Perspektiven des Europäischen Schuldvertragsrechts 9783110966275, 9783899495249

The European law applicable to contractual obligations was first detected as an independent legal subject matter at the

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German Pages 195 [202] Year 2008

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Table of contents :
Inhaltsübersicht
Autorenverzeichnis
Contract Governance – Skizze einer Forschungsperspektive –
Private Ordering: Harmonisierung des Unternehmensvertragsrechts ohne Europäischen Regelgeber? – Eine Analyse am Beispiel von Joint Venture-Verträgen –
Veränderte Aufklärungs- und Interessenwahrungspflichten im Bankvertragsrecht nach MiFID und der neuen Verbraucherkredit-Richtlinie
Die Zahlungsdiensterichtlinie: Der Europäische „Uniform New Payments Code“
Beweis- und Haftungserleichterungen in der kapitalmarktrechtlichen Prospekthaftung?
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Perspektiven des Europäischen Schuldvertragsrechts
 9783110966275, 9783899495249

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I Karl Riesenhuber (Hrsg.)

Perspektiven des Europäischen Schuldvertragsrechts

II

Praxishefte zum Europäischen Privatrecht Heft 4

De Gruyter Recht · Berlin

III

Perspektiven des Europäischen Schuldvertragsrechts

Karl Riesenhuber (Hrsg.)

De Gruyter Recht · Berlin

IV

∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 978-3-89949-524-9

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Copyright 2008 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: DTP Johanna Boy, Brennberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Bercker, Kevelaer

V

Inhaltsübersicht Contract Governance – Skizze einer Forschungsperspektive Karl Riesenhuber und Florian Möslein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1 Private Ordering: Harmonisierung des Unternehmensvertragsrechts ohne Europäischen Regelgeber? – Eine Analyse am Beispiel von Joint Venture-Verträgen Nina Winkler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .43 Veränderte Aufklärungs- und Interessenwahrungspflichten im Bankvertragsrecht nach MiFID und der neuen Verbraucherkredit-Richtlinie Christian Hofmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .71 Die Zahlungsdiensterichtlinie: Der Europäische „Uniform New Payments Code“ Jens-Uwe Franck und Philipp Massari . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .113 Beweis- und Haftungserleichterungen in der kapitalmarktrechtlichen Prospekthaftung? Stephan Heinze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .161

VI

Autorenverzeichnis Jens-Uwe Franck

Dr. iur., LL.M. oec., LL.M. candidate, Yale Law School, New Haven/Connecticut

Stephan Heinze

Dr. iur., LL.M. oec., Rechtsanwalt in Magdeburg

Christian Hofmann

Dr. iur., LL.M. oec. int., wissenschaftlicher Assistent an der Humboldt-Universität zu Berlin, z.Z. Visiting Scholar an der University of California at Berkeley und Stipendiat der Alexander v. Humboldt-Stiftung

Philipp Massari

Dr. iur., LL.M. (Tulane, New Orleans), Rechtsanwalt in Nürnberg

Florian Möslein

Dr. iur., LL.M., Dipl.-Kfm., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin, z.Z. Jean-Monnet-Fellow am Robert Schuman Centre for Advanced Studies, Europäisches Hochschulinstitut, Florenz

Karl Riesenhuber

Dr. iur., M.C.J. (Austin, Texas), Professor an der Ruhr-Universität Bochum

Nina Winkler

Dr. iur., LL.M. candidate, Cornell Law School, Ithaca/New York

1

Contract Governance – Skizze einer Forschungsperspektive – Karl Riesenhuber und Florian Möslein* Übersicht I.

a)

II.

Why Governance? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Beispiel der Corporate Governance . . . . . . . . . . . . . . . Marktoffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Formen und Instrumente der Regelsetzung . . . . . . . . . c) Internationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Interdisziplinarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Analyse und Transfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) (Corporate) Governance und Regelungsstrategie . . . . . . b) Wesensunterschiede und gemeinsame Ansatzpunkte . . . Themen der Contract Governance. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Governance des Vertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bestandteile des Ordnungsrahmens . . . . . . . . . . . . . . . . c) Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Untersuchungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Governance des Vertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bestandteile des Ordnungsrahmens . . . . . . . . . . . . . . . . c) Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Untersuchungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Governance mit Mitteln des Vertragsrechts . . . . . . . . . . . . a) Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verortung im Ordnungsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Contract Governance (auch) als Liberalisierungsinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Untersuchungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zum Beispiel: Die Regulierung der Verwertungsgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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* Die Verfasser danken den Mitarbeitern des Bochumer Lehrstuhls von Karl Riesenhuber sowie dem Robert Schuman Centre for Advanced Studies am Europäischen Hochschulinstut in Florenz.

2 4. Governance durch Vertrag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Privatautonome Ergänzung des Ordnungsrahmens . . . . c) Gestaltungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Methoden der Strukturierung und Untersuchung . . . . . III. Zum Potential der Contract Governance: Ein Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 35 35 37 38 40

3 Governance-Forschung ist ein ursprünglich sozial-, politik- und wirtschaftswissenschaftliches Untersuchungsfeld, das sich mit Regelungs- bzw. Steuerungsmechanismen und deren institutionellem Ordnungsrahmen beschäftigt. Es geht um Entstehung und Wirkung der verschiedensten, nicht notwendig hierarchischen Formen der Handlungs- und Verhaltenskoordination.1 In der Rechtswissenschaft hat die Governance-Forschung zunächst im Staats- und Verwaltungsrecht Fuß gefasst und sich zu einem eigenen Forschungsfeld entwickelt.2 Im Privatrecht hat sie bisher vor allem im Rahmen des Unternehmensrechts Anwendung gefunden, nämlich als sogenannte Corporate Governance. Im Vertragsrecht hingegen ist von Governance bisher nur vereinzelt die Rede.3 Dieser Befund erstaunt, wenn man bedenkt, dass Contract Governance recht eigentlich sogar den gedanklichen Ausgangspunkt der Corporate Governance bildet.4 Mit dem vorliegenden Beitrag suchen wir nach Perspektiven, die sich aus einem Governance-Ansatz für das Vertragsrecht ergeben können. Dazu muss man sich zunächst fragen, was Eigenheit und Erfolg der GovernanceForschung ausmacht (unter I.), um anschließend ausloten zu können, welche Bedeutungen der Begriff der Governance im Vertragsrecht haben kann (unter II.). Auf dieser Basis lässt sich – zunächst überschlagsweise –

1

Überblicksweise zum Begriff etwa Burris/Kempa/Shearing, Changes in Governance: A Cross-Disciplinary Review of Current Scholarship, Akron.L.Rev. 41 (2008), 1, 7 ff.; Kjaer, Governance (2004), S. 3-7, m.w.H.; Pierre, Understanding Governance, in: ders. (Hrsg.); Debating Governance (2002), S. 1, 3 f.; Williamson, The Economics of Governance, American Economic Review 95/2 (2005), 1. 2 Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung – Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien (2. Aufl. 2006). 3 Exemplarisch (und ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, J.L. & Econ. 22 (1979), 233 ff.; Vincent-Jones, Contractual Governance: Institutional and Organizational Analysis, OJLS 20 (2000), 317 ff.; Zumbansen, The Law of Society: Governance through Contract, CLPE Research Paper 2/2007, abrufbar unter www.ssrn.com (abstract-id 988610) (abgerufen am 8.5.2008); auch Collins, Regulating Contract (1999), S. 225 ff.; im deutschen Schrifttum eher beiläufig: Eidenmüller, Forschungsperspektiven im Unternehmensrecht, JZ 2007, 487, 493; Windbichler, Cheers and Boos for Employee Involvement: Co-Determination as Corporate Governance Conundrum, EBOR 6 (2005), 507, 529 und 533 f. 4 Williamson, J.L. & Econ. 22 (1979), 233 ff. In diese Richtung auch Behrens, „Corporate Governance“, in: Festschrift für Drobnig (1998), S. 491, 491-494; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht (2004), Rn. 439 („Hauptproblem von Langzeitverträgen“).

4 abschätzen, ob die Instrumente der Governance-Forschung auf diesen Feldern neue Einsichten versprechen (unter III.).

I. Why Governance? „Why Governance?“ – was macht die Governance-Forschung aus und welche Perspektiven ergeben sich daraus für das Vertragsrecht? Um diese Frage zu beantworten, muss man zunächst den Bedeutungsgehalt des Governance-Begriffs umreißen (unter 1.). Welche Perspektiven die Governance-Forschung für das Vertragsrecht eröffnet, lässt sich anschließend in einem ersten, exemplarischen Zugriff aus einem vergleichenden Blick auf die Corporate Governance-Diskussion erahnen, die der Contract Governance in ihrem privatrechtlichen Charakter besonders nahe steht (unter 2.) und deshalb möglicherweise zum Ausgangspunkt eines Transfers werden kann (unter 3.).

1. Bedeutung Eine allgemein anerkannte Definition von Governance gibt es nicht. Der Begriff ist nicht fest umrissen und stellt sich eher als ein Typus-Begriff dar. Immerhin lassen sich einige Merkmale benennen, die die GovernanceForschung auszeichnen und auch von verwandten Forschungsbereichen abheben. In einer sehr allgemeinen Weise bezeichnet man Governance als die Gesamtheit der kollektiven Einflüsse auf ein soziales System.5 Ungeachtet der sprachlichen Verwandtschaft mit dem Begriff des Government bedeutet Governance daher nicht Regierung oder staatliche Steuerung, sondern erweitert den Blickwinkel von staatlichen Einflüssen auf andere soziale Wirkmechanismen. Es geht dabei durchaus auch um die Steuerung von Verhalten, doch liegt das Augenmerk nicht allein auf der zielgerichteten Lenkung, sondern auf der Strukturierung von Institutionen, die ihrerseits durch Anreizstrukturen Lenkungswirkung haben.6 Neben 5 Köndgen, Privatisierung des Rechts, AcP 206 (2006), 477, 514, im Anschluss an Hill/Hupe, Implementing Public Policy – Governance in Theory and in Practice (2002), S. 13 f. 6 Mayntz, Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie?, in: Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung: Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien (2. Aufl. 2006), S. 11-20; Schuppert, Governance im Spiegel der Wissenschaftsdisziplinen, ebd., S. 378-382.

5 der heteronomen Lenkung zählen auch die autonome Interaktion und Organisation zu den Elementen der Governance. Governance-Forschung geht insofern weit über den Bereich der klassischen Rechtswissenschaft hinaus und zeichnet sich durch ihre Interdisziplinarität und den Austausch unter allen Wirtschafts-, Staatsund Sozialwissenschaften aus. Der Rechtswissenschaft kommt dabei aber durchaus eine zentrale Rolle zu, da wesentliche Institutionen rechtlich ausgestaltet sind. Governance-Forschung ist daher besonders für die Rechtsetzung – die Ausgestaltung rechtlicher Institutionen – von Bedeutung, nicht minder aber auch für die Rechtsunterworfenen. All dies zeigt sich am Beispiel der Corporate Governance.

2. Das Beispiel der Corporate Governance Corporate Governance ist seit etwa zwei Jahrzehnten auf einem Siegeszug, der seinen Ausgangspunkt in den USA hatte, inzwischen aber längst zum weltweiten Phänomen geworden ist.7 Er spiegelt sich in einem sprunghaften Anstieg praxisrelevanter Corporate Governance-Regelungen ebenso wider wie in zahlreichen wirtschafts- und rechtswissenschaftlichen Forschungsprojekten und Fachpublikationen. Der Begriff der Corporate Governance findet sich im deutschen Gesetzesrecht gleichwohl bislang nur ansatzweise, nämlich in der 2002 durch das TransPubG eingeführten Vorschrift von § 161 AktG.8 Teils versucht man, Corporate Governance mit dem traditionellen Begriff der Unternehmensverfassung gleichzusetzen.9 In der Tat betrifft Corporate Governance Fragen der Leitung und Kontrolle unternehmerischer Tätigkeit, untersucht diese Fragen jedoch mit einer

7

Vgl. nur Hopt, Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Corporate Governance, in: Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance (2003), S. 29, 31, und ausführlich ders., Corporate Governance: Aufsichtsrat oder Markt? – Überlegungen zu einem internationalen und interdisziplinären Thema, in: Hommelhoff/Rowedder/Ulmer (Hrsg.), Max Hachenburg, Dritte Gedächtnisvorlesung 1998 (2000), S. 9, 10 f. und 14-24. 8 Vgl. sogleich im Text I.2.b) mit Fn. 18 (S. 7). 9 In diese Richtung: Kübler, Aktienrechtsreform und Unternehmensverfassung, in: Gebauer/Rudolph (Hrsg.), Aktienmärkte im Finanzsystem (1994), S. 113, 115; Münchener Kommentar-Semler, AktG (2. Aufl. 2003), § 161 AktG Rn. 2; Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder-v. Werder, Kommentar zum Deutschen Corporate Governance Kodex (3. Aufl. 2008), Vorbemerkung Rn. 1.

6 Reihe teils neuer, jedenfalls aber viel breiterer Betrachtungsperspektiven.10 Den beeindruckenden – auch wissenschaftlichen – Siegeszug der Corporate Governance erklärt erst dieser breitere Blickwinkel. Er lässt sich in vier Richtungen entfalten. a) Marktoffenheit Erstens beschränkt sich Corporate Governance nicht auf die innere Unternehmensverfassung, sondern nimmt die Marktoffenheit des Unternehmens mit in den Blick.11 Man spricht von interner und externer Corporate Governance.12 Dieses doppelte Augenmerk erklärt sich mit einer Erkenntnis bereits aus den 1970er Jahren: Aktionäre in börsennotierten Gesellschaften können nicht nur innerhalb der Unternehmensverfassung, also durch Ausübung ihres Stimmrechts (voice) Einfluss ausüben, sondern auch außerhalb, nämlich durch Verkauf ihrer Anteile (exit).13 Diese Überlegung, die letztlich eine immer stärkere Verknüpfung von Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht zur Folge hat,14 wird umso wichtiger, je mehr die Finanzierung auf Kapitalmärkten an Bedeutung gewinnt. 10

Ähnlich etwa: Grundmann/Mülbert, Corporate Governance – Europäische Perspektiven, ZGR 2001, 215, 217; Hopt (Fn. 7), 29, 31 f.; Lutter, Vergleichende Corporate Governance – Die deutsche Sicht, ZGR 2001, 224, 225 („Rang einer wissenschaftlichen Teildisziplin“). 11 Näher: Möslein, Grenzen unternehmerischer Leitungsmacht im marktoffenen Verband (2007), bes. S. 2. 12 Etwa Grundmann (Fn. 4), § 14; Hopt, Gemeinsame Grundsätze der Corporate Governance in Europa?, ZGR 2000, 779, 782; ders. (Fn. 7), S. 34-36; Teichmann, Corporate Governance in Europa, ZGR 2001, 645, 646 f. 13 Hirschman, Abwanderung und Widerspruch – Reaktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten (1974) (englisch: Exit, Voice and Loyalty [1970]); ganz ähnlich: Lutter, Der Aktionär in der Marktwirtschaft (1974), S. 18-22 (Aktienkauf und -verkauf, Aufsichtsratswahl und Entlastung als Möglichkeiten mittelbarer Einflussnahme durch Aktionäre). 14 Allgemein zu diesen Interdepenzen: Großkommentar-Assmann, AktG (4. Aufl. 2004), Einl. Rn. 352-399; Garrido García, Company Law and Capital Markets Law, RabelsZ 69 (2005), 761 ff.; Hopt, ZGR 2000, 779, 783 ff.; Merkt, Zum Verhältnis von Kapitalmarktrecht und Gesellschaftsrecht in der Diskussion um die Corporate Governance, AG 2003, 126, bes. 130 ff.; Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt (2. Aufl. 1996), S. 68-94; auf Gesellschafterebene: Hofmann/Krolop, Rückverschmelzung nach Börsengang – Der Fall T-Online, AG 2005, 866, 874 f.; für das europäische Gesellschaftsrecht: Grundmann, Die Struktur des europäischen Gesellschaftsrechts – Von der Krise zum Boom, ZIP 2004, 2401, 2408 ff.

7 Kapitalmarktfinanzierung spielt in Deutschland seit Anfang der 1990er Jahre in der Tat eine immer bedeutendere Rolle, also etwa seit der Zeit, in der die Corporate Governance-Bewegung hierzulande aus der Taufe gehoben wurde.15 b) Formen und Instrumente der Regelsetzung Zweitens veränderte die Corporate Governance-Diskussion die Art und Weise der Regelsetzung. Ein eindrucksvoller Bestand an verschiedenen Codes, Guidelines, Principles und Reports zur Corporate Governance rechtfertigt es, von einer internationalen Kodex-Bewegung zu sprechen.16 Die Besonderheit liegt einerseits darin, dass Verhaltensstandards nicht mehr nur vom Gesetzgeber, sondern von einer Reihe verschiedener Einrichtungen erlassen werden, von supranationalen Organisationen über betroffene Interessengruppen bis hin zu Expertengremien. Das schließt gesetzliche Anerkennung nicht aus. Man begreift viele Regelungen jedoch nicht mehr als rigides Pflichtenprogramm, sondern als „soft law“,17 das Abweichungen zulässt, wenn sie nur ausreichend begründet werden (comply or explain). Im Aktiengesetz kommt dieser Gedanke in § 161 zum Ausdruck.18 Ge15 Die Rede ist zu Recht von einer veritablen „Zeitenwende“, vgl. Hopt (Fn. 7), S. 29, 36; zu einem zentralen Faktor: Engert, Hedgefonds als aktivistische Aktionäre, ZIP 2006, 2105 ff. 16 So etwa v. Werder (Fn. 9), Rn. 3-5; für einen Überblick über die wichtigsten Regelwerke vgl. Grundmann (Fn. 4), Rn. 441 ff.; Möslein (Fn. 11), S. 414 f. und ausführlich: Weil/Gotshal/Manges, Comparative Study of Corporate Governance Codes Relevant to the European Union and Its Member States – Final Report (2002), abrufbar unter www.ec.europa.eu/internal_market/company/otherdocs/ index_de.htm (abgerufen am 8.5.2008). Diese regelungstechnische Vielfalt gilt zunehmend als prägend für das Europäische Gesellschaftsrecht insgesamt. Zumbansen, ‚New Governance‘ in European Corporate Law Regulatio as Transnational Legal Pluralism, CLPE Research Paper 15/2008, abrufbar unter www.ssrn.com (abstract-id 1128145) (abgerufen am 8.5.2008). 17 Vgl. etwa: Hopt, Corporate Governance in Europa: Neue Regelungsaufgaben und soft law, GesRZ 2002 Sonderheft, S. 4 ff.; Lutter, ZGR 2001, 224, 225, Vetter, Der Deutsche Corporate Governance Kodex – nur ein zahnloser Tiger?, NZG 2008, 121, 128 (selbst relativierend); Zumbansen (Fn. 16), S. 12-21, 47 f.; zu Begriff und Konzept: Ehricke, „Soft Law“ – Aspekte einer neuen Rechtsquelle, NJW 1989, 1906 ff.; Mörth (Hrsg.), Soft Law in Governance and Regulation (2004). 18 Zu Konzeption und Funktionsweise der Vorschrift (auch Haftungsfragen) vgl. nur: Hopt, Unternehmensführung, Unternehmenskontrolle, Modernisierung des Aktienrechts – Zum Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, in: Hommelhoff/Lutter/Schmidt/Schön/Ulmer (Hrsg.), Corporate Governance –

8 fordert ist demnach keine strikte Regelbefolgung, aber Transparenz und Publizität. Ausgangspunkt ist wiederum eine marktorientierte Überlegung, dass nämlich der Kapitalmarkt Unternehmen „bestrafen“ wird, die ohne gute Begründung vom Standard abweichen.19 Solche Unternehmen sind für Investoren schlicht weniger attraktiv. c) Internationalisierung Drittens hängen Corporate Governance und Internationalisierung eng zusammen. Einerseits fußt die Corporate Governance-Bewegung ganz wesentlich auf der Internationalisierung der Finanz- und Kapitalmärkte.20 Grenzüberschreitende Investitionen setzen Vertrauen in Entscheidungsund Kontrollstrukturen ausländischer Unternehmen voraus. Investoren müssen wissen können, auf was sie sich einlassen. Das erfordert nicht unbedingt eine Angleichung des Rechtsrahmens,21 sondern wiederum vor allem Transparenz, hier nun der Regeln zur Unternehmensverfassung und der Standards guter Unternehmensführung. Dies liefert zugleich das wichtigste Argument für die Kodexbewegung: Corporate Governance-Kodices Gemeinschaftssymposium (2002), S. 27-67; Lutter, Die Erklärung zum Corporate Governance Kodex gemäß § 161 AktG, ZHR 166 (2002), 523 ff.; Seibt, Deutscher Corporate-Governance-Kodex und Entsprechens-Erklärung (§ 161 AktG), AG 2002, 249 ff.; Ulmer, Der Deutsche Corporate Governance-Kodex – Ein neues Regulierungsinstrument für börsennotierte Aktiengesellschaften, ZHR 166 (2002), 150 ff. 19 So vor allem Baums, Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, Rn. 4 („Druck des Kapitalmarkts [institutionelle Investoren, Analysten, Kapitalmarktpresse, listing rules der Börsen], der […] die Beachtung bestimmter Corporate Governance Principles einfordert“); in diesem Sinne auch die Erläuterung des Gesetzgebers: BT-Drs. 14/8769, S. 21. Vgl. außerdem etwa: Lutter, ZHR 166 (2002), 523, 535; Ulmer, ZHR 166 (2002), 150, 168; Schüppen, To comply or not to comply – that’s the question!, ZIP 2002, 1269, 1273; mangels empirischer Nachweisbarkeit skeptisch: Nowak/Rott/Mahr, Wer den Kodex nicht einhält, den bestraft der Kapitalmarkt?, ZGR 2005, 252 ff. 20 Grundmann/Mülbert, ZGR 2001, 215, 217 f. 21 Zur Diskussion um eine Angleichung der Unternehmensverfassungen in Europa etwa Deckert, Zu Harmonisierungsbedarf und Harmonisierungsgrenzen im Europäischen Gesellschaftsrecht, RabelsZ 64 (2000), 478 ff.; Grundmann, ZIP 2004, 2401, 2408 f.; Grundmann/Möslein, Europäisierung, in: Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel, Band 2 (2007), S. 31, bes. S. 62-64; Hopt, Europäisches Gesellschaftsrecht – Krise und neue Anläufe, ZIP 1998, 96, 101; Möslein (Fn. 11), S. 201-203; monographisch: Pannier, Harmonisierung der Aktionärsrechte in Europa – insbesondere der Verwaltungsrechte (2003).

9 sind grenzüberschreitend leichter verfügbar als nationale Rechtsakte und Gerichtsentscheidungen, nicht zuletzt deshalb, weil die Unternehmen selbst Interesse an internationaler Verbreitung haben. Folge dieser Dynamik ist andererseits eine Internationalisierung auch der wissenschaftlichen Diskussion über Corporate Governance.22 Corporate Governance scheint eine gemeinsame Sprache zu liefern, die internationale Vergleiche von Regeln und Rechtstatsachen erheblich erleichtert: Corporate Governance fördert den funktionalen Vergleich zwischen verschiedenen (Unternehmens-) Rechtsordnungen.23 Nicht zuletzt deshalb ist „Comparative Corporate Governance“ heute ein ausgesprochen reichhaltiges und fruchtbares Forschungsfeld.24 d) Interdisziplinarität Viertens beflügelt Corporate Governance Interdisziplinarität. Dieser Effekt hat institutionelle, aber auch inhaltliche Gründe. Standardsetzer und Forschungsinstitute sind fast schon selbstverständlich aus Ökonomen und Juristen zusammengesetzt, die Mitglieder kommen außerdem aus Wissenschaft, Politik und Praxis. Das erfordert (und fördert zugleich) eine inhaltliche Diskussion zwischen verschiedenen Sparten und zwischen verschiedenen Wissenschaftszweigen.25 Umgekehrt ist die sparten- und disziplinübergreifende Diskussion inhaltlich begründet: Corporate Governance betrifft Fragen aus all diesen Bereichen, insbesondere der Unternehmensfinanzierung, der Unternehmensführung und des Unternehmensrechts.26 Diese Fragen lassen sich nur bei funktionaler Betrachtung übergreifend diskutieren. Auch insoweit zeigt sich, dass Corporate Governance offenbar

22

Näher: Grundmann/Mülbert, ZGR 2001, 215, 217. Stilbildend für das funktional vergleichende Gesellschaftsrecht: Kraakman/ Davies/Hansmann/Hertig/Hopt/Kanda/Rock (Hrsg.); The Anatomy of Corporate Law: A Comparative and Functional Approach (2004). 24 Vgl. vor allem: Hopt/Kanda/Roe/Wymeersch/Prigge (Hrsg.), Comparative Corporate Governance – the State of the Art and Emerging Research (1998); Hopt/ Wymeersch (Hrsg.), Comparative Corporate Governance – Essays and Materials (1997). 25 Grundmann/Mülbert, ZGR 2001, 215, 217. 26 In diesem Sinne: Lutter, ZGR 2001, 224, 225 f.; Rudolph, Unternehmensfinanzierung und Corporate-Governance-Entwicklungen und weiterer Anpassungsbedarf, BB 2003, 2053 ff.; Vetter, Deutscher Corporate Governance Kodex, DNotZ 2003, 748, 749 f.; vgl. auch: Rudolf, in: Habersack/Mülbert/ Schlitt (Hrsg.), Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt (2. Aufl. 2008), § 1 Rn. 13 ff. 23

10 eine gemeinsame Sprache liefert, die nicht zuletzt auch gemeinsamen Publikationen von Juristen, Ökonomen und Sozialwissenschaftlern in bisher nicht gekanntem Umfang den Weg geebnet hat.27

3. Analyse und Transfer a) (Corporate) Governance und Regelungsstrategie Governance-Forschung bedeutet demnach für das Unternehmensrecht kein neues, sachlich abgegrenztes Forschungsfeld, sondern eine veränderte Forschungsperspektive. Der Blick richtet sich auf den gesamten Problemkreis der Unternehmensverfassung, der seit jeher ein zentrales Kerngebiet des Unternehmensrechts ausmacht. Neu ist jedoch der Blickwinkel auf dieses Untersuchungsfeld. Äußeres Kennzeichen der Governance-Perspektive ist ein methodischer Forschungsansatz, der stärker interdisziplinär und international ausgerichtet ist, weil er andere Wissenschaften und Rechtsordnungen nicht nur als Hilfsmittel und Vergleichsmaßstab heranzieht, sondern als gleichwertige Partner akzeptiert.28 Der veränderte Blickwinkel beeinflusst jedoch auch die juristische Denk- und Argumentationsweise selbst. Der institutionelle Rahmen wird differenzierter wahrgenommen, wenn neben Gesetz und Rechtsprechung auch „weiche“ Regelungsmechanismen Berücksichtigung finden und diese vielfältigen Regelungstechniken zudem als eigenständiger Untersuchungsgegenstand begriffen werden.29 Vor allem interessieren Regeln unter Governance-Gesichtspunkten nicht mehr nur als Instrument nachträglicher Streitschlichtung und Sanktionierung, sondern als präventiver Steuerungs- und Gestaltungsmechanismus. Regeln sind in dieser Perspektive mehr als nur ein Maßstab für Gerichte oder Aufsichtsbehörden, um menschliches Verhalten im Nachhinein zu beurteilen; sie können solches Verhalten (auch) steuern und koordinieren.30 Die vielleicht wichtigste

27 Exemplarisch: Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance – Leitung und Überwachung börsennotierter Unternehmen in der Rechts- und Wirtschaftspraxis (2003). 28 Allgemein zu „Methodenpluralismus als Aufgabe“ Grundmann, RabelsZ 61 (1997), 423 ff. 29 Binder, ZGR 2007, 745 ff.; ausführlich Fleischer, Gesetz und Vertrag als alternative Problemlösungsmodelle im Gesellschaftsrecht, ZHR 168 (2004), 673 ff. („Prolegomena zu einer Theorie gesellschaftsrechtlicher Regelsetzung“). 30 Schuppert (Fn. 6), S. 382-386 („Steuerungswissenschaft“); für die Corporate Governance sinngemäß Grundmann (Fn. 4), § 14 Rn. 439 (Anreize gegen

11 Einsicht der (Corporate) Governance-Forschung für die Rechtswissenschaft lautet insofern: Regeln wirken nicht nur ex post, sondern auch ex ante. Sie beeinflussen beispielsweise das Verhalten von Geschäftsleitern oder Mehrheitsaktionären, selbst wenn sie nicht oder nicht in vollem Umfang gerichtlich bzw. aufsichtlich durchsetzbar sind. Die Unternehmensrechtswissenschaft begreift sich in der Tat immer stärker als Regelsetzungs-, nicht mehr nur als Regelanwendungswissenschaft.31 Sie wird zunehmend (auch) zum Strategieberater des Gesetzgebers, vor allem in Fragen der Regelungstechnik und -intensität.32 Eine wesentliche Grundlage für dieses gewandelte Selbstverständnis ist der umfassende Blickwinkel der Corporate Governance. Ohne die folgenorientierte Überlegung, wie Private auf soziale und rechtliche Regeln reagieren, kann eine Wissenschaft der Regelsetzung nämlich nicht auskommen. b) Wesensunterschiede und gemeinsame Ansatzpunkte Die Vertragsrechtswissenschaft geht durchaus in eine ähnliche Richtung und widmet sich ebenfalls immer stärker den Fragen der Regelsetzung.33 Der Governance-Ansatz hingegen fand im Vertragsrecht bisher vergleichsweise wenig Beachtung. Deshalb liegt die Frage auf der Hand, ob sich der Governance-Forschungsansatz auch für das Vertragsrecht fruchtbar machen lässt oder ob diesem Transfer umgekehrt Wesensunterschiede zum Unternehmensrecht entgegenstehen. Von Bedeutung ist vor allem ein grundlegender Unterschied: Verträge werden auf Märkten geschlossen, unternehmerische Entscheidungen innerhalb von Unternehmen gefällt. Der Entscheidungsmechanismus in Unternehmen ist hierarchischer oder kollektiver Natur (Leitungs- bzw. Mehrheitsentscheidung).34 Entscheidungsmacht und Risikotragung

opportunistisches Handeln) und in der Tendenz Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 704 ff. 31 Vgl. vor allem Fleischer, Zur Zukunft der gesellschafts- und kapitalmarktrechtlichen Forschung, ZGR 2007, 500, 502 f.; ähnlich Eidenmüller, JZ 2007, 487, 487, und allgemein bereits ders., Rechtswissenschaft als Realwissenschaft, JZ 1999, 53, 60. 32 Näher Eidenmüller, JZ 2007, 487, 490 f. 33 Etwa: Bachmann, Private Ordnung (2006), S. 359 f.; ders., Optionsmodelle im Privatrecht, JZ 2007, 11, 19 f.; Eidenmüller, Der homo oeconomicus und das Schuldrecht – Herausforderungen durch Behavioral Law and Economics, JZ 2005, 216 f. und 223. 34 Ausführlich zu diesen Mechanismen: Behrens, Die ökonomischen Grundlagen des Rechts (1986), S. 110-277.

12 können in diesem Fall divergieren: Unternehmerische Entscheidungen liegen in der Macht von Geschäftsleitern oder Mehrheitsgesellschaftern, betreffen aber alle Aktionäre (und meist auch sonstige stakeholder). Der Marktmechanismus funktioniert grundlegend anders: Jeder Vertragsschluss bedarf grundsätzlich der Zustimmung aller Betroffenen, nämlich der beiden Vertragspartner. Das Vertragsrecht zeichnet sich insofern durch Gleichrangigkeit aus, während das Unternehmensrecht durch eine vor allem hierarchische Verbandsordnung geprägt ist.35 Hierarchie und Subordination prägen im Übrigen auch das öffentliche Recht, in dem die Governance-Forschung besonders breite Anwendung findet. Eine Governance-Rahmenordnung, die Entscheidungsverfahren transparent macht und Entscheidungsträger zu interessegerechtem Handeln anhält, scheint insofern vor allem in hierarchischen Strukturen erforderlich, während auf Märkten grundsätzlich bereits das Eigeninteresse der Beteiligten für Selbststeuerung und eine Richtigkeitsgewähr sorgt. Dieser Unterschied ist zu bedenken, schließt Contract Governance jedoch nicht von vorneherein aus. Denn erstens bedürfen auch Verträge einer allgemeinen rechtlichen Rahmenordnung, die Spielregeln von Markttransaktionen definieren. Zweitens kann die vertragliche „Richtigkeitsgewähr“36 durchaus auch fehlschlagen, vor allem in Fällen des Marktversagens. Und drittens finden sich auch innerhalb von (bestehenden) Vertragsbeziehungen „hierarchische“ Entscheidungsmechanismen, besonders im Rahmen von Langzeitverträgen oder von Verträgen, die einem der beiden Vertragspartner Ermessensspielräume bei der Vertragsdurchführung einräumen.37 Weil und soweit die Richtigkeitsgewähr des Marktes in diesen Fällen nicht funktioniert, bedarf es einer alternativen Governance-Struktur. Daher erscheint keineswegs ausgeschlossen, die Erkenntnisse des Corporate Governance-Forschungsansatzes für das Vertragsrecht fruchtbar zu machen, freilich unter Berücksichtigung des spezifischen Charakters die-

35

Für diese Unterscheidung grundlegend: Williamson, J.L. & Econ. 22 (1979), 233 ff.; zu weiteren Koordinierungsmechanismen (Clans, Verbände, Netzwerke) im Überblick Mayntz (Fn. 6), S. 14 m.w.N. 36 Zu der von Schmidt-Rimpler, Grundfragen einer Erneuerung des Vertragsrechts, AcP 147 (1941) 130 ff. und ders., Zum Vertragsproblem, in: Festschrift für Raiser (1974), S. 1, begründeten Lehre Canaris, Die Bedeutung der Iustitia Distributiva im deutschen Vertragsrecht (1997), S. 48–51 (Richtigkeitschance); ders., Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, in: Festschrift für Lerche (1993), S. 873, 883 f.; Singer Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen (1995), S. 9–12. 37 Ausführlich zu diesem Phänomen: Behrens, FS Drobnig (1998), S. 491, 493 f.

13 ses Rechtsgebietes und seiner Entscheidungsmechanismen. Ansatzpunkt des Transfers kann zunächst die Marktorientierung der Governance-Perspektive sein, weil die Schutzbedürfnisse von Vertragspartnern – erst recht! – nicht nur im (vertraglichen) Innenverhältnis, sondern unter Berücksichtigung wettbewerblicher Kräfte zu beurteilen sind. Ob Marktdefizite bestehen und vertragsrechtliche Regulierung rechtfertigen, lässt sich nur unter Berücksichtigung von Marktstrukturen und -mechanismen beantworten. Aufschlussreich kann sodann auch die Einordnung des Vertragsrechts in einen Gesamtzusammenhang von Steuerungsmechanismen sein, zu denen beispielsweise auch private Regelwerke und soziale Standards,38 vor allem aber wiederum der Markt gehören. Dass schließlich die funktionale Betrachtungsweise rechtlicher Mechanismen Rechtsvergleichung und interdisziplinäre, insbesondere ökonomische Analyse ermöglicht, ist für das Vertragsrecht zwar keine neue, aber eine immer wieder aktuelle Erkenntnis.39 Hier mag der Governance-Ansatz helfen, die Grenzen zwischen Rechtsordnungen und Disziplinen noch stärker zu überwinden, weil (und soweit) er einen „Brückenbegriff“ und eine international und interdisziplinär vergleichbare Sprache liefert und damit den grenzüberschreitenden Dialog erleichtert.40 Indem die Governance-Forschung Mechanismen der Verhaltenssteuerung in den Blick nimmt, rückt sie besonders den interdisziplinären Dialog mit Verhaltenswissenschaften und -ökonomik in den Mittelpunkt des Interesses (dazu noch unter II.2.d)).

38

Das „natürliche“ Rechtsetzungsmonopol des Staates wird im Privatrecht in der Tat zunehmend in Frage gestellt und durch andere Steuerungsmechanismen ergänzt, überblicksweise Bachmann (Fn. 33), bes. S. 44-47. 39 In diese Richtung bereits Kötz, Coase-Theorem und Schweinepanik, Festgabe Zivilrechtslehrer 1934/1935 (1999), S. 245. 40 Näher Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: ders./Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft (2004), S. 9, 11; Schuppert (Fn. 6), S. 373 f.; in der Sache bereits ders., Schlüsselbegriffe der Perspektivenverklammerung von Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaft, Verw Beiheft 2/1999 (Werkstattgespräch aus Anlass des 60. Geburtstags von Eberhard Schmidt-Aßmann), 103 ff.

14

II. Themen der Contract Governance Der Begriff der Contract Governance wird bislang, soweit erkennbar, nur vereinzelt verwendet und zumeist nicht näher definiert.41 Einen fest umrissenen Inhalt hat er vorläufig nicht. Wenn der GovernanceForschungsansatz einerseits die institutionelle Rahmenordnung und anderseits Mechanismen der Steuerung und Koordination untersucht, kann man mit dem Gedanken einer Contract Governance insbesondere vier Themenstellungen verbinden, die sich freilich je nach Blickwinkel überschneiden und auch ergänzen können: (1) Der institutionelle Ordnungsrahmen vertragsrechtlicher Regelsetzung; mit anderen Worten: die „Governance des Vertragsrechts“; (2) Vertragsrecht als institutioneller Ordnungsrahmen für private Transaktionen; man kann das als „Governance des Vertrags“ bezeichnen; (3) die Strukturierung des Vertragsrechts als Instrument zur Verhaltenssteuerung und Erreichung regulatorischer Ziele; hier geht es um „Governance mit Mitteln des Vertragsrechts“; (4) der Vertrag als Ordnungsrahmen und Mechanismus der Selbststeuerung Privater; insofern kann man von „Governance durch Vertrag“ sprechen.

1. Governance des Vertragsrechts a) Allgemein Unter der Governance des Vertragsrechts kann man die Analyse und Strukturierung des Ordnungsrahmens verstehen, innerhalb dessen die Regeln für Verträge gesetzt werden. Auf zunehmend europäischen und internationalen Märkten sind nicht nur die nationalen und der europäische Gesetzgeber an der vertragsrechtlichen Regelsetzung beteiligt, sondern noch weitere Spieler, von Regulierungsbehörden und Gerichten über Branchenvereinigungen und Interessenverbände bis hin zu wissenschaftlichen Expertengruppen.42

41

Nachweise oben, Fn. 3. Calliess/Freiling/Renner, Law, the State, and Private Ordering, German L.J. 9 (2008), 397 ff.; Calliess, Grenzüberschreitende Verbraucherverträge – Rechtssicherheit und Gerechtigkeit auf dem elektronischen Weltmarktplatz (2006); ders., Weitergehende Übereinstimmung und laufendes Programm – Zur Legitimation von Privatrecht im Zeitalter der Globalisierung, in: Riesenhuber/Takayama (Hrsg.), Rechtsangleichung – Grundlagen, Methoden und Inhalte (2006), S. 115 ff.; 42

15 Aufgabe einer Governance des Vertragsrechts ist es, das Zusammenspiel dieser verschiedenen Spieler und Regelungsebenen bei der Regelsetzung zu beschreiben und zu untersuchen, und zwar unter Berücksichtigung der jeweiligen Anreize und Interessen.43 Im Mittelpunkt steht hier also die Analyse der Prozesse vertragsrechtlicher Regelsetzung, potentiell sogar mit dem Anspruch, diese Abläufe im Sinne einer möglichst interessegerechten Regelsetzung zu verbessern. b) Bestandteile des Ordnungsrahmens Der Ordnungsrahmen einer Governance des Vertragsrechts lässt sich in verschiedene Richtungen strukturieren. Unterscheiden kann man einmal die lokale, nationale und supranationale Ebene: Während auf lokaler Ebene praktisch nur noch nicht-legislative Regelgeber eine gewisse Rolle spielen (etwa bei der Begründung von Verkehrs- und Handelsbräuchen), sind für das heutige Vertragsrecht vor allem die zweite und zunehmend die dritte Ebene wichtig. Auf welchen dieser Ebenen Vertragsrecht geregelt werden sollte und wie diese verschiedenen Ebenen koordiniert werden können, diskutiert man vor allem für das nationale und europäische Recht.44 Es ist jedoch immer stärker auch eine globale Frage.45 Zwischen den verschieMichaels/Jansen, Private Law Beyond the State? Europeanization, Globalization, Privatization, Am.J.Comp.L. 54 (2006), 843, 868 ff.; für eine Bestandsaufnahme Köndgen, AcP 206 (2006), 477, 479 ff. S.a. Winkler, in diesem Band, S. 43 ff.; sowie Wiegand, Die Auflösung des Staatsbegriffs in internationalen Rechtsverhältnissen, in: Riesenhuber/Takayma (Hrsg.), a.a.O., S. 83 ff. 43 In diesem Sinne vor allem Cafaggi/Muir Watt (Hrsg.), Making European Private Law: Governance Design (2008); Calliess/Renner, From Soft Law to Hard Code: The Juridification of Global Governance, Working Paper (2007), abrufbar unter www.ssrn.com (abstract-id 1030526) (abgerufen am 8.5.2008); vgl. auch Cafaggi, Introduction, in: ders. (Hrsg.), The Institutional Framework of European Private Law (2006), S. 1 (“The Need for Governance in European Private Law”); ders., Una governance per il diritto europeo dei contratti?, in: ders. (Hrsg.), Quale armonizzazione per il diritto europeo dei contratti? (2003), S. 189. 44 Vor allem Grundmann, The Structure of European Contract Law, ERPL 4 (2001), 505 ff.; vgl. auch ders., Harmonisierung, Europäischer Kodex, Europäisches System der Vertragsrechte, NJW 2002, 393 ff.; ders./Kerber, An Optional European Contract Law Code: Advantages and Disadvantages, European Journal of Law and Economics 21 (2006), 215 ff. 45 Calliess, The Making of Transnational Contract Law, Ind.J. Global Legal Studies 14 (2007), 469 ff.; Caruso, Private Law and State-Making in the Age of Globalization, Journal of International Law and Politics 39 (2006), 1 ff.; Kerber, Institutional Change in Globalization: Transnational Commercial Law from an

16 denen Regelgebern ist Wettbewerb denkbar und auf vielen Gebieten des Privat- und Vertragsrechts durchaus bereits zu beobachten.46 Dies wirft die Frage nach der geeigneten Rahmenordnung – einer Wettbewerbsordnung für den Regelungswettbewerb – auf.47 In eine andere Richtung lassen sich sodann staatliche und private (auch hybride) Regelgeber unterscheiden, die beide das Vertragsrecht mit unterschiedlich flexiblen Regelungsinstrumenten gestalten können (Public/Private/Hybrid Governance). Vor allem im transnationalen Zusammenhang gewinnt Private Governance an Bedeutung.48 Private Regelgebung bedarf allerdings in besonderem Maße der Legitimation.49 Unter Governance-Gesichtspunkten gewinnt zudem das institutionelle

Evolutionary Economics Perspective, German L.J. 9 (2008), 411 ff.; Michaels/ Jansen, Am.J.Comp.L. 54 (2006), 843 ff.; Smits, Law Making in the European Union: On Globalization and Contract Law in Diverging Legal Cultures, Louisana Law Review 67 (2007), 1181, bes. 1200 ff. Zur Idee eines globalen (Handels-) Vertragsgesetzbuches etwa: Bonell, Do We Need a Global Commercial Code?, Dick L.Rev. 106 (2001), 87 ff.; Lando, CISG and Its Followers: A Proposal to Adopt Some International Principles of Contract Law, Am.J.Comp.L. 53 (2005) 379, 384. 46 Für das Gesellschaftsrecht Grundmann, Wettbewerb der Regelgeber im europäischen Gesellschaftsrecht – jedes Marktsegment hat seine Struktur, ZGR 2001, 783 ff.; allgemeiner Franck, Rechtsetzung für den Binnenmarkt: Zwischen Rechtsharmonisierung und Wettbewerb der Rechtsorndungen, in: Riesenhuber/ Takayama (Hrsg.), Rechtsangleichung – Grundlagen, Methoden und Inhalte (2006), S. 47 ff.; Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im europäischen Binnenmarkt (2002) (seinerzeit skeptisch); für das europäische Vertragsrecht auch Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts (2003), S. 187 ff. 47 Vgl. vor allem Kerber, Zum Problem einer Wettbewerbsordnung für den Systemwettbewerb, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 17 (1998), 199 ff.; (nicht nur) für das Gesellschaftsrecht: Grundmann, ZGR 2001, 783, 801 ff.; ähnlich für das Vertragsrecht: ders., Europäisches Vertragsrecht – Quo vadis?, JZ 2005, 860, 867 f.; zweifelnd: M. Müller, Gefahren einer optionalen europäischen Vertragsordnung – Aktionsplan der EG-Kommission zum Europäischen Vertragsrecht, EuZW 2003, 683, 685. 48 Zu Einzelphänomenen: Schirm, New Rules for Global Markets – Public and Private Governance in the World Economy (2004); Graz/Nölke (Hrsg.), Transnational Private Governance and its Limits (2008); aus dem Blickwinkel der Evolutionary Economics Kerber, German L.J. 9 (2008), 411 ff. 49 Bachmann, Privatrecht als Organisationsrecht, in: Witt u.a. (Hrsg.), Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2002 – Die Privatisierung des Privatrechts (2003), S. 9; Chr. Schmid, Legitimationsbedingungen eines Europäischen Zivilgesetzbuchs, JZ 2001, 674 ff.

17 Design der Regelgeber selbst an Interesse, weil sich deren jeweiliges Regelungsverhalten nur durch den Blick „hinter die Kulissen“, d. h. in deren interne Governance-Struktur, erklären lässt.50 Von Bedeutung ist darüber hinaus das Governance-Zusammenspiel von staatlichen und privaten Institutionen bei der Regelgebung, wenn etwa die Europäischen Sozialpartner durch Stellungnahmen und auch durch Regelungsvorschläge („Rahmenvereinbarungen“) an der Gesetzgebung zum Europäischen Arbeitsvertragsrecht mitwirken (Art. 138 f. EG; Art. 154 f. AEUV).51 Ähnlich vielschichtig ist das Regelgebungsverfahren im europäischen Bilanz- und Kapitalmarktrecht, wo der Gemeinschaftsgesetzgeber sich ebenfalls auf Rahmenvorgaben beschränkt und die eigentliche Standardsetzung Ausschüssen überlässt, die sich aus (nationalen) Aufsichtsbehörden und professionellen Marktteilnehmern zusammensetzen.52 Das Zusammenspiel von Regelgebern kann aber auch im allgemeinen Vertragsrecht Bedeutung erlangen, wenn etwa die Qualitätsstandards privater Wirtschaftsverbände oder Prüfungsorganisationen (ausnahmsweise) dem Hersteller im Rahmen von § 434 Abs. 1 S. 3 BGB zugerechnet werden.53 Ein weiteres Unterscheidungskriterium hängt schließlich mit der Frage zusammen, ob die Regelsetzung abstrakt und ex ante erfolgt, oder bezogen auf einen bestimmten Einzelfall ex post, also durch Gerichte. Wenngleich auch diese beiden Formen vertragsrechtlicher Governance in unterschiedlichem Maße

50

In diesem Sinne: Cafaggi, Self-Regulation in European Contract Law, European Journal of Legal Studies 1 (2006), abrufbar unter www.ejls.eu/download. php?file=./issues/2007-04/cafaggiUK.pdf (abgerufen am 8.5.2008); vgl. auch ders. (Hrsg.), Reframing Self-Regulation in European Private Law (2006). 51 Dazu etwa Birk, Vereinbarungen der Sozialpartner im Rahmen des Sozialen Dialogs und ihre Durchführung, EuZW 1997, 453 ff.; Falkner, Zwischen Recht und Vertrag: Innovative Regulierungsformen im EG-Arbeitsrecht, ZEuP 2002, 222 ff.; Langenbucher, Zur Zulässigkeit parlamentsersetzender Normgebungsverfahren im Europarecht, ZEuP 2002, 265 ff.; R. Schwarze, Legitimation kraft virtueller Repräsentation, RdA 2001, 208 ff. 52 Vgl. etwa zur Regelungstechnik im Bilanzrecht Grundmann (Fn. 4), Rn. 587 f.; im Kapitalmarktrecht Kalss, Kapitalmarktrecht, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre – Handbuch (2006), § 20 Rn. 5-26; Schmolke, Der Lamfalussy-Prozess im Europäischen Kapitalmarktrecht – Eine Zwischenbilanz, NZG 2005, 912, 913 f.; und ausführlich Wiegel, Die Prospektrichtlinie und Prospektverordnung – Eine dogmatische, ökonomische und rechtsvergleichende Untersuchung (2008), S. 91-148. 53 Münchener Kommentar-H.P. Westermann, BGB (5. Aufl. 2008), vor § 433, Rn. 13 f. und § 434, Rn. 26; allgemein zum „Expertenrecht“: Köndgen, AcP 206 (2006), 477, 481 ff.; ders., Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre – Handbuch (2006), § 7 Rn. 55-59.

18 legitimationsbedürftig sind, lassen sie sich funktional durchaus vergleichen.54 Der wichtigste Unterschied betrifft auch hier wieder die internen Governance-Strukturen, die unterschiedliche Anreizstrukturen zur Folge haben, denen die jeweiligen Regelgeber unterliegen.55 c) Instrumente Zum Werkzeugkasten der Governance des Vertragsrechts gehören selbstverständlich Gesetzeswerke und Kodices, aber auch nachgeordnete hoheitliche Regelungen durch Aufsichtsbehörden (etwa im Bankrecht oder auf regulierten Märkten) sowie das sogenannte Richterrecht (besonders in case law-Jurisdiktionen). Liegt ein Kennzeichen der Governance-Forschung darin, nicht nur staatliche Institutionen zu berücksichtigen, so gehören zu diesem Ordnungsrahmen zudem zahlreiche weitere Instrumente, namentlich private Regelwerke. In der gegenwärtigen Diskussion um das Europäische Vertragsrecht ist hierzu zunächst noch der Gemeinsame Referenzrahmen (Common Frame of Reference, CFR)56 zu nennen, der jetzt in der Entwurfsfassung als Draft Common Frame of Reference (DCFR)57 vorliegt. Wenn auch mit Unterstützung und einem Mindestmaß an Vorgaben von der Gemeinschaft ausgearbeitet, handelt es sich doch vorläufig um ein nicht-staatliches Regelwerk. Dass es als solches einen Einfluss auf die Vertragspraxis – u.U. auch auf das Gemeinschaftsrecht oder das mitgliedstaatliche Recht als Institutionen des Vertragsrechts – entfalten kann, ist keineswegs auszuschließen. Handelt es sich beim

54 In diesem Sinne Scott/Sturm, Courts as Catalysts: Re-Thinking the Judicial Role in New Governance, Colum.J.Eur.L. 13 (2007), 565 ff.; für das Europäische Privatrecht: M. Lehmann, „Judicial Governance“ im europäischen Privatrecht aus verfassungstheoretischer Sicht, in: Furrer (Hrsg.), Europäisches Privatrecht im wissenschaftlichen Diskurs (2006), S. 213, 214-221; Chr. Schmid, Judicial Governance in the EU – The ECJ as a Constitutional and a Private Law Court, in: Eriksen/Joerges/Roedl (Hrsg.), Law and Democracy in the Post-National Union (2006), S. 197 ff.; aus soziologischer Sicht: Frerichs, Judicial Governance in der europäischen Rechtsgemeinschaft (2008). 55 Aufschlussreich für richterliche Anreiz- und Verhaltensstrukturen: R. Posner, How Judges Think (2008). 56 Dazu etwa die Beiträge von v. Bar, Beale, Kuneva, Lando, Schulte-Nölke in ERCL 3 (2007), 239 ff. 57 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke (Hrsg.), Draft Common Frame of Reference (DCFR) – Interim Outline Edition (2008). Dazu hier nur Ernst, Der ‚Common Frame of Reference‘ aus juristischer Sicht, AcP 208 (2008), 248 ff.; Jansen/Zimmermann, Grundregeln des bestehenden Gemeinschaftsprivatrechts?, JZ 2007, 1113 ff.

19 (D)CFR auch vorerst – nach EVÜ sowie nach dem Ratsentwurf für eine Rom I-Verordnung – (noch) nicht um wählbares Recht,58 so können dessen Regeln doch zumindest als Rechtserkenntnisquelle (z. B. für die lex mercatoria) oder als Rechtsgewinnungsquelle59 fruchtbar gemacht oder als Allgemeine Geschäftsbedingungen in den Vertrag einbezogen werden. Funktional vergleichbar sind die Modellgesetze und Restatements im USamerikanischen Vertragsrecht, die gleichermaßen von nicht-staatlichen Institutionen formuliert werden und erst durch die – weit verbreitete – Übernahme durch einzelstaatliche Gesetzgeber bzw. durch die Gerichte Gesetzeskraft erlangen.60 Mit den privaten Regelwerken ist der Blick auf „das selbstgeschaffene Recht der Wirtschaft“ als Bestandteil des Ordnungsrahmens für den Vertrag gelenkt.61 Allgemeine Geschäftsbedingungen entfalten ihre 58 Vgl. Begründungserwägungen 13 und 14 des Ratsentwurfs für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) i.d.F. vom 31.3.2008, PECONS 3691/07 (http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/07/st03/st03691. de07.pdf [abgerufen am 8.5.2008]); außerdem: Martiny, CFR und internationales Vertragsrecht, ZEuP 2007, 212, 217 f.; Beale, The Future of the Common Frame of Reference, ERCL 3 (2007), 257, 260. Zur Problematik allgemein Canaris, Die Stellung der „Unidroit Principles“ und der „Principles of European Contract Law“ im System der Rechtsquellen, in: Basedow (Hrsg.), Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung, Tübingen 2000, S. 5-31; Grundmann, Lex mercatoria und Rechtsquellenlehre – insbesondere die Einheitlichen Richtlinien und Gebräuche für Dokumentenakkreditive, in: Jickeli/Kotzur/Noack/Weber (Hrsg.), Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1991 – Europäisches Privatrecht, Unternehmensrecht, Informationspflichten im Zivilrecht (1992), S. 43; ders., Law merchant als lex lata Communitatis – insbesondere die Unidroit Principles, in: Festschrift für Rolland (1999), S. 145 ff. 59 Zu den Begriffen Canaris (Fn. 57), S. 16 f.; Jansen, Traditionsbegründung im europäischen Privatrecht, JZ 2006, 536, 538, 540 f. Vgl. auch Riesenhuber, Systembildung durch den CFR, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen – Entstehung, Inhalte, Anwendung (in Vorbereitung für 2008). 60 Diese US-amerikanischen Instrumente gelten durchaus sogar als Vorbild für die europäische Privatrechtsentwicklung: Coing, Europäisierung der Rechtswissenschaft, NJW 1990, 937, 940; Chr. Schmid, JZ 2001, 674, 676; zu den Instrumenten selbst etwa Currie, Die Vereinheitlichung des amerikanischen Privatrechts, JZ 1996, 930, 933 f.; Schindler, Die Restatements und ihre Bedeutung für das amerikanische Privatrecht, ZEuP 1998, 277. 61 Großmann-Doerth, Selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft und staatliches Recht (1933), wieder abgedruckt und erörtert in Blaurock/Goldschmidt/Hollerbach (Hrsg.), Das selbstgeschaffene Recht der Wirtschaft – Zum Gedenken an Hans Großmann-Doerth (2005).

20 Wirkung nicht nur in Einzelverträgen, sondern können darüber hinaus auch typenbildende oder typenprägende Kraft entfalten.62 Im nationalen Bereich ist das vor allem aus der Bankpraxis bekannt.63 Auf supranationaler Ebene stellen schon traditionell internationale Handelsklauseln wesentliche Bestandteile des Ordnungsrahmens dar, namentlich die Incoterms.64 Allgemeine Geschäftsbedingungen und Handelsklauseln stehen freilich schon an der Schnittstelle zur Governance durch Vertrag, die wir unten (4.) erörtern. Als Bestandteil des Ordnungsrahmens sind AGB jedenfalls dann zu berücksichtigen, wenn sie einen gleichsam institutionellen (!) Charakter erlangt haben, so wie das bei den hier genannten Beispielen der AGB-Banken und der Incoterms der Fall ist. Die funktionale Wirkung ist mit hoheitlichen Regeln vergleichbar. Denn diese Vertragsklauseln können von der einen Vertragspartei faktisch nicht abgewählt werden, weil gegenüber dem Verhandlungspartner kein echter Verhandlungsspielraum besteht (interne Contract Governance) und wegen der branchenweiten Geltung auch keine anderen Wahlmöglichkeiten am Markt offen stehen (externe Contract Governance).65 Schließlich sind die Kollektivverträge und Tarife (i.w.S.) an dieser Stelle zu erwähnen, wie sie vor allem im Arbeitsrecht eine hervorragende Rolle spielen (§ 2 TVG, § 77 BetrVG),66 darüber hinaus aber etwa auch im Urheberrecht Bedeutung entfalten (§ 36 UrhG, §§ 12 f. UrhWG).67 Im Rahmen von § 4 TVG haben arbeitsrechtliche Tarifverträge nach deutschem Recht schon eine normative Wirkung i.e.S. Zudem lässt der Gesetzgeber öfter eine Tarifdisposition zu, wo eine Individualdisposition

62

Grundlegend L. Raiser, Das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen

(1935). 63

Zu den AGB-Banken nur Schimanksy/Bunte/Lwowski-Bunte, BankrechtsHandbuch (3. Aufl. 2007), § 4 Rn. 1 („Die Erscheinung, dass sich die Wirtschaft mit Hilfe von AGB ihr Recht selbst schafft, wenn es an ausreichenden Rechtsvorschriften fehlt, zeigt sich in vielen Bereichen, auch im Bereich des Bankrechts.“), 12 ff., 24 ff. 64 S. nur Baumbach/Hopt-Hopt, Handelsgesetzbuch (33. Aufl. 2008), (6) Incoterms Einl. Rn. 3-9. 65 Ähnlich Ebenroth/Boujong/Jost-Grundmann, Handelsgesetzbuch, Bd. 2 (2001), vor § 343 HGB, Rn. 77 f. (Übung so „intensiv und einheitlich“, dass „für ein bestimmtes Geschäft auch nur dieses eine Klauselwerk zur Verfügung“ steht). 66 Dazu nur Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht (6. Aufl. 2008), §§ 34 (S. 346 ff.), 48 II (S. 496 ff.). 67 Dazu nur Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht (4.Aufl. 2007), Rn. 969 f., 1210 ff.

21 ausgeschlossen ist,68 und verleiht der kollektiven Regelsetzung dadurch besondere Dignität. Aber auch soweit Tarife nur eine indizielle, gerichtlich kontrollierte oder faktische Wirkung haben, sind sie sub specie Governance selbstverständlich zu berücksichtigen. d) Untersuchungsmethoden Weil die Governance des Vertragsrechts Prozesse der Regelsetzung betrifft, können die Untersuchungsmethoden der allgemeinen GovernanceForschung Anwendung finden. Weil vertragsrechtliche Regelsetzung nicht ausschließlich hoheitlich erfolgt, ergeben sich vor allem Schnittmengen mit der Forschungsrichtung der sogenannten „New Modes of Governance“, die sich auf nicht-hierarchische Steuerungsmechanismen konzentriert.69 Darüber hinaus kann man auf die Sozial- und vor allem Politikwissenschaften rekurrieren, um das Verhalten staatlicher, vielleicht jedoch auch bestimmter privater Regelgeber auf vertragsrechtlichem Gebiet zu erklären und zu beschreiben.70 Auch ansonsten versprechen hier die Staatswissenschaften einigen Erkenntnisgewinn.71 Legitimationsfragen lassen sich nur auf Grundlage der Staatslehre und des Verfassungsrechts beantworten, die allerdings mit dem privatrechtlichen Legitimationskonzept der Zustimmung zu kombinieren sind.72 In europäischem Zusammenhang lässt sich auf die Erkenntnisse des (institutionellen) Europarechts, der Europawissenschaften insgesamt und besonders der European Governance zu rekurrieren.73 Weil bereichsweise auch Marktprozesse eine Rolle spielen („Wettbewerb der Regelgeber“), kann schließlich auch die ökonomische

68

Zöllner/Loritz/Hergenröder (Fn. 66), § 6 I 2 (S. 56 f.). Héritier, New Modes of Governance in Europe: Policy-Making without Legislating?, in: dies. (Hrsg.), Common Goods: Reinventing European and International Governance (2002), S. 185 ff.; dies./Eckert, New Modes of Governance in the Shadow of Hierarchy: Self-Regulation by Industry in Europe, Journal of Public Policy 28 (2008), 113 ff.; zur laufenden Tätigkeit des gleichnamigen, europaweiten Forschungsnetzwerks vgl. www.eu-newgov.org (abgerufen am 8.5.2008). 70 Allgemein zu diesem Ansatz: Engel/Héritier (Hrsg.), Linking politics and law (2003). 71 Vgl. etwa: Bachmann (Fn. 33), S. 58-76. 72 Dazu ausführlich Bachmann (Fn. 33), S. 159-225 sowie ders. (Fn. 49), S. 21 f. 73 Zum letztgenannten Bereich etwa: Joerges/Dehousse (Hrsg.), Good Governance in Europe’s Integrated Market (2002); de Búrca/Scott (Hrsg.), Law and New Governance in the EU and the US (2006). 69

22 Wissenschaft wichtige Beiträge liefern, insbesondere die Wettbewerbs- und Regulierungsökonomik.74

2. Governance des Vertrags a) Allgemein Als Governance des Vertrags bezeichnen wir die Analyse und Strukturierung der rechtlichen und außerrechtlichen Institutionen oder Faktoren, die ihrerseits den Ordnungsrahmen für private Transaktionen darstellen: „the study of good order and workable arrangements“ auf Märkten.75 Hier geht es also um die (vor allem vertragsrechtlichen) Regeln, die von den verschiedenen Spielern gesetzt werden, die unter (1) angesprochen wurden. Im Unterschied zu der anschließend (3) zu erörternden Governance durch bzw. mit Mitteln des Vertragsrechts, bei der es (auch) um die Erreichung regulatorischer, also heteronomer Ziele geht, gilt das Interesse zunächst dem „Spielfeld“, das Privaten zur Verfügung gestellt wird, um ihre selbstbestimmten Ziele privatautonom zu verwirklichen. Vertragsrecht erfüllt insoweit eine facilitative bzw. enabling function: Es ist Bestandteil eines Ordnungsrahmens bzw. einer Infrastruktur für die Kooperation Privater.76 Diese Kooperation kann nicht nur die Organisation betreffen,

74 Beispielhaft: Grundmann/Kerber, European System of Contract Laws – a Map for Combining the Advantages of Centralised and Decentralised Rule-Making, in: Grundmann/Stuyck (Hrsg.), An Academic Greenpaper on European Contract Law (2002), S. 295; Kerber, European System of Private Laws: An Economic Perspective, in: Cafaggi/Muir Watt (Hrsg.), Making European Private Law: Governance Design (2008) S. 64; als Working Paper abrufbar unter www.ssrn.com (abstract-id 1083084) (abgerufen am 8.5.2008). Ausgangspunkt ist die ökonomische Theorie des Föderalismus, grundlegend Tiebout, Exports and Regional Economic Growth, J.Pol.Econ. 64 (1956), 416 ff.; seither etwa: Kerber, Interjurisdictional Competition within the European Union, Fordham Int’l L.J. 23 (2000) S. 5217 ff.; Vanberg/ Kerber, Institutional Competition Among Jurisdictions: An Evolutionary Approach, Constitutional Political Economy 5 (1994) 193 ff. 75 Williamson, American Economic Review 95/2 (2005), 1 ff. Ähnlich spricht Collins (Fn. 3), S. 225 ff. von (power and) governance. 76 Bachmann (Fn. 49), S. 20 f.; Grundmann, Regulating Breach of Contract – The Right to Reject Performance by the Party in Breach, ERCL 3 (2007) 121, 143; Windbichler, Neue Vertriebsformen und ihr Einfluss auf das Kaufrecht, AcP 198 (1998), 261, 271; für das Gesellschaftsrecht Fleischer, ZHR 168 (2004), 673, 707; zur (institutionen-)ökonomischen Rezeption vgl. Fn. 99.

23 die vor allem Gegenstand der Corporate Governance ist, sondern auch den einmaligen, wiederkehrenden oder andauernden Austausch.77 b) Bestandteile des Ordnungsrahmens Die fundamentalen Bestandteile dieses Ordnungsrahmens sind die Marktwirtschaft und die Vertragsfreiheit – nicht von ungefähr die wesentlichen Kennzeichen einer Privatrechtsgesellschaft.78 Vertragsfreiheit ist dabei die Freiheit, Verträge mit einem selbstgewählten Partner zu einem selbstbestimmten Inhalt zu schließen, bedeutet aber auch die Verbindlichkeit und Durchsetzbarkeit des Vertrags:79 Ohne den Grundsatz pacta sunt servanda gibt es kein Vertragsrecht.80 Für die rechtlichen Bestandteile des Ordnungsrahmens bedeutet das indes keineswegs vollständige Vertragsfreiheit und den Verzicht auf jegliche Regulierung. Vielmehr ist auch hier Raum dafür, Defiziten des Vertragsund des Marktmechanismus Rechnung zu tragen. Für die ordo-liberale Lehre der Freiburger Schule war das ganz selbstverständlich, insbesondere die fundamentale Bedeutung des Kartellrechts in der Marktwirtschaft wird hier hervorgehoben.81 Aber auch (andere) Regelungen zum Verbraucherschutz lassen sich als Bestandteile dieses Ordnungsrahmens verstehen, namentlich wenn es darum geht, Marktversagen, sonst strukturelle oder auch individuelle Defizite zu beheben. Unter dem funktionalen Gesichtspunkt der Governance ist dabei nicht zwischen dem Vertragsrecht im formalen Sinne und etwa dem Wettbewerbsrecht zu unterscheiden – eine Entwicklung, die sich übrigens auch im Europäischen Vertragsrecht zeigt,82 wo der Gesetzgeber beispielsweise eine anfänglich für das Vertragsrecht

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S.a. Bachmann (Fn. 49), S. 20 f. Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO 17 (1966), 75 ff.; dazu Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft – Zur Verteidigung der Rationalität der „Privatrechtsgesellschaft“ (2006); sowie die Beiträge in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft (2007). 79 Bachmann (Fn. 49), S. 21. 80 Die innere und äußere Sicherheit, das Gewaltmonopol des Staates und ein funktionierendes Gerichtssystem setzen wir voraus. 81 Mestmäcker, 50 Jahre GWB – Die Erfolgsgeschichte eines unvollkommenen Gesetzes, WuW 2008, 6 ff.; W.-H. Roth, Kartell- und Wettbewerbsrecht, in: Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft (2007), S. 175 ff. S.a. Mestmäcker, Franz Böhm, in: Riesenhuber/Grundmann (Hrsg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler, Band 1 (2007), S. 31 ff. 82 Ein funktionales Verständnis des Europäischen Vertragsrechts hat besonders Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht (1999), begründet. 78

24 erwogene83 Informationspflicht letztlich über das Wettbewerbsrecht (UGPRichtlinie)84 verwirklicht hat.85 c) Instrumente Zu den Instrumenten des Vertragsrechts als Ordnungsrahmen gehört an erster Stelle das dispositive Recht mit seiner Erleichterungsfunktion: als ein Instrument, das häufig nach dem mutmaßlichen Parteiwillen strukturiert ist und den Parteien die Gestaltung des Vertrags nach ihren eigenen Zielen und Zwecken erleichtert. Dispositives Recht dient hier gleichsam als Blaupause, die den Parteien das individuelle Aushandeln jeder einzelnen Klausel erspart, ihnen jedoch zugleich Spielraum für Abweichungen belässt.86 Das Vertragsrecht kann den Parteien aber auch unterschiedliche Möglichkeiten zur Auswahl stellen, aus denen dann die jeweils passende Option gewählt werden kann (sogenanntes optionales Recht).87 Neben dispositiver und optionaler Normsetzung sind die wesentlichen Regelungsinstrumente des Vertragsrechts Informationspflichten, Widerrufsrechte, Formgebote (mit oder ohne Zwangsberatung) 88 sowie

83 Vgl. Staudenmayer, Europäisches Verbraucherschutzrecht nach Amsterdam – Stand und Perspektiven, RIW 1999, 733, 737. 84 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.5.2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken), ABl. 2005 L 149/22. 85 S. nur Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht (2. Aufl. 2006), Rn. 277a ff. sowie (krit.) Rn. 931 f. 86 Etwa Grundmann/Hoerning, Leistungsstörungsmodelle im Lichte der ökonomischen Theorie – nationales, europäisches und internationales Recht, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung (2007), 420, 424 f.; grundlegend: R. Posner/Rosenfield, Impossibility and Related Doctrines in Contract Law: An Economic Analysis, JLS 6 (1977), 83, 89 („purpose… to effectuate the desires of the contracting parties”). 87 Dazu ausführlich Bachmann, JZ 2008, 11 ff. 88 Zu den Instrumenten zum „Schutz vor dem unerwünschten Vertrag“, s. die gleichnamige Schrift von St. Lorenz (1997) sowie Medicus, Verschulden bei Vertragsverhandlungen, in: Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts (1981), S. 485, 519 ff. („Der Schutz vor unerwünschten Verträgen“).

