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German Pages 302 Year 2023
Klaus P. Stulle Richard T. Justenhoven Hrsg.
Personalauswahl 4.0 KI, Machine Learning, Gamification und andere Innovationen in der Praxis
Personalauswahl 4.0
Klaus P. Stulle · Richard T. Justenhoven (Hrsg.)
Personalauswahl 4.0 KI, Machine Learning, Gamification und andere Innovationen in der Praxis
Hrsg. Klaus P. Stulle Köln, Nordrhein-Westfalen, Deutschland
Richard T. Justenhoven Hamburg, Deutschland
ISBN 978-3-658-42141-0 ISBN 978-3-658-42142-7 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-42142-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Winter Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.
Geleitwort
Es ist jetzt mittlerweile länger als 130 Jahre her, dass mittels elektromagnetischer Apparate Anstrengungen unternommen wurden, um mentale Unterschiede zwischen Menschen zu messen. So versuchten schon Francis Galton oder Wilhelm Wundt mittels eines Chronoskops, Parameter der menschlichen Leistungsfähigkeit zu bestimmen und dabei auf individuelle Unterschiede einzugehen. Der Einzug des Computers in die Psychologie führte zusammen mit der Kognitiven Psychologie dazu, die menschliche Informationsverarbeitung in einem ganz neuen Licht zu betrachten. Damit wurde ermöglicht, immer größere Datensätze mit immer ausgereifteren statistischen Verfahren zu analysieren. Von da aus war es dann kein weiter Schritt mehr, den in früheren Jahren meist nur in der Experimentalpsychologie eingesetzten Computer auch in der Personalauswahl einzusetzen. Hier ermöglichte der Rechner rasch neue Wege der Leistungsdiagnostik, wie z. B. das adaptive Testen oder die Simulation komplexer Szenarien. Die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft und die mit ihr einhergehende Nutzung sozialer Plattformen gaben gerade der Sozialpsychologie bei der Erforschung des menschlichen Verhaltens im Internet neuen Anschub. Genauso weitete sich im Personalwesen die Nutzung des Computers von der anfänglichen Leistungs- und Persönlichkeitsdiagnostik auf die Messung sozialer Kompetenzen aus. Doch mit der Diagnostik in computergestützten Teamarbeitsszenarien war noch lange nicht das Ende der Entwicklung erreicht. Bedingt durch den ganz offensichtlich zunehmenden Druck, kompetente Fach- und Führungskräfte in einer globalen Arbeitswelt zu finden, sowie den neuen Fragestellungen der Ökonomie und Nachhaltigkeit entwickelten sich auch in der Eignungsdiagnostik neue Ansätze. Hierzu gehören sicherlich die Durchführung von Videointerviews oder die Diagnostik mittels online-Szenarien mit Spielelementen. Auch die Verwendung neuer Methoden, wie z. B. der VR–Brille, hat mittlerweile Einzug in die psychologische Diagnostik gehalten. Im Vergleich zu früher wird dabei immer mehr Wert darauf gelegt, dass diese neuen Ansätze und Methoden auch auf die Akzeptanz bei Bewerbenden und Kunden stoßen. Zusätzlich sind ethische und Fragen der Testfairness mit zunehmender Zahl digitaler Methoden mehr denn je von Bedeutung.
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Geleitwort
Doch die Digitalisierung beschränkt sich im Personalwesen nicht mehr allein auf die Eignungsdiagnostik. Immer höhere Rechenleistung ermöglicht es mittlerweile auch, immer komplexere Szenarien zu erfassen und statistisch zu simulieren. Digitale Systeme helfen dabei Arbeitsprozesse, zu organisieren und auch in sozialen Komponenten zu unterstützen. Dieses wirkt sich direkt und indirekt auf die digital erfasste Arbeitszufriedenheit aus und trägt damit zur Produktivität und Gesundheit des Einzelnen bei. Digitale Systeme ermöglichen es auch dem Einzelnen, sich im Internet mit seinen spezifischen Fähigkeiten einer großen Anzahl von möglichen Arbeitgebern zu präsentieren. Auf der anderen Seite können Internetinformationen den Arbeitgebern dazu dienen, Profile von Bewerbenden mit Jobprofilen auf ihre jeweilige Passung abzugleichen. Welche Rolle künstliche Intelligenz bei solchen Prozessen spielen wird, ist eines der besonders schillernden Zukunftsthemen in der Eignungsdiagnostik. Zurückblickend sieht man also, welche enorme Entwicklung die Diagnostik von der ersten Reaktionszeitmessung bis zur Verwendung künstlicher Intelligenz durchlaufen hat. Daher wurde es Zeit für ein aktuelles Buch zu diesem Themenkomplex. Es zeigt die momentane Bandbreite der Digitalisierung in der Eignungsdiagnostik und stellt die neusten Methoden in ihrer Anwendung dar. Hamburg im April 2023
Prof. Dr. Dirk Stelling
Vorwort
Wozu bedarf es eines solchen Buches über zeitgemäße Personalauswahl, wo doch bereits dazu schon so viel in gedruckter oder digitaler Form publiziert worden ist? Ob dieses Werk – als gebundenes Buch oder als ePublikation – seine Daseinsberechtigung verdient hat, können letztlich nur die Leserin und der Leser – oder die Lesenden – entscheiden. Es sei angemerkt, dass alle Beteiligten nach eigenem Ermessen eine Form des sprachlichen „Genderns“ gewählt haben und sich im gesamten Text zu jedem Zeitpunkt alle Geschlechter gleichermaßen angesprochen fühlen sollen! Allemal waren die Herausgeber zu Beginn des Projekts der Meinung, dass sich gerade in der letzten Zeit in diesem Bereich so viel entwickelt hat, dass eine aktuelle Beschreibung Interesse und Wertschätzung vorfinden sollte. Doch worum genau sollte es gehen? Was gehört zum Thema und was nicht [mehr]? Worin besteht die inhaltliche Klammer der Beschäftigung? Rasch wurde dazu – zunächst als Arbeitstitel – die Bezeichnung „Personalauswahl 4.0“ gefunden, angelehnt an den gängigen Ausdruck „Industrie 4.0“, mit dem oftmals die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitskontext zusammengefasst werden. In dem hier vorgestellten Buch soll es nun analog dazu um die Wirkmechanismen der Digitalisierung auf die psychologisch fundierte Eignungsdiagnostik gehen. Explizit eingeschlossen sind darin alle Zugänge wie Selbst- oder Fremdbeurteilung, also durch Fragebogen oder Verhaltensbeobachtung (s.u.), bei denen digitale Tools zur Anwendung kommen, dazu auch noch das zunehmend digitalisierte Interview als Kombination aus Selbsteinschätzung mit Fremdbeurteilung. Ergänzend sollen auch noch exemplarisch einzelne Beispiele aus der Vielzahl an Interventionen betrachtet werden, die sich an die Personalauswahl anschließen können. Denn auch hier schreitet die Technologie unaufhaltsam fort, wie anhand der Lernenden Organisation bei der Otto Gruppe deutlich werden wird. Andere Formen wie digitale Coaching-Plattformen oder Führungskräfte-Tutorials hätten ebenfalls als Beispiele für Digitalisierungsprojekte betrachtet, sollen aber in diesem Herausgeber-Werk nicht weiter vertieft werden. Auch die ausgesprochen dynamische „Szene“ der HR-IT Lösungen für Talent- und / oder Kompetenzmanagement verdient gewiss eine besondere Betrachtung, aber halt nicht an dieser Stelle. Zu Beginn dieses Projekts wurde – wie für einen Sammelband üblich – das „Fischernetz ausgeworfen“ und eine Reihe von Autor(inn)en kontaktiert, von denen die meisten VII
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Vorwort
sehr bereitwillig auch unter festgelegten Zeitvorgaben zur Mitarbeit bereit waren. Als Ergebnis umfasst der Kreis der hier Beteiligten eine prominente Auswahl an ausgewiesenen Expert(inn)en im deutschsprachigen Raum, allerdings mit ganz unterschiedlichem Qualifikationshintergrund und beruflichem Tätigkeitsspektrum: Viele sehen sich ganz klar in der Praxis der digitalisierten Personalauswahl verortet, andere hingegen stammen aus Forschung und Lehre. Bei genauerer Betrachtung werden in dieser Gruppe aber auch etliche „Grenzgänger“ erkennbar werden, die sich beiden „Lagern“ zugehörig fühlen und sowohl in der Anwendung als auch in der Wissenschaft ihre Spuren hinterlassen haben. Insofern kann die Vielfalt oder neudeutsch „Diversity“ der Autorenschaft durchaus als Qualitätsmerkmal dieses Herausgeberbandes verstanden werden. Konkret bedeutet dies: Den Auftakt machte bereits Dirk Stelling vom renommierten Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) mit seinem Geleitwort. Nach den nun folgenden Vorbemerkungen des Herausgeberduos sowie einer einleitenden inhaltlichen Übersichtsdarstellung von Klaus Stulle beginnt Tim Wartza mit seiner akademisch inspirierten Beschreibung der „Personalauswahl 4.0“ aus der Perspektive der Kandidat(inn)en. An eine besondere Zielgruppe aus dem „Blue Collar“-Umfeld ausgerichtet beschreibt dann Olaf Ringelband ein Algorithmen-gestütztes Matching von Bewerbern und Unternehmen. Mit universitärem Hintergrund beschreiben Franz Mönke, Hanna Lüdemann und Philip Schäpers das sog. „Cybervetting“, also die gezielte Online Recherche im Rahmen der Personalauswahl im Internet bzw. Sozialen Medien, als besonders innovativen Prozess. Die Autoren Kristof Kupka, Joachim Diercks und Lars Jansen bilden eine kompetente Mischung aus Praktikern zusammen mit einem Hochschullehrer und illustrieren ihrerseits die aktuellen Möglichkeiten der Gamification im (Online)-Assessment. Ina Vollendorf und Maximilian Jansen betrachten im Anschluss daran als verwandtes Thema die sog. „Virtual Reality“ und zeigen aus ihrem Erfahrungsschatz die verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten für die Personalauswahl auf. Ein ähnlich praxis-bezogener Beitrag vom Kölner Institut für Managementberatung (ki.m) – namentlich von Momme Jürgensen, André Findeisen und Christian Dries – beschreibt dann digitale Ansätze bei der Verhaltensbeobachtung zur Auswahl von Führungskräften. Von eligo, einem aus Bochum stammenden Expertenteam der HR-Praxis, resultiert aus der elektronischen Feder von Christian Jung-Gehling ein personalentwicklungsorientierter Ansatz, ebenfalls maßgeblich ausgerichtet an die Zielgruppe von [angehenden] Führungskräften. Das Autorenteam Hannah Kiesow-Berger zusammen mit Michael Fell, Fred Philippy und Elias Steiner stellen danach anhand einer konkreten Fallstudie das Zortify-Instrument vor, bei dem ein konventioneller Persönlichkeitsfragebogen durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz mittels einer Freitextprobe im Rahmen eines Unternehmer-Auswahlprozesses verwendet wurde. Eine Zusammenarbeit der beiden HRlerinnen Anna Fliegel und Martina Dominiak vom Netzbetreiber Westnetz mit dem Unternehmensberater Michael Paschen, Geschäftsführer von Profil M, illustriert – ebenfalls als Beispiel für zunehmend digitalisierte Verhaltensbeobachtung – ein innovatives Development Center Konzept im agilen Kontext. Die zwei Kapitel rund um das Welliba-Konzept, zunächst Hendrik Schossau zusammen mit
Vorwort
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Carmen Lobbe und Katharina Lochner beschäftigen sich mit der Frage, wie die Messung der sog. „Employee Experience“, kurz EX die Personalarbeit revolutionieren kann. Daran angeschlossen und ebenfalls mit dem Welliba-Ansatz verbunden ist der Beitrag von Achim Preuss zusammen mit Maximilian Jansen und Richard Justenhoven, bei dem die Vorteile einer kontinuierlichen Messung von Employee Experience als Alternative zu stärker singulären Mitarbeiterbefragungen oder Pulse Checks illustriert werden. Ebenso psychometrisch ausgerichtet ist die Darstellung von Stephan Holtmeier und Inga Mertin vom Kölner HR Dienstleister „Crews & Captains“ zu Chancen und Risiken eines kontinuierlichen 360°-Performance-Assessments. Den Abschluss im Sinne von „Last, but not least“ bildet der Kapitel von Alina Siemsen. Sie zeigt in dem Fallbeispiel der Otto Group wie Digitalisierung Lernende Organisationen ideal unterstützt. Im Nachwort der Herausgeber mit durchaus experimentellem Charakter durch die Verwendung künstlicher Intelligenz zur Textgestaltung wird dann noch ein Ausblick auf die künftige Entwicklung gewagt. Diese maximal komprimierte Zusammenfassung sollte deutlich gemacht haben, dass in diesem Herausgeberwerk ganz unterschiedliche Perspektiven und Herangehensweisen zu Wort kommen werden. Als weiterer Pluspunkt sollte die Aktualität bzw. die Zukunftsgerichtetheit der Beiträge gelten. Auf einen „Blick in den Rückspiegel“ wird weitestgehend verzichtet, sondern vielmehr der momentane Status-Quo samt der möglichen, künftigen Lösungen vorgestellt. Die Zusammenstellung der Themen und Autoren ist dabei sicher nicht gegenüber einem Anspruch der Vollständigkeit gewappnet, bestimmt hätten auch andere Autor(inn)en ebenfalls wertvolle Beiträge leisten können. Aber allemal ist in diesem Werk eine engagierte und kompetente Mischung gehaltvoller Beiträge versammelt! Jeder Herausgeberband und so auch dieser lebt von der „Schwarmintelligenz“ und übersteigt dadurch die Fähigkeiten und Kenntnisse einzelner, allemal der beiden Herausgeber. Möglich wird er nur durch Einzelengagement und Teamwork, am sichtbarsten natürlich von Seiten der Autor(inn)en von Einzelkapiteln und Geleitwort. Aber auch „hinter den Kulissen“ wurde Großartiges geleistet, namentlich durch das Redaktionsteam, bestehend aus Carmen und Max. Diese wiederum standen zusammen mit den übrigen Beteiligten im engen Kontakt zu den Professionals beim renommierten SpringerGablerVerlag. Namentlich Frau Winter und Frau Himmel samt Team gebührt an dieser Stelle ausdrücklich großer Dank für die gewohnt reibungslos-konstruktive Zusammenarbeit! Prof. Dr. Klaus Stulle Dr. Richard Justenhoven
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Stulle 1.1 „Personalauswahl 4.0“: Was kommt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Verhaltens-basierte Verfahren (Fremdbeurteilung) . . . . . . . . . . . 1.1.2 Fragebogen-basierte Verfahren (Selbstauskunft) . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Interview-basierte Verfahren (Mischung aus Selbstauskunft und Fremdbeurteilung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 „Personalauswahl 4.0“: Was bleibt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personalauswahl 4.0 aus der Perspektive der Kandidat:innen . . . . . . . . . . . Tim Warszta 2.1 Einleitung – Von der Auswahl zur Gewinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Bewerbendenreaktionen und Technologieakzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Theorien und Modelle zu Bewerbendenreaktionen . . . . . . . . . . 2.2.2 Usability und Technologieakzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Folgen unfairer Behandlung in der Personalauswahl . . . . . . . . . 2.3 Akzeptanz neuer diagnostischer Methoden – Verfahrensspezifische Überlegungen und Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Allgemeine empirische Befunde zur internetbasierten Personalauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Einsatz und Akzeptanz von Videointerviews . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Einsatz und Akzeptanz von Cybervetting . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Einsatz und Akzeptanz von Gamification im Assessment . . . . 2.3.5 Einsatz und Akzeptanz von künstlicher Intelligenz und Algorithmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Handlungsempfehlungen für den Einsatz von Verfahren der Personalauswahl 4.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Fachkräftemangel und algorithmenbasiertes Matching . . . . . . . . . . . . . . . . . Olaf Ringelband 3.1 Fachkräftemangel in Deutschland – demografische Entwicklung . . . . . 3.2 Fachkräftemangel in Deutschland – Zunehmende Akademisierung der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Matching statt Stellenanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Der Arbeitsmarkt für Lkw-Fahrer:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die Bedürfnisse der Jobsuchenden verstehen . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Person-Job-Fit und Person-Organisation-Fit . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Entwicklung des Matching-Algorithmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Veränderter Mindset bei Arbeitgebern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Zukunft des Recruitings: Matching statt Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cybervetting: Valide Personalauswahl mit sozialen Netzwerken? . . . . . . . . Franz W. Mönke, Hanna Lüdemann und Philipp Schäpers 4.1 Ein Like aus der Personalabteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Cybervetting: Soziale Netzwerke statt Bewerbung? . . . . . . . . . 4.1.2 Was versprechen sich Personalverantwortliche von Cybervetting? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Soziale Netzwerke als Indikator für Verhalten und Eigenschaften . . . . . 4.2.1 Cybervetting im Vergleich zum Selbstbericht: Konvergente Validität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Cybervetting zur Vorhersage von Leistung: Kriteriumsvalidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Erklärungsansätze im Cybervetting-Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Rauschen im Cyberspace: Reliabilität von Cybervetting . . . . . 4.3.2 Validität kann sich von Eigenschaft zu Eigenschaft unterscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Plattformunterschiede und Informationsüberflutung: Wenn Privates beruflich wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Klarere Antworten durch robustere Forschungsdesigns . . . . . . 4.4 Wie Cybervetting besser werden kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gamification in Online-Assessments – Wie Recrutainment die Personalauswahl verbessern kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kristof Kupka, Joachim Diercks und Lars Jansen 5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Was ist Recrutainment bzw. was ist Gamification in der Personalgewinnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Was ist die Zielsetzung von Gamification in Online-Assessments? . . . . 5.4 Zum besseren Verständnis: Zwei Bereiche und vier grundlegende Klassen von Gamification in Online-Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Was sind Serious-Gamified-Assessments und wie sehen sie aus? . . . . . 5.5.1 Anwendungsbeispiel: JobCheck der DPDHL . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Anwendungsbeispiel: Online Allianz Campus . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Was sind Surreal-Gamified-Assessments und wie sehen sie aus? . . . . . 5.6.1 Anwendungsbeispiel: PlayAssess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Was sind Psychometric-Games und wie sehen sie aus? . . . . . . . . . . . . . . 5.7.1 Anwendungsbeispiel:Solvebei McKinsey . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.2 Anwendungsbeispiel:Cognify . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8 Was sind Video-Games und wie sehen sie aus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8.1 Anwendungsbeispiel: Project M und Richie’s Plank Experience als Virtual-Reality Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9 Wie ist der Forschungsstand hinsichtlich Gamification in Online-Assessments? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Virtual Reality in Personalauswahl und Personalentwicklung . . . . . . . . . . . Ina Vollendorf und Maximilian Jansen 6.1 Was ist VR und welche Technologien gibt es? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Wie können die aktuellen Technologien genutzt werden? . . . . 6.2 Anwendungsbereiche in der Personalauswahl und -entwicklung . . . . . . 6.3 Welche Potenziale gibt es in Bezug auf zukünftige VR/ AR-Nutzung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 VR- und AR-basierte Einstellungstests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Remote- Einstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Daten- und analysegestützte Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4 Personalisierte Karrierepfade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Fallbeispiel: Exploration eines VR-unterstützten Assessment Centers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personaldiagnostik neu gedacht – Integrative digitale Ansätze bei der Auswahl von Führungskräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Momme Jürgensen, André Findeisen und Christian Dries 7.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Grundlagen der KI.PAT Technologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7.2.1 Anforderungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Aktivierung und Einsatz von Online-Tests . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Auswahl von Übungen und Interviewfragen . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Durchführung des Development Centers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Durchführung anlegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Durchführung starten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3 App für Beobachtende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.4 Durchführung aktiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.5 Perspektive Teilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.6 Perspektive Beobachtende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.7 Perspektive Teilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.8 Konferenzansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.9 Feedbackgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.10 Dokumentation der Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Potenzialanalysen im Rahmen von Online-Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Jung-Gehling 8.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Nutzen von Potenzialanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Potenzialanalysen als Online-Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Praxisbeispiel einer risikofreien Potenzialanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.1 Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2 Lösungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.3 Entwicklung und Implementierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.4 Ergebnis und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Psychologische Wirkmechanismen gelungener Potenzialanalysen . . . . . 8.5.1 Akzeptanz von eignungsdiagnostischen Verfahren und Feedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.2 Motivation der Mitarbeitenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Handlungsempfehlungen für Potenzialanalysen im Rahmen von Online-Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Automatisierte Videointerviews: Künstlich intelligent, aber fair? . . . . . . . . Franziska Leutner und Nathan Mondragon 9.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Algorithmic Transparency: Wie bewertet KI Interviews? . . . . . . . . . . . . 9.2.1 Ad 1. Sprache in Text umwandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2 Ad 2. Kontext und Sätze verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.3 Ad3. Bewertung der Interviewantworten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
139 140 141 142 143 143 144 145 146 146 147 148 149 151 151 153 154 154 155
Inhaltsverzeichnis
9.3
Wie werden KI-Modelle Fair? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.1 Ad 1) Bias in Trainingsdaten minimieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.2 Ad 2) Bias im KI-Modell minimieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Der Nächste Schritt: KI für verbesserte Fairness und Validität . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 KI-Unterstützung bei der digitalen Personalauswahl – Eine Fallstudie im Unternehmer-Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hannah Kiesow-Berger, Michael Fell, Fred Philippy und Elias Steiner 10.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Methoden und Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.1 Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.2 Zortify Persönlichkeitsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.3 Zortify Persönlichkeitskonstrukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.4 Natural Language Processing (NLP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.5 Über Zortify und Uncap . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.6 Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.7 Analyse der Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.8 Implementierung der wissenschaftlichen Berechnungen . . . . . . 10.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.1 NLP-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.1 Limitationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Neue Wege im Development Center – Prozessinnovation und neue methodische Ansätze am Beispiel des Führungsraums der Westnetz GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anna Fliegel, Martina Dominiak und Michael Paschen 11.1 Ausgangssituation für die Neuentwicklung einer Development Center Lösung bei der Westnetz GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Prinzipien für die Konzeption des Führungsraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.1 Vertrauen statt Zweifel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.2 Reflexion auf Augenhöhe statt Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.3 Verantwortung statt Verordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.4 Teilnehmende als Kunden und nicht als „Prozessbetroffene“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.5 Digital statt Papier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Innovative Lösungen auf Basis unserer Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.1 Freiwilligkeit der Teilnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.2 Caretaker statt Beobachter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XV
156 156 157 158 160 163 163 165 165 165 165 167 167 168 168 169 170 172 173 174 175 175
179
179 181 181 182 182 182 183 183 184 185
XVI
Inhaltsverzeichnis
11.3.3 Individualisierung auf Basis von Selbstverantwortung . . . . . . . 11.3.4 Ergebniszusammenfassung durch die Talente und Buddy-Feedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.5 Digitale Durchführungsunterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Unser Fazit zum Führungsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Blindflug & Gießkanne vs. Data-Driven & Individuell: Die Revolution von Employee Experience . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carmen Elisabeth Lobbe, Katharina Lochner und Hendrik Schossau 12.1 Employee Experience (EX) positiv gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Interne Einflussfaktoren auf EX: Faktoren des subjektiven Erlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Externe Einflussfaktoren auf EX: Die Kontextfaktoren . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Das Welliba Model . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5 Wirkungen einer positiven EX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5.1 Wie sich EX messen und managen lässt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.6 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.6.1 Limitationen und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.6.2 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Am Puls der Zeit statt Pulse Survey – Kontinuierliche Messung von Employee Experience . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Achim Preuss, Maximilian Jansen und Richard Justenhoven 13.1 Employee Experience . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1.1 Latent State-Trait Theory . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1.2 Job Demands Resources . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Startpunkt Mitarbeiterbefragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Welliba Employee Experience Messmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3.1 CadaMint . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3.2 App-Gestaltung und Nutzerverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4 Employee Experience und Arbeitsleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5 Employee Experience und Business KPIs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.1 Wie wirkt sich die Employee Experience von Mitarbeitern auf Organisationen aus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.2 Das Welliba Business Outcome Model . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 360° Feedback-Varianten für faire Potenzialkonferenzen und ein effektives (Selbst-) Coaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Holtmeier und Inga Mertin 14.1 Messen und regelmäßige Feedbackschleifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186 190 192 192 195 198 199 201 205 205 205 210 212 212 214 217 217 218 218 219 221 222 224 226 230 230 231 233 233 239 239
Inhaltsverzeichnis
14.2 Hintergrund und Status-Quo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.1 Die ewige Streitfrage: Was passiert mit den Ergebnissen? . . . . 14.2.2 Die Herausforderer: Instant Feedback, Always-On Feedback und Ongoing Feedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.3 Auch aus Gründen der Fairness: Viele Quellen sind besser als nur eine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3 Praxisbeispiel 1: Faire Potenzialkonferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.1 Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.2 Beschreibung von Tool und Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.4 Praxisbeispiel 2: Ongoing Feedback für ein effektives (Selbst-) Coaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.4.1 Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.4.2 Beschreibung von Tool und Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.5 Ausblick auf die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.5.1 Gamification für mehr Feedback-Qualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.5.2 Wann ersetzt Künstliche Intelligenz den Coach? . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Für Lernende Organisationen braucht es lernende Personalentwickler . . . Alina Siemsen 15.1 Unser Ziel: Eine Lernende Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2 Unsere Aufgaben: Das Business der L&D . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2.1 Unsere damaligen Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2.2 Die heute benötigte Transformation der L&D . . . . . . . . . . . . . . 15.3 Unser To Do: Eine lernende L&D aufbauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4 Unsere Praxis: Lernende L&D in der Otto Group . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richard Justenhoven und Klaus Stulle
XVII
240 240 242 243 244 245 246 251 251 253 255 256 257 259 263 264 266 266 267 275 276 280 281 285
1
Einleitung Klaus Stulle
Bevor die verschiedenen Autorinnen und Autoren mit ihrer individuellen Sichtweise und ihren jeweiligen Instrumenten zu Wort kommen, soll als Einführung eine kleine Übersichtsdarstellung nicht fehlen. Diese beschäftigt sich zunächst einmal mit den möglichen künftigen Lösungen, die in diesem Buch höchstens ansatzweise oder noch gar nicht präsentiert werden können. Diese Beschreibung bedeutet dann einerseits einen visionären Blick „in die Glaskugel“ – einschließlich der damit verbundenen Unschärfen und Ermessensspielräume. Andererseits basieren die Überlegungen keineswegs auf reiner Fiktion oder Spekulation, sondern auf der konsequenten Fortführung bereits bestehender Ansätze, zum Teil ja schon detailliert hier im Buch beschrieben. Daher wird bei den einführenden Überlegungen dabei auf Produktnamen oder Herstellerfirmen sowie auf im rein wissenschaftlichen Kontext unverzichtbare Literaturangaben bewusst verzichtet. Um die hier angestrebte Metaperspektive abzurunden, soll aber nicht nur darüber reflektiert werden, was voraussichtlich oder zumindest möglicherweise kommen wird. Zur Vollständigkeit gehören abschließend einige Überlegungen dazu, was auch im Zeitalter einer „Personalauswahl 4.0“ Geltung behalten und bleiben wird. Eine ähnliche Darstellung findet sich auch bei Stulle (2023, i.D.) in H. Steiner (Hrsg.): Online-Assessment. Heidelberg: Springer.
K. Stulle (B) Hochschule Fresenius, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. P. Stulle und R. T. Justenhoven (Hrsg.), Personalauswahl 4.0, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42142-7_1
1
2
1.1
K. Stulle
„Personalauswahl 4.0“: Was kommt?
Unter der Bezeichnung „Industrie 4.0“ werden momentan ebenso „trendy“ wie wenig trennscharf die Summe der Veränderungen in der Arbeitswelt zusammengefasst, die dann oft mit dem ebenfalls diffusen Begriff der „Digitalisierung“ ergänzt werden. Angelehnt daran soll in der Folge der Begriff der „Personalauswahl 4.0“ als Sammelbegriff für die Eignungsdiagnostik im „digitalen Zeitalter“ verwendet werden. Diese Epoche hat spätestens mit der weltweiten Verbreitung des Internets bereits vor ca. zwei Jahrzehnten begonnen, setzt sich aber noch auf absehbare Zeit mit steigender Dynamik weiter fort. Und um den betrachteten Verfahren eine möglichst konkrete Struktur zu geben (ungeachtet möglicher Überlappungen), soll dazu folgende Unterteilung vorgenommen werden: • Verhaltens-basierte Verfahren (Fremdbeurteilung) • Fragebogen-basierte Verfahren (Selbstauskunft) • Interview-basierte Verfahren (Mischung aus Selbstauskunft und Fremdbeurteilung)
1.1.1
Verhaltens-basierte Verfahren (Fremdbeurteilung)
Bereits bei der Verhaltensbeobachtung entlang der Assessment Center Methodik lässt sich jede Menge an Digitalisierungsaktivitäten beobachten. Dabei werden sich die bisherigen Entwicklungen mit Sicherheit in ganz unterschiedlichen Bereichen fortsetzen und dabei an Relevanz gewinnen. Dazu sollen hier einige besonders relevante Beispiele aufgeführt werden: Digitale AC-Tools für Präsenzdurchführung Diese Form der Technologie – meist als speziell konfiguriertes Tablet – ersetzt zunächst einmal die zuvor übliche Beobachter-Papiermappe. Auch Teilnehmer-Unterlagen können zunehmend in rein digitaler Form zur Verfügung gestellt werden. Komplexe Übungen wie Fallstudien werden dabei datengeschützt bzw. kopiersicher zeitlich begrenzt ausgehändigt und können nur im Tablet bearbeitet werden, beispielsweise für die Ergebnispräsentation. Dazu kommen Vorteile, wenn das Tablet in Rollenspielen als Kamera für Feedbackzwecke zur Aufzeichnung und anschließend als Abspielgerät verwendet werden kann. Aufwändigere Programmierungen beinhalten dann direkt noch einen dynamischen, also an Veränderungen angepassten Zeit- bzw. Raumplan und damit verbunden feste Zeitfenster zur Vorbereitungszeit von vor-definierten Übungen, beispielsweise Gesprächssimulationen. Zusätzliche technische Anforderungen ergeben sich, wenn vor Ort alle Endgeräte über ein datengeschütztes (!) WLAN-Netzwerk miteinander gekoppelt werden. Dann können die oben genannten Zeitplananpassungen gezielt administriert werden. Dazu werden die
1 Einleitung
3
einzelnen Protokolle der Beobachter („Beo-Bögen“) direkt schnurlos erfasst und in einer Gesamtmatrix aggregiert. Auch wenn solche Systemlösungen im Detail weiterhin Optimierungsmöglichkeiten bieten, kann die von vielen Anbietern bereits heute angebotene Gesamtlösung in wesentlichen Aspekten als ausgereift gelten. Sie weist dann – ohne sonderliche Nachteile – eine ganze Reihe von Vorzügen auf wie „Zeitgemäße Anmutung“, „Gesteigerte Flexibilität“ sowie „Materialersparnis beim Papierdruck“. Andererseits bestehen die besonders kraftvolleren Veränderungen der Zukunft zum Beispiel aus: Speziell digitale Übungsformate Durch IT-Unterstützung lassen sich klassische Übungsformate weiter entwickeln. Zum Beispiel basierten typische Rollenspiele als Gesprächssimulation in der Vergangenheit üblicherweise auf einer Instruktion, in der eine bestimmte Ausgangslage, aber auch insbesondere der kommende Gesprächspartner verbal beschrieben wird: „Herr Meier war in der Vergangenheit ein stets motivierter Mitarbeiter, doch momentan scheint seine Leistungsbereitschaft nachgelassen zu haben…“. Viel realitätsnäher dürfte es aber sein, das Verhalten des Mitarbeiters zunächst zu beobachten und daraus selbständig und eigenverantwortlich zu schlussfolgern, dass möglicherweise seine Arbeitsmotivation samt Leistungsbereitschaft nachgelassen hat. Vielleicht gibt es ja auch andere Gründe für das Verhalten des Mitarbeiters Meier als AC-Gesprächspartner? Insbesondere für konkrete Konfliktsituationen kann es sich also anbieten, statt einer ausformulierten Instruktion ein Video zu zeigen, indem das konkrete Verhalten des Mitarbeiters gezeigt wird, das dann als Grundlage für die Gesprächssimulation thematisiert werden soll. Weitere Möglichkeiten für speziell digitale Übungsformate ergeben sich aus Fallstudien, die eine komplexe Simulation eines möglichen Geschäftsalltags darstellen. Hiermit lassen sich dann Gesprächssituationen mit analytischen Aufgaben samt Ergebnisdarstellungen verknüpfen. Dabei werden die verschiedenen Übungstypen oft im Sinne eines „dynamischen ACs“ durch eine durchgängige Rahmenhandlung miteinander verknüpft. Dazu ergeben sich weitere digitale Opportunitäten durch eine: Digitale-dezentrale Durchführung in Echtzeit Klassische Assessment Center Verfahren – sowohl als Gruppen- als auch als Einzeldurchführung waren stets mit erheblichen Reiseaufwänden samt Hotelkosten verbunden. Daher bieten sich für alle Beteiligten rasch ganz offensichtliche Vorteile, wenn die Beurteilung nicht mehr im gemeinsamen Raum stattfinden muss, sondern jeweils dort, wo sich die Akteure momentan befinden. Dies kann dann entweder für alle Beteiligten de-zentral erfolgen, oder auch nur für einzelne Beobachter, die sich dazu digital „einwählen“. Wenn sich hingegen die Teilnehmenden digital zusammenfinden, sind sogar de-zentrale Gruppen-Assessments möglich. Allerdings lässt die Häufigkeit solcher Verfahren im Vergleich zur IndividualBeurteilung ohnehin immer weiter nach, dabei lange nicht allein aus technischen Gründen,
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sondern vielmehr, um Kandidaten ein unmittelbares, gegenseitiges „Kräftemessen“ – zum Beispiel im Rahmen einer führerlosen Gruppendiskussion – zu ersparen. Maßgeblich aus Effizienzüberlegungen kann die de-zentrale AC-Durchführung als fortschrittlich betrachtet werden. Andererseits werden im Vergleich mit der [fast?] ausschließlich vorteilhaften Digitalisierung der AC-Unterlagen ganz offensichtliche Nachteile deutlich: Das Gruppenerleben als „Teamgeist“ bleibt auf der Strecke, persönliche Begegnungen – zum Beispiel im Rahmen einer Abendveranstaltung – entfallen, wodurch auch die von den Teilnehmenden wahrgenommene Wertschätzung seitens der als Beobachter involvierten Führungskräfte Schaden nehmen kann. Insofern müssen Entwicklungsschritte in diese Richtung als eher ambivalent eingeschätzt werden. Gleichwohl wird allein die Option auf eine (Teil-) de-zentrale Durchführung der AC-Methodik als solcher Vorschub leisten, insbesondere bei einer: Digitale-dezentralen Durchführung zeitversetzt Gerade wenn – mit guten Gründen – hochrangig-seniore Beobachtende für eine ACBewertung gewonnen werden sollen, stehen solche Executives oft unter erheblichem Termindruck. Guter Wille, sich für Potenzialbeurteilung und Talent Management bis hin zu Auswahlentscheidungen aktiv einzubringen, dürfte bei dieser Zielgruppe in den meisten Fällen erwartet werden können. Aber klassisch-analog bedeutet es erheblichen Aufwand, sich für eine oft tagelange Veranstaltung – möglicherweise auch noch an einem gemeinsamen Ort – zu verpflichten. Alternativ dazu können sie sich aber durch die digitale Durchführung zeitversetzt einen Eindruck über die „AC-Performance“ eines oder mehrerer Teilnehmer verschaffen – und dann auch eine eigene Bewertung beisteuern. Dieses Angebot dürfte für viele Business- und HR-Manager als ausgesprochen attraktiv gelten, ungeachtet der schon für die Echtzeit-Bedingung oben aufgeführten Nachteile. Zu befürchten ist dabei allerdings, dass etliche Übungen dann nicht mehr in Gänze, also von vorne bis hinten, betrachtet werden, sondern nur noch mehr oder weniger systematisch, also meist eher oberflächlich ausgewählte Teile. Aber der Beliebtheit beobachterseitig dürfte dies keinen Abbruch tun! Digitale Buchungsplattformen Eine ganz andere Digitalisierungsmöglichkeit besteht darin, den – in der Praxis regelmäßig ausgesprochen aufwändigen – Buchungs- und Konzeptionsprozess möglichst konsequent zu digitalisieren, also ein Stück weit zu automatisieren. Dazu können zum Beispiel bestimmte Kompetenzen ausgewählt werden, idealerweise angelehnt an ebenfalls standardisierte Kompetenzmodelle. Daraus kann sich entlang einer Übungsbibliothek die jeweilige Konfiguration an Übungen ergeben. Auch die oft leidige Terminfindung lässt sich damit optimieren, indem Beteiligte vordefinierte Verfügbarkeiten mit ihrem eigenen Kalender abgleichen. Zweifellos kann eine solche Plattform dann mit den oben genannten Möglichkeiten bei der Digitalisierung der Unterlagen oder der Prozessdurchführung kombiniert werden, sodass das ganze Verfahren zunehmend „aus einem Guss“, also einer gemeinsamen digitalen Plattform wahrgenommen wird.
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Fragebogen-basierte Verfahren (Selbstauskunft)
Neben den im vorausgegangenen Abschnitt betrachteten verhaltensbasierten Verfahren als Fremdbeurteilung findet sich auch viel Digitalisierung rund um die Psychometrie. Dass dabei bewährte psychologische Testverfahren nicht mehr im „Papier-Bleistift-Modus“ durchgeführt und dann per Schablone – ggf. mit Scanner-Unterstützung – ausgewertet werden, ist schon lange zur beruflichen Praxis geworden. Auch die Internet-basierte Testdurchführung gilt schon seit Jahren als unbestrittener Königsweg, deren Vorzüge hier noch einmal rasch herausgestellt werden sollen: Der Teilnehmende kann sich zum Zeitpunkt seiner Wahl, also „24/7“ und dazu de-zentral vom Ort seiner Wahl einwählen, notfalls auch mit Unterbrechungen zur Durchführung zurückkehren. Er wird das Verfahren damit als zeitgemäß und kundengerecht wahrnehmen, insbesondere, wenn mehrere Sprachversionen eine Durchführung in seiner Muttersprache ermöglichen. Auch die Testprovider bzw. die anwendenden Unternehmen haben sich längst an die üblichen Vorteile der Online-Durchführung gewöhnt: Sie können zwischen einer Vielfalt an Tests auswählen und sich eine Testbatterie „nach Wunsch“ zusammenstellen [lassen], idealerweise entlang des jeweiligen Anforderungsprofils. Die Tests können dann dezentunauffällig in die Bewerbungsportale des jeweiligen Unternehmens eingebaut werden, oft noch in einer an das jeweilige Corporate-Design angepassten Darstellungsweise („Customizing“), wodurch der „Medienbruch“ innerhalb der verwendeten Serverlandschaft unkenntlich gemacht wird. Im Gegensatz zur Papier-Bleistift-Durchführung lassen sich neben den reinen Ergebnis-Rohwerten oft weitere hilfreiche Parameter miterfassen wie Bearbeitungsgeschwindigkeit oder Auto-Korrekturen. Oft wird dann auch direkt die Reliabilität der jeweiligen Testbearbeitung angezeigt, was alles zusammen Hinweise auf die Ernsthaftigkeit der Testdurchführung ermöglicht. Dazu kommen dann Wahlmöglichkeiten bei der Verwendung der präferierten Ergebnisskalen (Prozentrang, Stanine (= 1–9), STEN (= 1–10) oder andere). Noch relevanter aber dürfte die Wahl zwischen zielgruppengerechten Normgruppen als Vergleichsmaßstab sein bis hin zur digital dankbaren Aufgabe, sich direkt eigene, also kundenspezifische Normen generieren zu lassen. Die Online-Durchführung samt der anschließenden „Black-Box Auswertung“ führt also zu einer ausgeprägten Bequemlichkeit für Probanden und Anwender. Damit sollte mit einer zunehmenden Verbreitung selbst im „Testmuffel-Land Deutschland“ gerechnet werden können. Ganz am Rande erwähnt werden soll hier noch der Hinweis, dass für die Testanbieter aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten die übliche Online-Durchführung samt der personenbezogenen Abrechnung viel lukrativer ist, als sich wie früher für +/−200,-e einmalig in einer Testzentrale ein Verfahren zur unbegrenzten Nutzung zuzulegen und anschließend das erforderliche Verbrauchsmaterial am Kopierer zu multiplizieren. Diese – maximal komprimierte – Zusammenfassung der unbestrittenen Vorteile von Online-Tests soll aber auch ergänzt werden durch die auch weiterhin damit verbundenen Herausforderungen, die bislang bestenfalls in Teilen überwunden werden konnten:
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Online-spezifische Herausforderungen kontrollieren Der vermutlich typischste Vorbehalt, der de-zentralen Online-Tests anstelle einer Vor-OrtDurchführung entgegen gebracht wird, lautet: „Woher weiß ich denn, wer letztlich den Test bearbeitet hat?“. Neben einem Verweis auf den unverzichtbaren Vertrauensvorschuss einem möglichen Bewerbenden gegenüber gibt es auch hierfür bereits gewisse technische Möglichkeiten wie „verpflichtende Kamera-Anwendung“, ggf. im Vergleich mit Bewerbungsfoto. Aber vermutlich sind alle Lösungen (z.B. auch ein individueller „elektronischer Fingerabdruck“ bei der Verwendung der Tastatur) weiterhin limitiert. Diese „Baustelle“ dürfte demnach auch in Zukunft eine echte Relevanz behalten! Damit einher gehen verwandte Herausforderungen wie „Wie schütze ich meine Test-Items gegen Bildschirmfotos?“ (→vermutlich überhaupt nicht), „Wie verhindere ich Anleitungen / Dokumentationen in einschlägigen Foren?“ (→vermutlich auch nicht) oder „Wie unterbinde ich die Verwendung technischer Hilfsmittel bei der Bearbeitung, z.B. Internet-Recherche?“ (→höchstens durch Zeitdruck). Dabei sollen diese Beispiele genügen, um zu vermitteln, dass sich Online-Testanbieter in einem permanenten „Katz‘-und-Maus“-Spiel bewegen, wenn sie sich technische Lösungen mit dem Ziel einer Verfälschungssicherheit einfallen lassen; Soziale Erwünschtheit bei Persönlichkeitsfragebögen kontrollieren Beschreibt sich der Proband bei der Bearbeitung eines Persönlichkeitsinventars ehrlich so, wie er sich selbst wahrnimmt? Oder zeigt er im Business-Kontext überwiegend die von ihm vermutete „Schokoladenseite“, so wie der Arbeitgeber es vermeintlich am liebsten haben könnte? Es sprengt den Umfang dieser Einleitung, auf die Fülle von kleinen und größeren Interventionen einzugehen, die mittlerweile zum Umgang mit einer möglichen Tendenz zur positiven Selbstdarstellung zur Verfügung stehen – gerade im Online-Modus. Gleichwohl ist diese Diskussion bei der Anwendung solcher Verfahren allgemein, insbesondere bei der „harten“ Personalauswahl, so alt wie die Instrumente selbst und damit – trotz der Gegenmaßnahmen – keineswegs aus der Welt geschaffen; Technische Herausforderungen überwinden Zum Bedauern der digitalen Testanbieter schafft der immense technologische Fortschritt nicht nur neue Möglichkeiten, sondern bringt auch einen kontinuierlichen Anpassungsdruck mit sich. Besonders plakatives Beispiel ist der offensichtliche Trend zu „Handheld-Geräten“, also sog. „Tablets“ und insbesondere Smartphones anstelle eines früheren Desktop-PCs oder zumindest eines Laptops / Notebooks mit größerem Bildschirm. Nicht nur das Format der Darstellung ändert sich dadurch signifikant von quer auf hochkant, die Bildschirminhalte müssen auch zwangsläufig viel stärker komprimierter werden. Somit bleibt für wortreiche Instruktionen oder differenzierte Matrizen-Items bzw. Würfel-Dreh-Aufgaben allein schon optisch nur noch beschränkter Raum. Auch die Bereitschaft zum möglichst raschen Wischen trägt nicht unbedingt zu einer ernsthaften Testbearbeitung bei. Grundsätzlich von Vorteil ist andererseits der Trend, dass Online-Tests mittlerweile in der Regel hardware-unabhängig ohne Installation einer Bearbeitungsplattform auf dem Endgerät
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des Anwenders via Internet durchgeführt werden können. Aber im Detail ergeben sich rasch ernsthafte Herausforderungen durch den dort präferierten Browsertyp samt der sich rasch ändernden Versionsnummern. Dies wiederum verpflichtet die Provider zu ständigen Anpassungen, denn eine Fehlermeldung „Der vorgesehene Test läuft leider auf ihrem Gerät nicht…“ sollte auf jeden Fall vermieden werden; Barrierefreiheit gewährleisten Für bestimmte Zielgruppen, beispielsweise für die Personalauswahl im Öffentlichen Dienst ist das Stichwort „Barrierefreiheit“ von großer Bedeutung. Menschen mit körperlichen und / oder geistigen Einschränkungen wie beispielsweise einer Sehbehinderung müssen – auch aus juristischen Gleichstellungserwägungen – die gleichen Testbedingungen geboten werden wie den übrigen Mitbewerbenden. Diese Anforderung kann im Detail sehr rasch zur echten Bewährungsprobe des Verfahrens werden, zum einen, wenn der Grad der Behinderung operationalisiert werden muss, z.B. „Um wieviel Zeit genau muss eine faire Bearbeitungszeit verlängert werden?“ oder „Wie skaliert man die Darstellung für Sehbehinderte?“ und alles maximal in dem Umfang, dass dann auch die nicht-beeinträchtigten Bewerbenden sich ihrerseits nicht benachteiligt fühlen und schlimmstenfalls dagegen klagen. Diese – zweifelsohne unvollständige – Zusammenstellung sollte damit deutlich gemacht haben, welche Herausforderungen bei der Entwicklung und Durchführung von OnlineTestverfahren weiterhin zu beachten sind. Doch interessanter als der technische Status-Quo ist sicherlich die Frage, was denn zukünftig an Entwicklungen zu erwarten sein wird. Dazu auch hier ein paar Überlegungen: Kreative Itemformate Seit jeher ist ein psychologischer Test als solcher immer nur so gut wie Qualität seiner Items. Und wenn man vor diesem Hintergrund grundsolide und absolut bewährte Online-Verfahren wie den aktuellen MENSA-Test zur Überprüfung einer Hochbegabung (= IQ > 130 oder sogar > 140) betrachtet, erscheinen die dort verwendeten Itemformate wie Zahlenreihen oder Matrizenaufgaben zwar als durchweg bewährt, aber – bei allem Respekt – nicht wirklich innovativ. Schon Testpionier R.B. Cattell hatte sich seinerzeit für sog. „culture-fair tests“ eingesetzt, die möglichst sprachfrei auskommen. Die damit verbundenen Testaufgaben wie das klassische Würfeldrehen oder die „Tangram-ähnlichen“ Puzzlestücke zum räumlichen Verständnis wurden schon in frühen Intelligenztests wie dem Ursprungs-Intelligenzstrukturtest von Amthauer verwendet und seither bestenfalls weiter modifiziert. Daher besteht die eigentliche Herausforderung an innovative Testverfahren, originelle und gleichzeitig valide Itemformate zu entwickeln, jenseits der gängigen Traditionen, bestenfalls in Kombination mit:
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Gamification Die Anforderungen an eine solide Testkonstruktion gelten auch weiterhin. Andererseits sind die Zeiten definitiv vorbei, in denen mehr als 560 Items in einem einzelnen Persönlichkeitsfragebogen erhoben („MMPI“) oder gewissenhaft in einstündiger Bearbeitung 32 Eigenschaftsdimensionen im erweiterten Paarvergleich erfasst wurden („OPQ)“. Aus Personalmarketingerwägungen müssen zeitgemäße Testverfahren mit möglichst wenig, idealerweise gänzlich ohne Instruktionen auskommen, also maximal selbsterklärend. Damit einher geht der Wunsch nach einer sog. „Gamification“, der Test soll möglichst spielerisch wahrgenommen und bearbeitet werden, die Aufgaben sollen nicht als Pflichtaufgabe erscheinen, sondern Spaß machen, idealerweise zu einem [Mini-]-Flow führen; Situational Judgement Tests / Serious Games Durchaus verwandt mit der zuvor vorgestellten Forderung nach einer spürbaren „Gamification“ von Tests sind die sog. „Situational Judgement Tests“, die stärker als eher abstrakte Problemlöseaufgaben in Intelligenztests durch einen Verhaltensbezug gekennzeichnet sind. Oft geht es hierbei dann darum, in einer bestimmten Situation zwischen verschiedenen Verhaltensalternativen auszuwählen und sich für die am besten Geeignete zu entscheiden. Grundsätzlich bietet dieses Testparadigma jede Menge Potenzial und kann sogar als eine Art „Brücke“ zwischen der Psychometrie („Selbstauskunft“) und Verhaltensbeobachtung („Fremdbeurteilung“), beispielsweise im Assessment Center, verstanden werden. Aber zumindest in der Vergangenheit konnten sich etliche dieser Verfahren im Markt noch nicht wirklich durchsetzen, auch wegen der oft reduzierten Komplexität bei der Auswahl von vorgegebenen Verhaltensoptionen samt der Vorhersehbarkeit der „richtigen Antwort“ als Wunschverhalten. Aber wenn solche Limitationen zukünftig überwunden werden, ist für diese Art von „Hybridformaten“ wertvoller Erkenntnisgewinn zu prognostizieren. Verwandt mit den „Situational Judgement Tests“ (und bedauerlicherweise ebenfalls stets mit englischen Begriffen belegt) sind die sog. „Serious Games“. Darunter versteht man eine eher offene gehaltene Testaufgabe in einem virtuellen Szenario, in dem sich der Bearbeitende möglichst selbständig-ungeleitet bewegt. Ähnliche Settings wurden bereits vor Jahren zunächst einmal als reine Computerspiele entworfen und erst in der Folge für psychodiagnostische Zwecke übernommen. Auch hierfür ist eine Menge Potenzial zu erwarten, aber auch noch typische Herausforderungen im Wege, zum Beispiel die Parametrisierung bzw. die Bewertung des jeweils verwendeten Lösungsverhaltens. Auch kann der Entwicklungsaufwand für ein solches Szenario – je nach Anspruchsniveau – als durchaus ambitioniert gelten; Innovative Persönlichkeitsmodelle Durch die gesamte Persönlichkeitsforschung zieht sich seit 100+ Jahren der Expertenstreit, ob eher möglichst differenziert zwischen vielen Einzeleigenschaften („Traits“) unterschieden werden soll oder wenige Typen rascher einen Überblick ermöglichen. Die entsprechenden Fragebögen zu den Trait-basierten Verfahren ermittelten dann beispielsweise
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16-Persönlichkeitsfaktoren bei Cattell’s „16-PF“, 17 Skalen beim aktuellen „Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung“, kurz BIP, oder direkt 32 mit dem „Occupational Personality Questionnaire“ von SHL, 45 mit dem „Talent-Q“ (zwischenzeitlich von Korn/Ferry vertrieben) oder sogar 54 bei SOVA Assessments. Zusammengefasst reduziert wurde die Persönlichkeit dann oft auf die großen sog. „Big-Five“ (Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus), zunehmend in Konkurrenz zum moderneren „HEXACO-Modell (Honesty-Humility – EhrlichkeitBescheidenheit, Emotionality – Emotionalität, Extraversion, Agreeableness – Verträglichkeit, Conscientiousness – Gewissenhaftigkeit und Openness to Experience – Offenheit für Erfahrungen). Für diese hier nur beispielhaft aufgeführten Verfahren gibt es schon seit Längerem Online-Versionen, die zum Teil auch gezielte „Kurzzeitdurchführungen“ mit nur wenigen, besonders ausgewählten Items ermöglichen sollen. Alternativ dazu bieten Typen-basierte Verfahren ebenfalls online-basierte Bearbeitungsmöglichkeiten für klassische Persönlichkeitsmodelle wie dem „Myers-Briggs-Type Indicator“ (MBTI) samt modernerem „Golden Profiler of Personality“ (GPOP) oder dem DISG entlang von vier Grundverhaltenstendenzen, um auch hier nur einzelne Beispiele zu nennen. Insgesamt also ein saturierter Markt bei den Persönlichkeitsfragebögen, worin können da noch echte Innovationen liegen? Trotz der bekannten „Dauerbrenner“ findet sich in diesem Bereich noch eine Menge Potenzial für Alternativen, um besonders relevante und auch neuartige Persönlichkeitsmodelle zu erfassen. Nicht mehr wirklich neu, aber weiterhin und vermutlich mehr denn je „hipp-angesagt“ ist die Erfassung der sog. „Dunklen Triade“. In etwa vergleichbar mit dem „Derailment-Konzept“, das auch auf mögliche „Entgleisungsrisiken“ hinweist, werden hierin Narzissmus, Machiavellismus und (subklinische) Psychopathie erfasst. Insbesondere in Führungsverantwortung kann von Menschen mit hoher Ausprägung in diesen Bereichen eine große Gefahr für Unternehmen und Belegschaft ausgehen, allerdings regelmäßig in Kombination mit einer großen Strahlkraft bis hin zum Charisma samt ausgeprägter Leistungsbereitschaft und Erfolgshunger. Insofern erweitern (digitale) Persönlichkeitsfragebögen zu solchen Eigenschaften die Möglichkeiten für eine weiterhin arbeitsplatzbezogene Personaldiagnostik, ohne auf das für diesen Zweck bedenkliche Instrumentarium der klar klinisch orientierten Instrumente zurück zu greifen. Einzelne Anbieter verfolgen mit der sog. „Hellen Triade“, bestehend aus generalisiertem Optimismus, Selbstwirksamkeit und Resilienz, eine Kombination an Persönlichkeitseigenschaften, die einen besonderen Wert für die unternehmerische Gestaltungskraft der Person im positiven Sinne aufweisen soll. Die hierfür verwendeten Tools greifen dabei auf die Technologie zurück, die möglicherweise als am stärksten zukunftsträchtig rund um Digitalisierung allgemein angesehen wird (dabei aber auch regelmäßig falsch bzw. überinterpretiert…), nämlich die
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Künstliche Intelligenz / Artificial Intelligence und Machine Learning Künstliche Intelligenz, oft mit „KI“ oder englisch „AI“ abgekürzt, führte „made in Germany“ im Kontext von Eignungsdiagnostik lange Jahre ein Schattendasein. Umso mehr Aufmerksamkeit zogen dann zu Beginn der Entwicklungsarbeit einzelne Anbieter auf sich. Doch neben einem wirklich fulminanten Medienecho entwickelte sich gerade in der Fachwelt ein regelrechter „Shitstorm“ gegenüber dieser Technologie, deren Validität bzw. Aussagefähigkeit in Frage gestellt wurde. Im Zuge dessen ging der deutschland-basierte Pionieranbieter wirtschaftlich in die Knie, wobei die dort entwickelte Technologie mittlerweile an anderer Stelle weitergeführt und -entwickelt wird. Mit dem Anspruch, KI zu verwenden, treten heutzutage in Deutschland gleich mehrere Unternehmen an, dabei oft deutlich vorsichtiger als das finanziell gescheiterte Vorzeigeunternehmen aus Aachen. Ein Merkmal dabei besteht darin, dass die Eignungsdiagnostik mittels KI nicht rasch „verabsolutiert“, sondern noch durch einen konventionellen Persönlichkeitsfragebogen begleitet und damit auf eine breitere Basis gestellt wird. Außerdem scheint sich insgesamt in der Branche die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass die gesprochene Sprache für eignungspsychologische Zwecke zunächst einmal nur wenig auswertbare Informationen in sich trägt. Diesbezüglich deutlich relevanter hingegen ist die Analyse der geschriebenen Sprache, die zuvor erst manuell und später automatisiert transkribiert werden musste. Wenn ein solche Freitext im erforderlichen, meist gut überschaubaren Umfang vorliegt, ist der Computer tatsächlich in der Lage, bestimmte Muster zu erkennen und damit Rückschlüsse auf psychologische Wirkweisen nach außen oder auf Persönlichkeitseigenschaften zu ermöglichen. Der besondere Vorteil dieser Methode liegt dann in der Objektivität der Auswertung, die gänzlich maschinell ohne Beobachtereinfluss erfolgt. Sie basiert allerdings auf der Annahme, dass der zugrunde liegende Freitext tatsächlich rein intuitiv ohne soziale Anpassungstendenzen erstellt wurde. Dabei scheint sich momentan abzuzeichnen, dass die elektronische Auswertung wirklich lernfähig ist und zunehmend an Präzision gewinnt. Die Frage, wie man Probanden zu möglichst unbefangenen, persönlichen Freitexten motiviert, kann aber noch nicht als geklärt gelten. In diesem Zusammenhang soll dann aber auch noch rasch darauf hingewiesen werden, dass – zumindest je nach Definition – der Begriff „Künstliche Intelligenz“ als reichlich vollmundig wahrgenommen werden kann, weil sich die dahinter liegenden Systeme einer menschlichen Intelligenz nicht wirklich annähern. Zutreffender und damit auch eine Spur ehrlicher ist die Bezeichnung „Machine Learning“, weil die Algorithmen durch zunehmende Datenmengen tatsächlich „dazulernen“ und zumindest immer präzisere Voraussagen ermöglichen. Diese basieren dann aber weiterhin stets auf einer bestmöglichen Passung zu ursprünglich eingespeisten „Lernprofilen“, im Prinzip findet also stets [nur] eine multi-faktorielle, viel-dimensionale Mustererkennung bzw. -Abgleichung statt.
