmissverständlich den Tod bzw. die Trennung des heimlichen Paares, der Kopf des Itys, dem zuvor ebenso wie der Nachtigall der Hals gebrochen bzw. durchgeschnitten wurde, offenbart das Einverleiben des Sohnes durch den eigenen Vater. Doch ist nicht nur an dieser Stelle des Lais die Rede von einer Textur, auf der sich bedeutungstragende Male und sinnbildliche Spuren befinden. Ebenso wie Philomela in der Ovid’schen Fassung des Mythos kommuniziert auch bei Marie die weibliche Protagonistin mit Hilfe von Zeichen, die sie in einen Stoff hineinwirkt. Während es bei Ovid ein nicht näher definiertes Gewebe ist, das Philomela zur Übermittlung ihrer Botschaft benutzt, handelt es sich in Laüstic um einen Brokatstoff, in das die Dame Zeichen hineinstickt. Dennoch ist die Art der Kommunikation, die die beiden Frauen wählen, in mehrerer Hinsicht vergleichbar. Beiden ist eine offene Sprache verwehrt, und zwar sowohl aus Gründen der Heimlichkeit ihrer Kommunikation, als auch aufgrund praktischer Hindernisse. Philomela ist die Sprache aufgrund der Verstümmelung ihrer Zunge unmöglich, und beide Frauen müssen eine örtliche Distanz zu dem Empfänger ihrer Botschaft überbrücken. Auch befinden sie sich unter strenger Bewachung: die höfische Dame durch den eifersüchtigen Ehemann, Philomela unter der Kontrolle von Wachen.55 Somit bedürfen sie einer Form der Mitteilung, die keinerlei Verdacht erregt, sodass sich die weiblich codierte Tätigkeit der Handarbeit, des Stickens oder Webens dafür anbietet. Ebenfalls gemeinsam ist beiden, dass ihre ungewöhnliche Art der Kommunikation
_____________ 55 Marie greift hier den Topos der malmariée auf, bei dem der Ehemann die Untreue seiner Frau vermutet und sie zu diesem Zweck einschließt. Auf diese Weise verbindet sie ein Element der volkssprachlichen Lyrik mit dem antiken Mythos von Pyramus und Thisbe.
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erfolgreich ist. Die Empfängerin bzw. der Empfänger entschlüsselt die geheime Botschaft und kann entsprechend darauf reagieren. Ein weiteres Charakteristikum der textilen Texte der beiden Frauen ist die unklare Beschaffenheit der Zeichen, die sich auf dem Stoff befinden. Ebenso wie die notas, die Philomela bei Ovid in den Stoff hinein webt, weder eindeutig als Schriftzeichen noch als Bilder interpretiert werden können,56 bleibt auch Marie in der Beschreibung dessen vage, was die höfische Dame in den Brokat stickt: En une piece de samit, /A or brusdé et tut escrit, / Ad l’oiselet envolupé.57 Obgleich die hier zitierte Ausgabe Dietmar Riegers das altfranzösische Verb escrire durch das neuhochdeutsche ‚beschriften‘ übersetzt, ist diese Lesart keinesfalls zwingend. Die Ambiguität der Zeichen, die sich auf dem Gewebe befinden, lässt sich darüber hinaus nicht nur bei Ovid und Marie, sondern auch bei nahezu allen anderen Varianten des Mythos feststellen, eine Beobachtung, die ebenso wie das Element der gewebten Kommunikation eine Konstante innerhalb der zahlreichen Fassungen des Mythos bildet. Die Tatsache, dass das Fragment des Sophokles’schen Dramas „Tereus“ als einer der ältesten Textzeugen dieses Mythos die Formulierung des „sprechenden Webschiffchens“ tradiert,58 mag neben der hohen Symbolkraft dieser Passage – so vermutet Cargo59 - zu seiner Konservierung beigetragen haben. Die umfassendste Diskussion der Frage, ob es sich um skripturale oder pikturale Zeichen handelt, die auf dem Stoff zu sehen sind, lässt sich dabei in der Forschung zu Maries de Frances „Laüstic“ feststellen, sodass sie an dieser Stelle kurz dargestellt werden soll. Jean Rychner bemerkt als erster in einer Anmerkung seiner Ausgabe der Marie’schen Lais zum Verb escrit innerhalb des entsprechenden Verses von Laüstic: „La dame a brodé sur le brocart le récit de l’aventure […] Phi-
_____________ 56 An dieser Stelle irrt Freeman, die trotz ausführlicher Diskussion der Text-BildProblematik annimmt, es handle sich bei Philomelas Zeichen um keine Schriftzeichen: „Such a combination – wordless text an unknowing messenger – prevailed in the Ovidian model, but it is not the only possible solution to Marie’s poem.“ Freeman (Anm. 23), S. 880. 57 V. 135-137; In ein Stück goldbestickten und ganz beschrifteten Samtstoffs hat sie das Vögelchen eingewickelt. 58 Das Sophokles’sche Bruchstück, das diese Stelle überliefert, ist nicht erhalten, doch wird die entsprechende Passage durch Aristoteles in seiner „Poetik“ zitiert: „Dasselbe gilt von der ‚Stimme‘ des Weberschiffs im „Tereus“ des Sophokles.“ Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Suttgart 1982. 16.4, S. 51. 59 „Perhaps because of its significance, this element in the legend appears to have undergone relatively few changes. Its presence may be intimated from the fragmentary tragedy of Sophocles, Tereus, which represents one of the oldest surviving literary treatments of the Philomela story.” In: Cargo (Anm. 49), S. 164.
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lomena use du même stratagème pour raconter ses malheurs à sa sœur Prokné.“60 Jean Frappier widerspricht dieser Annahme und bezweifelt zum einen die materielle Vergleichbarkeit der beiden Gewebe,61 zum anderen den schriftlichen Charakter der Zeichen, die die Dame auf den Stoff gestickt hat: „Et pourquoi la dame aurait-elle confié à un messager le soin de conter l’aventure au chevalier son ami […], si elle l’avait brodée entièrement sur l’étoffe ?“62 Darüber hinaus weist er darauf hin, dass die Bedeutung des altfranzösischen escrire als ‚zeichnen‘ oder ‚malen‘ zu dieser Zeit durchaus geläufig war und bezeichnet die Formulierung Brusdé et tut escrit als synonymische Redundanz, die der stilistischen Eleganz der Epoche entspreche. Robert T. Cargo weist auf ein vergleichbares interpretatorisches Problem des Lais „Le Chèvrefeuille“ hin, in dem Tristan der Königin Isolde eine in einen Stock geschnitzte, heimliche Botschaft überbringen lässt, und dessen Zeichen ebenfalls nicht genau als Buchstaben oder Bilder klassifiziert werden können. Cargo vermutet dabei mit Spitzer, der sich in einem Aufsatz genau diesem Problem in „Le Chievrefueil“ widmet, ohne dabei auf die Parallele zu „Le Laüstic“ einzugehen,63 dass es sich aus Platzgründen nicht um einen umfangreichen Text, sondern vielmehr um ein einzelnes Wort wie zum Beispiel einen Namen oder auch eine symbolische Figur handeln könne, die sich auf dem Stoff befindet. Eine genaue Definition der Zeichen bleibt, so Cargo, dabei ausgeschlossen und sei auch gar nicht erwünscht: „The extension of the meaning of escrire to signify „represent“, „show“ or „depict“ is not only admissible, but almost certainly intended here [...].“64 Aufgrund der Tatsache, dass bei dem von Chrétien innerhalb des „Ovide Moralisé“ ebenfalls erzählten PhilomelaMythos auch das Verb escrire verwendet wird, es sich in der anschließenden Beschreibung jedoch um pikturale Darstellungen handelt, die auf dem Gewebe abgebildet sind, neigt Cargo letztendlich zu der Annahme, es handle sich um eine bildhafte Szene, die die Dame auf den Stoff stickt womöglich das Paar, das gemeinsam dem Gesang der Nachtigall lauscht. Mit der Frage nach Schrift oder Bild auf dem Stoff ist auch die Frage nach dem Boten verbunden, der sowohl bei Marie, als auch bei Ovid mit
_____________ 60 Rychner (Anm. 9), S. 269. 61 „La cortine où Philomena avait brodé l’histoire de ses malheurs devait être de dimensions tout autres que le morceau de brocart enveloppant l’oiselet.“ Frappier, Jean: „Une édition nouvelle des Lais de Marie de France.“ In: Romance Philology 4/22 (1969), S. 600-613, hier S. 608. 62 Frappier (Anm. 61), S. 608. 63 Spitzer, Leo: „La Lettre sur la Baguette de Coudrier’s dans le Lai du Chievrefueil“. In: Romania LXIX (1946/47), S. 80-90. 64 Cargo (Anm. 49), S. 165.
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dem Überbringen der Nachricht betraut ist. Bei Ovid ist es eine Magd, die Philomela durch Gebärden bittet, das Gewebe zur Königin Progne zu bringen,65 bei Marie ein Knecht, der dem Ritter nicht nur die verhüllte Nachtigall, sondern auch mündlich die Geschichte dessen überbringen soll, was geschehen ist. Während bei Ovid das Gewebe das Einzige zu sein scheint, was die Magd der Königin übergibt, wird bei Marie in mehreren Versen das Zuhören des Ritters betont: De part sa dame dist saluz, Tut sun message li cunta, Le laüstic li presenta. Quant tut li ad dit e mustré E il l’aveit bien escuté De l’aventure esteit dolenz.66
Die Begleitung der gestickten Botschaft durch eine zweite, mündliche, macht es noch schwieriger, die Beschaffenheit der ersten zu entschlüsseln. Wenn die Dame dem Knecht das Überbringen einer ausführlichen, mündlichen Botschaft aufgetragen hat, warum sollte sie ihm zusätzlich eine zweite, schriftliche, in mühevoller Handarbeit hergestellte Botschaft gleichen Inhalts mitgeben? Wäre eine solche Redundanz möglicherweise durch ihren Zweifel an einer erfolgreichen Kommunikation gerechtfertigt, den sie seit der missglückten Ausdrucksweise ihrem Ehemann gegenüber hegt, und dem sie in einem inneren Monolog Ausdruck verleiht, der sich über neun Verse erstreckt?67 Oder handelt es sich bei der mündlichen Botschaft nur – wie Cargo vermutet68 – um wenige Worte, die lediglich einen Gruß der Absenderin zum Inhalt haben, und sich die eigentliche Mitteilung auf dem Stoff befindet, nicht lesbar für den schriftunkundigen Knecht? Freeman gibt ebenfalls die Möglichkeit zu bedenken, dass es sich bei dem Boten auch um eine in das Geschehen eingeweihte und den Protagonisten vertraute Person, ähnlich z.B. der Brangäne des Tristan, handeln könnte.69 Die Tatsache, dass die Ambiguität der Zeichen auf dem Stoff ebenso wie die Boten, die dem sprechenden Gewebe in manchen Versionen des Mythos mitgegeben werden, in nahezu allen Texten bestehen bleibt, stützt für mich die These, dass es sich hier nicht um eine wie von
_____________ 65 perfectaque tradidit uni, utque ferat dominae gestu rogat. (V. 578f.; Sie gab einer Magd das Gefertigte, bat durch Gebärden, dass sie es bringe der Herrin). 66 V.142-147; Er entbot ihm die Grüße seiner Dame, erzählte ihm seine ganze Botschaft und überreichte ihm die Nachtigall. Als er ihm alles gesagt und dargelegt hat und der (Ritter) ihn wohl angehört hatte, war dieser bekümmert über den Vorfall. 67 Vgl. V. 126-134. 68 Cargo (Anm. 49), S. 166. 69 Vgl. Freeman (Anm. 23), S. 880.
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Freeman angenommene, Marie eigene „poetic of silence“70 handelt, sondern um ein dem Mythos eigenes Element, das sich durch seine Offenheit auszeichnet. Das wesentliche Moment dieser Passage besteht weniger in der Frage nach Schrift oder Bild der Zeichen, sondern vielmehr darin, dass es zwei Liebenden möglich ist, so miteinander zu kommunizieren, dass es nur für sie und sonst niemanden verständlich ist. Wie diese Verständigung konkret aussieht, bleibt dabei der Imagination des Rezipienten überlassen.71 Ähnlich sieht es Spitzer in Bezug auf die enigmatische Botschaft, die Tristan in dem Lai „Chevrefoil“ seiner Geliebten Isolde in einen Stock eingeritzt zukommen lässt: „C’est l’amour seul qui, Tristan le sait, aiguisera l’intelligence de l’amante, au point de lui faire découvrir l’image du coudrier et du chèvrefeuille (ce dernier n’apparaît pas dans le ,texte‘ du message – il appartient entièrement à son ,esprit‘) et de lui faire murmurer les deux beaux vers finaux [lines 77-78], comme si elle les avait entendues de la bouche de Tristan : le sens du message ,parle à ses oreilles.‘ “72
Handelt es sich bei den Ähnlichkeiten, die beim Vergleich der beiden Motivkomplexe der Nachtigall und des Gewebes festgestellt werden konnten, lediglich um zufällige gemeinsame Strukturen, die durch eine generelle, literarische Präsenz der antiken Mythen zur Zeit Maries zu erklären sind? Tatsächlich bestätigt die Forschung, dass die Werke Ovids, vor allem die „Metamorphosen“, in der zeitgenössischen Literatur einen festen Platz hatten, und dass im 12. Jahrhundert, den aetas ovidiana, der Einfluss des antiken Autors kaum zu überschätzen ist. Auch auf den konkreten Einfluss Ovids auf die Lais der Marie de France wurde wiederholt hingewiesen, und dies sowohl in Bezug auf die Anordnung ihrer zwölf kurzen Erzählungen in Anlehnung an die - wenn auch wesentlich umfangreicheren – „Metamorphosen“,73 als auch auf ihre Anspielungen auf konkrete Episoden aus demselben Werk.74 Aufgrund der oben erfolgten Analyse des Lais „Laüstic“ möchte ich die These aufstellen, dass es sich bei den festgestellten Gemeinsamkeiten nicht um ein unbewusstes Aufgreifen von sich in einem Sammelbecken befindlicher folkloristischer Elemente, sondern um ein gezieltes Arbeiten
_____________ 70 71 72 73 74
Freeman (Anm. 23), S. 880. Zur Rolle der Imagination bei der Lektüre dieser Passage vgl. ausführlich S. 193ff. Spitzer (Anm. 63), S. 84f. Vgl. Brightenback (Anm. 24), S. 1. Dabei stehen Untersuchungen zu Anspielungen auf den Mythos von Pyramus und Thisbe im Vordergrund; vgl. u.a. Segre, Cesare: „Piramos e Tisbe nei Lai de Maria di Francia.“ In: Studi Lugli-Valeri. Venedig 1961. Band II, S. 845-853; Wathelet-Willem, Jeanne: „Un Lai de Marie de France: ‚Les Deux Amants‘.“ In: Mélanges offerts à Rita Lejeune. Gembloux 1969. Band II, S. 1143-1157; Fasciano, Domenica: „La Mythologie du lai ,Les Deux Amants‘.“ In: Revista de Cultura Clasica e Medioevale XVI (1974), S. 79-85.
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mit ausgewählten Motiven des Philomela-Mythos handelt, der dem Lai als Folie für zahlreiche intertextuelle Verweise dient. Dabei lassen sich zum einen zahlreiche motivliche Parallelen beider Texte beobachten: Das Zum-Schweigen-Bringen der beiden Protagonistinnen und deren heimliche textile Kommunikation, die Dreieckskonstellation der Figuren, die roten Zeichen auf weißem Grund, die enigmatische, schrift-bildliche Beschaffenheit der stummen Botschaft sowie die zentrale Rolle der Nachtigall sind sowohl bei Ovid, als auch bei Marie zu finden und demonstrieren bereits eine deutliche Verwandtschaft der beiden Texte. Darüber hinaus ist ebenfalls das poetische Verfahren der Spiegelung zu erkennen, bei dem die Möglichkeit einer motivlichen ‚Anleihe‘ ausgeschlossen, und ein reflektierter Umgang mit dem Hypotext zwangsläufig vorausgesetzt werden kann. Dort, wo Ovid seinen Text mit der (angedeuteten) Metamorphose Philomelas in eine Nachtigall beendet, beginnt Marie ihren Lai, indem sie den Vogel in drei verschiedenen Sprachen benennt und dieser sich im Verlauf der Geschichte nicht bezüglich seiner Existenzform, sondern seiner Bedeutung vom Objekt zum Symbol verändert. Dabei wird die Nachtigall bei Marie schließlich nicht nur zum Symbol der Verbindung des Paares, sondern sogar zur Metapher des poetischen Prozesses selbst. Indem der Ritter sie in einem kostbaren, versiegelten Reliquiar mit sich trägt, somit den Anlass zum Erzählen der Geschichte liefert und diese schließlich von Marie verschriftlicht wird, ähnelt sie zwar der Nachtigall des antiken Mythos, die durch ihren Gesang an ihr Schicksal erinnert, geht jedoch in ihrer Funktion deutlich über den Aspekt der Erinnerung hinaus. Freeman weist dabei mehrfach auf die Parallele zwischen der höfischen Dame und Marie selbst hin.75 Ebenso wie die namenlose Dame schlaflose Nächte mit ihrem Liebsten am Fenster verbringt und ihm später das Geschehen mündlich und schriftlich zukommen lässt, spricht auch Marie in ihrem Prolog der Lais davon, viele Nächte für deren Verschriftlichung benötigt zu haben,76 so wie auch sie letztlich die Geschichte des Paares zunächst mündlich aufnimmt und schließlich in schriftlicher Form vor dem Vergessen bewahrt. Schließlich lassen nicht nur inhaltliche Parallelen und Spiegelungen, sondern auch Auslassungen von Elementen des Ovid’schen Textes auf einen bewussten Umgang Maries mit dem antiken Hypotext schließen. Bemerkenswert ist die Beobachtung, dass die Autorin den Terminus ‚Nachtigall‘ in drei verschiedenen Sprachen benennt und ein Spiel mit den Veränderungen seiner Bedeutung ins Zentrum ihres Lais stellt, dabei jedoch kein einziges Mal den für die Epoche durchaus geläufigen Ausdruck
_____________ 75 Vgl. Freeman (Anm. 23), S. 867f., S. 869f. 76 Soventes fiez en ai veillié (V. 42; dafür habe ich viele schlaflose Nächte verbracht).
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‚Philomela‘ verwendet. Dies kann zum einen als bewusste Abgrenzung gewertet werden, mit der Marie einen zu offensichtlichen Verweis auf die antike Geschichte verhindert. Zum anderen evoziert dieses Vorgehen ebenfalls den Effekt, dass durch das Fehlen eines offensichtlich zum zeitgenössischen literarischen Kanon gehörenden Elements der Rezipient zwangsläufig diese Leerstelle füllen muss und aktiv an der Konstruktion einer intertextuellen Verweisstruktur beteiligt ist. Durch das bewusste Auswählen von Elementen des Philomela-Mythos gelingt es ihr, ihre eigene Lesart des Mythos anzudeuten. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf dem Komplex der poetischen Produktion, der sich sowohl in der Bearbeitung der Nachtigall-Figur, als auch in dem Motiv des Gewebes niederschlägt, ein Schwerpunkt, der auch deshalb besonders interessant ist, da er letztendlich Maries eigene Arbeit reflektiert: „By having her heroine „write her own story,“ a version of the lai itself which the Lady’s lover „hears“ and makes into his own version, so to speak, Marie has effected in her own fiction a representation of how diverse elements can be brought together and newly valorised by a synthesis which results in a new poetic form. In this way she shows clearly the accretive process she herself has worked through both with Ovid’s tales, and the lais which precede „Le Laüstic“ in her own collection.“77
Brightenback sieht in der selektiven Auswahl einzelner Episoden der „Metamorphosen“ und deren Zusammenführung in „Laüstic“ eine gelungene Illustration des Verfahrens der iunctura, die klassischer Bestandteil der Schulgrammatik des 12. Jahrhunderts gewesen ist und in der Zusammenführung bestimmter Einzelteile aus einer oder mehreren unterschiedlichen Quellen besteht.78 Tatsächlich entsteht durch das Verknüpfen ausgewählter Elemente ein inhaltlicher ‚Mehrwert‘, den der Rezipient durch sein „active reading“,79 und auch Marie selbst durch das implizite Verweisen auf verschiedene Mythen leistet. Obgleich in der Forschung der Rückgriff Maries auf die unterschiedlichen Episoden der Ovid’schen „Metamorphosen“ wiederholt bemerkt wurde, fällt auf, dass dabei in der Regel auf die vollständigen Mythen verwiesen wird, obgleich meistens nur ein oder wenige Elemente eines Mythos innerhalb des Textes aufgegriffen werden, nicht jedoch der Mythos in der Gesamtheit seiner einzelnen Bestandteile. So wird z.B. bei der Analyse von „Laüstic“ in der Regel auf „Pyramus und Thisbe“, „Venus und Mars“ sowie „Philomela“ verwiesen, obwohl es lediglich einzelne Motive der Mythen, wie zum Beispiel das des heimlichen Paares, das durch eine Öff-
_____________ 77 Brightenback (Anm. 24), S. 10. 78 Brightenback (Anm. 24), S. 10. 79 Brightenback (Anm. 24), S. 10.
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nung in der Wand kommuniziert, der Falle des eifersüchtigen Ehemannes, der gestickten/gewebten Kommunikation, oder der Nachtigall sind, die innerhalb des Textes verarbeitet werden. Die einzelnen Mythen, die bei diesen Verweisen aufgerufen werden, bestehen aus weit mehr Elementen als die, die letztendlich aufgegriffen werden. Dennoch wird automatisch eine Verknüpfung zu den einzelnen Geschichten hergestellt. Dies ist insofern interessant, als dass nicht alle Elemente innerhalb eines Mythos die gleiche Wertigkeit bzw. den gleichen Wiedererkennungswert besitzen. Die von Claude Lévi-Strauss eingeführte Unterteilung der Mythen in unterschiedliche Mytheme hat sich – trotz umfassender Kritik am Strukturalismus – bis heute als Analyseverfahren literarischer Mythen erhalten. Dabei lehnt Levi-Strauss es ab, der vermeintlichen ‚Urversion‘ eines Mythos mehr Bedeutung beizumessen, als seinen späteren Varianten.80 Doch obwohl er sich zur Gleichberechtigung der verschiedenen Varianten eines Mythems äußert, berücksichtigt er nicht die Gewichtung der einzelnen Mytheme untereinander, aus denen die Mythen zusammengesetzt sind. Dieses Problem wurde in der Forschung bislang weitgehend außer Acht gelassen. Lediglich John Scheid und Jesper Svenbro entwickeln in ihrem Werk „Le métier de Zeus“ die These, dass es sich bei jedem Mythos um eine Art von ‚Bedeutungs-Kondensat‘ handelt, der für einen bestimmten Gegenstand, eine Tätigkeit o.ä. steht, und es so z.B. den Mythos des Olivenbaums, des Gewebes, der Narzisse ect. gibt.81 Claude Calame bezweifelt dies und nimmt dem gegenüber an, dass vielmehr die jedem Mythos eigene Handlung in Verbindung mit dem Eingennamen der Protagonistin oder des Protagonisten dafür verantwortlich ist, dass ein bestimmter Mythos evoziert wird: „Je n’ai pas l’impression qu’il existe en tant que tel un mythe du tissage: je vois plutôt dans le tissage une figure dont on fait différents usages métaphoriques dans des contextes narratifs, énonciatifs et culturels particuliers…Si l’on tente malgré tout de définir l’essence d’un mythe correspondant à ce que l’on désigne comme mythe d’Hélène, d’Oedipe ou d’Héraclès, je crois que l’on se dirige en bonne logique mythographique, vers la définition d’une intrigue, mais d’une intrigue assortie de quelques noms propres – il ne faut pas oublier la puissance du nom propre, et c’est par la puissance d’identification et d’évocation du nom propre que l’on parvient sans doute à se référer à un certain type d’intrigue.“82
_____________ 80 Vgl. Lévi-Strauss, Claude: „Die Struktur der Mythen.“ In: Ders.: Strukturale Anthropologie. Übers. von Hans Naumann. Frankfurt a. M. 1967, S. 226-254. 81 Vgl. Scheid, John/Svenbro, Jesper: Le métier de Zeus. Mythe du tissage et du tissu dans le monde gréco-romain. Paris 1994, S. 10. 82 „Du muthos des anciens grecs au mythe des anthropologues. Entretien avec Clade Calame.“ In: Europe. Révue littéraire mensuelle. Mythe et mythologie dans l’antiquité gréco-romaine (août/septembre 2004), S. 9-37, hier S. 26.
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Verknüpfung von Mythos und Literatur
Eine nähere Beschäftigung mit diesem Problem erscheint mir an dieser Stelle interessant. Wie lässt sich erklären, dass das Aufgreifen einzelner Mytheme eine sofortige Assoziation zu einem bestimmten Mythos auslösen, andere jedoch nicht? Betrachtet man den Philomela-Mythos und zerlegt ihn in seine einzelnen inhaltlichen Bausteine, so lassen sich neben den bei Marie aufgegriffenen noch zahlreiche andere wie z.B. Kindsmord, Vergewaltigung, Verstümmelung, Inzest, Isolation oder Kannibalismus feststellen. Dennoch wird der Philomela-Mythos in Maries Text unmissverständlich sowohl über die Figur der Nachtigall, als auch über den Komplex der textilen Kommunikation aufgerufen und nicht über eines der anderen Elemente dieses Mythos. Ich vermute, dass zum einen die Originalität, zum anderen die Häufigkeit eine Rolle spielt, mit der ein bestimmtes Mythem auch in anderen Texten verwendet wird. Dies lässt sich zumindest bei dem hier untersuchten Philomela-Mythos beobachten. Das Mythem des ‚textilen Textes‘ ist im Gegensatz zu Kindsmord, Kannibalismus, Inzest oder Verstümmelung fast einzigartig in der Fülle mythischer Texte. Zwar wird – wie in dem Exkurs über textile Texte dargelegt - das Motiv der textilen Kommunikation im weitesten Sinne auch in anderen Episoden aufgegriffen, doch differiert die inhaltliche Konstellation des Motivs deutlich von der Form, in der es dem Rezipienten innerhalb des Philomela-Mythos begegnet. So webt zwar Arachne in ihrem Wettkampf mit Minerva die Anklage des schändlichen Verhaltens der Götter in ihr Gewebe hinein, doch hätte sie dies auch – wenngleich weniger wirkungsvoll ― mündlich vorbringen können. Zudem ist bei diesem Akt der Darstellung weder eine räumliche Distanz zu überbrücken, noch besteht die Notwendigkeit, das Gewebe heimlich überbringen zu lassen, um so unerwünschte Mitwisser auszuschließen. Auch Penelope artikuliert sich indirekt durch ihr Gewebe, das sie tagsüber herstellt und nachts wieder auftrennt, um so die Wahl eines neuen Ehemannes hinauszuzögern. Zwar erinnert ihr nächtliches Auftrennen an die heimliche Kommunikation Philomelas (und ebenso an die nächtlichen Treffen des Paares bei Marie), und durch ihr Gewebe stellt sie ebenfalls eine besondere Art der Verbindung zu dem räumlich von ihr getrennten Odysseus her, doch befinden sich weder bedeutungstragende Zeichen auf ihrem Stoff, noch funktioniert dieser als tatsächliche Botschaft, die von einem an einen anderen Ort übertragen wird. Das Motiv des textilen Textes, der als Stimmersatz und heimliche Botschaft benutzt wird, bleibt somit dem Philomela-Mythos vorbehalten, sodass die entsprechende Passage bei Marie keine Assoziationen an Arachne oder Penelope, sondern lediglich an den Mythos von Philomela aufruft.
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Noch eindeutiger funktioniert diese Zuordnung über das Motiv der Nachtigall. Zwar werden in den „Metamorphosen“ Ovids zahlreiche Figuren in Vögel verwandelt, und die Transformation Philomelas erschließt sich dem Leser auch nur bei aufmerksamer Lektüre sowie in Verbindung mit weiteren Versionen des Mythos, doch überliefern nahezu alle späteren literarischen Adaptationen die Verwandlung Philomelas in eine Nachtigall und stellen so eine exklusive Bindung zwischen Vogel und Mythos her. Die Beobachtung, dass Marie den Philomela-Mythos über die Nachtigall aufruft, ohne dabei den für ihn charakteristischen Eigennamen ‚Philomela‘ zu verwenden, ist dabei ein weiterer Beleg für die Exklusivität dieser Verbindung. Auch ohne den charakteristischen Namen kann das Geschehen dem Mythos zugeordnet werden. Dies ist umso bemerkenswerter, da bereits Calame in seinem obigen Zitat auf die Bedeutung der mythischen Eigennamen hinweist, eine Feststellung, die für den Philomela-Mythos in besonderem Maße gilt: In ‚Philo-mela‘ Freundin des Gesangs, befindet sich bereits ein inhaltlicher Verweis auf das Geschehen des Mythos. Obgleich es also ausreichen würde, sich auf das Aufgreifen eines der beiden Mytheme zu beschränken, um Assoziationen an den PhilomelaMythos aufzurufen, so benutzt Marie in „Laüstic“ gleich beide und kombiniert sie auf originelle Weise, sodass bei der Lektüre eine eindeutige intertextuelle Verbindung mit dem Mythos erfolgt, ohne diesen jedoch offensichtlich in seiner Handlungsstruktur nachzuzeichnen oder seine Protagonistin durch das Nennen ihres Eigennamens auf den Plan zu rufen. Vielmehr werden beide Elemente, die Figur der Nachtigall und der textile Text, neu mit einander verknüpft und der Lai mit einem mythologischen Stoff unterfüttert, gleichzeitig jedoch Ovids Text in Form von Wiederholung, Spiegelung oder Auslassung reflektiert, interpretiert und weiterentwickelt. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die folgende, vieldiskutierte Aussage Maries in einem anderen Licht, die sich in dem Prolog zu ihren Lais befindet: Custume fu as ancïens, Ceo tes[ti]moine Pescïens, Es livres ke jadis feseient Assez oscurement diseient Pur ceus ki a venir esteient E ki aprendre les deveient K’i peüssent gloser la lettre E de lur sen le surplus mettre.83
_____________ 83 Prolog V. 9-16; Bei den Alten war es Brauch – das bezeugt Priscian -, dass sie sich in den Büchern, die sie einst verfassten, recht dunkel ausdrückten, damit diejenigen, die nach ihnen kommen und sie [die Bücher] studieren sollten, deren Text [littera] auszu-
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Verknüpfung von Mythos und Literatur
Auch wenn die Forschung bezüglich der Interpretation der Passage gespalten ist,84 so ist man sich dennoch darüber einig, dass Marie auf die Konzeption ihres eigenen Werkes anspielt. Im Zusammenhang mit ihrer Betonung der Weitergabe des Wissens von den „Alten“,85 für die sie den antiken Grammatiker Priscian anführt, an diejenigen, die ihnen nachfolgen,86 lässt sich dies auf ihren eigenen Text übertragen, bei dem sie sich ebenfalls durch den antiken Schriftsteller Ovid inspirieren lässt und ihre Lais mit ausgewählten Elementen seiner „Metamorphosen“ verbindet. Ihr eigenes Werk könnte somit als Versuch verstanden werden, dem Ovid’schen Text einen ebensolchen surplus87 zu verleihen, von dem sie in ihrem Prolog spricht. Die Formel gloser la letre88 erhielte somit weniger die Bedeutung einer christlichen Auslegung, als die einer Überblendung von Altem und Neuem, von klassischem Mythos und zeitgenössischen Elementen der volkssprachlichen Literatur wie z.B. dem Motiv der malmariée oder der Nachtigall als Topos der Troubadour-Lyrik. In dem wir heute Maries Text aufschlüsseln und ihm unser Wissen hinzuzufügen versuchen, befinden wir uns letztendlich in einer ähnlichen Lage wie die, in der sich Marie damals befand: ein weiterer Beitrag zu einem poetischen Prozess, auf den sie selbst bei der Selektion der Elemente der Ovid’schen Philomela einen Schwerpunkt gelegt hat.
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deuten und vermöge ihres eigenen Verstandes das (über den Text, die littera) Hinausgehende hinzuzufügen vermöchten. Brightenback fasst die Diskussion zu dieser Stelle des Prologs wie folgt zusammen: „In brief, interpretation of this passage in particular has followed two divergent paths. Some believe that Marie here invites her audience to gloss her poems in order to determine their christian doctrinal content. Others have maintained that this passage articulates instead Marie’s adherence to the literary principles underlying the translatio studii mode.“ Brightenback (Anm. 24), S. 2. V. 9; ancïens. V. 13; pu ceus ki a venir esteient. V. 16. V. 15.
Zweiter Teil „Arbeit am Mythos“: Facetten mittelalterlichen Mythenverständnisses I. Die Struktur der Lust: Ovids „Metamorphosen“ VI, V. 412-674 Der Philomela-Mythos wird innerhalb des sechsten Buchs der Ovid’schen „Metamorphosen“ (ca. 2 bis 8 n. Chr.) erzählt und umfasst dort die Verse 412-674. Die kunstvolle Verschränkung der einzelnen Episoden der „Metamorphosen“ untereinander, sowie auch die der fünfzehn Bücher, aus denen sich das Gesamtwerk zusammensetzt, wurden dabei wiederholt durch die Forschung beobachtet.1 Die Formen ihrer Verknüpfung können höchst unterschiedlich sein und z.B. durch räumliche Nähe der Protagonisten, Vergleiche oder auch thematische Ähnlichkeiten der einzelnen Geschichten motiviert werden.2 So sind auch die Zwischenüberschriften, die die einzelnen Episoden innerhalb eines Buches von einander trennen, nachträglich durch die jeweiligen Herausgeber des Textes eingefügt worden und entsprechen nicht seiner originären Fassung. Die durch die Zwischenüberschriften gewonnene Übersichtlichkeit leistet der Leserschaft eine gewisse Hilfestellung bei der Rezeption des komplexen Werkes, doch entspricht das Zerlegen in einzelne Elemente nicht seiner übergreifenden Struktur, deren komplizierte Verflechtungen und labyrinthische Schachtelung oft in Form von Gewebemetaphern zu fassen versucht wird: „Auf jeden Fall ist der Dichter energisch bemüht, die Fäden seines Gewebes nicht reißen zu lassen und ein carmen continuum, eine fortlaufende, epische Erzählung zu schaffen, die auch über die vom Schreibmaterial, der Papyrusrolle, bestimmten Buchgrenzen fortläuft.“3
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Vgl. u.a. Ludwig, Walther: Struktur und Einheit der Metamorphosen Ovids. Berlin 1965. Eine schematische und umfassende Darstellung der Struktur der „Metamorphosen“ bietet Tronchet, Gilles: La métamorphose à l’oeuvre. Recherches sur la poétique d’Ovide dans les Metamorphoses. Paris 1998, S. 565-575. Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Das Buch der Mythen und Verwandlungen. Hg. v. Gerhard Fink. Düsseldorf, Zürich 2001. Einführung, S. 483. Fink (Anm. 2), S. 483.
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„Arbeit am Mythos“: Facetten mittelalterlichen Mythenverständnisses
Obwohl sich die einzelnen erzählerischen Fäden dieser etwa 12 000 Hexameter umfassenden Textur kaum vollständig entwirren lassen, kann dennoch innerhalb der einzelnen Bücher eine inhaltliche Binnenstruktur ausgemacht werden, was im sechsten Buch besonders deutlich sichtbar wird und den Mythos von Philomela auf mehrfachen Ebenen mit den ihn umgebenden Episoden verzahnt. So beginnt das Buch mit der Geschichte Arachnes, die im Wettstreit mit der Göttin Athene den Titel der talentiertesten Weberin für sich beansprucht. Als Arachne das unmoralische Handeln der Götter auf ihrem Gewebe bildlich darzustellen wagt und zahlreiche Szenen hineinwirkt, in denen Götter Tiergestalten annehmen, um sterbliche Frauen zu vergewaltigen, wird sie von Athene zur Strafe in eine Spinne verwandelt, die zwar weiterhin zu weben vermag, deren Netze jedoch bedeutungslos bleiben. Das Motiv der Vergewaltigung sowie deren textile Präsentation findet sich ebenso zentral innerhalb des Philomela-Mythos wieder, der – abgesehen von der sehr knappen Episode von Boreas und Oreithyia, der auf den Philomela-Mythos folgt – das sechste Buch abschließt und dieses somit von den beiden webenden Frauen eingerahmt wird. Die Verbindung zum nachfolgenden Boreas-Mythos erfolgt durch die Herkunft des Boreas aus Thrakien, dem ebenfalls König Tereus entstammt. Vor dem PhilomelaMythos wird die Episode des Pelops erzählt, der von seinem Vater Tantalus zerstückelt und den Göttern zum Mahl vorgesetzt wird, um deren Allwissenheit zu prüfen. Auch hier ist die Verbindung beider Episoden durch Kindsmord und unwissendem, anthropophagem Mahl offensichtlich, ebenso wie auch die Geschichte der den Verlust ihrer Kinder betrauernden Niobe, die sich ebenfalls im sechsten Buch der „Metamorphosen“ befindet, eine inhaltliche Brücke zum Philomela-Mythos schlägt. Dieser ist somit eingebettet in Texte, die ähnliche Motive beinhalten, sodass er inhaltlich auf spätere Episoden verweist bzw. gleichzeitig ein Echo vorangehender Mythen bildet. So ausgeklügelt sich die Gesamtstruktur der „Metamorphosen“ präsentiert, so ist die Struktur der einzelnen Mythen selbst nicht weniger komplex. Diese Beobachtung bestätigt sich bei der Analyse der „Philomela“ in solcher Klarheit, dass diese antike Fassung als eine Art ‚Prototyp‘ des Philomela-Mythos betrachtet, und seine ausgeprägte Struktur als eines seiner prominentesten Merkmale gewertet werden kann. Nicht nur, da es sich bei ihm in der Regel um den Referenztext der mittelalterlichen Adaptationen handelt, sondern auch, da er Figurenkonstellation und Handlungsschema in schaubildhafter Symmetrie präsentiert, die sich wie ein Gitter über den Text legen und eine Zweiteilung des Mythos sichtbar werden lassen. Ereignisse der ersten Hälfte des Mythos werden in seiner zweiten Hälfte spiegelbildlich wiederholt, wobei die schrift-bildliche Dar-
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stellung des Geschehens durch das Gewebe die Mitte bildet, um die sich die beiden Textteile gruppieren. Die zentrale Stellung, die das Gewebe Philomelas als Spiegel der Handlung und Mitte innerhalb der zweigliedrigen Struktur des Mythos wahrnimmt, wird in dem späteren Kapitel „Die Poetik der Zeichen: Das Gewebe Philomelas“ dieser Arbeit ausführlich betrachtet werden.4 Dieses widmet sich ausschließlich dem Gewebe, so dass seine Rolle in den folgenden Ausführungen lediglich angedeutet wird. Auffällig ist zunächst, dass sich die von Philomela und Progne verübte Rache in zahlreichen Punkten als das Spiegelbild des Verbrechens erweist, das Tereus an seiner Schwägerin verübt. Ebenso wie er durch Vergewaltigung gewaltsam in einen anderen Körper eindringt, diesen durch sein eigenes Fleisch okkupiert und – dessen Philomela ihn selbst nach der Tat anklagt – die familiäre Struktur durcheinander bringt, in dem er sich selbst zum „zwiefachen Gatten“5 und Philomela zur „Kebse“6 ihrer Schwester macht, handelt es sich bei der Rache der Pandion-Töchter um einen Akt, der Tereus auf ähnliche Weise straft, dies allerdings in gesteigerter Form. Auch in den Körper des Tereus dringt gewaltsam ein anderer Körper ein, obgleich sich hier die Gewalt nicht durch sexuellen Zwang, sondern vielmehr durch das Verschweigen der tatsächlichen Speise vollzieht. Während Tereus im Laufe des Gastmahls in Athen Philomela noch mit den Blicken verschlang, verschlingt er kurz darauf sein eigenes Kind.7 Die spätere Zerstückelung des Itys entspricht der Verstümmelung von Philomelas Zunge, wobei auch das Sprachvermögen in beiden Fällen den Ausschlag für die grausame Tat gibt. Tereus schneidet Philomela die Zunge ab, damit sie das Verbrechen nicht öffentlich machen kann, und auch das Sprechen des Itys verleitet Progne zu ihrer grausamen Rache. Erst, als Itys sie „Mutter“ nennt, und ihr Blick zwischen Philomela und Itys hin und her wandert, fragt sie: „Warum kann der Eine mit Schmeichelworten mir nahn und schweigt die Andre, beraubt ihrer Zunge? Die er ‚Mutter‘ hier ruft, warum ruft ihr die Andre nicht ‚Schwester‘?“8 So wird Philomela, und in Anlehnung an ihr Schicksal auch Itys die Sprache zum Verhängnis, wobei dies ebenfalls durch die Tatsache unterstrichen wird, dass Philome-
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S. 188-210. paelex ego facta sororis, tu geminus coniunx (V. 537f.). V. 537f. Spectat eam Tereus praecontrectatque videndo (V. 478f.; Tereus schaut auf sie, verschlingt sie schon mit Blicken). Gieriges Essen (gula) wurde im Mittelalter ebenso wie der Inzest zur Todsünde der luxuria gerechnet, sodass an dieser Stelle eine weitere Parallele von ursprünglicher Gewalt und Rache zu Tage tritt. „cur admovet“ inquit „alter blanditias, rapta silet altera lingua? Quam vocat hic matrem, cur non vocat illa sororem ?“ (V. 631-633).
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„Arbeit am Mythos“: Facetten mittelalterlichen Mythenverständnisses
la Itys den Hals durchschneidet, nachdem er bereits durch seine Mutter mit dem Schwert getötet wurde: „Ihn zu töten hätte die eine Wunde genügt: Philomela durchschnitt mit dem Schwert ihm die Kehle.“9 Das Durchschneiden der Kehle als zur Sprachproduktion gehörendes Körperteil wird somit besonders betont und funktioniert ebenfalls als Element einer Rache, bei der Gleiches mit Gleichem vergolten wird. Denn mit der durchschnittenen Kehle wird ein Bild aufgerufen, welches sich dem Leser bereits bei der Verstümmelung Philomelas geboten hatte. In der Hoffnung, nach der Vergewaltigung von Tereus getötet zu werden, bietet sie ihm und seinem Schwert den Hals dar.10 Indem sie Itys den Hals durchschneidet, setzt sie die Tat um, deren Opfer sie selbst fast geworden wäre und realisiert damit eine weitere Steigerung des Kreislaufs der Gewalt. Gleichzeitig wird auf diese Weise die finale Szene vorbereitet, in der Philomela den abgetrennten Kopf des Itys Tereus ins Gesicht wirft, eine Szene, auf die an späterer Stelle noch einmal zurückgegriffen wird. Auch das Rufen nach den schützenden Eltern im Moment der Not kann weder Philomela, noch Itys Hilfe bieten. So wie Philomela während der Vergewaltigung mehrfach vergebens nach ihrem Vater ruft,11 so ruft Itys die Mutter.12 Und auch dadurch wird offensichtlich, wie die Gewalt eine Steigerung erfährt. Indem Pandion Tereus seine Tochter anvertraut und sie somit selbst in die Hände ihres Peinigers übergibt,13 ist Itys’ Mutter nicht nur indirekt, sondern höchst selbst für die Tötung des Kindes verantwortlich. Dadurch wird auch der genealogischen Folge ein Ende bereitet. Tereus wird zum „kläglichen Grab seines Sohnes“,14 und als Pandion vom Schicksal seiner Töchter erfährt, stirbt er vor Kummer, sodass in beiden Familien der Generationsfaden gekappt ist und sich die Gewalt nicht mehr fortpflanzen kann.
_____________ 9 satis illi ad facta vel unum vulnus erat: iugulum ferro Philomela resolvit (V. 642 f.). 10 iugulum Philomela parabat, spemque sua mortis viso conceperat ense (V. 553 f.; Ihm bot Philomela die Kehle, hatte beim Anblick des Schwertes schon Hoffnung gefasst auf den Tod). 11 frustra clamato saepe parente (V. 525; die Eine, die oft umsonst nach dem Vater ruft); ille indignantem et nomen patris usque vocantem (V. 555; die immer des Vaters Namen empört noch ruft und zu reden versucht). 12 tendentemque manus et et iam sua fata videntem et „mater!mater!“ clamantem (V. 639f.; ihn, der die Hände erhebt, der, schon sein Schicksal erkennend, „Mutter, ach Mutter !“ ruft). 13 Das Fatale dieser Tat wird durch Ovid subtil vorbereitet, indem er Pandion beim Abschied der Tochter die Worte in den Mund legt, Tereus solle Philomela „väterlich liebend beschützen.“ Da jedoch zuvor ein inzestuöses Verhältnis von Vater und Tochter unmissverständlich angedeutet wurde, scheint sich im weiteren Geschehen dieser zweideutige ‚Wunsch‘ zu erfüllen: patrio ut tuearis amore (V. 499; du mögest sie väterlich liebend beschützen). 14 seque vocat bustum miserabili nati (V. 665).
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Dazu kommt, dass nicht nur der Racheakt in seiner inhaltlichen Konzeption, sondern auch die Beschreibung seiner Durchführung sowie seiner Folgen zahlreiche Parallelen zur Vergewaltigung und Verstümmelung Philomelas aufweisen, sodass die eine Gewalttat zum Spiegelbild der anderen wird. Beide Verbrechen sind so monströs, dass sie nicht nur durch die finale Verwandlung in Vögel, sondern bereits innerhalb der Geschichte selbst aus der menschlichen Gemeinschaft herausfallen und nur in Form von ‚animalischen‘ Metaphern artikuliert werden können. Die einzigen drei Passagen innerhalb des Mythos, die die Protagonistinnen und Protagonisten mit Tieren vergleichen, befinden sich jeweils unmittelbar vor den beiden Gewalttaten und setzen diese dadurch implizit einander parallel. Während Tereus Philomela auf seinem Schiff betrachtet „wie wenn Jupiters Aar mit den krummen Klauen, des Raubes froh, im hohen Horst einen Hasen niedergelegt hat,“15 und sich Philomela im Moment der Vergewaltigung wie ein gefangenes und verwundetes Tier ängstigt,16 so wird auch Prognes Verhalten als ein ‚tierisches‘ beschrieben: „Wie durch den dunklen Wald den zarten Säugling der Hirschkuh Indiens Tigerin, so schleppt ungesäumt Progne den Itys.“17 Und nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer werden in ähnlichen Worten beschrieben. Beide Körper scheinen über die Verstümmelung bzw. Zerstückelung hinaus noch ein Eigenleben zu führen und sich dem Tod zumindest für einen Moment zu widersetzen: „Die Wurzel zuckt, und die Zunge selbst, auf die schwarze Erde gefallen, lallt ihr noch zitternd zu und schnellt, wie der Schwanz der verstümmelten Schlange zu springen pflegt, sich empor und sucht im Sterben die Spur seiner Herrin.“18 Diese kunstvoll-makabre Szene der Verstümmelung von Philomelas Zunge, die Gaston Paris noch 1886 als geschmacklos bezeichnete und zu deren Aussparung er den Autor der altfranzösischen „Philomena“ beglückwünschte,19 wird beim Mord des Itys noch einmal aufgerufen, wenn sich auch
_____________ 15 non aliter, quam cum pedibus praedator obuncis deposuit nido leporem Iovis ales in alto (V. 516f.). 16 Illa tremit velut agna pavens, quae saucia cani ore excussa lupi nondum sibi tuta videtur, utque colomba suo madefactis sanguine plumis horret adhuc avidosque timet, quibus haeserat, ungues (V. 527-530; Wie ein Lamm, das, verwundet, entrissen dem Rachen des grauen Wolfes, in Ängsten sich noch nicht sicher achtet, so bebt sie; und ihr graut wie der Taube, die, rot ihre Federn von eigenem Blute, die gierigen Klauen noch fürchtet, darin sie gehangen). 17 Nec mora, traxit Ityn; veluti Gangetica cervae lactentem fetum per silvas tigris opacas (V. 636f.). 18 radix micat ultima linguae, ipsa iacet terraeque tremens inmurmurat atrae; utque salire solet mutilatae cauda colubrae, palpitat et moriens dominae vestigia quaerit (V. 557-560). 19 „Il a sagement évité quelques-uns des traits de mauvais goût qui ne manquait pas dans son modèle (comme les vers 557-560) […].“ Paris, Gaston: „Chrétien Legouais et autres traducteurs ou imitateurs d’Ovide.“ In: Histoire Littéraire de la France XXIX (1886), S. 455-525, hier S. 492.
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dessen Körper über den Tod hinaus für einige Momente als lebendig erweist: „Und sie zerreißen die Glieder, die zuckend immer noch etwas Leben enthielten.“20 Das schockierende, kurzfristige Überschreiten der Grenze von Leben und Tod unterstreicht zum einen die Grausamkeit der Taten, zum anderen werden Kraft und autonomes Handeln betont, die den beiden Körpern innewohnen. Ebenso wie es sich bei der außergewöhnlichen Schönheit Philomelas und dem wilden Verlangen des Tereus nach dem Besitzen der Schwägerin um körperliche Kräfte handelt, die sich als Triebfeder des Geschehens erweisen, wird in den beiden zitierten Passagen nun ebenfalls Kraft und Unkontrollierbarkeit der Körper betont. Ein weiteres Element, das den zweiten Teil der Handlung als Antwort auf den ersten lesbar werden lässt, zeigt sich an einer Stelle des Textes, die bei der Lektüre zunächst irritiert. Als Philomela das Verbrechen des Tereus sowie ihren Aufenthaltsort in das Gewebe als Botschaft für die Augen ihre Schwester Progne hineinwirkt, verwendet sie dazu einen Webstuhl, der von Ovid mit dem Adjektiv „barbarisch“ versehen wird: „Klug bespannt sie mit Fäden den fremden, barbarischen Webstuhl.“21 Betrachtet man die Figur des Tereus, so wird auch er im Text wiederholt als Barbar bezeichnet.22 Während Letzteres durch sein brutales Handeln problemlos nachzuvollziehen ist, erschließt sich die Bedeutung des „barbarischen Webstuhls“ jedoch nicht auf Anhieb. Bei einer etymologischen Untersuchung klärt sich der Terminus jedoch auf und legt eine weitere Parallele der zwei Handlungshälften offen. So besteht die Gemeinsamkeit zwischen Tereus und dem Webstuhl, wie ebenfalls Véronique Gély und Sylvie Ballestra-Puech in ihren Beobachtungen zum PhilomelaMythos innerhalb des „Dictionnaire des mythes féminins“ eindrücklich formulieren, im Rückgriff auf die Sprache: „Or le barbare se définit en fonction de sa langue: il est celui qui ne parle pas grec, celui qui émet des sons perçus comme inarticulés, d’où l’onomatopée qui le désigne.“23 Ursprünglich wird durch das Adjektiv ‚barbarisch‘ somit ein sprachliches Unvermögen ausgedrückt, nämlich die Unkultiviertheit, nicht die griechische Sprache zu beherrschen.24 Mit einer Bedeutungsverschiebung von der Sprache hin zum generellen, unkultivierten Verhalten lässt sich nun der Bogen von der Brutalität des Tereus hin zum Webstuhl schlagen.
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vivaque adhuc animaeque aliquid retinentia membra dilaniant (V. 644f.). stamina barbarica suspendit calida tela (V. 576). Vgl. etwa V. 515 und V. 533. Ballestra-Puech, Sylvie/Gély, Véronique: „Philomèle (Procné)“. In: Dictionnaire des mythes féminins. Hg. v. Pierre Brunel. Paris 2002, S. 1566. 24 Zur Bedeutung des Adjektivs ‚barbarisch‘ in Bezug auf die Verortung mancher Handlungssequenzen in kultivierte und unkultivierte Räume vgl. ausführlich das Kapitel „Die Semantisierung des Raumes: Öffentlichkeit und Geheimnis“ in dieser Arbeit.
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Auch Philomela ist nicht (mehr) dazu in der Lage, verständliche, sprachliche Laute zu äußern, sondern kann sich nur noch mit Hilfe des Webstuhls artikulieren. So verweist dessen Bezeichnung als ‚barbarisch‘ zum einen auf seine kommunikative Funktion, die einen Ersatz der verbalen Sprache leistet, zum anderen unterstreicht sie einmal mehr die Grausamkeit des auf dem Gewebe dargestellten, barbarischen Verbrechens des Tereus. Ein weiterer Punkt, der den ersten Teil des Geschehens mit dem zweiten verbindet, zeigt sich in der Analyse des sprachlichen Verhaltens der beiden Schwestern. Bei der verbalen Anklage, die Philomela nach der Vergewaltigung an Tereus richtet, und in der sie durch die eloquente Ankündigung, das Verbrechen öffentlich zu machen, auch Rache für die grausame Tat androht, handelt es sich um ihre einzige verbale Äußerung innerhalb des Mythos, die in direkter Rede wiedergegeben wird. Im Anschluss daran verstummt sie schließlich aufgrund der Mutilation ihrer Zunge. Bei Progne lässt sich in Bezug zu ihrer Reaktion auf die Schändung der Schwester eine ähnliche Reaktion beobachten. In dem Augenblick, in dem sie das Gewebe Philomelas entrollt und visuell deren Vergewaltigung und Verstümmelung nachvollzieht, verschlägt es ihr buchstäblich die Sprache, sodass sie auf diese Weise das stumme Schicksal der Schwester teilt. Die Bedeutsamkeit der Szene wird durch eine der wenigen Kommentare des Erzählers hervorgehoben, der in Form eines Einschubs in den Text eingefügt ist: „Sie las den Jammerbericht von der Schwester Los, und – ein Wunder, dass sie es konnte! – sie schwieg.“25 Die bislang untersuchten Parallelen der beiden Teile der PhilomelaEpisode lassen sich auf der Handlungsebene des Mythos verorten. Nicht nur der primäre Gewaltakt und seine Rache – Vergewaltigung und Verstümmelung sowie Kindsmord und anthropophages Mahl -, auch zahlreiche andere Wiederholungen wie beispielsweise die Beschreibung der konkreten Umsetzung der Gewalt und ihrer Folgen können in Bezug auf die Darstellung der Ereignisse beobachtet werden. Doch weisen nicht nur die Handlung, sondern auch die Figuren des Mythos selbst zahlreiche Eigenschaften und Verhaltensweisen auf, die – ähnlich der spiegelbildlich angeordneten Handlung – zwei symmetrische Paare ergeben. Das erste dieser beiden Paare wird dabei von den zwei Schwestern Philomela und Progne gebildet. Der Begriff des Paares drängt sich an dieser Stelle besonders auf, da es sich hier nicht nur um ein Geschwisterpaar handelt, sondern die Zuneigung beider zueinander so groß zu sein scheint, dass sich nicht nur die Bindung von Pandion zu seiner Tochter, sondern auch die von Philomela und Progne als eine inzestuöse vermuten
_____________ 25 germanaeque suae carmen miserabile legit et (mirum potuisse) silet (V. 582f.).
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lässt.26 Diese Vermutung stützt zunächst das Verlangen Prognes, ihre Schwester nach mehreren Jahren in der Fremde wiedersehen zu dürfen. Um diesen Wunsch zu realisieren, ist sie bereit, selbst die lange und beschwerliche Reise auf sich zu nehmen und knüpft dabei die Erfüllung dieses Wunsches an sich selbst. So äußert sie Tereus gegenüber: „Wenn ich irgend dir etwas gelte, so laß mich die Schwester besuchen, oder die Schwester komme hierher. […] Du wirst mir den Anblick der Schwester gewähren gleich einem großen Geschenk.“27 Dieses Begehren ist es schließlich auch, das Tereus vorschiebt, um sein eigenes Begehren nach Philomela dahinter zu verbergen, wenn er Pandion davon zu überzeugen versucht, der Tochter die Reise zu erlauben.28 Dass das Verhältnis von Philomela und Progne eine schwesterliche Zuneigung überschreitet wird ebenso dadurch ersichtlich, dass beide nach der Vergewaltigung durch Tereus indirekt miteinander vereint sind, ein Konkurrenzverhältnis, das Philomela sowohl gegenüber Tereus nach der Tat benennt,29 als auch gegenüber Progne durch Gebärden schamerfüllt ‚zur Sprache‘ bringt.30 Doch ist es ebenso die Reaktion auf dieses Verbrechen, das offenkundig werden lässt, wie eng die Bindung der Schwestern ist. Prognes Trauer um die vermeintlich tote Schwester ist maßlos, und
_____________ 26 Auch Emmanuèle Baumgartner vermutet in der Bindung der Schwestern den Inzest. Zwar legt sie ihrer Analyse die altfranzösische „Philomena“ Chrétiens de Troyes zugrunde und stellt fest, dass demgegenüber der Ovid’sche Text keine Grundlage für eine solche Vermutung bieten würde. Doch lassen sich fast alle Szenen, die sie als Beleg innerhalb des altfranzösischen Textes für ihre Vermutung anführt, auch in der antiken „Philomela“ finden (Sehnsucht nach der Schwester, ausführliche Trauerzeremonie bei deren vermeintlichem Tod durch Errichtung eines leeren Grabmals, Totenopfer, Trauerkleidung sowie schließlich ihre monströse Rache für das Leid der Schwester durch die Ermordung des eignen Kindes). Vgl. Pyrame et Thisbé, Narcisse, Philomela. Trois contes du XIIe siècle français imités d’Ovide. Hg. v. Emmanuèle Baumgartner. Paris 2000, S. 278. Vgl. dazu ebenfalls Ballestra-Puech/Gély (Anm. 23), die ebenfalls eine inzestuöse Verbindung der Schwestern vermuten. 27 „ulla mea est, vel me visendam mitte sorori , vel soror huc veniat! […] magni mihi muneris instar germanam vidisse dabis“ (V. 441-444). 28 „On doit même inférer encore un autre désordre sexuel dans l’affection des deux sœurs l’une pour l’autre, dans la violence du désir qu’elles éprouvent de se revoir, car c’est précisément ce désir qui est utilisé par Térée pour maquiller le sien propre.“ Ballestra-Puech/Gély (Anm. 23), S. 1562. 29 Omnia turbasti: paelex ego facta sororis, tu geminus coniunx, non sic mihi debita Progne! (V. 537f.; Alles hast du verkehrt: Der Schwester ward ich zur Kebse, zwiefacher Gatte bist du; nicht so sollt’ ich Progne begegnen). 30 sed non attollere contra sustinet haec oculos paelex sibi visa sororis deiectoque in humum vultu iurare volenti testarique deos, per vim sibi dedecus illud illatum, pro voce manus fuit (V. 605-609; Doch die erträgt nicht, die Augen aufzuheben zu ihr und fühlt sich als Kebse der Schwester. Nieder zu Boden blickt sie, will schwören, die Götter zu Zeugen rufen, zugefügt sei durch Gewalt ihr die Schande. Ihr diente statt der Zunge die Hand).
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über fünf Verse hinweg werden das Anlegen von Trauerkleidung, das Errichten eines leeren Grabmals sowie Totenopfer und Totenklage beschrieben.31 Um Philomela angemessen zu rächen, ist sie schließlich sogar dazu bereit, das eigene Kind zu töten – die schwesterliche Schmach wird so stark empfunden, als sei sie die eigene. Die Ähnlichkeit der beiden Schwestern ist so groß, dass aus dieser Perspektive die Verwirrung über die Identität der beiden weiblichen Figuren, die in der Antike die literarische Tradition des Mythos bestimmte, nicht verwundert, ja sogar als Anzeichen dieser engen Bindung gelesen werden kann.32 Zwar ist der literarische Ursprung des Mythos äußerst komplex, und ein tatsächlicher Ursprung ist – wie bei den meisten Mythen - kaum auszumachen, doch lässt sich vereinfacht festhalten, dass die griechische Tradition die Metamorphose Prognes in eine Nachtigall und Philomelas in eine Schwalbe überliefert, während die römische Tradition eine umgekehrte Rollenverteilung präsentiert. Besonders deutlich wird die Konfusion über die jeweilige Verwandlung in Vögel durch die verschiedenen Interpretationen ihres Gesangs. So berichtet der Mythos von Aedon (griechisch ‚Nachtigall‘), dass diese aus Eifersucht das älteste Kind ihrer Schwägerin töten will, dabei jedoch versehentlich ihr eigenes, Itylus, ermordet. Jupiter verwandelt Aedon daraufhin in eine Nachtigall, die weiterhin um ihr Kind klagt, eine Version, die ebenfalls im neunzehnten Gesang der „Odyssee“ Homers angedeutet wird.33 Eine weitere Variante des Mythos fügt der Handlung die Figur der Schwester Chelidona (griechisch ‚Schwalbe‘) hinzu. Nachdem Aedon und ihr Mann behaupten, eine glücklichere Ehe als Jupiter und Juno zu führen, säen die Götter Streit zwischen den beiden, an dessen Ende Aedons Mann seine Schwägerin Chelidona vergewaltigt. Aus Rache töten daraufhin die Schwestern den Sohn Aedons und setzen ihn seinem Vater zum Mahl vor, worauf Jupiter die Frauen in die Vögel verwandelt, deren Namen sie tragen; der Ehemann wird zum Specht. Auch Sophokles erwähnt in seinem Drama „Tereus“, welches uns heute nur noch als Fragment überliefert ist und Ovid – abgesehen von der
_____________ 31 V. 566-570. 32 Die antike Tradition des Mythos wird in den einschlägigen Lexika umfassend dokumentiert und soll daher nur in Ausschnitten referiert werden. Eine detaillierte Zusammenfassung der griechisch-römischen Ursprünge des Mythos unter besonderer Berücksichtigung der unklaren Identitäten der beiden Schwestern liefert Dubel, Sandrine: „L’hirondelle et l’épervier, le rossignol et la huppe (Achille Tatius, Leucippe et Clitophon, V, 3-5): notes sur la difficulté d’établir un mythe.“ In: Philomèle. Figures du rossignol dans la tradition littéraire et artistique. Hg. v. Véronique Gély, Jean-Louis Haquette u. Anne Tomiche. Clermont-Ferrand 2006, S. 37-52. 33 Homer: Odyssee. Griechisch/Deutsch. Hg. und übersetzt von Anton Weiher. Mit Urtext, Anhang und Registern. Einführung von A. Heubeck. München, Zürich 1990, Neunzehnter Gesang, V. 518-523.
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finalen Verwandlung - vermutlich als Vorlage gedient hat, von der Verwandlung Prognes in eine Nachtigall und Philomelas in eine Schwalbe.34 Da die Texte der lateinischen Antike im Mittelalter ungleich bekannter waren als die der griechischen Autoren, setzte sich schließlich die in den römischen Texten überlieferte Verwandlung der beiden Schwestern, also die Philomelas in eine Nachtigall und Prognes in eine Schwalbe, durch. Denn nicht nur der melancholische Gesang der Nachtigall kann als Trauerklage um das verlorene Kind und das Artikulieren seines Namens interpretiert werden. Auch die vergleichsweise kümmerlichen und unverständlichen Laute der Schwalbe werden als Resultat der verstümmelten Zunge Philomelas lesbar: Ebenso wie die stumme Königstocher kann sich auch die Schwalbe nicht artikulieren. Obgleich der in den Ovid’schen „Metamorphosen“ ausführlich beschriebene Mythos zum Referenztext der mittelalterlichen Varianten wurde, bleibt bei ihm die Verwandlung der Schwestern ebenfalls uneindeutig. Dort heißt es lediglich: „Es strebt die eine zum Walde, birgt sich die andere im Haus.“35 Auch das Mordblut auf dem Gefieder des zweiten Vogels wird erwähnt, sodass sich zunächst vermuten lässt, es handle sich bei dieser um Progne. Da jedoch ebenfalls Philomela an dem Mord beteiligt war und in dem Moment, in dem sie Tereus das Haupt seines Sohnes ins Gesicht schleudert, explizit das Blut erwähnt wird, das noch in ihren Haaren klebt („von dem rasenden Mord noch besprengt ihre Haare“),36 kann bei Ovid auch sie gleichermaßen in diesem Vogel erkannt werden. Es scheint eher der Moment der dynamischen Verwandlung im Augenblick der Flucht, anstatt die eindeutige Beschreibung des ‚Ergebnisses‘ dieser Verwandlung im Vordergrund zu stehen: „Wie auf Flügeln schienen die attischen Frauen zu schweben, und – sie schwebten auf Flügeln.“37 Die weiteren lateinischen Varianten des Mythos sind – wenn auch nicht so umfangreich geschildert wie bei Ovid und nicht so zahlreich vorhanden wie in der griechischen Tradition – diesbezüglich eindeutiger, wie z.B. die Erwähnung in Vergils „Georgica“38 oder den „Bucolica“.39 Spätestens zu Zeiten Martials konnte die endgültige Durchsetzung dieser Rol-
_____________ 34 Sophocles: Tereus. In: Fragments. Edited and translated by Hugh Lloyd-Jones. Cambridge, London 1996, S. 291-301. 35 quarum petit altera silvas, altera tecta subit (V. 668f.). 36 sicut erat sparsis furiali caede capillis (V. 657). 37 Corpora Cecropidum pennis pendere putares: pendebant pennis (V. 667f.). 38 Vergil: Georgica. IV. Buch, V. 15, V. 511-515. 39 Vergil: Bucolica. VI. Buch, V. 78-81.
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lenverteilung angenommen werden, denn sein Epigramm mit dem Titel Luscinia (lat. ‚Nachtigall‘) spricht ausschließlich von Philomela.40 Dieses „jeu d’écho“41 der beiden Frauen, das sich besonders in der uneindeutigen Darstellung ihrer Verwandlung niederschlägt, lässt Véronique Gély und Sylvie Ballestra-Puech vermuten, dass die enge Bindung der beiden nicht nur paradigmatisch für die auf mehreren Ebenen verletzte familiäre Ordnung des Begehrens, sondern sogar als Beleg für eine heimliche Identität der Schwestern zu verstehen sei, die über die konkrete Handlungsebene des Mythos hinausgeht: „Le renversement observé entre la tradition grecque et la tradition latine ne seraitil pas l’indice d’une secrète identité des deux sœurs, chacune étant à la fois muette comme l’hirondelle et plaintive comme le rossignol? La ,voix de la navette‘ serait alors l’oxymore permettant de rendre compte de cette dualité.“42
Die Schwestern sind jedoch nicht das einzige Paar, das miteinander zu verschmelzen scheint. Dem weiblichen Duo entspricht ein männliches, das von Tereus und seinem Sohn Itys gebildet wird. Dessen Liebe zu seinem Kind ist so groß, dass Itys’ Geburtstag zum nationalen Feiertag erklärt wird,43 und es liegt ihm ebenfalls so viel an der Anwesenheit seines Sohnes, dass er während des schrecklichen Mahls mehrfach nach ihm verlangt – auch, wenn dies die inhaltliche Vorlage dafür liefert, dass Progne schließlich den rhetorisch eindrücklichen Satz äußert, der sinngemäß in allen untersuchten Varianten den Mythos beibehalten wird: „Drinnen hast du, den du verlangst.“44 Neben dem bereits erwähnten Sprachvermögen des Itys, das ihn von Philomela unterscheidet und das Progne zu ihrem Mord motiviert, wird ihm noch eine weitere Eigenschaft zum Verhängnis, die in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung ist. Noch bevor der Blick Prognes zwischen Itys und Philomela hin und her wandert und die sprachliche Ungleichheit der beiden ihren Zorn erregt, fällt ihr die Ähnlichkeit von Itys und seinem Vater ins Auge: „Sie spricht unter grimmigen Blicken: „Ha! Wie ähnlich dem Vater du bist!“45 Das Gesicht und somit auch das Verbrechen des Tereus werden ihr durch den Sohn vor Augen geführt, was sie ebenfalls selbst in Worte fasst: „Tochter Pandions bedenk, mit welchem Mann du vermählt, du schlägst aus der Art: ein Verbrechen
_____________ 40 M. Valerius Martialis: Epigramme. Lateinisch-deutsch. Hg. u. übersetzt von Paul Barié u. Winfried Schindler. Düseldorf, Zürich 2002, XIV, 75. 41 Ballestra-Puech/Gély (Anm. 23), S. 1567. 42 Ballestra-Puech/Gély (Anm. 23), S. 1567. 43 quaque erat ortus Itys, festum iussere vocari (V. 437; Sie befahlen als Fest zu feiern den Tag […], da Itys ihnen geschenkt ward). 44 intus habes, quem poscis (V. 655). 45 „a! quam es similis patri!“ (V. 621f.)
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ist Treu, wenn der Gatte ein Tereus!“46 So muss der Sohn, Abbild des Vaters, schließlich stellvertretend für diesen büßen. Dass vor allem die Ähnlichkeit zu seinem Vater dafür verantwortlich ist, wird spätestens dann offensichtlich, wenn die beiden Schwestern den Kopf des Itys abtrennen und Philomela ihn im höchsten Moment der Rache dem entsetzten Tereus ins Gesicht schleudert. Hier wird deutlich, dass beide sich nicht nur optisch ähneln, sondern auch im wahrsten Sinne des Wortes eins geworden sind, denn Tereus hat sich seinen Sohn zu diesem Zeitpunkt bereits unwissend einverleibt und damit einen Akt vollzogen, der dem einer ‚negativen Geburt‘ entspricht. Die Gewalt, die sich bis dahin immer weiter gesteigert hat, reproduziert sich nicht, ihr Kreislauf wird geschlossen und durch die finale Verwandlung aus der menschlichen Sphäre in den Bereich des Tierischen verbannt. Gleichzeitig wird an dieser Stelle auch das Element der Sprache noch einmal aufgerufen, das ebenfalls wie die Ähnlichkeit zwischen Itys und Tereus Progne zum Mord an ihrem eigenen Kind verleitet hat, sodass beide Elemente im Moment der Rache vereint sind: „Sie warf dem Vater des Itys blutiges Haupt ins Gesicht, und niemals hätte sie lieber reden können, die Freude des Herzens im Wort zu bezeugen.“47 Die binäre Struktur des Mythos erstreckt sich nicht nur auf dessen Handlungsebene und Figurenkonstellation, sondern ebenfalls auf die Konzeption seines Raums. Auch dieser zerfällt spiegelbildlich in die zwei Hälften, wobei er gleichzeitig mit Handlungsebene und Figurenkonstellation verknüpft ist. Sowohl im ersten, als auch im zweiten Teil des Mythos lässt sich der öffentliche Königshof Athens bzw. Thrakiens von einem zweiten, heimlichen Ort als Schauplatz des Geschehens unterscheiden, wobei die Ortswechsel, die die Figuren unternehmen, besonders hervorgehoben werden und die Existenz dieser Zweiteilung deutlich zutage tritt. Die beiden Greultaten finden jeweils in einer abgelegenen, uneinsehbaren Umgebung statt, die mit ähnlichen Worten beschrieben wird. Bevor sich Tereus Philomela bemächtigt, heißt es bei Ovid: „Da zieht der König Pandions Kind in die hohe, von altem Wald umdunkelte Stallung, [und] schließt die Erbleichende […] dort ein.“48 Das Verb trahere impliziert bereits die Gewalt der nachfolgenden Handlung und steht gleichzeitig sinnbildlich für das Verlassen des öffentlichen, und das Hineinziehen in einen verborgenen Raum, der auf mehrfache Weise bedrohlich inszeniert wird.
_____________ 46 cui si nupta, vide, Pandione nata, marito!degeneras! scelus est pietas in coniuge Tereo (V. 634f.). 47 Itosque caput Philomela cruenum misit in ora patris nec tempore maluit ullo posse loqui et metis testari gaudia dictis (V. 658-660). 48 rex Pandione natam in stabula alta trahit silvis obscura vetustis […] ubi […] includit (V. 520524).
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Der Wald, als solcher bereits ein ‚un-kultivierter‘ Ort wilder Natur, wird zusätzlich noch als düster (obscura) benannt und damit durch das fehlende Licht zum Sinnbild nicht vorhandener Öffentlichkeit. Die Hütte innerhalb des Waldes bietet in diesem Fall keine Zuflucht, sondern erscheint vielmehr als eine Steigerung der Bedrohung, da die Bezeichnung stabula eine gewisse Ärmlichkeit beinhaltet, und die Unüberwindlichkeit der Stallung durch das Adjektiv alta (hoch) bereits an dieser Stelle den Charakter eines Gefängnisses erhält, obgleich erst kurz darauf erwähnt wird, dass Tereus „die Erbleichende“ dort einschließt. Auch nach der Vergewaltigung und bei Philomelas Suche nach Fluchtmöglichkeiten wird die bedrohliche Enge der Stallung betont: „Zu fliehen wehrt ihr die Wache; fest aus Stein gefügt umstarrt sie die Mauer der Stallung.“49 Wenngleich nicht so ausführlich, so doch in ähnlichem Gestus erfolgt die Beschreibung des Ortes, an dem die beiden Frauen Rache an Itys nehmen. Auch dort wird das Opfer gewaltsam in einen geheimen Raum gezogen, um die Tat vor der Öffentlichkeit zu verbergen: „Wie durch den dunklen Wald den zarten Säugling der Hirschkuh Indiens Tigerin, so schleppt ungesäumt Progne den Itys; und, als im hohen Haus ein entlegen Gemach sie erreichten, schlägt mit dem Schwert sie ihn da, wo Brust und Seite sich treffen.“50 Nicht nur das Verb (trahere), auch das Adjektiv (alter) stimmt mit der Beschreibung der Stallung im Wald überein, und selbst dieser wird durch den Vergleich mit der Tigerin, die den Säugling durch den dunklen Wald schleppt, evoziert, sodass der entlegene Raum des Königspalastes als Echo auf die Stallung im Wald konstruiert wird. Schließlich bleibt auch die finale Szene des grausamen Festmahls als weiteres Verbrechen einem abgeschlossenen Raum vorbehalten. Um ihre Rache vor den Blicken anderer zu schützen, bedient sich Progne einer List: „Sie log von heiligem Brauch der Väter, dem einzig nahen dürfe der Mann, entfernt so Gefolge und Diener.“51 Trotz des öffentlichen Bereichs des Hofes findet somit auch das antropophage Mahl im Bereich des Verborgenen, Verbotenen statt. Selbst der Weg vom einen geheimen Raum zum anderen, von der Stallung im Wald zum entlegenen Raum im Königspalast, erfolgt in nächtlicher Dunkelheit und unter der Verkleidung Philomelas und Prognes als Bacchantinnen. Die Nacht, das NichtSichtbare und Unheimliche, wird durch dreimaliges Wiederholen jeweils am Anfang des Verses besonders hervorgehoben,52 und die Raserei der
_____________ 49 fugam custodia claudit, structa rigent solido stabulorum moenia saxo (V. 572f.). 50 Nec mora, traxit Ityn; veluti Gangetica cervae lactentem fetum per silvas tigris opacas, utque domus altae partem tenuere remotam (V. 636-638). 51 et patrii moris sacrum mentita, quad uni fas sit adire viro, comites famulosque removit (V. 648f.). 52 nox conscia sacris. Nocte sonat Rhodope innitibus aeris acui, nocte sua est egressa domo (V. 498500).
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berauschten Frauen maskiert sowohl die ebenfalls vor Rache rasende Progne, als auch den Weg der Schwestern vom Wald zum Königshof. Die klare Trennung von öffentlichem und geheimem Raum lässt die Androhung Philomelas, ihre Vergewaltigung öffentlich zu machen („Ich selbst, der Scham mich entschlagend, werde verkünden, was Du getan. Sobald es nur möglich, werde ich treten vors Volk.“53), in seiner Bedrohlichkeit für Tereus besonders deutlich werden, denn sie droht damit an, diese klare Grenze zu überschreiten. Zwar wird ihr die Möglichkeit durch das Verstümmeln der Zunge genommen, doch gelingt es ihr schließlich durch die Herstellung ihres ‚sprechenden Gewebes‘, das dazu in der Lage ist, die Botschaft von der verborgenen Stallung im Wald an den Königspalast zu übermitteln. Die Transgression der beiden Räume durch das Gewebe Philomelas legt eine weitere Zweiteilung des Mythos offen, die sowohl bei der Betrachtung der Figurenkonstellation angedeutet wurde, als auch in der Unterscheidung des öffentlichen und heimlichen Raumes implizit ist. So stehen sich bei Philomela/Progne und Tereus/Itys ein männliches und ein weibliches Paar gegenüber, und auch die Gewalt innerhalb des Mythos ist in ihrem Verlauf geschlechtlich zweigeteilt. Ebenso wie die erste Hälfte des Geschehens über männliche Gewalt - bestehend aus Frauenhandel, Vergewaltigung und Verstümmelung - berichtet, so übernehmen die beiden Schwestern im zweiten Teil die Rolle der gewaltsamen Akteurinnen, wobei sie auch die inhaltliche Durchführung ihrer Rache an die Gewalt der Männer anlehnen. Der exklusive Bund von Tereus und Pandion, der im ersten Teil des Mythos die Entscheidungsgewalt über die Reiseerlaubnis von Progne und Philomela inne hatte, und deren körperliches Begehren gegenüber Tochter bzw. Schwägerin nicht zurückgehalten wurde, findet in den rasenden Frauen Thrakiens, die dem Bacchus huldigen, ihre weibliche Entsprechung.54 Auch sie handeln hemmungslos und Philomela und Progne übertrumpfen in der zweiten Hälfe des Mythos durch Ermordung des eigenen Kindes und Servieren des schrecklichen Mahls die Greultaten der Männer, bevor beide Paare mit ihrer jeweils gleichgeschlechtlichen Hälfte eins werden: Tereus, indem er sich den eigenen Sohn einverleibt, sowie Progne und Philomela, deren uneindeutige Verwandlung sowohl einen klagenden, als auch einen stummen Anteil des Schicksals beider Frauen in sich tragen.
_____________ 53 ipsa pudore proiecto tua facta loquar: si copia detur, in populos veniam (V. 544-546). 54 Dass in diese Runde kein Platz für Männer ist, wird beispielsweise in der OvidAdaptation Georg Wickrams deutlich. Dort verirrt sich ein Junge zwischen die trunkenen Frauen, der daraufhin von seiner eigenen Mutter in Stücke gerissen wird. Vgl. dazu S. 175f.