25 die Inhaltskontrolle.89 Mit Rücksicht auf das hier vorausgesetzte Ziel, den Parteien die Verfolgung der eigenen Zwecke zu ermöglichen, kann man diese Reihenfolge durchaus auch als eine Rangfolge der Steuerungswirkung verstehen. Prozedurale Instrumente, wie man sie im dispositiven Recht, in Informationspflichten, Widerrufsrechten und Formgeboten sehen kann, haben Vorrang vor materieller Steuerung, etwa durch das Instrument der Inhaltskontrolle (Prozeduralisierung).90 Während dies weitgehend herkömmlichem Vertragsrechtsdenken entspricht, lenkt der Governance-Gedanke den Blick auch auf andere Regelungs- und Steuerungsmechanismen. Zum Beispiel ist hier an spontane Information zu denken, wie sie durch Werbung erfolgt.91 Zu den Ordnungsfaktoren gehört aber auch die kollektive Selbstinformation von Verbrauchern, wie sie sich institutionalisiert durch private oder staatliche Einrichtungen (Verbraucherzentralen, Verbände zum Schutz des Wettbewerbs, Warentest) etablieren, wie sie sich aber vor allem im Internet durch von Anbietern oder Nachfragern eingerichtete Informationsforen herausbilden. Zu bedenken sind darüber hinaus Branchen- bzw. Selbstverpflichtungen,92 etwa best-practice-Standards und codes of conduct der Vertraulichkeit von Kundeninformationen,93

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Überblicksweise: Riesenhuber, Wandlungen oder Erosion der Privatautonomie?, in: ders./Nishitani (Hrsg.), Wandlungen oder Erosion der Privatautonomie?, (2007), S. 1, 4-9; vgl. auch Möslein, Inhaltskontrolle und Inhaltsregeln im Schuldvertragsrecht, ebd., S. 233, 235-237. 90 Vgl. dazu Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273, 282 ff.. Vgl. auch Ayres, Menus Matter, U.Chi.L.Rev. 73 (2006), 3, 4 (mit dem Generalthema „to change the world with less intrusive interventions“). 91 In der europäischen Diskussion hat besonders der EuGH mit seiner Grundfreiheiten-Rechtsprechung diese Sichtweise befördert; grundlegend EuGH v. 20.2.1972 – Rs. 120/78 Rewe ./. Bundesmonopolverwaltung, Slg. 1979, 649 ff. – Cassis de Dijon; EuGH v. 9.12.1981 – Rs. C-193/80 Kommission ./. Italien, Slg. 1981, 3019 Rn. 27 – Weinessig; EuGH v. 12.3.1987 – Rs. C-178/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1987, 1227 Rn. 35 f. – Reinheitsgebot; Übersicht bei Riesenhuber (Fn. 85), Rn. 134 ff. sowie 271 ff. 92 Kocher, Unternehmerische Selbstverpflichtungen zur sozialen Verantwortung – Erfahrungen mit sozialen Verhaltenskodizes in der transnationalen Produktion, RdA 2004, 27 ff. 93 Ausführlich vor allem zur US-amerikanischen Praxis: Haufler, A Public Role for the Private Sector – Industry Self-Regulation in a Global Economy (2001), S. 91 ff.; für die wichtigste private Zertifizierungsinitiative vgl. www.truste.org („Make Privacy Your Choice“) (abgerufen am 8.5.2008).

26 des Arbeitsschutzes94 oder der Produktsicherheit.95 Mit Unterstützung des Gesetzgebers sind solche weichen Instrumente europaweit auf dem Vormarsch.96 Sie entwickeln durchaus „Biss“ – wenn Märkte als externe Governance-Mechanismen funktionieren und insbesondere für Transparenz und wettbewerbsrechtliche Flankierung gesorgt ist.97 Unter bestimmten Voraussetzungen mag das Recht gegenüber anderen, etwa sozialen oder ethischen Ordnungselementen als Governance-Instrument des Vertrages sogar vollends in den Hintergrund treten („order without law“).98 Der Governance-Ansatz liefert einen Blickwinkel, der vor solchen Phänomen nicht die Augen verschließt. d) Untersuchungsmethoden Im Hinblick auf die Grundlagen dieses Ordnungsrahmens kommt besonders der ökonomischen Theorie und der Verhaltenstheorie eine hervorragende Rolle zu. Die Neue Institutionenökonomik begreift das Privatrecht nicht nur als Begrenzung privaten Handelns (und Zuweisung von Eigentumsrechten), sondern auch als Infrastruktur, die Gestaltungsspielräume für private Kooperation überhaupt erst eröffnet – facilitative

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OECD (Hrsg.), Corporate Responsibility – Private Initiatives and Public Goals (2002), S. 33 f. 95 Schepel, The Constitution of Private Governance – Product Standards in the Regulation of Integrating Markets (2007). 96 Weißbuch „Europäisches Regieren“, KOM(2001) 428 endg., S. 27 (Rechtsvorschriften „nur Teil einer umfassenderen Lösung, die förmliche Bestimmungen mit anderen nicht bindenden Instrumenten wie Empfehlungen, Leitlinien oder auch Selbstverpflichtungen […] kombiniert“); Grünbuch zum Verbraucherschutz, KOM(2002) 531 endg., S. 16 f. Exemplarisch zu Selbstverpflichtungen: Frenz, Verbraucherinformation durch Gesetz und Selbstverpflichtungen, ZG 2002, 226, 233; Ritter/Fuchs, Die Selbstverpflichtung der Deutschen Post AG – hilfreich für den Verbraucher?, VuR 2004, 391 ff.; zu Branchenverpflichtungen Ehricke, Dynamische Verweise in EG-Richtlinien auf Regelungen privater Normungsgremien, EuZW 2002, 746 ff.; Röthel, Verbände und Gemeinschaftsrecht, ZEuP 2002, 58, 63 f. 97 Näher E. Kocher, Unternehmerische Selbstverpflichtungen im Wettbewerb – Die Transformation von „soft law“ in „hard law“ durch das Wettbewerbsrecht, GRUR 2005, 647 ff.; s.a. dies., RdA 2004, 27 ff.; vgl. auch Teubner, Codes of Conduct multinationaler Unternehmen – Unternehmensverfassung jenseits von Corporate Governance und Mitbestimmung, in: Festschrift für Kocka (2007), S. 36. 98 So der Titel der empirisch beeinflussten Normtheorie von Ellickson, Order without Law – How Neighbors Settle Disputes (1991).

27 law.99 Geht es darum, den Akteuren die Verwirklichung der eigenen Ziele zu ermöglichen, so besteht die schwierige Aufgabe bei der Ausgestaltung dieses Ordnungsrahmens darin, ein Schutzübermaß mit seinen freiheitsbeschränkenden Wirkungen nicht weniger zu meiden als ein Schutzuntermaß. Zur punktgenauen Analyse von Marktversagen kann die ökonomische Theorie selbstverständlich viel beitragen.100 Da es aber um das Verhalten der Marktteilnehmer geht, sind darüber hinaus die Erkenntnisse der Verhaltenstheorie, wie sie in behavioral law and economics einfließen,101 von erheblicher Bedeutung. Auch für die Beschreibung und Analyse des breiteren institutionellen Rahmens selbst liefern die Verhaltenswissenschaften wertvolle Beiträge. Ausgehend von Durkheims vielzitiertem Diktum – „nicht alles ist vertraglich beim Vertrag“102 – beschäftigt sich heute vor allem die (Markt-) Soziologie intensiv mit dem außerrechtlichen Ordnungsrahmen, in den private Transaktionen und Verträge eingebettet sind (embeddedness).103 Dass die „soziale Ordnung“ eine wichtige Funktionsbedingung von Märkten darstellt104 und teils sogar rechtliche Institutionen ersetzen kann bzw. muss, wird auch von der modernen Institutionenökonomik nicht

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Vgl. etwa Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik (3. Aufl. 2003), S. 22 ff.; Clark, Agency Costs versus Fiduciary Duties, in: Pratt/Zeckhauser (Hrsg.), Principals and Agents – the Structure of Business (1985), 55, 60 ff.; vgl. auch Kerber (Fn. 74), S. 64, 67 ff. 100 Exemplarisch (für dispositives bzw. zwingendes Gesellschaftsrecht): Behrens, FS Drobnig (1998), S. 491, 502 ff. 101 Grundlegend Kahneman/Tversky, Prospect Theory – An Analysis of Decision under Risk, Econometrica 47 (1979), 263 ff.; ferner Camerer/Lowenstein/Rabin (Hrsg.), Advances in Behavioral Economics (2004); Sunstein (Hrsg.), Behavioral Law and Economics (2000); aus dem deutschen Schrifttum insbesondere Eidenmüller, JZ 2005, 216 ff.; Engel/Englerth/Lüdemann (Hrsg.), Verhalten und Recht (2006); Fleischer, Behavioral Law and Economics im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht – ein Werkstattbericht, in: Festschrift für Immenga (2004), S. 575 ff. 102 Durkheim, Über die soziale Arbeitsteilung – Studie über die Organisation höherer Gesellschaften (1992, frz. Original von 1893), S. 267. 103 Vgl. nur: Beckert, Economic Sociology and Embeddedness, Journal of Economic Issues 37 (2003), 769 ff.; ders., The Moral Embeddedness of Markets, in: Clary/Dolfsma/Figart (Hrsg.), Ethics and the Market: Insights from Social Economics (2006), S. 11-25; Granovetter, Economic Action and Social Structure: The Problem of Embededness, American Journal of Sociology 91 (1985), 481 ff. Der Begriff der embeddedness fußt auf Polanyi, The Great Transformation (1957), bes. S. 57 und 61. 104 Beckert, Die soziale Ordnung von Märkten, in: ders./Diaz-Bone/Ganßmann (Hrsg.), Märkte als soziale Strukturen (2007), S. 19-39.

28 mehr bestritten, sondern als „lawlessness and economics“ zu einem eigenen Forschungsfeld erhoben.105 Auf diese interdisziplinären Erkenntnisse kann und muss die Untersuchung der Governance des Vertrages aufbauen.

3. Governance mit Mitteln des Vertragsrechts a) Allgemein Die Governance durch bzw. mit den Mitteln des Vertragsrechts haben wir soeben (2.a)) schon dadurch gekennzeichnet, dass das Vertragsrecht zur Erreichung staatlicher und damit regelmäßig parteifremder Ziele als Governance-Instrument des Gesetzgebers verwendet („instrumentalisiert“) wird. Auch hier greift der Gesetzgeber ein, aber nicht, oder nicht ausschließlich, um den Parteien bei der Verwirklichung ihrer Interessen zu helfen, sondern (auch), um eigene – aus Sicht der Privatleute heteronome – Ziele zu verwirklichen. Vertragsrecht erfüllt insoweit eine regulatory function;106 es geht um Verhaltenssteuerung durch Vertragsrecht:107 „Wenn Governance … als Versuch der Handlungskoordination durch Regelungsstrukturen verstanden werden kann, die ihrerseits das Verhalten der ihnen unterworfenen Akteure rahmenhaft steuern, dann ist Governance vor allem Regulierung“.108 b) Verortung im Ordnungsrahmen Vertragsrecht ist damit ein Instrument zur Erreichung anderer Ziele, so wie auch andere Teilrechtssysteme zur Erreichung weiterer Ziele eingesetzt werden, beispielsweise das Steuerrecht109 oder auch das Vergaberecht.110 105 Grundlegend Dixit, Lawlessness and Economics – Alternative Modes of Governance (2004); vgl. außerdem: E. Posner, Law and Social Norms (2000). 106 Dazu auf europäischer Ebene: Cafaggi (Hrsg.), The Regulatory Function of European Private Law (im Erscheinen zum 1.6.2008). 107 Eingehend zur „Prävention und Verhaltenssteuerung durch Privatrecht – Anmaßung oder legitime Aufgabe?“ der gleichnamige Beitrag von Wagner, AcP 206 (2006), 352 ff.; kritisch etwa Honsell, Die Erosion des Privatrechts durch das Europarecht, ZIP 2008, 621, 626 ff. 108 Schuppert (Fn. 6), S. 395. 109 Dazu etwa (krit.) P. Kirchhof, Der Weg zu einem neuen Steuerrecht (2. Aufl. 2005). 110 S. z. B. zur Tariftreueerklärung Rieble, Tariftreue vor dem Bundesverfassungsgericht, NZA 2007, 1 ff.; BVerfG, NZA 2007, 42 ff.; Übersicht bei Zöllner/

29 In diesem Bereich hat die Gesamtsicht auf den Ordnungsrahmen als Ganzes besondere Bedeutung, da die rechtliche Regelung sonst Fehlanreize setzen oder andere unerwünschte Effekte haben kann.111 Zum Beispiel kann man an die Diskriminierungsverbote im Europäischen Vertragsrecht denken: Der Gesetzgeber hat hier nur höchst unzureichend erwogen, inwieweit Diskriminierung als ein soziales Problem eine Rolle spielt, das nicht schon durch Marktmechanismen oder auch eine soziale Kontrolle gelöst wird. Dadurch wiegen die mit den Diskriminierungsverboten verbundenen Eingriffe in die Vertragsfreiheit besonders schwer,112 drohen zudem aber auch in besonderem Maße kontraintentionale Effekte etwa in Form von Vermeidungsstrategien einerseits oder Trittbrettfahren andererseits.113 Vertragsrecht ist damit zugleich nur eines von mehreren möglichen Instrumenten. Unter dem Gesichtspunkt der Governance richtet sich der Blick auf das Gesamtrepertoire von Regulierungsmechanismen rechtlicher und auch nicht-rechtlicher Art. Zum Beispiel kann man wiederum an die partielle funktionale Gleichwertigkeit von Vertragsrecht und Wettbewerbsrecht als Regulierungsinstrument denken. Neben der unmittelbaren staatlichen Intervention ist aber auch an weichere Anreizmechanismen zu denken, wie sie der Europäische Gesetzgeber im AntiDiskriminierungsrecht etwa in Form des sozialen Dialogs, des Dialogs mit Nichtregierungsorganisationen (non-governmental organisations, NGOs)114 oder durch das gender mainstreaming115 nutzt. Auch eine („institutionalisierte“) Selbstverpflichtung kommt in Betracht. Ein Beispiel dafür bietet das zertifizierte Anti-Diskriminierungskennzeichen, das Ayres und Brown konzipiert und ins Leben gerufen haben: Unternehmen erwerben durch das drittbegünstigende Versprechen der Nicht-Diskriminierung eine Lizenz, Loritz/Hergenröder (Fn. 66), § 38 V (S. 396); zur gemeinschaftsrechtlichen Bewertung jetzt EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06 Rüffert (noch nicht in Slg.). 111 Für eine solche Sicht besonders Collins (Fn. 3). Beispielhaft für das Europäische Verbrauchervertragsrecht auch Martinek, Unsystematische Überregulierung und kontraintentionale Effekte im Europäischen Verbraucherschutzrecht oder: Weniger wäre mehr, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts – Gesellschafts-, Arbeits- und Schuldvertragsrecht (2000), S. 512 ff. 112 Riesenhuber (Fn. 89), S. 50 f. 113 S. das „Archiv zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)“ unter www.agg-hopping.de (abgerufen am 8.5.2008). 114 S. nur die deutsche Umsetzungsnorm in § 29 AGG und dazu die Erläuterungen bei Münchener Kommentar-Thüsing, BGB (5. Aufl. 2007), § 29 AGG Rn. 1 ff. 115 Dazu Kocher, Vom Diskriminierungsverbot zum „Mainstreaming“, RdA 2002, 167 ff.

30 dieses Kennzeichen zu nutzen.116 – Der Governance-Forschung geht es dann um die Auswahl der angemessenen Regulierungsinstrumente.117 c) Contract Governance (auch) als Liberalisierungsinstrument Wenn das Vertragsrecht zur Erreichung heteronomer Ziele instrumentalisiert wird, liegt es nahe, einen schwerwiegenden Eingriff in die Vertragsfreiheit zu befürchten. Governance mit Mitteln des Vertragsrechts kann sich indes durchaus als Liberalisierungsinstrument erweisen, nämlich dort, wo der Regulierungsgegenstand bislang vollständig der Parteidisposition entzogen war. Nicht selten öffnen Governance-Überlegungen erst den Blick für „sanfte“ Steuerungsinstrumente. Auch dispositives Recht kann beispielsweise Steuerungswirkung entfalten. Es kann das materielle Ergebnis von Vertragsverhandlungen determinieren, wenn beispielsweise die Transaktionskosten einer abweichenden Vereinbarung besonders hoch sind oder die Parteien gesetzlich vorgesehenen Lösungen „blind vertrauen“. Vor allem beeinflusst dispositives Recht potentiell den Ablauf von Vertragsverhandlungen, wenn es etwa besonders „einseitige“ Lösungen vorsieht, die einer der beiden Parteien praktisch die volle Abänderungslast auferlegen und sie zwingen, zusätzliche Informationen offen zu legen (penalty bzw. information-forcing default rules).118 Auch durch Vorgabe verschiedener Wahl- und Optionsmöglichkeiten kann der Gesetzgeber privates Verhalten beeinflussen, weil er deren Verhandlungsprozess wiederum in bestimmte Bahnen lenkt: menus matter – auch durch die Zusammenstellung der Menüs auf der Speisekarte wird Verhalten gesteuert.119 Contract Governance lässt der Privatautonomie Spielraum, kann aber durchaus spürbare Steuerungswirkung entfalten, vor allem dadurch, dass sie Verhandlungsverfahren strukturiert. Das liegt ganz auf der Linie der allgemeinen Idee von Governance.

116 Ayres/Brown, Mark(et)ing Non-Discrimination: Privatizing ENDA with a Certification Mark, Mich.L.Rev. 104 (2006), 1639 ff.; Ayres, U.Chi.L.Rev. 73 (2006), 3, 7 ff. Ferner Kocher, RdA 2004, 27 ff. 117 Dazu Bachmann (Fn. 33), S. 49 f.; Schuppert (Fn. 6), S. 395 ff. 118 Grundlegend Ayres/Gertner, Filling Gaps in Incomplete Contracts: An Economic Theory of Default Rules, Yale L.J. 99 (1989), 87, 91; vgl. außerdem Ben-Shahar/Pottow, On the Stickiness of Default Rules, Florida State University L. Rev. 33 (1993), 651 ff. 119 So titelt Ayres, U.Chi.L.Rev. 73 (2006), 3 ff.; ähnlich: Bachmann, JZ 2008, 11, 16 ff.

31 Das Modell der Europäischen Betriebsratsrichtlinie 94/45/EG120 ist ein hervorragendes Beispiel für diesen Steuerungsansatz der Contract Governance.121 Entscheidend für ihren Erfolg war das „Umschalten von substantieller, für alle Anwendungsfälle gleichlautender Regelung zur bloßen Etablierung einer Verfahrensstruktur“.122 Unter dem Gesichtspunkt der Governance geht es also um eine Zurücknahme rigider staatlicher Steuerung zu Gunsten der Regulierung mit Mitteln des Vertragsrechts.123 Auf der Grundlage des Davignon-Berichts124 hat der Gesetzgeber dieses Modell der Contract Governance sodann auch für die Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea, SE)125 und die daran anschließende Europäische Genossenschaft (Societas Cooperativa Europaea, SCE) fruchtbar gemacht.126 Die Steuerungswirkung zeigt sich erst bei Berücksichtigung der Verhandlungsanreize beider Seiten: Für die Arbeitgeberseite besteht dieser Anreiz darin, eine gegenüber der Auffangregelung („absolut“ oder durch ihre Passgenauigkeit) günstigere Mitbestimmungskonzeption zu finden. Der Einigungsdruck für die Arbeitnehmerseite rührt eher daher, nicht den „Schwarzen Peter“ für das Scheitern der Unternehmenskooperation – und die damit verbundenen Chancen für die Arbeitnehmer – zu bekommen.127 Ein weiteres Beispiel für die Tendenz zur Contract Governance findet

120 Richtlinie 94/45/EG des Rates vom 22.9.1994 über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen, ABl. 1994 L 254/64. 121 In diesem Sinne, auch begrifflich („contract governance“): Eidenmüller, JZ 2007, 487, 493; Windbichler, EBOR 6 (2005), 507, 529 und 533 f. 122 Weiss, NZA 2003, 177, 179; ders., ZIAS 1995, 633, 635 (Paradigmenwechsel). 123 Ausführlich zu diesem Ansatz (und kritisch im Hinblick auf die Ausgestaltung im Einzelnen): Windbichler, Der gordische Mitbestimmungsknoten und das Vereinbarungsschwert – Regulierung durch Hilfe zur Selbstregulierung, in: Jürgens/Sadowski/Schuppert/Weiss (Hrsg.), Perspektiven der Corporate Governance (2007), S. 282 ff.; Kiem, Vereinbarte Mitbestimmung und Verhandlungsmandat der Unternehmensleitung – Ein Beitrag zur mitbestimmungsrechtlichen Verhandlungslösung und guter Corporate Governance, ZHR 171 (2007), 713 ff.; s.a. Eidenmüller, JZ 2007, 487, 488 f. 124 Dazu nur Heinze, Die Europäische Aktiengesellschaft, ZGR 2002, 66 ff. 125 Grundmann (Fn. 4), Rn. 1009; Kallmeyer, Die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft, ZIP 2004, 1442 ff.; Oetker, Unternehmerische Mitbestimmung kraft Vereinbarung in der Europäischen Gesellschaft (SE), in: Festschrift für Konzen (2006), S. 635 ff. 126 S. nur Grundmann (Fn. 4), Rn. 1009. 127 W. Heinze/Seifert/Teichmann, Verhandlungssache – Arbeitnehmerbeteiligung in der SE, BB 2005, 2524 ff.

32 sich im Urheberrecht in der Rückkehr von einer staatlich festgesetzten Vergütungshöhe für Privatkopien zurück zu einer vertraglichen Bestimmung.128 Die Umstellung ist auch im Hinblick auf die Strukturierung des Verhandlungsverfahrens instruktiv. Sie war anfänglich schlagseitig, weil der Gesetzgeber einseitig eine Obergrenze von 5 % des Verkaufspreises einziehen wollte. Das ist jetzt abgemildert durch die Bindung des Vergütungshöhe an ein „angemessenes Verhältnis zum Preisniveau des Geräts oder Speichermediums“ (§ 54a UrhG). Auch die verabschiedete Fassung erweist sich freilich im Hinblick auf die Verhandlungsstruktur als problematisch, weil die Zahlungsschuldner keinen ernsthaften Verhandlungsanreiz haben, durch eine Verschleppung aber die wirtschaftlichen Interessen der Rechteinhaber ernstlich gefährden können.129 Anders als in § 11 Abs. 2 UrhWG ist nicht einmal der Zahlungsfluss für den unstreitigen Vergütungsanteil gesichert. Diese Beispiele weisen auf verschiedene Skalen der Regulierung130 mit Mitteln des Vertragsrechts hin. Strukturiert wird zwar primär das Verhandlungsverfahren. Über Auffanglösungen für den Fall des Scheiterns von Verhandlungen, über Begrenzungen des Verhandlungsspielraums oder über Auswahlmenüs möglicher Verhandlungsergebnisse kann der Gesetzgeber aber auch inhaltlich Einfluss nehmen. Die Parteien verhandeln jeweils mehr oder weniger „im Schatten rechtlicher Auffanglösungen“.131 Contract Governance bedeutet insofern eine Form der Selbstregulierung, deren Verfahren und teils auch Ergebnis staatlich (bzw. von externen Regelgebern) reguliert oder zumindest vorgezeichnet ist.132

128 Dazu nur S. Müller, in: Kreile/Becker/Riesenhuber (Hrsg.), Recht und Praxis der GEMA (2. Aufl. 2008), § 7; ders., Festlegung und Inkasso von Vergütungen für die private Vervielfältigung auf der Grundlage des „Zweiten Korbs“, ZUM 2007, 777 ff.; Niemann, Urheberrechtsabgabe – Was ist im Korb?, CR 2008, 205 ff. 129 Dazu aus Sicht einer Verwertungsgesellschaft S. Müller (Fn. 128), § 7 Rn. 77 ff.; ders., ZUM 2007, 777, 130 Dazu etwa auch OECD (Hrsg.), Regulatory Policies in OECD Countries – From Interventionalism to Regulatory Governance (2002); Schuppert, (Fn. 6), S. 401-404. 131 Ähnlich (“in the shadow of law”): Calliess, Indiana Journal of Global Legal Studies 14 (2007), 469, 471; Dixit (Fn. 105), S. 10; Williamson, American Economic Review 95/2 (2005), 1, 14. 132 Hoffmann-Riem, Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen – Systematik und Entwicklungsperspektiven, in: ders./SchmidtAßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen (1996), S. 261 ff. (bes. 301 ff. „staatlich regulierte Selbstregulierung“); Calliess (Fn. 42), S. 200 f.; Windbichler (Fn. 123), S. 296.

33 d) Untersuchungsmethoden Die Steuerungswirkung hängt bei „weichen“ Governance-Mechanismen besonders stark von der Reaktion der Regelungssubjekte ab. Deshalb kann Governance mit Mitteln des Vertragsrechts nicht untersucht werden, ohne wiederum auf Verhaltensannahmen zurückzugreifen, insbesondere auf das ökonomische Rationalitätsmodell, aber auch auf seine Anpassung bzw. Modifikation durch die Verhaltenswissenschaften (behavioural law and economics).133 Weil vor allem die Strukturierung von Verhandlungsprozessen in Frage steht, können sich spezifischer die Instrumente der Verhandlungsanalyse und der Lehre des Verhandlungsmanagements für die Wirkungsanalyse vertragsrechtlicher Regelungsmechanismen als hilfreich erweisen.134 Die Öffnung für solche Untersuchungsmethoden ist Voraussetzung der folgenorientierten Bewertung vertragsrechtlicher Regeln und deshalb ein wertvoller Baustein bei der Fortentwicklung der Vertragsrechtswissenschaft zu einer Lehre der Regelsetzung.135 e) Zum Beispiel: Die Regulierung der Verwertungsgesellschaften Ein gerade auch unter dem Gesichtspunkt der Contract Governance instruktives Beispiel für die verschiedenen Instrumente staatlicher Steuerung ist die Regulierung der Verwertungsgesellschaften in ihren rechtshistorischen und rechtsvergleichenden Facetten. In Deutschland hat der Gesetzgeber insoweit anfänglich auf jede Regulierung verzichtet. Stattdessen gab er den Urhebern mit dem Aufführungsrecht in der Musik ein Recht, das (auch heute noch) aus praktischen Gründen nur kollektiv wirksam wahrgenommen werden kann. Mit Rücksicht auf das Beispiel der französischen Komponisten, die sich bereits ein halbes Jahrhundert früher so organisiert hatten, und wohl auch im Hinblick auf die seit 133

S. die Nachweise oben, Fn. 101. Vgl. etwa Bühring-Uhle/Eidenmüller/Nelle, Verhandlungsmanagement – Intuition, Strategie, Effektivität (im Erscheinen zum 1.9.2008); Korobkin, Negotiation Theory and Strategy (2002); zu einer Einzelfrage: Eidenmüller, Druckmittel bei Vertragsverhandlungen, in R. Zimmermann (Hrsg.), Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss (2007), S. 103, bes. S. 105-108. S.a. schon die grundlegenden Untersuchungen von Horn, Neuverhandlungspflicht, AcP 181 (1981), 255 ff.; Nelle, Neuverhandlungspflichten (1994); sowie die kritische Erörterung von Martinek, Die Lehre von den Neuverhandlungspflichten – Bestandaufnahme, Kritik – und Ablehnung, AcP 198 (1998), 329 ff. 135 In diese Richtung: Eidenmüller, JZ 2005, 216, 222 (Verhandlungsunterstützung durch Schuldrecht); s. schon oben, I.3.a) (S. 10) mit Fn. 31. 134

34 längerem initiierte „Tantiemenbewegung“ in Deutschland,136 durfte er sich darauf verlassen, dass die Betroffenen hier eine private Ordnung begründen würden.137 Auch das Verhältnis der Urheber einerseits und der Nutzer andererseits zu den Verwertungsgesellschaften war damit dem Privatrecht überlassen, angesichts eines zunächst fehlenden, später nur als Missbrauchskontrolle ausgestalteten Kartellrechts vor allem dem Vertragsrecht;138 – Contract Governance, wie sie auch in anderen Ländern teilweise noch besteht. Mit dem Stagma-Gesetz von 1933 beendete der Gesetzgeber den bis dahin vorherrschenden (und teilweise zerstörerischen) Wettbewerb konkurrierender Verwertungsgesellschaften und schuf ein rechtliches Monopol nebst staatlicher Aufsicht. Das Urheberrechtswahrnehmungsgesetz von 1965 verzichtet auf ein rechtliches Monopol und lässt es im Grundsatz bei der Herrschaft des Vertragsrechts (zu dem 1958 das Kartellrecht des GWB hinzugetreten war). Da aber der Markt infolge der Monopol- oder marktbeherrschenden Stellung der Verwertungsgesellschaften als Kontrollmechanismus weitgehend ausfällt, werden diese sowohl den Rechteinhabern wie auch den Nutzern gegenüber einem Kontrahierungszwang und einer Inhaltskontrolle unterworfen. Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts hingegen, ebenso wie etwa in den USA, regiert (bislang) weitgehend das Kartellrecht.139

136

Dazu M.M. Schmidt, Die Anfänge der musikalischen Tantiemenbewegung in Deutschland (2005). 137 Zu den ökonomischen Funktionen von Verwertungsgesellschaften Mestmäcker, Collecting Societies in Law and Economics, in: ders. (Hrsg.), Wirtschaft und Verfassung in der Europäischen Union. Beiträge zu Recht, Theorie und Politik der europäischen Integration. (2006), S. 709 ff., auch abgedruckt in: Riesenhuber (Hrsg.), Ernst-Joachim Mestmäcker – Beiträge zum Urheberrecht (2006), S. 407 ff.; Hansen/Schmidt-Bischoffshausen, Ökonomische Funktionen von Verwertungsgesellschaften – Kollektive Wahrnehmung im Lichte von Transaktionskosten- und Informationsökonomik, GRUR Int 2007, 461 ff. 138 Riesenhuber/Rosenkranz, Das deutsche Wahrnehmungsrecht 1903-1933 – Ein Streifzug durch Rechtsprechung und Literatur –, UFITA 2005/II, 467 ff. 139 S. nur Wünschmann, Die kollektive Verwertung von Urheber- und Leistungsschutzrechten nach europäischem Wettbewerbsrecht (2000); B.C. Goldmann, Die kollektive Wahrnehmung musikalischer Rechte in den USA und in Deutschland – Eine vergleichende Studie zu Recht und Praxis der Verwertungsgesellschaften (2001); s.a. Riesenhuber, Die Auslegung und Kontrolle des Wahrnehmungsvertrags (2004) m.w.N.

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4. Governance durch Vertrag a) Allgemein Bei der Governance durch Vertrag schließlich geht es um die Vereinbarung eines Ordnungsrahmens durch Private. Die Parteien schaffen den privatrechtlichen Ordnungsrahmen für ihre (Vertrags-)Beziehung selbständig. Das hat besonders bei Vertragsverbindungen in der Nähe einer Organisationsstruktur Bedeutung, vor allem bei längerfristigen und auch bei mehrseitigen Verbindungen (Netzverträge). Unsicherheit und Komplexität sind hier erheblich größer als bei einfachen Austauschverträgen und erfordern meist maßgeschneiderte Mechanismen.140 Contract Governance in diesem Sinne steht der Corporate Governance sehr nahe.141 Dass mit der Governance durch Vertrag eine Selbstbindung und Selbststeuerung unter dem Aspekt der Governance erörtert wird, ist keineswegs ungewöhnlich, wird doch die kooperative Steuerung im Gegensatz zur hierarchischen Steuerung gerade als das Kennzeichen der Governance angesehen.142 b) Privatautonome Ergänzung des Ordnungsrahmens Ausgangspunkt ist auch hier das Vertragsrecht als ein Ordnungsrahmen. Bleiben wir beim Beispiel des Dauerschuldverhältnisses, so sind hier grundlegende Mechanismen der Governance schon gesetzlich angelegt. Zum Beispiel kann man das arbeitsrechtliche Direktionsrecht nehmen, das die Rechtsprechung „zum wesentlichen Inhalt eines jeden Arbeitsverhältnisses“ rechnet143 und das auch in § 106 GewO normiert ist144. Für Dauerschuldverhältnisse ist das Recht zur Kündigung aus wichtigem Grund jetzt in 140

Grundmann (Fn. 4), Rn. 439; ders., Vertragsnetz und Wegfall der Geschäftsgrundlage, in: Festschrift für H.P. Westermann (2008), S. 227 ff. 141 Zu Parallelen (und Unterschieden): Grundmann, Die Dogmatik der Vertragsnetze, AcP 207 (2007), 718, 727 f.; ders., FS H.P. Westermann (2008), S. 227 f. et passim. Vgl. auch: Teubner, Das Recht hybrider Netzwerke, ZHR 165 (2001), 550 ff., markanter unter dem englischen Titel: Hybrid Laws – Constitutionalizing Private Governance Networks, in: Kagan/Winston (Hrsg.), Legality and Community (2002), S. 311 ff.; außerdem: Cafaggi (Hrsg.), Corporate Governance, Networks e Innovazione (2005). 142 Vgl. Mayntz (Fn. 6), S. 15 f. 143 BAG, NZA 1992, 795, 796 f.; Zöllner/Loritz/Hergenröder (Fn. 66), § 6 I 8 (S. 62 f.). 144 Dazu Wank in: Tettinger/Wank, Gewerbeordnung (7. Aufl. 2004), § 106 GewO Rn. 1 ff.

36 § 314 BGB normiert. Und in äußersten Fällen nachträglicher Änderungen greift der Tatbestand der Störung der Geschäftsgrundlage Platz (§ 313 BGB), der nach h.M. ein gerichtliches Anpassungsrecht begründet,145 nach a.A. aber auch eine Neuverhandlungspflicht enthält.146 Diesen gesetzlichen Ordnungsrahmen können die Parteien durch Regelungen im Vertrag selbst ergänzen. So können einseitige Bestimmungsrechte ebenso vereinbart werden wie etwa die vertragliche Verpflichtung zu (Neu-)Verhandlungen (näher sogleich, c)). Funktional liegt die Parallele zwischen vertraglich vereinbarten und gesetzlich normierten GovernanceInstrumenten auf der Hand. Soweit die gesetzlichen Mechanismen dispositiv ausgestaltet sind, sind sie überdies vertraglicher Gestaltung zumindest zugänglich. Governance durch Vertrag und Governance durch (dispositives!) Vertragsrecht erscheinen unter diesem Blickwinkel beliebig austauschbar. In der Sache liegt der Unterschied allerdings wiederum in der Steuerungswirkung dispositiver Vorgaben.147 Unterschiedlich ist jedoch auch die Reichweite, weil Governance durch Vertrag grundsätzlich nur in bestehenden Vertragsbeziehungen Wirkung entfaltet, nicht bereits bei Neuverhandlungen. Privatautonomie und Marktkräfte können der Governance durch Vertrag allerdings weit über das konkrete Vertragsverhältnis hinaus zu signifikanter Wirkkraft verhelfen: Beispielsweise bestimmen Rahmenverträge auch den Gang der Verhandlungen über die nachgelagerten Einzelverträge;148 vertragliche Selbstverpflichtungen können Dritte (etwa diskriminierte Bewerber; s. das Beispiel oben 3.b) a.E.) begünstigen und, soweit sie etwa durch Zertifizierung institutionalisiert sind, sogar Mitbewerber zu gleichgerichtetem Verhalten veranlassen.149

145

Münchener Kommentar-G.H. Roth, BGB (5. Aufl. 2007), § 313 Rn. 79 ff., 93; insbesondere für Vertragsnetze: Grundmann, FS H. P. Westermann (2008), S. 227, 236 ff. 146 Palandt-Grüneberg, BGB (67. Aufl. 2008), § 313 Rn. 41; Eidenmüller, Der Spinnerei-Fall: Die Lehre von der Geschäftsgrundlage nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts und im Lichte der Schuldrechtsmodernisierung, JURA 2001, 824, 829 f.; ders., Neuverhandlungspflichten bei Wegfall der Geschäftsgrundlage, ZIP 1995, 1063 ff.; Riesenhuber, Vertragsanpassung wegen Geschäftsgrundlagenstörung – Dogmatik, Gestaltung und Vergleich, BB 2004, 2697 ff. 147 S. die Nachweise oben, Fn. 118. 148 Zu diesen monographisch: von der Crone, Rahmenverträge: Vertragsrecht – Systemtheorie – Ökonomie (1993); für Beispiele aus der Kautelarpraxis vgl. außerdem Gass/Lange, Rahmenverträge für moderne Produktionsformen – Einführung und Gestaltung (1999). 149 Nachweise oben, Fn. 116.

37 c) Gestaltungsinstrumente Auf dieser Grundlage ist weiter Raum für eine vertragliche Gestaltung der Governance im Hinblick auf die besonderen Interessen der Parteien.150 Dabei können vertragliche Governance-Strukturen besonders im Hinblick auf (im Einzelnen) unvorhersehbare Änderungen oder als Anreizmechanismen zur Förderung des Vertragszwecks eine Rolle spielen. Gerade für Dauerschuldverhältnisse spielen Instrumente zur Anpassung an veränderte Umstände eine Rolle. Zum Beispiel kann man an die Beendigung durch auflösende Bedingung, Befristung oder ein vereinbartes Kündigungsrecht denken. Damit vereinbaren die Parteien den Rekurs auf den Markt. Mit einer Anpassungsvereinbarung erhalten die Parteien ihre Vertragsbeziehung. Hier kommt eine automatische Anpassung wie bei der Staffel- oder Indexmiete in Betracht,151 ebenso wie das Anpassungsrecht einer Partei oder eines Dritten. Eine erhebliche praktische Rolle haben vertragliche Neuverhandlungspflichten,152 z. B. in Energielieferungs-,153 Darlehens-154 oder Vertragshändlerverträgen.155 Solche Pflichten lassen sich durch die Strukturierung des bevorstehenden Verhandlungsprozess ergänzen.156 Beispielsweise können die Parteien vereinbaren, Sachverständigengutachten oder Marktpreise zur Grundlage der Neuverhandlung zu machen, oder sie können sich verschiedenerlei Rücksichtnahmepflichten

150 Zur Vertragsgestaltung etwa Ritterhaus/Teichmann, Anwaltliche Vertragsgestaltung (2. Aufl. 2003). 151 §§ 557 ff. BGB; dazu Emmerich/Sonnenschein-Weitemeyer, Miete Handkommentar (9. Aufl. 2007), § 557a Rn. 1, § 557b Rn. 1. 152 Dazu vor allem Nelle, Neuverhandlungspflichten – Neuverhandlungen zur Vertragsanpassung und Vertragsergänzung als Gegenstand von Pflichten und Obliegenheiten (1994); Eidenmüller, ZIP 1995, 1063 ff.; Horn, Neuverhandlungspflicht, AcP 181 (1981), 255 ff. 153 J. Baur, Vertragliche Anpassungsregeln (1983), S. 30 ff.; Harms, Zur

Anwendung von Revisionsklauseln in langfristigen Energielieferungsverträgen, DB 1983, 322 ff. 154 Canaris, Nichtabnahmeentschädigung und Vorfälligkeitsvergütung bei Darlehen mit fester Laufzeit, in: Hadding/Hopt/Schimansky (Hrsg.), Vorzeitige Beendigung von Finanzierungen – Rating von Unternehmen (Bankrechtstag 1996) (1997), S. 3, 41 (Fn. 67: „fruchtbare Bereicherung des privatrechtlichen Instrumentariums“); Nelle (Fn. 152), S. 53-56 m.w.N. 155 Horn, Vertragsbindung unter veränderten Umständen – Zur Wirksamkeit von Anpassungsregeln in langfristigen Verträgen, NJW 1985, 1118, 1122; Nelle (Fn. 152), S. 52 m.w.N. 156 Ausführlich: Bachmann (Fn. 33), S. 393-402.

38 für solche Verhandlungen auferlegen (z. B. Exklusivitätsvereinbarungen).157 Schließlich kann man aber auch eine vertragliche Risikoverteilung, die insbesondere für die Beurteilung der Geschäftsgrundlagenstörung von Bedeutung ist (§ 313 Abs. 1 BGB), als Governance-Regelung verstehen. Im Hinblick auf die Anreizstruktur sind Zielvereinbarungen als Instrument der Governance durch Vertrag von besonderem Interesse, wie sie vor allem im Arbeitsrecht vorkommen,158 aber auch in anderen Bereichen, z. B. als Prämie für die Baukostenunterschreitung beim Architektenvertrag.159 Setzen Zielvereinbarungen einen positiven Verhaltensanreiz, so bedeuten umgekehrt Vertragsstrafevereinbarungen oder Haftungsregeln einen negativen Anreiz. d) Methoden der Strukturierung und Untersuchung Für die Gestaltung des Ordnungsrahmens haben die Parteien in vielen Fällen besondere Kenntnis oder Erfahrung oder auch ein Gespür. Die Praxis liefert deshalb zahlreiche Beispiele für die unterschiedlichen Governance-Instrumente. Sie illustriert zugleich den fließenden Übergang von Corporate Governance zu Contract Governance: Die Erkenntnis, dass Grenzen von Unternehmen keineswegs nur starr verlaufen, bildet den Ausgangspunkt einer zentralen betriebswirtschaftlichen Optimierungsaufgabe, nämlich der Entscheidung über die Auslagerung unternehmerischer Funktionsbereiche (outsourcing). Es geht dabei um nichts anderes als die Wahl zwischen unternehmerischen und vertraglichen Strukturen. Diese Wahlentscheidung gewinnt als Folge der Informationstechnologie noch zusätzlich an Bedeutung. Treffend sprechen Betriebswirte deshalb bereits von der „grenzenlosen Unternehmung“.160 Governance des Vertrages ist indes nicht nur eine Frage der (Vertrags-) Praxis, sondern auch der wissenschaftlichen Analyse zugänglich, für die wiederum die ökonomische Theorie und die Verhaltensökonomik in besonderer Weise fruchtbar gemacht werden können. Zum Beispiel kann 157 Zur Strukturierung vgl. auch noch die Hinweise auf Konfliktlösungsklauseln sowie Beendigungs- und Exit-Regeln (z. B. Russian Roulette-Mechanismen und Texan Shoot Out-Klauseln) bei Winkler, in diesem Band, II.2.c) und d) (S. 60 ff.). 158 Dazu nur Riesenhuber/v. Steinau-Steinrück, Zielvereinbarungen, NZA 2005, 785 ff.; Erfurter Kommentar-Preis, Arbeitsrecht (8. Aufl. 2008), § 611 BGB Rn. 504 f. Aus der Management-Theorie Drucker, The Essential Drucker (2001), S. 112 ff. („Management by Objectives and Self-Control“). 159 Vgl. § 5 Abs. 4a HOAI. 160 Picot/Reichwald/Wigand (Hrsg.), Die Grenzenlose Unternehmung – Information, Organisation und Management (5. Aufl. 2003).

39 man an die Governance-Strukturen für den Fall nachträglicher Änderung der Umstände bei langfristigen Verträgen denken. Hier stellt sich oftmals das Problem spezifischer Investitionen, die sich ausschließlich in einer einzigen Vertragsbeziehung „rechnen“.161 Ex ante werden die betreffenden Parteien bei den Vertragsverhandlungen versuchen, die exit-Möglichkeit ihres Vertragspartner möglichst auszuschließen, was in der Regel andere, interne Governance-Mechanismen erfordert (etwa Anpassungsvereinbarungen) und den Wettbewerb ein Stück weit beschränkt. Dieser Effekt verstärkt sich zusätzlich, weil Menschen dazu neigen, sunk costs, die mit solchen Investitionen verbundenen sind, ex post systematisch überzubewerten, sich also selbst dann nicht vom Vertrag zu lösen, wenn dies ökonomisch rational wäre.162 Auch für die Gestaltung von Zielvereinbarungen kann die Verhaltensökonomik nützliche Einsichten liefern. Sie zeigt beispielsweise, dass wir auf Grund so genannter Besitzeffekte (endowment effects) Verluste stärker fürchten, als wir uns über Gewinne freuen, und dass deshalb negative Anreize unter Umständen stärker wirken als positive.163 Der Effekt von Zielvereinbarungen kann beispielsweise verpuffen, wenn die Sorge vor drohenden Haftungsrisiken stärker wiegt als der Anreiz einer in Aussicht gestellten Prämie. Umgekehrt können im Hinblick auf Besitzeffekte Malusregelungen (bis hin zur Vertragsstrafe) eine besonders starke Steuerungswirkung entfalten und daher für bestimmte Fälle einer Bonusregelung vorzuziehen sein.

161 Grundlegend Coase, The Nature of the Firm, Economica 4 (1937), 386 ff.; vgl. außerdem: Williamson, J.L. & Econ. 22 (1979) 233, 240; ders., The Economic Institutions of Capitalism (1985), S. 32-34, 60-62 et passim; überblicksweise Eidenmüller, JZ 2001, 1041, 1042. 162 Vgl. vor allem Jolls/Sunstein/Thaler, 50 (1998) Stan.L.Rev. 1471, 1482f., 1492f.; überblicksweise Eidenmüller, JZ 2005, 216, 219. 163 Thaler, J. of Econ. Behav. & Org. 1 (1980), 39, 44; Kahneman/Knetsch/ Thaler, J. of Econ. Persp. 5 (1991), 193, 194 ff.; rezipiert wiederum von Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218. Eine hübsche praktische Illustration bietet die von Ayres, Karlan und Goldberg ins Leben gerufen „StickK“-Initiative; s. www. stickk.com (abgerufen am 8.5.2008); dazu Mattauch, Abnehmen oder Zahlen, Handelsblatt v. 18.3.2008, zugänglich unter www.handelsblatt.com/News/default. aspx?_p=302030&_t=ft&_b=1404767 (abgerufen am 8.5.2008).

40

III. Zum Potential der Contract Governance: Ein Zwischenfazit Ziel dieses Beitrags war lediglich, das potentielle Forschungsfeld der Contract Governance überblicksweise zu skizzieren. Am Ende stehen deshalb keine Forschungsergebnisse, sondern die Frage, ob die Forschungsperspektive der Contract Governance neue Ergebnisse verspricht – oder es sich nur um „alten Wein in neuen Schläuchen“ handelt. Aus Sicht der Governance-Forschung erscheint Contract Governance als wichtige, vielleicht sogar notwendige Ergänzung zur Corporate Governance. Schuld- und Organisationsvertrag sind zwar grundlegend unterschiedliche, zur Erreichung bestimmter Ziele aber oft alternativ geeignete Mechanismen. Diese Überlegung bildet den Ausgangspunkt der Governance-Forschung und ein zentrales Entscheidungsproblem der Betriebswirtschaftslehre. Es erstaunt deshalb, dass sich die Governance-Forschung bisher auf nur eine Hälfte des Instrumentariums konzentriert, statt namentlich die funktional vergleichbaren Netz- und Langzeitverträge mit in den Blick zu nehmen. Bei einfachen Austauschverträgen ist zwar innerhalb der Vertragsbeziehung viel weniger (hierarchische) Koordination erforderlich und stattdessen der Marktmechanismus das wichtigste Governance-Instrument. Er bedarf jedoch seinerseits einer Rahmenordnung, die Marktergebnisse beeinflussen kann und einer Governance-Analyse zugänglich ist. Für die Vertragsrechtswissenschaft verbreitert die Governance-Perspektive vor allem den Blickwinkel. Mehr Aufmerksamkeit gilt etwa den praktischen Auswirkungen von Verträgen und Vertragsrecht. Weil nicht nur das vertragliche Innenverhältnis, sondern auch externe Marktkräfte (Ausweichmöglichkeiten) für die Governance-Struktur relevant sind, werden zudem Vertrags- und Wettbewerbsrecht stärker miteinander verknüpft. Weiterhin lenkt Governance, insoweit in der Tradition Eugen Ehrlichs und der Freirechtsschule, den Blick über das positive Recht hinaus auf andere Anreiz- und Steuerungsmechanismen. Das mag besonders die Untersuchung der gegenwärtig zu beobachtenden „Privatisierung des Rechts“ erleichtern.164 Nicht zuletzt dürfte die Governance-Perspektive auch im Vertragsrecht internationale, vor allem aber interdisziplinäre Forschung erleichtern, wie sie angesichts der Europäisierung und Globalisierung des Vertragsrechts besonders dringend angezeigt erscheint. Am wichtigsten ist aber vielleicht, dass Contract Governance viel zu einer folgenorientierten Rechtssetzungslehre beizutragen verspricht. Rechtswissenschaft gewinnt nicht zuletzt im Vorfeld eines Europäischen

164

Nachweis oben, Fn. 5.

41 Vertragsrechtskodex als Rechtssetzungswissenschaft so sehr an Bedeutung, dass bereits vom „Paradigmenwechsel“ die Rede ist.165 Durch Berücksichtigung von Anreizen und Verhaltensmustern mag die Governance-Forschung dazu beitragen, dass die Vertragsrechtswissenschaft mehr über bekannte, bislang jedoch meist intuitiv, mitunter auch naiv verwendete Steuerungsmechanismen erfährt und dadurch bei der Rechtssetzung beispielsweise kontraintentionale Effekte zu vermeiden sucht. Die Governance-Perspektive öffnet den Blick für „sanfte“ Steuerungsinstrumente und für Mechanismen der Selbststeuerung (Governance durch Vertrag). Als Steuerungslehre kann sie dadurch freiheitserhaltend wirken und dazu beitragen, staatliche Regeln „less intrusive“ zu machen.166 Allein schon in dieser Hinsicht, so scheint uns, verspricht Contract Governance viel – auch viel Neues.

165 166

In diesem Sinne Eidenmüller, JZ 1999, 53 ff. Nachweis oben, Fn. 90.

42

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Private Ordering: Harmonisierung des Unternehmensvertragsrechts ohne Europäischen Regelgeber? – Eine Analyse am Beispiel von Joint Venture-Verträgen – Nina Winkler Übersicht I.

Europäischer Rechtsrahmen und Unternehmensvertragspraxis . . 1. Europäisches Schuldvertragsrecht und zweiseitige Unternehmensgeschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entwicklungen in der Praxis der Unternehmensverträge . . . 3. Privatisierung des Unternehmensvertragsrechts? . . . . . . . . . II. Joint Venture-Verträge im Spiegel der Diskussion . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung und rechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff, Bedeutung und Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Joint Ventures im Europäischen Schuldvertragsrecht . . . 2. Typische Vertragsmerkmale und Klauseln . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Geheimhaltungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konfliktlösungsklauseln/Deadlock Devices . . . . . . . . . . d) Beendigung und Exit-Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Schiedsgerichtsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f ) Rechtswahlklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44 44 45 49 52 52 52 55 57 57 58 60 61 64 65 67

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I. Europäischer Rechtsrahmen und Unternehmensvertragspraxis 1. Europäisches Schuldvertragsrecht und zweiseitige Unternehmensgeschäfte Das Europäische Schuldvertragsrecht steht im Verdacht, sich zunehmend zu einem reinen Verbrauchervertragsrecht zu entwickeln. Wo noch vor zehn Jahren eine funktionale Begriffsbestimmung überzeugte, die nicht auf die Beteiligung eines Verbrauchers, sondern auf den vom Europäischen Regelgeber bereit gestellten Gestaltungsrahmen für die Vertragsparteien abstellte,1 dominiert der Verbraucherschutz heute klar die rechtspolitische Diskussion. Die Tendenz, das Recht der zweiseitigen Unternehmensgeschäfte von den induzierten Harmonisierungsbemühungen auszunehmen, manifestiert sich aktuell in der praktischen Beschränkung des Arbeitsauftrages zum Gemeinsamen Referenzrahmen zur Verbesserung des geltenden und künftigen gemeinschaftlichen Vertragsrechts auf Fragen des Verbraucherrechts. Bezeichnend ist insoweit, dass die Europäische Kommission Informationen über den Gemeinsamen Referenzrahmen auf ihrer Internetpräsenz unter dem Stichwort „Verbraucherfragen“ ansiedelt und keine Rede (mehr) davon ist, dem wirtschaftenden Unternehmer ein attraktives Vertragsmodell für den bunten Strauß grenzüberschreitender Transaktionen zur Verfügung zu stellen.2 Das ursprüngliche Ziel der Kommission, mit dem Referenzrahmen in letzter Instanz ein optionales Instrument des europäischen Vertragsrechts für alle Wirtschaftspartner in der EU zu schaffen, ist auf diese Weise wohl kaum mehr realisierbar.3 Die Gründe für die untergeordnete Rolle der zweiseitigen Unternehmensgeschäfte in der Diskussion um ein Europäisches Vertragsrecht sind vielgestaltig. Zunächst ist anzuerkennen, dass vor dem Hintergrund der grundsätzlich liberalen Wirtschaftsverfassung der Gemeinschaft für die Bereiche, in denen Drittinteressen oder strukturell bedingtes Verhandlungsungleichgewicht fehlen, kein expliziter Regelungsauftrag für den 1 Grundlegend zum Begriffsverständnis und zur Systembildung im Europäischen Schuldvertragsrecht Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht (1999). 2 www.ec.europa.eu/consumers/cons_int/safe_shop/fair_bus_pract/cont_law/ index_de.htm (abgerufen am 8.5.2008). 3 Vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat vom 11.10.2004, KOM(2004) 651 endg., Abschnitt 2.1.1; dazu etwa Grundmann, Europäisches Vertragsrecht – Quo vadis?, JZ 2005, 860 ff., der ebenfalls für die Einbeziehung auch des Handelsvertrags in ein Europäisches Vertragsrecht plädiert.

45 Europäischen Regelgeber besteht.4 Zudem mag wegen der in der Praxis zurückhaltenden Aufnahme des rechtspolitisch gelungenen UN-Kaufrechts in den beteiligten Kreisen Skepsis bestehen, inwieweit optional europäische Vertragsrechtsinstrumente für zweiseitige Unternehmensgeschäfte tatsächlich von der Mehrheit der Unternehmen gewünscht werden.5 Auf der anderen Seite steht freilich der in Lissabon formulierte Anspruch der EU, den europäischen Wirtschaftraum bis 2010 zum dynamischsten der Welt auszubauen.6 Das setzt insbesondere voraus, Wettbewerbsvorteile gegenüber den USA hervorzubringen. Solange den grenzüberschreitend tätigen Unternehmen im europäischen Wirtschaftsverkehr weiterhin eine unüberschaubare Vielfalt von Vertragsrechten begegnet, könnte der Gemeinsame Markt der Europäischen Union diesbezüglich im Hintertreffen bleiben: Nicht ganz zu Unrecht kritisieren Unternehmen die häufig prohibitiv hohen Kosten dieser Rechtsvielfalt, die in Form anwaltlicher Beratungshonorare insbesondere für kleinere und mittlere Unternehmen zu einem tatsächlichen Hindernis für die Entfaltung wirtschaftlicher Aktivität im Binnenmarkt werden können.7

2. Entwicklungen in der Praxis der Unternehmensverträge Während der Europäische Regelgeber also im Bereich der Verträge zwischen Unternehmen und Verbrauchern die Rechtsvereinheitlichung in Europa vorantreibt, lässt sich dasselbe für Verträge zwischen Unter4

Grundmann (Fn. 1), § 1 Rn. 40; vgl. auch die liberale Grundtendenz des Europäischen Vertragsrechtsübereinkommens (EVÜ), Grundmann, JZ 2005, 860, 862. 5 Zur (zurückhaltenden) Resonanz auf das CISG etwa Meyer, UN-Kaufrecht in der deutschen Anwaltspraxis, RabelsZ 69 (2005), 457 ff.; zu den Ursachen Grundmann, JZ 2005, 860, 868. In einer Umfrage unter europäischen Unternehmen von 2005 befürworteten zwar 83% der Befragten grundsätzlich weitere Maßnahmen des Europäischen Regelgebers, aber nur 28% hiervon plädierten für ein optionales europäisches Vertragsrecht, vgl. Vogenauer/Weatherhill, Eine empirische Untersuchung zur Angleichung des Vertragsrechts in der EG, JZ 2005, 870, 876 f. 6 Erklärung des Europäischen Rates auf dem EU-Gipfel in Lissabon im März 2000, bekannt geworden als so genannte „Lissabon-Strategie“, www.europa.eu/ scadplus/glossary/lisbon_strategy_de.htm. 7 Zuletzt Brödermann, Betrachtungen zur Arbeit am Common Frame of Reference aus der Sicht eines Stakeholders: Der weite Weg zu einem europäischen Vertragsrecht, ZEuP 2007, 304, 309; vgl. auch die entsprechenden Umfrageergebnisse bei Vogenauer/Weatherhill, JZ 2005, 870, 876; ferner KOM(2001) 398 endg., ABl. 2001 C 255/1, Ziff. 30.

46 nehmen nicht behaupten. Der dominierende Einfluss auf die Praxis der Unternehmensverträge in der EU scheint nicht genuin europäischer, sondern in Teilbereichen vielmehr angloamerikanischer Natur zu sein.8 Dieser Eindruck ergibt sich zunächst durch einen unbefangenen Blick auf die Vielzahl neuer Vertragstypen US-amerikanischer Herkunft, die in die Rechtswirklichkeit Kontinentaleuropas Eingang gefunden haben – Franchising, Leasing, Factoring, Pool-, Turnkey-, Just-in-time- und Joint Venture-Verträge sind nur einige davon. Aber nicht nur an den Vertragstypen, sondern vor allem an den Vertragsstrukturen zeigt sich heute der angloamerikanische Einfluss: Verträge zwischen Unternehmen werden zunehmend mit dem Anspruch gestaltet, das gesamte Rechtsverhältnis der Parteien umfassend zu regeln. Während die Vertragstechnik in civil law-Rechtsordnungen wie Deutschland früher von Kürze und Prägnanz gekennzeichnet war, verbreitet sich heute die angelsächsische Methode äußerst detaillierter Klauseln und dementsprechend umfangreicherer Verträge.9 Diese „Angloamerikanisierung“ der kontinentaleuropäischen Unternehmensvertragspraxis findet ihre Ursachen in der großen ökonomischen Bedeutung der USA und Englands in den globalisierten (Finanz-)Märkten – gepaart mit speziellen Eigenheiten der Rechtssysteme des common law. Ein entscheidender Faktor der Entwicklung ist zunächst der typischerweise besonders große Anteil US-amerikanischer und britischer Unternehmen unter den ausländischen Vertragspartnern zweiseitiger Unternehmensverträge. Hinzu tritt die Tatsache, dass größere Transaktionen häufig unter 8

Merkt, Angloamerikanisierung und Privatisierung der Vertragspraxis versus Europäisches Vertragsrecht, ZHR 171 (2007), 490 ff.; v. Westphalen, Wieviel Einheitlichkeit braucht das Recht? – Einige Vorüberlegungen zu den Arbeiten am Gemeinsamen Referenzrahmen für ein Einheitliches Europäisches Vertragsrecht, AnwBl 2005, 21 ff.; speziell für Finanzierungsverträge v. Heydebreck, Bedeutung anglo-amerikanischer Vertragswerke für die Kreditwirtschaft, WM 1999, 1760; Wittig, Representations and Warranties – Vertragliche Tatsachenbehauptung in der anglo-amerikanischen Kreditdokumentation, WM 1999, 985 ff.; ders., Financial Covenants im inländischen Kreditgeschäft, WM 1996, 1381 ff.; für Unternehmenskaufverträge Triebel, Anglo-amerikanischer Einfluss auf Unternehmenskaufverträge in Deutschland – eine Gefahr für die Rechtsklarheit?, RIW 1998, 1 ff. 9 Allgemein Hellwig, Zum Einfluss der Globalisierung auf das Recht und auf das Verhalten von Beratern und Organen von Unternehmen, in: Festschrift für Horn (2006), S. 377, 378; Lundmark, Common law-Vereinbarungen – Wortreiche Verträge, RIW 2001, 187 ff.; speziell für Vertikalverträge Döser, Anglo-amerikanische Vertragsstrukturen in deutschen Vertriebs-, Lizenz- und sonstigen Vertikalverträgen, NJW 2000, 1451, 1452; für Unternehmenskaufverträge Triebel, RIW 1998, 1, 4 f.; für Kreditverträge Wittig, WM 1999, 985 ff.

47 dem Einfluss der internationalen Kapitalmärkte stehen und damit, auch wenn die Vertragsparteien selbst nicht angloamerikanisch sind, dennoch in aller Regel unter Beteiligung amerikanischer und englischen Banken und deren Rechtsberatern vollzogen werden.10 Nicht unwesentlich ist auch der Umstand, dass die derzeit größten international tätigen Wirtschaftskanzleien in Europa unter englischer oder amerikanischer Leitung stehen.11 Quasi komplementär dazu ist zu beobachten, dass in den vergangenen Jahren immer mehr kontinentaleuropäische Juristen an englischen und US-amerikanischen Universitäten ausgebildet wurden, was die Offenheit der Rechtsanwaltschaft zur Adoption angelsächsischer Vertragstechniken weiter fördert.12 Zumindest in den europäischen Zentren und in den größeren Wirtschaftskanzleien lässt sich daher eine zunehmende angloamerikanische Prägung in Erscheinungsbild und Denken der kontinentaleuropäischen Anwaltschaft feststellen.13 Dabei ist natürlich auch die bis dato unangefochtene Bedeutung der englischen Sprache als lingua franca des internationalen Wirtschaftsverkehrs von nicht zu unterschätzender Bedeutung.14 Zu diesen eher wirtschaftlich begründeten Ursachen der Angloamerikanisierung der Vertragspraxis gesellen sich spezielle Eigenheiten des angloamerikanischen common law, die dieses System im internationalen Rechtsverkehr besonders praktikabel machen. In Ermangelung eines stützenden Korsetts wie beispielsweise eines dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch vergleichbaren code musste sich die angloamerikanische 10 So für Unternehmenskaufverträge Triebel, RIW 1998, 1, 4 f.; für Finanzierungsverträge Wittig, WM 1998, 1 ff. 11 Hellwig, FS Horn (2006), S. 377, 379; Wittig, RIW 1998, 1, 6; v. Westphalen, Von den Vorzügen des deutschen Rechts gegenüber anglo-amerikanischen Vertragsmustern, ZVglRWiss 2003, 53, 72 f. Eine Aufstellung des englischen Magazins The Lawyer für das Jahr 2005 zeigt, dass 21 der 25 größten Kanzleien in Europa britisch oder US-amerikanisch sind. Insbesondere am Standort Frankfurt lässt sich derzeit gut beobachten, wie zahlreiche weitere große US-Kanzleien auf den deutschen Anwaltsmarkt drängen. 12 Sei es während oder auch nach dem deutschen Studium, etwa im Rahmen eines LL.M.-Programms; vgl. hierzu Merkt, ZHR 171 (2007), 490, 504; Triebel, RIW 1998, 1, 2; grundsätzlich zur Bedeutung der Juristenausbildung für die Rechtsvereinheitlichung Flessner, Rechtsvereinheitlichung durch Rechtswissenschaft und Juristenausbildung, RabelsZ 56 (1992), 243 ff. 13 Hellwig, FS Horn (2006), S. 377, 379. 14 Dies führt dazu, dass mittlerweile auch Verträge zwischen Unternehmen aus zwei nicht englischsprachigen Ländern oft in Englisch abgefasst werden, bei Hellwig, FS Horn (2006), S. 377, 378 f.; Triebel, RIW 1998 1, 2 f.; kritisch v. Westphalen, AnwBl 2005, 21, 22; ders., ZVglRWiss 2003, 53, 69 f.

48 Vertragspraxis zunächst autonom entwickeln.15 Typischerweise sind angloamerikanische Verträge deswegen sehr detailliert und enthalten in der Regel sogar ausführliche Definitionskataloge der verwendeten Rechtsbegriffe. Aber auch in Bereichen, in denen mittlerweile Vertragsgesetze ergangen sind, verzichten die Vertragsgestalter nicht auf eine Wiederholung des Gesetzestextes im Vertrag (sog. boilerplate Vertragsklauseln). Der Grund dafür liegt darin, dass Privatrechte in den USA im Wesentlichen auf Ebene der Einzelstaaten erlassen und gerichtlich durchgesetzt werden, so dass Mandanten und Anwälte über den Inhalt des per Rechtswahlklausel anwendbaren einzelstaatlichen Rechts informiert werden sollen.16 Aber auch wo Gesetzesrecht existiert, herrscht keine normierte vertragsrechtliche Dogmatik im Sinne des Allgemeinen Teils des deutschen BGB. Die Verträge müssen insoweit auch in Bezug auf allgemeine Fragestellungen prinzipiell vollständig aus sich selbst heraus erklärend und ausführbar sein. Umgesetzt wird damit der Grundsatz „the contract is the law“, wobei die Parteien bewusst darauf achten, einem potentiellen Richter möglichst wenig Auslegungsspielraum zu geben.17 Diese Eigenheiten machen es auch dem nicht in US-amerikanischem Recht geschulten Juristen möglich, die entsprechenden Verträge und Rechtsfiguren zu verstehen und anzuwenden.18 Jedenfalls lässt sich argumentieren, dass ein civil lawyer leichter hergebrachte Denk- und Gestaltungsweisen der angloamerikanischen Vertragspraxis in einen zivilrechtlichen Kontext übertragen kann als ein

15 Merkt, ZHR 171 (2007), 490, 499. Zwar gibt es sowohl in den USA als auch in England vertragsrechtliche Gesetze, doch sind diese eher Kompilationen des richterlichen Fallrechts, Triebel, RIW 1998, 1, 4. Bedeutender ist insoweit – zumindest für transactions in goods – in den USA der Uniform Commercial Code (UCC), ein Musterregelwerk des Handelsrechts, das von fast allen US-Bundesstaaten seit Ende der fünfziger Jahre mehr oder weniger identisch in Gesetzesrecht umgesetzt wurde, abrufbar etwa unter www.law.cornell.edu/ucc/ucc.table.html (abgerufen am 8.5.2008). 16 Dabei ist es kein Widerspruch, dass das Vertragsrecht der meisten Einzelstaaten praktisch identisch ist: Es wäre im Gegenteil für den beteiligten Rechtsanwalt ungleich mühsamer, fremdes Vertragsrecht im Detail auf Abweichungen vom heimatlichen Recht zu untersuchen, Lundmark, RIW 2001, 187, 189. 17 Die angloamerikanischen Auslegungsregeln sind freilich ohnehin starrer und wortgläubiger als etwa die deutschen und schließen die Heranziehung außerhalb des Vertrages liegender Umstände im Wesentlichen aus. Auch dies trägt zum Wortreichtum amerikanischer Verträge bei, Döser, NJW 2000, 1451, 1452; Triebel, RIW 1998, 1, 5; v. Westphalen, ZvglRWiss 2003, 53, 66 f. 18 v. Heydebreck, WM 1999, 1760. Dies ist gerade anders bei der Anwendung des UN-Kaufrechts, wo sich der Kaufmann zunächst mit dessen vom BGB abweichenden Bestimmungen anhand des Regelungstextes vertraut machen muss.