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Interview-basierte Verfahren (Mischung aus Selbstauskunft und Fremdbeurteilung)
Ungeachtet aller Digitalisierungsfortschritte bei Online-Tests und in der AC-Methodik ist und bleibt das Interview als „Vorstellungsgespräch“ das mit weitem Abstand am häufigsten verwendete Verfahren der Eignungsdiagnostik, bestenfalls ergänzt durch die erstgenannten Techniken. Daher sollen auch hier die aktuellen und künftigen Möglichkeiten einer fortgesetzten Digitalisierung betrachtet werden: Digitale-dezentrale Durchführung in Echtzeit Maßgeblich intensiviert durch die Covid-19-Pandemie hat sich die gesamte Bürokommunikation hinentwickelt zu digitalen Kommunikationsplattformen. Insofern ist es nur naheliegend, dass auch Einstellungsinterviews mittlerweile – wie viele andere Gespräche auch – über gängige Video-Plattformen erfolgen. Die offensichtlichen Vorteile liegen dann rasch auf der Hand: Erhebliche Effizienzsteigerungen mangels Anfahrtszeiten und enge Taktung verschiedener Gesprächspartner. Im Gespräch selbst ist dann ein direkter Blickkontakt möglich, auch die Stimmmodulation wird mittlerweile technisch meist makellos übertragen. In Verbindung mit diesen Vorzügen lassen sich dann noch deutlich leichter als in Präsenz weitere Gesprächspartner mit dazuschalten, um ein wertvolles und wertschätzendes Mehr-Augen-Kennenlernen zu ermöglichen. Als nachteilhaft wird oft beschrieben, dass in digitalen Gesprächen kein ganzheitlicher Eindruck vom Kandidaten möglich wird, der Händedruck fehlt ebenso wie andere Körpersprachenelemente der Gestik. Das digitale Gespräch bleibt zwar trotz der zunehmenden Gewöhnung daran ein „künstliches Setting“ im Vergleich mit der natürlichen Begegnung. Doch ungeachtet dieser – durchaus relevanten – Nachteile werden ungezählte Interviews mehr denn je in Zukunft digital erfolgen. Doch wirklich relevant wird die damit verbundene Eignungsdiagnostik erst erweitert durch eine Digitale-dezentrale Durchführung zeitversetzt Diese Interview-Variante kann zwar nicht mehr als gänzlich neu gelten, beinhaltet aber weiterhin viel Innovationspotenzial. Der Grundgedanke besteht darin, dem sich Bewerbenden mindestens eine, in der Praxis meist mehrere, aber auch nicht allzu viele Fragen vorzugeben, auf die er oder sie verbal zu antworten hat. Diese Reaktionen werden dann als Kurz-Video aufgezeichnet und können zeitversetzt von einem oder mehreren Bearbeitern – meist Recruitern – gesichtet und bewertet werden. Vor dem Absenden bzw. Freischalten seines Videos wird dem Bewerber meist noch die Möglichkeit gegeben, sich sein Video selbst anzuschauen und möglicherweise erst noch eine neue Aufnahme vorzunehmen. Andere Plattformen legen Wert auf eine möglichst spontane Bearbeitung und lassen bewusst weniger Korrekturmöglichkeiten, was aber Bewerberseitig vermutlich eher auf Reaktanz stoßen dürfte.
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Der besondere Vorteil dieser Video-Aufzeichnung liegt in der zeitversetzten „24/ 7“-Durchführung auf beiden Seiten, sowohl beim Bewerber als auch beim Auswerter. Andererseits muss die Frage erlaubt sein, ob solche Video-Schnipsel tatsächlich als Interview im eigentlichen Sinne bezeichnet werden können. Schließlich fehlt hier komplett die Interaktion mit dem Gesprächspartner samt der Möglichkeit zu gezielten Rückfragen und Beziehungsaufbau. Andererseits können die Videofragen über die Bewerbungsplattform des Unternehmens in eine professionelle Selbstdarstellung der Organisation eingebunden werden, beispielsweise in Form eines virtuellen, ggf. 3D-Rundgangs durch die Firmenzentrale. Als besonders kreative Lösung lässt sich damit dann noch ein Planspiel mit bewerteten Antwortmöglichkeiten kombinieren, was dann wiederum in das anfangs geschilderte Portfolio an innovativen Testverfahren passt. Doch besondere eignungsdiagnostische Vorzüge ergeben sich dann erst noch durch: Digitalisierte Bewertungstools der Videoaufzeichnung Zeitversetzt, also nachträglich, ggf. aber auch schon parallel zur eigentlichen Gesprächsführung können digital geführte Interviews mit einem vorgegebenen Bewertungsraster verbunden werden, dann weitgehend vergleichbar mit ähnlichen Technologien für ACÜbungen. Es können Bewertungsdimensionen samt Skalen definiert werden, mit denen die Interview-Inhalte quantitativ beurteilt werden, qualitative Freitext- bzw. Kommentarfelder ergänzen die Eindrucksbildung. Sind mehrere Interviewer beteiligt, können sie solche Hinweise auch in einer Art Chatfunktion direkt während der Durchführung nutzen und zum Beispiel im Rahmen einer „Good cop – bad cop“-Rollenverteilung die Dynamik der Interviewführung untereinander steuern. Oder sie stimmen untereinander Themenfelder ab, die noch gesondert betrachtet werden sollen. Noch [deutlich!] weitreichendere Zukunftstechnologie ergibt sich bei Video-Interviews allerdings aus einer Automatisierten Auswertung von Mimik und Gestik Basierend auf Pionierarbeit von Ekman und Friesen hat die Erfassung von Körperbewegungen und insbesondere von Gesichtsausdrücken mittlerweile erhebliche Fortschritte gemacht. Insbesondere (ultra-)kurzzeitige Muskelbewegungen werden als meist unbewusster Ausdruck von Basisemotionen verstanden, die im Rahmen einer Mimikanalyse systematisch erfasst werden können. Dazu liegen schon heute sophistizierte Klassifikationsschemata vor, die gezielt verschiedene Gesichtsregionen unterscheiden, ergänzt durch deutlich gröbere Signale innerhalb der Körpersprache. Diesem zunehmend Beachtung findenden Bereich der systematischen Verhaltensbeobachtung gebührt allgemein-psychologisch jede Menge Respekt! Andererseits stellt sich sehr rasch die Frage, ob die damit gewonnenen Datenpunkte dem Zwecke der üblichen Eignungsbewertung wirklich dienlich sind. Denn zunächst einmal sind diese kurzfristig aufblitzenden Emotionen ja wenig dauerhaft. Und so kann es beispielsweise als ausgesprochen plausibel gelten, wenn bei der Frage nach beruflichen Misserfolgen
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auch in der Mimik eine Trauerreaktion erkennbar wird. Andererseits dürfte dem sich Bewerbenden kaum ein Vorwurf gemacht werden können, wenn ein solcher Gesichtsausdruck nicht bemerkt werden konnte, vielleicht wurde der Fehlschlag ja erfolgreich verarbeitet? Am ehesten relevant dürfte die Mimikanalyse werden können, wenn es um die Glaubwürdigkeitsbewertung von Interview-Aussagen geht, vergleichbar mit dem Physiologiebasierten Lügendetektor, der ja meist auf Signalen der Hautleitfähigkeit beruht. Ganz abgesehen von (erheblichen!) rechtlichen Einschränkungen: Schon beim Lügendetektor war die Psychologie an ihre Grenzen gestoßen, weil „geübte“ oder schlichtweg ignorante Lügner eben keine Aktivierungserhöhung bei Falschaussagen zeigen. Hingegen machten ehrlich Antwortende allein durch die Situation durch Stresssignale auf sich aufmerksam und wurden fälschlicherweise der Falschaussage bezichtigt. Und wenn es schon auf Grundlage immerhin ausgesprochen sensibel aufgezeichneter, konstanter Körpersignale maximal nur eingeschränkt möglich war, eine bewusste Falschaussage von einer ehrlich gemeinten Antwort zu unterscheiden, umso skeptischer muss die digitale oder Experten-basierte Auswertung von Gesichtsreaktionen bewertet werden: Kann ein kurzzeitiges Zucken wirklich zu einer handfesten Lüge auf eine Frage im Einstellungsgespräch hin generalisiert und interpretiert werden? Zumindest auf absehbare Zeit erscheinen Zweifel angebracht, die über vorsichtige Indizien hinausgehen, dass es der Bewerber mit der Wahrheit möglicherweise nicht ganz so genau nehmen könnte. Ganz bestimmt bleibt dieser Forschungsbereich ein äußerst schillerndes Forschungsgebiet; aber vermutlich noch relevanter werden dürfte die: Automatisierte Stimm- und Sprachanalyse Aus technischer Sicht kann das Verhalten des Bewerbers im Rahmen des Interviews mittlerweile problemlos aufgezeichnet werden (wenn die unverzichtbare Einwilligung des Bewerbers dazu vorliegt, verdeckte Aufzeichnungen dürften zumindest im westlichen Kulturkreis auf absehbare Zeit als juristisch gänzlich unangemessen gelten). Dabei spielt es an dieser Stelle keine Rolle, ob ein tatsächliches Gespräch stattgefunden hat, oder der Bewerber zeitversetzt seine Antworten auf Standardfragen übermittelt hat. Psychologisch besonders attraktiv kann es nun sein, diese Verhaltensprobe durch eine Stimm- und Sprachanalyse maschinell auswerten zu lassen. Die dazu erforderliche Technologie greift dann rasch auf ähnliche Möglichkeiten zurück, die in diesem Kapitel schon im Rahmen der Freitextanalyse bei psychometrischen Verfahren illustriert wurden. Die damit verbundenen Verlockungen können an dieser Stelle als ausgesprochen hoch angesehen werden. ABER: Ungeachtet der zum Teil erheblichen Entwicklungsbemühungen einschlägiger Anbieter (meist außerhalb Deutschland und jenseits des Atlantiks ansässig) konnten sich die bisherigen Lösungen [bislang?] nicht wirklich in der Praxis durchsetzen. Zum einen wiederholt sich auch hier, dass aus eignungsdiagnostischen Gesichtspunkten eine Analyse der Stimmakustik wenig Informationsgewinn bietet: Ob jemand laut oder leise, schnell oder langsam spricht, ermöglicht auch bei feinerer Auflösung der damit verbundenen Parameter einfach kaum Prognosen für den künftigen Berufserfolg, um direkt das zweifelsohne
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anspruchsvollste Ziel zu verwenden. Auch wenn die Transkription des gesprochenen Wortes in Schriftsprache technisch zwar zunehmend möglich, aber noch lange nicht trivial ist, bleibt die verbleibende Sprachanalyse auf absehbare Zeit eine echte Herausforderung für Programmierer, Linguisten und Psychologen. Anderseits dürfte gerade an dieser Stelle eine Intensivierung der Entwicklungsbemühungen zu erwarten sein, zu attraktiv ist schließlich das damit verbundene Marktpotenzial bei einem flächendeckenden Roll-out….
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„Personalauswahl 4.0“: Was bleibt?
Der vorausgegangene Abschnitt skizzierte den derzeitigen Stand der Digitalisierung im Rahmen der psychologischen Eignungsdiagnostik und sollte darauf aufbauend die künftigen Entwicklungslinien skizzieren: Wohin geht die Reise? Welche Produkte und Lösungen werden in Zukunft zu erwarten sein? Welche Änderungen ergeben sich daraus für die bisher gängigen Prozesse und Instrumente? Doch neben diesem vorausgegangenen Blick in die schon erwähnte „Glaskugel“ sollen hier auch abschließend die Elemente herausgestellt werden, die sich eben nicht maßgeblich verändern, höchstens noch intensivieren werden. Also was bleibt denn auch in Zukunft? Dazu auch hier einige zusammenfassende Bemerkungen: Mehr denn je wertschätzender Umgang auf Augenhöhe unter „War-for-talent“Bedingungen Schon seit Jahren prägen Schlagwörter wie „Fachkräftemangel“ oder „War-for-talent“ die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Zwischenzeitlich hatte die sog. „Corona“-Pandemie zu einer spürbaren Konjunkturbelastung samt steigender Arbeitslosenrate oder Kurzarbeit etc. geführt. Doch noch während das rasch mutierende Virus weiterhin im medizinischen Sinne Aufmerksamkeit erforderte, entspannte sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt und die Verfügbarkeit von Talenten und Fachkräften lies nachweislich nach. Auch die zugespitzte politische Situation durch den Ukraine-Krieg hat bislang das sog. „Talent Klima“ nicht verbessert. Damit einher geht seit Jahren eine Entwicklung mit manifesten Auswirkungen für die Personalauswahl: In früheren Jahren wurde das klassischen Vorstellungsgespräch oft sowohl vom Interviewer als auch vonseiten des Bewerbers (sic!) als eine Art „asymmetrischer Prüfungssituation“ wahrgenommen: Der Kandidat bewarb sich um die Gunst seines potenziellen Arbeitgebers, zeigte dazu möglichst seine „Schokoladenseite“ ohne ernsthafte Schwächen, bekam dafür aber im Gespräch maßgeblich „auf den Zahn gefühlt“. Allzu verständlich, dass dies Assoziationen mit einem wenig erstrebenswerten Zahnarztbesuch weckt und das – meist von beiden Seiten – wahrgenommene Gefälle zwischen dem Arbeitgeber
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oben und dem Arbeitnehmer unten weiter zementierte. Dabei dürfte unter solchen Voraussetzungen ein reines Vorstellungsgespräch als die noch am wenigsten invasive Methode wahrgenommen worden sein, Assessment Center und / oder psychometrische Testverfahren wurden dann noch stärker als Strapaze empfunden. Doch diese Zeiten sind insofern schon länger Geschichte und bleiben dies auch. Denn die Unternehmen müssen sich zunehmend bei ihren Bewerbern bewerben, weil diese zwischen verschiedenen Optionen auswählen können und somit selbst mit der „Qual der Wahl“ konfrontiert werden. Der Arbeitgeber steht dabei in der Pflicht, im Rahmen des Kennenlernens und der Personalauswahl ein faires Angebot zu vermitteln, das den Bewerber letztlich zur Zusage seinerseits überzeugt. Insofern kann mehr denn je und auf absehbare Zeit ein „Gebot der Augenhöhe“ als gesetzt gelten, im Rahmen dessen die Begegnung stattfindet. Im wertschätzenden Setting erfolgt also ein gegenseitiges Kennenlernen samt mehr oder weniger erkennbaren „Werbeblöcken“. Diese Anforderung hat erhebliche Auswirkungen auf die Wahl der Methodik, insbesondere in Bezug auf typische Nebengütekriterien wie Zumutbarkeit und Akzeptanz, von Schuler und anderen unter dem Begriff „Soziale Validität“ zusammengefasst. Damit verbunden ist die Notwendigkeit, die heute und künftig vorhandenen Auswahl-Verfahren möglichst behutsam einzusetzen und zum Beispiel durch die schon beschriebene „Gamification“ sichtbar Wert auf den Unterhaltungswert von Tests zu legen. Mindestens so attraktiv aus Bewerbersicht dürfte allerdings das Angebot sein, durch substantielles Feedback seine Außenwirkung in professionell-konstruktiver Weise gespiegelt zu bekommen und damit mögliche „Johari-Fenster“ zu schließen; „Multi-Modalität“ über alle Zugänge hinweg! Schon seit Jahren wird die sog. „Multi-Modalität“ als unverzichtbarer Bestandteil der Assessment Center Methodik gefordert, also stets mehrere Übungstypen, Beobachter und Bewertungsdimensionen etc. Dieser Ruf hat mehr denn je Gültigkeit und erstreckt sich demnächst nicht nur auf die AC-Methodik als solche. Demnächst dürfte die Multi-Modalität wohl in einer Kombination der verschiedenen Beurteilungsformate insgesamt bestehen, zum Beispiel [digitale] Interviews im Assessment Center, kombiniert mit Testverfahren und intelligenten, business-nahen Fallstudien. Die Auswertung von Interviews und Gesprächssimulation kann gleichermaßen durch künstliche Intelligenz unterstützt werden, eine funktionierende Mimik- und Stimmanalyse macht in beiden Fällen Sinn. Wenn auch noch der gesamte Buchungs- bzw. Administrationsprozess rund um die eigentliche Personalauswahl digitalisiert wird, kann das gesamte System „aus einem Guss“ wirken und die Vorteile der verschiedenen psychologischen Zugänge wie Fremdbeurteilung und Selbstauskunft miteinander kombinieren. Weitere Integrationsmöglichkeiten ergeben sich dann unternehmensseitig durch eine Verknüpfung mit der Bewerbungs- bzw. Recruiting-Plattform, dem Unternehmens-ERP als Datenplattform bis hin zum digitalisierten Onboarding und Trainingsmanagement;
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„Lieber Lücke statt Krücke“ – fundierte Personalauswahl wichtiger denn je! Möglicherweise lässt durch den oben geschilderten Fachkräftemangel selbst in früheren „Traumberufen“ mittlerweile die Anzahl an [mehr oder weniger geeigneten] Bewerbungen zum Teil dramatisch nach. Dies mag dann nicht mehr nur für Ausbildungsplätze gelten, für die früher in vollen Testsälen „ausgesiebt“ wurde, bis nur noch die Besten darunter in die engere Wahl kamen. Selbst bei leitenden Funktionen in Führungsverantwortung werden mittlerweile die Kandidaten knapp, zuweilen sogar ganz oben in der Hierarchiepyramide. Sind solche Umstände dann nicht das Ende einer fundierten Personalauswahl, weil schlichtweg Vergleichsmöglichkeiten fehlen? „Sicherlich nicht!“, so lautet darauf die Antwort, und dies werden vermutlich alle Praktiker bestätigen. Denn die Erfahrung lehrt regelmäßig: Bevor ich den oder die Falsche einstelle, sollte ich lieber die Suche fortsetzen und weitersuchen, also „Im Zweifel gegen den Angeklagten bzw. hier den Bewerber“. Denn schon angefangen unter Auszubildenden, ungleich mehr noch bei leitenden Führungskräften führen Fehlbesetzungen zu unübersehbaren Kollateralschäden für alle Beteiligten. Damit übersteigt dann auch unausweichlich der Aufwand dieser Personalie sämtliche Bemühungen, die mit einer sauberen Personalauswahl verbunden gewesen wären. Insofern gilt auch in Zeiten von Fachkräftemangel und „war-for-talent“: Eine profunde Personalauswahl wird wichtiger denn je, denn die passende Kompetenz am passenden Platz wird in Zeiten zunehmend knapper werdender Ressourcen immer unverzichtbarer. Insofern steigen eher die Anforderungen an die Eignungsdiagnostik, als dass diese verzichtbar würde. Insbesondere die oben schon angesprochene Begegnung auf Augenhöhe samt erkennbarer Wertschätzung erfordert weiterhin eine belastbare Kompetenz- und Potenzialeinschätzung vonseiten des Arbeitgebers, die bedeutet Fortgesetzte Qualitätskontrolle durch eine konsequente Validierung der jeweiligen Verfahren Die oben – im positiven Sinne! – in Aussicht gestellte „schöne neue [Daten-]Welt“ – beinhaltet zweifelsohne jede Menge Opportunitäten für Anwender und Kandidaten. Wenn die Systeme benutzerfreundlich und anmutend daher kommen, bieten sie allemal jede Menge „Augenschein-Validität“, es wirkt also so, als hätte sich das dahinter stehende Unternehmen eine Menge dabei gedacht und ja auch offensichtlich gehörig in die dahinter liegende IT investiert. Doch wie schon immer in der Geschichte der Diagnostik darf die „Face validity“ als [schwaches] Nebengütekriterium nicht vorschnell mit dem [harten] Hauptgütekriterium gleichgesetzt werden: Nur weil ein Verfahren valide aussieht, muss es noch lange nicht gültig sein. Dies bedeutet zunächst einmal, dass maßgeblich die prognostische Validität – also die Korrelation des Auswahlverfahrens mit einem Außenkriterium – ernsthaft überprüft werden muss. Insbesondere wenn dieser Bewertungsmaßstab „Zusammenhang mit Berufserfolg“ lautet, wird die Latte für eine messbare Überprüfung besonders hochgelegt. Schließlich erweisen sich viele objektive Erfolgsparameter wie „Gehaltsentwicklung“ oder „Beförderungsschritte“ als ausgesprochen träge und erfordern aufwändige Längsschnittbetrachtungen. Auch sind „harte“ Leistungsdaten wie
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Zielerreichungen oder Jahres-Boni in Unternehmen oft nur eingeschränkt verfügbar oder streuen nicht wirklich. Subjektive Erfolgsmaße hingegen wie die Vorgesetzten-Beurteilung oder die eigene Arbeitszufriedenheit werden ebenfalls rasch von äußeren Einflüssen wie der allgemeinen oder unternehmensspezifischen Wirtschaftslage konfundiert. Auch weniger ambitionierte Validitätsstudien mit anderen Außenkriterien bringen ernstzunehmende Herausforderungen mit sich. Dennoch dürfen diese schon lange bekannten Schwierigkeiten keineswegs als Freibrief dafür verstanden werden, auf eine ernsthafte und wissenschaftliche Fundierung bei der Einführung innovativer Personalauswahlmethoden zu verzichten. Denn nur weil etwas digital dargeboten wird und vielleicht rasch Akzeptanz findet, möglicherweise sogar rein objektiv und dann noch mit künstlicher Intelligenz ausgewertet wird, muss die Diagnose nicht automatisch zutreffend sein. Die Gefahr von „Garbage in → garbage out!“ gilt weiterhin und mehr denn je! Insofern bleibt die wissenschaftliche Begleitung technologie-basierter Verfahren weiterhin unverzichtbar. Diese sollte dabei davon profitieren können, dass im technologisch aufgerüsteten „4.0“-Zeitalter alle relevanten Informationen schon digital vorliegen, dazu meist in Fülle, und diese dann „nur noch“ in entsprechender Weise ausgewertet und aufbereitet werden müssen; Konsequente Qualifizierung der Anwender, sowohl auf Testanbieter-Seite als auch HR-seitig als Multiplikatoren in den Unternehmen Wer beispielsweise Sprachparameter mittels KI auswerten möchte, braucht dazu jede Menge linguistische Kompetenz. Und wer ein komplexes „Serious Game“ zur Kompetenzmessung programmieren [lassen] will, benötigt, ebenso wie für die Sprachauswertung, geballte IT-Expertise. Doch neben solchen Disziplinen kann bei der Entwicklung solcher Technologien auf die genuine psychologische Kompetenz rund um Eignungsdiagnostik keineswegs verzichtet werden. Dazu dürfte dann von den beteiligten Psychologen eine Menge „Übersetzungsleistung“ in Richtung ihrer Kollegenschaft erforderlich werden, um – zum Beispiel passend – Sprachwissenschaftler und Programmierer in die richtigen Bahnen zu lenken. Aber das eigentliche Design der Technologie kann nur auf Grundlage einer profunden, dazu meist akademisch qualifizierten Diagnostik-Kompetenz erstellt werden. Dazu zählt dann – um ein weiteres Bespiel zu verwenden – die gar nicht mehr als trivial zu betrachtende Fähigkeit, unfallfrei die Unterschiede zwischen einer „Ordinal-Skala“ im Vergleich mit der „LikertSkala“ und der „Stanine-Skala“ benennen zu können. Einfacher ausgedrückt bedeutet dies: Die – wie auch immer ausgestaltete – akademische Qualifizierung bleibt für die Personalauswahl weiterhin Grundlage der sich anschließend zu erarbeitenden Professionalität. Dies gilt dann unabhängig davon, ob diese besonders prominent bei den Beratungs-Unternehmen erforderlich wird, welche die Personalauswahltechnologie als Testverfahren oder AC-Tool auf den Markt anbieten. Vielleicht in etwas abgeschwächter Form, gleichwohl aber weiterhin in belastbarem Umfang sollten vergleichbare Kenntnisse auch bei den Mitarbeitenden in den Personalabteilungen, beispielsweise im Recruiting vorausgesetzt werden [können]. Schließlich sollte von dort ausgehend die Auswahl seriöser-solider Anbieter vorgenommen werden und sich nicht vorschnell-ungeprüft der Pretentiös-Schillerndste automatisch durchsetzen.
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Außerdem müsste dort eine realistische Einschätzung vorgenommen werden [können], welche Informations- und Erkenntnisgewinne durch IT-unterstützte Prozesse möglich sind und wo Grenzen der Eignungs- und Potenzialeinschätzung verbleiben. Dazu muss die Personalabteilung als unverzichtbare Schnittstelle verstanden werden, die wiederum diesbezüglich ungeschulten, dazu aber meist aufgeschlossen gutwilligen Führungskräften Orientierung bei den verwendeten Verfahren und bezüglich ihrer Aussagekraft bietet; Der menschliche Faktor bleibt in der Personalauswahl und Entscheidungsfindung weiterhin erhalten! Abschließend soll an dieser Stelle ein bereits zuvor formulierter, fundamentaler Hinweis wiederholt werden: Ja, die Digitalisierung wird auch bei der Personalauswahl wie in so ziemlich allen anderen Lebensbereichen vorschreiten und dürfte dazu noch mehr an Geschwindigkeit gewinnen, damit auch an Relevanz. Ja, Technologie bietet mehr denn je Vorzüge, lange nicht nur Effizienzsteigerungen, sondern sie schärft auch das jeweils dokumentierte Urteil. Ja, „Personalauswahl 4.0“ beinhaltet jede Menge Veränderung gegenüber den traditionellen Methoden. So kann ein modernes „Gamified assessment“ oder ein „Serios Game“ ebenso wie ein KI-interpretiertes Video leichter als zuvor dazu führen, dass ein sich-Bewerbender eine Position nicht bekommt. Möglicherweise erfolgt dann sogar die anschließende Absage automatisiert ohne unmittelbare zwischenmenschliche Aktivität. ABER: Ob ein Kandidat tatsächlich eine verbindliche Zusage für eine Tätigkeit, ein Praktikum, einen Ausbildungsplatz bis hin zu einer senioren Führungsposition oder was auch immer erhält, wird auch in Zukunft nie allein von der dahinter liegenden Technologie abhängen. Keine Organisation, keine Firma, kein Krankenhaus oder kein Nachrichtendienst wird die positiv-Entscheidung einer Personalauswahl allein von einer Technologie abhängig machen, sei diese auch noch so ausgereift und aufwändig. Dies gilt auch und mehr denn je unter den Bedingungen des „war-for-talent“, bei dem weniger als früher zwischen zahlreichen Kandidaten ausgewählt werden kann. Da der Einzelne im System immer wichtiger wird, werden Entscheider auch in Zukunft ihre Verantwortung nicht vorschnell an digitale Systeme delegieren [können], sondern zumindest das berühmte „letzte Wort“ für sich selbst beanspruchen – und das ist auch gut so!
Literatur Stulle, K. (2023, i.D.). „Personalauswahl 4.0“: Was kommt und was bleibt? In: H. Steiner (Hrsg.), Online-Assessment. Heidelberg: Springer.
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Dr. Klaus P. Stulle, geboren 1967, studierte Psychologie, Philosophie und Betriebswirtschaftslehre an Universitäten in Aix-enProvence, Wuppertal und Köln. Seine Praxiserfahrung basiert unter anderem auf zwölf Jahren Konzerntätigkeit bei der Bayer AG mit Stabs- und Leitungsfunktionen in der operativen und strategischen Personalentwicklung. 2008 wurde er von der Hochschule Fresenius in Köln auf eine Professur im Fachbereich „Wirtschaftspsychologie“ berufen. Er verfügt über mehrjährige Zusatzausbildungen zum systemischen Coach/Organisationsberater sowie diverse Zertifizierungen für Persönlichkeitsfragebögen. Seit 2012 unterstützt er seine Kunden im Rahmen der Unternehmensberatung „Stulle & Thiel“ in strategischen und operativen Personalthemen.
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Personalauswahl 4.0 aus der Perspektive der Kandidat:innen Tim Warszta
2.1
Einleitung – Von der Auswahl zur Gewinnung
Die vermutlich ersten publizierten Forschungsergebnisse zum Erleben und Verhalten von Bewerbenden in der Personalauswahl stammen aus dem Jahr 1976, als Schmitt und Coyle feststellten, dass Person und Verhalten der Interviewenden die Organisationswahlentscheidung der Kandidat:innen beeinflussen. In den folgenden Jahrzehnten wurde eine ganze Reihe von Theorien und Modellen entwickelt, um Reaktionen von Kandidat:innen zu erklären (vgl. Arvey & Sacket, 1993; Gilliland, 1993; Schuler, 1990; Schuler & Stehle, 1983). Es sollte aber noch weitere Jahrzehnte dauern, bis das Thema „Bewerbendenreaktionen“ auch intensiv in den Unternehmen diskutiert wurde. Der demographische Wandel und der damit einhergehende Fachkräftemangel führen dabei zu einer Verschiebung der Marktmacht von den einstellenden Unternehmen hin zu den Kandidat:innen. Vor diesem Hintergrund ist inzwischen ein starkes Bestreben der Unternehmen zu verzeichnen, ihre Auswahlverfahren möglichst Kandidat:innenfreundlich zu gestalten. So wird das Thema beispielsweise unter dem Namen „Candidate Experience“ (Verhoeven, 2015) auch in der anwendungsorientierten Literatur diskutiert. Nicht zuletzt haben Arbeitgeberbewertungsportale wie kununu.de oder glassdoor.com dazu beigetragen, dass auswählende Organisationen eine gute oder zumindest akzeptable Behandlung von Kandidat:innen anstreben.
T. Warszta (B) Fachhochschule Westküste, Heide, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. P. Stulle und R. T. Justenhoven (Hrsg.), Personalauswahl 4.0, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42142-7_2
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Die Fortschritte im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) haben zudem zu einer Reihe neuer digitaler Personalauswahlinstrumente geführt: Beispielsweise können Interviews per Video-Konferenz durchgeführt oder vollständig automatisiert werden (Basch & Melchers, 2021). Online-Testverfahren werden um Computerspielelemente (Jansen et al., 2022) angereichert. Personendaten aus dem Internet und insbesondere den sozialen Medien werden ausgelesen und teilweise automatisiert analysiert (Mönke & Schäpers, 2022). Obgleich sich dahinterliegende psychometrische Gütekriterien wie insbesondere die Validität häufig noch in der Erforschung befinden und auch die Akzeptanz aufseiten der Kandidat:innen noch nicht abschließend geklärt ist, werden diese Verfahren bereits rege in der Praxis angewandt. In diesem Kapitel sollen daher bestehende Theorien und Modelle sowie die vorliegenden empirischen Befunde genutzt werden, um Handlungsempfehlungen zu einer Kandidat:innen-orientierten Anwendung der Verfahren der Personalauswahl 4.0 zu geben.
2.2
Bewerbendenreaktionen und Technologieakzeptanz
2.2.1
Theorien und Modelle zu Bewerbendenreaktionen
Das Feld der Bewerbendenreaktionen erfreut sich langjähriger Forschungsarbeit. Im deutschsprachigen Raum wurde die Forschung zu Bewerbendenreaktionen insbesondere durch das Konzept der Sozialen Validität geprägt. Schuler und Stehle entwickeln (1983) die Soziale Validität als Pendant zur psychometrischen Validität insbesondere vor dem Hintergrund einer damals aufkeimenden Kritik an der gängigen psychologischen Personalauswahl. In der von Schuler (1990) weiter entwickelten Version umfasst die Soziale Validität die vier Faktoren Information, Transparenz, Partizipation und Urteilskommunikation als Aspekte, welche die Auswahlsituation sozial akzeptabel machen. Im angloamerikanischen Sprachraum wurde hauptsächlich Gillilands (1993) Modell der Bewerberreaktionen in der Akzeptanzforschung verwendet. Es basiert auf der Theorie der Organisationalen Gerechtigkeit (Byrne & Cropanzano, 2001 für einen Überblick), welche organisationales Handeln aus der Perspektive der davon betroffenen Individuen betrachtet. Dabei werden verschiedene Formen der Gerechtigkeit unterschieden: Die distributive Gerechtigkeit (Adams 1965) beschreibt dabei, inwiefern die betroffenen Individuen das Ergebnis eines Prozesses als gerecht empfinden. Demgegenüber erfasst die die prozedurale Gerechtigkeit (Leventhal, 1980; Thibaut & Walker, 1975), ob das Verfahren, das zu dem Ergebnis führt, als gerecht empfunden wird. Gilliland (1993) formulierte auf Basis der Organizational Justice Theory zehn Regeln der prozeduralen Gerechtigkeit. Hierfür nutzte er bestehende Akzeptanzmodelle (Arvey & Sacket, 1993; Schuler, 1993) als Quelle. Gilliland postulierte, dass die Einhaltung oder
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Verletzung der prozeduralen Gerechtigkeitsregeln bei Kandidat:innen zu einer Gesamtbeurteilung der Fairness des Auswahlprozesses führt. Tab. 2.1 gibt einen Überblick über die zehn Regeln der prozeduralen Gerechtigkeit.
2.2.2
Usability und Technologieakzeptanz
Im Rahmen der Personalauswahl 4.0 kommen aufgrund der Nutzung von Informationsund Kommunikationstechnologie weitere Variablen hinzu, welche die Akzeptanz der Personalauswahlverfahren beeinflussen können. Dies sind insbesondere Personenvariablen wie Technologieaffinität und Datenschutzbedenken, aber auch Systemvariablen wie die Benutzbarkeit und Nützlichkeit. Usability: Das Technologieakzeptanzmodell (TAM) von Davis (1989) geht davon aus, dass Technologieakzeptanz und Technologienutzung eine Funktion der Benutzbarkeit und der Nützlichkeit einer Technologie sind. Während die Nützlichkeit (Usefulness) umfasst, inwiefern die Technik hilft, individuelle Ziele zu erreichen, beschreibt die Benutzbarkeit (Usability) die Einfachheit der Handhabung dieser Technologie. Bezogen auf digitalisierte Assessments sollte im Hinblick auf die Akzeptanz insbesondere die Benutzbarkeit eine Rolle spielen. Das Technologieakzeptanzmodell hat eine Reihe von Weiterentwicklungen erfahren (z. B. TAM2 von Venkatesh & Davis, 2000). Die Unified Theory of Acceptance and Use of Technology (UTAUT, Venkatesh et al., 2003) baut auf dem TAM auf. Nach dieser Theory ist die Verhaltensabsicht zur Nutzung einer Technologie beeinflusst durch Faktoren wie Leistungserwartung, Aufwandserwartung oder soziale Einflüsse. Die Nutzung selbst wird beeinflusst durch erleichternde Umstände. Insbesondere bezieht die UTAUT eine Reihe von Moderatorvariablen ein. So wird die Wirkung der Sozialen Einflüsse durch die Freiwilligkeit des Verhaltens moderiert. Während Verwaltungsakte wie die Grundsteuererklärung im Jahre 2022/2023 verpflichtend sind, ist die Teilnahme an einem Personalauswahlverfahren insofern faktisch freiwillig, als dass in Zeiten des Fachkräftemangels ausreichend Alternativen zur Verfügung stehen. Vor diesem Hintergrund kann die Meinung des sozialen Umfelds die Teilnahme an einem Assessment durchaus beeinflussen. Personenvariablen: Eine Personenvariable, welche Einfluss auf die Akzeptanz Personalauswahl 4.0 ausüben könnte, ist das Vorliegen von Datenschutzbedenken. Die Organisational Privacy Theory (Stone & Stone, 1990) betrachtet hierzu eine Reihe von Aspekten. Bereits in den Anfängen von Online-Testing und internetbasierter Personalauswahl wurde auf das Thema Datenschutzbedenken hingewiesen (Harris et al., 2003). Naturgemäß werden bei der Personalauswahl sensible personenbezogene Daten erhoben und verarbeitet, die über digitale Netzwerke überall hin transferiert werden können. Die in Deutschland geltende Datenschutzgrundverordnung (vgl. § 1 ff. DSGVO) stellt im internationalen Vergleich relativ restriktive Regelungen für die Erhebung, Speicherung und Verarbeitung personenbezogener Daten auf. Nichtsdestotrotz oder gerade wegen dieser
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Tab. 2.1 Tabelle 1 Gillilands Regeln der prozeduralen Gerechtigkeit Regel
Erläuterung zur subjektiven Bewertung durch den Bewerber
Sekundärfaktor 1: Formale Charakteristika Berufsbezogenheit – Inhalt Berufsbezogenheit – prädiktiv
Diese Regeln bewerten, ob das Auswahlverfahren von den Bewerbern als inhaltlich bzw. prädiktiv valide wahrgenommen wird
Gelegenheit zur Selbstpräsentation
Diese Regel bewertet, ob der Bewerber die Gelegenheit hat, seine Qualifikationen und Erfahrungen darzustellen
Gelegenheit zur Überprüfung der Antworten
Diese Regel bewertet bei der internetbasierten Personalauswahl die Möglichkeit des Bewerbers, seine Antworten vor der Übermittlung zu überprüfen
Gleichheit in der Durchführung
Diese Regel bewertet, ob das Auswahlverfahren für alle Bewerber auf die gleiche Art und Weise durchgeführt wird
Sekundärfaktor 2: Erklärung Feedback
Diese Regel bewertet, ob aus Sicht des Bewerbers ein zeitnahes und informatives Feedback gegeben wird
Information über das Auswahlverfahren
Diese Regel bewertet, ob dem Bewerber ausreichend Informationen über das Auswahlverfahren gegeben werden
Offenheit
Diese Regel bewertet, ob der Bewerber sich ehrlich und glaubwürdigen behandelt fühlt
Sekundärfaktor 3: Zwischenmenschlicher Umgang Behandlung der Bewerber
Diese Regel bewertet, ob der Bewerber sich durch die auswählende Organisation respektvoll und höflich behandelt fühlt
Kommunikation mit den Bewerbern
Diese Regel bewertet, ob für die Bewerber während des Auswahlverfahrens ausreichend Gelegenheit besteht, mit der Organisation zu kommunizieren und insbesondere Fragen zu stellen
Angemessenheit der Fragen
Diese Regel bewertet, ob die Fragen der Organisation im Rahmen eines Auswahlverfahrens legal und nicht zu persönlich sind
Quelle: Gilliland (1993, übersetzt nach Warszta, 2012)
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strengen Richtlinien könnten Bewerbende für das Thema Datenschutz sensibilisiert und daher besonders kritisch sein. Als weitere Personenvariable mit Einfluss auf die Akzeptanz könnte die individuelle Technikbereitschaft eine Rolle spielen. Neyer et al. (2016) führten das Konzept als ergänzende Personenvariable zum Technologieakzeptanzmodell (Davis, 1989) ein. Die Grundidee besteht darin, dass Personen mit einer hohen technischen Kompetenz- und Kontrollüberzeugung erfolgreicher im Umgang mit Technologie sind und dieser positiver gegenüberstehen. Bezogen auf den Bereich der digitalisierten Personalauswahl bedeutet dies, dass technikbereite Bewerbende digitale Assessments stärker akzeptieren als weniger technikbereite Kandidat:innen.