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Ebenso wie die Gewalt scheint auch die Form der Kommunikation in Verbindung mit den jeweiligen Handlungsräumen geschlechtlich aufgeteilt zu sein. So ist die verbale Anklage, die Philomela in der Abgeschiedenheit des Waldes nach der Vergewaltigung an Tereus richtet, die erste und einzige wörtliche Rede, die sie innerhalb des Mythos erhält. Die Androhung, ihre Stimme in der Öffentlichkeit zu erheben, um das Verbrechen des Schwagers anzuklagen („Sobald es nur möglich, werde ich treten vors Volk.“55), wird ihr dabei zum Verhängnis, sodass sie die List des ‚sprechenden Gewebes‘ anwenden muss, um ihr Schicksal wenn nicht hör-, so doch sichtbar werden zu lassen. Die verbale Kommunikation der beiden Frauen ist innerhalb des Mythos jedoch nicht völlig aus dem Bereich des Öffentlichen bzw. Sichtbaren verbannt. Progne erbittet gegenüber Tereus am thrakischen Hof, ihre Schwester zu sehen, und auch Philomela wünscht sich im Beisein von Vater und Schwager, die Reise unternehmen zu dürfen, doch bleibt die Entscheidungsgewalt diesbezüglich den beiden Männern überlassen. Die verbalen Forderungen der Frauen werden zwar angehört, haben allerdings wenig Gewicht. So ist ihre wirkungsvolle Kommunikation dem Bereich des Geheimen, Nicht-Sichtbaren und auch Nonverbalen verhaftet, wobei auch hier die dezidiert weiblich konnotierte Tätigkeit des Webens die List der verborgenen Kommunikation mit der Schwester überhaupt erst ermöglicht. Als Sinnbild des der häuslichen Sphäre verhafteten, weiblichen Fleißes erregt es keinerlei Argwohn bei Philomelas Bewachern und kann so den räumlich strikt abgegrenzten, heimlichen Bereich ihres Gefängnisses unbehelligt überschreiten: „Die Magd, sie tut, wie gebeten, bringt zu Progne es hin und weiß nicht, was sie gebracht hat.“56 Obgleich sich die Struktur des Mythos auf Handlungs- und Figurenebene sowie bezüglich seiner Raum-Konstruktion als symmetrisch erweist, ist sie keinesfalls statisch, im Gegenteil. Ihrer spiegelbildlichen Zweiteilung ist eine spiralförmige Entwicklung von Begehren und Gewalt inhärent, die als Triebfeder der Handlung funktioniert und erst durch die Verwandlung zu einem Ende findet. Angestoßen wird diese Spirale ebenfalls durch einen Akt der Gewalt, nämlich durch die Verheiratung Prognes mit dem Thrakerkönig Tereus, was sowohl als Dankesgeste für die geleistete Unterstützung im Krieg zu verstehen ist, als auch als geschickten Schachzug Pandions, um Tereus aus taktischen Gründen familiär an sich zu binden und die Tochter somit gegen die Sicherheit des Landes einzutauschen. Dass diese Verbindung in keiner Weise dem attischen Recht entspricht,
_____________ 55 si copia detur, in populos veniam (V. 545f.). 56 illa rogata pertulit ad Prognem, nec scit, quid tradat in illis (V. 579f).
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wird durch die zahleichen Zeichen des Unglücks offenbar, die die Hochzeit begleiten, die die tragischen Ereignisse ankündigen, und durch die die Götter ihr fehlendes Einverständnis sichtbar werden lassen.57 Ab diesem Moment scheint jegliche Ordnung aufgelöst, und die Handlung allein durch die Gewalt des Begehrens bestimmt zu werden. Die ungeheure Kraft, die diesem Begehren inhärent ist, wird durch zahlreiche sprachliche Bilder wie zum Beispiel das des Feuers sichtbar gemacht, das in Zusammenhang mit der Lust des Tereus in zahlreichen Variationen verwendet wird, um ihre zerstörerische Gewalt und autonome Macht deutlich werden zu lassen. So „entbrannte [er] nicht anders, als wenn ein Mann das Feuer gelegt an gilbende Ähren oder Blätter entzündet und Heu, das im Speicher gelagert“58, er „brennt […] am Fehl seines Stammes so gut wie am eigenen“59, „vermag die innere Glut nicht zu fassen“60 und „brennt von ihr noch.“61 Dabei paart sich die eigene Veranlagung mit der seines Volkes, welches ebenfalls für seine Heißblütigkeit und Maßlosigkeit bekannt ist. Denn Thrakien, das Land der Barbaren, ist auch das Land, in welchem die Riten zu Ehren des Gottes Bacchus vollzogen werden, was sich Progne zu nutze macht, indem sie ihre eigene Raserei hinter dem verbirgt, was der Ritus verlangt. Auch dieser steht stellvertretend für den enthemmten Rausch, sichtbar an den Tierfellen, mit denen sich die Frauen bedecken, dem Geheul, das sie ausstoßen, und den Reben und Weinblättern, die als Zeichen des Weingottes ihre Köpfe umkränzen – alles Zeichen, die einen Gegensatz zu den klassischen Insignien menschlicher Kultur wie Kleidung, artikulierte Sprache oder rationalem Handeln darstellen, die auf diese Weise pervertiert werden. Dadurch, dass die Frauen bei ihrer Raserei durch die nächtlichen Wälder streifen, wird ebenfalls eine Atmosphäre des Unsichtbar-Bedrohlichen evoziert, sodass dieser bacchische Bereich gleichermaßen mit dem der enthemmten, zügellosen Gewalt und ‚Un-Kultur‘ harmoniert, der bereits zuvor beobachtet werden konnte. Das Bild des zerstörerischen Feuers wird nicht nur im Zusammenhang mit dem Begehren des Tereus verwendet, sondern taucht ebenso im
_____________ 57 Non pronuba Iuno, non Hymenaeus adest, non illi Gratia lecto. Eumenides tenuere faces de funereraptas, Eumenides stravere torum, tectoque profanus incubuit bubo thalamique in culmine sedit (V. 428-432; Doch war bei dieser Vermählung Juno, die Schirmerin nicht, nicht Hymen, nicht eine der Gratien. Nein! Die Furien trugen die Fackeln, geraubt vom Begräbnis, nein, die Furien streuten das Lager. Es ließ auf dem Dach sich der gräuliche Uhu nieder und saß auf dem First des Gemachs). 58 non secus exarsit conspecta virgine Tereus, quam siquis canis ignem supponat aristis, aut frondem positasque cremet faenilibus herbas (V. 455-457). 59 flagrat vitio gentisque suoque (V. 460). 60 nec capiunt inclusas flammas (V. 466). 61 in illa aestuat (V. 490f.).
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Rahmen der Beschreibung der Rachlust Prognes auf: ein Zeichen dafür, dass das eine Begehren ein anderes entzündet hat und sich die Gewalt gleichsam zum ‚Flächenbrand‘ ausweitet. So ruft die Königin ihre geschändete Schwester „glühend in heißem, überwallendem Zorn“62 zur Rache auf und fragt sich: „Soll mit Fackeln in Brand ich setzen des Königs Behausung, mitten hinein in die Flammen den Schurken Tereus ich werfen […]?“63 Ebenso wie die Szenen der Gewalt nur durch Metaphern aus der Tierwelt in Worte zu fassen sind, zeigt sich auch das Begehren als Naturgewalt, was sich ebenfalls sprachlich niederschlägt. Erst als die blutige Rache der Schwestern wiederum durch Tereus vergolten werden soll und er Progne und Philomela mit dem Schwert zu erschlagen versucht, wird die Gewalt durch die Metamorphose beendet. Dennoch wird das Geschehene damit nicht getilgt: Die Vögel bezeugen noch heute durch den melancholischen Gesang der Nachtigall bzw. Stummheit der Schwalbe das vergangene Schicksal. So scheint schließlich die Beobachtung, dass das Verhalten aller Beteiligten nur noch dem eigenen Begehren folgt, sich in dem letzten Ausspruch Prognes niederzuschlagen, wenn sie zu Tereus sagt: „Drinnen hast du, den du verlangst.“ Die narzisstische Bedürfnisbefriedigung, die jede familiäre oder sexuelle Ordnung überschreitet, wird zur zentralen Handlungsmotivation und zu einem „désir, qui échappe aux lois de la cité. Le ménadisme comme l’inceste sont en effet les manifestations d’une sexualité narcissique qui ne connaît ni ne reconnaît la différence.“64 Diese These Véronique Gélys und Sylvie Ballestra-Puechs wird bestätigt durch das – wenn auch unwissentliche – Einverleiben seines Sohnes durch Tereus, ein Akt, der tatsächlich eine unübersehbare Parallele zum Mythos des Narziss aufweist. Während dieser sich nach seinem eigenen Spiegelbild verzehrt und daran zugrunde geht, verlangt auch Tereus immer wieder nach seinem Ebenbild. Im Gegensatz zu Narziss, dessen Objekt der Begierde unerreichbar bleibt, vereinigt sich Tereus mit seinem Sohn, doch geht er ebenso wie Narziss an seiner Leidenschaft zu Grunde. Dass sich die Kräfte und das Begehren der Körper kaum bezähmen lassen, und diese ein nahezu unkontrollierbares Eigenleben führen, wird in den beiden Szenen von Verstümmelung und Mord noch einmal deutlich. Zunge und Gliedmaßen agieren wie eigenständige Akteure, die sich sogar noch über den Tod hinaus für kurze Zeit als lebendig erweisen. Und so versinnbildlichen nicht nur die verwandelten Frauen durch ihren Gesang bzw. ihre Stummheit das Vergangene, auch die Verwandlung des Tereus vermag den Kern des Ge-
_____________ 62 ardet et iram non capit ipsa suam Progne (V. 609f.). 63 aut ego, cum facibus regalia tecta cremabo, artificem mediis inmittam Terea flammis (V. 614f.). 64 Ballestra-Puech/Gély (Anm. 23), S. 1563.
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schehens paradigmatisch zu fassen: Der lange Schnabel, der ihm als Wiedehopf wächst, wird als „maßlos“ (inmodicum)65 bezeichnet, und stigmatisiert seine (orale) Gier, die ihm ebenso wie sein maßloses Begehren zum Verhängnis wurde.
_____________ 65 prominent inmodicum pro longa cuspide rostrum (V. 673; Maßlos ragt ihm anstatt des langen Schwertes der Schnabel).
II. Die Ästhetik des Exzess: „Ovide moralisé“, V. 2217-3840 Der enorme Umfang des altfranzösischen „Ovide moralisé“ – er erreicht mit über 72 000 Versen nahezu enzyklopädische Ausmaße – scheint der wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Werk bislang eher im Wege gestanden zu haben, als sie zu befördern: „L’Ovide moralisé effraie.“1 Auf diese Weise bringt Jean-Yves Tilliette das Unbehagen der Forschung im Umgang mit diesem Zeugnis mittelalterlicher Ovid-Rezeption auf den Punkt, wobei sicherlich auch die den modernen Leser oftmals befremdlich anmutenden christlich-allegorischen Auslegungen der Mythen als Grund für seine wissenschaftliche Vernachlässigung vermutet werden können. Seit wenigen Jahren lässt sich in Frankreich jedoch eine Trendwende bei der Beschäftigung mit diesem Text beobachten, und zwar nicht nur in Bezug auf die ihm entgegen gebrachte und bis dato mangelnde Aufmerksamkeit, sondern auch bezüglich der Bewertung seiner literarischen Qualität. Während sich bislang die Kritik nahezu einstimmig dem Urteil Gaston Paris’ anschloss, der zwar die Geschichten des „Ovide moralisé“ als „récits […] reproduits avec naturel et facilité“2 bezeichnete, aber dafür die angefügten Moralisierungen der Mythen mit vernichtender Kritik bedachte,3 wurde das Werk in den vergangenen Jahren regelrecht rehabilitiert. Dies ist unter anderem den zahlreichen Arbeiten Marc-René Jungs,4 einem kürzlich erschienen Sammelband, dessen Beiträge sich vorwiegend dem „Ovide moralisé“ widmen,5 einer umfangreichen ‚Thèse d’Etat‘,6 sowie
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Tilliette, Jean-Yves: „L’écriture et sa métaphore. Remarques sur l’Ovide moralisé.“ In: Ensi firent li ancessor. Mélanges de philologie médiévale offerts à Marc-René Jung. Hg. v. Luciano Rossi/Christine Jacob-Hugon/Ursula Bähler. Vol. II. Turin 1996, S. 543-558, hier S. 543. Paris, Gaston: „Chrétien Legouais et autres traducteurs ou imitateurs d’Ovide.“ In: Histoire Littéraire de la France XXIX (1886), S. 455-525, hier S. 543. „Il est impossible d’être plus absurde“; „Il serait fastidieux et sans profit de poursuivre cette analyse, où nous ne trouverions rien de nouveau.“; Paris (Anm. 2), S. 518. Vgl. u.a. Jung, Marc-René: „Aspects de l’Ovide Moralisé.“ In: Ovidius redivivus. Von Ovid zu Dante. Hg. v. M. Picone und B. Zimmermann. Stuttgart 1994, S. 149-172; ders.: „Ovide, texte, translateur et gloses dans les manuscrits de l’Ovide Moralisé.“ In: The Medieval Opus. Imitation, Rewriting, and Transmission in the French Tradition. Proceedings of the symposium held at the Insititut for Research in Humanities, October 5-7 1995. Hg. v. Douglas Kelly. Amsterdam 1996, S. 75-98; ders.: „Les éditions manuscrites de l’Ovide moralisé.“ In: Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes/Romanische Zeitschrift für Literaturgeschichte 20 (1996), S. 251-274; ders.: „L’Ovide Moralisé glosé.“ In: Literatur: Geschichte und Verstehen. Festschrift für Ulrich Mölk zum 60. Geburtstag. Hg. v. H. Hudde u.a.. Heidelberg 1997, S. 81-93. Lectures et usages d’Ovide (XIIIè-XVè siècle). Hg. v. Emmanuèle Baumgartner u. Laurence Harf-Lancner. Paris 2002.
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einer ausführlichen Untersuchung durch Renate Blumenfeld-Kosinski als Verdienst anzurechnen.7 Obwohl das Interesse der Forschung geweckt und das wissenschaftliche Urteil gegenüber diesem als „monument de l’allégorèse médiévale“8 oder auch als „touchstone of medieval interpretive theory and practice“9 bezeichneten Text milder geworden ist, steht eine umfassende Monographie noch aus.10 Ein weiterer Schwerpunkt, den die Forschung bei der Auseinandersetzung mit dieser ersten vollständigen volkssprachigen „Metamorphosen“Übertragung neben den bereits erwähnten gelegt hat, ist die Beschäftigung mit einer autonomen, in das sechste Buch des „Ovide moralisé“ eingefügten Erzählung, dem Mythos von Philomela. Dieser wurde nicht wie die anderen Mythen der Ovid’schen „Metamorphosen“ durch den anonymen Autor vom Lateinischen ins Altfranzösische übertragen, sondern von einem gewissen Crestïens li Gois verfasst.11 Während sich der anonyme Autor im Verlauf des Textes mehrfach auf seine Ovid’sche Vorlage bezieht,12 verweist er auch in der Einleitung zu dieser eingefügten Erzählung auf die fremde Autorschaft derselben: Mes ja ne descrirai le conte / Fors si com Crestïens le conte, / Qui bien en translata la letre.13 Nicht nur zu Beginn, sondern auch am Ende der eingeschobenen Erzählung wird auf Crestïen ver-
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Pérez-Possamai, Marylène: L’Ovide moralisé. Essai d’interpretation. Paris 2006. Blumenfeld-Kosinski, Renate: Reading myth: classical mythology and its interpretations in medieval French literature. Stanford 1997, S. 90-136. Strubel, Armand: „Grant senefiance a“: Allégorie et littérature au Moyen Âge. Paris 2002, S. 245-248, hier S. 245. Blumenfeld-Kosinski (Anm. 7), S. 13. Die Tatsache, dass zwar mittlerweile die altfranzösische „Philomena“ in zweifacher, neufranzösischer Übersetzung vorliegt, nicht jedoch die dazugehörige Auslegung, demonstriert deren stiefmütterliche Behandlung durch die Forschung. Abgesehen von dem Philomela-Mythos existiert noch ein weiterer autonomer Einschub in das vierte Buch, der Mythos von Pyramus und Thisbe. Sein Autor ist anonym und auch hier weist der Autor des „Ovide moralisé“ auf dessen Entstehung durch eine fremde Feder hin: la fable si comme uns autres l’a dité (V. 227; die Geschichte, so, wie sie von jemand anderem berichtet wurde). Ovide moralisé. Poème du commencement du quatorzième siècle publié d’après tous les manuscrits connus par Cornelis de Boer. Tome I (livres 1-3), Amsterdam 1915. Tome II (livres 4-6), Amsterdam 1920. Tome III (livres 7-9), Amsterdam 1931. Tome IV (livres 10-13), Amsterdam 1936. Tome V (livres 14 et 15) avec deux appendices. Amsterdam 1938. Selonc ce qu’Ovides les baille (V. 19); Ovides distes (V. 72). Die „Philomena“ des „Ovide moralisé“ wird aus der folgenden Ausgabe zitiert: Pyrame et Thisbé, Narcisse, Philomena. Trois contes du XIIe siècle français imités d’Ovide. Présentés, édités et traduits par Emmanuèle Baumgartner. Paris 2000. Alle Zitate, die dem weiteren Text des „Ovide moralisé“ entnommen sind, werden nach der Ausgabe Cornelis de Boers (Anm. 11) zitiert. Bei den Übersetzungen handelt es sich um die der Autorin. L.B.
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wiesen: De Philomena faut le conte / Si com Crestïens le raconte.14 Seine eigene Leistung benennt der anonyme Autor damit, diese von Chrétien verfasste Erzählung vollständig und wahrheitsgemäß wiederzugeben und ihr schließlich - für den Leser deutlich erkennbar an deren Ende platziert – eine Allegorie hinzuzufügen: Tout son dit vous raconterai, / Et l’alegorie en trairai.15 Die auf diese Weise durch den „Ovide moralisé“ umschlossene und mit ihm ‚verzahnte‘ „Philomena“ ist auch nicht in einer eigenständigen Handschrift überliefert. Die Überlieferung des gesamten „Ovide moralisé“ ist mit siebzehn vollständigen Manuskripten und einigen Fragmenten ungewöhnlich umfangreich und spiegelt den Erfolg der moralisierenden Ovid-Ausgaben des 14. Jahrhunderts wider.16 Ob es sich bei Crestïens li Gois und Chrétien de Troyes um ein und dieselbe Person handelt, ist in der Forschung umstritten. Die Diskussion wurde vor allem durch die Tatsache angeregt, dass in Vers 734, der die exakte Mitte der „Philomena“ bildet, ein weiteres Mal der Autor des Textes benannt wird, wenn es heißt: - Ce conte Crestïens li Gois -.17 Der in Gedankenstriche gefasste Einschub sowie das Unterbrechen des Versmaßes durch diesen Zusatz legt die Vermutung einer bewussten Zäsur an dieser prominenten Stelle nahe, die ebenfalls in allen Manuskripten in identischer Weise überliefert ist. Daher erstaunt es nicht, dass zahlreiche Interpretationen vorliegen, die diesen rätselhaften Namen zu entschlüsseln versuchen, wobei die Erklärungsversuche jedoch vorwiegend dazu benutzt wurden, eine Zuschreibung des Textes für oder wider Chrétien de Troyes zu stützen.18
_____________ 14 Ovide moralisé, V. 3685f. 15 Ovide moralisé, V. 2215f. 16 Vgl. Berthelot, Anne: „Note sur le texte et sur la traduction.“ In: Chrétien de Troyes: Oeuvres complètes. Edition publié sous la direction de Daniel Poirion, avec la collaboration d’Anne Berthelot, Peter F. Dembowski, Sylvie Levèvre, Karl D. Utti et Philippe Walter. Paris 1994, S. 1394. Joseph Engels berichtet von 19 Handschriften, deren Beschreibung und Klassifikation er ein Kapitel seiner Dissertation widmet. Engels, Joseph: Etudes sur l’Ovide moralisé. Groningen 1945, S. 44-42. 17 Marie Claire Gérard-Zai bezeichnet das mittige Plazieren des Autornamens als nicht erstaunlich, da der Autor sich selbst womöglich in einem Prolog ausführlicher zu seiner eigenen Person geäußert hat, dieser jedoch dem Autor des „Ovide moralisé“ nicht interessant genug erschien und daher weggelassen wurde. Da der mittelalterliche Autor jedoch eine bedeutende Rolle bei der Konstitution eines Textes spielte, halte ich diese Annahme jedoch für wenig wahrscheinlich. Vgl. Gérard-Zai, Marie Claire: „L’auteur de Philomena.“ In: Revista de Istorie si Teorie literara 3/25 (1976), S. 361368, hier S. 362. 18 So interpretiert Cornelis de Boer li Gois als Äquivalent zu de Gouaix („aus Gouaix“), einem Dorf der Champagne, und vermutet dieses als möglichen Geburtsort Chrétiens de Troyes. Vgl.: Philomena. Conte raconté d’après Ovide par Chrétien de Troyes. Hg. v. Cornelis de Boer. Paris 1909, S. CXII.
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Tatsächlich wird die Entstehung des eingeschobenen Textes im Gegensatz zu dem auf das erste Viertel des 14. Jahrhunderts zu datierenden „Ovide moralisé“ auf einen Zeitpunkt zwischen 1165-1170 geschätzt, sodass unter zeitlichen Gesichtspunkten die „Philomena“ als ein Frühwerk Chrétiens de Troyes angesehen werden könnte. Auch berichtet dieser selbst im Prolog seines „Cligès“, er habe eine Geschichte de la hupe et de l’aronde et dou rousignol la muance verfasst,19 sodass die Vermutung nahe liegt, es handle sich bei der eingeschobenen „Philomena“ um eine Überlieferung der verloren gegangenen Bearbeitung des Mythos durch den berühmten Autor aus der Champagne. Auf eine Zusammenfassung der Argumente für oder wider eine Autorschaft Chrétiens de Troyes soll an dieser Stelle verzichtet werden.20 Diese Problematik dominiert die Forschung zu diesem Text und eine zweifelsfreie Antwort auf diese Frage steht bislang noch aus: „À l’heure actuelle aucune réponse définitive n’a pu être proposée.“21 Dennoch mehren sich Stimmen und Argumente für eine Autorschaft Chrétiens, sodass die Aufnahme der „Philomena“ in die 1994 im Rahmen der Pleïade-Reihe erschienene Gesamtausgabe seiner Werke die vorherrschende Forschungsmeinung widerspiegelt.22 Zwar ist die Entwicklung der Untersuchung der „Philomena“ eng mit der des „Ovide moralisé“ verknüpft, doch soll sie im Folgenden – abgesehen von der zum Mythos gehörenden Moralisierung - aus dessen Umklammerung gelöst und als eigenständiger Text betrachtet werden. Da sie unabhängig und vorzeitig zu dem sie ‚beherbergenden‘ Werk entstanden ist, ist dies möglich und notwendig, um die vorliegende Untersuchung entsprechend zu begrenzen. Betrachtet man nämlich die Arbeiten, die sich der Chrétien’schen „Philomena“ widmen, ohne sich auf die Frage des Autors zu konzentrieren, so ergibt sich eine übersichtliche Menge an Texten. Zahlreiche hilfreiche Hinweise der Philomela-Forschung verdankt diese den bislang vorliegenden drei Editionen des altfranzösischen Werkes sowie ihren Einführungen und Stellenkommentaren. Zunächst publizierte Cornelis de Boer 1909 den Text mit einem kritischen Apparat, einer Ein-
_____________ 19 V. 6f; Über die Verwandlung des Wiedehopfs, der Schwalbe und der Nachtigall. Chrétien de Troyes: Cligès. In: Oeuvres complètes (Anm. 16), V. 6. 20 Eine Übersicht zu dieser Frage bietet der Aufsatz von Schulze-Busacker, Elisabeth: „Philomena. Une révision de l’attribution de l’oeuvre.“ In: Romania CVII (1986), S. 459-485. Vgl. ebenfalls den Aufsatz der Autorin: „Das beredte Verschweigen der Vorlage. Beobachtungen zum Philomena-Mythos Crestïens li Goi.“ In: Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin, New York 2005, S. 185-197. 21 Baumgartner (Anm. 13), S. 274. 22 Aus diesem Grund wird – die Primärzitate ausgenommen - im Folgenden auch der Name ‚Chrétien de Troyes‘ verwendet.
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führung sowie der Auslegung des Mythos.23 Neben einem Überblick über die wechselvolle Geschichte der Zuschreibung des „Ovide moralisé“ im Allgemeinen und der „Philomena“ im Besonderen sowie einer sprachlichen Untersuchung des Textes vergleicht er diesen detailliert mit seiner lateinischen Vorlage, wobei er seine Beobachtungen immer wieder als Argument für oder wider eine Autorschaft Chrétiens de Troyes verwendet. So kommt er auch zu dem Schluss, dass die psychologische Ausarbeitung der Figuren, die sorgfältige Komposition des Textes sowie das Einfügen langer Dialoge aufgrund ihrer Kompatibilität mit dem Chrétien’schen Stil als Indiz für dessen Autorschaft gewertet werden können. Auch bei seinen Überlegungen bezüglich des Zeitpunktes der Entstehung sowie seiner Vermutung, bei li Gois handle es sich um einen Herkunftsnamen, der auf eine Ortschaft in der Champagne namens Gouaix, dem möglichen Geburtsort Chrétiens, zurückzuführen ist, steht die Frage nach dem Autor im Vordergrund, eine literarische Analyse des Werkes bleibt von untergeordneter Bedeutung. Die beiden ein knappes Jahrhundert später verfassten Editionen durch Daniel Poirion unter Mitarbeit von Anne Berthelot sowie die Edition Emmanuèle Baumgartners berücksichtigen im Umgang mit dem Text sehr viel mehr dessen literarische Qualität, ohne sich zwangsläufig an der Frage der Autorschaft abzuarbeiten. Sie untersuchen seine Auslassungen, Zusätze und Umstellungen, um im Vergleich mit der Ovid’schen Vorlage die Elemente herauszufiltern, die Aufschlüsse über die Eingriffe Chrétiens de Troyes liefern und seiner Eigenheit im Umgang mit dem antiken Vorläufer auf die Spur zu kommen. Zwar erwähnt Anne Berthelot in den „notices“ ihrer „Philomena“-Edition die nicht geklärte Autorschaft des Textes, doch beschränken sich ihre Anmerkungen auf wenige Sätze, die angesichts der Aufnahme des Werkes in die Ausgabe der „Oeuvres complètes“ Chrétiens de Troyes durchaus berechtigt erscheinen, jedoch durch die diesbezüglich zurückhaltenden Äußerungen überraschen.24 Darüber hinaus betont sie in ihren Textbeobachtungen sowie ihren anschließenden Stellenkommentaren vor allem die Umarbeitung dieses blutigen Mythos in ein Stück höfische Literatur durch Chrétien. Ebenfalls verweist sie auf
_____________ 23 Philomena. Conte raconté d’après Ovide par Chrétien de Troyes. Hg. v. Cornelis de Boer. Publié d’après tous les manuscrits de l’Ovide moralisé avec introduction, notes, index de toutes les formes et III appendices. Paris 1909. Vorausgegangen ist dieser Ausgabe lediglich Tarbé, der die „Philomena“ 1850 in Reims im Rahmen seiner Ausgabe „Oeuvres de Philippe de Vitry“ sowie als Teil des „Ovide moralisé“ jedoch nur fragmentarisch veröffentlichte. 24 „C’est peut-être pousser un peu loin l’optimisme que de croire en la conservation miraculeuse de la version du maître champenois dans une compilation plus tardive d’une siècle.“ Berthelot (Anm. 16), S. 1391.
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dessen „choix relativement originaux“,25 die er im Umgang mit seiner antiken Vorlage vollzieht, indem er einzelne Motive wie z.B. das Verschlingen/Einverleiben oder die Tätigkeit des Webens auswählt und ausweitet, um diese dem Text wie eine „trame polyphonique“26 zu unterlegen, oder die Ovid’sche Fassung um ein detailliertes Portrait Philomelas sowie eine Beschreibung des Trauerrituals Prognes als Beispiele mittelalterlicher amplificatio zu ergänzen. Mit der Edition ist die erstmalige Übersetzung der „Philomena“ ins Neufranzösische verbunden. Emmanuèle Baumgartner, die in ihrer Edition aus dem Jahre 2000 ebenfalls eine Übersetzung des Textes liefert, unterstreicht in dem Kommentarteil als eine von Wenigen die ironischen Passagen des Autors im Umgang mit dem Stoff,27 diskutiert die ungewöhnlich scharf geschliffene Rhetorik der Protagonistin, die sich unter anderem im verbalen Wettstreit mit ihrem Widersacher Tereus offenbart,28 und die Bedeutung der finalen Metamorphose der Figuren.29 Darüber hinaus weist sie auf das Spannungsfeld hin, das sich zwischen der Übertragung des Mythos in einen höfischen Kontext, und dessen Knotenpunkten der Handlung ergibt, die jeder höfischen Kultur zuwider laufen: Inzest, Vergewaltigung, Verstümmelung, Kindsmord, Anthropophagie. Diese Beobachtungen, die aufgrund der Kürze eines Kommentarcharakters wesentliche Eigenheiten des Textes nur berühren können, sollen im Folgenden aufgegriffen und weiter ausgeführt werden. Die verbleibenden Publikationen untersuchen die Chrétien’sche „Philomena“ unter den unterschiedlichsten Gesichtspunkten. So analysiert Raymond J. Cormier in einem kurzen Aufsatz den ironischen Gebrauch und die Funktion der Tränen, die Chrétien wiederholt in der „Philomena“ zur Charakterisierung seiner Figuren einsetzt, und wertet sie als Beleg für die poetische Individualität ihres Autors.30 Dass sich die Konfrontation des Menschen mit dem Bösen im Mittelpunkt dieses Werkes befindet, und auf welch kunstvolle Weise sich dies in der symmetrisch aufgebauten Figurenkonstellation widerspiegelt, deren Beziehungen untereinander durch emotionale Exzesse bestimmt sind, diskutiert Colette Storms in ihrem Aufsatz „Le mal dans Philomena“.31 Dabei bezieht sie ebenfalls die Morali-
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Berthelot (Anm. 16), S. 1393. Berthelot (Anm. 16), S. 1392. Baumgartner (Anm. 13), S. 275f. Baumgartner (Anm. 13), S. 276. Baumgartner (Anm. 13), S. 14, 277. Cormier, Raymond J.: „The gift of tears in Chrétien’s Philomena.“ In: Beiträge zum romanischen Mittelalter. Hg. v. Kurt Baldinger. Tübingen 1977, S. 193-197. 31 Storms, Colette: „Le mal dans Philomena.“ In: Imaginaires du mal. Etudes réunies et présentés par Myriam Watthee-Delmotte et Paul-Augustin Derproost. Paris, Louvainla-Neuve 2000, S. 103-113.
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sierung in ihre Überlegungen mit ein und erkennt in deren scheinbar willkürlicher Auswahl von Elementen des Mythos dennoch insofern eine nachvollziehbare Struktur, als dass diese die starke Zuneigung der Schwestern untereinander als zentrales Motiv des Mythos bewertet und interpretiert. Edith Joyce Benkov betrachtet die Chrétien’sche „Philomena“ als Paradebeispiel für die literarische Technik der Adaptation innerhalb des 12. Jahrhunderts, sowie der gezielten thematischen Entwicklung durch den Autor.32 Dabei stellt sie die antihöfische Dimension des Textes in den Vordergrund und plädiert dafür, die „Philomena“ als Chrétiens ersten roman à thèses anzusehen. Auch Wagih Azzam beschäftigt sich mit dem Thema der Autorschaft in Chrétiens „Philomena“, jedoch nicht in Hinblick auf die Frage, ob Crestïens li Goi mit Chrétien de Troyes identisch ist, sondern bezüglich des Verhältnisses des altfranzösischen Autors zu seiner antiken Vorlage, von der er sich augenscheinlich und durch zahlreiche literarische Kunstgriffe distanziert.33 Als ein solcher ist, so Azzam, ebenfalls der Einschub in der Mitte des Mythos zu verstehen. Dort unterscheidet sich Chrétien durch das Verb conter gegenüber des durch den Autor des „Ovide moralisé“ verwendeten traire zur Bezeichnung seiner eigenen Tätigkeit und lässt somit die intendierte Eigenständigkeit seines Erzählens erkennen. Marylène Possamaï-Perez berücksichtigt in ihrem Aufsatz „Chrétien de Troyes au début du XIVe siècle: Philomena ,moralisé‘ “34 als eine von Wenigen ebenfalls die Moralisierung des Mythos und betrachtet den Text Chrétiens als „en parfaite cohérence avec la moralisation qu’il lui adjoint au XIV siècle,“35 eine These, die sie vor allem durch die christianisierenden Elemente stützt, die sie im Text erkennt. Doch handelt es sich bei der „Philomena“ tatsächlich um einen moralisierenden Text, obwohl er, was seine ‚Implementierung‘ deutlich macht, augenscheinlich nicht für das Kompendium des „Ovide moralisé“ konzipiert worden ist? Wie begegnet der Autor dem offensichtlichen Widerspruch, der sich zwischen dem erzählten, blutrünstigen, geradezu antihöfischen Stoff und der höfischen Kultur zur Zeit seiner Adaptation auftut? Was für Modifikationen vollzieht Chrétien, um dem zeitgenössischen Geschmack seines Publikums gerecht zu werden, bei dem er Erfolg ge-
_____________ 32 Joyce Benkov, Edith: „Philomena: Chrétien de Troyes’ reinterpretation of the Ovidian myth.“ In: Classical and modern literature: A-Quarterly (CML) 4/3 (1983), S. 201-209. 33 Azzam, Wagih: „Le printemps de la littérature. La „translation“ dans „Philomena“ de Crestiiens li Gois.“ In: Littérature LXXIV (1989), S. 47-62. 34 Possamaï-Perez, Marylène: „Chrétien de Troyes au début du XIVe siècle: Philomena moralisé.“ In: L’oeuvre de Chrétien de Troyes dans la littérature française. Réminiscences, résurgences et réécritures. Textes rassemblés par Monsieur le Professeur Claude Lachet. Lyon 1997, S. 169-185. 35 Possamaï-Perez (Anm. 34), S. 171.
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habt zu haben scheint, was man aufgrund der zahlreichen Überlieferungen durch den „Ovide moralisé“ vorsichtig vermuten darf? Die Frage, warum sich der Autor der „Philomena“ gerade diesen Mythos aus der umfangreichen Sammlung der Ovid’schen „Metamorphosen“ als Text für eine Bearbeitung ausgewählt hat, ist schwer zu beantworten. Berücksichtigt werden muss bei dieser Überlegung ebenfalls, dass sicherlich weitere, unabhängig vom Gesamtwerk der „Metamorphosen“ entstandene Bearbeitungen einzelner darin enthaltener Mythen existierten, jedoch verloren gegangen sind, was die anfänglich zitierte Passage aus Chrétiens de Troyes „Cligès“ belegt. Einig ist sich die Forschung darüber, dass es dem Autor der „Philomena“ bei seiner Arbeit gelungen ist, einen Text zu erstellen, dessen Qualität die Autorschaft eines Chrétien de Troyes durchaus in Betracht ziehen lässt. Wiederholt werden in der Sekundärliteratur die kunstvolle Struktur, die rhetorische Brillanz der Dialoge sowie die elegante Sprache des Autors hervorgehoben, so dass man diesem auch bezüglich der Wahl seines Stoffes eine Reflexivität unterstellen kann. So manifestiert sich in der Bearbeitung der „Philomena“ ein „goût de l’horreur et le macabre“,36 eine Faszination der Überschreitung von Grenzen, mit denen die höfische Kultur und das Konzept höfischer Liebe der leidenschaftlich-rohen Wildheit zu begegnen suchte, die sich in den Ovid’schen „Metamorphosen“, und allem voran im PhilomelaMythos unverhohlen offenbart. Handelt es sich also, wie sich auch Emmanuèle Baumgartner in der Einleitung ihrer Edition fragt, um eine „catharsis des passions“, um einen Versuch „d’en finir, dans une esthétique de l’excès, avec les désordres amoureux pour plier le désir charnel aux lois idéales de la ,fin’amor‘ “?37 Oder wurde der heidnische Kontext des Mythos als Vorwand benutzt, um sich mit sozialen und moralischen Verfehlungen beschäftigen zu können, Motive, deren exzessive Darstellung in der höfischen Literatur schwer vorstellbar war? Auch Anne Berthelot beobachtet die offensichtliche Spannung zwischen heidnischer Zügellosigkeit und höfischem Korsett innerhalb des Textes und sieht gerade in der kunstvollen Verbindung dieser Gegensätze die besondere Leistung des Autors: „L’art du conteur consiste à faire de ce sujet sanglant et a priori anti-courtois un récit éminemment courtois, en effaçant l’hypothétique portée morale de l’exemplum, et en estompant les traits les plus primitifs de l’histoire autant que faire se peut.“38 So behält Chrétien in seinem Text zwar die Handlungsstruktur gemäß der Ovid’schen Vorlage bei, sein Akzent verschiebt sich trotzdem auf mehrfa-
_____________ 36 Baumgartner (Anm. 13), S. 11. 37 Baumgartner (Anm. 13), S. 17. 38 Berthelot (Anm. 16), S. 1392.
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che Weise, was sich vorwiegend durch das rhetorische Mittel der amplificatio sowie durch Kürzungen, eine veränderte Erzählform und durch das Altfranzösisch manifestiert, welches sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht in einem ebenso vollendeten Entwicklungsstadium befand wie die lateinische Sprache zur Zeit Ovids. Betrachtet man die Chrétien’sche Bearbeitung der Elemente des Mythos, die für seinen Handlungsverlauf zentral und gleichzeitig von ungewöhnlicher Grausamkeit sind, so erfahren sie sowohl inhaltlich, als auch bezüglich ihres Umfangs eine deutliche Abschwächung. Die Vergewaltigung wird bei Chrétien innerhalb von vier Versen abgehandelt,39 das Schwert des Tereus verwandelt sich zu einem kleinen Messer, mit dem dieser Philomela ‚nur‘ die halbe Zunge abschneidet, und die faszinierend schaurige Szene des Ovid’schen Textes, in der Philomelas abgeschlagene Zunge dem Schwanz einer Schlange gleich auf dem Boden zuckt, als ob sie noch „im Sterben die Spur ihrer Herrin“40 suche, lässt Chrétien weg. Auch der Mord an Prognes Sohn Itys sowie das Zubereiten des schrecklichen Mahls nehmen lediglich sieben Verse ein, was für die insgesamt 1468 Verse umfassende, und somit im Vergleich mit der Ovid’schen Fassung um ein Bedeutendes umfangreichere Erzählung sehr wenig ist. Unabhängig von der Frage, ob es sich bei Crestïens li Goi um Chrétien de Troyes handelt, wertet Berthelot auch die mittige Nennung des kryptischen Autornamens als Kunstgriff, um die Aufmerksamkeit des Lesers von der Vergewaltigungs- und Verstümmelungsszene abzulenken, die wenig später im Text zu lesen ist.41 Tatsächlich ist die Abschwächung der blutigen Szenen des Mythos nicht zu übersehen – „l’accent est ailleurs“.42 Ausgebaut bzw. völlig neu hinzugefügt werden demgegenüber zahlreiche andere Elemente wie z.B. die wiederholte Ankündigung des tragischen Verlaufs der Handlung durch den Erzähler, der durch zahlreiche Wertungen des Geschehens sowie ausführliche Dialoge mit sich selbst bzw. einer zweiten, imaginären Instanz eine bedeutende Rolle innerhalb des Textes einnimmt. Dies hat zur Folge, dass der Schwerpunkt der Darstellung nicht auf das finale Ergebnis der Handlung gelegt wird, sondern auf die Art und Weise seines Erreichens, ein rhetorisches Element, das bereits Ovid verwendet, das jedoch auch in der mittelalterlichen Literatur oft zum Einsatz kommt und von
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V. 836-840. V. 560; moriens dominae vestigia quaerit. Berthelot (Anm. 16), S. 1392. Berthelot (Anm. 16), S. 1392.
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Clemens Lugowski mit dem eindrücklichen Terminus der ‚Wie-Spannung‘ bezeichnet wurde.43 So wird die Dramatik des Geschehens bereits gleich zu Beginn innerhalb des ersten Erzähler-Dialogs angedeutet,44 wenn der imaginäre Gesprächspartner des Erzählers diesen korrigiert und Tereus nicht als König, sondern als Scharfrichter oder Peiniger bezeichnet: - Pour ce qu’il la dona a roi. – A roi? Mais a tirant felon.45 Dass der Handlungsverlauf auf ein tragisches Ende zusteuert, wird nicht nur durch die zu Beginn der Geschichte unerwartet eingestreute, negative Beurteilung des Tereus angedeutet, sondern auch durch die im Vergleich zum Ovid’schen Text wesentlich ausführlicher geratene Beschreibung der Unglückszeichen vorbereitet, die sich bei der Hochzeit von Progne und Tereus manifestieren. Neben dem in der antiken Fassung präsenten Uhu treten bei Chrétien zahlreiche weitere unheilvolle Vögel (Kuckuck, Rabe, Waldkauz, Eule) auf, deren geballte Existenz einen fast komischen Effekt erzielen,46 ebenso wie die Parze Atropos, die den Lebensfaden abschneidet, Tisiphone, eine der drei Furien, sowie die Schicksalsgöttinnen, die am Ende der Geschichte die Metamorphose der drei Figuren veranlassen werden. Gleichzeitig weist der Erzähler auf die Abwesenheit des heidnischen Hochzeitsgottes Hymen sowie eines christlichen Geistlichen hin, was aus der Passage nicht nur eine unheilsschwangere Szene, sondern auch ein „bel exemple de syncrétisme“47 werden lässt. Der Autor begnügt sich nicht nur mit der Nennung dieser zahlreichen negativen Vorzeichen, die bei den mittelalterlichen Rezipienten automatisch düstere Assoziationen geweckt hätten, sondern verweist noch einmal explizit auf deren Bedeutung: Cil signes ne fu mie biaus Ainsi fu de duel et de pesance
_____________ 43 Vgl. Lugowski, Clemens: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählungen. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer. Frankfurt a. M. 1976. 44 V. 9-11. 45 V. 10f.; Weil er [Pandion] seine Tochter einem König zur Frau gab. – Einem König? Vielmehr gab er sie einem grausamen Peiniger. 46 Dies bemerkt auch Berthelot (Anm. 16), S. 1396. „Tous les oiseaux mentionnés ici sont considérés comme de mauvais augure; mais il est rare de les rencontrer ensemble, et leur accumulation produit un effet involontairement comique […].“ Ob es sich hier um einen unfreiwillig komischen Effekt, oder vielmehr um Ironie des Erzählers handelt, bleibt jedoch – besonders im Hinblick auf sein späteres Spiel mit erzählerischen Topoi - zu diskutieren. 47 Baumgartner (Anm. 13), S. 159.
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Toute cele senefiance. Moult fu lor assamblee male.48
Diese auffällig häufigen Ankündigungen des nahenden Unglücks ziehen sich bis an das Ende der Geschichte hindurch: Der baldige Tod des Itys wird vorausgesagt,49 ebenso wie das grausame Schicksal der Philomela wiederholt vorweggenommen50 und die endgültige Trennung von Vater und Tochter im Moment der Abreise prophezeit wird.51 Die Spannungserzeugung, die auf diese Weise entsteht, ist nicht die einzige Strategie bei der Akzentverschiebung weg von der primitiven Gewalt hin zu höfischer Ordnung. Zwei Szenen werden dem Text durch den altfranzösischen Autor hinzugefügt, in denen dieser zum einen seine rhetorische Kunstfertigkeit unter Beweis stellt, zum anderen bei der Wahl der Motive seiner ausführlichen descriptio auf Topoi der narrativen Literatur des 12. Jahrhunderts zurückgreift und sich somit in die poetische Tradition seiner Zeit hineinschreibt. Das Portrait Philomelas, das Chrétien bei deren ersten Auftritt zeichnet, benennt Anne Berthelot als „l’un des plus détaillés qui soit dans la littérature du temps“,52 und tatsächlich nimmt es im Vergleich zu seiner antiken Vorlage und insgesamt achtzig Versen einen ungewöhnlich großen Raum innerhalb des Textes ein. Die ausgefeilte Beschreibung der Königstochter beinhaltet zwar zahlreiche klassische Elemente eines mittelalterlichen Frauenportraits, doch wird diese zunächst recht konventionelle Passage vor allem in seinem zweiten Teil von äußerst ungewöhnlichen Details unterbrochen, die nicht das makellose Äußere Philomelas, sondern ihre intellektuellen Qualitäten betreffen. Auch wenn der einführende Eindruck, Philomela ne sambloit pas nonain velee53 in seiner Anspielung auf ihre erotische Erscheinung eher ungewöhnlich ist, und ebenso der anschließende Unsagbarkeits-Topos des Erzählers, dass weder Platon, Homer oder Cato dazu in der Lage seien, ihre Schönheit zu beschreiben, auf antike Autoritäten verweist, die nicht in erster Linie durch ihre Beschreibungskünste der weiblichen Schönheit berühmt sind, so folgt das Portrait dennoch den klassischen Etappen einer mittelalterlichen descriptio.
_____________ 48 V. 24-27; Diese Vorzeichen waren unheilvoll, alles sagte Schmerz und Leid voraus. Ihre Hochzeit war von Unglück behaftet. 49 Ce fu deulz grans / Qu’il ne vesqui plus longuement. (V. 44f.; Es war ein großes Unglück, dass er nicht lange leben sollte). 50 Jusqu’a court terme ert malbaillie / La pucele que il en maine! (V. 716f.; In kurzer Zeit sollte die Jungfrau, die er mit sich führte, ein grausames Schicksal erleiden). 51 Quar ja mais ne la reverra / N’en sa terre ne renterra (V. 725f.; Denn er sollte sie nie mehr wieder sehen, und sie würde nicht mehr nach Hause zurückkehren). 52 Berthelot (Anm. 16), S. 1393. 53 V. 126.; Sie sah nicht wie eine verschleierte Nonne aus.
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Nachdem der Autor über neunundzwanzig Verse die Schönheit ihres goldglänzenden Haares, ihres ebenmäßigen Gesichtes sowie ihrer makellosen Statur beschreibt, widmet er sich in den folgenden sechsunddreißig Versen ihren intellektuellen Talenten. Ungewöhnlich sind neben diesem beträchtlichen Umfang der Beschreibung auch die Art der Talente sowie die Vergleiche, die durch den Autor vorgenommen werden. So wird Philomelas Kunstfertigkeit bei verschiedensten Unterhaltungskünsten und Gesellschaftsspielen wie z.B. dem Schachspiel hervorgehoben, die sie bedeutend besser als Tristan oder Apollonius beherrsche.54 Auch zeichne sie sich durch ihre Fähigkeit aus, Raubvögel zu zähmen und abzurichten, sowie durch ihre Leidenschaft, auf die Jagd zu gehen - eine für eine höfische Dame äußerst ungewöhnliche, im Regelfall dem männlichen Geschlecht zugeordnete Tätigkeit. Die nachfolgende Beschreibung ihrer Perfektion bei der Verarbeitung von Purpur sowie anderen kostbaren Seidenstoffen scheint auf den ersten Blick sehr viel besser in den Kanon weiblicher Kompetenzen hineinzupassen. Doch wird das Erwähnen dieser klassisch-femininen Handarbeit, die Philomela wie keine zweite auf der Welt beherrsche, direkt im darauf folgenden Vers in ein ungewöhnliches Licht gerückt, wenn der Erzähler berichtet, dass sie sogar dazu in der Lage sei, la mesnie Hellequin auf einen Stoff zu sticken. Das Erwähnen der Figur des Hellequin, der auch als Herlequin, Alichino, Harlekin oder auch Erlkönig in der europäischen Folklore weit verbreitet ist,55 verweist auf eine übernatürliche, fantastische Jagd einer Armee von Bewaffneten oder auch Toten und Verdammten und steht im Kontrast zu den in der Regel dekorativen Motiven einer Webarbeit. Zwar ist das Erwähnen des handarbeitlichen Talents der Philomela geschickte Vorbereitung der Erstellung ihres späteren Kunstwerks, gleichzeitig kann das Motiv des Hellequin als Vorwegnahme der blutigen Szenen gelesen werden, die Philomela wenig später in ihren Stoff hineinweben wird.56 Bei der Analyse des Chrétien’schen Textes im Vergleich mit seiner antiken Vorlage drängt sich allerdings noch eine weitere Verbindung auf. Während sich in der Ovid’schen Fassung des Mythos Progne als Bacchantin verkleidet und sich mit einer Schar von rasenden Frauen in den Wald
_____________ 54 Plus sot de joie et de deport / Qu’Apolloines ne que Tristrans (V. 174f.; Sie beherrschte Unterhaltungskünste und Gesellschaftsspiele besser als Apollonius oder Tristan). 55 Vgl. Dufournet, Jean: Adam de la Halle à la recherche de lui-même ou le jeu dramatique de la feuillée. Paris 1974, S. 147-158; Menard, Philippe: „Une parole rituelle dans la chevauché fantastique de la ,Mesnie Hellequin‘.“ In: Littératures 9/10 (1984), S. 111; Le mythe de la chasse sauvage dans l’Europe médiévale. Etudes réunies et présenées par Philippe Walter avec la collaboration de Claude Perrus, François Delpech et Claude Lecouteux. Paris 1997. 56 Diese Vermutung stellt auch Baumgartner in dem entsprechenden Stellenkommentar zur Diskussion. Baumgartner (Anm. 13), S. 173.
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begibt, um Philomela aus ihrem dortigen Gefängnis zu befreien, lässt Chrétien diesen Teil der Handlung weg – bei ihm folgt Progne heimlich der Magd, die ihr das Gewebe überbrachte, und gelangt so zu der abgelegenen Hütte, in der ihre Schwester gefangen gehalten wird. Da die Figur der Tochter, die das Gewebe überbringt, bei Ovid nicht so entwickelt ist wie bei Chrétien, bedarf es in der altfranzösischen Version des Mythos auch nicht mehr der Episode der Bacchantinnen, denen sich Progne anschließt, um Philomela zu finden. Hier muss sie lediglich der Tochter ihrer Wärterin folgen, um die Schwester zu finden. Dennoch weisen beide Motive, die mesnie Hellequin sowie die Bacchantinnen, trotz ihrer unterschiedlichen Entstehung sowie ihrer ungleichen Positionierung und Funktion innerhalb des Textes eine Gemeinsamkeit auf. Es handelt sich um genau definierte Gruppen, die sich in unterschiedlicher Form bedrohlich und nicht dem gesellschaftlichen Verhaltenskodex konform gebärden. Die Frauen ziehen berauscht, mit wildem Geheul sowie mit Tierfellen und Weinranken bekleidet umher, verbreiten Schrecken und dulden keine männlichen Wesen unter sich. Auch die Gruppe unter der Anführerschaft des diabolischen Hellequin ist als Armee von Bewaffneten bzw. Widergängern gefürchtet, sodass zwar nicht von einem Ersetzen der einen infernalen Gruppe durch die andere, doch möglicherweise von einer ähnlichen Form der Vorausdeutung des späteren Geschehens ausgegangen werden kann.57 Schließlich wird noch eine weitere Fähigkeit Philomelas erwähnt, nämlich ihre Kenntnis Des auctours,58 also der im Mittelalter gängigen, antiken Autoren, zu denen auch Ovid zu zählen ist. Vers et letre,59 mündliche und schriftliche Dichtung beherrsche sie ebenfalls, ebenso wie zahlreiche Musikinstrumente, die in einer langen Liste aufgezählt werden. Mit der Bemerkung, Philomela könne sich so kunstvoll ausdrücken, dass sie in der Lage sei, damit Schule zu machen,60 beendet der Erzähler dieses ungewöhnliche Portrait. Obgleich es zahlreiche Topoi des klassischen, mittelalterlichen Frauenportraits aufgreift und der Autor damit seine rhetorische Kompetenz
_____________ 57 Baumgartner weist auf das Fehlen dieses erzählerischen Elements bei Chrétien hin, wobei sie dies durch die Unmöglichkeit der Integration der rasenden Bacchantinnen in einen höfischen Text erklärt. In Anbetracht der zahlreichen weiteren, dezidiert unhöfischen Geschehnisse des Mythos soll dies als Grund für das Weglassen der Passage jedoch angezweifelt werden. In der 1545 verfassten Adaptation durch Georg Wickram wird diese Szene in aller Ausführlichkeit geschildert und sogar durch die Figur eines Jungen ergänzt, der sich entgegen das Gebot unter die rasenden Frauen mischt und daraufhin von seiner eigenen Mutter in Stücke gerissen wird. 58 V. 194. 59 V. 195. 60 Et tant sot sagement parler / Que seulement de sa parole / Seüst elle tenir escole. V. 202-204.
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unter Beweis stellt, enthält es gleichzeitig originelle Elemente, die zum einen subtil das weitere Geschehen vorbereiten, zum anderen ein Verkehren der typischen Geschlechterrollen beinhaltet. Die Betonung der geistigen Bildung und des Talents als Jägerin fallen aus dem Rahmen, ebenso wie das Hervorheben ihrer handwerklichen Künste durch das Erwähnen des Hellequin-Motivs gebrochen wird und die Beschreibung ihres sprachlichen Geschicks, das sie sowohl mündlich als auch schriftlich beherrsche, die zukünftigen Ereignisse andeuten. Auch der klassische Unsagbarkeitstopos zu Beginn des Portraits wird dadurch, dass es sich bei den zitierten Autoritäten um nicht ernst zu nehmende Konkurrenten handelt, kaum merklich von seiner ursprünglichen Funktion gelöst, sodass das Portrait auf den ersten Blick als konventioneller Bestandteil der Beschreibung eines höfischen Festes zu Ehren der Ankunft des Tereus in Athen erscheint, das in der ersten Hälfte des Textes im Vordergrund steht, sich auf den zweiten Blick jedoch als ausgeklügelte Umkehrung rhetorischer Figuren und Motive entpuppt.61 Die Sorgfalt, die Chrétien bei der Beschreibung der Perfektion Philomelas an den Tag legt, lässt sie gleichzeitig zur eindeutigen Hauptfigur des Geschehens werden – das Äußere Prognes wird mit keinem Wort erwähnt -, und macht ihre nachfolgende Vergewaltigung und Verstümmelung für den Leser noch weniger vorstellbar. Ein weiteres Beispiel für das rhetorische Können Chrétiens und die punktuelle Ausweitung seiner Vorlage bietet die Beschreibung des Gewebes, das Philomela zur stummen Kommunikation mit ihrer Schwester erstellt. Während Ovid sich mit einer eindrücklichen, nur aus zwei Versen bestehenden descriptio begnügt, mit der er Philomelas purpurfarbene Zeichen auf weißem Grund evoziert, malt der altfranzösische Autor das Kunstwerk in zwanzig Versen aus, und gelangt so bei einem Höhepunkt seines Werkes an, den er zuvor schon durch mehrfache Andeutungen vorbereitet hatte.62 Neben dem Portrait Philomelas sowie ihrer textilen Botschaft erweitert der altfranzösische Autor sein antikes Modell noch um ein weiteres Element, welches er ebenfalls in aller Ausführlichkeit beschreibt. Dabei handelt es sich um das heidnische Trauerritual Prognes, dessen Darstellung Chrétien sechsundvierzig Verse widmet.63 Peinlich genau wird geschildert, wie ein Stier geopfert, dessen Blut und Fleisch dem Ritus entsprechend und zu Ehren des Höllengottes Pluto im Tempel dargebracht,
_____________ 61 Vgl. Berthelot (Anm. 16), S. 1393. 62 Da Beschaffenheit und Bedeutung des Gewebes innerhalb des Kapitels „Die Poetik der Zeichen: Das Gewebe Philomelas“ ausführlich diskutiert wird, soll hier auf eine umfangreiche Darstellung dieser Textpassage verzichtet werden. 63 V. 1010-1056.
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sowie schließlich ein Grabmal mit eingraviertem Epitaph zu Prognes Gedenken errichtet wird. Die ausführliche Schilderung dieses Rituals reiht sich ein in die innerhalb des gesamten Textes mehrfach auftauchenden Hinweise auf die heidnische Kultur, der die Protagonisten angehören, und die besonders dort zu beobachten sind, wo offensichtlich gegen bestehende Moral verstoßen wird. Dabei nehmen die Erzählerkommentare oft einen erklärenden Gestus an, wie es z.B. bei der Bindung zwischen Philomela und Tereus deutlich wird. Während diese im Mittelalter unter die Rubrik des Inzests fiel, berichtet der Erzähler an entsprechender Stelle ausdrücklich, dass ein solches Verhältnis der heidnischen Religion gemäß nicht schuldhaft sei.64 Da bei der zeitgenössischen Leserschaft des Chrétien’schen Textes nicht von der Kenntnis antik-heidnischer Riten ausgegangen werden kann, lässt sich die detailgenaue Beschreibung des Toten-Rituals Prognes ebenfalls als Verständnishilfe durch den Autor betrachten, zumal dieser auch mehrfach betont, dass die Handlungen Prognes den antiken Gepflogenheiten entsprächen,65 und es sich bei Pluto um den Gott der Hölle handle.66 Gleichzeitig bietet sie Chrétien eine weitere Möglichkeit, sein rhetorisches Können am Beispiel einer descriptio unter Beweis zu stellen. Die als ‚fremd‘ markierte Handlung ist als Vorwand interpretierbar, sich auf unverfängliche Weise mit einem Stoff zu beschäftigen, dessen kommentarlose und unkritische Implementierung in einen höfischen Kontext nur schwer denkbar wäre. Die antik-heidnische Folie, die Chrétien dem Text unterlegt, funktioniert somit als Erklärung für die monströse Handlung. Das Fehlen von Gesetzen, die der Heftigkeit des menschlichen, sexuellen Verlangens Einhalt gebieten, ist Grund für die zahlreichen moralischen Verfehlungen, die der Autor zwar verurteilt, die ihn jedoch gleichzeitig zu faszinieren scheinen. Die Tatsache, dass das so ausführlich geschilderte Trauer-Ritual einer Person gewidmet ist, die sich noch am Leben befindet – eine Feststellung, mit der auch Chrétien die lange Sequenz seiner Beschreibung beendet67 - lässt offen, ob es sich wie bereits bei Elementen seines ausführlichen Philomela-Portraits um einen rhetorischen Kunstgriff handelt, mit dem er ein zeitgenössisches
_____________ 64 V. 219-233. 65 Que tel coustume et tel exemple / Pour lor ancessours maintenoient (V. 1016f.; Diese Brauchtümer und Riten überlieferten sie von ihren Vorfahren); Si com chose ert acoustumee (V. 1026; So sah es die Tradition vor). 66 Qar a Pluto sacrefïoient. / Pluto iert sires des dyables (V. 1018f.; Sie opferten dem Pluto. Pluto war der Herrscher der Dämonen). 67 Pour l’ame de sa serour soustraire / De la ou elle n’estoit mie (V. 1060f.; Sie wollte die Seele ihrer Schwester von dort erretten, wo sie sich jedoch nicht befand).
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Stilmittel in sein Gegenteil verkehrt, oder um eine Demonstration seines Beherrschens mittelalterlicher descriptio. „Au lecteur de trancher.“68 Grund zur Annahme einer Doppelbödigkeit des Erzählens bietet die Beobachtung, dass Chrétien mehrfach erzählerische Topoi mittelalterlicher Literatur verwendet, dies jedoch in untypischer Form. Während sich oftmals ein Sturm auf dem Meer der Ankunft des reisenden Helden widersetzt, stellt sich bei der Überfahrt des Tereus nach Athen diesem kein Hindernis in den Weg, was durch den Erzähler explizit bedauert wird: Ce fu grans deulz et grans anuis Que passé furent a un sible, Et trop lor fu la mer paisible Et de grant mauvestié li vint Quant elle le roi ne retint, Quar moult en fust grans maulz remez.69
Auch die Tatsache, dass Tereus das höfische Festmahl nicht lange genug dauert, ist ungewöhnlich. In der Regel erwarten die Liebenden ungeduldig das Ende des ausladenden Mahls, hier empfindet es Tereus als viel zu kurz.70 Auch beschreibt Chrétien, wie es bei der Schilderung eines höfischen Festmahls üblich ist, die zahlreichen und kostbaren Speisen, die den Gästen im Überfluss gereicht werden. Doch Tereus findet daran keinen Gefallen: De bien servir se painent tuit / Mes Thereüs ne se deduit / En nul servise qu’en li face.71 Allein der Anblick Philomelas stellt ihn zufrieden, sie ist die einzige Speise, nach der er verlangt, eine Formulierung, die bereits an dieser Stelle auf das Motiv des Einverleibens verweist, das im späteren Verlauf der Handlung auftauchen wird: S’au gent cors non et en la face De la pucele regarder Qui les lui seoit au souper: C’est ses boivres, c’est ses mengiers.72
Ein weiteres Umkehren eines klassischen literarischen Motivs zeigt sich, als die schlaflose Nacht des Tereus beschrieben wird, die dieser nach dem ersten Zusammentreffen mit Philomela verbringt. In Ungeduld, die Kö-
_____________ 68 Baumgartner (Anm. 13), S. 277. 69 V. 80-85; Was für ein Schmerz, wie schade es doch war, dass sie die Überfahrt ohne Mühe hinter sich brachten. Das Meer zeigte sich ihnen gegenüber zu friedlich und es erwies sich als heimtückisch, da sie den König nicht aufhielt, denn so hätte ein großes Unglück verhindert werden können. 70 V. 630-635. 71 V. 595-579; Tereus fand jedoch keinen Gefallen an dem, was man ihm so reichlich vorsetzte. 72 V. 598-601; Seine einzige Freude ist es, den schönen Körper und das Gesicht der Jungfrau zu bewundern, die neben ihm am Tisch saß: Sie ist das Getränk und die Speise, nach denen er verlangt.
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nigstochter mit auf sein Schiff zu nehmen und seine Begierde an ihr zu stillen, erwartet er sehnsüchtig das Signal des Nachtwächters, das den neuen Tag verkünden wird.73 In der Regel wird die Ankunft des Nachtwächters jedoch nicht mit Freude, sondern mit Bedauern wahrgenommen: Sein Ruf erinnert die heimlichen Liebespaare der Morgenlieder daran, die gemeinsame Nacht zu beenden und sich zu trennen, um nicht entdeckt zu werden. Die Spannung zwischen unhöfischem Stoff und höfischer Kultur, die sich auf mehreren Ebenen des Textes manifestiert, zeigt sich ebenfalls bezüglich eines weiteren Themas, das sowohl innerhalb des PhilomelaMythos selbst, als auch der höfischen Kultur eine zentrale Rolle spielt. Nicht nur die Grausamkeit des Geschehens, sondern auch das maßlose Begehren und die Überschreitung der amourösen Grenzen aller Beteiligten stellen den mittelalterlichen Autor vor Probleme der Adaptation – unverhohlene sexuelle Passion, bei der die sofortige Bedürfnisbefriedigung im Zentrum steht, und das Konzept höfischer Liebe sind kaum mit einander vereinbar. So wird das primitive, regellose Begehren durch das Darstellen des grausamen Geschehens zwar bereits implizit verurteilt, doch blitzt an manchen Stellen des Textes auch ein anderes, höfisches Liebeskonzept zwischen den Darstellungen des körperlichen Begehrens hervor. So erscheint Tereus zunächst als Inbegriff eines höfischen Ritters, dessen einziger Wunsch es ist, das Verlangen seiner Frau Progne nach ihrer Schwester zu stillen, und der sich zu diesem Zweck an ihrer Stelle auf die beschwerliche Reise nach Athen begibt. Auch im Gespräch mit Pandion scheint er seine Bitten, Philomela mit ihm fahren zu lassen, nur deshalb zu verstärken, um den Wunsch Prognes zu erfüllen, doch ist hier bereits deutlich sichtbar, dass sich unter der höfischen Etikette sein eigenes Interesse verbirgt, welches im Verlauf des Geschehens immer offensichtlicher wird. Sein pseudo-höfisches Verhalten wird nicht nur durch sein grausames Handeln offenbar, sondern manifestiert sich ebenfalls in einer Szene, in der er sich offensichtlich entgegen des höfischen Codes verhält. Es ist seine Frau Progne, die ihm das schreckliche Mahl serviert und ihren Mann bedient, wobei es eigentlich sie selbst ist, die als höfische Dame bedient werden sollte.74 Diese Verkehrung deutet sich ebenfalls in der Beziehung zwischen Progne und ihrer Schwester Philomela an. Auch wenn bei ihnen von einer
_____________ 73 Et cil toute la nuit veilla, / Que sa folie traveilla, / Tant que la gaite de la tour / Commença a corner le jour. / Quant il oŸ le jour au cor, / Qui li donnast .XXX mars d’or, / Ne fust il pas d’assez si liez (V. 657-663; Er, den sein Wahnsinn quälte, lag die ganze Nacht wach, bis der Nachtwächter den Tagesanbruch verkündete. Als er den Klang des Horns hörte, war seine Freude genauso groß, als ob man ihm dreißig Goldmark gegeben hätte). 74 Vgl. Berthelot (Anm. 16), S. 1409.
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engen schwesterlichen Bindung ausgegangen werden kann, so rechtfertigt dies nur schwer die Leidenschaft, die sich zwischen den beiden manifestiert. Während sich die scheinbare höfische Liebe zwischen Progne und Tereus als Trugbild entpuppt und somit nicht dem gesellschaftlichen Ideal entspricht, lässt sie sich nun zwischen den beiden Schwestern erkennen, deren Zuneigung zueinander mit den Worten höfischer Liebe geschildert wird, und somit ebenfalls gegen die Regeln verstößt. In der Sorge, mit der sich Progne nach der Heimkehr Tereus’ nach Philomela in zahlreichen Fragen erkundigt, und der Intensität ihrer Trauer, die sie in einem langen Monolog,75 durch Opfer-Ritus und schwarze Kleidung manifestiert, die sie nie mehr ablegen möchte,76 offenbaren sich Topoi der mittelalterlichen Totenklage, die Liebenden vorbehalten sind: „Une foi de plus, l’amour de Procné pour Philomena est décrit en termes de fine amor.“77 Chrétien macht das Liebeskonzept innerhalb seines Textes explizit zum Thema, wenn der Erzähler im Dialog mit seinem fiktiven Gesprächspartner wiederholt über die Allmacht und das Wechselspiel der Liebe raisonniert, und sich im Vergleich mit seinem Gegenüber als Kenner des höfischen Codes zu erkennen gibt.78 Dabei wird die Liebe entsprechend mittelalterlicher Gepflogenheit personifiziert und als Krankheit bezeichnet, von der Tereus befallen ist, wobei der Erzähler korrigiert, dass es sich in diesem Fall nicht um höfische Liebe, sondern um Maßlosigkeit, Perfidie und Wahnsinn handelt, die von Tereus Besitz genommen haben. - De plus qu’amer Qu’amors ne doit nulz ce clamer. - Amour? – Non voir.- Et quoi ? – Outrage Desloiauté et forsenage.79
Und so scheinen auch in dem Dialog des Erzählers mit seinem Gesprächspartner die beiden Liebeskonzepte aufeinander zu treffen, die in der Adaptation Chrétiens verhandelt werden, maßvolle, höfische Liebe auf der einen, und die sofortige, körperliche Bedürfnisbefriedigung, wie sie in der Ovid’schen Fassung des Mythos auftritt, auf der anderen Seite. Der offene Umgang Chrétiens mit heidnischer Kultur, körperlicher Gewalt und hemmungsloser Liebe findet schließlich sein konsequentes Ende in der Darstellung der finalen Metamorphose der Protagonisten. Dass die Beschreibung einer Verwandlung in den Texten des Mittelalters
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V. 979-1004. V. 1007-1009. Berthelot (Anm. 16), S. 1406. V. 214-218; V. 393-448. V. 481-484; - Durch einen Missbrauch der Liebe, denn niemand darf dieses Gefühl Liebe nennen. – Ist dies keine Liebe? – Nein, sicher nicht. – Und was ist es also? – Überschwang, Verrat und Wahnsinn.
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eine Seltenheit war, zeigt sich unter anderem darin, dass es sich bei den Mythen von Pyramus und Thisbe, Narziss und Philomena, die als einzige Episoden der Ovid’schen „Metamorphosen“ im Mittelalter in Form von autonomen Geschichten bearbeitet wurden,80 Chrétien der einzige ist, der am Ende des Philomela-Mythos die Transformation der Protagonisten in eine andere Existenzform auch tatsächlich beschreibt. Die Durchlässigkeit der Grenzen des Seins als Mensch, Tier oder Pflanze, „dont les théologiens médievaux dénoncent depuis Saint Augustin le caractère diabolique“,81 wird von Chrétien zwar nicht ausführlich, dafür aber sehr subtil beschrieben, wie er es zuvor mit anderen, ebenfalls nicht ungefährlichen Motiven seiner Vorlage praktizierte. Dabei erfolgt die Verwandlung, verursacht durch die Schicksalsgöttinnen, in ausdrücklicher Rückbindung an die vergangenen Sünden der einzelnen Figuren. Im Gegensatz zu Ovid, der allein die Verwandlung des Tereus in einen Wiedehopf erwähnt und in dessen Äußerem den ehemaligen Krieger erkennt,82 begründet Chrétien die Verwandlung mit Gewalt und Entehrung, die Tereus Philomela angetan hat: Et il devint hupe coupee / […] / Pour le pechié et pour la honte / Qu’il avoit fet de la pucele.83 Da der Wiedehopf aus den mittelalterlichen Bestiarien als unreiner Vogel bekannt ist, der sich von den Exkrementen anderer ernährt, und der durch den Erzähler dementsprechend auch als ors et despis, petis et viaus84 bezeichnet wird, ist das Element der Bestrafung durch die Verwandlung in einen solchen Vogel offensichtlich und lässt auf diese Weise noch nach der Metamorphose die moralische Verfehlung sichtbar werden. Während der Erzähler von der Verwandlung Prognes in eine Schwalbe berichtet, ohne weiter auf diese einzugehen, widmet er sich umso ausführlicher der Metamorphose Philomelas. Auch hier erklärt er sie durch ihr vorangehendes Schicksal, wobei es ihm ein weiteres Mal gelingt, einen Topos der mittelalterlichen Literatur subtil in sein Gegenteil zu verkehren. Mit dem die Passage einleitenden Encore85 transportiert er den vergangenen Mythos in die Gegenwart und interpretiert den frühlingshaften Gesang der Nachtigall als Aufruf zum Töten. All den höfischen Jungfrauen, die unangemessen, grausam und ungerecht behandelt werden, suggeriere
_____________ 80 Zu den mittelalterlichen Bearbeitungen dieser Texte vgl. einführend Baumgartner (Anm. 13), S. 7-19. 81 Baumgartner (Anm. 13), S. 13. 82 V. 671-674. 83 V. 1448-1451; Er verwandelte sich in einen Wiedehopf wegen der Sünde und der Schande, die er der Jungfrau angetan hat. 84 V. 1446; schmutzig und abstoßend, klein und unwürdig. 85 V. 1454; noch heute.
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die Nachtigall durch ihr oci! oci!,86 d.h. „Töte! Töte!“, sich blutig an ihren Peinigern zu rächen, ebenso wie Philomela und ihre Schwester Rache an Tereus genommen haben. Dabei prononciert Chrétien die Spannung zwischen dem süßen Gesang der Nachtigall und seinem grausamen Inhalt, indem er sowohl die Sanftheit ihrer Stimme, als auch den Hass ihrer Botschaft in einem Paarreim gegenüberstellt: Pour les mauvés qu’ele tant het / Chante au plus doucement qu’el set.87 Zwar ließe sich Chrétiens Entschluss zur Beschreibung der Metamorphose auch damit begründen, dass das „trio infernal“88 aufgrund der Vielzahl und der Schwere seiner Sünden eine Transformation verdient habe und diese somit als Abschreckung ihre Berechtigung erhält. Gleichzeitig bietet dies dem Autor allerdings auch die Möglichkeit, seinen Text mit einem Element zu beenden, das als zentrales Merkmal seiner „Philomena“ bezeichnet werden kann. Das untergründige Verkehren eines klassischen Motivs der höfischen Literatur in sein Gegenteil, das Unterlegen konventioneller Figuren mit einem Subtext, der eine irritierende Doppelbödigkeit bei der Lektüre entstehen lässt und gleichzeitig das Spannungsfeld abbilden kann, das sich zwischen antikem Mythos und höfischer Literatur ergibt. So handelt es sich bei der altfranzösischen Adaptation tatsächlich um eine „série de variations sur des thèmes et des situations courtois“,89 wobei die Variationen in einem Ausloten von Möglichkeiten im Umgang mit einem Stoff bestehen, bei dessen Bearbeitung der Autor zwischen Faszination und Verurteilung, Höfisierung und Antikisierung hin und her gerissen ist. In dem Chrétien unter den geordneten Regeln der höfischen Kultur noch das vorzeitige Chaos des mythischen Zeitalters gut sichtbar hervor treten lässt, bejaht er zum einen dessen Existenz und scheint es zum anderen durch seine exzessive Darstellung überwinden zu wollen. Die Tatsache, dass zwar mittlerweile zwei Übersetzungen der Chrétien’schen „Philomena“ ins Neufranzösische vorliegen, die entsprechende Moralisierung jedoch nur in der altfranzösischen Fassung als Teil der Ausgabe Cornelis de Boer zur Verfügung steht, ist bezeichnend sowohl für das bereits angesprochene zögerliche Interesse der Forschung an diesem Werk, als auch für die Zwitterstellung, die sich für die Untersuchung der „Philomena“ ergibt. So deutlich auf die fremde Autorschaft der „Philomena“ verweisen wird, die sie aus dem Gesamtwerk herausfallen lässt, so offensichtlich ist die Zugehörigkeit ihrer Auslegung zu der
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V. 1467. V. 1465f.; in ihrem Hass auf alle Bösen singt sie so süß sie kann. Baumgartner (Anm. 13), S. 14. Berthelot (Anm. 16), S. 1394.
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Integration der Mythen in ein christliches Auslegungssystem, das eines der wesentlichen Charakteristika des „Ovide moralisé“ bildet. Für die vorliegende Untersuchung ist die Auslegung des Mythos von wesentlicher Bedeutung, da sie Aufschluss darüber gibt, auf welche Weise der Autor des „Ovide moralisé“ es etwa hundertfünfzig Jahre später versucht hat, den Mythos durch allegorische Schriftauslegung zu fassen und ihn so in einen Modus des zeitgenössischen Textverständnisses zu integrieren, das zwar in der Literatur des Mittelalters allgegenwärtig, jedoch gleichzeitig äußerst vielfältig und schwer zu fassen ist.90 Um trotz der Komplexität dieser für den modernen Leser fremdartigen Auslegungspraktik, deren Charakter sich im Verlauf der mittelalterlichen Jahrhunderte deutlich veränderte, einen Ansatzpunkt zum Verständnis seiner Zielsetzung und Methode zu erhalten, bietet sich ein Zitat dessen an, was der Autor des „Ovide moralisé“ selbst unter seiner Tätigkeit versteht. Darüber berichtet er in seinem Prolog das Folgende: Pour ce me plaist que je commans Traire de latin en romans Les fables de l’ancien temps, S’en dirai ce que je entens –.91
Da es ihm aus Gründen des Umfangs nicht möglich sei, jede einzelne der zahlreichen fables zu deuten, 92 beschränke er sich auf die Auslegung der mutacions des fables, / Qui sont bones et profitables.93 Und so legt er nicht nur seine eigene Übertragung der „Metamorphosen“ aus, sondern auch die, die er nicht selbst verfasst hat, wie es bei der Philomela-Episode der Fall ist. Auch wenn sich Marc-Réné Jung wiederholt gegen die negative Beurteilung der Moralisierungen durch die Forschung sträubt, die nicht mit dem häufig zitierten Aufsatz Gaston Paris’ endet, und noch in aktueller Forschungsliteratur zu finden ist,94 so bleibt zu fragen, ob die Auslegung des Philomela-Mythos den häufigen Vorwurf von Willkür und
_____________ 90 Eine detaillierte und aktuelle Übersicht zum Verfahren der Allegorie bietet Strubel (Anm. 8). 91 V. 15-18; Es gefällt mir, die Geschichten aus vergangener Zeit von der lateinischen in die romanische Sprache zu übertragen. Ich werde euch berichten, wie ich sie verstehe. 92 V. 48. 93 V. 53f. (Veränderung der Geschichten, die gut und nützlich sind). Gaston Paris verweist ebenso wie vor ihm bereits Paule Demats darauf, dass die Auslegungen sich jedoch weniger auf die mutacions, als vielmehr die Geschichten selbst beziehen, was bei der Allegorie der Philomela ebenfalls zu beobachten ist. Trotzdem wird der Aspekt der Verwandlung nicht völlig ausgespart. 94 „Earlier in the fourteenth century, however, an anonymous Franciscan produced 70,000 lines of octosyllabic French couplets whose range, absurdity, and subtlety represent the furthest limits to which Ovid’s Metamorphoses might drive a medieval poet.“
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des Philomela-Mythos den häufigen Vorwurf von Willkür und Absurdität dieser Texte ebenfalls bestätigt, eine Annahme, die ein erster Lektüreeindruck der Auslegung zunächst nahe legt. Die Auslegung des Mythos besteht aus vier Teilen. Zunächst betont der anonyme Autor noch einmal die Wahrheit der vorangegangenen Geschichte,95 bevor er sich der Metamorphose der einzelnen Figuren zuwendet und sie durch deren menschliches Schicksal und Verhalten erklärt. In den Versen 3691-3699, die der Verwandlung Philomelas gewidmet sind, erwähnt der Autor ihre Gefangenschaft im Wald, die sie trotz ihrer vornehmen Herkunft sowie ihrer zahlreichen Qualitäten erdulden musste. Da sie so schön gesungen habe und sich in den Wald zu retten wusste, sei sie in eine Nachtigall verwandelt worden. Die Königin Progne, von deren Mord und ‚Zubereitung‘ des Sohnes berichtet, und die verurteilt wird, sei aus Furcht vor ihrem Mann geflüchtet und habe ihm durch ihre Verwandlung in eine Schwalbe entkommen können, die sie fort et bele96 gemacht habe. Tereus hingegen sei aufgrund seiner schändlichen Entjungferung Philomelas sowie seiner Eigenschaft als hasserfüllter und bewaffneter Krieger in einen Wiedehopf verwandelt worden, der ebenfalls dreckig, und dessen Kopf mit einem Helm bedeckt sei.97 Diese Zusammenfassung ist nur in Teilen mit dem Text Chrétiens in Einklang zu bringen. So ist von einem schönen Gesang Philomelas an keiner Stelle die Rede, wenn es sich dabei nicht um eine metaphorische Ausdrucksweise des Autors handelt, mit der ihre schrift-bildliche Kommunikation durch das Gewebe oder ihre körperliche Zeichensprache gemeint ist. Da das Gewebe an keiner Stelle der Auslegung erwähnt wird, ist dies unwahrscheinlich. Auch die Bezeichnung der Schwalbe als ‚stark und schön‘ bleibt im Zusammenhang mit der späteren Verurteilung des Kindsmords rätselhaft. Dagegen ist die Verwandlung in eine Schwalbe zur Flucht vor dem Ehemann eine ebenso nachvollziehbare Erklärung, wie auch der behelmte und schmutzige Wiedehopf durch das Verhalten des Tereus und in Anlehnung an den Chrétien’schen Text begründet wird. Auch die Erwähnung der zahlreichen Qualitäten Philomelas deutet auf eine gute Kenntnis des Chrétien’schen Textes hin, der ja innerhalb seines ausführlichen Portraits dezidiert auf diese hinweist. Der inhaltliche Einschnitt, der nach der Zusammenfassung und Begründung der Verwandlung der Figuren erfolgt, ist deutlich sichtbar. Zum
_____________ Levine, Robert: „Exploiting Ovid: Medieval Allegorizations of the Metamorphoses.“ In: Medievo Romanzo 2/14 (1989), S. 197- 213. 95 Si porrois entendre l’estoire / Qui sans mençonge est toute voire. (V. 3689f.; ihr könnt die Geschichte hören, die vollständig wahr ist). 96 V. 3705; stark und schön. 97 Zur Verwandlung des Tereus vgl. V. 3709-3718.