49 common lawyer vor dem Hintergrund eines ausgefeilten civil law-Systems gestalterische Lösungen zu entwickeln vermag.19

3. Privatisierung des Unternehmensvertragsrechts? Das geschilderte Phänomen der Angloamerikanisierung der kontinentaleuropäischen Unternehmensvertragspraxis bringt in Teilen zugleich eine Standardisierung und Angleichung der betreffenden Verträge mit sich. Besonders prominent ist diese Entwicklung im Bereich der Finanzdienstleistungsverträge, wo sich die Unternehmen bereits seit vielen Jahren mit international einheitlichen Standardklauseln und Standardverträgen ein eigenes, von den nationalen Rechtsordnungen losgelöstes „Praxisrecht“ schaffen.20 Merkt sieht die Entwicklung heute längst über den Bereich der Finanzdienstleistungen hinaus dergestalt voranschreiten, dass sich „Rechtssätze des internationalen Wirtschaftsrechts heraus[bilden], und täglich unendlich viele Lösungen für Rechtsfragen gefunden, formuliert und durchgesetzt [werden].“21 Diese Ordnung verdiene das „Prädikat der Privatisierung“, da sie weithin ohne Rückgriff auf staatliche Normgebung oder staatliche Gerichtsbarkeit auskomme.22 Die Entwicklung gehe über das Phänomen der lex mercatoria23 hinaus, da staatliches Recht nicht nur 19

Speziell für den Bereich des Unternehmenskaufs und der Finanzierungsverträge wird eine weitere Ursache für die Dominanz der angloamerikanischen Vertragspraxis in Kontinentaleuropa darin gesehen, dass die Vertragsparteien das objektive Recht im Vergleich mit dem US-amerikanischen vielfach als unzureichend und unterentwickelt empfinden, vgl. für den Unternehmenskauf Triebel, RIW 1998, 1 ff.; für Finanzierungsverträge v. Heydebreck, WM 1999, 1760. 20 v. Heydebreck, WM 1999, 1760; Wittig, WM 1996, 1381 ff.; ders., WM 1999, 985 ff. 21 Merkt, ZHR 171 (2007), 490, 508. 22 Merkt, ZHR 171 (2007), 490, 508; v. Heydebreck, WM 1999, 1760 (für Finanzdienstleistungsverträge); Mertens, Nichtlegislatorische Rechtsvereinheitlichung durch transnationales Wirtschaftsrecht und Rechtsbegriff, RabelsZ 56 (1992), 219, 226; Zumbansen, Lex mercatoria: Zum Geltungsanspruch transnationalen Rechts, RabelsZ 67 (2003), 638, 650. 23 Lex Mercatoria ist eine Sammelbezeichnung für privatautonome Regelungen des Handelsverkehrs, die separat neben der „von oben“ auferlegten Regulierung durch staatliches Recht und staatliche Gerichte bestehen. Trotz des Begriffs lex ist sie keine flächendeckende Rechtsordnung, sondern lediglich die Summe ihrer Komponenten, also insbesondere von international praktizierten Allgemeinen Geschäftsbedingungen und anderen Klauselwerken, etwa den Einheitlichen Richtlinien und Gebräuchen für Dokumentenakkreditive (ERA), die, um anwendbar zu sein, durch

50 ergänzt, sondern umfassend und vollständig im Rahmen der Herausbildung von global private governance ersetzt werde, und zudem auch vermehrt rein inländische Sachverhalte erfasse.24 Werden wir also Zeugen einer über die Vertragspraxis eingeführten Vereinheitlichung des Vertragsrechts der Unternehmen? Zur Beantwortung dieser Frage sind zwei Punkte zu überprüfen: Auf tatsächlicher Ebene, ob und inwieweit sich zweiseitige Unternehmensverträge – auch über den Bereich der Finanzierungsverträge und Unternehmenskaufverträge hinaus – nicht nur strukturell, sondern auch inhaltlich angleichen und sich durch die Entwicklung umfassender eigener Lösungen von staatlichen Rechtsordnungen lösen.25 Und auf dogmatischer Ebene, ob eine solche Entwicklung in der Vertragspraxis als Rechtsvereinheitlichung und Rechtsbildung angesehen werden kann. Zu Recht weist Grundmann darauf hin, dass die Wirklichkeit der Wirtschaftsverträge für die Vertragsrechtsdogmatik unverzichtbar ist und umgekehrt die Vision nur durch ihre dogmatische Durchdringung anwendungsfähiges Recht wird.26 Die wissenschaftlich hoch interessante Frage nach der Rechtsqualität der durch private ordering entstehenden Grundsätze kann an dieser Stelle nur kurz angerissen werden. Für ihre Beantwortung ist es aber wohl unerlässlich, sich zunächst vom engen positivistischen Begriff des Rechts zu lösen. Denn wo das Recht im Sinne eines reinen Gesetzesrechts oder als Inbegriff aller verfassungsgemäß zustande gekommenen Normen verstanden wird, ist naturgemäß kein Raum für Regeln, die nicht von einer der drei

Parteivereinbarung in den Vertrag inkorporiert werden müssen, vgl. Basedow, Lex Mercatoria und Internationales Schuldvertragsrecht, in: Festschrift für Horn (2006), S. 229, 238; differenzierender Grundmann, Lex mercatoria und Rechtsquellenlehre – insbesondere die Einheitlichen Richtlinien und Gebräuche für Dokumentakkreditive, in: Baum/Engel/Remien/Wenchstern (Hrsg.), Jahrbuch junger Zivilrechtswissenschaftler 1990 – Kapitalmarktrecht – Schadensrecht – Privatrecht und Deutsche Einheit (1991), S. 43, jeweils mit weiteren Nachweisen. 24 Merkt, ZHR 171 (2007), 490, 508 f.; Mertens, RabelsZ 56 (1992), 219, 226; sowie für Finanzdienstleistungsverträge v. Heydebreck, WM 1999, 1760. Grundlegend zum Phänomen der Privatisierung des Rechts aus der neueren Literatur Köndgen, Privatisierung des Rechts, AcP 206 (2006), 477 ff.; Michaels/ Jansen, Private Law and the State, RabelsZ 71 (2007), 345 ff.; dies., Private Law beyond the State? Europeanization, Globalization, Privatization, Am.J.Comp.L. 54 (2006), 843 ff., jeweils mit weiterführenden Nachweisen. 25 Vgl. die Analyse von Joint Venture-Verträgen unter II. (S. 52). 26 So Grundmann, Die Dogmatik der Vertragsnetze, AcP 207 (2007), 718, 765, in Bezug auf das Phänomen der Vertragsnetze.

51 Staatsgewalten gesetzt worden sind.27 Eine solche Definition schließt von Privaten durch und in Verträgen erzeugtes „privatisiertes“ Recht bereits als Möglichkeit aus. Auch ist ein rein staatsorientiertes Begriffssystem mit den Eckpunkten des staatlichen Rechts, der staatlichen Gerichtsbarkeit und des staatlichen Rechtszwangs in der heutigen europäisierten und globalisierten Rechtswirklichkeit kaum aufrechtzuerhalten. Dies zeigt schon der Blick auf die erfolgreiche Entwicklung der Wirtschaftsschiedsgerichtsbarkeit, sei es der internationalen oder auch der inländischen. Auf der anderen Seite zeigt sich die Qualität des Rechts gerade in seiner Anwendung. Die Aufgabe des Richters, die vertraglichen Regelungen durchzusetzen und ihnen zu praktischer Wirklichkeit zu verhelfen, ist insoweit eine Selbstverständlichkeit. In diesem Sinne erkennt auch die traditionellere Lehre den Vertrag als Rechtsquelle an. Freilich sollen die modernen globalen Verträge darüber insofern hinausgehen, als dass sie auch die außervertraglichen Grundlagen und Voraussetzungen künftiger Verträge schüfen und es eines Zugriffs auf „Außenrecht“ nicht mehr bedürfe.28 Dem möchte man mit Spickhoff zumindest insofern entgegentreten, als dass es wahrhaft unabhängige Verträge im Sinne von rechtsordnungslosen Verträgen schon deshalb nicht geben kann, weil bereits die Beurteilung, ob überhaupt ein Vertrag zustande gekommen ist, nur anhand des Rückgriffs auf eine bestimmte externe Rechtsordnung erfolgen kann.29 Auch berichtet Basedow, dass trotz des starken Trends zur Selbstregulierung bei der Formulierung internationaler Verträge weiterhin eine klare Präferenz für die Verknüpfung der Verträge mit einem bestehenden nationalen Rechtssystem mittels Rechtswahlklausel besteht.30 In jedem Fall müsste eine „autonome“ Vertragspraxis in ihren Verträgen nicht nur die Primärpflichten bestimmen, sondern zugleich auch das Recht der Sekundärpflichten und Leistungsstörungen. Letzteres kann durch Verweisungen erfolgen, und zwar nicht nur durch Verweisung auf Verträge der Vergangenheit, sondern auch durch Verweisung auf zukünftige Verträge als Konfliktlösungsmöglichkeiten. Daneben erfolgt eine autonome Regelung des Leistungsstörungsrechts in Teilen auch durch die Herausbildung eines genuinen „Sekundärrechts“ der grenzüberschreitenden Vertragspraxis, z. B. in Form von Schiedssprüchen und durch die Aufnahme neuer Regeln in die Kompilationen und Stan27 Köndgen, AcP 206 (2006), 477, 508 f.; Mertens, RabelsZ 56 (1992), 219, 238; Zumbansen, RabelsZ 69 (2003), 637, 649. 28 v. Heydebreck, WM 1999, 1760; Merkt, ZHR 171 (2007), 490, 508 f.; Zumbansen, RabelsZ 67 (2003), 638, 675 f. 29 Spickhoff, Internationales Handelsrecht vor Schiedsgerichten und staatlichen Gerichten, RabelsZ 56 (1992), 116, 125 f. 30 Basedow, FS Horn (2006), S. 229, 238.

52 dards internationaler Organisationen wie etwa der OECD.31 Letzteres ist wichtig: Denn eine derartige Externalisierung in Form externer Kontrolle und Formalisierung begegnet dem Risiko, dass Verfechter des private ordering in jeder Wirtschaftsvereinbarung „Recht“ erkennen und so dem Wirtschaftsverkehr eine zu weitgehende Legitimität gegenüber staatlichem Recht und staatlicher Rechtsetzungsmacht zubilligen.32

II. Joint Venture-Verträge im Spiegel der Diskussion Die Frage, inwieweit sich tatsächlich auch über den Bereich der Finanzierungs- und Unternehmenskaufverträge hinaus eine strukturelle wie inhaltliche Angleichung der beidseitigen Unternehmensverträge nach angloamerikanischem Muster und zugleich eine Loslösung von staatlichen Rechtsordnungen abzeichnet, kann nur durch die Analyse entsprechender Verträge beantwortet werden. Im Folgenden wird beispielhaft ein näherer Blick auf die Praxis der Joint Venture-Verträge geworfen.

1. Bedeutung und rechtlicher Rahmen a) Begriff, Bedeutung und Strukturen Wörtlich übersetzt bedeutet Joint Venture „gemeinsames Wagnis“, weniger prosaisch trifft es der Begriff „Gemeinschaftsunternehmen“. Stets handelt es sich um die gemeinsame Betätigung mehrerer Unternehmen in Verfolgung eines bestimmten unternehmerischen Ziels. Die Motive für Joint Ventures sind vielgestaltig und spiegeln die besondere Bedeutung dieses Rechtsinstituts wieder. So versprechen sich Unternehmen etwa die Schaffung und Nutzung von Synergien durch die Kombination von Expertise und Ressourcen bei gleichzeitiger Streuung der geschäftlichen Risiken und Kosten, die Nutzung von Skalenerträgen, die Ergänzung und Diversifizierung ihres existierenden Produkt- bzw. Serviceportfolios, sowie den Zugang

31

Zur Externalisierung durch schiedsgerichtliche Bestätigung Zumbansen, RabelsZ 67 (2003), 638, 675 f.; zum Argument der Flankierung des Privatisierungsprozesses durch internationale Organisationen siehe auch Merkt, ZHR 171 (2007), 490, 508. 32 So auch Zumbansen, RabelsZ 67 (2003), 638, 649.

53 zu neuen Technologien und Absatzmärkten.33 Beispiele für international erfolgreiche und bekannte Joint Ventures sind die Kooperationen Fujitsu Siemens Computers und Sony Ericsson Mobile Communications. Im Hinblick auf die grundsätzliche rechtliche Struktur von Joint Ventures lässt sich zwischen einem bloß vertraglichen sog. Contractual Joint Venture und einem inkorporierten34 Equity Joint Venture unterscheiden.35 Im Rahmen eines Contractual Joint Ventures schließen sich die beteiligten Partner durch schuldrechtliche Absprachen für die Durchführung eines oder mehrerer Projekte zusammen, ohne dass es zu einer rechtlichen Verselbständigung der gemeinschaftlichen Unternehmung kommt.36 Equity Joint Ventures sind demgegenüber durch das Vorhandensein einer Projektgesellschaft (Joint Venture-Gesellschaft) gekennzeichnet, die über eigene Statuten und eine eigene Geschäftsführung verfügt, und über die das der Zielverfolgung dienende operative Geschäft abgewickelt wird.37 Sie 33 Siehe die Auflistung der Vorteile inkorporierter Joint Ventures bei Hewitt, Joint Ventures (3. Aufl. 2005), Rn. 1-01 ff.; Ley/Schulte, Joint-Venture-Gesellschaften (2003), Rn. 7 f.; für internationale Joint Ventures ferner Träm/Müllers-Patel, Internationale Joint Ventures als Unternehmensstrategie der Zukunft, in: Schaumburg (Hrsg.), Internationale Joint Ventures: Management, Besteuerung, Vertragsgestaltung (1999), S. 35 ff.; Zacher, Grundlagen der Gestaltung internationaler Joint-Ventures, IStR 1997, 408, 412. 34 Wenn hier und im Folgenden zur Abgrenzung vom Contractual Joint Venture von einem „inkorporierten“ Joint Venture gesprochen wird, so ist stets die Joint Venture-Gesellschaft gemeint, die freilich nach deutschem Recht häufig auch in der Form einer GmbH und Co. KG und mithin als Personengesellschaft ausgestaltet wird. 35 Ley/Schulte (Fn. 33), Rn. 3 f.; Stephan, Vertragsgestaltung bei Internationalen Joint Ventures, in: Schaumburg (Hrsg.), Internationale Joint Ventures: Management, Besteuerung, Vertragsgestaltung (1999), S. 97 ff. 36 Typische Beispiele für solche projektbezogenen Kooperationen sind etwa Zusammenschlüsse zur Durchführung gemeinsamer Forschung, Entwicklung oder Spezialisierung (dazu näher unter II.1.b) [S. 55 ff.], die gemeinsame Errichtung von Industrieanlagen, Kraftwerken oder Bauvorhaben (eingehend hierzu Jacob/ Brauns, Der Industrieanlagen-Konsortialvertrag [2006]) sowie die im Folgenden nicht näher behandelten bankgeschäftlichen Emissionskonsortien (hierzu umfassend Schimansky/Bunte/Lwowski-Grundmann, Bankrechts-Handbuch [3. Aufl. 2007], § 112 Rn. 84 ff.) und Finanzierungskonsortien (hierzu Häuser, ebd., § 87 Rn. 1 ff.). Zur dogmatischen Einordnung der genannten Rechtsinstitute als Vertragsnetze und den rechtlichen Implikationen jüngst instruktiv Grundmann, AcP 207 (2007), 718, insbes. 721 ff. 37 Wird schlicht der Begriff Joint Venture ohne nähere Abgrenzung verwendet, ist im internationalen Geschäftsverkehr in aller Regel das Gemeinschaftsunternehmen gemeint, mit dem die Partner eines Equity Joint Venture ihr gemeinsames Vorhaben

54 wird gemeinsam und häufig zu gleichen Teilen von den dahinter stehenden Unternehmen beherrscht.38 Wird diese Gesellschaft nach deutschem Recht errichtet, handelt es sich in der Regel entweder um eine GmbH oder um eine GmbH und Co. KG.39 Sowohl Contractual Joint Ventures als auch Equity Joint Ventures beruhen auf einer vertraglichen Grundlage in Form einer „Grundlagenvereinbarung“ zwischen den beteiligten Unternehmen, dem Joint Venture-Vertrag, in dem die beteiligten Unternehmen ihre gegenseitigen Rechte und Pflichten festlegen. Der Joint Venture-Vertrag befasst sich daher typischerweise mit Fragen der internen Aufgabenteilung, der Lösung von Meinungsverschiedenheiten, Haftungsverteilung und Finanzierung.40 Im deutschen Recht bilden die Joint Venture Partner aufgrund der im Joint Venture-Vertrag niedergelegten gemeinsamen Zweckverfolgung typischerweise eine BGB-Gesellschaft, so dass das Equity Joint Venture zumeist einen zweistufigen gesellschaftsrechtlichen Aufbau hat.41 Bereits der Umstand, dass der englische Begriff Joint Venture der heutigen Juristengeneration deutlich geläufiger ist als das aus dem lateinischen stammende „Konsortium“, verrät den gesteigerten angloamerikanischen Einfluss auf die Praxis und prädestiniert dieses zweiseitige Unternehmensgeschäft als Lackmustest für die aufgeworfenen Thesen.42 Hinzu tritt die

umsetzen. Ein in Deutschland prominentes Beispiel eines Equity Joint Ventures ist die Toll Collect GmbH mit den Joint Venture-Partnern Deutsche Telekom (45 %), Daimler AG (45 %) und der französischen Cofiroute (10 %). 38 Vgl. Beck’sches Formularbuch Bürgerliches, Handels- und WirtschaftsrechtStephan (9. Aufl. 2006), Form IX.9, § 5 Abs. 1 und Abs. 2; Volhard, in: Hopt (Hrsg.), Vertrags- und Formularbuch zum Handels-, Gesellschafts- und Bankrecht (3. Aufl. 2007), Form II.G.1, § 2 Abs. 4; ferner Hewitt (Fn. 33), vor Rn. 10-01. 39 Dies resultiert vor allem aus dem Bedürfnis der Joint Venture Partner nach flexiblen Einflussmöglichkeiten auf die Gesellschaft, steuerlichen Erwägungen und der beschränkten Außenhaftung, vgl. z. B. Baumanns, in: Gummert/Riegger/Weipert (Hrsg.), Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 1 (2. Aufl. 2004), § 28 Rn. 6, 43; Stengel, in: Müller/Hoffmann (Hrsg.), Beck’sches Handbuch der Personengesellschaften (2. Aufl. 2002), § 21 Rn. 90 ff. 40 Stephan (Fn. 35), S. 97, 102; vgl. aus der Reihe der Musterverträge etwa Volhard (Fn. 38), Form II.G.1 und Anm. 1. 41 Ley/Schulte (Fn. 33), Rn. 1, 69; Stephan (Fn. 35), S. 97, 99; Volhard (Fn. 38), Form II.G.1 Anm. 1. Da das Joint Venture-Vertragswerk in der Regel eingehende Regelungen enthält, die den dispositiven Vorschriften der §§ 705 ff. BGB vorgehen, ergeben sich allerdings nicht allzu viele Konsequenzen aus der Qualifizierung als Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Wichtig ist etwa das seinem Kern nach unabdingbare Kündigungsrecht des § 723 BGB. 42 Der Begriff Konsortium (von con = zusammen/gemeinsam und sors = Los/Schicksal/Anteil, wörtlich also „des gleichen Loses teilhaftig“, freier etwa

55 Häufigkeit und Wichtigkeit von Joint Ventures im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr,43 die auch der Europäische Regelgeber in Teilbereichen anerkennt (hierzu sogleich). Und schließlich reizt die Beobachtung, dass trotz der Vielzahl und Komplexität der in Joint Ventures aufgeworfenen rechtlichen Fragestellungen die einschlägige Fachliteratur in erster Linie „von Praktikern für Praktiker“ geschrieben zu werden scheint. b) Joint Ventures im Europäischen Schuldvertragsrecht Die Gründung von Joint Ventures unterliegt grundsätzlich der Kontrolle durch die Europäischen Kartellbehörden, insbesondere im Hinblick auf das allgemeine EG-rechtliche Kartellverbot.44 Der Europäische Regelgeber hat sich hier vor allem näher mit sog. research and development (R&D) Joint Ventures, also Kooperationen im Bereich Forschung und Entwicklung sowie mit Joint Ventures zur Spezialisierung auf bestimmte Produkte befasst und deren besondere Bedeutung durch Erlass entsprechender Gruppenfreistellungsverordnungen anerkannt.45

„Schicksalsgemeinschaft“, Duden, Deutsches Universal-Wörterbuch [2. Aufl. 1989]) hat im deutschen Rechtsleben im Wesentlichen nur in zwei Bereichen überlebt, nämlich im bankgeschäftlichen Bereich als Emissions-, Kredit- und Finanzierungskonsortium sowie im Baugewerbe zur Realisierung von Großprojekten (siehe oben Fn. 36). Da die aufgeworfenen Fragen des private ordering im Rahmen von Finanzierungsverträgen in der Literatur (siehe oben Fn. 20) bereits aufgegriffen wurden, werden im Folgenden die bankgeschäftlichen Konsortien im Wesentlichen außer Betracht gelassen. 43 Das Joint Venture erscheint geradezu als ein Musterbeispiel für eine wirtschaftlich grenzüberschreitende Zusammenarbeit, da es auch den Finanzund Technologietransfer zwischen Ländern unterschiedlicher Entwicklungsstufe ermöglicht; umfassend zur wachsenden Bedeutung von Joint Ventures Hewitt (Fn. 33), Rn. 1-01 ff. und Rn. 20-01 ff. 44 Daneben kann es bei Equity Joint Ventures auch zu einem fusionskontrollrechtlich anmeldpflichtigen Zusammenschlusstatbestand gemäß der EGFusionskontrollverordnung kommen, vgl. Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20.1.2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. 2004 L 24/1; näher Hewitt (Fn. 33), Rn. 16-07 ff. 45 Verordnung (EG) Nr. 2659/2000 der Kommission vom 29.11.2000 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung, ABl. 2000 L 304, und Verordnung Nr. 2658/2000 der Kommission vom 29.11.2000 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrags auf Gruppen von Spezialisierungsvereinbarungen, ABl. 2000 L 304.

56 Art. 81 EG verbietet Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des gemeinsamen Marktes bezwecken oder bewirken. Von dieser Bestimmung erfasste Joint Ventures zwischen Wettbewerbern können entweder im Wege einer zu beantragenden Einzelfreistellung nach Art. 81 Abs. 3 EG oder durch eine Gruppenfreistellungsverordnung (GVO) legalisiert werden. Die GVO Forschung und Entwicklung und die GVO für Spezialisierungsvereinbarungen legalisieren bestimmte Joint Ventures, von denen erwartet wird, dass sie positive Auswirkungen zeigen, die ihre wettbewerbsbeschränkenden Effekte im Ergebnis aufwiegen.46 Gruppenfreistellungsverordnungen sind Beispiele für Regelungen zweiseitiger Unternehmensgeschäfte als Teil des Europäischen Schuldvertragsrechts, da sie de facto wie zwingende Vertragsmuster wirken.47 Wettbewerber, die die Effizienzsteigerungsmöglichkeiten eines Joint Ventures nutzen wollen, sind weitgehend auf die Inhalte der genannten Gruppenfreistellungsverordnungen festgelegt, da die Möglichkeit der Einzelfreistellung aus zeitlichen Gründen in der Regel keine echte Alternative darstellt.48 Wollen die Unternehmen ihr Joint Venture vom Kartellverbot ausnehmen, müssen sie also die entsprechenden Kriterien der Verordnungen genau erfüllen, beispielsweise im Hinblick auf die Vorgaben zur Verwertung der im Rahmen gemeinsamer Forschung gefundenen Ergebnisse.49 Andererseits dürfen bestimmte Aspekte gerade nicht vereinbart werden, etwa die Aufteilung von Abnehmerkreisen im Rahmen von Joint Ventures zur Spezialisierung in der Produktion.50 Auf diese Weise kommt den Verordnungen die Wirkung quasiverbindlicher Europäischer Vertragsmuster zu.51 46 Vgl. BE 10 und 12 EG-VO Nr. 2659/2000 vom 29.11.2000, ABl. 2000 L 304 (Fn. 45) und BE 8 EG-VO Nr. 2658/2000 vom 5.12.2000, ABl. 2000 L 304 (Fn. 45). 47 Grundmann (Fn.1), § 1 Rn. 42; ders., JZ 2005, 860, 863. 48 Grundmann (Fn.1), § 8 Rn. 13. Im Gegensatz zur Einzelfreistellung führt die unmittelbar wirkende Gruppenfreistellungsverordnung, soweit ihr Anwendungsbereich eröffnet ist und die Vereinbarung vollständig den inhaltlichen Vorgaben entspricht, ipso iure zur Freistellung der Vereinbarung vom EG-rechtlichen Kartellverbot. 49 Vgl. Art. 3 EG-VO Nr. 2659/2000 vom 29.11.2000, ABl. 2000 L 304 (Fn. 45). 50 Vgl. Art. 5 EG-VO Nr. 2658/2000 vom 5.12.2000, ABl. 2000 L 304 (Fn. 45). 51 Grundmann (Fn. 1), § 8 Rn. 13; vgl. auch die expliziten Hinweise für Vertragsgestalter in Hewitt (Fn. 33), Rn. 17-08, 17-12, 17-15 ff. („Competition law issues can affect the terms of R&D collaborations“) sowie das abgedruckte

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2. Typische Vertragsmerkmale und Klauseln52 a) Allgemeines Die erste Beobachtung ergibt sich aus den oben genannten strukturellen Facetten von Joint Ventures: Zu unterscheiden ist zwischen dem Joint Venture-Vertrag eines Contractual Joint Ventures, auch consortium agreement genannt, dem Joint Venture-Vertrag eines Equity Joint Ventures und schließlich dem Gesellschaftsvertrag einer Joint Venture-Gesellschaft. Für erstere Kategorie, die dem traditionellen deutschen Verständnis des Konsortialvertrags am Besten entspricht, finden sich insbesondere in der Praxis des Industrieanlagenbaus eine Reihe von Standardverträgen für bestimmte Betätigungsfelder bzw. Industrien, die von den entsprechenden Wirtschaftsverbänden und ähnlichen Organisationen herausgegeben werden.53 In der Folge ähneln sich die Verträge in den einzelnen Segmenten tatsächlich stark. Sehr auffällig ist auch die Standardisierung bestimmter Fragestellungen in den Verträgen von R&D Joint Ventures, was offensichtlich den detaillierten Vorgaben der entsprechenden Gruppenfreistellungsverordnungen geschuldet ist. Im Rahmen des Equity Joint Venture scheinen Musterverträge eher von der Rechtsberatungspraxis entwickelt zu werden,54 wobei typische Joint Venture-Verträge sich sehr detailliert

Muster eines R&D Collaboration Agreement (Part E Precedent 5, hier insb. Ziff. 9.1 und 10.1). 52 Ich danke Herrn RA Dr. Tobias Wagner für eine Vielzahl wertvoller Hinweise aus der Vertragspraxis internationaler Kanzleien. 53 Vgl. z. B. die Musterverträge von ORGALIME 1995 (Organisme de Liaison des Industries Métalliques Européennes), einem Zusammenschluss der zentralen Wirtschaftsverbände der maschinen-, elektrotechnischen und metallverarbeitenden Industrien in 23 europäischen Ländern (in Deutschland gehören diesem europäischen Dachverband der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e.V. [VDMA], der Wirtschaftsverband Stahl- und Metallverarbeitung e.V. [WSM] und der Zentralverband Elektrotechnik und Elektroindustrie e.V. [ZVEI] an), vgl. www.orgalime.org/publications/conditions.htm (abgerufen am 8.5.2008); FIEC (Fédération Internationale Européenne de la Construction), Europäischer Arbeitsgemeinschaftsvertrag – Mustervertrag für Europäische Arbeitsgemeinschaften von Bauunternehmen, Broschüre o.J.; FIDIC (Fédération Internationale des IngénieursConseils), Guidelines for ad hoc collaboration agreements between consulting firms, 1978; für bankgeschäftliche Emissionskonsortialverträge siehe etwa den Standardvertrag der International Project Management Association (IPMA). 54 Freilich nicht ausschließlich, vgl. nur den Mustervertrag des International Trade Center (ITC), ITC Incorporated Joint Venture Model Agreements (2005).

58 mit der Errichtung und Ausgestaltung der Projektgesellschaft befassen.55 Derartige Verträge regeln neben der Errichtung und der Finanzierung der Joint Venture-Gesellschaft typischerweise auch bereits die Grundsätze der Zusammenarbeit der Partnerunternehmen in der Joint Venture-Gesellschaft sowie die mögliche Beendigung der Kooperation. Hintergrund ist aus deutscher Sicht, dass der Gesellschaftsvertrag der im praktisch häufigsten Fall als GmbH ausgestalteten Joint Venture-Gesellschaft dem Handelsregister einzureichen und damit öffentlich einsehbar ist, der Joint Venture-Vertrag hingegen nicht. Aus dem gleichen Grund enthält der Gesellschaftsvertrag selbst meist nur die wesentlichen organisationsrechtlichen Fragen, während die detaillierten Regelungen der Binnenorganisation in die Geschäftsordnung für die Geschäftsführung (und ggf. Beirat) aufgenommen werden. Darüber hinaus enthalten internationale Joint Venture-Verträge in der Regel eine Präambel und einen Definitionskatalog.56 In der Präambel werden typischerweise die beteiligten Joint Venture-Partnerunternehmen im Hinblick auf ihr Geschäftsfeld beschrieben, der Gründungszweck und die Ziele des Joint Ventures formuliert und die generellen Regelungsinhalte des Vertrages abstrakt vorweggenommen.57 Bei aller im Übrigen zu beobachtenden Vielgestaltigkeit der Verträge sind doch typische wiederkehrende Klauseln auszumachen, von denen einige im Folgenden beispielhaft herausgegriffen und näher erläutert werden. b) Geheimhaltungsklauseln Joint Ventures setzen in der Regel voraus, dass sich die Parteien gegenseitig Informationen zur Verfügung stellen, und der Umgang mit dem geistigen Eigentum des jeweiligen Partners stellt einen wichtigen Regelungsbereich in Joint Venture-Verträgen dar. Vertraulichkeitsklauseln gehören insoweit zum Standardrepertoire von Joint Venture-Verträgen und haben international inzwischen einen hohen Grad an Vereinheitlichung

55 Die Gründung einer neuen Joint Venture-Gesellschaft ist in der Praxis zwar die Regel, jedoch nicht zwingend, da auch Anteile in einer bereits bestehenden Gesellschaft übertragen werden können. 56 Siehe statt vieler etwa die Musterverträge bei Hewitt (Fn. 33), Part E; Rosener, Japanische und Europäische Standardbedingungen für Konsortien und Joint Ventures, in: Nicklisch (Hrsg.), Konsortien und Joint Ventures bei Infrastrukturprojekten (1998), S. 53, 57, 58. 57 Rosener, in: Schütze/Weipert (Hrsg.), Münchener Vertragshandbuch, Band 2 (5. Aufl. 2004), Form VI.3, und Anm. 3; ders. (Fn. 56), S. 53, 67.

59 erreicht.58 Die typische Vertraulichkeitsverpflichtung in internationalen Joint Venture-Verträgen erstreckt sich auf alle Informationen, die sich die Parteien gegenseitig zur Verfügung gestellt haben, ausgenommen derjenigen, an denen kein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse besteht: Informationen, die öffentlich bekannt waren oder ohne Rechtsverstoß bekannt werden, die dem Empfänger bereits zuvor bekannt waren oder ohne Rechtsverstoß und ohne Vertraulichkeitspflicht später bekannt werden, oder bei denen der Empfänger von Gesetzes wegen zur Offenlegung verpflichtet ist.59 Zudem wird in einem Folgeabsatz regelmäßig die Weitergabe der Information an solche Arbeitnehmer, Gesellschafter und Banken gestattet, die im Zusammenhang mit dem Projekt stehen und ihrerseits einer Vertraulichkeitsvereinbarung unterliegen. Diese Form der Vertraulichkeitsvereinbarung als Vertraulichkeitspflicht mit entsprechender standardisiert formulierter Einschränkung kommt aus dem angelsächsischen Bereich und wird insbesondere im Rahmen internationaler Joint Ventures verwendet. Bei rein deutschen Joint Ventures beschränkte sich die Klausel traditionell auf die Konstituierung der Vertraulichkeitspflicht, ohne die Ausnahmen ausdrücklich zu kodifizieren,60 heute findet sich jedoch auch in Verträgen zwischen zwei deutschen Unternehmen vermehrt die angelsächsische Variante. Insoweit es sich bei den vertraulichen Informationen um technisches oder kaufmännisches Know-how im weitesten Sinne handelt, bei dem über die Gefahr der Weitergabe hinaus auch die Gefahr der Nutzung durch den Empfänger für eigene Zwecke besteht, vereinbaren die Parteien zusätzlich auch eine Beschränkung der Verwendung des Know-hows auf die Zwecke des Joint Ventures.61 Im Anwendungsbereich der Gruppenfrei58 Stephan (Fn. 35), S. 97, 119; Ley/Schulte (Fn. 33), Rn. 85; vgl. ferner Hewitt (Fn. 33), Part F 1 („standard provisions“). 59 Stephan (Fn. 35), S. 97, 119; vgl. auch die Musterklauseln bei Hewitt (Fn. 33), Part E, Precedent 6 Ziff. 17.1, Precedent 8 Ziff. 16.1, Precedent 9 Ziff.8.1., sowie den Mustervertrag des ITC, International Trade Center, ITC Incorporated Joint Venture Model Agreements (2005). 60 Vgl. für ein Beispiel der entsprechenden Klausel in einem rein deutschen Joint Venture das bei Nicklisch (Fn. 56), S. 248 ff., abgedruckte VDMA-Muster eines Konsortialvertrags (Art. 14) und Rosener (Fn. 57), Form VI.3., § 27 Abs. 3; auf der anderen Seite das Beispiel eines amerikanischen Joint Venture Vertrages bei Horten/Graf Kageneck, Joint Ventures in den USA (1996), S. 181 ff. (Section 20.01) sowie die ebenfalls deutlich angelsächsisch inspirierten Musterklauseln der Japan Machinery Exporters’ Association (Art. 15), abgedruckt bei Nicklisch, a.a.O., S. 262 f. und 281 ff. 61 Stephan (Fn. 35), S. 97, 119; vgl. den Formulierungsvorschlag bei Horten/ Graf Kageneck (Fn. 60), S. 181 ff. (Section 20.06).

60 stellungsvereinbarung wird entsprechend dem Quasi-Mustervertrag jedoch stets bestimmt, das gemeinsam im Rahmen des Joint Venture entwickelte Know-how sowie die Urheberrechte oder gewerblichen Schutzrechte allen Joint Venture Partnern zugänglich zu machen.62 c) Konfliktlösungsklauseln/Deadlock Devices Eine Standardklausel im Joint Venture- bzw. Gesellschaftsvertrag bei Equity Joint Ventures ist die Einrichtung einer zweiköpfigen obersten Managementebene. Jedem Partnerunternehmen des Joint Ventures wird dabei zugebilligt, einen der Geschäftsleiter nach seiner Wahl zu bestellen.63 Flankierend werden häufig Konsultationspflichten oder sogar sog. Sympathieklauseln vereinbart, durch die der Partner in die Auswahl der anderen Seite zumindest mit eingebunden wird.64 Sofern ein Überwachungsorgan (etwa Beirat, board) in der Joint Venture-Gesellschaft eingerichtet wird, gilt entsprechend, dass beide Partner eine gleiche Anzahl von Organmitgliedern entsenden dürfen.65 Während in sonstigen Gesellschaften überwiegend das Mehrheitsprinzip gilt, wird in der Gesellschafterversammlung eines paritätischen Joint Ventures zudem in aller Regel Einstimmigkeit für alle wesentlichen Entscheidungen verlangt.66 Da keiner Instanz a priori die Befugnis zur Entscheidung interner Streitigkeiten zukommen soll, ist der Zwang zur gemeinsamen Willensbildung ein typisches Charakteristikum paritätisch ausgestalteter Joint Venture-Gesellschaften. Dies gilt auch für nicht paritätische Equity Joint Ventures, wenn, wie häufig, dem Minderheitsgesellschafter ein Veto-Recht im Hinblick auf wesentliche Entscheidungen eingeräumt wird. Das Risiko eines Entscheidungsstillstandes, eines deadlock, ist deshalb systemimmanent. Dementsprechend wird durchweg dazu geraten, Klauseln zur Begegnung von Pattsituationen aufzunehmen, die im Equity Joint Venture sowohl auf der Ebene der BGBInnengesellschaft als auch auf der Ebene der Joint Venture-Gesellschaft drohen.

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Siehe oben Fn. 49. Vgl. Stephan (Fn. 38), Form IX.9, § 8 Abs. 1; Ley/Schulte (Fn. 33), Rn. 574; Volhard (Fn. 38), Form II.G.1, § 5 Abs. 1 und Anm. 12 (hier direktes Bestellungsrecht der Partner). 64 Ein echtes Zustimmungserfordernis würde hingegen ein zu großes Verzögerungsrisiko bilden. 65 Hewitt (Fn. 33), Part E, Precedent 9 Ziff. 5.1; Volhard (Fn. 38), Form II.G.1 § 5 Abs. 1. 66 So auch Ley/Schulte (Fn. 33), Rn. 553. 63

61 Zwar bestehen vielfältige Instrumente zur Auflösung eines deadlock, es lassen sich aber durchaus typische Klauseln ausmachen. Beliebt ist die Vereinbarung eines mehrstufigen Verfahrens der Konfliktlösung, wonach die Streitfrage zunächst von der Geschäftsführung erfolglos behandelt worden sein muss, bevor die Frage auf eine höhere Ebene „gehoben“ und beispielsweise den Vorstandsvorsitzenden der Partnerunternehmen zur Entscheidungsfindung unterbreitet wird.67 Gelingt auch auf dieser Ebene innerhalb einer bestimmten, im vorhinein festgelegten Frist keine Einigung, so sieht die Vertragsregelung eine zwingende Beendigung des Joint Ventures vor, und zwar typischerweise im Wege der Übernahme aller Anteile durch eine der Parteien. Dieses Verfahren soll einen graduell ansteigenden Druck auf die Vertragspartner mit der Wirkung ausüben, dass sie bereits auf Ebene der Geschäftsleitung der Joint Venture-Gesellschaft eine Einigung ernsthaft anstreben, um nicht dem Risiko eines deadlock auf höherer Unternehmensebene und damit dem Ende des Joint Venture ausgesetzt zu sein. Dieses Verfahren wird häufig flankiert von Bestimmungen zur Auseinandersetzung, die eine Vorhersage über die in der Gesellschaft verbleibende Partei erschweren (dazu sogleich). Eine weitere, freilich weniger für paritätische Joint Ventures geeignete, typische Konfliktlösungsklausel ist die Vereinbarung eines sog. casting vote, das einem Partner das Recht zur entscheidenden Stimme einräumt. Typisch ist auch die Berufung eines bereits im Joint Venture-Vertrag konstituierten „internen“ Schiedsgremiums (z. B. dispute review board) oder eines Mediators zur Entscheidungsfindung.68 d) Beendigung und Exit-Regelungen Im Hinblick auf die große Streitanfälligkeit von Joint Ventures sind neben den genannten Regeln zur Konfliktlösung auch Bestimmungen zur Beendi-

67 Vgl. die Musterklauseln bei Hewitt (Fn. 33), Part E, Precedent 9 Ziff. 10.1 und Precedent 10 Ziff.20.1; ferner die Regelung im Beispielsvertrag bei Horten/ Graf Kageneck (Fn. 60), S. 181 ff. (Section 19.01); zu diesem Mechanismus auch Huber, Vertragsgestaltung, in: Meier-Schatz (Hrsg.), Kooperations- und Joint Venture-Verträge (1994), S. 1, 31. 68 Hewitt (Fn. 33), Rn. 10-08 ff. und Musterklausel in Part E, Precedent 9 Ziff. 19.1; Jacob/Brauns (Fn. 36), Rn. 605; Ley/Schulte (Fn. 33), Rn. 690 ff.; Lotz, Der Konsortialvertrag des Anlagenbaus im In- und Ausland, ZfBR 1996, 233, 240; siehe ferner den Mustervertrag des International Trade Center (Fn. 59), Ziff. 31.1 ff.

62 gung der Kooperation bedeutender Inhalt jedes Joint Venture-Vertrages.69 Vor allem im Equity Joint Venture muss stets bestimmt werden, wie die Parteien das Gemeinschaftsunternehmen auseinandersetzen, etwa durch Auflösung und Liquidation, durch Anteilsübertragung auf Dritte, einen Börsengang oder durch Übernahme sämtlicher Anteile durch einen der Joint Venture Partner.70 In der Praxis ist die Anteilsübertragung am häufigsten. Zu den typischen Regelungen zählen Vorkaufsrechte, sog. drag-along und tag-along-Szenarien, sog. put- bzw. call-Optionen sowie sog. russian roulette-Mechanismen.71 Einfache put-/call-Optionen, mit denen eine Partei die andere zum An- oder Verkauf ihrer Anteile verpflichten kann, eignen sich etwa, wenn eine Partei lediglich finanziell beteiligt ist und das Gemeinschaftsunternehmen allein nicht sinnvoll führen könnte. Sind beide Parteien jedoch am Geschäftsbetrieb gleichermaßen aktiv beteiligt, ist es schwer im Vorfeld zu vereinbaren, wer später ausscheiden soll. Hier können gekreuzte Varianten vorgesehen werden, also Optionsrechte, die in beide Richtungen ausübbar sind.72 Allerdings ist die Bestimmung der Gegenleistung häufig diffizil und kann, selbst wenn sie wie typischerweise einem Schiedsgutachter zugewiesen wird,73 langwierig sein. Daher wurden in der Praxis „radikalere“ exit-Verfahren entwickelt, die unter den Bezeichnungen „Russian Roulette“ und „(Texan) Shoot Out“ international bekannt geworden sind.74

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Selbstverständlich kann auch aus anderen Gründen eine einseitige Beendigung notwendig werden, beispielsweise wenn sich ein Partner aufgrund geänderter Unternehmenspolitiken nicht mehr an dem Joint Venture beteiligen will oder es aus finanziellen Gründen nicht mehr weiterführen kann. 70 Ley/Schulte (Fn. 33), Rn. 699, 737 ff.; Stephan (Fn. 35), S. 97, 117. 71 Vgl. etwa die Musterklauseln bei Hewitt (Fn. 33), Part E, Precedent 10 Schedule 3 (right of first refusal, tag-along right, drag-along right) und Precedent 15 (put and call options); instruktiv zu diesen buy/sell-arrangements auch Langefeld-Wirth, Praxis der internationalen Joint Ventures, in: dies. (Hrsg.), Joint Ventures im internationalen Wirtschaftsverkehr – Praktiken und Vertragstechniken internationaler Gemeinschaftsunternehmen (1990), S. 156 f. (mit Klauselbeispielen). 72 Ley/Schulte (Fn. 33), Rn. 765; vgl. auch Horten/Graf Kageneck (Fn. 60), S. 181 ff. (Section 19.02). 73 Vgl. etwa die Musterklausel bei Hewitt (Fn. 33), Part E, Precedent 10 Ziff. 18 und Schedule 4. 74 Huber (Fn. 67), S. 50; Langefeld-Wirth (Fn. 71), S. 157 f.; Ley/Schulte (Fn. 33), Rn. 788 ff.; umfassend mit Bezug auf deutsches Recht Schulte/Sieger, „Russian Roulette“ und „Texan Shoot Out“ – Zur Gestaltung von radikalen Ausstiegsklauseln in Gesellschaftsverträgen von Joint-Venture-Gesellschaften (GmbH und GmbH & Co. KG), NZG 2005, 24 ff.; Musterklauseln etwa bei Hewitt (Fn. 33), Part E Precedent 19 Ziff. 1 und 3.

63 Eine typische Russian Roulette-Klausel sieht vor, dass derjenige Partner, der das Joint Venture beenden will (A), dem anderen Partner (B) ein Verkaufsangebot machen muss, woraufhin letzterer nur zwei Möglichkeiten hat: Entweder nimmt er das Angebot innerhalb einer festgelegten Frist an oder er verkauft seine eigenen Anteile an A, und zwar zu denselben Konditionen und insbesondere zu demselben Preis, den A ausgelobt hatte. Dadurch wird bereits A motiviert, einen fairen Kaufpreis anzubieten, weil er ja möglicherweise selbst gezwungen sein wird, zu diesem Preis zu kaufen. Das Texan Shoot Out-Verfahren ist eine Variante des Russian Roulette, in der B entweder innerhalb der Frist das Verkaufsangebot annehmen oder aber zu einem höheren als dem von A ausgelobten Preis dessen Anteile übernehmen kann. Wenn beide Parteien kaufen wollen, sind sie zur Abgabe eines weiteren, diesmal versiegelten Kaufangebots verpflichtet. Derjenige, der das höhere Gebot macht, erhält die Anteile. Die Verfahren bezwecken, den das Unternehmen fortführenden Partner und den zu zahlenden Preis so objektiv und schnell wie möglich zu ermitteln, ohne eine Einschaltung Dritter und ohne nachteilige Folgen für das operative Geschäft des Joint Venture.75 Auch erhoffen sich Unternehmen von derartigen Vertragsklauseln eine gewisse Drohwirkung, unter deren Eindruck Meinungsverschiedenheiten eher zu einer einvernehmlichen Lösung geführt werden können. Andererseits erscheinen die Ergebnisse der Verfahren, wenn sie durchlaufen werden, häufig willkürlich. Zudem besteht das Risiko, dass insbesondere der finanziell stärkere Partner den Mechanismus als Zwangsmittel nutzt. Daher werden solche „extremen“ Ausstiegsklauseln, obgleich die herrschende Meinung sie auch nach deutschem Recht für wirksam hält, bislang nur eingeschränkt empfohlen.76 Freilich zeigt die Tatsache, dass Unternehmen die Verfahren sogar aktiv nachfragen, dass ein reales Bedürfnis für derartige Beendigungsverfahren besteht.77

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Ley/Schulte (Fn. 33), Rn. 786; Stephan (Fn. 35), S. 97, 118. Die Frage ist allerdings noch nicht höchstrichterlich entschieden worden. Dies überrascht freilich nicht, wird doch der Gang zu den staatlichen Gerichten von Joint Venture-Partnern in aller Regel vermieden; hierzu Ley/Schulte (Fn. 33), Rn. 800, 829; Schulte/Sieger, NZG 2005, 24, 27 ff.; aus internationaler Sicht ebenfalls skeptisch zu den genannten Klauseln Hewitt (Fn. 33), Rn. 10-22 f. („should be used with extreme care“). 77 Vgl. Schulte/Sieger, NZG 2005, 24, 31. 76

64 e) Schiedsgerichtsvereinbarungen Fast alle Joint Venture-Verträge, ob international oder rein inländisch, sehen zur Streitentscheidung ein Schiedsgericht vor.78 Hintergrund ist, dass es bei den drohenden Streitigkeiten häufig um unternehmerische Entscheidungen geht, die die Unternehmen lieber in der Hand praxiserprobter Schiedsrichter als staatlicher Berufsrichter sehen. Zudem wird befürchtet, dass die mit einem Gerichtsverfahren verbundene Publizität Konflikte weiter verschärft. Insbesondere dieser Gedanke der Geheimhaltung des Rechts- und Streitverhältnisses im Verhältnis zu Dritten gilt für nationale Joint Ventures dabei in gleichem Maße wie für internationale.79 Speziell bei internationalen Joint Ventures tritt noch hinzu, dass international agierende Unternehmen teilweise nur eingeschränktes Vertrauen in die Objektivität der Rechtsfindungsorgane der Herkunftsnationen ihrer Vertragspartner haben und befürchten, dass Entscheidungen aus Gründen des Wohlwollens im Zweifel zugunsten der heimischen Vertragspartei ausfallen.80 Schließlich ist auch die Dauer eines Schiedsverfahrens eher zu beeinflussen als die Verfahrensdauer vor den staatlichen Gerichten.81 Eine typische Schiedsklausel in deutschsprachigen Joint Venture-Verträgen übernimmt den von der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit e.V. empfohlenen Wortlaut;82 in internationalen Verträgen wird ebenfalls häufig der Klauselvorschlag der gewählten Schiedsinstitution übernommen.83 Im Anlagenbau wird bei international besetzten Joint Ventures typischerweise die Internationale Handelskammer Paris zum Schiedsgericht bestimmt.84

78 Ein einheitliches Bild geben insbesondere die Mustervertrags-Handbücher ab, etwa Volhard (Fn. 38), Form II.G.1; Rosener (Fn. 57), Form VI.3, § 34; vgl. ferner die Musterverträge bei Hewitt (Fn. 33), Part E (etwa Precedent 5 Ziff. 18.1, Precedent 6 Ziff 18.1, Precedent 9 Ziff. 19.2, Precedent 10 Ziff. 34.4) und bei Nicklisch (Fn. 56), S. 211 ff. sowie den Mustervertrag des ITC, International Trade Center (Fn. 59), Ziff. 31.4 ff.; siehe auch Rosener (Fn. 56), S. 53, 59. 79 Volhard (Fn. 38), Form II.G.1 Anm. 27. 80 Hewitt (Fn. 33), Rn. 14-18; Jacob/Braun (Fn. 36), Rn. 586. 81 Hewitt (Fn. 33), Rn. 14-18; Stephan (Fn. 35), S. 97, 117. 82 Abrufbar unter www.dis-arb.de (abgerufen am 8.5.2008). 83 Vgl. die einschlägigen Klauseln der International Chamber of Commerce (ICC), des London International Court of Arbitration (LCIA), der United Nations Commission on International Trade Law (UNCITRAL), des Netherlands Arbitration Institute und des Stockholm Chamber of Commerce, abgedruckt etwa bei Hewitt (Fn. 33), Part E, Precedent 20. 84 Remien, Rechtseinheit ohne Einheitsgesetze? Zum Symposium „Alternativen

65 f ) Rechtswahlklausel Der Joint Venture-Vertrag ist in der Regel der selbstständigen Rechtswahl zugänglich.85 Insbesondere bei Joint Ventures zwischen Partnern aus verschiedenen Rechtsordnungen wird so gut wie immer von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und mittels einer Rechtswahlklausel ein auf den Vertrag und etwaige Streitigkeiten hieraus anwendbares nationales Recht festgelegt.86 Das UN-Kaufrecht hingegen wird in seinem Anwendungsbereich in der Praxis internationaler Joint Ventures so regelmäßig abbedungen, dass dieser Ausschluss von Praktikern schon als „Gewohnheitsrecht“ bezeichnet wurde.87 Eine Rechtswahlklausel dient in erster Linie der Rechtssicherheit und vermeidet im Streitfalle eine zeit- und kostenintensive Ermittlung des anwendbaren Rechts. Dementsprechend rät die Beratungspraxis auch in aller Regel zu ihrer Verwendung, und zwar selbst dann, wenn umfängliche Begriffsdefinitionen, Auslegungsgrundsätze und allgemeine Entscheidungsregeln im Vertrag vorangestellt werden. Es wird offenbar davon ausgegangen, dass sich bei aller juristischen Mühe kein Vertragswerk entwickeln lässt, dass tatsächlich alle denkbaren Rechtsfälle im Zusammenhang mit dem Joint Venture ohne zumindest ergänzenden Rückgriff auf eine anderweitige Rechtsordnung erfassen könnte.88 Die Partei, die mit der Klausel ihr eigenes Vertragsrecht durchsetzt, kann sich der Komplexität des internationalen Vertragsrechts weitgehend entziehen. Lässt sich das heimische Recht jedoch aufgrund der wirtschaftlichen Machtverhältnisse nicht durchsetzen oder wird die Rechtswahl schlicht vergessen, kann die vertragsrechtliche Situation für die Beteiligten schnell

zur legislatorischen Rechtsvereinheitlichung“, RabelsZ 56 (1992), 300, 311; siehe auch Jacob/Brauns (Fn. 36), Rn. 590. 85 Göthel, Joint Ventures im Internationalen Privatrecht (1999), S. 66 mit weiteren Nachweisen; für Contractual Joint Ventures im Industrieanlagenbau insbesondere auch Jacob/Brauns (Fn. 36), Rn. 542. 86 Hewitt (Fn. 33), Rn. 20-20, ferner Part F 1 („standard provisions“) und Musterklauseln in Part E (etwa Precedent 5 Ziff. 17, Precedent 6 Ziff. 22, Precedent 8 Ziff. 25, Precedent 9 Ziff. 20); Musterverträge bei Nicklisch (Fn. 56), S. 211ff., ferner Rosener (Fn. 56), S. 53, 59; Zacher, IStR 1997, 408, 410 f. 87 So etwa im Anlagenbau, vgl. die Zusammenfassung der Diskussion bei Remien, RabelsZ 56 (1992), 300, 311. 88 So schon Zacher, IStR 1997, 408, 411. Auch unter pragmatischen Gesichtspunkten wird ein weiteres Anwachsen des per se bereits sehr komplexen Joint Venture-Vertrages durch den Versuch einer gänzlich umfassenden Regelung von Praktikern skeptisch gesehen.

66 unübersichtlich werden.89 Vor diesem Hintergrund ist es denkbar, dass der Verzicht auf eine klare Rechtswahlklausel für den Rechtsanwalt unter Umständen sogar einen Haftungsfall auslöst. Bei einem Equity Joint Venture ist zu unterscheiden zwischen dem auf den Joint Venture-Vertrag anwendbaren Recht und dem Recht der inkorporierten Joint Venture-Gesellschaft. In Bezug auf das Gesellschaftsstatut der Projektgesellschaft ist eine Rechtswahl grundsätzlich unzulässig, vgl. etwa Art. 37 Nr. 2 EGBGB. Das anwendbare Recht richtet sich vielmehr in der Regel nach dem Sitz der Gesellschaft. Wenn nicht Investitions- oder Protektionsgesetze des ausländischen Partners die Errichtung der Joint Venture-Gesellschaft im betroffenen Ausland zwingend vorschreiben, besteht bei Neugründungen freilich durchaus Flexibilität. In diesem Falle bestimmen neben steuerlichen vor allem praktische Erwägungen die Wahl der Rechtsordnung: Die Joint Venture Partner wollen den Fortgang des Joint Ventures häufig im Rahmen einer vertrauten Rechtsordnung gestaltet wissen und insbesondere die von ihnen eingebrachten assets (z. B. Forschungs- und Entwicklungsstätten) dem „eigenen“ Recht unterstellen.90 In der Regel wird der Joint Venture-Vertrag beim Equity Joint Venture dann gleichfalls dem Recht des Gesellschaftsstatuts unterstellt, um Einheitlichkeit und Rechtssicherheit zu gewähren. Anders kann dies etwa sein, wenn keine der Parteien im Land der Joint Venture-Gesellschaft ansässig und mit dem dortigen Recht vertraut ist. Auch kommt es häufig vor, dass sich der ausländische Partner nicht auf das „Heimatrecht“ des inländischen Partners einlassen will und stattdessen ein „neutrales“ Recht gewählt wird.91

89 Siehe für das Contractual Joint Venture im Anlagenbau bspw. Jacob/Brauns (Fn. 36), Rn. 543; für Equity Joint Ventures etwa Langefeld-Wirth (Fn. 71), S. 129 m.w.N. 90 Ley/Schulte (Fn. 33), Rn. 13. Vgl. im Übrigen zu den internationalprivatrechtlichen Fragen Göthel, Internationales Privatrecht des Joint Ventures, RIW 1999, 566 ff. 91 Langefeld-Wirth (Fn. 71), S. 129 f.

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III. Schlussfolgerungen Das Phänomen der strukturellen Angleichung und der Angloamerikanisierung zweiseitiger Unternehmensverträge lässt sich auch bei Joint Venture-Verträgen feststellen. Eine darüber hinaus gehende inhaltliche Angleichung der Vertragspraxis hat bisher jedoch nicht zu einem einheitlichen Vertragsrecht im Sinne eines hinreichend dichten, genuinen Normengerüsts der internationalen Joint Ventures geführt – dafür ist die Materie zu komplex und vielgestaltig. Das zeigt sich bereits an der notwendigen Differenzierung zwischen rein schuldrechtlichen Joint Ventures und Equity Joint Ventures sowie an der Tatsache, dass sich prinzipiell auf allen Geschäftsfeldern Unternehmenskooperationen eingehen lassen. Vor dem Hintergrund der daraus folgenden Vielschichtigkeit der Rechtsfragen enthält der Joint Venture-Vertrag auch in aller Regel eine Rechtswahlklausel. Die Vertragsgestalter selbst glauben also nicht, auf den Rückgriff auf staatliches Recht verzichten zu können. Gliedert man das Rechtsinstitut allerdings nach Form und Geschäftsfeld in Einzelbereiche auf, so ist zumindest in Teilen ein ganz erhebliches Maß an Standardisierung zu erkennen. Dies gilt im Europäischen Binnenmarkt vor allem für R&D- und Spezialisierungs-Joint Ventures, die aufgrund der entsprechenden EU-Gruppenfreistellungsverordnungen stark typisierte Verträge herausbilden. Daneben existieren im Bereich der Contractual Joint Ventures speziell im Anlagenbau europaweit und in ganzen Industrien verwendete Standardformularverträge, die hier zu bemerkenswerter Einheitlichkeit beitragen. Im Rahmen von Equity Joint Ventures legt die Industrie selbst kaum Musterverträge vor, jedoch verbreiten sich auch hier – offenbar vermittelt durch die Beratungspraxis – zumindest eine Reihe von Standardklauseln. Diese typischen Klauseln werden von den internationalen Vertragsgestaltern je nach Interessenlage des Mandanten wie „Bausteine“ in die Verträge verhandelt, um die Beziehungen der Parteien untereinander und gegenüber Dritten zu strukturieren. Dabei lässt sich vielfach die Herausbildung und Durchsetzung innovativer Rechtslösungen durch die Kautelarpraxis erkennen. Das gilt insbesondere für Fragestellungen, die sich mit typischen Problemen von Equity Joint Ventures befassen, namentlich mit der Auflösung von Entscheidungsblockaden und der Ermittlung der zur Fortführung der Joint Venture-Gesellschaft berufenen Partei nebst Übernahmepreis. Ein anschauliches Beispiel bilden radikale exit-Klauseln, die kaum erkennbare Vorbilder in staatlichen Rechtsordnungen haben, sondern rein praktischen Bedürfnissen entsprungen zu sein scheinen. Einprägsame Namen wie Russian Roulette und Texan Shoot Out tragen weiter dazu bei, dass sie in das Klauselrepertoire international tätiger Rechtsberater gelangen. Auf diese

68 Weise entwickeln sich in und durch die Praxis unabhängig von staatlichen Regelgebern international einheitliche Rechtsinstrumente, die zudem nicht in erster Linie von staatlichen Gerichten überprüft werden. Denn als ganz typisches Merkmal heutiger Joint Venture-Verträge ist die Verwendung von Schiedsklauseln auszumachen, die alle Rechtstreitigkeiten im Zusammenhang mit dem Joint Venture-Vertrag den staatlichen Gerichten entziehen und auf die private Wirtschaftsschiedsgerichtsbarkeit übertragen. (Nur) In diesem Sinne lässt sich von Ansätzen eines private ordering im Vertragsrecht der Joint Ventures sprechen, wo die Vertragspraxis mithilfe der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit international einheitliche Rechtssätze herausbildet. Entscheidendes Moment für den Erfolg dieser Technik ist, dass es ihr gelingt, die Transaktionskosten grenzüberschreitender Vertragsbeziehungen zu senken. In dem Maße, in dem sich Standardklauseln und -verträge durchsetzen, steigt die Rechtssicherheit im internationalen Wirtschaftsverkehr, gehen Rechtsinformationskosten zurück und treten Rationalisierungseffekte ein. Zugleich zeigen sich in den genannten Ansätzen des private ordering im Rahmen von Joint Ventures aber bereits die Risiken dieses Phänomens, die durchaus verallgemeinerungsfähig sind. Liegt zwischen den Vertragspartnern ein strukturelles oder auch nur ein starkes finanzielles Ungleichgewicht vor, besteht die Gefahr, dass die durch private ordering herausgebildeten Rechtssätze eine allzu einseitige Interessendurchsetzung befördern und durch Externalisierungsprozesse festschreiben. Hintergrund ist, dass der Rückgriff auf Musterverträge und Standardklauseln vor allem aus Kostengründen attraktiv ist und damit eher für den finanziell schwächeren Vertragspartner. Die Macht einer bestimmten Gruppe, typische Regelungen durchzusetzen, wird in dem Maße potenziert und verfestigt, in dem sich die Klauseln zu Standards in den entsprechenden Bereichen ausbilden. Deshalb hat etwa Grundmann darauf hingewiesen, dass eine gesonderte Behandlung von Klauselwerken als autonome Rechtsquelle nur bei Neutralität des Klauselsetzers gerechtfertigt sein könnte.92 Abschließend ist zu fragen, ob und inwieweit im Rahmen der aufgezeigten Entwicklungen (noch) Raum für Europäische Vertragsrechtsprinzipien bzw. gar ein optionales Europäisches Vertragsrecht besteht. Hierzu lässt sich festhalten, dass aller Standardisierung und Vereinheitlichung bestimmter Vertragsklauseln zum Trotz die Wahl einer bestimmten staatlichen Rechtsordnung im Bereich von Joint Venture-Verträgen nach wie vor eine zentrale

92 Schimansky/Bunte/Lwowski-Grundmann (Fn. 36), § 112 Rn. 106 (für Emissionskonsortialverträge); grundlegend zur Fragestellung ders. (Fn. 23), S. 43, 57 ff.

69 Rolle spielt. In grenzüberschreitenden Joint Ventures wird zudem häufig die Vereinbarung einer „neutralen“ Rechtsordnung nachgefragt, um keine der Vertragsparteien gegenüber der anderen zu bevorzugen. Durch die Wahl des Rechts eines neutralen Drittstaates unterliegen dann freilich beide Parteien dem Risiko, durch Besonderheiten des fremden Rechts überrascht zu werden. Ein optionales Europäisches Rechtsinstrument vertraglicher Grundprinzipen und Fairnessstandards, das über den Warenkauf hinaus auf alle Typen zweiseitiger Unternehmensverträge angewendet werden kann, könnte dem Bedürfnis der Joint Venture-Partner nach „Waffengleichheit“ besser entsprechen – eine hinreichende Etablierung vorausgesetzt. Die Erarbeitung eines solchen Instruments böte zudem die Gelegenheit, auch jüngere Fragestellungen im Unternehmensvertragsrecht aufzugreifen und auf diese Weise ein modernes Regelwerk mit positiven Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit des Europäischen Wirtschaftsraumes zu schaffen. Daher ist zu hoffen, dass die derzeitige Beschränkung der Bemühungen um einen Gemeinsamen Referenzrahmen auf das Verbrauchervertragsrecht nicht das letzte Wort der Kommission in dieser Frage bleiben wird.

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Veränderte Aufklärungs- und Interessenwahrungspflichten im Bankvertragsrecht nach MiFID und der neuen Verbraucherkredit-Richtlinie Christian Hofmann Übersicht I.

Die Entwicklung im Europäischen Bankvertragsrecht in den letzten 10 Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 II. Die Pflicht zu Aufklärung und Interessenwahrung im Wertpapierhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 1. Die Pflichten des Wertpapierdienstleisters . . . . . . . . . . . . . 76 a) Konzeption und Zielrichtung von MiFID und WpHG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 b) Relation von Inhalt der Wertpapierdienstleistung und geschuldeter Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2. Klärung bisheriger Zweifelsfragen durch die neue Rechtslage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 a) Schutz bei privatautonomem Aufklärungsverzicht . . . 83 b) Die Aufklärungspflichten der Discount-Broker . . . . . . 85 aa) Der Meinungsstand zur alten Rechtslage . . . . . . . 85 bb) Klärung durch die Änderungen durch MIFID und neues WpHG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 c) Weiterhin Zweifel bei kreditfinanzierten Anlagen . . . . 88 3. Interessenkonflikte bei Provisionszahlungen nach neuer Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 III. Aufklärung und Interessenwahrung im Kreditrecht . . . . . . . . . 93 1. Die neue Verbraucherkredit-Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Der Grundsatz der Vollharmonisierung . . . . . . . . . . . . . . . 95 3. Responsible lending . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4. Erweiterte Aufklärungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 5. Umsetzungsbedarf im deutschen Kreditrecht . . . . . . . . . . . 98 a) Der Status quo im deutschen Kreditrecht . . . . . . . . . . 98 b) Die Veränderungen durch die Vorgaben der Richtlinie . . 99 c) Insbesondere: die Aufklärungspflichten im Bereich der Mittelverwendungsabsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .101 IV. Einheit der Aufklärungsgrundsätze im Wertpapierhandels- und Kreditrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .103 1. Aufklärungspflichten über die Finanzkonstruktion . . . . . .103 2. Rechtsfolge einer Pflichtverletzung: Differenzschaden oder Freistellung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .111

72 Die Aufklärungs- und Interessenwahrungspflichten im deutschen Bankvertragsrecht werden in hohem Maß von den Entwicklungen im europäischen Vertragsrecht geprägt. Da der europäische Gesetzgeber ein Modell der aufgeklärten Entscheidungsfindung verfolgt, ist der informierte Kunde folgerichtig auch im Bankvertragsrecht Ziel der Richtliniengesetzgebung. Die jüngsten Entwicklungen im europäischen und deutschen Recht, mit denen die Pflichten des Wertpapierdienstleisters gegenüber dem Anleger im Kapitalmarktrecht konkretisiert wurden und sich im Kreditrecht eine Verschärfung des Verbraucherschutzes abzeichnet (nachfolgend, I.), sind Anlass für diesen Beitrag. Neben einer Darstellung der im Kapitalmarktrecht eingetretenen (unten, II.) und im Kreditrecht zu erwartenden Veränderungen (unten, III.) soll anhand eines Beispiels dargestellt werden, dass schon jetzt Fragen zu den Aufklärungspflichten im Bankvertragsrecht am stimmigsten durch einen Blick auf die gemeinsamen Grundlagen in Vertragstypen mit verwandten Interessengrundsätzen gelöst werden können (unten, IV.).

I. Die Entwicklung im Europäischen Bankvertragsrecht in den letzten 10 Jahren Ein Blick auf die Entwicklungen im Bankvertragsrecht der letzen zehn Jahre macht deutlich, dass sich der europäische Gesetzgeber rege betätigt hat. 1998 bestand der europäische Rechtsrahmen im Kapitalmarktrecht aus der Wertpapierdienstleistungs-, der Insiderhandels- und der InvestmentfondsRichtlinie, im Commercial Banking aus der Verbraucherkredit- und der Überweisungs-Richtlinie.1 Im Kapitalmarktrecht wurde seitdem die Wertpapierdienstleistungs-Richtlinie2 durch die Finanzmarktrichtlinie (MiFID)3 ersetzt (näher unten, II.), ebenso die Insider-Richtlinie4 durch

1

S. die grundlegende und eingehende Kommentierung bei Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht (1998). 2 Richtlinie 93/22/EWG des Rates vom 10.5.1993 über Wertpapierdienstleistungen, ABl. 1993 L 141/27. 3 Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.4.2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/ EWG des Rates, ABl. 2004 L 145/1. 4 Richtlinie 89/592/EWG des Rates vom 13.11.1989 zur Koordinierung der Vorschriften betreffend Insider-Geschäfte, ABl. 1989 L 334/30.

73 die Marktmissbrauchs-Richtlinie5. Die Investmentfonds-Richtlinie6 ist hingegen bislang unverändert geblieben. Neu hinzu gekommen sind die Prospekt-Richtlinie7 und die Transparenz-Richtlinie8. Auf der zweiten Stufe der Lamfalussy-Architektur sind die Richtlinie 2006/73/EG (MiFID-DRL)9 und die Verordnung VO (EG) 1287/EG10 ergangen. Im Commercial Banking wurde 2002 die Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen11 erlassen. Hinzu tritt die sich im Erlassstadium befindliche Verbraucherkredit-Richtlinie,12 auf die unter III. näher eingegangen werden soll. Außerdem wurde das Projekt Single Euro Payment Area (SEPA), ein einheitlicher Zahlungsraum für die Eurozone,

5 Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28.1.2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch), ABl. 2003 L 96/16. 6 Richtlinie 85/611/EWG des Rates vom 20.12.1985 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW), ABl. 1985 L 375/3. 7 Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.11.2003 betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG, ABl. 2003 L 345/64. 8 Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.12.2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG, ABl. 2004 L 390/38. 9 Richtlinie 2006/73/EG der Kommission vom 10.8.2006 zur Durchführung der Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die organisatorischen Anforderungen an Wertpapierfirmen und die Bedingungen für die Ausübung ihrer Tätigkeit sowie in Bezug auf die Definition bestimmter Begriffe für die Zwecke der genannten Richtlinie, ABl. 2006 L 241/26. 10 Verordnung (EG) Nr. 1287/2006 der Kommission vom 10.8.2006 zur Durchführung der Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Aufzeichnungspflichten für Wertpapierfirmen, die Meldung von Geschäften, die Markttransparenz, die Zulassung von Finanzinstrumenten zum Handel und bestimmte Begriffe im Sinne dieser Richtlinie, ABl. 2006 L 241/1. 11 Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.9.2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/ EG und 98/27/EG, ABl. 2002 L 271/16. 12 Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16.1.2008 zu dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates im Hinblick auf den Erlass der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, 2002/0222(COD).

74 vorangetrieben. Zusammen mit der neuen Verbraucherkredit-Richtlinie stellt die Zahlungsverkehrsrichtlinie13 sicherlich die bedeutendste Neuerung im Bereich des Commercial Banking dar. Sie versucht erstmals, den gesamten Zahlungsverkehr zu erfassen, und geht daher über den Anwendungsbereich der Überweisungs-Richtlinie, die sie ersetzt, hinaus, indem sie nunmehr auch den Lastschrift- und kartengestützen Zahlungsverkehr erfasst. Gegenstand der Richtlinie sind Vorschriften über die Zulassung von Anbietern von Zahlungsdienstleistungen sowie über die Rechtsbeziehung dieser Anbieter zu den Nutzern der Zahlungsdienste.14 Für das Bankvertragsrechts relevant sind dabei die detaillierten Vorschriften über die Verhaltenspflichten der Vertragsparteien und über die Risikoverteilung bei fehlender Weisung des Nutzers.15 Für das deutsche Recht, aber auch andere nationale Rechte wird diese Richtlinie weitreichende Änderungen zur Folge haben.16 Der Schwerpunkt wird hier zugleich anders gesetzt als im Wertpapierhandel und Kreditrecht, da es nicht um eine Entscheidung von erheblicher finanzieller Tragweite geht, sondern vielmehr Zahlungstransaktionen unbar abgewickelt werden sollen. Daher scheint es, anders als im Wertpapier- und Kreditrecht, unrealistisch, dem Kunden die Mühe und Zeit abzuverlangen, die eine informierte Eigenentscheidung erfordert. Vielmehr entspricht es seinen Interessen, dass die von ihm gewünschte Zahlungsweisung schnell und sicher ausgeführt wird. Daher wird der Zahlungsdienstleister zwar eben dazu verpflichtet, nicht aber mit der Bewertung beschwert, die Risiken und die Zweckmäßigkeit der Transaktion

13 Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.11.2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG, ABl. 2007 L 319/1. 14 Oechsler, Die Entwicklung des privaten Bankrechts im Jahre 2006, NJW 2007, 1418, 1423. 15 Dazu Grundmann/Hollerbach, EC Financial Services and Contract Law – Developments 2005-2007, ERCL 2008, 45, 52 ff.; Hofmann, Das Haftungsregime für Kartenzahlungssysteme im europäischen Rechtsvergleich – Eine Bestandsaufnahme vor dem Hintergrund des Vorschlags für eine Richtlinie über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, ZVglRWiss 2007, 174, 177 ff.; Jungmann, Missbrauch von ec-Karten bei PIN-basierten Transaktionen – Rechtfertigung, Grenzen und Zukunft des von der Rechtsprechung entwickelten Beweises des ersten Anscheins, in: Zetzsche/ Neef/Makowski/Beurskens (Hrsg.), Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftlicher 2007 – Recht und Wirtschaft (2008), S. 329, 356 f. 16 Ausführlich Franck/Massari, in diesem Band, S. 113 ff.; zu einer rechtvergleichenden Übersicht Hofmann, ZVglRWiss 2007, 174, 180 ff.