2.2.3
Folgen unfairer Behandlung in der Personalauswahl
Gilliland (1993) postuliert, dass eine unfaire Behandlung der Kandidat:innen zu negativen Reaktionen führen kann. Diese reichen von der Ablehnung von Stellenangeboten bis zur Klage vor Gericht. Spätere Publikationen legen nahe, dass zur Provokation von negativen Bewerbendenreaktionen ein Mindestlevel an Unfairness erreicht sein muss. Gilliland (2008) geht davon aus, dass die meisten Erfahrungen, die Menschen im Alltagsleben machen, weder besonders fair noch besonders unfair sind. Insofern seien auch drastische Reaktionen eher selten. Truxillo et al. (2004) argumentieren, dass negative Reaktionen auf unfaire Behandlung im Auswahlverfahren durch deren Instrumentalität (z. B. Effekte, Nützlichkeit), aber auch durch kontextuelle und soziale Faktoren wie die Meinung von Familie und Freunden beeinflusst werden könnten. Insofern hat ein Zurückziehen der Bewerbung in Zeiten des Fachkräftemangels, wo jede fehlende Bewerbung den Unternehmen zu schaffen macht, eine höhere Instrumentalität als in Zeiten eines hohen Arbeitskräfteangebots. Neben Instrumentalität und kontextuellen Faktoren könnte gemäß verschiedener Modelle aus der Motivationspsychologie (vgl. Fogg, 2007) zudem die Leichtigkeit der Durchführung einer Reaktion beeinflussen, ob diese gezeigt wird. Eine Klage gegen die auswählende Organisation erfordert in der Regel Zeit, juristischen Beistand sowie finanziellen Aufwand. Sie wird demnach seltener vorkommen als Verhaltensoptionen, die spontan und ohne Aufwand realisiert werden können. Vor diesem Hintergrund sind die steigenden Nutzungszahlen von Arbeitgeberbewertungsportalen wie kununu.de oder glassdoor.de zu betrachten (Dineen et al., 2019). Einen negativen Kommentar in einem Bewertungsportal oder in sozialen Netzwerken zu hinterlassen, ist zeitlich und technisch gesehen wenig aufwendig. Im Hinblick auf die Funktionalität der Reaktion bieten diese Kommentare die Möglichkeit, den Unternehmen Rückmeldung zu geben, aber auch durch Beeinträchtigung der Reputation eine Art Vergeltung an der auswählenden Organisation zu üben.
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Vor diesem Hintergrund sollten auswählende Organisationen bewusst auf eine gute Behandlung der Kandidat:innen achten. Insbesondere sollten sie Personalauswahlinstrumente einsetzen, die nicht nur eine hohe Validität haben, sondern auch von den Kandidat:innen als (hoch) akzeptabel empfunden werden.
2.3
Akzeptanz neuer diagnostischer Methoden – Verfahrensspezifische Überlegungen und Befunde
2.3.1
Allgemeine empirische Befunde zur internetbasierten Personalauswahl
Auf Basis von Gillilands (1993) Modell erfolgte umfangreiche Forschung zur Bedeutung der Gerechtigkeitsregeln. Hausknecht et al. (2004) führten eine Metaanalyse von insgesamt 86 Studien durch. Dabei wiesen die Gerechtigkeitsregeln Konsistenz in der Durchführung, Berufsbezogenheit, Gelegenheit zur Selbstpräsentation die stärksten Zusammenhänge mit prozeduraler Gerechtigkeit auf. Konradt et al. (2013) adaptierten Gillilands Modell für den Bereich der internetbasierten Personalauswahl und untersuchten anhand einer Testbatterie die Relevanz der Regeln. Von den zehn Gerechtigkeitsregeln klärten maßgeblich die Behandlung der Bewerber, Gelegenheit zur Selbstpräsentation, Gelegenheit zur Überprüfung und Angemessenheit der Fragen signifikante Varianz in der Prozeduralen Gerechtigkeit auf. Thielsch et al. (2012) überprüften in einer experimentellen Studie die Relevanz von Gerechtigkeitsregeln. In ihrer Untersuchung zeigte sich Feedback als relevante Gerechtigkeitsregel bei Online Bewerbungen. Die Bedeutung von Usability-Aspekten in der Online-Personalauswahl untersuchten Sylva und Mol (2009) in einer Feldstudie in der Bankenbranche. Wahrgenommene Effizienz des Systems und Benutzerfreundlichkeit waren dabei die wichtigsten Determinanten der Bewerbendenzufriedenheit. In Meta-Analysen konventioneller Auswahlinstrumente (Anderson et al., 2010; Hausknecht et al., 2004) sind Interviews und Arbeitsproben bei den Kandidat:innen am beliebtesten, Testverfahren liegen im mittleren Bereich, während Integritätstests und Graphologie, also die Analyse der Handschrift, am schlechtesten abschnitten. Warszta et al. (2019) befragten eine Stichprobe von 424 Bewerber:innen und 101 Praktiker:innen der Personalauswahl zur Akzeptanz von Instrumenten der Personalauswahl. Dabei wurden sowohl die Auswahlinstrumente aus der Metaanalyse von Hausknecht et al. (2004) abgefragt als auch neuere digitale Instrumente wie die automatische Analyse von Lebensläufen, zeitversetzte Videointerviews, automatische Sprach- und Stimmanalyse sowie gamifizierte Testverfahren. Die Ergebnisse von Hausknecht et al. wurden insofern repliziert, als dass auch hier Interviews und Arbeitsproben ebenfalls die höchste Akzeptanz aufwiesen. Insgesamt schnitten die neuen digitalisierten Auswahlinstrumente bezüglich
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ihrer Akzeptanz schlechter ab als die alten Verfahren. Allerdings beurteilten die Teilnehmenden die Verfahren zumeist aufgrund von Beschreibungen und nicht auf Basis persönlicher Erfahrungen. Insofern könnte hier auch die von Truxillo und Kollegen (2004) beschriebene Wirkung der Bekanntheit auf die Akzeptanz zum Tragen gekommen sein. Unter den neuen Verfahren war die Akzeptanz für gamifizierte Testverfahren am höchsten, für die automatische Sprach- und Stimmanalyse am niedrigsten. Folger et al. (2022) untersuchten in einem Experiment und in einer Feldstudie die Zusammenhänge des Einsatzes digitaler Auswahlinstrumente, prozeduraler Gerechtigkeit und symbolischer Arbeitgeberattribute. Sie stellten fest, dass der Einsatz digitaler Auswahlinstrumente mit dem symbolischen Arbeitgeberattribut „innovativ“ einhergeht, dies aber nicht automatisch zu höherer prozeduraler Gerechtigkeit führt. Im Folgenden werden ausgewählte neue Instrumente der Personalauswahl 4.0 intensiver betrachtet.
2.3.2
Einsatz und Akzeptanz von Videointerviews
Der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) hat insbesondere zu neuen Anwendungen im Bereich der Interviewverfahren geführt. Neben synchronen Videointerviews über Kommunikations-Tools wie Zoom, Teams, Webex oder Skype werden mittlerweile auch asynchrone Videointerviews eingesetzt (Basch & Melchers, 2021). Dazu werden die Fragen von den Organisationsvertreter:innen im jeweiligen Tool hinterlegt. Dies kann entweder schriftlich oder als Video erfolgen. Die Kandidat:innen haben dann die Möglichkeit, die Fragen zu einem beliebigen Zeitpunkt abzurufen und ihre Antworten per Kamera und Mikrofon aufzunehmen. Im Hinblick auf die Auswertung stehen neben der Analyse der Antworten durch die Organisationsvertreter:innen zunehmend auch maschinelle Formen der Auswertung zur Verfügung, basierend auf Inhalten, Stimme oder Bildverarbeitung (vgl. Abschn. 3.5). Bewerber:innen äußern sich Interviews gegenüber generell eher positiv (Hausknecht et al., 2004). Dabei zeigt sich in aktuellen Untersuchungen (Basch et al. 2020; Melchers et al. 2021), dass Bewerber:innen Videointerviews negativer bewerten als Face-to-FaceInterviews. Insbesondere asynchrone Videointerviews schneiden dabei am schlechtesten ab (Basch et al., 2020; Langer et al., 2017; Langer et al., 2019). Bewerber:innen scheinen insbesondere dem Einsatz von KI in Videointerviews skeptisch gegenüber zu stehen. Acikgoz et al. (2020) stellten fest, dass die Bewertungen der prozeduralen Gerechtigkeit für KI-basierte Interviews niedriger ausfielen als für Interviews, die von Menschen geführt wurden.
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2.3.3
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Einsatz und Akzeptanz von Cybervetting
Berkelaar und Harrison (2017) definieren Cybervetting als Nutzung von Internet- und insbesondere Social-Media-Daten einer Person, um Entscheidungen über gegenwärtige und zukünftige Beziehungen zu dieser Person zu treffen. Cybervetting wird insbesondere in der Personalauswahl eingesetzt (Wilcox et al., 2022). Die Nutzung von Social Media Daten stellt eine pragmatisch-kostengünstige Informationsquelle dar. Jedoch benötigt Cybervetting nach Vosen (2021) klare Richtlinien, da sonst Verletzungen der Privatsphäre, Diskriminierung und Nutzung falscher Informationen die Folge sein können. Zudem ist die empirische Befundlage zur Validität von Cybervetting zum jetzigen Zeitpunkt noch relativ spärlich (Mönke & Schäpers, 2022). Dennoch wird Cybervetting in der Praxis eingesetzt. Chamorro-Premuzic et al. (2016) stellen Vergleiche zwischen alten und neuen Methoden der Personalauswahl an. U.a. beschreiben sie Social Media Information aus beruflichen Netzwerken wie LinkedIn als Pendant zu Lebensläufen sowie die Analyse von Internetdaten als Pendant zu Self-Report-Inventaren. Walrave et al. (2022) interviewten 24 Personalverantwortliche zur Nutzung von Internetdaten. Die Befragten nutzten diese u. a., um Diskrepanzen zu Angaben in der Bewerbung aufzudecken. Oder sie analysierten Bilder, die von den Bewerbenden oder deren Kontakten gepostet wurden, um Rückschlüsse auf Freizeitverhalten und Auftreten zu ziehen. Cybervetting wird also insbesondere genutzt, um die Vertrauenswürdigkeit der Kandidat:innen einzuschätzen (Hedenus et al., 2021). Neben der Sichtung und Auswertung von Internet- und Social-Media-Daten durch Recruiter:innen bieten sich auch Möglichkeiten maschineller Auswertung von Internetdaten für Rückschlüsse auf psychologische Personenvariablen (vgl. Abschn. 3.5). Bereits im Jahr 2013 zeigte eine Studie von Kosinski, Stillwell & Graepel, dass auf Basis von Nutzerverhalten in sozialen Medien Rückschlüsse auf Personenvariablen gezogen werden können. Die Autoren entwickelten einen Algorithmus, der Zusammenhänge zwischen Facebook-Likes auf der einen Seite und Einstellungen, Persönlichkeitseigenschaften und kognitiver Leistungsfähigkeit auf der anderen Seite herstellte. Insgesamt bewegten sich die Korrelationen im mittleren bis niedrigen Bereich (vgl. Cohen, 1988). Für die Personaldiagnostik liegen mit konventionellen Assessments wie Testverfahren oder Interviews validere Verfahren vor (Sacket et al., 2022; Schmidt et al., 2016). Der Mehrwert der Nutzung vorliegender Internetdaten besteht jedoch im vergleichsweise geringen Durchführungsaufwand, wenn das System erst einmal etabliert ist, und in der unbegrenzten Skalierbarkeit. Daher dürfte diese Methode der Personendatengewinnung mit ihren Weiterentwicklungen für vielfältige Zwecke eingesetzt werden, die weit über die Personalrekrutierung und -auswahl hinausgehen. Hier sind insbesondere Microtargeting für Zwecke des Marketings, aber auch für die Beeinflussung von Wahlen zu nennen (Tagesschau.de, 2017). Die Risiken und ethischen Probleme des Einsatzes dieser Technologie liegen damit ganz offensichtlich auf der Hand.
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Erste Studien zur Akzeptanz von Cybervetting bei Kandidat:innen deuten auf eine mäßige bis schlechte Akzeptanz hin. Auch junge Menschen lehnen die Nutzung von Internetdaten zur Personalauswahl überwiegend ab und machen sich Sorgen um ihre Privatsphäre (Jacobson & Gruzd, 2020). Die empfundene Verletzung der Privatsphäre im Zuge von Cybervetting hat offensichtlich negative Auswirkungen auf die Bewerbungsintention (Jeske & Shultz, 2019). Aus praktischer Sicht stellt sich jedoch die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, die Kandidat:innenperspektive auf Cybervetting zu diskutieren. Denn in aller Regel geschieht dies ohne deren formelle Einwilligung, was wiederum ein ethisches und ggf. ein juristisches Problem darstellt. In Deutschland unterscheidet der Gesetzgeber klar zwischen Informationen in beruflichen Netzwerken wie LinkedIn oder Xing auf der einen Seite und Informationen in nicht beruflichen Netzwerken wie Facebook, Instagram oder gar TikTok auf der anderen. Der Arbeitsnehmerdatenschutz setzt dazu enge Grenzen: Berufliche Netzwerke dürfen genutzt werden, nicht berufliche Netzwerke ausdrücklich nicht (vgl. § 32 Abs. 6 BDSG Datenerhebung vor Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses). Dies stellt insofern für auswählende Organisationen ein Problem dar, als dass relevante Indikatoren zu unerwünschtem Verhalten (z. B. in der Freizeit) insbesondere auf nicht beruflichen Netzwerken vermutet werden (vgl. Hedenus et al., 2021). Vor diesem Hintergrund ist zu vermuten, dass ein Bekanntwerden von Cybervetting-Aktivitäten in nicht beruflichen Netzwerken nicht nur negative Reaktionen in Sozialen Medien, sondern auch juristische Konsequenzen zur Folge hätte. Lam (2016) beschreibt das Dilemma, in dem Organisationen sich befinden: Wenn sie auf Daten aus nicht beruflichen Netzwerken zurückgreifen, verletzen sie ggf. die Gesetze und die Privatsphäre von Kandidat:innen. Wenn sie aber diese Daten nicht nutzen, laufen sie Gefahr, unangemessene Posts zu übersehen und schädigen gegebenenfalls ihren eigenen Ruf.
2.3.4
Einsatz und Akzeptanz von Gamification im Assessment
Gamification lässt sich nach Deterding et al. (2011) definieren als Einsatz von Spielelementen in spielfremden Kontexten. Ziel ist es, Tätigkeiten, Aufgaben und Vorgänge motivierender zu gestalten. In den letzten Jahren wurden dabei verstärkt auch Spielelemente in der Personalrekrutierung und -auswahl genutzt (Landers & Sanchez, 2022; Warszta, 2019a). Jansen et al. (2022) unterscheiden dabei verschiedene Formen des Einsatzes von Spielen oder Spielelementen in der Personalgewinnung. Diese reichen von spielerisch-simulativen Praktika, psychometrischen Online-Testverfahren, die um Spielelemente angereichert sind, bis hin zu konventionellen Videospielen, die zu Assessmentzwecken genutzt werden (Simons et al., 2022). In der Praxis sind dabei insbesondere drei prototypische Einsatzfelder denkbar:
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1. Attraction: Hier wird das gamifizierte Instrument bereitgestellt und z. B. in den sozialen Medien beworben, um potenzielle Kandidat:innen auf Unternehmen oder Stellen aufmerksam zu machen. Es werden keine personenbezogenen Daten erhoben; 2. Self-Assessment: Das gamifizierte Instrument ermöglicht es potenziellen Kandidat:innen zu sehen, ob ihre Fähigkeiten und Interessen gut zu einer spezifischen Stelle passen oder welche Stelle am besten zu ihren Fähigkeiten und Interessen passt. Die erhobenen Daten sieht nur der/die Kandidat:in; 3. Selection: Das gamifizierte Instrument wird als Teil des Auswahlverfahrens eingesetzt. Die erhobenen Daten werden vom Unternehmen für Auswahlzwecke genutzt. Neben diesen idealtypischen Fällen sind in der Praxis auch Mischformen denkbar. So können Kandidat:innen beispielsweise nach einem erfolgreichen Abschneiden im Self-Assessment ihre Ergebnisse freiwillig dem Unternehmen zur Verfügung stellen. In jedem Fall sollten die Prinzipien des Datenschutzes und insbesondere ethische Aspekte berücksichtigt werden. Sämtliche Datenerhebungen sollten auf informierter Einwilligung beruhen (Naglieri et al., 2004). Ob Gamification im Assessment allerdings das Primärziel, nämlich die Steigerung der Akzeptanz, erfüllt, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abschließend eingeschätzt werden. Die empirischen Befunde zur Wirkung von Gamification im Assessment sind zurzeit noch uneindeutig. In einer Studie (Bathia, 2018) schrieben Probanden, die einen klassischen Test bearbeiteten, diesem einen stärkeren Anforderungsbezug zu als Probanden, die das Spiel „Cosmic Cadet“ von der Firma Arctic Shores bearbeiteten. Dies ist insofern nachvollziehbar, als dass Cosmic Cadet in einem Weltraum-Setting eingebettet ist. Sowohl Hintergrundgeschichte als auch graphische Gestaltung bewegen insofern sehr fern der Arbeitswelt. Eine solches Arbeitsplatz-fernes Setting kann sich aber negativ auf Bewerbendenreaktionen auswirken. In einer weiteren Studie konnte gezeigt werden, dass Berufsbezogenenheit und die Gelegenheit, das eigene Können zu zeigen, zu verstärkter Fairnesswahrnehmung führen (Ellison et al., 2020). Zudem konnte in einem experimentellen Policy-Capturing-Design-Ansatz demonstriert werden, dass ein Business-Setting zu höherem Fairnessempfinden bei den Proband:innen führte als ein Fantasy-Setting (Warszta, 2019b). Bei einer Studie zu gamifizierten und nicht-gamifizieren Situational Judgment Tests (SJT) kamen Georgiou und Nikolaou (2020) zu dem Schluss, dass Probanden die Fairness des gamifizierten SJT besser bewerteten. In einer weiteren Studie zu SJTs stellte Georgiou (2021) fest, dass Probanden die nicht-gamifizierte Version eines SJTs gegenüber der Gamifizierten als fairer einstuften, und dass die Fairnessbewertung dabei auch mit der Berufsbezogenheit zusammenhing. Insgesamt zeigt sich, dass die Befunde zur Akzeptanz von GBA je nach Stichprobe und Instrument variieren. Für ein abschließendes Urteil ist jedoch weitere Forschung notwendig.
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2.3.5
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Einsatz und Akzeptanz von künstlicher Intelligenz und Algorithmen
Hunkenschroer und Luetge (2022) definieren KI-basiertes Recruiting als Prozess, bei dem KI Organisationen dabei unterstützt, Kandidat:innen zu rekrutieren oder auszuwählen. Dabei wird KI gemäß Kaplan und Haenlein (2019, S. 17) definiert als „Fähigkeit eines Systems, externe Daten korrekt zu interpretieren, aus diesen zu lernen und das Gelernte zu nutzen, um durch flexible Anpassung spezifische Ziele zu erreichen und Aufgaben zu erfüllen“ (eigene Übersetzung). Für den Einsatz in der Personalauswahl wird ein Algorithmus auf Basis großer Datenmengen anhand von Mustern anhand eines Trainingsdatensatzes mit Kriteriumsvariablen und potenziellen Prädiktorvariablen entwickelt (Tippins et al. 2021). Die gefundenen Zusammenhänge werden genutzt, um auf Basis von neuen Datensätzen anhand von definierten Prädiktorvariablen Vorhersagen zu den Kriteriumsvariablen zu treffen. Künstliche Intelligenz und Algorithmen können also eingesetzt werden, um Daten in Textform, das gesprochene Word und Bildmaterial zu analysieren (Oswald et al., 2020). Damit bieten sich vielfältige Einsatzmöglichkeiten in der Personalrekrutierung und -auswahl. Für die Kandidat:innenansprache in Businessnetzwerken wie Xing oder LinkedIn werden Algorithmen für ein Matching von Social Media Profilen und passenden Stellenanzeigen genutzt. Bei der Personalauswahl können Algorithmen beispielsweise Lebensläufe analysieren (Schlegel et al. 2017) und aus biografischen Daten wie Arbeitserfahrung und Jobwechseln zukünftige Arbeitsleistung vorhersagen (Sajjadiani et al. 2019). Ebenso können Algorithmen die Analyse von Videointerviews unterstützen (König & Langer, 2022). Auf Basis solcher Beispiele kann davon ausgegangen werden, dass der Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Algorithmen in der Personalrekrutierung und -auswahl weitreichende Potenziale bietet. Diese offensichtlichen Chancen von künstlicher Intelligenz gehen aber auch einher mit entsprechenden Risiken: So kamen Köchling und Wehner (2020) in einem Literatur-Review zu dem Schluss, dass Potenziale für die Diskriminierung bestimmter Personengruppen bestehen. Persson (2016) benennt drei Probleme von Algorithmen in der Personalrekrutierung: 1. Geeignete Kandidaten könnten durchs Raster fallen, weil die Algorithmen mit begrenzten und veralteten Daten trainiert wurden; 2. Bewerber:innengruppen könnten diskriminiert werden; 3. Die Idee der Chancengleichheit für alle Kandidat:innen wird verletzt. Dabei kann eine Diskriminierung schon bei der Ansprache der Kandidat:innen erfolgen. Lambrecht und Tucker (2019) stellten dazu fest, dass die algorithmengesteuerte Schaltung einer Stellenanzeige dazu führte, dass junge Frauen die Anzeige weniger häufig zu sehen bekamen, weil die Ansprache dieser Zielgruppe teurer und der Algorithmus auf Kostenoptimierung programmiert war. Insbesondere beim Einsatz von Algorithmen in
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der Personalauswahl kann es zu Diskriminierungen (z. B. von Minderheiten) kommen. Diese können dadurch entstehen, dass in dem Trainingsdatensatz bestimmte Personengruppen in bestimmten Positionen stark unterrepräsentiert oder sogar überhaupt nicht vertreten sind (Köchling et al., 2021). Sind im Trainingsdatensatz beispielsweise Frauen oder ethnische Minoritäten wenig oder gar nicht in der Zielposition vertreten, könnte der Algorithmus die Zugehörigkeit zu diesen Gruppen als negativen Prädiktor übernehmen. Andererseits erscheint das Nicht-Erfassen bzw. das gezielte Löschen von Personenmerkmalen wie Geschlecht oder Ethnizität wiederum auch nur als wenig geeignete Lösung, da im Datensatz weitere Variablen enthalten sein können, die indirekt mit Geschlecht oder Ethnizität verbunden sind. Daher kann das Ausblenden dazu führen, dass Verzerrungen in den Algorithmen nur schwieriger zu identifizieren sind (Williams et al., 2018). Vor diesem Hintergrund sollte die Funktionsweise von Algorithmen stets gewissenhaft überwacht und geprüft werden. Die Einstellung von Kandidat:innen gegenüber KI erscheint insofern von Relevanz, da sie laut verschiedener Studien die Entscheidung beeinflusst, ein Auswahlverfahren bis zum Ende auszuführen (van Esch et al., 2019). Jedoch besteht aufseiten der Kandidat:innen noch relativ große Skepsis gegenüber KI in der Personalauswahl. Erste Befunde zur Skepsis gegenüber künstlicher Intelligenz in der Personalauswahl finden sich bereits bei Dineen et al. (2004). In ihrer Policy-Capturing-Design-Studie zeigte sich, dass eine automatisierte Auswahlentscheidung negativ auf die prozedurale Gerechtigkeit wirkt. Auch jüngere Publikationen identifizieren negative Reaktionen zu Managemententscheidungen als Problem, die unter Einsatz von Algorithmen erzielt wurden werden (Tambe et al. 2019). Dies wird auch durch Befragungen von Bewerber:innen bestätigt: Woodruff et al. (2018) fanden in einer qualitativen Studie heraus, dass die Kenntnis über mögliche Diskriminierungen durch Algorithmen nicht nur das Vertrauen in die Algorithmen selbst beschädigen kann, sondern auch in Organisationen, die diese Algorithmen nutzen,. Newman et al. (2020) fanden Hinweise darauf, dass die Reduktion von Informationen im Zuge von KI-basierten Entscheidungsprozessen von Bewerber:innen als unfair empfunden werden kann. Lee (2018) befragte anhand von Managementszenarien eine Stichprobe von 321 US-Bürgern zur Fairness menschlicher und KI-basierter Entscheidungen. Die Fairness KI-basierter Personalauswahlentscheidungen wurde dabei signifikant niedriger bewertet als die menschlicher Entscheidungen. In einer Studie von Suen et al. (2019) mit 180 Teilnehmenden aus China fanden sich hingegen keine negativen Effekte durch den Einsatz von KI zur Entscheidungsfindung bei Video Interviews. Dabei kann die Sichtweise auf KI-basierte Entscheidungen durch vorige Erfahrungen der Bewerber:innen beeinflusst sein: Kaibel, Koch-Bayram, Biemann und Mühlenbock fanden generell negativere Wahrnehmungen gegenüber KI-basierten Personalentscheidungen. Jedoch zeigten Bewerber:innen, die vorher Diskriminierungserfahrungen mit menschlichen Entscheider:innen gemacht hatten, in der Studie eine positivere Einschätzung KI-basierter Personalentscheidungen. Neben den Erfahrungen von Kandidat:innen und deren Einstellung zu KI können aber auch gut produzierte Erklärungen die Akzeptanz von KI verbessern. Köchling und Wehner (2023) konnten in einem Experiment zeigen, dass Informationsvideos
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zur Funktionsweise von KI-basierten Rekrutierungsprozessen das Fairnessempfinden von Kandidat:innen gegenüber diesen Prozessen substanziell steigern können. Insgesamt ist allerdings noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Will et al. (2023) kommen in ihrem Literatur-Review zu dem Schluss, dass der Einsatz von KI in der Personalrekrutierung wesentliche Vorteile bringt. Gleichwohl halten sowohl Kandidat:innen als auch Recruiter:innen Entscheidungen von Menschen weiterhin für besser als rein KI-basierte Entscheidungen.
2.4
Handlungsempfehlungen für den Einsatz von Verfahren der Personalauswahl 4.0
Insgesamt ist zu konstatieren, dass Kandidat:innen den Verfahren der „Personalauswahl 4.0“ noch relativ verhalten bis skeptisch gegenüber stehen. Zusammenfassend können auf Basis der Theorien und empirischen Befunde schon jetzt Handlungsempfehlungen definiert werden, die unabhängig von einzelnen konkreten Verfahren die Akzeptanz der Personalauswahl 4.0 erhöhen können. Erläuterung und Transparenz: Die Instrumente der Personalauswahl 4.0 sind relativ neu und vielen noch unbekannt. Dies kann bei Bewerber:innen Skepsis und Unbehagen hervorrufen (Truxillo et al., 2004). Auswählende Organisationen sollten den Kandidat:innen anschaulich erklären, was es mit dem jeweiligen Verfahren auf sich hat (Gilliland, 1993; Schuler, 1990). Da die Kandidat:innen meist wenig eigene Erfahrungswerte mit den Instrumenten der Personalauswahl 4.0 haben, ist es sinnvoll, Möglichkeiten zum „Ausprobieren“ zur Verfügung zu stellen. Dies kann dann bei der eigentlichen Durchführung der Verfahren die Akzeptanz steigern (Folger et al., 2022). Handling und Prozesseffizienz: Die eingesetzten Verfahren sollten eine gute Usability aufweisen und für alle Kandidat:innen leicht zu bedienen sein. Denn ein schwieriges Handling der Auswahlinstrumente oder eine unterschiedliche Handhabbarkeit der Auswahlinstrumente für verschiedene Kandidat:innengruppen gefährdet zum einen die Konstruktvalidität, da neben dem Zielkonstrukt eben auch die Fähigkeit zur Handhabung mitgemessen wird. Zum anderen gefährdet eine mangelnde Usability die Akzeptanz auf Kandidat:innenseite (Davis, 1989; Sylva & Mol, 2009). Zudem sollte überlegt werden, welche Informationen wirklich für die Auswahl und die Kommunikation mit den Kandidat:innen benötigt werden. Dadurch können Eingabeformulare und Schnittstellen vereinfacht werden. Je geringer der Aufwand für die Bewerbung ist, desto größer ist dann auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Bewerbung vollständig ausgeführt wird. Insgesamt sollte die Digitalisierung genutzt werden, um Prozesse schneller und effizienter machen. Denn geeignete Kandidat:innen haben in der Regel mehr als eine Bewerbung platziert. Vor diesem Hintergrund kann Geschwindigkeit der entscheidende Faktor für die Gewinnung der Kandidat:in sein. Zwischenmenschlicher Kontakt: Die Potenziale der Automatisierung und Digitalisierung sollten genutzt werden, damit die dahinterliegenden Prozesse effizient und
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reibungslos laufen. Dadurch können sich die Recruiter:innen auf ihre sozialkommunikativen Aufgaben konzentrieren. Theorie (Gilliland, 1993) und Empirie (Konradt et al., 2013) legen nahe, dass Bewerber:innen als Person wahrgenommen und interpersonale Wertschätzung erfahren wollen. Insofern sollten diagnostische Instrumente genutzt werden, um frühzeitig vielversprechende Bewerber:innen zu identifizieren, die dann von den Recruiter:innen während des Prozesses intensiv betreut werden. Fazit: Zeitgemäße Diagnostik muss einfach zu handhaben, fair, auf Augenhöhe und für beide Seiten informativ sein!
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Tim Warszta ist Wirtschaftspsychologe und Betriebswirt. An der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel promovierte er zur Akzeptanz internetbasierter Personalauswahl. Seit September 2012 ist er als Professor für Wirtschaftspsychologie an der Fachhochschule Westküste tätig. Hier leitet er das 2015 gegründete Westküsteninstitut für Personalmanagement. Vor seiner Berufung an die Hochschule war er als Personalleiter, Personalreferent und Lehrkraft für Personal & Organisation tätig.
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Fachkräftemangel und algorithmenbasiertes Matching Olaf Ringelband
3.1
Fachkräftemangel in Deutschland – demografische Entwicklung
Dass es in Deutschland für Unternehmen ein zunehmendes Problem gibt, geeignete Fachkräfte zu finden, dürfte allgemein bekannt sein. Die Ursache dafür ist in erster Linie der demografische Wandel. Die demografische Entwicklung führt in vielen Industrienationen zu Fachkräftemangel (vgl. Abb. 3.1). Wenn der Fachkräftemangel in Politik und Öffentlichkeit diskutiert wird, ist in erster Linie von hochqualifizierten Fachkräften die Rede (z. B. Softwareentwickler:innen, bitkom, 2022). Darüber wird allerdings vernachlässigt, dass meist ein großer Teil der Berufstätigen in nicht-akademischen Berufen tätig ist – und hier herrscht ebenfalls ein erheblicher, sich kontinuierlich verschärfender Mangel an Arbeitskräften.
3.2
Fachkräftemangel in Deutschland – Zunehmende Akademisierung der Gesellschaft
Bei den nicht-akademisch ausgebildeten Berufsgruppen kommt zu der genannten demografischen Entwicklung ein zweiter Mega-(Abb. 3.2) Dabei stellt die zunehmende Akademisierung der Gesellschaft für sich genommen kein negatives Phänomen dar. Im Gegenteil, sie war im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts
O. Ringelband (B) md gesellschaft für management-diagnostik mbh, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. P. Stulle und R. T. Justenhoven (Hrsg.), Personalauswahl 4.0, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42142-7_3
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Abb. 3.1 Entwicklung der Erwerbstätigen (eigene Darstelung nach Statistisches Bundesamt, 2021)
Abb. 3.2 Anteil akademische Ausgebildeter (eigene Darstelung nach Statistisches Bundesamt, 2021)
sogar ausdrücklich bildungspolitisches Ziel in Deutschland. Das Problem ist die damit einhergehende fehlende Aufwertung nicht-akademischer Berufe. Die fehlende Anerkennung nicht-akademischer Berufe drückt sich u. a. in den Durchschnittsgehältern aus (Abb. 3.3). Angesichts dieses Mangels an nicht-akademischen Arbeitskräften (ifo Institut, 2022) könnte man vermuten, dass diese Berufsgruppen es leicht haben, einen zu ihnen passenden
3 Fachkräftemangel und algorithmenbasiertes Matching
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Abb. 3.3 Durchschnittsgehälter verschiedener Berufsgruppen (eigene Darstelung nach Statistisches Bundesamt, 2021)
und gut bezahlten Arbeitsplatz zu finden. Erstaunlicherweise ist das aber nicht der Fall. Das soll an einem realen Beispiel erläutert werden: Profil Sarah
Sarah ist 32 Jahre alt. Sie stammt aus einem kleinen Ort in der Lüneburger Heide. Nach dem Realschulabschluss fing sie eine Ausbildung in einem örtlichen Speditionsunternehmen eines Bekannten an. Nach kurzer Zeit merkte sie, dass ihr die Arbeit im Büro nicht so liegt und wechselte zur Ausbildung als Berufskraftfahrerin im selben Betrieb. Dort arbeitet sie seit 15 Jahren. Sie verdient mittlerweile brutto e 2300, plus Zulagen bei Arbeit am Wochenende. Ihr Betrieb hat sie beim Erwerb von Zusatzqualifikationen (z. B. Gefahrgutschein) unterstützt. Sarah mag ihren Beruf, sie fährt sowohl Transporte in Norddeutschland (z. B. Gemüse nach Hamburg) als auch gelegentlich nach Süddeutschland, am Wochenende ist sie meistens zu Hause. Im Unternehmen fühlt sie sich auch sehr wohl, da sie die Kolleg:innen schon lange kennt und im Betrieb ein gutes Klima herrscht. Seit einem halben Jahr ist Sarah mit ihrer Freundin zusammen, die in Hamburg als Elektroingenieurin arbeitet. Die beiden sind kürzlich in der Wohnung ihrer Freundin in
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Hamburg zusammengezogen und Sarah fährt jeden Tag mit dem Auto von Hamburg in die Lüneburger Heide zur Arbeit. Da das Pendeln auf Dauer recht teuer und mühselig ist, sucht sie jetzt einen neuen Job in Hamburg. In einer der gesetzlich vorgeschriebenen Lenkpausen geht Sarah mit ihrem Handy zu einer großen Jobsuchmaschine, für die sie Werbung gesehen hat. Nach der Eingabe von „Lkw-Fahrer/in Hamburg“ in die Suchmaske bekommt sie über 200 Stellenausschreibungen angezeigt. Das erste Durchblättern durch die Jobangebote ist frustrierend, da sie nicht weiß, ob sie bei den angezeigten Jobs mindestens ähnlich viel verdienen kann wie bisher (sie hofft, in Hamburg etwas mehr verdienen zu können). Auch weiß sie nicht, ob das Betriebsklima in den angezeigten Unternehmen ähnlich gut ist wie in ihrem jetzigen Unternehmen. Mehr oder minder zufällig entscheidet sie sich dafür, sich bei 20 der Unternehmen zu bewerben. Sie muss erst einmal im Internet recherchieren, was die suchenden Unternehmen unter „üblichen Bewerbungsunterlagen“ verstehen (Lebenslauf, Zeugnisse und Motivationsschreiben). Das Zeugnis schreibt ihr ihr gegenwärtiger Arbeitgeber gerne, der Verständnis für ihren Wechselwunsch hat. Einen Lebenslauf hat Sarah allerdings noch nie schreiben müssen, da sie sich noch nie irgendwo beworben hat. Zudem hat sie weder einen Computer noch einen Drucker zu Hause. Ihre Freundin hilft ihr deshalb, die Unterlagen zusammenzustellen und (per E-Mail oder in einigen Fällen per Post) an die Unternehmen zu versenden. Von den 20 angeschriebenen Unternehmen melden sich sechs überhaupt nicht. Sie erhält von 10 Unternehmen Einladungen zu Bewerbungsgesprächen (sowie einige Absagen). Die nächsten Wochen fährt sie an ihren freien Tagen zu den Vorstellungsgesprächen – aber ohne einen neuen Job zu finden. Denn entweder können die Unternehmen ihren Gehaltswunsch nicht erfüllen, beteiligen sich nicht an den Ausgaben für Zusatzqualifikationen oder zahlen keine Zulagen. Bei einigen Unternehmen gefällt ihr die Atmosphäre nicht. Frustriert entscheidet sich Sarah, erst einmal in ihrem bisherigen Unternehmen zu bleiben und weiter zur Arbeit zu pendeln – und sie hofft, von Kolleg:innen auf Rastplätzen irgendwann von einem passenden Arbeitgeber zu hören. Außer aus praktischen Gründen (wie bei Sarah) wollen Arbeitnehmer:innen auch aus anderen Gründen den Job wechseln: Laut einer Umfrage von Gallup (2020) haben nur 17 % der Arbeitnehmer:innen eine emotionale Bindung zu ihrem Arbeitgeber, 40 % hingegen können sich vorstellen zu wechseln und 39 % sind auf der mehr oder minder aktiven Suche nach einem neuen Arbeitsplatz. Was sind die Gründe dafür, dass es qualifizierten nicht-akademischen Fachkräften häufig sehr schwerfällt, einen Arbeitsplatz zu finden? Und, umgekehrt, warum können Arbeitgeber offene Stellen so schwer besetzen? Denn auch wenn es fraglos einen Fachkräftemangel gibt, so gibt es doch genügend Arbeitnehmer:innen, die auf der Suche nach einem neuen Job sind. Im Wesentlichen werden dafür meist drei Gründe genannt:
3 Fachkräftemangel und algorithmenbasiertes Matching
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1. Intransparenter Arbeitsmarkt. Wie man am Beispiel von Sarah sieht, ist der Arbeitsmarkt trotz (oder wegen) der Vielzahl der Stellenangebote für Suchende wenig überschaubar. Insbesondere in sehr fragmentierten Branchen (wie die Logistikbranche, in der es viele kleine Speditionen gibt) ist es für Interessent:innen schwer, überhaupt potenzielle Arbeitgeber zu identifizieren. 2. Aufwändiger Bewerbungsprozess. Wie man am obigen Beispiel sieht, ist es für viele Menschen nicht einfach, Bewerbungsunterlagen zusammenzustellen und an potenzielle Arbeitgeber zu senden. Da Interessent:innen zudem aus Stellenanzeigen selten entnehmen können, ob der Job zu ihren Bedürfnissen und Wünschen passt, stellen sie oft erst im Bewerbungsgespräch fest, dass der Job für sie nicht wirklich geeignet ist. 3. Asymmetrische Risikoverteilung bei Jobwechseln. Das deutsche Arbeitsrecht ist so gestaltet, dass eine starke Risikoasymmetrie existiert für Menschen, die den Job wechseln: Während auf Grund des Kündigungsschutzes das Risiko des Jobverlustes oder der Kündigung für langjährige Arbeitnehmer:innen eher gering ist (das größte Risiko ist die Insolvenz des Arbeitgebers), da man kaum gekündigt werden kann, ist das Risiko des Jobverlustes bei einem neuen Arbeitgeber sehr hoch: In der meist monatelangen Probezeit kann man täglich ohne Angabe von Gründen gekündigt werden.
3.3
Matching statt Stellenanzeige
Während der letztgenannte Punkt nur durch den Gesetzgeber verändert werden kann, bieten die ersten beiden Punkte die Möglichkeit für eine Verbesserung der Situation für den Arbeitsmarkt. So hat sich das Hamburger Start-up JobMatchMe zum Ziel gesetzt, diese beiden Probleme anzugehen. Ziel war, den Prozess der Jobsuche für die Interessent:innen so einfach wie möglich zu machen und sie auf unkomplizierte Art und Weise zu dem für sie passenden Job zu führen. JobMatchMe wurde 2016 gegründet und als Proof-of-Concept hat man sich in den ersten drei Jahren auf die Berufsgruppe der Berufskraftfahrer:innen konzentriert. Die Idee dabei war, jobsuchende Lkw-Fahrer:innen schnell mit für sie passenden Jobangeboten in Kontakt zu bringen, indem ihnen innerhalb weniger Minuten mithilfe eines intelligenten Algorithmus nur diejenigen Jobangebote präsentiert wurden, die zu ihren Wünschen und Fähigkeiten passten.
3.3.1
Der Arbeitsmarkt für Lkw-Fahrer:innen
In Deutschland gibt es ungefähr eine halbe Million Berufskraftfahrer:innen. Nach Schätzungen fehlen 15.000 bis 45.000 Fahrer:innen, Tendenz steigend, da das Durchschnittsalter der Lkw-Fahrer:innen heute fast 60 Jahre beträgt (Eurotransport, 2019). Es
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gibt ca. 25.000 (Arbeitsagentur, 2023) offene Stellen; und hier sind nur die offenen Stellen eingeschlossen, die bereits bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet sind. Insofern ist der Arbeitsmarkt für Berufskraftfahrer:innen exemplarisch für viele Mangelberufe.
3.3.2
Die Bedürfnisse der Jobsuchenden verstehen
Der erste Schritt zur Entwicklung einer algorithmenbasierten Jobsuche war, die Bedürfnisse und die Erlebniswelt der Lkw-Fahrer:innen zu verstehen. Dafür wurden auf Raststätten zahlreiche Interviews durchgeführt. Ergebnis dieser Interviews war eine „Empathy Map“ (zur Methodik der „Empathy Map” siehe: Gibbons, 2018) der Zielgruppe (s. Abb. 3.4). Die Empathy Map ist eine im Team erstellte Übersicht zu Gedanken und Gefühlen einer anvisierten Zielgruppe (Kunden, Nutzer, Stakeholder). Die Map schärft das Bewusstsein für die Kundensicht und dient der Ausrichtung unternehmerischer Aktivitäten." (s. Ionos, 2022) Gleichzeitig wurden Interviews mit Speditionen durchgeführt um deren Bedürfnisse und Wünsche an Fahrer:innen zu verstehen.
Abb. 3.4 Empathy Map Lkw-Fahrer:innen. (JobMatchMe)
3 Fachkräftemangel und algorithmenbasiertes Matching
3.3.3
45
Person-Job-Fit und Person-Organisation-Fit
Organisationspsychologische Grundlage war die Überlegung, welche Informationen man wirklich braucht, um Jobsuchende und Stellenangebot zu matchen. Die üblicherweise gewünschten Unterlagen (Lebenslauf, Zeugnisse, Motivationsschreiben) weisen nur einen sehr begrenzten Nutzen auf: Laut der Übersicht von Schmidt und Hunter (1998) sind Alter, Berufserfahrung und Schulnoten durchaus brauchbare Prädiktoren für Berufserfolg, aber diese Informationen sind nicht immer in Bewerbungsunterlagen enthalten. Referenzen und Zeugnisse sind der Studie zufolge ebenfalls ein geeigneter Prädiktoren – aber das dürfte für Arbeitszeugnisse in Deutschland (wegen des hiesigen Arbeitsrechts samt der damit verbundenen Praxis zu ausdrücklich positiv formulierten Bewertungen) nicht zutreffen (Kanning, 2016). Kurzum: für die Aspekte Eignung und Passung sind Lebenslauf, Erfahrungen und Motivationsschreiben nicht völlig irrelevant, aber aufgrund der Lücken und Unstrukturiertheit vieler Bewerbungsunterlagen kann man nur mit hohem Analyseaufwand die wirklich relevanten Informationen für Eignung und Passung herausarbeiten. • Welche Informationen man hingegen für ein erfolgreiches Matching tatsächlich benötigt, sind • die Passung zwischen den Anforderungen der Aufgabe und der Qualifikation des Arbeitnehmers – der Person-Job-Fit • sowie die Passung der Wünsche, Persönlichkeit und Bedürfnisse des Arbeitnehmers zu der Kultur des Unternehmens – der Person-Organisation-Fit (Carless, 2005).
3.3.4
Entwicklung des Matching-Algorithmus
Eine Erkenntnis aus den Interviews mit Fahrer:innen auf Rastplätzen war, dass diese in der Regel mit ihren mobilen Telefonen in Lenkpausen auf einem Rastplatz nach einem neuen Job suchen. Die notwendigen Informationen für den Person-Job-Fit und den Person-Organisation-Fit werden deshalb von den Jobsuchenden/Fahrer:innen in Form einer Web-App (einer Webseite, die wie eine mobile App aussieht) abgefragt. Das Nutzerinterface der JobMatchMe (mobilen) Web-App für Fahrer:innen wurde „mobile only“ gestaltet (s. Abb. 3.10). Die suchenden Unternehmen geben die Informationen über den Job und die Kultur des Unternehmens auf der Webseite von JobMatchMe ein. Die Jobsuchenden sollten innerhalb von maximal 10 min drei Fragenkomplexe beantworten, um passende Arbeitgeber vorgeschlagen zu bekommen (s. Abb. 3.5). Um den Algorithmus mit Daten für den Person-Organisation-Fit zu füttern, wurden vier Skalen auf Basis von Items aus dem IPIP (International Personality Item Pool,
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Abb. 3.5 In 10 min zum Traumjob (JobMatchMe)
www.IPIP.org – einem public domain-Verzeichnis von Fragen und Skalen zu verschiedenen psychologischen Dimensionen) verwendet, die von den Interessent:innen (d. i. den Jobsuchenden) beantwortet werden sollten: • • • •
Zuverlässigkeit Sicherheitsbewusstsein Leistungsorientierung Emotionale Stabilität
Ursprünglich war geplant, 12 aus der Literatur abgeleitete Persönlichkeitsdimensionen zu erfassen (Min & Emam, 2003; Tichon, 2005), es stellte sich jedoch heraus, dass ein zu langer Persönlichkeitsfragebogen bei den Fahrer:innen zu hohen Abbruchquoten führte. Letztendlich wurde eine umfassendere und zeitaufwändigere psychologische Diagnostik zu Gunsten des Claims „in 10 min zum Traumjob“ geopfert. Die oben aufgeführten vier Dimensionen wurden von befragten Unternehmen als die bei Fahrer:innen wichtigsten genannt. Die Items aus dem IPIP mussten jedoch noch angepasst werden, da die Itemanalysedaten auf ungenügende Verständlichkeit bzw. zu geringe Itemschwierigkeit hinwiesen, z. B. wurden einige Items von zu vielen Menschen mit „ja“ angekreuzt. Die Itemanalyse sowie die Optimierung der Items wurden vom Autor vorgenommen. Zur Illustration hier ein Ausschnitt aus der ersten Itemanalyse (s. Abb. 3.6). Offenbar waren die IPIP-Items für die Zielgruppe der Lkw-Fahrer:innen nicht ideal formuliert; teilweise waren sie nicht verständlich genug, außerdem zeigte sich eine starke Tendenz zu Akquieszenz (Steinmetz & Posten, 2020). Die Optimierung der IPIP-Items erfolgte relativ zügig, da sich schon nach kurzer Zeit mehrere hundert Fahrer:innen pro Woche bei JobMatchMe registrierten und im Rahmen der Registrierung die Persönlichkeitsfragen beantworten.
3 Fachkräftemangel und algorithmenbasiertes Matching
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Abb. 3.6 Itemanalyse Antworten der ersten N = 34 Fahrer:innen (JobMatchMe)
Für die Einschätzung der jeweiligen Unternehmenskultur wurde ein Selbsteinschätzungsbogen für die suchenden Unternehmen mit folgenden Dimensionen entwickelt: • • • • • • • •
Anerkennung und Wertschätzung Vertrauen und Kontrolle Kollegialität Leistungsorientierung Abwechslung Wirtschaftliche Stabilität Weiterbildung Ethische Orientierung
Diese Dimensionen basierten auf einer Literaturanalyse (van den Berg & Wilderom, 2004) sowie Interviews mit Fahrer:innen und Speditionen (s. Abb. 3.7). Letztendlich flossen damit die in Abb. 3.8 gezeigten Daten in den MatchingAlgorithmus ein. Aus diesen Informationen berechnet der Algorithmus sofort passende Jobangebote. Dabei wurden vorrangig die „harten” Daten (gewünschter/gesuchter Ort, Gehalt, Art der Arbeit und Führerscheine) berücksichtigt. Die Verknüpfung der Persönlichkeitsdimensionen (der Fahrer:innen) zu den Kulturdimensionen (der suchenden Unternehmen) erfolgte durch einen selbstlernenden Algorithmus, der aus den „Likes” der Fahrer:innen lernte: Die Interessent:innen können durch Wischen (wie bei einer Dating-Plattform) „liken“ oder „disliken“. Im erstgenannten Fall erhält dann der Arbeitgeber automatisch eine Nachricht und beide Seiten können miteinander in Kontakt treten. Der Algorithmus (s. Abb. 3.9) basiert auf dem Prinzip des Reinforcement Learning (Afsar et al., 2022), das aus jedem „Like”, das ein:e Fahrer:in vergibt, geeignete Vorschläge für weitere passende Arbeitgeber errechnet. (Die Grundidee ist aus E-Commerce
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O. Ringelband
Abb. 3.7 Kultur-Items für Arbeitgeber (JobMatchMe)
Abb. 3.8 Informationen für das Matching (JobMatchMe)
Plattformen wie Amazon bekannt, wo auf Basis der in der Vergangenheit betrachteten und bestellten Artikel Vorschläge für weitere Produkte gemacht werden – s. Amazon, 2019.) Für die Interessent:innen sieht der Prozess wie in Abb. 3.10 dargestellt aus.