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einen durch einen eingerückten Spiegelstrich, zum anderen durch den expliziten Hinweis auf die nun folgende Allegorie: - Or vous dirai l’alegorie / Que ceste fable signifie.98 Innerhalb der nächsten hundertzwanzig Verse werden die Protagonisten auf biblische Figuren übertragen und die Handlung in einen heilsgeschichtlichen Kontext gesetzt. So stehe Pandion als König von Athen stellvertretend für Gott, während seine älteste Tochter Progne, die er nach seinem Ebenbild geschaffen habe, die menschliche Seele repräsentiere. Bei den Barbaren, die die Stadt Athen bedrohen, handle es sich um den Teufel, den Gott zurück in die Hölle verbanne, was durch den Sieg über die Barbaren erkennbar sei. Außerdem verbinde Gott seine Tochter, die Seele, mit dem Körper, der durch Tereus repräsentiert werde, damit sie sich fortpflanzen und mit ihren Nachkommen den Himmel bevölkern sollen. Aus dieser Verbindung gehe schließlich Itys hervor, der als die „Frucht des heiligen Lebens“99 bezeichnet wird. Philomela repräsentiere schließlich die irdischen Güter, vor allem die fleischliche und trügerische Versuchung. In verschiedenen Formen wird ausgeführt, dass sich diese Güter wandeln können und der menschlichen Illusion unterliegen; Gott habe sie den Menschen zu seiner Zerstreuung geschaffen.100 Progne, die menschliche Seele, ist es dann, die sich danach sehnt, ihre Schwester zu sehen, und die durch diesen irdischen Wunsch den Körper (Tereus) auf die Reise nach Athen schickt. Die Bäuerin, die Philomela bewacht, übernimmt die Rolle der Geizigen (sie bewacht ja die irdischen Güter, die durch Philomela repräsentiert werden),101 die trauernde Progne, die ihre bunten Kleider gegen schwarze eintauscht, stehe für eine Seele, die Gott vergessen habe (sie opfert Pluto) und die irdische Güter (Philomela) begehre. Nachdem sie sich diesen hingegeben habe (sie sucht und findet Philomela), zerstöre sie die Frucht des heiligen Lebens (Itys), um damit den gefräßigen Körper (Tereus) zu befriedigen. Nachdem dies geschehen sei, reiße der sündige Körper die verlorene Seele mit in den „höllischen Schornstein“,102 während sich die irdische Versuchung (Philomela) schneller verflüchtige, als eine Nachtigall. Der stinkende Körper (Tereus) verwandle sich schließlich in einen Wiedehopf voll Schmutz und Abfall,103 die flüchtige Versuchung (Philomela) in eine Nachtigall. An dieser Stelle endet der dritte und umfangreichste Teil der Auslegung, was wiederum durch einen eingerückten Spiegelstrich sichtbar wird, ebenso wie durch die nachfolgenden zwei Verse, in denen noch einmal die
_____________ 98 99 100 101 102 103
V. 3719f.; Ich sage euch durch die Allegorie, was die Geschichte bedeuten soll. V. 3747; le bon fruit de sainte vie. V. 3755. V. 3782; Une vielle, c’est avarice. V. 3821f.; Si met l’ame a perdicion / Dedens l’infernal cheminee. V. 3836; Li cors puans hupe devient, / Plains de pullentie et d’ordure / Et de honie porreture.
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Autorschaft Chrétiens sowie ein baldiges Ende der Auslegung angedeutet wird: Dessus aves oï le conte, / Si com Crestiens le raconte.104 In den wenigen verbleibenden Versen wird schließlich noch einmal das Geschehen des Mythos zusammengefasst und die Metamorphose der drei Protagonisten als Rache Gottes bezeichnet.105 So absurd die Auslegung auf den ersten Blick erscheint, so deutlich ist eine Struktur erkennbar, die den Vorwurf der völligen Zufälligkeit der Moralisierungen – zumindest an dem vorliegenden Beispiel – entkräftet. Zwar lassen sich die inhaltlichen Verknüpfungen zwischen den einzelnen Figuren und ihrem heilsgeschichtlichen Pendant bzw. der durch sie repräsentierten Eigenschaft in keiner Weise in Einklang mit dem Inhalt des Mythos bringen, doch ist das System ihrer Zuordnung in großen Teilen schlüssig. So weist beispielsweise die Figur der Bäuerin innerhalb des Mythos keinerlei inhaltliche Bezüge auf, die sie als Geizige lesbar machen würde – im Gegenteil stellt sie Philomela ihr eigenes Material zur Anfertigung des Gewebes zu Verfügung -, doch folgt ihre Erklärung in ihrer Funktion als Bewacherin der irdischen Güter (Philomela) als personifizierter Geiz einer gewissen Logik. Die Beobachtungen Marylène PossamaïPerez’ bezüglich der Gefräßigkeit bzw. Völlerei, die in dieser Allegorie durch Tereus dargestellt wird, der sein eigenes Kind verschlingt, und deren Auftauchen innerhalb des „Ovide moralisé“ grundsätzlich durch Anthropophagie stigmatisiert wird,106 bestätigt eine gewisse Konsequenz bei der Auslegung der einzelnen Episoden. Verwunderlich ist die Tatsache, dass die Erklärung der Verwandlung der einzelnen Figuren zum Teil andere Erklärungsmuster bemüht, als es innerhalb der tatsächlichen Allegorie der Fall ist. Wurde zuvor der schöne Gesang Philomelas als Grund für ihre Verwandlung in eine Nachtigall angeführt, ist es nun die vogelartige Flüchtigkeit der irdischen Versuchung, die als Erklärung benannt wird. Possamaï-Perez weist darauf hin, dass zu Beginn des „Ovide moralisé“ die einzelnen Metamorphosen oftmals auf vier verschiedene Arten erklärt werden, sodass eine mehrfache Auslegung durchaus üblich war. Auch die Art und Weise der Auslegung an sich lässt sich trotz der Erklärung, Pandion repräsentiere Gott, nicht vollständig als dem Typus des sensus allegoricus im engeren Sinne zugehörig beurteilen, sondern vielmehr als eine Mischform, die Teile des sensus tropologicus integriert, damit jedoch
_____________ 104 V. 3841f.; Oben steht die Geschichte, wie Chrétien sie erzählt. 105 Dont, se li contes ne me ment, / Li dieu pristrent tel vengement / Que pour le forfait et l’outrage / Tuit troi furent oisel volage (V. 3849-3852; Wenn also die Geschichte nicht lügt, haben die Götter Rache geübt, in dem sie für die Geschehnisse und die Gefangenschaft alle drei in Vögel verwandelt haben). 106 Possamaï-Perez (Anm. 34), S. 184.
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durchaus typisch für die Formen der Auslegung dieser Zeit und für die Auslegungspraxis des „Ovide moralisé“ ist. Ebenfalls springt der misogyne Charakter der Allegorie deutlich ins Auge. Zwar wird in der Erklärung der Verwandlung des Tereus in einen Wiedehopf seine Vergewaltigung verurteilt und im Zusammenhang der Verwandlung Philomelas deren positiven Eigenschaften unterstrichen, doch erscheint die Protagonistin innerhalb der Auslegung des Mythos nicht als Opfer, sondern in Form der irdischen Versuchung als Schuldige, als Verführerin des durch Tereus repräsentierten Körpers. Damit wird sie in die innerhalb der christlichen Tradition weit verbreitete, klassische Rolle der Frau als Verführerin eingereiht, eine Interpretation, die der offensichtlichen Unschuld Philomelas in Bezug auf ihre Vergewaltigung eindeutig widerspricht. Wenn Philomela als Figur hätte präsentiert werden sollen, deren Verhalten moralisch verwerflich sei, so hätte es dafür mehrere Anhaltspunkte innerhalb des Textes gegeben, auf die bei der Auslegung allerdings nicht eingegangen wird. Ihre offensichtlich erotische Ausstrahlung bei ihrem ersten Auftritt zum einen,107 und ihre ausdrücklich von Chrétien erwähnte Beteiligung an der Zubereitung des schrecklichen Mahls zum anderen hätten durch den anonymen Autor im Hinblick auf ein der christlichen Moral verpflichtetes Verhalten leicht problematisiert werden können, was nicht stattfindet. Stattdessen wird der Mythos einer allegorischen Auslegung unterzogen, die zwar in großen Teilen in sich schlüssig ist, die trotz seiner meist logischen Struktur in keiner Weise der inhaltlichen Konzeption des Mythos entspricht, und dessen allegorisches Mischsystem klassische Topoi christlicher Moral aufgreift, die dem Mythos regelrecht übergestülpt werden. Das Bedürfnis, dass sich die Interpretationen des Mythos zwangsläufig anhand des altfranzösischen Werkes nachvollziehen lassen müssen, entspricht dabei den modernen, und nicht den mittelalterlichen Ansprüchen eines Textverständnisses. Und so betrachtet Renate Blumenfeld-Kosinski auch gerade diese Ausweitung der Textinterpretation als das herausragende Element des „Ovide moralisé“: „That is, the very polysemousness, the almost unbelievable excess of interpretation practiced by the Ovide poet liberated myth, opened it up to totally new and apparently limitless interpretive possibilities.“108 Ein Beispiel dafür, dass sich die einzelnen Auslegungen der Mythen untereinander widersprechen und mitunter auch die zeitgenössischen Leser verblüffende inhaltliche Wendungen nehmen können, bestätigt eindrücklich das Beispiel der Figur
_____________ 107 V. 126; Ne sambloit pas nonain velee. Auch Possamaï-Perez macht in ihrem Aufsatz eine ähnliche Beobachtung bezüglich der Schuldhaftigkeit des Verhaltens von Tereus angesichts der erotischen Erscheinung Philomelas: „On en vient presque à se dire que la réaction de Térée à sa vue est compréhensible.“ Possamaï-Perez (Anm. 34), S. 173. 108 Blumenfeld-Kosinski (Anm. 7), S. 13.
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der Myrrha.109 Deren inzestuöses Verlangen nach dem eigenen Vater, dem sie unter Mithilfe einer Amme nachgibt, wird innerhalb des „Ovide moralisé“ auf unterschiedliche Weise interpretiert. Unter diesen befindet sich neben einer naturalisierenden Fassung in Bezug auf die Erklärung der Myrre auch eine weitere, die wertvoller als die anderen sei: Myrrha repräsentiere die Jungfrau Maria, und Adonis, ihr mit dem Vater gezeugter Sohn, Christus. Myrrha sei dabei zu verstehen als die sündige Seele eines Christen, die Gott auf eine falsche Weise empfängt, und die süße Frucht der Reue (Adonis) empfangen muss, um wieder gereinigt zu werden. Auch die Figur der Byblis, die ihren Bruder liebt, und sich nach dessen Zurückweisung allen Männern hingibt, wird mit Jesus verglichen, dessen Gnade ebenfalls vielen zuteil wird. Diese Beispiele zeigen deutlich, dass die Auslegung nicht zwingend mit dem Inhalt der Mythen übereinstimmen muss und auch vor den waghalsigsten Parallelen nicht zurückgeschreckt wird. Die Kunst der mittelalterlichen Interpretation ist es vielmehr, ein Erklärungsmuster zu finden, innerhalb dessen völlig Disparates miteinander vereint werden kann: „The poet thus posits three distinct realms – fable (poetry), „estoire“ (true history), and Holy Scripture – that all have to agree with each other. The only way these disparate realms can be reconciled is through interpretation. Interpretation is a kind of bridge that ties apparently unreconcilable things together.“110
Betrachtet man die Auslegung der „Philomena“ unter diesen Gesichtspunkten, so erscheint sie weniger als eine absurde Lesart, als vielmehr ein origineller Brückenschlag zwischen unterschiedlichen Texten bzw. ihren verschiedenen Bedeutungsebenen zu sein. So werden durch den Autor auch keine religiösen Inhalte aus den Ovid’schen Mythen selbst heraus präpariert, sondern in Form christlicher Allegorisierungen in diese ausdrücklich (wieder) hineingelegt und damit eine zusätzliche Dimension der Verbindung von Mythos und Religion geschaffen, die seit deren Anfängen existiert. Ob sich die Moralisierung „en parfaite cohérence“111 zu dem vorangehenden Mythos verhält, wie es Possamaï-Perez in ihrem Aufsatz „Chrétien de Troyes au début du XIVe siècle: Philomena ,moralisé‘ “ mehrfach betont, und dass seine Transformationen des Textes auch die des auslegenden Moralisten selbst hätten sein können,112 soll jedoch bezweifelt werden. Zwar lassen sich viele seiner Modifikationen als moralisierende
_____________ 109 Eine ausführliche Analyse dieser Figur innerhalb des „Ovide moralisé“ im Vergleich mit anderen Überlieferungen dieses Mythos bietet Blumenfeld-Kosinski (Anm. 7), S. 92-98. 110 Blumenfeld-Kosinski (Anm. 7), S. 101. 111 Possamaï-Perez (Anm. 34), S. 181. 112 Possamaï-Perez (Anm. 34), S. 180.
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Eingriffe in den Text bezeichnen, wobei sie zum einen in Form von platten Verhaltensregeln auftreten können,113 sich zum anderen wie z.B. durch das bereits erwähnte Verurteilen des Geschehens aufgrund der heidnischen Kultur der Protagonisten in impliziter Form manifestieren. Dennoch lassen sich die Eingriffe Chrétiens nicht auf eine ausschließlich moralisierende Form reduzieren. Die Faszination des Bösen, welches ähnlich der Bedeutung des Gesangs der Nachtigall - innerhalb des Textes nach wie vor sichtbar ist, die Doppelbödigkeit des Erzählens im Spiel mit zeitgenössischen literarischen Motiven, sowie sein Schwanken zwischen höfischer Reglementierung und antikem Chaos sind weit entfernt von der schematischen Christianisierung, die innerhalb der Auslegung sichtbar wird. Zwar ist hier wie dort moralisierende Kreativität im Umgang mit dem Ovid’schen Mythos gefragt, doch handelt es sich bei den Eingriffen Chrétiens um Modifikationen, die in enger inhaltlicher Verbindung zum Philomela-Mythos erfolgen, welcher beim Autor des „Ovide moralisé“ im Hintergrund steht. Dort ist es weniger der Mythos an sich, als das erklärende Modell, das – vom Inhalt des Mythos weitgehend abgekoppelt – im Mittelpunkt der Bearbeitung steht.
_____________ 113 Que mere ne doit son enfent / Ne ocire ne desmembrer (V. 1318f.; eine Mutter soll ihr Kind weder töten, noch in Stücke zerteilen).
III. Mythos und christliche Auslegungspraxis: Die beiden Fassungen des „Ovide moralisé en prose“ Die Bedeutung des „Ovide moralisé“ für die nachfolgende volkssprachliche Ovid-Rezeption Frankreichs deutet sich nicht nur durch die Existenz von zahlreichen Handschriften dieses Textes an, sondern offenbart sich vor allem in den unterschiedlichen Adaptations-Formen, die diese erste vollständige Übertragung der Ovid’schen „Metamorphosen“ in die französische Sprache nach sich gezogen hat, und die bis in die Neuzeit hinein reichen. Zu dieser Tradition lassen sich auch die Prosa-Fassungen des „Ovide moralisé“ zählen. Die ersten Fassungen entstanden in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und wurden bis zum Ende des 16. Jahrhunderts immer wieder neu gedruckt. Zwei unterschiedliche Traditionslinien können unterschieden werden:1 Die erste Prosa-Fassung, mit vollständigem Titel „Le livre d’Ovide appellé Methamorphose“ und im Folgenden vereinfachend „Ovide moralisé en prose I“ genannt, wurde durch einen normannischen Geistlichen in Angers in den Monaten zwischen April 1466 und September 1467 verfasst, wie es der Autor im Prolog und Epilog seines Werkes mitteilt. Seinen Text widmet er René d’Anjou, der 1466 zum König Aragons gekrönt wurde und selbst als Schriftsteller tätig war.2 Von diesem Text ist nur ein einziges, unbebildertes Manuskript (Vat. Reg. lat. 1686) überliefert. Die zweite Prosa-Fassung, der „Ovide Methamorphose“ („Ovide moralisé en prose II“), entstand um 1480 in Brügge und unterscheidet sich nicht nur bezüglich des Stils, sondern auch durch das – wenn auch nicht explizite, so doch systematische - Eliminieren der Allegorien von seinem Vorgänger-Text, dem „Ovide moralisé“ in Versform. Zwar werden die historischen und auch moralischen Auslegungen der einzelnen Episoden meistens beibehalten, die christlichen Auslegungen jedoch vollständig aus dem Text entfernt. Marc-René Jung beschreibt die Existenz von vier illustrierten Handschriften sowie einer Edition durch den flämischen Drucker Colard Mansion, die 1484 in Brügge erschien. Drei der vier Handschriften überliefern den französischen Text, bei der vierten handelt es
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In den folgenden Ausführungen stütze ich mich wesentlich auf einen Aufsatz MarcRené Jungs, der neben der Edition des „Ovide moralisé en prose“ von 1466/67 durch Cornelis de Boer eine der wenigen Publikation ist, die sich ausschließlich dem „Ovide moralisé en prose“ widmet. Jung, Marc-René: „Ovide Metamorphose en prose (Bruges, vers 1475).“ In: ,A l’heure encore de mon escrire‘. Aspects de la littérature de Bourgogne sous Philippe le Bon et Charles le Téméraire. Hg. v. Claude Thiry. Louvain 1997, S. 99-115. Ovide moralisé en prose (texte du quinzième siècle). Edition critique avec introduction par Cornelis de Boer. Amsterdam 1954, S. 3.
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sich um eine Übertragung ins Englische, angefertigt durch den Drucker William Caxton. Im Gegensatz zu den Handschriften sind in der Edition Mansions dem Text die Allegorien wieder hinzufügt worden, wobei es sich bei diesen teils um das Werk Mansions selbst, teils auch um Bausteine der Bearbeitung durch den Benediktiner Pierre Bersuire handelt, der in seinem lateinischen Werk „Ovidius moralizatus“ ebenfalls die „Metamorphosen“ Ovids auslegte.3 Die Trennung der Ovid-Rezeption in einen allegorisierten und einen nicht allegorisierten Teil zeichnet sich jedoch bereits wesentlich früher ab, als es sich in der zweigeteilten „Ovide moralisé en prose“-Tradition offenbart. Marc-René Jung weist darauf hin, dass die christlichen Auslegungen in einer Handschrift des „Ovide moralisé“ in Versform, die bereits Ende des 14. Jahrhunderts entstand (Manuskript Lyon, Bibl. Mun. 742; ms. B, um 1390), fast vollständig fehlen – ein Hinweis darauf, dass der Status dieser Auslegungspraxis bereits zu Zeiten ihrer Existenz umstritten gewesen ist. Fasst man die zweisträngige Überlieferungstradition des „Ovide moralisé en prose“ zusammen, so ergeben sich als konkreter Untersuchungsgegenstand die folgenden Texte: zum einen die in der Edition von de Boer vorliegende und mit Allegorien versehene Handschrift des „Livre d’Ovide appellé Methamorphose“ von 1466/67 („Ovide moralisé en prose I“), zum anderen die Edition Colard Mansions („Ovide moralisé en prose II“). Diese bietet den Vorteil, im Gegensatz zu den anderen drei französischen Handschriften als Edition vorzuliegen und leicht zugänglich zu sein,4 zum anderen enthält sie neben der Übertragung der Mythen eine Auslegung der „Philomena“, bei der es sich um eine Übersetzung der Auslegung Pierre Bersuires aus dem Lateinischen ins Französische handelt. Durch die Analyse dieser beiden Texte können ebenfalls beide Linien der „Ovid moralisé en prose“-Tradition berücksichtigt werden. Betrachtet man die zuerst entstandene der beiden Prosa-Fassungen, so handelt es sich bei ihr weniger um eine Übertragung, als vielmehr um eine inhaltliche Zusammenfassung des „Ovide moralisé.“ Im Gegensatz zu seiner Vorlage in Versform, auf die sich der anonyme Autor mehrfach
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Vgl. dazu S. 135f. Lediglich die englische Übersetzung wurde als Faksimile veröffentlicht: The Metamorphoses of Ovid, translated by William Caxton 1480. Hg. v. George Braziller in Zusammenarbeit mit dem Magdalene College (Cambridge). New York 1968, vol. I, books 1-9, The Phillipps Manuscript; volume II, books 10-15, The Pepys Manuscript. Die hier untersuchte Edition Colard Mansions ist über die französische Datenbank Gallica in digitalisierter Form zugänglich, und wurde der vorliegenden Untersuchung zu Grunde gelegt.
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bezieht, und welche die „Metamorphosen“ Ovids mit insgesamt 72 000 Versen quantitativ regelrecht ‚aufschwemmt‘, wird hier der „Ovide moralisé“ in einem entgegengesetzten Verfahren eher ‚eingedampft‘ und auf seine wesentlichen, inhaltlichen Bestandteile reduziert. Entsprechend äußert sich der Autor auch zu seiner eigenen Vorgehensweise im Prolog, er habe die Versform des „Ovide moralisé“ entsprechend dem Wunsch seines Gönners René d’Anjou soubz le plus brief langaige de prose que j’ai peü5 übertragen wollen, sans y laisser aucunes places pour faire hystoires.6 Seinen Schreibstil bezeichnet er als petit7, sein Werk als rude.8 Auch wenn er im Epilog seines Textes beteuert, er habe den „Ovide moralisé“ von der Versform in Prosa übertragen und sich dabei einer knappen Darstellungsweise bedient, ohne dabei inhaltliche Kürzungen vorzunehmen,9 so beobachtet de Boer insbesondere ab dem vierten Buch zahlreiche Auslassungen, die sich besonders innerhalb der Auslegungen der einzelnen Mythen manifestieren.10 Auch die „Philomena“ liest sich wie eine Zusammenfassung des Textes, der in den „Ovide moralisé“ eingeschoben ist. Was bei der Lektüre erstaunt ist die Beobachtung, dass die fremde Autorschaft des eingeschobenen Werkes unerwähnt bleibt, obgleich dies innerhalb der Vers-Fassung mehrfach hervorgehoben wird. Beginn und Ende der eingefügten Erzählung signalisieren dort deutlich, dass Chrétien, und nicht der anonyme Autor des „Ovide moralisé“ die „Philomena“ verfasste, ebenso wie der Einschub in die exakte Mitte Crestïens li Gois als Autor benennt. Dennoch wird dieses wesentliche Textmerkmal in der Prosa-Fassung übergangen und die „Philomena“ ohne weitere Kennzeichnung in den Textkorpus eingegliedert. De Boer weist in der Einführung seiner Edition darauf hin, dass der anonyme Autor allem Anschein nach eine Handschrift der VersFassung als Vorlage benutzte, die der Handschrift A (Rouen O4 1044) des „Ovide moralisé“ nahe gestanden haben muss.11 In dieser Handschrift befindet sich ebenso wie in allen anderen eine ausdrückliche Kennzeichnung der fremden Autorschaft der „Philomena“, sodass davon ausgegangen werden kann, dass auch der Autor der Prosa-Fassung davon Kenntnis hatte. Die Gründe für seinen Entschluss, diese Angaben zu verschweigen,
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In einer Prosa, die so knapp wie möglich ist; Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 42f. Bei den folgenden Übersetzungen handelt es sich um die der Verfasserin. L.B. 6 Ohne dabei Raum für Dazugedichtetes zu lassen; Ovide moralise en prose I (Anm. 2), S. 43. 7 Minderwertig; Ovide moralisé en prose I (Anm. 2). 8 Grob; Ovide moralisé en prose I (Anm. 2). 9 En l’abregeant aucunement en aucune chose; Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 396. 10 Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 12. 11 Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 16f.
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lassen sich heute kaum noch nachvollziehen, obgleich vermutet werden darf, dass ein Hinweis auf den Einschub der „Philomena“ entweder der angestrebten Kürze des Textes zum Opfer gefallen ist, oder die Autorschaft gegenüber der Gesamtheit des Textes als weniger bedeutsam angesehen wurde. Obwohl er dem Leser keinen Hinweis auf die fremde Autorschaft der „Philomena“ gibt, weist der anonyme Autor mehrfach auf die Vorlage hin, die er selbst für seine Arbeit benutzte. So überschreibt er seinen Prolog Prologue de celluy qui a converti de rime en prose françoise le livre d’Ovide appellé metamorphose,12 und auch wenn er wiederholt an anderen Stellen des Prologs und Epilogs auf seinen Vorgänger verweist, so spricht er stets von dem grant livre d’Ovide nommé Methamorphose, welches er von der französischen Vers- in die Prosa-Fassung übertragen habe. Von einer lateinischen Fassung ist nur dort die Rede, wo der Autor eine Zusammenfassung des Vorworts liefert, welches in der Versfassung des „Ovide moralisé“ zu lesen ist. Dort ist die Rede davon, der Autor habe sich occupé à translater et exposer de latin en rime françoise les fables du dit volume.13 Der Autor erwähnt somit – entgegen der Feststellung de Boers14 - explizit den lateinischen Text Ovids, ein Hinweis, der später bei der Diskussion der zusätzlichen Quellen von Bedeutung sein wird, von denen der Autor ebenfalls Kenntnis hatte. Die „Philomena“ selbst ist mit einer Überschrift versehen, die an sich bereits als Resümee ihres Inhaltes bezeichnet werden kann: Fable du mariage de Thereus et de Proné, et comment il viola sa seur et lui coupa la langue.15 Damit werden wesentliche Bestandteile der Handlung benannt – Verwandtschaftsverhältnis der Protagonisten, Vergewaltigung, Verstümmelung der Zunge -, durch ein et gleichwertig aneinander gereiht und so der Verlauf der Ereignisse vorweggenommen. Gleichzeitig bleiben die Rache der Schwestern sowie die finale Verwandlung in Vögel unerwähnt, obwohl beide Elemente in der nachfolgenden Fassung des Mythos präsent sind. Ob es sich bei dieser Auslassung um eine bewusste Entscheidung des Autors handelt, lässt sich kaum feststellen. Als eine mögliche Interpretation bieten sich moralische Bedenken an, das grausame Ende der Geschichte mit Kindsmord und Anthropophagie in der Überschrift festzuhalten und damit zu exponieren. Für diese moralischen Zweifel spräche die Tatsache, dass der Autor z.B. auch die Übertragung des Mythos von Pasiphae
_____________ 12 Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 42. 13 Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 43. 14 „[…] il n’est nulle part question du texte latin d’Ovide lui-même.“ Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), Introduction, S. 3. 15 Der Autor verwendet innerhalb der gesamten Episode den Namen prone oder prosne. Vgl. Ovde moralisé en prose I (Anm. 2), S. 196, Anm. 3.
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und ihrer Liebe zu Minos, dem Stier, von dem sie den Minotaurus empfängt, verweigert. Stattdessen verweist er den interessierten Leser auf das livre rymé qui pour le convertir yey en prose françoise m’a esté baillé. Car jamais je ne vouldroie occuper ma langue à reciter ne ma plume à escripre ung si vilain cas qu’il est.16 Zwar greift die Überschrift einzelne Bestandteile aus der Handlung heraus, doch folgt das Geschehen ansonsten klar dem Verlauf des Mythos, wie er innerhalb des „Ovide moralisé“ geschildert wird, wobei der Autor oftmals direkt oder indirekt Einblicke in den Umgang mit seiner Vorlage gewährt. Als die Figur der Philomela zum ersten Mal erwähnt wird, lässt er z.B. die Beschreibung ihrer Schönheit aus Gründen des Umfangs weg, worauf er explizit hinweist: Et l’autre estoit appellée Philomena, de la beauté desquelles racompter je me depporte cy endroit à cause de briefveté.17 Da Chrétien an dieser Stelle seines Textes die Ovid’sche Vorlage deutlich erweitert und die Schönheit Philomelas ausführlich schildert, lässt sich hier klar ein Bezug zur Vorlage erkennen. Die Tatsache, dass der Autor trotz Willen zur Kürze die Auslassung der Schönheitsbeschreibung begründet, zeigt zum einen, dass er offensichtlich ihren wichtigen Platz innerhalb des Werkes erkannt hat, und sich dem Inhalt seiner Vorlage verpflichtet fühlt. Zum anderen gelingt es ihm, die Schönheit Philomelas dennoch zu betonen – nicht durch eine ausführliche Beschreibung, sondern durch ein benanntes Fehlen derselben. Auch an anderen Details wird deutlich, dass sich der Autor bei der Arbeit dicht an seine Vorlage angelehnt hat. Er weist ebenso wie Chrétien bei der Erwähnung des Itys darauf hin, dass dieser nicht mehr lange leben wird,18 und dass Pandion der Hochzeit von Progne und Tereus nicht zugestimmt hätte, wenn er sich bewusst gewesen wäre, was für ein Unglück aus dieser Verbindung entstehen sollte.19 Beide Elemente lassen sich nicht im Ovid’schen Text, sondern lediglich bei Chrétien finden. Des Weiteren
_____________ 16 Buch in Versform, das mir für die Übertragung in die Prosa-Fassung vorgelegen hat. Denn niemals würde ich meine Sprache oder meine Feder dazu benutzen, eine solch abstoßende Geschichte wie diese zu erzählen. Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 225. 17 Und die andere wurde Philomela genannt, über deren Schönheit ich an dieser Stelle aus Gründen des Umfangs nichts berichten werde. Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 196. 18 ung très beau filz nommé Ythis, qui ne vesquit pas longuement (Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 196; Ein hübscher Sohn mit dem Namen Ythis, der nicht lange leben sollte). 19 Mais si le dit Pandyon en octroyant le dit mariage eüst sceü les meschiefs qui depuis en advindrent, jamais ne s’i feüst consentiz (Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 196; Wenn jedoch Pandion, als er der Hochzeit zugestimmt hat, gewusst hätte, was aus ihr für ein Unglück entstehen sollte, hätte er niemals seine Einwilligung gegeben).
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benennt der Autor das ausführliche Begräbnisritual Prognes zu Ehren Philomelas, das ebenfalls eine Besonderheit des Chrétien’schen Textes ist, und das – so der anonyme Autor – selon la coustume d’icelluy pays vollzogen wird,20 ein weiteres Detail, das Chrétien in seinem Text besonders betont. Schließlich legt der Autor bei seiner Übertragung besonderes Gewicht auf das letzte noch verbleibende Element, das Chrétien in seinem Text mit einem größeren Zusatz versehen hat: das Gewebe, das Philomela zur Kommunikation mit ihrer Schwester herstellt. Entgegen der Ovid’schen Fassung des Mythos, bei der im Unklaren bleibt, wie und womit Philomela ihr Kunstwerk herstellt, erwähnt der anonyme Autor der Prosa-Fassung ebenso wie seine Vorlage in Versform, dass sich in der abgelegenen Hütte, in der Philomela gefangen ist, eine alte Frau und ihre Tochter befinden, die beide als Weberinnen arbeiten. Darüber hinaus weist er ebenfalls darauf hin, dass Philomela das Weben erlernt hat, sowie Lesen und Schreiben beherrscht: la dite Phillomena […] avoit aprins à bien ouvrer du dit mestier, et si cognoissoit bien les lettres, si se print à faire une tixture, où elle descrisit tout son dit cas.21 Die Tatsache, dass sich der Autor aus der Fülle der Qualitäten, die Chrétien innerhalb seines Philomela-Portraits ausführt, gerade diese, ihre Fähigkeiten des Lesens, Schreibens und Webens ausgewählt hat, ist in doppelter Hinsicht bedeutsam. Zum einen manifestiert sich darin die Sorgfalt, mit der der Autor seine Vorlage bearbeitet, denn nur diese Fertigkeiten Philomelas müssen erwähnt werden, wenn ihre nachfolgende List logisch nachvollziehbar sein soll. Zum anderen verbirgt sich in dieser Darstellung bereits eine Interpretation des Chrétien’schen Textes. Während dort Philomelas Web-Talent sicherlich erwähnt wird, um ihre spätere textile Kommunikation vorzubereiten – zumal das ungewöhnliche Motiv der mesnie hellequin das grausame Ende des Mythos vorwegnimmt -, wird ihre literarische Bildung sowie ihre Fähigkeit zu lesen und zu schreiben in einem Atemzug mit den Musikinstrumenten genannt, die sie ebenfalls beherrscht, und steht somit nicht in direktem Zusammenhang mit ihrer späteren Kommunikationsform, sondern mit der generellen Betonung ihrer Bildung. Der Autor des „Ovide moralisé en prose I“ greift sich nun gezielt das Lesen und Schreiben aus diesem Tugend-Katalog heraus, um es inhaltlich mit ihrem textilen Text in Verbindung zu setzen. Die direkte Verknüpfung der Buchstaben (lettres) und des Beschreibens (descrisit) legen
_____________ 20 Dem Brauch des Landes entsprechend; Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 196. 21 Philomela hatte gelernt, die besagte Tätigkeit des Webens zu beherrschen, und darüber hinaus konnte sie schreiben, sodass sie ein Gewebe erstellte, auf dem sie ihre Geschichte darstellte; Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 197. Auch hier wird der Eigenname verändert und der Philomela ein zweites l hinzugefügt.
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dabei die Lesart nahe, dass es sich um Schrift handelt, mit Hilfe derer Philomela ihr Schicksal auf dem Stoff darzustellen vermag. Dies ist innerhalb der Chrétien’schen „Philomena“ nicht so eindeutig, wie es an dieser Stelle zu sein scheint. Die zahlreichen Farben und die comichafte Darstellung der einzelnen Episoden ihrer Geschichte legen vielmehr eine bildhafte Form der Repräsentation nahe.22 Die planvolle Darstellung der Herstellung des Gewebes innerhalb des „Ovide moralisé en prose I“ zeigt jedoch, dass es sich dabei möglicherweise um eine neuzeitliche Lesart dieser Textstelle handelt – offensichtlich war auch eine Interpretation der entsprechenden Zeilen als ein mit Schriftzeichen bedeckter Stoff möglich. So deutlich an dieser Stelle sichtbar wird, dass sich der anonyme Autor bei der Arbeit eng an seine Vorlage anlehnt und diese an den entsprechenden Stellen interpretiert, um sie auf ihre wesentlichen Bestandteile reduzieren zu können, so deutlich ist es ebenfalls, dass ihm noch andere Quellen und nicht nur die „Philomena“ Chrétiens bei der Erstellung seines Textes zur Verfügung standen. Diese Vermutung bestätigt sich, wenn er über die Befreiung Philomelas durch Progne berichtet. Während innerhalb des „Ovide moralisé“ Progne heimlich der jungen Weberin folgt, nachdem diese ihr das Gewebe Philomelas überbracht hatte, und auf diese Weise zu dem Gefängnis ihrer Schwester gelangt, berichtet der „Ovide moralisé en prose I“ von einer anderen List: Et puis par la dite fille l’envoya secretement à Procné sa soeur, laquelle soubz umbre d’aller aux sacrifices de Bacchus l’ala querir où elle estoit en garde.23 Das Auftauchen der als Bacchantin verkleideten Progne ist insofern bemerkenswert, da von ihr zwar nicht im „Ovide moralisé“, jedoch in der lateinischen Fassung des Mythos bei Ovid selbst die Rede ist. Während Baumgartner das Fehlen der rasenden Bacchantinnen in der Fassung Chrétiens noch als „scène impossible à reprendre du récit ovidien“24 bezeichnet, taucht diese Szene nun knapp 200 Jahre später in der Prosa-Fassung des „Ovide moralisé“ wieder auf. Ob es sich dabei um eine Glosse, ein bewusstes Verschränken des lateinischen mit dem altfranzösischen Text durch den anonymen Autor, oder um ein Zufallsprodukt handelt, das bei der parallelen Lektüre beider Fassungen des Mythos entstanden ist, muss offen bleiben. Zwar scheint in Anbetracht der sonstigen Sorgfalt des Autors beim Umgang mit seiner Vorlage ein Zufall wenig wahrscheinlich, denkbar ist jedoch die Möglichkeit einer
_____________ 22 Vgl. dazu S. 198f. 23 Und dann ließ sie es [das Gewebe] durch das besagte Mädchen heimlich an ihre Schwester Progne überbringen, welche sie, als Bacchantin verkleidet, von dort befreite, wo sie gefangen gehalten wurde; Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 197. 24 Pyrame et Thisbé, Narcisse, Philomena. Trois contes du XIIe siècle français imités d’Ovide. Hg. v. Emmanuèle Baumgartner. Paris 2000, S. 278.
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Glosse, da sich der Autor des „Ovide moralisé en prose I“ im Verlauf seines Textes mehrfach und ausdrücklich auf solche bezieht.25 Die Vermutung, dass der anonyme Autor bei seiner Arbeit tatsächlich den Ovid’schen Text hinzugezogen hat, legt eine weitere Textpassage nahe, die eine Formulierung der lateinischen Fassung durch ein Zitat regelrecht ‚implementiert‘. Als das grausame Festmahl geschildert wird, zu dem Progne ihren Mann ruft, erwidert sie in der Prosa-Fassung auf die Frage ihres Mannes nach Itys „Quod petis intus habes.“26 Dabei handelt es sich um ein fast wörtlich dem Ovid’schen Text entnommenes Zitat – dort lautet die Antwort Prognes „Intus habes quem poscis.“27 Neben der lateinischen Sprache signalisieren auch die Anführungszeichen sowie die nachfolgende Übersetzung ins Französische, die ebenfalls in Anführungszeichen gesetzt ist, dass es sich nicht nur um eine wörtliche Rede, sondern auch um eine Übernahme aus einem anderen Text handelt: „Tu as en toy ce que tu demandes.“28 Das Wortspiel scheint dem Autor so gefallen zu haben, dass er es direkt übernimmt, ebenso wie er ein weiteres Zitat in das Ende der Episode einfließen lässt. Dieses stammt nicht aus dem lateinischen Ovid, sondern aus dem „Ovide moralisé“ und wird zwar ebenfalls in Anführungsstriche gesetzt, allerdings nicht übersetzt, da der Autor wohl von einem problemlosen Verständnis durch die Rezipienten ausgehen konnte, auch wenn zwischen beiden Texten etwa 200 Jahre liegen. Als „Othy, othy“, „Töte, töte“ überträgt er den Gesang der Nachtigall und übernimmt damit die rhetorisch kunstvolle Formulierung Chrétiens, durch den Philomelas schöner Gesang und der grausame Aufruf zum Mord miteinander verknüpft werden. Zwar handelt es sich bei beiden Zitaten um Passagen der direkten Rede, doch sind es auch die beiden einzigen direkten Übernahmen aus anderen Texten, sodass die Anführungszeichen gleichermaßen wörtliche Rede und Zitat anzeigen. Obgleich der Autor bei seiner Prosa-Übertragung inhaltlich dicht an der Vorlage in Versform bleibt, so wird auch bei ihm eine persönliche Färbung im Umgang mit dem Stoff erkennbar. Sein Stil zeichnet sich durch zahllose Wiederholungen von Relativ-Pronomen und –adverbien aus (le dit Pandyon, la dite Philomena etc.), die für die Prosa des 15. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich waren29 und dem Text und seinen daraus hervorgehenden langen Sätzen den hölzernen Charakter einer Aufzählung verleihen. Des Weiteren fügt der Autor gelegentlich persönliche Wertungen des Geschehens ein, wenn er Tereus als traistre (Verräter) bezeichnet
_____________ 25 26 27 28 29
Vgl. dazu die Beobachtungen von de Boer (Anm. 2), S. 9f. Was du verlangst, hast du in dir; Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 197. V. 655; Du hast in dir, was du verlangst. Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 197. Vgl. de Boer (Anm. 2), S. 14.
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oder dessen Reaktion gegenüber seiner Frau Progne als par faulseté (fälschlich) benennt, doch sind diese Wertungen nicht so zahlreich, als dass sie dem nüchternen Resümee einen offen wertenden Anstrich verleihen würden. Ebenfalls wird durch den Autor betont, dass sich die Verbrechen des Tereus sowie die Rache der Schwestern in aller Abgeschiedenheit vollziehen. Dies fällt dadurch auf, dass sich an den entsprechenden Stellen des Textes zahlreiche Formulierungen häufen, die auf den heimlichen Charakter der Ereignisse abzielen. So spricht der Autor innerhalb weniger Sätze davon, dass Tereus Philomela en son privé30 führt, wobei sich in dieser Waldhütte aucun de ses gens ne autre personne31 befände. Im unmittelbar darauf folgenden Satz erwähnt er noch einmal, dass sich das Geschehen en son privé, où il n’avoit autre personne que eulx deulx32 abspiele, und dass Tereus die Liebe der beiden bien secret33 halten wolle. Das Wort secret fällt ebenfalls in der Rache-Episode der beiden Schwestern mehrfach in kurzer Folge. Secretement34 befreit Progne ihre Schwester aus deren Gefängnis, die beiden begeben sich anschließend en lieu secret dedans la maison,35 wo sie zusammen secretement36 die Schändung und Verstümmelung Philomelas betrauern, sowie anschließend en leur secret37 Itys umbringen und als Mahlzeit für seinen Vater zubereiten. Indem der Autor sowohl die Heimlichkeit der beiden Orte betont (das Gefängnis im Wald sowie das verborgene Zimmer im Königspalast), als auch zusätzlich zu dem Ort die dort stattfindenden, brutalen Handlungen als secret bezeichnet, fällt die Parallele der beiden Episoden – die Schändung Philomelas und das Töten des Itys - besonders ins Auge. Auch dies lässt sich als eigenständige Lesart, und somit als Interpretation der Vorlage durch den Autor werten.38 Eine weitere Besonderheit der vorliegenden Prosa-Fassung der „Philomela“ offenbart sich in drei kleinen Formulierungen, deren Interpretation aufgrund der Kürze mit Vorsicht betrachtet werden muss, auf die an späterer Stelle der Arbeit jedoch noch einmal ausführlicher zurückgegrif-
_____________ 30 In seine abgelegene Hütte; Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 197. 31 Weder einer von seinen Leuten, noch irgendjemand anderes; Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 197. 32 In seiner abgelegenen Hütte, wo niemand außer ihnen beiden war; Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 197. 33 Geheim; Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 197. 34 Heimlich; Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 197. 35 In ein abgelegenes Zimmer des Hauses; Ovide moralisé en prose (Anm. 2), S. 197. 36 Im Verborgenen; Ovide moralisé en prose (Anm. 2), S. 197. 37 Heimlich; Ovide moralisé en prose (Anm. 2), S. 197. 38 Zu einer ausführlichen Interpretation der ‚geheimen Räume‘ des Mythos vgl. das Kapitel „Die Semantisierung des Raumes: Öffentlichkeit und Geheimnis“.
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fen wird.39 So wird dreimal innerhalb des Textes das Verhältnis von Tereus und Philomela als das von Geschwistern bezeichnet: einmal, als die Ankunft des Tereus in Athen gefeiert wird,40 und zwei weitere Male, als Tereus Philomela mit auf sein Boot nimmt,41 und diese nichts von ihrem bevorstehenden Schicksal ahnt.42 Für die explizite Beschreibung von Philomela und Tereus als Bruder und Schwester bietet weder die lateinische Fassung des Mythos, noch der altfranzösische „Ovide moralisé“ eine direkte Vorlage. Das Inzestmotiv ist allerdings in allen Fassungen des Mythos inhärent, wird vom anonymen Autor der Prosa-Fassung aber dahingehend zum Ausdruck gebracht, dass er Philomela und Tereus kurzerhand als Geschwister bezeichnet, und auch die Beziehung zwischen Philomela und Progne als eine inzestuöse andeutet.43 Entgegen der zahlreichen Beobachtungen, die sich bei der Analyse dieser Fassung des Mythos trotz des nüchternen Resümee-Charakters machen lassen, können bei der Analyse seiner Auslegung, die ebenfalls von der Vers- in die Prosa-Fassung übertragen wird, kaum bemerkenswerte Feststellungen gemacht werden. Dort handelt es sich um eine Zusammenfassung der Auslegung des „Ovide moralisé“, wobei kaum gekürzt wird, was der Auslegung im Verhältnis zum Mythos unter quantitativen Gesichtspunkten ein größeres Gewicht verleiht. Die Überschrift Exposicion moralle et allegorique sur la dicte fable legt bereits die Struktur der Auslegung offen. Ebenso wie an entsprechender Stelle des „Ovide moralisé“ werden zunächst die Metamorphosen der einzelnen Figuren in Vögel durch ihr
_____________ 39 Vgl. das Kapitel „Mordende Mütter, verschlingende Väter: Die Perversion der familiären Ordnung“. 40 Et atant passa Thereüs la meret vint à l’ostel du dit Pandyon à Athènes, où il fut moult grandement receü et festoyé tant de luy comme de sa seur Philomena (Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 196; Und so überquerte Tereus das Meer und kam zum Haus des besagten Pandion in Athen, wo er von diesem freundlich aufgenommen und gefeiert wurde, ebenso wie von seiner Schwester Philomela). 41 Et atant remonta Thereüs sur la mer et admena sa dite seur (Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 196; Und dann fuhr Tereus wieder aufs Meer hinaus und nahm seine besagte Schwester mit). 42 Mais pas ne savoit le meschief que son dit traistre frère Thereüs luy pourchassoit (Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 196 ; Doch sie ahnte nichts von dem Unglück, das ihr besagter Bruder Tereus ihr zufügen würde). 43 So begründet der Autor z. B. die Reise des Tereus nach Athen wie folgt: pour la consoler et satisfaire à son ardant désir il lui pleüst luy envoyer sa seur Philomena (Ovide moralisé en prose I (Anm. 2); Um sie zu trösten und ihrem heißen Begehren nachzugeben, sendete er ihr ihre Schwester Philomela). Inwiefern eine Beziehung von Schwager und Schwägerin nach mittelalterlichem Verständnis unter die Rubrik des Inzests einzuordnen ist, wird ebenso an anderer Stelle der Arbeit diskutiert wie das Verhältnis Pandion/Philomela sowie Philomela/Progne. Vgl. dazu das Kapitel „Mordende Mütter, verschlingende Väter: Die Perversion der familiären Ordnung“.
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Verhalten begründet und in einem zweiten Teil schließlich in einen heilsgeschichtlichen Kontext übertragen. Dabei folgt der Autor inhaltlich seiner Vorlage, wobei die Überschrift deutlich macht, dass er die Struktur seiner Vorlage erkannt hat und für den Leser offen legt. Insgesamt spiegelt die Prosa-Fassung genau das wider, was der Autor bezüglich seiner Bearbeitung selbst innerhalb des siebten Buches formuliert: Zusammenfassen und kürzen wolle er seine Vorlage en retenant et y mettant seulement ce qui m’a semblé nécessaire et convenable le plus clerement que j’ay sceü.44 Dass es sich bei seiner „Philomena“ um eine bewusste Auswahl von Elementen der Vers-Fassung handelt, die dem Autor wesentlich erscheinen, zeigt sich beispielhaft an der Beschreibung von Philomelas Tugenden. Gezielt wählt der Autor die aus, die sie zur Herstellung ihres Gewebes benötigt, die anderen lässt er weg. Dass mit einer Zusammenfassung in diesem Fall auch eine Interpretation der Vorlage verbunden ist, wird dadurch deutlich, dass er Philomelas ‚Zeichen‘ als Schrift auslegt, ebenso wie er durch die Betonung des heimlichen Handelns implizit auf die Parallelen zwischen der Schändung Philomelas und dem Mord an Itys verweist sowie durch die Bezeichnung von Tereus und Philomela als Geschwister das Motiv des Inzests vereindeutigt. Die Struktur seines Textes wird dabei jeweils durch die Überschrift angezeigt, sodass auch sein selbst formuliertes Bemühen, die Vorlage le plus clerement que j’ay sceü zusammenzufassen, als gelungen bezeichnet werden kann. Während die „Philomena“ der ersten Prosa-Fassung des „Ovide moralisé“ lediglich auf zwei Druckseiten Platz findet – ihre Auslegung auf einer dritten -, räumt die zweite Prosa-Fassung dem Mythos deutlich mehr Raum ein. In der Edition Colard Mansions von 1484, die die Grundlage der nachfolgenden Untersuchung bildet, umfassen der Mythos und seine Auslegung neun aus jeweils zwei Text-Kolonnen bestehende Seiten, wobei auf der ersten Seite die Auslegung der Episode von Tantalus eingeschoben ist, die eine knappe Text-Kolonne beansprucht.45 So ist der Text zwar
_____________ 44 Zurückhalten und mich lediglich auf das beschränken, was mir notwendig und angemessen erscheint und so klar dargestellt wird, wie es mir möglich ist; de Boer (Ovide moralisé en prose I (Anm. 2), S. 12). 45 Warum die Auslegung an dieser Stelle erfolgt, ist nicht eindeutig zu klären, denn die Geschichte von Tantalus geht sowohl in den Ovid’schen „Metamorphosen“, als auch im „Ovide moralisé“ dem Philomela-Mythos nicht unmittelbar voraus. Es ist jedoch anzunehmen, dass inhaltliche Übereinstimmungen die ungewöhnliche Platzierung auslösten. Um die Allwissenheit der Götter auf die Probe zu stellen, zerstückelt Tantalus seinen Sohn Pelops und setzt ihn diesen zum Mahl vor. In beiden Geschichten ist also das Zerstückeln und unwissende Einverleiben von leiblichen Kindern ein zentrales Motiv, sodass die Verschränkung beider Episoden über die Platzierung der Auslegung erreicht werden konnte.
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nicht so umfangreich wie die Vorlage Chrétiens, jedoch um einiges ausführlicher als die „Philomena“ der ersten Prosa-Fassung. Strukturiert wird der Text durch insgesamt acht Teilüberschriften, die - bis auf eine Ausnahme46 - jeweils mit dem Wort Comment beginnend in einem oder zwei kurzen Sätzen das Geschehen der nachfolgenden Passage kurz zusammenfassen bzw. am Ende des Textes die anschließende Auslegung ankündigen.47 Während es sich bei dem „Ovide moralise en prose I“ um eine knappe Zusammenfassung des Geschehens des Mythos handelt, wird auch bei diesem etwas später entstandenen „Ovide moralisé en prose II“ gekürzt, doch lässt sich über weite Passagen des Textes hinweg beobachten, dass sich der Autor bei seiner Übertragung inhaltlich eng an seine Vorlage anlehnt und oft zahlreiche Wörter bzw. ganze Satzteile übernimmt. So werden beispielsweise dieselben Vögel und ihre Unglück bringende Bedeutung bei der Hochzeit von Progne und Tereus erwähnt,48 die Tugenden Philomelas mit derselben Formulierung dargestellt,49 oder sogar manche der zahlreichen Sprichworte von der Vorlage Chrétiens in den Prosa-Text übernommen.50 Sogar die eigentümliche Bezeichnung des in einen Wiedehopf verwandelten Tereus als hupe coupee, dessen genaue Bedeutung unklar ist,51 wird wörtlich in die Prosa-Fassung übertragen und dokumentiert ebenfalls die enge Anlehnung des Prosatextes an die Versform. Auch andere erzählerische Elemente übernimmt der Autor, wie z.B. die Ankündigung der unglücklichen Entwicklung der Ereignisse anlässlich
_____________ 46 De la sage et prudete responce que fist philomena a thereus son serourge. (Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Über die kluge und umsichtige Antwort, die Philomela ihrem Schwager Tereus gab). 47 Vgl. z.B. Comment thereus efforca philomena (Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Wie Tereus Philomela zwang); Comment prone occist son filz ythis (Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Wie Progne ihren Sohn Itys tötete). 48 mais toute nuyt fus la chambre moterent le chahuan / le cucu/ la fresaye/ et le corbeau. Ce fut signifiance de deuil et de tristesse (Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Die ganze Nacht hindurch befanden sich Waldkauz, Kuckuck, Eule und Rabe in dem Zimmer. Dies war ein Zeichen von Unheil und Trauer). 49 elle ne fut pas moins sage que belle (Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Sie war nicht weniger klug, als sie schön war). 50 assez ottroie qui se taist (Wer schweigt ist einverstanden). 51 „Nous avons gardé telle quelle dans la traduction la qualification de ,coupée‘, mais nous ignorons à quoi correspond cette indication.“ Pyrame et Thisbé, Narcisse, Philomena. Trois contes du XIIe siècle français imités d’Ovide. Hg. v. Emmanuèle Baumgartner. Paris 2000, S. 253.
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der Heirat Prognes,52 ebenso wie er an ausgewählten Stellen auch die direkte Rede seiner Vorlage fast wörtlich in den Text integriert.53 Trotz der großen Übereinstimmung beider Texte lassen sich – abgesehen von der Übertragung der Versform in Prosa – verschiedene Eingriffe des Autors erkennen, von denen manche inhaltlicher, manche formaler Natur sind. Mehrere Textstellen zeigen, dass der Autor Elemente in sein Werk einbaut, die sich nicht in der Vorlage des „Ovide moralisé“ befinden, sondern entweder anderen Quellen oder der eigenen Feder des Autors entstammen. Die erste inhaltliche Abweichung zeigt sich direkt zu Beginn des Textes. Nachdem über die Kriegshilfe berichtet wird, die Tereus dem Athenerkönig Pandion leistet, erhält dieser die Königstochter zur Frau. Dabei wird ausgeführt, dass ihn Pandion zunächst mit der älteren seiner beiden Töchter, Philomela, verheiraten möchte, Tereus sich jedoch explizit Progne zur Frau wünscht, was ihm Pandion schließlich gewährt.54 Bei dieser Passage handelt es sich sogar um eine zweifache Abweichung von der Chrétien’schen Fassung des Mythos (und auch von allen anderen überlieferten Varianten): Philomela ist jeweils die jüngere der beiden Schwestern, und darüber, dass sich Tereus ausdrücklich gegen sie und für ihre Schwester Progne als Ehefrau entscheidet, wird in der Vers-Version des Mythos ebenfalls nichts berichtet. Dass es sich bei Philomela um die ältere der beiden Töchter handelt, ist jedoch äußerst ungewöhnlich, denn zumeist ist es die jüngste Tochter, die sich durch besondere Schönheit gegenüber ihren Schwestern auszeichnet, wie es in den anderen Fassungen des Mythos auch bei Philomela der Fall ist. Dass Pandion Tereus zunächst Philomela zur Frau geben will, dieser sie ausschlägt und Progne verlangt, macht der Text sowohl durch das Verb requier (verlangen, fordern), als auch durch das Adjektiv fieement (schließlich) unmissverständlich deutlich. Dies unterstreicht zum einen den Status der beiden Frauen als Handelsware, die als Gegenleistung für Kriegshilfe und zur Stabilisierung der Machtverhältnisse beliebig ausgetauscht werden können, zum anderen wird dadurch auch die Machtpositi-
_____________ 52 mais pour ce mariage sourdit depuis de gans inconveniens et de grandes tribulacions (Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Aber aus dieser Hochzeit entstand großes Unheil und Unordnung). 53 Philomena treschiere seur ou es tu / nayes paour ie suis prone ta seur (Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Philomela, geliebte Schwester, wo bist du, hab keine Angst, ich bin es, deine Schwester Progne). 54 Quant la guerre fut finee pandeon donna a thereus des deux filles qu’il avoit l’aisnee qui avoit nom philomena. Le royde trace requist prone a mariage / et pandion la lui donna fieement (Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Als der Krieg beendet war, gab Pandion von seinen beiden Töchtern die Ältere, die Philomela genannt wurde. Der Thrakerkönig verlangte Progne zur Frau, und Pandion gab sie ihm schließlich).
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on des Tereus betont, der es sich leisten kann, die eine Königstochter auszuschlagen und die andere zu verlangen. Dazu passt ebenfalls die Beobachtung, dass der Autor kurz zuvor den kriegerischen Erfolg des Tereus besonders betont und seiner literarischen Vorlage Tote und Kriegsgefangene hinzufügt, die Tereus bei seinem Kampf gegen die Barbaren errungen hat.55 Da eigenständige Zusätze des Autors äußerst selten sind und sich seine Eingriffe in den Text vorwiegend durch Kürzungen manifestieren, erhalten die wenigen inhaltlichen Einschübe umso mehr Gewicht, woraus in diesem Fall die Charakterisierung eines besonders mächtigen Tereus resultiert. Ein weiterer der wenigen inhaltlichen Zusätze, die der Autor vornimmt, lässt sich in der Vergewaltigungs- und Verstümmelungsszene beobachten, in welcher der Autor nicht wie zuvor bei der Verheiratung des Tereus eine völlig eigenständige Version anbietet, sondern ganz offensichtlich auf die Ovid’sche Fassung des Mythos rekurriert, die sich an dieser Stelle deutlich von Chrétien unterscheidet. Im altfranzösischen „Ovide moralisé“ folgen Vergewaltigung und Verstümmelung fast direkt auf einander und werden lediglich durch das Sprichwort „Tout jors atret / Li uns maulz l’autre et sel norrist“56 von einander getrennt. Während der Verstümmelung begründet Tereus selbst sein Tun: Damit Philomela nicht vom schändlichen Vergehen berichten könne, schneide er ihr nun die Zunge ab. Bei Ovid hingegen, und ebenfalls innerhalb des „Ovide moralisé en prose II“, liefert erst der lange, anklagende Monolog Philomelas nach der Vergewaltigung Tereus die Motivation zu der Verstümmelung, denn die Königstochter droht ihm mehrfach damit, die Tat öffentlich zu machen und sich so an ihm zu rächen: mais sache que cestui triste fait ne demourera pas impugny a ton corps ne a ton ame […] ou par le tumultuat peuple / ou par les forestz qui me tiennet enclose / ou par le son des pierres je croy que l’air revelera aux dieux ton peche / dont j’auray vengence de toy.57 Zwar gibt es im Chrétien’schen Text ein langes Wortgefecht zwischen Philomela und Tereus, als diese die Absicht des Schwagers erkennt. Auch dort klagt Philomela das missbrauchte Vertrauen Tereus’ gegenüber Pandion an, doch droht sie nicht mit der Enthüllung der Vergewaltigung - die zu diesem
_____________ 55 ce neust la chevalerie que thereus le roy de trace lui envoia qui tellement vainquit et appointa les barbarins que grant nombre en occist et prist plusieurs prisonniers. (Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Erst das Heer, das ihm der Thrakerkönig Tereus schickte, besiegte die Barbaren und schlug sie zurück, sodass viele von ihnen starben und gefangen genommen wurden). 56 Ein Unglück kommt selten allein. 57 Wisse, dass für dieses schändlichen Verbrechen weder dein Körper, noch deine Seele ungestraft bleiben werden […]; entweder durch das unruhige Volk, die Wälder, die mich umschließen, oder durch die Steine; ich glaube, dass der Wind deine Sünde den Göttern offenbaren wird, und ich mich dafür an dir rächen werde.
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Zeitpunkt auch noch nicht vollzogen ist –, wie es bei Ovid und ebenfalls im „Ovide moralisé en prose II“ zu lesen ist.58 Doch nicht nur die Androhung von Rache, sondern auch zahlreiche andere inhaltliche Elemente werden an dieser Stelle durch den Autor von der Ovid’schen Textfassung übernommen. So verurteilt Philomela, dass sich Tereus weder durch sein Versprechen gegenüber Pandion, ihre Jungfräulichkeit, ihre Tränen, noch durch den Gedanken an ihre Schwester von seiner Tat hat abbringen lassen. Besonders betont sie - ebenso wie im Ovid’schen Text – die Tatsache, dass Tereus alle familiären Bindungen verkehrt, sie selbst zu einer Rivalin ihrer Schwester, und ihn zum ‚doppelten Ehemann‘ gemacht habe.59 Dabei werden die durch die Tat durcheinander gebrachten Familienverhältnisse zweimal explizit mit dem Terminus des ‚Inzest‘ bezeichnet.60 Dadurch, dass Tereus Philomela als reine ‚Vorsichtsmaßnahme‘ die Zunge abschneidet, ohne dass sie ihn zuvor bedroht, erscheint seine Tat noch grausamer und berechnender. Dass der Autor des „Ovide moralisé en prose II“ von seiner Vorlage abweicht und den Monolog Philomelas nach der Vergewaltigung in Anlehnung an Ovid in seinen Text einfügt, macht die Verstümmelung als Reaktion auf die Drohungen Philomelas zumindest etwas erklärlicher. Gleichzeitig lässt diese Stelle vermuten, dass dem Autor aufgrund der Ähnlichkeit beider Passagen auch der Ovid’sche Text als Quelle für sein Werk zur Verfügung stand. Die meisten Änderungen, durch die sich der „Ovide moralisé en prose II“ von seiner Vorlage in Versform unterscheidet, machen sich erneut durch seine Kürzungen bemerkbar. Ebenso wie die erste Prosa-Fassung dieses Textes wird auch hier der Verweis auf die fremde Autorschaft der „Philomena“ nicht übernommen – der Mythos geht auf in der Sammlung der Ovid’schen Texte, dies jedoch ohne das Etikett seiner prominenten Herkunft. Auch sonst fallen zahlreiche Passagen weg, die nicht von unmittelbarer Bedeutung für das Verständnis des Geschehens sind. Gestrafft wird so bei ausführlichen Beschreibungen wie z.B. der des Festmahls anlässlich Tereus’ Besuch in Athen, der Schönheit Philomelas bei deren erstem Auftritt (wobei hier die Beschreibung ihrer Tugenden fast vollständig beibehalten wird), oder auch der tränenreichen Abschiedsszene bei der Tren-
_____________ 58 Vgl. dazu das Kapitel „Die Semantisierung des Raumes: Öffentlichkeit und Geheimnis“. 59 en me faisant rivaulde tu es fait double mary; (Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Indem du mich zur Rivalin [meiner Schwester] gemacht hast, bist du zum doppelten Ehemann geworden). 60 Incestueux touchemes; incestueux peche. Zum Motiv des Inzests vgl. das Kapitel „Mordende Mütter und verschlingende Väter: Die Perversion der familiären Ordnung“.
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nung Pandions von seiner Tochter. Was dem Autor bei seiner ProsaÜbertragung ebenfalls vernachlässigbar zu sein schien, sind die zahlreichen Dialoge, die der Erzähler mit seinem fiktiven Gesprächspartner oft und ausdauernd führt. Diese werden ebenso konsequent weggelassen wie die meisten der anderen Dialoge, die die Figuren untereinander führen. Werden sie übernommen, so zumeist in indirekter Rede. Diese Beobachtung lässt sich durch den Wechsel von Vers zu Prosa erklären: Nicht ein dramatisches, sondern ein episches Erzählen steht im Vordergrund. Zum Ende des Textes hin werden Elemente der direkten Rede häufiger in den Prosa-Text übertragen, dies jedoch vorwiegend an solchen Stellen, an denen der Inhalt eine besondere Dramatik transportiert wie z.B. dort, wo Progne an das Gefängnis ihrer Schwester gelangt und nach ihr ruft,61 oder wenn die wörtliche Rede ein bedeutsames Wortspiel beinhaltet, wie es sich z.B. bei der Antwort Prognes auf die Nachfrage des Tereus nach seinem Sohn beobachten lässt.62 Zwar gelingt es dem Autor, trotz Kürzungen alle wesentlichen Elemente der Handlung beizubehalten, doch geht in den meisten Fällen dabei die zusätzliche Bedeutungsebene verloren, die die entsprechenden Stellen beinhalten, und die das Geschehen indirekt reflektieren, den Text mit Andeutungen des weiteren Geschehens versehen oder in Form von Sprichwörtern und rhetorischen Kunstgriffen literarisch anreichern. So fehlt unter anderem mit dem langen Erzählerdialog über das Wesen der Liebe auch die Einordnung der Handlung in die Gegenüberstellung archaisch – höfisch,63 die trockene Zusammenfassung des üppigen Festmahls am Hof Pandions beinhaltet nicht die vieldeutige und auf das künftige Geschehen verweisende Formulierung, dass Philomela die einzige Speise sei, die Tereus begehre, und auch die Komik, die sich in der Abschiedsszene verbirgt und Pandion als weinerlichen Greis darstellt, fällt unter den Tisch. So wird die Handlung zwar vorlagengetreu und sorgfältig zusammengefasst, doch bleibt von der subtilen Poetik und dem kunstvollen Erzählstil Chrétiens wenig übrig. Dass der Autor bei seiner Bearbeitung und seinen Kürzungen systematisch vorgeht, lässt sich daran erkennen, dass fast alle Eigennamen, die im Text eine Verweisfunktion wahrnehmen, ebenso konsequent modifiziert werden wie zahlreiche religiöse Verweise. Während in Chrétiens
_____________ 61 Philomena treschiere seur ou es tu / n’ayes paour je suis prone ta seur (Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Philomela, geliebte Schwester, wo bist du; hab keine Angst, ich bin es, deine Schwester Progne). 62 Faulx et desloyal traistre dedans ton corps es partie de ce que tu demandes et partie dehors (Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Hinterhältiger und falscher Verräter, ein Teil dessen, was du verlangst, ist in dir, ein anderer Teil draußen). 63 Baumgartner (Anm. 51), S. 186-190.
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„Philomena“ neben heidnischen Göttern und Unglück bringenden Vögeln auch die Abwesenheit von Geistlichem und Priester bei der Hochzeit von Progne und Tereus beklagt wurden, werden diese beiden der christlichen Tradition zugehörigen Figuren im „Ovide moralisé en prose II“ weggelassen, die übrigen Unglückszeichen beibehalten.64 Der Vergleich des „Ovide moralisé“, das Fest zu Ehren des Geburtstags des Itys erinnere an jenes zu Ehren des sarrazinischen Gottes Tervagan, ist im „Ovide moralisé en prose II“ nicht überliefert, ebenso wenig wie der Verweis, Philomela sei dazu in der Lage, la mesnie Hellequin auf einen Stoff zu sticken.65 Dies wird in der Prosa-Fassung in die allgemeine Formulierung umgeschrieben, sie könne jedes beliebige Motiv auf einem Stoff darstellen.66 Auch die Gesellschaftsspiele, die Philomela – so Chrétien - besser als Apollonius oder Tristan beherrsche, werden in der Prosa-Fassung zwar erwähnt, jedoch ohne dabei auf die beiden berühmten literarischen Vorbilder einzugehen.67 Und auch die Autoritäten, die im „Ovide moralisé“ als nicht kompetent genug bezeichnet werden, die Schönheit Philomelas angemessen zu beschreiben, werden in der Prosa-Fassung teilweise ausgetauscht. Während sich Chrétien noch auf Platon, Homer und Cato bezieht, nennt der „Ovide moralisé en prose II“ nun la langue platon und le sens de salomon, die ebenfalls zur Beschreibung der Schönheit Philomelas nicht ausreichen würden und ersetzt damit zwei der antiken Schriftsteller durch einen christlichen Propheten, ein Ersatz, der durch die darin enthaltene Anspielung auf das Hohe Lied durchaus sinnreich platziert ist, da er eine sexuelle Andeutung des nachfolgenden Geschehens beinhaltet. Einen weiteren Eingriff in den Text seiner Vorlage vollzieht der Autor, wenn er die Anmerkung weglässt, die Gedanken Tereus’, Philomela mit Gewalt zu erringen, seien ihm durch den Teufel eingegeben. Während der Autor des „Ovide moralisé en prose II“ noch vorlagengetreu ebenso
_____________ 64 Ces noyces furent mauvaises / point n’y fut hymeneus le dieu qui aux noyces doit estre ne aucune joye ny eut / mais toute nuyt sus la chambre moterent le chahuan /le cucu/la fresaye/ et le corbeau. Ce fut signifiance de dueil et de tristesse. Atropos et theciphone et toutes mauvaises destinees volloiet toute nuit omy les chambres et les salles du palais (Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Die Hochzeitsnacht war unheilvoll, denn weder Hymen war da, der Gott, der in der Hochzeitsnacht anwesend sein muss, noch gab es irgendeine Freude. Die ganze Nacht hindurch waren in dem Zimmer jedoch Waldkauz, Kuckuck, Eule und Rabe. Das war ein Zeichen von Unheil und Trauer. Atropos und Tisiphone und die anderen Schicksalsgöttinnen flogen die ganze Nacht hindurch durch die Zimmer und den Saal des Palastes). 65 Baumgartner (Anm. 51), S. 172. 66 Et si scavoit moult bien ouvrer pourpres et baldequins et pour traire en ung drap quelque chose quelle vouloit (Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Und sie konnte sehr gut Purpur und kostbare Seidenstoffe bearbeiten und jedes beliebige Motiv in ein Tuch hineinwirken). 67 Elle scavoit de tous instrumens jouer et esbatre de tables / des chetz (Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Sie beherrschte alle Instrumente und auch das Schachspiel).
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über das Schweigen des Tereus ob der abschlägigen Antwort Pandions berichtet wie über dessen Seufzen und Weinen, so übergeht er an dieser Stelle ein weiteres Mal ein Detail, das aus einem christlichen Kontext stammt, und das bei Chrétien den Teufel für dessen Taten verantwortlich macht: Si l’a dyables enchanté, / Qui de mal fere ne repose.68 Dass der Autor den Einfluss des Teufels gänzlich aus seinem Text streicht, lässt sich wiederum nicht beobachten. Als sich Progne beim Anblick ihres Sohnes für ihre grausame Form der Rache entscheidet, wird auch dort ihr Handeln durch die Einwirkung des Teufels begründet: Et dist em bas une merveille, / Si com dyable li conseille.69 Diese Passage wird nahezu wörtlich durch den Autor der Prosa-Fassung übernommen, wenn es dort heißt: Quant la mere vit son filz elle dist en bas ainsi come le dyable luy conseilloit.70 Die schreckliche Tat wird sogar noch ein weiteres Mal durch die Macht des Teufels erklärt, und auch diese Stelle wird im „Ovide moralisé en prose II“ wenn nicht wörtlich, so doch inhaltlich von seiner Vorlage übernommen.71 Auch wenn sich innerhalb der „Philomena“ des „Ovide moralisé en prose II“ in vielerlei Hinsicht eine Systematik der Bearbeitung offenbart, wie z.B. die Konzentration auf die handlungstragenden Elemente bei gleichzeitiger Übernahme zahlreicher Details der Vorlage, oder das konsequente Ausblenden der Dialoge des Erzählers mit seinem imaginären Gegenüber, so ist der Umgang des Autors bezüglich Eigennamen und Textpassagen mit religiösem Anklang weniger eindeutig zu entschlüsseln. Während die ausführlichen Dialoge des Erzählers sicherlich der angestrebten Textkürze zum Opfer gefallen sind, da sie nicht zum unmittelbaren Verständnis des Geschehens beitragen, und die verlorene Subtilität und Poetik Resultat des Charakters einer ausführlichen Zusammenfassung sind, die dem Text inne ist, so bieten sich für die Änderungen bezüglich der Eigennamen und religiösen Implikationen verschiedene Interpretationen an. Zunächst könnte ein besseres Verständnis für die Rezipienten der Grund dafür sein, den Verweis auf Hellequin zu modifizieren sowie die Anspielung auf Apollonius und Tristan wegzulassen – diese Figuren aus Folklore und Literatur hatten möglicherweise während der Zeitspanne von über 300 Jahren, die zwischen der Entstehung der Chrétien’schen „Philomena“ und dem „Ovide moralisé en prose II“ liegen, die Assoziationen, die sie bei ihrer Leserschaft hervorrufen, verloren oder geändert.
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V. 462f.; Der Teufel, der nie aufhört, Böses zu tun, bemächtigte sich seiner. V. 1297f.; Sie flüsterte Worte, die ihr der Teufel eingab. Als die Mutter ihren Sohn sah, flüsterte sie Worte, die ihr der Teufel eingab. Par dyablie et par fierté / Que dyables li amoneste (V. 1330f.; durch den Teufel zu dieser grausamen Tat verleitet); elle luy coupa le chief sicoe le diable lui enseigna (Ovide moralisé en prose (Anm. 4); Sie schlug ihm den Kopf ab, so wie es ihr der Teufel befahl).
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Gleiches könnte Ursache für die Unterschlagung von Tervagan sein: Der sarrazinische Gott, dessen Name zum ersten Mal im chanson de Roland fällt,72 war den Rezipienten, vielleicht sogar dem Autor selbst wohl nicht mehr geläufig, sodass der Verweis auf das Fest zu Ehren des Itys, das ebenso opulent gefeiert werde, wie das des Tervagan, innerhalb der ProsaFassung des „Ovide moralisé“ einfach in ein „großes Fest“ umgewandelt wird.73 Ob aus gleichen Gründen der Verweis auf Homer und Cato gegen eine Nennung Salomos eingetauscht wird wie das Aussparen der Bemerkung, das Verbrechen des Tereus gründe sich auf eine Einflüsterung des Teufels, bleibt fraglich, zumal letzteres als Begründung für die Tat Prognes beibehalten wird. Ein Erklärungsversuch für diese letzte Beobachtung wäre, dass der Kindsmord Prognes dem Autor so monströs erschien, dass er eine teuflische Eingebung als Erklärung für notwendig erachtete, nicht jedoch bei dem Verbrechen des Tereus. Betrachtet man alle weiteren Stellen des Textes, in denen ein heidnischer Brauch erwähnt oder auf eine religiöse Instanz verwiesen wird, so offenbart sich dort ebenfalls kein einheitlicher Modus in der Übertragung. Wenn Chrétien darauf hinweist, die Liebe des Tereus zu seiner Schwägerin stelle gemäß heidnischen Rechts kein (moralisches) Vergehen dar, da ein Gott ihrer Religion eine solche Verbindung erlaube, so wird darüber auch im „Ovide moralisé en prose II“ berichtet. Auch die Stelle der Chrétien’schen „Philomena“, in der der Opferritus Prognes zu Ehren ihrer Schwester dargestellt wird, überträgt der Autor in seinen Text, wobei er zwar die Opferung der Stiere zu Ehren Plutos erwähnt und diesen auch als Gott der Hölle vorstellt, alle weiteren Details wie das Auffangen des Blutes, das Errichten einer Statue sowie die Gravur der Grabplatte jedoch weglässt. Zwar gestaltet sich die Übertragung dieser Passagen wenig einheitlich, es ist jedoch deutlich zu erkennen, dass vorrangig diese von den wenigen inhaltlichen Änderungen betroffen sind, die der Autor im Vergleich mit seiner Vorlage vornimmt. Obwohl nicht deutlich wird, dass durchgängig alle christlichen Verweise, die in der Chrétien’schen „Philomena“-Fassung auftauchen, weggelassen werden, und der Text somit vollständig jeden religiösen Bezug verliert, oder diesem anders herum statt der heidnischen Elemente christliche implantiert werden, handelt es sich doch um neuralgische Punkte der Übertragung, die den Autor zu Eingriffen verleitet hat. Ob dies Änderungen sind, die im Zusammenhang mit der Eliminierung der christlichen Allegorien stehen, die sich teilweise auch in den einzelnen
_____________ 72 Vgl. Baumgartner (Anm. 51), S. 161. 73 Le jour qu’il fut ne par le comandemet de theseus celebra on par tout le royaulme grat feste (Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Der Tag, an dem er geboren wurde, wurde auf Befehl des Tereus im ganzen Königreich ein großes Fest gefeiert).
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Mythen beobachten lassen, ist – zumindest für den vorliegenden Philomela-Mythos – fraglich, da die betreffenden Stellen kaum als Allegorien bezeichnet werden können. Im Folgenden wird die Allegorie am Ende des Mythos näher untersucht. Da sich in der Auslegung ein bereits zu Beginn des Kapitels angedeutetes, komplexes Verhältnis von Übersetzung bzw. Übertragung aus anderen Texten offenbart, und dies einen bezeichnenden Eindruck spätmittelalterlicher Mythenrezeption vermittelt, soll der Entstehungsweg der Allegorie noch einmal ausführlich dargestellt werden. Mansion erwähnt im Vorwort seiner Edition des „Ovide Methamorphose“ von 1484, dass die Moralisierungen des Textes aus einer anderen Feder als der seinen stammen: Cy commence Ovide Salmonence son livre intitulé Methamorphose, contenant .XV. livres particuliers, moralisé par maistre Thomas VValeys, docteur en theologie de l’ordre de sainct Dominique, translaté et compilé par Colard Mansion, en la noble ville de Bruges.74
Die Forschung hat mittlerweile Thomas Waleys als den Dominikanermönch Pierre Bersuire identifiziert,75 der im Rahmen seines insgesamt 16 Bücher umfassenden, lateinischen Werkes „Reductorium morale“ neben anderen Texten, wie z.B. der Bibel, auch Ovids Werke auslegt.76 Der „Ovidius moralizatus“, der das 15. Buch des „Reductorium morale“ bildet, liegt dabei in zwei verschiedenen Fassungen vor. Die erste entstand zwischen 1337 und 1340 in Avignon, die zweite wurde durch Bersuire 1342 in Paris vollendet, wobei der Autor in seinem Vorwort der zweiten Ausgabe mitteilt, er habe die erste Fassung überarbeitet und dabei die Elemente des französischen „Ovide moralisé“ hinzugefügt, die ihm erwähnenswert erschienen. Bei der ersten Ausgabe des „Ovidius moralizatus“ sei ihm dieser Text noch unbekannt gewesen.77 Da diese erste Fassung 1509 durch Josse Bade, sowie 1515 und 1521 durch andere Editoren unter dem Namen Thomas Waleys herausgegeben wurde,78 ist zu vermuten, dass Mansion bei seiner Arbeit ein Manuskript zur Verfügung stand,
_____________ 74 Hier beginnt das Buch Ovid Salomons mit dem Titel „Methamorphose“, das fünfzehn einzelne Bücher beinhaltet und durch den Meister Thomas Waleys, Doktor der Theologie und Mitglied des heiligen Dominikanerordens ausgelegt, sowie durch Colard Mansion in der edlen Stadt Brügge übersetzt und zusammengefügt wurde. 75 In der Forschungsliteratur erfolgt die Schreibweise des Namens nicht einheitlich. Es ist die Rede von Pierre Bersuire, Pierre Berçuire und Petrus Berchorius. Dabei herrscht die Form Bersuire vor, sodass diese im Folgenden verwendet werden soll. 76 Vgl. Jung (Anm. 1), S. 108. 77 Vgl. Paris, Gaston: „Chrétien Legouais et autres traducteurs ou imitateurs d’Ovide.“ In: Histoire littéraire de la France XXIX (1885), S. 455-517, hier S. 506f. 78 Paris (Anm. 77), S. 524.