75 einschätzen zu müssen.17 Wegen der Anfälligkeit der Zahlungssysteme für missbräuchliche Verfügungen und der für den Kunden (in vertretbarer Zeit) kaum überschaubaren Haftungsbedingungen der verschiedenen Zahlungsdienstleister verfolgt der europäische Gesetzgeber zudem nicht ein Modell der Transparenz, sondern legt zwingende Sorgfalts- und Haftungsgrundsätze fest.18 Aus diesem reichen Fundus an Themen, der sich durch die Tätigkeit des europäischen Gesetzgebers ergibt, soll eine Eingrenzung in zwei Richtungen vorgenommen werden, nach dem Pflichteninhalt und dem Schuldner dieser Pflichten: Interessieren sollen die Aufklärungspflichten des Finanzdienstleisters als vertragliche Nebenleistungen, die dem Kunden eine informierte Entscheidung für ein von ihm beabsichtigtes Finanzprodukt ermöglichen sollen. Damit rücken zwei Bereiche in den Vordergrund, der Wertpapierhandel und das Kreditrecht.19

II. Die Pflicht zu Aufklärung und Interessenwahrung im Wertpapierhandel Das Verhältnis des Wertpapierdienstleisters zum Anleger zeichnet sich in besonderem Maße durch Informationsasymmetrie und die Gefahr opportunistischen Verhaltens auf Seiten des Dienstleisters aus.20 Die Angebote sind häufig komplex und die Erfahrung des Anlegers gering.21 Um eine eigenverantwortliche Entscheidung treffen zu können, benötigt der Anleger Kenntnis der Grundlagen, die eine Einschätzung der Chancen und Risiken

17

Siehe für den Überweisungsverkehr Horn, Die Aufklärungs- und Beratungspflichten der Banken, ZBB 1997, 139, 146. Zum Grundsatz, dass Informationspflichten im Zahlungsverkehr nur ausnahmsweise von Bedeutung sind Schimansky/Bunte/Lwowski-Siol, Bankrechts-Handbuch (3. Aufl. 2007), § 44 Rn. 1. 18 Siehe die Darstellung bei Hofmann, ZVglRWiss 2007, 174, 180 ff. 19 Siehe zu den Pflichten im Zahlungsverkehr auch Franck/Massari, in diesem Band, S. 113 ff.; zu den Pflichten des Prospektherausgebers den Beitrag von Heinze, in diesem Band, S. 161 ff. 20 Kalss, Recent developments in liability for non-disclosure of capital market information, International Review of Law and Economics 2007, 70, 71 f. Zur Zielsetzung der Regulierung von Finanzdienstleistungen vgl. EuGH v. 10.5.1995 – Rs. C-384/93 Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141 Rn. 42. 21 Siehe zu den tatsächlichen Gegebenheiten Schimansky/Bunte/LwowskiHannöver (Fn. 17), § 110 Rn. 2.

76 einer Anlage erst ermöglichen. Durch die vom europäischen und deutschen Gesetzgeber geschaffenen Pflichten zu Aufklärung und Information soll der Anleger in die Lage versetzt werden, die Tragweite und Risiken seiner Anlageentscheidung beurteilen zu können. Zwar werden die bestehenden Risiken durch Aufklärung und Information nicht geringer. Indem sie dem Anleger ins Bewusstsein gerufen werden, kann sich dieser jedoch mit der Frage auseinander setzen, ob er sie akzeptieren will und sich leisten kann.22 Hinzu treten die Interessenwahrungspflichten des Dienstleisters, deren Ziel es ist, die Gefahr opportunistischen Verhaltens zu begrenzen.

1. Die Pflichten des Wertpapierdienstleisters a) Konzeption und Zielrichtung von MiFID und WpHG Die Informationspflichten im Wertpapierhandel regelt nunmehr die MiFID als Nachfolgerin der Wertpapierhandels-Richtlinie. Nach wie vor kreisen die Wohlverhaltenspflichten des Wertpapierdienstleisters um die know your customer/client rule23, die eine an den individuellen Anlagezielen des Kunden orientierte Beratung und Aufklärung bezweckt.24 Auch ist es bei der von der Wertpapierhandels-Richtlinie bekannten Dreiteilung der Wohlverhaltensregeln geblieben, der Pflicht zu Interessenwahrung, dem Gebot, Interessenkonflikte auszuräumen, und der Pflicht zu Beratung und Aufklärung.25 Gegenüber ihrer Vorgängerin setzt die MiFID jedoch verstärkt auf eine Standardisierung der Kundeninformation. Auch wird der Anlegerschutz stärker auf die verschiedenen Anlegergruppen zugeschnitten,

22

Horn, Der Ausschluß von Aufklärung und Beratung im Anlegerschutzrecht, in: Festschrift für Schimansky (1999), S. 653, 654; ders., ZBB 1997, 139, 141 f. Zu Zweifeln an diesem Ansatz und Alternativüberlegungen G. Roth, Das Risiko im Wertpapiergeschäft, Festschrift Horn (2006), S. 835, 840-843. 23 Zu diesem Prinzip, wonach Wertpapierdienstleister von ihren Kunden Information über ihre finanzielle Situation, Anlageerfahrung und Anlageziele in Bezug auf die bezweckte Anlage in Erfahrung zu bringen haben (“information regarding their financial situation, investment experience, and objectives as regards the investment service requested“), siehe Moloney, EC Securities Regulation (2002), S. 533. 24 Ebenroth/Boujong/Joost-Grundmann, Handelsgesetzbuch (2001), Rn. IV 218. 25 Zur MiFID, Grundmann, EC Financial Services – Developments 2002-2005, ERCL 2006, 482, 491; zur Wertpapierdienstleistungsrichtlinie Ebenroth/Boujong/ Joost-Grundmann (Fn. 24), Rn. IV 186.

77 da die Richtlinie nach Kleinanlegern, professionellen Kunden und sog. Geeigneten Gegenparteien unterscheidet.26 Die Wohlverhaltensregeln sind dabei auf den Schutz des Kleinanlegers27 zugeschnitten, auf den sich auch die Betrachtung hier beschränken soll. Die Interessenwahrungspflicht wird generalklauselartig in Art. 19 Abs. 1 MiFID damit umschrieben, dass die Wertpapierfirma die Wertpapierleistungen ehrlich, redlich und professionell im bestmöglichen Interesse des Anlegers zu erbringen hat. Umgesetzt wurde dies in § 31 Abs. 1 Nr. 1 WpHG damit, dass der Wertpapierdienstleister die Wertpapierdienstleistungen mit der erforderlichen Sachkenntnis, Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit im Interesse seiner Kunden erbringen muss. Ergänzend bestimmt Art. 21 Abs. 1 MiFID und folgend § 33a WpHG, dass bei der Auftragsausführung das bestmögliche Ergebnis für den Kunden zu erzielen ist.28 Der Vermeidung von Interessenkonflikten widmen sich Art. 13 Abs. 3, 18 MiFID und ordnen an, dass geeignete Vorkehrungen getroffen werden müssen, um eine Beeinträchtigung der Kundeninteressen durch Interessenkonflikte zu vermeiden.29 Im Mittelpunkt der Wohlverhaltenspflichten steht weiterhin die hinreichende Aufklärung des Kunden, um diesem eine eigenverantwortliche Entscheidung zu ermöglichen.30 Dass die Richtlinie eben dieses Ziel verfolgt, geht aus Art. 19 Abs. 3 MiFID und Art. 31 Abs. 1 MiFID-DRL hervor. Die Beschreibung der Finanzinstrumente soll an der Einstufung

26 Fleischer, Die Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente und das Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsgesetz – Entstehung, Grundkonzeption, Regelungsschwerpunkte –, BKR 2006, 389, 394. 27 Dieser wird in Art. 4 Nr. 12 MiFID als ein Kunde, der kein professioneller Kunde ist, legaldefiniert und damit von den professionellen Kunden und der geeigneten Gegenpartei, die in Art. 24 Abs. 2 MiFID, Art. 50 MiFID-DRL und § 31a Abs. 4 WpHG angesprochen werden, unterschieden. Siehe dazu Fleischer, BKR 2006, 389, 394. Zugleich besteht nach § 31a Abs. 4 WpHG die Möglichkeit für die professionellen Kunden, ein höheres Schutzniveau zu beantragen. Zur Kundenklassifikation der MiFID und der Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber siehe Duve/Keller, MiFID: Die neue Welt des Wertpapiergeschäfts – Transparenz und Marktintegrität für einen europäischen Kapitalmarkt, BB 2006, 2427 ff.; Karsten, Das neue Kundenbild des § 31a WpHG – Umsetzungsprobleme nach MiFID & FRUG, BKR 2007, 261 ff. 28 Siehe dazu Zingel, Die Verpflichtung zur bestmöglichen Ausführung von Kundenaufträgen nach dem Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsgesetz, BKR 2007, 173 ff. 29 Näher dazu Göres, MiFID – Neue (Organisations-) Pflichten für die Ersteller von Finanzanalysen, BKR 2007, 85, 90. 30 Grundmann, ERCL 2006, 482, 491.

78 des Kunden als Anleger oder professioneller Kunde ausgerichtet und ihm ermöglicht werden, seine Anlageentscheidung auf fundierter Grundlage in Kenntnis der besonderen Wesensmerkmale des Finanzinstruments und seiner spezifischen Risiken zu treffen. Der Inhalt der geschuldeten Aufklärungspflichten richtet sich nach der Art der erbrachten Wertpapierdienstleistung, wie aus Art. 19 Abs. 4, 5 und 6 MiFID und entsprechend § 31 Abs. 4, 5 und 7 WpHG hervorgeht. Ergänzend werden die Informationspflichten zudem durch die auf der zweiten Stufe des „Lamfalussy-Verfahrens“ ergangenen Art. 27-33 MiFID-Durchführungs-Richtlinie (MiFID-DRL) festgelegt. Als generalklauselartige Umschreibung der Informationspflichten ordnet Art. 19 Abs. 2 MiFID und ihn ergänzend Art. 27 MiFID-DRL an, dass alle Informationen, die an (potentielle) Kunden gerichtet werden, redlich und eindeutig sein müssen, nicht irreführend sein dürfen und MarketingMitteilungen als solche zu kennzeichnen sind. Gegenüber der Wertpapierdienstleistungs-Richtlinie fällt auf, dass der Inhalt der Pflichten, die dem Ziel dienen, ein Kundenprofil erstellen zu können, und darauf aufbauend der Pflichten zu Beratung und Aufklärung durch die Regelungen der MiFID deutlich konkretisiert wurde. Gleiches gilt für das zur Umsetzung der MiFID geänderte WpHG. b) Relation von Inhalt der Wertpapierdienstleistung und geschuldeter Information § 31 Abs. 4 WpHG setzt Art. 19 Abs. 4 MiFID und hierzu ergänzend Art. 35, 37 MiFID-DRL um. Er betrifft die Fälle der Anlageberatung und Finanzportfolioverwaltung. Die Wertpapierfirma muss sich nach S. 1 über die Kenntnisse und Erfahrungen ihrer Kunden mit Wertpapierdienstleistungen, über ihre Anlageziele und finanziellen Verhältnisse informieren, soweit diese Angaben erforderlich sind, dem Kunden eine geeignete Anlage zu empfehlen. Was geeignet ist, bestimmt S. 2: Die Empfehlung oder erbrachte Leistung muss den Anlagezielen des Kunden entsprechen, die Anlagerisiken müssen für den Kunden finanziell unter Berücksichtigung seiner Anlageziele tragbar sein, und der Kunde muss die Anlagerisiken ausgehend von seinen Erfahrungen und Kenntnissen verstehen können. Sofern die danach als erforderlich zu beurteilenden Informationen nicht zu erlangen sind, darf der Wertpapierdienstleister nach § 31 Abs. 4 S. 3 WpHG keine Empfehlung abgeben. Entsprechend Art. 19 Abs. 5 MiFID und Art. 36 f. MiFID-DRL gelten nach § 31 Abs. 5 WpHG geringere Anforderungen, wenn andere als die in Abs. 4 genannten Dienstleistungen erbracht werden, der Dienstleister also keine Anlageberatung oder Portfolioverwaltung durchführt. Nach

79 S. 1 trifft den Dienstleister jedoch auch in diesen Fällen die Pflicht, diejenigen Informationen einzuholen, die erforderlich sind, um beurteilen zu können, ob die gewünschte Wertpapierdienstleistungen oder ein von der Dienstleistung betroffenes Finanzinstrument für den Kunden angemessen ist. Auch diese Prüfung orientiert sich nach S. 2 an der Fähigkeit des Anlegers, aufgrund seiner Kenntnisse und Erfahrungen die involvierten Risiken beurteilen zu können. Was die Ermittlung des Kundenprofils angeht, können die Grundsätze zur alten Rechtslage fortgelten. Der Wertpapierdienstleister muss sich ernsthaft bemühen, die Kenntnisse, Ziele und Bedürfnisse des Anlegers in Erfahrung zu bringen.31 Eine pauschalierende Annahme etwa, als Zugehöriger einer bestimmten Berufsgruppe verfüge der Anleger über bestimmte Kenntnisse und Erfahrungen, genügt den Anforderungen an eine individualisierte Ermittlung des Kundenprofils nicht.32 Entscheidende Faktoren für die Beurteilung durch den Wertpapierdienstleister sind die Risiken für das eingesetzte Kapital, die der Kunde einzugehen bereit ist, und die von ihm wann und mit welcher Sicherheit erstrebte Rendite.33 Die Gewinnverwendungsabsicht ist hingegen nur insoweit relevant, als sie die Renditeziele, insbesondere den Zeitpunkt ihrer Realisierung, näher determiniert.34 Bei den in der Praxis hierzu eingesetzten Fragebögen ist entscheidend, dass sie ausreichend ausdifferenzieren, um tatsächlich ein relevantes Kundenprofil gewinnen zu können.35 Anhand der finanziellen Lage und der Anlageerfahrung ist sodann zu bestimmen, wie realistisch diese Ziele des Anlegers sind. Wünscht der Kunde ein Finanzinstrument oder eine Wertpapierdienstleistung und gelangt der Dienstleister zu dem Schluss, dass diese(s) nicht geeignet ist, muss er nach § 31 Abs. 5 S. 3 WpHG einen entsprechenden

31 Zur alten Rechtslage Schwark-Schwark, Kapitalmarktrechts-Kommentar (3. Aufl. 2004), § 31 WpHG Rn. 39; Schwintowski/Nicodem, Die Verleitung des Anlegers zur Selbstschädigung, VuR 2004, 314 ff. (unter III.1.); Steuer, Haftung für fehlerhafte Anlageberatung, in: Festschrift für Schimansky (1999), S. 793, 802. 32 BGH, NJW 2004, 3629 f., für einen Rechtsanwalt. 33 Ausführlich Schwark-Schwark (Fn. 31), § 31 WpHG Rn. 45; Cahn, Grenzen des Markt- und Anlegerschutzes durch das WpHG, ZHR 162 (1998), 1, 37. 34 Ebenroth/Boujong/Joost-Grundmann (Fn. 24), Rn. VI 219. Vgl. auch Raeschke-Kessler, Grenzen der Dokumentationspflicht nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 WpHG, WM 1996, 1764, 1767. 35 Ebenroth/Boujong/Joost-Grundmann (Fn. 24), Rn. VI 221; angemahnt auch von Schwintowski/Nicodem, VuR 2004, 314 ff. (unter II.1.).

80 Hinweis erteilen.36 Fehlen ihm die zu dieser Beurteilung erforderlichen Informationen, muss der Kunde nach S. 4 informiert werden, dass eine Beurteilung der Angemessenheit nicht möglich ist, wobei beides standardisiert erfolgen kann. In der MiFID kommt dabei zum Ausdruck, dass sich der Dienstleister darum bemühen muss, alle erforderlichen Informationen einzuholen, und sich nur dann auf den Standpunkt stellen darf, die Beurteilung nicht vornehmen zu können, wenn der Kunde es versäumt, überhaupt oder in ausreichendem Maße zu antworten. Dies ist bei der Umsetzung in § 31 Abs. 5 WpHG verloren gegangen, da die Vorschrift nur voraussetzt, dass der Wertpapierdienstleister die erforderlichen Informationen nicht erlangen konnte. Zu diesem nicht unbedeutenden Unterschied noch unter 2.b)bb). Die MiFID stellt damit die Pflicht des Dienstleisters, Informationsasymmetrien abzubauen, zur Disposition des Anlegers.37 Daraus folgt unweigerlich, dass die generalklauselartige Pflicht des Dienstleisters in Art. 19 Abs. 1 MiFID und § 31 Abs. 1 Nr. 1 WpHG, im bestmöglichen Interesse des Anlegers handeln zu müssen, durch die Entscheidung des Anlegers ausgeschlossen oder, anders ausgedrückt, auf den Hinweis, eine Beurteilung nicht abgeben zu können, beschränkt wird. Die Richtlinie stellt damit klar, dass nur der kooperierende Anleger als schutzbedürftig gelten kann und die Interessenwahrungspflicht des Dienstleisters auslöst, den Anleger in die Lage einer informierten Anlageentscheidung versetzen und dessen Interessen bei Beratung, Portfolioverwaltung und Ausführung der Kundenorder wahren zu müssen. Die geschuldete Information über die Finanzinstrumente findet sich in Art. 19 Abs. 3 MiFID und § 31 Abs. 3 WpHG. Da sie nach Art. 19 Abs. 3 S. 2 MiFID und § 31 Abs. 3 S. 2 WpHG in standardisierter Form zur Verfügung gestellt werden kann, werden sich die Dienstleister wie bisher standardisierter Broschüren bedienen, insbesondere der in der

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Im Gegensatz zur alten Rechtslage, dazu Cahn, ZHR 162 (1998), 1, 37; Ebenroth/Boujong/Joost-Grundmann (Fn. 24), Rn. VI 220, kann hingegen wohl nicht mehr gefordert werden, dass der Wertpapierdienstleister den Rat erteilt, der Anleger solle zur Erreichung seiner Ziele weniger riskante Anlagen bevorzugen oder weiter diversifizieren, da es sich hierbei um eine Empfehlung handelt, die nur unter den Voraussetzungen des Abs. IV gefordert werden kann. fällt. 37 Dies sollte nach dem Inhalt der Wertpapierdienstleistungs-Richtlinie noch anders sein, siehe Balzer, Anlegerschutz bei Verstößen gegen die Verhaltenspflichten nach §§ 31 ff. WpHG, ZBB 1997, 260, 266; Köndgen, Wieviel Aufklärung braucht ein Wertpapierkunde?, ZBB 1996, 361, 365 (Verhaltensregeln sind zwar zwingendes Recht, aber mit Differenzierungsvorbehalt).

81 Praxis so beliebten „Basisinformationen über Börsentermingeschäfte“. Dabei wird nach wie vor zu beachten sein, dass hohe Anforderungen an eine deutliche und klar verständliche Darstellung bestehen. Weiterhin gilt auch, dass Broschüren als Aufklärungsmedium ungeeignet sind, soweit sich der Anleger die für ihn relevanten Informationen erst heraussuchen muss.38 § 31 Abs. 6 WpHG setzt die Rechtsprechung des BGH um, wonach in den Fällen, in denen die in den Absätzen 4 und 5 genannten Informationen auf Angaben des Kunden beruhen, das Wertpapierdienstleistungsunternehmen die Fehlerhaftigkeit oder Unvollständigkeit der Angaben seiner Kunden nicht zu vertreten hat, es sei denn, dass ihm die Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit der Kundenangaben bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt ist.39 Das stimmt wiederum mit dem Ansatz der MiFID überein, ein eigenverantwortliches Verhalten des Anlegers vorauszusetzen. Schließlich sieht § 31 Abs. 7 WpHG in Entsprechung zu Art. 19 Abs. 6 MiFID vor, dass die Pflichten des Abs. 5 nicht gelten, wenn das Unternehmen auf Veranlassung des Kunden im Einzelnen aufgeführte Dienstleistungen erbringt und den Kunden darauf hinweist, deren Angemessenheit gerade nicht zu überprüfen. Dabei handelt es sich um Dienstleistungen, die als nicht-komplex einzustufen sind, so dass davon ausgegangen werden kann, der Anleger sei sich auch ohne Aufklärung der Risiken einer Anlage in diesen Instrumenten bewusst. Welche Dienstleistungen hiervon erfasst werden, regelt Art. 38 MiFID-DRL durch einen Rückverweis auf einzelne Bestimmungen der MiFID. Von dieser Liste nicht erfasst werden etwa die als komplex einzustufenden Options- und Termingeschäfte.40

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BGH, NJW 2004, 3629 f.; BGH, NJW-RR 1996, 947. Zu den Anforderungen an eine objektgerechte Beratung ausführlich Steuer, FS Schimansky (1999), S. 793, 804 ff. 39 Siehe BGH, BKR 2004, 124, 125; BGH, NJW 2000, 359, 362; Steuer, FS Schimansky (1999), S. 793, 803. Dazu auch unter 2.b)aa) S. 85 ff. 40 Nach § 31 Abs. 7 WpHG muss es sich um Aktien, die zum Handel an einem organisierten Markt oder einem gleichwertigen Markt zugelassen sind, Geldmarktinstrumente, Schuldverschreibungen und andere verbriefte Schuldtitel, in die kein Derivat eingebettet ist, den Anforderungen der Richtlinie 85/611/ EWG entsprechende Anteile an Investmentvermögen oder andere nicht-komplexe Finanzinstrumente handeln.

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2. Klärung bisheriger Zweifelsfragen durch die neue Rechtslage? Überaus problematisch war unter Geltung der alten Rechtslage die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Wertpapierdienstleister sich auf die Ausführung von Kundenaufträgen beschränken und jede Beratung und Aufklärung ablehnen kann. Schon bisher wurde dabei nach Beratung und Aufklärung unterschieden, ein Konzept, das nunmehr auch ausdrücklich in MiFID und neuem WpHG zum Ausdruck kommt. Von einer Beratungssituation ist auszugehen, wenn der Kunde mit einem Anlagewunsch an den Wertpapierdienstleister herantritt und von diesem eine Anlageempfehlung erwartet.41 Im Unterschied dazu können nur Aufklärungspflichten entstehen, wenn der Kunde bereits ein Anlageprodukt ausgewählt hat, dem Wertpapierdienstleister die Kauforder erteilt und der Wertpapierdienstleister nicht von sich aus in eine Beratungssituation eintritt. Während die Beratung in eine Anlageempfehlung resultiert, werden im Wege der Aufklärung nur diejenigen Informationen erteilt, derer der Anleger bedarf, um das Risiko einer (konkreten) Vermögensanlage in Finanzinstrumenten beurteilen zu können.42 Die Unterscheidung in § 31 Abs. 4 WpHG und Art. 19 Abs. 4 MiFID einerseits und § 31 Abs. 5 WpHG und Art. 19 Abs. 5 MiFID andererseits bestätigt die schon bislang h.M., wonach der Wertpapierdienstleister eine Beratung ablehnen kann und damit besondere Beratungspflichten gegenüber dem Anleger ausschließt.43 Die ungleich problematischere Frage lautet hingegen nach wie vor, inwieweit außerhalb bestehender 41

Nach herrschender Dogmatik ist für das (konkludente) Zustandekommen eines Beratungsvertrages entscheidend, dass der Kunde zum Ausdruck bringt, dass die Beratung für ihn von erheblicher Bedeutung ist und er sie zur Grundlage von Vermögensdispositionen machen will, BGHZ 74, 103, 106; BGHZ 100, 117, 118; BGHZ 123, 126, 128; Schimansky/Bunte/Lwowski-Siol (Fn. 17), § 43 Rn. 7. Dazu, dass sich durch die MiFID an diesen Grundsätzen nichts geändert hat, Einsele, Anlegerschutz durch Information und Beratung, JZ 2008, 477, 481. 42 Zur Abgrenzung von Beratung und Aufklärung Balzer, Aufklärungs- und Beratungspflichten bei der Vermögensverwaltung, WM 2000, 441 f.; Hadding, Unterrichtung, Aufklärung, Auskunft, Beratung und Empfehlung, in: Festschrift für Schimansky (1999), S. 67, 72; Horn, FS Schimansky (1999), S. 653, 656; ders., ZBB 1997, 139, 143 f.; Lang, Die Beweislastverteilung im Falle der Verletzung von Aufklärungs- und Beratungspflichten bei Wertpapierdienstleistungen, WM 2000, 450, 451; Schimansky/Bunte/Lwowski-Siol (Fn. 17), § 43 Rn. 3 f.; Steuer, FS Schimansky (1999), S. 793, 794, 796. Zugeschnitten auf die Pflichten aus § 31 Abs. 2 WpHG a.F. Schwark-Schwark (Fn. 31), § 31 WpHG Rn. 53-56. 43 Zur h.M. unter Geltung der alten Rechtslage Horn, FS Schimansky (1999), S. 653, 656 f. m.N. zum Meinungsstand.

83 Beratungsverträge die grundsätzlich geschuldeten Aufklärungspflichten ausgeschlossen werden können. a) Schutz bei privatautonomem Aufklärungsverzicht Unter Geltung des zur Umsetzung der Wertpapierdienstleistungs-Richtlinie erlassenen § 31 WpHG a.F. und schon davor nach den allgemeinen Grundsätzen zu vorvertraglichen Aufklärungspflichten44 respektierte die Rechtsprechung die individuelle Entscheidung des Kunden, auf Information und Schutz zu verzichten. Auch die WertpapierdienstleistungsRichtlinie verfolge nicht das Ziel, den Kunden zu bevormunden und die Aufträge eines hinreichend informierten Kunden mit der Begründung abzulehnen, sie widersprächen seinem wohlverstandenen Interesse.45 Der Wertpapierdienstleister musste daher in seine Bewertung nur diejenigen Informationen einbeziehen, die ihm zur Verfügung standen, und daran seine Aufklärung ausrichten.46 Zugleich befreite die Weigerung des Anlegers, seinerseits an der Entwicklung eines Kundenprofils mitzuwirken, nicht von der Pflicht, über die Risiken des speziellen Wertpapiergeschäfts aufzuklären, da diese auch ohne sein Zutun erfüllt werden konnte.47 Davon sind die Fälle zu unterscheiden, in denen dem Wertpapierdienstleister das Sachwissen fehlt, um die Risiken des von dem Kunden gewünschten Geschäfts beurteilen zu können und der daher nicht über die Risiken des gewünschten Geschäfts aufklären kann. Nach bisher h.M. soll er in diesen Fällen das Geschäft dennoch ausführen dürfen, wenn er den Kunden auf seine fehlende oder mangelhafte Sachkunde hingewiesen hat.48 So lag kein Verstoß gegen die Pflichten aus § 31 WpHG a.F. vor, wenn der Dienstleister zwar auf die Risiken von Optionsscheinen allgemein hinwies, hinsichtlich des konkreten Papiers aber mit dem Hinweis, sich in diesem Bereich nicht auszukennen, keine Angaben machte, sofern der

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Dazu BGH, NJW-RR 1997, 176, 177; BGH, NJW 1996, 1744 f. BGH, BKR 2004, 124, 126; zustimmend Schimansky/Bunte/LwowskiHannöver (Fn. 17), § 110 Rn. 64; Cahn, ZHR 162 (1998), 1, 35 f.; Horn, ZBB 1997, 139, 151; Assmann/Schneider-Koller, Wertpapierhandelsgesetz (1995), § 31 Rn. 130. 46 Schwark-Schwark (Fn. 31), § 31 WpHG Rn. 48. 47 Horn, FS Schimansky (1999), S. 653, 660. 48 BGH, NJW 2000, 359, 361; BGH, NJW 1998, 2675, 2676; BGH, NJW 1998, 994. Zum Meinungsstand in der Literatur siehe Schwark-Schwark (Fn. 31), § 31 WpHG Rn. 8. 45

84 Anleger seinerseits erklärte, keiner Aufklärung zu bedürfen, da er von dritter Seite gut beraten sei.49 Diese Grundsätze stimmen mit den allgemeinen Grundlagen privatautonomen Handelns überein: Soweit weder ein Informationsgefälle noch eine besondere Zwangslage besteht, existiert kein Anlass zum Schutz vor Eigenschädigung, wie sich besonders deutlich an der Wirkung von Grundrechten in Privatrechtsverhältnissen zeigt. Das BVerfG zieht die Grenzen der Vertragsfreiheit zugunsten einer Anwendung von Verfassungswerten vor allem dort, wo ein besonderes Schutzbedürfnis der Teilnehmer am Rechtsverkehr besteht. Informationsgefälle können zu einem Kräfteungleichgewicht der Vertragspartner führen. Daneben sind es besondere Zwangslagen, insbesondere finanzieller Art, die zu einer Machtkonzentration auf einer Vertragsseite führen und es ausschließen können, dass der andere Vertragspartner seine eigenen Interessen selbstbestimmt und wirkungsvoll wahrzunehmen vermag, und vielmehr in ein Diktat der Gegenseite ausufern.50 Daher ist es auch zutreffend, dass ein Wertpapierdienstleister selbst objektiv unvernünftige Aufträge informierter Anleger ausführen darf,51 jedenfalls solange diese nicht kreditfinanziert werden (dazu noch unter c)). Die neue Rechtslage ändert an diesen Grundsätzen insoweit nichts, als es um die Weigerung des Anlegers geht, Angaben zu seinen Kenntnissen und Erfahrungen zu machen. Wie schon dargestellt, begnügen sich Art. 19 Abs. 5 S. 4 MiFID und § 31 Abs. 5 S. 3 WpHG hier mit dem Hinweis des Wertpapierdienstleisters, eine Eignungsprüfung nicht erbringen zu können. Anders ist die Rechtslage nunmehr hingegen, wenn das Bewertungsdefizit darauf beruht, dass sich der Wertpapierdienstleister mit dem Anlagepro-

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BGH, NJW 1998, 2675, 2676. BVerfG, NJW 2005, 2363, 2366 – Informationsdefizit; BVerfG, NJW 2005, 2376, 2378 – Informationsdefizit; BVerfGE 103, 89, 100 f. – besondere Zwangslage; BVerfGE 89, 214, 232 – unbegrenzte Verpflichtung und Unerfahrenheit; BVerfGE 81, 242, 255 – wirtschaftliche Abhängigkeit. Aus der Literatur etwa Singer, Grundrechte und der Schutz der Menschen vor sich selbst, JZ 1995, 1133, 1137; kritisch Zöllner, Regelungsspielräume im Schuldvertragsrecht, AcP 196 (1996), 1, 14. Dazu, dass im Grundsatz der im Vertrag zum Ausdruck gebrachte übereinstimmende Wille der Vertragsparteien in der Regel auf einen durch den Vertrag hergestellten sachgerechten Interessenausgleich schließen lässt BVerfGE 89, 214, 232; BVerfGE 103, 89, 100; BVerfG, NJW 2005, 2363, 2365; BVerfG, NJW 2005, 2376, 2377 f. 51 BGH, BKR 2004, 124, 126; BGH, BKR 2001, 38, 40. Vgl. auch Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht (2. Aufl. 2006), Rn. 298. 50

85 dukt nicht auskennt. Art. 19 Abs. 3 MiFID und § 31 Abs. 3 WpHG sehen keine Ausnahmen von dem Erfordernis vor, dem Anleger Informationen über das betreffende Finanzprodukt zur Verfügung stellen zu müssen. Hinzu kommt, dass Art 19 Abs. 6 MiFID und § 31 Abs. 7 WpHG zum Ausdruck bringen, die Anforderungen an die Wohlverhaltenspflichten nur bei nicht-komplexen Finanzinstrumenten absenken zu wollen. Das legt den Schluss nahe, dass nur ein kundiger Wertpapierdienstleister Aufträge über risikoreichere Produkte, etwa Optionsscheine oder Finanztermingeschäfte, unter sachkundigem Hinweis auf die damit verbundenen Gefahren für das eingesetzte Kapital ausführen darf.52 b) Die Aufklärungspflichten der Discount-Broker Ebenfalls problematisch unter der alten Rechtslage war die Frage, ob die Discount-Broker im execution only-Geschäft den Anforderungen des WpHG genügen, wenn sie nur die Order der Kunden ausführen, es dabei aber ablehnen, Aufklärungspflichten zu übernehmen. aa) Der Meinungsstand zur alten Rechtslage Einigkeit besteht jedenfalls darüber, dass der Discount-Broker deutlich machen muss, keine Beratung anzubieten, sondern seine Dienstleistung vielmehr darauf zu beschränken, erteilte Aufträge auszuführen.53 Außerdem nimmt die Rechtsprechung die soeben dargestellten Grundsätze zum eigenverantwortlichen Aufklärungsverzicht zum Ausgang, um die Rechtslage bei den Discount-Brokern zu beurteilen. Der BGH geht davon aus, der Auftrag des Kunden sei als Verzicht auf Aufklärung zu verstehen. Daraus folgert er, dass der Discount-Broker seinen Pflichten allein durch standardisierte Informationen über die allgemeinen Risiken der gewünschten Anlage bei Aufnahme der Geschäftsbeziehung nachkommen könne. An der Erforderlichkeit einer Pflicht zur Mitteilung zweckdienlicher

52 Überholt daher BGH, NJW 2004, 2969, 2970, wonach keine Aufklärungsoder weiteren Prüfungspflichten bestehen sollen, wenn der Kunde mit einem gezielten Auftrag zum Erwerb von Optionsscheinen oder Anteilen an einem Fonds, der in Optionsscheinen investiert, an ein Kreditinstitut herantritt und dabei erklärt, der Fonds lege sein Kapital in Optionsscheinen an und sei daher sicherlich der höchsten Risikoklasse zuzuordnen. 53 BGH, NJW 2000, 359, 361; BGH, BKR 2004, 124, 125; Siol, Beratungsund Aufklärungspflichten der Discount-Broker, in: Festschrift für Schimansky (1999), S. 781, 786, mit der zusätzlichen Voraussetzung, dass der Discount-Broker zusätzlich über die Art und Weise der Geschäftsabwicklung informiert.

86 Informationen im Sinne des § 31 Abs. 2 Nr. 2 WpHG a.F. fehle es, da der Anleger mit dem an den Discount-Broker erteilten Auftrag zum Ausdruck bringe, keine Informationen zu benötigen.54 In einer unlängst ergangenen Entscheidung ging der BGH über diese Grundsätze hinaus und prüfte zusätzlich, ob der Wertpapierdienstleister davon ausgehen durfte, dass der Anleger aufgrund seiner Person und bisherigen Erfahrung mit Wertpapieranlagen die ihm zur Verfügung gestellten Informationen und Warnhinweise verstanden hatte und bei seinen Wertpapiergeschäften in der Lage war, eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen. Diese Daten hatte der Discount-Broker im Wege eines standardisierten Fragebogens erhoben.55 Legt man diese letzte Entscheidung zugrunde, so lauten die Kriterien nunmehr, dass der Discount-Broker dem Anleger (standardisiert) grundlegende Basisinformationen über die Risiken des Wertpapierhandels zur Verfügung stellen und sich durch Abgleichung mit den Angaben des Anlegers davon überzeugen muss, dass dieser imstande ist, die Risiken zu erkennen.56 Regelmäßig darf er dabei den Angaben des Anlegers vertrauen.57 Nur unter der Voraussetzung, dass er Kenntnis von der Unrichtigkeit der Angaben des Anlegers über seine fehlende Aufklärungsbedürftigkeit hat oder seine Unkenntnis auf grober Fahrlässigkeit beruht, bestehen weiter gehende Pflichten.58 Damit hat sich die Rechtsprechung der (wohl restriktivsten) Literaturansicht angenähert, die auch den Discount-Broker für verpflichtet hält, sich bemühen zu müssen, die nach § 31 II Nr. 1 WpHG a.F. erforderlichen 54

BGH, NJW 2000, 359, 361; BGH, BKR 2004, 124, 125; Vorinstanz OLG Karlsruhe, NJW-RR 2004, 1052, 1053 (n.rkr.); OLG München, WM 1998, 2188, 2189. Grundsätzlich zustimmend Ebenroth/Boujong/Joost-Grundmann (Fn. 24), Rn. VI 226; ders., Methodenpluralismus als Aufgabe – zur Legalität von ökonomischen und rechtsethischen Argumenten in Auslegung und Rechtsanwendung, RabelsZ 61 (1997), 423 ff.; Schimansky/Bunte/Lwowski-Hannöver (Fn. 17), § 110 Rn. 54. 55 BGH, BKR 2004, 124, 125. Dazu, dass dies der gängigen Praxis der Discount-Broker entspricht, siehe Siol, FS Schimansky (1999), S. 781, 788. 56 So auch schon zuvor gewichtige Stimmen aus der Literatur, die dies als Absenkung, aber nicht völligen Verzicht auf Aufklärungspflichten bezeichnen: Köndgen, ZBB 1996, 361, 364; Horn, FS Schimansky (1999), S. 653, 663 f.; ders., ZBB 1997, 139, 151. 57 Balzer, WM 2000, 441, 445 f.; Raeschke-Kessler, WM 1996, 1764, 1768; Siol, FS Schimansky (1999), S. 781, 790. 58 BGH, BKR 2004, 124, 125; BGH, NJW 2000, 359, 362. Dazu auch Horn, FS Schimansky (1999), S. 653, 661 f.; Schwark-Schwark (Fn. 31), § 31 WpHG Rn. 40.

87 Daten einzuholen und die von § 31 II Nr. 2 WpHG a.F. geforderten Informationen bereit zu stellen. Wünscht der Anleger ein bestimmtes Papier, muss der Broker nach dieser Ansicht anhand der gesammelten Daten beurteilen, ob der Anleger die Risiken richtig einschätzen kann, um die Transaktion auch ohne weitere Aufklärung vornehmen zu können. Anderenfalls ist der Anleger zu warnen, und nur für den Fall, dass er dennoch auf dem Geschäft besteht, soll der Broker ausführen dürfen.59 bb) Klärung durch die Änderungen durch MIFID und neues WpHG Zu diesem Fragenkreis verhelfen nun MiFID und darauf beruhend das geänderte WpHG zur Klärung. Die Dienstleistungen der Discount-Broker richten sich nach Art 19 Abs. 5 und 6 MiFID bzw. § 31 Abs. 5 und 7 WpHG, da der Wertpapierdienstleister gerade keine Beratung oder Portfolio-Verwaltung im Sinne von Art. 19 Abs. 4 MiFID bzw. § 31 Abs. 4 WpHG anbietet. Im Grundsatz unterliegt auch der Discount-Broker den allgemeinen Anforderungen, wie sie an jeden Wertpapierdienstleister zu stellen sind. Um die Order-Ausführung einfach und für sich günstig zu gestalten, wird der Wertpapierdienstleister die Vereinfachungsmöglichkeiten, die das neue Recht bietet, ausnutzen, insbesondere die in Art. 19 Abs. 5 bzw. § 31 Abs. 5 WpHG geschaffene Möglichkeit, den Kunden standardisiert darauf hinzuweisen, dass eine Beurteilung nicht möglich ist und er die Order daher auf eigene Gefahr vornimmt. Eine auf standardisierte Aufklärung über das Anlageprodukt nach Art. 19 Abs. 3 MiFID und § 31 Abs. 3 WpHG beschränkte und im Übrigen aufklärungsfreie Leistungserbringung ist fortan möglich, wenn der Dienstleister nur die als nicht-komplex eingestuften Dienstleistungen im Sinne von Art. 19 Abs. 6 MiFID bzw. § 31 Abs. 7 WpHG anbietet. In allen übrigen Fällen muss das Unternehmen weiterhin überprüfen, ob sich die vom Kunden gewünschte Anlage für ihn eignet. Hier ist, worauf schon oben (unter 1.) hingewiesen wurde, von Bedeutung, dass die MiFID eine Eignungsprüfung unter Hinweis an den Kunden nur dann für entbehrlich hält, wenn der Wertpapierdienstleister nicht sämtliche erforderlichen Informationen erhält und dieses Defizit aus der Sphäre des Kunden stammt. Der Discount-Broker kann daher nicht darauf verzichten,

59 Cahn, ZHR 162 (1998), 1, 40 f.; Assmann/Schneider-Koller (Fn. 45), § 31 WpHG Rn. 135-137; Siol, FS Schimansky (1999), S. 781, 789. Siehe auch Schwark-Schwark (Fn. 31), § 31 WpHG Rn. 68, allerdings mit der Einschränkung, dass bei (den hier vorliegenden) execution only-Geschäften keine Pflichten nach § 31 Abs. 2 bestehen, da der Anleger erklärt, auf Erkundigung und Aufklärung ganz zu verzichten.

88 geeignete Daten überhaupt zu erheben. Zugleich ist zu berücksichtigen, dass auch in der MiFID zum Ausdruck kommt, dass ein privatautonomer Verzicht auf den von der Richtlinie bezweckten Schutz möglich ist. Daraus ergibt sich im Einzelnen: Die Direkt-Broker müssen (weiterhin) Angaben zu den Erfahrungen und den Anlagezielen des Kunden einfordern und den Fragebogen dabei so ausgestalten, dass er eine detaillierte Ausdifferenzierung ermöglicht. Um davon ausgehend beurteilen zu können, ob die Erfahrungen und Kenntnisse für das spezielle Finanzprodukt ausreichen, können einzelne Dienstleistungen bestimmten Risikoklassen zugeordnet und darauf aufbauend eventuell Hinweise darüber erteilt werden, dass die gewünschte Anlage mit den Anlagezielen nicht vereinbar ist und eine Ausführung nur auf nochmaligen ausdrücklichen Wunsch des Kunden auf dessen eigenes Risiko erfolgen wird. Gibt der Kunde etwa an, sicherheitsbewusst anlegen und langfristig geringe Rendite erwirtschaften zu wollen, äußert dann aber den Wunsch, Börsentermingeschäfte zu tätigen, ist ein Warnhinweis unproblematisch möglich. In allen übrigen Fällen, in denen ein Konflikt mit den Anlagezielen des Kunden nicht derart deutlich hervortritt, wird es wohl den Zielen der MiFID entsprechen, pauschal den Hinweis zu erteilen, dass eine Beurteilung der gewünschten Dienstleistung auf deren individuelle Eignung für den Kunden nicht möglich ist. Ein Beispiel hierzu könnte sein, dass ein Kunde, der angibt, seit mehreren Jahren Erfahrung mit dem Handel von Aktien zu haben und auch spekulative Risiken zur Erzielung hoher und kurzfristiger Renditen nicht scheut, penny stocks in einem Land mit instabilen Regierungs- und Wirtschaftsverhältnissen kauft. Zwar wäre hier durch Rückfragen durchaus eine weitere Eruierung möglich. Da die MiFID standardisierte Erklärungen zulässt und die Eigenverantwortung des Kunden betont, erscheint es aber zulässig, den Kunden zweifach zu warnen, zum einen durch den Hinweis, dass der Discount-Broker sich darauf beschränkt, erteilte Aufträge ohne (eingehende) Prüfung auszuführen, und zum anderen durch die Warnung, dass eine Beurteilung der Eignung der Order für den Anleger nicht möglich ist. c) Weiterhin Zweifel bei kreditfinanzierten Anlagen Ein Bereich, in dem sich keine Klärung ergeben hat, sind die spekulativen Anlagen auf Kredit. Die Kreditfinanzierung steigert das Investitionsrisiko des Anlegers. Zu den allgemeinen Spekulationsrisiken der Wertpapieranlage treten die Kosten der Kreditaufnahme und die daraus entspringende Gefahr hinzu, dass der Anleger, sofern andere Mittel zur Bedienung des Kredits nicht bestehen, gezwungen sein kann, die Anlage zu einem ungünstigen Zeitpunkt realisieren zu müssen. Die Interessenwahrungspflicht des

89 Wertpapierdienstleisters erlangt hierdurch eine andere Dimension, wenn er zugleich den Kredit zur Verfügung stellt. Fest steht jedenfalls, dass auch über die besonderen Gefahren der kreditfinanzierten Spekulation nach Art. 10 Abs. 3 MiFID bzw. § 31 Abs. 3 Nr. 2 WpHG aufgeklärt werden muss, wobei dieser Pflicht durch standardisierte Information nachgekommen werden kann, was insbesondere für Discount-Broker relevant ist. Darüber hinausgehende Warnhinweise sollen hingegen nur erforderlich sein, wenn von den ursprünglich erklärten Zielen abgewichen oder erkennbar die Risiken eine Auftrags falsch eingeschätzt werden.60 Auch soll das Kreditinstitut nicht verpflichtet sein, die Ausführung der kreditfinanzierten Wertpapierorder von ausreichenden Sicherheiten abhängig zu machen.61 In Entsprechung zu den Grundsätzen zu Realkrediten soll die Prüfung der Kundenbonität und der Werthaltigkeit der gestellten Sicherheiten nur im Interesse des Kreditinstituts erfolgen. Ein Kreditinstitut, das den Kreditwünschen der Kunden in über die banküblichen Gepflogenheiten hinausgehendem Maße nachkommt, begeht keine Pflichtverletzung gegenüber dem Kunden.62 Das soll selbst dann gelten, wenn die Anlage des Kunden mit unbegrenzten Verpflichtungen einhergeht wie bei Stillhalteoptionsgeschäften.63 Die hierdurch drohende Schuldenfalle wird mit dem Hinweis darauf, dass der Wertpapierdienstleister den Anleger nicht vor sich selbst zu schützen brauche, in Kauf genommen.64 Wurde der Anleger zuvor bereits von einem anderen aufklärungspflichtigen Wertpapierdienstleister betreut, wird das kreditgebende und die Order ausführende Kreditinstitut gar von seinen Aufklärungspflichten gänzlich freigestellt.65 60

Zur entsprechenden Rechtslage unter § 31 Abs. 2 Nr. 1 WpHG a.F. BGH, BKR 2004, 124, 126. Vgl. auch OLG Stuttgart Urt. v. 18.12.2002 – 9 U 58/02, Rn. 55 (nicht veröffentlicht). 61 BGH, NJW 2007, 3127. 62 BGH, BKR 2004, 124, 127; BGH, NJW 2002, 62, 63. 63 BGH, NJW 2002, 62. Bei einem Stillhalteroptionsgeschäft verpflichtet sich der Stillhalter für eine Prämie dafür, eine Option auszugeben, zu einem bestimmten Termin eine bestimmte Menge des Basiswerts zu einem bestimmten Kurs zu liefern oder abzunehmen. Im ungünstigsten Fall muss er mit Verlusten rechnen, die ein Vielfaches der Prämie ausmachen und im Falle einer Lieferverpflichtung theoretisch sogar unbegrenzt hoch sein können, sofern er sich nicht im Besitz entsprechender Mengen des jeweiligen Basiswerts befindet. Siehe dazu BGH, WM 1992, 1935 ff. 64 BGH, NJW 2000, 359, 361; BGH, NJW 1998, 2675, 2676; BGH, BKR 2004, 124, 125; inhaltlich auch OLG Stuttgart v. 18.12.2002 – 9 U 58/02, Rn. 45 (nicht veröffentlicht). 65 Der Grundsatz lautet, dass bei Einschaltung mehrerer Wertpapierdienstleister nur der kundennähere zur Befragung des Anlegers verpflichtet sein soll, BGH,

90 Die problematische Frage ist, ob die Verpflichtung des Wertpapierdienstleisters, im bestmöglichen Interesse des Anlegers zu handeln, gebietet, die Order zu verweigern, wenn erkennbar wird, dass sich der Anleger in eine seine finanziellen Möglichkeiten übersteigende (lebenslange) Verschuldung verstrickt.66 Wie soeben dargestellt, lautet die Antwort des BGH, dass der Wertpapierdienstleister in den Fällen kreditfinanzierter Anlagen weder verpflichtet ist, diese zu verweigern, noch die Ausführung davon abhängig zu machen, dass der Kunde ausreichende Sicherheiten stellt. Diese Rechtsprechung verdient im Ansatz unter der Prämisse Zustimmung, dass der Anleger über die außerordentlichen Risiken aufgeklärt wurde, da weder die MiFID noch das WpHG bezwecken, den Anleger um jeden Preis von riskanten Anlagen abzuhalten. Dem Ausgangspunkt der Rechtsprechung, wonach ein informierter und gewarnter Anleger nicht vor seiner eigenen Risikobereitschaft zu schützen ist, wurde bereits oben zugestimmt. Der BGH konnte hier bislang auch eine Parallele zu den Kreditgeschäften ziehen, bei denen die Entscheidung über ihren Abschluss ebenfalls in der alleinigen Verantwortung des Kreditnehmers lag.67 Die Überlegungen, ob dieser selbstbestimmten Waghalsigkeit gleichwohl gewisse Grenzen gezogen werden müssen, werden nunmehr durch die neue Verbraucherkredit-Richtlinie neu belebt. In den Entscheidungen des BGH wird deutlich, zu welchen Risiken die Anleger- und auch die Kreditseite bereit sind. Die hieraus resultierenden Gefahren für den Markt werden durch die Aufsicht der BAFinN und den von dieser erlassenen Richtlinien68 eingedämmt. Werden sie verletzt, kann der einzelne Anleger hieraus jedoch keine Ansprüche herleiten, da sie nach einhelliger Auffassung keine drittschützende Wirkung entfalten und daher keine Interessenwahrungspflichten im Verhältnis von Wertpapierdienstleister

NJW 2002, 62, 64. Dazu auch Balzer, WM 2000, 441, 447. Siehe nun aber die neue Verbraucherkredit-Richtlinie (zu dieser sogleich unter III. [S. 93 ff.]), wonach der Kreditgeber unabhängig davon, ob ein Kreditvermittler am Absatz des Kredits beteiligt ist, umfassend informieren muss, siehe BE 24. 66 Hierzu Schwintowski/Nicodem, VuR 2004, 314 ff. (unter III.2.). 67 BGH, NJW 2002, 62, 63. 68 Auf die Ermächtigungsgrundlage des § 35 Abs. 6 WpHG gestützte Richtlinien der BAFin zur Konkretisierung der §§ 31, 32 WpHG, abgedruckt in Bundesanzeiger 165 vom 4.9.2001, S. 19217. Zu diesem Birnbaum, Die Umsetzung der Wohlverhaltensregeln des Wertpapierhandelsgesetzes (WpHG) in die Aufsichtspraxis des Bundesaufsichtsamtes für den Wertpapierhandel (BAWe), in: Festschrift für Kümpel (2003), S. 49; zu früheren Entwürfen Köndgen, ZBB 1996, 361.

91 und Anleger begründen.69 Bisher konnte der Kreditnehmer nur bei Überschreitung der Grenzen der Sittenwidrigkeit auf Abhilfe hoffen. Dies setzt nach der Rechtsprechung voraus, dass zu der Aussicht, aufgrund der wirtschaftlichen Verhältnisse den Kredit voraussichtlich niemals zurückzahlen zu können, hinzukommt, dass dem Kreditnehmer diese Tatsache bei Vertragsschluss unbekannt ist, der Kreditgeber dies seinerseits jedoch erkennt und möglicherweise sogar verschleiert.70 Praktisch relevant werden diese Grundsätze hingegen nicht, da die Rechtsprechung regelmäßig nur sehr junge, vollkommen mittellose und unerfahrene Zahlungsverpflichtete im Blick hat.71 Erst wenn die verfassungsrechtlich relevante Schwelle überschritten wird, wird der Kreditnehmer auch tatsächlich von seiner Verpflichtung freigestellt, wobei hierfür zu einer lebenslangen finanziellen Knebelung und intellektuellen Unterlegenheit auch eine Zwangslage des Geknebelten hinzukommen muss.72 Da die neue Verbraucherkredit-Richtlinie die Kreditgeber zu einem responsible lending verpflichtet, müssen diese fortan im Kundeninteresse prüfen, ob sich der Kreditnehmer den Kredit tatsächlich leisten kann (hierzu im Einzelnen sogleich unter III.). Die Grundsätze des responsible lending in der Verbraucherkredit-Richtlinie sind zugleich äußerst vage gehalten. Die Mitgliedstaaten werden hierin nur verpflichtet, geeignete Maßnahmen zur Förderung verantwortungsvoller Verfahren in allen Phasen der Kreditvergabe zu ergreifen. Die genauen Grenzen werden nicht vorgegeben. Vieles spricht gleichwohl dafür, dass den Finanzdienstleister auch unterhalb der Schwelle der Verfassungswidrigkeit eine schadensersatzbewehrte Pflicht trifft, eine kreditfinanzierte Spekulation zu verweigern, wenn eine lebenslange Verschuldung droht (genauer dazu unter III.). Gerade angesichts dessen, dass ein Kreditinstitut bei kreditfinanzierten Wertpapieranlagen nunmehr nach neuester Rechtslage gleich zwei Wohlverhaltenspflichten treffen, sollte die Frage gerade für den Wertpapierhandel bejaht werden, auch wenn dies letztlich mit einer Bevormundung des Anlegers einhergeht

69

Allg. Meinung, BGH, NJW 2002, 62, 63 f.; Lang, WM 2000, 450,

465. 70 BGH, NJW 1966, 1451 f.; BGH, NJW 1982, 1457, 1458; BGH, NJW 1989, 1665, 1666. 71 So in allen drei Entscheidungen BGH, NJW 1966, 1451 f.; BGH, NJW 1982, 1457, 1458; BGH, NJW 1989, 1665, 1666. 72 Dazu nochmals der Hinweis auf BVerfGE 89, 214. Zur Frage, ob auch der durch aufgelaufene Verluste entstandene psychologische Druck als Zwangslage aufzufassen ist, Schwintowski/Nicodem, VuR 2004, 314 ff. (unter II.1.a)).

92 und sich damit eine punktuelle Ausnahme zum allgemeinen Prinzip der Eigenverantwortung im Europäischen Vertragsrechts ergibt.73

3. Interessenkonflikte bei Provisionszahlungen nach neuer Rechtslage Soweit die Bank in den Fällen des Art. 19 Abs. 4 MiFID bzw. § 31 Abs. 4 WpHG Beratung schuldet, wird weiterhin die alte Rechtsprechung zu Beratungsverträgen gelten, wonach sich das Kreditinstitut bei der Empfehlung von Fondsanlagen auf das von ihr zusammengestellte und konzerneigene Anlageprogramm beschränken und daraus geeignete Produkte auswählen darf, ohne sich in Interessenkonflikte zu verstricken, während die Produkte konkurrierender Anbieter außer Acht gelassen werden dürfen.74 Hingegen steht die bisherige Rechtsprechung zu den Hinweispflichten für die Beteiligung des Wertpapierdienstleisters an Provisionen zukünftig auf dem Prüfstand. Art. 26 MiFID-DRL und in seiner Umsetzung § 31d WpHG untersagen bestimmte Provisionszahlungen nunmehr gänzlich.75 Die Redlichkeitspflicht nach Art. 19 Abs. 1 MiFID wird danach verletzt, wenn in Zusammenhang mit der Erbringung von Wertpapierdienstleistungen Provisionen oder sonstige Zuwendungen gewährt oder angenommen werden. Für bestimmte Arten von Provisionen gilt dieses Verbot nicht, nämlich nach Abs. 5 für Gebühren und Entgelte, die als notwendig für die Erbringung der Wertpapierdienstleistungen einzustufen und ihrer Art nach nicht geeignet sind, die Erfüllung der Pflicht nach § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 WpHG zu gefährden. Die MiFID-DRL nennt hierfür in Art. 26 lit. c exemplarisch Verwahrungs-, Abwicklungs-, Handelsplatz- und gesetzliche Gebühren sowie Verwaltungsabgaben. Ausgenommen sind außerdem Zuwendungen, die dem Ziel dienen, die Qualität der Dienstleistung zu verbessern (dazu die Vermutungsregel in § 31d Abs. 4 WpHG), soweit durch vollständige Offenlegung Transparenz geschaffen wird. Außerdem sind nach § 31d Abs. 1 S. 2 WpHG und Art. 26 lit. a MiFID-DRL Zahlungen an den Kunden selbst und an von ihm beauftragte Dritte ausgenommen, ebenso von dem beauftragten Dritten gewährte Zahlungen an den Wertpapierdienstleister. Erhält der Wertpapierdienstleister Provisionen, die von den Fondsgesellschaften oder Depotbanken für getätigte Umsätze des Anlegers gezahlt

73 74 75

Zu diesem Prinzip Riesenhuber (Fn. 51), Rn. 299-304a. BGH, NJW 2007, 1876, 1878. Fleischer, BKR 2006, 389, 395 f.

93 werden, so genügte es bisher, einen daraus potentiell erwachsenden Interessenkonflikt transparent zu machen.76 Das galt sowohl für Provisionen, die an einen den Geschäftskontakt initiierenden Vermögensverwalter erfolgen, als auch für Rückvergütungen aus Ausgabeaufschlägen, die konzernintern an das die Order ausführende Kreditinstitut bezahlt wurden.77 Diese Grundsätze werden zukünftig nicht mehr gelten, da nicht erkennbar ist, inwieweit diese Zahlungen geeignet sein sollen, die Qualität der Dienstleistung zu verbessern. Das bisherige Transparenzmodell gilt nunmehr kraft gesetzlicher Anordnung nur noch im Bereich der ausdrücklich für zulässig erklärten Zahlungen, während im Übrigen auch transparente Provisionszahlungen einen Pflichtverstoß begründen. Bemerkenswert bleibt die Rechtsprechung des BGH unter einem anderen Gesichtspunkt. Sah der BGH eine Verletzung der Aufklärungspflichten, verurteilte er nicht nur zu einer Vergütung der Provisionen, sondern prüfte, ob die Order bei pflichtgemäßer Aufklärung wegen gestörter Vertrauensbildung ganz unterblieben wäre.78 Die Begründung lautet, dass die Pflicht zur Aufklärung über die für das Vermögen des Anlegers gefährlichen Provisionsvereinbarungen nicht nur den Anleger in die Lage versetzen sollte, geeignete Schritte hinsichtlich einer Vermeidung dieser Provisionen und der daraus resultierenden Mehrkosten zu unternehmen. Vielmehr ging es auch darum, durch diese Aufklärung die Vertrauenswürdigkeit seiner Geschäftspartner beurteilen zu können.79 Auf die insoweit entstehenden Widersprüche zum Kreditrecht wird unter IV. einzugehen sein.

III. Aufklärung und Interessenwahrung im Kreditrecht 1. Die neue Verbraucherkredit-Richtlinie Im Kreditrecht werden die Wohlverhaltenspflichten von der Verbraucherkredit-Richtlinie beherrscht. Die ursprüngliche Fassung von 1987 76 BGH, NJW 2007, 1876, 1878; OLG Köln, BKR 2002, 541 f.; a.A. Assmann/Schneider-Koller (Fn. 45), § 31 WpHG Rn. 74; einschränkend auch Schwark-Schwark (Fn. 31), § 31 WpHG Rn. 27. 77 BGH, NJW 2007, 1876, 1878 f.; BGH, NJW 2001, 962, 963. 78 BGH, NJW 2007, 1876, 1879; BGH, NJW 2001, 962, 963. Dass dies dazu führen kann, dass den Anlegern hohe Verluste aus mehrfach getätigten riskanten Optionsgeschäften ersetzt werden, illustriert OLG Köln, BKR 2002, 541, 543 f. 79 BGH, NJW 2001, 962, 963.

94 wurde nun durch eine neue Verbraucherkredit-Richtlinie ersetzt, deren Verabschiedung unmittelbar bevorsteht.80 Die Kommission hatte davor mehrfach Versuche unternommen, sie zu überarbeiten,81 die erfolglos waren.82 Die neue Richtlinie setzt, wie schon ihre Vorgängerin, in erster Linie auf umfassende Information des Verbrauchers, so in aller Ausführlichkeit über die Modalitäten des angebotenen Kredits vor allem in Art. 4-7 und 10 und den Begründungserwägungen (BE) 18, 19, 20, 31, 32, 42 und 43. Dem Kreditnehmer soll hierdurch eine informierte und eigenverantwortliche Entscheidung ermöglicht werden.83 Wie schon zur alten Richtlinie84 lässt sich feststellen, dass die Informationspflichten über die Details des konkret angebotenen Kredits lückenlos geregelt werden. Altbekannt sind außerdem die Regeln über verbundene Geschäfte nach Art. 15 und BE 35 f., neu hingegen das Rücktrittsrecht nach Art. 14 und BE

80 Siehe zuletzt Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16.1.2008 zu dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates im Hinblick auf den Erlass der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, Dokumentnummer P6_TA(2008)0011. 81 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit vom 11.9.2002, KOM(2002) 443 endg.; Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG und zur Änderung der Richtlinie 93/13/EWG vom 28.10.2004, KOM(2004) 747 endg.; (zweiter) Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbraucherkreditverträge und zur Änderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 7.10.2005, KOM(2005) 483 endg. Gegenüber dem Gemeinsamer Standpunkt (EG) Nr. 14/2007 vom 20.9.2007, vom Rat festgelegt gemäß dem Verfahren des Artikels 251 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Hinblick auf den Erlass einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2007 C 270E/1, umfasst diese nunmehr verabschiedete Fassung nur kleinere Änderungen. 82 Referierend dazu Hoffmann, Der Diskussionsstand zur Reform der Verbraucherkreditrichtlinie, BKR 2004, 308, 309. Siehe auch die Übersicht bei Blaurock, Informations- und Beratungspflichten bei der Kreditvergabe, in: Festschrift für Horn (2006), S. 697, 705. 83 Grundmann, ERCL 2005, 482, 488. Kritisch zu diesem Ansatz aus ökonomischen Gründen Franck, Bessere Kreditkonditionen für Verbraucher durch mehr Regulierung?, ZBB 2003, 334 ff. 84 Siehe das Fazit von Grundmann (Fn. 1), 4.10 Rn. 44.

95 33 f.85 Besondere Erwähnung sollen der Grundsatz der Vollharmonisierung (unter 2.) und, wegen der gravierenden Auswirkungen auf die deutsche Kreditrechtsdogmatik, die Grundsätze des responsible lending und der know your customer rule (unter 3.) erfahren.

2. Der Grundsatz der Vollharmonisierung Der neuen Richtlinie liegt der Grundsatz der Vollharmonisierung zugrunde, um einen echten Binnenmarkt für Verbraucherkredite zu schaffen und ein einheitliches Schutzniveau zu schaffen. BE 9 S. 2 und 3 stellen klar, dass nur der ausdrücklich von der Harmonisierung erfasste Bereich von diesem Prinzip betroffen ist. Wie sich aus BE 11 einerseits und BE 10, aber auch BE 9 S.4, ergibt, führt dies im Ergebnis zu einer eher geringfügigen Beschränkung der nationalen Gesetzgebung. Nach BE 10 S. 2 ist es zulässig, aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommene Kreditverträge den Regeln der Richtlinie zu unterstellen. Der Mitgliedstaat kann danach innerstaatliche Vorschriften beibehalten oder einführen, die den Bestimmungen der Richtlinie (teilweise) entsprechen. Um ein Beispiel zu nennen: Nach Art. 2 Nr. 2 lit. a und BE 13 sind Realkredite vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen, so dass die Einschränkungen der nationalen Gesetzgebungskompetenz durch Art. 22 Abs. 1 und BE 11 nicht greifen. Der deutsche Gesetzgeber unterstellt grundpfandrechtlich gesicherte Kredite überwiegend den allgemeinen für Verbraucherkredite geltenden Regeln.86 Insbesondere finden auch die Grundsätze über verbundene Geschäfte Anwendung, wenn auch nach § 358 Abs. 3 S. 3 BGB gegenüber nicht grundpfandrechtlich gesicherten Darlehen unter erhöhten Voraussetzungen. Sollte sich der deutsche Gesetzgeber dazu entschließen, nach Umsetzung der Richtlinie diese Konzeption beizubehalten, wäre dies zulässig.

85 Zu einer detaillierten Übersicht über die Regelungen der Richtlinienentwürfe siehe Hoffmann, BKR 2004, 308 ff.; Riesenhuber, Information – Beratung – Fürsorge, ZBB 2003, 325 ff. 86 Ausnahmen von den allgemeinen Regeln bestehen daher nur noch sehr begrenzt. Zu nennen sind die Angabe des Gesamtbetrags nach § 492 Abs. 1 S. 5 Nr. 2 BGB, die Behandlung der Verzugszinsen nach § 497 Abs. 2 BGB, von Teilleistungen nach § 497 Abs. 3 S. 1 BGB, zur Verjährung der Zinsen in Vollstreckungstiteln nach § 497 Abs. 3 S. 4 BGB, zur Gesamtfälligstellung nach § 498 BGB und zur Höhe des Verzugszinses nach § 497 Abs. 1 S. 2 BGB. Siehe im Einzelnen Schimansky/Bunte/Lwowski-Jungmann (Fn. 17), § 81 Rn. 93.

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3. Responsible lending Eine ganz entscheidende Neuerung stellen die Regelungen zum responsible lending, die auf der know your customer rule aufbauen, und zu den erweiterten Aufklärungspflichten dar. Die Kommission hatte in ihren Vorschlägen das Ziel verfolgt, das Defizit der alten Richtlinie, die über die ausdrücklich angeordnete Pflicht zur Information über die wesentlichen Details des angebotenen Kredits keine Wohlverhaltenspflichten des Kreditgebers vorsah und damit den Bereich der Anlageberatung gänzlich aussparte, anzugehen.87 Die Vorschläge umfassten vor allem die Pflicht des Kreditinstituts zu prüfen, ob der Kreditnehmer sich den Kredit tatsächlich leisten kann.88 Dass die Kreditinstitute dies ganz selbstverständlich ohnehin prüfen,89 ändert nichts an ihrem Widerstand gegen eine entsprechende Rechtspflicht, die in der nationalen Umsetzung zu Warnhinweisen und Schadensersatzansprüchen bei entsprechenden Pflichtverletzungen führen wird.90 Auch legte die Kommission Wert darauf, dass die Sanktionen schneidig sind. Nach Art. 8 sollte durch wirkungsvolle Sanktionen sichergestellt werden, dass der Kreditgeber sich an die Vorgabe hält, Kredite abzulehnen, wenn diese Entscheidung aufgrund der erhaltenen Informationen der Vernunft entspricht. Ergänzend verpflichtete Art. 31 die Mitgliedstaaten dazu, als wirksame Sanktionen bei Verstößen gegen das responsible lending etwa dem Kreditgeber seinen Anspruch auf Zahlung von Zinsen und Kosten zu versagen oder das Recht des Verbrauchers auf Ratenzahlung des Gesamtkreditbetrags aufrecht zu erhalten. Die neue Richtlinie regelt das responsible lending gegenüber den Vorschlägen der Kommission deutlich zurückhaltender in Art. 8. Danach wird den Mitgliedstaaten auferlegt sicherzustellen, dass der Kreditgeber die Kreditwürdigkeit des Verbrauchers bewertet. Ergänzend treten die Aussagen in BE 26 hinzu. Die Mitgliedstaaten sollten danach geeignete Maßnahmen zur Förderung verantwortungsvoller Verfahren in allen Phasen der Kreditvergabe ergreifen und durch Sanktionen sicherstellen, dass die Kreditgeber vor Kreditvergabe die Kreditwürdigkeit des Kreditnehmers tatsächlich beurteilen. Insbesondere auf dem expandierenden Kreditmarkt 87

Siehe Art. 9 der Vorschlags von 2002, der weitaus höhere Anforderungen an das responsible lending stellte als die jetzt erlassene Richtlinie. Zum Defizit der alten Richtlinie siehe Grundmann (Fn. 1), 4.10 Rn. 44. 88 Grundmann/Hollering, ERCL 2008, 45, 50. 89 Grundmann, ERCL 2005, 482, 488 90 Eine derartige zu Schadensersatzansprüchen führende Rechtspflicht lehnt der BGH bislang gerade ab, BGH, NJW 1982, 1520. Zu eben diesen Grundsätzen im Wertpapiergeschäft oben unter II.1.b) (S. 78 ff.).

97 sei es wichtig, dass der Kreditgeber Kredite nicht verantwortungslos vergibt. Daran schließt sich die weitere Vorgabe an, die Kreditgeber zu binden, in jedem Einzelfall die Kreditwürdigkeit des Verbrauchers zu prüfen. Die Sanktionen regelt Art. 23 nunmehr nur noch generell dahingehend, dass die Mitgliedstaaten für Verstöße gegen die aufgrund dieser Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Vorschriften Sanktionen festlegen und die zu ihrer Anwendung erforderlichen Maßnahmen treffen, wobei die Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen.