3 Fachkräftemangel und algorithmenbasiertes Matching
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Abb. 3.9 Der Matching-Prozess (JobMatchMe)
3.4
Ergebnisse
Im Jahr 2023 hatten sich bereits über 220.000 Lkw-Fahrer:innen bei JobMatchMe registriert und viele zehntausend hatten durch JobMatchMe einen für sie passenden Job gefunden. Für Fahrer:innen ist diese Dienstleistung kostenlos; nur der/die Arbeitgeber:in bezahlt einen niedrigen monatlichen Betrag um Kontakte zu geeigneten Fahrer:innen zu erhalten. Für die Unternehmen ist die Nutzung von JobMatchMe attraktiv, weil es kostengünstiger ist als herkömmliche Wege der Personalbeschaffung: Wenn Unternehmen Fahrer:innen suchen, schalten sie in der Regel eine Anzeige in der Lokalpresse oder in einer Jobbörse. Eine solche Anzeige kostet einige hundert Euro – ohne die Gewissheit, ob sich überhaupt Bewerber:innen melden. Bei JobMatchMe hingegen zahlen sie dafür,
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Abb. 3.10 Das Nutzerinterface für Fahrer:innen (JobMatchMe)
Kontakt zu passenden Interessent:innen zu erhalten. Ob und wie viele der „Matches“ zu einer tatsächlichen Einstellung führen, wird von JobMatchMe bislang noch nicht erfasst, da JobMatchMe sich nicht als „Arbeitskräftevermittlung” versteht, sondern als MatchingPlattform. Ähnlich wie eine Dating-Plattform stellt JobMatchMe lediglich den Kontakt zwischen zwei zueinander passenden, suchenden Parteien her, ob diese dann tatsächlich zusammenkommen, wird nicht verfolgt. Eine interne Analyse der Nutzerdaten zeigt aber, dass 50 % der suchenden Unternehmen nach der Trial-Phase bei der Anwendung bleiben und in das längerfristige Bezahlmodell wechseln. Ein Misserfolg war jedoch das beabsichtigte Matching zwischen den Persönlichkeitsdimensionen der Fahrer:innen und den Kulturdimensionen der Unternehmen: dem Algorithmus „gelang” es nicht, die Qualität der Matches (festgemacht an der Zahl der „Likes”, die die Fahrer:innen den Jobangeboten geben) zu verbessern. Deshalb wurde bei der Ausweitung des Geschäftsmodells auf eine andere Branche (Pflegekräfte) ein anderer Ansatz für das Matching zum Person-Organisation-Fit gewählt: die Interessent:innen (die Arbeitnehmer) wurden direkt nach der gewünschten Unternehmenskultur gefragt und diese Informationen eins zu eins mit den entsprechenden Angaben der Arbeitgeber gematcht. Für die Pflegekräfte wurden zudem andere Kulturdimensionen als relevant identifiziert (auf Basis von Interviews mit Pflegekräften und Arbeitgebern), s. Abb. 3.11. Diese Form des Matchings, ohne intelligenten Algorithmus, führt zu einer wesentlich besseren Qualität der Matches (festgemacht an der Zahl der „Likes”, die Arbeitnehmer:innen vergeben). Glücklicherweise scheinen im Allgemeinen die Wünsche der Arbeitnehmer:innen und die gebotene Arbeitskultur der Arbeitgeber übereinzustimmen – auch wenn fraglich bleibt, inwiefern die Angaben der Arbeitgeber der Realität des Arbeitsalltags entsprechen oder durch soziale Erwünschtheit beeinflusst sind (s. Abb. 3.12).
3 Fachkräftemangel und algorithmenbasiertes Matching
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Abb. 3.11 Abfrage der gewünschten Kultur (für Jobsuchende) (JobMatchMe)
Abb. 3.12 Gewünschte Unternehmenskultur (PC – „Private Customers“, d. h. Jobsuchende) vs. Angaben der Arbeitgeber zur Kultur (BC – „Business Customers) (JobMatchMe)
Ausweitung von JobMatchM‘s Geschäftsmodell auf andere Branchen und Länder JobMatchMe ist heute für Arbeitgeber und Interessent:innen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Polen verfügbar. Das Geschäftsmodell wurde auf andere Branchen (Pflegekräfte, Service- und Küchenkräfte in der Gastronomie, Fahrer:innen für Lieferdienste und Kurierdienste) ausgeweitet, und insgesamt sind im Jahr 2023 400.000 Jobsuchende bei JobMatchMe registriert, alle 2 min kommt auf diesem Weg ein:e Jobsuchende:r mit passenden Arbeitgebern in Kontakt.
52
3.5
O. Ringelband
Veränderter Mindset bei Arbeitgebern
Jedes Unternehmen weiß mittlerweile um den Fachkräftemangel bzw. den damit verbundenen War for Talent. In den letzten 15 Jahren hat sich der Arbeitsmarkt generell von einem Arbeitgebermarkt (die Arbeitgeber können wählen, wen sie einstellen) zu einem Arbeitnehmermarkt (die Arbeitnehmer können sich aussuchen, wo sie arbeiten wollen) gewandelt (s. Wirtschaftswoche, 2022). Diese Veränderung ist jedoch in den Köpfen vieler Menschen auf der Arbeitgeberseite (v. a. den HR-Abteilungen) noch nicht angekommen. Bezeichnend ist, dass heute immer noch die Rede von „Stellenangeboten“, „Bewerber:innen“ und „Bewerbung“ die Rede ist – auch wenn der eigentliche Bewerber heute das suchende Unternehmen ist. JobMatchMe spricht deshalb lieber von „Interessenten“ und „Jobangeboten“ – in der Hoffnung, dass sich dadurch das Verhalten der HR-Abteilungen ändert. Immer noch erwarten viele, dass sich Interessent:innen bei ihnen melden, da sie etwas wollen (einen Job). Stattdessen müssen sich heute die Unternehmen um die Interessent:innen bemühen. Im Beispiel von JobMatchMe sind diejenigen Arbeitgeber am zufriedensten mit dem Service, die sich aktiv auf verschiedenen Kanälen bemühen, die gematchten Interessent:innen möglichst schnell zu erreichen; unzufrieden sind diejenigen, die nach einem Match darauf warten, dass sich die Interessent:innen bei ihnen melden.
3.6
Zukunft des Recruitings: Matching statt Auswahl
Was lässt sich aus den Erfahrungen von JobMatchMe ableiten? Für Wissenschaft und Praxis gibt es einige Denkanstöße: Auch wenn sich der Arbeitsmarkt für akademische und hochqualifizierte Arbeitskräfte in einigen Bereichen anders gestaltet als für nichtakademische Fachkräfte (z. B. ist das Erstellen eines Lebenslaufs für Akademiker:innen keine so hohe Hürde wie für Lkw-Fahrer:innen), so lassen sich aus dem funktionierenden Recruiting-Modell von JobMatchMe einige Lehren für das zukünftige Recruiting generell ableiten: 1. Der Wandel des Arbeitsmarkts vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt bedeutet für die Unternehmen, es den Interessent:innen so leicht wie möglich zu machen, mit dem Unternehmen in Kontakt zu treten. Es gibt keine „Bewerber:innen“ mehr, sondern nur noch Interessent:innen. Die Unternehmen sind heute die Bewerber. 2. Daher ist es sinnvoll auch intern den Sprachgebrauch zu ändern. Denn Sprache prägt Einstellung und Verhalten gegenüber den Jobinteressent:innen. 3. HR sollte den Recruitingprozess von allem Ballast des klassischen Bewerbungsprozesses befreien. Selbstverständlich (schon wegen des AGG – Bundesministerium der Justiz, 2006) sollten Alter, Geschlecht und Herkunft keine Kriterien bei der Betrachtung von Interessent:innen darstellen. Auch Lebensläufe und Motivationsschreiben sind
3 Fachkräftemangel und algorithmenbasiertes Matching
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zunehmend Relikte aus dem letzten Jahrhundert. Generell sollten heutzutage formale Abschlüsse und Vorerfahrungen, aber auch Deutschkenntnisse eine geringere Rolle spielen; in der Start-up-Welt gilt schon länger das Prinzip „We are not hiring for experience, we are hiring for attitude“ (business.com, 2023). 4. Statt unter den Interessent:innen denjenigen/diejenige mit den besten Fähigkeiten für eine Position auszuwählen (der klassische Ansatz der Eignungsdiagnostik), sollten Unternehmen sich darum bemühen, Interessent:innen den Job anzubieten, der den Wünschen und Fähigkeiten der Person am besten entspricht. 5. Um potenziellen Interessent:innen möglichst schnell ein konkretes Jobangebot machen zu können, können algorithmenbasierte Matching-Systeme helfen. 6. Bei der Rekrutierung großer Gruppen von Interessent:innen, insbesondere aus dem Ausland (mit Migrationswunsch oder zur Remote-Arbeit), können digitale, algorithmische Matchingsysteme den Zugang zu Jobs bzw. das Finden passender Interessent:innen vereinfachen.
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Olaf Ringelband, Dr. Phil., Diplompsychologe. Geschäftsführer md gesellschaft für management-diagnostik mbh in Hamburg, Spezialist für Executive Assessment und Management Apraisals. Business Angel einiger Start-ups. Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg. Experte bei der Europäischen Kommission für Behavioural Economics und AI.
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Cybervetting: Valide Personalauswahl mit sozialen Netzwerken? Franz W. Mönke, Hanna Lüdemann und Philipp Schäpers
4.1
Ein Like aus der Personalabteilung
Haben Sie bereits soziale Netzwerke wie LinkedIn, Facebook und Instagram zur Rekrutierung und Vorauswahl von Bewerber:innen genutzt? Rund zwei von drei Personalverantwortlichen in Deutschland würden dieser Frage zustimmen, fand der Bitkom (2018b) in einer repräsentativen Studie in deutschen Unternehmen. Das zeigt, wie Personalauswahl, ein strategisch zentraler Prozess für jedes Unternehmen, zunehmend online stattfindet: Besser eine stabile Internetverbindung als ein fester Händedruck; die 1-Klick-Bewerbung statt ordentlicher Bewerbungsmappe; ein freundliches Auftreten im Gespräch macht Hasskommentare in Internetforen im Gesamteindruck vielleicht nicht wett. Soziale Netzwerke haben sich auch in der Personalauswahl etabliert, siehe Abb. 4.1. Noch vor 10 Jahren informierten sich nur 23 % der Personalverantwortlichen in sozialen Netzwerken über Bewerber:innen (2013), in wenigen Jahren hat sich diese Zahl fast verdreifacht (63 %; Bitkom, 2018b).
F. W. Mönke (B) · H. Lüdemann · P. Schäpers Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] H. Lüdemann E-Mail: [email protected] P. Schäpers E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. P. Stulle und R. T. Justenhoven (Hrsg.), Personalauswahl 4.0, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42142-7_4
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Abb. 4.1 Cybervetting in der Personalauswahl. (Eigene Darstellung)
4.1.1
Cybervetting: Soziale Netzwerke statt Bewerbung?
Cybervetting. Mit diesem Schlagwort beschreibt die Personalauswahlforschung, wie Personalverantwortliche nach Informationen über Bewerber:innen im Internet suchen. Berkelaar (2010, 2014) grenzte Cybervetting erstmals von etablierten Bewerbungsverfahren ab: Cybervetting findet meist vergleichsweise zu Beginn im Bewerbungsprozess statt, bei einem ersten Sichten der Unterlagen und noch vor dem Bewerbungsgespräch. Recruiter:innen nutzen Suchmaschinen, berufliche Netzwerke wie LinkedIn und Xing; lesen private Posts auf Facebook oder Instagram, um sich Informationen über die eigentlichen Bewerbungsunterlagen hinaus zu verschaffen. Dies geschieht durch die Personaler:innen selbst, informell (d. h. ohne formale Struktur), asynchron (d. h. nicht zeitgleich mit Bewerbung oder Profilerstellung), einseitig (d. h. ohne Einverständnis der Bewerber:innen) und verwischt oft die Grenzen zwischen Privatem und Beruflichen. Wichtige Themen für Personalverantwortliche sind dabei (siehe Becton, et al., 2019; Hartwell & Campion, 2020; Wilcox et al. 2022): Gibt es Anhaltspunkte für No-Gos und unangemessenes Verhalten? Passt ein:e Bewerber:in mit Persönlichkeit und Werten zur Unternehmenskultur? Passt die Qualität des Online-Profils zur Bewerbung und den angegebenen Qualifikationen? Cybervetting zielt darauf ab, möglichst schnell mehr Hintergrundinformationen zu Bewerber:innen zu erhalten und damit Kontext für eine erste Vorentscheidung zu bieten. Doch obwohl diese Cybervetting-Vorentscheidung als Ergänzung zu Lebenslauf und Auswahlgespräch mittlerweile weit verbreitet ist, ist die eignungsdiagnostische Validität von Cybervetting in der Literatur umstritten (Mönke & Schäpers, 2022). Viele Forscher:innen haben frühzeitig vor zweifelhafter Validität von Cybervetting gewarnt (z. B. Brown & Vaughn, 2011; Caers & Castelyns, 2011; Davison et al., 2011). Ein aktueller Überblicksartikel von Wilcox und Kolleg:innen (2022) warnt gar vor „reduzierter Produktivität“ in Unternehmen und „eingeschränkter Meinungsfreiheit“ (S. 329) in der Berufswelt durch Cybervetting-Praktiken. Auch in der Praxis ist Cybervetting kein einfaches Thema. Unter
4 Cybervetting: Valide Personalauswahl mit sozialen Netzwerken?
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Recruiter:innen herrscht oft Uneinigkeit darüber, inwiefern Cybervetting gut und hilfreich ist (McDonald et al., 2021; Pike et al., 2018). Weiterhin stellt sich für sie die Frage, ob Cybervetting ethisch und juristisch gerechtfertigt ist (Wilcox et al. 2022). Auf der anderen Seite des Auswahlverfahrens ziehen Bewerber:innen in Erwägung, Bewerbungen zurückzuziehen (Schneider et al., 2015; Suen, 2018) oder gar rechtliche Schritte einzuleiten, wenn sie von Cybervetting erfahren und ihre Privatsphäre verletzt sehen (Stoughton et al., 2015). Es bleibt bislang unklar, wie dieser meist verborgene, unstandardisierte Prozess die Gesamturteile von Personaler:innen beeinflusst. Was steckt dahinter?
4.1.2
Was versprechen sich Personalverantwortliche von Cybervetting?
Um sich dieser Frage zu nähern, fokussieren wir zunächst darauf, was sich Personalabteilungen von Cybervetting versprechen. Zahlreiche Befragungen und Interviews mit Praktiker:innen geben hier Aufschluss (z. B. Berkelaar & Buzzanell, 2015; Hedenus et al., 2021; Hoek et al., 2016; McDonald et al., 2021). Basierend auf diesen Studien klassifizieren Wilcox et al. (2022) die meisten Cybervetting-Intentionen in zwei Dimensionen: Die Person-Job-Passung (P-J) und die Person-Organisations-Passung (P-O; Hoek et al., 2016; Roulin & Bangerter, 2013). Diese beiden Dimensionen sind grundsätzlich ein guter Anhaltspunkt für valide Vorauswahl. Denn P-J-Fit (Wissen, Fähigkeiten) und P-O-Fit (Werte) einer Person sind als übergeordnete eignungsdiagnostische Kategorien in der Personalauswahl etabliert und enthalten valide Prädiktoren für die spätere Leistung von Mitarbeitenden (z. B. Kristof-Brown et al., 2005). Spannend ist hier die Frage, ob soziale Netzwerke tatsächlich valide Rückschlüsse auf diese Dimensionen zulassen. Denn implizites Ziel ist auch ein unabhängiger Check, ob die in der Bewerbung angegebenen Eigenschaften und Werte sich im Onlineprofil spiegeln; d. h., ob das Onlineprofil zum Eindruck aus der Bewerbung passt (Berkelaar et al., 2015; Hoek et al., 2016; Walrave et al., 2022). Ein weiteres Motiv für Personalverantwortliche ist das Ausschließen von Bewerber:innen, die sich aus ihrer Sicht online unangemessen verhalten: Dabei steht also die Vertrauenswürdigkeit und Professionalität einer Person hier im Fokus. Dazu suchen Recruiter:innen gezielt nach No-Gos (sog. Red Flags) in sozialen Netzwerken, wie zum Beispiel diskriminierende und freizügige Postings, Drogenmissbrauch, Lästern über den Arbeitgeber oder Rechtschreibfehler auf dem Profil, die dann die Einschätzung über Bewerber:innen negativ beeinflussen (Becton, Walker, Gilstrap, et al., 2019; Berkelaar, 2017; Hartwell & Campion, 2020; McDonald et al., 2021). Cybervetting hat damit rasch ganz reale Folgen. Rund jede:r vierte Personalverantwortliche in Deutschland hat schon Bewerber:innen aufgrund von Cybervetting ausgeschlossen, zeigte die Bitkom-Befragung (2018b). Die eigentliche Idee hinter Cybervetting wird damit klar: Unsere Persönlichkeit, Werte oder eben das Verhalten am Arbeitsplatz sollen Spuren im digitalen Verhalten auf
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Abb. 4.2 Cybervetting Prozess. (Eigene Darstellung)
einer Plattform hinterlassen. Viele Personalverantwortliche sind überzeugt, dass SocialMedia-Profile substanzielle Rückschlüsse auf die künftige Performance und das Potenzial von Bewerber:innen zulassen; denn durch Cybervetting gelange man an (versteckte) Informationen, die über Anschreiben, Lebenslauf und Auswahlgespräch hinausgehen (siehe z. B. Hartwell & Campion, 2020; Hoek et al., 2016). Eine weitere Annahme ist, dass Cybervetting weniger durch positive Verzerrungen und Faking betroffen sei, da Angaben quasi sozial „kontrolliert“ seien, d. h. falsche Angaben würden Widerspruch im Netzwerk auslösen (Guillory & Hancock, 2012; Roulin & Bangerter, 2013). Cybervetting verspricht damit eine günstige, einfache und moderne Art der Vorauswahl von Bewerber:innen. Abb. 4.2 gibt einen Überblick.
4.2
Soziale Netzwerke als Indikator für Verhalten und Eigenschaften
Kann Cybervetting dieses Versprechen einlösen? Zur Beurteilung, ob mit Cybervetting eine sinnvolle Beurteilung von Bewerber:innen erfolgen kann, ziehen wir zwei etablierte Konzepte der Validitätsprüfung heran: Zunächst die konvergente Validität – hier ist zu klären, ob Cybervetting-Informationen zu ähnlichen Schlüssen wie andere Informationsquellen zum selben Konstrukt kommen (z. B. die Leistungsmotivation einer Bewerber:in gemessen durch: Verhaltensbeobachtung im Assessment Center, Selbsteinschätzung im Interview, Fremdeinschätzung nach dem Interview oder Cybervetting) – und außerdem die kriteriumsbezogene Validität – hier ist zu prüfen, ob aus den Social-Media-Informationen eine substanzielle Prognose über Berufserfolg und Verhalten am Arbeitsplatz getroffen werden kann (z. B. können Intelligenztests und strukturierte Interviews den Berufserfolg gut vorhersagen; Alter und Handschriftanalysen weniger gut; Sackett et al., 2022)
4 Cybervetting: Valide Personalauswahl mit sozialen Netzwerken?
4.2.1
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Cybervetting im Vergleich zum Selbstbericht: Konvergente Validität
Hinsichtlich konvergenter Validität gilt Cybervetting als vielversprechend. Es ist in vielen Studien gut belegt, dass aus sozialen Netzwerken valide Rückschlüsse auf die Persönlichkeit einer Person gezogen werden können, z. B. bei Persönlichkeitsfaktoren und Intelligenz (z. B. Back et al., 2010; Kluemper et al., 2012; Vazire & Gosling, 2004). Auch Selbsteinschätzungen zu karriererelevanten Fähigkeiten in Kommunikation, Planung und Führung können substanziell aus LinkedIn-Profilen rekonstruiert werden, dies zeigten Roulin und Levashina (2019) in ihrer Studie mit LinkedIn-Profilen. Drei Metaanalysen fassen den bisherigen Stand der Forschung zusammen und belegen, dass Persönlichkeitsfaktoren wie die Big Five (Extraversion, Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus, Verträglichkeit), Wohlbefinden und Intelligenz substanziell durch Rater:innen aus sozialen Online-Netzwerken erschlossen werden können (Azucar et al., 2018; Settanni et al., 2018; Tskhay & Rule, 2014). Während Tskhay und Rule (2014) eine ausgeprägte konvergente Validität vor allem für den Persönlichkeitsfaktor Extraversion finden (metaanalytische Korrelation von r = ,42 zwischen Cybervetting und Selbstbericht; andere Faktoren nur zwischen ,11 und ,21), zeigen Azucar et al. (2018) und Settanni et al. (2018) über alle Big Five substanzielle metaanalytische Zusammenhänge im mittleren Bereich (r zwischen ,29 und ,40 bei Azucar et al., 2018; r = ,34 über alle Big Five bei Settanni et al., 2018). Diese Werte bewegen sich im Bereich des üblichen Zuverlässigkeitsgrades von Einschätzungen durch Kolleg:innen; höher als Fremde und ein erster Eindruck, aber niedriger als Familie, Freund:innen oder Mitbewohner:innen (vgl. Connelly & Ones, 2010; Vazire, 2010). Das zeigt, dass sich für diese ausgewählten Persönlichkeitsmerkmale Selbsteinschätzungen und Einschätzungen basierend auf Profilen in sozialen Netzwerken im Berufskontext signifikant und zufriedenstellend überschneiden.
4.2.2
Cybervetting zur Vorhersage von Leistung: Kriteriumsvalidität
Weniger positiv ist die Frage nach der kriteriumsbezogenen Validität von Cybervetting zu beantworten. Denn diese wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Auf der optimistischen Seite ziehen Kluemper et al. (2012) sowie Kluemper und Rosen (2009) ein vielversprechendes Fazit. Sie berichten, dass Cybervetting-Einschätzungen die zukünftige Leistung von Mitarbeitenden gut vorhersagen können. Ähnlich optimistisch finden Roulin und Levashina (2019), dass die Bewertungen von LinkedIn-Profilen durch Personalverantwortliche vorhersagen konnten, ob Bewerber:innen später eine Stelle erhalten und befördert werden. Ebenso berichten Aguado et al. (2019), dass LinkedIn-Profile die Arbeitsproduktivität und das Potenzial von Arbeitnehmer:innen vorhersagen können. Zu anderen Schlüssen kommen hingegen Cubrich et al. (2021; Cybervetting auf LinkedIn) und Van Iddekinge et al. (2016; Cybervetting auf Facebook): Sie berichten, dass
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Cybervetting „zu null“ (S. 1832) mit späterer Arbeitsleistung (Vorgesetztenurteile) zusammenhängt. Becton, Walker und Schwager et al. (2019) fanden auch keinen Zusammenhang zwischen unprofessionellen Internet-Inhalten (Umgangssprache, Beleidigungen, Drogenkonsum) und unproduktivem Arbeitsverhalten (Selbstberichte über z. B. unentschuldigtes Fehlen, etwas mitgehen lassen; wohl aber mit Alkoholmissbrauch). Insgesamt zeichnen die bisherigen Befunde damit ein widersprüchliches Bild, ob aus Social-Media-Inhalten reales Verhalten am Arbeitsplatz vorhergesagt werden kann (vgl. Mönke & Schäpers, 2022). Diese Frage ist jedoch kritisch für Fairness und Angemessenheit jedes Personalauswahlverfahrens. Daraus ist auch bereits eine Diskussion in der Forschungsliteratur entstanden (z. B. Davison et al., 2016; Mönke & Schäpers, 2022; Wilcox et al. 2022).
4.3
Erklärungsansätze im Cybervetting-Diskurs
Personalverantwortliche können bei dieser Forschungslage nur irritiert sein. Während beispielsweise Roulin und Levashina (2019) Unternehmen ermutigen, LinkedIn zur Vorauswahl hinsichtlich Extraversion, Kommunikationsfähigkeiten und Intelligenz zu nutzen, rufen Davison et al. (2016), Unternehmen dazu auf, keinesfalls Cybervetting einzusetzen. Warum kommt es zu diesen so unterschiedlichen Befunden? Wir gehen nun auf wichtige Erklärungsansätze und Diskurse ein. Abb. 4.3 fasst unsere Erklärungsansätze zusammen.
4.3.1
Rauschen im Cyberspace: Reliabilität von Cybervetting
Eine erste wichtige Grundvoraussetzung für valide Personalauswahl ist, dass ein Verfahren mit möglichst wenig zufälligen Messfehlern behaftet ist (hohe Reliabilität = Zuverlässigkeit). Wenn jede:r Personalverantwortliche aus einem Profil ganz unterschiedliche Rückschlüsse zieht, kann Cybervetting keine valide Vorhersage von Berufserfolg zulassen. Roth et al. (2016) haben dieses Problem thematisiert: Sie warnten, dass soziale Netzwerke eine höchst unstandardisierte Informationsquelle seien – jedes Profil sei sehr unterschiedlich. Diesen Punkt griffen Zhang und Kolleg:innen (2020) auf, indem sie Facebook-Profile
Abb. 4.3 Cybervetting Erklärungsansätze. (Eigene Darstellung)
4 Cybervetting: Valide Personalauswahl mit sozialen Netzwerken?
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von Bewerber:innen auf ihre Inhalte analysierten. Sie fanden, dass beispielsweise Informationen über schriftliche Kommunikationsfähigkeiten, Werte und Bildung in den meisten Profilen vorhanden sind und Personalverantwortlichen gleichermaßen zur Verfügung stehen. Dass LinkedIn-Inhalte systematisch sein können, wird durch Zide et al. (2014) gestützt: Sie fanden, dass sich die Inhalte von LinkedIn-Profilen zwischen verschiedenen Berufsgruppen (konkret: Arbeitnehmer:innen im Vertrieb vs. Im Personalwesen vs. Arbeits-/Organisationspsycholog:innen) substanziell unterscheiden. Ein Blick in bisherige Studien zu Cybervetting-Urteilen zeigt dann wieder ein gemischtes Bild. Eine hohe Übereinstimmung zwischen Urteilen verschiedener Personalverantwortlicher berichten beispielsweise Kluemper et al. (2012), Roulin und Levashina (2019) und Schroeder et al. (2020); während Van Iddekinge et al. (2016) und Zhang et al. (2020) nur geringe Übereinstimmung berichteten. Die Überblicksstudie von Tskhay und Rule (2014) findet in Bezug auf die Big Five Persönlichkeitsfaktoren eine nicht besonders hohe, aber dennoch „signifikante“ (S. 27) Übereinstimmung zwischen Beurteiler:innen. Neben der Übereinstimmung von Urteilen ist die zeitliche Stabilität von Cybervetting-Inhalten kritisch. Jede Minute werden in sozialen Netzwerken mehrere hunderttausend Stories, Posts und Likes veröffentlicht. Wenn die Inhalte eines Profils so dynamisch sind, ändert sich die Datengrundlage von Cybervetting fortdauernd, was eine Standardisierung des Prozesses verkompliziert und zeitlich stabile Urteile erschwert. Dennoch, erste Studien geben positive Hinweise auf eine substanzielle zeitliche Stabilität von Cybervetting-Urteilen durch Beurteiler:innen (Roulin & Levashina, 2019) oder bei Persönlichkeitseinschätzungen durch Algorithmen einer künstlichen Intelligenz (Park et al., 2015). Dies spricht dafür, dass soziale Netzwerke in gewissem Maße interindividuelle Unterschiede systematisch abbilden können. Wie genau jedoch zuverlässige, d. h. reliable, Urteile aus Cybervetting möglich sind, zeichnet sich damit als eine offene Kernfrage der Cybervetting-Diskussion ab. Auch die Oberfläche der Plattformen ändert sich mit jedem Update; in den vergangenen Jahren ist z. B. der Fokus auf Fotos und Videos im Feed deutlich höher geworden.
4.3.2
Validität kann sich von Eigenschaft zu Eigenschaft unterscheiden
Ein weiterer Erklärungsansatz liegt darin, dass Cybervetting möglicherweise nur für bestimmte Merkmale von Bewerber:innen zufriedenstellend funktioniert. Ähnlich wie Funder (1995) in seinem einflussreichem Realistic Accuracy Model argumentieren Roulin und Levashina (2019), dass manche Eigenschaften per se sichtbarer als andere seien (siehe Vazire, 2010). Sie finden in ihrer Studie mit LinkedIn-Profilen, dass Extraversion, Intelligenz, Fähigkeiten in Führung, Kommunikation und Planung in der Gestaltung eines Profils mehr hervortreten als zum Beispiel Konfliktfähigkeit und Wissbegierde. Dieser Erklärungsansatz greift ein wichtiges Grundprinzip psychologischer Diagnostik auf:
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Nicht jedes Verfahren kann jedes psychische Merkmal gleich gut messen (z. B. Meyer et al., 2001; Schmidt-Atzert et al., 2021). Intelligenz wird beispielsweise in der Regel nicht per Tagebuchstudie (sondern per Leistungstest) gemessen, Persönlichkeit meist über Verhaltensbeobachtungen oder Selbsteinschätzung per Fragebogen, berufliche Interessen werden nicht per MRT (sondern per Fragebogen) erfasst (siehe z. B. Schmidt-Atzert et al., 2021). Bezogen auf Cybervetting zeigt uns dieses Grundprinzip, dass vielleicht manche Eigenschaften, die für Personalverantwortliche entscheidend sind, wie Leistungsmotivation, Stresstoleranz oder Hilfsbereitschaft, auf sozialen Netzwerken per se einfach nicht gut abzulesen sind. Urteile von früheren Kolleg:innen und Vorgesetzten, situative Fragen (in Interviews oder Assessment Centern) oder der klassische Lebenslauf bieten hier möglicherweise einen Messvorteil. Diese Unterschiede zwischen Eigenschaften können für die Cybervetting-Validität ein wichtiger Faktor sein und sollten in der Forschung systematisch weiterverfolgt werden. Diese Erkenntnisse können Personalverantwortlichen in der Praxis eine enorme Entscheidungshilfe sein, wann Cybervetting (nicht) sinnvoll ist (siehe auch Roth et al., 2016; Roulin & Levashina, 2019).
4.3.3
Plattformunterschiede und Informationsüberflutung: Wenn Privates beruflich wird
Personalverantwortliche erhoffen sich durch Cybervetting Zugang zu mehr Informationen über Bewerber:innen. Das funktioniert zwar, doch anders als vielleicht gedacht; denn es sind vor allem andere Informationen über Bewerber:innen, die sichtbar werden. Private, job-irrelevante Informationen werden im Bewerbungsprozess so zugänglich wie nie zuvor (Berkelaar, 2014). So zeigten Zhang und Kolleg:innen (2020) in ihrer systematischen Analyse von Facebook-Profilen, dass auch private Informationen wie religiöse und politische Einstellungen, der Beziehungsstatus, die sexuelle Orientierung, oder der Alkoholkonsum von Bewerber:innen meist offen verfügbar sind. Das unterstreicht: Job-irrelevante Details aus dem Privatleben sind automatisch Teil von privaten SocialMedia-Plattformen wie Facebook, TikTok und Instagram. Haustiere, Musikgeschmack oder politische Meinungen – im klassischen Bewerbungsgespräch als Thema schwer vorstellbar. So verändert Cybervetting die Informationen im Auswahlverfahren grundlegend, denn die Grenzen zwischen beruflichen und persönlichen Informationen verwischen (Berkelaar, 2014, 2017; Berkelaar et al., 2015; Berkelaar & Buzzanell, 2015). Wir heben diese Problematik hervor, da diese eigentlich privaten Informationen nicht ohne Folgen für die Bewerber:innen bleiben. So berichteten Zhang et al. (2020) beispielsweise, dass alkoholkonsumierende, sichtbar religiöse oder Single-Bewerber:innen schlechter bewertet wurden als andere Bewerber:innen. Die Urteile von Personalverantwortlichen sind verzerrt, wenn Profile fragwürdige Inhalte (wie z. B. Drogenmissbrauch, Partys, unhöfliche Sprache; Becton, Walker, Gilstrap, et al., 2019; Tews et al., 2020) oder Rechtschreibfehler (Scott et al., 2014) zeigen. Vor allem eine unbewusste Sympathie aufgrund von
4 Cybervetting: Valide Personalauswahl mit sozialen Netzwerken?
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geteilten Vorlieben, Einstellungen und Werten im Privatleben ist eine ernstzunehmende Gefahr in Cybervetting (Roth et al., 2017; Zide et al., 2014). Als konkretes Beispiel dafür untersuchten die Experimente von Roth et al. (2020) und Wade et al. (2020) den Effekt von politischen Posts auf Facebook und LinkedIn: Sie fanden, dass die politische Nähe zwischen Bewerber:in und Recruiter:in eine Eignungsbeurteilung stärker vorhersagte als die tatsächliche Eignung der Kandidaten (z. B. durch gute Abschlussnoten und frühere Berufserfahrung manipuliert). Mehr Informationen führen also nicht automatisch zu besseren Entscheidungen. Sind persönliche Details verfügbar, dann verzerren diese möglicherweise unbewusst die Einschätzungen selbst von erfahrenen Entscheider:innen. Denn sind Bewerber:innen wirklich ungeeignet für einen Job aufgrund ihres Privatlebens? Die Dimension dieser Frage ist groß: Die Bitkom-Befragung (2018b) berichtet, dass rund ein Drittel der Personalverantwortlichen bewusst auf private Interessen und Hobbys der Bewerber:innen während Cybervetting achtet. Fast 100 Jahre psychologischer Forschung rufen Personalverantwortliche auf, solche Einflüsse zu reduzieren. Denn die Validität von Entscheidungen steigt mit der Reduzierung von job-irrelevanten Störeinflüssen im Entscheidungsprozess (Highhouse & Brooks, 2023). Ein Ansatz dafür könnte sein, Cybervetting auf berufsbezogene Netzwerke (z. B. LinkedIn oder Xing) statt auf private Netzwerke (z. B. Facebook, Instagram, Twitter oder TikTok) zu beschränken (Lievens & Van Iddekinge, 2016; Roulin & Fernandez, 2022; Roulin & Levashina, 2019). Berufliche Netzwerke geben Nutzer:innen deutlichere Hinweise („stärkere Situation“), welche Verhaltensweisen im Plattform-Setting angemessen sind und könnten so auch Cybervetting zu mehr Standardisierung und Struktur helfen (Hartwell et al., 2022; Hartwell & Campion, 2020).
4.3.4
Klarere Antworten durch robustere Forschungsdesigns
Mehr als 10 Jahre nach den ersten Beschreibungen von Cybervetting (Berkelaar, 2010; Kluemper & Rosen, 2009) sind noch viele Fragen offen. Es drängt sich der Eindruck einer Lücke zwischen Cybervetting-Praxis und Forschung auf, die durch systematische Studien geschlossen werden sollte (Mönke & Schäpers, 2022). Beispielsweise beruhen viele Erkenntnisse in Cybervetting bislang auf Interviews mit Personalverantwortlichen aus der Praxis; wie sie Cybervetting nutzen oder mit welcher Intention (z. B. Berkelaar & Buzzanell, 2015; Hoek et al., 2016; McDonald et al., 2021). Dieses Vorgehen hat viele wertvolle Erkenntnisse zur Erkundung eines damals neuen Phänomens geliefert, doch Selbsteinsicht (insbesondere bei zu befürchtenden Urteilsverzerrungen) bleibt stets begrenzt. In der Literatur mehren sich daher Forderungen, die Urteilsbildungsprozesse von Cybervetting mehr experimentell zu testen (siehe Landers & Schmidt, 2016; Mönke & Schäpers, 2022; Roth et al., 2016). Die meisten bisherigen Studien haben sich zudem darauf beschränkt, Cybervetting-Beurteilungen der Big Five Persönlichkeitsfaktoren auf ihre Vorhersagekraft zu testen. Aktuelle Forschung legt jedoch nahe, dass
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die berufliche Leistung von Personen eher durch kontextualisierte (d. h. speziell auf das Verhalten am Arbeitsplatz bezogene) und spezifischere Persönlichkeitsfacetten (z. B. Leistungsmotivation statt allgemeiner Gewissenhaftigkeit) vorhersagbar ist, statt mit der breiten Big Five Taxonomie zur allgemeinen Beschreibung der Persönlichkeit (Judge et al., 2013; Sackett et al., 2022; Schulze et al., 2021; Shaffer & Postlethwaite, 2012). Gefragt sind daher Studien, die über die Big Five hinausgehen und dabei weitere populäre, aber in bislang wenig erforschte, Plattformen wie Instagram, Snapchat und TikTok einbeziehen, um aussagekräftige Schlüsse über die tatsächliche Validität von Cybervetting zu treffen. Es ist naheliegend, dass die Gestaltung einer Plattform (z. B. welchen Fokus sie auf Bilder und Videos legt) maßgeblichen Einfluss auf die Beurteilungsprozesse von Personalverantwortlichen hat. Weiterhin können sich Eigenschaften und persönliche Präferenzen der Personalverantwortlichen auf die Validität von Cybervetting auswirken: Beispielsweise sehen Personalverantwortliche die Cybervetting-Validität einer Plattform umso positiver, je mehr sie selbst auf dieser Plattform aktiv sind (Nikolaou, 2014); individuell verschiedene Moral- und Verhaltensvorstellungen am Arbeitsplatz sind der Maßstab für Cybervetting-Beurteilungen (Berkelaar & Buzzanell, 2015; McDonald et al., 2021); auch der kulturelle Kontext kann sich auswirken (z. B. gaben niederländische Personaler:innen an, unprofessionelle Inhalte stärker negativ zu werten als ihre italienischen Kolleg:innen; El Ouirdi et al., 2016). Ohne eine systematische Integration dieser Fragen fallen abschließende Urteile über den Nutzen von Cybervetting in diesem Kapitel schwer.
4.4
Wie Cybervetting besser werden kann
Da die Literatur zu unklaren Schlussfolgerungen kommt, haben die meisten Unternehmen bislang auf Regeln zum Umgang mit Cybervetting verzichtet (Bitkom, 2018a). Dennoch ist Cybervetting inzwischen eine weit etablierte Praxis in Unternehmen. Schon jetzt stellt sich daher die Frage, wie Cybervetting valider und fairer gestaltet werden kann. Der aktuelle Forschungsstand rät zu Vorsicht und einem bewussten Hinterfragen, welchen Wert eine Cybervetting-Information für eine bestimmte Stelle haben kann (und welchen nicht). Cybervetting bringt für eine Stelle im Online-Marketing gegebenenfalls deutlich relevantere Erkenntnisse als für Verwaltungsangestellte und kann damit von branchenüblichen Verhaltensstandards abhängen (Mönke & Schäpers, 2022; Wilcox et al. 2022). Standardisieren, Konkretisieren und Verschriftlichen des Cybervetting-Prozesses kann hilfreich sein (Hartwell et al., 2022), um gefährliche Fehleinschätzungen aus Sympathie zu verhindern. So könnte Cybervetting explizit in einer Beurteilungsmatrix gewertet werden, statt als hintergründiges Bauchgefühl den Bewertungsprozess ungewollt zu beeinflussen. Dazu gehört auch, Berufliches von Privatem zu trennen, z. B. durch die Beschränkung auf berufliche Netzwerken (z. B. LinkedIn) statt privater Profile (z. B. Facebook und Instagram; Roulin & Fernandez, 2022). Diese Strategie wird gestützt durch Roulin und Levashina
4 Cybervetting: Valide Personalauswahl mit sozialen Netzwerken?
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(2019): Die Reliabilität ließ sich in ihrem Untersuchungsdesign erhöhen, wenn Cybervetting strukturierter erfolgte; dem widersprechen allerdings die Befunde von Schroeder et al. (2020) und Zhang et al. (2020). Praktiker:innen können die Sichtweisen der Bewerber:innen stärker in den Fokus der Cybervetting-Kontroverse stellen. Nicht zuletzt hängt der Erfolg von Cybervetting und Personalauswahl von den Bewerber:innen (und ihren Profilen) selbst ab. Cybervetting gilt bei Bewerber:innen jedoch oft als unfaire Verletzung der Privatsphäre. Das wirft auch ethische Fragen auf und hat praktische Auswirkungen: Suen (2018) und Stoughton et al. (2015) berichten, dass Cybervetting die Attraktivität eines Unternehmens reduziert, sogar unabhängig von Erfolg oder Misserfolg der Bewerbung. Ähnlich thematisieren Aguado et al. (2016) und Cook et al. (2020) die Rolle von individuellen Einstellungen zu Cybervetting. Ihre Befunde stützen, dass Transparenz und ein strenger Fokus auf berufsrelevante Eigenschaften und Netzwerke zu mehr Akzeptanz führen. Hingegen könnte ein durch Cybervetting ausgelöstes Gefühl der Überwachung dazu motivieren, das eigene Profil aufzupolieren und so die Validität von Cybervetting zu verringern (Duffy & Chan, 2019; Guillory & Hancock, 2012; Hurrell et al., 2017; Schroeder & Cavanaugh, 2018). Naheliegend ist ebenso der Einsatz von künstlicher Intelligenz zur Systematisierung der Cybervetting-Screenings (Azucar et al., 2018; Guilfoyle et al., 2016; Langer et al., 2021). Tab. 4.1 gibt einen Überblick über die bekannten Vor- und Nachteile von Cybervetting in der Personalauswahl. Tab. 4.1 Vor- und Nachteile von Cybervetting in der Übersicht Vorteile/Chancen
Nachteile/Risiken
Einfach zugängliche Hintergrundinformationen
Hohes Risiko von Urteilsverzerrungen, Stereotype, und Diskriminierung
Schnelle Vorentscheidung
Vermischung von privaten und beruflichen Informationen
Spezielle berufliche Plattformen sind verfügbar
Unklare Jobrelevanz, unklare Vorhersagekraft
Erster, substanzieller Eindruck von Persönlichkeit (Big Five) möglich, v. a. Extraversion
Meist unstandardisierter Prozess; Urteile damit von Personaler:in abhängig
Ergänzung zu Lebenslauf & Anschreiben
Unklare Zuverlässigkeit und Stabilität
ggf. soziale Kontrolle der Informationen
Viele Forschungslücken
Erste Hinweise auf ähnliche Informationen auf verschiedenen Profilen
Negative Reaktionen von Bewerber:innen (Privatsphäreverletzung) Starke Plattform- und Interface-Abhängigkeit
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4.5
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Fazit
Personalauswahl hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. In Zeiten von OnlineStellenbörsen, beruflichen Netzwerken und Auswahlgesprächen per Video verändern Personalabteilungen ihre Strategien; zunehmend findet Personalrekrutierung und -auswahl online statt. Soziale Netzwerke haben sich dabei etabliert. Personalverantwortliche nutzen soziale Netzwerke dabei nicht nur als Rekrutierungsplattform, sondern immer öfter auch zum Prüfen von Hintergrundinformationen und zur Vorselektion. Aus eignungsdiagnostischer Sicht ersetzen Plattformen aber bislang noch keinen Lebenslauf. Wir haben in diesem Kapitel gezeigt, wie die Validität von Cybervetting diskutiert wird und wie wir offene Fragen in Praxis und Wissenschaft adressieren können. Für Praktiker:innen ist es keine gute Lösung, auf LinkedIn und Co zu verzichten. Dennoch unterstreichen wir zum jetzigen Zeitpunkt die Warnungen aus der Literatur. Obwohl Cybervetting inzwischen kein neues Phänomen mehr ist, bleiben noch viele Fragen offen. Cybervetting gehört daher umso mehr auf die Tagesordnung von Wissenschaft, Praxis und Gesellschaft.
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Franz W. Mönke (*1997) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand in der Arbeitseinheit Psychology of Entrepreneurship an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zusätzlich ist er als Fachstudienberater und Koordinator für ERASMUS / Internationales am Institut für Psychologie tätig. Schwerpunkte seiner Forschung sind Cybervetting, d.h. das Nutzen von Social Media zur Vorauswahl von Bewerber:innen, Personalauswahl und Politische Psychologie. Franz Mönke hat Psychologie an der Freien Universität Berlin (Bachelor of Science) und Humboldt-Universität zu Berlin (Master of Science) studiert.
Hanna Lüdemann (*1998) ist Studentische Mitarbeiterin in der Arbeitseinheit Psychology of Entrepreneurship an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sie ist Studentin im Masterstudiengang Psychologie mit dem Schwerpunkt Personal- und Wirtschaftspsychologie und arbeitet zusätzlich in der Arbeitseinheit Organisations-und Wirtschaftspsychologie, in der sie die Forschung zur Rolle von Vertrauen in der Führung unterstützt. Ihren Bachelor mit Schwerpunkt Wirtschafts- und Medienpsychologie absolvierte Hanna Lüdemann an der Universität Koblenz-Landau.
Philipp Schäpers (*1988) ist Juniorprofessor für Psychology of Entrepreneurship an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seine Promotion verfasste er am Lehrstuhl für Psychologische Diagnostik, Differenzielle und Persönlichkeitspsychologie an der Freien Universität Berlin. Er war außerdem als Senior Research Associate an der Singapore Management University beschäftigt. Große Teile seiner Forschung sind im Bereich Personalauswahl, Management-Diagnostik und Unternehmertum angesiedelt. Seine Arbeiten wurden in renommierten internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht (wie z. B. Journal of Applied Psychology oder Journal of Occupational and Organizational Psychology). Neben seiner Tätigkeit als Wissenschaftler arbeitet er ebenfalls als HR-Consultant.
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Gamification in Online-Assessments – Wie Recrutainment die Personalauswahl verbessern kann Kristof Kupka, Joachim Diercks und Lars Jansen
5.1
Einleitung
Gamification ist ein Trend, der in den letzten Jahren auch im Bereich der Personalgewinnung zunimmt (vgl. Jansen, 2017, 2021; Jansen et al., 2023, Ramos-Villagrasa et al., 2022). In Zeiten des Personalmangels und einer veränderten Erwartungshaltung vonseiten der Bewerbenden erscheint es nur folgerichtig, auch im Auswahlprozess Wert auf eine möglichst positive Candidate Experience zu legen (Ott et al., 2017). In einer Befragung von rund 300 Personalverantwortlichen zeigt sich, dass 63 % der Befragten die Verbesserung der Candidate Experience als das wichtigste Recruiting-Thema der nächsten Jahre sehen (Wald et al., 2018). Auf der Suche nach möglichst innovativen, von potenziellen Bewerberinnen und Bewerbern akzeptierten Vorgehensweisen setzen Unternehmen in der Personalauswahl daher vermehrt gamifizierte und gamebasierte Verfahren ein. Wenngleich in letzter Zeit auch in der Wissenschaft zunehmend untersucht wird, wie Gamification in der Personalgewinnung sinnvoll wirken kann (vgl. Ramos-Villagrasa et al., 2022), so sind die empirischen Belege dazu allerdings bisher noch recht überschaubar und erscheinen auf
K. Kupka (B) · J. Diercks Cyquest GmbH, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Diercks E-Mail: [email protected] L. Jansen HFH – Hamburger Fern-Hochschule, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. P. Stulle und R. T. Justenhoven (Hrsg.), Personalauswahl 4.0, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42142-7_5
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K. Kupka, et al.
einen ersten Blick sogar teilweise nicht vereinbar. Einige Untersuchungen weisen sogar einen nicht gewünschten negativen Effekt der Gamification auf die User-Akzeptanz aus. Hier will der vorliegende Artikel ansetzen: Dieser Beitrag will die Vielfalt an Gamification in Online-Assessments und die teils widersprüchlichen Befunde richtig einsortieren und dadurch aufzeigen, wie Gamification ein deutlicher Gewinn für die Personalauswahl sein kann. Dazu wird erläutert, was unter Gamification bzw. Recrutainment zu verstehen ist, welche Ziele damit verbunden sind und welche verschiedenen Bereiche und Klassen sinnvoll zu unterscheiden sind. Jeder der zwei Bereiche bzw. jede der vier Klassen von Gamification in Online-Assessments wird dazu anhand eines Anwendungsbeispiels illustriert und beschrieben. Abschließend wird die diesbezügliche aktuelle Forschungslage vorgestellt und aufgezeigt, welche Erkenntnisse daraus für die weitere Forschung und für die praktische Personalarbeit abzuleiten sind.