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das ebenfalls diesen Namen, und nicht den Bersuires als Autor überlieferte. Augenscheinlich war Mansion bei seiner Edition des „Ovide moralisé en prose II“ der mit Allegorien versehene „Ovide moralisé en prose I“ nicht bekannt. Da sich jedoch in seinem Werk Passagen finden, die direkt aus dem „Ovide moralisé“ entnommen und in Versform belassen sind,79 und Mansion somit von den Allegorien der Versfassung wusste, wollte er diese allegorisierte Form offensichtlich beibehalten und entschied sich für eine eigene Allegorisierung des Textes. Um jedoch nicht die umfangreichen Allegorien der Versfassung komplett übernehmen zu müssen, entschloss er sich für eine Übersetzung der Allegorien Pierre Bersuires vom Lateinischen ins Französische, dessen erste Fassung des „Ovidius moralizatus“ ihm offenbar unter dem Namen Thomas Waleys zur Verfügung stand. Mansions Arbeit wurde später zum Grundstein zahlreicher weiterer Editionen, die die „Metamorphosen“ und ihre Zusätze aus dem „Ovide moralisé“ zunächst unter dem Namen „La bible des poetes de methamorphose“, und später als „Le Grand Olympe des histoires poetiques du prince de poesie Ovide Naso en sa Metamorphose“ publiziert wurden. Den Allegorien war dabei ein wechselvolles Schicksal bestimmt: mal wurden sie in den Textkorpus aufgenommen, ein anderes Mal weggelassen.80 Betrachtet man nun die Allegorie des Philomela-Mythos, wie sie Mansion von Bersuire übernommen, und vom Lateinischen ins Französische übersetzt hat, so wird sie im Anschluss an die Episode deutlich sichtbar durch einen Absatz sowie die Ankündigung in Form der Teilüberschrift Sens alegorique a ceste fable angezeigt. Die Auslegung selbst ist wiederum durch eine weitere, etwa mittige Zäsur mit der Erwähnung des sens historial inhaltlich in zwei Teile geteilt. Die Allegorie beginnt dabei mit der Definition der ‚Zielgruppe‘ der Auslegung,81 um diese direkt im Anschluss zu verurteilen.82 Die Sündhaftigkeit des Inzests wird dabei folgendermaßen begründet: car soubz espece de consanguinite ilz sont ditz megier leurs propres enfans en eulx delectant leur propre chair.83 Somit wird das Einverleiben des eigenen Fleisches als Sinnbild des Inzests selbst interpretiert, sodass sich in erster Linie Tereus durch das Verschlingen seines Sohnes dieses Verbrechens
_____________ 79 Vgl. bspw. der Gesang des Orpheus. 80 Paris (Anm. 77), S. 99f. 81 Ceste fable doivet prendre a exeple ceulx qui sot incestueux (Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Diese Geschichte sollten sich alle als Beispiel nehmen, die Inzest betreiben). 82 Cest a dire qu’ilz veulent avoir couple a leurs parentes qui est ung grant et peruers peche (Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Dies bedeuet, dass sie eine Paarbeziehung mit ihren Eltern eingehen wollen, was eine grosse und furchterregende Sünde ist). 83 Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Denn obwohl sie blutsverwandt sind, haben sie ihre eigenen Kinder gegessen und sich an ihrem eigenen Fleisch ergötzt.
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schuldig machen würde. Ob entsprechend dieser Auslegung die Verbindung von Tereus und seiner Schwägerin Philomela als Angehörige derselben Familie ebenfalls anzuklagen wären, ist zunächst fraglich. Zwar gehören sie gemäß des mittelalterlichen Verständnisses zur selben Familie, da diese nicht biologisch, sondern als sozialer Verband definiert wurde, doch wird in der Auslegung explizit der Terminus der Blutsverwandtschaft (consanguinite) verwendet, der nach heutigem Verständnis nur die Verbindungen Progne/Philomela und Tereus/Itys umfasst. Die Vorgehensweise, die Handlung des Mythos als Illustration der Sünde ‚Inzest‘ zu verstehen, wird schließlich darin fortgesetzt, dass nicht nur das Töten und Einverleiben des Kindes, sondern auch die Verstümmelung Philomelas als Auswirkung dieses Verbrechens gelesen wird: ilz sont aussi ditz couper leur langue en tant qu’ilz s’efforcent de celer la laidure et villain fait de leur enorme peche.84 An dieser Stelle wird deutlich, dass die Sünde des Inzest nur schwer im Hinblick auf eine oder mehrere konkrete Figuren des Mythos zu beziehen ist – so wird z.B. bezüglich der Verstümmelung im Plural (leur langue) gesprochen - sondern dass es sich bei der Auslegung vielmehr um eine generelle Veranschaulichung eines inzestuösen Vergehens handelt, das allgemein und unpersönlich bleibt. Und so wird auch Philomelas Gewebe nicht als ein individuelles Kommunikationsmedium, sondern als Beleg dafür interpretiert, dass Inzest trotz Geheimhaltung (Verstümmelung der Zunge) sichtbar werde: Touteffois il est releve par la toille et courtine brodee.85 Schließlich wird sogar die Verwandlung im Hinblick auf den Inzest gelesen. Die Verwandlung in Vögel wird dadurch begründet, dass diese, um der Schande zu entgehen, das Land verlassen und sich in anderen Regionen aufhalten würden. Die Schwalbe sei dafür ein gutes Beispiel, denn sie pilgere von einem Land in das andere.86 Auch der Wiedehopf stelle ein Spiegelbild dieser Sünde dar, denn er sei ein widerwärtiger und niederer Vogel, der sein Nest in den Exkrementen der Menschen oder anderer stinkender Tiere baue, wo er schließlich schnell und schmerzhaft aufgrund seines verabscheuungswürdigen Wesens sterben würde.87 Mit
_____________ 84 Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Sie haben ebenfalls gesagt, ihre Zungen abzuschneiden, und haben sich also bemüht, die Schändlichkeit und Verwerflichkeit ihrer großen Sünde zu verheimlichen. 85 Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Trotzdem wird er durch den Stoff und das bestickte Tuch offenbar. 86 Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Pou ce dit la fable eulx estre mues en arondelles qui tousjours font pelerines de l’une terre en l’autre. 87 Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Ou en hupe coupee qui est ort et villain oyseau. Car il fait son nid en la siante de l’homme ou d’aucune beste puate dont il meurt a douleur et brief pour la puateur dicelluy.
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der Formel De ceulx dist l’escripture88 sowie dem lateinischen Pereat mechus et adultera, das resümierend sogleich mit Soient perilz le incestueux et l’adultere89 übersetzt wird, schließt der erste Teil der Allegorie. Dass die Auslegung dabei ausschließlich auf das Inzest-Motiv beschränkt ist, ist insofern nicht verwunderlich, als dieses bereits in der „Philomena“ selbst deutlich zu erkennen war. Philomela klagt nach ihrer Vergewaltigung Tereus explizit des Inzests an. Die Tatsache, dass sich diese Passage nicht in der direkten Vorlage, dem „Ovide moralisé“, befindet, sondern offensichtlich von der Ovid’schen Fassung des Mythos übernommen wurde, legt dabei die Vermutung nahe, dass der Autor bewusst auf den antiken Text zurückgegriffen hat, da dieser in der betreffenden Passage den Inzest besonders thematisiert. Und auch zuvor wurde bereits die inzestuöse Verbindung von Pandion zu seiner Tochter angedeutet. Zwar wird diese Andeutung in allen Varianten des Mythos beibehalten; da der „Ovide moralisé en prose II“ den Monolog Pandions beträchtlich kürzt, die Beschreibung der Dienste, die ihm seine Tochter leistet, jedoch beibehält, ist dies erwähnenswert und lässt sich als bewusste Auswahl eines Motivs interpretieren, das schließlich den zentralen Punkt der Allegorie bildet. Im zweiten Teil, dem sens historial, werden die Verwandlungen der einzelnen Figuren durch ihr Verhalten begründet. Philomela, noble et sage / prudete et courtoise,90 habe so schön gesungen und sei so lange im Wald eingeschlossen worden, dass sie zur Nachtigall wurde. Progne habe sich in eine Schwalbe verwandelt, da sie aus Angst vor ihrem Ehemann in einen „erstaunlich hohen Turm“ (une tour forte a merveilles) geflohen sei, auf dem ebenso wie auf hohen Schornsteinen die Schwalbe gerne ihr Nest baue. Tereus schließlich habe Philomela getäuscht und misshandelt und sei gleichzeitig ein tapferer Krieger gewesen, der im Kampf mit Kettenhemd (haulbert), Schild und einem mit Federn geschmückten Helm (a plumas dessus) gerüstet gewesen sei. Daher habe er sich in einen Wiedehopf (huppe couppee), einen widerwärtigen und nichtswürdigen Vogel, verwandelt. Die Forschungsliteratur beschreibt mehrfach, dass Mansion seiner Edition des „Ovide Methamorphose“ wieder Allegorien hinzugefügt hat, die in den Manuskripten dieses Textes zuvor getilgt worden waren, wobei er die französische Übersetzung der entsprechenden Passagen des Pierre Bersuire verwendet.91 Vergleicht man die Auslegung der „Philomena“
_____________ 88 Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Über diese [diejenigen, die Inzest betreiben] berichtet die Schrift. 89 Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Es sollen die Ehebrecher, und die, die Inzest betreiben, zugrunde gehen. 90 Ovide moralisé en prose II (Anm. 4); Edel und weise, klug und höfisch. 91 Jung (Anm. 1), S. 102f.; Langlois, Ernest: „Une rédaction en prose de l’Ovide moralisé.“ In: Bibliothèque de l’Ecole des chartes 62 (1901), S. 251-255, hier S. 254.
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durch Bersuire und die Übersetzung Manisons, so stimmen zwar beide inhaltlich überein, doch zeigt sich in beiden Texten keine heilsgeschichtliche Auslegung des Mythos, wie es beispielsweise innerhalb der Auslegung des „Ovide moralisé“ zu beobachten war. Vielmehr trifft für die Auslegung das zu, was Marc-René Jung für die Manuskripte des „Ovide moralisé en prose II“ beobachtet: „Si elle maintient les explications historiques et parfois morales du poème, elle éliminent par contre toutes les allégories, mêmes si certaines rubriques annoncent le ,sens allegorique de la fable‘.“92 Dies zeigt sich auch in der „Philomena“: Trotz Ankündigung des sens alegorique findet sich keinerlei heilsgeschichtliche Auslegung, sondern lediglich eine moralische Interpretation des Mythos im Hinblick auf das zentrale Motiv des Inzests sowie eine als sens historial bezeichnete Erklärung der Metamorphose der Figuren aufgrund ihrer Eigenschaften und Verhaltensweisen. Da es sich bei der Auslegung nicht wie angekündigt um eine Allegorie im engeren Sinne handelt, stellt sich die Frage, ob sich nicht auch die wenigen Streichungen von religiösen Verweisen, die innerhalb des Mythos beobachtet werden konnten, als Resultat einer unvollständig durchgeführten Eliminierung christlicher Elemente interpretieren lassen. Ein ähnliches Phänomen beobachtet Jung nämlich nicht nur in der Edition Mansions, sondern im Zusammenhang mit allen Manuskripten des „Ovide moralisé en prose II“. Diese lassen nicht nur die längeren Allegorien der einzelnen Mythen weg, die deutlich erkennbar in Block-Form an deren Ende platziert sind, sondern auch diese, die sich gelegentlich als kurze Passagen in den einzelnen Mythen selbst befinden und nicht ausdrücklich als Allegorie gekennzeichnet sind. Möglich wäre somit, dass das Manuskript, welches Mansion als Grundlage für seine Edition verwendet hat, immer noch inhaltliche Spuren von Eingriffen in den Text trägt, die sich vorwiegend an ‚sensiblen‘ Stellen manifestieren und die religiöse Implikationen jeglicher Art aufweisen. Da es aus Gründen des Umfangs nicht möglich ist, den „Ovide moralisé en prose II“ auf vergleichbare Stellen hin ausführlicher zu untersuchen, können der Philomela-Mythos und seine Auslegung hier nur als Beispiel für eine wechselvolle Auslegungspraxis vorgestellt werden, die im Mittelalter weit verbreitet war, deren Sinn und Notwendigkeit jedoch immer öfter in Frage gestellt wurde. So kristallisiert sich bereits ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine Tradition heraus, die lediglich die fables der Ovid’schen „Metamorphosen“ überliefert, im Gegensatz zu einer anderen, in der die Allegorie einen wesentlichen Bestandteil der Überliefe-
_____________ 92 Jung (Anm. 1), S. 100f.
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rung ausmacht.93 Für Letztere bietet der „Ovide moralisé en prose I“ das entsprechende Beispiel, was allein schon quantitativ an der PhilomelaEpisode deutlich wird, da dort die Allegorie ein Drittel des Gesamtumfangs ausmacht. Der „Ovide moralisé en prose II“ in der Edition Colard Mansions illustriert das Eliminieren und spätere Hinzufügen der christlichen Auslegungspraxis und das mögliche Hinterlassen von inhaltlichen Markierungen bei diesem Vorgehen. Beide Prosa-Fassungen zusammen zeigen das bereits vollzogene, scherenartige Auseinanderklaffen mittelalterlicher Ovid-Rezeption, bei der auf der einen Seite das Interesse an den Geschichten selbst, auf der anderen Seite ihr Einfügen in eine christliche Weltordnung im Mittelpunkt steht.
_____________ 93 So beinhaltet ein Manuskript des Ovide moralisé, das um 1390 entstand (Lyon, Bibl. mun. 742), so gut wie keine Allegorien mehr, zwei andere (Paris, BNF 870 und 19121; 14. und 15. Jahrhundert) eliminieren sie vollständig. Vgl. Jung (Anm. 1), S. 105.
IV. Übertragungen Ovid – Albrecht von Halberstadt – Georg Wickram 1210 übersetzte Albrecht von Halberstadt die „Metamorphosen“ Ovids vom Lateinischen ins Mittelhochdeutsche.1 Sein Werk, das sich auf den ersten Blick problemlos in die umfangreiche Tradition mittelalterlicher Antikenrezeption einzureihen scheint, erweist sich jedoch auf den zweiten Blick als in dreifacher Hinsicht ungewöhnlich. Während die epische Darstellung antiker Stoffe wie z.B. der „Alexanderroman“, die „Eneit“ oder der „Trojaroman“ über eine französische Vorlage ins Deutsche gelangte, handelt es sich hier um einen in dieser Epoche einzigartigen Vorgang einer direkten Bearbeitung aus dem Lateinischen. Dazu kommt, dass die französischen Fassungen antiker Stoffe weniger Übersetzungen, als vielmehr freie Bearbeitungen ihrer Vorlagen darstellen, die an den höfischliterarischen Kontext angepasst wurden. Schließlich handelt es sich bei den bis dahin erfolgten Bearbeitungen lateinischer Werke, deren Zeit mit Beginn der frühhöfischen Dichtung zu Ende ging, fast ausschließlich um geistliche Dichtungen, und nicht wie bei Albrecht um Dichtung weltlichen Inhalts.2 So handelt es sich bei seinen „Metamorphosen“ als erster Übersetzung eines weltlichen, antiken Stoffes um eine literarische Einzelerscheinung, was ein möglicher Grund für die geringe Resonanz seines Werkes gewesen sein mag. Insgesamt sind nur fünf Fragmente überliefert, die – alle zwischen 1859 und 1966 in Oldenburg gefunden – der selben Pergamenthandschrift aus der letzten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstammen, welche „sich auf dem hiesigen rathhause gefunden, als umschlag
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Paradoxerweise ist die Entstehungszeit der Albrecht’schen „Metamorphosen“Übertragung trotz einer ungewöhnlich präzisen Angabe umstritten. So benennt der Autor den Zeitpunkt seines Schaffensprozesses wie folgt: Zwelff hundert jor / Und zehene bevorn / Seit unser Herr ward gesporn. Georg Wickram: Sämtliche Werke. Hg. v. HansGert Roloff (Dreizehnter Band, erster Teil. Ovids Metamorphosen). Berlin, New York 1990, S. 9, V. 84-86. Diese Angabe wird in der Forschung sowohl als 1190, als auch als 1210 interpretiert. Einen Überblick über diese Debatte bietet die Dissertation von Rücker, Brigitte: Die Bearbeitung von Ovids Metamorphosen durch Albrecht von Halberstadt und Jörg Wickram und ihre Kommentierung durch Gerhard Lorichius. Göppingen 1997, S. 32-40. Als einzige Ausnahme vermutet Heinzmann Notker von St. Gallen, der in seinem Brief an den Bischof Hugo von Sitten seine vor 1017 verfassten Übersetzungen aufzählt, unter denen sich auch weltlich-antike Werke wie die „Buccolica“ Vergils, die „Andria von Terenz“ und die Hochzeit des Merkur mit der Philologie des Marcianus Capella befinden. Diese unterscheiden sich jedoch von Albrecht bezüglich ihrer Form (Prosa) und ihrem anderen Adressatenkreis (Klosterschule). Vgl. Heinzmann, Günther: Albrecht von Halberstadt und Jörg Wickram. Studien zu einer Rekonstruktion von Albrechts Metamorphosen. Diss. masch. München 1969, S. 3.
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eines einquartierungsregisters vom jahre 1625.“3 Auf die detaillierte Beschreibung aller fünf Bruchstücke soll an dieser Stelle verzichtet werden, um den Fokus stattdessen auf eines dieser Fragmente zu richten, welches in insgesamt hundertvierundvierzig Versen einen Teil des Albrecht’schen Philomela-Mythos überliefert und inhaltlich den Ovid’schen „Metamorphosen“ VI, V.440-480 entspricht.4 ‚Fragment A‘ wurde 1865, sechs Jahre nach der Entdeckung des ersten Fragments durch Leverkus, von Lübben gefunden und herausgegeben.5 Er bezeichnet das Bruchstück als einen „beschriebenen Pergamentstreifen“,6 aus zwei Kolumnen bestehend, von denen jede sechsunddreißig Zeilen umfasst. Eine römische IX am unteren Rand des Streifens weist auf die neunte Lage der Handschrift hin, sodass „unser Blatt somit, die Lage zu 4 Doppelblättern (einem Quaternio) gerechnet, das 72. der Handschrift“7 gewesen ist. Die Handschrift, zu Buchbinderzwecken missbraucht, wurde durch eine Schere jedoch so beschädigt, dass jeweils zwei bis drei Buchstaben der Versanfänge fehlen, ebenso wie einige Buchstaben in der Versmitte. Dieser Verlust wurde von Lübben gemeinschaftlich mit Leverkus rekonstruiert und die Zusätze durch Klammern kenntlich gemacht. Über die hundertvierundvierzig Verse der „Philomela“ des ‚Fragment A‘ hinaus liegt uns die Albrecht’sche „Philomela“ vollständig in einer zweiten, nur indirekten Form vor. 1545 übersetzte Georg Wickram die „Metamorphosen“ des Albrecht von Halberstadt vom Mittelhochdeutschen ins Frühe Neuhochdeutsch. Für seine Arbeit muss Wickram ein vollständiges Exemplar der Albrecht’schen „Metamorphosen“ zur Verfügung gestanden haben, denn er bezieht sich nicht nur wiederholt auf seine Vorlage, sondern stellt auch seinem Werk die Vorrede Albrechts voran, die er - wie er beteuert - nit hab enderen wollen.8 Bolte und Heinzmann ver-
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Leverkus, W.: „Aus Albrechts von Halberstadt Übersetzung der Metamorphosen Ovids.“ In: ZfdA 11 (1859), S. 358-374, hier S. 358f. Die Benennung der einzelnen Fragmente erfolgt in der Forschung nicht einheitlich. Fragmente A und B werden teilweise entsprechend der Reihenfolge ihrer Veröffentlichung, teilweise entsprechend ihrer Stellung in den Ovid’schen „Metamorphosen“ benannt. Der Mehrzahl der Veröffentlichungen entsprechend bezeichne ich im Folgenden das als zweite gefundene und einen Teil des Philomela-Mythos beinhaltende Fragment als ‚Fragment A‘. Lübben, A.: „Neues Bruchstück von Albrecht von Halberstadt.“ In: Germania. Vierteljahresschrift für deutsche Alterthumskunde 10 (1865), S. 237-245. Lübben (Anm. 5), S. 237. Lübben (Anm. 5), S. 237. Georg Wickram (Anm.1), S. 6, Z. 7f.. Haupt zweifelte an der unveränderten Wiedergabe Wickrams, versuchte eine Rekonstruktion der Albrecht’schen Fassung und begründete damit zahlreiche weitere Versuche, den mittelhochdeutschen Text wieder-
Ovid – Albrecht von Halberstadt – Georg Wickram
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muten, dass nicht der Mainzer Drucker Ivo Schöffer, bei dem die „Metamorphosen“ erschienen, sondern Wickram selbst die Handschrift besorgt habe.9 Da er einige Zeit als Buchhändler gearbeitet hat, und Gerhard Lorichius, der den einzelnen Episoden der „Metamorphosen“ Auslegungen hinzufügte, in seiner Zuschreibung auf den Verdienst Wickrams hinweist, erscheint diese Vermutung naheliegend.10 Dennoch ist dies nicht endgültig zu klären, ebenso wie die Frage nach der Beschaffenheit der Handschrift, die Wickram vorlag. Eindeutig feststellbar ist gegenüber der vergleichsweise spärlichen Überlieferung des Albrecht’schen Textes der Erfolg, den Wickram mit seiner „Metamorphosen“-Übersetzung erzielte. Sechs Jahre nach der erstmaligen Veröffentlichung von 1545 legte Schöffer das Werk ein zweites Mal auf. 1581 wurden die „Metamorphosen“ durch einen anderen Verleger ein weiteres Mal publiziert, wobei die Wickram’schen Holzschnitte durch neue ersetzt, sowie der Text durch eine Nachdichtung der „Metamorphosen“ des späteren Meistersingers Johannes Spreng ergänzt wurde. In dieser letzten Fassung wurden schließlich die nun als Metamorphosis. Wunderbarliche unnd seltzame Beschreibung, von den Menschen, Thiern, und anderen Creaturen veränderung, auch von dem Wandel, Leben und Thaten der Götter, Martis, Veneris, Mercurij ect. bezeichneten „Metamorphosen“ in Frankfurt am Main von anderen Verlegern 1609 und 1631 noch weitere Male veröffentlicht. Ebenso wie der Philomela-Mythos in das Gesamtwerk der „Metamorphosen“ eingebettet ist, so besteht auch die Forschung zu diesem Mythos in einem oftmals kleinen Teil umfangreicher Untersuchungen, welche die Gesamtheit des Halberstadt’schen und Wickram’schen Werkes in den Blick nehmen. Eine ausschließlich dem Philomela-Mythos gewidmete Analyse gibt es nicht. Da das Albrecht’sche ‚Fragment A‘ glücklicherweise einen Teil dieser Ovid’schen Episode – noch dazu in einem im Verhältnis zu den verbleibenden vier Fragmenten akzeptablen Zustand - überliefert, bietet es sich für einen direkten Vergleich der Fassungen von Albrecht und Wickram an. Aus diesem Grund liegen auch einige Arbeiten vor, die die Analyse des ‚Fragment A‘ sowie ihr Verhältnis zur Übersetzung Wickrams ins Zentrum ihrer Analyse stellen, wobei der Fokus meist auf einer sprachlichen, und weniger auf einer inhaltlich-interpretativen Untersuchung liegt. Ein Überblick über die gesamte Halberstadt- bzw. WickramForschung kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Dies ist zum einen bereits
_____________ herzustellen. Haupt, M.: Die Vorrede Albrechts von Halberstadt. ZfdA 3 (1843), S. 289-292. 9 Vgl. Heinzmann (Anm. 2), S. 4; Georg Wickrams Werke. Hg. v. Johannes Bolte (Achter Band. Ovids Metamorphosen. Buch 9-15). Tübingen 1906, S. VIf. 10 Georg Wickram (Anm. 1), S. 17, Z. 18f.
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anderweitig geschehen,11 zum anderen würde es einen unscharfen Focus auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand richten. So soll im Folgenden lediglich ein Überblick über die bisherige Forschung geboten werden, die für die weitere Untersuchung des Philomela-Mythos bedeutsam ist. Relevant sind alle Analysen des ‚Fragment A‘ sowie ein Vergleich des Halberstadt’schen Textbruchstücks mit den entsprechenden Passagen Wickrams und Ovids. Ebenfalls interessant sind die bisher erfolgten stilistischen Untersuchungen zu Halberstadt und Wickram. Sie machen es möglich, die an den jeweiligen Philomela-Episoden gemachten Beobachtungen in einen größeren Werkzusammenhang zu stellen, um so die Ergebnisse der Forschung am Beispiel zu überprüfen. Mit dem Fund des ‚Fragment A‘ begann auch die Beachtung des Halberstadt’schen und Wickram’schen Philomela-Mythos. Neben einer Beschreibung des Bruchstücks liefert Lübben in seinem Aufsatz von 1865 einen erstmaligen Abdruck des Textes, der die abgeschnittenen Buchstaben ergänzt und neben einigen Bemerkungen zum Reim einen zusammen mit Leverkus erarbeiteten Stellenkommentar bietet. Dort werden die Ergänzungen der Herausgeber erläutert, Übersetzungsvorschläge gemacht sowie ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Wickram’sche Text für die Rekonstruktion des ursprünglichen, Albrecht’schen Textes eine zu unsichere Autorität bietet.12 Damit bezieht sich der Autor auf die Arbeit Karl Bartschs,13 der bereits 1861 auf der Grundlage Wickrams eine Rückübersetzung der „Metamorphosen“ ins Mittelhochdeutsche vorlegte, um so den Albrecht’schen Text zu rekonstruieren. Seine Arbeit wurde durch den zeitgleichen Fund des ‚Fragment B‘ durch Leverkus erschwert,14 sowie durch den des ‚Fragments A‘ schließlich zunichte gemacht, da der nun möglich gewordene Vergleich des Rekonstrukts mit dem Original lediglich eine äußerst geringe Trefferquote aufwies. Umso mehr erstaunt es, dass noch in Lexers Mittelhochdeutschem Wörterbuch Bartschs Text wie ein Originaltext behandelt wird.15 „Dauernde Warnung, dass wir unsere Fä-
_____________ 11 Vgl. den ausführlichen Forschungsbericht von Rücker (Anm.1), S. 13-25; Wåghäll, Elisabeth: „Georg Wickram – Stand der Forschung.“ Daphnis 24 (1995), S. 491-540. 12 Vgl. Lübben (Anm. 5), S. 242. 13 Bartsch, Karl: Albrecht von Halberstadt und Ovid im Mittelalter. Quedlinburg, Leipzig 1861. 14 Leverkus, W.: „Aus Albrechts von Halberstadt Übersetzung der Metamorphosen Ovids.“ In: ZfdA 11 (1859), S. 358-374. 15 „Albr.: Albrecht von Halberstadt, hrsg. von K. Bartsch. Quedlinburg 1861 (grösstenteils nach dem leider sehr druckfehlerreichen wortregister).“ In: Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch (Erster Band). Leipzig 1872. Reprographischer Nachdruck. Stuttgart 1979, S. XIII.
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higkeiten überschätzen, aus Umgearbeitetem ursprünglichen Wortlaut zurückzugewinnen!“16 Nach Bolte,17 der mit seiner Wickram-Gesamtausgabe 1906 einen wesentlichen Forschungsbeitrag leistete, widmet sich erst wieder Neumann in einem Aufsatz neben kurzen Stellungnahmen zu bis dahin zentralen Fragen der Forschung (Datierung des Albrecht’schen Textes, Lateinkenntnisse Wickrams) einem Vergleich der in den Fragmenten A und B überlieferten Textpassagen Albrechts mit den entsprechenden Stellen bei Ovid und Wickram.18 Gegenüber den vorangehenden Versuchen, den Albrecht’schen Text wieder herzustellen, fordert er als erster eine größere Beachtung des Wickram’schen Werks ein: „Gleichwohl ist sein [Wickrams] Ovid etwas Eigenes, und nicht bloß der erneuerte Ovid Albrechts […].“19 Aus diesem Grund stellt er alle drei Texte gleichberechtigt nebeneinander, analysiert unter besonderer Berücksichtigung von Sprache und Metrik die Eigenheiten des jeweiligen Ausdrucks und versucht schließlich eine kurze Interpretation der verschiedenen Fassungen. Wie er bereits zu Beginn seines Aufsatzes postuliert, geht es ihm vor allem darum, „das E i g e n e d r e i e r S p r a c h w e l t e n im Vergleich hörbar zu machen“,20 sodass er sich folglich vorwiegend auf die Sprache konzentriert und die inhaltlichen Veränderungen des Mythos dabei kaum Berücksichtigung finden. Karl Stackmann widmete sich in seiner Göttinger Antrittsvorlesung vom Februar 1966 ebenfalls einer vergleichenden Analyse des ‚Fragment A‘ mit dem Ovid’schen Original.21 Dabei übernimmt er die Ergebnisse Neumanns und vertieft dessen Feststellung, dass Albrecht die Figuren seiner Übertragung der zeitgenössischen Romanwelt angenähert hat und sich sein Werk nicht in die literarische Landschaft seiner Zeit einfügt, durch eine erneute Analyse des Albrecht’schen Textes. Auch beschäftigt er sich mit der Auslegung der Wickram’schen „Metamorphosen“ durch Gerhard Lorichius und wertet sie als einen zur damaligen Aktualisierung der „Metamorphosen“ notwendigen Zusatz.
_____________ 16 Neumann, Friedrich: „Meister Albrechts und Jörg Wickrams Ovid auf Deutsch.“ In: Kleinere Schriften zur deutschen Philologie des Mittelalters. Berlin 1969, S. 207-257, hier S. 212. 17 Bolte (Anm. 9). 18 Neumann (Anm. 16). 19 Neumann (Anm. 16), S. 212. 20 Neumann (Anm. 16), S. 212 (Hervorhebung durch den Autor). 21 Stackmann, Karl: „Ovid im deutschen Mittelalter. Göttinger Antrittsvorlesung vom 12. Februar 1966.“ In: Ders.: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. Hg. v. Jens Haustein. Göttingen 1996, S. 26-50.
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1969 erscheint die Dissertation Günther Heinzmanns,22 in der sich der Autor vorwiegend den Wickram’schen Zusätzen innerhalb seiner „Metamorphosen“-Übertragung im Vergleich zu Ovid widmet. In der Tradition von Grimm,23 Haupt24 und Bartsch25 versucht auch er, den Albrecht’schen Text wieder herzustellen, indem er zahlreiche Änderungen Wickrams aus dem Text herausdestilliert, die er – so die These Heinzmanns - aus der deutschsprachigen, humanistischen Literatur seiner Zeit entnommen hat. Im zweiten Kapitel seiner Arbeit vergleicht er so detailliert wie bis dahin kein anderer die Albrecht’schen Bruchstücke mit den entsprechenden Textstellen bei Wickram, so auch ‚Fragment A‘. Zwar kann er durch genaue Beobachtung zahlreiche sprachliche Unterschiede zwischen beiden Fassungen feststellen und die Wickram’schen Zusätze auch inhaltlich klassifizieren.26 Dabei übersieht er jedoch eine nicht unbedeutende Anzahl an Unterschieden, wiederholt sich in seiner ständigen, negativen Wertung des Wickram’schen Stils,27 und bleibt wiederum in Detailbeobachtungen stecken, ohne sich übergreifend zu der Veränderung des Stoffs zu äußern. Dennoch leistet er gemeinsam mit Neumann einen wesentlichen Beitrag, den Text Wickrams als eine eigenständige Arbeit, und nicht als reine Übersetzung Albrechts anzuerkennen. Wurde sich bis dahin auf die Untersuchung des Wickram’schen Textes beschränkt, so ist Karl Stackmann in seinem Artikel der zweiten Auflage des Verfasserlexikons der erste, der unter dem Stichwort der Wirkungsgeschichte des Albrecht’schen Textes neben den Wickram’schen „Metamorphosen“ auch die Holzschnitte erwähnt, die dieses Werk begleiten.28 Ebenso berichtet er als erster, dass auf dem Wickram’schen Text eine
_____________ 22 23 24 25 26
Heinzmann (Anm. 2). Grimm, Jacob: „Albrecht von Halberstadt.“ In: ZfdA 8 (1851), S. 397-422. Haupt, M.: „Die Vorrede Albrechts von Halberstadt.“ In: ZfdA 3 (1843), S. 289-292. Bartsch (Anm. 13). Heinzmann unterscheidet zwischen „moralisierenden Zusätzen, erklärenden Zusätzen aller Art, wiederholenden Zusätzen, Zeit- und Ortsangaben, stoffergänzenden Zusätzen, genealogischen Zusätzen, Zusätzen, die an Stelle ritterlich-höfischer Formulierungen stehen, Zusätzen aus Missverständnissen altdeutscher Ausdrücke, vorausdeutenden Zusätzen und begründenden Zusätzen.“ Heinzmann (Anm. 2), S. 37. 27 So bezeichnet er die Eigenart Wickrams, Personennamen und Verwandtschaftsgrade zu wiederholen, als „Sucht“, „Manie“, „pedantisch“, „überflüssig“, „ungelenke Struwelpeterverse“ und „metrische Unbeholfenheit“. Vgl. Heinzmann (Anm. 2), S. 19-27. 28 Stackmann, Karl: „Albrecht von Halberstadt.“ In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch (Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage. Band 1). Berlin, New York 1978, S. 187-191.
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Reihe von Meistergesängen, vor allem die des Hans Sachs und die „Metamorphosis“ des Ambrosius Metzger, beruhen.29 Rolf Bräuer geht in seinem Kapitel „Ovids ‚Metamorphosen‘ in der Übertragung Albrechts von Halberstadt“ noch einmal auf einen Vergleich des ‚Fragment A‘ mit seiner antiken Vorlage ein.30 Dabei nimmt er die durch Albrecht ausgeweitete Schönheitsbeschreibung Philomelas als Beispiel, um die bis dahin in der Forschung vorherrschende negative Meinung über die poetische Adaptationsleistung Albrechts zu relativieren und den Dichter stattdessen „zusammen mit Veldekes ‚Eneide‘ und Herborts ‚Trojaroman‘ “31 in die Trias des Thüringischen Dichterkreises einzureihen. In seinen weiteren Ausführungen, in denen er die lyrische Qualität der Verwandlung von Philomela in eine Nachtigall als eine „besonders anmutige Erfindung Albrechts“32 lobt, übersieht er jedoch, dass es sich bei der von ihm zitierten Stelle um die Rückübersetzung Karl Bartschs handelt, und nicht um ein überliefertes Bruchstück Albrechts. Die letzte und umfangreichste Untersuchung legte Brigitte Rücker mit ihrer Dissertation „Die Bearbeitung von Ovids Metamorphosen durch Albrecht von Halberstadt und Jörg Wickram und ihre Kommentierung durch Gerhard Lorichius“ vor, die 1997 veröffentlicht wurde.33 Darin kritisiert die Autorin zu Recht die bis dahin durch die Forschung nur undeutlich durchgeführte Trennung zwischen Albrecht und Wickram, die Vernachlässigung der Albrecht’schen Fragmente C bis E, die Konzentration der bisherigen Untersuchungen auf einzelne Aspekte sowie die damit einhergehende fehlende Gesamtbetrachtung beider Werke im Verhältnis zueinander. In der Konsequenz berücksichtigt sie in ihrer Arbeit neben den vernachlässigten Fragmenten sowohl die verschiedenen Vorworte Wickrams, als auch zum ersten Mal Titelblatt, Holzschnitte, Kapitelüberschriften und Randglossen. Dazu kommt eine relativ ausführliche Kritik am Rekonstruktionsversuch Karl Bartschs, die seine Übersetzung nicht nur pauschal abwertet, sondern die Fehler seines Textes konkret benennt. Ebenfalls widmet sie ein umfangreiches Kapitel den Kommentaren des Gerhard Lorichius, die bislang in der Forschung kaum berücksichtigt wurden. Eine als Arbeitsinstrument äußerst hilfreiche Synopse der Texte
_____________ 29 Während Hans Sachs die „Philomela“ nicht in einen Meistergesang überträgt, liegt eine „Philomela“ des Ambrosius Metzer vor, auf die im Verlauf der Arbeit aus Gründen des Umfangs jedoch nicht eingegangen wird. 30 Vgl. das Kapitel „Ovids ‚Metamorphosen‘ in der Übertragung Albrechts von Halberstadt“. In: Geschichte der deutschen Literatur (2. Band. Mitte des 12. bis Mitte des 13. Jahrhunderts). Von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Rolf Bräuer. Berlin 1990, S. 159-166. 31 Bräuer (Anm. 30), S. 165f. 32 Bräuer (Anm. 30), S. 165. 33 Rücker (Anm. 1).
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von Ovid, Albrecht und Wickram schließt die Dissertation ab. Insgesamt bietet die Arbeit eine wertvolle Grundlage, auf die bei der vorliegenden Untersuchung immer wieder zurückgegriffen werden soll, um die Beobachtungen bei der Analyse des Philomela-Mythos in den größeren Textzusammenhang der Wickram’schen und Albrecht’schen „Metamorphosen“ zu stellen, und so in ihrem Kontext zu überprüfen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass sich selbst die Arbeiten, die sich intensiv mit ‚Fragment A‘, sowie seinem Vergleich mit den entsprechenden Passagen bei Wickram und Ovid auseinandersetzen, meist in Detailbeobachtungen verlieren und zu keiner übergreifenden, interpretativen Beurteilung des Philomela-Mythos gelangen, obgleich dieser im Zentrum ihrer Untersuchungen steht. Dies mag an der Zielsetzung der Beiträge liegen, die sich auf sprachliche Analysen beschränken oder immer noch eine Rekonstruktion des Albrecht’schen Textes, wie z.B. Heinzmann, verfolgen. Die wenigen Arbeiten, die aus der in Kleinstarbeit herausdestillierten Unterschiede der drei Philomela-Fassungen eine grundlegende These aufzustellen wagen, handeln diese in wenigen Sätzen ab und kommen im Wesentlichen zu folgenden Ergebnissen: Die von Albrecht im Vergleich mit Ovid vorgenommenen Zusätze lassen sich vornehmlich durch sein Publikum erklären, dessen Kenntnis der antiken Mythologie nicht mehr vorausgesetzt werden konnte, worauf der Autor mit Erläuterungen zu den handelnden Personen und ihres Verhältnisses untereinander reagiert. Moralisch nur schwer zu verantwortende Passagen lässt er weg und fügt demgegenüber an manchen Stellen höfisches Gedankengut ein. „Albrechts Zusätze und Streichungen […] dienen allein der besseren Orientierung für den Leser.“34 Die von Wickram im Vergleich zu Albrecht vorgenommenen Zusätze resultieren aus metrischen Notwendigkeiten, der leserfreundlichen Präzisierung von Bezügen sowie dem eigenständigen Hinzufügen ganzer Versgruppen, die „einen inhaltlichen Ausbau darstellen.“35 Der Charakter dieses inhaltlichen Ausbaus wird jedoch nicht erläutert, sondern lediglich darauf zurückgeführt, „dass Wickram nicht nur Übersetzer ist, sondern auch Dichter – was ihn wohl dazu veranlasst hat, frei Verse hinzuzudichten oder Passagen zu kürzen.“36 Die sowohl durch Albrecht, als auch durch Wickram vorgenommenen Änderungen werden durch die Forschung somit fast ausschließlich durch die Adaptation des Stoffes an die literarischen Gepflogenheiten der jewei-
_____________ 34 Rücker (Anm. 1), S. 86. 35 Rücker (Anm. 1), S. 108. 36 Rücker (Anm. 1), S. 108.
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ligen Epoche erklärt und als leserfreundlich-didaktische Ergänzungen gewertet, wobei die Autoren und ihre inhaltlichen Prägungen des Stoffs verschwinden. Dies geschieht zudem – bis auf wenige Ausnahmen – unter dem Vorzeichen mangelnden poetischen Könnens beider Autoren. Doch sind die beiden Philomela-Fassungen lediglich Spiegel ihrer Zeit? Dass durch die nebeneinander aufgereihten Detailbeobachtungen der einzelnen Untersuchungen nicht nur stilistische Unterschiede der Autoren deutlich werden, sondern sich ebenfalls eine Verschiebung inhaltlicher Schwerpunkte ergibt, soll im Folgenden gezeigt werden. Auch wenn die zu vergleichende Passage nur hundertvierundvierzig Verse umfasst, „dürfte [dies] genügen, um Charakteristisches hervortreten zu lassen.“37
Die „Philomela“ Albrechts von Halberstadt Grundlage für die Analyse des Albrecht’schen Textes ist die Passage, die das ‚Fragment A‘ überliefert, da alle rekonstruierten Fassungen eine zu unsichere Autorität darstellen. Zwar ist der zu vergleichende Text relativ kurz, doch „bietet sich mit Vorzug das aufschlußreiche Stück aus der Verwandlung ‚Progne und Philomela‘ zum Vergleich an.“38 Das Eigene der Albrecht’schen Übertragung wird im Folgenden durch die Analyse und Klassifikation seiner Änderungen, Auslassungen und Zusätze deutlich gemacht, die er im Vergleich mit der Ovid’schen Fassung durchgeführt hat. Neumann, Stackmann, Heinzmann und Rücker haben bereits einen ausführlichen Vergleich beider Texte vorgelegt, sodass auf die Nennung konkreter Textstellen nur dann zurückgegriffen werden soll, wenn diese bei ihnen nicht bereits erwähnt wurden oder sie zu anderen Schlussfolgerungen kommen. Wie die Forschung bereits einmütig festgestellt hat, lässt sich ein Teil der Veränderungen Albrechts dadurch erklären, dass er den Mythos einem Publikum nahe bringen wollte, dem ein antikes Weltbild kaum mehr geläufig war. Dass zum Beispiel ‚Piräus‘ der Name des Athenischen Hafens ist, und es sich bei ‚Cecrops‘ um den Schutzgeist der griechischen Hauptstadt handelt, konnte nicht als Wissen des mittelalterlichen Publikums vorausgesetzt werden, sodass diese Informationen Ovids durch Albrecht ersatzlos gestrichen wurden.39 Ebenso wie das Tilgen von Unverständlichem gehört auch zweifellos eine gewisse Mediävalisierung des Mythos zur Bearbeitung Albrechts. So führt er bei der Beschreibung des Ent-
_____________ 37 Neumann (Anm. 16), S. 221. 38 Neumann (Anm. 16), S. 217. 39 Vgl. Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. VI Buch, V. 446.
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flammens von Tereus für Philomela den Begriff der Minne40 ein, und legt Progne das Wort Ere41 in den Mund, als diese von ihrem Wunsch spricht, die Schwester sehen zu dürfen. Schließlich erklärt die Forschungsliteratur die verbleibenden Änderungen Albrechts durch inhaltliche Verständnishilfen für die Rezipienten. Dies gilt z.B. für das Einfügen finaler Adverbien, um inhaltliche Zusammenhänge der Ereignisse deutlich zu machen,42 oder für Informationen, die den Schauplatz des Geschehens klarer vor Augen führen.43 Dass sich einige der Albrecht’schen Änderungen auf diese Weise erklären lassen, steht außer Frage. Übersehen wird bei dieser Klassifizierung jedoch, dass die vereinfachenden, mediävalisierenden oder erklärenden Zusätze ebenfalls eine inhaltliche Dimension beinhalten, welche sowohl einen Blick auf die poetologischen Eigenheiten des Autors ermöglichen, als auch eine Verschiebung einzelner inhaltlicher Schwerpunkte des Mythos mit sich bringen. Im Gegensatz zur bisherigen Forschung möchte ich die inhaltlichen Unterschiede analysieren, die sich zwischen der Ovid’schen und Albrecht’schen „Philomela“-Fassung herauskristallisieren, und somit das Charakteristische der Albrecht’schen „Philomela“ zeigen. Bereits ein Zusatz in Vers 4 des Albrecht’schen Fragments lässt eine Tendenz erkennen, die im Verlauf des gesamten Textes hindurch zu beobachten ist und als Veränderung der Charakterisierung einzelner Figuren bezeichnet werden kann. vol]gt, herre, miner bete44 verlangt Progne von Tereus, als sie ihm ihren Wunsch mitteilt, ihre Schwester zu sehen. Dabei handelt es sich weniger um eine Bitte, als vielmehr um eine Forderung, die sie an ihren Mann stellt, und die durch eine Wiedergabe in direkter Rede Nachdruck und Lebendigkeit erhält. Dies stellt auch Neumann fest, ohne diesen Aspekt ausführlicher zu untersuchen: „Daß Progne von dem Kanoniker Albrecht anders als von Ovid gesehen wird, dieser Eindruck verstärkt sich mit ihren ersten Worten.“45 Mit dem zitierten Zusatz, der bei Ovid keine Entsprechung findet, wird Progne als eigenständig handelnde Figur eingeführt und nicht als Bittende bzw. Schmeichelnde, wie es in der antiken Vorlage der Fall ist. Dieser Eindruck verstärkt sich, als sie in den Versen 5-9 formuliert, dass sie nur dann, wenn es nicht möglich sei, selbst zu ihrer Schwester zu fahren, diese zu ihr kommen solle. Während die beiden Alternativen bei Ovid noch gleichberechtigt neben einander stan-
_____________ 40 41 42 43 44 45
V. 111. V. 14. uf daz (V. 6). uber se (V. 5); ze lande (V. 12). V. 4. Neumann (Anm. 16), S. 229.
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den,46 zeigt Progne bei Albrecht eine deutliche Präferenz, sich selbst auf die Reise zu begeben. Auch spricht die Progne Ovids eher unpersönlich davon, dass Tereus seinem Schwiegervater Pandion die baldige Rückkehr seiner Tochter versprechen soll. Bei Albrecht spricht Progne dagegen auch für Tereus mit, indem sie vorschlägt, dass wir sie ime ze lande / Send]en in vil kůrzen tagen.47 Schließlich beendet sie folgendermaßen ihre Worte gegenüber ihrem Mann: ich] will iz ze grozer [ere] sagen, / Mac]h min wille vure getan.48 Auch hier erscheint sie im Gegensatz zur Ovid’schen Fassung als eine willensstarke Person. Während sie bei Ovid von einer Gabe oder einem Geschenk spricht,49 das Tereus ihr durch den Anblick der Schwester mache, befielt sie in der Albrecht’schen Fassung ihrem Mann regelrecht, ihren Willen zu erfüllen. Als sich dieser auf die Reise nach Athen begibt und somit bei der weiteren Schilderung des Geschehens in den Vordergrund tritt, werden auch an der Figur des Tereus Veränderungen Albrechts deutlich. Als er bei Pandion die Bitte seiner Frau vorträgt, erfolgt dies im Gegensatz zu Ovid in direkter Rede, in der Tereus deutlich werden lässt, dass es sich nicht allein um den Wunsch Prognes, sondern um ein gemeinschaftliches Anliegen handelt, Philomela zu einem Besuch nach Thrakien zu holen. Dies wird auch sprachlich deutlich, wenn ihn Albrecht aus der Perspektive des Paares sagen lässt: mach unser wille geschehen, Wiltu dar an genenden, daz wir sie heim senden In kurzen tagen beide, daz swer ich bi dem eide.50
Die Betonung der Gemeinsamkeit des Wunsches findet bei Ovid keine Entsprechung. Auch im weiteren Verlauf differiert die Darstellung des Tereus bei Ovid und Albrecht. Besonders interessant ist ein sich über neun Verse erstreckender Zusatz Albrechts, in dem er die Reaktion des Tereus auf das Erscheinen Philomelas beschreibt. Tereus entbrennt in der antiken Fassung beim Anblick der Jungfrau „als wenn ein Mann das Feuer gelegt an gilbende Ähren oder Blätter entzündet und Heu, das im Speicher gela-
_____________ 46 47 48 49 50
vel…vel (V. 441). V. 12f. V. 14f. muneris (V. 443). V. 38-42; Lass unseren Wunsch geschehen, und wenn du dich dazu entschließt, dann schwöre ich einen Eid, dass wir beide sie in wenigen Tagen wieder nach Hause senden werden (Hervorhebungen durch die Autorin. L.B.).
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gert.“51 Albrecht lässt dieses sprachliche Bild weg, ebenso wie die Bemerkung, dass Tereus auch durch die „angeborene Geilheit“52 seines Volkes angestachelt wird. Stattdessen geschieht – so Albrecht - dem Thrakerkönig etwas, was ihm noch nie zuvor geschah: Gar er] der rede vergaz / vnd] allez swigende saz.53 Dem expressiven Bild der in Flammen aufgehenden Ähren setzt Albrecht das eines schweigenden Tereus entgegen, aus der auflodernden Geilheit wird Sprachlosigkeit als Reaktion auf die im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubende Schönheit Philomelas. So nimmt Tereus, zumindest für einen Augenblick, die zukünftige Stummheit der Schwägerin vorweg und mutiert bei Albrecht vom archaisch-viril anmutenden Barbaren zum schweigenden Betrachter. Auch seine anschließende Verwirrung beschreibt nur Albrecht: Tereus beginnt innerlich vor Wahnsinn und Verwirrung zu rasen, während er bei Ovid direkt die mögliche Alternative bedenkt, Philomela mit Gewalt zu erlangen. Und schließlich gibt der Erzähler – wiederum nur bei Albrecht – zu bedenken, dass Tereus’ Verlangen nicht nur für Philomela, sondern für beide zum Verhängnis werden wird: daz] wart ir beider quale.54 Die umfangreichste Erweiterung der Ovid’schen Fassung des Mythos nimmt Albrecht bei der Beschreibung Philomelas vor. Sechsunddreißig Verse verwendet er insgesamt auf die Schilderung ihrer äußeren und inneren Schönheit, Ovid kommt dagegen mit lediglich vier Hexametern aus. Während sich dieser auf einen Vergleich Philomelas mit Nymphen und Dryaden beschränkt, der das mittelalterliche Publikum wahrscheinlich befremdet hätte, liefert jener unter dem Aufgebot der gesamten Palette mittelalterlicher Beschreibungskunst ein detailgetreues Abbild ihrer Erscheinung, angefangen vom homůte,55 mit dem sie die kostbaren Kleider trägt, die selbst einer Kaiserin würdig seien, über den Körper, der sich unter der Kleidung befindet, und an dem man Gottes Werk bestaunen könne, bis hin zur Schönheit Philomelas, die sogar die Edelsteine ihrer Kleidung an Glanz überträfe, ebenso wie sie auch ihre zahlreichen Begleiterinnen bei weitem überstrahle. Rücker weist zu Recht auf die Steigerung Albrechts hin, die innerhalb der Beschreibung Philomelas zu erkennen ist.56 Durch die Benennung der königlichen Krone, die sie trägt, über die kaiserliche Kleidung bis zu Gottes Wunder, das an ihr sichtbar ist, erscheint eine Steigerung kaum noch möglich. Auch die „leitwortartige“57
_____________ 51 52 53 54 55 56 57
V. 456f. V. 459. V. 87f. V. 84l. V. 45. Rücker (Anm. 1), S. 74. Rücker (Anm. 1), S. 73.
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Verwendung der Adjektive wunnechlich,58 das Philomela als schön und zugleich begehrenswert charakterisiert, und scone,59 welches sie als untadelig und vollkommen erscheinen lässt, macht die Protagonistin im Gegensatz zu ihrer Darstellung bei Ovid zum Inbegriff einer Dame, die in ihrer Perfektion das Abbild eines höfischen Ideals verkörpert und deren detaillierte Beschreibung in der Tradition mittelalterlicher Ekphrasis steht. Aufgrund der Bruchstückhaftigkeit des Albrecht’schen Textes kann die Bedeutung dieser rhetorischen Figur, die oftmals in konzentrierter Form als intratextuelle Interpretationshilfe und somit deskriptive Schlüsselstelle fungiert, nur vermutet werden. Die Frage, ob die Betonung der inneren und äußeren Tadellosigkeit Philomelas als Hinweis auf ihre Unschuld innerhalb der tragischen Episode gelesen werden kann, muss daher unbeantwortet bleiben. Festzustellen ist jedoch, dass „Philomela zu einem vollkommenen Wesen [wird], das als gesellschaftliches Wunschbild an die Grenzen des Irdischen heranführt.“60 Insgesamt zeigt sich, dass die einzelnen Figuren durch die Änderungen Albrechts ein gegenüber Ovid durchaus differentes Profil erhalten. Während Progne sich verbal selbstbewusst zeigt und indirekt auch in Athen durch das von Tereus geäußerte ‚wir‘ präsent ist, transformiert sich ihr Mann zum Sprachrohr ihrer Bitte sowie zum stummen und verwirrten Bewunderer Philomelas. Diese hingegen wird von Albrecht zur überirdischen Gestalt verwandelt, sodass deren zukünftige Mutilation umso grausamer erscheint. Die poetologische Qualität des Albrecht’schen Textes wurde durch die Forschung bislang vorwiegend negativ beurteilt. Tatsächlich kann er – sofern wir darüber aufgrund der Bruchstückhaftigkeit der Überlieferung seiner „Metamorphosen“-Übertragung urteilen dürfen – mit dem Ovid’schen Können nur schwerlich mithalten. Dennoch sind einige Ansätze zu erkennen, mit denen Albrecht die Rezeption seiner Arbeit erleichtern wollte, nicht im Sinne didaktischer Hinweise zum besseren Verständnis des Geschehens, sondern als Erweiterung der Beschreibung bestimmter Sequenzen, als ‚Ausschmückung‘ der Handlung und ihrer Figuren. So verleiht er zum Beispiel dem Geschehen eine gewisse Dynamik, wenn er anlässlich der Abreise des Tereus nach Athen im Gegensatz zu Ovid erwähnt, dass sich der König beeilt, in See zu stechen.61 Da der Wind für seine Pläne günstig steht, kommt er auch schnell am gewünsch-
_____________ 58 59 60 61
V. 53, 58, 78. V. 55, 71, 75. Neumann (Anm. 16), S. 231. V. 17.
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ten Ziel an.62 Zwar handelt es sich bei der Beschreibung günstiger Winde um einen Topos, der in der Literatur des Mittelalters weit verbreitet ist. Da es sich bei dem vorliegenden Text jedoch um eine textnahe Übersetzung handelt, bei der jeder Zusatz zur Vorlage von Bedeutung ist, und in diesem Fall auch kein Detail, wie z.B. für das Mittelalter unverständliche Eigennamen, mediävalisiert werden müsste, lässt sich dieser Zusatz nur durch poetologische Ambitionen Albrechts erklären, das Geschehen zu dynamisieren. Zwei weitere Zusätze Albrechts können ebenfalls unter dieser Rubrik subsumiert werden. Während Philomela bei Ovid in nur wenigen Versen beschrieben wird und Albrecht hingegen eine detailgenaue Schilderung von ihr liefert, spart er sich auch die Nennung ihres Namens bis zum Schluss der Ekphrase auf, ein rhetorisches Mittel der Steigerung, das weder typisch für die Figur einer Ekphrase, noch in der Ovid’schen Vorlage angelegt ist und daher ebenfall Albrechts eigenem Stil zugeschrieben werden muss. Auch der Erzählerkommentar, der besagt, dass es Tereus noch nie zuvor die Sprache verschlagen habe, wie es ihm beim Anblick Philomelas geschieht, stammt von Albrecht: Wan d]o sie Tereus gesach / ni]e geschicht da zieme gescach.63 Dieser Zusatz zeigt neben seiner bereits erwähnten Bedeutung für die Figurencharakterisierung des Tereus auch noch eine zusätzliche, inhaltliche Komponente: Dem Thema ‚Reden und Schweigen‘, das sich durch den gesamten Mythos hindurch zieht, wird durch das Verstummen des Tereus eine weitere Ebene hinzugefügt. Da Tereus Philomela an der Zunge verstümmelt, sie auf diese Weise zum Schweigen bringt und sich somit eine spiegelbildliche Rollenverteilung beobachten lässt, kann dies als Kunstgriff Albrechts gewertet werden, mit dem er sich in die inhaltliche Konzeption des Mythos einschreibt. Über die skizzierten poetologischen Zusätze hinaus lässt sich – vor allem gegen Ende des überlieferten Fragments – eine weitere Eigenheit Albrechts ausmachen, die sich im Gegensatz zu den vorherigen Beobachtungen nicht durch Zusätze, sondern durch Auslassungen bestimmter Ovid’scher Passagen bei der Übertragung manifestiert und im Folgenden als Vereindeutigung des Geschehens bezeichnet werden soll. Tereus weint, als er Pandion darum bittet, ihm seine Tochter Philomela für die Reise anzuvertrauen. Während bei Ovid angedeutet wird, dass die sichtlichen Emotionen des Thrakerkönigs nur vorgetäuscht sind,64
_____________ 62 V. 20, 22. 63 V. 85f. 64 Addidit et lacrimas, tamquam mandasset et illas (V. 471; Tränen weint er dabei, als ob sie [Progne] auch die ihm befohlen).
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wird diese Bemerkung durch Albrecht weggelassen. Die Trauer erscheint echt, das Instrumentalisieren der Tränen zur Durchsetzung seiner Interessen ist somit für den Leser kaum ersichtlich. Auch der nachfolgende Ausruf des Ovid’schen Erzählers an die Götter sowie seine Feststellung der Doppelbödigkeit der Situation lässt Albrecht unter den Tisch fallen: „Welch eine Finsternis herrscht in der Sterblichen Geist, o ihr Götter! Tereus, eben da er zum schwersten Verbrechen sich anschickt, wird er gehalten für fromm und erntet Lob für seine Freveln.“65 Auch an dieser Stelle vereindeutigt Albrecht das Geschehen. Während Ovid zwischen Schein und Sein unterscheidet und dem Leser die Verstellung des Tereus vor Augen führt, wird dies im mittelhochdeutschen Text ersatzlos gestrichen. Und schließlich unterschlägt Albrecht ein weiteres Detail Ovids, mit dem es diesem gelingt, die Ambivalenz und Tragik der folgenden Situation deutlich werden zu lassen. Philomela bittet ihren Vater selbst darum, mit Tereus fahren zu dürfen, und erbittet so indirekt ihr späteres, schreckliches Schicksal. „Sie […] bittet, schmeichelnd die Schulter des Vaters erfassend, bei ihrem Heil – nein, gegen ihr Heil, er möge sie lassen die Schwester besuchen!“66 Diese rhetorisch gekonnte Formulierung Ovids überträgt Albrecht nicht ins Mittelhochdeutsche und verzichtet damit auf die Darstellung dieser tragischen Situation. Seine Tendenz zur Vereindeutigung zeigt sich ebenfalls in der darauf folgenden Szene. Ovid schildert aus der Sicht des Tereus, wie dieser durch den Blick auf die Liebkosungen, mit denen Philomela ihrem Vater zu schmeicheln versucht, in seiner Begierde regelrecht angestachelt wird. Albrecht lässt dieses Erzählen von einem fast voyeuristischen Standpunkt aus weg, konkretisiert die Zärtlichkeiten Philomelas, begründet sie, und lässt somit den erotischen Reiz des Zuschauens völlig unter den Tisch fallen: Dar vmbe kuste sinen [des Vaters] mvnt / Die scone maget wol dusent [stunt].67 Wie lassen sich diese Vereinfachungen Albrechts erklären? Hat er selbst die literarische Qualität dieser Passagen nicht erkannt? Wollte er die Doppelbödigkeit des Erzählens seinem Publikum aus moralischen Gründen nicht zumuten? Oder bezweckte er schlicht zum besseren Verständnis eine vereinfachte Darstellung von Handlung und agierenden Personen? Ein letztes Beispiel, welches die Albrecht’sche Tendenz zur Vereinfachung noch einmal besonders deutlich vor Augen führt, lässt Ersteres vermuten. Ovid spricht davon, dass Tereus Philomela bei ihrem Eintreten
_____________ 65 V.472-474; pro superi, quantum mortalia pectoral caecae noctis habent! Ipso sceleris molimine Tereus creditor esse pius laudemque a crimine sumit. 66 V.475-477; quod idem Philomela cupit, patriosque lacertis blanda tenens umeros, ut eat visura sororem, perque suam contraque suam peit ipsa salutem. 67 V. 139f.
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in den Saal mit den Blicken ‚verschlingt‘68 - in der Vorausdeutung auf das weitere Geschehen handelt es sich dabei um eine mit Bedacht gewählte Formulierung, die das Verschlingen des eigenen Sohnes vorwegnimmt, somit einen nicht unbedeutenden Beitrag zur Konzeption des Mythos leistet – und trotzdem von Albrecht ignoriert wird. Bei ihm heißt es lediglich, dass der Anblick Philomelas für Tereus zur Qual wird: zû dem male / daz was ein groz quale / Dem ungetruwen gaste.69 Insgesamt lässt sich daher festhalten, dass es sich bei keinem der aufgeführten Beispiele um Szenen handelt, die (bis auf den Ausruf des Ovid’schen Erzählers an die Götter) den mittelalterlichen Rezipienten ein literarisch-kulturelles Rätsel aufgegeben hätten, sodass sie aus Verständnisgründen ausgelassen werden mussten. Auch der Wille zur moralischen Schonung der Leser scheidet als Motivation Albrechts aus. Wenn er eine negative Beeinflussung seines Publikums befürchtete, hätte er sich sicherlich ein anderes Werk, und nicht die vor menschlichen und göttlichen Verfehlungen nur so strotzenden „Metamorphosen“ Ovids als Gegenstand seiner Übertragung gewählt. Dass die Auslassungen aus metrischen Gründen erfolgten, kann ebenfalls ausgeschlossen werden, da es sich in der Regel um ganze Verse handelt, die in Albrechts Übersetzung keine Entsprechung finden und das Einhalten von Reimschema oder Metrum somit nicht von den Änderungen betroffen gewesen wäre. So bleibt schließlich nur festzustellen, dass das dichte, vielschichtige Erzählen Ovids an den besagten Stellen eine Vereinfachung erfährt, für deren Gründe hier nur Vermutungen geäußert werden können. Ob Albrecht die Komplexität mancher Passagen nicht erkannt, oder sie aus didaktischen Gründen zum besseren Verständnis des Publikums vereinfacht hat, ist nur schwer zu erfahren – auch aufgrund der bruchstückhaften Überlieferung seines Werkes, die es nicht möglich macht, ‚Fragment A‘ in einen größeren Textzusammenhang zu stellen und auf diese Weise Aufschluss über Unklarheiten seines persönlichen Stils zu geben. Dass die Auslassungen ebenso wie die anderen Änderungen Albrechts gegenüber Ovid auf eine glossierte Handschrift zurückzuführen sind, die Albrecht als Vorlage gedient haben soll, was in der früheren Forschung angenommen wurde, möchte ich jedoch bezweifeln. Die Unterschiede zwischen beiden Texten lassen sich relativ klar in bestimmte Gruppen einordnen, so dass Eigenarten des Albrecht’schen Stils erkennbar sind, auch wenn die Gründe für die Veränderungen nicht vollständig erklärt werden können. Dazu kommt, dass Albrecht den Text an einigen Stellen modernisiert, was die Annahme unmöglich macht, dass sich die Änderungen ausschließlich durch eine
_____________ 68 V. 478; praecontrectatque videndo. 69 V. 141-143.
Ovid – Albrecht von Halberstadt – Georg Wickram
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glossierte Ovid-Handschrift erklären lassen. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass sich das Mittelhochdeutsche, dessen sich Albrecht bedient, im Vergleich zum komplexen und sprachlich völlig ausgereiften Latein noch in der Entwicklung befand und dass Albrechts Text auch deshalb den rhetorisch meisterlichen Ovid nicht vollständig abbilden konnte. Die Änderungen, die Albrecht bei seiner Übertragung des Ovid’schen Textes ins Mittelhochdeutsche vorgenommen hat, weisen noch eine weitere Tendenz auf, die an dieser Stelle ebenfalls kurz skizziert werden soll. Zu beobachten ist, dass einige der Zusätze Albrechts den im weitesten Sinne sozial-moralischen Kontext des Geschehens betreffen. So begründet Progne in seiner Fassung, die Reise nach Athen nicht nur um ihrer Schwester willen unternehmen zu wollen, sondern auch um ihren Vater sehen zu können.70 Wahrscheinlich erschien Albrecht eine so enge schwesterliche Bindung ungewöhnlich, bei der ein Besuch in der Heimat ausschließlich mit dem Wunsch nach der Schwester begründet wird, der Vater hingegen unerwähnt bleibt. Ebenso wie Albrecht möglicherweise das Geschehen durch den ‚Vater-Zusatz‘ an die sozial-moralischen Gepflogenheiten seiner Zeit angepasst haben mag, so erweitert er – ohne dass der Ovid’sche Text dafür eine Vorlage bieten würde – anlässlich der Ankunft Tereus’ in Athen das Verhalten Pandions durch folgende, zusätzliche Verse: Do] der sweher vernam, Da]z sin eidam dare quam, Vnd] in gesehen wolde. do] tet er als er solde.71
Der vorbildliche Empfang wird besonders betont, die Konformität des königlichen Verhaltens zur gesellschaftlichen Norm hervorgehoben. Dies wird auch präzisiert, indem Albrecht – wiederum in einem autonomen Zusatz – darauf hinweist, dass Pandion seine Gäste unabhängig ihrer sozialen Stellung behandelt: Er] grůzte sine geste,/ di]e snoden vnde die beste,/ Mi]t sconem antfange.72 Auf die Betonung gesellschaftlicher Gepflogenheiten greift Albrecht ebenfalls zurück, wenn Tereus im Gegensatz zu Ovid seine Bitte, Philomela mit ihm nehmen zu dürfen, folgendermaßen begründet: […] daz wolde Sin vrowe recht al samelich, iz ware uil vmbillich,
_____________ 70 V. 5-7; Lat ]mich varen uber se, / vf] daz daz ich gese / Den] vater vunde die swester min. 71 V. 23-26. 72 V. 27-29.
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Ob er nicht en tete, des in sin vrowe bete.73
In diesen Passagen lassen sich deutliche Spuren höfischer Literatur ablesen, die das untadelige Verhalten ihrer Protagonisten betont und somit als Vorbilder präsentiert. Auch hebt Tereus die familiäre Bindung hervor, um seiner Bitte Nachdruck zu verleihen, indem er statt der Eigennamen die Verwandtschaftsgrade benennt: Statt Progne und Philomela spricht er gegenüber Pandion von Di]n tochter74 und Ir swester.75 Ingesamt bindet Albrecht also das Geschehen stärker in eine gesellschaftliche Struktur ein, indem er die familiären Beziehungen der Figuren untereinander betont und das Geschehen in ein Verhältnis zum moralisch-gesellschaftlichen Kontext setzt. Die erste Beobachtung ließe sich neben einem offensichtlichen Einfluss der zeitgenössischen Literatur ebenfalls durch didaktische Ziele Albrechts erklären, um die Verwirrung der Rezipienten durch die zahlreichen Namen, die im Gesamtwerk der Metamorphosen aufgeführt werden, zu vermeiden. Dies vermutet auch Neumann: „Tereus spricht da nicht nur aus seinem Auftrag heraus, sondern auch zum langsam denkenden Leser, indem er ihm alles so genau wie möglich erläutert.“76 Durch die Rückbindung der Handlung an eine moralisch-gesellschaftliche Norm treten jedoch gleichzeitig das Ungeheuerliche des Geschehens sowie seine Differenz zu dem in der höfischen Literatur dargestellten Verhaltenscodex noch stärker hervor. So mag nicht nur der langsam denkende Leser, sondern auch die Dramaturgie des Geschehens Ursache für die Albrecht’schen Änderungen gewesen sein. Diese Beobachtung wird bei der Untersuchung der „Philomela“ Georg Wickrams noch sehr viel deutlicher zu Tage treten und soll daher an späterer Stelle ausführlich diskutiert werden.77 Handelt es sich bei der Übertragung der „Metamorphosen“ durch Albrecht nun tatsächlich um einen Text, dessen Abweichungen von der Ovid’schen Vorlage lediglich einer besseren Orientierung für die Leser zu schulden sind? Bei aller Vorsicht, aus dem nur sehr begrenzt zur Verfügung stehenden Material keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, kann dies nach den vorliegenden Ergebnissen des Textvergleichs verneint werden. Zwar erklären die von der Forschung bereits benannten Kategorien der ‚Didaxe‘ und der ‚Mediävalisierung‘ einen gewissen Teil der Änderungen, doch lassen sich einige Zusätze bzw. Auslassungen Albrechts nicht nur
_____________ 73 74 75 76 77
V. 122-126. V. 35. V. 37. Neumann (Anm. 16), S. 240. Vgl. S. 160-162.
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mit dem Verweis auf eine zu überbrückende literarisch-kulturelle Kluft bzw. eine leserfreundliche Darstellung der Handlung erklären. Vielmehr schimmern unter der Oberfläche der scheinbar sehr wortgetreuen Übersetzung Hinweise auf einen persönlichen Stil Albrechts hindurch, der sich neben stilistischen Merkmalen auch in der Darstellung einzelner Figuren, der Vereindeutigung von Handlungssequenzen sowie dem Einbetten des Geschehens in einen moralisch-gesellschaftlichen Kontext manifestiert. Im Gegensatz zu Ovid erhalten die beiden Frauenfiguren ein ausgeprägteres Profil: Progne erscheint als Ehefrau, die für ihre Dienste den Besuch ihrer Schwester mehr einfordert als erbittet, und ihrem Mann, für den sie in der ‚Wir-Form‘ mit spricht, präzise Verhaltensanweisungen mit auf den Weg gibt. Dieser, weniger Barbar als folgsamer Bote, erweist sich als weitaus weniger dominant, als sein antiker Doppelgänger. Anstatt in Liebe zu entbrennen, verwirrt ihn der Anblick der schönen Philomela und macht ihn stumm, und die Bitte, seine Schwägerin nach Thrakien mitnehmen zu dürfen, untermauert er mit dem Hinweis auf familiäre Bindung. Philomela schließlich erscheint als Inbegriff der höfischen Dame, die durch ihre innerliche und äußerliche Vollkommenheit bei Albrecht ihre Unschuld manifestiert und eindeutig die Rolle einer Hauptfigur verkörpert: „Philomela ist genau so wichtig wie Tereus.“78 In der an die Tradition der Ekphrasis angelehnten Beschreibung Philomelas zeigen sich beispielhaft die stilistischen Ambitionen Albrechts, die – teils mehr, teils weniger gelungen - dennoch als solche erkennbar sind. Die Gründe für die Tendenz Albrechts zur Vereindeutigung einzelner Handlungssequenzen kann zunächst ebenso schwer erklärt werden, wie das Einbetten des Geschehens in einen gesellschaftlichen Kontext, der durch seinen Moralkodex eine Wertung der Handlung zulässt und einen Rahmen absteckt, innerhalb dessen die Grausamkeit des Dargestellten umso deutlicher hervortritt. Die Frage, ob dies von Albrecht intendiert war, ist ebenso schwer zu beantworten, wie ein Urteil über seine poetologischen Qualitäten zu fällen ist. Die wenigen Hinweise, die uns das untersuchte ‚Fragment A‘ bietet, legen aufgrund der von Albrecht an mehreren Stellen nicht umgesetzten Komplexität seiner Vorlage die Vermutung nahe, er habe die Doppelbödigkeit und rhetorische Brillanz des Ovid’schen Textes nicht erkannt. Eine solche Wertung zu vollziehen, wäre aufgrund der geringen Menge überlieferten Textes nicht angemessen, sodass es lediglich bei der Feststellung dieser Beobachtung belassen werden soll. Dieses Ergebnis scheint zwar auf den ersten Blick etwas unbefriedigend zu sein. Der Albrecht’sche Text lässt sich jedoch indirekt in der späteren Übertragung durch Georg Wickram wiederfinden. So tauchen bei der folgenden Analy-
_____________ 78 Neumann (Anm. 16), S. 232.
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se des Wickram’schen Philomela-Mythos ähnliche Fragestellungen auf, wie sie uns bereits bei der Untersuchung des Albrecht’schen Textes begegnet sind - auch, wenn fast 300 Jahre zwischen beiden Fassungen liegen, lassen sich immer noch deutliche Gemeinsamkeiten erkennen. Die „Philomela“ Georg Wickrams Dort, wo eine Interpretation der Albrecht’schen „Philomela“ aufgrund des begrenzten Textumfangs nur in Ansätzen möglich ist, kann für die vollständig vorliegende „Philomela“ Georg Wickrams eine umfangreichere Deutung erfolgen. Diese soll sich nicht nur auf den Text beschränken, sondern auch die Überschriften, Randbemerkungen und Zusammenfassungen mit einbeziehen. Auch wenn Wickram die „Metamorphosen“Übersetzung Albrechts als Vorlage gedient hat und diese dem Wickram’schen Text somit indirekt inhärent ist, wird im Folgenden nur von der ‚Wickram’schen Fassung‘ die Rede sein – eine Zuschreibung einzelner Änderungen zu Albrecht wäre spekulativ. Ein durch ‚Fragment A‘ möglicher Teilvergleich beider Texte zeigt ebenfalls zahlreiche Abweichungen, die auch den Text Wickrams nicht als wortgetreue Übersetzung, sondern als autonomes Werk präsentieren. So sollen zunächst die sowohl bei Albrecht, als auch bei Wickram überlieferten Textstellen des Philomela-Mythos gegenüber gestellt werden, um die Eigenständigkeit beider Arbeiten noch einmal zu unterstreichen. Schließlich erfolgt eine Analyse der vollständigen Wickram’schen „Philomela“-Fassung, um darauf aufbauend die Gemeinsamkeiten und darüber hinaus die inhaltlichen Verschiebungen deutlich werden zu lassen, die der Mythos im Vergleich zur Ovid’schen Fassung aufweist. Eine ausführliche Betrachtung der Auslegung durch Gerhard Lorichius beendet das Kapitel. Die Forschung, die sich dem Halberstadt’schen ‚Fragment A‘ zugewendet hat, beschäftigt sich in der Regel ebenfalls mit einem Vergleich Albrechts und der entsprechenden Passage des Wickram’schen Textes. Bei der Analyse der Änderungen benennt die Literatur seltsamerweise die gleichen Beobachtungen und Erklärungen, die bereits bei den Änderungen Albrechts gegenüber Ovid festgestellt wurden. Rücker, die zwar bei ihrem Forschungsüberblick kritisiert, dass bislang bei dieser Suche nach einzelnen Erscheinungen „der Blick auf das Ganze des Textes verlorengegangen [ist]“,79 beschränkt sich jedoch ebenfalls auf eine Aufzählung der Unterschiede zwischen Albrecht und Wickram, um schließlich festzustellen,
_____________ 79 Rücker (Anm. 1), S. 100.
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dass sich für die Änderungen Wickrams drei Intentionen unterscheiden lassen: die Suche nach einem Reimwort, die Verbesserung der Lesbarkeit des Textes durch Präzisierung inhaltlicher Bezüge, sowie der eigene Zusatz von Versgruppen, die „den Text ergänzen und einen inhaltlichen Ausbau darstellen.“80 Dieser inhaltliche Ausbau, dessen Charakter bei Rücker nicht weiter ausgeführt wird, wird im Folgenden am Beispiel des Philomela-Mythos näher betrachtet, um so die Unterschiede deutlich zu machen, die sich für die Gesamtinterpretation des Mythos ergeben und die Eigenständigkeit des Wickram’schen Erzählens vor Augen führen. Ebenso wie die Figuren der Ovid’schen und der Albrecht’schen „Philomela“ sich deutlich voneinander unterscheiden, so entsteht auch bei Wickram diesbezüglich ein anderes Bild. Während Progne bei Albrecht zu Beginn der Episode selbstbewusst und in direkter Rede von ihrem Mann den Anblick ihrer Schwester regelrecht einfordert, so kennzeichnet Wickram ihren Ausspruch als Bitte, wobei er dies auch durch zwei Adjektive ausschmückt und ihr somit besonderes Gewicht verleiht: Progne irn mann batt hertzlich sehr.81 Die Verse Albrechts, in denen Progne ihren Wunsch als Gegengabe für von ihr geleistete Dienste deklariert, lässt Wickram hingegen weg.82 Er betont demgegenüber, dass es sich um eine Erlaubnis handle, die Tereus Progne erteile und unterstreicht somit deren Passivität bei der Entscheidung, was einen Gegensatz zu der aktiven, direkten Rede und der Forderung Prognes bei Albrecht bildet. Die Formulierung bei Albrecht ist deutlich und beinhaltet zwei Imperative,83 die Wortwahl der Wickram’schen indirekten Rede ist hingegen eindeutig passiv.84 Am Ende von Prognes Rede fügt Wickram noch eine gesonderte Anrede Prognes an Tereus ein, in dem sie ihrem Verlangen um Erlaubnis wiederholt Ausdruck verleiht, ein Zusatz, der bei Albrecht ebenfalls nicht vorhanden ist und Prognes Rolle als Bittende unterstreicht. Dass Tereus, und nicht Progne im Wickram’schen Text als aktiv Handelnder dargestellt wird, zeigt sich auch in einer kurz darauf folgenden Stelle. Während Progne im Albrecht’schen Text bei der Planung der Reise noch das gemeinschaftliche wir verwendete,85 verwandelt sich dies bei Wickram in ein Du: daß du sie wider inn sein landt / Wollest schicken inn kurtzen
_____________ 80 Rücker (Anm. 1), S. 108. 81 V. 906. 82 Heinzmann erklärt dies durch ein evtl. Unvermögen Wickrams, diese Passage zu übersetzen. Diesen Ansatz halte ich m.V. für spekulativ bzw. als Erklärungsmöglichkeit zu einfach. 83 V. 4; volgt […] lat. 84 V. 911; Er solt sie lossen; V. 907; wo das ir man wolt lossen bschehen. 85 V. 12.
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tagen.86 Eine deutlichere Dominanz der Figur des Tereus bei Wickram im Vergleich zu seiner Vorlage ist auch zu beobachten, wenn er über Progne im Gespräch mit Pandion statt von Di]n [Pandions] tochter87 von Mein weib88 spricht. Zudem verwendet der Wickram’sche Tereus in seiner Rede mit Pandion auffällig viele Possessiv- und Personalpronomen, die in der Albrecht’schen Vorlage nicht zu finden sind und Tereus’ Auftritt als äußerst ich-zentriert erscheinen lassen: Her Schweher ich beger Wolt mich geweren meiner bett Mein weib mich zû euch geschicket hett […] Darumb versprich ich euch sonder list Mit geschwornem Eyd ich mich verpfend Das ich sie wider bring behendt Alher inn ewer Konigrich Druff will mein ehr verpfenden ich.89
Umso bemerkenswerter ist es, dass die Vorlage gegenüber Wickram das gemeinschaftliche Handeln von Progne und Tereus besonders betont, und beide somit als gleichberechtigte Akteure erscheinen lässt.90 Die Veränderungen der Figurencharakterisierung in der frühneuhochdeutschen Version, die Tereus als selbstbewussten Macher zeigen, bestätigen sich, wenn Wickram die Passage Albrechts ersatzlos streicht, in der das Verhalten des Tereus gegenüber Pandion mit folgenden Worten beschrieben wird: Ouch weinet er dar vnder.91 Die Tränen des Tereus passen schlecht zu seinem forschen Auftreten, vielmehr versetzt Wickram die Rede des Thrakerkönigs an seinen Schwiegervater mit einer bei Albrecht nicht vorhandenen Passage in wörtlicher Rede, in der er auf das Erfüllen seiner Bitte pocht und diese als billich bezeichnet.92 Schließlich wird am Ende der Wickram’schen Fassung noch einmal das Bild einer bittenden Frau präsentiert, wenn sich Philomela wiederholt an ihren Vater wendet, um mit Tereus zu ihrer Schwester fahren zu dürfen. Während Albrecht sich damit begnügt, die Küsse Philomelas zu erwähnen, mit denen sie Pandion von ihrem Wunsch zu überzeugen sucht, fügt Wickram an dieser Stelle zwei Verse ein, die das Bitten Philomelas in den Vordergrund der Beschreibung rücken und die-
_____________ 86 87 88 89 90
V. 917f. (Hervorhebung durch die Autorin. L.B.). V. 35. V. 939. V. 937-949 (Hervorhebungen durch die Autorin. L.B.). unser wille;V. 38; wir beide senden sie heim; V. 40f. (Hervorhebung durch die Autorin. L.B.). 91 V. 127. 92 V. 1026.