4. Erweiterte Aufklärungspflichten Gegenüber den bloßen Informationspflichten erweiterte Aufklärungspflichten finden sich in Art. 5 Abs. 6, ergänzt durch BE 26 f. Die Mitgliedstaaten stellen danach sicher, dass der Kreditgeber und ggf. der Kreditvermittler dem Verbraucher die Modalitäten des angebotenen Kredits angemessen erläutert, etwa die vorvertraglichen Informationen gemäß Art. 5 Abs. 1, die Hauptmerkmale der angebotenen Produkte und die möglichen spezifischen Auswirkungen der Produkte auf den Verbraucher. Davon erfasst werden auch die Konsequenzen bei Zahlungsverzug und Überschuldung des Verbrauchers, damit dieser in die Lage versetzt wird, zu beurteilen, ob der Vertrag seinen Bedürfnissen und seiner finanziellen Situation gerecht wird. Ergänzend spricht BE 27 die Hilfestellung zur aufgeklärten Entscheidungsfindung an. Die Mitgliedstaaten sollten dafür sorgen, dass der Kreditgeber dem Kreditnehmer über die zwingenden vorvertraglichen Informationen hinaus weitere Unterstützung bietet. Diese Pflicht orientiert sich an dem Ziel eigenverantwortlicher Selbstentscheidung, die dem Kreditnehmer die Auswahl des seinen Bedürfnissen am besten entsprechenden Kreditvertrages ermöglichen soll. BE 27 S. 5 gibt den Mitgliedstaaten auf festzulegen, zu welchem Zeitpunkt und in welchem Umfang der Kreditgeber die Bedingungen und Auswirkungen des Kreditvertrages dem Kunden zu erläutern hat. Als entscheidende Faktoren werden dabei die Umstände der Kreditvergabe, die Bedürfnisse des Kunden und die Besonderheiten des jeweiligen Kreditprodukts angesehen. Diese Pflicht bedingt nach allem nicht nur, dass der Kreditgeber der know your customer rule entsprechend die Bedürfnisse und Verhältnisse seines Kunden erforscht, sondern ihm auch mit Hinweisen zur Seite steht. Gestrichen wurde hingegen die ursprünglich als Art. 6 Abs. 3 im (ersten) Kommissionsvorschlag91 vorgesehen Pflicht des Kreditgebers, aus

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Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates

98 der Palette der Kreditverträge, die er anbietet oder an deren Abschluss er gewöhnlich mitwirkt, denjenigen Kredittyp auszuwählen, der im Hinblick auf die finanzielle Lage des Kreditnehmers, der Vor- und Nachteile dieses Produkts und der Zweckverwendung des Kredits für den Verbraucher am besten geeignet ist.

5. Umsetzungsbedarf im deutschen Kreditrecht Die Bestimmungen der Richtlinie zu den Wohlverhaltenspflichten des Kreditgebers sind denkbar vage gehalten. Die Vorschläge der Kommission waren demgegenüber bedeutend aussagekräftiger ausgefallen.92 Dennoch kann schon hier die Prognose abgegeben werden, dass sich für den deutschen Gesetzgeber Umsetzungsbedarf ergeben wird, was die bisherigen Grundlagen des Kreditrechts (bedeutend) verändern wird. a) Der Status quo im deutschen Kreditrecht Die deutsche Dogmatik zu den Aufklärungspflichten im Kreditrecht gleicht nur im Ansatz der zum Kapitalmarktrecht. Wie dort kommt es zunächst darauf an, ob der Kreditgeber mit dem Kreditnehmer (zumeist konkludent) einen Beratungsvertrag abgeschlossen hat. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass nur im Rahmen eines bestehenden Beratungsvertrages wirkliche Aufklärung unter Einschluss von Warnhinweisen geschuldet sein soll. In allen übrigen Fällen soll es ausreichen, wenn der Kreditgeber dem Kunden die Vertragsbedingungen verdeutlicht. Daher schuldet er dem Kreditnehmer keine Hilfestellung dabei, die Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Kreditaufnahme zu prüfen, insbesondere bei der Frage, ob der Kredit in dieser Höhe und zu den angebotenen Bedingungen überhaupt sinnvoll ist.93 Anders

zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit vom 11.9.2002, KOM(2002) 443 endg. 92 Siehe zu diesen und ihren prognostizierten Auswirkungen auf die deutsche Kreditrechts-Dogmatik Blaurock, FS Horn (2006), S. 697, 707 ff.; Riesenhuber, ZBB 2003, 325, 331. 93 BGH, NJW 1989, 1667 f.: „Allerdings ist die Bank in aller Regel nicht gehalten, den Kreditbewerber von sich aus auf mögliche Bedenken gegen die Zweckmäßigkeit der gewählten Kreditart hinzuweisen (...). Es ist grundsätzlich Sache des Bewerbers, selbst darüber zu befinden, welche der in Betracht kommenden Gestaltungsformen seinen wirtschaftlichen Verhältnissen am besten entspricht.“. Im Ausgangspunkt auch BGH, NJW 1991, 832, 834.

99 als im Kapitalanlagerecht soll sich der Kunde vielmehr darauf einstellen müssen, dass die Bank eigennützig handelt.94 Hinzu kommt, dass der Kunde selbst soll prüfen müssen, ob er sich den Kredit überhaupt leisten kann.95 Lediglich für die Fälle, in denen eine Prüfung des Kreditinstituts eindeutig ergibt, dass der Kunde die Belastungen nicht wird tragen können, wird in der Literatur eine Pflicht zur Aufklärung erwogen.96 b) Die Veränderungen durch die Vorgaben der Richtlinie Den in Art. 8 und Art. 5 Abs. 6 angeordneten Vorgaben wird nur durch ein entschiedenes Umdenken im Kreditrecht Rechnung getragen werden können. Eine egoistische Kreditvergabepolitik, wie sie vom BGH abgesegnet wurde, widerspricht den Richtlinienzielen ebenso wie eine Verlagerung sämtlicher Pflichten zu Aufklärung und Hinweisen, soweit sie über die grundlegenden Modalitäten des Kreditvertrages hinausgehen, auf einen (selten bestehenden) Beratungsvertrag. Vor allem ist zu begrüßen, dass sich die Ansätze im Wertpapierhandel und Kreditrecht nunmehr durch europäische Initiative annähern. Dass die Rechtsprechung schon unabhängig von den Vorgaben der Richtlinie große Zweifel erweckt, soll sogleich unter IV. veranschaulicht werden. Mit Aufklärungspflichten des Kreditgebers wird allgemein das Ziel verfolgt, Informationsdefizite unter den Vertragspartnern abzubauen. Der informierte Vertragsteil soll verpflichtet werden, den unkundigen Vertragspartner an seinem Wissen teilhaben zu lassen, um hierdurch die Voraussetzungen für faire Vertragsbedingungen zu schaffen. Den Ausgangspunkt bildet daher, dass auf Seiten des Kunden ein Informationsbedürfnis

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BGH, NJW 1992, 1820 und BGH, NJW 1982, 1520: Bei einem Kreditvertrag soll das legitime Eigeninteresse der Bank an Abschluss und Gestaltung des Vertrages einer allgemeinen Aufklärungspflicht über die Zweckmäßigkeit des Kredits und über die mit der Aufnahme verbundenen Risiken und Rechtsfolgen entgegenstehen. 95 BGH‚ NJW 1989, 1276, 1277: Bei einer Sittenwidrigkeitsprüfung reicht es für die Wirksamkeit des Kreditvertrages aus, dass bei einer Gesamtwürdigung aller bei Abschluss des Kreditvertrages erkennbaren Umstände eine ordnungsgemäße Abwicklung der Finanzierung nicht von vornherein und notwendigerweise zum Scheitern verurteilt war, wenn auch ein nicht unerhebliches Risiko des Fehlschlags bestanden hatte. Aus den gleichen Gründen schied auch eine Aufklärungspflicht aus. Siehe dazu auch Schimansky/Bunte/Lwowski-Siol (Fn. 17), § 44 Rn. 14. 96 Schimansky/Bunte/Lwowski-Siol (Fn. 17), § 44 Rn. 16, m.w.N. aus der Literatur.

100 besteht und auf Seiten des Kreditgebers relevante Informationen vorhanden oder leicht zu beschaffen sind.97 Diesen Ansatz verfolgt die MiFID, da die abgestuften Pflichten des Dienstleisters, wie unter II. dargestellt, nach den Vorkenntnissen des Anlegers, aber auch nach der Komplexität des Anlageproduktes unterscheiden und die Informationspflichten an diese beiden Parameter knüpfen. Von dem Wertpapierdienstleister wird erwartet, dass er über die notwendigen Kenntnisse verfügt, so dass im Bereich der besonderen Expertise des verpflichteten Dienstleisters ggf. eine Informationsbeschaffungspflicht erzeugt wird. Gleiches fordert nunmehr die Verbraucherkredit-Richtlinie. Indem Art. 5 Abs. 6 der Richtlinie den Kreditgeber verpflichtet, dem Kreditnehmer angemessene Erläuterungen zuteil werden zu lassen, stellt er einerseits auf die individuellen Bedürfnisse des Kreditnehmers, andererseits auf die Komplexität der Kreditkonstruktion ab – zwar nicht ausdrücklich, aber doch implizit, da die Angemessenheit der Erläuterung nur anhand dieser Vorgaben beurteilt werden kann. Daher ist die gegenüber den Vorschlägen der Kommission geäußerte Kritik, wonach die Wohlverhaltenspflichten des Kreditgebers nicht an ein individuelles Informationsbedürfnis des Kreditnehmers anknüpften, nunmehr mit Blick auf Art. 5 Abs. 6 unbegründet.98 Anders liegen die Dinge bei Art. 8 der Richtlinie. Der Grundsatz des responsible lending dient nicht zur Beseitigung von Informationsdefiziten, sondern der vielfach eingeforderten Vermeidung der volkswirtschaftlichen Schäden, die eine massenweise auftretende Zahlungsunfähigkeit von Kreditnehmern zur Folge hat.99 Die hierzu erforderlichen Daten holt der Kreditgeber nach Art. 8 beim Kreditnehmer und nach Art. 9 durch Zugriff auf Datenbanken ein. Mit diesen Informationen leistet der Kreditgeber nun wiederum, was seiner besonderen Sachkenntnis entspricht, indem er anhand dieser Angaben die Kreditwürdigkeit des Kreditnehmers beurteilt.

97 Ausführlicher hierzu Blaurock, FS Horn (2006), S. 697, 708 f.; Hofmann, Aufklärungspflichten der Kreditsinstitute über das Finanzierungsmodell beim Immobilienerwerb unter Ausnutzung von Steuervorteilen (‚Steuersparmodelle’), ZBB 2005, 174, 175; Horn, ZBB 1997, 139, 145. 98 Blaurock, FS Horn (2006), S. 697, 707 ff., v.a. 712. Überholt ist daher auch die Kritik von Franck, ZBB 2003, 334, 341, wonach ein kundiger Kreditnehmer gezwungen werde, die Kosten einer ihn nicht interessierenden Beratung zu tragen. 99 Ablehnend gegenüber dieser Zielrichtung der Richtlinie Blaurock, FS Horn (2006), S. 697, 715; dezidiert Franck, ZBB 2003, 334, 342.

101 Dies bedeutet, wie zu Recht hervorgehoben wird, eine Abkehr von dem Grundsatz informierter Selbstbestimmung, der das europäische Privatrecht beherrscht.100 Gerade im Vergleich mit der Systematik der MiFID wird dies deutlich: Während dort auch die unvernünftige Order des aufgeklärten Kunden ausgeführt werden darf, verstößt der Kreditgeber gegen seine Wohlverhaltenspflicht, wenn er dem Kreditnehmer das negative Ergebnis seiner Kreditwürdigkeitsprüfung mitteilt und dennoch auf Wunsch des Kunden den Kredit bewilligt. Dieser Unterschied lässt sich allerdings damit begründen, dass aus einer die finanziellen Möglichkeiten des Verbrauchers übersteigenden Kreditverpflichtung weitaus gravierendere Risiken resultieren als aus einer Fehlspekulation.101 Die Vorgaben der Richtlinie sind in diesem Bereich, darauf wurde schon hingewiesen, denkbar vage. Eindeutig erscheint dennoch, dass die Prüfung der Kreditwürdigkeit fortan eine im Interesse des Kreditnehmers liegende Rechtspflicht des Kreditgebers darstellt, bei deren Verletzung wirkungsvolle Sanktionen bereit stehen müssen. Deren Details werden, wie nahezu regelmäßig, dem nationalen Recht überantwortet. Eine Freistellung von der Kreditverbindlichkeit Zug um Zug gegen Übertragung des mit dem Kredit erworbenen Eigentums entspricht dem jüngst auch im Bereich des Bankvertragsrechts vom EuGH102 betonten Grundsatz des effet utile. Fortan könnte es daher nur noch auf das objektive Kriterium der fehlenden Kreditwürdigkeit ankommen, während die in der bisherigen deutschen Rechtsprechung relevanten subjektiven Merkmale der intellektuellen Unterlegenheit und Zwangslage (dazu unter II.2.c)) irrelevant würden. c) Insbesondere: die Aufklärungspflichten im Bereich der Mittelverwendungsabsicht An Regelungen zur Mittelverwendungsabsicht fehlt es in den Richtlinien zum Wertpapier- und Kreditgeschäft und der deutschen Gesetzgebung gleichermaßen. Eine Ausnahme bildet nur die Regelung über verbundene Geschäfte in Art. 15 der Verbraucherkredit-Richtlinie. Der Fragenkreis ist damit der nationalen Rechtsprechung überantwortet, wobei es an einem Einfluss des Richtlinienrechts nicht gänzlich fehlt. Zwar ist im Wertpapierhandel grundsätzlich irrelevant, wie der Kunde erzielte Gewinne verwenden möchte. Schon oben wurde aber darauf hingewiesen,

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Riesenhuber, ZBB 2003, 325, 332. Dazu Blaurock, FS Horn (2006), S. 697, 711. 102 EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215; EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273. 101

102 dass diese Aussage einer Einschränkung dahingehend bedarf, dass die Gewinnverwendungsabsicht über das individuelle Anlegerprofil und die Bereitschaft und Fähigkeit zur Risikotragung Aufschluss geben kann.103 Hieraus ergibt sich für die Pflichten des Wertpapierdienstleisters, dass bei einer Anlageberatung ein den Zielen des Kunden entsprechendes Anlageprodukt ausgewählt, bei der schlichten Auftragsausführung ein etwaiger Warnhinweis ausgesprochen werden muss. Im Kreditrecht lag die Kreditverwendungsabsicht außerhalb verbundener Geschäfte hingegen in der ausschließlichen Verantwortung des Kreditnehmers. Dies wird sich zukünftig sowohl im Hinblick auf das responsible lending nach Art. 8 als auch die erweiterten Erläuterungspflichten nach Art. 5 Abs. 6 ändern. Der Kreditgeber wird die Kreditverwendungsabsicht in seine Gesamtbeurteilung einbeziehen müssen und evtl. zu Warnhinweisen und Erläuterungen verpflichtet sein.104 Davon abgesehen bleibt es jedoch dabei, dass allein der Kreditnehmer die Verantwortung dafür trägt, die Kreditmittel sinnvoll einzusetzen. Dies leuchtet auch ein: Dem Kreditgeber fehlt es regelmäßig an der Expertise, um das beabsichtigte Umsatzgeschäft beurteilen zu können. Zugleich wird die privatautonome Entscheidungsfreiheit des Kreditnehmers respektiert.105 Daher verdient es Unterstützung, dass über die Risiken der geplanten Mittelverwendung nur aufgeklärt werden muss, wenn der Kreditgeber über überlegenes Wissen verfügt oder sich in einem Interessenkonflikt befindet, vor allem wenn besondere Verflechtungen bestehen, die den Kreditgeber nicht mehr als neutrale Finanzierungsstelle erscheinen lassen, sondern in das Lager des Partners des finanzierten Geschäfts hineinziehen.106

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Siehe unter II.1.b) (S. 78 ff.) und insoweit auch nochmals der Hinweis auf Ebenroth/Boujong/Joost-Grundmann (Fn. 24), Rn. VI 219. 104 Zur gängigen Praxis der Kreditinstitute, sich zur Beurteilung der Risiken bei größeren Beträgen in der Praxis genau danach zu erkundigen, was mit den Mitteln geschehen soll, und der bisherigen Beurteilung, dass hierzu gerade keine Pflicht besteht und daher auch Aufklärungspflichten und Warnhinweise ausscheiden, siehe BGH, NJW 2007, 2396, 2399. 105 Dazu, dass auch die Verbraucherkredit-Richtlinie dieses allgemeine Prinzip des Europäisches Schuldvertragsrechts grundsätzlich verfolgt s. Riesenhuber, ZBB 2003, 325, 329. 106 Hierzu die ständige Rechtsprechung BGH, NJW 2006, 2099, 2103 f.; BGHZ 159, 294, 316; BGHZ 161, 15, 20; BGH, NJW 2005, 668; BGH, NJW 2005, 1576. Zuletzt BGH, ZIP 2008, 686. Näher zu den hierfür etablierten Fallgruppen Hofmann, Die Belehrungspflichten bei kreditfinanzierten Anlagemodellen: die neue BGH-Rechtsprechung zu institutionalisiertem Zusammenwirken, WM

103 Insoweit unterscheiden sich Wertpapieranlage und Kreditrecht auch signifikant: Die Wohlverhaltenspflichten des Wertpapierdienstleisters erklären sich daraus, dass er selbst die Anlage vermittelt, während der Kreditgeber nur das von dritter Seite ausgeführte Geschäft finanziert. Der Anleger tritt nicht mit dem Verkäufer oder Gläubiger der Wertpapieranlage, etwa der Aktiengesellschaft, deren Aktien oder Optionsscheine er erwirbt, in Kontakt, sondern nur mit dem Wertpapierdienstleister als Vermittler dieser Anlage, der hierdurch zum einzigen verfügbaren Informanten wird. Bei kreditfinanzierten Erwerbsgeschäften steht hingegen der Vertragspartner des finanzierten Geschäfts oder dessen Vertreter, etwa ein von diesem eingesetzter Vermittler, für Auskünfte und Fragen zur Verfügung.107

IV. Einheit der Aufklärungsgrundsätze im Wertpapierhandels- und Kreditrecht Eine der Zweifelsfragen, die Rechtsprechung und Literatur in den letzten Jahren beschäftigt haben, ist die nach der Pflicht des Kreditgebers, über die besonderen Nachteile einer Alternativgestaltung zu einem gewöhnlichen Ratenkredit aufzuklären, indem er deren Besonderheiten gegenüber einer konventionellen Kreditgestaltung darstellt. Im Folgenden wird aufgezeigt, dass mit der Umsetzung der Vorgaben aus Art. 5 Abs. 6 der Richtlinie kein juristisches Neuland beschritten wird, sondern die sich daraus ergebenden Aufklärungspflichten entgegen der h.M. auch schon nach geltendem Recht bestehen.

1. Aufklärungspflichten über die Finanzkonstruktion Um auf die Schlussbemerkung unter III. 4. c) zurückzukommen: Was die Risiken des vermittelten bzw. finanzierten Geschäfts angeht, verfügt nur der Wertpapierdienstleister, nicht jedoch der Kreditgeber über Expertenwissen. Anders ist dies in Bezug auf das Kreditgeschäft selbst. Hier ist der

2006, 1847, 1853 f.; Schimansky/Bunte/Lwowski-Siol (Fn. 17), § 44 Rn. 20, 29-45. 107 Zu den unterschiedlichen Situationen, in denen sich ein Wertpapieranleger und ein Immobilienkäufer befinden, siehe die Schlussanträge von GA Jacobs v. 26.1.1995 – Rs. C-384/93 Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141 Rn. 72; Moloney (Fn. 23), S. 296.

104 Kreditgeber Spezialist und zugleich die primäre Informationsquelle des Kreditnehmers. Die Parallelen zum Wertpapiergeschäft sind unverkennbar. Zu diesem soll noch einmal resümiert werden: Der Wertpapierdienstleister schuldet dem Anleger nicht nur Aufklärung über das Anlageprodukt, sondern auch, dessen Anlageziel, Kundenprofil, Erfahrung und finanzielle Verhältnisse zu ermitteln. Auf diese Ergebnisse muss sich seine Anlageberatung beziehen, wenn eine solche vereinbart wurde, in allen übrigen Fällen schuldet er Warnhinweise, wenn er annehmen muss, dass die geplante Anlage für den Kunden nicht geeignet ist. Fehlt es ihm an der Möglichkeit, eine solche Beurteilung zu erbringen, schuldet er einen entsprechenden Hinweis. Eine gänzliche Freistellung von diesen Pflichten besteht nur bei den nach Art. 19 Abs. 6 MiFID und § 31 Abs. 7 WpHG als nicht-komplex eingestuften Anlagen. Im Vergleich dazu tritt im Kreditrecht ein Kreditnehmer mit einem bestimmten Anlageziel an den Kreditgeber heran und fragt dessen Finanzierung nach. Der nicht-komplexen Wertpapieranlage ist dabei ein einfacher Ratenkredit, insbesondere ein Annuitätendarlehen mit Festzinsvereinbarung vergleichbar. Die Zahlungen des Kreditnehmers bedienen dabei nicht nur die Zinsen, sondern dienen auch der Tilgung des Darlehens. Die Konstruktion ist einfach, daher leicht verständlich und allgemein hinreichend bekannt.108 Der Kreditnehmer weiß auch ohne weitere Aufklärung, dass er über die gesamte Laufzeit einen gleichbleibenden Betrag zur Tilgung verrichtet, was ihm die Planung seiner finanziellen Verpflichtungen für die Zukunft ermöglicht. Die nach Art. 4-7 und 10 der VerbraucherkreditRichtlinie und § 492 BGB geschuldeten Informationen genügen hier vollauf, und zwar auch dann, wenn eine Abschnittsverzinsung zugrunde gelegt und die Zinsen den Marktverhältnissen angepasst werden oder gar ein variabler Zinssatz vereinbart wird (siehe § 492 Abs. 1 Nr. 5 BGB). Bei einem Festdarlehen mit Ansparform, insbesondere einem Bausparvertrag oder einer Kapitallebensversicherung, wird der Kredit nicht fortlaufend getilgt, sondern nur die Zinsen fortlaufend bedient und zudem eine größere Summe, die der Tilgung zu einem späteren Zeitpunkt dienen soll, im Rahmen eines Bauspar- oder Versicherungsvertrages angespart.109 Die bei dieser Kreditform bestehenden Aufklärungspflichten sind nach neuerer Rechtsprechung des BGH jedoch gleichfalls gering. Als 108 Siehe etwa die Beschreibung von Schimansky/Bunte/Lwowski-Jungmann (Fn. 17), § 81 Rn. 98. 109 Zu dieser Konstruktion Heinrichs, Informationspflichten bei Darlehensgeschäften, in: Festschrift Kümpel (2003), S. 241, 242; Artzt/Weber, Rechtsfolgen bei unzureichendem Tilgungsersatz durch Kapitallebensversicherungen bei endfälligen Darlehen, BKR 2005, 264 ff. Zu den steuerlichen Aspekten Tischbein, Einsatz

105 ausreichende Information über die vertragsspezifischen Besonderheiten bewertete es der BGH, dass der Kreditgeber die Zinsen angab, die für die gesamte Laufzeit auf die volle Darlehensvaluta zu zahlen waren, und auf das Risiko einer Zinserhöhung nach Ablauf der Zinsbindungsfrist und den Umstand, dass für einen Festkredit insgesamt mehr Zinsen zu zahlen sind als für ein Annuitätendarlehen, hinwies.110 Ungeachtet der sich aus Art. 5 Abs. 6 und Art. 8 ergebenden Pflichten muss nach Art. 5 Abs. 5 der Verbraucherkredit-Richtlinie nun der Hinweis hinzukommen, dass diese Finanzierungskonstruktion keine Garantie für die Rückzahlung des aufgrund des Kreditvertrags in Anspruch genommenen Gesamtbetrags vorsieht, sondern dies vielmehr von den Ansparraten und der Erfolgsentwicklung der Ansparform abhängt. Die ältere BGH-Rechtsprechung forderte hingegen unter Betonung der vielfältigen potentiellen Nachteile gegenüber einem Ratenkredit noch, dass der Kreditgeber den Kreditnehmer von sich aus darüber aufklärt, in welchen wesentlichen Punkten sich der mit einer Kapitallebensversicherung verbundene Kredit vom üblichen Ratenkredit unterscheidet, welche spezifischen Vor- und Nachteile sich aus einer derartigen Vertragskombination für ihn ergeben können und was ihn der Kredit unter Berücksichtigung aller Vor- und Nachteile der Ansparform voraussichtlich kosten wird.111 Hierdurch sollte der Kreditnehmer in die Lage versetzt werden, eine eigenständige Entscheidung darüber zu treffen, ob die Koppelung von Kreditvertrag und Ansparform für ihn sinnvoll und wirtschaftlich vertretbar ist.112 Auch bei anderen Gestaltungen ging der BGH davon aus, dass eine im Vergleich zum Annuitätendarlehen komplexe Kreditform den Kreditgeber zur Aufklärung über die Unterschiede und Nachteile verpflichtet.113 von Lebensversicherungen zur Sicherung oder Tilgung von Darlehen, DStR 2000, 1759 ff. 110 BGH, NJW 2005, 985, 988. Die übrigen dort getätigten Angaben unterscheiden sich nicht von einem Verbraucherdarlehen in Form eines Ratenkredits, so über die Höhe der monatlichen Gesamtbelastung, die höhere Vorfälligkeitsentschädigung bei vorzeitiger Beendigung des Darlehensvertrages infolge Kündigung und den in den ersten Jahren die Summe der eingezahlten Beiträge unterschreitenden Rückkaufswert der Lebensversicherung. 111 Zu den Risiken BGH, NJW 1989, 1167, 1168; Heinrichs, FS Kümpel (2003), S. 241, 243; Kohte, ZBB 1989, 130, 132. 112 Zu den Aufklärungspflichten BGH, NJW 1989, 1167, 1168; BGH, NJW 1990, 1844 f. 113 Siehe auch zu einem intransparent gestalteten „Idealkredit“ statt eines Ratenkredits BGH, NJW 1991, 832, 834. Die besonderen Nachteile bestanden dabei darin, dass der Idealkredit im Gegensatz zum üblichen Ratenkredit kei-

106 Jegliche Pflicht zur Aufklärung soll demgegenüber ausscheiden, wenn der Kreditnehmer mit dem Ansinnen an den Kreditgeber herantritt, durch eine entsprechend gestaltete Finanzierungskonstruktion Steuervorteile erzielen zu wollen. In der Vergangenheit nicht unüblich war der Wunsch des Kreditnehmers, der zuvor von den Vermittlern eines Immobilienverkäufers derart instruiert worden war, die beschriebene Kombination aus Festdarlehen und Ansparform wählen zu wollen. Der Kreditnehmer erhoffte sich durch die gleichbleibend hohe Zinsbelastung Steuervorteile. Tatsächlich erwies sich dies in der Mehrzahl der Fälle als nachteilige Lösung gegenüber einem Annuitätendarlehen, da der geringe Steuervorteil, den der Anleger als Durchschnittsverdiener bestenfalls erzielen konnte, die Mehrkosten durch höhere Zinslast und Provisionen nicht aufzuwiegen vermochte. Der BGH vertritt hierzu den Standpunkt, bei Konstruktionen, die es dem Kreditnehmer nach dessen eigenem Wunsch ermöglichen sollen, Steuern zu sparen, schulde der Kreditgeber keinerlei Aufklärung.114 Der explizit zu Steuersparmodellen gegenteiligen OLG-Rechtsprechung115 hat der BGH eine entschiedene Absage erteilt.116 Der Unterschied zu den übrigen hier angesprochenen BGH-Urteilen besteht darin, dass der Kreditnehmer selbst den Wunsch äußert, Steuern sparen zu wollen, und er selbst oder der Kreditgeber daraufhin die kombinierte Finanzierung vorschlägt, während in den anderen Konstellationen der bloße Wunsch des Kreditnehmers nach einer Finanzierung seiner geplanten Investition das Kreditinstitut veranlasst, die Kombination anzubieten. Die Begründung des BGH, mit der er Aufklärungspflichten des Kreditgebers verneint, verdient dabei nur im Ansatz Zustimmung. Keinen Grund zu Kritik bietet die Aussage, der Kreditnehmer solle bei intransparenten Finanzierungskonstruktionen117 durch ausreichende Aufklärung über deren spezifische Besonderheiten in die Lage versetzt werden, selbst

nen festen Zinssatz für die gesamte, von vornherein festgelegte Laufzeit vorsah, sondern das Kreditinstitut das Recht hatte, jederzeit den Zinssatz und damit bei gleichbleibender Monatsrate für Zinsen und Tilgung auch die Laufzeit des Kredits abzuändern. Zum Grundsatz allgemein Schimansky/Bunte/Lwowski-Siol (Fn. 17), § 44 Rn. 50. Zur höhere Aufklärung fordernden OLG-Rechtsprechung Hofmann, ZBB 2005, 174, 177 ff. 114 BGH, NJW 2003, 2529, 2531; BGH, NJW 2007, 2396, 2399. 115 OLG Karlsruhe, ZIP 2005, 698, 704 ff. 116 BGH, NJW 2007, 2396, 2399. 117 Heinrichs, FS Kümpel (2003), S. 241, 249, ist bei seiner Bewertung zuzustimmen, dass auch heute noch die Verbindung von Festdarlehen und Ansparform als komplexes, dem durchschnittlichen Kreditnehmer nicht bekanntes Finanzprodukt anzusehen ist

107 darüber zu entscheiden, ob der Abschluss dieser Finanzierungsform seinen wirtschaftlichen Verhältnissen und Vorstellungen entspricht. Eingeschränkt Zustimmung verdient die weitere Aussage, dem Anleger sollten nicht die Risiken des Anlagegeschäfts verdeutlicht werden – hierzu kann auf die Ausführungen unter III.5.c) verwiesen werden. Auf Widerspruch muss nun jedoch die nächste Aussage stoßen, wonach dem Kreditnehmer durch Aufklärung über die Besonderheiten der Finanzierungsgestaltung nicht die Entscheidungsgrundlage dafür geliefert werden solle, ob eine Kreditaufnahme in seiner Situation überhaupt sinnvoll sei.118 Wegen der komplexen Gestaltung der Finanzierung und der nur schwer erkennbaren Nachteile gegenüber einem gewöhnlichen Annuitätendarlehen befindet sich der Kreditnehmer in der Situation eines relevanten Informationsdefizits, die nicht nur in der deutschen Dogmatik als Anknüpfungspunkt besonderer Interessenwahrungspflichten dient,119 sondern auch nach dem Konzept des europäischen Gesetzgebers zu Aufklärungspflichten führt120: Nochmals ist auf die unverkennbaren Parallelen zur Wertpapieranlage hinzuweisen: Der Vergleich mit dem Kunden, der statt einer BluechipAktie eine riskantere Anlage, etwa einen Optionsschein, wünscht, drängt sich förmlich auf. Der Wertpapierdienstleister ist hier nach Art. 19 Abs. 5 MiFID und § 31 Abs. 5 WpHG verpflichtet zu leisten, was er leisten kann, indem er die besonderen Chancen und Risiken eines Optionsscheins darlegt und den Kunden gegebenenfalls darauf hinweist, dass er zur Risikostreuung weiter diversifizieren sollte oder die finanziellen Risiken der Anlage mangels finanzieller Rücklagen und Erwerbsaussichten als unverhältnismäßig hoch erscheinen. Was er außerhalb einer Beratung nach Art. 19 Abs. 4 MiFID bzw. § 19 Abs. 4 WpHG nicht schuldet, ist eine Aufklärung über das individuelle Produkt, den speziellen Optionsschein als Wertpapier eines bestimmten Unternehmens. Informationen darüber, ob etwa Optionsscheine der Deutschen Bank AG eine lohnende Anlage darstellen, muss der Anleger anderweit beziehen.121

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Zu allen vorstehenden Aussagen BGH, NJW 2007, 2396, 2400. Auch die oben erwähnte Rechtsprechung (Fn. 50), baut auf diesem Grundsatz auf, dazu Jungmann, Schadensersatzansprüche in Schrottimmobilienfällen – Die unterschiedlichen Vorstellungen von EuGH und BGH, NJW 2007, 1562, 1564. 120 Zur Konzeption des Europäischen Vertragsrechts nochmals der Hinweis auf Riesenhuber (Fn. 51), Rn. 299-304a. 121 Ausführlich zur Pflicht bei der Anlageberatung im Sinne von Art. 19 Abs. 4 MiFID bzw. § 19 Abs. 4 WpHG, über das konkret empfohlene Finanzinstrument aufzuklären, und der demgegenüber schwächeren Pflicht bei der Abschlussvermittlung 119

108 Entsprechend dazu sollte auch der Kreditgeber leisten müssen, was er leisten kann. Hierzu gehört es, über die Angaben nach § 492 BGB hinaus auch auf die besonderen Vor- und Nachteile der besonderen Finanzierungsgestaltung im Vergleich zu einem gewöhnlichen Ratenkredit hinzuweisen und die hierdurch entstehenden Mehrkosten, gerade auch durch Provisionen, die durch den Abschluss einer Ansparform (Bausparvertrag, Kapitallebensversicherung) anfallen, anzugeben. Hinzu kommen die besonderen Risiken bei vorzeitiger Kreditkündigung, da er bei vorzeitiger Liquidation eines Versicherungsvertrages wegen des geringen Rückkaufswerts einen erheblichen Teil des angesparten Vermögens verliert und die Entwicklung der Ansparform wegen deren erfolgsabhängiger Verzinsung zu einer Tilgungslücke bei Fälligkeit führen kann.122 Dabei sollte, wie auch im Wertpapierrecht, die Aufklärungsintensität an den individuellen Kenntnissen des Kreditnehmers ausgerichtet werden. Da, worauf schon hingewiesen wurde, die Risiken einer Überschuldung aufgrund eines falschen Kreditkonstrukts die Risiken einer fehlgeschlagenen Wertpapierspekulation noch übersteigen,123 ist nicht einzusehen, warum der Kreditnehmer nicht in gleichem Maße wie der Anleger im Wertpapierhandel geschützt werden soll. Nicht geschuldet wird hingegen, was nicht (ohne Weiteres) geleistet werden kann, nämlich die steuerlichen Vorteile des Kreditnehmers zu beurteilen. Hierfür ist dieser auf externen Rat angewiesen. Der Kreditgeber darf daher nach Nennung der Zahlen zu den verschiedenen Kreditmodellen erklären, einen abschließenden Rat für das eine oder andere Modell nicht erteilen zu können, da er die individuelle Steuerbelastung und die sich konkret ergebenden Steuervorteile nicht beurteilen könne.124 Nichts anderes ergibt sich auch aus der Richtlinie, da die von der Kommission vorgesehene Pflicht des Kreditnehmers, unter mehreren Kreditvarianten die für den Kunden beste herauszusuchen,125 gerade nicht in der neuen Richtlinie enthalten ist.

im Sinne von Art. 19 Abs. 5 MiFID bzw. § 19 Abs. 5 WpHG, nur über die Art des Finanzinstruments aufzuklären, Einsele, JZ 2008, 477, 478 f. 122 Letzteres befürworten auch Heinrichs, FS Kümpel (2003), S. 241, 251-253; Artzt/Weber, BKR 2005, 264, 268. 123 Blaurock, FS Horn (2006), S. 697, 711. 124 Vgl. dazu auch Grundmann, ERCL 2005, 482, 488. So auch schon Hofmann, ZBB 2005, 174, 179 ff. 125 Dazu nochmals der Hinweis auf Art. 6 Abs. 3 des Kommissionsvorschlags, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit vom 11.9.2002, KOM(2002) 443 endg.

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2. Rechtsfolge einer Pflichtverletzung: Differenzschaden oder Freistellung? Nicht minder problematisch erscheint die Rechtsprechung des BGH zu den Rechtsfolgen verletzter Aufklärungspflichten im Kreditrecht im direkten Vergleich mit den Rechtsfolgen fehlerhafter Aufklärung im Wertpapiergeschäft. Im Kreditrecht soll nur der Nachteil der spezifischen gegenüber einer herkömmlichen Finanzierung ersetzt werden. Der Finanzierungsschaden soll sich in den Mehrkosten der abgeschlossenen Finanzierungsform gegenüber einem herkömmlichen Annuitätenkredit erschöpfen und isoliert von einem etwaigen Anlageschaden in Geld neutralisieren lassen.126 Der BGH begründet dies mit der im Ansatz zutreffenden Erwägung, dass eine Aufklärungspflichtverletzung grundsätzlich nur zum Ersatz des Schadens führt, dessen Eintritt die Einhaltung der Pflicht verhindern sollte, also mit Schutzzweckerwägungen.127 Auch die Erwägung, bei Kapitalanlagen habe derjenige, der selbst nicht Partner des Anlagegeschäfts ist und dem Interessenten nur hinsichtlich eines bestimmten für das Vorhaben bedeutsamen Einzelpunkts Aufklärung schuldet, auch nur für die Risiken einzustehen, für deren Einschätzung die erbetene Auskunft maßgebend ist, verdient Zustimmung.128 Die weiteren Aussagen des BGH aber stehen im Gegensatz zur Rechtsprechung zu den Pflichtverletzungen im Wertpapiergeschäft: Der Umstand, dass der Anleger das gesamte Geschäft bei fehlerfreier Aufklärung nicht abgeschlossen hätte, soll es im Allgemeinen nicht rechtfertigen, dem Aufklärungspflichtigen den gesamten mit dem fehlgeschlagenen Vorhaben verbundenen Schaden aufzuerlegen. Jedenfalls dann, wenn bei wertender Betrachtung der aus der Auskunftspflichtverletzung herrührende Schaden isoliert und durch Ausgleich in Geld neutralisiert werden könne, sei es unangemessen, das nicht den Gegenstand der Auskunftspflicht bildende volle Anlagerisiko allein unter Kausalitätsgesichtspunkten auf den Auskunftsgeber zu überwälzen.129 An derartigen Überlegungen fehlt es im Wertpapierrecht gänzlich. Bei verletzten Aufklärungspflichten wird nicht lediglich ein Differenzschaden 126 BGH, NJW 2007, 2396, 2400; BGH, NJW 2006, 2099, 2104; BGH, NJW-RR 2004, 632; BGH, NJW-RR 2004, 1126; BGH, NJW 2003, 2529, 2531. 127 BGH, NJW 2007, 2396, 2397; BGH, NJW 2001, 962, 963, unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung BGH, NJW 1992, 555; BGH, NJW 2003, 2529; BGH, NJW-RR 2004, 632; BGH, NJW-RR 2004, 1126; BGH, WM 2003, 1621, 1622. 128 BGH, NJW 2007, 2396, 2397. 129 BGH, NJW 2007, 2396, 2400.

110 isoliert, sondern werden die gesamten durch das Wertpapiergeschäft entstandenen Kosten erstattet, so etwa bei den unter II.4. dargestellten Grundsätzen zu den verschwiegenen Provisionen, die potentiell geeignet sind, die Vertrauensgrundlage zu zerstören.130 Gleiches gilt im Übrigen auch in den Fällen, in denen der Kreditgeber seine Rolle überschreitet und einen besonderen Gefährdungstatbestand für den Kreditnehmer schafft. Dort hat eine Aufklärungspflichtverletzung des Kreditgebers anstelle eines bloßen Differenzschadens einen umfassenden Rückabwicklungsanspruch des Kreditnehmers zur Folge, wenn die geschaffenen Risiken nicht nur einen Aspekt, sondern die gesamte Rentabilität und Finanzierbarkeit des Anlagegeschäfts betreffen.131 Gerade das ist aber auch bei alternativen Finanzierungsformen Tatfrage. Der BGH sollte nicht bei der Feststellung stehen bleiben, eine Freistellung von den Kreditverbindlichkeiten scheide aus, da der Geschädigte nicht besser gestellt werden dürfe als er bei zutreffender Auskunft stünde.132 Vielmehr muss diese Feststellung – wie im Wertpapiergeschäft und bei einem besonderen Gefährdungstatbestand – zu der Kausalitätsfrage führen, ob der Kreditnehmer von dem gesamten Geschäft Abstand genommen hätte, weil er dessen Sinnlosigkeit erkannt hätte. Dem Kreditnehmer diesen Beweis abzuschneiden, stimmt mit den Grundlagen des Schadensrechts nicht überein.133 Hinter dieser restriktiven Ansicht steht offenbar die Sorge, eine konsequente Freistellung bei einer Aufklärungspflichtverletzung würde zu einer unverhältnismäßigen Risikoverlagerung führen. Bei Gefährdungstatbeständen und im Wertpapierrecht scheint der BGH diese Bedenken überwunden zu haben. Eine Aufklärungspflichtverletzung des Wertpapierdienstleisters führt dazu, dass dem Anleger das gesamte Spekulationsrisiko abgenommen wird, indem er gegen Übereignung der (wertlosen) Wertpapiere den gesamten Erwerbspreis erstattet bekommt.134 Zwar lässt sich argumentieren, dass der Verstoß des Wertpapierdienstleisters

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Nochmals der Hinweis auf BGH, NJW 2007, 1876, 1879; BGH, NJW 2001, 962, 963. 131 Ausdrücklich BGH, NJW 2007, 2396, 2397; BGH, NJW 2001, 962, 963. 132 BGH, NJW 2007, 2396, 2400. 133 Siehe zu den allgemeinen Grundsätzen der Schadensermittlung bei der Verletzung von Aufklärungspflichten Schimansky/Bunte/Lwowski-Siol (Fn. 17), § 43 Rn. 44-47. Nach dem Grundsatz des Vorteilsausgleichs muss sich der Kreditnehmer tatsächlich erzielte Steuervorteile anrechnen lassen, sofern ihm diese auch tatsächlich verbleiben, Siol, a.a.O., Rn. 47. 134 Insoweit nochmals der Hinweis auf BGH, NJW 2007, 1876, 1879; BGH, NJW 2001, 962, 963; OLG Köln, BKR 2002, 541, 543 f.

111 schwerer wiegt, wenn er potentielle Interessenkonflikte durch Provisionen verschweigt oder mehr tut, als nur nicht aufzuklären, nämlich einen Gefährdungstatbestand schafft. Aber handelt es sich dabei um ein zulässiges Argument, um einen Kausalitätsnachweis zu unterdrücken? Hinzu kommt, dass auch bei fehlender Aufklärung über eine Finanzierungsalternative regelmäßig Eigeninteressen des Kreditnehmers im Spiel sind, da ihm die höhere Zinslast des Kreditnehmers unmittelbar zugute kommt und er evtl. auch an Abschlussprovisionen für die Ansparformen (Bausparvertrag oder Kapitallebensversicherung) verdient. Dass dies vom BGH gänzlich unerwähnt bleibt, erstaunt vor dem Hintergrund, dass er sonst Provisionszahlungen, die das Gesamtgeschäft verteuern und die Rentabilität gefährden, mit besonderer Skepsis betrachtet.135

V. Zusammenfassung Für die untersuchten Bereiche, den Wertpapierhandel und das Kreditgeschäft, hat die auf einige Zweifelsfragen aus jüngster Zeit konzentrierte Untersuchung ergeben, dass die eingangs betonte rege Tätigkeit des europäischen Gesetzgebers zur Klärung im deutschen Recht beitragen wird. Die Bewertung fällt dabei positiv aus. Im Wertpapierrecht wird die verfeinerte Unterscheidung nach unterschiedlichen Dienstleistungen und Anlageprodukten zu mehr Rechtssicherheit führen. Im Kreditrecht verspricht die neue Richtlinie, den nach hier vertretener Ansicht schon nach deutscher Aufklärungsdogmatik gebotenen Wohlverhaltenspflichten zum Durchbruch zu verhelfen. Die ausgesprochen vage gehaltenen Formulierungen zu den Grundsätzen des responsible lending erschweren hingegen eine Prognose. Nach hier vertretener Auffassung sollten sie jedoch dazu führen, dass dem Kreditnehmer bei negativer Rückzahlungsprognose fortan ein Kredit verweigert werden muss, auch wenn dies gegen den ausdrücklichen Willen des Kreditgebers geschieht. Ein positiver Effekt ist dabei nicht zu übersehen: Um überhaupt einen Kredit vergeben zu können, werden sich die Kreditgeber fortan bei finanzschwachen Kunden um eine möglichst günstige Kreditform bemühen müssen. Über die Hintertüre

135

Solche Gestaltungen wurden aus der Praxis gewerblicher Anlagevermittlungsgesellschaften bekannt, siehe BGH, WM 1991, 127, 128; BGHZ 124, 151, 155; BGH, NJW-RR 1996, 947; BGH, WM 1996, 1214, 1215; BGH, NJW-RR 1997, 176. Zur Abgrenzung dieser Geschäfte von den über ein Kreditinstitut abgewickelten Optionsgeschäften BGH, NJW-RR 2002, 405, 406.

112 wird damit das ursprünglich in Art. 6 Abs. 3 des Kommissionsvorschlags enthaltene Gebot, aus mehreren Kreditvarianten die kundengünstigste auswählen zu müssen, doch zu einer faktischen Richtlinienvorgabe.

113

Die Zahlungsdiensterichtlinie: Der Europäische „Uniform New Payments Code“ Jens-Uwe Franck und Philipp Massari Übersicht I. II. III. IV.

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .115 Ökonomische Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .118 Regulierungsziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .120 Regulierungssystematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .121 1. Kombination von aufsichtsrechtlichen und vertragsrechtlichen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .121 2. Gemeinsamer sachlicher Anwendungsbereich: Bargeldlose elektronische Zahlungen . . . . . . . . . . . . . . . . .122 3. Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich der vertragsrechtlichen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .122 4. Passgenauigkeit vertragsrechtlicher Zahlungsverkehrsregulierung zwischen sachlichem und persönlichem Anwendungsbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .124 a) Beschränkbarer persönlicher Anwendungsbereich der Regulierung des Bank-Kunden-Verhältnisses . . . . . .124 b) Beschränkter sachlicher Anwendungsbereich der (mittelbaren) Regulierung des Interbankenverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .126 V. Aufsichtsrechtliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .128 VI. Informationspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .129 VII. Haftung für die nicht autorisierte Nutzung von Zahlungsinstrumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .130 1. Differenziertes Haftungsregime nach der Richtlinie . . . . . .131 2. Zur Rechtslage in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .132 3. Richtlinienwidrigkeit der AnscheinsbeweisRechtsprechung als Paradigma für den Regulierungsansatz der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .135 a) Wortlaut des Art. 59 Abs. 2 ZDRL . . . . . . . . . . . . . . .135 b) Genese des Art. 59 Abs. 2 ZDRL . . . . . . . . . . . . . . . . .137 c) Der Regelungszweck der Richtlinie und die Haftung für nicht autorisierte Nutzung von Zahlungsinstrumenten als Problem der Wohlfahrtsmaximierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .139 aa) Soziale Kosten durch opportunistisches Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .140

114 bb) Wohlfahrtsgewinne durch optimale Investition in Systemsicherheit? . . . . . . . . . . . . . . .145 cc) Wohlfahrtsgewinne durch gestiegenes Vertrauen in elektronische Zahlungssysteme . . . . . . . . . . . . .147 4. Kollektives Handlungsproblem als Rechtfertigung für gesetzgeberische Intervention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .148 5. Plädoyer für eine Haftungsbegrenzung auch bei grob fahrlässiger Pflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .152 VIII. Ausführungsfristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .155 1. Anwendungsbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .155 2. Fristdauer, -berechnung, Verfügbarkeit und Wertstellung beim Zahlungsempfänger . . . . . . . . . . . . . . . .156 IX. Haftung für Nichterfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .157 X. Keine Regelung der Verzugshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .158 XI. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .158

115

I. Einleitung Ein Binnenmarkt setzt funktionsfähige Zahlungsformen voraus. Waren und Dienstleistungen werden nur verkauft und gehandelt, wenn die dabei entstehenden Geldforderungen durch funktionsfähige Zahlungsformen ausgeglichen werden können. Die Bedeutung der Zahlungsverkehrsfreiheit wurde daher bald dahingehend umschrieben, dass alle anderen Freiheiten illusorisch seien, wenn nicht auch die Zahlungsverkehrsfreiheit in demselben Maße verwirklich sei.1 Trotz dieser Erkenntnis wurde der Zahlungsverkehr bislang äußerst zurückhaltend reguliert: Zunächst begnügte sich die Kommission mit Empfehlungen, die im Bereich des elektronischen Zahlungsverkehrs2 vor allem transparente Vertragsbedingungen, technische einheitliche Normen und diskriminierungsfreien Zugang verlangten und für grenzüberschreitende Überweisungen3 Informationspflichten, Ausführungsfristen und Verzugshaftung vorsahen. Ergänzt wurden diese um Empfehlungen zur Haftung bei Nichterfüllung und bei nicht autorisierten Zahlungen.4 Die späteren rechtverbindlichen Akte5 beschränkten sich auf grenzüberschreitende Zahlungen. Da der Anteil des grenzüberschreitenden Zahlungsvolumens lediglich 3% beträgt, während 97% national abgewickelt werden,6 war ihre wirtschaftliche Bedeutung relativ gering.

1

Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht (1999), 4.13 Rn. 2. Empfehlung 87/598/EWG der Kommission vom 8.12.1987 für einen Verhaltenskodex im Bereich des elektronischen Zahlungsverkehrs (Beziehungen zwischen Finanzinstituten, Händlern/Dienstleistungserbringern und Verbrauchern), ABl. 1987 L 365/72. 3 Empfehlung 90/109/EWG der Kommission vom 14.2.1990 zur Transparenz der Bankkonditionen bei grenzüberschreitenden Finanztransaktionen, ABl. 1990 L 67/39. 4 Empfehlung 97/489/EG der Kommission vom 30.7.1997 zu den Geschäften, die mit elektronischen Zahlungsinstrumenten getätigt werden (besonders zu den Beziehungen zwischen Emittenten und Inhabern solcher Instrumente), ABl. 1997 L 208/52. 5 Richtlinie 97/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rats vom 27.1.1997 über grenzüberschreitende Überweisungen, ABl. 1997 L 43/25 (ÜwRL) und Verordnung 2560/2001/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.12.2001 über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro, ABl. 2001 L 344/13. 6 Commission Staff Working Document, Annex to the proposal for a Directive of the European Parliament and of the Council on Payment Services in the Internal Market, Impact Assessment (COM[2005] 603 final), SEC(2005) 1535, C6-0411/05, S. 19. 2

116 Möglicherweise erklärt sich diese regulatorische Zurückhaltung dadurch, dass viele Mitgliedsstaaten keine gesetzgeberische Regulierung moderner Zahlungsformen kannten.7 Obgleich es angesichts der Internationalen Genfer Abkommen über das einheitliche Wechselgesetz vom 30. April 1932 und das einheitliche Scheckgesetz vom 7. Dezember 1932 nicht an Vorbildern fehlte, war hinsichtlich moderner Zahlungsformen wie Überweisung und Kreditkartenzahlung in Europa lange Zeit kein grenzüberschreitender Regulierungsbedarf gesehen worden. Demgegenüber folgte in den USA der technischen Entwicklung neuer Zahlungsformen auch jeweils ihre rechtliche Regulierung. Dieser historischen Entwicklung entsprechend wurde der Zahlungsverkehr in den USA zahlungsformabhängig geregelt, d. h. Scheckzahlung, Kreditkartenzahlung und der elektronische Überweisungs- bzw. Lastschriftverkehr (einschließlich Debitkartenzahlung) wurden jeweils gesondert reguliert.8 Welche Rechte ein Zahlender gegenüber seinem Zahlungsdienstleister hat, hängt deshalb vom verwendeten Zahlungsinstrument ab. Die sachliche Rechtfertigung dieser Differenzierungen ist mitunter unklar. So gelten z. B. im Falle nicht autorisierter Zahlungen für Kreditkartenzahlungen kundenfreundlichere Haftungsnormen als für Debitkartenzahlungen.9 Außerdem kann der Zahlende Kreditkartenzahlungen häufig auch noch rückgängig machen, nachdem sie ausgeführt worden sind,10 während dies

7

In Deutschland wurde der Überweisungsvertrag erst in Umsetzung der Überweisungsrichtlinie durch das Überweisungsgesetz vom 21.7.1999, BGBl. I 1999, 1642, geregelt; ähnlich etwa auch in Italien, vgl. Grundmann/Massari, in: Grundmann/Zaccaria (Hrsg.), Einführung in das italienische Recht (2007), S. 465 f. 8 Murray, Aktuelle Rechtsfragen des Internationalen Zahlungsverkehrs – Vereinigte Staaten von Amerika –, in: Blaurock (Hrsg.), Das Recht der grenzüberschreitenden Überweisung (2000), S. 97 f. 9 Siehe unten bei Fn. 90 ff., Fn. 96 ff. (Debitkarten) und Fn. 95 (Kreditkarten). Auch in Kanada und Großbritannien haftet der Karteninhaber bei einer nicht autorisierten Debitkartenzahlung strenger als bei einer nicht autorisierten Kreditkartenzahlung. Kartenneutral ist das Haftungsrisiko für nicht autorisierte Zahlungen hingegen in Dänemark und Israel geregelt, Rosenberg, Better than Cash? Global Proliferation of Payment Cards and Consumer Protection Policy, Columbia J.Transnat’l.L. 44 (2006), 519, 587; zur Rechtslage in Großbritannien siehe auch Hofmann, Das Haftungsregime für Kartenzahlungssysteme im europäischen Rechtsvergleich – Eine Bestandsaufnahme vor dem Hintergrund des Vorschlags für eine Richtlinie über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, ZVglRWiss 106 (2007), 174, 193 ff. 10 15 U.S.C. § 1666i gewährt dem mit Kreditkarte Zahlenden unter bestimmten Voraussetzungen gegenüber seiner Bank einen Einwendungsdurchgriff aus

117 bei Debitkartenzahlungen nicht möglich ist.11 Dies ist vor allem deshalb fragwürdig, weil Kunden häufig keine bewusste Entscheidung treffen, ob sie mit Kredit- oder Debitkarte zahlen. Denn häufig werden in den USA beide Zahlungsfunktionen in einer Karte integriert (sog. dual-purpose cards).12 Das American Law Institut nahm die technische Entwicklung neuer Zahlungsformen zum Anlass, die vereinheitlichten einzelstaatlichen Regelungen zum Wertpapier- und Scheckrechts13 zu überprüfen und zu modernisieren. Das American Law Institut beauftragte hierzu Professor Hal Scott, der mit dem Projekt eines „Uniform New Payments Code“ versuchte, eine zahlungsformunabhängige Regulierung zu erreichen.14 Da dies aber eine Ausweitung kundenfreundlicher Regelungen auf das Scheckrecht und umgekehrt eine Einschränkungen kundenfreundlicher Regelungen im Recht der Kreditkartenzahlung bedeutet hätte, haben sowohl Bankenverbänden als auch Verbraucherverbände den Entwurf für einen „Uniform New Payments Code“ abgelehnt und das Projekt wurde schließlich aufgegeben.15 Die am 25. Dezember 2007 in Kraft getretene Zahlungsdiensterichtlinie (ZDRL)16 reguliert den Europäischen Zahlungsverkehr erstmals umfassend und einheitlich: Anders als die Überweisungsrichtlinie erfasst sie nicht nur grenzüberschreitende, sondern auch innerstaatliche elektronische Zahlungsformen und dies ohne Rücksicht auf Höchstbeträge. Sie regelt nicht nur die elektronische Überweisung, sondern auch Lastschrift, Kredit- und Debitkartenzahlung. Für diese Zahlungsformen werden Informationspflichten und Vertragsbedingungen sowie der Marktzugang dem zugrunde liegenden Geschäft. Praktisch wirkt dieser Einwendungsdurchgriff allerdings wie ein freier Zahlungsrückruf, Mann, Making Sense of Payments Policy in the Information Age, Geo.L.J. 93 (2005), 633, 647. 11 Mann, Geo.L.J. 93 (2005), 633, 649 f. 12 Mann, Geo.L.J. 93 (2005), 633, 655. 13 Das Wertpapier- und Scheckrecht wird in den USA zwar von den einzelnen Staaten erlassen. Die meisten Staaten orientieren sich jedoch an dem von dem American Law Institut herausgegebenen Modellgesetzen, was zu einer staatenübergreifenden Vereinheitlichung führt, vgl. Rubin, Efficiency, Equity and the Proposed Revision of Articles 3 and 4, Ala. L. Rev. 42 (1991), 551, 552 ff. 14 Vgl. Rubin, Ala.L.Rev. 42 (1991), 551, 557; Mann, Geo.L.J. 93 (2005), 633, 634 f. und 637 (2005). 15 Murray, Das Recht der grenzüberschreitenden Überweisung (2000), S. 99. 16 Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.11.2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG, ABl. 2007 L 319/1.

118 für Anbieter reguliert. Neben dem erweiterten Anwendungsbereich ist hervorzuheben, dass erstmalig auch die Haftung bei nicht autorisierten Zahlungen geregelt wird. Dementsprechend werden diese beiden zentralen Neuerungen im Folgenden besonders gewürdigt. Mit der einheitlichen Regulierung von grenzüberschreitenden und innerstaatlichen Zahlungsdiensten hilft die Richtlinie einem zentralen Kritikpunkt am Regelungsansatz der Überweisungsrichtlinie17 ab. Dem neuen Ansatz liegt die ökonomische Einsicht zugrunde, dass die gewünschte Kostensenkung nicht nur einen intensiveren Wettbewerb erfordert, sondern auch vermehrte Skaleneffekte.18 Flankiert wird dieser einheitliche Regulierungsansatz durch die SEPA-Initiative des Bankensektors. Durch gemeinsame Instrumente, Standards, Verfahren und Infrastrukturen soll ein „Single Euro Payments Area“ (SEPA) entstehen, in der jegliche Differenzierung zwischen grenzüberschreitenden und innerstaatlichen Zahlungsformen entfallen soll.19 Die Richtlinie ist bis zum 1. November 2009 umzusetzen und ersetzt ab diesem Datum die Überweisungsrichtlinie.

II. Ökonomische Bestandsaufnahme Der Zahlungsverkehr in der Europäischen Union ist zu teuer, zu langsam und der Anteil bargeldloser Zahlungen zu gering. Er verursacht Kosten in Höhe von 2-3% des Bruttoinlandsprodukts.20 In einzelnen Mitgliedsstaaten (Belgien, Niederlande und Schweden) betragen die Kosten des Zahlungsverkehrs hingegen lediglich 0,3-0,5% des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts.21

17

Grundmann (Fn. 1), 4.13 Rn. 16. Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Zahlungsdienste im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2000/12/EG und 2002/65/EG vom 1.12.2005, KOM(2005) 603 endg. (Vorschlag ZDRL), S. 2 sowie Burgard, Der Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, WM 2006, 2064, 2065. 19 Hierzu Karasu/Hartsink, Der Weg zum einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraum (SEPA), Die Bank 2004, 408. Zu den ökonomischen Auswirkungen siehe European Central Bank, The Economic Impact of the Single Euro Payments Area, Occasional Paper Series No 71 (2007) mit Überblick über weitere Studien (S. 7-10); Capgemini Consulting, SEPA: potential benefits at stake (2007). 20 Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 5. 21 Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 17. 18

119 Hauptursache für die vergleichsweise hohen Kosten des Europäischen Zahlungsverkehrs ist der hohe Anteil bargeldgebundener Zahlungen. Diese sind um ein Vielfaches teurer als bargeldlose, elektronisch abgewickelte Zahlungen. Während sich die Kosten einer elektronischen Zahlung im Bereich weniger Eurocent bewegen, verursacht eine bargeldgebundene Zahlung Kosten von 33 bis 55 Eurocent.22 Dementsprechend entfallen 60-70% der Kosten des Europäischen Zahlungsverkehrs auf bargeldgebundene Zahlungen.23 Die hohen Kosten des Bargeldkreislaufs erklären sich vor allem damit, dass die Zirkulation zu einem hohen Anteil manuell abgewickelt wird. Kostenfaktoren24 sind etwa die Aufwendungen für das Drucken und Prägen von Scheinen und Münzen, für deren Transport zwischen Zentralbanken, Geschäftsbanken und Händlern sowie für die Verwaltung des Bargeldes bei Händlern und Geschäftsbanken, angefangen von der Bestückung der Kassen und Geldautomaten bis zum Zählen und Abrechnen von Bargeldbeständen. Hinzukommen die Kosten für Sicherheitsmaßnahmen, die auf allen Stufen des Bargeldkreislaufs anfallen und die Opportunitätskosten für die Vorhaltung von Bargeldbeständen in Kassen, Geldautomaten etc. Würde der Anteil bargeldgebundener Zahlungen auf das Niveau der Mitgliedsstaaten mit der niedrigsten Bargeldnutzung zurückgeführt, würde dies erhebliche Einsparungen mit sich bringen.25 Ein höherer Anteil elektronischer Zahlungsvorgänge würde aber nicht nur Kosten verringern, sondern auch den Konsum fördern. So soll ein 10%iger Anstieg bei den elektronischen Zahlungsvorgängen in einer Volkswirtschaft einen Anstieg des Verbrauchs um einen halben Prozentpunkt bewirken.26 Außerdem sind auch die durchschnittlichen Kosten für bargeldlose Zahlungen zu hoch und ihre Ausführungsdauer zu lang. Während ein Niederländer für kontobezogene Zahlungsdienste jährlich im Durchschnitt 34 Euro bezahlt, kommt ein Italiener auf 252 Euro.27 Händlergebühren für Zahlungen mit Kreditkarten von Visa oder MasterCard sind in Portugal und der Tschechischen Republik mehr als dreimal so hoch wie in Finnland oder Italien.28 Zahlungen werden in manchen Mitgliedsstaaten „real time“

22

Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 5. Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 5. 24 CapGemini, ABN Amro and the European Financial Management and Marketing Association (EFMA), World Payments Report 2006 (2006), S. 47; Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 65, Fn. 61. 25 Vorschlag ZDRL, Begründung (Fn. 18), S. 2. 26 Vorschlag ZDRL, Begründung (Fn. 18), Fn. 1. 27 Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 6. 28 Untersuchung des Retail-Bankgeschäfts gemäß Artikel 17 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 vom 31.1.2007, KOM(2007) 33 endg., S. 5. 23

120 oder am selben Tag ausgeführt, in anderen hingegen benötigen sie drei Tage oder sogar länger, bis sie den Zahlungsempfänger erreichen.29 Diese erheblichen Unterschiede hinsichtlich der Kosten und der Leistungsfähigkeit mitgliedsstaatlicher bargeldloser Zahlungssysteme weisen auf Wettbewerbsdefi zite hin.30 Der hohe Anteil bargeldgebundener Zahlungen in manchen Mitgliedsstaaten indiziert Wettbewerbsdefizite beim Wettbewerb zwischen bargeldgebundenen mit bargeldlosen Zahlungsformen. Bestätigt wird diese Indikation durch Studien, wonach die Wettbewerbsverhältnisse und das regulatorische Umfeld das Preisniveau in den nationalen Märkten am stärksten beeinflussen.31 Schließlich zeigen diese erheblichen Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten, dass die Märkte für Zahlungsdienste nach wie vor national ausgerichtet sind32 und der grenzüberschreitende Wettbewerb beschränkt ist.

III. Regulierungsziele Übergeordnetes Ziel der Richtlinie ist es, einen einheitlichen europäischen Markt für Zahlungsdienste zu schaffen und die Effizienz der Zahlungsdienste zu erhöhen. Nur wenn es Verbrauchern und Unternehmen möglich ist, Geld schnell, zuverlässig und günstig innerhalb der Gemeinschaft auch grenzüberschreitend zu transferieren, können sie von den Vorteilen des Binnenmarkts vollumfänglich profitieren.33 Dazu sollen nationale Märkte geöffnet, die Markttransparenz erhöht und die Rechte und Pflichten von Zahlungsdienstnutzern standardisiert werden.34 Die nationale Ausrichtung der Märkte für Zahlungsdienste lässt auf Markteintrittsbarrieren schließen, die durch die Richtlinie abgebaut werden sollen. Durch den Abbau nationaler Markteintrittsbarrieren soll die Anzahl der Anbieter von Zahlungsdiensten erhöht, das Angebot

29

Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 6 und 22. Ähnlich auch die Ergebnisse der Sektorenuntersuchung des RetailBankgeschäfts (Fn. 28). 31 Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 22. 32 Dies bestätigen auch die Ergebnisse der Untersuchung des RetailBankgeschäfts (Fn. 28), S. 3; siehe hierzu auch Bunte, Sektorenuntersuchung im Retail-Bankgeschäft, WM 2007, 1197 ff. 33 Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 26. 34 Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 26 f. 30

121 grenzüberschreitender Zahlungsdienste begünstigt und der Bedarf an Zahlungsdiensteinfrastruktur gesenkt werden.35 Standardisierte Informationspflichten sollen Verbraucher schützen, das Angebot standardisierter Dienste begünstigen sowie Wettbewerb und Effizienz fördern.36 Die Standardisierung der Rechte und Pflichten von Zahlungsdienstnutzern soll die Vergleichbarkeit der Produkte erhöhen und dadurch insbesondere den grenzüberschreitenden Wettbewerb unterstützen.37 Die klare Definition dieser Rechte und Pflichten (mit einer nutzerfreundlichen Tendenz) soll das Vertrauen der Zahlungsdienstnutzer in die elektronischen Zahlungsinstrumente stärken und so dazu beitragen, den Anteil von Bargeldzahlungen zurückzudrängen.38

IV. Regulierungssystematik 1. Kombination von aufsichtsrechtlichen und vertragsrechtlichen Regelungen Mit diesen drei Regulierungszielen (Marktöffnung, Markttransparenz und Produktstandardisierung) korrespondieren die drei Regulierungsbereiche der Richtlinie: Die aufsichtsrechtlichen Regelungen zur Zulassung und Beaufsichtigung von Zahlungsinstituten im II. Titel, die (vor-)vertraglichen Informationspflichten im III. Titel sowie die Regelungen zu den Vertragsbedingungen im IV. Titel. Beschränkte sich die Überweisungsrichtlinie noch auf Informationspflichten und die Regulierung von Vertragsbedingungen, führt die Zahlungsdienstrichtlinie ein eigenständiges Aufsichtsrecht für das Angebot von Zahlungsdiensten ein. Diese Kombination von aufsichts- und vertragsrechtlichen Regelungen ist dem übergeordneten Regelungsziel geschuldet, die nationale Ausrichtung der Märkte für Zahlungsdienste aufzubrechen. Erhöhte Markttransparenz und standardisierte Vertragsbedingungen wären weitgehend wirkungslos, wenn Bankenvereinigungen für Zahlungssysteme diskriminierende Markteintrittsbarrieren errichten könnten um nationale

35 36 37 38

Commission Commission Commission Commission

Staff Working Staff Working Staff Working Staff Working

Document Document Document Document

(Fn. (Fn. (Fn. (Fn.

6), 6), 6), 6),

S. S. S. S.

26. 27. 27. 9.

122 Märkte abzuschotten und damit grenzüberschreitenden Wettbewerb zu verhindern.39 Aus dem gemeinsamen Bezug aller drei Regulierungsbereiche auf den europäischen Markt bargeldloser elektronischer Zahlungen ergibt sich der gemeinsame sachliche Anwendungsbereich. Im Unterschied zu den aufsichtsrechtlichen Regelungen, die im betroffenen Markt ausnahmslos Anwendung beanspruchen müssen, stellt sich bei den vertragsrechtlichen Regelungen zusätzlich die Frage nach der angemessenen Reichweite des persönlichen Anwendungsbereichs.

2. Gemeinsamer sachlicher Anwendungsbereich: Bargeldlose elektronische Zahlungen Reguliert werden nicht nur Überweisungen, sondern „Zahlungsdienste“, die innerhalb der Gemeinschaft geleistet werden (Art. 2 Abs. 1 ZDRL). Die Definition der „Zahlungsdienste“ in Art. 4 Nr. 3 ZDRL verweist auf die im Anhang zur Richtlinie aufgeführten gewerblichen Tätigkeiten. Neben der Überweisung wird auch die Lastschrift, die Zahlung durch Debit- und Kreditkarten, die Bareinzahlung und die Barabhebung erfasst. Ausdrücklich ausgenommen sind Zahlungsvorgänge, die eine Übergabe oder den Transport von Bargeld erfordern (Art. 3 lit. a), c), d) ZDRL) und solche, die nicht ohne ein Dokument in Papierform auskommen (Art. 3 lit. g) ZDRL), also vor allem Scheck und Wechsel. Der Anwendungsbereich konzentriert sich damit auf die effizientesten Zahlungsformen: Bargeldlose Zahlungsformen, die rein elektronisch abgewickelt werden können.

3. Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich der vertragsrechtlichen Regelungen Der im Richtlinienvorschlag der Kommission40 für die vertragsrechtlichen Regelungen vorgesehene Anwendungsbereich war teilweise enger, teilweise aber auch weiter als die schließlich verabschiedete Fassung. Weiter war der Richtlinienvorschlag insoweit, als es genügen sollte, dass nur einer der beteiligten Zahlungsdienstleister seinen Sitz in der Gemeinschaft haben musste und es auf die Währung, in der der Zahlungsdienst ausgeführt werden sollte, nicht ankommen sollte (Art. 2 Vorschlag ZDRL). Dieser

39 40

Vgl. im Einzelnen unten V. (S. 128). Vorschlag ZDRL (Fn. 18).

123 weite Anwendungsbereich wurde jedoch als zu ausladend und unrealistisch kritisiert und wohl deshalb verworfen.41 Nach Art. 2 ZDRL sind die in den Titeln III und IV geregelten vertragsrechtlichen Regelungen nur anzuwenden, wenn sowohl der Zahlungsdienstleister des Zahlers als auch der Zahlungsdienstleister des Zahlungsempfängers in der Gemeinschaft ansässig ist und die Zahlung in Euro oder in der Währung eines Mitgliedstaats erbracht wird. Enger war der Richtlinienvorschlag, weil dort die in den Titeln III und IV geregelten vertragsrechtlichen Regelungen nur für Zahlungen bis 50.000 Euro gelten sollten (Art. 2 Abs. 1 Vorschlag ZDRL). Die Überweisungsrichtlinie sah eine entsprechende Beschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs vor, die damit begründet worden war, dass besonders für Verbraucher, kleine und mittlere Unternehmen schnelle, zuverlässige und kostengünstige Überweisungsmöglichkeiten geschaffen werden müssten.42 Dieser Zielsetzung entsprechend hätte freilich der persönliche und nicht der sachliche Anwendungsbereich beschränkt werden müssen. Wieso Verbraucher, kleinere und mittlere Unternehmen nicht mehr in den Genuss schneller, zuverlässiger und kostengünstiger Überweisungsmöglichkeiten kommen sollten, wenn sie mehr als 50.000 Euro zu überweisen hatten, leuchtete bereits bei Erlass der Überweisungsrichtlinie nicht ein.43 Eben diese Kritik übte auch der Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz des Europäischen Parlaments. Der Ausschluss von Zahlungsdiensten für Zahlungen über 50.000 Euro von den Informationspflichten und der Regulierung von Vertragsbedingungen erweise sich aus Gründen des Verbraucherschutzes nicht als optimale Lösung.44 Die Richtlinie hat der Kritik abgeholfen und sieht keinen Höchstbetrag mehr vor. Die Richtlinie sieht nunmehr vor, dass die vertragsrechtlichen Regelungen grundsätzlich abbedungen werden können, wenn kein Verbraucher beteiligt ist (Art. 30 Abs. 1, 51 Abs. 1 ZDRL). Dabei können die Mitgliedsstaaten Kleinstunternehmen45 den Verbrauchern gleichstellen (Art. 30

41

Bericht über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Zahlungsdienste im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2000/12/EG und 2002/65/EG (endg., A6-0298/2006), S. 113. 42 BE 2 und 7 ÜwRL; Grundmann (Fn. 1), 4.13 Rn. 15. 43 Grundmann (Fn. 1), 4.13 Rn. 15. 44 Bericht über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Zahlungsdienste im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2000/12/EG und 2002/65/EG (endg., A6-0298/2006), S. 118. 45 Ein Kleinstunternehmen ist nach Art. 4 Nr. 26 ZDRL i.V.m. Art. 1, 2 Abs. 1 und 3 des Anhangs der Empfehlung 2003/361/EG als ein Unternehmen

124 Abs. 2, 51 Abs. 3 ZDRL). Ausgenommen von diesem Grundsatz sind vor allem die Regelungen zu den Ausführungsfristen (Art. 68 bis 73 ZDRL). Auch diese können zwar gemäß Art. 68 ZDRL teilweise abbedungen werden. Dabei kommt es aber nur auf die Art des Zahlungsvorgangs und nicht auf die an ihm beteiligten Personen an.

4. Passgenauigkeit vertragsrechtlicher Zahlungsverkehrsregulierung zwischen sachlichem und persönlichem Anwendungsbereich Während in der Überweisungsrichtlinie und auch noch im Vorschlag zur Zahlungsdienstrichtlinie versucht wurde, eine vertragsrechtliche Überregulierung zu verhindern, indem der sachliche Anwendungsbereich begrenzt wurde, wird zu diesem Zweck in der Richtlinie der persönliche Anwendungsbereich beschränkbar ausgestaltet. Maßgeblich für die Bewertung dieses neuen Ansatzes ist die Frage, aus welchen Gründen und in welchem Ausmaße es gerechtfertigt ist, die Vertragsfreiheit im Zahlungsverkehr einzuschränken. a) Beschränkbarer persönlicher Anwendungsbereich der Regulierung des Bank-Kunden-Verhältnisses Durch die vertragsrechtliche Regulierung des Zahlungsverkehrs soll Marktversagen in Form von Informationsasymmetrien im Bank-KundenVerhältnis entgegengewirkt werden.46 Bankprodukte sind abstrakt, entziehen sich der körperlichen Wahrnehmung und bestehen aus vertraglichen Regelungen. Bankkunden können sich deshalb über ihre Qualität ex ante nur unter – häufig prohibitiv – hohen Kosten informieren. Da Verbraucher nur in beschränktem Umfang und nicht regelmäßig Bankprodukte nachfragen, ist für sie der Aufwand, sich mit diesen vertraglichen Regelungen zu befassen, regelmäßig höher als die Nachteile, die ihnen aus diesen Regelungen drohen. Sie handeln deshalb rational, wenn sie Vertragsentscheidungen treffen, ohne sich über Konditionen zu informieren.

definiert, das weniger als 10 Personen beschäftigt und dessen Jahresumsatz bzw. dessen Jahresbilanz 2 Mio. Euro nicht überschreitet. 46 Cooter/Rubin, A Theory of Loss Allocation for Consumer Payments, Tex. L.Rev. 66 (1987/88), 63, 68 f.; Rubin, Ala.L.Rev. 42 (1991), 551; Mann, Geo. L.J. 93 (2005), 633, 662.

125 Deshalb setzte auch die europäische Regulierung zunächst vorwiegend auf Informationspflichten hinsichtlich der Entgelte für Zahlungsdienste.47 Transparenz hinsichtlich der Entgelte macht Bankprodukte für Kunden vergleichbarer und fördert dadurch den Preiswettbewerb. Eine Überregulierung durch Informationspflichten droht deshalb dann, wenn tatsächlich keine systematischen Informationsasymmetrien bestehen. Dies ist typischerweise bei Verträgen mit Unternehmen der Fall, weil diese eine Vielzahl von Zahlungsvorgängen abwickeln und für die es sich daher lohnt, die Informationen zu beschaffen, die bei jedem Zahlungsvorgang relevant sind bzw. denen diese Informationen aufgrund bereits ausgeführter Zahlungsvorgänge ohnehin zur Verfügung stehen. Dementsprechend erscheint es sachgerecht, den persönlichen und nicht den sachlichen Anwendungsbereich der Informationspflichten zu beschränken bzw. beschränkbar auszugestalten. Bei Haftungsregelungen (Nichterfüllung, Verzug und nicht autorisierte Zahlungen) können Informationspflichten allein den Wettbewerb nicht ausreichend fördern. Denn die meisten Bankkunden werden – anders als bei Entgelten – selbst bei Kenntnis der Haftungsregelungen ihre Bank nicht danach auswählen, welche ihnen die für sie günstigsten Haftungsregelungen bietet.48 Haftungsregelungen kommen nur bei einem so kleinen Anteil aller Zahlungen zur Anwendung, dass Bankkunden, die nicht massenhaft Zahlungsaufträge erteilen, regelmäßig davon ausgehen werden, dass die Haftungsregelungen als Kostenfaktor für sie irrelevant sind. Deshalb kann dem Wettbewerbsdefizit hinsichtlich von Haftungsregelungen nur durch eine inhaltliche Regulierung begegnet werden. Während die Informationen, die bei jedem Zahlungsvorgang relevant sind, Unternehmen häufig ohnehin bekannt oder mit vertretbarem Aufwand beschaffbar sein werden, sind auch viele Unternehmen (rational) ignorant im Hinblick auf Inhalt und Bedeutung von Haftungsregelungen. Diese spielen nur für einen so kleinen Anteil aller Zahlungen eine Rolle, dass es sich allenfalls für Unternehmen mit einem besonders hohen Volumen an Zahlungsaufträgen lohnt, sich mit ihnen zu befassen und über sie zu verhandeln. Die meisten Unternehmen befinden sich somit hinsichtlich von Haftungsregelungen in keiner anderen Situation als Verbraucher. Die Regelung des Art. 51 Abs. 1 ZDRL, nach der die Haftungsregelungen für alle Unternehmen abbedungen werden können, vermeidet deshalb keine Überregulierung, sondern begründet ein Regulierungsdefizit. Diese

47 Für die Überweisungsrichtlinie war ursprünglich sogar der Titel „Transparenzrichtlinie“ vorgesehen gewesen, Grundmann (Fn. 1), 4.13 Rn. 18. 48 Cooter/Rubin, Tex.L.Rev. 66 (1987/88), 63, 69.

126 regulatorische Zurückhaltung des Gemeinschaftsgesetzgebers ist zwar unbefriedigend, jedoch konsequent, entspricht sie doch dem europäischen Regulierungsansatz bei der Inhaltskontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Auch viele Allgemeine Geschäftsbedingungen kommen nur in einem kleinen Anteil aller von ihnen erfassten Geschäftsvorfälle zu Lasten des Vertragspartners des Verwenders zur Anwendung. Deshalb ist es für die meisten Vertragspartner des Verwenders, gleich ob Verbraucher oder Unternehmer, nicht lohnenswert, diese Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu prüfen und über sie zu verhandeln. Gleichwohl beschränkt sich auch hier die europäische Regulierung bekanntlich auf Verbraucherverträge.49 Die durch Art. 30 Abs. 1, 51 Abs. 1 ZDRL eröffnete Möglichkeit, mit Unternehmen zu vereinbaren, dass die Informationspflichten und Haftungsregelungen keine Anwendung finden sollen, wird sich nach deutschem Recht in der Regel nicht durch Allgemeine Geschäftsbedingungen umsetzen lassen. Denn indem die Richtlinie Informationspflichten und Haftungsregelungen auch zugunsten von Unternehmen vorsieht, schafft sie ein gesetzliches Leitbild, so dass wegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB jedenfalls erheblich abweichende Regelungen nicht im Wege Allgemeiner Geschäftsbedingungen wirksam vereinbart werden können. Wollten Banken Informationspflichten und Haftungsregelungen in institutsübergreifend vereinbarten Allgemeinen Geschäftsbedingungen abweichend regeln, müssten sich diese zudem an Art. 81 EG bzw. §§ 1, 2 GWB messen lassen.50 b) Beschränkter sachlicher Anwendungsbereich der (mittelbaren) Regulierung des Interbankenverhältnisses Die Regelungen zu den Ausführungsfristen nehmen in der Richtlinie insoweit eine Sonderstellung ein, als sie auch gegenüber Unternehmen nicht abbedungen werden können (Art. 51 Abs. 1 ZDRL), allerdings hinsichtlich ihres sachlichen Anwendungsbereichs beschränkt sind (vgl. Art. 68 ZDRL). Die Richtlinie kombiniert Informationspflichten mit Inhaltsregelungen: Die maximale Ausführungsfrist ist dem Zahlungsdienstnutzer bereits vor Vertragsschluss zugänglich zu machen bzw. mitzuteilen (Art. 36, 37 Abs. 1

49

Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 50 Vgl. zur kartellrechtlichen Zulässigkeit institutsübergreifend vereinheitlichter Allgemeiner Geschäftsbedingungen im Bankgewerbe Massari, Das Wettbewerbsrecht der Banken (2006), S. 82-87.

127 lit. b); 41, 42 Nr. 2 lit. e) ZDRL). Außerdem müssen Zahlungsdienstleister sicherstellen, dass bei ihnen eingegangene Zahlungsaufträge der Zahlungsdienstnutzer innerhalb bestimmter Höchstfristen durch Gutschrift auf dem Konto des Zahlungsdienstleisters des Empfängers ausgeführt werden (Art. 69 ZDRL). Anders als Haftungsregelungen sind Ausführungsfristen ebenso wie Entgelte für jeden Zahlungsauftrag bedeutsam. Zudem ist die Bedeutung von Ausführungsfristen für Verbraucher leicht verständlich. Dies scheint es nahe zu legen, Ausführungsfristen regulatorisch wie Entgelte zu behandeln, also Informationspflichten aber keine zwingenden Inhaltsregelungen vorzusehen. Die zwingende Regelung für Ausführungsfristen erklärt und rechtfertigt sich allerdings dadurch, dass diese anders als Regelungen zu Entgelten nicht allein das Bank-Kunden-Verhältnis betreffen, sondern auch das Interbankenverhältnis. Denn abgesehen von der Hausüberweisung, bei der Zahler und Zahlungsempfänger Konten bei derselben Bank unterhalten, können bargeldlose Zahlungen nur kooperativ durch Zusammenwirken mehrerer Banken erbracht werden. Ein Zahlungsdienstleister kann mithin die Dienstleistung „bargeldlose Zahlung“ nicht autonom gestalten.51 Deshalb ist Wettbewerb hinsichtlich von Ausführungsfristen von bargeldlosen Zahlungsvorgängen allenfalls sehr beschränkt möglich. Wegen der kooperativen Leistungserbringung können einzelne Zahlungsdienstleister nicht durch besonders kurze Ausführungsfristen im Wettbewerb hervorstechen. Würden einzelne Zahlungsdienstleister mit wesentlich kürzeren Ausführungsfristen als die Konkurrenz werben, würde das letztlich lediglich deren Haftungsrisiken für verspätete Ausführung erhöhen, weil die Einhaltung solcher kurzer Ausführungsfristen nicht allein in ihrer Hand liegt, sondern sie hierbei auf die Zusammenarbeit mit anderen Zahlungsdienstleistern angewiesen sind. Deutlich wird hieraus, dass sich die zwingenden Regelungen zu den Ausführungsfristen nicht aufgrund von systematischen Informationsasymmetrien im Bank-Kunden-Verhältnis rechtfertigen. Selbst absolute Markttransparenz und das Entfallen jeglicher Transaktionskosten könnten nicht gewährleisten, dass Kunden und Zahlungsdienstleister über kürzere Ausführungsfristen verhandeln würden. Die Regelungen zu den Ausführungsfristen rechtfertigen sich vielmehr als mittelbare Regulierung des Interbankenverhältnisses. Indem alle Zahlungsdienstleister verpflichtet werden, Zahlungsaufträge innerhalb bestimmter Fristen auszuführen, wird ein kollektiver Anreiz geschaffen, die Kooperation bei der Ausführung von

51

Massari (Fn. 50), S. 25 f.

128 Zahlungsaufträgen so zu verbessern, dass Zahlungsaufträge fristgerecht ausgeführt werden können. Die Zielsetzung einer mittelbaren Regulierung des Interbankenverhältnisses erklärt auch, wieso die Regelungen zu den Ausführungsfristen nicht abbedungen werden können, wenn kein Verbraucher beteiligt ist. Da die Regelungen nicht eine Regulierung des Bank-Kunden-Verhältnisses, sondern des Interbankenverhältnisses bezwecken, spielt es keine Rolle, ob es sich bei dem Kunden um einen Verbraucher oder einen Unternehmer handelt.

V. Aufsichtsrechtliche Regelungen Die aufsichtsrechtlichen Regelungen dienen vor allem dazu, die nationale Ausrichtung der Märkte für Zahlungsdienste zu überwinden und den grenzüberschreitenden Wettbewerb durch erleichterten Markteintritt zu fördern. Dies mag zunächst überraschen bei einer Regelung, die besondere Anforderungen an den Markteintritt und die Marktzugehörigkeit stellt. Das Problem, dem durch die neue Regulierung abgeholfen werden soll, bestand allerdings darin, dass Bankenvereinigungen bislang für ihre Zahlungssysteme gegenüber Nichtbanken künstliche Markteintrittsbarrieren errichtet haben. So wurde Nichtbanken die Beteiligung an Zahlungssystemen generell verwehrt und selbst Banken wurde sie nur gewährt, wenn sie diskriminierende Eintrittsgebühren bezahlten.52 Außerdem wurde der Beitritt durch Benutzungsgebühren und über technische Anforderungen erschwert.53 Bestätigt wurde dieser Befund auch durch die Sektorenuntersuchung im Retail-Bankgeschäft. Dort wurde festgestellt, dass im Bankensektor mehrere potentielle Zugangsschranken bestehen, insbesondere bei Zahlungssystemen.54 Die Bedeutung der neuen aufsichtsrechtlichen Regelungen ist daher vor allem in dem an die Zulassung und Beaufsichtigung anknüpfenden Diskriminierungsverbot des Art. 28 ZDRL zu sehen. Danach darf der Zugang zu Zahlungssystemen für zugelassene oder registrierte Zahlungsdienstleister nicht stärker eingeschränkt werden, als es notwendig ist, um bestimmte Risiken und den Schutz der finanziellen und operativen Stabilität des Zahlungssystems abzusichern. Bestimmte, enumerativ auf52

Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 88. Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 88. 54 Sektorenuntersuchung des Retail-Bankgeschäfts (Fn. 28), S. 3 f. sowie für Einzelheiten zu potentiellen Zugangsschranken S. 7 f. 53

129 gezählte Beschränkungen gelten stets als unzulässig. Allerdings soll das Diskriminierungsverbot nicht für Zahlungssysteme gemäß der Systemrichtlinie55 und für bestimmte Zahlungssysteme gelten, die von einem einzigen Zahlungsdienstleister eingerichtet und betrieben werden (Art. 28 Abs. 2 ZDRL). Begründet wird diese Ausnahme vom Diskriminierungsverbot damit, dass die Zugangsbeschränkung hier den Systemwettbewerb fördere.56 Rechtspolitisch umstritten ist, ob das Angebot von Zahlungsdiensten geringere Risiken als das Einlagen- und Kreditgeschäft mit sich bringt und es folglich gerechtfertigt ist, an Zahlungsinstitute geringere Anforderungen zu stellen als an Banken. Die Europäische Kommission argumentiert insoweit, dass die in den meisten Mitgliedsstaaten fehlende aufsichtsrechtliche Regulierung des Marktes der Zahlungsdienste und das Angebot von Zahlungsdiensten durch Nichtbanken bislang nur in wenigen Fällen zu Problemen geführt habe.57 Insbesondere habe diese fehlende Regulierung keine Bedenken hinsichtlich der finanziellen Stabilität der Anbieter von Zahlungsdiensten oder einem Mangel an Kundenschutz verursacht.58 Demgegenüber hatte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, sich bei den Verhandlungen im Rat dafür einzusetzen, dass an Zahlungsdienste dieselben Anforderungen wie an Banken gestellt werden.59 Begründet wurde diese Forderung damit, dass eine Trennung von Zahlungsgeschäft einerseits und Einlagen- und Kreditgeschäft andererseits praktisch nicht durchführbar sei und auch das reine Zahlungsgeschäft wegen potentiellen Rückzahlungsverpflichtungen (z. B. bei Lastschriften) erhebliche finanzielle Risiken berge.60

VI. Informationspflichten Anders als die Überweisungsrichtlinie unterscheidet die Richtlinie zunächst danach, ob eine Zahlung als Einzelzahlung oder auf Grundlage eines Rahmenvertrages ausgeführt werden soll. Für beide Kategorien werden 55 Richtlinie 98/26/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.5.1998 über die Wirksamkeit von Abrechnungen in Zahlungs- sowie Wertpapierliefer- und abrechnungssystemen, ABl. 1998 L 166/45. 56 BE 17 ZDRL. 57 Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 88. 58 Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 88. 59 Beschluss des Bundestages vom 31.5.2006, BT-Drs. 16/1646, S. 3. 60 Lohmann/Koch, Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, WM 2008, 57, 61.

130 vorvertragliche Informationspflichten sowie Informationspflichten nach Eingang des Zahlungsauftrags gegenüber dem Veranlasser des Zahlungsvorgangs (Eingangsinformationen) und nach Ausführung des Zahlungsauftrags gegenüber dem Zahlenden (Ausführungsinformationen) geregelt, so dass insgesamt sechs Kategorien von Informationspflichten entstehen. Die Eingangsinformationen unterscheiden sich bei Einzelzahlungen und Zahlungen auf Grundlage eines Rahmenvertrages kaum von den Ausführungsinformationen. Bedeutung hat die Unterscheidung von Eingangs- und Ausführungsinformationen daher nur, wenn unterschiedliche Informationsempfänger betroffen sind, also wenn der Zahlungsvorgang vom Zahlungsempfänger veranlasst wird. Ansonsten liegt eine unnötige Informationsdoppelversorgung vor. Auch unterscheiden sich die Inhalte der jeweils bei Einzelzahlungen und Zahlungen auf Grundlage eines Rahmenvertrages in den einzelnen zeitlichen Stadien (vorvertraglich, nach Eingang und nach Ausführung des Zahlungsauftrags) mitzuteilenden Informationen nicht wesentlich. Die Regelung zur vorvertraglichen Information bei der Einzelzahlung verweist sogar hinsichtlich der zugänglich zu machenden Informationen auf die Regelung zu vorvertraglicher Information bei Zahlungen auf Grundlage eines Rahmenvertrages (Art. 37 Abs. 2 ZDRL). Die Differenzierung zwischen Einzelzahlungen und Zahlungen auf Grundlage eines Rahmenvertrages ist deshalb in erster Linie nicht wegen eines unterschiedlichen Umfanges der jeweils zu gewährenden Informationen bedeutend, sondern wegen der Form, in der die Informationen zur Verfügung zu stellen sind: Bei Einzelzahlungen sind sie nur auf Anforderung des Kunden in Papierform oder auf einem anderen dauerhaften Datenträger zu Verfügung zu stellen (Art. 36 Abs. 1, 38, 39 ZDRL). Erfolgt eine Zahlung hingegen auf Grundlage von Rahmenverträgen, darf von dieser Form nur abgewichen werden, wenn der Rahmenvertrag auf Verlangen des Kunden mittels eines Fernkommunikationsmittels geschlossen wird (Art. 41 Abs. 2 ZDRL). Die mitzuteilenden Informationen müssen dann aber unverzüglich in dieser Form nachgereicht werden. Die Regelungsstruktur erscheint damit insgesamt unnötig kompliziert.

VII. Haftung für die nicht autorisierte Nutzung von Zahlungsinstrumenten Zahlungsinstrumente sind nach der Richtlinie alle personalisierten Instrumente bzw. personalisierten Verfahrensabläufe auf Grundlage einer Vereinbarung zwischen dem Zahlungsdienstnutzer und dem Zahlungs-

131 dienstleister, mit dem der Nutzer einen Zahlungsauftrag erteilen kann (Art. 4 Nr. 23 ZDRL). Die Haftungsregelungen für nicht autorisierte Zahlungen in Art. 61 ZDLR erfassen deshalb nicht nur Zahlungen und Abhebungen per Debit- oder Kreditkarten, sondern etwa auch alle Arten von Überweisungsaufträgen, ausgelöst am Schalter, am Bankterminal, per Telefon- oder Online-Banking.

1. Differenziertes Haftungsregime nach der Richtlinie Art. 60 Abs. 1 ZDRL kann als Grundregel für nicht autorisierte Zahlungen begriffen werden. Danach ist der Zahlungsdienstleister verpflichtet, dem Zahler den Betrag unverzüglich zu erstatten und ggf. das belastete Konto wieder auf den vorherigen Stand zu bringen. Abweichend hiervon muss der Zahler gemäß Art. 61 ZDRL61 differenziert nach dem Grad seines Verschuldens für Schäden durch nicht autorisierte Zahlungen einstehen. Wird ein verlorenes oder gestohlenes Zahlungsinstrument dafür genutzt, nicht autorisierte Zahlungen auszulösen, ohne dass dem Zahler eine schuldhafte Pflichtverletzung zu Last liegt oder hat dieser lediglich einfach fahrlässig seine Pflicht zur sicheren Aufbewahrung der personalisierten Sicherheitsmerkmale verletzt, so kann er höchstens62 mit 150 Euro für Schäden haftbar gemacht werden, die durch die nicht autorisierte Nutzung entstehen (Art. 61 Abs. 1 ZDRL). Verletzt der Zahler grob fahrlässig seine in Art. 56 ZDRL definierten Pflichten, muss er grundsätzlich für alle Schäden durch nicht autorisierte Nutzung aufkommen (Art. 61 Abs. 2 ZDRL). In Bezug genommen werden zum einen die im Vertragsverhältnis definierten Pflichten (Art. 56 Abs. 1 lit. a ZDRL), also typischerweise die Pflicht, persönliche Identifikationsnummern (PIN) geheim zu halten, sie nicht auf Karten zu vermerken oder gemeinsam mit Karten zu verwahren. Zum anderen obliegt dem Zahlungsdienstnutzer nach Art. 56 Abs. 1 lit. b ZDRL auch die Pflicht, dem Zahlungsdienstleister Verlust, Diebstahl, missbräuchliche Verwendung oder sonstige nicht autorisierte Nutzung des Zahlungsinstruments unverzüglich anzuzeigen. Den Mitgliedstaaten steht es jedoch nach Art. 61 Abs. 3 ZDRL frei, diese Haftung herabzusetzen. Dabei sollen sie insbesondere der Art der personalisierten Sicherheitsmerkmale Rechnung

61

Die Regelung unterscheidet sich nicht wesentlich von der Haftungsregelung in Art. 6 der Empfehlung 97/489/EG (Fn. 4). 62 Eine für den Zahler günstigere Haftungsregelung erlaubt ausdrücklich auch Art. 61 Abs. 3 ZDRL.

132 tragen sowie den Umständen, unter denen das Zahlungsinstrument abhanden gekommen bzw. missbräuchlich verwendet worden ist. Handelt der Zahlungsdienstnutzer betrügerisch oder verletzt er vorsätzlich eine Pflicht nach Art. 56 ZDRL hat er alle Schäden zu tragen, die durch den nicht autorisierten Zahlungsvorgang entstanden sind (Art. 61 Abs. 2 ZDRL). Darüber hinaus gilt für alle Zahler, die nicht in betrügerischer Absicht gehandelt haben, dass sie nicht für Schäden haften, die nach einer Anzeige i. S. d. Art. 56 Abs. 1 lit. b ZDRL entstanden sind (Art. 61 Abs. 4 ZDRL) oder wenn der Zahlungsdienstleister nicht die Möglichkeit sichergestellt hat, eine solche Anzeige vorzunehmen (Art. 61 Abs. 5 ZDRL).

2. Zur Rechtslage in Deutschland Das in der Richtlinie vorgesehene Haftungsregime unterscheidet sich nicht wesentlich von den bisher im deutschen Recht geltenden Haftungsregeln, beispielsweise für den wohl praktisch relevantesten Fall der nicht autorisierten Verwendung von Debitkarten, die in Deutschland üblicherweise als kombinierte Karten für das electronic-cash-System und das Maestro-System ausgegeben werden. Ist eine Zahlung oder Abhebung vom Karteninhaber nicht autorisiert, hat der Zahlungsdienstleister gem. § 676h BGB keinen Aufwendungsersatzanspruch nach §§ 675, 670 BGB und er muss ggf. bereits abgebuchte Zahlungen stornieren. Hat der Karteninhaber allerdings seine vertraglichen Sorgfaltspflichten im Umgang mit der Karte schuldhaft verletzt, kann dem Zahlungsdienstleister ein Schadensersatzanspruch nach § 280 Abs. 1 BGB zustehen. Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Zahlungsdienstleister differenzieren hierbei in der Regel ähnlich wie die in der Richtlinie vorgesehene Regelung nach dem Grad des Verschuldens beim Zahlenden. Handelt er schuldlos, ist er von jeder Haftung befreit; ist ihm eine grob fahrlässige oder vorsätzliche Pflichtverletzung im Umgang mit der Karte vorzuwerfen oder handelte er gar betrügerisch, muss der Zahlende für den vollen Schaden aufkommen. Bei einfacher Fahrlässigkeit wird er teilweise freigestellt, teilweise wird eine Aufteilung vorgesehen, bei der typischerweise 10 Prozent des Schadens auf den Karteninhaber abgewälzt werden.63 Der Karteninhaber haftet nicht

63

Siehe etwa Hofmann, Schadensverteilung bei Missbrauch der ec-Karte, WM 2005, 441, 442; Jungmann, Missbrauch von ec-Karten bei PIN-basierten Transaktionen – Rechtfertigung, Grenzen und Zukunft des von der Rechtsprechung entwickelten Beweises des ersten Anscheins, in: Zetzsche/Neef/Makoski/Beurskens

133 für Schäden, die entstehen, nachdem er den Verlust der Karte bzw. deren missbräuchliche Verwendung dem Kartenemittenten bzw. dem Zentralen Sperrannahmedienst mitgeteilt hat. Im Zentrum der Diskussion um die Haftung für nicht autorisierte Zahlungen stehen in Deutschland seit längerem die Beweisregelungen hinsichtlich einer Pflichtverletzung durch den Karteninhaber. Nach einer Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) aus dem Jahre 2004 geht die Rechtsprechung davon aus, dass der Beweis des ersten Anscheins für eine grob fahrlässige Pflichtverletzung des Karteninhabers spricht, wenn eine PIN-geschützte Debitkarte nicht autorisiert verwendet wurde.64 Der Gerichtshof nimmt an, dass in einer solchen Situation nach allgemeiner Lebenserfahrung davon ausgegangen werden müsse, dass der Karteninhaber seine Geheimhaltungspflicht bezüglich der PIN grob fahrlässig verletzt habe. Will dieser einer Haftung entgehen, muss er den Anscheinsbeweis entkräften indem er darlegt und ggf. beweist, dass im konkreten Fall ein anderer Geschehensablauf ernsthaft in Betracht kommt, etwa dass die Geheimzahl vor einem Diebstahl der Karte ausgespäht wurde. Diese Rechtsprechung sieht sich andauernder Kritik ausgesetzt.65 Sie beruht zum einen auf der Annahme, dass es faktisch unmöglich sei, die PIN zu entschlüsseln.66 Zum anderen hält sie es für atypisch, dass die PIN

(Hrsg.), Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2007 – Recht und Wirtschaft (2008), S. 329, 331. 64 BGH, WM 2004, 2309, 2311; bestätigt zuletzt in OLG Frankfurt a.M. v. 30.1.2008 – 23 U 38/05 (Kurzwiedergabe in BB 2008, 285). Vor der Grundsatzentscheidung des BGH hatten Instanzgerichte verschiedentlich einen Anscheinsbeweis abgelehnt, etwa OLG Frankfurt a.M., WM 2002, 1055 = WuB I D 5 b. – 1. m.Anm.v. Haertlein; LG Frankfurt a.M., WM 1996, 953 f.; OLG Hamm, WM 1997, 1203, 1206; LG Berlin, WM 1999, 1920; AG Darmstadt, WM 1990, 543, 544 = WuB I D 5. – 3.90 m.Anm.v. Reiser; unter den Prämissen des speziellen Falls OLG Oldenburg, VersR 2002, 371, 372; AG Frankfurt a.M., WM 1999, 1922, 1924; AG Berlin-Mitte, EWiR 2003, 891, 892; LG Osnabrück, WM 2003, 1951, 1954 = WuB I D 5 c. – 1.04 m.Anm.v. Thöne. 65 Siehe etwa Strube, Richter und Technik – Zur Sicherheit der PIN Systeme von Banken, BKR 2004, 497 ff.; Hofmann, WM 2005, 441, 448 ff. Siehe für eine ausführliche Kritik der BGH-Rechtsprechung aus dogmatischer Sicht Jungmann (Fn. 63), S. 329, der insbesondere darauf hinweist, dass der BGH nicht beachtet, dass für die Feststellung einer Pflichtverletzung im Wege des Anscheinsbeweises ein strengerer Maßstab angezeigt sei als für den Nachweis von Kausalität (S. 340-344) und auch nicht hinreichend die Besonderheit würdige, dass der Anscheinsbeweis hier allein auf einer Eliminierung von Alternativursachen beruht (S. 344-349). 66 Zusammenfassend zu den technischen Einzelheiten der Erzeugung und Prüfung der PIN Jungmann (Fn. 63), S. 329, 333 ff.

134 ausgespäht wird. Diese Grundlage des Anscheinsbeweises wurde zuletzt durch die vom Bundeskriminalamt (BKA) veröffentlichten Informationen zum Zahlungskartenbetrug in Frage gestellt.67 Danach gab es im Jahre 2007 in Deutschland 1.349 Manipulationen an 459 Geldautomaten, eine Steigerung um fast 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In 70.000 Fällen entstand dabei ein Schaden von insgesamt 21 Millionen Euro. Typischerweise versuchen die Täter die Daten der Karten zu erlangen, indem sie ein zweites Lesegerät anbringen und die Magnetstreifen der Karten kopieren. Von der PIN erhalten sie Kenntnis, indem sie Kameras oder eine zweite Tastatur installieren. Das BKA resümiert, dass die Täter sich im Bereich der Zahlungskartenkriminalität modernster Technik bedienen, um die eingebauten Sicherheitsschranken zu umgehen. Richtig ist zwar, dass in Deutschland ein spezielles Sicherheitssystem (das sog. MM-Merkmal68) das Abheben von Bargeld mit gefälschten ECKarten verhindert,69 sodass die Betrüger nur im Ausland mit Doubletten an Bargeld kommen können. Um in Deutschland Bargeld abzuheben, sind sie deshalb darauf angewiesen, gezielt die Debitkarten zu entwenden, deren Daten zuvor ausgespäht wurden. In diesen Fällen können Geschädigte vor Gericht zwar zumeist überzeugend darlegen, dass sie sich zum Zeitpunkt, als die Transaktion ausgelöst wurde, an einem anderen Ort befunden haben und also die Zahlung nicht autorisiert war. Schwieriger ist es allerdings, auch den Anschein einer grob fahrlässigen Pflichtverletzung zu erschüttern, wenn nicht entdeckt wurde, dass Daten technisch ausgespäht worden sind. Zwar werden in solchen Fällen, in denen systematisch mit technischen Mitteln Kartendaten ausspioniert werden, zumeist eine Vielzahl von Kunden, die den gleichen Geldautomaten etc. benutzt haben, Opfer der Betrüger und es gibt deshalb starke Indizien, die gegen eine individuelle, grob fahrlässige Pflichtverletzung im Umgang mit der Karte sprechen. Allerdings kann der Kunde dies in der Regel nicht darlegen und beweisen,

67

Siehe Pressemitteilung des BKA vom 28.3.2008, www.bka.de (abgerufen am 8.5.2008). Siehe zum Ausspähen von PIN an Geldautomaten Pausch, Risikobetrachtung des elektronischen Zahlungsverkehrs mit ec-Karten und Kreditkarten, CR 2004, 308, 323. 68 Seit 1979 befindet sich das so genannte MM-Merkmal auf allen deutschen Debitkarten. „MM“ steht für „moduliertes Merkmal“, eine im Kartenkörper eingebrachte, geheime maschinenlesbare Substanz. Das MM-Merkmal in der Karte korrespondiert mit der „MM-Box“, die sich in allen deutschen Geldautomaten befindet. 69 Pausch, CR 2004, 308, 309; siehe dazu LG Duisburg, WM 1989, 181, 182 f. = WuB I D 5. – 3.89 m.Anm.v. Hadding.

135 weil ihm die entsprechenden Daten fehlen und auch die Banken keine derartigen Statistiken führen.70 Die Kriminalstatistik zeigt jedenfalls, dass das Ausspionieren von Geheimnummern keineswegs selten und es deshalb fraglich ist, ob ein solcher Geschehensablauf etwa bei der nicht autorisierten Verwendung gestohlener Debitkarten als so atypisch angesehen werden kann, dass die Gerichte prima facie davon ausgehen können, ein Karteninhaber habe seine Geheimhaltungspflichten in Hinblick auf die PIN grob fahrlässig verletzt. Der BGH hat deshalb seine Anscheinsbeweis-Rechtsprechung auf ein brüchiges Fundament gebaut.

3. Richtlinienwidrigkeit der Anscheinsbeweis-Rechtsprechung als Paradigma für den Regulierungsansatz der Richtlinie Grundsätzlich beurteilt es sich nach mitgliedstaatlichem Recht, ob und in welchem Maße ein Zahlungsdienstnutzer fahrlässig gehandelt hat.71 Eine Ausnahme hiervon bildet die Beweisregelung des Art. 59 ZDRL. Mit der Umsetzung der Beweisregelung des Art. 59 Abs. 2 ZDRL wird für die Anscheinsbeweis-Rechtsprechung des BGH kein Raum mehr bleiben. Dies folgt aus dem Regulierungsziel, das der Gemeinschaftsgesetzgeber mit der nutzerfreundlichen Haftungs- und Beweislastregelung für nicht autorisierte Zahlungen verfolgt. Dem Wortlaut der Norm lässt sich auch unter Zugrundelegung der Entstehungsgeschichte kein anderes Ergebnis entnehmen. a) Wortlaut des Art. 59 Abs. 2 ZDRL Nach Art. 59 Abs. 2 ZDRL „reicht die vom Zahlungsdienstleister aufgezeichnete Nutzung eines Zahlungsinstruments für sich gesehen nicht notwendigerweise aus, um nachzuweisen, dass der Zahler … in betrügerischer Absicht gehandelt oder eine oder mehrere Pflichten nach Art. 56 vorsätzlich oder grob fahrlässig verletzt hat.“ Für die Richtlinienkonformität der BGH-Rechtsprechung wurde vorgebracht, dass die „Nutzung eines Zahlungsinstruments“ gar nicht „für sich gesehen“ den Anscheinsbeweis auslöse. Vielmehr stütze sich der Anscheinsbeweis auf die Sicherheit des PIN-Systems.72 70 71 72

Siehe dazu auch unter VII.3.c)bb) (S. 195). BE 33 ZDRL. Lohmann/Koch, WM 2008, 57, 63.

136 Dagegen spricht freilich, dass in Art. 4 Nr. 23 ZDRL „Zahlungsinstrument“ definiert wird als ein „personalisiertes Instrument“ bzw. ein „personalisierter Verfahrensablauf“, das bzw. der eingesetzt wird, um einen Zahlungsauftrag zu erteilen. Hierauf bezieht sich die Formulierung „Nutzung eines Zahlungsinstruments“ in Art. 59 Abs. 2 ZDRL und erfasst damit alle Handlungen, bei denen das Zahlungsinstrument in der dafür vorgesehenen „personalisierten“ Art und Weise (also etwa unter Verwendung der PIN, Unterschrift oder anderer Personalisierungsmerkmale) benutzt wird. Es verbietet sich daher zu differenzieren zwischen einer Art „allgemeinen Nutzung“ eines Zahlungsinstruments die „für sich gesehen“ keinen Anscheinsbeweis auslöse und dessen Nutzung unter Einhaltung der vorgegebenen personalisierten Merkmale, die (richtlinienkonform) einen Anscheinsbeweis auslösen können soll. Zum zweiten wird argumentiert, dass die einschränkende Formulierung „nicht notwendigerweise“73 dem zuständigen Gericht im Rahmen der freien Beweiswürdigung erlaube, auf einen Anscheinsbeweis zurückzugreifen.74 Für diese Deutung spricht, dass aus der Anscheinsbeweisregelung nicht in jedem Fall folgt, dass eine Pflichtverletzung als nachgewiesen gilt. Dem Karteninhaber bleibt schließlich die Möglichkeit, den Anscheinsbeweis zu erschüttern. Allerdings ist nicht zwingend, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber mit der Formulierung „nicht notwendigerweise“ nur Regelungen ausschließen wollte, die ausnahmslos eine haftungsbegründende Pflichtverletzung als bewiesen annehmen, wenn die Nutzung eines Zahlungsinstruments aufgezeichnet wurde. Der Wortlaut des Art. 59 Abs. 2 ZDRL lässt sich auch so auslegen, dass die Formulierung „nicht notwendigerweise“ nur insoweit einschränkend wirkt, als den Gerichten jedenfalls nicht verboten sein soll, im Rahmen der freien Beweiswürdigung im Einzelfall von einer haftungsbegründenden Pflichtverletzung allein deshalb auszugehen, weil etwa mit einer abhanden gekommenen Debitkarte unter Benutzung der PIN Geld an einem Automaten abgehoben wurde. Nicht zulässig wäre es dann aber, ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zu etablieren, wie dies de facto aufgrund der BGH-Rechtsprechung geschehen ist.75 Denn kann ein Zahlungsdienstnutzer keine Tatsachen vorbringen, die den Anscheinsbeweis 73 Die Formulierung findet sich in inhaltlich entsprechender Weise auch in anderen Sprachfassungen, etwa in der englischen („shall in itself not necessarily be sufficient to prove“) und französischen („ne suffit pas nécessairement en tant que telle à prouver“) Fassung der Richtlinie. 74 Lohmann/Koch, WM 2008, 57, 63. 75 So im Ergebnis tendenziell Jungmann (Fn. 63), S. 329, 356 (noch mit Blick auf die vom Europäischen Parlament am 24.4.2007 verabschiedeten Fassung,

137 erschüttern, folgt daraus nach deutscher Rechtslage, dass er „notwendigerweise“ allein deshalb den Haftungsprozess verliert, weil der Kartenemittent die Nutzung eines Zahlungsinstruments dartut und beweist. Dem Wortlaut der Norm lässt sich deshalb keine klare Aussage für oder wider die Zulässigkeit eines Anscheinsbeweises entnehmen. Diese sprachliche Unbestimmtheit ist deshalb mit Hilfe anderer Auslegungskriterien aufzulösen. Doch selbst Interpreten, die dem Wortlaut des Art. 59 Abs. 2 ZDRL eine klare Aussage für die Rechtmäßigkeit eines Anscheinsbeweises entnehmen wollen, dürfen es hierbei nicht bewenden lassen, sondern müssen dieses Ergebnis im Lichte weiterer Kriterien hinterfragen. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass dem Wortlautargument bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts tendenziell eine geringere Überzeugungskraft innewohnt als etwa im deutschen Recht und es hinter einen entgegenstehenden Zweck zurückzutreten hat.76 b) Genese des Art. 59 Abs. 2 ZDRL In den öffentlich zugänglichen Materialien zur Entstehung der Richtlinie lassen sich keine Hinweise darüber finden, ob ein Anscheinsbeweis wie er vom BGH vertreten wird, nach dem Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers richtlinienkonform sein sollte. In der Beweisregelung im Richtlinienvorschlag der Kommission vom 1. Dezember 2005 war die einschränkende Formulierung „nicht notwendigerweise“ noch nicht enthalten. Dort hieß es schlicht: „Um … nachzuweisen, dass der Zahlungsdienstnutzer … in Bezug auf die ihm gemäß Artikel 46 obliegenden Pflichten grob fahrlässig gehandelt hat, reicht die vom Zahlungsdienstleister aufgezeichnete Nutzung eines Zahlungsverifikationsinstruments allein nicht aus.“77 Angesichts dieser

in der Art. 59 Abs. 2 jedoch bereits der endgültigen Fassung entsprach, siehe unten Fn. 79). 76 Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre – Handbuch für Ausbildung und Praxis (2006), § 11 Rn. 16, 20, 48 und 51 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH. 77 Vorschlag ZDRL, Art. 48 Abs. 3. Inhaltlich ging diese vorgeschlagene Beweisregelung zurück auf Art. 6 Abs. 3 S. 2 der Empfehlung 97/489/EG: „Die Verwendung eines vertraulichen Codes oder eines anderen ähnlichen Identitätsnachweises löst für sich allein genommen eine Verpflichtung des Inhabers [für nicht autorisierte Zahlungen zu haften, vgl. Art. 6 Abs. 1] nicht aus“.

138 Fassung wurde noch allgemein davon ausgegangen, dass damit der Anscheinsbeweis-Rechtsprechung der Boden entzogen worden wäre.78 Die der endgültigen Fassung entsprechende Formulierung findet sich erstmals in Art. 59 Abs. 2 des vom Europäischen Parlament nach erster Lesung festgelegten Standpunkts.79 Allerdings geben die öffentlich zugänglichen Gesetzgebungsmaterialien, insbesondere der Bericht des Berichterstatters Jean-Paul Gauzès vom 20.9.2006,80 keinen Aufschluss darüber, auf Grund welchen Änderungsantrags und mit welcher Begründung die einschränkende Formulierung „nicht notwendigerweise“ in den Text aufgenommen wurde. Aus den Unterlagen ergibt sich lediglich, dass der Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz in seiner Stellungnahme eine sprachlich höchst unklare Relativierung der vorgeschlagenen Beweisregelung angeregt hatte, die im Weiteren nicht aufgegriffen worden war.81 Nicht weiter verfolgt wurde die Anregung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (WSA), der dafür plädiert hatte, in den Richtlinienvorschlag eine Beweisregelung aufzunehmen, wie sie der Rechtslage in Deutschland entsprochen hätte:82 „Wenn die Zahlung mit

78

Burgard, WM 2006, 2065, 2069; Hofmann, ZVglRWiss 106 (2007), 174, 190. 79 Standpunkt des Europäischen Parlaments festgelegt in erster Lesung am 24.4.2007 im Hinblick auf den Erlass der Richtlinie 2007/…/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG. Die englische und französische Sprachfassung des Art. 59 Abs. 2 sind bereits identisch mit der späteren Formulierung in der Richtlinie, die deutsche Übersetzung weicht sprachlich noch leicht ab („Bestreitet ein Zahlungsdienstnutzer, einen ausgeführten Zahlungsvorgang autorisiert zu haben, so reicht die vom Zahlungsdienstleister aufgezeichnete Nutzung eines Zahlungsinstruments als solche nicht zwangsläufig aus, um nachzuweisen, dass der Zahler … eine oder mehrere seiner Pflichten nach Artikel 56 vorsätzlich oder grob fahrlässig verletzt hat“, Hervorhebung von Verf. hinzugefügt). 80 Bericht über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Zahlungsdienste im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2000/12/EG und 2002/65/EG (endg., A6-0298/2006). 81 Die vorgeschlagene Regelung lautete: „Um … nachzuweisen, dass der Zahlungsdienstnutzer … in Bezug auf die ihm gemäß Artikel 46 obliegenden Pflichten grob fahrlässig gehandelt hat, wird geprüft, inwieweit die vom Zahlungsdienstleister aufgezeichnete Nutzung eines Zahlungsverifikationsinstruments hierfür ausreicht.“ 82 Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft: Vorschlag für

139 besonderen und als missbrauchssicher anerkannten Sicherheitsmerkmalen erfolgt ist, sollte der Beweis des ersten Anscheins gelten, dass der Zahlungsdienstnutzer entweder selbst die Zahlung autorisiert oder zumindest grob fahrlässig gehandelt hat. Im Übrigen sollte die Beweiswürdigung durch die nationalen Gerichte nicht unangemessen eingeschränkt werden, zumal die Zivilprozessrechte der Mitgliedstaaten nicht harmonisiert sind.“ Da nicht erkennbar ist, aus welchem Grund dieser Vorschlag des WSA nicht übernommen wurde, lässt sich hieraus allenfalls ein Indiz, nicht aber ein klares e-contrario-Argument83 gegen die Richtlinienkonformität der Anscheinsbeweis-Rechtsprechung herleiten. c) Der Regelungszweck der Richtlinie und die Haftung für nicht autorisierte Nutzung von Zahlungsinstrumenten als Problem der Wohlfahrtsmaximierung Mit der Abschaffung der Anscheinsbeweis-Rechtsprechung hätten kartenausgebende Institute keine rechtlichen Möglichkeiten mehr, sich vor betrügerischen Kunden zu schützen (sog. first-party fraud). Es drohte eine erhebliche Zunahme von Schäden durch Betrug mit Zahlungskarten. Die dadurch entstehenden Kosten würden über die Preise auf die Kunden verlagert. Dies widerspreche dem Ziel des Richtliniengebers, auf einen effizienteren Markt für Zahlungsdienstleistungen und niedrigere Preise für diese Dienstleistungen in der EU hinzuwirken. So lässt sich das Kernargument umschreiben, wie es vorgebracht wurde, um die deutsche Rechtslage im Angesicht der Richtlinie und ihres Regelungsanliegens zu verteidigen.84 Dem liegt eine wohlfahrtstheoretische Überlegung zugrunde: Verzichtete man auf den Anscheinsbeweis, werde dies vermehrt opportunistisches Verhalten durch Karteninhaber verursachen. Die hierdurch entstehenden (sozialen) Kosten werden die Finanzinstitute über den Preis an alle Kunden weitergeben. Das widerspräche dem Regelungszweck der Richtlinie und deshalb sei Art. 59 Abs. 2 ZDRL so auszulegen, dass die nationalen Rechte

eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Zahlungsdienste im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2000/12/EG und 2002/65/EG (2006/C 318/09). 83 Zur generellen Möglichkeit eines e-contrario-Arguments aus der Nichtübernahme eines Vorschlags des WSA Riesenhuber (Fn. 76), § 11 Rn. 32 mit Hinweisen zur Praxis des EuGH. 84 Lohmann/Koch, WM 2008, 57, 63 f.; so bereits auch zuvor in Reaktion auf den Richtlinienvorschlag Burgard, WM 2006, 2065, 2069.

140 weiterhin einen Anscheinsbeweis für eine grob fahrlässige Pflichtverletzung des Karteninhabers vorsehen können, wenn etwa mit einer verloren gegangenen Zahlungskarte unter Verwendung der personalisierten Merkmale Transaktionen ausgelöst werden. Eine solche Wohlfahrtsanalyse ist unvollständig und trägt dem übergreifenden Regelungsansatz des europäischen Gesetzgebers nicht hinreichend Rechnung. Die Frage nach der Auslegung der Beweisregelung des Art. 59 Abs. 2 ZDRL kann als paradigmatisch dafür angesehen werden, warum in der Richtlinie (mit guten Gründen) bewusst ein Haftungsregime für nicht autorisierte Zahlungen vorgesehen ist, das den Schutz der Zahlungsdienstnutzer in den Vordergrund stellt. In drei Schritten soll gezeigt werden, dass die Aufrechterhaltung der Anscheinsbeweis-Rechtsprechung das hinter der Richtlinie stehende Regelungsanliegen konterkarieren würde. Zunächst ist festzuhalten, dass die sozialen Kosten aufgrund einer den Zahlungsdienstnutzer günstiger stellenden Beweisregelung in der bisherigen Diskussion erheblich überbewertet werden (aa)). Sodann ist darauf hinzuweisen, dass mit einer für die Zahlungsdienstleister strengeren Beweisregelung Anreize kreiert werden, in die Systemsicherheit zu investieren. Durch den deshalb zu erwartenden Rückgang der Schäden durch nichtautorisierte Zahlungen werden mögliche erhöhte Schadenssummen aufgrund opportunistischen Verhaltens der Kunden kompensiert werden (bb)). Schließlich ist das Anliegen des Richtliniengebers hervorzuheben, durch eine klare Begrenzung der Haftung für nicht autorisierte Zahlungen Vertrauen in die Benutzung elektronischer Zahlungssysteme zu schaffen, um so die Kosten für Zahlungssysteme zu reduzieren und damit positive Wohlfahrtseffekte zu bewirken (cc)). aa) Soziale Kosten durch opportunistisches Verhalten Mit der Abschaffung der Anscheinsbeweisregelung wird die Gefahr opportunistischen Verhaltens85 durch die Zahlungsdienstnutzer steigen. Betreiber von Zahlungsdiensten wird es schwer fallen, grob fahrlässige Pflichtverletzungen der Kunden zu beweisen. Sinkt deshalb das Risiko auf Seiten der Kunden, für opportunistisches Verhalten und damit verursachte nicht autorisierte Zahlungen haftbar gemacht zu werden, haben sie weniger Anreiz, etwa die Passwörter für das Online-Banking sorgsam geheim zu halten oder sich davor zu schützen, dass die PIN der Debitkarte ausgespäht oder die Karte gestohlen wird. Damit steigt gleichfalls das Risiko,

85 Mit dem Begriff „opportunistischem Verhalten“ werden hier alle Handlungen erfasst, die der Vereinbarung zwischen dem Aussteller und dem Zahlungsdienstnutzer eines Zahlungsinstruments widersprechen.

141 dass die Beweisschwierigkeiten der Betreiber von Zahlungsdiensten zu Betrugstaten durch die Kunden ausgenutzt werden. Eine Justierung der Beweisregelungen zugunsten der Zahlungsdienstnutzer wird deshalb soziale Kosten verursachen.86 Bei nüchterner Betrachtung dürften diese Wohlfahrtsverluste kaum so drastisch ausfallen wie teilweise suggeriert wird. Keinesfalls kann davon die Rede sein, dass „Betrügern Tür und Tor geöffnet“87 werde oder das kartenausgebende Institute „kaum noch rechtliche Möglichkeiten“ haben werden, „sich vor etwaigen betrügerischen Handlungen [ihrer] Kunden zu schützen.“88 Mit solchen Einschätzungen spricht man einer strafrechtlichen Norm ohne Begründung ihre generalpräventive Wirkung ab. Für den Nachweis einer betrügerischen Handlung ändert sich nichts; hierfür ist die Anscheinsbeweis-Rechtsprechung ohne Belang. Neben einer Strafanzeige beim Verdacht des Betruges wird Kreditinstituten auch die Möglichkeit bleiben, auffällig gewordenen Kunden den Vertrag zu kündigen (wie etwa in der Versicherungswirtschaft üblich) bzw. „vorbelasteten“ Kunden den Vertragsschluss zu verweigern. Zu berücksichtigen ist vor allem aber, dass ein Großteil der Schadenssummen durch Zahlungskartenbetrug auf das Konto der organisierten Kriminalität geht.89 Hierunter fallen die Sachverhalte, bei denen Kartendaten und PIN eines Kunden mit technischen Mitteln ausspioniert werden. In diesen Konstellationen liegt typischerweise ohnehin keine grob fahrlässige Pflichtverletzung des Karteninhabers vor. Die Abschaffung des Anscheinsbeweises führt in solchen Fällen organisierten Betrugs mit technischen Hilfsmitteln allenfalls dazu, dass vermieden wird, dass einzelne Kunden zu Unrecht in Haftung genommen werden, denen es

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Nicht näher thematisiert werden soll hier die Frage, ob bei einem Betrug etwa nur Vermögen umverteilt wird und deshalb streng genommen die soziale Wohlfahrt nicht geschädigt wird. Einem solchen Einwand wäre zu entgegnen, dass unrechtmäßig erworbene Vorteile bei der Messung der sozialen Wohlfahrt außer Betracht zu bleiben haben oder dass Betrug soziale Kosten verursacht, weil die Gesellschaft Ressourcen aufwendet, um Straftaten zu verfolgen, vgl. mit Bezug auf die sozialen Kosten von Monopolen R. Posner, The Social Costs of Monopoly and Regulation, J.Pol.Econ. 83 (1975), 807. 87 Burgard, WM 2006, 2065, 2069. 88 Lohmann/Koch, WM 2008, 57, 63 f. 89 Siehe Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, die Europäische Zentralbank und Europol, Neuer EU-Aktionsplan zur präventiven Betrugsbekämpfung im bargeldlosen Zahlungsverkehr (2004-2007), KOM(2004) 679 endg., S. 3.

142 nicht gelingt Tatsachen vorzutragen, die den Anschein grob fahrlässigen Handelns erschüttern könnten. Für etwas mehr Gelassenheit bei der Aussicht auf kundenfreundlichere Haftungs- und Beweisregelungen sollte auch ein Blick auf die Rechtslage in den Vereinigten Staaten und den US-amerikanischen Markt für Debitkarten sorgen. Die Haftung der Verbraucher für nicht autorisierte Zahlungen ist auf Bundesebene geregelt durch den Electronic Fund Transfer Act (EFTA)90 und der Regulation E des Federal Reserve Board.91 Danach haftet der Zahlungsdienstnutzer eines personalisierten Zahlungsinstruments grundsätzlich höchstens in Höhe von 50 US-Dollar.92 Erfährt der Zahlungsdienstnutzer, dass ihm seine Zahlungskarte oder andere personalisierte Zugangsdaten abhanden gekommen sind, muss er dies innerhalb von zwei Geschäftstagen anzeigen. Verletzt er schuldhaft diese Pflicht, haftet er abweichend von der Grundregel mit maximal 500 US-Dollar.93 Eine unbegrenzte Haftung für nicht autorisierte Zahlungen trifft den Kunden nur, wenn er es schuldhaft versäumt, diese innerhalb von 60 Tagen nach dem ihm die Kontoauszüge zugesendet wurden, anzuzeigen und diese Unterlassung kausal für den entstandenen Schaden ist.94 Dieses Haftungsregime für Inhaber von Debitkarten95 ist wesentlich kundenfreundlicher als das von der Richtlinie vorgesehene: Die Haftungsgrenzen von 50 bzw. 500 US-Dollar sind als absolute zu verstehen, d. h. sie umfassen jegliche Schäden durch nicht autorisierte Zahlungen, gleich ob sie beispielsweise vor oder nach der Anzeige des Verlusts einer Karte entstanden sind. Die Haftungsgrenzen gelten auch dann, wenn der Kunde grob fahrlässig sonstige Pflichten im Verhältnis zum Zahlungsdienstleister verletzt haben sollte, also etwa wenn er die PIN auf einer abhanden ge-

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15 U.S.C.A. §§ 1693-1693r. 12 C.F.R. part 205. 92 15 U.S.C.A. § 1693g(a); 12 C.F.R. § 205.6(b)(1). 93 15 U.S.C.A. § 1693g(a); 12 C.F.R. § 205.6(b)(2). 94 15 U.S.C.A. § 1693g(a); 12 C.F.R. § 205.6(b)(3). 95 Die Haftung für Inhaber von Kreditkarten ist durch den Truth in Lending Act (TILA), Section 133(a), 15 U.S.C.A. § 1643, sogar noch weiter eingeschränkt. Diese haften in jedem Falle maximal mit einem Betrag von 50 US-Dollar. Diese Haftungsbegrenzung gilt auch bei Pflichtverletzungen im Umgang mit der Karte und hängt auch nicht davon ab, ob der Kunde den Verlust der Karte anzeigt, Walker Bank & Trust Co. v. Jones, Utah 1983, 672 P.2d 73, certiorari denied 104 S.Ct. 1911, 466 U.S. 937, 80 L.Ed.2d 460. Der Karteninhaber kann seinen Rückbuchungsanspruch jedoch dann verlieren, wenn er ihn nicht nach Zusendung der Kreditkartenabrechnung geltend macht, Minskoff v. American Exp. Travel Related Services Co., Inc., C.A. 2 (NY) 1996, 98 F.3d 703. 91

143 kommenen Debitkarte notiert hatte.96 Schließlich gilt, dass der Zahlungsdienstleister die Beweislast sowohl dafür trägt, dass eine Zahlung autorisiert war, als auch dafür, dass eine Kunde seine Anzeigepflicht schuldhaft verletzt hat.97 Das Haftungsregime des EFTA findet nur dann keine Anwendung, wenn sich ein betrügerisches Handeln des Kunden nachweisen lässt.98 Hinzukommt, dass die Rechtsordnungen der Bundesstaaten die Haftung für Kunden noch weiter reduzieren können. Mehrere Bundesstaaten haben von dieser Option Gebrauch gemacht und sehen beispielsweise längere Anzeigefristen oder geringere Haftungshöchstgrenzen vor.99 Betrachtet man nun den Markt für Debitkarten in den Vereinigten Staaten, so ist festzustellen, dass viele Anbieter ihren Kunden über die gesetzlichen Regelungen hinaus sogar großzügigere Haftungsregelungen anbieten, die zudem teilweise nicht nur für Verbraucher, sondern auch für Kleinunternehmen gelten. Eine wichtige Triebfeder bei dieser Entwicklung ist der Wettbewerb zwischen dem auf PIN basierenden System für Debitkarten und den Systemen, die auf Basis von Unterschriften der Kunden operieren. Um ihren Sicherheitsnachteil gegenüber PIN-Systemen wettzumachen, haben MasterCard und Visa, die über ihre Systeme auch Debitkartzahlungen ermöglichen,100 eine „Zero Liability“-Regelung eingeführt.101 Danach sind Inhaber einer Debitkarte von jeglicher Haftung freigestellt, soweit über ihre Netze nicht autorisierte Zahlungen vorgenommen werden. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn die Zahlungsdienstnutzer nicht anzeigen, dass ihre Karten abhanden

96 So ausdrücklich Official Staff Interpretations, 12 C.F.R. Supplement I § 205.6(b)(2): “Consumer negligence. Negligence by the consumer cannot be used as the basis for imposing greater liability than is permissible under Regulation E. Thus, consumer behavior that may constitute negligence under state law, such as writing the PIN on a debit card or on a piece of paper kept with the card, does not affect the consumer’s liability for unauthorized transfers.” 97 15 U.S.C.A. § 1693g(b). 98 15 U.S.C.A. § 1693a(11)(B); siehe etwa Moore v. Southtrust Corp., 2005 WL 4663636 (E.D.Va.). 99 Mann, Payment Systems and Other Financial Transactions (3. Aufl. 2006), S. 167 mit Beispielen. 100 In der Regel ist auf den Debitkarten in den Vereinigten Staaten auch das Logo von Visa- oder Mastercard aufgedruckt. Der Inhaber kann dann mit der Karte dann sowohl PIN-Transaktionen an Geldautomaten oder an Point of Sale-Terminals vornehmen, als auch mit seiner Unterschrift Transaktionen über das Netz von Visa bzw. Mastercard auslösen. 101 Mann (Fn. 99), S. 167.

144 gekommen sind oder nicht autorisierte Zahlungen bemerken.102 Einige Finanzinstitute haben das „Zero Liability“-Konzept auf alle Transaktionen ausgedehnt. So sind Inhaber einer Debitkarte der Bank of America von jeder Haftung freigestellt, soweit sie innerhalb von 60 Tagen nach Erhalt der Kontoauszüge nicht autorisierte Zahlungen anzeigen.103 Eine solche generelle Haftungsfreistellung betrifft insbesondere auch nicht autorisierte Zahlungen mit PIN oder Abhebungen von Geldautomaten. Folgte man der Logik der Kritiker kundenfreundlicherer Haftungs- und Beweisregelungen, müssten die in den USA verankerten gesetzlichen und noch großzügigeren vertraglichen Regelungen zu erheblichen Verlusten durch Betrugsfälle führen. In der Tat sind diese Kosten jedoch überschaubar. Nach einer Mitteilung der American Bankers Association aus dem Jahre 2003 betragen die Verluste durch Betrug bei PIN-basierten Debittransaktionen 0,022% des Transaktionsvolumens und 0,026% bei Transaktionen, die auf der Unterschrift des Karteninhabers beruhen. Bei einer Zahlung von 40 US-Dollar nahmen die Kartenemittenten bei einer PIN-Transaktion 0,34 US-Dollar ein (Betrugsverlust: 0,86 Cent) und bei Transaktionen mit Unterschrift 0,57 US-Dollar (Betrugsverlust: 1,02 Cent).104 Demgegenüber ging die Europäische Kommission davon aus, dass sich im Jahre 2000 die Schäden aus Zahlungskartenbetrug auf ca. 0,07% des Umsatzes der Zahlungskartenanbieter beliefen.105 Selbst wenn

102

Siehe die “Zero Liability”-Klausel von Visa www.usa.visa.com/personal/ security/visa_security_program/zero_liability.html (abgerufen am 8.5.2008): “Visa’s Zero Liability policy took effect April 4, 2000 […] The former policy required that you report fraudulent activity within two business days of discovery. After this two-day period, you could be held responsible for up to $50 of the unauthorized charges. With the new Zero Liability policy, you’re no longer required to report fraudulent activity within two days and you’re not responsible for any fraudulent transactions made over the Visa network. The Zero Liability policy covers all Visa credit and debit card transactions processed over the Visa network – online or off. The only transactions not covered under the Zero Liability policy are commercial card, ATM, and non-Visa-branded PIN transactions.” 103 Siehe unter www.bankofamerica.com/deposits/checksave/index. cfm?template=checkcards_tsp (abgerufen am 8.5.2008): „Zero Liability. If your card is lost or stolen, Bank of America reimburses you for any unauthorized card transactions up to the amount of the loss, when reported within 60 days from statement date.” 104 Lubasi, Chicago Fed Letter, Number 221 (December 2005), abgedruckt in: Gillette/Scott/Schwartz, Payment Systems and Credit Instruments (2. Aufl. 2007), S. 268, 271. 105 Siehe Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, die Europäische Zentralbank

145 man bedenkt, dass diese statistischen Angaben nur bedingt vergleichbar sind und die Frage der Schadenshöhe von vielen Faktoren bestimmt wird, so liefern die Zahlen doch ein starkes Indiz dafür, dass kundenfreundliche Haftungs- und Beweisregelungen jedenfalls nicht zu erheblich höheren Schäden durch Betrug führen werden. Dass der Anscheinsbeweis-Rechtsprechung durch die Richtlinie der Boden entzogen wird, nimmt sich neben dem US-amerikanischen Recht als bescheidener Ansatz aus, bedenkt man, dass hiernach die Karteninhaber erstens auch bei einer grob fahrlässigen Pflichtverletzung nicht haften, so lange sie den Verlust der Karte innerhalb von zwei Tagen anzeigen, und zweitens die Beweislast vollends auf den Kartenemittenten lastet. Die mit der Abschaffung des Anscheinsbeweises entstehenden sozialen Kosten dürften angesichts des Ausgeführten eher gering sein. Den Befürwortern der Anscheinsbeweis-Rechtsprechung ist auch darin zu widersprechen, dass die Kosten zwingender abnehmerschützender Regelungen letztlich stets über höhere Preise auf die Abnehmer zurückfallen werden. Richtig ist, dass der Anteil an Kosten, der über den Preis an die Abnehmer weitergegeben wird, von der relativen Elastizität von Angebot und Nachfrage abhängt.106 Diese wiederum wird von einer Vielzahl von Faktoren bestimmt, etwa der Wettbewerbsintensität auf dem Markt, der Substituierbarkeit des Produktes durch die Nachfrager etc. Wie groß der von beiden Marktseiten zu tragende Anteil an höheren Kosten durch eine abnehmerfreundliche Haftungs- und Beweislastregelung ist, lässt sich deshalb nur empirisch bestimmen. Bedenkt man, dass die Wettbewerbsintensität des Marktes für Zahlungsdienstleistungen relativ gering ist107, folgt daraus, dass die Anbieter tatsächlich einen signifikanten Anteil dieser Kosten nicht über den Preis abwälzen werden. Dies ist möglicherweise auch die Sorge der Kreditwirtschaft, wenn sie an der Rechtsprechung zum Anscheinsbeweis für ein grob pflichtwidriges Verhalten der Karteninhaber festhalten möchte. bb) Wohlfahrtsgewinne durch optimale Investition in Systemsicherheit? Werden die Haftungs- und Beweislastregelungen zu Lasten der Zahlungsdienstleister verschoben, generiert dies Anreize für Investitionen, um

und Europol, Neuer EU-Aktionsplan zur präventiven Betrugsbekämpfung im bargeldlosen Zahlungsverkehr (2004-2007), KOM(2004) 679 endg., S. 2. 106 Siehe Varian, Intermediate Microeconomics (7. Aufl. 2006), S. 298-300 (dort erläutert am Beispiel der Auferlegung einer Steuer). 107 Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 6, 23; vgl. auch die Sektorenuntersuchung zum Retail-Banking (Fn. 28), S. 3 f.

146 Verluste durch nicht autorisierte Zahlungen zu verhindern. Es gibt Anlass zu der Vermutung, dass Zahlungsdienstleister aufgrund der bisherigen Rechtslage in Deutschland mögliche Investitionen in die Systemsicherheit unterlassen.108 So findet offenbar keine fortlaufende Datenerhebung und -bündelung statt, mit der systematisches und insbesondere technisches Ausspähen von PIN an bestimmten POS109-Terminals und Geldautomaten oder andere Muster bei Missbrauchsfällen aufgedeckt werden könnten. Kartenausgebende Institute haben auch wenig Anreize, beteiligte Händler im POS-System auf strikte Sicherheitsstandards zu verpflichten und diese entsprechend zu überwachen.110 Durch einfache Maßnahmen könnte an POS-Terminals häufig ein besserer Sichtschutz gewährleistet werden um zu verhindern, dass die PIN bei der Eingabe ausgespäht wird. Die Banken habe es auch in der Hand, durch die Videoüberwachung in den Geldautomaten ihrer Filialen die Identifizierung von Personen zu erleichtern, die mit gestohlenen Karten nicht autorisierte Transaktionen veranlassen.111 Zu all diesen Maßnahmen soll eine aus Sicht der Zahlungsdienstleister verschärfte Darlegungs- und Beweisregelung anhalten, wie sie nach Art. 59 ZDRL vorgesehen ist. Hierbei soll nicht übersehen werden, dass in vielen Fällen der Karteninhaber in einer Position ist, durch einfache Vorsichtsmaßnahmen einem Missbrauch vorzubeugen (d. h. er ist sog. cheapest cost avoider). Das verdeutlicht die Problematik, die Haftungs- und Beweisregelungen für nicht autorisierte Zahlungen so zu justieren, dass sie Anreize gewährleisten für effiziente Investitionen in die Sicherheit des Systems sowohl durch die Zahlungsdienstleister als auch durch die Zahlungsdienstnutzer.112 Der Wegfall der Anscheinsbeweis-Rechtsprechung wird dazu führen, dass Zahlungsdienstleister Anreize haben, stärker in die Systemsicherheit zu investieren. Inwieweit hierdurch Wohlfahrtsgewinne entstehen, weil die Zahlungsdienstleister mit geringerem Aufwand die Systemsicherheit in gleicher Weise erhöhen können wie die Kunden, lässt sich kaum abschließend beurteilen. Es spricht allerdings einiges dafür, dass die Zahlungsdienstleister im Bewusstsein der Anscheinsbeweis-Rechtsprechung auch auf wohlfahrtsfördernde Investitionen verzichtet haben.