5.2
Was ist Recrutainment bzw. was ist Gamification in der Personalgewinnung?
Gamification kann als „the use of game design elements in non-game contexts“ verstanden werden (Deterding et al., 2011, S. 9). Es geht um den Einsatz von Spielelementen in einem Bereich, der selbst kein Spiel ist – wie zum Beispiel in der Personalgewinnung bzw. Personalauswahl. Eine klare Trennung zwischen dem Einsatz von Spielelementen oder der Verwendung ganzer Spiele (Serious Games) lässt sich mit Deterding et al. (2011, S. 11) allerdings nicht vornehmen: „The boundary between ‘game’ and ‘artifact with game elements’ can often be blurry“. Auch Fetzer et al. (2017, S. 294) weisen auf diesen Umstand hin, indem sie konstatieren: „The terms ‘gamification’ and ‘serious games’ are often used interchangeably”. In einem umfassenderen Begriffsverständnis lässt sich daher nicht nur der Einsatz von Spielelementen als Gamification verstehen, sondern Gamification beinhaltet auch die Anwendung ganzer Spiele im Sinne von Serious Games. Recrutainment wiederum meint die Gamification im Bereich der Personalgewinnung. Jansen et al. (2023, S. 222) beschreiben das folgendermaßen: • Recrutainment ist die Gamification des Recruitings und bezeichnet den Einsatz spielerisch-simulativer und benutzerorientierter Elemente und Verfahren in der Personalgewinnung inklusive Employer Branding, Personalmarketing und Personalauswahl; • Recrutainment dient der Verbesserung des Zusammenfindens von „passenden“ Kandidatinnen und Kandidaten und „passendem“ Arbeitgeber bzw. „passender“ Ausbildungseinrichtung vor dem Hintergrund einer optimalen Candidate Experience; • Unter Recrutainment fallen Offline- und Online-Verfahren, welche sich wiederum in Self- und Online-Assessments unterteilen lassen;
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• Unterhaltung ist idealerweise im Recrutainment kein Selbstzweck. Wichtig sollte immer der konkrete Bezug zu einem Arbeitgeber, einer Ausbildungseinrichtung, Berufen/Berufsbildern oder Berufs- und Bildungswegen sein. Recrutainment bezieht sich somit auf den gesamten Bereich der Personalgewinnung. Dies ist insofern wichtig, als dass die Qualität der Personalauswahl nicht nur von der Validität der Auswahlverfahren, sondern vielmehr auch von Grundquote – also dem Anteil passender Bewerbender unter allen Bewerbenden – und der Selektionsquote – also dem Anteil der Ausgewählten unter allen Bewerbenden – abhängig ist. Eine Verbesserung dieser beiden Quoten wird u. a. mithilfe von gamifizierten Self-Assessments angestrebt, die in diesem Beitrag hier allerdings nicht weiter thematisiert werden. Interessierte seien verwiesen auf eine umfassende Darstellung von Recrutainment Anwendungen bei Jansen et al. (2023). Fokus dieses Artikels ist der Teilbereich von Recrutainment, der sich auf OnlineAssessments zum Zwecke der Personalauswahl bezieht. Unter Online-Assessments im Allgemeinen sind dabei internetgestützte, eignungsdiagnostische Personalauswahlinstrumente zu verstehen (vgl. Kupka, 2008). Viele konventionelle Online-Assessments beinhalten keinerlei spielerische Elemente oder Spiele. Diese Online-Assessments sind typischerweise aus verschiedenen, aneinandergereihten diagnostischen Testverfahren zusammengestellt. Die Zusammenstellung der Testverfahren innerhalb eines Online-Assessments erfolgt dabei auf Basis einer Anforderungsanalyse. Es existiert mittlerweile aber auch eine Vielzahl an gamifizierten Online-Assessments bzw. ganzen Spielen, die als Online-Assessments zum Einsatz kommen. Diese OnlineAssessments im Recrutainment-Format kommen branchenübergreifend in verschiedensten Auswahlszenarien zur Anwendung – von der Auswahl für Ausbildungsberufe bis hin zur Selektion von Young Professionals oder Beraterinnen und Beratern, u. a. bei Airbus, der Allianz, Barmer, der Deutschen Telekom, Edeka, EON, Helvetia, McKinsey, der SBB oder der Targobank (vgl. Jansen et al., 2023).
5.3
Was ist die Zielsetzung von Gamification in Online-Assessments?
Mit dem Einsatz von Gamification in Online-Assessments zum Zwecke der Personalauswahl werden verschiedene Ziele verfolgt (vgl. Jansen et al., 2023; Melchers & Basch, 2021; Ramos-Villagrasa et al., 2022): • Steigerung der Akzeptanz bzw. sozialen Validität der eingesetzten Tests. Dazu zählen eine Verbesserung von Aspekten wie Spaß, Stressempfinden, Augenscheinvalidität, Erwartungsklarheit, Selbstdarstellungsmöglichkeit oder gar ein sog. „Flow-Erleben“ während der Testbearbeitung;
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K. Kupka, et al.
• Verbesserung der Wahrnehmung des gesamten Auswahlprozesses (Candidate Experience); • Verbesserung der Wahrnehmung des potenziellen Arbeitgebers (Employer Branding); • In einigen Fällen wird als Ziel die Erschließung neuer Zielgruppen verfolgt; • Für einige Verfahren wird als Ziel ausdrücklich der Schutz gegenüber möglicher Manipulation durch die User genannt, weil die Testintention und das gewünschte Verhalten nicht so schnell klar werden (s. u. „Stealth Assessment“); • Zuweilen wird als Ziel auch eine verbesserte Vorhersage von zukünftiger beruflicher Leistung gegenüber klassischen Testverfahren genannt. Die Idee ist dabei, dass in Spielen anderes, relevantes Verhalten gemessen werden kann als es in etablierten diagnostischen Verfahren der Fall ist. Das Anwendungsbeispiel zu Psychometric-Games von McKinsey (s. u.) hat eine solche Zielsetzung, die allerdings empirisch noch zu belegen ist. Zusammengefasst besteht die wesentliche Zielsetzung von Gamification in OnlineAssessments also typischerweise in der Akzeptanzsteigerung der Auswahlverfahren, einer möglichst positiven User-Bewertung des gesamten Auswahlprozesses (Candidate Experience) sowie einer verbesserten Employer Brand Bewertung (Jansen et al., 2022). Die Akzeptanz von Auswahlverfahren ist deshalb von besonderer Bedeutung, da Hausknecht et al. (2004) im Rahmen ihrer Metaanalyse, in welche die Ergebnisse von 86 Einzelstudien mit den Daten von insgesamt rund 49.000 Probandinnen und Probanden einflossen, empirisch Folgendes zeigen konnten: Kandidatinnen und Kandidaten, die im Rahmen des Personalauswahlprozesses eines Unternehmens positive Erfahrungen gesammelt haben, nehmen ein Jobangebot mit einer größeren Wahrscheinlichkeit an und sind auch eher geneigt, das betreffende Unternehmen anderen weiterzuempfehlen. Die Akzeptanz von diagnostischen Auswahlinstrumenten wurde wesentlich von den Arbeiten von Gilliland (1993) und Schuler (2000) beeinflusst. Während Gilliland (1993) die Aspekte der prozeduralen und distributiven Gerechtigkeit in seinem Modell der Bewerberreaktionen auf Auswahlprozesse betont, wertet Schuler (2000) die Akzeptanz begrifflich auf und setzt sie mit anderen Validitäten gleich, in dem er von „Sozialer Validität“ spricht. Ein ähnliches Konzept, das jedoch noch weiter gefasst ist, ist die Candidate Experience. Sie beschreibt den Gesamteindruck, den eine potenzielle Bewerberin bzw. ein potenzieller Bewerber von dem auswählenden Unternehmen während des Rekrutierungsprozesses erhält. Dies bezieht sich dann auf das gebündelte individuelle Erleben in einem Bewerbungs- und Auswahlprozess an allen direkten und indirekten Kontaktpunkten (vgl. Verhoeven, 2016; Warszta, 2018). Häufig wird auch eine Verbesserung der Wahrnehmung des Unternehmens als Arbeitgeber im Sinne einer Verbesserung der Employer Brand als Ziel ausgegeben (Jansen et al., 2022). Allerdings sind die Zielsetzungen der jeweiligen gamifizierten oder gamebasierten Online-Assessments zum Teil deutlich verschieden: So ist das Ziel von einigen Anwendungen, dass neue, spielaffine Zielgruppen gewonnen werden. Insbesondere der Aspekt,
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inwieweit die Testintention offengelegt oder eher verschleiert wird, unterscheidet sich teilweise fundamental und hat daher auch einen entscheidenden Einfluss auf die Ausgestaltung der jeweiligen Anwendungen. „Verschleierte“, „getarnte“ bzw. sogenannte „Stealth Assessments“ (Shute, 2011) sind Anwendungen, bei denen die Bewerberinnen und Bewerber möglichst gar nicht bemerken, dass sie getestet werden bzw. es als angenehm und unterhaltend wahrnehmen. Intention dieser Vorgehensweise ist, dass Manipulieren reduziert, eine mögliche Testangst vermindert und die Akzeptanz verbessert werden (Melchers & Basch, 2021; Woods et al., 2020). Während das Ziel vieler GameBased-Assessments die Verschleierung und das Ziel vieler Surreal-Gamified-Assessments zumindest eine gewisse Ablenkung von der Testintention ist, so streben Serious-GamifiedAssessments typischerweise gerade eine offene, transparente Kommunikation mit den Testpersonen an (Kupka, 2013). Dabei soll vielmehr mittels Gamification spielerischsimulatives Lernen relevanter Anforderungen und Inhalte des potenziellen Arbeitgebers gefördert und das Verständnis verbessert werden, warum ein bestimmtes Testverfahren zum Einsatz kommt.
5.4
Zum besseren Verständnis: Zwei Bereiche und vier grundlegende Klassen von Gamification in Online-Assessments
Aufgrund der Vielfalt an Ausgestaltungen und Zielsetzungen sowie aufgrund von scheinbar widersprüchlichen empirischen Ergebnissen (s. u.) haben Jansen et al. (2023) zum besseren Verständnis eine erweiterte Einteilung der Recrutainment Anwendungen für den gesamten Personalgewinnungsbereich eingeführt. Entscheidende Einflussgrößen sind dabei das Ziel (Selbst- vs. Fremdauswahl), das Ausmaß (gamifiziert vs. gamebasiert) und der Kontext der Gamification (surreal vs. serious) sowie schließlich die Validierungslogik. Hier soll auf den Bereich der Online-Assessments zum Zwecke der Personalauswahl im Detail eingegangen werden. Darüber hinaus wird in der Klassifikation auch der Bereich der Self-Assessments im Kontext der Selbstauswahl in Matcher und Recruiting-Games unterteilt. Ziel der Self-Assessments ist nicht die direkte Personalauswahl, sondern die Verbesserung der Selbstauswahl aufseiten potenzieller Kandidatinnen und Kandidaten. Der Bereich Self-Assessments wird umfassend mit zahlreichen Anwendungsbeispielen behandelt bei Jansen et al. (2023), s. auch Abb. 5.1. Gamification in Online-Assessments lässt sich in die grundlegenden Bereiche Gamified-Assessments (GA) und Game-Based-Assessments (GBA) unterteilen. Gamified-Assessments sind Online-Assessments, die mit Spielelementen angereichert sind. Grundelement ist dabei weiterhin das diagnostische Testverfahren (Jansen et al., 2023; Warszta, 2019).
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Abb. 5.1 Einteilung der Gamification in Online-Assessments in zwei Verfahrensbereiche und vier Klassen. (Quelle: Jansen et al., 2023, S. 345)
Gamified-Assessments sind somit im Kern Tests und keine Spiele. Es handelt sich dabei um Testverfahren, die zunächst nach den Prinzipien der psychologischen Diagnostik und Testgüte entwickelt und dann spielerisch angereichert werden (Diercks, 2018). Demgegenüber handelt es sich bei Game-Based-Assessments (GBA) um Spiele, die für den Zweck der Personalauswahl neu entwickelt oder zweckentfremdet werden. Dabei werden Spiele zu Testzwecken konzipiert oder aber Spiele zu Tests umfunktioniert, wobei angenommen wird, dass das gezeigte Spielverhalten reliabel und valide ist. Wichtig dabei ist zu betonen, dass GBAs, die in der Personalauswahl eingesetzt werden, den gleichen Anforderungen an Qualität der Eignungsbeurteilung im Sinne der DIN3340 unterliegen wie alle anderen Personalauswahlverfahren. So gilt es, im Rahmen von Studien die Verfahrensgüte und dabei insbesondere etwaig postulierte Zusammenhänge zwischen dem Spieleverhalten und den gewünschten Konstrukten und beruflichen Kriterien nachzuweisen. Die Spiele dienen dazu, auf psychologische Konstrukte, die für Berufserfolg wesentlich sind, bzw. auf zukünftige berufliche Leistung zu schließen. Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass die Verhaltensmessungen sich auch als reliabel – also
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zuverlässig – erweisen, sodass nicht fälschlicherweise ein einmal gezeigtes Spielverhalten nicht beständig und wiederholbar ist, es möglicherweise nur durch andere Faktoren (Spielglück, Computerspielerfahrung, Manipulation etc.) bestimmt wurde. Gamified- und Game-Based-Assessments verfügen nach Jansen et al. (2023) jeweils über zwei zu unterscheidende Subformen bzw. Klassen (s. Abbildung). Im Bereich Gamified-Assessments sind dazu Folgende zu nennen: • Serious-Gamified-Assessments (SeGA) • Surreal-Gamified-Assessments (SuGA) Der Bereich Game-Based-Assessments beinhaltet folgende Klassen: • Psychometric-Games (PsyGA) • Video-Games (ViGA) Die vier Klassen von Gamification in Online-Assessments weisen deutlich unterschiedliche Charakteristiken auf, wenngleich bei der Vielfalt an Ausgestaltungen von Gamification die jeweiligen Grenzen nicht als starr zu verstehen sind. Im Folgenden werden die vier Klassen von Gamification in Online-Assessments genauer vorgestellt und jeweils mit mindestens einem Anwendungsbeispiel veranschaulicht. Dabei werden nur solche Beispiele vorgestellt, zu denen auch bereits empirische Daten vorliegen.
5.5
Was sind Serious-Gamified-Assessments und wie sehen sie aus?
Serious-Gamified-Assessments (SeGA) bezeichnet Verfahren, bei denen etablierte psychometrische Testverfahren mit spielerischen Elementen angereichert werden. Dabei wird der „ernsthafte“ Anspruch mithilfe des konkreten Unternehmens- und Anforderungsbezug deutlich. Um diesen ernsthaften Bezug herzustellen, werden die Aufgaben typischerweise im Kontext einer realitätsnahen Rahmenhandlung präsentiert (Diercks, 2018). Es geht dabei in erster Linie nicht um das Spielen an sich, sondern um das spielerisch-simulative Kennenlernen des Unternehmens als potenziellen Arbeitgeber im Allgemeinen und der Anforderungen und Möglichkeiten einer konkreten Position oder Ausbildung im Speziellen. Dabei wird den Teilnehmenden bereits im Vorfeld gezielt transparent gemacht, warum bestimmte Testverfahren eingesetzt werden. Ziel dieser möglichst spielerischen, aber trotzdem realistischen Einblicke ist die Verbesserung der sozialen Validität der Testverfahren, eine Steigerung der User-Experience und somit ein möglichst positiver Einfluss auf die Employer Brand (Jansen et al., 2022). Die Idee ist dabei, dass je mehr im Rahmen von Online-Assessments spielerisch-simulativ über das Unternehmen und die
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Anforderungen gelernt wird, desto akzeptierter sollen auch die Verfahren sein, weil nachvollziehbarer wird, warum ein bestimmtes Online-Assessment durchgeführt wird. Um realitätsbezogenes Lernen zu ermöglichen, müssen die Assessments daher transparent und nicht „stealth“ sein. Serious-Gamified-Assessments fokussieren mehr auf Edutainment als auf Entertainment.
5.5.1
Anwendungsbeispiel: JobCheck der DPDHL
Ein Anwendungsbeispiel für ein Serious-Gamified-Assessment ist der JobCheck des Unternehmens Deutsche Post DHL (s. Abb. 5.2). Hintergrund ist der hohe Bedarf an neuen Mitarbeitenden im Bereich der Zustellung. Das Assessment ist zielgruppenentsprechend mobiloptimiert und recht kurz gehalten mit einer gesamten Durchführungsdauer von weniger als 10 min. Ziel ist es, möglichst schnell nicht passende Bewerberinnen und Bewerber aus jährlich mehr als 100.000 Bewerbungen zu identifizieren, um diese nicht weiter im Bewerbungsprozess berücksichtigen zu müssen (sog. Negativselektion). Gleichzeitig sollen Einblicke in den Berufsalltag gegeben werden (Realistic Job Preview) und so möglichst nicht passende Bewerbende abgeschreckt bzw. dazu animiert werden, ihre Bewerbung zu überdenken. Den Zugang zum JobCheck erhalten Bewerbende, nachdem sie ihre Bewerbung auf der Karriereseite abgeschlossen haben. Der JobCheck besteht aus zwei Abschnitten: Zuerst ist ein fünfminütiger spielerischer, berufsbezogener Test zu durchlaufen, bei dem möglichst schnell und richtig eine große Menge an Adressetiketten verglichen werden muss (vgl. Abbildung). Danach sehen die Bewerbenden zwei Jobvideos, die einen möglichst realistischen Einblick in den Berufsalltag von Paket-, Brief- und Verbundzustellerinnen geben. Dieser Realistic Job Preview gibt Einblicke in besondere Herausforderungen des Berufes wie schnelles Arbeiten, das Heben schwerer Pakete oder auch das Arbeiten draußen bei Wind und Wetter (vgl. Abbildung). Der JobCheck kombiniert also zwei Aspekte und unterstützt das Unternehmen zum einen bei der Personalauswahl, gleichzeitig soll er zum anderen den Usern auch eine berufliche Orientierung durch eine Verbesserung der Erwartungsklarheit geben (Diercks, 2020).
5.5.2
Anwendungsbeispiel: Online Allianz Campus
Der Versicherungskonzern Allianz setzt ein Serious-Gamified-Assessment für die Auswahl bei Ausbildungen und dualen Studiengängen ein. Im sogenannten Online Allianz Campus kommen anforderungsbezogen und in Abhängigkeit des Berufsbilds verschiedene Testverfahren aus den Bereichen beruflicher kognitiver Leistungsfähigkeit und berufsrelevantem Wissen zum Einsatz (Diercks, 2016), s. Abb. 5.3).
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Abb. 5.2 Anwendungsbeispiel eines SeGA – JobCheck der DPDHL. (Quelle: Diercks, 2020)
Abb. 5.3 Anwendungsbeispiel eines SeGA – Online Allianz Campus. (Quelle: Diercks, 2016)
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Besonderheit dieses Anwendungsbeispiels ist die umfangreiche und ernsthafte – weil berufs- und anforderungsrelevante – Gamifizierung des Online-Assessments. So werden etablierte Testverfahren mit spielerisch-simulativen Elementen und gamifizierten Informationen angereichert. Ziel ist, dass sich die Akzeptanz des Verfahrens und die User-Experience insgesamt verbessern. Bewerbende lernen spielerisch-simulativ, warum bestimmte Tests im Auswahlprozess zum Einsatz kommen und welche Angebote und Anforderungen das Unternehmen für potenzielle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bietet. Durch gamifizierte „Personalmarketinginseln“, die von aktuellen und ehemaligen Auszubildenden der Allianz moderiert werden, erhalten die Bewerbenden zwischen den Testverfahren relevante Informationen zu Ausbildung und Unternehmen. Um den Bewerbungsprozess möglichst interaktiv und unterhaltsam zu gestalten, bietet die Allianz eine Reihe von Quiz- und Spielelementen an. Durch das Beantworten von Fragen rund um das Unternehmen können die Bewerbenden mehr über die Allianz erfahren und gleichzeitig humorvoll angereicherte Inhalte kennenlernen. So können sie beispielsweise durch ein Memory-Spiel (s. Abbildung) Informationen über das Unternehmen sammeln, indem sie zusammengehörige Bilder aufdecken. Am Ende des Bewerbungsprozesses haben die Bewerbenden die Möglichkeit, einen „Infotainment-Bereich“ zu betreten, der auch nach Abschluss des Online-Assessments weiterhin zugänglich ist. Dieser Bereich, auch als „VIP-Lounge“ bezeichnet, bietet weitere informative und unterhaltsame Eindrücke des Unternehmens sowie die Möglichkeit, die von den Testimonials präsentierten Spiele erneut zu spielen (Diercks, 2016).
5.6
Was sind Surreal-Gamified-Assessments und wie sehen sie aus?
Surreal-Gamified-Assessments (SuGA) sind Online-Assessments, bei denen etablierte psychometrische Testverfahren in einen spielerischen Rahmen eingebettet sind, deren Inhalt weder etwas mit der Tätigkeit im Speziellen noch mit dem Unternehmen im Allgemeinen zu tun hat. Diese Assessments zeichnen sich also durch einen Fantasiekontext bzw. eine Realitätsferne sowie einen fehlenden direkten Anforderungs- und Unternehmensbezug aus. Hier soll vielmehr durch das möglichst positive Spielerlebnis die Akzeptanz und die User-Experience verbessert werden. Erste Surreal-GamifiedAssessments wurden bereits vor über zwanzig Jahren eingesetzt. Zwei SuGAs sind dabei zu beispielhaft nennen: Zum einen die Karrierejagd durchs Netz, bei der eignungsdiagnostische Verfahren in eine Fantasiewelt mit Online-Wesen eingebettet wurden (Diercks et al., 2007), zum anderen die Challenge Unlimited, die Siemens für die Personalgewinnung nutzte (Rapp, 2004). Bei der Challenge Unlimited wurden etablierte Testverfahren in eine surreale Rahmenhandlung integriert, bei der Asteroidengürtel durchflogen und Aufgaben als „Cyber-Consultant“ zu lösen waren.
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5.6.1
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Anwendungsbeispiel: PlayAssess
Ein neueres Anwendungsbeispiel eines SuGA ist das Verfahren PlayAssess der Firma cut-e (2018), heute Aon. Dabei werden klassische diagnostische Testverfahren in eine Rahmenhandlung mit einem Außerirdischen integriert. In der surrealen Spielgeschichte übernimmt der Alien namens „Odd“ die Kontrolle über ein Gebäude und fordert die Testperson nun auf, die Steuerung zurückzuerobern. Um das zu erreichen, muss der User verschiedene Testverfahren durchlaufen. Nach jedem absolvierten Test kommt der User dem Alien ein Stück näher, bis als Belohnung nach Abschluss aller Testverfahren der Alien besiegt ist und auf seinen Heimplaneten zurückgeschickt wird (cut-e, 2018), s. Abb. 5.4.
Abb. 5.4 Anwendungsbeispiel eines SuGA – PlayAssess von cut-e (2018)
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5.7
K. Kupka, et al.
Was sind Psychometric-Games und wie sehen sie aus?
Psychometric-Games (PsyGA) sind Spiele, die direkt mit dem Ziel entwickelt wurden, sie als eignungsdiagnostische Verfahren einzusetzen (Jansen et al., 2023). Es handelt sich hier also nicht um etablierte, psychometrische Testverfahren, die mit Spielelementen angereichert werden, sondern um gänzlich neue, nach Spielprinzipien entwickelte Verfahren, bei denen gleich bei der Entwicklung der Assessment- bzw. Bewertungszweck im Vordergrund steht.
5.7.1
Anwendungsbeispiel: Solve bei McKinsey
Ein Beispiel für ein Psychometric-Game ist das von McKinsey (2021) eingeführte Auswahlverfahren für zukünftige Unternehmensberaterinnen und Unternehmensberater namens Solve. Das Psychometric-Game besteht aus verschiedenen einzelnen Spielen. Die Games sind jeweils etwa 30–60 min lang und in eine umfangreiche Spielewelt eingebettet. Ein Spiel handelt beispielsweise von der Bewahrung eines fiktiven Ökosystems (s. Abbildung) und hat zum Ziel, dass bei Spielende möglichst viele Lebewesen überlebt haben (McKinsey, 2023). Die Steuerung und Logik ähneln der von Städtebauspielen. Das PsyGA hat als besondere Zielsetzung, die Problemlösefähigkeit von Personen besser vorauszusagen als klassische Testverfahren, um so den zukünftigen Anforderungen an Unternehmensberaterinnen und Unternehmensberatern möglichst nachzukommen. Dazu werden laut Kantar et al. (2018) alle Datenpunkte analysiert, die eine Person während der Spielebearbeitung vollzieht – also jegliche Maus- und Tastatureingaben sowie das Spielergebnis am Ende. Das PsyGA ist entwickelt für den Einsatz auf Computern und kann nicht per Tablet oder Handy bedient werden (McKinsey, 2021), s. Abb. 5.5.
5.7.2
Anwendungsbeispiel: Cognify
Ein weiteres Anwendungsbeispiel für Psychometric-Games ist Cognify der Firma Revelian. Das PsyGA will mithilfe verschiedener Einzelspiele die kognitive Leistungsfähigkeit erfassen (Landers et al., 2021, S. 31–34), s. Abb. 5.6. Das Spiel Resemble dient beispielsweise der Messung von Problemlösungsfähigkeiten. Die Testpersonen müssen dabei ein digital präsentiertes Muster mithilfe von Puzzlestücken nachbauen. Innerhalb von drei Minuten sollen möglichst viele von maximal neun Puzzles gelöst werden (s. Abbildung 6; Screenshot rechts oben). Das Spiel basiert laut Landers et al. (2021) auf einer Abwandlung eines Test-Elements aus dem Wechsler Intelligenztest für Erwachsene, kurz HAWIE. Ein weiteres Spiel, das zur Erfassung der Problemlösefähigkeit genutzt wird, ist Short Cuts (s. Abbildung 6; Screenshot unten
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Abb. 5.5 Anwendungsbeispiel eines PsyGA – Solve von McKinsey (2023)
Abb. 5.6 Anwendungsbeispiel eines PsyGA – Screenshots verschiedener Einzelspiele von Cognify. (Quelle: Landers et al., 2021, S. 32)
Mitte). Hierbei müssen die Testpersonen eine blaue Kugel durch ein Röhrensystem steuern, um das vorgegebene Ziel zu erreichen. Jede Bewegung der Kugel führt zu Abzügen in Form von Maluspunkten. Das Ziel des Spiels ist es, durch vorausschauende Planung den kürzesten Weg zu finden.
86
5.8
K. Kupka, et al.
Was sind Video-Games und wie sehen sie aus?
Video-Games (ViGA) sind Spiele, die ursprünglich zur Unterhaltung entwickelt wurden und nun als Test eine andere Verwendung finden. Sie bleiben daher in der Grundanlage ein Spiel, welches dann aber für den Einsatz in der Personalauswahl zweckentfremdet wird. Der direkte Anforderungsbezug ist hier typischerweise gering, sofern es sich nicht um Spiele handelt, die zufällig zum jeweiligen Berufsbild passen. Empirische Studien für Video-Games im Personalauswahlkontext sind schwer zu finden, daher wird im Folgenden ein Beispiel aus einem Versuchssetting vorgestellt. Besonderheit des folgenden Anwendungsbeispiels ist, dass es sich dabei nicht nur um ein Spiel handelt, welches zur Unterhaltung entwickelt wurde, sondern um ein Virtual-Reality-Spiel. Dies sind Games, die mit einer Virtual-Reality-Brille in einer kompletten fiktiven 3D-Welt gespielt werden.
5.8.1
Anwendungsbeispiel: Project M und Richie’s Plank Experience als Virtual-Reality Spiel
Sanchez et al. (2022) untersuchten, inwieweit sich zwei kommerzielle VR-Spiele für die psychologische Diagnostik eignen. Sanchez et al. (2022) haben in einem Setting mit Studierenden die beiden Virtual-Reality Spiele Project M und Richie’s Plank Experience (s. Abb. 5.7) sowie einen Big-Five-Persönlichkeitstest und einen Test zur emotionalen Intelligenz eingesetzt. Auffällig ist, dass hier zwei Video-Games genutzt wurden, denen per Augenschein zumindest ein gewisser Anforderungsbezug zur beruflichen Welt unterstellt werden kann. Während es im Spiel Project M u. a. um die richtige Einschätzung von Emotionen einer Person geht, so ist im Spiel Richie´s Plank Experience eine Orientierung im Raum wesentlicher Teil des Spiels. Beide Aspekte können in verschiedenen beruflichen Umwelten, zum Beispiel im vertrieblichen oder sozialen Bereich bzw. im mechanisch-technischen Bereich wichtig sein.
5.9
Wie ist der Forschungsstand hinsichtlich Gamification in Online-Assessments?
Wenngleich die Forschung zu Gamified- und Game-Based-Assessments als Personalauswahlverfahren noch am Anfang steht (vgl. Fetzer et al., 2017; Ramos-Villagrasa et al., 2022; Woods et al., 2020), so liegen dazu schon einige berichtenswerte Befunde vor: Bei Gamified-Assessments ist davon auszugehen, dass durch die Einbindung von simulativspielerischen Elementen die User-Experience und dadurch auch die User-Bewertung des Assessments insgesamt beeinflusst wird. Da die eingesetzten Testverfahren aber nicht als solche verändert werden, dürften diese vermutlich weiterhin ihre mehr oder weniger hohe Testgüte beibehalten.
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Abb. 5.7 Anwendungsbeispiel eines ViGA – Screenshots der VR Video-Games Richie´s Plank Experience und Project M – Ego-Perspektive innerhalb des Spiels (Evrstudio, 2023; Toast, 2023)
Hinsichtlich der Forschung zu Serious-Gamified-Assessments ist es nicht weiter verwunderlich, dass beim oben skizzierten DPDHL JobCheck in Validierungsuntersuchungen ein signifikant positiver Zusammenhang zwischen den Testleistungen und dem erfolgreichen Bestehen der Probezeit ermittelt wurde (Diercks, 2020). Auch in Bezug auf die avisierten Ziele der Gamification unterstreichen die Ergebnisse die angestrebte UserAkzeptanz, beispielsweise in Form einer positiven Bewertung des SeGA JobCheck: So empfehlen mehr als 90 % der Bewerbenden das Verfahren weiter. Hinsichtlich der Klarheit der Erwartungen, also der Frage, ob man nach Nutzung des JobCheck besser wisse, was einen beruflich erwartet, zeigte sich sogar eine Zustimmung von etwa 97 % der User (Diercks, 2020). Auch das zweite oben skizzierte Anwendungsbeispiel wurde hinsichtlich seiner Akzeptanz untersucht. So zeigte sich in der Vergleichsstudie von Ohlms et al. (2023a), dass das gamifizierte Online-Assessment, der Online Allianz Campus, gegenüber einem testinhaltlich vergleichbaren, aber nicht gamifizierten Online-Assessment hinsichtlich der Akzeptanzaspekte wie Fairness, Berufsbezug und Spaß besser bewertet wurde, wobei dieser Effekt nicht das übliche Signifikanzkriterium erreicht. Andererseits erwies sich die Klarheit der Erwartungen als signifikant besser in der gamifizierten Version gegenüber der nicht gamifizierten Version. Dieses Ergebnis verdeutlicht, dass eine ernsthafte, anforderungsbezogene Gamifizierung zu einer Verbesserung der User-Bewertungen führen kann. Auch andere Studien offenbarten, dass SeGAs mindestens gleich gute, häufig sogar bessere Bewertungen durch Testpersonen nach sich ziehen (u. a. Kanning et al., 2006; Landers & Collmus, 2022). Die Akzeptanz eines Serious-Gamified-Assessment, das knapp 1000 Bewerberinnen und Bewerber für einen Ausbildungsplatz bei einer großen Filialbank als Teil des Auswahlprozesses durchliefen, untersuchte Kupka (2013). Es zeigte sich dabei, dass die dort verwendeten Testverfahren im Vergleich zu anderen Leistungstests hinsichtlich der Augenscheinvalidität und des Gesamturteils besser bewertet wurden. Das Gesamturteil
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des umfangreich gamifizierten Online-Assessments wurde demnach wesentlich von der Testakzeptanz nach Kersting (2008) und den wahrgenommenen Recrutainment Aspekten wie Anforderungsbezug und relevanten Zusatzinformationen beeinflusst. Eine Reihe von Kontrollgruppenstudien von Hillers und Dries (2016) sowie Hillers et al. (2017) lieferten weitere interessante Ergebnisse zur Bewertung der Gamification von SeGAs. Dabei ging es um die Testakzeptanz und um die Bewertung der Employer Brand bei der kontrollierten Variation von Gamification-Anteilen von SeGAs. Hillers und Dries (2016) verglichen ein leicht gamifiziertes und ein nicht gamifiziertes Online-Assessment. Das enthaltene Testverfahren bildete ein klassischer Matrizentest, der in beiden Versionen in gleicher Weise zum Einsatz kam, während eine leichte Gamification durch zusätzliche Bilder von Mitarbeitenden sowie kurze bebilderte Informationen zum auswählenden Unternehmen eingebracht wurde. Im Ergebnis zeigte sich, dass die Online-Assessments gleich gut hinsichtlich der testbezogenen Messqualität, Augenscheinvalidität, Kontrollierbarkeit, Belastungsfreiheit und des Testgesamturteils bewertet wurden. Es offenbarten sich allerdings signifikant bessere Beurteilungen der Visualisierung und des Interesses am Unternehmen für die Version mit Gamification (Hillers & Dries, 2016). In der Folgestudie von Hillers et al. (2017) wurde das Online-Assessment systematisch hinsichtlich der Gamification und der Berufsbezogenheit variiert. Hier wurden als Testverfahren wiederum der klassische Matrizentest und zusätzlich ein berufsbezogenes Testverfahren (AFB) verwendet. Die Bewertung der Testakzeptanz blieb wiederum auf gleichem Niveau bei den verschiedenen Online-Assessments. Allerdings konnte der signifikante positive Effekt auf das Interesse am Unternehmen repliziert werden. Diese Ergebnisse unterstreichen die praxisrelevante Bedeutung von ernsthafter, anforderungsbezogener Gamifizierung für die Verbesserung der Bewertung der Employer Brand. Hinsichtlich der Forschung zu Surreal-Gamified-Assessment konnten Georgiou et al. (2019) positive Befunde zur Konstruktvalidität ermitteln. Dabei kam eine gamifizierte und videobasierte Version eines klassischen Situational Judgement Tests (SJT) zur Messung verschiedener sozialer Fähigkeiten zum Einsatz. Auch Surreal-Gamified-Assessments wurden in Studien auf ihre Akzeptanz und Testgüte untersucht. Hier zeichnet sich ein zum Teil widersprüchliches Bild ab. So führte die Einbettung eines Situational Judgement Tests in die Umgebung einer surreal gamifizierten Abenteuerinsel zu einer Verbesserung hinsichtlich der wahrgenommenen Testfairness und der Employer Brand Bewertung gegenüber der klassischen Variante (Georgiou & Nikolaou, 2020). Allerdings galt die Erhöhung der wahrgenommenen organisationalen Attraktivität nur für diejenigen Testpersonen mit einer hohen Videospielerfahrung (Gkorezis et al., 2020). In einer Vergleichsstudie mit Studierenden zwischen dem oben vorgestellten SuGA PlayAssess und einem nicht gamifizierten Assessment zeigte sich dagegen, dass die Fairness und die Arbeitgeberattraktivität beim SuGA nicht besser bewertet wurden. Die Beurteilungen lagen vielmehr im leicht schlechteren, aber insgesamt ähnlichen Bereich (Paffrath et al., 2020).
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Ohlms et al. (2023b) untersuchten die Akzeptanz und Validität eines Surreal-GamifiedAssessments, das in einer Minecraft-Kulisse spielt. Testpersonen sollten ein Land von einem Fluch befreien, indem verschiedene Problemlöseaufgaben, die sich auf die fluide Intelligenzmessung beziehen, zu lösen waren. Es zeigten sich bei der Studie mit Studierenden substanzielle Korrelationen zwischen dem SuGA und einem Intelligenztest in Höhe von r = .51 (N = 151). Dies bestätigt, dass grundsätzlich mittels SuGA kognitive Fähigkeiten erhoben werden können. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, da die Tests nur spielerisch eingebettet wurden und es sich im Grunde weiterhin um die gleichen Testverfahren handelt. Hinsichtlich der Akzeptanz allerdings zeigte sich, dass die surreal gamifizierte Version des Online-Assessments in allen erhobenen Akzeptanzbereichen wie Augenscheinvalidität, Attraktivität der Organisation oder Testangst schlechtere Bewertungen als der klassische Intelligenztest nach sich zog. Dieses deutliche Ergebnis zeigt auf, dass nicht jede Art von Gamification die gewünschte Verbesserung der User-Bewertung nach sich zieht und daher die Art der Gamification in der praktischen Anwendung genau betrachtet werden sollte. In Bezug auf Psychometric-Games und Video-Games ist die Forschungslage bisher noch spärlicher, insbesondere im Auswahlkontext. Besonderheit ist dabei gegenüber den Gamified-Assessments die Folgende: Da Game-Based-Assessments nicht auf etablierte, validierte Verfahren zurückgreifen, sondern es sich um neu entwickelte oder zweckentfremdete Spiele handelt, gilt es zuallererst nachzuweisen, dass die Verfahren sich überhaupt als Auswahlverfahren mit hinreichender Testgüte eignen. Dass dies grundsätzlich für Game-Based-Assessments möglich ist, zeigt eine Studie von Landers et al. (2021), die einige Mini-Games des oben beschriebenen Psychometric-Games Cognify untersuchten. Es zeigten sich laut Landers et al. (2021) positive Befunde hinsichtlich der Konstruktund Kriteriumsvalidität. Auch in Bezug auf die Akzeptanz wird von einer Verbesserung der User-Bewertungen gegenüber traditionellen Leistungstests berichtet. Dass aber nicht grundsätzlich mit einer Verbesserung der Akzeptanz beim Einsatz von Game-Based-Assessment zu rechnen ist, zeigt die Studie von Bhatia (2018). Beim Vergleich eines Game-Based-Assessments gegenüber einem konventionellen Testverfahren schnitten die gamebasierten Verfahren hinsichtlich wesentlicher Akzeptanzdimensionen schlechter ab, wenn das Flow-Erleben der Spielsituation kontrolliert wurde. Nur wenn die Testpersonen einen Flow-Zustand erreichten, erreichten die untersuchten PsychometricGames bessere Bewertungen. Inwieweit sich ein echter Flow-Zustand bei einem realen Auswahlverfahren für alle Bewerbenden erreichen lässt, ist allerdings fraglich. Bhatia (2018, S. 126–127) zieht folgendes Fazit: „While the non-GBA assessments used here do not have as favorable perceived job-relatedness ratings as simulations or work samples, they were still rated as more job-related, notably face valid, than their GBA counterpart when flow was controlled for. This means that GBAs may only be seen as job-related when they are able to induce flow, but that even then increased perceptions of job-relatedness are not guaranteed“.
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K. Kupka, et al.
Bei einer Untersuchung mit einer vermutlichen Vorversion des oben vorgestellten Anwendungsbeispiels Solve zeigten sich substanzielle Zusammenhänge zum Abschneiden in einem papierbasierten kognitiven Problemlösetest (Kantar et al., 2018). Es wird allerdings nicht ganz klar, inwieweit dieses PsyGA den Qualitätskriterien zum Einsatz im Auswahlkontext gerecht wird, inwieweit aus dem Spieleverhalten reliabel und valide auf berufsrelevante Eigenschaften oder Berufserfolg geschlossen werden kann oder inwieweit das Ziel erreicht wird, Berufserfolg besser und akzeptierter als bisherige Verfahren vorherzusagen. Das Beispiel verdeutlich trotzdem anschaulich, dass Unternehmen vor dem Hintergrund des aktuellen Arbeitsmarkts und der Schwierigkeiten, passende Bewerbende für noch unklare zukünftige Anforderungen zu finden, bereit sind, besondere und innovative Rekrutierungswege einzuschlagen und Psychometric-Games zur Auswahl einzusetzen. Wie bei Gamified-Assessments scheint es auch bei Game-Based-Assessments wesentlich für deren Akzeptanz zu sein, inwieweit ein Anforderungsbezug (job relatedness) für die Testpersonen wahrnehmbar ist. So kommen Ellison et al. (2020) im Rahmen einer Studie mit knapp 400 Testpersonen, die vier Game-Based-Assessments (vermutlich Psychometric-Games) durchliefen, zu folgendem Schluss: „Job-relatedness and opportunity to perform demonstrated the strongest relationships with perceptions of fairness and the two reaction outcomes in the current study. As such, organizations should consider using GBAs that reflect job-related content and provide candidates the opportunity to demonstrate these skills through the assessment“ (S. 251). Die Spielleistung in Video-Games kann – wenn die Spiele nicht auf reinem Glück aufbauen – sehr wohl mit beruflich relevanten Eigenschaften der Spielenden wie beispielsweise der kognitiven Leistungsfähigkeit zusammenhängen. Dies haben einige Untersuchungen gezeigt: So erwies sich der Zusammenhang zwischen der Leistung im Video-Game League of Legends und dem Abschneiden in der Wechsler Abbreviated Scale of Intelligence mit r = ,44 als substanziell (Kokkinakis et al. 2017). Foroughi et al. (2016) berichten sogar von einer Korrelation zwischen einem Computerspiel und einem Intelligenztest in Höhe von r = ,65. Die Herausforderung bleibt allerdings nachzuweisen, dass die Spielleistung auch reliabel und valide im Sinne eines Auswahlinstruments ist und auch von den Testpersonen akzeptiert wird. Dies erscheint bisher noch kaum gelungen (vgl. Ramos-Villagrasa et al., 2022). So kommen auch Sanchez et al. (2022) bei der Untersuchung der oben vorgestellten VR Video-Games Project M und Richie’s Plank Experience anhand von Daten von 112 Studierenden zu einem eher ernüchternden Schluss. VR-Video-Games zeigen demnach zwar großes praktisches Potenzial, die gefundenen Hinweise auf Reliabilität und Validität der beiden eingesetzten Video-Games sind bisher allerdings begrenzt und es bedarf hierzu zuerst weiterer Forschung.
5 Gamification in Online-Assessments – Wie Recrutainment …
5.10
91
Fazit
Gamification zeigt eine große und variantenreiche Vielfalt an Ausgestaltungen in OnlineAssessments. Auch wenn sich die einschlägige Forschung erst in letzter Zeit vermehrt dem Thema zugewendet zu haben scheint, so wird bereits jetzt deutlich, dass Gamification allein nicht automatisch die gewünschten Ziele – wie insbesondere die Verbesserung der User-Bewertungen – nach sich zieht. Damit wird erkennbar, dass nicht jede Art von Gamification in der Personalauswahl zielführend ist. So erweist sich offensichtlich ein wahrnehmbarer Anforderungsbezug sowohl bei Gamified-Assessments als auch bei Game-Based-Assessments als eine wesentliche Einflussgröße. Die Möglichkeit, spielerisch-simulativ etwas über einen potenziellen Arbeitgeber, über zukünftige Anforderungen zu lernen, scheint die Candidate Experience und die Bewertung der Employer Brand positiv zu beeinflussen und sollte daher in der Praxis der Personalauswahl deutliche Berücksichtigung finden. Insbesondere bei Studien zu Serious-Gamified-Assessments wurde von Verbesserungen hinsichtlich der Candidate Experience und Bewertung der Employer Brand berichtet, während surreale, realitätsferne, spielerische Einbettungen bei SuGAs nicht immer zum gewünschten Ziel kamen bzw. sogar auch negativ bewertet wurden. Inwieweit bei Gamified-Assessments die spielerische Einbettung auch einen Effekt auf die Akzeptanz des eingesetzten, klassischen Testverfahrens hat, ist möglicherweise auch hier von dem wahrnehmbaren Anforderungs- bzw. Berufsbezug abhängig, bedarf aber noch weiterer Forschung. Aber auch die theoriegeleitete Entwicklung von Psychometric-Games und der Einsatz von Video-Games hat großes Potenzial. Allerdings erscheint hier der Aufwand, ein Spiel mit Anforderungs- und Berufsbezug zu konzipieren bzw. sinnvoll einzusetzen und inhaltlich diagnostisch reliable und valide Spielleistungskennwerte zu bestimmen und messbar zu machen, vermutlich auch zukünftig als sehr hoch. Game-Based-Assessments können beruflich wichtige Eigenschaften messen. Inwieweit GBAs allerdings herkömmlichen diagnostischen Auswahlverfahren oder Gamified-Assessments hinsichtlich der Aufklärung von zukünftigem Berufserfolg überlegen sind, bleibt abzuwarten. Unklar ist auch, inwieweit Bewerbende während eines Spiels im Auswahlkontext komplett in das Spielerlebnis eintauchen und Flow erleben können. Denn ein mögliches Erleben von Flow im Spiel scheint wiederum eine positive Wirkung auf die Akzeptanz zu haben. Wie oben gezeigt, gibt es durchaus innovative Ansätze im Bereich der Game-Based-Assessments. Die empirische Evidenz für einen breiten Einsatz im Personalauswahlkontext ist aber noch zu erbringen. Die Forschung sollte in Zukunft im Detail darauf fokussieren, welche Arten von Gamification in den Verfahren umgesetzt wurden und welche Elemente darunter welchen Einfluss haben. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Gamification (sowohl im Sinne von Gamifiedals auch Game-Based-Assessments), wenn anforderungsbezogen und zielgruppenadäquat eingesetzt, sehr wohl mit einer Verbesserung der Akzeptanz, der Candidate Experience und der Employer Brand einhergehen und damit einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Personalauswahl leisten kann. Für die breite Personalauswahlpraxis erscheinen
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K. Kupka, et al.
insbesondere Gamified-Assessments einfacher umsetzbar. Auch Ramos-Villagrasa et al. (2022, S. 11) kommen in ihrem Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu GBAs in der Auswahl zum Fazit: „…we consider that they do not offer sufficient advantages to recommend their use over conventional methods unless it is thought that improving applicant reactions, especially organizational attractiveness … offers added value to the specific evaluation process”. Insbesondere letztgenannter Punkt ist dabei vor dem Hintergrund des zunehmend hart umkämpften Arbeitsmarktes und der Erwartungshaltung von Bewerbenden nicht zu unterschätzen. Es ist daher davon auszugehen, dass die Bedeutung von Gamification in Online-Assessments in der Personalauswahl weiter zunehmen wird.
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Dr. phil. Kristof Kupka, Diplompsychologe,hat an der Leuphana Universit¨at L¨uneburg u¨ ber das Thema E- und Self-Assessments promoviert. Er ist Gesch¨aftsf¨uhrer der webadelic.de GmbH und Leiter der psychologischen Verfahrensentwicklung der CYQUEST GmbH. Den Kern seiner akademischen und beruflichen T¨atigkeiten bilden die Themen Self- und Online-Assessments. Ergebnisse dieser T¨atigkeiten finden sich in zahlreichen Forschungsvorhaben, Vortr¨agen, Lehrauftr¨agen und Publikationen sowie in der Erstellung von Online- und Self-Assessments f¨ur Kunden.
Joachim Diercks, Diplom-Kaufmann, ist Geschäftsführer der CYQUEST GmbH mit Sitz in Hamburg. Dem Studium der Betriebswirtschaft mit den Schwerpunkten Marketing, Internationales Management, Personal und Wirtschaftsenglisch an den Universitäten Hamburg und Berkeley folgte 1998 der Berufseinstieg als Marketing Analyst für Bertelsmann in London. Anfang 2000 gründete er CYQUEST. CYQUEST ist heute einer der führenden Anbieter unternehmens- und hochschulspezifischer Lösungen aus den Bereichen Eignungsdiagnostik (Online-Assessment) sowie Berufs- und Studienorientierung im deutschsprachigen Raum. Diercks ist Gastdozent an verschiedenen Hochschulen (u. a. HS Fresenius, FH Westküste, TH Brandenburg), Herausgeber des Buchs „Recrutainment“ (2013), Autor einer Reihe von Fachartikeln zu verschiedenen E-Recruiting- und Employer-Branding Themen sowie regelmäßiger Referent bei HR-Fachkongressen. Mit dem Recrutainment Blog zeichnet er für einen der meistgelesenen deutschsprachigen HR-Blogs verantwortlich. Prof. Dr. rer. nat. Lars Johannes Jansen, Diplompsychologe, hat die Professur und die Studiengangsleitung für Wirtschaftspsychologie an der HFH Hamburger FernHochschule inne. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des Personalmarketings, der Eignungsdiagnostik sowie der Stressresistenzforschung vor dem Hintergrund der Personalauswahl und -entwicklung. Der Autor verfügt über mehrjährige Berufs- und Führungserfahrung im Personalbereich in unterschiedlichen Branchen, wie dem psychologischen Dienst der Bundeswehr, der Otto (GmbH & Co KG) sowie der Hermes Fulfilment GmbH.