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sem durch Wiederholung besonderes Gewicht verleihen: Und bat ihn mehr dann tausent stundt / Sie bat ihn als ye mehr und mehr.93 Ob sich das folgende Detail der Beschreibung Philomelas ebenfalls auf eine generelle Veränderung der Geschlechterrollen zurückführen lässt, bleibt zu diskutieren: Während Albrecht Philomelas ersten Auftritt mit dem Vergleich beendet, sie sei wie eine wilde Fee, so lässt Wickram diesen Vers weg und schließt seine Beschreibung der Königstochter mit dem Bild einer Blume im Mai ab. Dies mag dem literarischen Geschmack seiner Zeit näher gewesen sein, ließe sich jedoch auch als gefällig-lieblichere Charakterisierung der weiblichen Hauptfigur lesen. Neben den Veränderungen der Figuren durch Wickram, die sich vorwiegend auf die Darstellung der Geschlechterrollen konzentrieren, lässt sich eine weitere Besonderheit seiner „Philomela“ beobachten, die sich ebenfalls auf die Figurencharakterisierung niederschlägt. Sie wird jedoch durch die Rolle des Erzählers verursacht, die sich von der des Albrecht’schen Erzählers unterscheidet und zahlreiche Einblicke in Gedanken und Wünsche der Figuren gewährt, sowie eine deutliche Wertung des Geschehens beinhaltet. Dies ist vor allem gegen Ende des hier untersuchten Textbruchstücks zu beobachten. Während die erzählende Instanz bei Albrecht dem Geschehen neutral gegenüber steht, erfolgt bei Wickram eine deutliche Wertung, in dem der Erzähler anlässlich der Bitte des Tereus, Philomela mit ihm fahren zu lassen, dessen Verhalten als unfug94 und falsche griffe95 bezeichnet, die der Thrakerkönig in seim sinn96 trage. Auch die Liebe, in der Tereus zu Philomela entbrennt, bezeichnet Wickram im Gegensatz zu seiner Vorlage als boese97 und falsch.98 Gleichzeitig schildert er als allwissender Erzähler auch die Gefühlswelt des Tereus, das, was sich tatsächlich ‚in seinem Sinn‘ abspielt, wenn dieser mit ansieht, wie Philomela ihren Vater liebkost und sich an dessen Stelle wünscht. Während der phantasierte Rollentausch bei Albrecht nur angedeutet wurde, führt Wickram die Innenwelt des Tereus in einem eigenständigen Zusatz von neun Versen detailliert aus, innerhalb dessen Begriffe wie Furcht, Scham und Hoffnung fallen und das weitere Verhalten des Tereus wenn nicht entschuldigen, so doch nachvollziehbar werden lassen. Ebenfalls tritt dabei die Konkurrenz zwischen Pandion und Tereus deutlicher als in der Albrecht’schen Vorlage zu Tage:
_____________ 93 94 95 96 97 98
V. 1037f. V. 1033. V. 1031. V. 1032. V. 1002. V. 1018.
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Seim hertzen also weh geschach Daß er die Jungfraw ehgedocht An ihren mundt nit kůssen mocht An stadt ihrs vatters wie gehort Dann forcht und scham im sollichs wert Doch hoffet er gentzlich der stundt Das er auch ihren roten mundt Mocht kůssen nach dem willen sein Solchs lang verziehen bracht ihr pein.99
Auch, dass Pandion die Bitten seiner Tochter traurig machen, fügt Wickram seiner Vorlage hinzu, ein weiteres Detail, das zur Psychologisierung der Figuren beiträgt und dem Leser deren Emotionen offen legt.100 Neben der Veränderung der Figurencharakterisierung und dort vor allem der geschlechtsspezifischen Eigenschaften sowie dem Einblick, den der Erzähler in die Gefühlswelt der Protagonisten gewährt, lässt sich ebenfalls beobachten, dass Wickram der sinnlichen Wahrnehmung des Geschehens größere Aufmerksamkeit widmet, vor allem jedoch der Schönheit Philomelas, die er noch detaillierter als Albrecht beschreibt und ihr ebenso wie auch der Liebe eine eigenmächtig handelnde Kraft zubilligt, die vorwiegend negativ konnotiert ist. So hebt Wickram die Kleider Philomelas gegenüber der Beschreibung Albrechts hervor, in dem er erwähnt, dass ihre goldene Farbe einen liechten schin101 verbreiten. Und so bschawet man sie uberal,102 als sie mit ihren Hofdamen den Saal betritt, ein Zusatz, der ebenfalls bei Albrecht fehlt und die Szene für den Leser vor seinem geistigen Auge sichtbar werden lässt. Die Kraft der strahlenden Schönheit Philomelas ist es auch, die – im Gegensatz zu Albrecht – als alleinige Ursache für die Reaktion des Tereus durch Wickram beschrieben wird: Tereus all sein krafft verlor / Bald er der schonen sichtbar wardt.103 Aus der Schönheit Philomelas folgt in direkter Abhängigkeit der Kräfteverlust des Thrakerkönigs, sodass ihr eine regelrecht zerstörerische Funktion zugesprochen wird, eine Beobachtung, die wenige Verse später noch deutlicher zu Tage tritt. Wickram erweitert hier einen Aspekt, der bei Albrecht lediglich angedeutet wird und der die Lieblichkeit und den Blick Philomelas als autonom handelnde Kraft erscheinen lässt: Dann bald sie Tereus ansach / Ihn von ir schon und lieb weh geschah.104 Die Beschreibung des Leids, das Tereus durch den Anblick Philomelas geschieht, wird im Folgenden noch einmal gesteigert, indem Wickram beschreibt, dass es Tereus körperlich versehrt:
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V. 1041-1049. V. 1039; Der vatter darumb trauret sehr. V. 954. V. 975. V. 979f. V. 984f.
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In boeser liebe hart verwundt.105 Diese regelrechte Verletzung des Tereus macht sich wiederum durch den Verlust seiner Sinne bemerkbar. Während Albrecht nur von seiner Verwirrung spricht, präzisiert Wickram an dieser Stelle, dass Philomelas Schönheit Tereus taub und stumm macht.106 Ein weiterer Zusatz Wickrams ist ebenfalls sinnlich aufgeladen. Zweimal greift er das Bild des in Liebe entflammten Tereus auf und verknüpft seine Fassung an diesen Stellen eng mit der Ovid’schen Version des Mythos. Während Albrecht die Formulierung seiner antiken Vorlage des sich wie trockene Gräser in Liebe entzündenden Tereus weglässt, begegnet sie uns an den dem Ovid’schen Text entsprechenden Stellen in der „Philomela“ Wickrams wieder. Dieses Detail spricht für die Lateinkenntnisse Wickrams und eine gleichzeitige Orientierung an der antiken Fassung, die zu besitzen er in seinem Prolog jedoch bestreitet. Auch hier handelt es sich um ein Licht und Hitze assoziierendes Bild, das ebenso wie das goldstrahlende Kleid oder die Blicke der Hofgesellschaft das Geschehen für den Leser sinnlich erfahrbar macht. Zu der Beobachtung der Personifizierung von Philomelas Schönheit passt auch die folgende Veränderung, die Wickram gegenüber seiner mittelhochdeutschen Vorlage durchführt. Albrecht bezeichnet Tereus als tiubels genoz,107 als dieser darüber nachdenkt, wie er sich der Königstochter gewaltsam bemächtigen könne. Wickram greift die Formulierung auf, ändert die Passage jedoch insofern, als dass es bei ihm der ‚Teufelsgenosse’ ist, der Tereus zu seinen anschließenden Gedanken und Taten verleitet: Also macht im der Teuffels gnos Eyn rechnung auch der ehren blos Dann in gentzlich befilet nicht Was er solt thun inn solcher gschicht.108
Diente die Formulierung bei Albrecht noch der Beschreibung von Tereus’ teuflischen Gedanken, so wird bei Wickram eine andere Person daraus, die Tereus zu seinen verwerflichen Absichten anstiftet. Ebenso wie die Schönheit der Königstochter scheint auch an dieser Stelle eine weitere, fremde Instanz das Handeln der Figuren zu übernehmen, die so zum Spielball von Faktoren werden, auf die sie keinen Einfluss nehmen können – sie agieren nicht, sondern reagieren nur. Die ausgeführten Textbeobachtungen anhand der inhaltlich vergleichbaren hundertvierundvierzig Verse zeigen deutlich, dass es sich sowohl bei
_____________ 105 106 107 108
V. 1002. V. 1012f.; So gentzlich was der taub und tum / Inn seym gmüt irr inn eyner summ. V. 107. V. 1008-1011.
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der Albrecht’schen, als auch bei der Wickram’schen „Philomela“ um einen Text handelt, der sich nicht nur in Bezug auf sprachliche Details, sondern auch in seiner inhaltlichen Konzeption von der jeweiligen Vorlage emanzipiert. Ob sich die Interpretationsansätze, die für die bei Albrecht und bei Wickram überlieferte Textpassage aufgestellt werden konnten, auch im Wickram’schen Gesamttext bestätigen, oder vielmehr verworfen werden müssen, soll bei der folgenden Analyse des Philomela-Mythos überprüft werden, der bei ihm vollständig überliefert ist. Aus Gründen des Umfangs kann der Philomela-Mythos Georg Wickrams in seiner Gesamtheit sowie sein Verhältnis sowohl zu seiner antiken, als auch zu seiner mittelhochdeutschen Vorlage jedoch nicht ebenso detailliert betrachtet werden wie die begrenzte Passage, die bei Wickram und Albrecht gleichermaßen überliefert ist. Auch wird davon Abstand genommen, den Wickram’schen Text daraufhin zu untersuchen, welche Passagen aus seiner eigenen Feder bzw. der von Albrecht stammen. Das Vorhaben wird zwar von der neueren Wickram-Forschung immer wieder proklamiert, doch erliegt sie dabei regelmäßig der Versuchung, einzelne Passagen einem der jeweiligen Autoren zuzuschreiben.109 Die nachfolgende Untersuchung konzentriert sich vielmehr auf inhaltliche Beobachtungen, die eine Verschiebung der interpretativen Schwerpunkte des Mythos deutlich werden lassen. Konnten in dem Wickram’schen Teilstück des Mythos zahlreiche moralische Wertungen des Geschehens durch den Erzähler festgestellt werden, so lässt sich diese Beobachtung auch bei der Untersuchung des vollständigen Philomela-Textes Georg Wickrams machen. Dabei erweist sich die direkte und indirekte Einordnung des Geschehens in einen moralischen Kontext als so ausgeprägt, dass sie als zentrales Element der vorliegenden Fassung des Mythos bezeichnet werden kann, was nicht zuletzt durch die moralisierende Auslegung Gerhard Lorichius’, die den Mythos ergänzt, noch einmal hervorgehoben wird. Zunächst zeigt sich die Moralisierung des Geschehens durch eine Vielzahl direkt wertender Kommentare des Erzählers. Ob er die Hochzeit von Progne und Tereus als gantz uber die moß bezeichnet,110 die Absichten des Tereus als schnoedes fürnemen kritisiert,111 dessen Tränen ebenso wie dessen Herz als fålschlich verurteilt,112 oder das Bacchusfest eine unsite
_____________ 109 So schreibt z.B. auch Rücker u.a. Schönheitsbeschreibungen oder auch Passagen, in denen der Aeneas-Stoff erwähnt wird, Wickram zu, obwohl sie selbst die bislang nicht sauber erfolgte Trennung von Albrecht und Wickram durch die Forschung kritisiert. Vgl. Rücker (Anm. 1), S. 26 u. S. 248. 110 V. 881. 111 Teilüberschrift V. 112. 112 V. 1254; V. 1376.
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nennt113 – die Stellungnahme der erzählenden Instanz zu dem von ihr geschilderten Stoff ist nicht zu übersehen. Doch wird die Kritik nicht nur durch wertende Adjektive deutlich, sondern tritt auch dadurch zu Tage, dass inhaltliche Elemente seiner Vorlage(n) ausgebaut werden, die einen Verstoß gegen den zeitgenössischen Verhaltenscodex bedeuten, wobei dies zunächst in einer Zuordnung zur Dichotomie christlich bzw. heidnisch besteht. Dies wird direkt zu Beginn der Wickram’schen Fassung deutlich, als die Unglückszeichen, die bei Ovid anlässlich der Hochzeit von Progne und Tereus Erwähnung finden und das grausame Geschehen vorwegnehmen, bei ihm als Strafe der Götter für den mangelnden Respekt des Paares gewertet werden. Der Erzähler führt aus, dass die Götter nicht ausreichend geehrt worden waren und das Königspaar stattdessen während des Festes Fackeln benutzte, die jedoch Begräbniszeremonien vorbehalten waren, ein Detail, welches das düstere Ende der Geschichte bereits vorweg nimmt. Der Gebrauch der Fackeln und die Missachtung der Götter erregte, so der Wickramsche Erzähler, deren Neid, der sich auch nicht wie bei Ovid nur durch einen Uhu und die Anwesenheit der drei Parzen manifestiert, sondern die hellischen Goett all114 aus der Unterwelt herauf beschwört, die das Hochzeitsbett umringen, während Progne und Tereus ihre erste Nacht miteinander verbringen. Aus dem Uhu Ovids werden bei Wickram Die ungheuren nacht voegel all,115 die sich auf Dach und Bett setzen und mit grausamem schall116 das spätere Unheil der beiden verkünden, wobei die regelrechte Inbesitznahme des Bettes die sexuelle Dimension des Geschehens deutlich macht und auf den späteren, grausamen Tod des aus dieser Verbindung hervorgehenden Itys verweist. Besonderes Augenmerk auf diese Stelle wird zudem durch die zwei Indexhände gelenkt, die von beiden Seiten des Textes mit dem Zeigefinger auf einen Vers weisen und das darin geschilderte Geschehen durch einen kurzen Satz auf der linken Blattseite zusammen fassen. Mit der dortigen Anmerkung Die Heyden haben facklen zu iren leychen getragen117 macht der Autor deutlich, dass sich Progne und Tereus einem heidnischen Brauch gemäß verhalten und ihr zukünftiges Unglück somit grundsätzlich auf ihre moralischen und religiösen Verfehlungen zurückzuführen ist, die durch die Indexfinger regelrecht angeprangert werden. Das Ausweiten der bereits bei Ovid erwähnten Unglücksboten unterstreicht dabei deren unheimli-
_____________ 113 114 115 116 117
V. 8 der Bildunterschrift. V. 894. V. 900. V. 901. V. 890.
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chen und bedrohlichen Charakter, was ebenfalls die Funktion einer Abschreckung übernimmt und das Heidentum negativ inszeniert.118 Das unmoralische Verhalten der einzelnen Figuren wird allerdings nicht immer durch deren Verhalten entsprechend oder entgegen der Religion beurteilt. Von zentraler Bedeutung ist ebenfalls das Einhalten von Versprechen bzw. das Erfüllen von Eiden, was über die Integrität und vor allen Dingen über die Ehre der jeweiligen Person entscheidet und bereits bei der Ankunft des Tereus in Athen deutlich wird. Noch bevor der Thrakerkönig Philomela zum ersten Mal erblickt, gibt er dem Schwiegervater durch einen Schwur seine Ehre als Pfand, die Schwägerin wohlbehalten wieder zurück zu senden, ein Detail, das innerhalb der Ovid’schen Fassung fehlt: Darumb versprich ich euch sonder list Mit gschwornem Eyd ich mich verpfent Das ich sie wider bring behendt Alher inn ewer Koenigrich Druff will mein ehr verpfenden ich.119
Die Tatsache, dass Wickram wenige Verse zuvor in der Überschrift bereits ankündigt, dass Tereus eyn falschen Eyd schwört,120 zeigt die Bedeutsamkeit, die er diesem Verhalten beimisst und auf das im Verlauf der Geschehnisse immer wieder zurückgegriffen wird. Tereus ist durch sein Verhalten jedoch nicht nur für seine eigene Ehre verantwortlich. Dies ist bereits wenige Verse nach dessen oben zitiertem Versprechen gegenüber Pandion erkennbar, wenn die Anmerkung der Indexhand vorausdeutet Die grosse schone Philomele bringt sie um ihr Jungfreylich ehr.121 Auch die Gastfreundschaft, die Pandion seinem Schwiegersohn erweist, wird durch das Parameter ‚Ehre‘ definiert: Der Koenig grosse ehr beweiß / Sein Tochtermann / dem schalck so freiß.122 Als zentrale Kategorie legt Wickram die Ehre auch seiner Protagonistin in den Mund, wenn diese ihren Peiniger nach der Vergewaltigung anklagt. Doch bevor sie ihre insgesamt fünfzig Verse umfassende wörtliche Rede äußert, wird darauf hingewiesen, dass sie – kaum vorstellbar ― selbst während ihrer Schändung den Verlust ihrer Ehre beweint und diese Schande somit über ihren körperlichen Schmerz stellt: Biß das sie wider von ihm kam / Schrei sie „Ach meiner Ehren leider“.123 Doch auch während der nachfolgenden Anklage steht sowohl ihre, als auch die Ehre des Tereus selbst im Mittelpunkt, was wiederum durch die Anmerkung der Index-
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V. 900; unghere nacht voegel; V. 901; grausamer schalle. V. 945-949. Überschrift V. 928. V. 954. V. 1066f. V. 1159f.
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hand unterstrichen wird: Philomela als sie ir ehr hat verloren begert sie zu sterben.124 Die direkte Verbindung von Ehrverlust und Todeswunsch macht Philomela auch noch einmal selbst deutlich, wenn sie Tereus darum bittet, sie zu töten: Nimm hin du schalck das leben mein / Weil ich meiner ehren beraubt muß sein.125 Zuvor beklagte sie ausführlich seine Treulosigkeit gegenüber ihrem Vater, wobei sich die Formulierungen um die Worte (Mein)Eid, Ehre und Treue drehen und durch Doppelung den zentralen Punkt ihrer Anklage bilden: Darzu du im mit hartem eidt Versprochen hast und zugeseit […] Nun aber hast durch dein maineidt Dein trew und ehr verloren beid Du bist eyn maineydiger mann Gantz trewloß hast an mir getan.126
Die Beobachtung, dass Philomela in der Ovid’schen Vorlage den Aspekt der Ehre kein einziges Mal erwähnt, er bei Wickram jedoch den Kern ihrer Verzweiflung bildet, verdeutlicht wiederum die inhaltlichen Änderungen, die in der frühneuhochdeutschen Fassung des Mythos zu Tage treten. Selbst als Philomela nicht mehr sprechen kann und sich durch Zeichen und Gebärden verständigen muss, bedeutet sie mit der Hand ihrer Schwester den Meineid, den Tereus geleistet hat, um ihre Unschuld zu beteuern: Sie deuthet auch mit der hand den eyd / Das ir die schmocheyt wer gantz leydt.127 Nicht zuletzt benennt auch Progne den Ehrverlust der Schwester als Grund für den Mord an ihrem Sohn. Sie beklagt, dass Philomela Ir zung sampt irer ehr genummen wurde,128 und stellt daher gegenüber Itys fest: Derhalb hastu nit fristung mehr / Bezalen must meiner Schwester ehr.129 Es lässt sich festhalten, dass das unehrenhafte Verhalten des Tereus einen Kreislauf der Gewalt beginnen lässt, dessen einzelne Etappen sich immer wieder auf Ehrverletzungen stützen und die Ehre bzw. ihre Wiederherstellung damit zur zentralen Handlungsmotivation werden. Bei der Analyse des Wickram’schen Philomela-Mythos kristallisiert sich schließlich noch ein weiterer Aspekt im Vergleich mit seiner antiken Vorlage heraus, der sich zunächst nur schwer in das zuvor skizzierte Gerüst des moralischen Handelns einfügt, sich jedoch durch die den Mythos abschließende Auslegung Gerhard Lorichius’ inhaltlich mit dem Wickram’schen Text verknüpfen lässt: das Betonen der familiären Bin-
_____________ 124 125 126 127 128 129
V. 1186. V. 1185. V. 1176-1183. V. 1378f. V. 1421. V. 1422f.
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dungen aller Beteiligten. Diese Eigenheit wurde bereits mehrfach durch die Forschung beobachtet und u.a folgendermaßen erklärt: „In einigen Fällen geschieht dies aus dem Bestreben, den altdeutschen Kurzvers [Albrechts] zum 8- bis 9silbigen Knittelvers anschwellen zu lassen, in vielen anderen aber aus seiner didaktischen Manie heraus, die keine Verwechslung beim Leser aufkommen lassen will und alle Situationen übersichtlich darstellen möchte.“130
Ähnlich äußert sich auch Neumann, der vermutet, Wickram wolle dadurch „klare Verhältnisse schaffen“,131 was schließlich zu einem „Verumständlichen“132 seines Stils führe. Die These, dass die Betonung der verwandtschaftlichen Beziehungen, die bereits innerhalb des Albrecht’schen Fragments zu beobachten war, lediglich didaktisch motiviert ist und eine schwerfällige Lektüre nach sich zieht, erscheint mir nicht schlüssig. Vielmehr vermute ich, dass es sich dabei um das Resultat einer Textanalyse durch die Forschung handelt, die sich beim Vergleich des Wickram’schen Textes mit dem Albrecht’schen Bruchstück vorwiegend auf sprachliche Besonderheiten und Details der beiden Texte konzentriert und dabei eine inhaltliche Perspektive vernachlässigt. Im Folgenden möchte ich dem gegenüber zeigen, dass es sich bei der auffällig gehäuften Nennung der Verwandtschaftsgrade weniger um eine stilistische Eigenheit Wickrams handelt, als vielmehr um ein bewusstes Thematisieren des Überschreitens verwandtschaftlicher Grenzen, das einen zentralen Punkt innerhalb der inhaltlichen Konzeption des Philomela-Mythos bildet. Dies soll zunächst am Wickram’schen Textes selbst, und schließlich an der Auslegung Gerhard Lorichius’ gezeigt werden, die den mehrfachen Inzest und die Transgression familiärer Bindungen innerhalb des Mythos ebenfalls in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Zunächst fällt auf, dass Wickram die einzelnen Personennamen selten alleine nennt, sondern in der Regel mit einem Verwandtschaftsgrad versieht und so in Beziehung zu den anderen Figuren setzt. So bittet Progne Tereus darum, ihre schwester Philomelam sehen zu dürfen,133 obwohl diese bereits wenige Verse zuvor als die Schwester Prognes eingeführt wurde.134 Auch wird sie im weiteren Verlauf des Mythos oftmals nur als Schwester bzw. Tochter Pandions benannt, ebenso wie Tereus als Pandions tochtermann,135 oder als Philomelas schwoger bezeichnet wird.136 Ähnliches lässt
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Heinzmann (Anm. 2), S. 18. Neumann (Anm. 16), S. 240. Neumann (Anm. 16), S. 240. V. 908. Sie hatte eyn schwester wolgethon / Philmela so hieß die schon (V. 876f.). Kapitelüberschrift V. 1050.
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sich für alle weiteren Figuren des Mythos feststellen. Diese Eigenart Wickrams beschränkt sich nicht allein auf den Beginn der Geschichte, was durch eine didaktische Motivation des Autors und eine intendierte Vereinfachung der Beziehung der Protagonisten untereinander hätte erklärt werden können, sondern zieht sich durch den gesamten Mythos hindurch. Die gleiche Beobachtung lässt sich ebenfalls für die Teilüberschriften sowie den Begleittext der Indexhände machen. Auch dort werden Eigennamen und familiäre Funktion fast immer miteinander verknüpft. Dass lediglich der Eigenname genannt wird, ist äußerst selten. Dagegen kommt es häufiger vor, dass auf den Eigennamen verzichtet wird, um lediglich den Verwandtschaftsgrad zu nennen, ein Detail, das ebenfalls auf die zentrale Bedeutung der familiären Bindungen innerhalb des Mythos hinweist. Dies legt nahe, dass eine didaktische Motivation als Erklärung für diese stilistische Besonderheit ausgeschlossen werden kann: Spätestens nach wenigen Seiten hätten sich die Beziehungen der Figuren untereinander dem Leser so eingeprägt, dass sie keiner permanenten Wiederholung mehr bedürfen. Wickram insistiert jedoch weiter auf den verwandtschaftlichen Bindungen der Protagonisten, indem er nicht nur deren Eigennamen ersetzt, sondern deren Beziehung untereinander mehrfach innerhalb weniger Verse betont. Bereits bei der Ankunft Tereus in Athen formuliert dieser gegenüber seinem Schwiegervater den Wunsch, Philomela mit in seine Heimat nehmen zu dürfen, folgendermaßen: Mein weib mich zu euch gschicket hett Welche ist ewer eygen kindt Und bitt euch das ir ihr vergünt Das Philomela mit mir far Ir schwester / darum komm ich har Welche auch ewer tochter ist. 137
Das Betonen des Verwandtschaftsverhältnisses deutet hier bereits auf eine Problematik des weiteren Geschehens hin, welches sich in einer wenige Verse darauf folgenden Szene bereits sehr viel offensichtlicher manifestiert und auf den zentralen Aspekt des Mythos hinweist. Als Philomela versucht, ihren Vater durch Zärtlichkeiten davon zu überzeugen, sie nach Thrakien ziehen zu lassen, wünscht sich Tereus an die Stelle Pandions. Die Küsse zwischen Pandion und Philomela werden von Wickram dabei sehr viel direkter und ausführlicher geschildert, als in seiner antiken Vorlage. Während der phantasierte Rollentausch bei Ovid lediglich angedeutet wurde, weitet sie Wickram auf insgesamt dreizehn Verse aus:
_____________ 136 Kapitelüberschrift V. 1014. 137 V. 939-944 (Hervorhebungen durch die Autorin. L.B.).
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Sie kuest ihrn vatter an den mundt Und bat ihn mehr dann tausent stundt Sie bat ihn als ye mehr und mehr Der vatter darumb trauret sehr So dann Tereus semlichs sach Seim hertzen also weh geschach Daß er die Jungfraw ehgedocht An ihren mundt nit kuessen mocht An stadt ihrs vatters wie gehoert Dann forcht und scham im sellichs wert Doch hoffet er gentzlich der stundt Das er auch ihren roten mundt Moecht kuessen nach dem willen sein Solchs lang verziehen bracht ihr pein.138
Dreimal wird in dieser Passage erwähnt, dass Philomela ihren Vater auf den Mund küsst. Das dritte Mal wird die erotische Komponente des Kusses sogar durch das Adjektiv ‚rot‘ hervorgehoben, was ihren Mund besonders begehrenswert erscheinen lässt und die Konkurrenzsituation zwischen Pandion und Tereus unterstreicht. Auch die geradezu voyeuristische Position, in der sich Tereus bei der Betrachtung der Zärtlichkeiten von Philomela und Pandion befindet, richtet den Fokus auf das Problem der inzestuösen Bindung, welche nicht nur die Vater-Tochter-Beziehung betrifft, sondern ebenso das Verhältnis von Tereus zu seiner Schwägerin, welches den Verlauf des weiteren Geschehens bestimmen wird. Gleichzeitig macht Wickram durch den folgenden Einwurf des Erzählers deutlich, dass genau aus dieser verbotenen Begierde die nachfolgende Katastrophe resultiert: Solchs lang verziehen bracht ihr pein. Dieser unzweifelhafte Hinweis auf die Entwicklung der nachfolgenden Ereignisse ist nicht der einzige. Direkt im Anschluss an die oben beschriebene Szene reflektiert die Teilkapitelüberschrift Wickrams ein weiteres Mal die Verwirrung der familiären Verhältnisse, wenn er das weitere Geschehen wie folgt zusammenfasst: Pandion gewert sein tochter und tochtermann irer bitt.139 Auch wenn Pandion zwei Töchter hat, scheint es sich auf den ersten Blick bei tochter und tochtermann um ein und dieselbe Tochter zu handeln, von der die Rede ist. Dies verwischt wiederum die Grenze zwischen Progne und Philomela, denn wenn zuvor lediglich von Philomela und Tereus die Rede war, erscheint diese automatisch als die dem Tochtermann, also Tereus zugehörige Frau. Und als solche macht sie sich Tereus tatsächlich wenig später zu eigen. Dass Wickram nicht nur sprachlich den Inzest ins Zentrum des Philomela-Mythos rückt, sondern auch inhaltlich die Stellen des Geschehens
_____________ 138 V. 1036-1049 (Hervorhebungen durch die Autorin. L.B.). 139 V. 1050.
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akzentuiert, die die Bedrohung der familiären Ordnung besonders deutlich werden lassen, wird ebenso im weiteren Verlauf des Textes deutlich. So beklagt sich Philomela nach ihrer Vergewaltigung unmittelbar nach dem Benennen ihres Ehrverlustes darüber, dass Tereus das Tabu des Inzests gebrochen hat, indem sie sagt: Mochtest du solchen zwancksal nicht / Gelossen durch die Schwester mein / Welche doch ist die haußfraw dein.140 So ist es weniger die Gewalt, als vielmehr das Überschreiten der Grenze ihres Verhältnisses als Schwager und Schwägerin, welches sie Tereus vorwirft. Doch nicht nur Philomela spricht diese moralische Verfehlung aus, auch der Erzähler kritisiert das Verhalten des Tereus, wobei er ebenfalls nicht die Vergewaltigung, sondern den Inzest verurteilt, wenn er sagt: Tereus zwang die schoene meit Und pflag do mit ir was er wolt Doch billich glossen haben sollt Dieweil ir schwester was sein weib.141
Dass es weniger die Gewalt, als das Überschreiten der verwandtschaftlichen Grenzen ist, was es hervorzuheben und zu erinnern gilt, bestätigt ebenfalls die Indexhand, wenn sie durch die Anmerkung Tereus notzogt seiner frauwen schwester den Namen Philomelas durch ihren Verwandtschaftsgrad zu Tereus ersetzt,142 und so ein weiteres Mal das persönliche Leid hinter dem Aspekt der Verwandtschaft zurücktritt.143 Unter dem Oberbegriff der ‚Moralisierung‘ konnten bislang mehrere inhaltliche Dimensionen unterschiedenen werden, mit denen sich Wickram in das Geschehen des Mythos einschreibt. Er wertet bestimmte Elemente des Mythos nicht nur direkt, sondern nimmt auch indirekt Stellung, indem er das Heidentum seiner Akteure hervorhebt, den Ehrverlust der Figuren unterstreicht, sowie die Passagen im Vergleich zu Ovid ausschmückt, in denen der Inzest zwischen Tereus und Philomela sowie Philomela und Pandion besonders deutlich zu Tage tritt. Dabei hält er sich in der Regel an seine antike Vorlage und begnügt sich lediglich mit dem inhaltlichen Ausbau bestimmter Sequenzen. An einer Stelle seiner Erzählung weicht Wickram allerdings von seinem Modell ab und fügt der Handlung eine eigenständige Episode hinzu, deren Inhalt sich ebenfalls gut mit den bereits skizzierten Beobachtungen zum Thema ‚Moralisierung‘ verbinden lässt.
_____________ 140 141 142 143
V. 1165-1167. V. 1147-1150 (Hervorhebung durch die Autorin. L.B.). V. 1156. Vgl. dazu ebenfalls das Kapitel „Mordende Mütter und verschlingende Väter: Die Perversion der familiären Ordnung“.
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Noch bevor Wickram mit seinen Ausführungen beginnt, macht er bereits sprachlich die nachfolgende Zäsur innerhalb seiner Erzählung deutlich und beendet die vorangehende Schilderung der Vergewaltigung und Verstümmelung Philomelas mit folgenden Versen: wend wirs eyn weil lassen bleiben / Und von den Bachiades schreiben.144 Eine solche Unterbrechung des Erzählflusses ist bei Wickram äußert ungewöhnlich, ja innerhalb der Philomela-Episode einzigartig. Noch bevor er die Bacchusepisode durch eine Kapitelüberschrift einleitet, weist er explizit auf den nachfolgenden Einschub hin und benennt gleichzeitig seine Funktion als Autor, welche er sonst an keiner Stelle des Mythos thematisiert. Seine Formulierung Hie wend wirs eyn weil lassen bleiben lässt sich dabei sowohl durch die Unterbrechung der Erzählung sowie durch den nachfolgenden Ortswechsel von der einsamen Waldhütte an den Königshof erklären, als auch durch die mögliche Intention der Abgrenzung gegenüber seiner antiken Vorlage, die er an dieser Stelle bleiben lassen, d.h. vernachlässigen möchte. In der anschließenden Teilkapitelüberschrift liefert Wickram in wenigen Worten eine Inhaltsangabe der nachfolgenden fünfunddreißig Verse: Von dem Fest Bachi / wie / inn was gstalt das gehalten worden / nemlich von den weibern wie die also rosend umbher gelauffen sind mit ihren wehren.145 Somit macht er deutlich, dass er sich zum einen auf die Beschreibung des Ablaufs (wie), zum anderen auf die äußeren Merkmale des Festes (inn was gstalt) konzentrieren wird. Selbst nach der Teilkapitelüberschrift gibt sich Wickram noch ein weiteres Mal als Autor zu erkennen, indem er – während er von sich selbst zuvor in der ersten Person Plural sprach (wend wirs eyn weil lassen bleiben) – nun in der ersten Person Singular der Episode die Bemerkung voranstellt, dass es sich um eine heidnische Sitte handelt, die er im Folgenden beschreibt: Hie mus ich diß auch melden mit / Es was eyn Heidnischer sit.146 Durch das Attribut ‚heidnisch‘ distanziert er sich von Beginn an von dem nachfolgenden Geschehen, ein Vorgehen, das bereits bei dem Vergleich mit der ebenfalls durch Albrecht überlieferten Textpassage beobachtet werden konnte. Zunächst folgt Wickram der Ovid’schen Fassung, indem er darüber berichtet, dass sich zu Ehren des Weingottes Bacchus die Frauen versammeln und im Weinrausch, mit Tierfellen bedeckt, mit Weinblättern geschmückt und mit einem Stock bewaffnet durch das Land ziehen. Während Ovid angibt, dass das Bacchusfest alle drei Jahre zelebriert wird, spricht Wickram von dreien malen inn dem jar,147 doch ist dies nur eine unwesentliche Abweichung von seiner Vorlage im Vergleich
_____________ 144 145 146 147
V. 1296f. Kapitelüberschrift V. 1297. V. 1298f. V. 1304.
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zu den darauf folgenden elf Versen, die an dieser Stelle vollständig zitiert werden sollen, um dem Leser die Lektüre der nachfolgenden Analyse zu erleichtern: Kein man zu ihn dorfft kummen nit Sunst ward er von ihnen gar zerrissen Zerhackt / zerstochen und zerschmissen Und wurffen die stuck her und dar Eyn mutter ward irs Suns gwar Denen erwüscht sie sonder barm Und riß behend von im eyn arm Doch klaget sie gleich an der statt Das sie nit mehr begriffen hatt Die andren theilten ihn behendt Wurffen die stück an alle endt Zu unglück kam er under sie Dann im moecht wehrs sein geschehen nie.148
Diese Episode der rasenden Frauen wird zwar in den meisten Fassungen des Mythos erwähnt, allerdings ohne zu berichten, dass dabei eine Mutter den eigenen Sohn verstümmelt und dieser schließlich von den anderen Frauen getötet wird. Der Zusatz scheint demnach aus der Feder Wickrams zu stammen, wenn dieser sie nicht von Albrecht übernommen hat, eine Möglichkeit, die wir aufgrund des fehlenden Textes nicht verifizieren können. Auf den ersten Blick frappiert die Parallele zwischen dem zerstückelten Jungen und dem späteren Schicksal des Itys, sodass dieser Einschub die Rolle einer Vorausdeutung auf das weitere Geschehen übernimmt. Gemeinsam ist beiden Szenen, dass jeweils ein Junge versehentlich in eine ausschließlich aus Frauen bestehende Gemeinschaft eindringt: Itys in das zweisame Gespräch von Progne und Philomela während diese ihre Rache planen, der Junge in die Gemeinschaft der Bacchantinnen. In beiden Fällen werden die Jungen zunächst von ihren Müttern verstümmelt bzw. getötet, um anschließend von den anderen Frauen bzw. Progne und Philomela zerstückelt zu werden. Während Itys gekocht, gebraten und seinem Vater zum Mahl vorgesetzt wird, werden die einzelnen Körperteile des Jungen umher geworfen, beides Verhaltensweisen, die im völligen Gegensatz zu religiösen Begräbnisritualen stehen, ja eine regelrechte Perversion derselben darstellen. Die Mutter des Jungen handelt jedoch im Rausch und bereut hinterher ihre Tat.149 Auch Progne nimmt als Königin an dem Bacchusfest teil und Wickram betont mehrfach, dass sie sich ebenso wie die anderen Frauen im Rausch befindet.150
_____________ 148 V. 1309-1321. 149 V. 1316f.; Doch klaget sie gleich an der statt / Das sie nit mehr begriffen hatt. 150 V. 1338f.; Progne betriept inn irem sin / Lieff auch gantz rosend mit ihn hin.
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Es bleibt zu fragen, aus welchen Gründen Wickram diese Episode in seine Version des Mythos eingefügt hat. Soll durch die Parallelisierung der beiden Mütter die Tat Prognes erklärt werden? Wickram präzisiert, dass die Bacchantin ihren Sohn im Rausch verstümmelt und ihre Tat später bereut. Handelt es sich dabei um einen Versuch Wickrams, das Verhalten Prognes durch einen ebensolchen Rauschzustand zu erklären, ein Verhalten, das möglicherweise so massiv und unvorstellbar gegen das weibliche Ideal seiner Zeit verstieß, dass er es durch die Episode der Bacchantinnen und deren übermäßigen Weingenuss seinen Lesern plausibel machen musste? Diese Vermutung wird durch die Beobachtung gestützt, dass Wickram zu Beginn seines Einschubs ausdrücklich betont, dass es sich bei dem Bacchusfest um ein heidnisches Fest handelt. Durch diese Markierung verschiebt er die Geschehnisse unmissverständlich in einen anderen kulturellen Kontext und macht sie seiner Leserschaft begreifbar. Auch verwendet Wickram sehr viel mehr Zeit auf die Beschreibung der Kostüme, mit denen sich die Bacchantinnen schmücken. Bei ihm ist die Rede von Bären-, Pferden- und Hirschhäuten, mit denen sich die Frauen behängen, und die Wickram als seltzammes kleidt bezeichnet,151 sodass nicht nur ihr Verhalten, sondern auch ihr Äußeres ihre Wildheit und Unzivilisiertheit bezeugen, von der sich Wickram auch selbst klar distanziert: Irn grus wolt ich nit haben gern.152 Festzuhalten bleibt, dass Wickram sich ein weiteres Mal von seiner Vorlage löst und den Mythos modifiziert. Die offensichtliche Parallele zwischen dem Einschub Wickrams und dem späteren Schicksal des Itys zeigt dabei die Ambition des Autors, nicht nur poetologisch, sondern auch inhaltlich in den Text einzugreifen. Dies gelingt ihm, indem sein Zusatz zur Vorausdeutung des weiteren Geschehens wird und er gleichzeitig eine Erklärung für die spätere barbarische Handlung Prognes andeutet. Er setzt ihr Verhalten mit dem der Bacchantin gleich und präsentiert somit den heidnischen Weinrausch indirekt als Ursache für die Rache der Schwestern.
_____________ 151 V. 1323. 152 V. 1327.
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Die Auslegung Gerhard Lorichius’ Das Interesse der Forschung an den Auslegungen, die Gerhard Lorichius der Metamorphosenübertragung Wickrams hinzugefügt hat, setzte erst 1967 mit einem Aufsatz Karl Stackmanns ein.153 Während die Arbeit Lorichius’ bis dahin als „flüchtige Gelegenheitsarbeit“154 abgetan wurde, forderte Stackmann als Erster mehr Beachtung der Auslegungen, „nicht nur wegen ihrer Beziehungen zu dem Wickram-Text, dessen Verständnis sie auf bestimme Weise färben – oder doch färben sollen-, sondern auch um ihrer selbst willen, als früher Versuch, einen deutschen Kommentar zu einem lateinischen Klassiker zu schreiben.“155 Die Tatsache, dass Bolte in seiner Wickram-Ausgabe von 1905 die Auslegungen Lorichius’ nicht aufgenommen hat, spiegelt das damalige Desinteresse an diesem Text wider. Erst die neue Wickram-Ausgabe Roloffs bezieht Lorichius mit ein und befriedigt damit nach über zwanzig Jahren das von Stackmann geäußerte Desiderat einer Neuausgabe, um so die Forschung mit Lorichius’ Werk bekannt zu machen. Zwar billigt Stackmann der Beschäftigung mit den Auslegungen nur einen begrenzten Aufwand an Zeit und Arbeitskraft zu und begründet dies mit der geringen literarischen Qualität „dieses eilfertig zusammengestoppelten Kommentars“,156 liefert in seinem Aufsatz jedoch neben der Arbeit von Rücker eine der wenigen Publikationen zu den moralisierenden Kommentaren des Geistlichen.157 Beide, Stackmann und Rücker, berichten ausführlich über Biographie, Bildungsweg und Auseinandersetzung Lorichius’ mit der Reformation, sodass an dieser Stelle auf deren Arbeiten verwiesen und nur die Informationen angeführt werden sollen, die für das unmittelbare Verständnis der Auslegung der Philomela-Episode von Bedeutung sind. Auch die Erkenntnisse über die Entstehung der Moralisierungen konzentrieren sich im Folgenden auf die Details, die Lorichius’ Philomela-Text inhaltlich erhellen und den Leser in groben Zügen nachvollziehen lassen, auf welche Weise die „Metamorphosen“ Wickrams und die Auslegungen Lorichius’ zueinander gefunden haben. Ebenso wie Wickram in mehreren Prologen zu Wort kommt, äußert sich auch Gerhardt Lorich von Hadamar im Rahmen einer Zuschreibung über
_____________ 153 Stackmann, Karl: „Die Auslegungen des Gerhard Lorichius zur ‚Metamorphosen‘Nachdichtung Jörg Wickrams. Beschreibung eines deutschen Ovid-Kommentars aus der Reformationszeit.“ In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 86 (1967), Sonderheft, S. 120-160. 154 Bolte (Anm. 9), S. 39. 155 Stackmann (Anm. 62), S. 121f. 156 Stackmann (Anm. 62), S. 152. 157 Rücker (Anm. 1), S. 277-321.
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Motivation, Zielsetzung und Inhalt seiner Arbeit.158 Wichtiges Anliegen ist es für ihn, sich gegenüber seinem Förderer Eberhardten Rueden von Collenbergk / Meintzischem Churfuerstlichen Hoffmeister159 für dessen Unterstützung erkenntlich zu zeigen und dessen Förderung der heyligen Catholischer warheit160 durch eine christliche Auslegung der heidnischen Geschichten Ovids umzusetzen. Lorichius befürchtet, das solich werck / schlecht sonder alle Außlegung inn den tag gethan / eyn groß ergernüß dem gemeinen unverstendigem mann geberen würd161 und entschließt sich daher eyn Außlegung der Sitten inn das gedacht werck zu beschreiben.162 Dabei wiederholt Lorichius mehrfach den Nutzen der Lektüre heidnischer Schriftsteller und führt aus, dass diese den unterscheidt deß tags und der nacht / Christi und deß Jovis / das ist deß waren Gottes und deß betrüglichin Teuffels163 verdeutlichen und somit den Weg zum wahren Glauben aufzeigen. Zwei weitere Aussagen, die Lorichius im Rahmen seiner Zuschreibung macht, sind für die spätere Analyse seiner Auslegung der Philomela-Episode von Bedeutung. Zum einen beteuert er, dass er seinen Kommentar unter großem Zeitdruck und ohne seine Bücher anfertigen musste. Zum anderen berichtet er, die „Metamorphosen“ vor etlichen Jahren mit seinen Schülern schon einmal gelesen, und anlässlich seiner Auslegungen noch einmal konsultiert zu haben. Man würde vermuten, dass Lorichius seine Auslegungen unmittelbar an die jeweilige Episode des Wickram’schen Textes anknüpft. Entgegen dieser Annahme folgt er mit den Moralisierungen jedoch einer komplizierten und nicht immer konsequent durchgeführten Struktur, mit der Wickram die „Metamorphosen“ in sog. ‚Figuren‘ unterteilt. Dieser Ausdruck, der sowohl bei Wickram als auch bei Lorichius sehr vage verwendet wird, bezeichnet mehrere Dinge gleichzeitig. Zum einen benennt Wickram die Holzschnitte als ‚Figuren‘, die die einzelnen Episoden illustrieren. Doch nicht jede Episode wird mit einem Holzschnitt versehen. Wickram unterteilt die einzelnen der insgesamt fünfzehn Bücher der „Metamorphosen“ in je drei Teile, wobei er jedes dieser Buchdrittel ebenfalls ‚Figur‘ nennt. Jedem Buchdrittel gehen ein Holzschnitt sowie eine kurze, gereimte Inhaltsangabe voran. Beendet wird es mit einer Auslegung der vorangehenden Episoden durch Lorichius. Schließlich kann das Wort ‚Figur‘ auch eine einzelne Verwandlungssage bedeuten, wird dabei oft gleichbedeutend mit exemplum gebraucht und bezeichnet so eine „Erzählung, die neben
_____________ 158 159 160 161 162 163
S. 33, Z. 11f. S. 14, Überschrift. S. 18, Z. 9. S. 18, Z. 19-21. S. 18, Z. 1f. S. 23, Z. 9-11.
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ihrem buchstäblichen auch einen übertragenen Sinn hat.“164 Zur Aufteilung der einzelnen Bücher in ‚Figuren‘ muss hinzugefügt werden, dass die einzelnen Buchdrittel nicht immer mit dem Ende einer Geschichte übereinstimmen und daher einzelne Episoden auseinander gerissen werden. So auch die Geschichte der Philomela. Diese beginnt innerhalb des zweiten Drittels des sechsten Buches der „Metamorphosen“, wird jedoch durch das Ende des zweiten Drittels und somit durch Lorichius’ Auslegung der vorangehenden Episoden unterbrochen. Mit Beginn des dritten Buchdrittels, also der dritten ‚Figur‘, wird die Geschichte Philomelas fortgesetzt und durch einen Holzschnitt eingeleitet, der den Mythos illustriert. Unter dem Holzschnitt befindet sich eine Inhaltsangabe der Episode, in der nicht nur das Geschehen des Philomela-Mythos zusammengefasst, sondern auch die dem Mythos nachfolgende Geschichte des Boreas in zwei Versen angedeutet wird. Auch die Auslegung Lorichius’ am Ende des dritten Buchdrittels berücksichtigt nicht nur die Philomela-Episode: Entsprechend der Wickram’schen Aufteilung in ‚Figuren‘ befindet sie sich ‚im Paket‘ mit zwei weiteren Episoden. So legt Lorichius entsprechend der Reihenfolge seiner lateinischen Vorlage zunächst die Episode des Pelops aus, um sich danach dem Philomela-Mythos zuzuwenden und schließlich mit der Auslegung der Fabel von Boreas und Oreithyia das sechste Buch zu beenden. Die Auslegung des Philomela-Mythos durch Lorichius umfasst insgesamt dreiunddreißig Zeilen und ist somit der umfangreichste Teil der Auslegung der dritten ‚Figur‘. Zunächst wird das Geschehen des Mythos kurz zusammengefasst, ein Verfahren, das sich als eine der wenigen Konstanten im Aufbau fast aller Auslegungen beobachten lässt. Dabei beschränkt sich der Autor auf wenige Sätze und trifft somit eine Auswahl an inhaltlichen Komponenten des Mythos, die er als erwähnenswert erachtet und auf die er sich im weiteren Verlauf seiner Auslegung konzentriert. Da sich die Zusammenfassung der Handlung mit wenigen Sätzen begnügt, soll sie hier vollständig zitiert werden: Diser Tereus beschlafft seiner haußfrawen schwestern / schneid ir danach die zung ab. Sein haußfraw Progne will sollich ubel rechen / erwuergt ir eygen kindt. Item sie kocht das und gibs dem vatter zu essen / werden also samptlich verwandelt / Tereus zuo eynem Widhop / Progne zuo eyner Wachteln / Ithys zuo eyner Schwalb / Philumela zuo eyner Nachtigal.165
Erstaunlicherweise begegnet uns zu Beginn dieser rudimentären Inhaltsangabe ein ähnliches sprachliches Phänomen, wie wir es bereits im Wickram’schen Text beobachten konnten: Anstatt Philomela bei ihrem Namen zu nennen, wird sie als Tereus’ haußfrawen schwestern bezeichnet. Ihr
_____________ 164 Stackmann (Anm. 62), S. 124. 165 S. 382, Z. 8-12.
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Eigenname taucht erst wenig später bei der Schilderung der einzelnen Metamorphosen auf. Die Tatsache, dass auch Progne mit dem Attribut der haußfraw versehen wird, und auch Itys nicht mit seinem Eigennamen, sondern als Prognes eygen kindt eingeführt wird, macht deutlich, dass auch Lorichius den Schwerpunkt seiner Auslegung auf das Überschreiten der verwandtschaftlichen Grenzen zu legen scheint. Inzest und Verstümmelung verknüpft Lorichius lediglich temporal (schneid ir danach die zung ab) und verzichtet damit auf eine Erklärung der Tat, deren Motivation – das gewaltsame Verhindern der Verbalisierung von Tereus’ Verbrechen – tatsächlich keiner expliziten Erklärung bedarf, sondern aus dem Geschehen des Mythos gefolgert werden kann. Ebenfalls verzichtet Lorichius auf die Darstellung der stummen Kommunikation der Schwestern durch das Gewebe und schließt direkt eine Schilderung der Rache Prognes an, wobei er die Tat des Tereus als ubel verurteilt. Während die knappe Schilderung Lorichius’ bis dahin mit den Elementen der Erzählung Wickrams übereinstimmte, lässt sich nun eine erste Abweichung beider Texte von einander beobachten. Obwohl Wickram ausführlich darüber berichtet, dass Progne ihr Kind mit dem Schwert des Vaters erschlägt und Philomela ihm schließlich mit derselben Waffe den Kopf abschneidet, ist es bei Lorichius allein Progne, die ihren Sohn tötet, kocht und dem Vater serviert. Auch ersticht sie ihn nicht mit dem Schwert, sondern erwürgt ihn. Zwar handelt es sich bei dem attackierten Körperteil in beiden Varianten um den Hals des Kindes, der als Sprachorgan implizit auf den Stimmverlust Philomelas verweist und Itys somit in seinem Tod ihr Schicksal teilen lässt, doch ist ein Unterschied zwischen Wickram und Lorichius klar zu erkennen. Ernsthafte Zweifel darüber, ob Lorichius tatsächlich die Wickram’sche und keine andere Fassung des Mythos auslegt, kommen schließlich an der Stelle auf, an der sich Lorichius zu den Vögeln äußert, in die sich die einzelnen Figuren verwandeln. Während beide Texte darüber berichten, dass sich Tereus in einen Wiedehopf und Philomela in eine Nachtigall transformiert, wird bei Lorichius Progne zu einer Wachtel und Itys zu einer Schwalbe. Somit verändert der Autor nicht nur die Metamorphose Prognes, sondern fügt selbständig die des Itys hinzu, über dessen Verwandlung sich Wickram ebenso wie fast alle weiteren Varianten des Mythos ausschweigen. Für den Abschnitt der Inhaltsangabe des Mythos lässt sich festhalten, dass Lorichius sich auf die Darstellung der inzestuösen Beziehung zwischen Tereus und seiner Schwägerin konzentriert und gleichzeitig die gewaltsame Dimension des Geschehens - das Abschneiden der Zunge, das Töten des Itys, das Einverleiben durch den eigenen Vater – hervorhebt. Dabei wird die Motivation der Figuren für ihr Handeln (z.B. Schönheit Philomelas, barbarische Herkunft des Tereus, Ähnlichkeit von Tereus und
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Itys) ebenso vernachlässigt wie die verknüpfenden Elemente der benannten Handlungssequenzen (Anfertigung des Gewebes durch Philomela; Befreiung und heimliche Überführung Philomelas an den Königshof durch Progne). Einen dritten Schwerpunkt setzt Lorichius schließlich auf die Beschreibung der Metamorphose. Dies wirft aufgrund der inhaltlichen Abweichung gegenüber Wickram die Frage auf, inwiefern sich Lorichius bei der Anfertigung seiner Moralisierungen auf den Wickram’schen Text bezieht bzw. wie unabhängig von diesem er arbeitet. Aufgrund der Tatsache, dass der Wickram’sche Mythos den Auslegungen Lorichius’ fast unmittelbar vorausgeht, erstaunt diese deutliche inhaltliche Abweichung in besonderem Maße. Beschäftigt man sich mit der Entstehungsgeschichte der Wickram’schen „Metamorphosen“ sowie den Aussagen Lorichius’, die er im Rahmen seiner Zuschreibung macht, so drängt sich die folgende Erklärung auf, die auch Stackmann und Rücker als Grund für die häufig zu beobachtenden Differenzen beider Fassungen vermuten: Lorichius hat seine Auslegungen so gut wie unabhängig von Wickrams Text angefertigt. Für diese Vermutung sprechen mehrere Argumente. Zunächst äußert Lorichius selbst, dass ihm das werck spat zu handen kommen / so alle Figuren schon gefertigt waren.166 Demnach stand zu Beginn seiner Arbeit die Einteilung in Figuren bereits fest, und er musste sich mit seinen Auslegungen an diese Struktur halten. Wickram hat seinen Text demnach vor Lorichius angefertigt. Darüber hinaus beobachtet Stackmann einen Fehler in der Buchstruktur, bei dem sich die Auslegung des zehnten Buches hinter dem dritten statt hinter dem siebten Kapitel befindet. Diese Unstimmigkeit ließe sich am ehesten durch ein Versehen der Druckerei erklären, die zwei getrennte Manuskripte – eines von Wickram und eines von Lorichius – zusammenführen musste. Jemandem, der wie Wickram und Lorichius mit dem Aufbau des Buches vertraut war, dürfte dieser Fehler kaum unterlaufen sein. Auch behandelt Lorichius mehr als einmal Dinge in seinem Kommentar, die im Wickram’schen Text gar nicht vorkommen.167 Gepaart mit der zeitlichen Berechnung Boltes, dass Lorichius nur ein knappes halbes Jahr zur Anfertigung seines Manuskriptes zur Verfügung stand, spricht dies für eine flüchtige Arbeit Lorichius’ und seiner lediglich oberflächlichen Kenntnis des Wickram’schen Textes. Dazu kommt, dass er in seiner Zuschreibung äußert, er habe vor einigen Jahren die „Metamorphosen“ Ovids mit seinen Schülern gelesen und das Werk anlässlich der Anfertigung seiner Auslegungen noch einmal eingesehen.168 Dies lässt vermuten, dass er seine Kommentare weniger mit dem Wickram’schen, als mit
_____________ 166 S. 32, Z. 20f. 167 Stackmann (Anm. 62), S. 128. 168 Wickram (Anm. 1), S. 28.
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dem Ovid’schen Text an der Seite verfasst hat. Diese Feststellung bietet nicht nur eine Erklärung für die inhaltlichen Differenzen beider Texte. Sie ist auch in sofern bedeutsam, als dass wir den Text Lorichius’ somit als eine relativ eigenständige Lesart der Ovid’schen ‚Philomela‘ bewerten können. Gleichzeitig liefern die Elemente der Auslegung Lorichius’, die nicht aus dem Wickram’schen Text herrühren und auch bei Ovid nicht ausgeführt werden – wie z.B. die Präzisierung der „Metamorphosen“ in Vögel – eine weitere Variante des Mythos. Ob es sich dabei um ein Textzeugnis handelt, das eine unabhängige Tradierung des Mythos widerspiegelt, die zur Zeit Lorichius’ im Umlauf war, oder ob es sich lediglich um eine persönliche Interpretation des Geistlichen handelt, ist nur schwer festzustellen. Es zeigt sich jedoch bei beiden Texten trotz ihrer Eigenständigkeit eine ähnliche Schwerpunktsetzung bei der Interpretation des Mythos. Nach der Zusammenfassung des Inhalts geht Lorichius zum zweiten Schritt seiner Auslegung über, der sich ebenfalls in einigen seiner Moralisierungen beobachten lässt und darin besteht, Argumente dafür vorzubringen, die die Wahrheit der dargestellten Verwandlung noch heute belegen: Diß also zu bezeugen / sein noch heut bei tag genugsam argument.169 Dabei konzentriert sich Lorichius darauf, die Eigenschaften der einzelnen Figuren in der Bedeutung der Tiere wieder zu finden, die er – ähnlich den mittelalterlichen Bestiarien – ausführlich erklärt. So begründet er die Metamorphose des Tereus folgendermaßen: nemlich daß der Widhop eyn unreyner vogel ist / der inn sein eygen nest scheist / wie dann auch der Tereus. […] Wie nun diser Tereus sein eygen schwaegerin und haußfrawe geschendt hat / muoß er nun inn seinem eygenem quadt sitzen.170 Während Ovid den helmartigen Kopfschmuck des Wiedehopfs noch durch das kriegerische Verhalten des Tereus erklärte, und Wickram dies inhaltlich übernimmt, jedoch bereits mit einer deutlichen Anspielung auf dessen sexuelle Verfehlung versieht,171 konzentriert sich Lorichius nun völlig mit seiner Auslegung auf den Inzest Tereus’ mit seiner Schwägerin. Dabei ist die verbotene Beziehung zwischen Tereus und Philomela nicht die einzige, die er als Inzest anprangert. Ein weiteres Mal weicht Lorichius von seiner Vorlage ab, indem er an die Beschreibung des Wiedehopfs relativ unvermittelt folgenden Satz anfügt: REVELAVIT TURPITUDINEM SORORIS UXORIS,172 und diesen Satz selbst mit Der Ketzer hat seiner haußfrawen schwester scheme entdeckt unmittelbar danach übersetzt.173 Da Lorichius in seine Auslegungen oft lateinische Zitate ein-
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S. 382, Z. 12f. S. 382, Z. 13-22. V. 1478; Eyn langer schnabel ward sein spies / Damit er vormals schoß und stieß. S. 382, Z. 15 (Hervorhebungen im Text). S. 382, Z. 15f.
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fließen lässt, ist dieser Einschub nichts Ungewöhnliches, auch wenn er – entgegen seiner sonstigen Gewohnheit - nicht die Quelle seines Zitats angibt. Zwar lässt sich die Bedeutung dieser Aussage im Zusammenhang mit dem Inhalt des Mythos nicht vollkommen aufschlüsseln, doch drängen sich zwei verschiedene Interpretationen auf: Nach dem lateinischen Einschub äußert sich Lorichius in wenigen Sätzen über den Inzest. Dabei setzt er Ketzerei und Inzest gleich,174 und definiert als Inzest so sich die nechsten bluotverwanten und gesipten beschlaffen oder undter eynander freihen.175 Da Ketzer laut seiner weiteren Definition wider die Gesetze handeln, und auch Inzest gegen die Gesetze verstößt, seien beide als dasselbe Verbrechen anzusehen. Aufgrund seiner Ausführung ist also stark zu vermuten, dass es sich bei der scheme, wie Lorichius das lat. turpitudinem übersetzt, um den Inzest handelt, den er Philomela zur Last legt. Wenn Tereus die scheme Philomelas „entdeckt“ (lat. relevavit; entdecken, aufdecken), so kann damit nicht die inzestuöse Verbindung zwischen Philomela und Tereus gemeint sein, sondern eine weitere unmoralische Verbindung derselben. Da sich Lorichius lediglich sehr vage ausdrückt, wäre es zum einen möglich, dass er auf die Beziehung von Philomela und Pandion anspielt, die sowohl bei Ovid als auch bei Wickram mehr oder weniger deutlich als Inzest dargestellt wird. Darüber hinaus ist denkbar, dass es die Beziehung der beiden Schwestern untereinander ist, die er als ‚ketzerisch‘ oder ‚inzestuös‘ disqualifiziert, da auch diese in ihrer Intensität eine lediglich schwesterliche Zuneigung weit überschreitet. Lorichius beendet seine Reflexion über die Verwandlung des Tereus mit dem Verweis auf drei weitere Autoritäten, um seine Ausführungen über den Wiedehopf zu untermauern. Zum einen zitiert er St. Ambrosius, der inzestuöse Ehen ebenfalls verurteile,176 zum anderen eine nicht näher bezeichnete Glosse, die den Leviticus folgendermaßen charakterisiere: UPUPA EST LUGUBRIS AVIS, LUCTUM AMANS.177 Auch dieses lateinische Zitat übersetzt Lorichius im darauf folgenden Satz selbst: Das ist / der Widhopff ist eyn leyd vogel / ist gern wo leyd und jamer ist.178 Diese Charakterisierung, die sich auf den ersten Blick nur schwer auf die Geschehnisse des Mythos übertragen lässt, erklärt Lorichius kurzerhand, indem er feststellt: Schickt sich wol auff alle ketzer / so gemeyniglich nichts stifften dann jamer und leydt.179 Abschließend zitiert er Isidor von Sevilla, der über den Wiedehopf berichtet, dass er gerne auf Gräben und in menschlichem Unrat niste
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S. 382, Z.16f.; Incestus wirt gemeynlich ketzerei genant. S. 382, Z. 17f. S. 382, Z. 20f.; S. Ambrosius sagt / das nie guots auß sollichen Ehen entstanden sei. S. 382, Z. 23 (Hervorhebungen im Text). S. 382, Z. 23f. S. 382, Z. 25f.
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und dessen Kopfschmuck noch heute über seine königliche Herkunft Zeugnis ablege. Dieses Zitat lässt Lorichius unkommentiert und benutzt den Verweis auf die königliche Abstammung als Überleitung zur Auslegung der Verwandlung Prognes. Festzuhalten bleibt, dass Lorichius die Metamorphose des Tereus durch dessen Inzest begründet und dabei soweit wie möglich versucht, Inzest und exkrementöses Nistverhalten des Wiedehopfs aufeinander zu übertragen: Sexuelle Beziehungen zwischen nahen Verwandten werden von ihm mit der Existenz im eigenen Unrat gleichgesetzt, eine kühne, dem modernen Leser geradezu absurd erscheinende Interpretation, die Stackmann recht gibt, der den Umgang Lorichius’ mit seiner Vorlage als eine Textauslegung bezeichnet, die „an Willkür […] kaum noch überboten werden kann.“180 Auch das Anführen lateinischer Zitate sowie deren Übertragung und Auslegung im Hinblick auf den Mythos erscheinen höchst assoziativ. Die Verwandlung Prognes in eine Wachtel wird von Lorichius ebenfalls durch ihre königliche Herkunft erklärt, die sich weniger durch ihr Äußeres, als vielmehr durch ihr schmackhaftes Fleisch offenbart, welches noch heute dem Adel vorbehalten ist und somit weiterhin auf ihre aristokratische Herkunft verweist: Gschmeckt nach vom Adel / die edelleudt essen sie auch gern / verbieten sie den bawern / als das sie unwirdig seien / sollich edel fleysch zu essen.181 Diese im Gegensatz zum Wiedehopf ungleich kürzere Auslegung wird von Lorichius ebenfalls durch einen lateinischen Ausspruch Camesters untermalt, der die Wachtel als AVEM REGIAM,182 d.h. als königlichen Vogel bezeichnet. Auch wenn hier ebenfalls der Erklärungsversuch Lorichius’ jeglicher fundierter Begründung entbehrt und sich die Interpretation der Metamorphose Prognes in eine Wachtel durch ihr kostbares Fleisch nicht gerade aufdrängt, benennt Lorichius – möglicherweise unbewusst – einen der zentralen Punkte des Mythos, den des Einverleibens. Ebenso wie der Erklärungsversuch des Wiedehopfs zwar absurd ist, jedoch mit dem Inzest einen wichtigen Punkt der inhaltlichen Konzeption des Mythos thematisiert, legt Lorichius auch hier seinen Finger auf eine wesentliche Konstituente der Geschichte, so zufällig und ‚an den Haaren herbeigezogen‘ seine Begründung auf den ersten Blick auch scheinen mag. Ebenso knapp wie der Kommentar zur Verwandlung Prognes geraten auch seine Erklärungsversuche zu Schwalbe und Nachtigall. Dabei gelingt ihm die Begründung der Metamorphose im Gegensatz zu den vorangegangenen um einiges überzeugender. So benennt er zwei Gründe für die
_____________ 180 Stackmann (Anm. 62), S. 132. 181 S. 382, Z. 29-31. 182 S. 382, Z. 29.
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Transformation des Itys: zum einen das blutig-schwarze Federkleid, das seinen Mord in Erinnerung ruft, zum anderen die Vorliebe der Schwalbe, in Häusern zu nisten, denn sie mag nit inn den welden und eckern bei vatter und mutter nesten.183 Das erste Argument unterstreicht Lorichius wiederum durch ein lateinisches Zitat, wobei er sich als Quelle auf einen Poeten beruft, den er nicht näher benennt: dann also sagt der Poet. / NEQUE ADHUC DE PECTORE CAEDIS / EXCESSERE NOTAE SIGNATAQUE SANGUINE PLUMA EST.184 Über die Verwandlung Philomelas äußert sich Lorichius lediglich in einem einzigen Satz, der den Gesang der Nachtigall auf Philomelas vorherige Stummheit zurückführt. Dabei benennt Lorichius allein die Lautstärke der Nachtigall als Beleg für die Metamorphose: wie sie eyn stumme Jungfraw ist gewesen / ist sie nun zum gegen theyl eyn lautsingender vogel.185 Es scheint so, als habe Lorichius die Länge seiner Auslegungen daran bemessen, wie erklärungsbedürftig er selbst die einzelnen Metamorphosen bewertet hat bzw. was für Material ihm zur Verfügung stand, um seine Ausführungen zu belegen. Während er bei der Verwandlung des Wiedehopfs etwas weiter ausholen musste, um seine Auslegung plausibel zu machen und auf den Mythos anzuwenden, lagen ihm die Begründungen für die Verwandlung von Schwalbe und Nachtigall eher auf der Hand und konnten aufgrund der äußeren Erscheinung bzw. des charakteristischen Verhaltens der Vögel in wenigen Sätzen abgehandelt werden. Schließlich beendet Lorichius seine Auslegung, indem er feststellt: Also sicht jederman das diß Fabel artig und kunstreich ist / wider die hoff unkeuschheyt / so von grossem muotwil und wollust kompt.186 Damit unterstreicht er noch einmal das seiner Meinung nach wesentliche Laster, auf das er ebenfalls in seiner Auslegung den Schwerpunkt legt, nämlich die Unkeuschheit. Folgende Ergebnisse können nach der Analyse der Auslegung des Philomela-Mythos durch Lorichius festgehalten werden: Es bestätigen sich die meisten der von Stackmann und Rücker gemachten Beobachtungen bezüglich Aufbau, Flüchtigkeit und Abweichung der Auslegungen gegenüber dem Wickram’schen Text. Auch der oftmals assoziative Charakter der Moralisierungen lässt sich in der hier untersuchten Passage wiederfinden, ebenso wie das Einstreuen zahlreicher antiker Autoren und Kirchenväter, deren Identitäten jedoch mehr als einmal vage bleiben. Da Lorichius in seiner Zueignung wiederholt beklagt, seine Bücher nicht einsehen zu kön-
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S. 382, Z. 36f. S. 382, Z. 32-34 (Hervorhebungen im Text). S. 382, Z. 37f. S. 382, Z. 38-40.
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nen, gleichzeitig zahlreiche Autoritäten zitiert und augenscheinlich die „Metamorphosen“ Ovids vorliegen hatte, schließe ich mich der Vermutung Rückers an, die die diesbezüglichen Aussagen Lorichius’ folgendermaßen erklärt: Da sich dieser zum Zeitpunkt der Abfassung seiner Auslegungen zu Meyntz / imm Augustiner Kloster befunden hat,187 und ihm dort sicherlich zahlreiche Bücher der Klosterbibliothek zur Verfügung standen, handelt es sich wohl um seine gewiss an manchen Stellen gekennzeichneten persönlichen Werke, die er vermisst. Entgegen der Ansicht Stackmanns, der die Auslegungen als „gehäufte Notizen“188 bezeichnet und keine rechte Ordnung in ihnen ausmachen kann, zeigt sich bezüglich der Auslegung der „Philomela“ ein anderer Befund. Auch wenn dort ebenfalls die Erklärungen für die einzelnen Metamorphosen wirr und zufällig erscheinen, berühren sie doch drei für die Interpretation des Mythos zentrale Punkte, nämlich Inzest, Inkorporierung sowie die Dichotomie Reden/Schweigen. Besonders bemerkenswert ist dabei die Übereinstimmung mit der Schwerpunktsetzung Wickrams, die trotz der höchstwahrscheinlich unabhängigen Textproduktion beider Autoren mit der Lorichius’ übereinstimmt und ebenfalls einen starken Akzent auf die sexuelle Überschreitung der familiären Grenzen legt. Diese Übereinstimmung zeigt sich nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich, wenn Lorichius ebenso wie Wickram die Eigennamen zu Gunsten der Nennung des Verwandtschaftsgrades weglässt und somit den Aspekt des Inzests in den Vordergrund rückt. Wurde die Betonung der familiären Bindungen, die bei Wickram in besonderem Maße zu beobachten war, von der Forschung als sprachliche Eigenheit desselben und darüber hinaus als völlig unnötig, ja sogar als „Sucht“189 bezeichnet, so erhärtet sich mit der ähnlichen Beobachtung bei Lorichius die These, dass es sich weniger um ein stilistisches Charakteristikum, als vielmehr um ein bewusstes Hervorheben der verwandtschaftlichen Beziehungen und somit der inzestuösen Dimension des Mythos handelt. Insgesamt sind Lorichius’ Auslegungen nicht als Textexegese gemäß des mittelalterlichen Allegorese-Systems zu bewerten. Dies ist nicht verwunderlich, da Lorichius „in einer Zeit ans Werk [geht], die schon mancherlei Zweifel an Zulässigkeit und Brauchbarkeit mittelalterlicher Auslegungskünste hegt. Die Dunkelmännerbriefe haben darüber gespottet, Erasmus hat sich dagegen erklärt, Luther sein Odi allegoriam gesprochen, und wenige Jahre nach dem ersten Erscheinen der
_____________ 187 S. 33, Z. 7f. 188 Stackmann (Anm. 62) S. 156. 189 Heinzmann (Anm. 2), S. 19.
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Wickram’schen Metamorphosen kommen die allegorischen Ovid-Interpretationen auf den Index.“190
Zwar lassen sich in der Auslegung der Philomela-Episode sprachliche Kennzeichnungen finden, die den Übergang von der Inhaltsangabe zur Auslegung deutlich machen,191 und Rücker beobachtet ebenfalls in der Gesamtheit der Kommentare zahlreiche Anspielungen Lorichius’ auf den mehrfachen Schriftsinn,192 doch führt dieser weder in seinem PhilomelaKommentar, noch in der großen Mehrzahl der anderen Auslegungen die Metamorphosen auf die Bibel oder andere christliche Texte zurück. Vielmehr scheint ihm daran gelegen zu sein, allgemeine Missstände der Gesellschaft anzuprangern, was er u.a. in seinem Schlusssatz der PhilomelaAuslegung zum Ausdruck bringt, wenn er die hoff unkeuschheyt193 verurteilt und somit auf die Gepflogenheiten an den Fürstenhöfen anspielt. Neben der offensichtlichen Anlehnung an die Bestiarien des Mittelalters ist ebenfalls die Vorstellung mittelalterlich geprägt, dass Dichtung eine „eingekleidete Wahrheit“ sei,194 „Tugend- und Glaubensallegorie“,195 und dass daher dem Leser bei der Lektüre exegetische Grundsätze an die Hand gegeben werden müssen. So tragen die Texte Lorichius’, auch wenn sie keine Auslegungen entsprechend des vierfachen Schriftsinns sind, einen Teil des mittelalterlichen Literatur- und Mythenverständnisses in die Frühe Neuzeit hinüber. Gleichzeitig stellt die Auslegung der Philomela-Episode durch Lorichius ein wertvolles Textzeugnis dar, da sie uns eine vom Wickram’schen Text weitgehend autonom existierende Lektüre des antiken Mythos überliefert. Dies ist umso interessanter, als dass beide Autoren unabhängig voneinander einen Schwerpunkt auf die moralische Bewertung des Geschehens setzen.
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Stackmann (Anm. 20), S. 243. S. 382, Z. 12f.; Diß also zu bezeugen / sein noch heut bei tag genugsam argument. Vgl. Rücker (Anm. 1), S. 295f. S. 382, Z. 39f. Stackmann (Anm. 62), S. 159. Stackmann (Anm. 62), S. 159.
Dritter Teil Beständigkeit trotz Varianz: Die Mytheme des Mythos I. Die Poetik der Zeichen: Das Gewebe Philomelas Die zentrale Bedeutung des Gewebes innerhalb des Philomela-Mythos wurde bei der Analyse der einzelnen Primärtexte mehrfach erwähnt und seine inhaltliche Komplexität dadurch bereits indirekt deutlich gemacht. Auch die Forschung greift sich bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Mythos das Gewebe gern als konkretes Demonstrationsobjekt oder Metapher für die Stimme Philomelas heraus. Diese Beobachtung manifestiert sich ebenfalls in verschiedenen Aufsatztiteln oder Buchkapiteln, die auf das Gewebe rekurrieren.1 Paradigmatisch für das Verständnis des textilen Textes als Artikulationsmedium der stummen Frau in einer patriarchalen Gesellschaft hat sich dabei eine Formulierung aus der Sophokles’schen Tragödie „Tereus“ etabliert, in welchem Philomelas Kommunikationsform als „Stimme des Webschiffchens“ bezeichnet wird.2 Bei näherer Betrachtung erweist sich die gewebte Kommunikation jedoch nicht nur als Objekt feministischen Widerstands, als besonders originelles Motiv innerhalb der griechisch-römischen Mythologie sowie als mittig platzierter Dreh- und Angelpunkt der Struktur des Textes, was bei der Analyse der Ovid’schen Fassung des Mythos deutlich gemacht wurde.3 Vielmehr handelt es sich um ein äußerst vielschichtiges Mythem, das in allen in dieser Arbeit untersuchten Varianten des Mythos verwendet wird, und in dem
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2 3
Vgl. u.a. Klindienst Joplin, Patricia: „The voice of the shuttle is ours.“ In: Stanford Literature Review 1/1 (1984), S. 25-53; Heffernan, James A. W.: „Weaving Rape. Ekphrastic Metamorphoses of the Philomela Myth from Ovid to Shakespeare.“ In: Ders.: The Museum of Words. The poetics of ekphrasis from Homer to Ashbery. Chicago, London 1993, S. 46-90; Miller, Nancy K.: „Arachnologies: The Woman, The Text and the Critic.“ In: The Poetics of Gender. Hg. v. Nancy K. Miller. New York 1986, S. 270-295; Hartmann, Geoffrey: „ ,The voice of the shuttle‘: Language from the Point of View of Literature.“ In: Ders.: Beyond Formalism. Literary Essays 19581970. New Haven, London 1970, S. 337-355. Vgl. dazu S. 61, Fußnote 59. Vgl. das Kapitel „Die Struktur der Lust (Ovid, „Metamorphosen“ VI, V. 412-674)“.
Das Gewebe Philomelas
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zahlreiche Fäden seiner inhaltlichen Konzeption zusammenlaufen.4 Dass es sich bei dem Gewebe Philomelas um das inhaltliche und poetologische Herzstück des Mythos handelt, soll in diesem Kapitel gezeigt werden. So bedeutsam das Gewebe für das Verständnis des Mythos ist, so unscheinbar und knapp wird es in den „Metamorphosen“ beschrieben. Lediglich zwei Verse widmet Ovid dem Gegenstand, wobei sowohl die Beschaffenheit des Tuches selbst, als auch dessen, was Philomela hineinwebt, unklar bleibt: purpureasque notas filis intexuit albis indicium sceleris.5 Obwohl das lateinische notas gleichermaßen als Schriftzeichen und bildhafte Darstellung interpretiert werden kann, wird in den unterschiedlichen Übersetzungen dieser Passage die Übertragung als ‚Schriftzeichen‘ bevorzugt.6 Ebenfalls findet sich die Übertragung als ‚Zeichen‘,7 was im Deutschen der sripto-pikturalen Vagheit der purpurfarbenen Botschaft entspricht. Der Terminus notas kennt jedoch noch weitere Bedeutungen, die in den Übersetzungen nicht berücksichtigt werden, die der Frage nach Schrift oder Bild noch eine weitere Bedeutungsebene hinzufügen und daher im Folgenden einen wichtigen Bestandteil bei der Interpretation einnehmen sollen. Nicht nur ‚Zeichen‘, sondern auch ‚Kennzeichen‘, ‚Merkmal‘, ‚Brandmal‘, ‚Etikett‘ sowie metaphorisch auch ‚Schimpf‘ oder ‚Beschimpfung‘ werden als Bedeutungen in den einschlägigen Lexika angegeben und lassen die Zeichen auf dem Gewebe zu Stigmata werden, die von der körperlichen und seelischen Schändung und Verstümmelung Philomelas künden.8 Die genaue Beschaffenheit der Zeichen bleibt nicht nur bei der Beschreibung ihrer Erstellung unklar, sondern auch im Moment ihrer Rezeption. Als Progne Philomelas Textur erhält, wird bei Ovid das Verb legere verwendet, das ebenfalls sowohl als das Lesen von Buchstaben, als auch das Mustern oder ins Auge fassen von Bildern übersetzt werden kann.9 Gleichzeitig vergrößert sich die mediale Verwirrung um einen weiteren
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Nicht erwähnt wird das Gewebe allerdings in den mittelalterlichen Auslegungen des Mythos. Sowohl bei Georg Wickram, als auch im „Ovide moralisé“ konzentrieren sich die Autoren auf die religiös-moralischen Implikationen des Textes, und weniger auf seine poetische Dimension. V. 577f.; Sie webt in den weißen Stoff die purpurnen Zeichen: der Untat Künder. Vgl. u.a. Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Das Buch der Mythen und Verwandlungen. Hg. v. Gerhard Fink. Düsseldorf, Zürich 2001, S. 181. Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Hg. v. Erich Rösch. München 1961, S. 227. Vgl. bspw. den Eintrag nota in Oxford Latin Dictionary. Hg. v. P.G.W. Glare. Oxford 1982, S. 1191f. Evolvit vestes saevi matrona tyranni, germanaeque sua carmen miserabile legit (V. 581f.; So entrollte die Ehefrau des wilden Tyrannen das Tuch, sie las den Jammerbericht von der Schwester Los).
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Die Mytheme des Mythos
Aspekt, der sich in dem lateinischen carmen verbirgt, als welches die textile Botschaft Philomelas ebenfalls bezeichnet wird. Zu der schrift-bildlichen Qualität der Textur tritt der musikalische Aspekt des Liedes oder Gesangs hinzu, der sich in der Übersetzung von Philomelas Botschaft als „Jammerbericht“ durch einen Anklang an das Klagelied niederschlägt, ansonsten weder in der Forschungsdiskussion bezüglich der Beschaffenheit der Zeichen, noch in der Übersetzung dieser Passage berücksichtigt wird.10 Erst am Ende des Mythos wird das Element der Musik bzw. des Gesangs durch die Verwandlung Philomelas in eine Nachtigall noch einmal aufgegriffen. Dazu kommt, dass nicht nur die Qualität der Zeichen im Unklaren bleibt, sondern auch die Beschaffenheit des Gewebes selbst nicht näher ausgeführt wird, denn das lateinische vestes kann eine Vielzahl unterschiedlicher Texturen bedeuten, die von ‚Teppich‘ über ‚Decke‘, ‚Wandbehang‘, ‚Kleidungsstück‘ oder ‚Spinnengewebe‘ reichen und dabei die verschiedensten Funktionen wahrnehmen können. Die unklare Beschaffenheit und Kürze bei seiner Beschreibung steht dabei im Gegensatz zu der eindrücklichen Wirkung, die das Gewebe und seine eingewirkte Botschaft auf seine Betrachterin Progne ausüben, sowie seine präzise Funktion, die es innerhalb des Mythos wahrnimmt und den weiteren Verlauf des Geschehens prägt. Sein Anblick ist für Progne so überwältigend, dass es ihr die Sprache verschlägt. Darüber hinaus ist es dazu in der Lage, die räumliche Distanz zwischen Philomela und ihrer Schwester zu überbrücken und eine Nachricht dort zu überbringen, wo Worte aufgrund verstümmelter Zunge und Scham versagen. Schließlich vermag es sogar, die Botschaft so zu vermitteln, dass sie allein durch die Empfängerin Progne entschlüsselt werden kann – der Magd, die die Textur überbringt, bleibt die Bedeutung der eingewirkten Geschichte verborgen.11 Wie lässt sich dieses rätselhafte Ungleichgewicht von verschwommener Materialität und passgenauer ‚Nachrichtenübermittlung‘ erklären? Worin besteht das Geheimnis dieser Kommunikationsform, die an die Stelle der verbalen Sprache tritt und diese an Funktionalität sogar überflügelt? Welche Elemente haben bewirkt, dass in der über tausend Jahre später entstandenen altfranzösischen Version des Mythos die zwei Verse Ovids von Chrétien de Troyes zu einer detaillierten Beschreibung des Gewebes ausgeweitet, und zu einem Paradebeispiel mittelalterlicher
_____________ 10 Eine Ausnahme bildet Huggan, Graham: „Philomela’s Retold Story: Silence, Music, and the Post-Colonial Text.“ In: Journal of Commonwealth Literature 1/25 (1990), S. 12-23. 11 illa rogata pertulit ad Prognem, nec scit, quid tradat in illis (V. 579f.; Die Magd, sie tut, wie gebeten, bringt zu Progne es hin und weiß nicht, was sie gebracht hat).