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Siehe Hofmann, WM 2005, 441, 449 f. „POS“ steht für „point of sale“ und bezeichnet einen Verkaufspunkt, an dem mit einem Zahlungsinstrument elektronisch bezahlt werden kann. 110 Vgl. Strube, WM 1998, 1210, 1215. 111 Siehe Pausch, CR 2004, 308, 313. 112 Zur Notwendigkeit, eine solche Balance zu finden, Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 102. 109

147 cc) Wohlfahrtsgewinne durch gestiegenes Vertrauen in elektronische Zahlungssysteme Die Förderung des elektronischen Zahlungsverkehrs durch Stärkung des Vertrauens der Konsumenten ist ein zentrales Regelungsanliegen der Richtlinie und zieht sich wie ein roter Faden durch die Materialien der Kommission zum Richtlinienvorschlag.113 Dies liegt zum einen darin begründet, dass der elektronische Zahlungsverkehr im Gemeinschaftskontext ein notwendiges Komplement ist, um den grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsverkehr zu fördern. Zum anderen wird hierin eine wichtige Chance gesehen, die enormen Kosten durch den bargeldgebundenen Zahlungsverkehr zu senken. Eine klare Begrenzung der Haftung der Kunden für nicht autorisierte Zahlungen ist ein wichtiges Element, um das Vertrauen in den elektronischen Zahlungsverkehr zu stärken. Den Art. 61 Abs. 1, 2 und 59 Abs. 2 ZDRL liegt der Regelungsgedanke zugrunde, dass der Karteninhaber zumindest die Gewissheit haben muss, dass ihm allenfalls eine limitierte Haftung (max. 150 Euro) treffen kann, solange er nur die Grundregeln im Umgang mit einem Zahlungsinstrument beachtet. Eine Aufrechterhaltung der deutschen Anscheinsbeweis-Rechtsprechung konterkarierte diesen Regelungsgedanken. Die Medien berichten regelmäßig von Fällen, in denen Kartendaten und PIN ausgespäht worden sind.114 Aktuell haben Juristen der Verbraucherzentralen deshalb davor gewarnt, in den Märkten des Lebensmitteldiscounters Lidl EC-Karten zu benutzen, weil dort durch die Videoüberwachung im Kassenbereich auch die PINEingabe aufgezeichnet wird. Der Discounter hatte auf diesbezügliche Vorwürfe mit dem Hinweis reagiert, Kunden sollen den Eingabevorgang mit der Hand abdecken.115 Die potentielle Haftung von Karteninhabern hat sogar dazu geführt, dass Verbraucherzentralen dazu raten, „Karten nur dann bei sich zu führen, wenn man sie gezielt einsetzen will.“116 113

Siehe Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 9: „The starting point for the assessment of social and economic impacts of these alternatives was the need to enhance the trust of users in remote or electronic payments in order to push back the use of cash in particular removal of obstacles (caused by mistrust) to further the use of cheap and efficient means of payment“. 114 Siehe zuletzt den Bericht der Nachrichtensendung „heute“ („Dreiste Betrügereien mit EC-Karten“) vom 28.3.2008, abrufbar unter www.zdf.de/ ZDFmediathek/content/462730 (abgerufen am 8.5.2008). 115 Siehe Süddeutsche Zeitung vom 4.4.2008, www.sueddeutsche.de/wirtschaft/ artikel/551/167072/ (abgerufen am 8.5.2008). 116 Siehe www.dradio.de/dlf/sendungen/verbrauchertipp/758447/ (abgerufen am 8.5.2008).

148 Solche rigorosen – allerdings durchaus nachvollziehbaren – Empfehlungen tragen kaum dazu bei, den Anteil des elektronischen Zahlungsverkehrs in Deutschland zu erhöhen. Man kann festhalten, dass die Anscheinsbeweis-Rechtsprechung angesichts des Risikos, dass die PIN ausspioniert wird und dies zu einem Missbrauch entwendeter Karten führt, Misstrauen in die Sicherheit des elektronischen Zahlungsverkehrs hervorruft und beim Umgang mit Karten spürbar verunsichert. Sie bildet damit ein Hindernis für das Regelungsziel der Richtlinie, durch erhöhtes Vertrauen in den elektronischen Zahlungsverkehr dessen Anteil zu erhöhen und so soziale Kosten zu minimieren. Bedenkt man das enorme Einsparpotential durch vermehrte Nutzung elektronischer Zahlungsinstrumente,117 erscheint es überzeugend, dass der soziale Nutzen eines Verzichts auf die Anscheinsbeweis-Rechtsprechung gegenüber etwaigen sozialen Kosten überwiegt.

4. Kollektives Handlungsproblem als Rechtfertigung für gesetzgeberische Intervention Es bleibt die Frage zu beantworten, warum es für die behaupteten positiven Wohlfahrtseffekte durch kundenfreundliche Haftungs- und Beweisregelungen eines gesetzgeberischen Eingriffs bedarf. Ein erster Anhaltspunkt ergibt sich daraus, dass die Händler neben den Zahlungsdienstleistern die hauptsächlichen Profiteure einer Reduzierung des bargeldgebundenen Zahlungsverkehrs sind.118 Soweit also die Händler vom stärkeren Vertrauen der Konsumenten in den elektronischen Zahlungsverkehr profitieren würden, stellt dies aus Sicht der Finanzinstitute einen sozialen Nutzen dar, den sie nicht internalisieren können und der deshalb für sie auch keinen Anreiz bildet, den Kunden günstigere Haftungs- oder Beweisregelungen anzubieten. Allerdings geht die Kommission basierend auf einer McKinsey-Studie119 auch davon aus, dass die Finanzinstitute ihr Bargeldgeschäft mit Gewinnen aus dem elektronischen Zahlungsgeschäft quersubventionieren120 und dass daher deren Gewinne um 5,3 Milliarden Euro steigen würden, wenn in allen Ländern der Gemeinschaft der Anteil an Transaktionen

117

Siehe oben II. (S. 128) und sogleich unten VII.4. (S. 148). Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 5, 18. 119 McKinsey & Company, European Payment Profit Pool Analysis: Casting Light in Murky Waters (2005), S. 5 und 7. 120 Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 5. 118

149 mit Debitkarten auf das Niveau der drei Länder mit dem geringsten Anteil bargeldgebundenen Zahlungsverkehrs steigen würde.121 Folgt man dem, dann kann eine adverse Selektion aufgrund systematischer Informationsasymmetrien, also die häufig einzig überzeugende ökonomische Rechtfertigung für zwingenden Verbraucherschutz,122 allein nicht erklären, warum die Zahlungsdienstleister keine kundenfreundlicheren Haftungsund Beweisregelungen anbieten. Denn Informationsasymmetrien können nur begründen, dass es keinen Konditionenwettbewerb gibt, weil die Kunden (rational) ignorant gegenüber Haftungskonditionen sind. Um sich einen Anteil an den 5,3 Milliarden Euro zu sichern, käme es für die Finanzinstitute aber nicht darauf an, durch attraktivere Konditionen Kunden von der Konkurrenz hinzuzugewinnen. Es reichte vielmehr aus, die eigenen Kunden dazu zu bringen, einen größeren Anteil ihrer Transaktionen elektronisch auszulösen. Dies wirft die Frage auf: Wenn wirklich 5,3 Milliarden Euro auf dem Tisch liegen, warum greifen die Zahlungsdienstleister nicht zu? Widerlegt ihr Marktverhalten nicht die Logik, wonach günstigere Haftungs- und Beweisregelungen das Vertrauen in den elektronischen Zahlungsverkehr so stärken, dass der Anteil des bargeldgebundenen Zahlungsverkehrs signifikant sinkt und die hierdurch entstehenden Einsparungen gegenüber den Kosten überwiegen? Wir glauben, dass sich dieser (scheinbare) Widerspruch damit erklärt, dass sich die Zahlungsdienstleister einem kollektiven Handlungsproblem123 gegenübersehen. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass es sich beim Vertrauen der Karteninhaber in den elektronischen Zahlungsverkehr um ein (jedenfalls weit überwiegend) kollektives Gut handelt.124 Das Maß des Vertrauens, das ein durchschnittlicher Kunde in den elektronischen Zahlungsverkehr hat, wird im Wesentlichen von den allgemein am Markt herrschenden Haftungs- und Beweisregeln bestimmt und nur zu einem geringen Teil von den Konditionen, denen er unterliegt. Das lässt sich mit der rationalen Ignoranz begründen, die Konsumenten generell gegenüber Allgemeinen Geschäftsbedingungen an den Tag legen und die auch

121

Commission Staff Working Document (Fn. 6), S. 10. Eingehend Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 184 ff. 123 Siehe hierzu Georgakopoulos, Principles and Methods of Law and Economics (2005), S. 50-54. 124 Vgl. die Begründung der zwingenden gesetzlichen Vorgaben zur Einlagensicherung mit einem kollektiven Handlungsproblem bei Georgakopoulos (Fn. 122), S. 53 sowie zur Branchenbezogenheit von Vertrauenskrisen im Bankgewerbe Massari (Fn. 50), S. 15 ff. 122

150 deren Inhaltskontrolle rechtfertigt.125 Prägend für die Anschauung eines durchschnittlichen Karteninhabers über die Sicherheit des elektronischen Zahlungsverkehrs und sein Haftungsrisiko sind demgegenüber die Erfahrungen, die er in seinem persönlichen Umfeld macht126 und das von den Medien gezeichnete Bild. Dies führt zum einen dazu, dass ein Zahlungsdienstleister, der seinen Zahlungsdienstnutzern großzügigere Haftungs- bzw. Beweisregeln anbieten wollte, damit rechnen müsste, dass dies allein nur einen geringen Effekt auf die Nutzung des elektronischen Zahlungsverkehrs durch seine Kunden haben wird, solange die übrigen Anbieter an der hergebrachten Praxis festhalten. Gleichzeitig muss er aber die durch großzügigere Konditionen entstehenden Kosten voll tragen (höhere Haftungsanteile für nicht autorisierte Zahlungen, größere Schadenssummen durch opportunistisches Verhalten der Kunden bzw. höhere Investitionen in die Systemsicherheit). Zum andern bringt es der Charakter des Vertrauens in den elektronischen Zahlungsverkehr als kollektives Gut mit sich, dass einzelne Anbieter hiervon durch Kosteneinsparungen profitieren können, ohne durch ihr eigenes Verhalten dazu beigetragen zu haben (Trittbrettfahrer-Problem). Aus diesen Annahmen ergibt sich deshalb für den einzelnen Anbieter folgende Nutzenmatrix: Übrige Anbieter

Einzelner Anbieter

Großzügige Konditionen Strenge Konditionen (status quo)

Großzügige Konditionen

Strenge Konditionen (status quo)

N-k

n-k

N

0

N = Nutzen eines Anbieters bei branchenweit großzügigen Konditionen n = Nutzen eines Anbieters bei nur individuell großzügigen Konditionen k = Kosten eines Anbieters für die Offerte großzügiger Konditionen 125 Siehe nur Münchener Kommentar-Basedow, BGB (5. Aufl. 2007), vor § 305 BGB Rn. 4-6. 126 Verhaltenswissenschaftliche Studien haben vielfach gezeigt, dass Menschen häufig nicht auf der Basis der ihnen zur Verfügung stehenden Informationen rational entscheiden, sondern sich nach Routineregeln und früheren Erfahrungen richten oder sich an Hinweisen und Erlebnissen von Freunden und Bekannten orientieren, siehe im Überblick Franck (Fn. 121), S. 179-181 m.w.N.

151 Nach den dargelegten Annahmen würde der Nutzen durch größeres Vertrauen in den bargeldlosen Zahlungsverkehr, den der einzelne Anbieter aus branchenweit nutzerfreundlicheren Haftungsregelungen zieht, seine Kosten für solche Konditionen überwiegen (N>k). Diese übersteigen jedoch den Nutzen, den ein Anbieter aus großzügigen Konditionen zieht, die er als einziger am Markt anbietet (k>n). Da N>(N-k) und 0>(n-k), lässt sich der Nutzenmatrix entnehmen, dass der einzelne Anbieter besser steht, wenn er an strengen Haftungs- und Beweisregeln festhält, und zwar unabhängig davon, ob die anderen Anbieter großzügige oder strenge Konditionen anbieten. Die individuell nutzenmaximierende Strategie besteht deshalb immer darin, keine günstigeren Konditionen für die Haftung zu offerieren, als sie gesetzlich zwingend gefordert sind. Da alle Anbieter die Situation auf diese Weise analysieren und auch davon ausgehen, dass ihre Konkurrenten das in gleicher Weise tun werden, stellt sich im status quo (also im rechten unteren Feld) ein Equilibrium ein, obwohl jeder einzelne Anbieter im linken oberen Feld, also bei einer Kooperationslösung, besser stehen würde. Das Festhalten der deutschen Zahlungsdienstleister an den strengen Haftungs- und Beweisregeln lässt sich deshalb angesichts der Angaben der Kommission plausibel als Ergebnis einer individuell nutzenmaximierenden Strategie erklären. Aufgrund eines kollektiven Handlungsproblems ist dieses Equilibrium stabil, selbst wenn alle Anbieter durch kooperatives Handeln ihren Nutzen erhöhen könnten.127 Die Tatsache, dass die Zahlungsdienstleister nicht von sich aus nutzerfreundlichere Haftungs- und Beweisregelung offerieren, widerspricht deshalb nicht der Annahme, dass sie selbst hierdurch per saldo aufgrund des erhöhten allgemeinen Vertrauens in den elektronischen Zahlungsverkehr profitieren könnten. Eine gesetzgeberische Intervention könnte diesem kollektiven Handlungsproblem abhelfen und zu einem neuen Equilibrium führen, das den Nutzen aller mehrt.

127 Das sog. first-mover-Risiko wird auch als Grund dafür angesehen, dass die Banken an einem Equilibrium ineffizienter Preisgestaltung festhalten, bei der die Preise für Zahlungstransaktionen nicht den Kosten entsprechen und deshalb Verluste durch Bargeldtransaktionen durch Gewinne aus dem elektronischen Zahlungsverkehr quersubventioniert werden müssen, CapGemini, ABN Amro and EFMA (Fn. 24), S. 45 f.

152

5. Plädoyer für eine Haftungsbegrenzung auch bei grob fahrlässiger Pflichtverletzung Das Vorstehende begründet nicht nur die Sozialschädlichkeit der Anscheinsbeweis-Rechtsprechung des BGH, sondern zeigt auch, dass diese im Lichte des Regelungsanliegens der Richtlinie nicht mit Art. 59 Abs. 2 ZDRL vereinbar ist. Darüber hinaus konfligiert aber auch die unbegrenzte Haftung für grob fahrlässige Pflichtverletzungen, vor allem in der strengen Auslegung, die der Haftungsmaßstab durch die deutsche Rechtsprechung erfahren hat, mit dem Kernanliegen der Richtlinie. So wird es beispielsweise im Umgang mit Debitkarten als grob fahrlässig angesehen, bei einem nicht ausreichend vor einer Einsichtnahme geschützten Geldautomat keine besonderen Vorkehrungen gegen die Einsicht Dritter zu treffen, also etwa das Tastenfeld beim Eintippen der Geheimzahl mit der Hand abzudecken128 oder die Karte in einem verschlossenen parkenden Auto zurückzulassen bzw. in einem verschlossenen Arbeitsraum, zu dem auch Kollegen Zugang haben.129 Letztere Beispiele verdeutlichen auch, dass die Gerichte teilweise alleine an einen sorgfaltswidrigen Umgang mit der Karte Haftungsfolgen anknüpfen, selbst wenn im Umgang mit der PIN die erforderliche Sorgfalt gewahrt wurde.130 Im Hinblick auf die Benachrichtigungspflicht wird faktisch jede Verzögerung der Sperrung einer Karte, deren Verlust der Zahlungsdienstnutzer bemerkt hat, als grob fahrlässiges Handeln bewertet, soweit der Zahlungsdienstnutzer prinzipiell Zugang zu einem Telefon hat. Dies gilt in gleicher Weise, wenn die Karte im Ausland abhanden kommt.131 Die Kenntnis von dieser strengen Rechtsprechung, bei der banale Versäumnisse und Unaufmerksamkeiten regelmäßig als grob fahrlässiges Handeln eingestuft werden, dürfte in Deutschland über die Medien weithin in die Bevölkerung transportiert worden sein. Man kann davon ausgehen, dass bei dem durchschnittlichen Zahlungsdienstnutzer der Eindruck entstanden ist, dass mit der alltäglichen Benutzung von Zahlungsinstrumenten im elektronischen Zahlungsverkehr ein so gut wie nicht beherrschbares

128

LG Halle, WM 2001, 1298 = WuB I D 5 b ec-Karte 3.01 m.Anm.v. Haertlein. 129 OLG Düsseldorf, BKR 2008, 41. 130 Krit. Hofmann, ZVglRWiss 106 (2007), 174, 184 m. w. N.; Jungmann (Fn. 63), S. 329, 332. 131 OLG Frankfurt a.M., NJW-RR 2004, 26: Bei einem Diebstahl an einem spanischen Flughafen ist die Sperrung nach 1,5 Stunden grob fahrlässig verspätet.

153 und kalkulierbares Risiko einhergeht und dass durch einen Fehler Dritte Zugriff zu Konten erlangen können und der Zahlungsdienstnutzer den hierdurch entstandenen Schaden zu tragen hat. Die Beherrschbarkeit des Risikos leidet vor allem darunter, dass die Handlungsanweisung im Umgang mit Zahlungsinstrumenten unspezifisch ist: Man soll diese sorgsam aufbewahren. Zwar kann der Zahlungsdienstleister die Pflichten in seinen Vertragsbedingungen konkretisieren. Doch sind Zahlungsdienstnutzer solchen Aufstellungen wie allen Allgemeinen Geschäftsbedingungen gegenüber typischerweise ignorant. Muss man etwa die TA-Nummern für Internetbanking in einem Safe oder einer Geldkassette oder vielleicht nur im Schreibtisch verschließen wenn eine Haushaltshilfe regelmäßig das Arbeitszimmer aufräumt? Genügt es, die Codes im nicht verschlossenen Schreibtisch aufzubewahren, soweit außer den Familienmitgliedern normalerweise niemand sonst Zutritt zur Wohnung hat? Stets hängt das Damoklesschwert einer grob fahrlässigen Pflichtverletzung über dem Zahlungsdienstnutzer. Das Haftungsrisiko ist für den einzelnen auch kaum kalkulierbar, weil der potentielle Schaden durch nichtautorisierte Zahlungen nur von der Liquidität bzw. der Kreditwürdigkeit eines Zahlungsdienstnutzers begrenzt ist. Insbesondere ist es bislang in der Rechtsprechung nicht anerkannt, dass ein vereinbarter Verfügungsrahmen zugleich zugunsten des Karteninhabers als Höchstgrenze für einen Schadensersatzanspruch anzusehen ist.132 Der verunsicherte Karteninhaber könnte deshalb geneigt sein, den zitierten Vorschlägen der Verbraucherschutzverbände zu folgen und beispielsweise seine Kredit- und Debitkarten nur dann mitnehmen, wenn er gezielt Käufe plant. Die deutsche Rechtslage wird deshalb nicht dem Anspruch gerecht, im Allgemeininteresse anzuerkennen und zu fördern, dass Zahlungskarten als Gebrauchsobjekte des täglichen Lebens behandelt werden, die man ohne besondere Sicherheitsvorkehrungen treffen zu müssen, unbefangen stets griffbereit bei sich führen können soll. Es spricht deshalb viel dafür, dass die strenge und unbegrenzte Haftung für Fehler des Zahlungsdienstnutzers im elektronischen Zahlungsverkehr ein Grund dafür ist, dass der Anteil elektronischer Zahlungen und hierbei insbesondere von Kartenzahlungen in Deutschland vergleichsweise niedrig ist. So bezahlte jeder Deutsche im Jahre 2004 durchschnittlich nur 27mal mit Karte an einem POS-Terminal, wohingegen diese Rate in anderen Ländern deutlich höher ist (Dänemark: 120; Finnland: 112; Vereinigtes

132 Ablehnend AG Hannover, WM 1997, 1207, 1209; befürwortend hingegen überwiegend das Schrifttum, siehe Hofmann, ZVglRWiss 106 (2007), 174, 185 m.w.N.

154 Königreich: 94).133 Kartenzahlungen haben in Deutschland einen Anteil am bargeldlosen Zahlungsverkehr von 15 Prozent, verglichen mit 59 Prozent in Schweden und 44 Prozent im Vereinigten Königreich.134 Es bestehen deshalb erhebliche Einsparpotentiale, die durch eine Reduzierung des deutlich teureren bargeldgebundenen Zahlungsverkehrs erschlossen werden könnten. Auch für das Zustandekommen der – selbst im Vergleich mit der hier vorgeschlagenen Haftungsbegrenzung – erheblich kundenfreundlicheren Haftungsregelung für Inhaber von Kredit- und Debitkarten in den Vereinigten Staaten wird als überzeugendste (positive) Erklärung angenommen, dass die Regelung letztlich sowohl den Interessen der Zahlungsdienstnutzer als auch der Zahlungsdienstleister entgegenkommt. Letztere können offensichtlich gut damit auskommen, weil die Kosten aufgrund höherer Haftungsquoten durch gestiegene Einnahmen aufgrund vermehrter Nutzung von Karten ausgeglichen werden.135 Der deutsche Gesetzgeber sollte deshalb den ihm in Art. 61 Abs. 3 ZDRL überlassenen Handlungsspielraum nutzen und auch für Fälle grob fahrlässiger Pflichtverletzungen eine Haftungsbeschränkung einführen. Bei der Festlegung einer Haftungsgrenze ist zu beachten, dass die Summe zum einen hoch genug sein muss, damit den Zahlungsdienstnutzern ein starker Anreiz bleibt, ihren Sorgfaltspflichten nachzukommen. Zum anderen muss die Summe auch hoch genug sein, damit es sich für die Finanzdienstleister lohnt, die für ihre Durchsetzung notwendigen Verwaltungs- und ggf. auch Verfahrenskosten aufzuwenden. Wir schlagen deshalb für grob fahrlässige Pflichtverletzungen eine generelle Haftungsbegrenzung von 600 Euro vor. Für die Verletzung der Anzeigepflichten nach Art. 56 Abs. 1 lit. b ZDRL sollte diese Grenze aber nur dann gelten, wenn der Zahlungsdienstnutzer innerhalb von zwei Tagen nach Kenntnis anzeigt, dass ihm ein Zahlungsinstrument abhanden gekommen ist. Nach dieser Frist sollte ihm eine unbeschränkte Haftung drohen. Hinsichtlich der Anzeigepflicht ist eine strengere Haftung angemessen, weil ihr eine klare und jedem unmittelbar einleuchtende Handlungsanweisung unterliegt. Von einer solchen zwingenden Haftungsbegrenzung sind positive Wohlfahrtseffekte zu erwarten. Sie würde das Risiko des Umgangs mit elektronischen Zahlungsdiensten kalkulierbar machen und mag deshalb ein Baustein dafür sein, das Vertrauen in den elektronischen Zahlungsverkehr zu erhöhen und teure bargeldgebundene Transfers aus dem Alltagsleben 133

CapGemini, ABN Amro and EFMA (Fn. 24), S. 23. CapGemini, ABN Amro and EFMA (Fn. 24), S. 15. 135 Gillette, Rules, Standards, and Precautions in Payment Systems, Va.L. Rev. 82 (1996), 181, 208-210. 134

155 zurückzudrängen. Eine drohende Haftung in Höhe von 600 Euro ist für den durchschnittlichen Zahlungsdienstnutzer ein hinreichender Anreiz, vertragsgemäß mit den Zahlungsinstrumenten umzugehen. Von der Einführung einer Haftungsbegrenzung in dieser Höhe ist deshalb nicht zu erwarten, dass die Schäden durch opportunistisches Verhalten der Zahlungsdienstnutzer signifikant ansteigen werden. Für die Zahlungsdienstleister würde das gestiegene Haftungsrisiko zu zusätzlichen Anreizen führen, ihre Investitionen in die Systemsicherheit bargeldloser Zahlungssystem zu optimieren. Alle Seiten würden von den Kosteneinsparungen aufgrund einer vermehrten Nutzung des elektronischen Zahlungsverkehrs profitieren.

VIII. Ausführungsfristen Die Regelungen zu den Ausführungsfristen bringen grundlegende Neuerungen gegenüber den Regelungen in der Überweisungsrichtlinie vor allem hinsichtlich der von ihnen betroffenen Zahlungsvorgänge, der Kürze der Fristen und ihres zwingenden Charakters.

1. Anwendungsbereich Entsprechend dem Ansatz der Richtlinie, einen einheitlichen Europäischen Zahlungsraum zu schaffen, sind die Ausführungsfristen grundsätzlich für innerstaatliche und grenzüberschreitende Überweisungen einheitlich geregelt.136 Die Grenzüberschreitung eines Zahlungsvorgangs hat hinsichtlich der Ausführungsfristen nur noch Bedeutung, wenn Zahlungsvorgänge nicht in Euro, sondern in einer anderen Währung eines Mitgliedstaats ausgeführt werden. Dann gelten die Regelungen zu den Ausführungsvorschriften bei grenzüberschreitenden Überweisungen nur, wenn nur eine Währungsumrechnung zwischen dem Euro und der Währung eines nicht dem Euro-Währungsgebiet angehörenden Mitgliedstaats stattfindet, sofern die erforderliche Währungsumrechnung in dem nicht dem EuroWährungsgebiet angehörenden Mitgliedstaat durchgeführt wird und der grenzüberschreitende Transfer in Euro stattfindet (Art. 68 Abs. 1 lit. c) ZDRL). Für grenzüberschreitende Überweisungen im Anwendungsbereich der Richtlinie, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, gelten die Rege-

136

Kritisch hierzu Burgard, WM 2006, 2065, 2070.

156 lungen zu den Ausführungsfristen zwar auch, können aber abbedungen werden. Dabei kann für innergemeinschaftliche Zahlungsvorgänge allerdings keine längere Frist als vier Geschäftstage vereinbart werden (Art. 68 Abs. 2 ZDRL). Welcher Betrag Gegenstand des Zahlungsvorgangs ist, spielt hingegen keine Rolle mehr.137

2. Fristdauer, -berechnung, Verfügbarkeit und Wertstellung beim Zahlungsempfänger Die maximale Dauer eines Zahlungsvorgangs wurde jedenfalls für grenzüberschreitende Überweisungen massiv verkürzt. Sah die Überweisungsrichtlinie insoweit noch vor, dass eine grenzüberschreitende Überweisung mangels anderweitiger Vereinbarung fünf Geschäftstage benötigen durfte, müssen ab 1. November 2009 drei Geschäftstage und ab 1. Dezember 2012 ein Geschäftstag genügen. Außerdem sind die neuen Fristen zwingend. Galten die Fristen nach der Überweisungsrichtlinie nur, sofern keine Frist vereinbart wurde, sind die neuen Fristen nicht abdingbare Höchstfristen. Dieser Regelungsansatz scheint notwendig und gerechtfertigt, um einen kollektiven Anreiz für eine Verkürzung von Ausführungsfristen zu schaffen.138 Gerechnet werden die Fristen ab dem Tag, an dem der Zahlungsauftrag beim Zahlungsdienstleister des Zahlers eingeht. Geht der Zahlungsauftrag nicht an einem Geschäftstag oder nach einem vom Zahlungsdienstleister bestimmten Zeitpunkt nahe am Ende eines Geschäftstags ein, so gilt er als am darauf folgenden Geschäftstag eingegangen (Art. 64 Abs. 1 ZDRL). Soll ein Zahlungsauftrag abgelehnt werden, muss der Zahlungsdienstleister dies dem Zahlungsdienstnutzer spätestens innerhalb der für die Ausführung des Auftrags geltenden Fristen mitteilen oder in vereinbarter Form zugänglich machen (Art. 65 Abs. 1 ZDRL). Nach Eingang einer Zahlung beim Zahlungsdienstleister des Zahlungsempfängers muss der Betrag dem Konto des Zahlungsempfängers unverzüglich gutgeschrieben werden. Die Wertstellung des Betrages hat spätestens an dem Geschäftstag zu erfolgen, an dem der Betrag dem Konto des Zahlungsdienstleisters des Zahlungsempfängers gutgeschrieben wird (Art. 73 Abs. 1 ZDRL).

137 138

Vgl. hierzu oben IV.3. (S. 123). Vgl. hierzu oben IV.4.b) (S. 127).

157

IX. Haftung für Nichterfüllung Der Richtlinienvorschlag sah noch eine Haftung des Zahlungsdienstleisters des Zahlers für die rechtzeitige Gutschrift auf dem Konto des Zahlungsempfängers vor. Dies wurde als zu weitreichend kritisiert, weil dadurch dem Zahlungsdienstleisters des Zahlers auch eine Haftung für Fehlverhalten des Zahlungsdienstleisters des Zahlungsempfängers auferlegt wurde, auf dessen Auswahl der Zahlungsdienstleister des Zahlenden jedoch keinerlei Einfluss hat.139 Die verabschiedete Fassung folgt deshalb in ihrer Grundkonzeption der bereits in der Überweisungsrichtlinie vorgesehenen Haftungsverteilung nach Risikosphären: Kommt die Zahlung nicht rechtzeitig und vollständig beim Zahlungsempfänger an, haftet dafür grundsätzlich der Zahlungsdienstleister des Zahlenden dem Zahlenden. Nur wenn der Zahlungsdienstleister des Zahlenden nachweisen kann, dass die Zahlung beim Zahlungsdienstleister des Zahlungsempfängers eingegangen ist, haftet der Zahlungsdienstleister des Zahlungsempfängers diesem (Art. 75 Abs. 1 ZDRL). Diese Regelungssystematik stellt sicher, dass keine Haftungslücke allein deshalb entsteht, weil der Zahlende nicht nachzuweisen vermag, ob die Zahlung beim Zahlungsdienstleister des Zahlungsempfängers eingegangen bzw. nicht eingegangen ist.140 Wird ein Zahlungsauftrag vom Zahlungsempfänger ausgelöst, so haftet dessen Zahlungsdienstleister außerdem für die ordnungsgemäße Übermittlung des Zahlungsauftrags an den Zahlungsdienstleister des Zahlenden (Art. 75 Abs. 2 ZDRL). Die Haftung für Nichterfüllung ist wie schon in der Überweisungsrichtlinie als Garantiehaftung ausgestaltet verbunden mit einem Haftungsausschluss für höhere Gewalt (Art. 78 ZDRL). Diese ist gerechtfertigt, weil es für den Zahlungsdienstleister des Zahlenden wesentlich leichter ist als für den Zahlenden, die Nichterfüllung bei zwischengeschalteten Instituten zu lokalisieren141 und gleichzeitig eine Regressregelung vorgesehen ist, nach der der nach Art. 75 ZDRL haftende Zahlungsdienstleister von der für die Nichterfüllung verantwortlichen Stelle Ersatz verlangen kann (Art. 77 ZDRL). Die Haftung umfasst alle Entgelte und Zinsen, die Zahlungsdienstnutzern für nicht erfolgte oder fehlerhaft ausgeführte Zahlungsvorgänge in Rechnung gestellt werden und hat bei Haftung des Zahlungsdienstleister des

139 140 141

Vgl. Burgard, WM 2006, 2065, 2071. BE 46 ZDRL. Vgl. Grundmann (Fn. 1), 4.13 Rn. 25 sowie BE 46 ZDRL.

158 Zahlenden zum Inhalt, das Zahlungskonto auf den Stand zu bringen, auf dem es sich ohne den fehlerhaft ausgeführten Zahlungsvorgang befunden hätte (Art. 75 Abs. 1 UAbs. 2 ZDRL). Haftet der Zahlungsdienstleister des Zahlungsempfängers, so stellt er diesem den Zahlungsbetrag unverzüglich zur Verfügung (Art. 75 Abs. 1 UAbs. 3 ZDRL). Der bedeutsamste Unterschied gegenüber der Überweisungsrichtlinie142 liegt darin, dass keinerlei Haftungshöchstbetrag mehr vorgesehen ist. Nachdem auch die ursprünglich vorgesehene Beschränkung des Anwendungsbereichs auf Überweisungen bis zu 50.000 Euro entfallen ist,143 kennt die Nichterfüllungshaftung nach der Richtlinie nunmehr keinerlei Höchstbetrag mehr.

X. Keine Regelung der Verzugshaftung Es fällt auf, dass die Richtlinie anders als die Überweisungsrichtlinie nicht die Haftung für Verzug bei Verstößen gegen Ausführungsfristen bzw. Nichterfüllung regelt. Erklären dürfte sich dies durch die direkt an die Ausführungsfristen anknüpfende Haftung für Nichterfüllung. Konnten nach der Überweisungsrichtlinie zwischen geschuldeter Gutschrift und Gutschrift eines Ersatzanspruchs wegen Nichterfüllung mehr als vierzehn Bankgeschäftstage vergehen,144 haben nunmehr die haftenden Zahlungsdienstleister die Zahlungsbeträge unverzüglich zu erstatten. Haftet der Zahlungsdienstleister des Zahlenden, hat dieser zudem das Konto des Zahlenden auf den Stand zu bringen, auf dem es sich ohne den fehlerhaft ausgeführten Zahlungsvorgang befunden hätte. Insgesamt bleibt damit wenig Raum für Verzugsschäden, so dass eine eigenständige Regelung wohl entbehrlich schien.

XI. Schluss Insgesamt stellt die Zahlungsdiensterichtlinie eine überzeugende vertragsrechtliche Regulierung dar, insbesondere weil die Reichweite des

142

Die Nichterfüllungshaftung nach der Überweisungsrichtlinie war auf 12.500 Euro beschränkt (Art. 8 ÜwRL). 143 Vgl. oben IV.3. (S. 123). 144 Vgl. Art. 8 Abs. 1 ÜwRL.

159 Anwendungsbereichs und die daran anknüpfenden Regelungen weitgehend sachgerecht aufeinander abgestimmt sind. Die zahlungsformunabhängige Regulierung aller elektronischen Zahlungsformen vermeidet Wertungswidersprüche wie sie durch eine zersplitterte Regulierung wie etwa in den USA entstehen können. Die Aussparung papiergebundener Zahlungsformen trägt dem Umstand Rechnung, dass sich Missbrauchsrisiken papiergebundener Zahlungsformen von denen elektronischer Zahlungsformen erheblich unterscheiden und daher keine einheitliche Regulierung rechtfertigen. Bei elektronischen Zahlungsformen können Zahlungsdienstleister durch technische Legitimierungsverfahren das Risiko eines Autorisierungsanscheins so stark reduzieren, dass es gerechtfertigt erscheint, für die Haftung der Zahlungsdienstnutzer absolute Obergrenzen festzulegen. Dadurch werden für Zahlungsdienstleister Anreize gesetzt, technische Möglichkeiten zur Risikoreduktion voll auszuschöpfen. Papiergebundene Zahlungsformen bieten Zahlungsdienstleistern keine vergleichbaren Möglichkeiten zur Risikoreduktion, sondern sind die Missbrauchsrisiken durch die Papierbindung weitgehend vorgegeben. Deshalb ist bei papiergebundenen Zahlungsformen eine andere Risikoverteilung angemessen. Entsprechendes gilt für Ausführungsfristen. Papiergebundene Zahlungsformen müssen körperlich transportiert werden und können daher nicht innerhalb derselben Fristen ausgeführt werden wie elektronische Zahlungsformen. Allein bei den Informationspflichten wäre auch ein weiterer Anwendungsbereich gerechtfertigt. Die Informationsasymmetrien, denen entgegen gewirkt werden soll, bestehen nicht nur bei allen Zahlungsformen sondern generell bei allen Bankdienstleistungen.145 Die Informationspflichten nach der Zahlungsdiensterichtlinie können daher auch als Ergänzung der Informationspflichten nach der Verbraucherkreditrichtlinie gesehen werden. Denn sie erstrecken die für das Kreditgeschäft verlangte Transparenz auf das Zahlungsverkehrsgeschäfts, nur das Einlagengeschäft bleibt ausgespart.146 Bei den Regelungen zur Haftung für nicht autorisierte Zahlungen hätte noch konsequenter vorgegangen werden können. Die Option für die Mitgliedstaaten in Art. 61 Abs. 3 ZDRL, auch für Fälle grob fahrlässiger Pflichtverletzungen Haftungsbeschränkungen für die Zahlungsdienstnutzer vorzusehen, weist darauf hin, dass diesbezüglich auf europäischer Ebene 145

Daher kennt etwa das italienische Recht Transparenzvorschriften die für alle Bankdienstleistungen gelten, siehe Grundmann/Massari (Fn. 7), S. 454-456. 146 Vgl. zu dieser Regulierungslücke im deutschen Recht Massari (Fn. 50), S. 179-181.

160 keine Einigung erzielt werden konnte. Es bleibt damit den Mitgliedstaaten überlassen, Regelungen zu treffen, die dem Regelungsanliegen der Richtlinie gerecht werden, durch nutzerfreundlichere Haftungsregelungen ein stärkeres Vertrauen in den elektronischen Zahlungsverkehr zu wecken.

161

Beweis- und Haftungserleichterungen in der kapitalmarktrechtlichen Prospekthaftung? Stephan Heinze* Übersicht I.

Einleitung und Problemaufriss am Beispiel des „Telekom-Prozess“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .162 1. Der „Telekom-Prozess“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .162 2. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .164 II. Informationsasymmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .169 1. Informationsasymmetrie in Wirtschaftswissenschaft und Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .169 2. Informationsasymmetrien im Telekom-Prozess . . . . . . . . . .172 III. Auswirkungen des europäischen Rechtes . . . . . . . . . . . . . . . . . .174 1. Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .174 2. Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .177 3. Darlegungs- und Beweislastumkehr, jedenfalls Anscheinsbeweis zur effektiven Rechtsdurchsetzung? . . . . . . . . . . . . .180 a) Argumente für die Umkehr der Darlegungsund Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .180 b) Lösung über die sekundäre Darlegungslast?. . . . . . . . . .182 c) Lösung durch Anscheinsbeweis? . . . . . . . . . . . . . . . . . .184 d) Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .184 4. Exkurs: Auswirkungen auf die Anwendung des KapMuG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .185 5. Auswirkungen auf den Haftungsmaßstab der §§ 44, 45 BörsG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .186 IV. Konkordanz zwischen der Zielsetzung des Europäischen Kapitalmarktrechts und den gefundenen Ergebnissen . . . . . . . .188

* Der Verfasser ist als Prozessbevollmächtigter eines der ersten zehn Musterklageinitiatoren (Pilotverfahren) an dem Telekom-Prozess beteiligt, der Ausgangspunkt für die nachfolgenden Überlegungen ist.

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I. Einleitung und Problemaufriss am Beispiel des „Telekom-Prozess“ 1. Der „Telekom-Prozess“ Im Jahre 2003 reichten Kapitalanleger beim Landgericht Frankfurt a. M. ca. 1.700 Klageschriften gegen die Deutsche Telekom AG (DTAG) und andere Beklagte ein. Etwa 17.000 Einzelpersonen oder Gesellschaften, vertreten durch ca. 900 Rechtsanwälte, verfolgen hiermit Ansprüche aus angeblich falschen bzw. unvollständigen Prospektangaben beim so genannten zweiten oder dritten Börsengang. Weitere ca. 16.000 Verfahren werden seit dem Jahr 2003 bei der Öffentlichen Rechtsantragstelle (ÖRA) der Freien und Hansestadt Hamburg sukzessive abgearbeitet und auf Grund des regelmäßigen Scheiterns des Güteverfahrens bei der ÖRA durch Nichterscheinen der Beklagten mit erheblicher Zeitverzögerung beim Landgericht Frankfurt a. M. weiterverfolgt. Die Summe der geltend gemachten Ansprüche dürfte bei etwa EUR 80 Mio. liegen. Dabei reicht die Spanne von einigen wenigen Hundert Euro bis zum höchsten Betrag von EUR 6,5 Mio. Im Durchschnitt begehren die Kläger etwa EUR 5.000,00 als Schadenersatz. Die in dieser Art noch nie da gewesene Prozessflut veranlasste den Gesetzgeber das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG)1 zu verabschieden. Durch das KapMuG wurde erstmals die Möglichkeit der Interessenbündelung im Zivilprozess geschaffen. Die Gründe für die Einführung des Gesetzes sind nicht allein prozessökonomischer Natur. Vielmehr spielen ökonomische Erwägungen und die ungleiche Verteilung der Kenntnis der für den Rechtstreit maßgeblichen Tatsachen eine entscheidende Rolle. Sehr häufig erweist sich aus der Sicht des Geschädigten die prozessuale Geltendmachung des Schadenersatzanspruches als unökonomisch und im Tatsächlichen schwierig. Der Geschädigte sieht sich häufig nicht in der Lage, die zur Begründung der Schlüssigkeit seines Anspruches erforderlichen Tatsachen zusammenzutragen. Jedenfalls erweist sich diese Aufgabenstellung im Hinblick auf den erforderlichen Aufwand als nicht 1

Gesetz über Musterverfahren in kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten vom 16.8.2005, BGBl. I 2005, 2437; Literatur: Vorwerk/Wolf, KapMuG (2007); Stadler, Das neue Gesetz über Musterfeststellungsverfahren im deutschen Kapitalanlegerschutz, in: Festschrift für Rechberger (2005), S. 663 ff.; Wolf, Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz – Vorlage- oder Aussetzungsverfahren, NJW-Sonderheft zum 3. Hannoveraner ZPO-Symposium 8.10.2005 (2006), S. 13 ff.; Reuschle, Möglichkeiten und Grenzen kollektiver Rechtsverfolgung, WM 2004, 966 ff.

163 wirtschaftlich lösbar. Der bei dem Einzelnen eingetretene Schaden ist regelmäßig eher gering, das Prozesskostenrisiko demgegenüber erheblich.2 Die ökonomisch vernünftige Reaktion hierauf ist Apathie.3 Der Geschädigte unterlässt aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus die Geltendmachung des Schadens. Die Schuldner eines solchen Anspruches können auf dieses rationalen Verhalten setzen, d. h. es bei der Pflichtenwahrung kalkulieren. Zudem sind die Interessenlagen der Prozessparteien völlig verschieden. Der geschädigte Kläger möchte seinen individuellen, häufig überschaubaren Schaden liquidieren. Dem Beklagen geht es eher um die Breitenwirkung eines gegen ihn gerichteten Urteils, welches häufig für eine Vielzahl von Einzelfällen den Charakter eines leading case hätte. Nicht umsonst streiten die Beteiligten insbesondere über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast. Mit der durch das KapMuG geschaffenen Möglichkeit zur kollektiven Rechtsdurchsetzung, versucht der Gesetzgeber, den ökonomisch und prozessökonomisch unerwünschten Auswirkungen von Massenschäden Rechnung zu tragen und die staatliche Finanzmarktaufsicht hierdurch zu stärken.4 Im Rahmen des Musterverfahrens werden Tatsachen und Rechtsfragen vorab letztinstanzlich geklärt, bevor die für die Dauer dieses Verfahrens ausgesetzten Einzelverfahren beim erstinstanzlichen Gericht dann im normalen Rechtszug auf der Basis des Musterentscheides entschieden werden. Zwischenzeitlich hat das für das den dritten Börsengang im Jahre 2000 betreffende Musterverfahren zuständige Oberlandesgericht Frankfurt a. M. für die Monate ab April 2008 terminiert und eine umfangreiche Beweisaufnahme begonnen. Das Verfahren bietet Anlass, der Frage nachzugehen, ob mittels des gesetzgeberischen Flankenschutzes in ausreichendem Maße den unterschiedlichen Interessenlagen der Parteien Rechnung getragen wurde.

2 Vorwerk/Wolf-Lange (Fn. 1), Einl. Rn. 2; Fleischer, Empfiehlt es sich, im Interesse des Anlegerschutzes und zur Förderung des Finanzplatzes Deutschland das Kapitalmarkt- und Börsenrecht neu zu regeln? Verhandlungen des 64. Deutschen Juristentags Berlin (2002), Band I, Gutachten Teil F 5, 115 f.; Möllers/Rotter, Ad-hoc-Publizität (2003), § 18 Rn. 6 ff. 3 Kalss, Anlegerinteressen (2001), S. 279. 4 BT-Drs. 15/5091, S. 16.

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2. Problemaufriss Das Massenverfahren gegen die DTAG flankierte ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Bonn.5 Hierdurch konnten die Kläger in Prospekthaftungsverfahren zumindest einen Teil der Sachverhaltsangaben auf Grund der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft recherchieren. Der Erkenntniswert blieb indes unbefriedigend. So zeigt sich im bisherigen zivilprozessualen Verfahrensverlauf eine strukturelle Unterlegenheit der Klägerseite. Zum einen steht die Klägerseite vor der Problematik, nicht über sämtliche erforderliche Informationen zu verfügen, die zur effektiven Verfolgung des Vorwurfes eines fehlerhaften bzw. unvollständigen Prospektes erforderlich sind. Zum anderen scheut die Beklagtenseite keine Mühe und Kosten, um namhafte Wissenschaftler und Spezialisten der Bundesrepublik um die Erstellung von Sachverständigengutachten zu ersuchen, mittels derer belegt werden soll, dass insbesondere die von der DTAG entwickelte Methode zur Bewertung des Immobilienvermögens mit dem geltenden Recht in Einklang stehe und nicht zu wesentlichen Abweichungen vom Normalfall geführt habe. Gerade am Beispiel der vorlegten Parteigutachten zeigt sich die strukturelle Unterlegenheit: Anlegerseite / Staatsanwaltschaft beim Landgericht Bonn

Beklagtenseite

WertermittlungsForum Dr. Sprengnetter / Dipl.-Ing. Kranich, Gutachten im Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Bonn gegen Verantwortliche der Firma Deutsche Telekom AG u.a. vom 15.02.2005, Umfang: 190 Seiten

Prof. Dr. Karlheinz Küting / Prof. Dr. ClausPeter Weber, Gutachten zur Ordnungsmäßigkeit der Bewertung der Grundstücke in der Eröffnungsbilanz der Deutsche Telekom AG vom 16.05.2002, Umfang: 478 Seiten, Anlagenteil – 457 Seiten

Prof. Dr. Heinz-Dieter Assmann, Rechtsgutachten zu einzelnen Voraussetzungen eines Prospekthaftungsanspruchs von Anlegern, die im Zuge der 2. und 3. Tranche der Emission von Aktien der Deutsche Telekom AG in den Jahren 1999 und 2000 Wertpapiere dieser Gesellschaft erworben haben vom 21.03.2005

Prof. Dr. Karlheinz Küting / Prof. Dr. Claus-Peter Weber, Ergänzende Ausführungen zum Gutachten der Ordnungsmäßigkeit der Bewertung der Grundstücke in der Eröffnungsbilanz der Deutsche Telekom AG vom 23.05.2005, Umfang: 95 Seiten, Anlagenteil – 269 Seiten

5 Staatsanwaltschaft beim Landgericht Bonn, Geschäftszeichen 42 Js 108/00. Das Verfahren endete durch Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft gem. § 170 Abs. 2 StPO vom 25.4.2005 bezüglich der Bilanzjahre 1998 und 1999 und durch Einstellungsverfügung gem. § 153a StPO gegen Geldauflage in Höhe von EUR 5 Mio. gegen die DTAG und Geldauflagen gegen den Finanzvorstand der DTAG vom 31.5.2005 bezüglich der Bilanzjahre 1995 bis 1997. Die Staatsanwaltschaft sah hinreichenden Tatverdacht für den Vorwurf der vorsätzlichen Bilanzfälschung.

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Anlegerseite / Staatsanwaltschaft beim Landgericht Bonn

Beklagtenseite Prof. Dr. Karlheinz Küting / Prof. Dr. ClausPeter Weber, Stellungnahme zum Gutachten von Dr. Sprengnetter und Dipl.-Ing. Kranich vom 16.09.2005, Umfang: 72 Seiten Prof. Dr. Holger Fleischer, Rechtsgutachten zu einzelnen Fragen der börsengesetzlichen Prospekthaftung anläßlich des zweiten und dritten Börsenganges der Deutsche Telekom AG in den Jahren 1999 und 2000 vom 30.05.2005, Umfang: 38 Seiten Prof. Dipl.-Ing. Wolfgang Kleiber, Bewertung des Grundstücksbestandes der Deutsche Telekom AG zum 1. Januar 1995 und zum 31.12.1999 vom 05.05.2005 und vom 02.06.2004, Umfang: 50 Seiten Prof. Dr. Hans-Joachim Böcking, Die Auswirkungen der außerplanmäßigen Abschreibungen des Grundstücksvermögens auf den Unternehmenswert der Deutsche Telekom AG, 3 Bände, vom 14.10.2004, Umfang: 209 Seiten, Anlagenteil – 223 Seiten Wollert-Elmendorff Deutsche IndustrieTreuhand GmbH, Stellungnahme zur Bewertung des Immobilienvermögens in der Eröffnungsbilanz auf den 1. Januar 1995 der Deutsche Telekom AG, Bonn, 17.12.1998, Umfang: 45 Seiten Prof. Dr. Wolfgang Schäfer / Prof. Dr. Karl-Werner Schulte HonRICS CRE, Gutachterliche Stellungnahme zur Angemessenheit und Üblichkeit des Verfahrens zur Bewertung der Grundstücke für die Eröffnungsbilanz der Deutsche Telekom AG aus immobilienwirtschaftlicher Sicht vom 25.05.2007, Umfang: 63 Seiten

Assmann favorisiert in seinem Gutachten die Anwendung eines Anscheinsbeweises zu Lasten der DTAG.6 Diese Ansicht stützt sich auf die These, dass es einen Erfahrungssatz gäbe, nach dem die Anwendung eines unzulässigen 6

Assmann, Rechtsgutachten zu einzelnen Voraussetzungen eines Prospekthaftungsanspruchs von Anlegern, die im Zuge der 2. und 3. Tranche der Emission von Aktien der Deutsche Telekom AG in den Jahren 1999 und 2000 Wertpapiere dieser Gesellschaft erworben haben (2005), Rn. 32, 35.

166 Bewertungsverfahrens zu einem unrichtigen Bewertungsergebnis führe.7 Die Notwendigkeit einer beweisrechtlichen Korrektur stützt Assmann auch auf die Kosten der Beweiserhebung.8 Es sei mithin Sache der DTAG, den Anschein eines unrichtigen Bewertungsergebnisses zu widerlegen. Fleischer widerspricht diesem Ergebnis und lehnt die Anwendung jeglicher Beweiserleichterungen ab. Kostengesichtpunkte könnten bei der Anwendung eines Anscheinsbeweises nicht greifen,9 materiell-rechtliche Gründe, die für eine Beweiserleichterung sprechen, seien nicht erkennbar,10 das dritte Finanzmarktförderungsgesetz habe durch §§ 44, 45 BörsG eine ausgewogene Verteilung der Beweislast gebracht,11 es fehle schließlich an einer objektiven Beweisnot; letzteres im Hinblick auf die - nicht belegte Behauptung, es fehle bei den Klägern an einem Informationsdefizit.12 Vor allem aber fehle es an dem notwendigen Erfahrungssatz.13 Letztere These wird vor allem durch Kleiber gestützt, wonach wegen der anerkannten Bewertungsunschärfen bei Immobilienbewertungen von bis zu 30 % selbst bei rechtswidrig eingesetztem Bewertungsverfahren noch vertretbare Ergebnisse gefunden werden könnten.14 Küting/Weber gelangen zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem neuen Clusterverfahren15 um ein, mit den handelsrechtlichen Bewertungsanforderungen im Einklang stehendes Verfahren handele.16 Schäfers/Schulte stützen diese Erkenntnis: Bezogen auf das Immobilien-Gesamtportfolio der DTAG sei das unter Heranziehung

7

Assmann (Fn. 6), Rn. 32, 35. Assmann (Fn. 6), Rn. 27, 29. 9 Fleischer, Rechtsgutachten zu einzelnen Fragen der börsengesetzlichen Prospekthaftung anlässlich des zweiten und dritten Börsenganges der Deutsche Telekom AG in den Jahren 1999 und 2000 (2005), S. 12. 10 Fleischer (Fn. 9), S. 12-14. 11 Begr. RegE, BT-Drs. 13/8933, S. 56; Fleischer (Fn. 9), S. 14. 12 Fleischer (Fn. 9), S. 15. 13 Fleischer (Fn. 9), S. 15-19. 14 Kleiber, Bewertung des Grundstücksbestandes der Deutsche Telekom AG zum 1. Januar 1995 und zum 31.12.1999 (2005), S. 16. 15 Die DTAG räumte im Schriftsatz vom 12.12.2007, Seite 40 f., ein, dass eine Einzelbewertung von 70.000 Objekten des Immobilienbestandes, darunter ca. 12.000 Grundstücke, nicht möglich gewesen sei. Es wären hierfür ca. 450 Sachverständige für die Dauer von mindestens einem Jahr in Vollzeit vonnöten gewesen, die in der Bundesrepublik 1994 gar nicht verfügbar waren. Das vom Bundesfinanzministerium geöffnete Zeitfenster von etwa Mitte bis Ende 1994 sei zu eng gewesen. Deshalb habe es eines kreativen Bewertungsansatzes bedurft. 16 Küting/Weber, Gutachten zur Ordnungsmäßigkeit der Bewertung der Grundstücke in der Eröffnungsbilanz der Deutsche Telekom AG (2002), Executive Summary, S. 2-19. 8

167 bundesweiter Vergleichspreise durchgeführte Bewertungsverfahren nicht mit größeren Bewertungsbandbreiten verbunden, als dies bei einer durchgehend klassischen Einzelbewertung aller Grundstücke mit anschließender Ergebnisaddition der Fall gewesen wäre. Bei dem Clusterverfahren handele es sich um ein „anerkanntes“ Bewertungsverfahren bei der Erfassung großer Immobilienbestände.17 Zum europarechtlichen Rahmen der börsenrechtlichen Prospekthaftung äußerte sich bislang keiner der Sachverständigen. Sofern der Prozessverlauf zu dem Ergebnis führen würde, dass den Klägern ein Anspruch zustehen könnte, wenn der von ihnen behauptete und von der jeweiligen Beklagten bestrittene Sachverhalt zuträfe, müsste eine Beweisaufnahme angeordnet werden. Dies könnte dann insbesondere auf eine sachverständige Überprüfung der Auswertung tausender Grundstücke in der gesamten Bundesrepublik Deutschland hinauslaufen, weil einer der zentralen Vorwürfe die Wertangaben zu den Grundstücken im Rahmen der Angaben zur Vermögenslage der DTAG im Verkaufsprospekt betrifft. Im zivilprozessualen „Normalfall“ ist die anspruchsstellende Partei darlegungs- und beweisbelastet. Das Gericht würde dann die beweisbelastete Partei auffordern, den erforderlichen Vorschuss für den oder die Sachverständige bei der Gerichtskasse einzuzahlen. Ohne einen solchen Vorschuss dürfte das Gericht gar nicht weiter tätig werden. Nach den Erkundigungen der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Bonn wird die Begutachtung aller Grundstücke etwa EUR 17 Mio. kosten.18 Die Vorschusspflicht gem. § 397 ZPO trifft die klagende Partei.19 Grundsätzlich müsste in jedem einzelnen Prozess diese Beweisaufnahme durchgeführt werden. Nach der Erstellung des Erstgutachtens wären die – vermutlich inhaltsgleichen – Folgegutachten zwar voraussichtlich erheblich billiger, aber in irgendeinem Prozess müsste das Erstgutachten eingeholt werden. Der erforderliche Vorschuss aber wäre selbst für den Rechtsstreit mit der

17 Schäfers/Schulte, Gutachterliche Stellungnahme zur Angemessenheit und Üblichkeit des Verfahrens zur Bewertung der Grundstücke für die Eröffnungsbilanz der Deutsche Telekom AG aus immobilienwirtschaftlicher Sicht (2007), S. 33, 59; Bemerkenswert ist, dass im Verlaufe der Erarbeitung von Gutachten durch die DTAG, das bis zur Erfindung des Clusterverfahrens durch selbige unbekannte Bewertungsverfahren eine Metamorphose vom notwendigen wie legalen Kunstgriff zum anerkannten Verfahren zur Bewertung großer Immobilienbestände durchlaufen hat. 18 Vgl. die Schätzung des LG Frankfurt a.M.: Pressemitteilung vom 8.6.2004. 19 Ohne Vorschuss keine Beweisaufnahme: vgl. Thomas/Putzo-Putzo, ZPO (27. Aufl. 2005), § 144 ZPO Rn. 1, § 402 ZPO Rn. 1, zum Sachverständigenbeweis.

168 höchsten Einzelforderung von EUR 6,5 Mio. um mehr als 150 % höher. Gem. § 9 Abs. 1 S. 1 KapMuG besteht nunmehr Vorschussfreiheit. Die Kosten des erstinstanzlichen Musterverfahrens sind gem. § 17 KapMuG anteilig als Teil der Kosten des jeweiligen Ausgangsverfahrens von Musterkläger, Musterbeklagter bzw. Beigeladener zu tragen. Es erfolgt eine quotale Verteilung der Kosten des Musterverfahrens. Diese quotale Aufteilung der Kosten ist umso günstiger, je größer der Teilnehmerkreis ist. Wenn sich theoretisch alle rund 16.000 Einzelkläger an dem Musterverfahren beteiligen würden und deshalb der Gegenstandswert bei ca. EUR 80 Mio. läge, läge das Kostenrisiko für jeden einzelnen Kläger nur für das erste Immobiliengutachten unter Zugrundelegung der landgerichtlichen bzw. staatsanwaltschaftlichen Schätzung und des Durchschnittsschadenersatzes von EUR 5.000,00 bei ca. EUR 1.100,00.20 Damit ließe sich - zumindest modellhaft - das Kostenrisiko kalkulieren. Indes ändert sich durch das KapMuG nichts an der bestehenden Informationsasymmetrie.21 Die Hoffnung der Klägerseite, die Problematik umgehen zu können, weil die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Bonn ein entsprechendes Gutachten – auf Staatskosten, wie im Strafverfahren üblich – einholen wird, erweist sich bei genauem Hinsehen ebenfalls als nicht viel versprechend. Zwar hat die Staatsanwaltschaft ein entsprechendes Gutachten eingeholt.22 Jedoch gibt es derzeit keine Bindung des zivilen Richters an das Ergebnis von strafrechtlichen Ermittlungen.23 Außerdem ist zu berücksichtigen, dass nur in eng begrenzten Fällen ein in einem anderen Verfahren eingeholtes Gutachten als ein solches Beweismittel des Zivilprozesses verwandt werden kann.24 Inhaltlich wird dieses 20 0,00625 % von EUR 17 Mio. bei EUR 80 Mio. Musterverfahrenswert und Einzelforderung von EUR 5.000,00, erstinstanzliches Musterverfahren, § 17 KapMuG. 21 Siehe hierzu unter II. (S. 169 ff.). 22 WertermittlungsForum/Sprengnetter/Kranich, Gutachten im Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Bonn gegen Verantwortliche der Firma Deutsche Telekom AG u.a. (2005). 23 Vgl. etwa Zöller-Gummer, ZPO (26. Aufl. 2007), § 13 GVG Rn. 44 – „Rechtskraft“, „selbe Tatsachen“, „selbe Parteien“. 24 Die Einbeziehung eines verfahrensfremden Sachverständigengutachtens erfolgt im Wege des Urkundenbeweises (Beweiswert: Es gibt ein Gutachten zum Sachverhalt) – vgl. Zöller-Greger (Fn. 23), § 402 ZPO Rn. 6d; siehe aber auch § 411a ZPO (seit 1.9.2004): Die Ersetzung des zivilprozessualen Gutachtens durch ein staatsanwaltschaftlich eingeholten Gutachtens ist nur möglich bei Gleichwertigkeit und Identität der Beweisfrage sowie nach Anhörung der Parteien – vgl. Zöller-Greger (Fn. 23.), § 411a ZPO Rn. 3 „von Ermessen zurückhaltend Gebrauch zu machen“.

169 Gutachten von Küting/Weber beinahe „verrissen“.25 Sprengnetter/Kranich hätten im Gutachten keine Bewertungsmaßnahmen vorgesehen, solche wären innerhalb der zur Verfügung gestandenen Zeit seriöserweise nicht möglich gewesen, die Autoren würden mit zahlreichen Vereinfachungen und Näherungslösungen arbeiten, die Datengrundlage sei unzureichend, tatsächliche Nutzungsverhältnisse würden nicht berücksichtigt, die Ergebnisse seien nicht aussagekräftig, der Bezugszeitpunkt sei fehlerhaft gewählt, die Indexierung der Autoren sei mit den Eröffnungsbilanzwerten der DTAG nicht vergleichbar.26 Augenfällig bei sämtlichen Gutachten ist, dass die notwendigen Immobiliendetails nicht mitgeteilt werden. Die Kläger sind mithin nur größenordnungsmäßig in der Lage, zum Immobilienvermögen der DTAG vorzutragen. Vereinzelter Vortrag hierzu ist bislang ausgeschlossen. Rechtfertigt diese Sach- und Rechtslage Veränderungen in den Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast gegenüber dem zivilprozessualen „Normalfall“? Und wenn ja, wie lässt sich dies begründen? Wie kann eine angemessene „Neujustierung“ der Darlegungs- und Beweislast aussehen?

II. Informationsasymmetrie 1. Informationsasymmetrie in Wirtschaftswissenschaft und Rechtswissenschaft Sind Informationsasymmetrien überhaupt schädlich?27 In der Wirtschaftswissenschaft werden hierzu alle Positionen vertreten.28 Die Argumentation

25

Küting/Weber, Stellungnahme zum Gutachten von Dr. Sprengnetter und Dipl.-Ing. Kranich (2005). 26 Küting/Weber (Fn. 25), S. 63-70. 27 Grundlegend zu Informationsasymmetrien Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht (2001), insbesondere zur Informationsökonomik S. 93-177 und zur Informationsasymmetrie im Kapitalmarktrecht S. 548-566. 28 Vgl. nur Rudolph, Ökonomische Theorie und Insiderrecht, in: Festschrift für Moxter (1994), S. 1335 ff.; Schneider, Wider Insiderhandelsverbot und die Informationseffizienz des Kapitalmarkts, DB 1993, 1429 ff.; Immenga, Das neue Insiderrecht im Wertpapierhandelsgesetz, ZBB 1995, 197, 198; Ott/Schäfer, Ökonomische Auswirkungen der EG-Insider-Regulierung in Deutschland, ZBB 1991, 226, 228.

170 der Protagonisten in der Rechtswissenschaft29 baut vor allem darauf auf, dass ohne eine frühzeitige Markttransparenz die wohlfahrtsmindernden Effekte maximiert werden, sich einige wenige auf Kosten anderer Vorteile erwirtschaften, die als ungerechtfertigt, unfair, unmoralisch und ethisch missbilligenswert erscheinen.30 Stattdessen soll allen Marktteilnehmern die Chance eingeräumt werden, entsprechende Folgerungen aus einer Information zu ziehen und eine Marktentscheidung zu treffen. Voraussetzung ist eine gleiche Basisausstattung mit relevanten Informationen. Die Gegner im Lager der Wirtschaftswissenschaften verneinen die Effizienz von Informationstransfer.31 Argumentiert wird vor allem, dass mangels entsprechenden Know-hows des privaten Kapitalmarktpublikums die Informationsveröffentlichung allein dem Marktkenner nützlich sei, also die Benachteiligung der privaten Anleger noch verstärkt werde.32 Fragen der Fairness, Ethik und Moral seien wirtschaftswissenschaftlich irrelevant.33 Informationsasymmetrien würden das Kurspotenzial bilden und seien marktwirtschaftlich motiviert. Der Wettstreit um Informationsvorsprünge und deren Ausnutzung werde durch Transparenzregularien nachhaltig beeinträchtigt.34 Ergebnis sei eine geringere Effektivität des Kapitalmarktes. Dem Markt sei am besten damit gedient, wenn der Highest Value User die Information verwertet und sie sich auf diese Weise schnell im Marktpreis offenbare.35

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Die erste monografische Abhandlung zur Gesamtproblematik am Beispiel der Ad-hoc-Publizität findet sich bei Gehrt, Die neue Ad-hoc-Publizität (1997); vgl. weiter: Hopt, Europäisches und deutsches Insiderrecht, ZGR 1991, 17 ff.; Loistl, Insiderregelung und informationseffiziente Kapitalmarktregulierung, Die Bank 1993, 456 ff.; Assmann, Das künftige deutsche Insiderrecht, AG 1994, 196, 201 ff.; Ott/Schäfer, ZBB 1991, 226 ff. 30 Rudolph, FS Moxter (1994), S. 1335, 1341; Hopt, ZGR 1991, 17, 25 f.; Assmann, AG 1994, 196, 201; Lawson, The Ethics of Insider Trading, Harv.J.L. & Publ.Pol. 11 (1988), 775; Kraakman, The legal Theory of Insider Trading Regulation in the United States, in: Hopt/Wymeersch (Hrsg.), European Insider Dealing (1991), S. 39, 40 f., 54; Beyer-Fehling/Bock, Die deutsche Börsenreform und Kommentar zur Börsengesetznovelle (1975), 46 f.; Gerke/Arneth, Die Wirkung von Insiderinformationen an Börsenmärkten, in: Gerke (Hrsg.), Die Börse der Zukunft (1997), S. 165, 167. 31 Vgl. Manne, Insider Trading and the Stock Market (1966), S. 59–110 et passim, insbesondere S. 39–46; Schneider, DB 1993, 1429 ff.; weitere Nachweise: Heinze, Europäisches Kapitalmarktrecht (1999), S. 279, Fn. 38. 32 Schneider, DB 1993, 1429, 1430. 33 Rudolph, FS Moxter (1994), S. 1335, 1341; Ott/Schäfer, ZBB 1991, 226, 229. 34 Schneider, DB 1993, 1429 ,1431. 35 Schneider, DB 1993, 1429 ,1431; Manne (Fn. 31), S. 111–129.