6
Virtual Reality in Personalauswahl und Personalentwicklung Ina Vollendorf und Maximilian Jansen
6.1
Was ist VR und welche Technologien gibt es?
Geschichtlich gesehen wurde das erste funktionale VR-System, welches unserem heutigen Verständnis entspricht, bereits 1956 entwickelt. Das damalige Konzept zeigte eine Apparatur, welche einen 3D-Film aus der Ego-Perspektive abspielt. Spezieller Sound und ein beweglicher Sitz erzeugten bei Nutzer:innen ein bisher nicht gekanntes intensives Erlebnis (Martirosov & Kopecek, 2017). Die heutige Virtuelle Realität (VR) ist ein Terminus, der für die Fähigkeit von Geräten steht, eine immersive, interaktive Umgebung mit visuellem Wiedererkennungswert zu schaffen. Es umfasst Benutzeroberflächen, die das Eintauchen in eine digitale Welt visueller und akustischer Reize ermöglichen (AL-Oudat & Altamimi, 2022). Im Kontext von Virtual Reality meint Immersion die Wahrnehmung, dass Nutzer:innen vollständig von der virtuellen Umgebung umgeben sind (Aguinis et al., 2001). Der Zweck besteht darin, den sensorischen Informationsfluss aus der realen Welt zu reduzieren oder zu eliminieren und durch eine computergenerierte Welt zu ersetzen. Es gibt unterschiedlich immersive Arten von VR: Bei der immersivsten Form wird ein stereoskopisches Head-Mounted-Display (HMD) mit Bewegungsverfolgung verwendet, um festzustellen, wohin Benutzer:innen blicken. Die Sicht auf die Außenwelt ist dabei vollständig versperrt, wodurch ein stark allumfassendes Gefühl entsteht, während gleichzeitig ein ungehinderter Blick auf die virtuelle Welt möglich ist (Boyles, 2017). I. Vollendorf (B) Aon Human Capital Solutions GmbH, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Jansen Welliba GmbH, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. P. Stulle und R. T. Justenhoven (Hrsg.), Personalauswahl 4.0, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42142-7_6
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I. Vollendorf und M. Jansen
Benutzer:innen können sich durch Kopfbewegung und Körperdrehung umsehen, nach virtuellen Gegenständen greifen und mittels in den Händen gehaltener Controller mit diesen interagieren, was das Gefühl der Immersion weiter steigert. Die Inhalte können dabei ähnlich wie bei Videospielen digital kreiert werden, oder auch auf 360° Videoaufnahmen mit ergänzenden simulierten Elementen basieren (Huber et al., 2018). Eine Zwischenform virtueller Realität sind CAVE (Cave Automatic Virtual Environments), welche durch Projektoren gekennzeichnet sind, mit denen eine virtuelle Umgebung an Wänden um Benutzer:innen herum dargestellt wird. Auch die sogenannte Augmented Reality (AR), welche die Sicht von Benutzer:innen auf die reale Welt um computergenerierte Elemente erweitert, in der Regel 2D- oder 3D-Grafiken und Text (Kamphius et al., 2014), gilt als eine Zwischenform der virtuellen Realität. Bei AR können Nutzer:innen die Komponenten einer virtuellen Welt sehen, aber nicht mit ihnen interagieren. Weitere Formen sind Mixed Reality (MR) und Extended Reality (XR). Als Mixed Reality bezeichnet man eine Form der erweiterten Realität, bei der die realen Elemente und die virtuellen Elemente miteinander interagieren können. Dies ermöglicht es den Nutzer:innen, sowohl mit realen, als auch mit virtuellen Objekten zu interagieren. Ein Beispiel dafür sind 3D Hologramme. Erweiterte Realität (XR) ist ein allgemeiner Begriff, der alle bisherigen immersiven Technologien umfasst, sowie auch zukünftige Technologien, die erst noch entwickelt werden. Im folgenden Kapitel wird es primär um VR, aber auch um ein paar Beispiele der AR in der Personalauswahl und -entwicklung gehen, da dieser Bereich derzeit Basis einiger weiterführender Forschung ist und auch aktuell schon Anwendung findet.
6.1.1
Wie können die aktuellen Technologien genutzt werden?
Im Allgemeinen können typische VR-Plattformen in die zwei Varianten kopfbasiert und stationär unterteilt werden (Zhang et al., 2020). Bei einem VR-Head-Display, VR-Headset, oder Head-Mounted-Display (HMD) handelt es sich um einen Helm oder ein auf dem Kopf getragenes Display mit Sensoren zur Positionsbestimmung. Abb. 6.1 zeigt ein solches Modell in der Nutzung. Diese Headsets erlauben es, darauf zu reagieren, wohin der Benutzer schaut. Beispiele sind Occlusive VR Headsets oder Smartphone VRs (Google Cardboard, etc.). Eine weit verbreitete Option bietet die Oculus Quest 2 für derzeit 299 e mit 128 Gigabyte Speicher. Eine stationäre VR-Plattform ist in der Regel fest installiert und verwendet Projektoren und/oder große Bildschirme, um die visuellen Informationen des Erlebnisses anzuzeigen. Beispiele dafür sind Fishtank VR (VR über einen Bildschirm) oder Surround VR mit großformatigen Stereo-Projektionssystemen (CAVE Modell). In bisherigen CAVE Projekten kam es zu Anschaffungskosten von etwa 50.000 e für die Software und etwa 8000 e jährliche Lizenzkosten (Meier, 2013). Dabei sind die Hardwarekosten abhängig vom Projektplan und Umfang.
6 Virtual Reality in Personalauswahl und Personalentwicklung
99
Abb. 6.1 [VR Task und Teilnehmer] (Van Loon et al., 2018)
Augmented Reality (AR) ist von VR zu unterscheiden und wird meist über ein Smartphone genutzt. Es wird durch die Integration digitaler Informationen mit der Umgebung des Nutzers in Echtzeit gekennzeichnet. Eine größere Bekanntheit machte diese Art der virtuellen Realität erstmals 2016 mit der App Pokemon Go. Dabei wird die Umgebung mit der Handykamera gescannt und die Wirklichkeit um die eines Pokemons erweitert. Mittlerweile gibt es weitere Beispiele, welche meist sogar kostenlos angeboten werden. So hat das schwedische Möbelunternehmen IKEA bereits 2017 eine kostenlose App herausgebracht, mit der Möbel ausgewählt und mithilfe der Handykamera in den gewünschten Raum platziert werden können. Solche AR integrierten Apps sind auf spezielle Wünsche programmierbar. Einfache Lösungen liegen in der Entwicklung bei 5000–25.000 e und können dann von Endnutzer:innen kostenlos per App aufgerufen werden. Augmented Reality kann auch über spezielle Brillen genutzt werden. Dabei wird die Umwelt durch eine Brille betrachtet und gleichzeitig um virtuelle Informationen erweitert. VR und AR in Therapie und Lernen Mit der vermehrten Nutzung von Technologien wie VR und AR ist auch das Interesse an übergreifenden Themen wie Einfluss auf Lernverhalten, Persönlichkeitsentwicklung und andere Effekte gestiegen. So wurde in einer Studie aus 2021 aufgezeigt, dass VR Anwendungen das persönliche Gesundheitsgefühl verbessern können (Georgiev et al., 2021). Neue Studien legen nahe, dass VR Interventionen zur Förderungen des Erreichens langfristiger persönlicher Ziele auch das allgemeine Wohlbefinden gesunder Menschen verbessern (Georgieva & Geogriev, 2019). Darüber hinaus kann die Interaktion mit virtuellen Realitäten nachweislich kognitive Funktionen verbessern (Liao et al., 2020). Bei der Interaktion mit VR-Anwendungen ist zum Beispiel der Frontallappen aktiv am Arbeitsgedächtnis und der motorischen Kontrolle beteiligt (Calabrò et al., 2017), der Temporallappen an der semantischen Verarbeitung von Informationen und am episodischen Gedächtnis (Bréchet et al., 2019) und der Parietal-Lappen an der Erzeugung eines Präsenzerlebens
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I. Vollendorf und M. Jansen
(Brecht, 2017). Anscheinend können also zumindest solche Bereiche des Gehirns mittels VR-Anwendungen stimuliert und trainiert werden. Damit bietet VR eine Möglichkeit zur Präsentation unterschiedlichster Stimuli in einer sicheren Umgebung und kann somit das Erlernen von kognitiven, aber auch motorischen Fähigkeiten fördern (Aida et al., 2018). Außerdem ermöglicht VR in Kombination mit entsprechenden Messverfahren und -instrumenten eine reproduzierbare Erfassung von kognitiven Prozessen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Informationsverarbeitung, logischem Schlussfolgern und dem Lösen von Problemen (Ventura et al., 2019). Die stimulierende Wirkung von VR auf den menschlichen Verstand ist besonders für die kognitive Rehabilitation von großem Nutzen. Darüber hinaus ermöglicht VR die Kombination von emotionaler Anregung und körperlicher Bewegung, was die soziale, psychologische und emotionale Wirksamkeit verbessern kann. In Fällen von Angst, Depression und emotionaler Labilität hilft die Arbeit mit VR in der Therapie, Schmerz zu überwinden und zu einem stabileren, gesünderen Zustand zurückzukehren (Georgiev et al., 2021). Die geschaffene Umgebung in einer VR spielt auch eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des physischen, physiologischen und psychologischen Wohlbefindens, da viele Menschen einen Großteil ihrer Zeit in Innenräumen verbringen (Zhang et al., 2020). Gleichzeitig kann nicht nur VR erfolgreich eingesetzt werden, sondern auch ARgestützte Technologien verzeichnen große Erfolge. Eine Form der kontextbewussten AR wurde kürzlich im Kontext der Persönlichkeitsentwicklung genutzt. Dabei werden die persönliche Entwicklung und Veränderung thematisiert, einschließlich der Reduzierung von Stress und der Verbesserung der Emotionsregulierung(Riva et al., 2016). Bei diesen Anwendungen geht es um die Bereitstellung von just-in-time adaptiven Interventionen (JITAI) (Nahum-Shani et al., 2018). Sie sind definiert als „Interventionen, die darauf abzielen, die richtige Art von Unterstützung zu bieten, zur richtigen Zeit zu bieten, indem sie sich an den sich ändernden inneren und kontextuellen Zustand einer Person anpassen“ (Scargill et al., 2022). Die Realisierung solcher kontextbezogener AR-Anwendungen im Alltag erfordert jedoch erhebliche Fortschritte der Technologie in Bezug auf das Bewusstsein für die Umgebung, die Benutzer:innen und deren sozialen Kontext. Hierbei geht es um die Integration mehrerer tragbarer Sensoren mit einem Programm, das ein umfassendes Situations- und Kontextverständnis gewährleistet. In der zukünftigen innovativen Personalentwicklung ist dann auch eine Kombination aus beiden Bereichen (VR & AR) denkbar. So können Mitarbeiter:innen für die Verwendung neuer Arbeitsmittel zunächst trainiert und mithilfe von AR anschließend auch im Arbeitsalltag begleitet werden. Auch wenn dies dazu noch weiterer Entwicklungsfortschritte bedarf, kann so möglicherweise eine sicherere und weniger fehleranfällige Einarbeitung neuer Mitarbeiter:innen speziell in Gefahrenbereichen oder kostenintensiven Trainingssituationen ermöglicht werden.
6 Virtual Reality in Personalauswahl und Personalentwicklung
6.2
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Anwendungsbereiche in der Personalauswahl und -entwicklung
Aus Perspektive der Personalauswahl ist besonders der hohe Grad an Immersion interessant für mögliche Anwendungen im Kontext simulationsorientierter Verfahren wie Situational Judgement Tests (SJT) oder auch Realistic Job Previews (RJP). Der größte Nutzen von VR in der Personalauswahl ist eben dieses intensive Erleben einer Rolle und des Arbeitsplatzes, ohne tatsächlich in der wahren Umgebung zu sein. Dies ist insbesondere dann ein Vorteil, wenn VR als SJT oder RJP eingesetzt wird. Bewerber:innen können den Arbeitsplatz so visuell intensiver erleben, ohne ihn sich lediglich mental vorstellen zu müssen. Dies kann sich dann vor Allem auf die Augenscheinvalidität von Trainings- und Auswahlverfahren auswirken und deren Akzeptanz erhöhen. Gerade in Bezug auf komplexe oder gefährliche Szenarien können diese oft einfacher und ökonomischer über VR nachgestellt werden. Werden Virtual Reality Verfahren anstelle von persönlichen Interaktionen wie Interviews oder offline Assessment Centern (AC) genutzt, so liegen die damit verbundenen Vorteile in der größeren zeitlichen und räumlichen Erreichbarkeit von Bewerber:innen. Dabei können VR Verfahren auch zu Hause mit entsprechendem Set-up durchgeführt werden bei einer ähnlich hohen Immersion wie bei einer persönlichen Interaktion. Werden die Virtual Reality Verfahren vor Ort eingesetzt, fällt dieser Faktor weg. In einer Studie von 2022 (AL-Oudat & Altamimi) konnte dabei herausgefunden werden, dass VR die Problemlösungsfähigkeit verbessert und von Teilnehmer:innen positiver angenommen wurde als lokale Alternativen. In Bezug auf AR ist ein großer Vorteil die Möglichkeit eines verbesserten Wissenstransfers. So kann spezifisches Fachwissen in einem durch AR erweiterten Kontext auch an andere Mitarbeiter:innen weitergegeben werden, ohne dass seltenes Fachwissen verloren geht. Dabei kann auch die Lernmotivation gesteigert werden, da Trainings lehrreich und interaktiv sind. Ein erfolgreiches Beispiel für die Einführung von AR-gestützten Trainings findet sich bei der BMW-Group, deren Mitarbeiter:innen seit etwa 2017 durch AR-Brillen im Training der Motoren-Montage unterstützt werden. AR Brillen lassen dabei die Sicht auf die wahre Umgebung zu. Dabei leiten die eingebauten Visualisierungen die Lernenden durch die benötigen Arbeitsschritte und geben ihnen gezielte Hinweise. So konnte vorher ein:e Trainer:in jeweils nur eine Person einweisen, wohingegen nun durch die Hilfe der AR-Brillen drei Personen gleichzeitig angelernt werden können. Dabei haben interne Studien gezeigt, dass BMW keine Qualitätsunterschiede zum konventionellen Anlernen feststellen und sogar eine erhöhte Lernmotivation verzeichnen konnte (BMW Group, 2019). Ein weiteres Beispiel für vielversprechende AR-Anwendungen sind die Nasa T2 AR Wartungsassistenten, welche die Besatzung der International Space Station (ISS) in Form eines ‚Smart Assistant‘ beim Training und der Durchführung von Wartungsarbeiten an Fitnessgeräten unterstützt (Frank et al., 2020–2023). Dies verringert nicht nur den Trainingsaufwand, sondern reduziert auch die Abhängigkeit der ISS Besatzung
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vom Kontrollzentrum auf der Erde (Frank et al., 2020–2023). Die Nasa untersucht auch die Möglichkeit der Nutzung von VR, um Besatzungsmitglieder der ISS während Ihrer Missionen zum täglichen Fitnesstraining auf einem stationären Fahrrad zu motivieren, indem unterschiedliche virtuelle Trainingsumgebungen zugänglich gemacht werden (Thevenot, 2020–2022). Ein VR Setup ist dabei mit Sensoren am Trainingsgerät verbunden, was eine Anpassung der virtuellen Umgebung an die Pedalgeschwindigkeit und das Abspielen von passenden Umgebungsgeräuschen ermöglicht (Thevenot, 2020–2022). Dabei wird nicht nur AR bereits in verschiedenen professionellen Bereichen genutzt. Auch VR bringt enorme Vorteile für die Arbeit in Tätigkeiten mit erhöhtem Risikopotential oder in bestimmten Wissenschaftskreisen. Präsent wird die Technologie unter anderem bei Sicherheitstrainings (Chen et al., 2021), Architektur- und Ingenieurprogrammen (Alizadehsalehi et al., 2021; Zhang et al., 2020), Bildungsprogrammen (Boyles, 2017) und in der Forschung (Su et al., 2020). Neuere Entwicklung zielt auf eine Vielzahl von Bereichen ab, darunter Medizin, Spiele, Psychologie und Soziologie (AL-Oudat, & Altamimi, 2022). Anwendungsgebiete von VR finden sich derzeit vor Allem in Trainings von Aufgaben, die aufgrund von assoziierten Kosten oder Risiken anderweitig nur selten durchgeführt werden könnten, sowie in Bereichen von Produktentwicklung und -design, die von dreidimensionaler Darstellung und Möglichkeiten zur Simulation von Interaktionen und Manipulation von Objekten profitieren. Eine bekannte Fallstudie dazu ist von Johnson&Johnson (2021) im Gesundheitswesen durchgeführt worden. 2017 entwickelte ein Team für Bildungstechnologie und Innovation VR-Erfahrungen, um Chirurg:innen für die Implantation von orthopädischen Geräten zu schulen. Der Versucht zeigte, dass die VR-basierte Schulung vielversprechend, aber schwer zu skalieren war, bis die Oculus for Business und Osso VR auf den Markt kamen. Mithilfe dieser damals vergleichsweise kostengünstigen Alternativen konnte die Lösung skaliert werden und das Team demonstrierte, dass VR-Schulungen in der Gesundheitsbranche ein Weg zu besseren Ausbildungsmöglichkeiten und einer besseren Patient:innenversorgung sein können. Student:innen können in einer virtuellen Umgebung lernen, wie bestimmte Verfahren durchführt werden, ohne Patient:innen oder teure Ressourcen zu gefährden. In einem solchen Szenario führt der Lernende den Eingriff selbst durch – statt nur zu beobachten – und Ausbilder:innen sind dabei, um Hilfestellung und Rückmeldungen zu geben. Anders als bei der Ausbildung an echten Patient:innen kann die Lernumgebung leicht an die Bedürfnisse des Lernenden angepasst werden. So haben die in OSSO VR geschulten Medizinstudent:innen in einer vorher definierten Prüfung bis zu 233 % besser abgeschnitten als Student:innen, welche mit passiven Methoden ausgebildet wurden (Blumstein et al., 2020). Die Case Study verdeutlicht, dass ein großer Vorteil von Virtual Reality im Vergleich zu anderen Lernmethoden in dem hohen Grad an Interaktivität besteht. VR bietet auch viele einzigartige Vorteile, wenn sie im Rahmen der Weiterbildung eingesetzt wird. In erster Linie ist die Nutzung von VR in moderner Bildung ein Werkzeug für Pädagog:innen und Coaches mit der Möglichkeit, Teilnehmer:innen in ähnlich
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immersiven Maße zu erreichen wie durch Präsenztrainings (Bell & Fogler, 2004). Das Ziel von VR ist es dabei, die Individuen zu motivieren und zu stimulieren sowie gleichzeitig praktische Lernerfahrungen zu bieten (Hussein & Nätterdal, 2015; Shim et al., 2003). So konnten auch in der Case Study von Johnson&Johnson erfolgreich Lehrer:innen und Lernende aus unterschiedlichen Regionen der Welt zusammen geberacht werden. Beide Parteien haben dabei ihre Erfahrung als positiv und immersiv empfunden. Jedoch lassen sich auch drei große Herausforderungen beim Vergleich VR mit der Praxis und den Theorien herausarbeiten: Kosten, Benutzerfreundlichkeit und Angst vor der Technologie. Während es bei einigen Anwender:innen zu einer Stress- und Angstreduktion kommen kann, da es sich um eine kontrollierte Umgebung handelt, kann die virtuelle Umgebung bei anderen Personen auch das Gegenteil hervorrufen. Deshalb ist es als ein wichtiges Attribut zu beachten, wie es um die Einstellung der Lernenden gegenüber VR bestellt ist. Dieses Attribut berücksichtigt die individuelle Wahrnehmung der Technologie und die Bereitschaft, sie in ihr Lernen einzubeziehen und ist maßgeblich an dem Erfolg der VR genutzten Technologien zur Weiterbildung beteiligt (Huang et al. 2016). Daher ist es wichtig, die Faktoren zu verstehen, welche die Akzeptanz und die Bereitschaft der Nutzer:innen beeinflussen, VR-Technologie zu Bildungs- und Ausbildungszwecken einzusetzen. Eine Studie aus dem Jahr 2021 von Özgen et al. mit verschiedenen Nutzergruppen, welche Aufgaben zur Problemlösung bekommen hatten, zeigte, dass ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den VR- und der papierbasierten Gruppen in Bezug auf die Nutzungsabsicht und das berichtete Vergnügen bestand. Außerdem stellte sich heraus, dass VR die Problemlösungskapazitäten fördert (Özgen et al., 2021). Ein bekanntes Modell zur Beschreibung solcher Phänomene ist das Technologieakzeptanzmodell (TAM). Das Tam bildet eine Theorie der Informationssysteme, die beschreibt, wie Benutzer:innen Technologie akzeptieren und nutzen, es wurde in der oben genannten Studie als konzeptionelle Grundlage genutzt. Das TAM hilft zu verstehen, warum bestimmte Technologien von unterschiedlichen Personen eher akzeptiert oder abgelehnt werden. Die wahrgenommen Verbesserungen im Prozess gegenüber nicht-VR Alternativen, die wahrgenommene Nützlichkeit und die persönliche Einstellung haben dabei einen signifikanten Einfluss auf die Nutzungsabsichten; während die Benutzerfreundlichkeit und die wahrgenommenen Nützlichkeit gleichermaßen die persönliche Einstellung bedingen. Auch die erwartete Anstrengung in der Benutzung und die wahrgenommene Kompatibilität spielen eine wichtige Rolle (AL-Oudat & Altamimi, 2022). Während VR und AR bisher vermehrt im Bereich der Personalentwicklung genutzt wurden, gibt es durchaus auch Potenzial zur Nutzung in der Personalauswahl. Dabei kann VR in der Personalauswahl auf mehreren Arten eingesetzt werden. Es kann zum Beispiel eine Simulation von Arbeitsumgebungen erstellt werden, die eine realistische Simulation einer Arbeitsumgebung schaffen, in der potenzielle Kandidat:innen ihre Fähigkeiten testen und ggf. auch selbst beurteilen können. Während es sich bei ACs um Simulationen mit hohem Realitätsbezug handelt (sog. high fidelity simulations), ist bei SJTs nur ein geringer Realitätsbezug gegeben (sog. low fidelity simulations; Vgl. Weekley et al.,
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2015). Allerdings hat es in der Vergangenheit verschiedene Versuche gegeben, auch SJTs zunehmend realistisch zu gestalten. Bei diesen sogenannten multimedialen SJTs werden die Items nicht wie üblich in geschriebenem Format, sondern per Audio oder Video dargestellt. In der jüngeren Literatur wird dies auch im Kontext von Gamification als Immersion bezeichnet (Landers et al., 2020). Darüber hinaus kann zu einem gewissen Teil die Überprüfung von sozialen Kompetenzen gewährleistet werden, indem Interaktionsstile von Bewerber:innen bewertet werden. Wie bei jedem Werkzeug hängt die Qualität seiner Nutzung sowohl von den Absichten der Nutzer:innen, als auch von der Qualität und Angemessenheit seiner Inhalte ab. Es kann in positiven Fällen die Art und Weise, wie wir uns selbst und die Welt um uns herum sehen, tiefgreifend beeinflussen. Dies bietet die Möglichkeit, einzelne Lebensereignisse oder Arbeitsergebnisse zu einem zusammenhängenden Szenario zu arrangieren. Dies soll dabei helfen, wichtige Meilensteine erneut zu erleben und objektiv zu betrachten. Dabei erhält man die Möglichkeit, alternative Handlungen und Lösungswege zu erarbeiten. Im Arbeitskontext können dabei personalisierte Trainings erstellt und auch Konflikte differenziert betrachtet werden. Das Eintauchen in die VR im Rahmen solcher Situationen ermöglicht dann auch die Erkundung alternativer Szenarien, die der eigenen Persönlichkeitsentwicklung dienen können (Georgieva, 2017).
6.3
Welche Potenziale gibt es in Bezug auf zukünftige VR/ AR-Nutzung?
In Zukunft werden innovative Technologien wie VR und AR eine immer wichtigere Rolle bei der Personalauswahl und -entwicklung spielen. Dabei lässt sich vor allem mit einem besonders immersiven Bewerbungsprozess werben, was die Möglichkeit erhöht, Top-Talente zu akquirieren. Nutzende können in Trainings- und Auswahlverfahren mit realistischen Szenarien konfrontiert werden, die ein immersives Erleben der Situation ermöglichen. Darüber hinaus können virtuelle Touren angeboten werden, um Kandidat:innen besser mit der Unternehmenskultur vertraut zu machen, während sie auf ausgewählte Mitarbeiter:innen treffen und die Bürolandschaft erkunden. Dabei haben sich bereits Unternehmen wie Aptitude (https://www.aptitude.ph) und Cappfinity (https:// www.cappfinity.com/vr-for-assessment) auf genau solche Punkte spezialisiert und bieten dazu maßgeschneiderte Lösungen an. Ein weiteres Beispiel ist die Firma Warp VR (https://www.warpvr.com), die eine einsteigerfreundliche VR-Entwicklungs-App betreibt, die Funktionen zur Bewertung und Beurteilung enthält. Damit können dann auch eigene Szenarien für VR erstellt werden. Das zentrale Motto dieses Unternehmens lautet: VR bringt den Arbeitsplatz näher und schafft eine realistischere Bewerbungserfahrung! Wem der Schritt zur eigenen Virtuellen Realität noch zu kostspielig oder umständlich ist, kann sich als Vorstufe auch nur der AR bedienen. Diese Anwendung bedeutet in der
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Regel einen geringeren Entwicklungsumfang als ähnliche Formate mit virtueller Realität. Denn im Gegensatz zu Virtual-Reality-Anwendungen, bei denen gleich eine ganze virtuelle Welt konstruiert und modelliert werden muss, wird bei Augmented-RealityAnwendungen nur ein Bild der realen Welt mit digitalen Bildern oder Text verändert. Außerdem ist von Vorteil, dass den Nutzer:innen die Interaktion mit ihrer Umgebung erleichtert wird und der persönliche Kontakt mit Menschen in ihrer Umgebung erhalten bleibt. Ein Problem dabei ist allerdings, dass bei den meisten AR-Anwendungen das Halten des Gerätes mit beiden Händen erforderlich ist, was zu einer geringeren Immersion führt (Ibáñez et al., 2014). Anhand der aufgeführten Argumente können beide Bereiche in der Zukunft von folgenden Trends beeinflusst werden:
6.3.1
VR- und AR-basierte Einstellungstests
Dabei können Unternehmen sich die genannten Vorteile beider Technologien zu Nutzen machen, um spezielle Einstellungstests durchzuführen. Zum Beispiel kann es den Bewerber:innen mit VR ermöglicht werden, sich in einer virtuellen Umgebung zu bewegen, die zum Kennenlernen des zukünftigen Arbeitsplatzes genutzt wird. Zusätzliche Einstellungstests können dann situationsbezogen eingebaut und so im Kontext gesehen werden – sowohl von der bewerbenden Person als auch vom möglichen Arbeitgeber. Dadurch können individuelle Fähigkeiten und Verhaltenstendenzen besser bewertet werden. Andererseits kann AR dazu genutzt werden, um Bewerber:innen im Interview zusätzliche Informationen über Unternehmen zu bieten oder Fragen zu stellen, die sich leicht in den Gesprächsfluss einbauen lassen.
6.3.2
Remote- Einstellungen
Aufgrund der COVID-19-Pandemie kam es oftmals zu sogenannten „Remote- Einstellungen“ von Arbeitnehmern ohne vorherigen persönlichen Kontakt zum jeweiligen Arbeitgeber. Dieses Vorgehen dürfte auch in Zukunft nicht an Wichtigkeit verlieren. Dabei wird es weiter an Bedeutung gewinnen, im Rahmen des Einstellungsprozesses mit Bewerber:innen online zu interagieren und potenzielle Arbeitgeber:innen über diesen Kanal kennen zu lernen. Wie schon bezüglich der Case Study von Johnson&Johnson erwähnt, kann die Virtuelle Realität dabei helfen, Personen an unterschiedlichen Standorten bei einer ähnlich immersiven Atmosphäre miteinander zusammenzubringen. Dies bietet im Vergleich mit anderen online Methoden den Vorteil, dass erste Eindrücke persönlicher gestaltet werden können. So lassen sich zum Beispiel virtuelle Arbeitsplatzführungen durchführen und Personen aus dem zukünftigen Team ansprechen.
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6.3.3
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Daten- und analysegestützte Entscheidungen
Bei der Nutzung von AR- und VR in der Personalauswahl oder Personalentwicklung kann das Unternehmen oft auf großen Datensätze zurückgreifen, welche weitere Entscheidungen unterstützen können. So können zum Beispiel frühere Erfolge und Misserfolge werden und aufgrund dessen fundierte Empfehlungen über personalisierte Karrierepfade getroffen werden.
6.3.4
Personalisierte Karrierepfade
Über VR können Mitarbeiter:innen präziser auf eigene Karriereziele vorbereitet werden. So lassen sich spezifische Szenarien nachstellen, indem sie individuelle Fähigkeiten, Interessen und Karriereziele berücksichtigen. Schaut man dabei besonders auf die interne Personalentwicklung, so können diese Daten genutzt werden, um individualisierte Trainingspläne zu erstellen. Wichtige Meetings oder Entscheidungen können so im Nachhinein erneut erlebt und alternative Lösungsansätze von der Person selbst entwickelt werden. Auch bereits durchgeführte Trainings können analysiert werden, um genauere Aussagen über Person und Job Passung zu treffen.
6.4
Fallbeispiel: Exploration eines VR-unterstützten Assessment Centers
Der folgende Abschnitt basiert auf einer explorativen Ausarbeitung für ein Kundenprojekt der Aon Assessment GmbH mit dem Ziel, das Potenzial für Innovation wie auch zusätzlicher Komplexität der Anwendung von VR im Personalkontext genauer zu beleuchten. Der Fokus lag hierbei auf der möglichen Einbindung von VR-basieren SJTs und RJPs in ein on-site Assessment Center und soll dabei Vor- und Nachteile bei der Nutzung von VR in der Personalauswahl aufzeigen. Unter den ersten Fragen, die sich bei der Anwendung neuer Technologien im Assessment-Kontext ergeben, ist die nach dem jeweiligen Mehrwert. Im Rahmen des hier zugrunde liegenden Projektes war dieser gleich in zweierlei Hinsicht gegeben:Einerseits hilft die Verwendung von VR an sich dabei, den Auswahlprozess moderner und interessanter zu gestalten. Dies wiederum fördert ein innovatives und zukunftsorientiertes Image des Unternehmens und hilft, entsprechend besonders aufgeschlossene Bewerber:innen anzuziehen. Andererseits sollte das VR-Szenario zur Darstellung einer komplexen Situation sowie die Evaluation der Reaktionen der Bewerber:innen als direkt Situational Judgement Test genutzt werden. Dabei erfüllt die Möglichkeit, digital das tatsächliche Arbeitsumfeld abzubilden, ohne das AC dort abhalten zu müssen, auch die Funktion einer Realistic Job Preview. Dies kann bei technikaffinen Bewerbern einen
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positiven Effekt auf drene Candidate Experience haben und das Image des potentiellen Arbeitgebers verbessern. Die erforderliche Entwicklung inhaltlich und psychometrisch hochwertiger Inhalte für das VR-Szenario vorausgesetzt, liegt das Hauptaugenmerk in diesem Beispiel auf der Anwendung. Es sei jedoch angemerkt, dass die Entwicklung von VR-Software in einem Auswahlverfahren sowohl angemessene Komplexität und Qualität als auch ein gewisses Maß fachspezifischer Expertise seitens der Entwickler:innen oder die Nutzung von spezialisierten Softwareanbietern erfordert und von daher mit entsprechenden Kosten und Ressourcenanforderungen einhergeht. Auch in Hinblick auf den Prozess des AC sind die Ressourcenanforderungen von VR nicht zu vernachlässigen. Um überhaupt eine Nutzung der Technologie zu erlauben, müssen genügend Geräte und genügend Platz verfügbar sein, um die gewünschte Anzahl an Bewerber:innen parallel zu testen, sowie Ersatzgeräte im Falle technischer Probleme. Bei einem Platzbedarf von mindestens ca. 2 × 2 m pro Nutzer (Meta, n.d.) und Stückpreisen zwischen 299 e und 800 e für HMDs zuzüglich ggf. erforderliche Hardware (z. B. Laptop oder Tablet) muss der Kosten-Nutzen-Faktor sorgfältig abgewogen werden, wobei auch die erwartete Häufigkeit der Nutzung bedacht werden sollte. Wird VR- Hardware nur wenige Male pro Jahr eingesetzt, besteht das Risiko, dass die Geräte nach vergleichsweise wenigen Verwendungen veraltet sind oder zumindest nicht mehr dem aktuellen Stand der Technik entsprechen. Dies kann dann unter Umständen die Nutzbarkeit merklich einschränken und im teuersten Fall zu Inkompatibilitäten in Hardware bzw. Software führen. In der Anwendung muss ein HMD für jeden Nutzer individuell angepasst werden. Dazu gehören Größeneinstellungen des Headsets wie auch die Kalibrierung des Bildschirms, da besonders ein unscharfes Bild dicht vor dem Auge schnell zu unangenehmer Ermüdung der Augen führt (Park & Lee, 2020). Zu beachten ist bei der individuellen Anpassung, dass VR Headsets unterschiedliche Limitationen z. B. bezüglich der maximalen Größe von Brillen aufweisen, über die Bewerbenden im Voraus informiert werden sollten. Sollte die Anzahl der Bewerber des AC bedingen, dass mehrere Bewerber ein gemeinsames Headset nutzen, muss dieses zwischen den Anwendungen gereinigt und desinfiziert werden. Ein mögliches Problem aufseiten der Bewerber ist, dass der direkte Kontakt von Headset und Gesicht zum Verschmieren oder Abreiben von Make-up führen kann. Dies und mögliche Druckstellen in Gesicht oder Haaren können sich im Kontext eines AC als durchaus unangenehm erweisen. Über das Wohlbefinden der Bewerber:innen hinaus ist auch das Risiko von ungleicher Benachteiligung bestimmter Gruppen nicht zu unterschätzen: Menschen, die körperlich eingeschränkt sind (z. B. durch ihre motorischen Fähigkeiten oder die Sehstärke), bringen ein deutlich höheres Risiko von Komplikationen bei der Verwendung von VR mit sich. Auch Probleme wie z. B. das ungewollte Abreiben von Make-Up dürfte in den meisten Kontexten mit höherer Wahrscheinlichkeit weibliche Bewerberinnen betreffen, wodurch dann eine streng geschlechtsneutrale Gleichbehandlung gefährdet sein kann.
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Der Prozess einer VR-Testung benötigt auch bei ausreichender Anzahl an Geräten eine sorgfältige Planung des jeweiligen Ablaufs. Bewerber:innen, die zum Zeitpunkt des ACs keine oder nur wenig Erfahrung in der Verwendung von VR haben, werden eine Eingewöhnungszeit benötigen. Diese ist notwendig, um sich mit den Kontrollelementen, der Navigation in der digitalen Umgebung, aber auch dem Erlebnis an solches vertraut zu machen. Selbst Bewerber:innen, die zwar bereits mit VR vertraut sind, aber bisher stets andere Geräte genutzt haben, werden die jeweiligen Kontrollelemente kennenlernen müssen, da diese im Gegensatz zu sonst üblichen Eingabegeräten wie Maus und Tastatur bei Computern nicht über die verschiedenen Hersteller bzw. Geräte hinweg standardisiert sind. Besonders ungewohnt ist für viele neue Nutzer:innen von HMD die Verbindung zwischen Bewegungen in der echten Welt, inklusive Drehungen von Kopf und Körper zum Umsehen, und Fußschritten zur Fortbewegung mit der Navigation der digitalen Umgebung. Die Navigation innerhalb von VR Umgebungen wird dadurch erschwert, dass das Abschätzen der Distanz zu Objekten erschwert ist (Armbrüster et al., 2008; Wilson & Soranzo, 2015). Determinanten für die Akzeptanz von VR konnten durch eine auf dem Quality Function Deployment (QFD) basierende Analyse aufgezeigt werden und umfassten computerbezogene Selbstwirksamkeit, die individuelle Innovationsfähigkeit, die Angst vor dem Computer, die wahrgenommene Freude am Computer, die soziale Norm, die Qualität der Inhalte und des Systems sowie die Erfahrung mit Computern und die Rahmenbedingungen (Jimenez et al., 2020). Viele VR-Geräte bieten von Haus aus Einführungsprogramme an, die in der Regel etwa 10–15 min in Anspruch nehmen. Diese Zeit ist meist auch notwendig, um zu sehen, wie Bewerber:innen auf die Nutzung on VR reagieren. Insbesondere im Falle von HMD kann es zu einer Vielzahl an Nebenwirkungen kommen, die Teil der sogenannten „Cybersickness“ sein können. Diese ist dann vor Allem durch Symptome wie Schwindelgefühl, Übelkeit, Kopfschmerz und Desorientierung gekennzeichnet und kann zu erheblichem Unwohlsein führen (Meta Platforms Technologies, n.d.; Park & Lee, 2020). Hussein und Nätterdal (2015) verzeichneten dazu bei bis zu 20 % der Teilnehmer:innen mindestens eines der genannten Symptome. Die Implikationen einer durch das Testinstrument ausgelösten Cybersickness sind nicht zu unterschätzen. Akute Fälle können einen Abbruch des Tests erfordern und sind für die Betroffenen höchst unangenehm – insbesondere im Kontext einer Situation mit starkem Selbstdarstellungsfokus wie einem AC. Räumlichkeiten zur Erholung und geschultes Personal sollten in unmittelbarer Nähe verfügbar sein, was dann wiederum entsprechende Anforderungen an Ort und Organisation des AC mit sich bringt. Darüber hinaus muss geplant werden, wie mit abgebrochenen VR-Assessments im Rahmen des Auswahlprozesses umzugehen ist. Außerdem ergeben sich weitere Fragen: Kann betroffenen Bewerber:innen eine Alternative auf herkömmlichem 2D-Bildschirm zur Verfügung gestellt werden? Wenn ja, ist diese Alternative dann in Hinblick auf ihre psychometrischen Eigenschaften ausreichend vergleichbar zur VR-Version? Ergeben sich durch eventuelle
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Wiederholung bestimmter Fragen Lerneffekte? Steht die Cybersickness möglicherweise in Zusammenhang mit anderen gesundheitlichen Faktoren wie Vorerkrankungen oder Medikamenteneinnahme, die unter nicht-virtuellen Umständen keinen Einfluss auf die Eignung der Bewerber:innen hätten? Insgesamt sollte also deutlich geworden sein, dass die Einbindung von VR in den Personalkontext wohl überlegt sein will und diverse organisatorische, logistische und inhaltliche Fragen mit sich bringt.
6.5
Fazit
Wie genau die Zukunft von VR in der Personalauswahl und -entwicklung aussieht, wird sich erst noch zeigen. Basierend auf dem aktuellen Stand von Technologie, Forschung, und Anwendungsgebieten scheint eine zunehmende Verbreitung jedoch mehr als wahrscheinlich. Die Entwicklung von Smartphones, Webcams und Videotelefonie, Anfänge künstlicher Intelligenz und nahezu aller Bereiche von Computerhardware und -Software bieten Beispiele für einen möglichen zukünftigen Verlauf. Wie die Fallstudie von Johnson&Johnson verdeutlicht, dürfte hierbei das Preis-Leistungsverhältnis im Sinne der zunehmenden Leistungsfähigkeit besonders relevant sein. Dieses bezieht sich auf das Verhältnis zu den Fähigkeiten der Technologie, stabil bleibende oder sogar sinkende Preisen, sowie das Vorhandensein eines ausreichend umfassenden Ökosystems an verfügbarer Hardware, Software, Support, und Anwendungsgebieten. Ob bzw. wann VR die Schwelle zur Mainstream-Technologie überschreiten wird, ist noch unklar, doch der allgemeine Trend deutet schon heute auf weiterhin steigende Anwenderzahlen hin (Statista, 2022a, 2022b). Auch wenn VR im HR-Kontext vorerst ein Nischenprodukt bleiben wird, zeichnen sich sowohl in der Personalauswahl wie auch der Personalentwicklung vielversprechende Anwendungsbereiche ab. Besonders hervorzuheben ist dabei im Trainingskontext die Möglichkeit der Simulation von Situationen, die bei bisherigen Methoden mit hohen Kosten, logistischem oder materiellem Aufwand oder auch Gesundheits- bzw. Sicherheitsrisiken verbunden wären. Naheliegende Beispiele sind Aus- und Fortbildungen in der Bedienung von Industriemaschinen, Brandbekämpfung, oder sensible medizinische Eingriffe. Auch wenn VR realistische on-site Trainings nicht vollständig ersetzen kann, ist ihr potenzieller Mehrwert gegeben. So können häufige Trainings komplexer oder herausfordernder Situationen in VR mit weniger häufigen, nicht-digitalen Lehr- und Übungseinheiten kombiniert werden. Anschaffungs- und Betriebskosten von VR Hardware können in Entwicklungsanwendungen durch wiederholte Nutzung über längere Zeiträume und mithilfe unterschiedlicher Software über diverse Inhaltsbereiche hinweg bis zu einem gewissen Grad relativiert werden. In der Personalauswahl gilt es, die möglichen Herausforderungenbezüglich der. Ressourcenintensität, Fairness, und Candidate Experience sorgfältig zu evaluieren und gegen
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dem erwarteten Nutzen abzuwiegen. Dies betrifft besonders Anwendungsbereiche wie onsite Assessment Center, in denen VR dann eine neue technische Komponente darstellt. Es gibt allerdings auch Bereiche, in denen VR eher eine nahe Weiterentwicklung bereits genutzter digitaler Test- oder Simulationsverfahren sein kann wie z. B. in der Pilotenauswahl oder im Kontext von Situational Judgement Tests, welche schon heute in vielen Fällen digitale, multimodale, und simulationsorientierte Verfahren nutzen. Wenn bereits psychometrische robuste Inhalte und Testkonzepte vorhanden sind, ist der Prozess einer Übertragung digitaler Testverfahren in VR nicht unähnlich dem der Gamification bestehender Assessments. Prototypen und Evaluationen der Gütekriterien werden zwar nach wie vor erforderlich sein, aber die Übertragung bestehender Tests in neue Formate bietet für Testanbieter auch wertvolle Gelegenheiten für Anpassungen und Überarbeitungen. Basierend auf unseren Recherchen und Berührungspunkten mit dem Thema, stehen wir der Verbreitung von Virtual Reality im Personalkontext vorsichtig positiv gegenüber. VR bietet die Möglichkeit, Nutzer in eine virtuelle Welt zu versetzen in der sie ihre Fähigkeiten in einem realistischeren Kontext unter Beweis stellen können. Unternehmen können realistischere und praxisnahere Erfahrungen für Bewerber:innen und Mitarbeiter:innen im Training schaffen, die anderweitig nur mit erheblich größerem, und in vielen Fällen den Mehrwert übersteigenden, Aufwand zugänglich wären. Mithilfe von VR sind diese Szenarien einmalig zu entwickeln und können danach vielseitig eingesetzt oder auch angepasst werden. Insbesondere die Kombination aus intensivem Erleben (Immersion) von bewegungsbasierter Steuerung, nahezu vollständiger Kontrolle über die simulierten Situationen, und Möglichkeiten zur Wiederholung bei erheblich verringertem materiellen und logistischen Aufwand und minimaler Gefährdung der Nutzer bietet großes Potenzial zur Anwendung im Trainings und Ausbildungskontext. In der Personalauswahl fallen mögliche Probleme bei der Nutzung von VR vor allem unter Fairness- und Vergleichbarkeitsgesichtspunkten stärker ins Gewicht, weshalb die Nutzung zu Test- und Auswahlzwecken wohl überlegt sein will. Auch der Einfluss der Technologie an sich auf die Candidate Experience – im Positiven wie auch möglichen Negativen – und die Güte der Testung sollten nicht unterschätzt werden. Zwar deuten Trends darauf hin, dass VR in Zukunft von immer mehr Haushalten privat genutzt wird, was den Anteil an Bewerber:innen die in einer Auswahlsituation zum ersten Mal mit der Technologie interagieren reduzieren wird, doch wann und ob VR zu einer Mainstreamtechnologie für Privatanwender wird sich erst zeigen müssen. Parallel zu gesellschaftlichen und gesetzlichen Initiativen zur Förderung der Chancengleichheit sollten diese Aspekte besonders auch in Hinblick auf die Anforderungen und Auswirkungen spezifischer Technologien wie VR in der Forschung weiter untersucht werden, sodass möglicherweise bereits in den nächsten Jahren Leitfäden zu Prozessen und Kriterien für diskriminierungsfreie virtuelle Kontexte gegeben sein können. Auch bis dahin, wäre eine verantwortungsbewusste bzw. wohl überlegte Nutzung und allgemeine Offenheit gegenüber VR in Forschung und Praxis zu begrüßen um Erfahrungen und Daten
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zu den Potenzialen und Schwachstellen der Technologie und zugehören Prozessen zu sammeln. Insgesamt gehen wir davon aus, dass die Einführung von VR in der Personalauswahl und -entwicklung vielversprechend ist. Die Technologie hat das Potenzial die Art und Weise zu verändern, wie Unternehmen Talente einstellen und fördern. Betrachtet man VR als einen weiteren Entwicklungsschritt eines allgemeinen Trends digitale Inhalte interaktiver und immersiver zu gestalten, sowie als Möglichkeit, bestehende Inhalte in VR als neues Medium zu übertragen, wird sich in vielen Fällen zeigen, dass die Einstiegshürde weniger hoch liegt, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag.
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Ina Vollendorf ist Produkt Managerin in der Produktentwicklung bei Aon Human Capital Solutions GmbH. Sie hat Wirtschaftspsychologie an der Fachhochschule Heide (Bachelor of Arts) und International Management an der Europauniversität (Master of Arts), beides mit Schwerpunkt Personal & Organisation, studiert. Inhaltlich fokussiert sie sich während des Studiums sowohl im Rahmen ihrer Tätigkeit auf die Nutzer und Candidate Experience in Personalauswahlverfahren. Sie zeigt großes Interesse am UX Design und bildet sie sich zur UX & Usability Spezialistin weiter, um ganzheitliche Lösungen für digitale User Interfaces entwickeln zu können.
Maximilian Jansen ist als Business Analyst im Produktentwicklungsteam der Welliba GmbH tätig. Dort unterstützt er die Implementierung einer Plattform zur Messung von Employee Experience im Zeitverlauf. Er hat einen Master in Psychologie von der OttoFriedrich-Universität Bamberg. Während und in Anschluss an das Studium war er bei Aon Human Capital Solutions in unterschiedlichen Bereichen der Assessmententwicklung tätig. Sein Fokus lag dabei vor Allem auf neuen Technologien wie Video Interviews, Cheating-Erkennung, sowie der Nutzung von Machine Learning und Paradaten in psychometrischen Anwendungen.