Das Gewebe Philomelas
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Ekphrasis geworden sind? Und aus welchem Grund hat sich der Aspekt der textilen Kommunikation als fester Bestandteil des Mythos in nahezu allen seinen Varianten bis in die zeitgenössische Literatur hinein erhalten?12 Diese Fragen sollen im Folgenden vorwiegend unter Zuhilfenahme der Ekphrasis-Forschung diskutiert werden, die zahlreiche Ansatzpunkte für die Analyse des Gewebes bietet und dieses teilweise selbst zum Untersuchungsgegenstand macht. Der aus der antiken Rhetorik stammende Begriff der ‚Ekphrasis‘ leitet sich von dem griechischen Verb ekphrazein ab, das als „völlig und restlos deutlich Machen“13 übersetzt werden kann und in die Rubrik der descriptio einzuordnen ist. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts löste sich der Begriff von seinen rhetorischen Ursprüngen ab und wurde weniger als ausführliche Beschreibung wie z.B. die von Kleidung, Personen oder Gegenständen verstanden, als vielmehr zur Bezeichnung der verbalen Darstellung von Kunstwerken verwendet.14 Im Zusammenhang mit dem sog. ‚pictorial turn‘, der die Geisteswissenschaften Ende der achtziger Jahre erfasste, entstanden vorwiegend im angloamerikanischen Raum zahlreiche Monographien zu diesem Thema, die die bereits seit der Antike existierenden Überlegungen zum ‚Konkurrenzkampf‘ von verbaler und visueller Kunst neu belebten, und innerhalb derer sich die Definition James Heffernans von Ekphrasis als „verbal representation of visual representation“15 weitgehend durchgesetzt hat. Das Oszillieren von Text und Bild, das vor dem geistigen Auge des Lesers entsteht, wenn er beim Lesen der Beschreibung eines bildhaften Kunstwerks dieses imaginiert und dabei gleichzeitig auf die Buchstaben eines Textes zurückgeworfen wird, ist so zum Paradebeispiel von Intermedialität geworden und damit in das Interessensgebiet einer Kulturwissenschaft gerückt, „in der kunst-, literatur- und medienwissenschaftliche Kompetenzen gleichermaßen gefragt sind.“16 Gleichzeitig steht neben dem Konzept der Intermedialität noch ein zweiter Schwerpunkt im Zentrum der aktuellen Ekphrasis-Debatte, der für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand von besonderer Bedeutung ist, und der
_____________ 12 Vgl. u.a. Timberlake Wertenbakers Drama „The love of the nightingale“ (1989) oder Christoph Ransmayrs Roman „Die letzte Welt“ (1988). 13 Graf, Fritz: „Ekphrasis. Die Entstehung der Gattung in der Antike.“ In: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. v. Gottfried Boehm u. Helmut Pfotenhauer. München 1995, S. 143-155, hier S. 143. 14 Zu Entwicklung und Stand der Forschung siehe Wandhoff, Haiko: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Berlin, New York 2003, S. 2-12. 15 Heffernan (Anm. 1), S. 3. 16 Wandhoff (Anm. 14), S. 3.
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Die Mytheme des Mythos
sich mit der Verknüpfung von Ekphrasis und Narrativität beschäftigt. In verbale Texte eingefügte Kunstbeschreibungen werden dabei aufgrund ihrer oftmals narrativ aufgebauten Struktur als „Erzählungen in Erzählungen“,17 „Hypoerzählungen“,18 „micro-narratives“19 oder „paranarratives“20 bezeichnet und erhalten die Funktion eines inter- bzw. intratextuellen Spiegels, eine Beobachtung, die innerhalb des Philomela-Mythos besonders deutlich sichtbar wird. Von der detaillierten Beschreibung eines Kunstwerks kann bei Ovid zunächst nicht die Rede sein. Die Darstellung des Gewebes erschöpft sich in zwei Versen, und die Beschaffenheit des Kunstwerkes selbst bleibt in mehrfacher Hinsicht unklar. Dass literarische Ekphrasen jedoch keineswegs Realität detailgetreu abbilden wollen, sondern es hingegen ihre Zeigefunktion ist, die die Imagination des Lesers anregt, welche ihrerseits schließlich die visuellen Bilder hervorbringt, betont bereits Gottfried Böhm: „Weil die Ekphrasen aufzeigen und nicht abschildern wollen (keine ‚sprachlichen Fotographien‘ zu liefern beabsichtigen), deswegen können sie bei Bedarf sehr kurz sein.“21 Auch Haiko Wandhoff führt aus, dass die Beschreibung von Kunstwerken nicht immer damit einhergeht, dem Leser eine exakt verbalisierte Imaginationsanweisung zu liefern. Bei der Darstellung der unterschiedlichen Positionen der Forschung unterscheidet er dabei neben dem intermedialen und dem narratologischen Zugang auch den Ansatz von Ekphrasis als Repräsentationstheorie, bei der der Schwerpunkt nicht entweder auf der Schnittmenge von Text und Bild oder der Funktion der Binnenerzählung einer Ekphrase liegt, sondern sich beide Elemente zu einer „Selbstreflexion ästhetischer Darstellungspraxis“22 zusammenschließen. Sowohl die Herstellung bzw. Gemachtheit eines Gegenstandes, als auch die Grenzen von schriftlicher und bildlicher Repräsentation finden zusammen zu einer Theorie der Darstellung und reflektieren damit Grenzen und Bedingtheit des literarischen Textes selbst, innerhalb dessen sich die Ekphrase befindet. Um dabei das Moment der
_____________ 17 Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Harald Haferland u. Michael Mecklenburg. München 1996. 18 Haferland/Mecklenburg (Anm. 17). 19 Beaujour, Michel: „Some paradoxes about Description.“ In: Yale French Studies 61(1981), S. 27-59, hier S. 33. 20 Blanchard, J. M.: „The Eye of the Beholder: On the Semiotic Status of Paranarratives.“ In: Semiotica 22 (1978), S. 235-268. 21 Böhm, Gottfried: „Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache.“ In: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. v. Gottfried Böhm u. Helmut Pfotenhauer. München 1995, S. 23-40, hier S. 35. 22 Wandhoff (Anm. 14), S. 11.
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Reflexion nicht hinter einer ‚sprachlichen Fotographie‘ verschwinden zu lassen, sondern die konkrete Imagination bewusst zu brechen, wird die Visualisierung des Kunstwerks regelrecht getrübt. Die eigentümlich unanschaulichen Bildkunstwerke des romantischen Malerromans, die Wandhoff als Beispiel für eine solche imaginative Brechung anführt,23 sind dabei ebenso schwer konkret vorstellbar wie die purpurnen Zeichen der Philomela bei Ovid, die eben nicht als „Fenster zum Realen“24 funktionieren, sondern gerade durch das Fehlen von Präzision die Imagination des Lesers stimulieren. Dass Elemente der Unbestimmtheit innerhalb eines Textes die Vorstellungskraft des Rezipienten anregen und dieser Kunstgriff zu den klassischen Strategien literarischen Schaffens, sowie der beim Lesen wirksamen Interaktion zwischen Leser und Text gezählt werden kann, führt Wolfgang Iser in seiner Analyse von Funktion und Struktur von sog. textuellen ‚Leerstellen‘ aus.25 Unter einer Leerstelle versteht er dabei das Aussparen eines Verbindungselementes zwischen zwei Text-Segmenten, das der Leser durch seine Imagination füllen muss. Die beiden miteinander zu verknüpfenden Segmente sind dabei nicht vollkommen neutral, sondern beinhalten bereits inhaltliche Elemente, die dem Leser die zu füllende Leerstelle signalisieren und so zu einem Akt der Imagination anregen. Der Inhalt der Leerstelle wird dabei durch die Funktion festgelegt, die das entsprechende Segment innerhalb des gesamten Textes erfüllt. „Leerstellen bezeichnen weniger eine Bestimmungslücke des intentionalen Gegenstandes bzw. der schematisierten Ansichten als vielmehr die Besetzbarkeit einer bestimmten Systemstelle im Text durch die Vorstellung des Lesers. Statt einer Komplettierungsnotwendigkeit zeigen sie eine Kombinationsnotwendigkeit an. Denn erst wenn die Schemata des Textes aufeinander bezogen werden, beginnt sich der imaginäre Gegenstand zu bilden, und diese vom Leser geforderte Operation besitzt in den Leerstellen ein zentrales Auslösemoment.“26
Die Überlegungen Isers lassen sich auf das Fehlen einer präzisen Darstellung des Gewebes bei Ovid übertragen. Auch hier bedeutet das NichtVorhandensein einer genauen Beschreibung keinesfalls, dass der Rezipient eine völlig leere Seite mit seiner Phantasie zu füllen hat. So unpräzise und kurz die Beschreibung des Gewebes bei Ovid auch ist, so geben die wenigen Elemente seiner Darstellung sowie der erzählerische Kontext des Mythos einen Rahmen vor, innerhalb dessen sich die Bilder, die vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen, formieren sollen.
_____________ 23 Wandhoff (Anm. 14), S. 11. 24 Wandhoff (Anm. 14), S. 12. 25 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1994. Zu den textuellen ‚Leerstellen‘ vgl. vor allem die Seiten 257-456. 26 Iser (Anm. 25), S. 284.
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Dabei spielen zunächst die Farben eine bedeutende Rolle. Philomela webt purpurfarbene Zeichen auf weißen Grund und verleiht damit den Zeichen neben dem kontrastierenden Effekt einen höchst symbolhaften Charakter: „The stark contrast between purple and white graphically express the bloody violation of her innocence.“27 Auf diese Weise wird auch die Frage nach Text oder Bild der Zeichen hinfällig, denn selbst wenn es sich um Buchstaben handeln würde, die Philomela webt, erhielten sie durch den rot-weißen Kontrast von Schrift und Hintergrund einen dezidiert graphischen Charakter.28 Die Konzentration auf die Frage nach Schrift oder Bild der Zeichen Philomelas erscheint an dieser Stelle somit wenig sinnvoll, denn sie lenkt den Blick ab von einem Aspekt der Körperlichkeit, der für die Funktion des Gewebes ebenfalls von größter Bedeutung ist und der in der Übersetzung der notas als ‚Kennzeichen‘, ‚Merkmal‘ oder ‚Brandmal‘ zum Ausdruck kommt. So ersetzt das ‚sprechende Tuch‘ nicht nur Philomelas Stimme, sondern repräsentiert ebenfalls ihren geschändeten Körper, die purpurnen Zeichen werden zum blutigen Symbol der Male von Gewalt und Scham, die sich in ihren Körper regelrecht eingeschrieben haben, unabhängig von ihrer tatsächlichen, schrift-bildlichen Beschaffenheit.29 Auf diese Weise gelingt es dem Tuch, einen Ersatz für die beiden wesentlichen Elemente zu leisten, die Philomela daran hindern, Progne persönlich von ihrem Schicksal zu informieren. Die Zeichen ersetzen sowohl die fehlende Stimme, als auch ihren gefangenen und mutilierten Körper, der somit zur „original page on which a tale was written in blood“30 wird. Über die symbolhaft aufgeladenen Farben hinaus impliziert das weitere Geschehen ebenfalls, was auf dem Gewebe dargestellt sein muss. Ver-
_____________ 27 Heffernan (Anm. 1), S. 47. 28 Dass ein solcher Kontrast die Imagination des Betrachters bis zur Hypnose anzuregen vermag und drei Blutstropfen im Schnee dazu genügen, ein weibliches Gesicht zu imaginieren, wird u.a im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach exemplarisch deutlich: Erst wenn der Schnee schmilzt und sich mit ihm die blutigen Zeichen auflösen, kann sich der Ritter vom Bann der imaginativ erzeugten Bilder lösen. 29 Die blutroten, schrift-bildlichen Zeichen der Gewalt, die den Köper markieren, weisen erstaunliche Parallelen zu Kafkas Erzählung ‚In der Strafkolonie‘ auf. Die Zeichen, die der darin beschriebene Apparat durch die sog. ‚Egge‘ in den Körper des Gefangenen einschreibt, bewegen sich ebenfalls zwischen Schrift und Bild. Dem Verurteilten wird dabei das Gebot, gegen das er verstoßen hat, durch Nadeln in den Leib geritzt, wobei die labyrinthartige, blutrote Schrift nur schwer zu entziffern ist. Gleichzeitig wird der Körper mit anderen Zeichen bedeckt. „Die wirkliche Schrift umzieht den Leib nur in einem schmalen Gürtel; der übrige Körper ist für Verzierungen bestimmt.“ Franz Kafka: In der Strafkolonie. In: Ders.: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt am Main 1970, S. 100-123, hier S. 107. 30 Joplin (Anm. 1), S. 52.
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gewaltigung und Verstümmelung Philomelas sowie der Ort ihres Gefängnisses werden Progne mitgeteilt, wie sonst hätte sie die Schwester befreien und von deren Schicksal erfahren können? Die Tatsache, dass allein Progne, nicht jedoch die Magd, die das Gewebe überbringt, die Botschaft entschlüsseln kann, wurde durch die Forschung ebenfalls dadurch zu erklären versucht, dass Philomela Schriftzeichen und keine Bilder auf dem Stoff darstellt - Bilder hätte die Magd als Laie verstehen können, nicht jedoch Buchstaben.31 Doch wird bei einer solchen Lesart des Textes bzw. der Beschränkung auf die Frage nach Text oder Bild ein weiteres Mal der Blick auf ein Element des Textes verstellt, das inhaltlich bedeutsam ist. So kann diese Passage ebenfalls dahingehend interpretiert werden, dass die Botschaft allein durch die Schwester nachvollzogen und im affektiven Sinne ‚verstanden‘ werden kann – nur sie ist dazu in der Lage, das Leid der Schwester ebenso stark wie diese zu empfinden. Diese Lesart wird durch eine ähnliche Stelle unterstützt, die sich in Maries de France „Laüstic“ befindet.32 Auch dort bleibt rätselhaft, ob der bestickte Stoff, den die höfische Dame durch einen Boten zu ihrem Liebsten bringen lässt, Bilder oder Schriftzeichen trägt. Doch geht es auch dort weniger um die konkrete, mediale Vermittlung der Nachricht als vielmehr um die Tatsache, dass sich die Liebenden trotz Entfernung verständigen können, ohne dabei Worte aussprechen zu müssen - ebenso wie bei Philomela und Progne steht das affektive Verständnis für das Schicksal des bzw. der anderen im Vordergrund. Neben der Beobachtung, dass Zeichen und Gewebe vage bleiben und auf diese Weise die Vorstellungskraft der Leser stimulieren, geht die Besonderheit des Tuches und das Fehlen einer konkreten Darstellung der Ereignisse über die grundsätzlichen theoretischen Überlegungen Isers hinaus, was durch den Inhalt dessen begründet wird, was auf dem Tuch Philomelas zu sehen ist. Im Gegensatz zur Schnitttechnik eines Fortsetzungsromans, die durch eine Unterbrechung des Erzählflusses bewusst Spannung erzeugen und die Phantasie der Leser anregen will, und die Iser als ein Beispiel dafür anbringt, dass sich der Leser im Augenblick nicht verfügbarer Information diese vorzustellen versucht, ist die Darstellung der Vergewaltigung, des Herausschneidens der Zunge sowie das Einschließen der auf diese Weise Geschändeten in ihrer Grausamkeit kaum darstellbar. So ist die fehlende Konkretisierung nicht nur Stimulus der
_____________ 31 Zur Diskussion der Frage nach Schrift oder Bild der Botschaft bei Ovid und Marie de France vgl. Freeman, Michelle A.: „Marie de France’s Poetics of Silence: The Implications for a Feminine Translatio.“ In: PMLA 99/4 (1984), S. 860-883, hier S. 880. 32 Vgl. das Kapitel „Die Präsenz des Philomela-Mythos in Maries de France Lai ‚Laüstic‘ “.
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Vorstellungskraft der Leser, sondern ebenso Resultat der nur schwer abzubildenden, unerträglichen Gewalt. Das gestalterische Potential, das sich durch eine solche Leerstelle ergibt, wird von den Autorinnen und Autoren der nachfolgenden, mittelalterlichen Philomela-Adaptationen auf unterschiedliche Weise ausgefüllt. In Maries de France „Laüstic“ wird die unklare Beschaffenheit der textilen Kommunikation beibehalten und sogar noch weiter verrätselt, in dem die Übermittlung durch das bestickte Gewebe gedoppelt wird durch einen Boten, der zusätzlich zu dem ‚sprechenden Stoff‘ auch eine mündliche Botschaft überbringt, deren Inhalt ebenfalls nicht näher ausgeführt wird. Die daraus resultierende mediale ‚Mehrgleisigkeit‘ und ihre Folgen für die Interpretation dieser Stelle wurden bereits in dem entsprechenden Kapitel untersucht, sodass direkt auf die etwa zeitgleich entstandene Textstelle Chrétiens de Troyes eingegangen werden soll. Ebenso wie Chrétien innerhalb seiner „Philomena“ zahlreiche inhaltliche Elemente der Ovid’schen Vorlage aufgreift und ausbaut, so erweitert der altfranzösische Autor auch an dieser Stelle die zwei Verse der antiken Fassung zu einer detaillierten Beschreibung des Kunstwerks, seiner Herstellung und Funktion. Während die kurze Passage innerhalb der „Metamorphosen“ die wesentlichen Merkmale einer Ekphrase in sehr konzentrierter Form erfüllt, so handelt es sich bei Chrétien um ein sehr viel klassischeres Beispiel mittelalterlicher Ekphrasis. Dabei muss betont werden, dass sich zwar in allen Epochen der Literaturgeschichte Ekphrasen befinden, dass es jedoch unabdingbar ist, den Begriff in seinem literarhistorischen Kontext zu verorten. Diese bislang kaum beachtete Notwendigkeit wurde von Haiko Wandhoff in seiner Habilitationsschrift deutlich gemacht, die nicht nur die Lücke einer exemplarischen Untersuchung mittelalterlicher Ekphrasis schließt, sondern in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass die in der gängigen Ekphrasis-Forschung durchgeführte klare Trennung zwischen Text und Bild für die Literatur des Mittelalters nicht durchführbar ist.33„Schrîben und mâlen, schrift und gemeld stehen in mittelalterlichen Texten für zwei verschiedene Tätigkeitsund Sachvorstellungen, die bei aller Eigenständigkeit nicht vollständig gegeneinander ausdifferenziert sind“,34 stellt Horst Wenzel zu Kultur und Gedächtnis im Mittelalter fest, eine Beobachtung, deren Konsequenzen Wandhoff für die Ekphrasis-Forschung fruchtbar macht. Als handwerkliche Techniken, die gleichermaßen vor dem Vergessen bewahren wollen, werden Schreiben und Malen, skriptographische und pikturale Zeichen
_____________ 33 Wandhoff (Anm. 14). 34 Wenzel, Horst: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, S. 292.
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nur unvollständig voneinander getrennt, was beispielsweise durch linear erzählte Bildfolgen mittelalterlicher Kunstwerke ebenso bezeugt wird wie durch üppig verzierte Inschriften oder Initialen, in denen Schrift und Bild miteinander verschmelzen. Als Illustration der schrift-bildlichen Hybridität führt Wandhoff das Gewebe Philomelas an und präsentiert die dortige Unbestimmbarkeit der Zeichen, wobei er dies erstaunlicherweise anhand des antiken Textes ausführt und nicht an einem mittelalterlichen Beispiel belegt.35 Durch diese Passage nimmt er doppelten Bezug auf die Ausführungen Heffernans, indem er zum einen zeigt, dass dessen klare Interpretation von Philomelas Zeichen als Bilder nicht durch den Primärtext gerechtfertigt werden kann, und dass ebenfalls dessen Definition von Ekphrasis als verbale Darstellung von Bildern – zumindest für die Vormoderne – gleichermaßen für die Darstellung von Schrift geöffnet werden muss. Zwar spricht Wandhoff zu recht davon, dass das ‚sprechende Tuch‘ der Philomela gern als Beispiel in der Ekphrasis-Debatte herangezogen wird, doch geht dieses Heranziehen – abgesehen von dem PhilomelaKapitel Heffernans – selten über eine flüchtige Erwähnung hinaus bzw. wird gänzlich vernachlässigt, was besonders bei der Arbeit Linda M. Clementes überrascht, die sich in ihrer 1992 publizierten Dissertation „Literary objets d’art“ Ekphrasen der französischen Epik zwischen 1150 und 1210 widmet. Obgleich sie sich dort mit Werken Chrétiens de Troyes auseinandersetzt, bleibt dessen „Philomena“ mit der Ekphrase des Gewebes unerwähnt.36 Auch die Studien von Christine Ratkowitsch37 und Mary Carruthers,38 ebenfalls jüngere, poetologisch ausgerichtete Monographien zur mittelalterlichen Ekphrasis, ignorieren diese Passage, und sogar James Heffernan selbst, der der Entwicklung des ekphrastischen Tuches von Ovid bis Shakespeare ein ganzes Kapitel widmet, handelt Chrétien in einer kurzen Fußnote ab.39
_____________ 35 Dadurch wird angedeutet, dass die klare Unterscheidung von Text und Bild nicht nur für die mittelalterlichen Jahrhunderte, sondern ebenso für die antike Literatur überdacht werden muss. 36 Clemente, Linda M.: Literary objets d’art: ekphrasis in medieval French Romance 11501210. New York, Bern, Frankfurt am Main, Paris 1992. 37 Ratkowitsch, Christine: Descriptio Picturae. Die literarische Funktion der Beschreibung von Kunstwerken in der lateinischen Großdichtung des 12. Jahrhunderts. Wien 1991. 38 Carruthers, Mary: The Craft of Thought. Meditation, Rhetoric, and the Making of Images 400-1200. Camebridge 1998. 39 „In Chrétien de Troyes’s twelfth-century version of the story, which was incorporated into the early fourteenth-century Ovide Moralisé, we are somewhat equivocally told that with variously colored threads Philomene portrayed („portreite“) what Tereus did to
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Während bei Ovid die poetologische Komplexität von Philomelas Kunstwerk lediglich angedeutet wurde, wird sie nun in Chrétiens Ausarbeitung in ihrem ganzen Ausmaß offen gelegt. Dies gilt nicht nur für das Gewebe und die darauf abgebildeten Zeichen, sondern ebenfalls für die Umstände seiner Entstehung, die bei Chrétien inhaltlich und rhetorisch sorgfältig vorbereitet werden. So schildert er zunächst Philomelas Lage, indem er die Darstellung genau auf den Mangel zuschneidet, den das Gewebe später zu füllen in der Lage ist, und beschreibt somit indirekt bereits das Gewebe selbst: Moult eüst grant mestier d’aÿe Et moult vausist, s’ele peüst; Que sa suer son estat seüst; Mes ne set engin porpenser Par quoi el li puisse mander, Quar n’a message qui y aut Et la parole li defaut, Que s’el bien avoit le message, Ne porroit elle son corage Monstrer ne dire en nulle guise. D’autre part rest en tel joustise Qu’el n’a congié ne loisir De fors de la maison issir.40
Die Tatsache, dass Philomela eingeschlossen ist und von einer Bäuerin bewacht wird, unterstreicht Chrétien ebenfalls durch einen kurzen Dialog des Erzählers mit seinem imaginären Gegenüber. Ebenso genau wie die zahlreichen Funktionen, die das Gewebe zu erfüllen hat, werden auch die Idee und die Vorbereitungen Philomelas Schritt für Schritt geschildert. Ihr Blick fällt auf die Garnspulen mit gesponnener Wolle, die die Bäuerin und ihre Tochter hergestellt haben. Die Spulen sind so zahlreich, dass sie für die Erstellung eines Gewebes ausreichen, sodass Philomela auf die Idee kommt, wie sie der Schwester ihr Schicksal trotz Stummheit vor Augen führen kann. Sie öffnet einen Koffer, nimmt die Garnspulen heraus, wickelt die Fäden ab und beginnt mit
_____________ her and that all of it was written („Tot ot escrit“) on the cloth she sent to Progne.“ Heffernan (Anm. 1), S. 206, Fußnote 32. 40 V. 1070-1082. Sie hätte sehr fremder Hilfe bedurft und gerne ihrer Schwester mitgeteilt, in welcher Lage sie sich befand, wenn sie gewusst hätte, wie. Aber sie besaß keine Möglichkeit, um sich mit der Schwester in Verbindung zu setzten: Sie hatte keinen Boten, den sie hätte schicken können, und sie selbst konnte nicht sprechen. Selbst wenn sie einen Boten gehabt hätte, hätte sie kein Mittel gehabt, ihre Gedanken darzustellen oder mitzuteilen. Außerdem wird sie so streng bewacht, dass sie weder die Erlaubnis, noch die Möglichkeit hat, das Haus zu verlassen (Bei diesen und allen weiteren Übersetzungen handelt es sich um die der Autorin. L.B.).
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Bedacht, ihr Gewebe zu erstellen.41 Die Bäuerin hilft ihr bei den Vorbereitungen, und auch deren Tätigkeit wird beschrieben. Alles, was ihr zur Erstellung des Gewebes notwendig erscheint, lässt sie suchen und herbeiholen, sodass Philomela schließlich Material im Überfluss, und Fäden in violett, rot, gelb und grün zur Verfügung hat. Auch die Reaktion der Bäuerin auf das Gewebe wird erwähnt: Mes el ne connut ne ne sot Riens de quan que cele tissot; Mes l’oeuvre li abelissoit, Qui moult estoit a faire griez. 42
Nach den einzelnen Etappen seiner Erstellung wird schließlich das Gewebe selbst beschrieben, wobei auch hier die einzelnen Abschnitte des darauf abgebildeten Geschehens wohlgeordnet und in seine Einzelteile zerlegt wiedergegeben werden, wie es auch bei seiner Herstellung zu beobachten war. Verstärkt wird dieser Effekt der Reihung durch Anapher und Parallelismus, die sich in Teilen der Ekphrase manifestieren: Quar issut ot a l’un des chiez Que Philomena l’avoit faite. Emprez i fu la nef pourtraite Ou Thereüs la mer passa, Quant querre a Athenes l’ala, Et puis comment il se contint En Athienes quant il i vint, Et comment il l’en amena, Et puis comment il l’enforça, Et comment il l’avoit lessiee Quant la langue li ot trenchiee Tout ot escript en la cortine, Et la meson et la gaudine Ou elle estoi emprisonee.43
Auch hier ist es schwer festzustellen, ob Philomela Bilder oder Schriftzeichen in das Gewebe hineingewirkt hat, denn die Unbestimmtheit von Text und Bild ist ebenso wie für das Mittelhochdeutsche auch für die altfranzösische Sprache zu beobachten: pourtraite und escrire entziehen sich
_____________ 41 Genau in dieser Reihenfolge werden die einzelnen Schritte der Herstellung bei Chrétien wiedergegeben; V. 1088-1107. 42 V. 1116-1119; Die Alte jedoch konnte weder erkennen noch verstehen, was die junge Frau webte, doch das Werk gefiel ihr sehr, denn es war äußerst kunstvoll gefertigt. 43 In eine Ecke war eingewebt, dass Philomela das Kunstwerk angefertigt hatte. Dann war das Schiff dargestellt, mit dem Tereus über das Meer gefahren war, als er sie aus Athen holen wollte; dann, wie er sich in Athen verhielt, und wie er sie von dort mitnahm; dann, wie er sie vergewaltigte und in welchem Zustand er sie zurück ließ, nachdem er ihr die Zunge abgeschnitten hatte. Sie hatte alles in das Gewebe hineingewebt, selbst das Haus und den Wald, in dem sie gefangen gehalten wurde.
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gleichermaßen einer klaren Zuordnung,44 obgleich die Betonung der verschiedenen Farben eine bildhafte Darstellung nahe legt. Die Bezeichnung des Gewebes als oeuvre (V. 1111), ‚Kunstwerk‘, lässt die Frage nach Text oder Bild ebenfalls offen, und auch die Erwähnung, dass in einer Ecke des Tuches dargestellt ist, dass es durch Philomela hergestellt wurde, kann durch den Leser sowohl als pikturales Selbstportrait, als auch als Schriftzug ihres Namens imaginiert werden. Auffällig ist, dass die Darstellung des Geschehens in einzelne Handlungssequenzen chronologisch geordnet, und die einzelnen Etappen jeweils durch modale und temporale Konjunktionen verknüpft sind, die das Geschehen auf der Textur ebenso narrativ strukturieren, wie es in der gesamten Erzählung der Fall ist. Das Gewebe wird so zum Spiegel der Handlung, wobei nicht die mediale Form der Darstellung, sondern vor allem seine Vollständigkeit hervorgehoben wird, was das Gewebe zum vollwertigen Ersatz sprachlicher Kommunikation werden lässt: Tout ot escript en la cortine.45 Doch eignet der Darstellung nicht nur eine zeitliche Struktur. Die einzelnen Erzähl-Etappen werden ebenfalls durch die jeweiligen Ortswechsel voneinander unterschieden, wenn von der Reise des Tereus nach und von Athen, sowie von Hütte und Wald die Rede ist, in der sich das Gefängnis Philomelas befindet, und die ebenfalls auf dem Gewebe abgebildet sind. Schließlich wird nicht nur Herstellung und Beschaffenheit der Textur durch Chrétien ausgeschmückt, auch seine anschließende Versendung wird inhaltlich erweitert, indem erst sechs Monate vergehen müssen, ehe Progne das Gewebe erhält. Um der Bäuerin ihren Wunsch mitzuteilen, das Gewebe an den Königshof bringen zu lassen, erfindet Philomela neue Zeichen,46 mit denen sie sich ebenso gut wie mit Worten verständlich machen kann, was zweimal ausdrücklich hervorgehoben wird.47 Als sich Philomela schließlich eines Tages an das Fenster ihres Gefängnisses begibt – ein Ort, den sie ebenso wie die Tür seit ihrer Gefangenschaft gemieden hat –, erblickt sie in der Ferne die Stadt, in der ihre Schwester wohnt. Mit Hilfe der erlernten Zeichen gibt sie der Bäuerin daraufhin zu verstehen,
_____________ 44 „En réalité, escrire au sens de ,dessiner, peindre‘ n’est pas rare en ancien français; voire le T.L. [Tobler-Lommatzsch], III, 1005, et l. Foulet, Glossaire de la Première Continuation de „Perceval“, s.v. escrire. Brusdé et escrit forme une redondance synonymique, senti d’ailleurs au XIIe siècle comme une élégance de style.“ Freeman (Anm. 31), S. 880. 45 V. 1131; Alles war auf dem Gewebe dargestellt. 46 nouviax signes; V. 1147. 47 Et certainement esprouva / Que sa mestre tout entendoit (V. 1148f; Sie war sich sicher, dass ihre Wächterin alles verstand); sa mestre l’atendoit, / Qui tous ses signes entendoit, / Que ja n’i mespreïst de rien, / Ains l’entendoit prez d’ausi bien / Com s’ele li deïst de bouche (V. 11871191; Ihre Wächterin konnte alle ihre Zeichen verstehen. Sie irrte sich nie, sondern verstand sie fast ebenso gut, als wenn sich die junge Frau mit ihr unterhalten hätte).
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dass deren Tochter das Gewebe der Königin präsentieren soll. Dadurch, dass für die gewebten Zeichen und die Gebärden, die Philomela zur Kommunikation mit der Bäuerin entwickelt, dieselbe Bezeichnung (signes) verwendet wird, tritt ein weiteres Mal der Bedeutungsreichtum hervor, der sich in diesem Terminus verbirgt. Denn auch die Körperlichkeit, die sich in den textilen Zeichen befindet, wird evoziert, indem Philomela zum einen durch die Gebärdensprache ihren gesamten Körper einsetzt und zum anderen im Text ausdrücklich erwähnt wird, dass sie die Bäuerin berührt, als sie diese um das Überbringen des Gewebes bittet: Philomena vient, si la touche, Si fet signe que elle envoit A cele cité que la voit Par sa fille cele cortine, Si la present a la roïne.48
Die Alte, in der Auffassung, Philomela wolle ihre kunstvolle Arbeit verkaufen, schickt ihre Tochter mit der gewebten Botschaft zu Progne, deren Rezeption bei der Betrachtung des Gewebes ebenso schrittweise geschildert wird wie seine Herstellung: Et la roïne l’a ouverte, / Si la regarde et connut l’oeuvre.49 Obgleich sie vor Zorn wie betrunken ist,50 bewahrt sie Schweigen, verfolgt heimlich die heimkehrende Bauerntochter in den Wald und befreit dort schließlich ihre Schwester. Bei der ausführlichen Darstellung von Herstellung, Beschaffenheit und Funktion des Gewebes lassen sich mehrere inhaltliche Ebenen unterscheiden, die nicht nur für die Rückbindung des textilen Textes an die Ekphrasis-Forschung theoretisch bedeutsam sind, sondern ebenfalls die Funktion des Gewebes innerhalb des Mythos deutlich machen. Das oft zitierte und innerhalb der Intermedialitätsdebatte geradezu zum ‚Klassiker‘ gewordene Diktum des Simonides von Keos, demzufolge die Literatur eine redende Malerei und die Malerei eine stumme Dichtung sei, scheint im Philomela-Mythos geradezu seine literarische Illustration zu finden, denn dort übernimmt das Gewebe im wörtlichen Sinne eine ‚sprechende‘ Funktion und vereint somit in sich verbale und skripto-pikturale Qualität. Und nicht nur die blutroten Zeichen auf weißem Grund, sondern auch die Darstellung bei Chrétien präsentieren die ekphrastische Beschreibung des Tuches als Schnittstelle zwischen Text und Bild. Des Weiteren ist das
_____________ 48 V. 1192-1196; Philomela trat an sie heran, berührte sie und bat sie mit Gebärden darum, dass sie ihre Tochter in die Stadt schickt, die sie sehen konnte, um der Königin das Gewebe zu präsentieren. 49 V. 1236f; Die Königin faltete es auseinander, betrachtete es und erkannte, was darauf abgebildet war. 50 comme forsenee; V. 1246.
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Entrollen oder Öffnen des Tuches durch Progne ein Aspekt, der nicht nur an die Kommunikation in Form einer Schriftrolle erinnert, sondern das Gewebe anschließbar macht an eine Beobachtung Murray Kriegers, der in der Orientierung an den plastischen Formen von Kunstwerken einen zentralen Aspekt der Ekphrasis sieht.51 Oftmals sind es runde Gegenstände, dreidimensional ausgeprägte Kunstwerke, die dem Text seine Plastizität verleihen und ihn auf diese Weise erinnerbar machen. Durch das Auseinanderfalten oder Ausrollen des Gewebes entfaltet es sich ebenso im Raum des verbalen Textes, wie auch die Struktur des Gewebes selbst im Über- und Untereinander der Fäden, durch die Verflechtung von Kette und Schuss eine plastische Form erhält. Dies wird ebenfalls bestätigt durch die Form der textilen Kommunikation, die Philomela in Georg Wickrams Adaptation des Mythos anwendet. Dort stickt sie rote Buchstaben in einen weißen Gürtel hinein, wobei sich dieser über seine implizite sexuelle Konnotation ebenfalls durch seine runde Form auszeichnet und der Erzähler davon berichtet, dass Philomela den Gürtel zum Versenden, einer Schriftrolle ähnlich, zusammen-, und Progne ihn im Moment der Rezeption wieder auseinander rollt: Als nun war gmacht der guertel schon Sie ihn rundweiß zusammen wand […] So bald sie [Progne] nun den guertel auß Der rollen ließ / ward sie verstohn Die schalckheit so ir man gethon.52
Weiterhin berichtet Wickram, dass Philomela die Buchstaben nicht wie bei Ovid oder Chrétien in den Gürtel hinein webt, sondern eine andere handwerkliche Technik anwendet: Und wircket enen guertel weiß Daran legt sie allen iren fleiß Sie thet darauff kuenstlich erhaben Eyn gschrifft von rot seiden buchstaben.53
Während das relativ unspezifische wircken als ‚anfertigen‘ zu übersetzen ist, lassen die erhaben buchstaben vermuten, dass diese auf den Stoff aufgestickt sind. Damit wird der Gürtel zum einen auch haptisch wahrnehmbar – die Buchstaben lassen sich ertasten und die seidenen Fäden sind nicht nur Zeichen von Kostbarkeit, sondern auch von Weichheit und Glätte -, zum anderen ist dies eine weitere Ausdehnung des Objektes, die es ebenso wie das Überlagern von gewebten Fäden plastisch werden lässt.
_____________ 51 Krieger, Murray: „Ekphrasis and the Still Movement of Poetry, or Laokoon Revisited.“ In: The Poet as Critic. Hg. v. F. P. W. MacDowell. Evanston, Illinois 1967, S. 3-26. 52 V. 1279-1285. 53 V. 1272-1275.
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Das Gewebe überschreitet jedoch die Illustration von Ekphrasis als einer „Schnittstelle auditiver und visueller Medialität“,54 denn es wird innerhalb des Textes nicht nur verbal ein Kunstwerk inszeniert, sondern gleichzeitig eine intratextuelle Spiegelung des Erzählten selbst dargeboten.55 Dabei wird zum einen das Geschehen dessen abgebildet, was sich bis zu diesem Punkt der Ereignisse an Handlung vollzogen hat, zum anderen markiert das Tuch in tatsächlichem Sinne einen Spiegel. Die Rache der Frauen ist das spätere Echo auf die Verbrechen des Tereus, die auf dem Gewebe dargestellt werden, das mittige Platzieren der Textur bildet eine Zäsur, die die binäre Struktur offen legt, die – wie an der Analyse des Ovid’schen Textes gezeigt wurde – dem Mythos selbst inhärent ist. Die Erzählung, die auf dem Gewebe abgebildet ist, ist eine Abbildung des Mythos selbst, eine Beobachtung, die als Funktion von Ekphrasen in der Literatur immer wieder festgestellt wurde und in den Termini der ‚Synekdoche‘56 (Dubois), des ‚mise en abyme‘57 (Clemente), der Verbindung von ‚Hypo- und MetaErzählung‘58 (Haferland/Mecklenburg) oder auch der ‚inversion speculare‘59 (Perutelli) gleichermaßen zum Ausdruck kommt. Was in diesen auf den Philomela-Mythos beispielhaft zutreffenden Feststellungen durch die Forschung nicht berücksichtigt wird, für eine umfassende Analyse des textilen Textes jedoch unerlässlich ist, ist der Aspekt seiner Materialität, die dieser speziellen Erzählung in der Erzählung eignet. Sie geht über die einfache Dreidimensionalität des Objektes hinaus und verleiht ihm durch die Verknüpfung von intratextuellem Spiegel und gewebtem Stoff, von Text und Textur, eine zusätzliche Ebene der Bedeutung, die an späterer Stelle noch einmal aufgegriffen werden wird. Dass es sich bei der Beschreibung des Gewebes nicht nur um die verbale Erzeugung eines imaginären Kunstwerks und gleichzeitig um ein
_____________ 54 Wandhoff (Anm. 14), S. 4. 55 Während das Gewebe in den hier untersuchten Texten das Geschehen abbildet, das sich bis zu dem entsprechenden, mittigen Zeitpunkt der Handlung ereignet hat und damit als intratextuell bezeichnet werden kann, lässt sich beispielsweise in Shakespeares Renaissance-Drama „Titus Andronicus“ in Anlehnung an den PhilomelaMythos eine intertextuelle Spiegelung beobachten. Dort wird die Hauptfigur Lavinia nicht nur an der Zunge, sondern auch an den Hände verstümmelt, damit sie die Schuldigen nicht durch das Herstellen eines Gewebes offenbaren kann. Doch Lavinia blättert mit ihren Armstümpfen in den „Metamorphosen“ Ovids, deutet auf die Geschichte der Philomela und schreibt die Namen ihrer Peiniger mit einem Stock in den Sand. William Shakespeare: Titus Andronicus. 4.1.30-4.1.80. 56 DuBois, Page: History, Rhetorical Description, and the Epic. From Homer to Spencer. Cambridge 1982. 57 Clemente (Anm. 36). 58 Haferland/Mecklenburg (Anm. 17). 59 Perutelli, Alessandro: La narrazion commentata. Studi sull’epillio latino. Milano 1979.
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Spiegelbild handelt, das in Analogie zur Handlung des Mythos steht, sondern darüber hinaus als implizite Repräsentationstheorie des Textes selbst funktioniert, wird zunächst dadurch offenbar, dass bei Chrétien der gesamte Herstellungsprozess des Gewebes offen gelegt wird. Von der Erwähnung, dass die Bäuerin mit ihrer Tochter selbst die Wolle zu Fäden spinnt, über den Moment der Fertigstellung der Textur durch Philomela bis zu Entfaltung, Betrachtung und Verstehen durch Progne verfolgen die Augen des Lesers seinen Werdegang und schauen somit hinter die Kulissen, sodass die bildhafte Imagination des Gewebes nie seine ‚Gemachtheit‘ überlagert. Vielmehr steht seine Funktion im Vordergrund, was bei Chrétien durch die anfängliche Beschreibung der Mangelhaftigkeit Philomelas und ihrer Situation, sowie damit einhergehend das indirekte Beschreiben der Funktionalität des Gewebes unterstrichen wird. Dass Philomela dabei die Rolle einer Autorin wahrnimmt, lässt sich in der Ekphrase selbst beobachten: Ebenso wie sich der Autor innerhalb des Prologs eines mittelalterlichen Textes oft selbst benennt, so wird zu Beginn der Ekphrase ausgeführt, dass in eine Ecke der Textur eingewebt ist, dass Philomela das Kunstwerk erstellt hat. In einer chronologischen Erzählfolge werden die einzelnen Elemente des Geschehens abgebildet und so durch den Leser noch einmal visuell nachvollzogen, was zuvor bereits durch Ovid erzählt wurde. Bei der ‚Erzählung innerhalb der Erzählung‘ geht die Stimme Philomelas damit zum einen in dem sprechenden Gewebe auf, zum anderen auch in der Stimme Ovids, der die Beschreibung der sprechenden Textur leistet, diese für die Leser erst imaginierbar macht und somit Philomelas Stimme hörbar werden lässt – wie die Fäden der Textur ist die Artikulation der beiden miteinander verwoben. Darüber hinaus scheint die gewebte Geschichte gleichzeitig die Funktion eines Therapeutikums zu übernehmen. Mit ihrer Hilfe gelingt es Philomela einerseits, ein Dokument individuell-lebensgeschichtlicher Erinnerung herzustellen, zum anderen bricht sie das von ihrem Peiniger doppelt auferlegte Schweigen. Nicht nur die abgeschlagene Zunge, auch die Vergewaltigung selbst zieht ein schamhaftes Verstummen nach sich. Das sowohl aus physischen, als auch aus psychischen Gründen verursachte Schweigen wird jedoch durch das Gewebe gebrochen und dieses gleichzeitig dazu genutzt, das Verbrechen zu visualisieren. Es funktioniert als Vergegenwärtigung dessen, was in abgeschiedener Heimlichkeit geschehen ist, und zwar auf so überzeugende Weise, dass es gegenüber einer anderen Geschichte konkurrenzfähig, ja dieser sogar überlegen ist. So hatte Tereus gegenüber Progne berichtet, Philomela sei gestorben, und diese hatte zu Ehren der tot Geglaubten Trauerkleidung angelegt, einen Opfer-Ritus vollzogen sowie ein leeres Grabmal errichtet. Die Existenz von zwei verschiedenen Versionen der Handlung, die Lüge des Tereus und das tatsäch-
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lich Geschehene, finden dadurch Ausdruck, dass Philomela in dem Moment die Idee der Versendung des Stoffes hat, in dem sie sich am Fenster befindet und die Stadt erkennt, in der ihre Schwester lebt. Das Fenster funktioniert hier als Katalysator der Handlung und hebt gleichzeitig die Differenz zwischen dem Gefängnis der Philomela und ihrem tatsächlichen Schicksal sowie der Version ihres Todes am Königshof hervor. Sowohl die lokale als auch die inhaltliche Entfernung von beiden Räumen, die beide einer anderen Version des Geschehens verhaftet sind, vermag das Gewebe zu überwinden.60 Um ein bereits durch einen religiösen Ritus zelebriertes und durch ein Bauwerk materialisiertes Wissen anzuzweifeln, ja sogar zu revidieren, muss ein Beweisstück angeführt werden, dessen Überzeugungskraft mit einer affektiven Intensität ausgestattet ist, die jeglichen Zweifel ausräumt. Dies gelingt durch das Gewebe, wobei die blutroten Zeichen oder (Brand)Male, die mit der Textur nicht nur Philomelas Stimme, sondern auch ihren Körper selbst ersetzen, dieses zu einem Paradigma mittelalterlicher, körpergebundener Memorialkultur werden lassen. Die Kraft der Vergegenwärtigung des Verbrechens mittels des Gewebes ist so groß, dass in keiner der untersuchten Varianten des Mythos auch nur eine Spur des Zweifels von Seiten Prognes überliefert wird. Im Gegenteil bezeugt ihr einhellig dargestelltes Verstummen die unmittelbare Präsenz der Gewalttat, die sich auf die Betrachterin überträgt und für einen Moment die beiden Schwestern in ihrer Sprachlosigkeit eins werden lässt. Und nicht nur die textinterne Betrachterin Progne trifft die emotionale Wucht der schrift-bildlichen Darstellung. Durch ihren Blick auf das Gewebe und ihre Reaktion auf das Dargestellte wird sie zur Assistenzfigur, mit deren Hilfe bzw. durch deren
_____________ 60 Die Parallelen zwischen dem Gewebe Philomelas und den selbst gemalten Wandbildern des „Prosa-Lancelots“, die Wandhoff im Rahmen seiner Habilitationsschrift untersucht, sind erstaunlich: In einer Zelle gefangen, beobachtet Lancelot durch ein Fenster die Anfertigung eines Bildes, auf dem Eneas’ Flucht aus Troja sichtbar ist. Als Reaktion auf die Darstellung der kollektiv-historischen Erinnerung erstellt er in seiner Gefängniszelle einen Bilderzyklus, auf dem er sich selbst und seine heimliche Liebe zur Königin Ginevra abbildet. „Angelegt zunächst als intime Vergegenwärtigung einer heimlichen Liebesgeschichte, verwandelt diese sich in ein in die Öffentlichkeit drängendes Rechtsdokument einer korrumpierten Königsherrschaft.“ Wandhoff (Anm. 14), S. 284-300, hier S. 293. Im Gegensatz zu Philomela erzählt Lancelot seine Geschichte jedoch nur sich selbst, und während er aufgrund der Lebensechtheit der Bilder seinen privaten Andachtsraum gar nicht mehr verlassen möchte, erfüllt das Gewebe Philomelas zwar auch die Funktion der Visualisierung der eigenen Geschichte, doch ebenso die der heimlichen Botschaft zum Zweck ihrer Befreiung.
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Augen auch der Leser das Gewebe erblickt und durch die repräsentierte Gewalt gleichermaßen berührt wird.61 Daher lässt sich das Tuch nicht als Ansammlung geronnener Moment-Aufnahmen oder eingefrorener Standbilder bezeichnen. Vielmehr erweist sich die Textur als in mehrfachem Sinne dynamisch. Durch die narrative Darstellung der Handlung auf dem Gewebe in Zeit und Raum geraten die Schrift-Bilder in Bewegung, und darüber hinaus sind auf diesen selbst auch dynamische Momente abgebildet. Nahezu alle Verben, die bei der Beschreibung der einzelnen Handlungs-Etappen verwendet werden, verkörpern keine statischen, sondern bewegte Momente: Tereus Überfahrt zu und von Athen (aller bzw. venir), sein dortiges Verhalten (se contenir), wie er Philomela auf sein Schiff nimmt (amener), ihr Gewalt antut (enforcer) und wie er sie zurücklässt (lesser), nachdem er ihr die Zunge abgeschnitten hat (trenchier); die bereits in sich dynamischen Bilder werden durch ihre chronologische, narrative Reihung zu einer comic-haften, précinematographischen Episode innerhalb des sie umgebenden Textes animiert.62 Auch der Wechsel vom Imparfait zum Passé simple, einer Zeitform, die zur Darstellung von Ereignissen verwendet wird, die sich in einer zeitlichen Abfolge ereignet haben, hebt die dargestellten Szenen hervor und setzt sie in Bewegung. Darüber hinaus werden sie durch das Überbringen von einem Ort an den anderen im wörtlichen Sinne ‚bewegt‘, bevor ihr Anblick schließlich die Schwester verstummen lässt. Diese emotionale Bewegtheit motiviert schließlich weiterhin den Fortgang des Geschehens, indem es Progne zu den nachfolgenden Handlungsschritten (Befreiung der Schwester, Rache an Tereus) veranlasst und so ein zusätzliches dynamisches Moment in sich trägt. Die repräsentationstheoretische Dimension, die das Gewebe beinhaltet, speist sich ebenfalls aus seiner Materialität. Wie Erika Greber in ihrer Habilitationsschrift über „Textile Texte“ eindrucksvoll ausführt, leitet sich der Terminus ‚Text‘ vom lateinischen texere (weben) ab.63 So ist das Gewebe Philomelas Text und Textur zugleich, was für die Interpretation der Ekphrase eine zusätzliche meta-narrative Funktion impliziert. Sie über-
_____________ 61 Zum Begriff der Assistenzfigur vgl. Wenzel, Horst: „Visualität. Sichtbarkeit und Imagination im Medienwandel.“ In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 9 (1999), S. 549556, hier S. 550f. 62 Auch Emmanuèle Baumgartner erinnert die bildhafte Aneinanderreihung der einzelnen Szenen an Comics: „À la différence du texte cependant, la représentation imagée, véritable bande dessinée, ne peut aller au-delà de la mutilation de la langue.“ Pyrame et Thisbé, Narcisse, Philomena. Trois contes du XIIe siècle français imités d’Ovide. Hg. v. Emmanuèle Baumgartner. Paris 2000, S. 231. 63 Greber, Erika: Textile Texte: poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln, Weimar 2002.
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nimmt dadurch ein weiteres Mal die Rolle eines Spiegels, der das Gewebe dem Mythos selbst parallel setzt. Bei der gewebten Ekphrase handelt es sich um eine Textur innerhalb der Textur des Mythos und des Gesamttextes der „Metamorphosen“. Und so wird auch Philomela als Weberin und Autorin ihres Tuches mit Ovid selbst gleichgesetzt, der ebenfalls einen Text schreibt, ein Gewebe erstellt. Die Metapher des Webens zur Bezeichnung der Herstellung eines literarischen Textes geht dabei zurück auf eine Zeit, in der handwerkliche Tätigkeiten eine erste poetologische „Metabegrifflichkeit“64 bildeten, die sich in zahlreichen Redewendungen wie ‚Strophenbau‘, ‚Verse schmieden‘ oder ‚Worte feilen‘ bis heute erhalten haben.65 Im Gegensatz zu Baukunst oder Schmiedehandwerk ist das Weben mit dem weiblichen Geschlecht verbunden. „In der Mythologie sind es immer die Frauen, die den Faden des Schicksals, das Gewebe der Welt, die Textur der Texte spinnen und weben. Sämtliche auf Textilmotiven beruhenden klassischen Mythen drehen sich um Spinnerinnen und Weberinnen: die den Lebensfaden spinnenden Moiren bzw. Parzen, das Weben der Penelope, der Faden der Ariadne, das an Prokne gesandte mit blutroten Fäden vom Trauma berichtende Gewebe der Philomela, der Webwettstreit zwischen Minerva und Arachne. […] Textile Handarbeiten sind in allen Kulturen, ob matrilokal oder patriarchal, immer weiblich besetzt, und zwar auch in postmythischer Zeit. Die Frau sitzt am Spinnrocken und am Webrahmen.“66
Hier tritt nun vor allem die repräsentationstheoretische Bedeutung des weiblichen Wortflechtens, der Verknüpfung von femininer Artikulation und textilen Texten im Mythos vor Augen, die sich ebenfalls in der Ekphrase innerhalb des Philomela-Mythos manifestiert. Durch das Gewebe erfolgt eine zusätzliche Rückbindung an das, was durch sie repräsentiert wird. Vergewaltigung und Verstümmelung eines weiblichen Körpers wird dargestellt durch ein weiblich konnotiertes Medium, denn nur dieses allein ist dazu in der Lage, den Akt der Kommunikation überhaupt erst erfolgreich werden zu lassen. Kulturell tradiert als friedfertig-weibliche, handwerkliche Tätigkeit, als klassische Beschäftigung der folgsamen Ehefrau, gelingt es mittels des Tuches, eine Botschaft an Progne zu übermitteln. Nur eine per se unverdächtige Textur ist dazu in der Lage, die Wache Philomelas zu überwinden, ja sogar die weibliche Aufseherin bei Chrétien zu täuschen, die darin ebenfalls keine Subversion seiner gesellschaftlichen Konvention, sondern ein klassisches Zeugnis femininer Handarbeit vermutet. Auch wenn das Gewebe durch schrift-bildliche Zeichen und pergamentartige Rollenform einer Briefkommunikation sehr nahe kommt, hätte
_____________ 64 Greber (Anm. 63), S. 18. 65 Zahlreiche weitere Beispiele liefert Greber in ihrer Einleitung. Greber (Anm. 63), S. 1. 66 Greber (Anm. 63), S. 24f.
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eine solche Art der Nachrichtenvermittlung nicht den Erfolg des textilen Textes gehabt, da die Vermittlung einer Botschaft offensichtlich gewesen wäre. Auf diese Weise ist das ekphrastische Gewebe nicht nur eine ‚Abbildung des Abgebildeten‘, die verbale Wiedergabe eines visuellen Kunstwerkes, sondern reflektiert darüber hinaus auf einer dritten Ebene das Geschehen: Zum einen durch die feminin geprägte Materialität des Gewebes als Ausdruck einer Kommunikation, die von der Herstellung über die Überbringung bis zur Rezeption nur durch die Hände und vor die Augen von Frauen gerät, zum anderen durch die Darstellung maskuliner Gewalt, die sich nicht erst durch die Vergewaltigung und Verstümmelung, sondern bereits zu Beginn des Geschehens durch das Eintauschen der Königstochter Progne gegen Schutz und Frieden der Stadt in Form ihrer Verheiratung mit dem Barbaren Tereus manifestiert: „The exchange of women articulates the culture’s boundaries, the woman’s hymen serving as the physical or sexual sign for the limen or wall defining the city’s limits.“67 Durch die Vergewaltigung Philomelas wird somit nicht nur die familiäre und sexuelle, sondern auch die politische Ordnung durcheinander gebracht.68 Das Gleichsetzen von Vergewaltigung und Eroberung einer Stadt ist dabei ein in der Literatur geläufiges Bild, das bei Shakespeare sogar in Anlehnung an den Philomela-Mythos verwendet wird. In seinem Werk „The rape of Lucrece“ bildet ein Gemälde des Untergangs von Troja Lucrece’s einzigen Vertrauten nach ihrer Vergewaltigung und so spricht sie über die Gewalttat zu sich selbst in den Termini einer militärischen Invasion: so my troy did perish.69 Nachdem sie sich schließlich selbst tötet, wird ihr blutiger Körper durch die Stadt getragen, um die Schuld des Täters öffentlich zur Schau zu stellen, ein Akt, der die purpurnen Zeichen Philomelas evoziert.70 Während das Gewebe Philomelas dabei stellvertretend für ihren Körper die blutigen Stigmata der Gewalt präsentiert, so ist es bei Shakespeare der tatsächliche Körper der Protagonistin, durch den die Tat öffentlich visualisiert wird. Heffernan sieht im ekphrastischen Gewebe Philomelas den Beginn eines Darstellungsmodus, der im Gegensatz zur „masculine ekphrasis“71
_____________ 67 Joplin (Anm. 1), S. 37. 68 Dass das Weben in der griechisch-römischen Antike auch eine bedeutende politische Funktion innehatte, führen Scheid/Svenbro aus. Scheid, John/Svenbro, Jesper: Le métier de Zeus. Mythe du tissage et du tissu dans le monde gréco-romain. Paris 2003, S. 17-51. 69 V. 1547; William Shakespeare: The rape of Lucrece. In: The complete works. Hg. v. Alfred Harbage. Baltimore 1969. 70 Zu einer ausführlichen Untersuchung der Bezüge zum Philomela-Mythos innerhalb The rape of Lucrece siehe Heffernan (Anm. 1), S. 74-90. 71 Heffernan (Anm. 1), S. 46.
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steht und sich dadurch auszeichnet, dass er die Kraft der bildhaften Darstellung nutzt, um das Schweigen zu brechen, dem Frauen traditionellerweise verhaftet sind. Während die klassischen Ekphrasen vorwiegend von männlichen Künstlern erstellt sind (Hephaistos), Männer oftmals bei kriegerischen Handlungen abbilden und häufig aus männlich konnotierten Materialien (z.B. ein aus Metall geschmiedeter Schild) gefertigt sind, handelt es sich, so Heffernan, bei Philomelas Tuch um eine alternative Repräsentationspraxis, die in später entstandenen Texten oftmals aufgegriffen und variiert wird. Obgleich er bei seiner Analyse Texte aus den mittelalterlichen Jahrhunderten übergeht, gelingt es Heffernan, die Verknüpfung von Ekphrasis, weiblicher Artikulation und sexueller Gewalt in seinen literarischen Beispielen deutlich werden zu lassen – ekphrastische Darstellungen von Vergewaltigung funktionieren als pre- oder postfigurative Thematisierung sexueller Gewalt innerhalb der sie umgebenden Texte. Das Bemerkenswerte ist für ihn dabei die medienhistorische Umkehrung, die Philomela und ihre literarischen Nachfahren durch die pikturale Repräsentation von Vergewaltigungen vollziehen. Während das Bild als ein dem weiblichen Geschlecht verhaftetes Medium ebenso zum stillen, passiven Betrachtet-Werden einlade wie weibliche Schönheit, und dem gegenüber das Wort die Rolle des männlich-aktiv besetzten Mediums übernehme, nähme das Bild Philomelas in der Grausamkeit seiner Darstellung und der impliziten Handlungsaufforderung eine entgegengesetzte Position ein: „Verbalized depictions of rape enact – so far as language can – a revolution of the image against the word. Refusing to cooperate with the rhetoric of seduction, refusing to take its place in a narrative of male gratification, the picture of beauty becomes a picture of beauty violated, a picture drawn to expose and publish the violence men do under the „color“ of their words.“72
Die Analyse der medialen Hybridität der blutigen Zeichen Philomelas macht deutlich, dass sich der von Heffernan dargestellte Konkurrenzkampf zwischen maskulinem Text und femininem Bild gerade nicht so eindeutig auf die textile Botschaft übertragen lässt, und dass durch das Verschwimmen der medialen Grenzen auch die eindeutige Zuordnung und damit auch Festschreibung von femininer Bildhaftigkeit und maskulinem Text schwer haltbar ist. Für das Gewebe Philomelas und die Repräsentationsformen, die ihre ‚literarischen Schwestern‘ wählen, erscheint vielmehr Heffernans Terminus der „alternative genealogy of the mode“73 applizierbar, der sich nicht auf eine mediale Zuordnung von Zeichensystem und Geschlecht beschränkt, sondern sie durch den Gegensatz zur
_____________ 72 Heffernan (Anm. 1), S. 90. 73 Heffernan (Anm. 1), S. 46.
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herrschenden Darstellungspraxis definiert. Dass das Bild weniger eine genuin weibliche Repräsentationsform ist, sondern vielmehr die Parameter von Macht und Öffentlichkeit mit der Wahl des darstellenden Mediums verknüpft sind, wird im nachfolgenden Kapitel der Arbeit untersucht. Abschließend kann eine eindeutig bildliche Qualität von Philomelas Zeichen verneint, und zusätzlich auch die mediale Unbestimmtheit der vermittelten Botschaft als Selbstreflexion ästhetischer Darstellungspraxis verstanden werden. Es ist gerade nicht das Fehlen einer eindeutigen Darstellung, sondern die Vielzahl sinnlicher Eindrücke, die die Botschaft Philomelas nicht nur für Progne, sondern auch für den Leser imaginativ erfahrbar macht. Schrift-bildliche Zeichen, erhabene, rot-seidene Buchstaben, körperliche Stigmata sowie ein stimmlicher Ersatz finden sich vereint in der Summe der unterschiedlichen, textuellen Realisierungen dieses Mythems und zeigen dadurch, dass sich die Wirkmächtigkeit des Tuches nicht allein durch sein Changieren zwischen Schrift und Bild, sondern in seiner gesamten, sinnlichen Präsenz entfaltet. Darüber hinaus nimmt es nicht nur die Rolle eines intratextuellen Spiegels wahr, sondern wird ebenso zum Symbol poetischer Ausdruckskraft. Dies zeigt sich darin, dass es gerade das Gewebe ist, mit Hilfe dessen andere Texte auf den Mythos rekurrieren. So verweist beispielsweise die vergewaltigte und an Zunge und Händen verstümmelte Lavinia des „Titus Andronicus“ auf die entsprechende Stelle der Ovid’schen „Metamorphosen“, um ihr Schicksal zu artikulieren, und auch ein Wandgemälde innerhalb Achilles Tatius’ „Leukippe und Kleitophon“, welches Szenen sexueller Gewalt abbildet, beinhaltet die Darstellung des Mythos und des Gewebes der Philomela.74 Das Gewebe wird so zum Text im Text im Text, bzw. seine Beschreibung zum ekphrastischen Bild im Bild im Bild, sodass diese intertextuellen Zitate eine Verweisstruktur anlegen, die die Formen künstlerischer Artikulation ebenso unendlich werden lassen wie ineinander verschachtelte russische Steckpuppen.
_____________ 74 Achilleus Tatios: Leukippe und Kleitophon. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Karl Plepelits. Stuttgart 1980, V. Buch, III, 4-8; V. Buch, V, 1-9.
II. Sprache von Gewicht: Formen femininer Artikulation Während das ‚sprechende Gewebe‘ Philomelas in der Mitte des Mythos platziert ist und als Objekt in konzentrierter Form mehrere Stränge seiner inhaltlichen Struktur in sich vereint, so ist die Sprache als konstitutives Element des Mythos nicht punktuell, sondern kontinuierlich in der Gesamtheit der verschiedenen Texte präsent. Marie, Chrétien, Albrecht, Wickram und die Autoren der moralisierenden Adaptationen der „Philomela“ thematisieren und variieren das Motiv der verbalen und nonverbalen Artikulation, welches nicht erst bei Ovid einen zentralen Platz erhält. Ein weiteres Mal ist die Sophokles’sche Formulierung der „Stimme des Webschiffchens“1 paradigmatisch für die Implikation von Reden und Schweigen, weiblicher Artikulation und körperlicher Repräsentation. Dass die weibliche Stimme in der antiken Rhetorik keinen Ort hat, bzw. dass sie vielmehr als Negativfolie einer gelungenen rednerischen Performanz fungiert, betont Doerte Bischoff: „Die Profilierung der guten, richtigen Stimme verläuft über Oppositionsbildungen, die mit der Unterscheidung von Männlichkeit und Weiblichkeit operieren. Insofern die Abhandlungen zur actio immer wieder mahnen, ‚weibische‘ und unmännlich-verweichlichte Artikulationsweisen zu meiden, wird die ideale Verkörperung der Rede implizit oder auch ganz ausdrücklich als eine nichtweibliche beschrieben.“2
Gleichzeitig bedienen sich, so Bischoff, die antiken Beschreibungen einer gelungenen Rede – beispielsweise bei Cicero oder Quintilian - einer ausgeprägten Körpermetaphorik, welche die einzelnen Bestandteile der Rede als Gliedmaßen bezeichnet, die nur in ihrer Gesamtheit, als „organisches Ganzes“,3 zum rhetorischen Erfolg führe. Innerhalb des Ovid’schen Philomela-Textes und auch in seinen späteren Adaptationen wird genau diese Verknüpfung von rhetorischer Repräsentation, Körper und Geschlecht mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung ins Zentrum der Darstellung gerückt. Dabei erweisen sich nicht nur die Vergewaltigung, das darauf folgende Verstümmeln der Zunge
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Vgl. das entsprechende Zitat des Aristoteles in seiner „Poetik“. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982. 16.4, S. 51. Bischoff, Doerte: „Die schöne Stimme und der versehrte Körper. Ovids Philomela und die eloquentia corporis im Diskurs der Empfindsamkeit.“ In: Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz. Hg. v. Doerte Bischoff u. Martina Wagner-Egelhaaf. Freiburg im Breisgau 2003, S. 249-281, hier S. 249. Bischoff (Anm. 2), S. 257.
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sowie das ‚sprechende Gewebe‘ als Elemente, deren Bedeutungen für die Analyse offensichtlich sind. Auch durch das Reden und Schweigen der einzelnen Figuren innerhalb des Mythos selbst wird die Bedeutung von Sprache für seinen Aufbau offen gelegt und die Charakterisierung der Protagonistinnen und Protagonisten eng mit ihrem sprachlichen Verhalten verknüpft. Die Figur des Tereus zeichnet sich dabei vor allem durch seinen ausgeprägten oralen Trieb aus, der sich durch den kontinuierlichen Einsatz der Sprache zur Durchsetzung seiner Interessen sowie im verbalen Ausdruck seiner Empfindungen zeigt, und an dem er letztendlich zugrunde geht. Leidenschaftliche Worte findet er beim Anblick Philomelas, um Pandion seine Tochter abzuschmeicheln: „Und die Liebe macht ihn beredt.“4 Dass er dabei sein eigenes Verlangen hinter der Bitte Prognes versteckt und mit der Intensität seiner Rede die Grenzen der gesellschaftlichen Konvention überschreitet, wird in den verschiedenen Texten gleichermaßen tadelnd hervorgehoben.5 Als er schließlich seinen Willen bekommen hat und sich Philomela auf seinem Schiff befindet, kann er seine Zunge ebenfalls nicht beherrschen, sondern frohlockt: „Gewonnen, gewonnen, das Ziel meiner Wünsche, mit mir wird es geführt!“6 Sogar seine Schändung kündigt er Philomela mit Worten an,7 bei Chrétien setzt er ihr sogar in einem mehr als dreißig Verse umfassenden Schlagabtausch sein Vorhaben auseinander, und nachdem Philomela seine Avancen deutlich zurückweist, kündigt er schließlich an, dass er sich ihrer nun mit Gewalt bemächtigen werde.8 Wieder zurück in seiner Heimat jammert und lügt er, Philomela sei tot und begraben. Letztendlich wird ihm seine orale Maßlosigkeit zum Verhängnis. Ebenso wie er zuvor Philomela mit seinen Blicken verschlang, verschlingt er nun in perverser Analogie sein eigenes Fleisch und Blut. Selbst das schreckliche Geschrei nach der Enthüllung des anthropophagen Mahls, sein Weinen und die Selbstanklage, er sei das elende Grab seines Sohnes, können das Geschehen nicht rückgängig ma-
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facundum faciebat amor (V. 469); dies berichtet in Anlehnung an Ovid auch Albrecht von Halberstadt: diu minne tet in redehaft (V. 118). quotiensque rogabat ulterius iusto, Prognen ita velle ferebat (Ovid, V. 469f; So oft er da bat – und öfter bat er als recht – bringt er vor, so wolle es Progne); vnd uzer mazen gebat, / Verrer den er solde, / so sageter, daz wolde / Sin vrowe recht al samelich (Albecht, V. 120-123). „vicimus“ exclamat „mecum mea vota feruntur“ (Ovid, V. 513); Wickram überliefert sogar zweifach den Ausruf des Tereus in direkter Rede: „Nun hab ich sunst kein bgerens meh“ / sagt Tereus / der schandtliche man/ Er sah die Junckfraw felschlich an / „Jetzt fuer ich mit mir des ich beger / Ich kam gantz saligklichen her“ (V. 1125-129). fassusque nefas (Ovid V. 524; Er gesteht seinen frevelnden Wunsch). V. 766-797.
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chen. Zurück bleibt ihm als Wiedehopf ein überlanger Schnabel, Stigma seiner menschlichen Vergangenheit und Zeugnis seiner oralen Gier. Obgleich innerhalb des antiken Textes deutlich wird, dass sich in der Figur des Tereus durch seine beständige verbale Artikulation die klassische Zuordnung des männlichen Geschlechts zum Medium der gesprochenen Sprache zeigt, präsentiert sich Philomela zunächst ebenfalls als versierte Rednerin, auch wenn ihre Worte weniger zahlreich überliefert sind. In einem sich über fünfzehn Verse erstreckenden Monolog - ihrer einzigen Äußerung, die innerhalb des Ovid’schen Textes in direkter Rede wiedergegeben wird - klagt sie Tereus eloquent der Vergewaltigung an, erinnert ihn an sein gebrochenes Wort, das er Pandion gegeben hat, beschuldigt ihn, die familiäre Ordnung zerstört zu haben und kündigt an, öffentlich gegen ihn das Wort zu ergreifen und sein Verbrechen zu benennen: „Ich selbst, der Scham mich entschlagend, werde verkünden, was du getan. Sobald es nur möglich, werde ich treten vors Volk.“9 Dass es innerhalb der Ovid’schen Fassung des Mythos die angekündigte Überschreitung der geschlechtlichen und sozialen Sprachreglementierung Philomelas ist, die Tereus zum Abschneiden ihrer Zunge motiviert, wird im Text unzweifelhaft deutlich gemacht: „Solches Reden erregte den Zorn des wilden Tyrannen, aber nicht minder auch seine Furcht; von beiden gestachelt, macht aus der Scheide er frei das Schwert.“10 So schrecklich die Folgen ihrer Ankündigung des öffentlichen Sprechens sind, so vergeblich waren zuvor ihre Rufe nach Vater, Schwester und Göttern im Moment der Angst. War ihre Stimme vor der Verstümmelung bereits nicht von Gewicht, ist ihr nun durch physische Gewalt gänzlich der Zugang zur Sprache verwehrt. Zwar überliefern alle in dieser Arbeit untersuchten Texte die Momente der Vergewaltigung und Verstümmelung sowie die anschließende Kommunikation Philomelas mit Hilfe von textilen Zeichen, doch variiert die Charakterisierung der Figur und ebenso ihr konkretes sprachliches Verhalten. Während bei Wickram von Philomela bis auf ihre umfangreiche Anklage ebenfalls keine wörtliche Rede überliefert ist und die Verstümmelung gleichermaßen explizit mit ihrem angedrohten ÖffentlichMachen des Verbrechens begründet wird,11 lässt sich innerhalb des Chrétien’schen Textes eine veränderte Konstellation beobachten. Dort,
_____________ 9 V. 544-546; ipsa pudore proiecto tua facta loquar: si copia detur, in populos veniam. 10 V. 549-551; Talibus ira feri postquam commota tyranni, nec minor hac metus est, causa stimulatus utraque quo fuit accinctus, agina liberat ensem. 11 V. 1215-1223; Als nun der schalck hort solche sag / Gantz tobend / wütendt er do wardt / Undd gegen der Junckfrawen hart / Bewegt inn grausam grossen zorn / Welche er groeßlich lobt zuforn. / Ir trawen im sein hertz erschreckt / So ward er auch aus zorn bwegt / Das er inn groß verzweifflung kam.
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wo bei Ovid und Wickram der Inhalt von Konversation in indirekter Rede lediglich angedeutet oder zusammengefasst wurde, setzt Chrétien an und gestaltet die entsprechenden Szenen in direkter Rede aus. Dies bedeutet, dass auch Philomelas Stimme ein nicht unbedeutender Raum zufällt, in welchem sie sich in jeder Hinsicht als äußerst eloquent, selbstbewusst und rhetorisch geschult erweist – nicht umsonst wurde innerhalb des eingänglichen Portraits ihre umfangreiche Bildung ebenso wie ihre vorbildliche Ausdrucksweise hervorgehoben: Et tant sot sagement parler / Que seulement de sa parole / Seüst elle tenir escole.12 Nicht nur in der Abgeschiedenheit des Waldes, auch zuvor in der Öffentlichkeit des Königshofes liefert sie sich mit Tereus einen verbalen Schlagabtausch, bei dem sie ihre argumentativen Fähigkeiten unter Beweis stellt: „[c’est] l’occasion pour la jeune fille de montrer avec quel talent elle manie le discours argumentatif.“13 Philomela partizipiert jedoch nicht nur am argumentativen Diskurs, auch innerhalb des Diskurses selbst wird über Reden und Schweigen verhandelt, was als ein weiterer Kunstgriff Chrétiens bei Auswahl und Erweiterung von inhaltlichen Elementen der antiken Quelle gewertet werden kann, wodurch der altfranzösische Autor gezielt inhaltliche Akzente setzt. So diskutieren Philomela und Tereus ausführlich darüber, wie das Schweigen Pandions als Reaktion auf die Bitte, Philomela nach Thrakien fahren zu lassen, zu interpretieren sei. Die unterschiedlichen Auffassungen der beiden bezüglich seines Schweigens verweisen bereits an dieser Stelle auf die gegensätzlichen sprachlichen Positionen, die durch Philomela und Tereus besetzt werden. Während Philomela die stumme Antwort des Vaters als unwiderrufliche Absage an das Vorhaben versteht,14 interpretiert es Tereus als uneingeschränkte Zustimmung und formuliert dies mit Hilfe eines Sprichwortes: Qu’assez otroie qui se taist.15 Darüber hinaus lässt Chrétien Philomela sogar selbst innerhalb des Diskurses über die Bedeutung der eigenen Stimme reflektieren, als es darum geht, ihren Vater davon zu überzeugen, die Reise zu ihrer Schwester zu erlauben. Nachdem Tereus sein Anliegen gegenüber Pandion wortreich vorgetragen hat und beim Anblick Philomelas diese darum bittet, ihre Stimme ebenfalls zur Durchsetzung des Vorhabens gegenüber ihrem Va-
_____________ 12 V. 202-204; Sie konnte sich schließlich so gewählt ausdrücken, dass sie allein durch diese Begabung hätte Schule machen können. 13 Pyrame et Thisbé, Narcisse, Philomena. Trois contes du XIIe siècle français imités d’Ovide. Hg. v. Emmanuèle Baumgartner. Paris 2000, S. 179. 14 Dont n’i convient il point de glose (V. 300; Alles weitere Reden ist sinnlos). 15 V. 316; Wer schweigt, ist einverstanden. Vgl. zu dieser Stelle die Anmerkung von Baumgartner: „Ce proverbe est le n° 140 du recueil de Morawski, Proverbes français antérieurs au XVe siècle, CFMA, 1925.“
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ter einzusetzen, erwidert sie: „Sire, ma parole envers la vostre, que vaudroit?“16 Mit dieser rhetorischen Frage gibt sie nicht nur die Vormachtstellung der maskulinen Stimme zu bedenken und zweifelt an der Möglichkeit, Tereus als sprechendes Subjekt ersetzen zu können. Darüber hinaus ist auch die Interessenslage ihrer Äußerung komplex. Die Aufforderung zu sprechen erhält sie von Tereus, der ihre Stimme für das Verfolgen seiner eigenen Interessen benutzen will. Gleichzeitig möchte auch sie ihre Schwester besuchen, doch indem sie die Reise durchzusetzen versucht, bittet sie – ohne es zu wissen - um das eigene Verhängnis. Dass sich an dieser Stelle das Paradox eines sprechenden, weiblichen Subjekts manifestiert, welches selbst im Moment des Sprechens seinem Objekt-Status nicht entfliehen kann, wie es E. Jane Burns für den altfranzösischen Text ausführt,17 erscheint mir sowohl durch das nachfolgende Geschehen, als auch durch das weitere sprachliche Verhalten Philomelas nicht zu rechtfertigen. In ihrer Rede findet sich gerade nicht „the ring of subservience in nearly every word […], from the deferential ,sire‘ and the formal ,vostre‘ to the conditional proposition of ,vaudroit‘.“18 Trotz der höfischen Form des Ausdrucks, dem die Anrede von sire und vostre ebenso wie das Konditional geschuldet sind, und die auch Tereus seinerseits in der Anrede an Philomela verwendet, äußert sie sich unverhohlen und direkt, indem sie Tereus korrigiert,19 die Gesprächssituation klar beurteilt,20 und sich auch später in der bedrohlichen Situation der bevorstehenden Vergewaltigung mit deutlichen Worten zur Wehr setzt: Mes se me volez apeler / D’amour qui soi contre droiture, / Taisiez vous ent, je n’en ai cure.21 Die Aufforderung, Tereus solle zu einer verbotenen Liaison zwischen ihm und ihr schweigen, macht deutlich, dass sie sich nicht scheut, die geschlechtlich markierte Sprachreglementierung zu ignorieren bzw. in ihr Gegenteil zu verkehren und Tereus den Mund zu verbieten, obgleich sie sich ihrer unterlegenen Position bewusst ist. Dies wird in ihrer anfänglichen, rhetorischen Frage nach dem
_____________ 16 V. 276f.; „Herr, welches Gewicht hat meine Stimme im Vergleich zu Eurer?“ 17 Vgl. Burns, E. Jane: Bodytalk. When Women Speak in Old French Literature. Philadelphia 1993, S. 1. 18 Burns (Anm. 17), S. 1. 19 Se vous en gardïez auu droit, / Vos derïez prier ançois (V.278f.; Es wäre eigentlich zuerst an Euch, diese Bitte zu formulieren). 20 Dont n’i convient il point de glose (V. 300; Alles weitere Reden ist sinnlos). Baumgartner weist auf die pikante Verwendung des Terminus glose an dieser Stelle hin und vermutet, dass sich dahinter ein ironischer Verweis auf die Subtilität der Rhetorik verbirgt. Dies unterstreicht ebenfalls das fast spöttische Redeverhalten Philomelas. Vgl. Baumgartner (Anm. 13), S. 181. 21 V. 774-776; Wenn Ihr von mir eine verbotene Liebesbeziehung verlangt, dann schweigt dazu, so etwas möchte ich nicht.