171 Wieder andere im Lager der Wirtschaftswissenschaften analysieren das Problem ökonomisch: Informationsasymmetrien seien keineswegs ein „natürlicher Zustand“.36 Vielmehr könne die ungleiche Publikation von Informationen zu einem Marktzusammenbruch führen, weil dieser Markt frei von guter (Informations-) Qualität sei und deshalb die betroffenen Marktteilnehmer wegen ihrer schlechten Informationslage nur die Durchschnittsqualität der gehandelten Waren honorierten. Ein Marktzusammenbruch würde allen schaden, weshalb eine Regulierung, die durch mehr Transparenz das Marktversagen zu beseitigen versucht, der Wohlfahrt aller diene. Im Anschluss an Akerlof spricht man von einem market for lemons („Markt für Ausschussware“).37 Nur die frühzeitige richtige und vollständige Veröffentlichung einer Information führe dazu, dass der Marktpreis des Wertpapiers real und ehrlich sowie zeitnah abgebildet werde.38 In allen denkbaren anderen Varianten (späte Informationsveröffentlichung, keine Informationsveröffentlichung) würde sich der reale Wert des Wertpapiers zu Lasten des Anlegers nicht oder nur sehr allmählich an die tatsächlichen Umstände anpassen. Mit dem Ziel der Stärkung des Anleger- und Vertrauensschutzes und des Funktionierens des Kapitalmarktes sei nur eine strenge frühzeitige Transparenz vereinbar. Deshalb seien Informationsasymmetrien als schädlich zu bezeichnen. Zu einer entsprechenden These gelangt Fleischer, wenn er bezogen auf die Informationsasymmetrien im Kapitalmarkt resümiert, dass das Ziel der juristischen Behandlung solcher Asymmetrien bzw. die vorvertraglich zugeordneten Informationsverantwortlichkeiten der Markteilnehmer nicht auf eine Einebnung sämtlicher Wissensunterschiede, sondern auf einen annähernd gleichen Informationszugang aller Marktteilnehmer hingeordnet ist.39 Dieser Befund beansprucht nicht nur Geltung im Wertpapierhandel, sondern darüber hinaus im Primärmarkt. Allerdings ist die Nutzung selbst geschaffener Wissensvorsprünge im Primärmarkt dann nicht zulässig, wenn hierdurch das informationsökonomische Funktionieren des Primärmarktes beeinträchtigt würde, d. h. sich ein market for lemons bilden würde.40

36 Rudolph, FS Moxter (1994), S. 1335, 1337 f.; Hopt/Will, Europäisches Insiderrecht (1973), S. 37 f. 37 Akerlof, The Market for “Lemons”: Quality Uncertainty and the Market Mechanism, Quarterly Journal of Economics 84 (1970), 488, 490–492, 495 f. 38 Vgl. Einzelheiten zu diesem Ergebnis bei Heinze (Fn. 31), S. 281–285, am Beispiel einer frühzeitigen Ad-hoc-Publizität. 39 Fleischer (Fn. 27), S. 566. 40 Fleischer spricht von „weit reichendem Schutz“ für eigengeschaffene Wissensvorsprünge, lässt also ebenfalls Einschränkungen zu. Zudem beziehen sich

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2. Informationsasymmetrien im Telekom-Prozess Im Telekom-Prozess bestehen derartige Informationsasymmetrien. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, wenn für jeden der dreiunddreißig relevanten Streitpunkte mit insgesamt 187 Einzelfragen das Informationsdefizit auf der Klägerseite dargestellt würde. Deshalb erfolgt die Darstellung anhand des Sachverhaltes zum Immobilienvermögen der DTAG, einem der strittigsten Punkte des Telekom-Prozesses. Die Klägerseite weiß recht wenig über das Immobilienvermögen der DTAG. Die wesentlichen Information, die darlegt sind, konnte die Klägerseite dem Ermittlungsergebnis der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Bonn entnehmen, im Übrigen den wenigen öffentlichen Quellen und aus den Parteigutachten der DTAG. Sie weiß hieraus grob, wie die Privatisierung der Deutsche Bundespost TELEKOM (DBT) vonstatten ging. Das Sachanlagevermögen dominierte im Jahresabschluss des Jahres 1991 mit 93 % der Bilanzsumme die Gesamtbilanz, während das Eigenkapital mit DM 35,6 Mrd. lediglich 27 % der Bilanzsumme deckte.41 Damit war die DBT für den internationalen Wettbewerb „nicht fit genug“.42 Die Klägerseite weiß ferner, dass es bei der DBT ein Immobilien-Steuerungsund Informationssystem (ISIS) gab, in dem die Bodenverkehrswerte der Immobilien erfasst waren. Rechnerisch ergab das einen Verkehrswert für 12.139 Grundstücke in Gesamtsdeutschland von ca. DM 6,032 Mrd. Das System ISIS wurde 1993 ersetzt durch das Immobiliendatensystem IMDAS. In diesem System war das Immobilienvermögen unterteilt in die Bereiche bauliche Anlagen im Eigentum DBT, bebaute Grundstücke im Eigentum der DBT, unbebaute Grundstücke im Eigentum der DBT sowie gemietete bzw. gepachtete Objekte. Bekannt ist, dass die Dateneinspeisung in IMDAS fehlerhaft erfolgte. Bekannt ist ferner, dass im Februar 1994 noch eingeschätzt wurde, dass eine Einzelbewertung der 12.139 Immobilien und ca. 28.500 baulichen Anlagen mit ca. 450 Fachkräften innerhalb eines Jahres darstellbar sei. Politische Gründe erzeugten indes Zeitdruck, denn die Privatisierung sollte zum 1. Januar 1995 abgeschlossen sein. Die Klägerseite weiß, dass von der DBT beauftragte Sachverständige teilweise mit Schätzungen und Näherungsverfahren arbeiteten. Die sich hieraus

seine Betrachtungen auf den Sekundärmarkt – (Fn. 27), S. 547 ff. et al, 566. 41 Im Mai 1994 waren es nur 22 %; In der Idealvorstellung des damaligen Finanzvorstandes Dr. Kröske belief sich der Eigenkapitalbedarf auf DM 40 Mrd. 42 Die Eigenkapitalquote der Wettbewerber der DTAG belief sich im Vergleichszeitraum auf 45 bis 50 %.

173 ergebenden Resultate waren indes nicht zufrieden stellend.43 Neben Kostengründen und Zeitgründen „erfand“ die Firma Dr. Seebauer & Partner, die mit der Bewertung betraut war, im Rahmen der Projektentwicklung im Juli 1994 das umstrittene „Clusterverfahren“. Es sollten 20 bis 30 Standorttypen gebildet werden. Die Bewertung erfolgte pauschal nach Objektgruppen, wobei jedem Typus pauschale qm-Einzelwerte als Ausgangswerte zugeordnet wurden. Die Überprüfung erfolgte sodann anhand einzelner, ausgewählter Objekte der jeweiligen Gruppe.44 Das Bewertungsergebnis war zufriedenstellender als das vorherige.45 Was die Klägerseite nicht weiß, zum substanziierten Vortrag indes erforderlich wäre, ist, um welche Immobilien es sich konkret handelt, welchen Wert sie aufgrund Einzelbewertung hätten und inwieweit diese kumulierten Einzelwerte von den gruppenweise gefundenen Pauschalergebnissen abweichen. Diese Anforderungen treten allenthalben auch in den Parteigutachten zutage.46 Für die Anwendung des Anscheinsbeweisrechtes müssten die Kläger zudem eine empirische Basis liefern, um den Erfahrungssatz47 zu stützen.48 Hierzu fehlt den Klägern indes die Informationsbasis für eine signifikante Anzahl fehlerhafter Bewertungsergebnisse auf der Basis eines bestimmten Bewertungsverfahrens. Die DTAG verfügt über die Informationsbasis, teilt sie jedoch nicht mit der Klägerseite. Sie beschränkt sich darauf, darzulegen, dass ab Ende des Jahres 2000 intern eine Neubewertung aller Immobilien erfolgt sei, die im Jahre 2001 abgeschlossen wurde.49 Es werden lediglich, der DTAG günstige, Bewertungsergebnisse mitgeteilt, nicht jedoch die Art und Weise der Neubewertung und deren Einzelergebnisse, noch weniger die alte Vergleichsbasis auf den Stichtag 1. Januar 1995. Auf dieser Basis dürfte es der Klägerseite für den zivilprozessualen „Normalfall“ schwer fallen, einem Sachverständigen die erforderlichen Tatsachen an die Hand zu geben, anhand derer er die Fehlerhaftigkeit des

43 Bewertungsergebnis der C & L Treuarbeit Deutsche Revision: DM 3,318383 Mrd., was etwa 21,00 DM/qm entsprach und bereits als zu optimistisch kritisiert wurde. 44 Noch relativ ausführlich, dennoch allgemein gehalten, ist die Verfahrensbeschreibung bei Wollert-Elmendorff Deutsche Industrie-Treuhand GmbH, Stellungnahme zur Bewertung des Immobilienvermögens in der Eröffnungsbilanz auf den 1. Januar 1995 der Deutsche Telekom AG (1998), S. 13-26. 45 Im Oktober 1994 ermittelte die Firma Dr. Seebauer & Partner DM 11,999 Mrd., was ca. 200,00 DM/qm entsprach. 46 Vgl. beispielsweise Fleischer (Fn. 9), S. 10, 17 f. 47 Falsche Bewertungsmethode führt zu falschem Bewertungsergebnis. 48 Fleischer (Fn. 9), S. 18. 49 Zuletzt etwa im Schriftsatz der DTAG vom 12.12.2007, S. 41.

174 gewählten Bewertungsverfahrens beurteilen und prüfen kann, nämlich, inwieweit die Ergebnisse dieses Verfahrens mit den Ergebnissen eines anerkannten Bewertungsverfahrens übereinstimmen, oder, jedenfalls, ob die Ergebnisse der Einzelbewertungsmethode gem. § 252 Abs. 1 Nr. 3 HGB mit denjenigen des Clusterverfahrens übereinstimmen, wenn man das Verfahren als zulässige Ausnahme gem. § 252 Abs. 2 HGB betrachten will. Gerade weil der Immobilienbewertung gewisse Bewertungsunschärfen immanent sind, wird ein Sachverständiger ohne vollständige Information kaum beurteilen können, ob Abweichungen noch innerhalb oder bereits außerhalb der zulässigen Bewertungsbandbreiten liegen. Nicht zuletzt werden staatlicherseits wesentliche Information dadurch nicht transportiert, indem Teile des Ermittlungsergebnisses der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Bonn auf Betreiben der DTAG im Interesse der Bundesrepublik Deutschland für geheim erklärt wurden und damit der Klägerseite im Wege der Akteneinsicht nicht zur Verfügung stehen.50

III. Auswirkungen des europäischen Rechtes 1. Rechtsgrundlagen Rechtsgrundlage prospektmäßiger Informationspflichten im europäischen Recht war ursprünglich die Börsenzulassungsprospektrichtlinie.51 Die Börsenzulassungsprospektrichtlinie ist, zusammen mit einigen weiteren zentralen Richtlinien des Primärmarktrechtes, durch die Börsenprospektrichtlinie novelliert worden. Flankiert wird diese Richtlinie durch eine EG-Verordnung betreffend die inhaltlichen Angaben der Prospekte.52

50 Es geht insbesondere um einen Bericht des Bundesrechnungshofes, in dem der Bewertungsansatz und die bilanzierten Werte des Sachanlagevermögens kritisiert wurden. Die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Bonn versah diesen Teilband der Ermittlungsakte mit einem Sperrvermerk. 51 Richtlinie 80/390/EWG des Rates vom 17.3.1980 zur Koordinierung der Bedingungen für die Erstellung, die Kontrolle und die Verbreitung des Prospekts, der für die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Notierung an einer Wertpapierbörse zu veröffentlichen ist, ABl. 1980 L 100/1 vom 17.4.1980, geändert durch ABl. 1982 L 62/22; ABl. 1987 L 185/81; ABl. 1990 L 112/24; ABl. 1994 L 135/1. 52 Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.11.2003 betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, und

175 Die Ausgangsrichtlinie stellte einen zentralen Meilenstein in den Bemühungen der Europäischen Gemeinschaft dar, die gesellschafts- und kapitalmarktrechtlichen Vorschriften zu harmonisieren, um einen integrierten europäischen Kapitalmarkt zu realisieren. Dieses Ziel soll dadurch erreicht werden, dass die den Gesellschaften auferlegten Informationspflichten aus Anlass der Zulassung der Wertpapiere zur amtlichen Notierung an einer Wertpapierbörse für alle Mitgliedstaaten gleichwertig gestaltet werden. Dadurch soll der Handel mit diesen Wertpapieren bereits im Stadium der Börsenzulassung weitgehend transparent ausgestaltet werden, was in der Regel in der Weise geschieht, dass die betreffenden Unternehmen einen Börsenzulassungsprospekt erstellen und publizieren, der alle relevanten Informationen enthält. Ziel der Richtlinie ist es also, das interessierte Anlegerpublikum – Gesellschafter, außen stehende Dritter sowie den Kapitalmarkt als solchen – mit Unternehmensdaten zu versorgen, auf Grund derer sich die interessierten Kreise ein Bild über die Lage des emittierenden Unternehmens verschaffen und ihre Investitions- oder Anlageentscheidung entsprechend treffen können. Insbesondere sollen durch die Bestimmungen der Richtlinie der Erwerb von Wertpapieren, die an den Börsen anderer Mitgliedstaaten notiert sind, und die Unternehmensfinanzierung im Übrigen erleichtert werden. Durch die ursprüngliche Regel in Art. 3 der Börsenzulassungsprospektrichtlinie wurde grundsätzlich eine unbedingte Prospektveröffentlichungspflicht begründet. Der Umfang folgt ausführlichen Schemata in der Anlage zur Richtlinie. Die Börsenzulassungsprospektrichtlinie wurde im Jahre 1989 flankiert durch die Wertpapierverkaufsprospektrichtlinie.53 Sie bildet die europarechtliche Grundlage für den Verkaufsprospekt der DTAG bei der Umplatzierung der von der Kreditanstalt für Wiederaufbau bis zum dritten Börsengang gehaltenen Aktien an der DTAG. Auch diese Richtlinie ist in der Börsenprospektrichtlinie aufgegangen. Die Richtlinien sind

zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG, ABl. 2003 L 345/64 vom 31.12.2003; Verordnung (EG) Nr. 809/2004 der Kommission vom 29.4.2004 zur Umsetzung der Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die in Prospekten enthaltenen Informationen sowie das Format, die Aufnahme von Informationen mittels Verweis und die Veröffentlichung solcher Prospekte und die Verbreitung von Werbung, ABl. 2004 L 149/1 vom 30.4.2004, berichtigt durch ABl. 2004 L 215/3. 53 Richtlinie 89/298/EWG des Rates vom 17.4.1989 zur Koordinierung der Bedingungen für die Erstellung, Kontrolle und Verbreitung des Prospekts, der im Falle öffentlicher Angebote von Wertpapieren zu veröffentlichen ist, ABl. 1989 L 124/8 vom 5.5.1989; Änderung: ABl. 1994 C 241/1; ABl. 1995 L 1/1.

176 aktuell umgesetzt im Wertpapierprospektgesetz.54 Die EG-Verordnung Nr. 809/2004 ist unmittelbar geltendes Recht. Hinreichend bekannt wie teilweise umstritten sind die Maßstäbe für die Auslegung europarechtlich geprägten nationalen Rechts. Zunächst ist festzuhalten, dass der EuGH die nationalen Gerichte bei der Auslegung nationaler Normen in harmonisierten Materien auch an die Beachtung der Richtlinien gebunden hat.55 Das zentrale Auslegungsziel ist die Gemeinschaftsrechtskonformität sowohl in Bezug auf die Auslegung der Richtlinie als auch insbesondere hinsichtlich der Auslegung des nationalen Rechts. Diesem Ziel räumt der EuGH zwar nicht absoluten Vorrang vor der Gesamtheit der nationalen Auslegungsmethoden ein.56 Jedoch muss das nationale Gericht bei der Anwendung der nationalen Auslegungsmethoden das Ziel der richtlinienkonformen Rechtsfindung beachten. Dazu kann es speziell erforderlich sein, eine nationale Norm entgegen ihrem Wortlaut auszulegen, wenn der Wille des Gesetzgebers

54 Gesetz über die Erstellung, Billigung und Veröffentlichung des Prospekts, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei der Zulassung von Wertpapieren zum Handel an einem organisierten Markt zu veröffentlichen ist, vom 22.6.2005, BGBl. I 2005, 1698; BörsZulV vom 9.9.1998 (BGBl. I 1998, 2832), zuletzt geändert am 5.1.2007 (BGBl. I 2007, 10); VerkProspG vom 9.9.1998 (BGBl. I 1998, 2701), zuletzt geändert am 14.8.2006 (BGBl. I 2006, 1911); VermVerkProspV vom 16.12.2004 (BGBl. I 2004, 3464). 55 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891, 1908 f.; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 Dorit Harz, Slg. 1984, 1921, 1942; grundlegend hierzu: Everling, Zur Auslegung des durch EG-Richtlinien angeglichenen nationalen Rechts, ZGR 1992, 376, 378; Steindorff, Die Aufgabenteilung zwischen Europäischem Gerichtshof und deutschen Gerichten – unter besonderer Berücksichtigung von Gesellschaftsrecht und Kapitalmarkt, in: Hadding/ Hopt/Schimansky (Hrsg.), Deutsches und europäisches Bank- und Börsenrecht (1994), S. 135, 143; Grundmann, Richtlinienkonforme Auslegung im Bereich des Privatrechtes – insbesondere: der Kanon der nationalen Auslegungsmethoden als Grenze?, ZEuP 1996, 399, 414; Canaris, Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, in: Festschrift für Bydlinski (2002), S. 47 ff.; W.-H. Roth, Richtlinienkonforme Auslegung, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre – Handbuch für Ausbildung und Praxis (2006), § 14 S. 308-333. 56 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891, 1908 f.; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 Dorit Harz, Slg. 1984, 1921, 1942; Grundmann, ZEuP 1996, 399, 402–408, 412; Grundmann, EG-Richtlinie und nationales Privatrecht – Umsetzung und Bedeutung der umgesetzten Richtlinie im nationalen Privatrecht, JZ 1996, 274, 282.

177 erkennbar ist, die Richtlinie korrekt umsetzen zu wollen.57 Unter dieser Voraussetzung besteht damit für die Richtlinienkonformität als Auslegungsziel Vorrang gegenüber nationalen Auslegungsmethoden, die nicht zu richtlinienkonformen Ergebnissen gelangen.58 Führen die klassischen Auslegungsmethoden trotz der Einbeziehung des Umsetzungszwecks in die Auslegung zu unterschiedlichen Ergebnissen, ist aufgrund des besonderen Zwecks der nationalen Umsetzungsgesetzgebung vom Vorrang derjenigen Auslegungsmethode auszugehen, die zu einem richtlinienkonformen Ergebnis führt.59 Eine solche Vorzugsregel kraft nationalen Rechts findet beispielsweise ihre Parallele in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur völkervertragskonformen Auslegung.60 Durch Art. 20 Abs. 3 GG ist das nationale Gericht an das Richtlinienrecht ebenso gebunden wie an die aus Art. 249 Abs. 3 EG und der Rechtsprechung des EuGH folgenden Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung.

2. Rechtsanwendung Der gegebene europarechtliche Rahmen ist vorliegend für die Anwendung des nationalen Rechts – sowohl für die Auslegung des Umsetzungsrechtes als auch für die Anwendung der Sanktions- und Prozessregeln zur Durchsetzung von Ansprüchen wegen Pflichtverletzungen – von Bedeutung. Eine Sanktionsregelung sucht man in den einschlägigen Richtlinien oder der EG-Verordnung vergeblich. In Art. 3 der Börsenzulassungsprospektrichtlinie heißt es lediglich, dass die Mitgliedstaaten alle Maßnahmen zu treffen haben, die für die Anwendung der Richtlinie notwendig sind. Eine entsprechende Formulierung findet sich in Art. 4 der Richtlinie 89/298/EWG. Es ist jedoch evident, dass die Ziele der Richtlinie nur dann effektiv erreicht werden können, wenn die Mitgliedstaaten Mittel haben, die Erfüllung des aufwendigen Transparenzgebots der Richtlinie sicherzustellen. Die Harmonisierungsbestrebungen der Gemeinschaft ma-

57 Streitig: Teilweise wird ihr die Grenze der Auslegung im engeren Sinne gezogen und argumentiert, dass das Auslegungsziel über die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung zu erreichen sei – vgl. W.-H. Roth (Fn. 55), § 14 Rn. 44-60; gegen eine Auslegung entgegen dem Wortlaut: BVerfGE 54, 277, 299 m.w.N. aus der Rspr.; BVerfGE 71, 81, 105 – Ist der Wortlaut klar und eindeutig, ist der Rückgriff auf andere Auslegungsmethoden gesperrt. 58 Grundmann, ZEuP 1996, 399, 415 f., 424; W.-H. Roth (Fn. 55), § 14 Rn. 40-43. 59 W.-H. Roth (Fn. 55), § 14 Rn. 40 f. 60 BVerfG, NJW 2004, 3407, 3411.

178 chen es erforderlich, dass auch der Sanktionsmechanismus ein bestimmtes Mindestmaß in allen Mitgliedstaaten erreicht. Grundsätzlich richten sich die Rechtsfolgen, insbesondere die Sanktionen bei einer Verletzung EG-rechtlich geprägten nationalen Rechts nach dem nationalen Recht. Auf mitgliedstaatlicher Ebene hat sich die Haftung für fehlerhafte oder unvollständige Prospektangaben entwickelt; im Falle des Telekom-Prozess geregelt in den §§ 44, 45 BörsG. Doch das Gemeinschaftsrecht enthält, im Gegensatz zu dem, was der Inhalt der Richtlinie auf den ersten Blick anzudeuten scheint, durchaus Verfahren und Anforderungen für ein solches Haftungssystem. Der EuGH hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass das nationale Sanktionsrecht nicht so ausgestaltet sein darf, dass es die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich macht.61 Der EuGH stellt auf die praktische Durchsetzbarkeit des europäischen Rechts ab. Darin äußert sich der in Art. 10 EG verankerte Grundsatz des effet utile. Der EuGH hat ausdrücklich entschieden, dass nationale Beweisregeln nicht derart ausgestaltet sein dürfen, dass die praktische Realisierung von Ansprüchen, die aus der Verletzung europäischen Rechts herrühren, übermäßig erschwert oder vereitelt wird.62 In dem Telekom-Rechtstreit geht es um die Verletzung der Verpflichtung zur Erstellung und Veröffentlichung eines inhaltlich richtigen und vollständigen Verkaufsprospektes der DTAG über zu amtlichen Handel an einer Wertpapierbörse zugelassene Aktien. Nach den nationalen Beweisregeln im Zusammenhang mit der Realisierung eines Anspruches aus Prospekthaftung muss der Kläger grundsätzlich darlegen und beweisen, dass der Verkaufsprospekt fehlerhaft bzw. unvollständig ist.63 Vor dem

61 EuGH v. 6.10.1970 – Rs. 9/70 Franz Grad, Slg. 1970, 825 Rn. 5 – Leberpfennig; EuGH v. 9.11.1983 – Rs. 199/82 Società San Giorgio S.P.A., Slg. 1983, 3595 Rn. 14; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 Rn. 14–18, 23, 28; EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 u. C- 9/90 Francovich I, Slg. 1991, I-5357, Rn. 32, 42 f.; aus dem Bereich der arbeitsrechtlichen Diskriminierungsverbote: EuGH v. 17.10.1989 – Rs. 109/88 Danfoss, Slg. 1989, 3199 Rn. 14. siehe auch EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-196/02 Nikoloudi, Slg. 2005, I-1789 Rn. 69. 62 EuGH v. 9.11.1983 – Rs 199/82 Società San Giorgio S.P.A., Slg. 1983, 3595 Rn. 14. 63 Hopt, Verantwortlichkeit der Banken bei Emissionen – Recht und Praxis in der EG, Deutschland und in der Schweiz (1991), Rn. 174; Schäfer-Hamann, WpHG, BörsG, VerkProspG (1999), §§ 45, 46 BörsG Rn. 92; Groß, Kapitalmarktrecht (2.

179 Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH darf jedoch die Anwendung des nationalen Prozessrechtes nicht dazu führen, dass dem Kläger die praktische Durchsetzung seines europarechtlich geprägten Anspruchs übermäßig erschwert oder unmöglich gemacht wird. Auf die theoretische Durchsetzbarkeit des Anspruches stellt der EuGH in seiner Rechtsprechung gerade nicht ab. Was spricht für strenge Sanktionen? Zunächst könnte man einwenden, dass strenge Sanktionen negative Auswirkungen auf die Zielsetzung sekundärrechtlicher Rechtsakte haben: im Rahmen der kapitalmarktrechtlichen Richtlinien auf eine effiziente und anwenderfreundliche Publizitätspraxis. Aus Sorge um die Auslösung des strengen Sanktionsmechanismus könnten sich Emittenten bzw. publizitätspflichtige Personen gehalten sehen, nur noch die absolut zweifelsfreien Informationen zu publizieren. Unterliefe ihnen dabei aus Unachtsamkeit oder Oberflächlichkeit ein Fehler, so könnten sie diesen im Interesse der Kapitalmarktteilnehmer nicht einmal korrigieren, soweit auch in diesem Fall der Sanktionsmechanismus ausgelöst werden kann. Zu denken wäre beispielsweise an den Mechanismus der Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen bei vorangegangener unvollständiger oder unrichtiger Auskunft des Managements, jedoch auch an strafrechtliche Sanktionen im Zusammenhang mit dem Insiderhandelsverbot und der damit im Zusammenhang stehenden Ad-hoc-Publizität. Ein strenger Sanktionsmechanismus im Sinne der EuGH-Rechtsprechung wäre demnach möglicherweise sowohl für den Schutz der Anleger als auch für die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts schädlich. Demnach könnte man den Schluss ziehen, ein Weniger an Sanktionen bedeute hier effektiv mehr. Diese Schlussfolgerung stößt sich jedoch an folgender Betrachtung: Ein Weniger an Sanktionen würde bedingen, dass die Publizitätspflichtigen ihren Pflichten aus eigenem Antrieb nachkämen, aus der Einsicht, dass Publizität für sie und das durch sie repräsentierte Unternehmen im Ergebnis positiv ist. Doch gerade davon ist nicht auszugehen, insbesondere nicht bei negativen Informationen oder solchen, die den Zielsetzungen des Publizitätspflichtigen nicht (vollständig) entsprechen. Es besteht aus vielerlei Gründen das Bestreben, lästige und nachteilige, jedoch auch allenthalben positive Informationen nicht oder nicht früh genug der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ein Blick in den Wirtschaftsalltag führt dies dem aufmerksamen Zeitungsleser wenigstens jeden dritten bis vierten Tag vor Augen. Schwache Sanktionen würden demzufolge das Bestreben vieler Publizitätspflichtiger verstärken,

Aufl. 2002), §§ 45, 46 BörsG Rn. 63; Baumbach/Lauterbach/Albers/HartmannHartmann, ZPO (63. Aufl. 2005), Anh. § 286 ZPO Rn. 148.

180 bestimmte Publizitätspflichten zu verletzen. Folglich wäre der Kapitalmarkt mit bestimmten Informationen zu einem bestimmten Zeitpunkt, dem Entstehungszeitpunkt, unterversorgt. Informationsasymmetrien würden verstärkt werden, mit dem Ergebnis eines market for lemons. Sowohl Anleger als auch Kapitalsuchende würden geschädigt werden – Letztere dadurch, dass Kapital auf informationseffizientere Märkte abwandert und somit nicht mehr verfügbar ist. Daher sprechen die besseren Gründe für strengere Sanktionsmechanismen. Die Vorgaben des EuGH sind mithin im Ausgangspunkt zutreffend.

3. Darlegungs- und Beweislastumkehr, jedenfalls Anscheinsbeweis zur effektiven Rechtsdurchsetzung? a) Argumente für die Umkehr der Darlegungs- und Beweislast Deshalb ist zu diskutieren, inwieweit in europarechtlichen Rechtsmaterien wie der vorliegenden eine Darlegungs- und Beweislastumkehr dergestalt in Betracht kommt, dass der Prospektersteller die Richtigkeit und Vollständigkeit der Prospektangaben darlegen und beweisen muss. Alternativ ist zu diskutieren, ob jedenfalls der von Assmann befürwortete Anscheinsbeweis greift. Eine Rechtfertigung dafür besteht dann, wenn die „normale“ Beweislastverteilung dem Kläger die Durchsetzung eines Anspruches übermäßig erschweren oder praktisch ausschließen würde. Folgende Argumente sprechen für die Abweichung: – Der Verkaufsprospekt dient den Interessen des Emittenten an einer möglichst optimalen Umsetzung seines Emissionsvorhabens (= Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes). – Der Kläger hat als Kapitalanleger regelmäßig keinerlei Einblick in die Vorgänge, die der Erstellung, dem Inhalt und der Veröffentlichung des Prospekts zu Grunde lagen. Es geht in der Regel um Informationen, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Das gilt nicht nur für die anspruchsbegründenden Tatsachen, sondern auch für die beizubringenden Beweismittel (= Anlegerschutz). – Dem Kläger als Kapitalanleger ist es nicht oder nur unter unverhältnismäßigen Aufwendungen möglich, sich in zumutbarer Weise Kenntnis von den erforderlichen Tatsachen zu beschaffen. Abgesehen davon, dass der Aufwand für eine substanziierte Recherche der Vollständigkeit und Richtigkeit eines Verkaufsprospektes in keinem Verhältnis zum angestrebten materiellen Klageerfolg steht, zumal bei so genannten „Volksaktien“, scheitert ein derartiges Unterfangen des Kapitalanlegers regelmäßig daran, dass er nicht die erforderlichen Tatsachen zusam-

181 mentragen kann. Typischerweise besteht der Prospekt auf Grund der europarechtlichen Vorgaben zu einem überwiegenden Teil aus internen Vorgängen des Emittenten (= Anlegerschutz und Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes). – Demgegenüber verfügt der Prospektherausgeber über einen konkreten Wissensvorsprung und eine bessere, zumeist kostenlose oder kostengünstige Beschaffungsmöglichkeit hinsichtlich der Informationen (= Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes). – Der Verkaufsprospekt ein Vertrauensgut (dazu noch näher unten, IV). Der Anleger kann nur auf die Richtigkeit vertrauen und seine Anlageentscheidung auf die dort bekannt gegebenen Informationen stützen. Deshalb sieht das Gesetz strenge Anforderungen an den Inhalt eines Verkaufsprospekts vor - zumal, wenn es sich um Wertpapiere handelt, die zum amtlichen Handel an einer Wertpapierbörse zugelassen sind -, um das Vertrauen bei den Anlegern auf einem hohen Niveau zu halten und um eine Fehlallokation von Kapital zu verhindern (= Anlegerschutz). Der vom (europäischen) Gesetzgeber verfolgte Anleger(vertrauens) schutz würde ad absurdum geführt, wenn der Anleger die Unrichtigkeit des Vertrauensgutes darlegen und beweisen muss: Auf Grund der vorhandenen Informationsasymmetrie wird jedes ökonomisch denkende prospektpflichtige Unternehmen die (Haftungs-) Risiken unrichtiger oder unvollständiger Informationen einerseits und die (Markt-) Risiken negativer Informationen andererseits gegeneinander abwägen und sich immer dann für die unrichtige Information entscheiden, wenn das Haftungsrisiko unter dem Marktrisiko liegt. Muss der Kapitalanleger mit einer derartigen ökonomischen Verhaltensweise des Prospektpflichtigen rechnen und weiß er, dass ihn nach nationalen Beweislastregeln die Darlegungsund Beweislast für einen unrichtigen Prospektinhalt trifft, dann wird er davon auszugehen haben, dass ihm auf Grund der Informationsasymmetrie nicht sämtliche Informationen zur Verfügung stehen, um eine fundierte Anlegerentscheidung zu treffen. Sein Vertrauen ist erheblich gemindert, denn er muss damit rechnen, dass nicht nur sein Kapital möglicherweise auf Grund der Informationsasymmetrie verloren geht, sondern er darüber hinaus einen Schadensersatzprozess auf Grund der Darlegungs- und Beweislastverteilung eher verlieren wird. Ökonomisch erzeugt also die Beweislast zu Lasten des Kapitalanlegers „Ausschuss“, mithin einen market for lemons. Dieser Befund widerspricht dem Willen des Europäischen Gesetzgebers bei Erlass der Börsenzulassungsprospektrichtlinie bzw. der Richtlinie 89/298/EWG, der Gewährleistung des Anlegerschutzes und der Funktionstüchtigkeit des Kapitalmarktes. Der Europäische Gesetzgeber hat seinen sämtlichen Richtlinien zur

182 Harmonisierung des Kapitalmarktrechts die zielökonomische Effizienz und Anlegerschutz zu Grunde gelegt.64 Der Kapitalanleger kann sich keine günstigere Ausgangssituation verschaffen. Denn in seiner Situation äußert sich die durch die Informationsasymmetrie begründete strukturelle Unterlegenheit gegenüber dem Prospektverantwortlichen. Entsprechende Ansätze, die in die gleiche Richtung weisen, sind bereits im nationalen Recht bekannt: Das BVerfG billigt unter ausdrücklicher Anerkennung des Phänomens der „strukturellen Unterlegenheit“ dem Verletzten Beweiserleichterung zu.65 Die bislang von der Rechtsprechung im Kapitalanlagerecht unternommenen Versuche, mit dem bereits erkannten Problem umzugehen, streiten für die hier vertretene Auffassung: So hat der BGH entschieden, dass bei Vorliegen einer Pflichtverletzung der Verletzer darlegen und beweisen muss, dass der Schaden auch bei Beachtung der Pflichten eingetreten wäre.66 Das OLG Hamm und das OLG Schleswig haben entschieden, dass etwa dem Wertpapierdienstleister der Beweis obliege, dass die Aufklärungsbroschüren/Prospekte tatsächlich übergeben wurden, und dass das bloße Ankreuzen auf dem dafür vorgesehenen Feld auf dem Kaufauftrag nicht als Beweis genüge.67 Das Saarländische OLG sieht die Beweislast bei dem Wertpapierdienstleister, falls sich aus den Unterlagen Ansatzpunkte für eine unvollständige Beratung ergeben.68 Differenzialdiagnostisch ist abzuklären, ob das nationale Recht eine bessere Lösung anbietet als diejenige, die auf europarechtlicher Rechtsanwendung beruht. b) Lösung über die sekundäre Darlegungslast? Eine bessere Lösung lässt sich jedenfalls nicht durch die sekundäre Darlegungslast der beklagten Partei gemäß § 138 Abs. 2 ZPO erreichen. Der BGH hat die beklagte Partei verpflichtet, sich gegenüber der klagenden Partei nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast im Rahmen der den Beklagten gemäß § 138 Abs. 2 ZPO treffenden Erklärungspflicht 64 Vgl. die entsprechenden Nachweise bei Heinze (Fn. 31), S. 94, Fn. 1, S. 363–367. 65 Vgl. BVerfG, ZIP 1993, 1775 „Vermutung fremdbestimmten Verhaltens“. 66 BGH, WM 1991, 1410, 1412; BGH, WM 1992, 1935, 1937; BGH, WM 1994, 149, 151 m.w.N.; BGH, WM 1998, 1286, 1288. 67 OLG Schleswig, BKR 2003, 63, 67; OLG Schleswig, ZIP 2002, 1725, 1727; OLG Hamm, BKR 2003, 808. 68 Saarländisches OLG, Urteil v. 14.1.2003, 7 U 278/02 (nicht veröffentlicht).

183 zu den Behauptungen der klagenden Partei konkret zu äußern, wenn diese Behauptungen außerhalb des von der klagenden Partei vortragbaren Geschehensablaufes stehen und die klagende Partei keine nähere Kenntnis der maßgebenden Tatsachen besitzt, die beklagte Seite aber die wesentlichen Umstände kennt und es ihr zumutbar ist, dazu nähere Angaben zu machen.69 Ziel der sekundären Darlegungslast ist es, die klagende Partei in die Lage zu versetzen, die Richtigkeit ihres Vortrages zu beweisen.70 Es kann sich zu Gunsten der klagenden Partei auswirken, dass derjenige, der der klagenden Partei schuldhaft die Möglichkeit beschneidet, die eigene Tatsache behaupten und beweisen zu können, sich nicht auf die hergebrachten Grundsätze des Beweisrechtes berufen kann. Entschieden hat der BGH diese Frage für den Anscheinsbeweis.71 Das Problem liegt indes in den Mindestanforderungen an den klägerischen Sachvortrag. Er muss seinen Vorwurf eines Prospektfehlers zumindest so substanziiert beschreiben, dass eine qualifizierte Erwiderung der Gegenseite erfolgen kann und muss. Fehlt es hieran, weil selbst die Ausgangstatsachen zu vage sind, hilft die sekundäre Darlegungslast nicht weiter. Dies scheint ein Problem des Telekom-Prozesses zu sein, denn die DTAG sieht sich auf Grund des Vortrages der Klägerseite bislang prozessual nicht veranlasst, zum Immobilienvermögen sowie zu den eigenen, internen Bewertungserkenntnissen im Detail vorzutragen. Derzeit argumentiert die Beklagtenseite eher mit globalen Zahlen. Die vereinzelten Tatsachenbehauptungen der Klägerseite zu deutlichen Bewertungsfehlern (> 30 %) bestreitet die Beklagtenseite oder wiegelt solche Tatsachen als Einzelfälle ab. Was bleibt ist die Unsicherheit auf der Klägerseite, ob der Sachvortrag den Anspruch rechtfertigt. Auch diese Unsicherheit befördert den market for lemons.72 69

BGH v. 5.10.2004, XI ZR 210/03 (nicht veröffentlicht); BGHZ 140, 156, 158 f.; 145, 35, 41; BGH, NJW 1999, 714 f.; BGH, WM 2002, 347, 349. 70 BGH v. 5.10.2004, XI ZR 210/03 (nicht veröffentlicht). 71 BGH v. 5.10.2004, XI ZR 210/03 (nicht veröffentlicht); BGH, WM 1998, 204, 206. In der Literatur wird die hier vertretene Auffassung zum nationalen Recht jüngst noch weitergehender gestützt. Soweit es um die Verletzung leistungsbezogener (Neben-)Pflichten im Rahmen eines (Kapitalanlage-)Vertragsverhältnisses geht, ist hinsichtlich der Erfüllung dieser Pflichten, ungeachtet einer gesetzlich näheren Ausgestaltung derselben, die verpflichtete Partei darlegungs- und beweisbelastet – vgl. Einsele, Anlegerschutz durch Information und Beratung, JZ 2008, 477, 483 f. 72 Das OLG Frankfurt a.M. begann seine Beweisaufnahme nicht mit dem Sachverständigenbeweis, sondern mit einer umfangreichen zeugenschaftlichen Vernehmung von an der Privatisierung beteiligten Personen. Die Thematik betrifft u. a. den Komplex „Voicestream“, der nicht nur für die dritte Tranche, sondern auch für die zweite Tranche von Bedeutung ist. Das Gericht agiert prozessökonomisch.

184 Hinzu kommt, dass sehr häufig als Beweismittel nur Personen aus dem Lager der DTAG als Zeugen zur Verfügung stehen. Selbst wenn also für bestimmte Tatsachen unabhängige Zeugen vorhanden wären, gelingt es dem Kapitalanleger regelmäßig nicht, eine Pflichtverletzung zu beweisen, denn die Beweisaufnahme endet in derartigen Situationen erfahrungsgemäß in einer non liquet-Entscheidung zu Lasten des Beweispflichtigen. Auch mit dieser – nationalen – Beweisregel werden im Sinne der effektiven Rechtsdurchsetzung keine Redlichkeitsanreize auf Emittentenseite geschaffen. c) Lösung durch Anscheinsbeweis? Hilft der Anscheinsbeweis weiter? Ein Ausschluss des Anscheinsbeweises per se aufgrund des (angeblich) abschließenden Charakters des Beweissystems der §§ 44, 45 BörsG ist nicht ersichtlich. Die Argumentation von Fleischer73 vernachlässigt die europarechtliche Prägung der Normen, denn der nationale Gesetzgeber wollte mit den Haftungsregelungen des BörsG Art. 3 der Börsenzulassungsprospektrichtlinie bzw. Art. 4 der Richtlinie 89/298/EWG umsetzen. Soweit Fleischer74 indes die Unanwendbarkeit des Anscheinsbeweises wegen materiell-rechtlich unvertretbarer Ergebnisse bei der Anwendung der §§ 44, 45 BörsG stützt, ist die Argumentation beachtlich. Zwar sind unrichtige Bilanzansätze unrichtige Angaben im Sinne von § 44 Abs. 1 S. 1 BörsG. Die Haftung sei jedoch an ein unrichtiges Bewertungsergebnis geknüpft. Das würde bedeuten: Keine Prospekthaftung bei falschem Bilanzansatz mit korrektem Bewertungsergebnis.75 Hinzu kommt, dass es zweifelhaft ist, einen Erfahrungssatz dahingehend aufzustellen, dass eine falsche Berechnungsmethode stets zu einem falschen Berechnungsergebnis führe. Die Anwendung des Anscheinsbeweisrechtes ist damit tatsächlich problematisch, selbst wenn die objektive Beweisnot auf Grund der dargelegten Informationsasymmetrie und der erforderliche Erfahrungssatz dargelegt werden könnten. d) Schlussfolgerung Damit schließt sich für die vorliegende Darstellung der Kreis: Bietet das nationale Recht einerseits keine europarechtskonforme Handhabung des Beweisrechtes, fordert die europarechtliche Prägung der nationalen Haf73 74 75

Fleischer (Fn. 9), S. 14. Fleischer (Fn. 9), S. 13. Fleischer (Fn. 9), S. 10.

185 tungsnorm jedoch eine derartige Handhabung ein, sprechen die besseren Argumente für die Umkehr der Darlegungs- und Beweislast. Das Ergebnis zeigt, dass die nationalen Darlegungs- und Beweislastregeln in Konstellationen wie der vorliegenden einer effektiven Durchsetzung von Ansprüchen des Kapitalanlegers entgegenstehen. Sie verstoßen damit gegen höherrangiges, europäisches Recht (Art. 10 EG) und widersprechen der Rechtsprechung des EuGH.76 Zudem erzeugen sie informationsökonomisch Ausschuss.

4. Exkurs: Auswirkungen auf die Anwendung des KapMuG Die gefundenen Argumente bleiben für die Anwendung des KapMuG nicht ohne Bedeutung. Der 23. Zivilsenat des Oberlandesgerichtes Frankfurt a. M. erörterte am 7. April 2008 mit den Verfahrensbeteiligten umfassend die Frage, inwieweit es zulässig sei, im Rahmen des Musterverfahrens festgestellte, entscheidungsreife Sachverhalte einer isolierten rechtlichen Würdigung zu unterziehen und gem. § 14 Abs. 1 KapMuG durch Teilmusterentscheid zu entscheiden. Von den auf der Klägerseite Beteiligten wird ein Vorgehen im Wege einer Teilmusterentscheidung, die isoliert, d. h. unabhängig vom weiteren Verlauf des (Rest-)Musterverfahrens, rechtsmittelfähig ist, trotz der Tatsache, dass der Wortlaut des § 14 Abs. 1 KapMuG diese Möglichkeit nicht vorsieht, befürwortet. Diese Haltung findet erneut ihre Stütze in den hier herausgearbeiteten europarechtlichen Erwägungen. Nach der vorerwähnten EuGHRechtsprechung77 darf das nationale Prozessrecht nicht derartige Hürden aufbauen, die einer effektiven Rechtsdurchsetzung europarechtlich geprägter Ansprüche im Wege stehen. Darunter ist der zeitliche Aspekt des Musterverfahrens zu subsumieren. Zutreffenderweise muss im Hinblick auf die vom Ausgangsgericht zu klärende Kausalität zwischen Pflichtverletzung und Schaden das zum Musterentscheid berufene Oberlandesgericht allen sachlichen Streitpunkten des Musterverfahrens nachgehen, auch wenn mindestens ein Streitpunkt im Verlaufe des Verfahrens zu Gunsten des Musterklägers geklärt werden konnte. Gleichzeitig muss das Gericht der zeitlichen Komponente verfahrensrechtlich Rechnung tragen. Der

76

Vgl. Heinze (Fn. 31), S. 115–117; zu Fällen gemeinschaftrechtswidrigen nationalen Beweisrechts hat sich der EuGH bereits geäußert – vgl. die Fundstellen Fn. 61. 77 Vgl. die Nachweise unter Fn. 61.

186 europarechtliche Effektivitätsgrundsatz gebietet der nationalen Prozessrechtsanwendung deshalb, unter europarechtskonformer Auslegung des § 14 Abs. 1 KapMuG die Möglichkeit von Teilmusterentscheiden zuzulassen. Denn gäbe es diese Möglichkeit nicht, wäre derjenige Kläger des Ausgangsverfahrens, zu dessen Gunsten im Musterverfahren ein Streitpunkt mit Entscheidungsreife geklärt wurde, gezwungen, möglicherweise jahrelang auf den Ausgang des gesamten Musterverfahrens zu warten, obwohl sein Ausgangsverfahren durch die Klärung der Teilfrage entschieden werden könnte. Bereits diese Aussicht auf ungewisses Zuwarten stellt eine europarechtswidrige Einschränkung des Effektivitätsgrundsatzes dar.

5. Auswirkungen auf den Haftungsmaßstab der §§ 44, 45 BörsG Nach § 45 Abs. 1 BörsG entfällt die börsengesetzliche Prospekthaftung nach § 44 BörsG, wenn der Haftungsschuldner nachweist, dass er die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit des Prospekts nicht gekannt hat und die Unkenntnis nicht auf grober Fahrlässigkeit beruht. Mit dem dritten Finanzmarktförderungsgesetz vom 27. März 199878 wollte der Gesetzgeber eine Verbesserung der Berechenbarkeit von Prospekthaftungsansprüchen erreichen.79 Nicht erreicht wurde dabei indes die Anpassung des Verschuldensmaßstabes an den der allgemeinen zivilrechtlichen Prospekthaftung. Es stellt sich die Frage, ob das europäische Recht eine entsprechende anpassende Auslegung gebietet. Durch die einschlägigen Richtlinien80 ist die Prospekthaftung vom europäischen Gesetzgeber nicht geregelt worden.81 Ein Blick in die Rechtsordnungen des USA und Großbritanniens zeigen ein deutlich strengeres Haftungsregime: verschuldensunabhängige Prospekthaftung bei öffentlichen Wertpapierangeboten in den USA auf Grund Sec. 11 Securities Act (1933), grundsätzlich verschuldensunabhängige Börsenprospekthaftung in Großbritannien.82 Die Tatsache, dass die §§ 44, 45 BörsG die EG-rechtlich harmonisierten Prospektpflichten für öffentlich angebotene Wertpapiere flankieren83, führt 78

BGBl. I 1998, 529. Schwark-Schwark, Kapitalmarktrechts-Kommentar (3. Aufl. 2004), §§ 44, 45 BörsG Rn. 3. 80 Vgl. Fn. 51-53. 81 Schwark-Schwark (Fn. 79), §§ 44, 45 BörsG Rn. 3. 82 Vgl. Grundmann/Selbherr, Börsenprospekthaftung in der Reform, WM 1996, 986, 987. 83 Schwark sieht die unmittelbare Anwendung auf Wertpapiere, die zum 79

187 zu der Problematik, ob eine Haftungsnorm, durch die der Haftungsschuldner in der Weise privilegiert wird, dass er nur bei grob fahrlässigen oder vorsätzlich verursachten Prospektfehlern haftet, nicht eine Hürde des nationalen Rechtes aus Anlegersicht darstellt, die diesen an der effektiven Durchsetzung seiner Haftungsansprüche hindert. Die Frage lässt sich in informationsökonomischer Hinsicht zu Gunsten der Anlegerseite beantworten: Eine Prospekthaftung, die nur dann greift, wenn die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt worden 84ist, wenn schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt wurden85, beeinträchtigt das Vertrauen der Anleger in eine vollständigen und richtigen Prospekt. Denn der Anleger muss davon ausgehen, dass der Haftungsschuldner nur insoweit sorgfältig arbeiten wird, als die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht in besonders schwerem Maße missachtet wird und einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht getätigt werden. Fahrlässiges Verhalten muss er also einkalkulieren, ohne die Möglichkeit zu haben, den Haftungsschuldner bei bekannt werden eines derartigen Fehlers auf Schadenersatz in Anspruch nehmen zu können. Im Wettbewerb der Rechtsordnungen führt das nationale Haftungsprivileg des Prospektverantwortlichen zudem dazu, dass der ökonomisch handelnde Anleger Investments eher in Rechtsordnungen mit strenger Prospekthaftung tätigen wird als in Rechtsordnungen mit Haftungserleichterungen. Denn das Vertrauen auf die Richtigkeit und Vollständigkeit der Prospektangaben ist beispielsweise in Großbritannien und den USA auf Grund der dortigen strengen Haftungsregime größer als in Deutschland. Das zeigt sich nicht zuletzt in den Erfolgen, die Anleger beispielsweise in den USA gegen Prospektverantwortliche gerichtlich erzielen konnten. Informationsökonomisch produziert das Haftungsprivileg Ausschuss. Hierdurch wird die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes negativ beeinträchtigt, denn der Markt ist aus Sicht des Anlegers nicht frei von fehlerhaften bzw. unvollständigen Informationen. Dem Anlegerschutz wird nicht hinreichend Rechnung getragen. Damit sind die beiden wesentlichen Ziele der Harmonisierungsbemühungen der Gemeinschaft im Hinblick auf die Prospektveröffentlichungspflichten und -inhalte beeinträchtigt. Denn leicht fahrlässig verursachte Pflichtverletzungen richtliniengeprägten nationalen Rechts werden durch die nationale Rechtsordnung nicht geahndet.

amtlichen Handel zugelassen sind und die entsprechende Anwendung auf Prospekte nach dem VerkProspG (a.F.) – Schwark-Schwark (Fn. 79), §§ 44, 45 BörsG Rn. 4. 84 BGHZ 10, 14, 17; BGHZ 89, 153, 161. 85 BGH, NJW 1980, 887, 888.

188 Einen effektiven Sanktionsmechanismus bei leicht fahrlässig verursachten Prospektfehlern gibt es in Deutschland nicht. An diesem Befund vermag die Verteilung der Beweislast, respektive die Obliegenheit des Prospektverantwortlichen nachzuweisen, er habe lediglich leicht fahrlässig gehandelt, nichts zu ändern. Um der Beweislast zu genügen, ist der Haftungsschuldner gehalten, die Prozesse der Prospekterstellung und der Prospektprüfung zu dokumentieren. Das gelingt regelmäßig und entspricht der gängigen Praxis. Bediente sich der Prospektverantwortliche - wie regelmäßig - bei der Prospekterstellung der Expertise namhafter Rechtsanwaltskanzleien und Wirtschaftsprüfer oder sonstiger Sachverständiger, gelingt regelmäßig auf dieser Basis der Nachweis fehlenden grob fahrlässigen Handelns. Denn der Prospektverantwortliche haftet nicht für das Verschulden des Dritten, weil dieser nicht in Erfüllung einer Verbindlichkeit des Haftungsschuldners gegenüber dem Haftungsgläubiger tätig wird. § 278 BGB findet keine Anwendung.86 Damit beschränkt sich die Nachweispflicht des Prospektverantwortlichen auf den Nachweis, dass er bei der Auswahl des sachverständigen Dritten und bei der Kontrolle dessen Arbeitsergebnisse nicht grob fahrlässig handelte. Hinzu tritt, dass eine detaillierte Nachprüfungspflicht nicht besteht, sondern sich die Ergebniskontrolle auf eine Plausibilitätsprüfung, im Sinne einer Kontrolle des Gesamtbildes, das vom Unternehmen erzeugt wird, beschränkt.87 Das gilt auch für den Rechtsirrtum.88 Hinzu tritt schließlich die Wertung des erkennenden Gerichts bei der Beurteilung grob fahrlässigen Verhaltens. Deshalb sprechen im Hinblick auf den Haftungsmaßstab europarechtliche und informationsökonomische Aspekte für eine korrigierende, strengere Auslegung des § 45 Abs. 1 BörsG, nämlich für eine Haftung für leichte Fahrlässigkeit.89

IV. Konkordanz zwischen der Zielsetzung des Europäischen Kapitalmarktrechts und den gefundenen Ergebnissen Bleibt abschließend die Frage zu klären, ob sich die gefundenen Ergebnisse in das europäische Kapitalmarktrechtsmodell einfügen. 86

Schwark-Schwark (Fn. 79), §§ 44, 45 BörsG Rn. 46. Schwark-Schwark (Fn. 79), §§ 44, 45 BörsG Rn. 46. 88 Schwark-Schwark (Fn. 79), §§ 44, 45 BörsG Rn. 45; OLG Düsseldorf, WM 1984, 586, 595. 89 Dann im Sinne einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung – vgl. hierzu W.-H. Roth (Fn. 55), § 14 Rn. 44-60, insbesondere Rn. 50-53, sowie oben Fn. 57. 87

189 Das Modell der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet des Kapitalmarktrechts ist in seinen Bestrebungen von umfassender Transparenz geprägt. Hierin verwirklicht sich ein zentraler Eckpunkt der Politik der Gemeinschaft. Der Grundstein dazu wurde bereits mit dem Segré-Bericht gelegt. Der von der Gemeinschaft eingeschlagene Weg wurde vom EuGH nochmals nachhaltig untermauert, als dieser im Jahre 1979 in der Rechtssache Cassis de Dijon erstmals entschied, dass gemeinschaftliche Maßnahmen immer dann dem Grundsatz „Transparenz vor Verbot“ zu folgen haben, wo dies möglich ist.90 Damit schwenkte die Rechtsprechung des EuGH auf die aus dem US-amerikanischen Recht bekannte Linie der disclosure philosophy ein. Mit dem Rückenwind des EuGH waren die in den Folgejahren der Entscheidung erlassenen Rechtssetzungsmaßnahmen auf dem Gebiet des Kapitalmarktrechts nachhaltig durch diese Philosophie geprägt. Zu nennen sind hier vor allem – hier relevant – die Bestimmungen der Börsenzulassungsprospektrichtlinie und der Richtlinie 89/298/EWG. Die disclosure philosophy findet zunächst ihre Rechtfertigung in traditionell rechtsethischem Gedankengut.91 Publizität im Besonderen und Transparenz im Allgemeinen stellen lediglich sicher, dass mit der Anlegerseite diejenige Seite die notwendigen Informationen effektiv erhält, die auf Grund ihres Investments den besser begründeten Anspruch auf diese Position hat.92 Rein ökonomische Betrachtungen, insbesondere die der Chicago School, wonach im Konfliktfall Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit hinter solchen der gesamtwirtschaftlichen Effizienz zurückstehen lassen, sind entsprechend auch die schärfsten Opponenten dieser Philosophie.93 Im Detail wird argumentiert, dass Zukunftsmärkte 90 EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 REWE ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Slg. 1979, S. 649, 664 – Cassis de Dijon; dann ständige Rechtsprechung: EuGH v. 22.6.1982 – Rs. 220/81 Robertson, Slg. 1982, 2349, 2361 f.; EuGH v. 11.7.1984 – Rs. 51/83 Kommission ./. Italien, Slg. 1984, 2793, 2805 f.; Grabitz/ Hilf-Matthis/v. Borries, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar (Stand 10/2007), Art. 34 EG, Rn. 19–21, 26; Groeben/Schwarze-Müller-Graff, Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EU/EG-Vertrag) (6. Aufl. 2003), Art. 36 EG, Rn. 136–138; Deckert/v. Rüden, Anlegerschutz durch Europäisches Kapitalmarktrecht – Publizität statt Verbot, EWS 1998, 46, 49. 91 Grundmann, Der Treuhandvertrag – insbesondere die werbende Treuhand (1997), S. 207. 92 Grundmann (Fn. 91), S. 56–58, 498. 93 Rudolph, FS Moxter (1994), S. 1335, 1341; Ott/Schäfer, ZBB 1991, 226, 229; Schörner, Gesetzliches Insiderhandelsverbot – eine ordnungspolitische Analyse (1991), S. 7.

190 gerade nur deshalb existieren, weil asymmetrische Informationsverteilungen bestehen und die Spekulationshoffnungen (oder -enttäuschungen) einiger die Grundlage dafür bilden, dass andere Gewinnmöglichkeiten gerade hieraus erkennen.94 Ein zweites Argument für die disclosure philosophy wiegt aber stärker: Informationen werden als ökonomische Güter betrachtet. Allerdings unterscheiden sie sich von anderen ökonomischen Gütern dadurch, dass sie zugleich öffentliche Güter sind. Öffentliche Güter sind zunächst durch ihre „Nicht-Rivalität“ im Verbrauch gekennzeichnet, d. h. Informationen sind ohne Wertverlust von mehreren Nutzern verwendbar.95 Darüber hinaus sind Informationen durch „Nicht-Exklusivität“ gekennzeichnet, d. h. niemand ist von Informationen absolut ausschließbar.96 Daher können grundsätzlich auch diejenigen von Informationen profitieren, die sich nicht an den Kosten der Informationsbeschaffung beteiligen. Hierfür wäre die Geheimhaltung und selektierte Nutzung solcher Informationen eine Lösung. Diese Lösung würde aber zu Informationsasymmetrien führen. Asymmetrisch verteilte Informationen sind verborgene Informationen, die verborgene Handlungen derjenigen ermöglichen, die Inhaber dieser verborgenen Informationen sind.97 Werden solche Handlungen schließlich ausgeführt, so können sich die „Insider“ auf die eine oder andere Weise einen Vorsprung gegenüber „Outsidern“ verschaffen. Das gilt unabhängig davon, ob sich die „Outsider“ an den Transaktionskosten beteiligen würden oder nicht. Intransparenz führt also mittelfristig zu Wettbewerbsverzerrungen. Wettbewerb hat aber auch die Funktion eines Entdeckungsverfahrens und dient dem Abbau asymmetrischer Informationsverteilungen in einer Gesellschaft.98 Dazu muss er funktionieren. Als weiterer Faktor besteht bei den „Outsidern“ regelmäßig Unsicherheit darüber, ob solche Informationsasymmetrien existieren, und wie sie sich auf ihren (hier: finanziellen) Status auswirken. Die „Outsider“ werden sich überlegen, ob sie sich bei den fortgeltenden Rahmenbedingungen in einem bestimmten Markt betätigen, von einer Betätigung Abstand nehmen oder ob sie diesen Markt verlassen wollen. Aus der Wettbewerbsverzerrung zu

94

Schneider, Informations- und Entscheidungstheorie (1995), S. 195. Van den Bergh/Lehmann, Informationsökonomie und Verbraucherschutz im Wettbewerbs- und Warenzeichenrecht, GRUR Int. 1992, 588, 590; Kingma, The Economics of Information – A Guide to Economic and Cost-Benefit Analysis for Information Professionals (1996), S. 73–82. 96 Van den Bergh/Lehmann, GRUR Int. 1992, 588, 590. 97 Schneider (Fn. 94), S. 49. 98 Schneider (Fn. 94), S. 2, 50. 95

191 Gunsten der „Insider“ resultiert, dass die „Outsider“ ihre Gewinne nicht maximieren können.99 Der Markt ist also für sie weniger interessant als ein Markt, bei dem die Wettbewerbsbedingungen homogen sind. Folglich werden die „Outsider“ ihr Engagement im intransparenten Markt reduzieren oder einstellen. Dies geschieht selbst dann, wenn im Markt quantitativ oder qualitativ gute Informationen existieren. Grund hierfür ist die Unsicherheit darüber, ob die vorgefundene Informationsqualität und -quantität zur Beseitigung von Asymmetrien führt und Gewinne folglich maximiert werden können. Zudem sind solche Informationen zumeist teurer. Der unsichere „Outsider“ wird demzufolge selbst in diesem Fall nur durchschnittliche Qualität und Quantität nachfragen. Freiwillig angebotene bessere Qualität und Quantität werden aus dem Markt verdrängt, weil sie zu teuer werden.100 Intransparenz ist also marktschädlich, weil die Märkte wegen der ungleich verteilten Informationen dazu neigen, Ausschuss oder zumindest nur durchschnittliche Qualität zu produzieren (market for lemons).101 Für den Kapitalmarkt bedeutet dies, dass schlecht informierte Investoren ihr Kapital nicht investieren oder aus diesem Markt abziehen und in effizientere oder sicherere Investments einbringen. Die Mittelallokation verschlechtert sich, was letztlich allen Marktteilnehmern, insbesondere auch denjenigen, welche die Informationen haben, schadet.102 Die Vertreter der disclosure philosophy bezeichnen diesen Mechanismus als eine zentrale Form des Marktversagens. Disclosure ist im Ergebnis geeignet, Einkommensunsicherheiten zu verringern und die Gesamtwohlfahrt zu verbessern. Andererseits muss man sehen, dass gerade im Bereich des Kapitalmarktrechts Weiterentwicklungen oftmals in Informationsasymmetrien ihren Ausgangspunkt genommen haben. Informationsasymmetrien sind nach wie vor Alltag im Finanzgeschäft. Gleichwohl hat der europäische Gesetzgeber mit den Anforderungen an Prospektinhalte ein eineindeutiges Zeichen pro disclosure gesetzt. Die ökonomische Theorie belegt indes, dass disclosure allein häufig – vor allem im Rahmen von Erstinformationen wie bei Emissionsprospekten der Fall – nicht genügt, um bestmöglichen Vertrauensschutz zu erzeugen.

99

Schneider (Fn. 94), S. 5. Van den Bergh/Lehmann, GRUR Int. 1992, 588, 591. 101 Akerlof, Quarterly Journal of Economics 84 (1970), 488, 490–492, 495 f.; Schneider (Fn. 94), S. 4; van den Bergh/Lehmann, GRUR Int. 1992, 588, 591. 102 Assmann, Konzeptionelle Grundlagen des Anlegerschutzes, ZBB 1989, 49, 61 f.; Kübler, Anlageberatung durch Kreditinstitute, ZHR 145 (1981), 204, 206. 100

192 Hierzu erweist sich ein effektiv funktionierender Sanktionsmechanismus als unumgänglich. Definiert man die Zielsetzung, die mittels des Einsatzes von Prospekten und anderen Publizitätsmedien erreicht werden soll, als Information aller Anleger, dann sind weder ein vom Emittenten erstellter Prospekt noch sonstige speziell von Emittenten ausgehende Medien Suchgüter103 in dem Sinne, dass sie vom Adressaten nachgefragt werden. Der durchschnittliche private Anleger kennt sie eher nicht.104 Ihre Bedeutung haben diese Printmedien vor allem für institutionelle Anleger und Intermediäre zur Vorbereitung der Beratung. Für diese Adressatenkreise stellen jene Suchgüter dar, soweit sie von ihnen nachgefragt werden. Dies gilt jedoch auch nur dann, wenn der Qualitätsstandard vorher durch Informationsaufwand festgestellt werden kann. Dann stellt sich allerdings ein Kostenproblem bei der Informationsbeschaffung.105 Hinsichtlich der Qualität und der Richtigkeit stellen Prospekte hier also keine Suchgüter dar. Ebenso wenig sind Prospekte Erfahrungsgüter,106 da der Anleger in der Regel nur einmal in Kontakt mit einem bestimmten Printmedium gelangt und dieses immer emittentenspezifisch ist. Aus einem einmal gelesenen Prospekt lässt sich mit anderen Worten nicht der Erfahrungssatz ableiten, dass die Informationen in allen anderen Fällen qualitativ gleichwertig sind. Die Qualität ließe sich im unharmonisierten Zustand nur im Einzelfall nach dem Erhalt eines solchen Prospekts feststellen. Daraus folgt, dass vom Emittenten zu erstellende Publizitätsmedien für die Masse der Adressaten Vertrauensgüter107 sind, ähnlich etwa wie Allgemeine Geschäftsbedingungen, wenn sie keinem rechtlichen Standard unterworfen sind.108 Solche Vertrauensgüter werden jedoch von der ökonomischen Analyse hinsichtlich des Funktionierens der Märkte als schädlich betrachtet, weil sie hohe Kosten verursachen und weil Märkte, in denen eine Marktseite auf Vertrauensgüter angewiesen ist,

103

Zur Begriffsbildung: Schneider (Fn. 94), S. 171; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2005), S. 409. 104 Heinze (Fn. 31), S. 364. 105 Kingma (Fn. 95), S. 139–152. 106 Zur Begriffsbildung: Schneider (Fn. 94), S. 172; Schäfer/Ott (Fn. 103), S. 409. 107 Zur Begriffsbildung: Schneider (Fn. 94), S. 172; Schäfer/Ott (Fn. 103), S. 410. 108 Zu den AGB: R. Posner, Vertragliche Rechtsposition und Rechtsbehelfe, in: Assmann/Kirchner/Schanze (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Rechts (1993), S. 184, 206 f.

193 zur Produktion von Ausschuss neigen.109 Diese Kosten führen dazu, dass die Publizitätsmedien von einem Anleger, der eine bestimmte, einmalige Investition beim Emittenten unterbringen will, nicht nachgefragt werden. Denn das Durcharbeiten und Verstehen des Prospektes verursacht hohe Kosten (Zeitaufwand), so dass unter Umständen die Inkaufnahme eines Verlustrisikos wegen einer falschen Anlageentscheidung kostengünstiger ist. Dieses hängt im Einzelfall von der Investitionssumme ab. Die Problematik stellt sich auch bei Suchgütern.110 Der Emittent hat ein Interesse daran, durch die Prospektangaben so viele Investoren wie möglich (wie betragsmäßig benötigt) anzuziehen. Dieses Interesse ist bei den hier in Rede stehenden Emissionen wertmäßig immer höher als das Interesse des privaten Einzelanlegers. Daher verfügt der Emittent über eine bessere Ausgangsposition hinsichtlich der Informationsausstattung. Er kann sich überlegen, inwieweit ein Informationstransfer wirtschaftlich sinnvoll ist. Der Ausgleich der Informationsasymmetrien dagegen ist unwirtschaftlich, weil die Informationen nicht zur Kenntnis genommen oder wegen Vertrauensrisiken ein Teil der Anleger trotz Informationen nicht investieren wird. Eine Kosten-Nutzen-Analyse von Publizitätspflichten stützt das Ergebnis, dass jeder nicht vermittelbare Informationstransfer, welcher zusätzlich den Interessen des Emittenten widerspricht, eine Überregulierung darstellt. Das gilt unter der gegebenen Investitionslage selbst dann, wenn die Informationen des Emittenten teilweise bei der Entscheidung berücksichtigt werden würden. Vor diesem Hintergrund rechtfertigen sich Mindestanforderungen an Publizitätsmedien, insbesondere Verkaufs- oder Börsenprospekte. Die ökonomisch beeinflusste Motivation des Emittenten wird jedoch durch die schlichte Verpflichtung, einen bestimmten Mindeststandard zu wahren, nicht ausreichend flankiert. Der Emittent hat danach unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten die Wahl zwischen vollständiger und unvollständiger Information. Denn der Emittent kann immer noch die Kosten der Pflichtenerfüllung mit den Haftungsrisiken abwägen. Braucht er auf Grund eines ineffizienten Sanktionsmechanismus in den meisten Fällen real keine Haftung zu befürchten, wird er sich ökonomisch verhalten, d. h. den Aufwand zur Pflichterfüllung möglichst gering halten. 109 Schäfer/Ott (Fn. 103), S. 411; Engels, Das Trilemma der Finanzmärkte, in: Engels (Hrsg.), Anlegerschutz und Vertrauensbildung an Finanzmärkten (1992), S. 11, 14–17. 110 Vgl. Assmann, Prospekthaftung als Haftung für die Verletzung kapitalmarktbezogener Informationsverkehrspflichten nach deutschem und US-amerikanischem Recht (1985), S. 280.

194 Dies wiederum konterkariert den mit der gesetzlichen Regelung zu Mindestprospektinhalten verfolgten Vertrauensschutz beim Anleger. Der market for lemons bleibt bestehen. Damit besteht eine Konkordanz zwischen den mit den Mindestanforderungen an Prospektinhalte verfolgten Zielen des europäischen Gesetzgebers und der Gewährleistung eines effektiven Sanktionsmechanismus durch das nationale Recht im Wege einer europarechtlich motivierten Darlegungs- und Beweislastumkehr zu Lasten des Prospektemittenten und einer Verschärfung des nationalen Haftungsmaßstabes; Letzteres in Wege der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung. Der Emittent muss darlegen und beweisen, dass die Angaben im Prospekt vollständig und richtig sind. Er hat alle Chancen, den Vorwurf der Prospekthaftung abzuwenden. Hierbei verfügt er über die besseren und kostengünstigeren Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und des Informationstransfers. Diese Sicht auf die Dinge stärkt das Vertrauen der Anleger in den Kapitalmarkt, da sie eine ernstzunehmende Sanktionsmöglichkeit bei Vertrauensgütern sehen. Inwieweit diese – so auch im Telekom-Prozess – zu ihren Gunsten genutzt werden kann, ist eine ganz andere Frage. Auf eine Exkulpation im Sinne eines Nachweises nicht grob fahrlässigen Handelns des Haftungsschuldners ist unter den europarechtlichen und informationsökonomischen Prämissen zu verzichten. Stattdessen sollte der Verschuldensmaßstab des § 276 BGB greifen. Hierdurch würde die börsenrechtliche Prospekthaftung in Konkordanz auch mit der allgemeinen zivilrechtlichen Prospekthaftung gebracht. Nicht zuletzt trägt der hier befürwortete strenge Sanktionsmechanismus dazu bei, das Vertrauen der Anleger im deutschen Kapitalmarkt zu stärken. Denn insbesondere auf Grund der negativen Erfahrungen der Anleger mit der „Volksaktie“ der DTAG lag der prozentuale Anteil der Aktionäre in der deutschen Bevölkerung im Jahre 2007 bei nur noch 5,8 %, oder ca. 3,8 Mio. Deutschen, wie das Deutsche Aktieninstitut in Frankfurt a. M. ermittelte; eine Entwicklung hinter das Jahr 1992 zurück.111 Auf die eingangs aufgeworfene Frage, ob die Maßnahmen des deutschen Gesetzgebers durch das KapMuG ausreichend sind, ist zu antworten, dass der Interessenlage der Kapitalanlegerseite vor dem Hintergrund der auch ökonomischen Zielsetzung des KapMuG nicht im gebotenen Umfang Rechnung getragen wird. Das Verfahren ist nicht geeignet, die strukturellen Probleme der Anlegerseite in der börsenrechtlichen Prospekthaftung

111

Vgl. etwa DIE WELT v. 8.4.2008, S. 17.

195 vollständig zu lösen.112 Zur Lösung mögen nach hiesiger Ansicht die europarechtliche Prägung der Haftungsnormen und die Einflüsse der Rechtsprechung des EuGH einen Beitrag leisten. Letztlich wird der EuGH berufen sein, mit seiner Sanktionsrechtsprechung deutlichere Maßstäbe zu setzen.113

112 Bemerkenswert ist die hierzu ergangene Richterschelte des Gesetzgebers zum Prozessauftakt am 7.4.2008 – siehe etwa DIE WELT v. 8.4.2008, S. 17; Handelsblatt v. 8.4.2008, S. 10, FAZ v. 8.4.2008, S. 11; Financial Times Deutschland v. 8.4.2008, S. 19. 113 Sanktionen müssen jedenfalls hinreichend „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein“ – EuGH v. 10.7.1990 – Rs. C-326/88 Hansen, Slg. 1990, I-2911, 2935; EuGH v. 21.9.1989 – Rs 68/88 Kommission ./. Griechenland Slg. 1989, 2965, 2684 f.; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891, 1908 f.; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 Dorit Harz, Slg. 1984, 1921, 1940 f., 1942 f.; Grundmann/Selbherr, WM 1996, 985, 988.

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