7
Personaldiagnostik neu gedacht – Integrative digitale Ansätze bei der Auswahl von Führungskräften Momme Jürgensen, André Findeisen und Christian Dries
7.1
Einleitung
Unsere heutige Arbeitswelt ist durch eine Dynamik in verschiedenen Bereichen gekennzeichnet: Es existiert ein zunehmender Wettbewerb um Fach- und Führungskräfte (Hauber, 2022). Dies fordert Unternehmen auf bei der externen Personalgewinnung neue Rekrutierungswege einzuschlagen (z. B. Active Sourcing), die Unternehmensattraktivität in der Bewerbendenansprache noch deutlicher herauszustellen und ausreichend schnell im „war for talents“ unterwegs zu sein. Gleichzeitig heißt es bei der internen Personalentwicklung das vorhandene Mitarbeitendenpotenzial auszuschöpfen und Mitarbeitende gezielt weiterzuentwickeln, diesen Perspektiven aufzuzeigen und bei den Veränderungen mitzunehmen. Die Digitalisierung schafft dabei neue Möglichkeiten. Psychometrische Testverfahren werden zunehmend als webbasierte Online-Tests eingesetzt (Armoneit et al., 2020), Assessment und Development Center häufig in virtueller Form durchgeführt, sodass Teilnehmende und Beobachtende ortsunabhängig miteinander vernetzt werden können. Auch die Personalentwicklung greift die Digitalisierung auf, indem Webinare statt Trainings M. Jürgensen (B) KI.BIT, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Findeisen ki.test GmbH, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Dries Hochschule Fresenius, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. P. Stulle und R. T. Justenhoven (Hrsg.), Personalauswahl 4.0, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42142-7_7
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M. Jürgensen et al.
in Präsenz durchgeführt werden oder Apps eingesetzt werden, welche die langfristige Entwicklung von angestoßenen Veränderungen begleiten. Allerdings ist dabei festzustellen, dass diagnostische und entwicklungsorientierte Maßnahmen oft noch getrennt voneinander durchgeführt werden. Dabei haben gerade diagnostische und entscheidungsorientierte Maßnahmen das Potenzial, konkrete Entwicklungsmaßnahmen zu identifizieren und anzustoßen. Vielleicht kennen Sie das auch?! Anforderungen an eine neue Zielposition werden zusammen mit dem Fachbereich bestimmt. Die Bereitstellung und Durchführung von Online-Tests wird von einem externen Anbieter eingekauft. Der Interviewleitfaden muss erstellt werden. Gerne würde man einzelne valide Module aus Assessment Centern (z. B. Business Cases, Rollenspiele) in den Auswahlprozess integrieren, hat aber selbst nicht die zeitlichen Kapazitäten für die Konzeption. Die schriftliche Dokumentation von individuellen Entwicklungsschritten für die Bewerbenden ist aufwändig und letztlich liegen die erhobenen Daten auch noch an verschiedenen Stellen ab. Dies bedingt ein wenig effizientes Vorgehen – HR-Verantwortliche verlieren im Auswahlprozess, das, was wichtig ist: Zeit. Wir möchten daher einen integrativen Ansatz vorstellen, der die verschiedenen Elemente eines validen Auswahl- und Entwicklungsprozesses, beginnend mit der Anforderungsanalyse, über den Einsatz von digitalen Testverfahren und Simulationen, der Abbildung von Entscheidungsprozessen bis hin zur Ableitung individueller Entwicklungsmaßnahmen miteinander verbindet. Indem diese Phasen über eine technische Plattform digital miteinander vernetzt werden, können erhobene Informationen zielgerichtet und über alle Phasen des Prozesses hin genutzt und sinnvoll miteinander verknüpft werden. Weitgehend autonome Nutzungsmöglichkeiten (z. B. die selbstständige Aktivierung von Online-Tests, Auswahl aus bereits bewährten Interviewfragen) sollen dabei helfen, die digitale Personalarbeit zu optimieren. Anhand eines konkreten Use Cases „Development Center für angehende Führungskräfte“ möchten wir die Perspektive von HR-Verantwortlichen als auch von Teilnehmenden und Beobachtenden des Development Centers in der Nutzung der Software KI.PAT Technologie aufzeigen.
7.2
Grundlagen der KI.PAT Technologie
Bevor wir in die unterschiedlichen Perspektiven und den Funktionsumfang der Software einsteigen, möchten wir dem interessierten Leser einen generellen Einblick in die KI.PAT Technologie geben. Die KI.PAT Technologie ist eine webbasierte Plattform, die seine Nutzer entlang der relevanten Prozessschritte eignungsdiagnostischer Fragestellungen unterstützt. So hat der Nutzer entlang der jeweiligen Prozessschritte – von der Anforderungsanalyse bis zur Dokumentation – die Möglichkeit mithilfe der Software die für
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117
seine Anforderungen passende Auswahl vorzunehmen. Die Software ermöglicht es dem Nutzer beispielsweise eine Anforderungsanalyse bezüglich der relevanten Kompetenzen mithilfe des PAiRS Ansatzes (Staufenbiel & Kleinmann, 2002) vorzunehmen oder über die gezielte Auswahl geeigneter Interviewleitfäden, passender Online-Testverfahren und situativer Übungsmodule effiziente Auswahlverfahren zu entwickeln und durchzuführen. Um dem Leser die umfangreichen Einsatzmöglichkeiten unser KI.PAT Technologie näher zu bringen, nehmen wir den Leser anhand von unterschiedlichen Charakteren mit in die Perspektive der verfahrensbeteiligten Personen Matilda Wunderlich (Personalerin), Sam Smith (Mitarbeiter bzw. Teilnehmer des Development Centers) und Max Respect (Führungskraft und Beobachter im Development Center). Matilda Wunderlich arbeitet für einen traditionsreichen Maschinenbauer im HR-Bereich und betreut neben den Mitarbeitenden im Headquarter auch die Mitarbeitenden in den diversen Auslandsgesellschaften. Matilda ist studierte Psychologin und ist hauptsächlich für die Themen Talentmanagement, Personalentwicklung und Change zuständig. Im Zuge ihrer Tätigkeit ist Matilda nun mit der Einführung eines Development Centers für angehende Führungskräfte betraut. Sam Smith ist ebenfalls für den traditionsreichen Maschinenbauer tätig und hat sich in den vergangenen Jahren durch seinen unermüdlichen Einsatzwillen in diversen Projekten in den Fokus gerückt. Sam hat vor kurzem erfahren, dass er intern als eines der Top Talente für eine Führungslaufbahn gehandelt wird und freut sich dementsprechend auf die Teilnahme am internen Nachwuchsführungskräfte Programm. Max Respect ist seit mehreren Jahren erfolgreich als Führungskraft für den traditionsreichen Maschinenbrauer tätig und wird regelmäßig bei internen Personalentwicklung als Beobachter eingesetzt. Perspektive Matilda: Matilda liegen die internen Talente und deren Förderung besonders am Herzen und sie möchte gemeinsam mit den HR-Kollegen, den aktuellen Führungskräften und der Geschäftsleitung ein internationales Development Center auf die Beine stellen, das den aktuellen Anforderungen an Flexibilität, Effizienz und Akzeptanz bei allen Beteiligten Rechnung trägt. Da ihr die grundlegenden Prozessschritte wie Anforderungsanalyse, CIT-Methode, Kompetenzmodell und Durchführung eines Development Centers geläufig sind, sucht sie nach einer passenden Möglichkeit das Development Center in Eigenregie zu entwickeln, ohne auf professionellen Input entlang der relevanten Prozessschritte verzichten zu müssen. Glücklicherweise hat das Unternehmen im zweiten Lockdown die KI.PAT Technologie eingeführt, die sie in der Vergangenheit bereits bei der remote Durchführung von eignungsdiagnostischen Verfahren unterstützt hat. Durch die einfache Aktivierung des vollen Funktionsumfangs in den Einstellungen hat Matilda jetzt Zugriff auf die Features Testbibliothek und Übungsbibliothek, sowie die Konzeptionstools PAiRS und den Interviewdesigner. Der volle Funktionsumfang bietet neben der prozessualen Unterstützung bei der Durchführung von eignungsdiagnostischen Potenzialverfahren
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M. Jürgensen et al.
auch Unterstützung im Bereich der Konzeption und des Designs unterschiedlicher Verfahren durch die Bereitstellung von Inhalten und Konzeptionshilfen. Matilda möchte mit dem Development Center ein realitätsnahes Verfahren entwickeln, welches neben einer hohen Akzeptanz auch eine hohe Aussagekraft bezüglich zukünftiger Führungskompetenzen ermöglicht. Gerne möchte Sie den Vorschlag einer neuerlichen Anforderungsanalyse in die Tat umsetzen, da sie sich nicht ganz sicher ist, welchen Anforderungen die Führungskräfte der Zukunft wirklich genügen müssen.
7.2.1
Anforderungsanalyse
Um den geänderten Anforderungen bestmöglich gerecht zu werden entscheidet sich Matilda, die relevanten Kompetenzen für „Führungskräfte der Zukunft“ auf etwaige Abweichungen vom aktuellen Führungsverständnis hin zu überprüfen. Matilda ruft dazu das hinterlegte Kompetenzmodell auf und erweitert die altbewährten Kompetenzen durch (vorgeschlagene) zukunftsorientierte Kompetenzen, die der neuen (Führungs-) Realität gerecht werden. Waren vor Corona eher Fähigkeiten im Bereich von Mitarbeitersteuerung und Mitarbeiterentwicklung auf Basis eines regen persönlichen Austauschs gefragt, so geht es heute ebenfalls um agile Führung, Flexibilität und Resilienz. Dazu trifft sie eine Vorauswahl der möglichen Kompetenzen, lässt sich passende Kompetenzen (auf Basis der Zielfunktion) vom System vorschlagen und erarbeitet so ein Set an relevanten Kompetenzen, die sie im System hinterlegt. Die alles entscheidende Frage, die sie gerade umtreibt, ist, welche Kompetenzen für die Nachwuchsführungskräfte von größter Relevanz sind. Was ist wichtiger, denkt sie sich. Agile Führung oder Kooperationsfähigkeit? Flexibilität oder analytische Fähigkeiten? Wenn sie aktuelle Führungskräfte im Unternehmen befragt, dann lautet die Antwort immer gleich: „Alle Kompetenzen sind wichtig!“. Um hier eine differenzierte Betrachtung der relevanten Kompetenzen vorzunehmen und ein anforderungsspezifisches sowie trennscharfes Kompetenzset zu erarbeiten, nutzt Matilda das Tool zur Kompetenzerhebung KI.PaiRs. Ziel ist es die hinterlegten Kompetenzen in eine gewichtete Rangreihe zu bringen, sodass eine allgemeingültige Aussage über die Relevanz der jeweiligen Kompetenzen bezüglich der Anforderungen an eine Führungskraft von Morgen möglich ist. Hierzu setzt die KI.PAT Technologie auf das integrierte Tool KI.PaiRs, welches auf einem unvollständigen Paarvergleich basiert. Da die anforderungsspezifische Befragung direkt aus dem System heraus gestartet werden kann, sind keine aufwändigen Workshops voller stressiger Terminkoordination mehr notwendig, sondern jeder kann an der Befragung teilnehmen, wenn es ihm passt. So startet Matilda ein neues Befragungsprojekt und hinterlegt die Teilnehmenden der Befragung anhand der unternehmensinternen E-MailAdresse. Den Befragungszeitraum gibt sie großzügig mit 4 Wochen an und denkt sich, dass es ausreichend Zeit ist, sodass jeder Eingeladene auch wirklich an der Befragung teilnehmen kann. Sobald die Befragung gestartet ist, werden die Einladungen mit einem
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119
personalisierten Link zur Befragungsteilnahme bereitgestellt, um eine mehrmalige Teilnahme zu verhindern. Matilda startet die Befragung voller Vorfreude und ist schon jetzt ganz gespannt auf die Ergebnisse.
7.2.1.1 Perspektive Max Respect (Führungskraft) Max ist gerade dabei seinen Posteingang zum Beginn einer neuen Arbeitswoche zu sortieren als eine Mail seine Aufmerksamkeit erregt. Im Betreff steht in großen Buchstaben geschrieben: Was brauchen unsere Führungskräfte von Morgen? Was für eine interessante Fragestellung denkt er sich und liest sich den freundlichen Begrüßungstext seiner Kollegin aus dem HR-Bereich durch. Begrüßungsemail
Lieber Max, um unser Unternehmen bestmöglich auf die Anforderungen der Zukunft vorzubereiten und den Veränderungen im Markt, den Bedürfnissen der Mitarbeitenden und unser Führungskultur (bestmöglich) begegnen zu können, möchten wir unser bisheriges Führungsverständnis hinterfragen. Diesbezüglich möchten wir gemeinsam mit den aktuellen Führungskräften die aktuellen sowie zukünftigen Anforderungen von (Nachwuchs-) Führungskräften beleuchten, um ein tragfähiges sowie zukunftsorientiertes Kompetenzmodell zu entwickeln. Hierzu haben wir eine Vorauswahl getroffen, die auf unseren aktuellen Anforderungen und Kompetenzen aufbaut. Zusätzlich haben wir diese um weitere relevante Kompetenzen ergänzt. Nachdem du die Befragung über den Personalisierungscode gestartet hast, ist es deine Aufgabe jeweils zwei Kompetenzen miteinander zu vergleichen. Im Folgenden hast du die Möglichkeit zu entscheiden, ob beide Kompetenzen gleich wichtig sind oder ob dir eine Kompetenz wichtiger ist als die andere. Sollte letzteres der Fall sein, so bietet dich das System um deine Einschätzung auf einer mehrstufigen Skala, wie groß der Unterschied zwischen beiden Kompetenzen ist. Jetzt werden dir so lange Paarvergleiche angezeigt, bis das System eine belastbare Aussage zur Reihenfolge der Kompetenzen – von sehr relevant bis weniger relevant – treffen kann. Dein Ergebnis wird dir im Nachgang der Befragung per mail zur Verfügung gestellt. Erfahrungsgemäß dauert die Bearbeitung nicht länger als 10–15 min. Wir wünschen dir viel Spaß bei der Bearbeitung und freuen uns auf deine Ergebnisse. Lieben Gruß Matilda Max freut sich über die gute Instruktion und klickt voller Vorfreude auf den Link, sein Browser öffnet sich und er gelangt zur übersichtlichen Startseite der Befragung. Auf der Startseite wird Max nochmal freundlich begrüßt, der Funktionsumfang und der Ablauf
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M. Jürgensen et al.
der Befragung werden nochmal kurz erläutert und dann kann es durch Anklicken des Startbuttons auch schon losgehen. Max freut sich über die zusätzlichen Definitionen der jeweiligen Kompetenzen, um ein einheitliches Verständnis der Kompetenzen zu sichern und absolviert die geforderten Vergleiche innerhalb von 10 min bis der Paarvergleich abbricht und Max seine Ergebnisse angezeigt bekommt. Max verlässt die Befragungsseite und denkt noch etwas über die geänderten Anforderungen und Kompetenzen von Nachwuchsführungskräften nach und widmet sich seinen Aufgaben als Führungskraft.
7.2.1.2 Perspektive Matilda In den letzten Wochen hat Matilda regelmäßig Benachrichtigungen über den Eingang neuer Ergebnisse der Kompetenzbefragung erhalten und ist schon ganz gespannt auf die Zusammenfassung bezüglich der Anforderungen und Kompetenzen, die sie direkt innerhalb der KI.PAT Technologie in ein neues Projekt überführen kann. Matilda definiert das neue Projekt anhand der Projektstammdaten wie Projektname, Zielfunktion, interner Kunde und Ansprechpartner und aktiviert die Funktion Kompetenzen aus Pairsbefragung übernehmen. Matilda nennt ihr Projekt internationales DC für Nachwuchsführungskräfte, kurz IDCL. Da die relevanten Kompetenzen für das IDCL ausgewählt sind, auf die Tragfähigkeit für die Zukunft hin überprüft sind, stellt sich für Matilda nun die Frage anhand welcher Testbausteine und Übungsmodule und generell in welchem Setting sie die Kompetenzen genauer beleuchten möchte. Während Matilda ihre Gedanken schweifen lässt bekommt sie es auch etwas mit der Angst zu tun, da sie keine Zeit verlieren möchte und die Durchführungstermine bereits in der Jahresplanung kommuniziert wurden. Ich habe weder die Kapazitäten noch die Muße alle Test- und Übungsmodule individuell zu entwickeln und woher weiß ich, ob die eingesetzten Module dann auch den Gütekriterien entsprechen, denkt sie sich und öffnet die Test- und Übungsbibliothek der KI.PAT Technologie. Aus aktuellen Metaanalysen (z. B. Sackett et al., 2022; Schmidt et al., 2016) weiß man, dass standardisierte Testverfahren wir Intelligenztests und Situational Judgement Tests wie auch Assessment Center zu den validesten Methoden der Personalauswahl zählen. Eine Integration der vorliegenden Module aus der Test- und Übungsbibliothek ist daher für Matildas Projekt lohnenswert, da so die diagnostische Qualität sichergestellt werden kann. Wie genial sind diese Features bitte, fragt sie sich leise und scrollt durch die jeweiligen Übungssituationen. Matilda merkt, dass es so viele unterschiedliche Tests und Simulationen gibt, die grundsätzlich passen könnten, dass sie sich in den Details der einzelnen Situationen verliert, ohne sich Gedanken über das generelle Setting gemacht zu haben. In diesem Moment ist Matilda froh, dass sie im Zuge der Anforderungsanalyse neben den Kompetenzen auch die Anforderungen erhoben hat. Im Sinne der Effizienz der Durchführung möchte Matilda gerne eine Kombination aus onlinebasierten Pretests und simulationsorientierten Übungsmodulen einsetzen. Auf Basis der erhobenen Anforderungen und Kompetenzen informiert sich Matilda innerhalb der Testbibliothek nach passenden Tests. Die hinterlegten Tests werden innerhalb dieses Features jeweils kurz
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121
Abb. 7.1 Cockpit Projektanlage Übungs-Kriterien-Matrix (KI.BIT)
vorgestellt und anhand der relevanten Spezifika beschrieben. Matilda entscheidet sich für den KI.Analytics, den Persönlichkeitstest KI.8 und den Situational Judgement Test KI.Leadership und übernimmt die Auswahl in ihr Projekt des IDCL. Das ist sehr stimmig und so einfach in der Handhabung, denkt sie sich und baut sich ihr individuelles Development Center anhand der einzelnen Module zusammen (Abb. 7.1).
7.2.2
Aktivierung und Einsatz von Online-Tests
Über die Software KI.PAT hat Matilda drei für die Zielposition passende Online-Tests ausgewählt: Der digitale Businesscase KI.Analytics zur Erfassung von analytischen Fähigkeiten im Beruf. Das Kölner Persönlichkeitsinventar KI.8 zur Diagnostik von berufsbezogenen Persönlichkeitseigenschaften. Im Zuge der Anforderungsanalyse war deutlich geworden, dass neben Belastbarkeit bzw. Resilienz, Einflussnahme und Veränderungsorientierung relevant sind. Auch ein respektvoller Umgang seitens der Führungskraft mit Kolleg*innen und Mitarbeitenden wurde als wichtig eingeschätzt. Der Situational Judgement Test KI.Leadership fokussiert sich auf die Erfassung des konkreten Führungsverhaltens anhand praxisnaher erfolgskritischer Führungssituationen. Diagnostisch wird sich im dargestellten Projekt auf agiles Führungsverhalten und kooperative Führung fokussiert. Da die beiden Instrumente KI.8 und KI.Leadership als Home-Tests stattfinden sollen, kann Matilda den Versand der individuellen Testzugänge per Mail an die beiden DC-Teilnehmenden direkt über die Software anstoßen. Dabei können passende Bearbeitungszeitfenster (z. B. 1 Woche) bei den Testzugängen hinterlegt werden. Entsprechende Normen auf Basis umfangreicher Benchmarks (in unserem Usecase: Führung) können bei Bedarf hinterlegt werden. Zur Vorbereitung des DCs kann weiter eingestellt werden, ob
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M. Jürgensen et al.
die Testergebnisse per Bericht auch an den User versendet werden sollen. Dies ist insofern vorteilhaft, wenn die Selbstreflexion angeregt werden soll. Das Kölner Persönlichkeitsinventar KI.8 erfasst die berufsbezogene Persönlichkeit und greift diagnostisch die Facetten des Fünf-Faktorenmodells (Barrick & Mount, 1991) sowie die drei Kernmerkmale der dunklen Triade (Paulhus & Williams, 2002) auf. Empirische Studien zeigen unter anderem, dass bedeutsame Zusammenhänge des KI.8 Ergebnisses mit relevanten Kriterien, wie beispielsweise kontraproduktives Arbeiten, berufliche Leistung oder Arbeitszufriedenheit existieren (vgl. Findeisen et al., 2021) und sich dieser für einen Einsatz in der Personalpraxis eignet. Anhand einer strukturierten Selbsteinschätzung wird der KI.8 online-basiert auf einem beliebigen Device (z. B. Tablet) dargeboten. Nach der vollständigen Bearbeitung der Items wird ein mehrseitiger individueller Ergebnisbericht generiert, welcher innerhalb des DCs als Ausgangsbasis für ein fokussiertes Interview genutzt werden kann. Wertschätzende Formulierungen und Hinweise für die persönliche Weiterentwicklung setzen erste Impulse für notwendige Veränderungen (z. B. wie kann ich meine Stärken besser einsetzen?). Der KI.Leadership greift das Konstruktionsprinzip von Situational Judgement Tests auf, mit denen das Verhalten von Teilnehmer*innen in konkreten Situationen abgebildet werden kann (z. B. McDaniel & Nguyen, 2003). Im KI.Leadership werden den DC-Teilnehmenden verschiedene erfolgskritische Führungssituationen am Bildschirm präsentiert, die jeweils anhand einer Rating-Skala zu bewerten sind („Wie würde ich mich in dieser Situation verhalten?“, s. Abb. 7.2). Diagnostisch werden die „leitende Führung“ (u. a. die Fähigkeit Entscheidungen treffen zu können), „kooperative Führung“ (u. a. Mitarbeiter zu unterstützen) und „agile Führung“ (u. a. die Eigenverantwortung der Mitarbeitenden zu stärken) differenziert. Der anschauliche Aufbau der Online-Testaufgaben fördert die Reflexion der Teilnehmenden und schafft so eine gedankliche Vorbereitung auf das Thema „Führung“ (Wie führe ich? Was ist mein Führungsstil? Wie möchte ich gerne führen? usw.). Zudem kann ein Abgleich der Passung zum vom Unternehmen gewünschten Führungsstil vorgenommen werden.
7.2.2.1 Perspektive Sam (Teilnehmer) Es kann losgehen. Sam ruft die in der Mail enthaltenen Links auf und startet die OnlineTests über den Browser. Mit einem Begrüßungsvideo beginnt die Testsession und Sam wird viel Erfolg bei seinem DC gewünscht. Neben standardisierten Videos können hier auch kundenspezifische Videos (von aktuellen Stelleninhabern, der Geschäftsführung, aus dem Personalmarketing etc.) eingebettet werden, um die candidate experience zu stärken. Nach dem Begrüßungsvideo und der allgemeinen Testinstruktion startet das digitale Assessment. Sollte Sam während der Testbearbeitung eine technische Frage haben, steht ihm ein Supportteam bei Bedarf zur Verfügung. Sam klickt sich durch die ihm gestellten Aufgaben und ist begeistert. Vollständig autonom, ähnlich wie bei einem eLearningprogramm, kann er sich selbstständig durch das digitale Assessment navigieren. Nach vollständiger Testbearbeitung werden die Ergebnisse über erprobte Algorithmen
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Abb. 7.2 KI.Leadership Beispiel (KI.BIT)
ausgewertet und in sekundenschnelle in PDF-basierte Ergebnisberichte transferiert. Diese können als Basis und Vorbereitung für das Interview im DC genutzt werden. Wir sehen zum Beispiel anhand des KI.8 Testergebnisprofils von Sam (Abb. 7.3), dass er zwar eine ausgeprägte Führungsmotivation bzw. Einflussnahme mitbringt, er sich aber als nur durchschnittlich belastbar beschreibt. Mit entsprechenden Nachfragen im Interview kann diese Anforderung näher beleuchtet werden. Neben der Generierung der Ergebnisberichte, werden die zentralen Testergebnisse in die vorab erstellte Übungs-Kriterien-Matrix automatisch transferiert (Abb. 7.4), sodass diese zum Start des Development Centers den Beobachtenden zur Verfügung stehen.
7.2.3
Auswahl von Übungen und Interviewfragen
Nachdem Matilda sich anhand der relevanten Kriterien für den Einsatz etablierter OnlineTests entschieden hat und sich durch den integrativen Ansatz der KI.PAT Technologie bereits sehr viel Zeit gespart hat, widmet sie sich nun der Auswahl und Integration simulationsorientierter Übungssituationen. Hierzu öffnet Sie erneut die Übungsbibliothek und beginnt ihre Recherche nach passenden Übungssituationen. Unter Angabe einiger Rahmenparameter wie Zielfunktion (z. B. Nachwuchsführungskraft), Branche (z. B. Industrie), Übungsart (z. B. Einzel vs. Gruppenübung) und Gesprächssituation (z. B. Kritik- oder Developmentgespräch), filtert sie die Übungsbibliothek gezielt nach passenden Übungssituationen. Interessiert liest sie sich durch die Kurzbeschreibungen bzw. die Zusammenfassungen der jeweiligen Situationen, informiert sich über die empfohlenen Kriterien bzw. Kompetenzen und verschafft sich einen Überblick über die vorgeschlagenen Zeiten zur Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung. Die finale Auswahl fällt zunächst auf ein Development Gespräch, welches durch einen Klick mit
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M. Jürgensen et al.
Abb. 7.3 KI.8 Testergebnisprofil (KI.BIT)
samt allen übungsrelevanten Parametern in Matildas Projekt übernommen wird. Innerhalb des Development Gesprächs ist es Aufgabe der teilnehmenden Person, einem Projektmitarbeiter eine transparente Einschätzung der aktuellen Leistung zu geben, eine Entwicklungsperspektive für die Zukunft aufzuzeigen und diesen für eine Weiterentwicklung zu motivieren. Als weitere Übung wählt Matilda ein Teammeeting für ihr Projekt aus, welches sie ebenfalls aus der Übungsbibliothek in ihr Projekt übernimmt. Matilda freut sich über die Auswahl der passenden Übungen und ist schon ganz gespannt, wie
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125
Abb. 7.4 Webapp (KI.BIT)
die teilnehmenden Personen mit den Situationen umgehen und den gestellten Herausforderungen begegnen. Als letzte Übungssituation möchte Matilda noch ein Interview integrieren und nutzt dazu den Interviewdesigner. Mithilfe des Interviewdesigners lassen ich im Handumdrehen projektspezifische Interviewleitfäden erstellen. Nachdem Matilda den Interviewdesigner öffnet, hat sie die Möglichkeit auf die kompetenzbasierte Fragenbibliothek zuzugreifen, geeignete Fragen per Drag & Drop in ihren Interviewleitfaden zu integrieren, Platzhalter für die Eingabe von Beobachtungsnotizen einzufügen und fragenspezifische Verhaltensanker zu hinterlegen. Nachdem Matilda mithilfe der Vorschläge aus der Fragenbibliothek ein passendes Interview konzipiert hat, integriert sie dieses Modul ebenfalls in ihr Projekt. Durch die systemgestützte Auswahl relevanter Kriterien, Test- und Übungssituationen, nähert sich Matilda Schritt für Schritt der vollständigen Anlage ihres Projektes. So langsam nimmt die Gestaltung des IDCL Formen an denkt sich Matilda, während sie innerhalb der KI.PAT Technologie zum nächsten Schritt übergeht. Unter dem Reiter Matrix (siehe Abb. 7.1), kann sie die Zuordnung der Test- und Übungssituationen zu den Kriterien nochmals überprüfen und ggf. anpassen. Das System unterstützt sie dabei, dass sie vordefinierte eignungsdiagnostische Rahmenbedingungen (z. B. Mehrfachmessung jeder Kompetenz) einhält. Matilda überprüft die getroffene Auswahl und nimmt noch zwei kleinere Anpassungen vor und wechselt zur Auswahl einer geeigneten Skala. Hier hat sie die Wahl zwischen verschiedenen Skalenniveaus. Sie entscheidet sich für eine 6er Skala anhand deren die Kompetenzen bewertet werden und beendet damit die Zuordnung der Übungen zu den Kompetenzen (Abb. 7.5). Im nächsten Schritt hat Matilda die Möglichkeit Verhaltensanker für die jeweiligen Kompetenzen innerhalb der Übungen festzulegen und diese als Beobachtungshilfe innerhalb der App für Beobachtende anzeigen zu lassen.
126
Abb. 7.5 Webapp Bewertung (I) (KI.BIT)
M. Jürgensen et al.
7 Personaldiagnostik neu gedacht – Integrative digitale Ansätze …
7.3
Durchführung des Development Centers
7.3.1
Durchführung anlegen
127
Da der Tag der Pilotierung des IDCL immer näher rückt und die Beobachterschulung für die Beobachtenden noch zu planen ist, legt Matilda eine erste Durchführung ihres Projektes innerhalb der KI.PAT Technologie an. Um eine Durchführung anlegen zu können, wählt Matilda das entsprechende Projekt aus, definiert durchführungsspezifische Stammdaten, wie beispielsweise Anzahl der Beobachtendenteams, Raumbezeichnungen und das jeweilige Durchführungsdatum. Weiterhin bietet die KI.PAT Technologie Matilda die Möglichkeit durchführungsspezifische Dokumente über den Upload-Button hochzuladen und für Beobachtende und Teilnehmende zur eigenständigen Einsicht innerhalb der jeweiligen Appvarianten (für Beobachtende und Teilnehmende) zu hinterlegen (siehe Abb. 7.6 und 7.7). Zum Glück ist ein eigenständiger Download oder etwa das eigenständige Speichern der Unterlagen auf den Endgeräten der Beteiligten nicht möglich, denkt sich Matilda. Im weiteren Verlauf werden die Verfahrensbeteiligten anhand von Vor- und Nachnamen hinterlegt und anschließend im Zeitplan den jeweiligen Events (Test bzw. Übungssituationen) zugeordnet. Die Usability macht es dem Anwender schon sehr einfach denkt sich Matilda, während sie gerade das Event Teammeeting mit dem Teilnehmenden Sam per Drag & Drop befüllt. Matilda möchte keine Fehler machen und überprüft den angelegten Zeitplan für die Durchführung akribisch. Als sie auch vom System keine Warnung erhält, dass Angaben fehlerhaft sind, aktiviert sie die Durchführung. Durch Aufrufen der ersten Durchführung des IDCL gelangt Matilda in die Ansicht Datenübertragung und erhält eine Auflistung aller verfahrensbeteiligten Personen gruppiert nach der jeweiligen Rolle (beobachtende oder teilnehmende Person). Matilda leitet die individuellen Logins an die beteiligten Personen weiter, sodass die Beobachtenden sich mithilfe ihres digitalen Ordners mit den Übungssituationen, den Bewertungskriterien und den Ablaufplänen vertraut machen können. Die teilnehmende Person erhält erst am jeweiligen Durchführungstag Zugriff auf die Oberfläche für Teilnehmende.
7.3.2
Durchführung starten
Jetzt ist Matilda ganz gespannt auf das Zusammenspiel des hinterlegten Projekts, der angelegten Durchführung und der Darstellung des Projektes innerhalb der jeweiligen Appvarianten für Beobachtende und Teilnehmende. Durch einen gezielten Klick auf den Button „Durchführung starten“ aktiviert sie die angelegte Durchführung und gelangt in die Ansicht Datendistribution. In dieser Ansicht werden für jede verfahrensbeteiligte Person individuelle Links zur (browserbasierten) Anmeldung an der jeweiligen Appvariante (Teilnehmende oder Beobachtende Person) generiert. Über den Status Schulung aktiviert Matilda den Zugriff der Beobachtenden auf den digitalen Ordner für Beobachtende zur
128
M. Jürgensen et al.
Abb. 7.6 Webapp Übersicht (KI.BIT)
individuellen Vorbereitung auf die Durchführung oder zur Teilnahme an der Schulung für Beobachtende.
7.3.3
App für Beobachtende
Max sitzt gerade an seinen administrativen Aufgaben der Woche als ein leises “Pling“ ein Eingang einer neuen Mail ankündigt. Er hebt den Blick von seiner Exceldatei mit
7 Personaldiagnostik neu gedacht – Integrative digitale Ansätze …
129
Abb. 7.7 Webapp Beobachtung (I) (KI.BIT)
dem Titel Budgetplanung als die Betreffzeile der eintreffenden Mail seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dort steht geschrieben, dass er sich jetzt über den individuellen Personalisierungscode anmelden kann. Die App für Beobachtende sei nun mit allen relevanten Informationen für ihn als Beobachter freigeschaltet. Max klickt erwartungsfroh auf den bereitgestellten Link. Innerhalb des Browserfensters öffnet sich ein Begrüßungsbildschirm, der ihn freundlich in Empfang nimmt und weitere Instruktionen zur Usability bereithält. Neben der übergeordneten Auswahl von Teilnehmenden, Übungsinstruktionen und übergeordneten Informationen hat Max ebenfalls die Möglichkeit sich mit den relevanten Kompetenzen und deren Operationalisierungen vertraut zu machen. Max schaut
130
M. Jürgensen et al.
sich die Instruktionen für Beobachtende und Teilnehmende zur Vorbereitung auf die Schulung genauer an und macht sich mit seinem individuellen Zeitplan am Durchführungstag vertraut. Er freut sich über den Hinweis, dass aktuell keine Datenübertragung stattfinden wird und fühlt sich dadurch zusätzlich motiviert auch die Ansichten für die Verhaltensbeobachtung (Abb. 7.8) und die Bewertung der Teilnehmenden (siehe Abb. 7.5) genau unter die Lupe zu nehmen. Nach kurzer Zeit ist er mit dem vollen Funktionsumfang vertraut und freut sich auf die Durchführung, was er Matilda direkt mitteilt.
Abb. 7.8 Webapp Beobachtung (II) (KI.BIT)
7 Personaldiagnostik neu gedacht – Integrative digitale Ansätze …
7.3.4
131
Durchführung aktiv
Am Tag der Durchführung verändert Matilda früh morgens den Status der KI.PAT Technologie auf aktive Durchführung, sodass die Datenübertragung aktiviert wird und neben den Beobachtenden nun auch der Teilnehmer Sam vollen Zugriff auf die App für Teilnehmende erhält. Das Zusammenspiel des KI.Cockpit (Administrationsplattform) mit den beiden Appvarianten für Beobachtende und Teilnehmende ist auch an dieser Stelle perfekt auf die aktuellen Bedürfnisse abgestimmt, da innerhalb des KI.Cockpits die Berechtigungen für das Anzeigen der Übungsunterlagen für die Teilnehmenden gesteuert werden kann. Matilda aktiviert die Freigabe der Übungsunterlagen.
7.3.5
Perspektive Teilnehmer
Nach der erfolgten Anmeldung über den individuellen Personalisierungslink meldet sich Sam am System an und wird freundlich zur heutigen Durchführung begrüßt. Neben einigen organisatorischen Hinweisen erhält er für den heutigen Tag noch allgemeine Verhaltensempfehlungen. Besonders beeindruckt ist er von dem ansprechenden Begrüßungsvideo, das ihn auf den heutigen Tag einstimmt, die Wertschätzung des Unternehmens für die eigenen Toptalente zum Ausdruck bringt. Sam macht sich gerade noch mit der Benutzeroberfläche vertraut, als die Ampel der ersten Übungsvorbereitung auf grün springt und er die Unterlagen zur Vorbereitung einsehen kann (Abb. 7.9). Alles genau nach Zeitplan denkt er sich und beginnt voller Eifer mit der Vorbereitung und wechselt pünktlich zum Start der Durchführung den virtuellen Raum zu den Beobachtenden. Jetzt wird es ernst denkt er sich, als er dem virtuellen Durchführungsraum beitritt.
7.3.6
Perspektive Beobachtende
Pünktlich zum Start der ersten verhaltensbasierten Übung betritt Sam den virtuellen Raum. Max ruft Sam als Teilnehmenden innerhalb der App auf (Abb. 7.10) und notiert fleißig seine Beobachtungen. Als sich die Übung dem Ende neigt, ermöglicht das System Max den Zugriff auf die kompetenzbasierte Bewertung der Übung. Durch die Anzeige der übungsspezifischen Operationalisierungen in Form von Verhaltensankern wird Max der Transfer der gemachten Beobachtungen in kompetenzbasierte Bewertungen erleichtert. Besondere Beobachtungen können auf Basis der Verhaltensanker gehighlightet werden. Nachdem Max alle Bewertungen abgegeben hat, springt die Ampel neben der Übung auf grün und Max weiß, dass er alle Bewertungen erfolgreich im System hinterlegt hat.
132
M. Jürgensen et al.
Abb. 7.9 App Ansicht für Teilnehmende Übungsvorbereitung (KI.BIT)
7.3.7
Perspektive Teilnehmer
Statt analytische Fähigkeiten mit einer aufwändig konzipierten Fallstudie zu erheben, können diese mit dem Online-Test KI.Analytics erfasst werden. Der KI.Analytics stellt einen digitalen Businesscase dar. Im Unterschied zu klassischen analytischen Fähigkeitstests
7 Personaldiagnostik neu gedacht – Integrative digitale Ansätze …
133
Abb. 7.10 Webapp Übersicht (II) (KI.BIT)
wird der Berufsbezug und nachweislich die Akzeptanz aus Perspektive der Testteilnehmenden (Krumm et al., 2011) dadurch hergestellt, dass Aufgaben zu bearbeiten sind, so wie sie in einem Projekt vorkommen können. Die Teilnehmenden ziehen logische Schlussfolgerungen aus Tabellen, bearbeiten Texte und interpretieren grafische Darstellungen, z. B. Charts (Abb. 7.11). Da der KI.Analytics Teil des DCs und unter kontrollierten Bedingungen durchgeführt werden soll, werden die über die Software erzeugten Testzugänge über die virtuelle Meetingplattform bereitgestellt. Der Prozess der Testbearbeitung gestaltet sich ähnlich wie im Home-Testkontext. Sam ruft dazu den bereitgestellten Testzugang auf und bearbeitet den digitalen Businesscase selbstständig gemäß des von Matilda
134
M. Jürgensen et al.
Abb. 7.11 Chart Beispiel (KI.BIT)
entwickelten Zeitplans. Da der KI.Analytics zum Ende des DCs eingeplant wurde, bleibt den Beobachtenden und Matilda parallel dazu Zeit bereits mit der Beobachterkonferenz zu starten. Die aggregierten Testergebnisse werden, sobald Sam fertig ist, unmittelbar berechnet und in die bestehende Übungs-Kriterienmatrix integriert.
7.3.8
Konferenzansicht
Ein langer Tag mit vielen Eindrücken und Verhaltensbeobachtungen neigt sich dem Ende und alle Beteiligten sind froh, dass nun lediglich die gemeinsame Konferenz aller Beobachtenden und die abschließenden Feedbackgespräche anstehen. Matilda meldet sich am Cockpit der KI.PAT Technologie an und checkt nochmal, ob alle Bewertungen übertragen worden sind. Durch einen kurzen Wechsel des Verfahrensstatus gelangt sie in die Konferenzansicht. Hier kann Matilda die Gesamtübersicht aller Beteiligten aufrufen oder gezielt einzelne Personen anhand der ausgefüllten Übungs-Kompetenz-Matrix anzeigen lassen. Nachdem sich Max und die übrigen Beobachtenden gut gestärkt und halbwegs pünktlich in die Videokonferenz einwählen, kann die Besprechung der Toptalente beginnen. Matilda zeigt zunächst die Übersicht aller Beteiligten, die sich grundsätzlich mit den Beobachtungen und Bewertungen aller Beteiligten deckt. Um die Feedbackgespräche optimal vorzubereiten sowie möglich Entwicklungsempfehlungen ableiten zu können, wechselt Matilda in die individuelle Ansicht der Beteiligten und wählt Sam zur Besprechung
7 Personaldiagnostik neu gedacht – Integrative digitale Ansätze …
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Abb. 7.12 Feedbackprotokoll (KI.BIT)
aus (s. Abb. 7.4). Gemeinsam mit den übrigen Beobachtenden diskutiert sie individuelle Stärken und mögliche Entwicklungsfelder auf Basis der Kompetenzen. Individuelle Stärken und Verbesserungsmöglichkeiten können innerhalb der individuellen Ansicht durch Anklicken der Kompetenzbezeichnungen markiert werden. Diese übergeordneten Kompetenzen werden vom System automatisch mit samt einer detaillierteren Beschreibung in das individuelle Feedbackprotokoll übernommen. Für die Erstellung des Feedbackprotokolls hat Matilda nun die Möglichkeit, weitere Elemente wie beispielsweise ein übungsbezogenes Feedback oder mögliche Entwicklungsempfehlungen zu aktivieren. Da Matilda dem Kandidaten ein sehr detailliertes erstes Feedback geben möchte, aktiviert sie beide Optionen (Abb. 7.12). Gemeinsam mit den weiteren Beobachtenden erarbeitet sie das übungsspezifische Feedback anhand der freien Verhaltensbeobachtungen und markierten Operationalisierungen der Kompetenzen. Als Matilda noch konzentriert durch die letzten übungsspezifischen Beobachtungen liest, wird sie durch Max‘ guten Gedanken unterbrochen. „Liebe Matilda, was machen wir denn jetzt damit? Welche Impulse können wir Sam mitgeben? Bevor Max eine weitere Frage stellen kann, wechselt Matilda die Ansicht, indem sie den Reiter Entwicklungsempfehlungen öffnet. Hier haben die Nutzer der KI.PAT Technologie die Möglichkeit, auf Basis des individuellen Profis der teilnehmenden Person, erste Entwicklungsempfehlungen auszuwählen und entsprechende Maßnahmen abzuleiten. Für Sam findet Matilda die vorgeschlagenen Maßnahmen sehr passend und ergänzt in Rücksprache mit den übrigen Beobachtenden noch ein paar spezifische Kleinigkeiten. Danach wechselt sie zur nächsten Person. Nachdem die individuellen Feedbackprotokolle für alle Beteiligten erarbeitet und angepasst worden, ändert Matilda den Status der KI.PAT Technologie auf Feedback. Nun werden die erarbeiteten Feedbackprotokolle zur Ansicht in der App für Beobachtende freigegeben.
136
7.3.9
M. Jürgensen et al.
Feedbackgespräch
Gerne übernimmt Max das erste, übergeordnete Feedbackgespräch mit Sam und ruft dazu das erarbeitet Feedbackprotokoll innerhalb der App für Beobachtende auf. Max ist abermals von der einfachen Handhabung der KI.PAT Technologie beeindruckt und beginnt die Rückmeldungen an seinen Gesprächspartner. Routiniert erläutert er seinem Gegenüber die individuellen Stärken und identifizierten Entwicklungsfelder anhand der vermerkten Verhaltenseispiele und geht differenziert auf die Rückfragen seines Gesprächspartners ein. Bezüglich der Rückmeldung der Pre- und Online-Tests verweist Max auf die App für Teilnehmende, in der die detaillierten Ergebnisberichte zur Einsicht hinterlegt sind. Max öffnet innerhalb der App für Teilnehmende die Auswertung seiner Testverfahren und liest sich ganz interessiert durch die Rückmeldungen. Zentrale Punkte und ausgewählte Hinweise für die Weiterentwicklung, welche die Testreports ausgeben, greift Max auf und kommuniziert diese an Sam in verständlicher Art und Weise.
7.3.10 Dokumentation der Durchführung Nachdem alle Feedbackgespräche erfolgreich stattgefunden haben, setzt Matilda die Durchführung auf dokumentiert und beendet damit den Zugriff der Beobachtenden und Teilnehmenden auf die jeweiligen Appvarianten. Matilda freut sich sehr über die einfache Dokumentation aller Unterlagen mit nur einem Klick und ist schon ganz gespannt auf das Feedback der Beteiligten zur Pilotdurchführung.
7.4
Fazit
Mittlerweile sind ein paar Wochen seit der ersten Durchführung vergangen und Matilda hat viele positive Rückmeldungen bezüglich der Pilotdurchführung des IDCL erhalten. Für Matilda waren die einfache Handhabung der KI.PAT Technologie sowie der integrative Ansatz ein echter Mehrwert für die Konzeption und Durchführung des Projekts. Die Kombination von Anforderungsanalyse, Kompetenzauswahl, Online-Tests, Simulationen und Prozessunterstützung vereint in einer integrativen Lösung, macht das Tool zu einem Gewinn für jedes Unternehmen. Matilda hat innerhalb kürzester Zeit selbstständig ein hoch valides Instrument auf die Beine gestellt, welches flexibel und international einsetzbar ist sowie die Talente von Morgen bestmöglich bei der individuellen Entwicklung unterstützt.
7 Personaldiagnostik neu gedacht – Integrative digitale Ansätze …
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Literatur Armoneit, C. R., Schuler, H., & Hell, B. (2020). Nutzung, Validität, Praktikabilität und Akzeptanz psychologischer Personalauswahlverfahren in Deutschland 1985, 1993, 2007, 2020. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 64, 1–16. Barrick, M. R., & Mount, M. K. (1991). The big five personality dimensions and job performance: A meta-analysis. Personnel Psychology, 44, 1–26. Findeisen, A., Externbrink, K., & Dries, C. (2021). Zur Akzeptanz von Persönlichkeitstests im Personalmanagement – Empirische Untersuchungen zum Kölner Persönlichkeitsinventar (ki.8). Wirtschaftspsychologie, 3, 98–111. Hauber, L. (2022). Fachkräftemangel: Welche Ursachen und Lösungen gibt es? https://recruitee. com/de-artikel/fachkraeftemangel-ursachen-loesungen Krumm, A., Hüffmeier, J., Dietz, F., Findeisen, A., & Dries, C. (2011). Towards positive test takers‘ reactions to cognitive ability assessments: Development and initial validation of the reasoning abilty at work test. Journal of Business and Media Psychology, 1, 12–21. McDaniel, M., & Nguyen, N. (2003). Situational judgment tests: A review of practice and constructs assessed. International Journal of Selection and Assessment, 9, 103–113. Paulhus, D. L., & Williams, K. M. (2002). The dark triad of personality: Narcissism, Machiavellianism, and psychopathy. Journal of Research in Personality, 36(6), 556–563. Sackett, P. R., Zhang, C., Berry, C. M., & Lievens, F. (2022). Revisiting meta-analytic estimates of validity in personnel selection: Addressing systematic overcorrection for restriction of range. Journal of Applied Psychology, 11, 2040–2068. Schmidt, F. L., Oh, I.-S., & Shaffer, J. A. (2016). The validity and utility of selection methods in personnel psychology: Practical and theoretical implications of 100 years of research findings. Fox School of Business Research Paper. https://ssrn.com/abstract=2853669 Staufenbiel, T., & Kleinmann, M. (2002). PaiRS: Ein Skalierungsverfahren für die Eignungsdiagnostik. Zeitschrift für Personalpsychologie, 1, 27–34.
Momme Jürgensen studierte Fahrzeugtechnik an der FH Ulm und Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Fresenius und verfügt über eine mehr als 10-jährige Erfahrung im Bereich der Auswahl und Entwicklung von Fach- und Führungskräften. Nach dem Studium war er für verschiedene Unternehmensberatungen tätig. Sein Interesse für Digitalisierung von unterschiedlichen Beratungsleistungen begleitete ihn bei seinen unterschiedlichen Stationen. Für unterschiedliche nationale und internationale Kunden übernahm er diverse Beratungsprojekte zur Digitalisierung der Personalauswahl und -entwicklung. Seit 2019 ist Momme Jürgensen bei der KI.BIT tätig und als Managing Consultant für die Weiterentwicklung und den Vertrieb der KI.PAT Technologie, einer cloudbasierten Softwareplattform zur Konzeption, Durchführung und Nachbereitung von eignungsdiagnostischen Verfahren wie Einstellungsinterviews, Assessment und Development Centern, verantwortlich.
138
M. Jürgensen et al.
Dr. André Findeisen studierte Psychologie an der Justus-LiebigUniversität Gießen sowie an der Universität Osnabrück und verfügt über eine mehr als 10-jährige Erfahrung im Bereich der HRBeratung. Nach dem Studium war er als Consultant für das Kölner Institut für Managementberatung tätig. Seine berufsbegleitende Promotion zum Dr. rer. nat. schloss er am Lehrstuhl für Forschungsmethodik, Diagnostik und Evaluation bei Prof. Dr. Thomas Staufenbiel im Bereich der beruflichen Leistungsforschung ab. Für die Hochschule Fresenius in Köln übernahm er als Dozent verschiedene Lehraufgaben (u. a. Personaldiagnostik, Methodenlehre). Seit 2016 ist André Findeisen bei der ki.test GmbH tätig und als Managing Consultant für die Weiterentwicklung und Durchführung von digitalen testpsychologischen HR-Projekten verantwortlich. Prof. Dr. Christian Dries ist als Diplom Psychologe seit über 30 Jahren in der Personal- und Managementberatung tätig. Geboren im Jahr 1960 in Rüdesheim am Rhein, studierte er Psychologie und Ökonomie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen und schloss im Jahr 2000 seine Promotion ab. 1999 gründete er das Kölner Institut für Managementberatung, welches er heute als Geschäftsführer leitet. Seit 2007 ist er als Professor für Wirtschaftspsychologie und Personalmanagement an der Hochschule Fresenius in Köln tätig. Zudem ist er Mitglied der DGPs & EAWOP und seit 2014 Präsident der Gesellschaft für angewandte Wirtschaftspsychologie.