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Gewicht ihrer eigenen Sprache im Gegensatz zu der seinen deutlich, auf die sie selbst bereits die Antwort kennt. Noch klarer sichtbar wird ihr sprachliches Selbstbewusstsein innerhalb des altfranzösischen Textes, wenn man die entsprechende Passage der anderen Überlieferungen vergleichend betrachtet. Ovid spricht von der „Erbleichende[n], die schon bangend alles befürchtet, schon unter Tränen der Angst ihn fragt, wo die Schwester denn sei“,22 und auch Wickram berichtet von einer weinenden Philomela, die auf die Frage nach der Schwester noch nicht einmal eine Antwort erhält: Philomela die weinet sehr / Und frogt wo doch ir schwester wer / Dorauff wardt ir gar kein bescheit.23 Im Gegensatz zu einer verängstigten und weinenden Frau, die durch das Fragen nach der Schwester den Wunsch nach Beistand in dieser prekären Situation zum Ausdruck bringt, berichtet Chrétien davon, dass Philomela mit Tereus lacht und scherzt, als sie sich mit ihm in der abgelegenen Wildnis befindet, und auch die Frage nach Progne wird nicht überliefert: Parlant, gabant endementiers / Or d’un ou d’el par traïson / L’en a mené en sa meson.24 Dass innerhalb des altfranzösischen Textes Philomelas Stimme sehr wohl hörbar ist, obgleich sie im Vergleich zu Tereus wenig auszurichten vermag, wird schließlich dadurch am deutlichsten sichtbar, dass es der einzige Text ist, in dem die Verstümmelung gerade nicht unmittelbar an die Androhung Philomelas geknüpft ist, das Verbrechen öffentlich zu machen. Zwar klagt sie auch in diesem Text den Schwager an, doch zum einen erfolgt dies vor der Vergewaltigung, nachdem Tereus ihr seine Absicht offenbart, zum anderen bedroht sie ihn nicht damit, sein Verbrechen vor dem Volk zu verkünden. Tereus hat ihre Eloquenz und ihr Selbstbewusstsein bereits erfahren, sodass er ihr direkt nach der Vergewaltigung die Zunge abschneidet, da ein Öffentlich-Machen des Verbrechens durch ihre Stimme vorauszusehen ist. So verstümmelt er sie direkt nach der Vergewaltigung ohne sie noch einmal zu Wort kommen zu lassen und formuliert selbst, was in den anderen Texten Philomela übernimmt: Un quanivet renchant a pris, Et pour ce que celle ne puisse Conter a home qu’ele truisse Ceste honte ne cest reprouche, Dist que la langue de la bouche
_____________ 22 V. 522-524; atque ibi pallentem trepidamque et cuncta timentem et iam cum lacrimis, ubi sit germana, rogantem includit. 23 V. 1144-1146. 24 V. 738-740; Sie unterhielten sich und scherzten über dieses und jenes, und mit einer solchen List führte er sie in sein Haus.
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Li trenchera tout a un fes, Si n’en sera parlé ja mes.25
Während Chrétien zum einen den Anteil der direkten Rede aller Figuren gegenüber des antiken Textes um ein Vielfaches erhöht, zum anderen die Sprache selbst zum Gegenstand der Diskussion auf Handlungsebene macht, so schwächt er die Szenen der unmittelbaren Gewalt im Vergleich zu Ovid bedeutend ab. Sowohl für die Vergewaltigung, als auch für die Verstümmelung der Zunge verwendet er lediglich einen Satz, und auch die vieldeutige Szene des antiken Textes, in der die abgetrennte Zunge noch halb lebendig auf dem Boden zuckt, wird nicht überliefert. Dass die detailliert dargestellte Gewalt gerade an dieser Stelle gemildert wird, erstaunt dennoch aufgrund der hohen Symbolkraft der Zunge, da diese für den innerhalb des Textes bereits so deutlich sichtbar gewordenen Aspekt der Sprache von zentraler Bedeutung ist. Als Organ, „welches sich kontinuierlich auf der Schwelle zwischen Intimität und Öffentlichkeit bewegt“,26 sowie im lateinischen lingua, dem griechischen glossa und ebenso zahlreichen anderen Sprachen metonymisch für ‚Sprache‘ stehen kann, birgt es ebenfalls Dimensionen von Gewalt, Macht und Lust in sich, die innerhalb des Mythos im Moment der Verstümmelung der Zunge zusammengeführt werden. Dass der Zunge ein Eigenleben innewohnt und sie beständig diszipliniert werden muss, wird vom Neuen Testament über die religiösen Traktate und Verhaltenslehren des Mittelalters bis in die Frühe Neuzeit immer wieder betont – das Beherrschen der Zunge galt als wesentliches Element der Selbstdisziplin.27 Die gleichzeitige Autonomie und Abhängigkeit des Organs zeigt sich beispielhaft bei Ovid, wenn dort die abgeschlagene Zunge empor schnellt und „wie der Schwanz der verstümmelten Schlange zu springen pflegt“28 noch im Moment des Sterbens zu ihrer Besitzerin strebt. Ebenso wie die Zunge ihren gewöhnlichen, intimen Platz, den Mundraum, auch verlassen und für andere sichtbar werden kann, so spiegelt sich diese Grenzüberschreitung zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Körpers in der Ankündigung Philomelas wider, das Verbrechen
_____________ 25 V. 846-852; Er nahm ein kleines scharfes Messer und verkündete, dass er der jungen Frau die Zunge aus dem Mund schneiden werde, damit sie nicht jedermann von dieser Schmach und Entehrung berichten könne. So werde sein Verbrechen geheim bleiben. 26 Benthien, Claudia: „Zwiespältige Zungen. Der Kampf um Lust und Macht im oralen Raum.“ In: Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Hg. v. Claudia Benthien u. Christoph Wulf. Reinbeck 2001, S. 104-132, hier S. 104. 27 Zur historischen Entwicklung der Disziplinierung der Zunge vgl. Benthien (Anm. 26), S. 104ff. 28 V. 559; utque salire solet mutilatae cauda colubrae.
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öffentlich zu machen. Diszipliniert werden muss nur, was auch eine gewisse Macht inne hat, und dass in diesem Fall Philomela über die Macht der Sprache verfügt, mit der sie über die Verbrechen des Tereus berichten kann, wird durch die gewaltsame ‚Disziplinierung‘ der Zunge, der Verstümmelung durch Tereus, sichtbar. Das Instrument der Sprache, die Zunge, und das Instrument der Verstümmelung, das Schwert, stehen dabei in einer symbolischen Analogie zueinander. Dass die Zunge als Kampfmittel ebenso wirkungsvoll eingesetzt werden kann wie ein Schwert, wird nicht nur durch die zahlreichen Substantive deutlich, die Grimms Deutsches Wörterbuch unter der Rubrik „Zunge als Kampfmittel“ aufführt und bei denen die Zunge mit den unterschiedlichsten Waffen wie Lanze, Messer, Gewehr oder Schwert kombiniert wird.29 Benthien verweist ebenfalls auf ein spanisches Emblem des frühen 17. Jahrhunderts, auf dem unter dem lateinischen Titel „Tu servare potes tu perdere“ („Du kannst retten und verderben“) zwei Hände abgebildet sind, die jeweils ein Schwert und eine Zunge kampfbereit in die Höhe halten.30 Neben diesen beiden Objekten, deren Konkurrenz sich beispielhaft auf den Philomela-Mythos übertragen lässt, machen die beiden wie erigiert aufgerichteten Kampfinstrumente ebenfalls die sexuelle Implikation deutlich, die sich in der Verstümmelung der Zunge verbirgt und die innerhalb des Ovid’schen Textes durch das Bild der Zunge als Schlange bereits angedeutet wurde. Betrachtet man das Abschneiden der Zunge im Rahmen der psychoanalytischen Theorie,31 so wird sie als symbolische Kastration lesbar. Philomela, die verbal von einem verbotenen Begehren Zeugnis ablegen will, wird ihrer sprachlichen Potenz, der phallisch besetzten Zunge, beraubt, ebenso wie Tereus zuvor durch die Ver-
_____________ 29 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Band 32. Sechzehnter Band (Zobel-Zypressenzweig). Bearbeitet von Gustav Rosenhagen und der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches zu Berlin. Fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe von 1954. München 1984, S. 607f. 30 Benthien (Anm. 26), S. 108. 31 Das Interpretieren von Mythen mit Hilfe des psychoanalytischen Ansatzes hat eine lange Tradition, die auf die Arbeiten Siegmund Freuds und seine Kombination von Psychoanalyse, Literatur und Mythologie zurückgehen. So wurde auch der PhilomelaMythos von John Carl Flügel anhand dieser Methode analysiert, auf dessen Arbeit ich im Folgenden zurückgreife. Flügel, John Carl: „A note on the phallic significance on the tongue and of speech.“ In: The international Journal of Psycho-Analysis 2/6 (1925), S. 209-215. Ebenfalls stütze ich mich auf eine unveröffentlichte Arbeit Julia Freytags, die sich dem Thema „Stimme und symbolische Kastration in Ovids Philomela-Mythos und in Albrechts von Halberstadt und Georg Wickrams Übersetzung“ widmet, und bei der ich mich für zahlreiche Philomela-Anmerkungen herzlich bedanke. Aus Gründen des Umfangs kann eine ausführliche, psychoanalytische Analyse an dieser Stelle nicht erfolgen, so dass wesentliche Eckpunkte der Interpretation nur angedeutet werden.
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gewaltigung ihre Individualität und Sexualität zerstörte.32 Darüber hinaus ist es nicht nur das Öffentlich-Machen der verbotenen Liaison zwischen Tereus und Philomela, die einen Grund für diese symbolische Kastration liefert. Auch die Tatsache, dass Philomelas Zunge während der Vergewaltigung „immer des Vaters Namen empört noch ruft“33 und damit an die Rechtsordnung appelliert, interpretiert Claudia Benthien als Grund für ihre Verstümmelung. Durch das Rufen nach dem Vater wird gleichzeitig auf eine weitere Verbindung hingewiesen, die ebenfalls ein verbotenes Begehren beinhaltet, deuten doch Ovid, und auch nach ihm Chrétien und Wickram eine inzestuöse Verbindung zwischen Pandion und Philomela an. So wird diese durch die symbolische Kastration nicht nur der Möglichkeit des gesprochenen Wortes beraubt, sondern Tereus bringt auch gleichzeitig die Rufe nach dem potentiellen Konkurrenten sowie die Erinnerung an die herrschende Rechtsordnung zum Schweigen, die durch den Inzest ebenfalls pervertiert ist. Betrachtet man schließlich die Figur der Progne, so ist allein sie es, die ihre Sprache zu beherrschen, ihre ‚Zunge zu hüten‘ vermag. Sowohl bei Ovid, als auch bei Chrétien und Wickram wird ihr Verstummen beim Anblick des Gewebes überliefert, wobei die Autoren das Schweigen jedoch auf unterschiedliche Weise erklären. Ovid berichtet davon, dass ihr das Entsetzen über das Dargestellte die Sprache verschlägt und sie vergeblich nach Worten sucht, die dazu fähig sind, ihr Erschrecken abzubilden.34 Ein Einschub des Erzählers („- ein Wunder, dass sie es konnte! -“35) unterstreicht das Unvorstellbare dieser stummen Reaktion. Auch Wickram erklärt ihr Schweigen durch die Grausamkeit des abgebildeten Geschehens: Jedoch kein Wort nit darzu sprach / Dann ir das leidt stopffet den mundt / Das sie keyn wort nit reden kundt.36 Die Reaktion Prognes wird dabei noch durch eine Ohnmacht verstärkt – die visuelle Botschaft raubt Progne die Sinne. Betrachtet man die Beschreibung von Prognes Verhalten bei Chrétien, so ist es dort ihre Selbstbeherrschung, sich die eigenen Emotionen nicht anmerken zu lassen, mit denen ihr Verstummen begründet wird: Mes son penser pas ne descueuvre, / Que ne veult faire cri ne noise, / Ains commande
_____________ 32 Vgl. Geyer-Ryan, Helga: „Kassandra in Sizilien.“ In: Schweigen. Unterbrechung und Grenze der menschlichen Wirklichkeit. Hg. v. Dietmar Kamper u. Christoph Wulf. Berlin 1992, S. 117-127. 33 V. 555; nomen patris usque vocantem. An dieser Stelle ruft die Zunge selbst und erhält sowohl syntaktisch, als auch symbolisch den Status eines eigenständigen Subjekts. 34 dolor ora repressit, verbaque quaerenti satis indignantia linguae defuerunt (V. 583; Der Schmerz verschloss ihr die Lippen. Worte, die solcher Empörung genügten, sucht sie vergeblich). 35 V. 583; mirum potuisse. 36 V. 1287-1289.
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qu’ele s’en voise.37 Doch obgleich sie im Moment der Entrüstung Schweigen bewahrt, benutzt auch sie später ihre Sprache, um ihren Emotionen Ausdruck zu verleihen, und so stehen ihre beiden prägnanten, verbalen Äußerungen am Ende des Mythos im Zeichen der Rache. Zum einen sinnt sie im Ovid’schen Text laut über eine angemessene Form nach, die Schmach der Schwester zu sühnen, und indem sie äußert, Tereus „die Zunge, die Augen, das Glied, mit dem er die Scham dir raubte, mit Eisen ihm [zu] rauben“,38 wird ein weiteres Mal die Spiegelbildlichkeit der Rache aufgerufen, die sich im Vergleich mit der Vergewaltigung und Verstümmelung Philomelas erkennen lässt. Mit Zunge, Auge und Glied benennt Progne die Körperteile, die gemäß des psychoanalytischen Ansatzes von der unmittelbaren (Glied) bzw. symbolischen (Zunge und Auge) Kastration bedroht sind, und auch das Schwert als phallisches Symbol wird als Echo auf die Tatwaffe(n) des Tereus (Glied und Schwert) ein weiteres Mal genannt.39 Zum anderen belügt sie Tereus bei der Einladung zu einem fiktiven Ritus ebenso, wie dieser ihr zuvor vom vermeintlichen Tod der Schwester berichtet hat: „Sie log von heiligem Brauch der Väter, dem einzig nahen dürfe der Mann.“40 Tereus erliegt dieser schmeichelhaftexklusiven Einladung, verschlingt seinen eigenen Sohn und somit symbolisch auch sich selbst. Die Beobachtung, dass auch die sprachliche Enthüllung der wahren Beschaffenheit der Speise in fast allen Texten durch ein Wortspiel zum Ausdruck gebracht wird („Drinnen hast Du, den Du verlangst!“41), lässt einen gewissen Genuss erkennen, die Rache verbal zum Ausdruck zu bringen, und auch Philomela wünscht sich nie mehr ihre Sprache zurück, als im Moment höchster Rache, der Präsentation von Itys’ blutigem Haupt. Doch bleibt ihr Triumph zwangsweise stumm, ebenso wie die Tat der Schwestern auch zuvor nicht in Worten fassbar war: „Etwas Großes werd’ ich vollführen,“42 so Progne in der Ankündigung ihrer Rache, doch im Gegensatz zu konkreten Plänen der Vernichtung und Verstümmelung des Tereus ist das „Große“, Kindsmord und Anthropophagie, nicht benennbar. „An die Stelle rednerischer actio im Sinne der klassischen Rhetorik, die den vom sprechenden Subjekt kontrollierten Einsatz von Stimme und Körper bedeutete, tritt die den Körper zerstückelnde ,Sprache‘ des Exzes-
_____________ 37 V. 1238; Doch sie ließ sich nichts anmerken und verbot sich Schreie und andere laute Äußerungen. 38 V. 616f.; aut linguam aut oculos et quae tibi membra pudorem abstulerunt, ferro rapiam. 39 Auch das Begriffspaar von Scheide und Schwert deutet unzweifelhaft auf die phallische Symbolkraft der Waffe hin. 40 V. 648f.; et patrii moris sacrum mentita, quod uni fas sit adire viro. 41 V. 655; intus habes, quem poscis. 42 V. 618; magnum quodcumque paravi.
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ses.“43 Die Rache wird zu einer Form der Artikulation, deren Spiegelbildlichkeit zur primären, männlichen Gewalt bereits ausführlich dargestellt wurde und als Sprachersatz zu dem wird, was im feministischen Diskurs unter dem Begriff der ‚Mimesis‘ gefasst wird.44 Durch eine Kopie der Akte, die zur Herstellung der Zuordnung von männlichem Subjekt und weiblichem Objekt führten – hier der Ausschluss der weiblichen Stimme aus der rhetorischen Ordnung durch Vergewaltigung und Mutilation der Zunge, und das anschließende, gewaltsame ‚Echo‘ durch die Rache der Frauen – wird die Repräsentationsordnung gestört und die klare Zuordnung der Attribute männlich/weiblich in ihr Gegenteil verkehrt. Dabei handelt es sich jedoch nicht, so Judith Butler, um einen einfachen Prozess der Nachahmung: „Dies ist kein Zitieren, das Versklavung oder simple Wiederholung des Originals ist, sondern ein Zitieren als eine Widersetzlichkeit, die […] das ursprüngliche Vermögen […] in Frage stellt. Ihr Nachahmen will nur den Effekt einer Wiederholung des Ursprungs erzielen, um diesen Ursprung als einen Ursprung zu verschieben.“45
In diesem Sinne wäre es auch zu kurz gegriffen, die gewebte Kommunikation Philomelas als den Inbegriff einer ‚weiblichen Stimme‘, einer alternativen Kommunikationsform zu lesen, wie es in der feministischen Interpretation des Mythos oftmals geschieht.46 Denn auch durch die Wiederholung weiblich konnotierter Tätigkeiten wie beispielsweise dem Weben wird innerhalb des Mythos gerade nicht eine Verfestigung dieser konventionellen Zuordnung präsentiert, sondern diese als eine solche offengelegt: Die Kommunikation mittels des ‚sprechenden Gewebes‘ ist nur durch die klare, gesellschaftliche Markierung des Herstellungsprozesses als weiblich, friedlich und unverdächtig möglich, und indem sich Philomela dies zu Nutze macht, ist ihre Kommunikationsform überhaupt erst erfolgreich. Nur so können ihre Wachen getäuscht und überwunden werden. Ähnliches gilt auch für die List Prognes, Tereus das eigene Kind als Speise vorzusetzen. Auch sie benutzt dort die dem weiblichen Geschlecht traditionell zugeordnete Tätigkeit des Kochens zur Umsetzung ihres Racheplans, indem sie die per se mit dem Bild der pflichtbewussten Ehe-, sowie der für die Familie und deren Erhalt sorgenden Hausfrau verknüpften Rolle der Köchin in ihr Gegenteil verkehrt. So wird sowohl durch die Wiederholung der männlichen Gewalt als auch durch die Pervertierung
_____________ 43 Bischoff (Anm. 2), S. 251. 44 Vgl. u.a. Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt am Main 1978, S. 67; Irigaray, Luce: „Macht des Diskurses, Unterordnung des Weiblichen.“ In: Dies.: Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin 1979, S. 70-88. 45 Butler, Judith: Körper von Gewicht. Frankfurt am Main 1993, S. 75 (Hervorhebungen im Text). 46 Vgl. dazu die Übersicht in der Einleitung, S. 4f.
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der als typisch weiblich besetzten Tätigkeiten des Webens und Kochens die klassische, geschlechtlich markierte Ordnung sichtbar gemacht und durchbrochen. Die Spirale der Gewalt, die sich durch die Mimesis der Frauen ergibt, und die in dem Moment, in dem Tereus die beiden Schwestern mit dem Schwert zu erschlagen versucht, auf einen neuen Höhepunkt zustrebt, wird jedoch durch die Metamorphose der Figuren unterbrochen. Während bei Ovid die Verwandlung der Frauen im Moment ihrer Flucht gleichsam dynamisch und ohne äußere Einwirkung zu erfolgen scheint,47 und auch die Auslegungen des „Ovide moralisé“, der beiden „Ovide moralisé en prose“ und Gerhard Lorichius’ von einer Verwandlung sprechen, ohne deren ‚Verursacher‘ zu benennen, wird sie in anderen Texten dem göttlichem Eingreifen zugeschrieben. So sind es bei Chrétien die Parzen, die die Verwandlung vollziehen, Schicksalsgöttinnen, die durch das Herstellen, Bemessen und Abschneiden des Lebensfadens ein weiteres Beispiel weiblicher ‚Textilproduktion‘ innerhalb des Mythos liefern. Wickram berichtet allgemein von den Göttern, die für die Metamorphose verantwortlich sind: Denn in der wunderlichen gschicht / Begund es die Goett zu erbarmen / Und schirmetten die beden armen.48 Unterschiedlicher als die Darstellung der Verwandlung selbst sind die Begründungen und ihr jeweiliges Resultat. Während über die entgegengesetzte Verteilung der Verwandlung in Nachtigall und Schwalbe in der griechischen und römischen Tradierung des Mythos bereits berichtet wurde, so bleibt auch bei Ovid die Transformation der Schwestern vage.49 Nur die Metamorphose des Tereus in einen Wiedehopf wird explizit benannt, wobei sich in seinen äußeren Erkennungsmerkmalen die Elemente spiegeln, die innerhalb des Mythos als zentrale Charakteristika der Figur sichtbar geworden sind. Er bleibt der Krieger, als der er eingeführt wurde, indem sein kämpferisches Wesen und seine Abstammung vom Kriegsgott Mars sich in seinen Insignien wieder finden: „Er […] wird zu dem Vogel, dem auf dem Scheitel der Helmbusch emporsteht. Maßlos ragt ihm anstatt des langen Schwertes der Schnabel. Wiedehopf heißt er und bietet das Bild eines Kriegers in Waffen.“50 Doch nicht nur seine kriegerische Natur, auch seine Maßlosigkeit, die Konzentration auf das Orale und seine sexuelle Verfehlung vereinigen sich in der phallischen Form des langen Schnabels: Schwert, Schnabel als Ort der Stimme bzw. des Gesangs und männ-
_____________ 47 Corpora Cecropidum pennis pendere puttares: pendebant pennis (V. 667f.; Wie auf Flügeln schienen die attischen Frauen zu schweben, und – sie schwebten auf Flügeln). 48 V. 1473-1475. 49 Vgl. dazu S. 80. 50 V. 671-674; ille […] vertitur in volucrem, cui stant in vertice cristae, prominet inmodicum pro longa cuspide rostrum. Nomen epops volucri, facies armata videtur.
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licher Phallus legen noch nach der Verwandlung Zeugnis ab von seiner Maßlosigkeit. Die mittelalterlichen Varianten des Mythos erweisen sich bezüglich der Verwandlung und ihrer Erklärung meist als ausführlicher als der Ovid’sche Text und dies in sehr unterschiedlicher Form, wobei jedoch textübergreifend die Stimme eine zentrale Rolle spielt. Gleichermaßen wird der außergewöhnlich schöne Gesang der Nachtigall betont, wobei jedoch für seine Bedeutung und Begründung ebenfalls keine einheitliche Erklärung geliefert wird. Wickram berichtet in über fünfzehn Versen, dass sich die Nachtigall in den Wald geflüchtet hat, wo sie bereits zuvor in menschlicher Gestalt gefangen gehalten wurde und wo sie nun, sobald der Mai beginnt, ihr Schicksal, ihre verlorene Unschuld sowie ihr Haar beklagt, das ihr ebenfalls durch Tereus abgeschnitten worden ist. Erstaunlicherweise wird hier das Singvermögen nicht auf die erzwungene Stummheit Philomelas, sondern auf ihre außergewöhnliche Schönheit zurückgeführt: Ebenso wie sie die anderen Frauen durch ihr Äußeres übertraf, so übertrifft sie nun mit ihrem Gesang die anderen Vögel.51 Im Gegensatz dazu stellt Lorichius in der anschließenden Auslegung – wenngleich auch etwas lakonisch - die Verbindung von mutilierter Zunge und Gesangsvermögen der Nachtigall her: Und die wie sie eyn stumme Jungfraw ist gewest / ist sie nun zum gegen theyl eyn lautsingender vogel.52 Zwar benennt auch die altfranzösische Tradition das Gesangsvermögen der Nachtigall als deren herausragendes Merkmal, doch bindet sie dies weniger an das vergangene Schicksal Philomelas, als vielmehr an die Rache der Schwestern zurück, die sich nicht nur auf einen einmaligen Akt beschränkt, sondern durch den Gesang der Nachtigall noch heute zum Töten aufruft: Encore, qui creroit son los, Seroient a honte trestuit Li desloial mort et destruit, Et li felon et li parjure, Et cil qui de joie n’ont cure, Et tuit cil qui font mesprison Et felonnie et traïçon Vers pucele sage et cortoise,
_____________ 51 V. 1498-1515; Sie wardt zur stundt eyn Nachtigal / Wie mans noch hoert inn berg und thal / Klagen ir hoechstes ungemach / Welchs ir zuvor im waldt geschach / Also flog sie schnel inn den waldt / Klagen ir leidt semmlicher gstalt / So baldt der May herinher dringt / Das laub und graß herfourher springt / So hoeret man ir stim so Hell / Imm walt / und klagt ir ungevel / Und erstes krentzlein so sie truog / Und ir har ab zu rucken schlug / Auch hat all ir schoen gwendet sich / Inn lieplichs gsang als samentlich / Die noch mit irem süssem schal / Fürtrifft die andern vogel all / Wie sie auch andern frawen zvor / Mit irer schoen ist gangen vor. 52 Z. 37f.
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Quar tant lor grieve et tant lor poise Que quant il vient au prin d’esté, Que tout l’iver avons passé, Pour les mauvés qu’ele tant het Chante au plus doucement qu’el set Par le boschaige: oci! oci! De Philomena lairai ci.53
Auch innerhalb des „Ovide moralisé en prose I“ wird dem Gesang diese Bedeutung zugeschrieben und mit der stummen Schwalbe als verwandelte Progne ein Gegenbild zur singenden Nachtigall aufgerufen, das bereits in der antiken Überlieferung existierte.54 In den weiteren mittelalterlichen Texten wird die Schwalbe in der Regel mit dem Kindsmord in Verbindung gebracht, dessen blutige Spuren sich auf ihrem Brustgefieder finden, die noch einmal an die purpurnen Zeichen Philomelas denken lassen und die Spiegelbildlichkeit der beiden Schwestern ein weiteres Mal vor Augen führen. Doch auch diese Auslegung variiert und die Figuren werden vertauscht. So berichtet Lorichius, dass sich nicht Progne, sondern Itys in eine Schwalbe verwandelt – auch hier ist das rote Brustgefieder als Zeichen der Bluttat lesbar, obgleich es nicht die Täterin, sondern das Opfer kenntlich macht. Ebenso wird der Nistplatz der Schwalbe in menschlicher Nähe von Lorichius einleuchtend erklärt: Die Schwalb ist noch zum theyl schwartz von dem blut / und ist auch noch gern inn den heusern / mag nit inn den welden und eckern bei vatter und mutter nesten.55 Progne hingegen verwandelt sich in eine Wachtel, ein Beleg, so der Geistliche, für ihre königliche Herkunft, denn ihr Fleisch ist den Adligen vorbehalten. Wickram selbst berichtet im Gegensatz zu der Auslegung durch Lorichius von der Metamorphose Prognes in eine Schwalbe, in deren schwarzem Gefieder er die Trauerkleidung erkennt, die sie nach dem Tod der Schwester angelegt hatte. In den Darstellungen des Wiedehopfs bei Wickram lassen sich die bereits bei Ovid beobachteten Attribute des Kriegers wieder finden, und ebenso wie innerhalb des antiken Textes erfolgt dies auch hier mit eindeutig sexueller Konnotation:
_____________ 53 V. 1454-1468; Noch heute sollte man, wenn man ihrem Gesang Glauben schenkt, diejenigen töten und den Hinterhältigen, Grausamen, Unehrenhaften, denen, die nicht das Glück achten, und denen, die sich unehrenhaft und hinterhältig gegenüber einer ehrenhaften und höfischen Jungfrau verhalten, ein unwürdiges Ende bereiten. Sie [die Nachtigall] bereitet ihnen Schmerzen und quält sie so stark, dass sie im Frühjahr im Wald, wenn wir den Winter hinter uns gelassen haben, in ihrem Hass auf die Schändlichen, so süß singt, wie sie nur kann: Töte! Töte! 54 Et Phillomena devint roussigneul, qui ou prin temps d’esté chante: „Othy, othy“. Und Philomela verwandelt sich in eine Nachtigall, die im Frühjahr singt: „Töte, töte!“ 55 Lorichius, Z. 35-37.
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Dann er zu stund ward eyn Widhopff Das schwert wuochs im auff seinem kopff Eyn langer schnabel ward sein spies Damit er vormals schoß und stieß Die Bantzer Sprinckeln stond im frey als ob er schon gewopnet sey.56
Bestimmend für die mittelalterliche Auslegung der Metamorphose ist das Bild des Wiedehopfs, der gemäß der Tradierung innerhalb der Bestiarien als unreyner vogel gilt,57 was dementsprechend durch sein Verhalten innerhalb des Mythos erklärt wird. Lorichius bezieht sich auf Isidor von Sevilla, wenn er ausführt, der Vogel niste gern in Gräbern und menschlichem Unrat und halte sich bevorzugt dort auf wo leydt und jamer ist.58 Chrétien bezeichnet den hupe cupee59 als ein oisiaus / Ors et despis, petis et viaus […] Pour le pechié et pour la honte / Qu’il avoit fet de la pucele,60 und auch die Auslegung des „Ovide moralisé en prose I“ warnt, dass der Wiedehopf zwar ein schönes Federkleid habe, jedoch ein schmutziger Vogel sei.61 Handelt es sich beim Schlussbild der Metamorphose um ein Festschreiben der Spirale der Gewalt, der alle Beteiligten verhaftet sind, und um eine Fixierung der Problematik von Macht und Unterwerfung, die damit ungelöst bleibt? Lässt dies darüber hinaus die initialen Verbrechen des Tereus vergessen und vielmehr die Rache der Schwestern in Erinnerung der Rezipienten verbleiben, was Patricia Klindienst Joplin als ein „dead and deadly end“62 des Mythos kritisiert? „And as literary tradition shows, the end of the story overtakes all that preceded it; the women are remembered as more violent than the man.“63 Dass dies nicht für die mittelalterlichen literarischen Adaptationen des Mythos zutrifft, wird in ihren
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V. 1476-1481. Lorichius, Z. 14. Lorichius, Z. 24. Die Bedeutung des Adjektivs coupee bleibt in diesem Zusammenhang rätselhaft. Vgl. dazu auch Baumgartner: „On rappellera que la huppe, dans les Bestiaires comme dans les traditions populaires, est présentée comme un oiseau très sale et se nourrissant d’excréments. Nous avons gardé telle quelle dans la traduction la qualification de ,coupée‘, mais nous ignorons à quoi correspond cette indication.“ Baumgartner (Anm. 13), S. 253. V.1445-1451. Tereus wurde zu einem dreckigen und abstoßenden, kleinen und nichtswürdigen Vogel. […] Er wurde in einen Wiedehopf verwandelt, als Strafe für die Schande, die er der Jungfrau angetan hat. Et Thereüs […] fut mué en ung oyseau que l’on appelle huppe, qui est d’assez bau plumaige, mais il est ordoux. Und Tereus wurde in einen Vogel verwandelt, den man Wiedehopf nennt. Er besitzt ein schönes Federkleid, doch ist er schmutzig. Klindienst Joplin, Patricia: „The voice of the shuttle is ours.“ In: Stanford Literature review 1/1 (1984), S. 25-53, hier S. 45. Klindienst Joplin (Anm. 62), S. 45.
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Darstellungen der Metamorphose deutlich. So verschieden die Erklärungen der einzelnen Verwandlungen sind, so ist ihnen doch gemeinsam, dass sich in den Vögeln dieselben Eigenschaften wiederfinden lassen, durch die zuvor die jeweiligen Figuren charakterisiert worden sind. Dies beinhaltet nicht nur die Transformation des Tereus in einen als verachtungswürdig und schmutzig angesehenen Vogel, sondern auch den Aufruf zur Rache, der sich innerhalb der altfranzösischen Tradition durch den Gesang der Nachtigall manifestiert, und der die innerhalb des Mythos abgebildeten Machtstruktur immer wieder in Frage stellt. Encore, noch heute, betont der Chrétien’sche Text bei der Schilderung des süßen Gesangs dessen grausamen Inhalt und hebt damit gleichzeitig seinen präsentischen Charakter hervor, sodass das Ende des Mythos kein statisches ist, sondern sich im Gegenteil mit der Aufforderungen zum Handeln noch heute fortschreibt. Die relative Ausführlichkeit, mit der sich die mittelalterlichen Autoren dem Prozess der Metamorphose widmen, lässt sich dabei in Zusammenhang mit dem prekären Status betrachten, den das Prinzip der Verwandlung innerhalb der mittelalterlichen Theologie einnimmt. So stellt der Übergang des Menschen von einem Seinszustand in einen anderen, animalischen, die alleinige Schöpfungskraft Gottes in Frage, und die Schaffung des Menschen nach Gottes Ebenbild erscheint mit seiner Transformation in Tiere, Planeten oder Pflanzen unvereinbar. Um dieses Phänomen, mit dem die „Metamorphosen“ Ovids automatisch verknüpft sind, und das sowohl in der literarischen Überlieferung sowie der Folklore fest verankert ist,64 nicht gänzlich der heidnischen Tradition zu überlassen, griffen die mittelalterlichen Theologen als Erklärungsmuster zum einen auf den „Canon episcopi“ zurück, der den Glauben an eine ohne den Eingriff des Schöpfers erfolgte Metamorphose als eindeutig heidnisch benennt.65 Zum anderen bezieht sich die mittelalterliche Doktrin auf Augustinus, der sich im 18. Kapitel des „Gottesstaates“ ebenfalls der Metamorphose und ihrer Analyse widmet. Bei dieser handelt es sich, so Augus-
_____________ 64 Vgl. zum Motiv der Metamorphose sowie seiner Integration in die mittelalterliche Theologie: Métamorphose et bestiaire fantastique au Moyen-Age. Hg. v. Laurence Harf-Lancner. Paris 1985, besonders S. 3-25. 65 Quisquis ergo aliquid credit posse fieri, aut aliquam creaturam in melius aut in deterius immutari aut transformari in aliam speciem vel similitudinem , nisi ab ipso creatore, qui omnia fecit et per quem omnia facta sunt, procul dubio infidelis est. Wer auch immer glaubt, dass ein Gegenstand zum Gutem oder zum Schlechten verändert weden kann, oder verwandelt wird, um so die äußere Erscheinung oder eine Eigenschaft zu ändern, und zwar durch ein anderes Eingreifen als das des Schöpfers, der alles erschaffen hat, und durch den alle Dinge erschaffen wurden, der ist ohne Zweifel ein Ungläubiger. Vgl. den Abdruck dieses Textes in Hansen, J.: Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexenswahns. Bonn 1901, S. 38.
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tinus, um ein „Gaukelspiel der Dämonen“,66 deren Kraft, Wesen neu zu erschaffen, er eindeutig verneint. Vielmehr ist es die Einbildungskraft des Menschen, die, Gedanken oder Träumen ähnlich, von den Dämonen getrübt werden und für eine vermeintliche Änderung der Gestalt verantwortlich sind: „Nur dem Ansehen nach ändern sich allenfalls Geschöpfe des wahren Gottes, sodass diese etwas zu sein scheinen, was sie nicht sind.“67 In diesem Sinne lässt sich auch in den mittelalterlichen Ausführungen der Verwandlung trotz ihrer Unterschiedlichkeit ein gemeinsames Bemühen feststellen, Gestalt und Charakter der Tiere als Fortschreibung ihrer menschlichen Gestalt zu präsentieren. Nur die äußere Erscheinung hat sich gewandelt, die Attribute der Tiere werden zum Spiegel ihrer vormals menschlichen Existenz.
_____________ 66 Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat. Buch 11-22. Band II. Zürich, München 1978, S. 441-445, hier S. 442. 67 Augustinus (Anm. 66), S. 443.
III. Mordende Mütter, verschlingende Väter: Die Perversion der familiären Ordnung Liest man die Ovid’sche Fassung des Philomela-Mythos, so erweisen sich gleich mehrere Szenen als paradigmatisch für eine pervertierte familiäre Ordnung und legen in konzentrierter Form offen, wie sich das Begehren der einzelnen Figuren über die gesellschaftlich geregelten Grenzen von Alter, Geschlecht und Verwandtschaft hinwegsetzt. Als Philomela ihren Vater bittet, nach Thrakien fahren zu dürfen, deutet sich bereits in den Zärtlichkeiten, die Philomela und Pandion austauschen, eine inzestuöse Bindung zwischen Vater und Tochter an. Tereus, der die Szene beobachtet und sich an die Stelle des Vaters wünscht, begehrt gleichzeitig seine Schwägerin und damit eine weitere Bindung, die in der gesellschaftlichen Ordnung nicht vorgesehen ist. Die Beziehungen von Vater und Tochter sowie Schwager und Schwägerin überlagern sich somit bereits zu Beginn des Mythos zu einem Bild des doppelten Inzests.1 Auch im Moment der Vergewaltigung Philomelas zeigen sich nicht allein sexuelle Gewalt und verbotenes Begehren, dort erinnern ihre vergeblichen Rufe nach Vater und Schwester ebenfalls an familiäre Bindungen, die ihre Schutzfunktion verloren haben und gleichermaßen von Maßlosigkeit geprägt sind. Eine Spiegelung dieser Szene findet sich in den vergeblichen Rufen des Itys nach der Mutter im Moment seines Todes. Indem diese zur Mörderin des eigenen Kindes wird, verkehrt auch sie das klassische Mutterbild in sein Gegenteil. Schließlich kündet auch die abschließende Szene sinnbildlich von der Verkehrung bzw. dem Ende der familiären Ordnung. Indem Progne bei der Einladung ihres Mannes zu dem grausamen Mahl einen „heiligen Brauch der Väter“2 anführt, benutzt sie eine fiktive Tradition dazu, Tereus’ möglichen Argwohn bezüglich des intimen Mahls einzuschläfern,3 und missbraucht somit ein weiteres Mal einen scheinbar glaubwürdigen, familiär überlieferten Brauch für ihr eigenes Interesse. In dem Moment schließlich, in dem sich Tereus den eigenen Sohn einverleibt, thront er auf dem hohen Sitz seiner Ahnen und wird so sichtbar als das letzte Glied einer genealogischen Kette, deren Abfolge er selbst gerade ein Ende berei-
_____________ 1 2 3
Zur Definition des Verhältnisses von Schwager und Schwägerin als Inzest vgl. S. 229f. et patrii moris sacrum mentita (V. 648). et patrii moris sacrum mentita, quod uni fas sit adire viro, comites famulosque removit (V. 648f.; Sie log vom heiligen Brauch der Väter, dem einzig nahen dürfe der Mann, entfernt so Gefolge und Diener).
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tet.4 Damit erfüllen sich ebenfalls die Unglück bringenden Vorzeichen der Präsenz von Furien und Uhu, die sich während Hochzeit und Zeugung des Itys zeigten und gleichermaßen Ehe und Elternschaft negativ besetzen: „Tereus und Progne, vermählt unter diesem Zeichen, sie wurden auch Eltern unter ihm.“5 Diese einzelnen Szenen zeigen Momentaufnahmen der Zerstörung der familiären Ordnung durch ein Begehren, das der Ordnung zuwider läuft und sich in unterschiedlichen Formen des Inzests manifestiert. Den Mittelpunkt bildet dabei die Verbindung von Tereus und Philomela. Während die sexuelle Dimension bei den anderen ‚Paaren‘ nur angedeutet wird, ist sie hier explizit. Nicht nur in der konkreten Darstellung der Vergewaltigung, sondern auch auf Handlungsebene funktioniert sie als Auslöser einer Kette von Gewalt, wobei Philomela selbst die Verwirrung der familiären Ordnung nach der Tat gegenüber Tereus ausdrücklich benennt: „Alles hast du verkehrt: Der Schwester ward ich zur Kebse, zwiefacher Gatte bist du.“6 Diesem fundamentalen Verstoß gegen die gesellschaftliche Ordnung entspricht die Tatsache, dass sich Philomela innerhalb des Ovid’schen Textes nicht nur unmittelbar nach der Vergewaltigung, sondern auch im Moment des Wiedersehens als Nebenbuhlerin Prognes fühlt und das gesellschaftliche Stigma thematisiert wird: „Sie enthüllt der Schwester, der Armen, schamvoll Gesicht, sie will in die Arme sie schließen. Doch die erträgt nicht, die Augen aufzuheben zu ihr und fühlt sich als Kebse der Schwester.“7 Diskreter als das Verhältnis von Philomela und Tereus und dennoch als inzestuöse Bindung lesbar sind die Gesten zwischen Pandion und seiner Tochter am attischen Königshof. Schmeichelnd umfasst Philomela seine Schulter, und ihre Küsse und Arme, die sie um ihn schlingt, werden Tereus als Betrachter zur Qual. Auch die Bitte Pandions, die er unter Tränen beim Abschied der Tochter an seinen Schwager richtet, ist doppeldeutig. So sagt er zu ihm, er möge „beim Band der Verwandtschaft […] sie väterlich liebend beschützen, […] den süßen Trost des bekümmerten Alters.“8 Es ist jedoch gerade das Band der Verwandtschaft, das keine Sicherheit mehr bietet und somit auch nicht mehr als Institution der Verlässlichkeit taugt, auf das Pandion sich berufen kann. Dass er selbst das
_____________ 4 5 6 7 8
ipse sedens solio Tereus sublimis avito vescitur inque suam sua viscera congerit alvum (V. 650f.; So speist Tereus denn, auf dem hohen Sitz seiner Ahnen thronend, und füllt mit dem eigenen Fleisch und Blut seinen Leib an). hac ave coniuncti Progne Tereusque, parentes hac ave sunt facti (V. 433f.). omnia turbasti: paelex ego facta sororis, tu geminus coniunx (V. 537). sed non attollere contra sustinet haec oculos paelex sibi visa sororis (V. 605f.). do tibi perque fidem cognataque pectora supplex per superos oro, patrio uttuearis amore et mihi sollicitae lenimen dulce senectae (V. 498-500).
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beste Beispiel einer solch verkehrten Ordnung darstellt, wird ebenfalls in seiner Äußerung deutlich. Väterlich liebend soll Tereus seine Tochter beschützen, doch ebenso wie der Vater die Tochter als den „süßen Trost des bekümmerten Alters“ bezeichnet, so benutzt Tereus die Schwägerin durch ein Verhalten, das die verwandtschaftliche Bindung gleichermaßen überschreitet. Schließlich lässt sich noch eine dritte Inzest-Kategorie beobachten, die bereits im Rahmen des Kapitels dieser Arbeit untersucht wurde, das sich der Ovid’schen „Philomela“ widmet: die auffällig enge Bindung der beiden Schwestern untereinander.9 Nicht nur, dass beide indirekt über den Schwager bzw. den Ehemann miteinander vereint sind („Through Tereus, Philomela has committed incest with her sister.“10), auch ihr heftiger Wunsch nach einem Wiedersehen sowie Prognes maßlose Rache der Schwester Schmach durch den Mord an ihrem eigenen Sohn vermitteln unterschwellig, dass deren Gefühle zueinander mehr als schwesterlich sind, obgleich Ovid auf die Andeutung einer sexuellen Verbindung verzichtet. Entgegen der gewöhnlich unter Inzest verstandenen, heterosexuellen Beziehung zweier durch enge Blutsverwandtschaft miteinander verbundenen Menschen wie z.B. Bruder und Schwester oder Vater und Tochter benennt Françoise Héritier eine weitere Form des Inzests, den sogenannten ‚Inzest zweiten Typs‘, mit dem auch die Bindung der beiden Schwestern terminologisch und inhaltlich zu fassen ist. Darunter versteht sie „the possibility of incest of a different nature, between same-sex blood relatives who are not homosexual but who share the same sexual partner.“11 In ihrer Analyse der Ursprünge und unterschiedlichen gesellschaftlichen Formen des Inzestverbots bemerkt sie dabei für die griechische Antike, dass der Idee zweier Blutsverwandter, die denselben Sexualpartner teilen, größte Popularität zuteil wurde und eine regelrechte Obsession darstellte.12 Als literarische Abbilder dessen benennt sie zum einen die Geschichte von Theseus, der sich mit den beiden Schwestern Ariadne und Phaedra verbindet, zum anderen den Philomela-Mythos.13 Dabei weist sie ebenfalls darauf hin, dass eine solche Liaison innerhalb der sozialen Gepflogenheiten als „the source of monstrous, irregular developments of feminine matter“14 galt. Denn dabei wird gleich doppelt gegen das dem
_____________ 9 Vgl. S. 77f. 10 Héritier, Françoise: Two sisters and their mother: the anthropology of incest. New York 1999, S. 52. 11 Héritier (Anm. 10), S. 12. 12 Héritier (Anm. 10), S. 45. 13 „The author, though Latin, is quoted here because he examines Greek mythology and thought.“ Héritier (Anm. 10), S. 52. 14 Héritier (Anm. 10), S. 47.
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Inzestverbot zugrunde liegende Prinzip, der Verhinderung der Vermischung von Gleiches mit Gleichem, verstoßen: Nicht nur Mitglieder der gleichen Familie, sondern auch gleichen Geschlechts verkehren miteinander. Ein weiteres, wesentliches Element bei der Betrachtung der familiären Strukturen manifestiert sich schließlich weniger durch eine exzessive Bindung, als vielmehr durch sein Fehlen. Die Frau Pandions und Mutter von Philomela und Progne, die in keiner der verschiedenen Adaptationen des Mythos mit nur einer Silbe erwähnt wird, bildet innerhalb der emotionalen und sexuellen Verstrickungen von Vater, Schwager, Schwester, Ehefrau und Tochter eine Leerstelle, um die sich alle Beteiligten gruppieren. Ob ausschließlich aus dieser defizitären Familienkonstellation das weitere, dramatische Geschehen resultiert und die jüngste Tochter die Rolle der Mutter einnimmt, bleibt zu diskutieren, denn vor allem die angeborene Lüsternheit Tereus’ benennt der Ovid’sche Erzähler als Grund für dessen Verfehlung; ein weiteres Mal erweist sich die Familie weniger als Unterstützung, denn als Fluch: „Doch stachelt ihn auch eine Geilheit, die ihm vererbt, ist rasch doch zu lieben das Volk seiner Heimat. Also brennt er am Fehl seines Stammes so gut wie am eigenen.“15 Die innerhalb des Ovid’schen Philomela-Mythos so deutlich sichtbare Auflösung familiärer Strukturen und ihrer sexuellen Grenzen wird in den mittelalterlichen Adaptationen in jeweils unterschiedlicher Gewichtung beibehalten. Dies ist sicherlich zum einen der persönlichen, literarischen Schwerpunktsetzung der einzelnen Autorinnen und Autoren geschuldet, zum anderen jedoch ebenfalls als Resultat des veränderten Verständnisses von, und des gesellschaftlich-moralischen Diskurses über den Inzest zu lesen. „Medieval incest stories differ significantly from classical ones which were well known in the Middle Ages, because of Christian attitudes to sex, sin and salvation. Medieval writers were much more explicit about incest than our supposed liberal society has been till very recently.“16
Die christliche Überzeugung, dass die körperliche Vereinigung zweier Menschen beide zu einem Fleisch werden lässt und die Familie des einen automatisch auch zu der des anderen wird, sowie eine nicht biologische, sondern soziale Definition von Familie führten dazu, dass das Inzestverbot für eine ungleich größere Gruppe von Menschen galt, als dies in der Antike der Fall war. Nicht nur eine Verbindung von Blutsverwandten, auch eine zwischen angeheirateten Familienmitgliedern wurde daher ein-
_____________ 15 sed et hunc innata libido exstimulat, pronumque genus regionibus illis in Venerem est: flagrat vitio gentisque suoque (V. 458-460). 16 Archibald, Elisabeth: Incest and the Medieval Imagination. Oxford 2001, S. 6.
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deutig als Inzest betrachtet und als solche den sieben Todsünden zugerechnet. Trotzdem wurde dieses Thema nicht zum Tabu erklärt, sondern als ernstzunehmendes soziales und religiöses Problem betrachtet, was sich ebenfalls in dem relativ weit verbreiteten, literarischen Motiv des Inzests innerhalb der mittelalterlichen Literatur widerspiegelt, für das u.a. der „Gregorius“ Hartmanns von Aue ein prominentes Beispiel darstellt.17 Als exemplarisch für einen solch offenen, gleichzeitig kritisch und religiös-moralisch konnotierten Umgang lässt sich der Erzählerkommentar in der „Philomena“ Chrétiens de Troyes dort lesen, wo sich Tereus in seine Schwägerin verliebt. Dabei betont der Erzähler ausdrücklich, dass sich der Thrakerkönig gemäß des heidnischen Glaubens bei einer solchen Verbindung nicht schuldig mache: Tel loy lor avoit cil escripte / Que quan que li plaist et delite / Pooit chascuns faire sans crime.18 Dass sein Verhalten dem christlichen Glauben zuwider läuft, wird in dieser ungewöhnlich deutlichen Passage ebenfalls unterstrichen,19 wenn zuvor der Erzähler im Dialog mit seinem imaginären Gesprächspartner darauf hinweist, dass die Liebe sich Tereus auf schuldhafte Weise bemächtigt und seine Gefühle Philomela gegenüber unwürdig seien: Amours vilainement le lie. Vilainement? – Voire, sans faille, De vilonie se travaille, Quant il son cuer veult atorner A la serour sa feme amer.20 Die Passage wird schließlich mit einer rhetorischen Frage abgeschlossen, die die Allmacht der Liebe betont und damit einen typisch mittelalterlichen Topos aufruft: Qui porroit Amours contrester, / Que trestout son voloir ne face?21 Zwar werden innerhalb des Chrétien’schen Textes die anderen familiären Grenzüberschreitungen nicht ebenso ausdrücklich wie in diesem
_____________ 17 Als Beispiele für eine inzestuöse Vater-Tochter-Beziehung in der französischen Literatur des Mittelalters benennt Emmanuèle Baumgartner den Lai des deux amants von Maire de France, den Vair Palefroi sowie die Manekine Philippes de Beaumanoir. Vgl. Pyrame et Thisbé, Narcisse, Philomena. Trois contes du XIIe siècle français imités d’Ovide. Hg. v. Emmanuèle Baumgartner. Paris 2000, S. 185. 18 V. 225-227; Das himmlische Gesetz sah vor, dass jeder das tun konnte, was ihm gefiel, ohne dafür bestraft zu werden. 19 „Cette intervention du narrateur qui distingue avec netteté les ,lois‘ païennes et chrétiennes est sans équivalent exact dans les romans antiques du XIIe siècle.“ Baumgartner (Anm. 17), S. 175. 20 V. 214-218; Die Liebe bemächtigte sich seiner auf schuldhafte Weise. Schuldhaft? – Ja, tatsächlich, denn er verfällt unwürdigen Gefühlen, in dem er seinem Begehren nachgibt und die Schwester seiner Frau liebt. 21 V. 234f.; Wer kann gegen die Liebe ankämpfen und nicht all das tun, was sie verlangt?
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Beispiel verhandelt, doch baut der altfranzösische Autor die entsprechenden Passagen teilweise thematisch aus und fördert so Elemente zu Tage, die bei Ovid nur als Subtext zu beobachten waren. Dies gilt vor allem für die Bindung zwischen Pandion und Philomela. Zwar lässt Chretien die Szene der von Tereus beobachteten Zärtlichkeiten zwischen den beiden weg, doch artikuliert Pandion selbst offen die inzestuöse Beziehung zu seiner Tochter: „Mes, je croi, se vous savïez Les biens que ma fille me fait, Ja ne me metrïez em plait De ce dont vous me requerez. Ous seroie desesperez S’un jour estoie sans ma fille.“22
Auf diese Weise begründet Pandion seine Ablehnung der Reisepläne und präzisiert wenig später sogar noch einmal ausdrücklich die Freuden, die ihm seine Tochter bereitet: „Quem a fille me garde et sert Et nuit et jour et soir et main; N’i lesse autre metre la main N’a mon lever n’a mon couchier. Ma douce fille m’a tant chier Qu’ele me chauce, elle me vest, Et son servise tant me plest Que, se ne fust son reconfort, Grant piece a que je fusse mort.“23
Nachdem Pandion der Reise seiner Tochter zugestimmt hat,24 betont er im Moment des Abschieds noch einmal in deutlichen Worten, wie sehr er ihre Abwesenheit bedauern wird.25 „Le motif du père incestueux est assez
_____________ 22 V. 344-349; Aber ich glaube, dass Ihr nicht eine solche Bitte an mich richten würdet, wenn Ihr von all den Freuden wüsstet, die mir meine Tochter zuteil werden lässt, dessen bin ich mir sicher. Wenn ich nur einen Tag lang meine Tochter entbehren müsste, würde ich verzweifeln. 23 V. 370-378; Meine Tochter achtet auf mich und bedient mich Nacht und Tag, am Abend und am Morgen. Ich lasse niemand anderen für mich sorgen wenn ich zu Bett gehe und wenn ich aufstehe. Meine geliebte Tochter liebt mich so sehr, dass sie mir die Schuhe anzieht und mich ankleidet, und die Dienste, die sie mir erweist, sind mir so angenehm, dass ich schon lange tot wäre, wenn ich auf die Annehmlichkeiten verzichten müsste, die sie mir zukommen lässt. 24 Ja mi oeil ne seront sans lerme / Ne mon cuer lié pour riens qu’aviegne / Jusque ma fille a moi reviegne. (V. 566-568; Die Tränen in meinen Augen werden niemals trocknen, bis dass meine Tochter zu mir zurückgekommen ist). 25 „Et tu, dist il, ma fille chiere, / Pense de tost venir ariere / Et si te remembre de moi, / Quar tant sui liez quant je te voi / Et tant ai de joie et de bien! / Ma douce fille, tost reviens, / Tost vendra ma joie et mes biens !“ (V. 689-696; „Und du, meine geliebte Tochter“ sagte er, „denke daran, so bald wie möglich zurückzukehren und erinnere dich an mich, der ich soviel
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fréquent dans la littérature médiévale […] mais il est rare que cet amour soit formulé de manière aussi directe et aussi insistante. Le texte d’Ovide est, lui, beaucoup plus discret.“26 Doch ist die Vater-Tochter-Bindung nicht die einzige, die Chrétien besonders betont, auch die Zuneigung der beiden Schwestern zueinander tritt gegenüber dem antiken Text deutlicher hervor. So weist Philomela im Gegensatz zum Ovid’schen Text bereits vor der Vergewaltigung darauf hin, dass sie nie etwas tun würde, was ihrer Schwester missfiele,27 und auch Progne trauert um die vermeintlich tote Philomela, indem sie sich die Haare rauft, weint, sich ins Gesicht schlägt, einen langen Monolog an den Tod richtet, darin selbst zu sterben wünscht und fast wahnsinnig wird. Obgleich dies dem klassischen mittelalterlichen Trauergestus entspricht, erscheint die maßlose Trauer ebenfalls als Zeichen einer maßlosen Liebe: „L’ardente tendresse qu’éprouve Procné pour sa soeur, son désir de la revoir, après il est vrai cinq ans de séparation, sont sans doute des éléments indispensables à la mise en route du récit. Mais la violence de sa détresse, lorsque Térée lui apprend la mort de Philomena, l’étrange cérémonie des adieux qu’elle accomplit alors, les habits de deuil qu’elle revêt, puis le crime monstrueux qu’elle commet et l’horrible mise en scène qu’elle imagine, paraissent bien être les manifestations et les effets d’une passion incestueuse que rien ne suggère vraiment dans le texte source.“28
Die Vermutung eines schwesterlichen Inzests bestätigt sich auch innerhalb der beiden Fassungen des „Ovide moralisé en prose“. Trotz der Kürze der Texte wird dort ebenfalls deutlich auf die besondere Zuneigung der beiden Schwestern hingewiesen,29 und auch in der Auslegung des Mythos wird im „Ovide moralisé en prose II“ der Inzest konkret benannt und verurteilt.30 Betrachtet man neben der Darstellung der inzestuösen Paare die anderen Elemente der Handlung, in denen sich eine Verschiebung der familiären Strukturen beobachten lässt, so erweist sich dort besonders die
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Glück, Freude und Zufriedenheit empfinde, wenn ich dich sehe. Meine geliebte Tochter, komme bald wieder, ja, komme bald zurück. Wenn du schnell zurückkehrst, dann werden auch meine Freude und mein Glück bald zurückkehren“). Baumgartner (Anm. 17), S. 185. Ja ma suer n’iert de moi jalouse / Ne ja, se n’en suis parforciee, / Ne ferai riens qui li dessiee. (V. 786-788; Niemals wird meine Schwester auf mich eifersüchtig sein müssen, und niemals werde ich etwas tun, das ihr missfallen würde, wenn ich nicht gewaltsam dazu gezwungen werde). Baumgartner (Anm. 17), S. 277f. Si advint que icelle Procné ot grant desir d’aler à l’ostel de son dit père en Athènes pour veoir la dite Philomena sa seur, que moult chierement amoit (So kam es, dass Procné sich sehr danach sehnte, zu ihrem Vater nach Athen zu fahren, um ihre Schwester Philomela zu sehen, die sie ganz besonders liebte). Vgl. S. 128f.
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Darstellung Prognes als mordende Mutter als interessant. Während bei Ovid die Tat in Tiermetaphern dargestellt, und auf diese Weise ihre animalische Grausamkeit deutlich gemacht wird, wendet Chrétien ein ähnliches Verfahren an, um die Tat inhaltlich und sprachlich zu fassen. Hier wird sie nicht in den Bereich der unkultivierten Natur verdrängt, sondern – und dies gleich zweifach - dem christlichen Weltbild gemäß der Kraft des Teufels zugerechnet. So sind sowohl die Worte, mit denen Progne ihr Vorhaben ankündigt und begründet,31 als auch die Tötung selbst ein Werk des Teufels.32 Dem entsprechend ist es auch nur Progne allein, die den Mord begeht, während Ovid davon berichtet, dass auch Philomela an der Tötung beteiligt ist, indem sie Itys den Hals durchschneidet. Dass bei Chrétien eine Progne dargestellt wird, die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr menschlich handelt, sondern bereits vom Teufel in Besitz genommen wurde, zeigt sich ebenfalls an der Modifikation, die der altfranzösische Autor bei der Darstellung der Zweifel vornimmt, die Progne vor ihrem Mord ergreifen. Als sich Itys mit kindlicher Zärtlichkeit seiner Mutter zuwendet, berichtet Ovid davon, dass Progne für einen Moment zu Tränen gerührt an ihrem Vorhaben zweifelt: „Doch, als dann der Sohn ihr genaht, als er Heil seiner Mutter wünscht, mit den kleinen Armen zu sich heran ihren Hals zieht und unter kindlichem Schmeicheln viel zärtliche Küsse ihr gibt, war wohl der Sinn ihr bewegt und stockte entwaffnet ihr Zürnen; wider ihr Wollen erfüllten erzwungene Tränen ihr Auge.“33
Zwar wird ein solcher Moment des Zweifels ebenfalls bei Chrétien erwähnt, doch als eine Reaktion, die natürlich und menschlich gewesen wäre, die bei Progne ausbleibt, was ebenso deutlich wie tadelnd hervorgehoben wird. So wird Progne auch hier als unmenschlich präsentiert und die Tat somit in den Bereich des Teuflischen verlagert, da sie kaum mit einem christlichen Menschenbild in Einklang zu bringen wäre: Que Progné se dut estre ostee Dou penser ou elle ier entree,
_____________ 31 La mere voit son fil venir / Et dist em bas une merveille, / Si com dÿables li conseille (V. 12961298; Als die Mutter ihren Sohn näher kommen sieht, sagt sie mit leiser Stimme Worte, die ihr der Teufel eingibt). 32 Par dÿablie et par fierté / Que dÿables li amoneste, / A a l’enfan coupé la teste (V. 1330-1332; Vom Teufel zu dieser diabolischen Tat verführt, hat sie dem Kind den Kopf abgeschnitten). 33 V. 624-628; ut tamen accessit natus matrique salutem attulit et parvis adduxit colla lacertis, mixtaque blanditiis puerilibus oscula iunxit, mota quidem est generix, infractaque consitit ira invitique oculi lacrimis maduere coactis.
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Si com requiert Drois et Nature De toute humaine creature.34
Die Beobachtung, dass die Tötung des Kindes durch die eigene Mutter einer teuflischen Eingebung zugeschrieben wird, geht einher mit einer weiteren Besonderheit des französischen Textes. Während die meisten Adaptationen des Mythos vom Bacchus-Fest berichten, welches Progne dazu nutzt, als Bacchantin verkleidet ihre Schwester zu befreien und sie ebenfalls im Schutze der Verkleidung und der Gruppe der anderen Frauen in den Königspalast zu bringen, wird diese Episode von Chrétien weggelassen. Obgleich Baumgartner diese Stelle als „scène impossible à reprendre du récit ovidien“35 bezeichnet und damit zum einen auf die Fremdheit des Ritus für ein mittelalterliches Publikum, zum anderen auf die Darstellung von im Rausch enthemmten, rasenden Frauen anspielt, so bleiben dennoch Reste dieses Elements vorhanden. Diese sind einerseits sichtbar in der bedrohlichen Dimension, die Progne durch die Einwirkungen des Teufels erhält und sie zu einer ebenso unkontrollierten Figur wie die Bacchantinnen werden lässt. Andererseits wird innerhalb des französischen Textes wiederholt der Wahnsinn erwähnt, von dem Progne durch Wut, Trauer und Rachlust ergriffen wird. Quar par un poi n’esrage vive,36 fasst der Erzähler ihre übermäßige Trauer zusammen, beim Anblick von Philomelas Gefängnis ist sie schließlich wie betrunken vor Zorn37 und ruft dort wie im Wahnsinn nach ihrer Schwester,38 um im Moment des Wiedersehens ebenfalls beinahe den Verstand zu verlieren.39 Dass die Bedeutung der Szene des Bacchusfestes über die einer List zur unauffälligen Befreiung und Fluchthilfe hinausgeht, wird an späterer Stelle des Kapitels gezeigt. Durch das Hervorheben der Passagen bei Chrétien, in denen die Transgression der familiären Bindungen thematisiert wird, bestätigt sich die Beobachtung, dass er wesentliche inhaltliche Knotenpunkte des Mythos herausgreift, diese exponiert und variiert. Betrachtet man demgegenüber die Wickram’sche „Philomela“, so scheint die ‚familiäre Unordnung‘ nicht eines von mehreren, sondern das zentrale Motiv seiner Adaptation zu sein. Wie bereits in dem Kapitel ausgeführt, das sich Wickrams Text
_____________ 34 V. 1313-1316; Progne hätte somit ihr Vorhaben aufgeben müssen, das gleichermaßen gegen das Gesetz und gegen die natürlichen Empfindungen jedes menschlichen Wesens verstößt. 35 Vgl. Baumgartner (Anm. 17), S. 278. 36 V. 973; Es fehlte nur wenig, dass sie verrückt wurde. 37 V. 1246; Progné comme forsenee. 38 V. 1261; Progné vint comme dervee. 39 Qui par un poi n’ist de son sens (V. 1269; Es fehlte nicht viel, dass sie den Verstand verlor).
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sowie der Gegenüberstellung mit dem Bruchstück Albrechts von Halberstadt widmet, lässt sich darin ein bewusstes Akzentuieren der familiären Ordnung und ihrer Bedrohung innerhalb des Mythos finden. So wurde nicht nur die auffällig häufige Verknüpfung von Eigennamen und Verwandtschaftsgrad, sondern auch ein moralischer Fingerzeig des Erzählers auf die entsprechenden Stellen des Textes, ihr optisches Hervorheben durch Teilüberschriften, Marginalglossen und Asterisken, sowie deren inhaltlicher Ausbau als Belege für eine bewusste Bearbeitung Wickrams herausgearbeitet, die vermuten lassen, dass es gerade das Element der familiär-amourösen Entgrenzung ist, das den Autor bei seiner Tätigkeit des Wiedererzählens in besonderem Maße geprägt hat.40 Zwar offenbaren sich damit Wickrams eigene Techniken der Bearbeitung von Albrecht bzw. Ovid, doch lassen sich diese Eingriffe ebenso wie bei Chrétien nicht allein durch seine persönlichen, moralisierenden Ambitionen erklären. Vielmehr lässt sich seine Bearbeitung mit der Diskussion der Konzepte von Familie und Ehe zu einer Zeit in Verbindung setzen, in dessen gesellschaftlicher Unordnung das Bestehen familiärer Strukturen von zentraler Bedeutung war, und dessen Perversion, wie wir sie im vorliegenden Mythos beobachten können, an einen neuralgischen Punkt zu rühren, und zu einer wertenden Stellungnahme geradezu herauszufordern scheint. Die affirmierende Position Wickrams zu Freundschaft, Familie und Ehe sowie sein Streben nach gesellschaftlicher Ordnung wurden in seinen Romanen bereits mehrfach beobachtet. Ebenso wie Jan-Dirk Müller in seinem Aufsatz zu Liebe und Ehe bei Wickram feststellt,41 dass die familiären Bindungen aller Beteiligten in seinen Werken oftmals erst räumlich entfernt werden müssen, und dass viele seiner Heldinnen und Helden elternlos sind oder diese nichts von den Verwicklungen ihrer Kinder wissen, damit eine Liebesgeschichte fern des familiären Korrektivs überhaupt möglich ist, so wird im Gegenzug dazu die familiär-amouröse Unordnung des Philomela-Mythos umso heftiger von der Wickram’schen Kritik getroffen. Dass es nicht nur der frühneuzeitliche Autor ist, der sich durch diese Unordnung herausgefordert fühlt, zeigt sich letztendlich auch in den Auslegungen des Mythos durch den Geistlichen Gerhard Lorichius. Dieser ersetzt ebenfalls Philomelas Namen, indem er sie wiederholt als Tereus’ haußfrawen schwester42 bezeichnet. Darüber hinaus benennt er die Vergewal-
_____________ 40 Zur einer ausführlichen Darstellung der Modifikationen Wickrams vgl. das Kapitel „Übertragungen: Ovid – Albrecht von Halberstadt – Georg Wickram“. 41 Müller, Jan-Dirk: „Jörg Wickram zu Liebe und Ehe.“ In: Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit. Hg. v. Heide Wunder u. Christina Vanja. Frankfurt a. M. 1991, S. 27-42, hier S. 33. 42 Vgl. bspw. Z. 8.
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tigung durch Tereus explizit als Incestus,43 den er in seiner Auslegung wie folgt definiert: Das ist / so sich die nechsten bluotverwandten und gesipten beschlaffen oder undter eynander freihen. Sogar die Verwandlung des Tereus in einen Wiedehopf erklärt er auf ebenso deutliche wie einprägsame Weise durch dessen Überschreiten der familiären Grenzen: Diß also zu bezeugen / sein noch heut bei tag genugsam argument / nemlich daß der Widhop eyn unreyner vogel ist / der inn sein eygen nest scheist. […] Wie nun dieser Tereus seyn eygen schwaegerin und haußfrauwe geschendt hat / muß er nun inn seinem eygenem quadt sitzen.44
So unterschiedlich sich Autorinnen, Autoren und Gesellschaft in die Inzest-Thematik des Mythos einschreiben, so einheitlich ist das Ergebnis, über das die Texte bezüglich der Auflösung der familiären Strukturen berichten. Pandion stirbt aus Trauer über den Verlust seiner Töchter, diese sind ebenso wie Tereus ihrer menschlichen Gestalt beraubt und als Vögel weiterhin mit den Stigmata ihrer Vergangenheit behaftet, und auch Itys kann den Fortbestand der Familie nicht mehr sichern – das Verschlingen durch den eigenen Vater ist zugleich Transgression der familiären Ordnung und Sinnbild ihres Endes. Dass der Philomela-Mythos nicht der einzige ist, in dem das Inzest-Motiv eine zentrale Bedeutung einnimmt, ist spätestens seit den Forschungen Sigmund Freuds zum ÖdipusKomplex in das Bewusstsein der Forschung getreten, und nicht nur die Psychoanalyse, sondern auch Anthropologen wie Marcel Mauss45 oder Emile Durkheim46 widmeten sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in zahlreichen Untersuchungen der Erforschung dieses Phänomens, welches sich, so Claude Lévi-Strauss, genau auf dem Übergang zwischen Natur und Kultur befindet: „Cette règle, sociale par sa nature de règle, est en même temps présociale à un double titre: d’abord, par son universalité, ensuite, par le type de relations auxquelles elle impose sa norme.“47 So grundlegend die Arbeiten Lévi-Strauss’ zur Anthropologie des Inzests sind, so umstritten sind sie auch. Dass beispielsweise die von ihm festgestellten Heiratsregeln Teil eines Systems sind, in dem sich eine allgemeinmenschliche Psychologie niederschlägt, ist dabei ebenso zweifelhaft wie die Tatsache, dass er in seiner Theorie zahlreiche historische Gesellschaften außer acht lässt, in denen das von ihm ausgeführte Inzesttabu nicht galt – von einer „universalité“ kann daher nicht die Rede sein.48
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Z. 16. Z. 14-22. Vgl. u.a. Mauss, Marcel: Die Gabe. Frankfurt am Main 1968. Vgl. u.a. Durkheim, Emile: „La prohibition de l’inceste et ses origines.“ In: L’année sociologique 1 (1898), S. 1-70. 47 Lévi-Strauss, Claude: Les structures élémentaires de la parenté. Paris 1967, S. 14. 48 Eine Übersicht über die Kritik an der Lévi-Strauss’schen Theorie der elementaren Verwandtschaftsstrukturen bietet u.a. Leach, Edmund: Claude Lévi-Strauss zur Einführung. Mit einem Nachwort von Karl-Heinz Kohl und einer
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Trotz ihres umstrittenen Status sowie der generellen Frage der Applizierbarkeit anthropologischer Arbeiten auf literarische Texte erscheint mir die Berücksichtigung seiner Erkenntnisse zum Inzest in diesem Fall lohnenswert, da sich einige der Ansatzpunkte, auf die Lévi-Strauss in seinem Werk „Les structures élémentaires de la parenté“ zurückgreift, innerhalb des Philomela-Mythos ebenfalls manifestieren. Von besonderem Interesse sind dabei die Überlegungen Lévi-Strauss’ zu möglichen Tauschsystemen, die die Struktur der menschlichen Gemeinschaft regeln und als dessen Teil er auch Heiratsregeln und Inzestverbot betrachtet. Dabei geht er davon aus, dass „die menschlichen Gesellschaften im Verlauf der Evolution vor der Wahl standen, entweder ihre Frauen fortzugeben, um politische Allianzen zu schaffen, oder ihre Frauen selbst zu behalten und von zahlenmäßig überlegenen Feinden getötet zu werden.“49 Da sich die Regel der Exogamie für den gesellschaftlichen Bestand als vorteilhafter erwies, habe sich diese schließlich durchgesetzt und durch das Inzestverbot seine soziale Festschreibung erhalten. So betrachtet er auch den Austausch von Frauen als Beispiel für den sog. „échange réciproque“,50 ja als die Form des Tausches schlechthin. Werden Wertgegenstände getauscht, um in einer Gemeinschaft ein Netzwerk von Rechten und Pflichten zu etablieren, handelt es sich bei der Ehe, d.h. dem Austausch von Frauen unter Männern, um das, was eigentlich symbolisiert werden soll: „Die Beziehung und ihr Symbol sind also identisch, und das Zur-Ehe-Geben von Frauen ist demnach die elementarste Form des Austausches.“51 Die Parallelen, die sich diesbezüglich für die Handlungsstruktur des Philomela-Mythos ergeben, sind frappierend. Explizit wird genau diese Form des stabilisierenden Frauentausches zu seinem Ausgangspunkt gemacht, wenn Pandion dem Thrakerkönig Tereus seine älteste Tochter als Dank für geleistete Kriegshilfe und zur Etablierung eines schützenden Bündnisses für die Zukunft zur Frau gibt: „Die [barbarischen Horden] hatte Tereus, der Thracer, mit helfendem Heere vertrieben; und er trug seitdem einen großen Namen als Sieger. Ihn, der an Schätzen und Mannen reich, sein starkes Geschlecht auf Mars zurückführt, ihn verband sich Pandion, indem er Prognen zur Ehe ihm gab.“52
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führung. Mit einem Nachwort von Karl-Heinz Kohl und einer Auswahlbibliographie von Klaus Zinniel. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff, S. 107-126. Vgl. ebenfalls Simonis, Yvan: Claude Lévi-Strauss ou la „passion de l’inceste.“ Introduction au structuralisme. Paris 1980. Leach (Anm. 48), S. 116f. Zum Tauschprinzip vgl. Lévi-Strauss (Anm. 47), S. 61-79. Leach (Anm. 48), S. 118. V. 424-428; Threïcius Tereus haec auxiliaribus armis fuderat et clarum vincendi nomen habebat; quem sibi Pandion opibusque virisque potentem et genus a magno ducentem forte Gradivo conubio Prognes iunxit.
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Die kriegerische Potenz des Tereus wird somit gleich dreifach betont: Sein Erfolg im Kampf, sein Reichtum an Männern und Gütern sowie seine Abstammung vom Kriegsgott Mars definieren ihn als potenten Bündnispartner, wobei die Formulierung des „starken Geschlechts“ doppeldeutig ist und ihn ebenfalls als einen geeigneten Schwiegersohn auszeichnet. Dass es sich hier um eine politisch-zweckhafte Verbindung unter Männern handelt, wird durch die reflexive Formulierung deutlich, die an dieser Stelle benutzt wird: „ihn (Tereus) verband sich Pandion“, indem er ihm seine älteste Tochter im Sinne Lévi-Strauss’ als Tauschgabe überlässt. Dass sich Pandion dabei ebenfalls mit einem Barbaren verbündet, wird sowohl durch das weitere Geschehen selbst, als auch durch dessen wiederholte Benennung als Barbar innerhalb des antiken Textes deutlich: „For the old king to give his elder daughter to Tereus is for Greece to make an alliance with barbarism itself.“53 So entpuppt sich Tereus nicht nur durch seine nicht-griechische, unkultivierte Sprache als Barbar. Seine ‚barbarische‘ Tat der Vergewaltigung und Verstümmelung finden ebenfalls im Wald statt, der als Ort unkultivierter Natur einen Gegensatz zum Königshof bildet,54 und schließlich verstößt er gegen das von Lévi-Strauss als Eckpfeiler der menschlichen Gesellschaftsordnung und Grundlage der Kultur angesehene Inzestverbot. Klindienst-Joplin geht im Rahmen ihrer Interpretation sogar so weit, dass sie Tereus’ Begehren nach Philomela als ein alleiniges Begehren von Macht sowie als Resultat seiner Konkurrenz mit Pandion betrachtet, und somit das Prinzip des Frauentauschs zum Grundkonflikt des Mythos erhebt: „Tereus’ desire is aroused not by beauty but by power.“55 Der antike Text, auf den sich Joplin dabei stützt, berichtet bereits beim Erscheinen der Königstochter vom Entflammen des Thraker-Königs, während Joplin erst Tereus’ Betrachten der Zärtlichkeiten von Vater und Tochter als Ausgangspunkt seiner Begierde ansieht. Indem Tereus in Philomela ein potenzielles Tauschobjekt erblicke, über das Pandion verfügt, das er jedoch auch einem anderen Mann als Gegenleistung zukommen lassen kann, begehre er sie weniger als Frau, denn als Machtobjekt: „His mythic passion is a cover story for the violent rivalry between the two kings.“56 Wenn sich die These des Begehrens ausschließlich aus Gründen der Konkurrenz bereits bei Ovid in seiner Ausschließlichkeit nur schwer halten lässt – so berichtet der Text schon beim ersten Auftreten Philomelas
_____________ 53 Klindienst Joplin, Patricia: „The voice of the shuttle is ours.“ In: Stanford Literature review 1/1 (1984), S. 25-53, hier S. 32. 54 Zum Spannungsfeld Natur/Kultur vgl. das Kapitel „Die Semantisierung des Raumes: Öffentlichkeit und Geheimnis“. 55 Joplin (Anm. 53), S. 34. 56 Joplin (Anm. 53), S. 33.
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ausführlich vom maßlosen Verlangen des Tereus -, so wird sie bei näherer Untersuchung der mittelalterlichen Werke fast unmöglich. Chrétien lässt beispielsweise die entsprechende Szene der beobachteten Zärtlichkeit zwischen Pandion und seiner Tochter gänzlich weg. Zwar überliefert er ebenfalls nicht die helfende und kriegsmächtige Rolle des Tereus beim Kampf gegen die Barbaren, sondern berichtet stattdessen in höfischer Manier davon, dass ein König aus Thrakien um Prognes Hand anhält.57 Doch sind selbst dort – wenngleich nicht so explizit – noch deutliche Spuren der Geste des Tauschhandels sichtbar, wenn zum einen der Erzähler im Dialog mit seinem fiktiven Gegenüber die Freude Pandions darüber betont, dass er seine Tochter an einen König verheiratet.58 Zum anderen wird hervorgehoben, dass er diesem seine Tochter ohne sich lange bitten zu lassen zur Frau gibt.59 Sowohl der einflussreiche Status des Schwagers, als auch die alleinige Handlungsgewalt des Königs bei der Verheiratung der Tochter werden deutlich. Dass sich die mittelalterlichen Texte der Lesart Joplins verschließen, zeigt sich darüber hinaus daran, dass Chrétien, Albrecht und Wickram gerade die herausragende Schönheit Philomelas betonen, was in den jeweiligen Einzeluntersuchungen der entsprechenden Texte bereits ausgeführt wurde. Diese und nicht allein Konkurrenz und Machtbewusstsein lassen Tereus seine Schwägerin begehren. Auch wenn in den mittelalterlichen Adaptationen das Element des Frauentausches nicht ebenso klar wie innerhalb des lateinischen Textes sichtbar ist und die ausgeprägten Schönheitsbeschreibungen Philomelas ebenfalls als Teil höfischer Erzählkonvention zu werten sind, so bleibt die Verheiratung Prognes aus Gründen kriegerischer Allianz sowie die Vergewaltigung Philomelas als Verstoß nicht nur gegen die familiäre, sondern auch gegen die politische und gesellschaftliche Ordnung nach wie vor als konstitutives Element innerhalb der einzelnen Texte erhalten. Nicht zuletzt berichtet auch der anonyme Autor des „Ovide moralisé“ in der Überleitung zum Chrétien’schen Text von der Kriegshilfe des Tereus gegen die Barbaren und der Verheiratung Prognes als politisches Bündnis.60 Das Inzestverbot als Schwelle zwischen Natur und Kultur wird dabei zu einem
_____________ 57 I. roi de Trace la requist (V. 7; Ein thrakischer König bat um ihre Hand). 58 I. roi de Trace la requist, / Dont Pandïons moult liez se fist. / Moult liez s’en fist ? – Voire. – Pour quoi ? / - Pour ce qu’il la dona a roi. (V. 7-10; Ein thrakischer König bat um ihre Hand, was Pandion mit Freude erfüllte. – Mit Freude? – Ja, tatsächlich. – Und warum? – Weil er sie an einen König verheiratete). 59 Tereüs ot li irans non / Cui Pandïon sans grant priere / Dona Progné, sa fille chiere (V. 12-14; Tereus war der Name des Schändlichen, dem Pandion ohne sich lange bitten zu lassen seine Tochter gab). 60 Ovide moralisé. Poème du commencement du quatorzième siècle publié d’après tous les manuscrits connus par C. de Boer. Tome II (livres IV-VI). Amsterdam 1920, S. 336, V. 2187-2203.
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weiteren Prüfstein, an dem sich die Unordnung der im Mythos dargestellten Handlung offenbart. Nicht nur die familiäre, auch die gesellschaftliche und politische Ordnung wird in Frage gestellt, und die Konsequenzen ihrer Missachtung durch das fatale Ende des Mythos vor Augen geführt. Auf den ersten Blick erscheint die Rollenverteilung innerhalb dieser Dichotomie von Natur und Kultur eindeutig zu sein: „Pandion of Athens and Tereus of Thrace, Greek and barbarian. For the old king to give his elder daughter to Tereus is for Greece to make an alliance with barbarism itself, for the myth takes as its unspoken pretext as proverbial distinction between Hellenes, Greek speakers, and barbaroi, brabblers.“61
Dass die Aufteilung nicht so klar ist, wie sie zunächst erscheint, erweist sich bei der genaueren Betrachtung der familiären Bindungen am attischen Königshof. Auch dort werden die kulturell bestimmten Regeln überschritten, und obgleich Tereus mit seiner barbarischen Tat von Vergewaltigung und Verstümmelung den Anstoß zu einer Spirale der Gewalt gibt, so sind sowohl die Beziehungen von Vater und Tochter sowie die der beiden Schwestern, als ebenso ihre Rache gleichermaßen als barbarisch zu werten. Auch der „barbarische Webstuhl“,62 auf dem Philomela ihr Gewebe wirkt, ist lesbar als Antwort auf die Verbrechen des Tereus, obwohl er zugleich auch die Tätigkeit des Webens als kulturelle Leistung, durchgeführt von einer gebildeten Athenerin, verkörpert. Trotz des Status’ als Sinnbild griechischer Kultur erweisen sich die attischen Protagonistinnen, Protagonisten und ihre Verhaltensweisen als ähnlich unmoralisch und barbarisch wie die des Tereus. In diesen Zusammenhang ist nun ebenfalls die Bacchus-Episode zu rücken, deren Bedeutung bereits im Rahmen der Untersuchung des Ovid’schen Textes angesprochen wurde. Die trunkenen und rasenden Frauen bilden dabei ein weiteres Motiv der ‚Un-Kultur‘, indem sie durch ihre Maßlosigkeit gegen jegliche gesellschaftlich normierten Verhaltensweisen, vor allem gegen das in der höfischen Kultur geltende Gebot der mâze verstoßen. Auch die Chrétien’sche „Philomena“ lässt sich in dieser Hinsicht interpretieren. Obgleich dort die Bacchus-Episode weggelassen wird, tritt das ‚wahnsinnige‘ Verhalten Prognes an ihre Stelle und besetzt so das inhaltliche Element des gesellschaftlichen Ausbruchs. Und nicht nur Progne, die ‚von Sinnen‘ ist, stellt eine Verbindung zu den Bacchantinnen her. Durch den Verweis auf die mesnie hellequin, die im Rahmen von Philomelas Tugendkatalog erwähnt wird,63 wird ein mythisches Versatzstück in den Text implantiert, dessen narrativer Kern, so Philippe Walter,
_____________ 61 Joplin (Anm. 53), S. 32. 62 V. 576; stamina barbarica. 63 Zur Interpretation dieser Passage vgl. ebenfalls das Kapitel „Die Ästhetik des Exzess („Ovide moralisé“, V. 2217-3840)“.
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in dem Einbruch von Kreaturen aus einer anderen Welt in die menschliche Gemeinschaft bestehe und sich damit ebenso Kultur und Ratio entziehe.64 So präsentiert die antike Fassung des Mythos und seine mittelalterlichen Varianten nicht nur die Auflösung der familiären Ordnung sowie unterschiedliche Formen des Inzests, sondern sie berühren damit gleichzeitig gesellschaftliche und politische Grundstrukturen, die Konsequenzen ihrer Missachtung sowie die durchlässigen Grenzen von Kultur und ‚UnKultur‘.
_____________ 64 Vgl. Walter, Philippe: Le mythe de la chasse sauvage dans l’Europe médiévale. Paris 1997, S. 142.
IV. Die Semantisierung des Raumes: Öffentlichkeit und Geheimnis Betrachtet man die inhaltlichen Bestandteile des Mythos, die trotz seiner zeitlichen und sprachlichen Tradierung in den verschiedenen literarischen Aktualisierungen bestehen bleiben, so erweist sich die Verortung von einzelnen Handlungssequenzen in bestimmten Räumen als auffällige Konstante. Dies konnte bereits bei der Untersuchung der Ovid’schen „Philomela“ beobachtet werden: Innerhalb des antiken Textes offenbart sich sein spiegelbildlicher Aufbau nicht nur in Bezug auf Handlung und Konstellation der beteiligten Figuren, sondern ebenfalls in Bezug auf den Raum. Dass es sich dabei nicht nur um eine Besonderheit handelt, die der klaren Struktur des Ovid’schen Textes geschuldet ist, sondern als bedeutsames Element des Mythos selbst verstanden werden muss, zeigt sich in den mittelalterlichen Adaptationen, die trotz Variation der entsprechenden Stellen an der räumlichen Ordnung festhalten und diese in ihrer Bedeutung sogar noch deutlicher hervortreten lassen. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als „Raumdarstellungen jeglicher Art nicht in erster Linie als ‚Abbildungen‘ einer bestimmten Realität zu lesen sind, sondern vielmehr als Zeichensysteme, welche die Bedeutung des Dargestellten durch mehr oder minder komplexe symbolische Codierungen und Semantisierungen stiften.“1
Die hohe Symbolkraft, die den Mythen per se inhärent ist, schlägt sich daher auch innerhalb der Raumkonzeption des Philomela-Mythos nieder, wobei die Kategorie des Raumes in Verbindung mit weiteren Kategorien wie männlich/weiblich, Öffentlichkeit/Geheimnis und Natur/Kultur tritt, die ebenfalls als strukturierende Prinzipien innerhalb des Mythos funktionieren. Die Beobachtung, dass innerhalb der antiken Überlieferung durch Ovid die beiden Orte des Verbrechens - zum einen die Hütte im Wald als Ort der Vergewaltigung und Verstümmelung Philomelas, zum anderen das abgelegene Zimmer im thrakischen Königspalast als Ort der Tötung und des späteren Einverleibens des Itys - als Orte des Geheimen, Verborgenen und Verbotenen eine Einheit bilden, lässt sich gleichermaßen bei der Untersuchung der mittelalterlichen Texte aufstellen. Während sich die Beschreibung der beiden Räume bei Ovid auf wenige Verse beschränkt,2
_____________ 1 2
Hubrath, Margarete: „Einführung.“ In: Dies.: (Hg.): Geschlechter-Räume. Konstruktion von „gender“ in Geschichte, Literatur und Alltag. Köln, Weimar, Wien 2001, S. 1. rex Pandione natam in stabula alta trahit, silvis obscura vetustis (V. 520f.; Da zieht der König Pandions Kind in die hohe, von altem Wald umdunkelte Stallung); utque domus altae
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gerät sie in der mittelalterlichen Überlieferung oft ausführlicher. So berichtet Chrétien über die entlegene Waldhütte des Tereus das Folgende: La maison estoit en un bois, […] Loing de vile de toutes pars, Et loing de champs et loing d’essars, Loing de chemins et de sentiers.3
Während bei Ovid durch die Adjektive dunkel (obscura) für den Wald und hoch (alta) für die Hütte der Akzent auf das Nicht-Sichtbare bzw. die Abgeschlossenheit des Ortes gesetzt wird, so definiert ihn Chrétien durch seine Abgeschiedenheit von jeglichen Zeichen menschlicher Kultur bzw. Eingriffen in die Natur (Stadt, Felder, Rodeland, Wege, Pfade), was durch den mehrfachen Parallelismus innerhalb der Passage besonders hervorgehoben wird. Der Wald funktioniert als Schauplatz für einen Akt der Gewalt, der ebenfalls den Regeln des zivilisierten menschlichen Zusammenlebens zuwider läuft. Neben der ‚Wildheit‘ ist ein weiterer Aspekt wesentlich für das Geschehen, der ebenfalls mit der Abwesenheit menschlicher Eingriffe in die Natur einhergeht: die Einsamkeit des Ortes, auf die Chrétien ebenfalls ausdrücklich hinweist: Et quant il sont leenz andui, / Seul entre la pucele et lui, / Que nulz ne les voit ne ne ot.4 Nicht nur die menschlichen Eingriffe in die Natur, sondern auch die Menschen selbst und ihre Sinneswahrnehmungen sind abwesend, sodass sie weder als Augen-, noch als ‚Ohrenzeugen‘ von Tereus’ Verbrechen berichten können. Eine ähnliche, wenngleich abgekürzte Darstellung findet sich innerhalb des „Ovide moralisé en prose II“, wenn die Hütte als une seule maisonnette qui […] estoit loing de ville et arriere de chemin5 beschrieben wird. Dass sich Tereus absichtlich den einsamen Ort zur Durchführung seines Verbrechens ausgewählt hat, liegt auf der Hand, zumal dies in der Chrétien’schen Fassung des Mythos zweimal durch ihn selbst auf Handlungsebene geäußert wird: Als er Philomela seine Liebe offenbart, bittet er sie um die Geheimhaltung ihrer Verbindung,6 und
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partem tenuere remotam (V. 638; Als im hohen Haus ein entlegenes Gemach sie erreichten). V. 733-737; Die Hütte befand sich in einem Wald, […] weit entfernt von der Stadt, von Feldern, von Rodeland, von Wegen und Pfaden. V. 741-743; Als sie nun dort zu zweit waren, nur das Mädchen und er, sodass niemand sie sehen oder hören konnte. Ein einsames kleines Haus, weit entfernt von Stadt und Weg. Et ceste chose soit celee / Se vous volez qu’ele ait duree (V. 769f.; Wenn Ihr möchtet, dass diese Verbindung von Dauer sein soll, dann muss sie geheim bleiben). Emmanuèle Baumgartner weist in einer Fußnote darauf hin, dass an dieser Stelle ein weiteres Mal die Umkehrung eines höfischen Motivs durch Chrétien zu beobachten ist. Während gewöhnlich der Liebhaber darauf achtet, die intime Verbindung geheim zu halten, um
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nachdem sie sich seinen Annäherungsversuchen verweigert, begründet Tereus seine anschließende Gewaltanwendung mit der Abwesenheit fremder Blicke.7 Die inhaltliche Kopplung von Verbrechen und fehlender Wahrnehmung durch andere ist ebenfalls innerhalb des „Ovide moralisé en prose I“ deutlich sichtbar: Et quant leans furent seulz et que nul ne les povoit veoir ne ouyr il requist la pucelle de son amour et copaignie.8 Dass der Schauplatz des Geschehens in enger Verbindung mit Handlung und Figuren steht, ja dass diese sogar eine Einheit bilden, wird dort besonders deutlich, wo innerhalb des Chrétien’schen Textes zum ersten Mal die einsame Hütte erwähnt wird, in die Tereus Philomela führt. Das Adjektiv gaste, das zur Beschreibung derselben verwendet wird,9 kann neben ‚verwüstet‘, ‚einsam‘, ‚armselig‘, ‚elend‘, ‚verfallen‘ oder ‚ruinös‘ auch noch die Bedeutung ‚vergewaltigt‘ annehmen,10 was dem Text an dieser Stelle zum einen eine vorausdeutende Dimension verleiht, zum anderen die Einheit von Handlung, Figur und Schauplatz beispielhaft unterstreicht - das verfallene Haus ist die geschändete Philomela. Der Autor des „Ovide moralisé en prose I“ übernimmt das vieldeutige Adjektiv gaste bei der Beschreibung der Hütte im Wald und betont ebenfalls die Tatsache, dass sich Philomela und Tereus allein im Wald befinden.11 Dies wird durch mehrfache Wiederholungen und Dopplungen sichtbar gemacht, wenn es beispielsweise heißt: où il ne retint aucun de ses gens ne autre personne avecques eulx deux12 oder il tint sa dite seur Philomena en son privé, où il n’avoit autre personne que eulx deulx.13 Auch hier wird berichtet, dass Tereus Philomela darum bittet, ihre Beziehung bien secret zu halten.14 Ähnlich verhält es sich innerhalb der Wickram’schen „Philomela“. Auch dort wird der Wald als undurchdringlich und dunkel beschrieben,15 sowie die Vergewaltigung durch Tereus kausal an die Verborgenheit des
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den Ruf der Dame nicht zu gefährden, ist die Rollenverteilung an dieser Stelle umgekehrt. Pyrame et Thisbé, Narcisse, Philomena. Trois contes du XIIe siècle français imités d’Ovide. Hg. v. Emmanuèle Baumgartner. Paris 2000, S. 211. Car n’ai garde de nulle espie (V. 797; Hier muss ich keine fremden Blicke fürchten). Und als sie beide allein waren und niemand sie sehen oder hören konnte, offenbarte er dem Mädchen seine Liebe und seine Absichten. Quar seule menee l’en a / En une soe meson gaste (V. 730f.; Tereus führte sie allein in eine verfallene Hütte, die er besaß). Vgl. Eintrag „gaste“, in: Greimas, Algirdas Julien: Dictionnaire de l’ancien français. Paris 1992, S. 288. il la mist en une sienne maison gaste qu’il avoit dedans une forest en lieu rebout (Er brachte sie in eine verfallene Hütte, die er an einem abgelegenen Ort im Wald besaß). Es war weder jemand von seiner Gefolgschaft, noch sonst irgendjemand bei ihnen. Er hielt die besagte Schwester Philomela in seinem Versteck fest, in dem sich niemand außer ihnen beiden befand. en la priant […] que ce feüst tenu bien secret. V. 1142f.; Und zog sie bhendt inn eyn gefildt / Von beumen finster dick und wild.
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Ortes geknüpft.16 Dass sich dabei die Öffentlichkeit, der Philomela nach der Tat das Verbrechen mitteilen will, als Gegenpol zur heimlichen Waldhütte erweist, wird spätestens im Moment ihrer Anklage an Tereus deutlich. Ebenso wie innerhalb des Ovid’schen Textes das Volk ihrem Aufenthaltsort im Wald kontrastiv gegenüber steht,17 so stehen bei Wickram die leute, denen Philomela ihr Schicksal berichten will, sinnbildlich den Tieren im Wald gegenüber, denen sie sonst ihr Leid klagen möchte, und die durch das Adjektiv wild ein zusätzliches Attribut der Unkultiviertheit erhalten.18 Dass so der dicke finstere waldt durch fehlendes Licht zum Sinnbild nicht vorhandener Öffentlichkeit und Kontrolle wird, zeigt sich ebenso dort, wo Wickram die Behausung Philomelas als grube bezeichnet.19 Auch wenn der frühneuhochdeutsche Terminus neben dem neuhochdeutschen ‚Grube‘ ebenfalls die Bedeutung ‚Höhle‘, ‚Loch‘ oder ‚Grabstätte‘ annehmen kann,20 so ist diesen Übersetzungsmöglichkeiten die unterirdische Tiefe und Dunkelheit gemein, was ein weiteres Mal Abgeschiedenheit und fehlende Wahrnehmbarkeit von Philomelas Aufenthaltsort deutlich macht. In diesem Zusammenhang ist die Beobachtung aufschlussreich, dass der Gefängnischarakter der Waldhütte – in den altfranzösischen Texten steht Philomela zudem unter der Bewachung einer Bäuerin und deren Tochter – dann durchlässig zu werden beginnt, als sich Philomela zum ersten Mal seit ihrer Gefangenschaft ans Fenster der Hütte begibt, um von dort aus die Stadt zu erblicken, in der ihre Schwester wohnt. Auch an die Tür hatte sie sich bis dahin nicht gewagt, beides architektonische Elemente, die eine Verbindung zur Außenwelt, eine Brücke zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit ermöglichen, und die die Eingeschlossene innerhalb der Chrétien’schen „Philomena“21 sowie des „Ovide moralisé en prose
_____________ 16 V. 1157f.; Dann er sein willen ann ir bgieng / Weil niemandt solchen zwang vernam. 17 ipsa pudore proiecto tua facta loquar: si copia detur, in populos veniam; si silvis clausa tenebor, inplebo silvas et conscia saxa movebo (V. 544-547; Ich selbst, der Scham mich entschlagend, werde verkünden, was Du getan. Sobald es nur möglich, werde ich treten vors Volk. Und hältst du im Wald mich gefangen, werd’ ich erfüllen den Wald, die Steine bewegen). 18 V. 1196-1202; Darzu wann ich zun leuten kum / Will ichs sagen inn eyner summ / Was du heut an mir hast begangen / So aber ich von dir wirdt gefangen / Inn disem dicken finstern waldt / Den wilden thieren klag ichs bald / Ich thun ihn deinen gwalt verkuenden. 19 V. 1343. 20 Eintrag ‚Grube‘. In: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hg. v. Ulrich Goebel u. Oskar Reichmann in Verbindung mit dem Institut für Deutsche Sprache. Band 7 (grossprecher – handel). Berlin, New York 2004, S. 516-524. 21 V. 1159-1180.
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II“22 erst auf die Idee kommen lassen, das zuvor erstellte Tuch an Progne zu senden. Nachdem Philomela mit Hilfe des Tuches aus ihrem abgeschiedenen Gefängnis befreit ist, wird nun das Gemach innerhalb des thrakischen Königspalastes zum Pendant der Hütte im Wald und damit zum geheimen Schauplatz der schwesterlichen Rache. So bezeichnet Wickram den Ort des Geschehens als dem hauß eyn endt,23 der Autor des „Ovide moralisé en prose I“ als en lieu secret dedans la maison,24 und in der Fassung des „Ovide moralisé en prose II“ ist sogar die Rede von einem unterirdischen Zimmer,25 in dem Itys getötet wird. Auch Chrétien berichtet von einem abgelegenen Zimmer, in dem die Schwestern ungestört ihr Schicksal betrauern und später den grausamen Mord verüben.26 Doch nicht nur der Mord, auch das spätere antropophage Mahl findet in aller Abgeschiedenheit statt. Um fremde Blicke zu vermeiden, lockt Progne den König mit der Ankündigung einer Speise, die in doppeltem Sinne exklusiv ist: Nur sie beide würden bei der Mahlzeit anwesend sein, sie selbst würde Tereus bedienen27 und ihm eine Speise servieren, die er mehr als alles andere auf der Welt liebe.28 Ähnliches überliefern auch die anderen Texte: Diß wirtschafft aber ward verbotten Dem gesind im hauß allen inn gmein Tereo irem mann allein Hat sie eyn semlich mol bereit,29
so Wickram über den Ort des grausigen Festessens, und auch die beiden Fassungen des „Ovide moralisé en prose“ geben die doppelbödige Einladung Prognes wieder: sans copaignie, ohne Begleitung werde sie Tereus so bedienen, wie dieser es wünsche, berichtet der Autor des „Ovide moralisé en prose II“, und lässt Progne ebenfalls in direkter Rede auf den geheimen Ort des Festmahls hinweisen: ne par mon vouloir ia ne scaura lon quelle part nous serons.30 Auch im „Ovide moralisé en prose I“ wird die Verborgenheit
_____________ 22 Ung jour estoi philomena avec la maistresse a la fenestre de la maison (Eines Tages stand Philomela gemeinsam mit ihrer Aufseherin am Fenster des Hauses). 23 V. 1424; Sie fuerts hinein dem hauß eyn endt. 24 Ein geheimer Raum innerhalb des Hauses. 25 une chabre soubz terraine. 26 Et Progné coiement l’en maine / Jusqu’en une chambre soutaine / Pour faire lor duel coiement: / N’i ot qu’eles .II. seulement (V. 1281; Progne führte ihre Schwester heimlich in ein abseits gelegenes Zimmer, in dem sie auch ungestört trauern konnten: es waren dort nur sie beide). 27 V. 1351; Et elle dou tout servira. 28 V. 1344f.; Que de la riens en tout le mont / Qu’ele cuide que il plus aint. 29 V. 1437-1440. 30 Ich möchte nicht, dass jemand weiß, wo wir sind.
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betont, in der Tereus sich seinen Sohn einverleibt: icelles deux seurs [luy] firent en leur secret mangier à son dit père.31 Doch sind es nicht nur die beiden Orte des Verbrechens, die sich durch dunkle Abgeschiedenheit und Geheimhaltung vor möglichen Mitwissern auszeichnen. Auch der Übergang vom einen geheimen Raum in den anderen, vom Wald an den thrakischen Königshof, wird im nächtlichen Dunkel und unter dem Schutz der Verkleidung als Bacchantinnen vollzogen. En garde (vorsichtig) und secretement (heimlich) beschreibt es der „Ovide moralisé en prose II“, bei Chrétien meiden die Schwestern Wege und Pfade, um sich nicht bemerkbar zu machen,32 und Wickram berichtet ausführlich von den Masken, mit denen Progne und Philomela als Bacchantinnen getarnt durch die Nacht stürmen.33 Dass es sich dabei um einen weiteren Trick Prognes handelt, um heimlich ihren Plan zur Befreiung der Schwester durchzuführen, zeigt eine Formulierung des „Ovide moralisé en prose I“: soubz umbre d’aller aux sacrifices de Bacchus l’ala querir heißt es dort,34 wobei sich die Worte soubz umbre wörtlich als ‚unter dem Schatten‘ übersetzen lassen, somit ein weiteres Mal den Aspekt der Dunkelheit mit dem des Heimlichen und Verbotenen in Verbindung bringen und das bewusste Benutzen des Bacchus-Festes durch Progne für die eigenen Zwecke vor Augen führen. Lässt sich anhand der zahlreichen Textbeispiele zeigen, dass die beiden Verbrechen an Orte der Verborgenheit, des nicht Seh- und Höhrbaren gekoppelt sind, und die Täterinnen und Täter so vor der Wahrnehmung möglicher Zeugen geschützt werden, so sind auch die Bereiche von Natur und Kultur an die Verortung der Verbrechen gekoppelt. Nicht umsonst betont Chrétien die Entfernung der Waldhütte von Stadt und Rodeland und somit ihre Distanz zu menschlicher Zivilisation. Auch die Anklage von Tereus’ Barbarentum, die Philomela als attische und griechisch sprechende Königstochter an ihn richtet, definiert ihn nicht nur in Bezug auf seine von den Griechen als unverständlich und ‚barbarisch‘ abgewertete Sprache als unkultivierten Gegenpart zu ihr selbst. Dabei ist es interessant zu beobachten, dass die Bezeichnung von Tereus als Barbar zwar innerhalb des „Ovide moralisé en prose II“ beibehalten wird,35 sich das Bild des Barbaren als Inbegriff der Unkultur jedoch entsprechend des veränderten kulturellen Leitbildes gleichermaßen modifiziert. So werden bei-
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Die beiden Schwestern setzten ihn in ihrem Versteck seinem Vater zum Mahl vor. V. 1280; Ne tienent voie ne sentiers. V. 1322-1329. Unter dem Vorwand, sie wolle an der Zeremonie des Bacchus-Festes teilnehmen, befreite sie ihre Schwester. 35 O faulx cruel et barbare.
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spielsweise die barbarischen Heere, die zu Beginn des Mythos die Stadt Athen bedrohen, innerhalb des „Ovide moralisé en prose I“ als estranges adversaires36 bezeichnet und somit das Attribut der sprachlichen Unkultur durch das der Fremdheit ersetzt. In der Überlieferung Georg Wickrams klagt Philomela Tereus nicht mehr seines barbarisches Verhaltens, sondern seiner Treu- und Ehrlosigkeit an,37 ebenso wie sie seinen Unglauben und die Last seiner Sünden verurteilt,38 was zum einen als Echo des im Mittelalter zentralen Ehrbegriffs zu interpretieren ist, zum anderen die Einschreibung des christlichen Wertekanons in den Mythos deutlich werden lässt. Auch in Chrétiens „Philomena“ wird nicht mehr der Terminus ‚Barbar‘ verwendet, sondern das altfranzösische fel, welches insbesondere die Grausamkeit und Heimtücke des Tereus betont.39 Und schließlich ist es auch das Bacchus-Fest, welches der nächtlichen Dunkelheit sowie dem weiblichen Rausch verhaftet ist, das von Wickram als Heidnische sit bezeichnet, und somit gleichermaßen dem Bereich der Unkultur zugeordnet wird.40 Abgesehen von den sprachlich-kulturellen Veränderungen, die sich in den Texten entsprechend niederschlagen, bleibt die grundsätzliche Verortung der beiden Verbrechen im barbarischen Thrakien bestehen. Räumlich von Athen getrennt – dies wird ebenfalls durch die mehrfachen Schiffsfahrten betont -, finden Vergewaltigung, Verstümmelung und Mord auf thrakischem Territorium statt. Doch so klar sich die Zuordnung von Barbarei, Verbrechen, ungezügelter Lust und wilder Natur in der initialen Szene der Gewalt präsentiert und dementsprechend in der abgeschiedenen Waldhütte verortet wird, so verschwimmt zunehmend die klare Rollenverteilung in der darauf folgenden Handlung. Zum einen sind es die attischen Schwestern, die auf die grausame Tat des Tereus ebenso grausam antworten, sodass das barbarische Handeln nicht mehr allein auf Tereus beschränkt ist. Bezeichnend ist dafür der Moment innerhalb des Ovid’schen Textes, in dem Progne ihren Sohn zum Mord in das abgelegene Zimmer bringt und dabei mit einer Tigerin verglichen wird, die ihr Opfer in den Wald schleppt. Spätestens dort nimmt ihr zivilisiertes Verhalten ein Ende, sie wird ‚zum Tier‘.41 Zum anderen ist der Schauplatz der Gewalt von
_____________ 36 Fremde Gegner. 37 V. 1180-1183; Nun aber hast durch dein maineidt / Dein trew und ehr verloren beid / Du bist eyn maineydiger mann / Gantz trewloß hast an mir gthan. 38 V. 1202f.; Ich thun ihn deinen gwalt verkuenden / Dein unglauben und last der suenden. 39 Vgl. Eintrag „felon, fel“: Rebelle, traître, cruel, impitoyable, pervers, impie, furieux, terrible. In: Greimas (Anm. 10), S. 262. 40 V. 1299. 41 Nec mora, traxit Ityn, veluti Gangetica cervae lactentem fetum per silvas tigris opacas (V. 635f.; Wie durch den dunklen Wald den zarten Säugling der Hirschkuh Indiens Tigerin so schleppt ungesäumt Progne den Itys).
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Progne und Philomela nicht mehr der Wald, sondern der königliche Palast. Zwar ist das dortige Zimmer noch immer abgelegen und durch andere nicht einsehbar, doch hält die Gewalt Einzug in ein menschliches Bauwerk, das sich zwar auf thrakischem, also barbarischem Boden befindet, als Palast des Königs jedoch die dortige Kultur repräsentiert. Betrachtet man darüber hinaus die Bestandteile der Handlung, die die Grundlagen für die Gewalt gelegt haben, und die ebenfalls in allen mittelalterlichen Texten überliefert werden - der Frauentausch zur Stabilisierung der Machtverhältnisse sowie die inzestuöse Bindung von Pandion zu seiner Tochter -, so verbergen sich auch in der griechischen Kultur Formen von Gewalt, die die eindeutigen Grenzen von Kultur und Barbarei, Athen und Thrakien brüchig werden lassen; die klare Topographie des moralischen Handelns verschwimmt. Obgleich sich die Räume der Verbrechen durch Abgeschiedenheit und fehlende Wahrnehmbarkeit durch andere auszeichnen, ist auch ihre Gegenüberstellung mit der Öffentlichkeit, der Philomela ihre Schmach verkünden will, komplexer, als sie zunächst zu sein scheint. Zwar ist die Vergewaltigung und Verstümmelung Philomelas für die anderen nicht sichtbar, doch besteht die Brisanz und die Notwendigkeit der Geheimhaltung nicht nur aufgrund des Verbrechens an sich, sondern ist gleichermaßen durch Tereus’ Herrscherfunktion bedingt. Seine Leidenschaft zu Philomela ist öffentlich nicht zulässig, da sie der gesellschaftlichen Ordnung zuwider läuft, sodass er dazu gezwungen ist, sie geheim zu halten, um seine Herrschaft zu wahren. Die fatalen Folgen des Offenbarwerdens seiner Taten machen deutlich, dass Tereus auf mehrfache Weise gegen die rechtlich-politischen und familiären Strukturen verstoßen hat, auf die sich seine Herrschaft gründet. Das Bündnis, das er durch die Heirat Prognes mit Pandion geschlossen hat, ist durch die Vergewaltigung der zweiten Königstochter gestört. Dazu kommt, dass auch die familiäre Struktur zwischen Schwager, Schwägerin und Schwester durcheinander gerät und somit ebenfalls als stabilisierende Basis seiner Herrschaft wegfällt. Die Ordnung der Macht ist brüchig, und die Existenz eines verbotenen, unsichtbaren Raumes führt zu einer doppelbödigen Herrschaft, bei der die beiden Bereiche der öffentlichen Repräsentation und des Geheimnisses nicht mehr deckungsgleich sind. Während Tereus Progne gegenüber lügt, Philomela sei tot und begraben, erfährt diese wenig später von Philomelas Vergewaltigung und Verstümmelung und plant daraufhin ihre Rache. Es muss jedoch präzisiert werden, dass die Tat nicht, wie von Philomela erhofft, dem gesamten Volk offenbart, sondern durch das Gewebe lediglich ihrer Schwester vor Augen geführt wird. Dadurch wird Tereus auch nicht durch das gesellschaftliche Korrektiv, sondern allein durch die beiden Frauen bestraft. Dass dies nicht in der Öffentlichkeit, vor den
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Augen aller geschieht, wird dadurch unterstrichen, dass auch die Rache der Schwestern in verborgenen Räumen stattfindet und somit geheim bleibt. Lediglich nach ihrer Verwandlung in Vögel werden die Verbrechen der Figuren für alle sichtbar. Dabei begründen die Texte jedoch nicht nur deren ornithologische Eigenheiten mit ihrem menschlichen Verhalten wie beispielsweise den Gesang der Nachtigall als ‚posthumes‘ Wiedererlangen der Sprache durch Philomela, den roten Brustfleck auf dem Gefieder der Schwalbe als Zeichen des Mordblutes, oder den langen Schnabel des Wiedehopfs als Stigma der oralen Gier des Tereus. Auch im jeweiligen Aufenthaltsort der Vögel spiegelt sich ihr menschliches Schicksal, sodass die Protagonistinnen und Protagonisten selbst nach ihrer Verwandlung bedeutungsvoll ‚verortet’ werden. Ebenso wie Philomela zuvor in der Waldhütte gefangen war, so hält sie sich auch als Nachtigall im Wald auf, wie es die Texte von Ovid,42 Chrétien,43 Wickram44 sowie der „Ovide moralisé en prose II“45 betonen. Dass sich ihr Gesang vorwiegend in der Dämmerung vernehmen lässt, spiegelt die dunkle Verborgenheit der Waldhütte, in der sie missbraucht und gefangen gehalten wurde. Der Wiedehopf, so die Auslegungen des Mythos bzw. seine Überlieferung selbst, ist ein schmutziger Vogel, der sich aufgrund seines zuvor als Mensch verübten, unmoralischen Verhaltens nun in menschlichem Unrat aufhält oder auch sein Nest auf Gräbern errichtet: Der Widhopff ist eyn leyd vogel / ist gern wo leydt und jamer ist.46 Warum Progne, in eine Schwalbe verwandelt, sich gern in Häusern bei den Menschen aufhält und dort ihr Nest baut, wie die einzelnen Texte betonen, ist nicht ebenso logisch begründbar. Da sich das Verhalten der beiden anderen Figuren jedoch in ihrem späteren Aufenthaltsort widerspiegelt, kann dies ebenfalls für Progne vermutet werden. Weil sie den Kindsmord innerhalb des Hauses verübt hat, sucht sie sich noch als Schwalbe ein Versteck im Innern menschlich errichteter Mauern. Und sogar die Verwandlung des Itys, von der Gerhard Lorichius als Einziger der hier untersuchten Texte berichtet, wird mit dem Aufenthaltsort seiner animalischen Existenz begründet. Nicht Progne, sondern Itys verwandelt
_____________ 42 Auch wenn die Metamorphose der beiden Schwestern nicht eindeutig zu klären ist, wird dennoch der Wald als Aufenthaltsort der einen angegeben: quarum petit altera silvas, altera tecta subit (V. 668f.; Es strebt die eine zum Walde, birgt sich die andere im Haus). 43 Chante au plus doucement qu’el set / Par le boschaige : oci ! oci ! (V. 1467f.; Sie singt im Wald so süß sie kann: Töte ! Töte!). 44 V. 1500-1502; ihr hoechstes ungemach / Welchs ir zuvor im waldt geschach / Also flog sie schnel inn den waldt. 45 Chante elle le plus doulcement quelle peut quat printemps est venu par ces boscaiges et forestz. Occy occy occy (Wenn der Frühling in den Wiesen und Wäldern angekommen ist, singt sie so süß sie kann „Töte, töte, töte!“). 46 Gerhard Lorichius, Z. 24.
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sich bei Lorichius in eine Schwalbe, denn er ist auch noch gern inn den heusern / mag nit inn den weldern und eckern bei vatter und mutter nesten.47 Die bewusste Differenz zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, die sowohl bei den Taten des Tereus, als auch bei denen der beiden Schwestern beobachtet werden konnte, trifft dabei jedoch nicht nur auf die Gewalt, sondern ebenfalls auf die Formen des Handelns und Kommunizierens von Progne zu. In Anlehnung an das Verhalten des Tereus, der ebenfalls zwischen heimlich und öffentlich unterscheidet, benutzt sie die Rolle der rasenden Bacchantin, um diese als Maske für die Befreiung ihrer Schwester zu verwenden – hinter dem vorgeblichen Rausch steckt bewusstes Kalkül. Auch bei ihrem weiteren Vorgehen macht sie sich eine Doppelbödigkeit des Handelns zu nutze, welches jedoch nicht nur mit den Kategorien ‚öffentlich‘ und ‚heimlich‘, sondern ein weiteres Mal mit der Kategorie ‚Geschlecht‘ verknüpft ist. Einerseits schützt sie sich selbst als Täterin vor fremden Blicken, indem sie ein abgeschiedenes Zimmer für Mord und Mahl auswählt und die Bediensteten ebenfalls aus ihrem Handlungsfeld verbannt. Gleichzeitig nutzt sie beides, um Tereus das Mahl noch ‚schmackhafter‘ zu machen. Sie stellt einerseits ein ‚tête à tête‘ in Aussicht, wobei sie die eigene Rolle als die der Bediensteten besonders hervorhebt, zum anderen lässt sie durch ihre Rolle als Köchin das Mahl unverfänglich erscheinen, beides typisch weiblich konnotierte Tätigkeiten, mit denen sie ihr eigentliches Verbrechen gegenüber Tereus zu verdecken sucht. Die Differenz zwischen Schein und Sein, die sich nicht nur bezüglich der Einladung zum, sondern auch in Bezug auf das Mahl selbst beobachten lässt, manifestiert sich ebenfalls in der Antwort Prognes auf Tereus’ Frage nach dem Verbleib des Itys. „Drinnen hast Du, den Du verlangst“, überliefert Ovid die wörtliche Rede Prognes, die in ähnlicher Form ebenfalls in den mittelalterlichen Adaptationen aufgegriffen wird. So sind nicht nur Einladung und dargebotene Speise, sondern auch die Sprache selbst von doppeldeutigem Charakter. Nicht zuletzt erweist sich der Gesang der Nachtigall als Sinnbild der Doppelbödigkeit und zugleich als Verschränkung von Kultur und Barbarei: Ihr süßer Gesang, der nicht nur im Minnesang stellvertretend für die angebetete Dame, die Inspiration des Sängers oder den Sänger selbst steht und somit eng mit Liebe und ihrer literarischen Repräsentation verknüpft ist,48 ruft tatsächlich – so zumindest die Überlieferung Chrétiens und des „Ovide moralisé en prose II“ – durch ihr „oci, oci!“ zum Töten auf. Damit erinnert sie an ihr schreckli-
_____________ 47 Gerhard Lorichius, Z. 35-37. 48 Vgl. dazu ausführlich Pfeffer, Wendy: The change of Philomel. The nightingale in medieval literature. New York, Bern, Frankfurt a. M. 1985.
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ches Schicksal und hält durch ihre Aufforderung nach Rache die Barbarei inmitten der Kultur präsent. Dass der Raum semantisch codiert ist, zeigt sich letztendlich ebenfalls in den allegorischen Auslegungen, die den mittelalterlichen Texten zum Teil hinzugefügt sind. Bei den Übertragungen des mythischen Geschehens in einen christlichen Kontext werden auch dort die Räume mit einer spezifischen Bedeutung versehen. Zwar erfolgt die Ausgestaltung nicht so ausführlich wie innerhalb der Ausführungen des Mythos selbst, doch wird sie entsprechend der den Allegoresen eigenen Logik heilsgeschichtlich gedeutet. So berichten beispielsweise die Auslegungen des „Ovide moralisé“ und des „Ovide moralisé en prose I“ davon, dass es sich bei der Stadt Athen um die cité de dieu, also den Gottesstaat handle, und der Nistplatz der Schwalbe, der sich oftmals in oder auf Schornsteinen befinde, gleichbedeutend sei mit dem infernal cheminee, dem Schornstein, durch den die verlorene Seele – symbolisiert durch Progne - in die Hölle fahre. In den angeführten Textbeispielen wird deutlich, dass die Kategorie ‚Raum’ als wesentlicher Bestandteil der inhaltlichen Struktur des Mythos betrachtet werden muss. Obgleich sich die mittelalterlichen Texte bei ihrer Bearbeitung direkt oder indirekt auf die antike Überlieferung des Mythos durch Ovid stützen und somit ihre diesbezügliche Gestaltung nicht als völlig eigenständige Hervorbringung gewertet werden kann, so lässt sich dennoch beobachten, dass sie in ihrer Bearbeitung oft gerade dort ansetzten und den Bereich des Verbotenen und Verborgenen als Gegensatz zum öffentlich Wahrnehmbaren literarisch ausgestalten. Dass dabei die Sphäre mittelalterlicher Öffentlichkeit nicht nur eine repräsentative Funktion erfüllt, was die Forschung in Anlehnung an Habermas lange Zeit annahm,49 sondern dass ihr gleichermaßen ein Bereich der Nichtöffentlichkeit gegenübersteht, konnte mittlerweile durch verschiedene Publikationen gezeigt werden.50 Die aufgeführten Textbeispiele der mittelalterlichen
_____________ 49 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Darmstadt, Neuwied 1962. 50 An Stelle eines Forschungsüberblicks soll auf die folgenden, einschlägigen Werke verwiesen werden: Brandt, Rüdiger: Enklaven – Exklaven. Zur literarischen Darstellung von Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit im Mittelalter. Interpretationen, Motiv- und Terminologiestudien. München 1993; ders: „…his stupris incumbere non pertimescit publice. Heimlichkeit zum Schutz sozialer Konformität im Mittelalter.“ In: Schleier und Schwelle. Archäologie der literarischen Kommunikation V. Band 1: Geheimnis und Öffentlichkeit. Hg. v. Aleida und Jan Assman. München 1997, S. 71-88; Wenzel, Horst: „Das höfische Geheimnis: Herrschaft, Liebe, Texte.“ In: Schleier und Schwelle. Archäologie der literarischen Kommunikation V. Band 1: Geheimnis und Öffentlichkeit. Hg. v. Aleida und Jan Assman. München 1997, S. 53-69; ders: „Ze hove und ze holze – offenlîch und tougen. Zur Darstellung und Deutung des Unhöfischen in
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Adaptationen des Philomela-Mythos unterstützen die These der literarischen Existenz eines ‚geheimen’ Raumes im Gegensatz zur öffentlichen Repräsentation. Zwar lassen sich die dargestellten Textpassagen der Antikenrezeption zuordnen und sind daher bezüglich ihres Inhaltes nicht genuin mittelalterlich, doch zeigen sie deutlich, dass nichtöffentliche Räume im Mittelalter denk- und beschreibbar gewesen sind. Aufgrund mangelnder Alternative wird in der mediävistischen Forschung oft die Bezeichnung der ‚Nichtöffentlichkeit’ gewählt, um eine ahistorische Übertragung moderner Begrifflichkeiten zu vermeiden, die der Öffentlichkeit den Bereich des Privaten gegenüberstellt, welcher in seiner modernen Bedeutung im Mittelalter nicht existierte. Von Privatheit zur Bezeichnung der Räume des Abgeschiedenen, nicht Wahrnehmbaren, wie sie die Adaptationen des Philomela-Mythos zeichnen, kann jedoch keine Rede sein. Vielmehr handelt es sich dort eindeutig um den Bereich des Geheimen, was durch die dort stattfindenden Verbrechen und das in den Texten hervorgehobene Element des Verbotenen deutlich gemacht wird. So findet sich in den Textbeispielen ebenfalls eine moralische Prägung wieder, die sich häufig in der Literatur des Mittelalters manifestiert und die die Sphäre der Öffentlichkeit positiv, die des Geheimen negativ besetzt: „Dem Mittelalter gilt, so wollte es lange die überwiegende Forschungsmeinung, nur das als wahr, moralisch einwandfrei, legitim, was öffentlich artikuliert wird, sich ‚vor aller Augen‘ abspielt; entsprechend hätte heimliches Handeln immer Anzeichen vom Gegenteil sein müssen; von moralischer Defizienz des Handelnden, mangelnden Rechtsansprüchen und dergleichen mehr.“51
Zwar zeigt Rüdiger Brandt, dass im Mittelalter auch Formen positiv besetzter Heimlichkeit existierten, doch wird innerhalb des PhilomelaMythos eindeutig eine andere Kopplung sichtbar. Sowohl die Verbrechen des Tereus, als auch die der beiden Schwestern sind der Sphäre des Heimlichen, Verbotenen, nicht Wahrnehmbaren verhaftet. Es ist erst Philomelas Androhung des Öffentlich-Machens der illegitimen Verbindung und der Vergewaltigung durch Tereus, die die Differenz zwischen heimlichem Innenraum und repräsentativer Öffentlichkeit seiner Herrschaft entstehen lässt. Diese Herrschaft lässt sich daher auch nur so lange aufrechterhalten, wie das Geheimnis gewahrt werden kann. Und so gilt, was bereits Horst Wenzel für das „Nibelungenlied“ beobachtet hat: „Das Wechselspiel von
_____________ der höfischen Epik und im Nibelungenlied.“ In: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3. bis 5. November 1983). Hg. v. Gert Kaiser und Jan-Dirk Müller. Düsseldorf 1986, S. 277-300; von Moos, Peter: ‚Öffentlich‘ und ‚privat‘ im Mittelalter. Zu einem Problem historischer Begriffsbildung. Vorgetragen am 22.06.1996. Heidelberg 2004. 51 Brandt: „…his stupris incumbere non pertimescit publice“ (Anm. 50), S. 71.
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Heimlichkeit und Öffentlichkeit [zerstört] die rechtlich-politischen und familiaren Bindungen.“52 Auch ein weiteres Beispiel, das Wenzel zur Illustration der literarischen Existenz zweier Räume anführt, lässt sich verblüffend genau auf die mittelalterlichen Philomela-Adaptationen übertragen. Ebenso, wie sich Tristan und Isolde einen doppelt codierten Handlungsraum für ihre Kommunikation schaffen, so kommunizieren auch Progne und Philomela in Form einer zweifachen Lesbarkeit miteinander. Die Textilmetapher, die Gottfried von Straßburg zur Veranschaulichung des Austausches des heimlichen Liebespaares verwendet, kommt innerhalb des Mythos jedoch nicht als Metapher, sondern in tatsächlicher, materieller Ausführung zum Einsatz. Ir offenlîchiu maere, mit den si wunder kunden diu begunden s’under stunden mit clebeworten underweben. man sach dicke in ir maeren cleben der minnen werc von worten als golt in dem borten.53
Ebenso wie ein „golddurchwirkte[r] Gürtel oder eine Borte mit Bildzeichen oder Schriftzeichen, ein Muster jedenfalls, das man unterschiedlich deuten kann und denen, die es lesen können, eine andere Bedeutung liefert als denen, die die Zeichen nicht erkennen“,54 können auch die Bewacher Philomelas die Zeichen in ihrem Gewebe nicht entziffern. Die Verstümmelung der Zunge, des „einzigen Körperteils des Menschen, welches sowohl in als auch außerhalb seines Körpers sein kann“55 und somit einen liminalen Status zwischen Innen und Außen innehat, gibt den Startschuss für eine Reihe von doppelbödigen Handlungen, die sowohl von Tereus, als auch von den attischen Schwestern vollzogen werden, und deren Existenz die gesellschaftliche Ordnung schließlich zum Einsturz bringt. Dass der Philomela-Mythos in seiner Konzeption Strukturen aufweist, für die die Autorinnen und Autoren des Mittelalters sensibel waren, und die sie dementsprechend aufgegriffen und innerhalb des Prozesses der Mythen-Adaptation be- und umgearbeitet haben, lässt sich gleichermaßen für das Spannungsfeld Natur – Kultur beobachten. Auch hier zeigt sich,
_____________ 52 Wenzel: Das höfische Geheimnis (Anm. 50), S. 59. 53 V. 12990-12996; Ihre öffentliche Unterhaltung, die sie kunstvoll führten, begannen sie, bisweilen mit clebeworten – Fangworten, Leimworten, Haftworten – zu unterweben/unterlegen. Oft sah man in ihnen das Liebesspiel der Worte blitzen wie Gold(Fäden) in einer (Seiden-)Borte. (Übersetzung Horst Wenzel) 54 Wenzel: Das höfische Geheimnis (Anm. 50), S. 61 55 Benthien, Claudia: „Zwiespältige Zungen. Der Kampf um Lust und Macht im oralen Raum.“ In: Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Hg. v. Claudia Benthien u. Christoph Wulf. Reinbeck 2001, S. 104-132, hier S. 104.
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dass die in der antiken Überlieferung Ovids nur kurz dargestellte Verortung des barbarischen Handelns in wilder, unkultivierter Umgebung in den mittelalterlichen Übertragungen eine besondere Berücksichtigung erfährt. Die Positionierung des Handelns im Bereich undomestizierter Wildnis, das sich nicht im Einklang mit dem höfischen Verhaltensideal befindet, spiegelt sich u.a. in der Gegensatzformel ze hove – ze holze des „Wälschen Gastes“ wider,56 die beide Bereiche als Gegensätze zueinander konstituiert. Auch zahlreiche andere Werke der höfischen Epik verorten das Leben, das sich nicht mit dem gängigen Verhaltenscodex in Einklang bringen lässt, außerhalb des höfischen Zentrums und innerhalb von Bereichen, die topographisch vom Hof abgegrenzt sind: „Ze hove steht als Abbreviatur für die vorbildliche, die erstrebenswerte Welt, die korrespondiert mit der Bestimmung des Adels, wie sie von Gott entworfen wurde, ze holze für den Bereich des Negativen, Kreatürlichen, um dessen Ausgrenzung und Überwindung der Adel sich bemühen muß, wenn er seinen Vorrang bestätigt wissen will.“57
Dass sich genau dies in den mittelalterlichen Texten wiederfindet, zeigt beispielsweise die Figur der Bäuerin, die Philomela in der Waldhütte als Wache hinzugegeben wird, und um die Chrétien das Personal des Mythos gegenüber der antiken Vorlage ergänzt. Der bäuerliche Stand wurde oft als Negativbeispiel des aristokratischen Selbstbildes benutzt, wobei auch die Ritter selbst in Krisensituationen und fern des höfischen Kollektivs im Wald dem Kampf animalischer Bedürfnisse – zumindest zeitweise – ausgesetzt sind, um schließlich gestärkt wieder in die höfische Gesellschaft zurückzukehren. Dass sich nun dieser unhöfische Raum auch durch Attribute fehlender Wahrnehmbarkeit definiert, wird in zahlreichen Textbeispielen deutlich, die ihn durch fehlendes Licht, Tarnmäntel oder nächtliche Dunkelheit einer kontrollierenden Zeugenschaft entrücken, was ebenfalls in den Textbeispielen mittelalterlicher Philomela-Adaptationen gezeigt werden kann. Die Tatsache, dass sich die Verbindungen von Öffentlichkeit und Geheimnis, Natur, Kultur und Wahrnehmung besonders deutlich in den Mythen-Adaptationen des Mittelalters präsentieren, in der Ovid’schen Überlieferung jedoch bereits angelegt sind, führt ein weiteres Mal die Zeitlosigkeit der wesentlichen Parameter vor Augen, die innerhalb der Mythen verhandelt werden. Als eine weitere inhaltliche Konstante des PhilomelaMythos erweist sich zudem das Überschreiten von Grenzen. So definieren Aleida und Jan Assmann das „Geheimnis als eine grenzziehende Ordnungskraft, die durch Vorenthaltung und Ungleichverteilung Sinn, Struk-
_____________ 56 Thomasin von Zirclaria: Der Wälsche Gast. Hg. v. Heinrich Rückert. Mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann. Berlin 1965, V. 352f. 57 Wenzel: Ze hove und ze holze – offenlîch und tougen (Anm. 50), S. 279.
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tur und Zusammenhang produziert“58, sowie als „strukturierendes Prinzip der gesellschaftlichen Welt.“59 Indem das Geheimnis von Philomelas Vergewaltigung und Verstümmelung aufgedeckt und so diese ordnungsstiftende Grenze aufgelöst wird, fällt ebenso wie durch das Überschreiten der verwandtschaftlichen Grenzen durch den Inzest eine weitere kulturelle Instanz, was zur Destabilisierung der menschlichen Gemeinschaft und schließlich zur finalen Verwandlung beiträgt.
_____________ 58 Assmann, Aleida/Assmann, Jan: „Das Geheimnis und die Archäologie der literarischen Kommunikation. Einführende Bemerkungen.“ In: Dies. (Anm. 50), S. 7-16, hier S. 8. 59 Assmann (Anm. 58), S. 9.
Schluss: Die Auflösung der Ordnung Die vorliegende Arbeit hat die volkssprachliche Entwicklung des Philomela-Mythos vom 12. bis zum 16. Jahrhundert anhand deutscher und französischer Texte exemplarisch untersucht. Ebenso wurden die „Philomela“ Ovids sowie ihr Nachwirken in den mittelalterlichen Adaptationen eingehend betrachtet. Auf der Grundlage der literarischen Einzeluntersuchungen wurden darüber hinaus die inhaltlichen Knotenpunkte des Mythos analysiert und in ihrer Varianz vergleichend präsentiert. Obgleich die Arbeit damit nur einen Ausschnitt seiner Tradierung in den Blick nimmt, ist dennoch erkennbar, dass sich der Mythos einer Vereindeutigung entzieht. Zwar offenbart sich das Überschreiten von Grenzen als zentrales Motiv seiner Konzeption, doch werden die Umsetzungen der Grenzüberschreitungen in den einzelnen Adaptationen sowohl literarisch als auch inhaltlich unterschiedlich ausgestaltet. Dabei geben die Grenzen selbst dem Mythos zwar ein inhaltliches Gerüst, haben jedoch als ordnungsstiftende Größe keinen Bestand. So erweisen sich mehrfacher Inzest und Verkehrung der Vater- und Mutterbilder als paradigmatisch für die Auflösung familiärer Strukturen; die als typisch weiblich codierten Tätigkeiten des Webens und Kochens funktionieren einerseits zur Durchführung einer Rache, die die männliche Gewalt spiegelt, gleichzeitig machen sie jedoch die geschlechtlich markierte Ordnung sichtbar und durchbrechen sie; das Gewebe überwindet die Grenzen zwischen Text und Bild sowie Reden und Schweigen und wird dabei gleichzeitig zum Sinnbild stummer Kommunikation und künstlerischer Ausdruckskraft; die Bereiche von Kultur und Barbarei sowie von Öffentlichkeit und Geheimnis sind innerhalb des Mythos zunächst klar verteilt, doch verschwimmt die Topographie des moralischen Handelns zunehmend: Während der Thrakerkönig Tereus zu Beginn des Mythos Gewalt und Unkultur in sich vereint, rücken der ‚barbarische‘ Webstuhl (stamnia barbarica) sowie die Rache der Schwestern an seine Stelle und ver-rücken damit die bisherige Ordnung. Nicht zuletzt ist das Motiv der Metamorphose als Wandlung des Seinszustandes Paradigma für die Durchlässigkeit der Grenze zwischen menschlicher und animalischer Existenzform und
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Schluss
erteilt den gesellschaftlich-moralischen Strukturen damit indirekt eine Absage. Mit der Benennung dieser ‚Tiefenstruktur‘ des Mythos findet sich die Annahme Claude Lévi-Strauss’ bestätigt, der zufolge Mythen elementare Probleme einer Gesellschaft behandeln, die sich gleichbleibend um die Pole Natur und Kultur bewegen. Die Vielgestaltigkeit, in der sich dieses Spannungsverhältnis präsentierten kann, wird in den verschiedenen Titeln seiner Mythologica-Reihe durch die Dichotomien roh/gekocht, nackt/bekleidet etc. artikuliert,1 und findet sich sowohl bezüglich der Ordnung von Verwandtschaftsverhältnissen, der verbalen und künstlerischen Artikulation sowie der Raumkonzeption als inhaltliche Knotenpunkte des Philomela-Mythos wieder. Auch die Thematisierung geschlechtlich codierter Handlungsmuster wie der Frauentausch zur Stabilisierung von Machtverhältnissen sowie Formen der Kommunikation und Rache lassen sich als Thematisierung kulturell geformter Geschlechterbilder lesen. Die Texte arbeiten sich dabei an der sozial-moralischen Unordnung des Mythos in höchst unterschiedlicher Weise ab und offenbaren darin nicht nur die individuellen Lesarten der Autorinnen und Autoren, sondern auch die Prägung der Mythenrezeption durch die jeweilige Epoche. So wird beispielsweise der Kindsmord Prognes innerhalb der Chrétien’schen „Philomena“ als eine Eingebung des Teufels erklärt und die Rachlust entsprechend des christlichen Dogmas aus dem menschlichen in den teuflischen Bereich verschoben. Gleichzeitig überliefern jedoch Chrétien ebenso wie die beiden Fassungen des „Ovide moralisé en prose“ die Bedeutung des Gesangs der Nachtigall als Aufforderung zum Töten („Oci! Oci!“) und tragen so nicht nur einen Bestandteil archaischer Rachlust in die Gegenwart hinüber, sondern halten gleichzeitig an dem für das christliche Verständnis äußerst prekären Motiv der Metamorphose fest. Das Element des Inzests wird innerhalb der Chrétien’schen „Philomena“ ausgebaut, seine Schuldhaftigkeit durch den Erzähler explizit thematisiert sowie durch Georg Wickram, Gerhard Lorichius und die Autoren der beiden Fassungen des „Ovide moralisé en prose“ angeprangert und verurteilt. Auch die gewebte Kommunikation Philomelas erhält in den Texten einen unterschiedlichen Stellenwert und wird durch die Autorinnen und Autoren in seiner kommunikativen Funktionalität erwähnt, jedoch ebenfalls in seiner vielschichtigen poetologischen Originalität, beispielsweise bei Chrétien de Troyes, hervorgehoben. Ähnlich unterschiedlich erfolgt
_____________ 1
Lévi-Strauss, Claude: Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte. Frankfurt a. M. 1971; ders.: Myhologica II. Vom Honig zur Asche. Frankfurt a. M. 1972; ders.: Mythologica III. Der Ursprung der Tischsitten. Frankfurt a. M. 1973; ders.: Mythologica IV. Der nackte Mensch. Frankfurt a. M. 1975.
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die literarische Konzeption des Motivs der Sprache: Während das ‚sprechende Gewebe‘ in den meisten Texten das einzige Medium ist, mit Hilfe dessen sich Philomela mitteilt, wird ihr rhetorisches Können in der altfranzösischen „Philomena“ sorgfältig ausgestaltet. Konsequenterweise ist es auch der einzige Text, der vor der Verstümmelung ihre Androhung ausspart, das Verbrechen öffentlich zu machen – ihre Zunge erweist sich bereits zuvor als ausreichend gefährlich. Schließlich wird auch die Raumsemantik unterschiedlich akzentuiert und die ‚Wildheit‘ durch das Element der rasenden Bacchantinnen, die Ausgestaltung des abgelegenen Gefängnisses oder den Schauplatz des Kindsmordes deutlich gemacht bzw. werden die beiden Verbrechen in unterschiedlicher Form an das nicht Wahrnehmbare gekoppelt. Die Auslegungen des Mythos, die durch die Forschung bislang meist abwertend kommentiert wurden, erweisen sich als aufschlussreiche Bestandteile mittelalterlicher Mythenrezeption. So unzugänglich sich ihre Interpretationen der „Philomela“ auf den ersten Blick präsentieren, zeigt sich bei näherer Betrachtung eine bemerkenswert offene Form der Auslegung. Dies wird exemplarisch durch die Interpretation der mythischen Figur der Byblis sichtbar. Byblis begehrt ihren eigenen Bruder, und als dieser sie zurückweist, gibt sie sich allen Männern hin. Die Auslegung des „Ovide Moralisé“ berichtet, dass Byblis Jesus repräsentiere, dessen Gnade ebenfalls allen zuteil wird. Dies zeigt zwar einerseits die christliche Beschränkung der Auslegung, andererseits auch die damit einhergehende, völlige Entgrenzung des Textverständnisses. Ähnliches zeigt sich durch die Auslegung Philomelas als irdische Versuchung, ebenso wie die Lesart der Bäuerin als personifizierter Geiz. Gleichzeitig entsprechen die Auslegungen durch die Konzentration auf das Motiv des Inzests, sowie die Begründung der Metamorphose durch die Eigenschaften und Verhaltensweisen der Figuren dem christlichen Dogma: Der Mythos wir dazu benutzt, die Sünde des Inzests anzuprangern und zu verurteilen. Durch die Verwandlung ändern die Figuren nicht ihr Wesen, sondern lediglich ihre äußere Gestalt, wodurch die alleinige Schöpfungsgewalt Gottes unangetastet bleibt. Im Gegenzug zum Strukturalismus, der von einer allgemeinmenschlichen Psyche und der Allmacht der Mythen ausgeht, sodass nicht „die Menschen in Mythen denken, sondern […] sich die Mythen in den Menschen ohne deren Wissen denken“,2 tritt bei der Untersuchung der mittelalterlichen Philomela-Adaptationen jedoch das ausgeprägte und vielfältige Bewusstsein zu Tage, mit dem die literarischen Aktualisierungen den Mythos rezipieren und neu produzieren. Dabei verstellt eine Analyse, die sich
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Lévi-Strauss: Mythologica I (Anm. 1), S. 26.
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ausschließlich auf die ahistorischen Strukturen eines Mythos beschränkt, den Blick sowohl auf die gesellschaftlich-kulturelle Verhaftetheit seiner jeweiligen Neufassungen, als auch die Vielfalt seiner literarischen Artikulation. In den hier untersuchten Texten wird deutlich, dass es sich bei Christlichem und Mythischem nicht um eine sich ausschließende Opposition, und dem Mittelalter nicht um eine per se „antimythische Kultur“3 handelt, sondern dass der antike Mythos auf inhaltlich-motivlicher Ebene seinen Platz innerhalb der mittelalterlichen Literatur behauptet. So ist die Funktion des Mythos im Mittelalter auch nicht nur als „Dienstbarkeit für das zur Herrschaft gelangte christliche Weltverständnis“4 zu sehen. Die mythischen Präsenz-Spuren in Maries de France Lai „Laüstic“ sowie die „Philomena“ Chrétiens de Troyes zeigen, dass die antiken Mythen dabei nicht nur in Form vollständiger Adaptationen der Ovid’schen „Metamorphosen“, sondern auch als selbständige Bearbeitungen existierten. Dies bezeugt ein eigenes, stoffliches Interesse am Mythos selbst und nicht allein an dem Projekt einer umfassenden Übertragung der „Metamorphosen“ in die Volkssprache oder einem Nutzbarmachen des Mythos für das christliche Dogma und die Vermittlung moralischer Werte. Gerade diese beiden Texte machen deutlich, dass Autorinnen und Autoren für die Möglichkeit sensibel waren, kulturell-gesellschaftlich relevante Themen in die Mythen hineinzuschreiben und die entsprechenden motivlichen Anknüpfungspunkte innerhalb des Philomela-Mythos dafür zu nutzen. So spielen Chrétien und Marie gleichermaßen mit dem Aspekt der Autorschaft, mit Mündlichkeit und Schriftlichkeit bzw. den darstellenden Medien Schrift und Bild, und Chrétien reflektiert durch ironisierende Brechung literarische Topoi seiner Zeit. Auch die verschiedenen Darstellungen der Grenzüberschreitungen lassen sich nicht vereindeutigen, sondern werden in den einzelnen Texten jeweils neu ausgehandelt. Dabei reicht die Bandbreite von der nahezu neutralen Zusammenfassung des mythischen Geschehens innerhalb der beiden Fassungen des „Ovide moralisé en prose“, seiner deutlichen Markierung als ‚heidnisch‘, jedoch gleichzeitig einer ebenso deutlichen Faszination durch seine Darstellung vorzeitlicher, unmittelbarer Lust (Chrétien de Troyes), über seine heilsgeschichtliche Auslegung („Ovide moralisé“) bis hin zu der offenen Verurteilung des dargestellten Geschehens (Georg
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Friedrich, Udo/Quast, Bruno: „Mediävistische Mythosforschung.“ In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Udo Friedrich und Bruno Quast. Berlin, New York 2004, S. 9-37, hier S. 37. Jauss, Hans Robert: „Allegorese, Remythisierung und Neuer Mythos. Bemerkungen zur christlichen Gefangenschaft der Mythologie im Mittelalter.“ In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hg. v. Manfred Fuhrmann. München 1971, S. 187209, hier S. 187.
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Wickram). In der Präsentation und Problematisierung grundsätzlicher gesellschaftlicher Strukturen und als „das große Reservoir, aus dem alle diejenigen schöpfen, die nach Sinn suchen und Sinnangebote machen wollen“,5 fordert der Mythos geradezu dazu heraus, dass sich Autorinnen und Autoren an den entsprechenden Stellen ‚einhaken‘ und an der Aushandlung der zur Disposition stehenden Ordnungsmuster partizipieren. Dazu kommt, dass die hier beleuchteten volkssprachlichen Adaptationen im Zuge einer Emanzipationsbewegung gegenüber der lateinischklerikalen Literatur und Mythenrezeption zu betrachten sind, sodass neben der Entwicklung eigenen literarischen Erzählens auch eigene Wege der Mythentradierung beschritten werden. Dass sich gerade Phasen kultureller Neuerungen in einer verstärkten Zuwendung und Bearbeitungen von Mythen manifestieren, wurde u.a. von Inge Stephan am Beispiel des 20. Jahrhunderts exemplarisch gezeigt6 - ihre These bestätigt sich durch die vorliegende Untersuchung. Dass darüber hinaus auch bestimmte Epochen eine besondere Affinität zu einzelnen Mythen aufweisen, ein Phänomen, das in Anlehnung an die ‚Mythodologie‘ Gilbert Durands innerhalb des Kapitels zu Mythos und Literaturwissenschaft bereits angesprochen wurde,7 lässt sich ebenfalls an der steigenden Anzahl von Adaptationen des, und wissenschaftlichen Publikationen zum PhilomelaMythos innerhalb der letzten vier Jahrzehnte erkennen. Damit stehen diese nicht nur im Zusammenhang des geisteswissenschaftlichen „mythophilen Klimas“8 der letzten Jahre, sondern sind ebenfalls Resultat einer feministisch geprägten Literaturwissenschaft, im Zuge derer ein Großteil dieser Beiträge zu verorten sind. Dass der Mythos jedoch nicht nur an feministische Theorie anschließbare Elemente enthält, sondern sich ebenfalls mit Gewinn in Fragestellungen von Ekphrasis, Intertextualität, Raumkonzeption oder mediävistischer Mythosforschung situieren lässt, hat die vorliegende Arbeit zu zeigen versucht. Das Mittelalter behauptet seinen Teil an der Geschichte der ‚Arbeit am Mythos‘.
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Stephan, Inge: Musen und Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Köln, Weimar, Wien 1997, S. 11. Stephan (Anm. 5). Vgl. S. 31. Assmann, Aleida/Assmann, Jan: Artikel „Mythos“. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Hg. v. Hubert Cancik, Burkhard Gladigow und Karl-Heinz Kohl. Bd. 4. Stuttgart, Berlin, Köln 1998, S. 179-200, hier S. 197.
Literaturverzeichnis I. Textausgaben Achilleus Tatios: Leukippe und Kleitophon. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Karl Plepelits. Stuttgart 1980. Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat. Buch 11-22. Band II. Zürich, München 1978. Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal. Édition établie par John E. Jackson. Préface d’Yves Bonnefoy. Paris 1999. Chrétien de Troyes: Oeuvres complètes. Edition publié sous la direction de Daniel Poirion, avec la collaboration d’Anne Berthelot, Peter F. Dembowski, Sylvie Levèvre, Karl D. Utti et Philippe Walter. Paris 1994. Franz Kafka: In der Strafkolonie. In: Ders.: Sämtliche Erzählungen. Hg. v. Paul Raabe. Frankfurt am Main 1970. Homer: Odyssee. Griechisch und deutsch. Übertragung von Anton Weiher. Mit Urtext, Anhang und Registern. Einführung von A. Heubeck. München, Zürich 1990. Homer: Die Odyssee. Übersetzt von Wolfgang Schadewald, mit einem Nachwort von Rainer Nickel. Düsseldorf, Zürich 2001. Les Lais de Marie de France. Hg. v. Jean Rychner. Paris 1966. Marie de France: Die Lais. Übersetzt, mit einer Einleitung, einer Bibliographie sowie Anmerkungen versehen von Dietmar Rieger unter Mitarbeit von Renate Kroll. München 1980. Marie de France: Lais. Préface, traduction nouvelle et notes de Philippe Walter. Edition bilingue. Paris 2000. Marie de France: Lais. Hg. v. Alfred Ewert. Oxford 1944. Marie de France: Oeuvres complètes. Publiées par Dr. Yorio Otaka avec le concourt du Ministère de l’Education, de la Science et de la Culture du Japon. Tokio 1987. M. Valerius Martialis: Epigramme. Lateinisch-deutsch. Hg. u. übersetzt von Paul Barié u. Winfried Schindler. Düsseldorf, Zürich 2002. Ovide: Les métamorphoses. Texte établi et traduit par Georges Lafaye. Paris 1965.
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Namensregister Achilles Tatius 210 Adonis 114 Aedon 79 Aigeus 33 „Antigone“ 27 Albrecht von Halberstadt 2, 6, 39, 57, 141-187, 211f., 218, 237, 241 „Alexanderroman“ 141 Apollonius 100, 132f. Arachne 40-42, 68, 72 Archibald, Elisabeth 231 Ariadne 28, 230 Aristoteles 61, 211 Assmann, Aleida und Jan 16-24, 26f., 254, 257f. Athene 72 Atropos 98, 132 Aubailly, Jean-Claude 51 Augustinus 226 Azzam, Wagih 95 Bacchus 174 Ballestra-Puech, Sylvie 2, 43, 76, 78f., 81, 87 Bartel, Heike 19, 34f., 38 Barthes, Roland 19, 32, 37, 39, 45 Bartsch, Karl 144f., 147 Beaujour, Michel 192 Baumgartner, Emmanuèle 11, 78, 89f., 92-94, 96, 98, 100f., 104, 107f., 122, 127, 131f., 134, 206, 214f., 225, 232, 234, 236, 246 Baudelaire, Charles 33f.
Benkov, Edith Joyce 95 Benoît de Sainte-Maure 47 Béroul 49 Berthelot, Anne 91, 93, 96-99, 105f., 108 Benthien, Claudia 217-219, 256 Bischoff, Doerte 211, 221 „Bisclavret“ 46 Blanchard, J.M. 192 Blumenberg, Hans 7, 12, 17, 19, 21f., 33 Blumenfeld Kosinski, Renate 6, 8, 9, 10, 90, 113, 114 Böhm, Gottfried 192 Bolte, Johannes 143, 145, 177, 181 Boreas 72, 179 Boutet, Dominique 7 Bräuer, Rolf 147 Brandt, Rüdiger 254f. Brangäne 63 Brightenback, Kristine 50, 52, 64, 66, 70 Brisson, Luc 16 Brunel, Pierre 2, 23, 29, 32-34, 36, 38 „Buccolica“ 80, 141 Bürkle, Susanne 16, 28, 29 Burkert, Walter 15f. Burnes, E. Jane 215 Butler, Judith 221 Byblis 114, 261 Calame, Claude 15, 18, 67, 69 Cargo, Robert T. 57, 61-63 Carruthers, Mary 197
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Namensregister
Cato 99, 132, 134 „Carmen“ 23 „Chanson de Roland“ 134 „Chartreuse de Parme“ 33 Chelidona 79 Chevalier, Jean-Frédéric 25 „Chievrefoil“ 50, 62, 64 Chrétien de Troyes 6, 8, 57, 62, 78, 89-115, 118, 120-123, 127f., 131-134, 190, 196-202, 204, 207, 211-214, 216, 217, 219, 226, 232-237, 241f., 245250, 252f., 257, 260, 262 Circé 33f. Cicero 211 „Cligès“ 92, 96 Clemente, Linda M. 197, 203 Colard Mansion 116, 126, 135f., 139f. Cormier, Raymond J. 94 Cutter, Martha 3 „Dans le labyrinth“ 28 de Boer, Cornelis 91f., 108, 116f., 119, 123 de Rougemont, Denis 29 „Deus amanz“ 50, 64 Dillon, James 3 „Don Juan“ 23f., 26f., Dubel, Sandrine 25, 79 DuBois, Page 203 Dufournet, Jean 100 Durkheim, Emile 238 Durand, Gilbert 29-31, 33, 262 „Elektra“ 27 Eliade, Mircea 20, 39 „Eliduc“ 48 „Eneid“ 47, 141, 147 Engels, Joseph 91 „L’espurgatoire seint Patrice“ 48 Ette, Ottmar 37 „Fables“ 48 Fasciano, Domenica 64
„Faust“ 21, 23, 27 Ferguson, Mary H. 51 Finley Moses, I. 16 Flügel, John Carl 218 Frappier, Jean 62 Freeman, Michelle A. 50, 5254, 61, 63-65, 195, 200 Freud, Sigmund 238 Frick, Werner 22-24 Friedrich, Udo 7, 16, 262 Frontisi-Ducroux, Françoise 1 Fuhrmann, Manfred 8, 19 Gély, Véronique 2, 3, 43, 76, 78f., 81, 87 Genette, Gérard 11, 45 Georg Wickram 2, 6, 39, 84, 141-187, 189, 202, 211, 214, 218f., 236f., 241, 248, 250, 252, 260, 262 „Georgica“ 80 Gérard-Zai, Marie Claire 91 Gerhard Lorichius 2, 141, 143, 145, 147, 160, 169f., 177-187, 222-225, 237, 252f., 260 Geyer-Ryan, Helga 219 Gide, André 30 Giraudoux, Jean 23 „Vom Gottesstaat“ 226 Gottfried von Straßburg 256 Graf, Fritz 191 Greber, Erika 36, 206f. Greenaway, Peter 3 „Gregorius“ 232 Greimas, Algirdas Julien 59, 246, 250 Grimm, Jacob 145 „Guigemar“ 49 Habermas. Jürgen 254 Haferland, Harald 192, 203 Hansen, J. 226 Haquette, Jean-Louis 2, 3, 79
Namensregister
Harf-Lancner, Laurence 7, 89, 226 Harlekin 100, 133 Hartmann von Aue 14, 232 Hartmann, Geoffrey 3, 188 Haupt, M. 143, 145 Heffernan, James 7, 188, 191, 194, 197, 198, 208, 209 Heinrich von Veldeke 147 Heinzmann, Günther 141, 142, 143, 145, 149, 161, 170, 186 Hélène 67 Hephaistos 209 Herbort von Fritzlar 147 Héracles 67 Héritier, Fançoise 230 Hermes 31 Hoepffner, Ernest 50 Homer 1, 33, 34, 40, 41, 79, 99, 132, 134 Hubrath, Margarete 244 Huggan, Graham 3, 4, 190 Hugo von Sitten 141 Hymen 98, 132 Irigaray, Luce 221 Iser, Wolfgang 193, 195 Isidor von Sevilla 183, 225 Isolde 62, 64, 256 Ivo Schöffer 143 Jamme, Christoph 16 Jauß, Hans-Robert 8, 12, 262 Josse Bade 135 Joyes, James 28 Jung, C. G. 29 Jung, Marc-René 89, 109, 140 Juno 79 Jupiter 75, 79 Jung, Marc-René 6, 116, 138, 139 Kafka, Franz 194 Klindienst Joplin, Patricia 3, 188, 194, 208, 225, 240-242
281
„Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“ 3 Koeppen, Wolfgang 34 Krieger, Murray 202 Kristeva, Julia 45, 221 Lachmann, Renate 45 Laertes 40 Langlois, Ernest 138 „Lanval“ 46, 50 „Laüstic” 5f., 8, 13, 39, 46-70, 195f., 262 Lavinia 203, 210 Leach, Edmund 238f. „Le Fresne“ 52 Létoublon, Françoise 2, 24 „Die letzte Welt“ 3, 28 „Leukippe und Kleitophon“ 210 Leverkus, W. 142, 144 Levine, Robert 110 Lévi-Strauss, Claude 11f., 14f., 20, 26, 29, 67, 238-240, 260, 261 Lexer, Matthias 144 Linklater, Beth 3f. Lommatzsch, Erhard 59 „The love of the nightingale“ 3 Lübben, A. 142, 144 Lugowski, Clemens 98 luscinia 57 Mann, Thomas 34 Marcus, Jane 3f. Marie de France 5f., 8, 39, 4670, 195f., 211, 262 Marcianus Capella 141 Marder, Elissa 3f. Markward, Christiane 3 Mars 51, 66 Martial 80f. Matuschek, Stefan 22 Mauss, Marcel 238 Mecklenburg, Michael 192, 203
282
Namensregister
„Medea“ 2, 21, 28 Menard, Philippe 100 „Metamorphosen“ 1, 3, 9f., 24, 26, 39, 51f., 57, 64, 66, 69-88, 90, 96, 107, 116-118, 126, 136, 139, 141-143, 146, 153, 156, 160, 186, 189, 196, 207, 210, 226, 262 Metzger, Ambrosius 147 Mezzadri, Bernard 14 Mickel, Emanuel J. 51 Miller, Nancy K. 3, 188 „Milon“ 48 Minerva 41f. Minos 120 Minotaurus 24, 28 Mohn, Jürgen 16 Monneyron, Frédéric 20f., 29-31 Müller, Jan-Dirk 237 Myrrha 114 Narziss 2, 87, 90, 107 Neptun 33 Nestle, Wilhelm 17 „Nibelungenlied“ 255 Nietzsche, Friedrich 19 Neumann, Friedrich 145, 149, 153, 158f., 170 Notker von St. Gallen 141 „Odyssee“ 1, 27, 33f., 41, 79 „Oedipus“ 2, 21, 67 Odysseus 1, 34, 40f. Oreithyia 72, 179 Ovid 1f., 8-11, 24, 26, 39, 43, 49, 51f., 56-61, 63-65, 69-88, 97, 100-102, 107, 115-123, 126, 129, 130, 139, 140-190, 193, 196-198, 202, 204, 210-214, 216-218, 220, 222f., 226, 228, 231, 233-235, 240, 244f., 247, 252-254, 257, 259, 262 „Ovide moralisé“ 8-10, 39, 62, 89-115, 117f., 120, 122f., 125f.,
128f., 132, 135f., 138f., 189, 222, 241, 254, 261 „Ovide moralisé en prose“ 116140, 222, 234, 245f., 247, 249f., 252-254, 260, 262 „Ovidius moralizatus“ 117, 135f. Papadopoulou Belmedi, Ioanna 40 Paris, Gaston 75, 89, 109, 135f. „Parzival“ 23, 194 Pasiphae 119 Pelops 72, 126 Penelope 1, 40-42, 68 Perutelli, Alessandro 203 „Phèdre“ 27 Pfeffer, Wendy 2, 6, 53, 253 Pfister, Manfred 1 Phaedra 230 Picasso, Pablo 3 Pierre Bersuire 117, 135f., 138f. Platon 99, 132 Pluto 102f., 111, 134 „Poetik“ 61, 211 Poirion, Daniel 93 Possamaï-Pérez, Marylène 90, 95, 112, 114 Priscien 49, 69f. „Prometheus“ 23, 30 „Prosa-Lancelot“ 205 Pyramus und Thisbe 51, 60, 64, 66, 90, 107 Quast, Bruno 7, 16, 262 Quintilian 211 Rabanus Maurus 7, 8 Ransmayr, Christoph 3, 28, 191 „The rape of Lucrece“ 208 Ratkowitsch, Christine 197 „Reductorium morale“ 135 René d’Anjou 116, 118 Ribard, Jaques 50 Rieger, Dietmar 46, 61
Namensregister
Robbe-Grillet, Alain 28 Röcke, Werner 14 „Robinson“ 23 Roloff, Hans-Gert 141, 177 „Roman de Brut“ 48f. „Roman d’Eneas“ 47f. „Roman de Thèbes“ 47 „Roman de Troie“ 47 Rücker, Brigitte 141, 147-149, 152, 160f., 166, 177, 187 Rychner, Jean 47f., 61f. Sachs, Hans 147 Saint Augustin 107 Salomo 134 Scheid, John 44f., 67, 208 Schmitz-Emans, Monika 38 Segre, Cesare 64 Seidensticker, Bernd 1 Sellier, Philippe 24-28, 36, 38 Shakespeare 197, 203, 208 Siganos, André 24 Simonides von Keos 201 Simonis, Yvan 239 „Sisyphus“ 27 Smith, Pierre 17 Sophokles 61, 79, 188, 211 Spitzer, Leo 62, 64 Spreng, Johannes 143 Stackmann, Karl 10, 145f., 149, 177, 179, 181, 184, 186f. Statius 47 Stephan, Inge 16, 262 Storms, Colette 94 Strubel, Armand 90, 109 Svenbro, Jesper 44f., 67, 208 Tantalus 72, 126 Tilliette, Jean-Yves 89 Telemachos 40, 42 Tepe, Peter 21 „Tereus“ 61, 79, 188 Tervagan 132, 134 „Thebais“ 47
283
Theseus 28, 33 Thomas 49 Thomas, Joël 20f., 29-31 Thomas Waleys 135f. Thomasin von Zirclaria 257 Tisiphone 98, 132 „Titus Andronicus“ 203, 210 Tobler, Adolf 59 Tomiche, Anne 2-4, 79 Tristan 62, 100, 132f., 256 „Tristan“ 34, 63 „Trojaroman“ 141, 147 Tronchet, Gilles 71 Trousson, Ramond 20, 37 „Ulysses“ 28 Venus 51 Vergil 80, 141 Vöhler, Martin 1 „Voyage“ 33 Vulcanus 51 Wathelet-Willem, Jeanne 64 Wace 48 Wåghäll, Elisabeth 144 „Wälsche Gast“ 257 Walter, Philippe 46, 49, 51, 54, 242f. Walther, Ludwig 71 Wandhoff, Haiko 191-193, 196f., 203, 205 Weiher, Anton 79 Wenzel, Horst 196, 206, 254257 Wertenbaker, Timberlake 3, 191 „Werther“ 23 William Caxton 117 Wolf, Christa 28 Wolfram von Eschenbach 194 Wunenburger, Jean-Jaques 17 „Yonec“ 50 Zeus 44