8
Potenzialanalysen im Rahmen von Online-Assessments Christian Jung-Gehling
8.1
Einleitung
Eignungsdiagnostische Verfahren können grundsätzlich drei Kategorien von Einsatzzwecken zugeordnet werden: Sie können erstens im Recruiting eingesetzt werden, also der Auswahl von geeigneten Personen für eine Stellenbesetzung dienen (z. B. anhand von Assessment Center Verfahren oder (Online-)Testverfahren). Sie können zweitens in der Personalentwicklung eingesetzt werden, also der Potenzialanalyse von Erfolgsfaktoren vorhandener Mitarbeitender für die zukünftige Weiterentwicklung dienen (bspw. anhand von Development Centern oder Online-Assessments). Drittens können eignungsdiagnostische Instrumente auch im Rahmen von Self-Assessments eingesetzt werden, in deren Rahmen Personen selbstständig ihre Potenziale oder Fähigkeiten testen, um bspw. die Berufswahl oder Studienwahl zu unterstützen. Auch wenn die Instrumente als solche vergleichbar sind (Center Verfahren, Online Assessments), kann also der Einsatzzweck durchaus unterschiedlich sein. Und auch der wahrgenommene Nutzen wird sehr unterschiedlich wahrgenommen. Im Rahmen des aktuellen Fachkräftemangels wird immer öfter auf fundierte Diagnostik in der Personalauswahl verzichtet. Zuletzt wurde dies beispielsweise bei der Personalauswahl des Auswärtigen Amtes unter öffentlicher Aufmerksamkeit sichtbar, da hier mittlerweile auf den früher üblichen eignungsdiagnostischen Einstellungstest komplett verzichtet werden soll. In besonderem Ausmaß ist dieser Trend gerade bei der Zielgruppe der Führungskräfte zu beobachten. Hier wird zunehmend aufgrund der augenscheinlich verringerten Akzeptanz von diagnostischen Verfahren (z. B. Online-Assessments C. Jung-Gehling (B) ELIGO Psychologische Personalsoftware GmbH, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. P. Stulle und R. T. Justenhoven (Hrsg.), Personalauswahl 4.0, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42142-7_8
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140
C. Jung-Gehling
oder andere Testverfahren) sowie der Ansicht, dass Führungskräfte ihr Potenzial aufgrund biographischer Nachweise (insbesondere Referenzen und Lebenslauf) bereits belegt haben, am wenigsten auf eine fundierte Diagnostik bei eignungsdiagnostischen Prozessen zurückgegriffen (Armoneit et al., 2020). Studienergebnisse zeigen jedoch, dass insbesondere die kognitive Leistungsfähigkeit (bspw. Anhand von Online-Tests erhoben) ein zentraler Faktor für den Führungs- und Berufserfolg (Sacket et al., 2021) bleibt und (kognitives) Potenzial sich immer seltener am Lebenslauf ablesen lässt (Kersting & Palmer, 2017). Darüber hinaus gibt es Erkenntnisse (entgegen des Vorurteils mangelnder Akzeptanz), dass Bewerbende kognitive Leistungstests als genauso angemessen empfinden wie Persönlichkeitsfragebögen, Biodaten einzugeben oder Referenzen darzustellen (Anderson et al., 2010).
8.2
Nutzen von Potenzialanalysen
Da das Recruiting neuer Mitarbeitender immer schwieriger wird, erhöht sich gleichzeitig der Druck auf die Personalentwicklung in den Unternehmen, offene Stellen intern zu besetzen. In Kombination mit den weiterhin starken empirischen Effekten des kognitiven Potenzials auf den Berufserfolg (vgl. Sacket et al., 2021), wird es also immer wichtiger, eignungsdiagnostisch fundierte Instrumente (also Potenzialanalysen) in der Personalentwicklung zum Einsatz zu bringen. Gerade weil die Diagnostik im Recruiting reduziert wird, müssen in der Personalentwicklung und den dazugehörigen Platzierungsentscheidungen fundierte, also valide, Informationen über die Fähigkeiten und Potenziale der Kandidatinnen und Kandidaten erhoben werden (Armoneit et al., 2020). Nur so können nachhaltige Fehlentscheidungen in der Personalplanung und im Personaleinsatz vermieden und damit auch die Zufriedenheit und Bindung der Mitarbeitenden erhöht werden. Der wahrgenommene Nutzen von Potenzialanalysen wird in der praktischen Anwendung jedoch nicht ausschließlich durch die Validität der Entscheidung definiert. Außerdem spielen auch die Praktikabilität in der Anwendung und die Akzeptanz der Verfahren bei den Kandidatinnen und Kandidaten eine entscheidende Rolle für den Einsatz in der Personalentwicklung. Der Einfluss der Praktikabilität zeigt sich im Digitalisierungstrend, der auch vor den Personalabteilungen nicht haltgemacht hat. Armoneit et al. konnten 2020 in der Einsatzhäufigkeit von Instrumenten insbesondere bei den sehr praktikablen OnlineFormaten deutliche Zugewinne verbuchen, jedoch nicht bei den besonders validen Online-Intelligenztestformaten, denen weiterhin eine schlechte Akzeptanz unter Kandidatinnen und Kandidaten nachgesagt wird. Insbesondere war die mangelnde Akzeptanzeinschätzung aber bei solchen Unternehmen zu beobachten, die keine kognitiven Leistungstests einsetzten. Wurden kognitive Leistungstest bereits eingesetzt, lag auch die Akzeptanz-Einschätzung relativ hoch.
8 Potenzialanalysen im Rahmen von Online-Assessments
141
Festzuhalten bleibt, dass Potenzialanalysen insbesondere in Form von kognitiven Online-Assessments (bspw. auch in der Kombination mit Persönlichkeitsinstrumenten) neben einer hohen Validität (vgl. Sacket et al., 2021 sowie Sparfeldt et al., 2022) auch eine hohe Praktikabilität sowie letzten Endes eine zumindest ausreichende Akzeptanz unter Teilnehmenden aufweisen (vgl. Anderson et al., 2010 sowie Armoneit et al., 2020) und somit die Personalentwicklung signifikant verbessern können. Da die Relevanz von Personalentwicklungsmaßnahmen und in dessen Rahmen auch von Potenzialanalysen in Form fundierter Online-Assessments folglich in der aktuellen Situation immer wichtiger werden, sollen im Folgenden diese Instrumente und insbesondere eine spezielle Form, die „risikofreie“ Potenzialanalyse, näher beschrieben werden.
8.3
Potenzialanalysen als Online-Assessments
Gerade unter dem Aspekt der Praktikabilität können also Online-Formate punkten. Dabei gibt es unterschiedliche Möglichkeiten Potenzialanalysen online durchzuführen: 1. Online-Assessments zur Erhebung kognitiver Potenziale und/oder Persönlichkeitseigenschaften und Arbeitshaltungen a. Self-Assessment ohne direkte berufliche Auswirkungen b. Risikofreie Potenzialanalyse (anonym) mit anschließenden beruflichen Implikationen c. Potenzialanalyse als Hürde und Selektionskriterium für weitere Entwicklungsschritte (Recruiting-ähnlicher Einsatz) 2. Remote Development Center 3. Kombination von Online-Assessments und Remote Development Center Zwar hat auch die digitale (remote) Durchführung von Assessment oder Development Centern gewisse Vorteile in Bezug auf die Praktikabilität, der Fokus in diesem Beitrag soll allerdings auf dem Einsatz von Potenzialanalysen in Form von Online-Assessments liegen, weil hiermit sowohl neue Inhalte als auch innovative Prozesse eingeführt werden. Hierzu zählt auch die Möglichkeit des Einsatzes risikofreier Potenzialanalysen. Online-Assessments können zur Erhebung kognitiver Potenziale, aber auch von Persönlichkeitsfacetten und Arbeitshaltungen dienen. In der Kombination lässt sich nach erfolgter Anforderungsanalyse und Festlegung der Inhalte das jeweilige Anforderungsprofil der spezifischen Stelle sehr gut abdecken. Ein solches Instrument kann neben der Erfüllung des, in der DIN 33430 geforderten, Anforderungsbezugs mit hoher Validität (vgl. Sacket et al., 2021 sowie Sparfeldt et al., 2022) und Praktikabilität entsprechende Potenziale von Kandidatinnen und Kandidaten sichtbar machen. Meist werden
142
C. Jung-Gehling
solche Online-Assessments mit automatischen Ergebnisberichten und Auswertungsalgorithmen bestückt, sodass hierdurch zusätzlich eine ausgeprägte Objektivität in der Ergebnisauswertung erzielt werden kann. Durch den hohen Grad an Automatisierung kann der Einsatz weitestgehend autark erfolgen und bedarf nur wenig bis keiner Interaktion zwischen den Teilnehmenden und bspw. der Personalabteilung. Aus diesem Grund lassen sich Online-Assessments gut im Rahmen von Self-Assessments nutzen und können auch komplett anonym erfolgen. Bei einem Self-Assessment werden die Ergebnisse nur von der teilnehmenden Person selbst eingesehen und genutzt, sie dienen dann allein der persönlichen Weiterentwicklung oder Berufs- bzw. Studien- oder Ausbildungsorientierung. Die Möglichkeit autarker und anonymer Durchführungen ist die Voraussetzung für risikofreie Potenzialanalysen, da diese im ersten Schritt für die Teilnehmenden komplett anonym durchgeführt werden und dadurch einem Self-Assessment nahekommen. Auch hierbei werden die Ergebnisse zunächst nur von den Teilnehmenden selbst eingesehen und genutzt. Auf diesen ersten Schritt folgen dann jedoch weitere Schritte (wie die Besprechung der Ergebnisse mit der Personalabteilung oder den Führungskräften) sowie die Implementierung von Weiterbildungsmaßnahmen. Viel häufiger werden Online-Assessments allerdings von Unternehmen klassisch, also nicht anonym, als Potenzialanalyse für die Entscheidung weiterer Entwicklungsmaßnahmen oder internen Stellenbesetzungen genutzt (bspw. für die Entscheidung für eine Führungslaufbahn). Vorteile von Potenzialanalysen als Online-Assessment (in Anlehnung an Guttschick & Dries, 2020): • • • • • • •
Modernes Auftreten Ökonomie in der Durchführung für Teilnehmende und Personaler Zeitliche und örtliche Flexibilität Datensicherheit und Vertraulichkeit Automatisierung der Prozesse Unmittelbare Auswertungen und Ergebnisbereitstellung Einfache Integrierbarkeit in weitere Prozessschritte (bspw. zusätzliche Vor-OrtVerfahren)
8.4
Praxisbeispiel einer risikofreien Potenzialanalyse
Neben den allgemeinen Vorzügen von Potenzialanalysen als Online-Assessments bringt die risikofreie Potenzialanalyse noch weitere Vorteile mit sich, die insbesondere durch den besonders hohen Grad an Vertraulichkeit hervorgerufen werden. So steigt z. B. die Akzeptanz des Verfahrens durch die Freiwilligkeit der Teilnahme und auch die
8 Potenzialanalysen im Rahmen von Online-Assessments
143
Teilnahmebereitschaft steigt durch den risikofreien anonymen Charakter der ersten Prozessstufe. Um die Funktionsweise und positiven Effekte risikofreier Potenzialanalysen besser zu verdeutlichen, wird im Folgenden auf ein Beispiel aus der Praxis näher eingegangen.
8.4.1
Ausgangslage
Die hier vorgestellte risikofreie Potenzialanalyse wurde in einer öffentlichen Verwaltung eingeführt. In dem speziellen Fall fehlte es bisher an strukturierten Maßnahmen zur Personalentwicklung. Zwar gab es allgemeine Leistungsbeurteilungen, aber kein definiertes berufsrelevantes Kompetenzmodell und keine strukturierte Erfassung der Potenziale und Entwicklungsfelder der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Durch eine Umstrukturierung der Verwaltung vergrößerte sich zusätzlich der Bedarf an neuen Führungskräften. Darüber hinaus gab es aufgrund der stark hierarchisch ausgerichteten Arbeitsumgebung auf Mitarbeiterseite offensichtliche Bedenken gegenüber Kompetenzerfassungen, da diese bisher lediglich zur Leistungsbeurteilung dienten. Um eine bedarfsorientierte und strukturierte Förderung von Mitarbeitenden sicherzustellen, ist die Identifizierung der aktuellen Mitarbeiterpotenziale notwendig. Hierfür wurde eine risikofreie Potenzialanalyse in Form eines Online-Assessments zur Standortbestimmung aufgesetzt. Diese ermöglichte den Beschäftigten, ihre individuellen Kompetenzen zu erkennen und eine zielgerichtete und vertrauliche Rückmeldung zu den eigenen Stärken und Entwicklungsfeldern zu erhalten.
8.4.2
Lösungsansatz
Ein passgenaues Online-Assessment wurde gemeinsam mit der besagten öffentlichen Verwaltung entwickelt und erstellt, welches zur Erfassung der anforderungsrelevanten kognitiven Potenziale, aber auch von Arbeitshaltungen und Persönlichkeitseigenschaften diente. Das Online-Assessment richtete sich an die Angehörigen von Mitarbeitenden des gehobenen Dienstes. Die Teilnahme war freiwillig und erfolgte im ersten Schritt anonym, wodurch eine risikofreie Möglichkeit zur Ermittlung der eigenen Kompetenzen geschaffen wurde. Auf Basis ihrer persönlichen Ergebnisse aus der Potenzialanalyse konnten die Mitarbeitenden selbst entscheiden, ob sie ein ergänzendes Beratungsgespräch mit einer*m Consultant aus dem Personalbereich nutzen wollten. Dieses Gespräch bildet dann den Ausgangspunkt für weitere Schritte in Form einer strukturierten Personalentwicklung. Die Mitarbeitenden konnten sich aber auch gegen die Weitergabe ihrer Ergebnisse und weitere Maßnahmen entscheiden, wodurch die Teilnahme komplett anonym blieb und keine negativen Konsequenzen (bspw. Gesichtsverlust) zu befürchten waren. Diese
144
C. Jung-Gehling
Vorgehensweise trug außerdem der stark hierarchisch ausgerichteten Arbeitsumgebung Rechnung, indem sie allen Angehörigen aus dem gehobenen Dienst grundsätzlich die Möglichkeit zur Teilnahme ermöglichte und die Potenzialanalyse somit nicht auf vorab von den Führungskräften ausgewählte Teilnehmende beschränkt war.
8.4.3
Entwicklung und Implementierung
Um das Potenzial von Mitarbeitenden messen zu können, bestehen grundsätzlich drei Optionen: 1. Analyse des Verhaltens 2. Beurteilung der Ergebnisse 3. Messung der Kompetenzen Da die Erfassung der Kompetenzen und damit des Potenzials die beste Aussagekraft für den zukünftigen Berufserfolg aufweist (Schmidt et al., 2016), war hier ein Verfahren zur Standortanalyse in Form einer strukturierten Messung berufsrelevanter Kompetenzen die Methode der Wahl. Nach der gemeinsamen Anforderungsanalyse (gemäß DIN 33430) wurde ein Kompetenzmodell erstellt. Anschließend wurden die entsprechenden Merkmale definiert, die für Führungskräfte in dieser öffentlichen Verwaltung wünschenswert waren, also das Potenzial der Führungskräfte ausmachten. Die für die Zielgruppe relevanten Kompetenzen wurden in einem gemeinsamen Workshop identifiziert und dem Anforderungsprofil zugeordnet. Ebenfalls wurde ein Sollprofil definiert, das die wünschenswerten Ausprägungen im Online-Assessment in Bezug auf die Kompetenzen beinhaltet. So kann sich jede*r Mitarbeiter*in einen Überblick über die eigene Kompetenzausprägung sowie deren Passung zum Sollprofil verschaffen. Im nächsten Schritt wurden Maßnahmen umgesetzt, um die Potenzialanalyse als attraktives Angebot anstelle einer Kontrollmaßnahme bei den Mitarbeitenden des gehobenen Dienstes zu platzieren. Dies war umso wichtiger, da die Zielgruppe des Verfahrens Potenzialeinschätzungen bisher lediglich als Leistungskontrolle kannte. Darüber hinaus sollte hierdurch die Angst vor einem Gesichtsverlust und negativen Konsequenzen genommen werden. So wurden etwa spezifische Rückmeldungen entwickelt, die die Besonderheiten und Wünsche des öffentlichen Dienstes berücksichtigten und den Beratungscharakter der Standortanalyse betonten. Dies bedeutet, dass es zum Beispiel nicht nur eine Rückmeldung über die Ausprägung der Kompetenzen gab, sondern auch weiterführende Hinweise und Tipps für Entwicklungsmöglichkeiten, welche die Beschäftigten selbst nutzen konnten, wenn sie sich in einem Kompetenzbereich aktiv weiterentwickeln wollten. Um die Anonymität und Vertraulichkeit des Online-Assessments sowohl in seiner Durchführung,
8 Potenzialanalysen im Rahmen von Online-Assessments
145
Abb. 8.1 Exemplarische Gesamtergebnisrückmeldung für Teilnehmende der Potenzialanalyse
als auch in der Behandlung der Ergebnisse zu gewährleisten, erhielten die Mitarbeitenden für ihr Online-Assessment passwortgeschützte Zugangsdaten via E-Mail. Die Durchführung erfolgte damit vollständig anonym und auch die Ergebnisse konnten sich die Teilnehmenden per E-Mail an ihre private oder berufliche Adresse zusenden lassen. Über die Durchführung des Online-Assessments und die jeweiligen Ergebnisse wurden keine Informationen an den Arbeitgeber übermittelt. Erst wenn die Mitarbeitenden ein Beratungsgespräch mit dem Personalbereich zur Erarbeitung von Ideen für die weitere berufliche Entwicklung in Anspruch nehmen wollten, erhielt die Personalabteilung die Ergebnisse der Standortanalyse. Auf dieser Basis konnte dann die weitere gemeinsame Beratung und Planung erfolgen (Abb. 8.1).
8.4.4
Ergebnis und Fazit
Notwendige Voraussetzung für eine zielgerichtete Personalentwicklung ist das Erstellen eines berufsrelevanten Kompetenzmodells und eine strukturierte Erfassung der Potenziale und Entwicklungsfelder. In bestimmten Kontexten ist darüber hinaus für den Erfolg der Standortanalyse entscheidend, dass das Verfahren für die Beschäftigten einen erlebbaren Mehrwert bietet und Vertraulichkeit und Anonymität zugesichert wird. Durch diese Herangehensweise stoßen solche Angebote bei den Teilnehmenden auf hohe Akzeptanz, sowohl bei der Durchführung als auch bei der anschließenden Ableitung von bedarfsorientierten Personalentwicklungsmaßnahmen. Sind diese Rahmenbedingungen gegeben, bietet eine Standortanalyse Beschäftigten und Arbeitgebern gleichermaßen ein Fundament für eine aktive und zielgerichtete Gestaltung der Personalentwicklung, was die Mitarbeiterbindung und Zufriedenheit nachhaltig stärkt. Durch den risikofreien Charakter der Potenzialanalyse werden außerdem gezielt weniger durchsetzungsstarke oder weniger extravertierte Mitarbeitende ermuntert, sich
146
C. Jung-Gehling
an einer solchen Maßnahme zu beteiligen. Hierdurch werden die Personalentwicklungsmaßnahmen einem größeren Kreis an Mitarbeitenden geöffnet. Im oben aufgeführten Praxisbeispiel kam es dabei zu einem relativ starken Geschlechtseffekt: Deutlich mehr Frauen als in der Vergangenheit hatten sich nach erfolgter risikofreier Potenzialanalyse auf die möglichen Personalentwicklungsmaßnahmen beworben. Dies belegt den Vorteil von Potenzialanalysen als Online-Assessments in Form von Objektivität, aber auch von Fairness gegenüber den Teilnehmenden.
8.5
Psychologische Wirkmechanismen gelungener Potenzialanalysen
Unabhängig von der Form der Potenzialanalyse (als Development Center, OnlineAssessment im klassischen Einsatz oder als risikofreie Variante) sind die Ziele und damit auch die erwünschten Wirkungen bei Potenzialanalysen zunächst gleich: Einerseits soll das Verhalten der Mitarbeitenden analysiert und damit verändert oder bestärkt werden, andererseits soll die Einsatzfähigkeit und Bindung der Mitarbeitenden langfristig erhalten oder ausgebaut werden. Neben der oben beschriebenen risikofreien Potenzialanalyse können natürlich auch die anderen Formen der Potenzialanalyse entsprechend positive Effekte auf Mitarbeitende entfalten. Hierfür sind zwei grundlegende psychologische Effekte ausschlaggebend: Zum einen ist für eine Verhaltensänderung oder -anpassung wichtig, dass die eigentliche Potenzialanalyse, aber auch das daraus resultierende Feedback akzeptiert werden. Für eine langfristige Bindung der Mitarbeitenden spielen bspw. Effekte wie „Labor leads to love“ (Norton et al., 2012) eine Rolle, wodurch die Bindung zur (neuen) Stelle durch entsprechend aufwändigere Verfahren erhöht werden kann. Je höher also der Aufwand ist, den Mitarbeitende erbringen müssen, um eine neue Stelle zu bekommen oder in ein Personalentwicklungsprogramm aufgenommen zu werden, desto stärker wird dies von den Mitarbeitenden wertgeschätzt. Neben solchen Effekten ist auch die Motivation der Mitarbeitenden eine entscheidende Komponente für eine positive Wirkung von Potenzialanalysen. Insbesondere ist dabei die intrinsische Motivation der Mitarbeitenden eine wichtige Voraussetzung für gute Leistungen und Zufriedenheit und damit für die langfristige Einsatzfähigkeit im Unternehmen.
8.5.1
Akzeptanz von eignungsdiagnostischen Verfahren und Feedback
Im Allgemeinen gelten Persönlichkeitsfragebögen und kognitive Leistungstests als Online-Assessments im Vergleich zu älteren Studien (Schuler et al., 1993, 2007) heutzutage viel stärker als akzeptiert. Insbesondere werden die kognitiven Online-Assessments durch Teilnehmende dann akzeptiert, wenn diese bereits zuvor schon Online-Assessments
8 Potenzialanalysen im Rahmen von Online-Assessments
147
angewendet haben. Das liegt auch daran, dass es immer mehr zu einer Professionalisierung in der Personalarbeit kommt und ein starker Prädiktor für die Akzeptanz der Verfahren in deren Validität liegt (vgl. Armoneit et al., 2020). Aus diesem Grund sollten nicht nur fundierte, zuweilen aber auch in der Bearbeitung durchaus anstrengende Verfahren genutzt werden, sondern gleichzeitig auch begleitende Informationen über ihre Validität zur Verfügung gestellt werden (Boudrias et al., 2014). Zusätzlich zu der validen Basis der Verfahren sollte für eine gesteigerte Akzeptanz das Feedback an die Teilnehmenden vor allem wertschätzend formuliert sein, damit eine nachhaltige Verhaltensänderung erzielt wird (Kanning & Berkhahn, 2020). Dieser Effekt wird auch dadurch untermauert, dass Teilnehmende von Potenzialanalysen die Ergebnisse vor allem dann akzeptieren und eine Bereitschaft zur Veränderung zeigen, wenn diese positiv ausgefallen sind bzw. wahrgenommen werden (Abraham et al., 2006). Feedback in Potenzialanalysen kann aber, auch bei größter Vorsicht in den Formulierungen, nicht immer positiv gestaltet werden. Es steht allerdings mit der Selbstwirksamkeit der Teilnehmenden in enger Verbindung, die eigenen Fähigkeiten auch verbessern zu können. Daher können konkrete Hinweise zur Entwicklung oder flankierende Unterstützungsangebote, beispielsweise durch die Personalabteilung, die Selbstwirksamkeit der Teilnehmenden verstärken und so den negativen Effekt von negativem Feedback abfedern (Dimotakis et al., 2017). Zusätzlich spielt auch die Nutzerfreundlichkeit von Online-Assessments eine Rolle für deren Akzeptanz. So sind vor allem externe Kandidatinnen und Kandidaten zufriedener mit dem Online-Prozess als interne, da hier Effizienz und Nutzerfreundlichkeit stärkere Effekte haben (Sylva & Mol, 2009). Teilnehmende müssen beispielsweise nicht extra zum jeweiligen Standort der Organisation reisen, um dort einen Test zu absolvieren, sondern können diesen auch bequem in der gewohnten Umgebung von zu Hause aus bearbeiten. Aber auch für interne Teilnehmende sind Online-Assessments aufgrund der Zeit-unabhängigen Bearbeitung einfacher und effizienter in der Bearbeitung. Nicht zuletzt spielt auch die wahrgenommene Fairness des Verfahrens eine wesentliche Rolle für seine Akzeptanz. Da Online-Assessments in der Durchführung und Auswertung vollständig automatisiert erfolgen, ist hierbei die wahrgenommene Fairness besonders hoch. Die erlebte Fairness ist umso höher, je höher die Kontrollierbarkeit des Prozesses wahrgenommen wird (vgl. Gunkel, 2013). Dieser letzte Punkt ist insbesondere bei risikofreien Potenzialanalysen zu beachten, da hierbei die Kontrolle über den Prozess besonders stark bei den Teilnehmenden liegt.
8.5.2
Motivation der Mitarbeitenden
Im Rahmen der Potenzialanalysen werden konkrete Ziele für die berufliche Weiterentwicklung im Unternehmen erarbeitet, was gemäß der motivationspsychologischen
148
C. Jung-Gehling
Zielsetzungstheorie(n) ebenfalls die Motivation erhöhen kann. Hierfür sollten die resultierenden Ziele ebenfalls möglichst konkret gehalten bzw. SMART (spezifisch, messbar, ausführbar, realistisch und terminiert) gestaltet werden (vgl. Locke & Latham, 2004). Gemäß der Selbstbestimmungstheorie sind drei Faktoren für die intrinsische Motivation der Mitarbeitenden entscheidend: Autonomie, Kompetenzempfinden und Verbundenheit (Ryan & Deci, 2002). Werden diese basalen Bedürfnisse erfüllt, führt dies nicht nur zu einer hohen Motivation, sondern auch zu einer qualitativ hohen Motivation, also zu intrinsischer (statt extrinsischer) Motivation, die besonders langanhaltend ist und besonders positive Effekte aufweist (vgl. Rigby & Ryan, 2018). Die hohe Kontrollierbarkeit im Rahmen der risikofreien Potenzialanalyse (Mitarbeitende können selbst bestimmen, wann sie an dem Verfahren teilnehmen wollen, ob sie die Ergebnisse offenlegen und weiterverwenden möchten und ob in der Folge weitere Personalentwicklungsmaßnahmen initiiert werden) führt zu einem hohen Maß an Selbstkontrolle und steigert so das Autonomieempfinden und damit auch die intrinsische Motivation und Zufriedenheit der Teilnehmenden (Jung-Gehling & Strauss, 2018). Aber auch das Kompetenzempfinden wird durch die oben bereits erwähnte wertschätzende Kommunikation mit konkreten Handlungsempfehlungen erhöht und kann über eine erhöhte Selbstwirksamkeit zu intrinsischer Motivation und Verhaltensänderungen führen (vgl. Deci et al., 2017).
8.6
Handlungsempfehlungen für Potenzialanalysen im Rahmen von Online-Assessments
Aus den zuvor aufgeführten Wirkmechanismen der Potenzialanalysen, insbesondere in der Durchführung als Online-Assessments, lassen sich unmittelbare Handlungsempfehlungen ableiten, die in der Folge noch einmal zusammengefasst werden sollen: • Die Akzeptanz von Online-Assessments liegt heutzutage höher und steigt insbesondere durch ihre Anwendung. Von daher sollten sich Anwenderinnen und Anwender nicht durch mögliche Vorurteile davon abhalten lassen, Online-Assessments einzusetzen. • Insbesondere valide Verfahren werden stärker akzeptiert. Daher ist es wichtig, die nachgewiesene Gültigkeit möglichst transparent darzustellen und gezielt darüber zu informieren, sodass sich Teilnehmende nicht nur auf die Augenscheinvalidität verlassen müssen. • Eine wertschätzende und positive Kommunikation ist wichtig, um nicht nur die Akzeptanz und das Kompetenzempfinden zu steigern, sondern auch die Veränderungsbereitschaft der Teilnehmenden. • Feedback und Entwicklungshinweise sollten möglichst konkret (bzw. SMART) gehalten und durch Unterstützungsangebote bei der Umsetzung des Feedbacks begleitet werden.
8 Potenzialanalysen im Rahmen von Online-Assessments
149
• Die Kontrollierbarkeit des Prozesses sollte soweit wie möglich bei den Teilnehmenden liegen, um die wahrgenommene Fairness zu steigern und positive Motivationseffekte zu erzielen (Selbstkontrolle, insbesondere bei risikofreien Potenzialanalysen der Fall).
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150
C. Jung-Gehling
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Dr. Christian Jung-Gehling, zunächst Studium Diplom Psychologie Uni Mannheim, anschließend Promotion in Wirtschaftswissenschaft Uni Witten/Herdecke zu den Themen Führung, Kultur, Kontrollmechanismen und Motivation, seit 2019 zunächst Consultant dann Senior Consultant und Teamlead bei ELIGO Psychologische Personalsoftware GmbH.
9
Automatisierte Videointerviews: Künstlich intelligent, aber fair? Franziska Leutner und Nathan Mondragon
9.1
Einleitung
Künstliche Intelligenz wird zunehmend zur Personalauswahl angewendet (ChamorroPremuzic et al., 2016). Strukturierte Interviews gelten dabei schon lange als sog. „Gold-Standard“ bei der Personalauswahl, waren aber bislang oft nur zeit- und kostenintensiv umzusetzen (Schmidt & Hunter, 1998). Eine potenzielle Lösung für diese Einschränkung bieten mittlerweile Algorithmen, die basierend auf den jeweiligen Interviewantworten arbeitsrelevante Merkmale bewerten. Sie erreichen hierbei auch schon vielversprechende Validitätskennzahlen (Hickman et al., 2022). Da solche Algorithmen gezielt die Antworten von Kandidaten auf standardisierte Interviewfragen bewerten und auch die Bewertung für alle Kandidaten gleich ist, bieten sie im Vergleich mit der traditionellen manuellen Bewertung nicht nur erhebliche Zeit und Aufwandsersparnisse für Personalabteilungen und Manager (HireVue, 2017). Darüber hinaus verspricht ein solches Verfahren neben Effizienzsteigerungen auch qualitative Verbesserungen gegenüber der manuellen Bewertung: Algorithmen sollen die besten Bewerberinnen zuverlässiger und unvoreingenommener identifizieren können als menschliche Bewerter. Jeder Kandidat wird dabei anhand der gleichen Kriterien bewertet, das heißt, die Bewertung ist standardisiert. Bei menschlichen Bewertern ist dies hingegen
F. Leutner (B) HireVue, London, Großbritannien E-Mail: [email protected] N. Mondragon HireVue, South Jordan, USA E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. P. Stulle und R. T. Justenhoven (Hrsg.), Personalauswahl 4.0, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42142-7_9
151
152
F. Leutner und N. Mondragon
oft nicht der Fall: Unstrukturierte Interviews, in denen Menschen Kandidaten frei einschätzen und bewerten, zählen gemäß einer aktuellen Metaanalyse zu den schlechtesten Methoden in der Personalauswahl (Sackett et al., 2022). Voreingenommenheit oder andere Verzerrungsbiases in Auswahlverfahren sind gelten dabei mittlerweile als gut erforscht: Oft werden KandidatInnen nach dem like-for-like Prinzip ausgewählt, oder Interviewer werden durch die Tageszeit, ihre aktuelle Laune oder irrelevante Details in ihrer Entscheidung beeinflusst (Campion et al., 1997). Auch werden Kandidaten von verschiedenen Menschen interviewt, die oft nach unterschiedlichen Kriterien bewerten. Eine einheitliche Bewertung ist dabei fast unmöglich. Gleichzeitig fällt es Menschen schwer, Persönlichkeit und besonders arbeitsrelevante Kriterien beim Gegenüber zu identifizieren und akkurat zu bewerten (McDaniel, Whetzel, Schmidt & Maurer, 1994; Swider & Barrick, 2019). Im Gegensatz hierzu bieten Algorithmen Struktur, Standardisierung und Transparenz: Alle KandidatInnen können einheitlich bewertet und Biases identifiziert, quantifiziert und sogar behoben werden (Rottman et al., 2023; Zhang, 2018). Hinzu kommen indirekte Ersparnisse durch die erhöhte Qualität der Personalentscheidungen: Die Anwendung strukturierter Interviews zu verbesserten Auswahlentscheidungen, d. h. Angestellte, die durch strukturierte Interviews ausgewählt wurden, sollten in der Folge eine bessere Arbeitsleistung erbringen (Sackett et al., 2022). Eine Einschränkung der automatisierten Interviewbewertung ist die Sprachgebundenheit: Modelle funktionieren nur in der Sprache, in der sie entwickelt wurden. Kommerzielle Anbieter und wissenschaftliche Publikationen beschreiben vorranging Englischsprachige Modelle. Abhilfe sollen Fortschritte im Natural Language Processing verschaffen: Sprachunabhängige Modelle, die die Bedeutung von Wörtern analysieren, könnten in naher Zukunft so gut funktionieren, dass Bewertungsalgorithmen Aufnahmen in verschiedenen Sprachen verwerten können. Trotzdem stehen Algorithmen auch massiv in der Kritik und werden sowohl von Gesetzgebern und Forschenden als auch von KandidatInnen und Unternehmen verschärft unter die Lupe genommen. Das ist aber auch notwendig und wichtig, denn Algorithmen müssen richtig angewendet werden, um die versprochenen Verbesserungen in der Personalauswahl zu verwirklichen. Hirevue ist einer der Marktführer in Videointerviews und bietet unter anderem eine automatisierte Interviewbewertung an: Videointerviews werden asynchron, d. h. BewerberInnen beantworten die Interviewfragen zu einem beliebigen Zeitpunkt, aufgezeichnet und von einem Assessment-Algorithmus automatisch bewertet. Hierbei werden arbeitsrelevante Charakteristika und Merkmale gemessen, wie z. B. Zusammenarbeit oder Lösungsorientierung. Gleichzeitig werden die Algorithmen im Hinblick auf Fairness optimiert, indem sie irrelevante und gruppenbasierte Charakteristiken aus der Bewertung ausschließen (HireVue, 2022). Unternehmen verwenden die so generierten Bewertungen typischerweise um eine Vorauswahl für den nächsten Bewerbungsschritt zu treffen. Um zu überprüfen ob die Algorithmen Lokal, also mit den Daten eines spezifischen Unternehmens, funktionieren werden die Algorithmen als Best-Practice regelmäßig auf Fairness überprüft und bei Bedarf korrigiert.
9 Automatisierte Videointerviews: Künstlich intelligent, aber fair?
153
HireVue‘s Algorithmen werden von Experten in Data Science und Wirtschaftspsychologie erstellt und kontinuierlich überprüft. Im Folgenden beschreiben wir, wie Algorithmen funktionieren können, um die Fairness von Auswahlverfahren mithilfe von KI zu verbessern. Insbesondere erläutern wir dabei, wie Algorithmen dank der von HireVue entwickelten Multipenalty-Optimierung gleichzeitig für Fairness und Validität optimiert werden und somit einen klaren Vorteil gegenüber menschlichen Bewertungen bieten.
9.2
Algorithmic Transparency: Wie bewertet KI Interviews?
Algorithmic Transparency wird vermehrt von Wissenschaftlern, aber auch Gesetzgebern thematisiert. Sie soll dafür sorgen, dass Algorithmen dem Wohle der Gesellschaft dienen und offen freilegen, nach welchen Prinzipien sie funktionieren (Mishra & Singh, 2019). Ohne Algorithmic Transparency ist es schwer festzustellen, ob die Algorithmen, die für ein Auswahlverfahren angewendet werden, fair und akkurat sind, oder ob sie tatsächlich zu einer Verbesserung von Personalentscheidungen führen. Algorithmen sollen eine faire Entscheidungsfindung unterstützen und den Status quo der jeweiligen Auswahlverfahren verbessern (Tippins et al., 2021). Hierzu sollten Anbieter veröffentlichen, welche Daten zur Entwicklung der Modelle verwendet werden, wie Modelle konzipiert sind, wie sie sich sowohl in Bezug auf Fairness als auch auf Validität verhalten und wie die Ergebnisse in der Praxis verwendet werden. Algorithmic Transparency ist sowohl wichtig für Anwender als auch für Bewerber, die beim Auswahlverfahren mit Algorithmen konfrontiert sind: Wissen darüber, wie ein Algorithmus funktioniert, beeinflusst am Ende auch die Bewertung, wie fair Bewerber das Auswahlverfahren einschätzen (Hilliard et al., 2022). Jedes Entscheidungsinstrument, das bei der Personalauswahl verwendet wird, muss den von den zuständigen Berufsverbänden und Gesetzen festgelegten Standards entsprechen. Dies sollte für Instrumente der künstlichen Intelligenz ebenso gelten wie für traditionelle Fragebögen oder unstrukturierte Interviews. HireVue beschreibt in einem AI Transparency Statement ausführlich, wie KI zur Bewertung von Videointerviews eingesetzt und die Ergebnisse zur Personalauswahl verwendet werden (HireVue, 2022). Die KI-Technologie, die HireVue in Videointerviews verwendet, lässt sich in drei Phasen zusammenfassen: 1. Transkribieren gesprochener Wörter in Text, hierzu werden Antworten auf asynchrone standardisierte Interviewfragen transkribiert die der Bewerber beantwortet hat 2. Ableitung von Bedeutung aus dem Textzusammenhang, 3. Bewertung der jeweiligen Antwort durch einen Algorithmus, der menschliche Bewertungen von arbeitsrelevanten Kriterien nachahmt.
154
F. Leutner und N. Mondragon
Wichtig ist, dass die KI nur Aussagen der Kandidaten bewertet und keine Videoanalyse oder andere Audiomerkmale verwendet. HireVue bewertet nicht den Gesichtsausdruck, die Körpersprache, den Hintergrund, die Umgebung oder den Tonfall eines Kandidaten.
9.2.1
Ad 1. Sprache in Text umwandeln
Zuerst werden die gesprochenen Wörter des Kandidaten in geschriebenen Text umgewandelt. Dies geschieht mithilfe eines Sprache-zu-Text-Transkriptionssystems eines Drittanbieters, Rev.ai (Rev AI, 2021). Das System transkribiert mit hoher Genauigkeit, da seine Algorithmen auf über 50.000 h manuell transkribierten Inhalt zu einer Vielzahl von Themen aus verschiedenen Branchen und von Menschen mit variierenden Akzenten und unterschiedlichen Tonarten basieren. Rev.ai verwendet dazu Maschinelles Lernen, eine Form der KI, die statistische Muster aus Datensätzen identifiziert. Anstatt mit vorgegebenen Antworten auf eine Reihe von Bedingungen programmiert zu werden, ist ein maschinelles Lernsystem so konzipiert, dass es seine eigenen Antworten auf diese Bedingungen im Rahmen eines Trainingsprogramms entwickelt. Ein einfaches maschinelles Lernsystem lernt dabei beispielsweise, zwischen den gesprochenen Wörtern Katze und Hund zu unterscheiden, indem es Trainingsdaten enthält, die Audiobeispiele von verschiedenen Personen enthalten, die „Katze“ oder „Hund“ sagen. Das System erhält zum Lernen einen Datensatz mit gekennzeichneten Audiobeispielen. Nachdem die KI mit genügend Beispielen trainiert wurde, erstellt das System ein Vorhersagemodell, das zwischen den beiden Wörtern unterscheiden kann. Das System kann nun Audiobeispiele selbstständig kennzeichnen und so unbekannten Text automatisch transkribieren, ohne dass eine manuelle Kennzeichnung notwendig ist. Die Prinzipien, die ein System aus den Trainingsdaten abgeleitet hat, werden als Modell bezeichnet. Systeme für maschinelles Lernen eignen sich besonders gut für komplexe Aufgaben, bei denen es schwierig sein kann, genaue Regeln festzulegen (z. B. beim Verstehen von Sprache), sowie für Aufgaben, bei denen sehr große Datenmengen benutzt werden. Aus diesen Gründen wird maschinelles Lernen heute häufig eingesetzt, um Sprache zu verarbeiten und zu verstehen.
9.2.2
Ad 2. Kontext und Sätze verstehen
Im zweiten Schritt verwendet HireVue, basierend auf dem transkribierten Text, eine Form der KI namens Natural Language Processing (NLP). NLP hilft dabei, den Text maschinell zu verstehen und so menschliche Bewertungen von Interviewantworten zu automatisieren. HireVue greift dabei auf ein eigens entwickeltes NLP-Modell namens „CAKE“ zurück, das auf dem Sprachmodell „Robustly Optimized Bidirectional Encoder Representations from Transformers“ oder „RoBERTa“ basiert (HireVue, 2022; Liu et al., 2019). RoBERTa
9 Automatisierte Videointerviews: Künstlich intelligent, aber fair?
155
wurde von einem von Google entwickelten Modell namens BERT übernommen. Das BERT Modell dient dazu, die Bedeutung von Wörtern im Kontext zu erkennen (Devlin et al., 2018). CAKE beginnt mit RoBERTa als Basismodell und wird anhand von Interviewdaten weiter verfeinert. Die von CAKE analysierte Sprache wird von einem neuronalen Netzwerk verarbeitet, das verschiedenen Merkmalen der Sprache eine bestimmte Bedeutung zuweisen kann. CAKE wurde in zwei Schritten entwickelt: 1. Durch Vorhersage von Wörtern in einer großen Anzahl von Dokumenten lernt das System etwas über Sprache im Allgemeinen, und 2. Das System erhält zur Verfeinerung eine große Anzahl von Interviewtranskripten. Es lernt somit Sprachnuancen kennen, die speziell in Vorstellungsgesprächen vorkommen. Das neuronale Netz produziert einen numerischen Wert – einen sogenannten „Vektor“ –, den das Modell der jeweiligen Antwort auf eine Interviewfrage zuordnet. Somit kann der Output des Modells nicht direkt interpretiert werden, beinhaltet aber für die Interviewbewertungsalgorithmen wichtige Informationen zum Sprachkontext und Inhalt der Antwort. Im Gegensatz zu vielen einfacheren NLP-Methoden ist CAKE besonders effektiv darin, die Bedeutung einer Antwort auf eine Frage unabhängig vom verwendeten Vokabular zu verstehen. Dies macht es für Kandidaten schwieriger, ihre Interviewantworten künstlich aufzuwerten, indem sie bestimmte Wörter oder Sätze in ihren Antworten erwähnen. CAKE ist dabei in der Lage, einzelne Wörter sowie deren Kontext zu verstehen. Dies ist besonders wichtig, wenn das gleiche Wort je nach umgebenden Wörtern unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Zusätzlich zum CAKE-Modell wird auch eine ältere und einfachere NLP-Methode namens „Binary Bag of Words“ verwendet. Dabei verwendet der Algorithmus alle Wörter, die Kandidaten verwenden, ohne Berücksichtigung von Grammatik, Reihenfolge und Kontext. Bag of Words sind anders als CAKE für Menschen interpretierbar, somit trägt die Verwendung von Bag of Words zur Transparenz der Algorithmen bei. Der Algorithmus bestimmt dabei ein relatives Gewicht für jedes verwendete Wort. Diese Gewichte können anschließend interpretiert werden. Zum Beispiel sehen wir, dass die Verwendung des Wortes „Team“ positiv zur Punktzahl eines Kandidaten für das Zusammenarbeitsmodell beiträgt.
9.2.3
Ad3. Bewertung der Interviewantworten
Im dritten Schritt, nachdem das CAKE-Modell die Antwort des Kandidaten analysiert und ihr numerische Werte zugewiesen hat, werden diese numerischen Werte zusammen mit der Binary Bag of Words-Analyse in ein Ridge-Regressionsmodell (ein maschinelles Lernsystem) eingespeist. Das Ridge-Regressionsmodell ist darauf trainiert, die menschlichen Bewertungen einer spezifischen arbeitsrelevanten Fähigkeit, wie z. B. Zusammenarbeit
156
F. Leutner und N. Mondragon
vorherzusagen. HireVue verwendet für jede Kompetenz ein separates KI-Modell. Jedes Modell enthält Antworten auf spezifische Interviewfragen, die auf die jeweilige Kompetenz abzielen. Mit HireVue können über 20 Kompetenzen getestet werden, z. B. Anpassungsfähigkeit, Problemlösung, Kommunikation und Lernbereitschaft. Diese Liste wird im Laufe der Zeit und auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und Daten noch erweitert. Das Regressionsmodell zur Interviewauswertung beruht auf menschlichen Bewertungen. Um sicherzustellen, dass diese hohe Qualität aufweisen, verwendet HireVue Best-Practices nach der Strukturierten Interviewmethodik. Hierbei wird für jede zu bewertende Kompetenz eine Behaviorally-Anchored Rating Scale (BARS), eine verhaltensbasierte Bewertungsskala, erstellt (Oh et al., 2019). Mithilfe der BARS werden dann menschliche Bewertungen der Videointerviews für die Trainingsdaten des Bewertungsalgorithmus eingeholt. Tausende solcher Bewertungen werden anschließend verwendet, um die Modelle so zu trainieren, dass sie die Antworten der Kandidaten in Vorstellungsgesprächen ähnlich wie die menschlichen Bewerter bewerten. HireVue hat in den letzten Jahren Studien mit über 125.000 manuellen oder menschlichen Interviewbewertungen durchgeführt. Jedes Interview wird hierzu von mehreren Menschen mithilfe der BARS bewertet. Zudem wurden über 500.000 Videointerviews von HireVue’s Algorithmen bewertet und die Bewertungen dann auf Biases getestet. Infolgedessen sind die Bewertungsergebnisse unserer KI-Bewertungen die der menschlichen Bewerter sehr ähnlich. Jedoch enthalten die KI-Bewertungen weniger Bias.
9.3
Wie werden KI-Modelle Fair?
Wie oben beschrieben, sagen die Bewertungsalgorithmen für Videointerviews von HireVue menschliche Bewertungen von berufsrelevanten Kompetenzen voraus. Um sicherzustellen, dass die Algorithmen aber auch fair sind, werden zwei Schritte angewendet: 1. Bias in Trainingsdaten minimieren, d. h. sowohl Bias in Interviewdaten (Transkripte, CAKE und Bag of Words) als auch Bias von menschlichen Bewertungen 2. Verwenden von Techniken des maschinellen Lernens, um eventuell verbleibenden Bias im Bewertungsmodell selbst weiter zu reduzieren.
9.3.1
Ad 1) Bias in Trainingsdaten minimieren
Zuerst wird sichergestellt, dass die verwendeten Daten, die der KI zugrunde liegen, möglichst frei von Bias sowie theoretisch relevant für die Messung der jeweiligen Kompetenz sind. Beispielsweise werden nur sprachliche Inhalte der Interviewantworten verwendet. Antworten werden von Kandidaten explizit für den Kontext des Videointerviews generiert.
9 Automatisierte Videointerviews: Künstlich intelligent, aber fair?
157
Die Kandidaten sind sich dabei bewusst, dass ihre Antworten anschließend ausgewertet werden. Es ist ihnen also bekannt, dass das, was sie während des Interviews sagen, dazu verwendet wird, um ihre Kompetenz für einen bestimmten Job zu bewerten. Es gibt auch eine theoretische Grundlage für die Verwendung von Interviewantworten zur Bewertung von Kompetenzen, die in der Literatur zu strukturierten Interviews bereitgestellt wird (Campion et al., 2016). HireVue verwendet keine videobasierten Informationen, da diese durch Aussehen, Bildhintergrund oder irrelevanten Kontext zu Bias führen könnten. Anschließend werden die für das Training der KI-Modelle verwendeten Kennzeichnungen, die menschlichen Bewertungen, auf Bias kontrolliert. In strukturierten Interviews werden menschliche Bewerter darin geschult, berufsrelevante Kompetenzen anhand von verhaltensbasierten Bewertungsskalen (BARS) zu erkennen. Bewerter durchlaufen einen strengen Schulungsprozess, bei dem ihre Bewertungen überprüft und kalibriert werden. Dadurch wird gewährleistet, dass relevante Kompetenzen gemessen und Biases reduziert wird. Diese Schritte stellen sicher, dass die verwendeten Trainingsdaten für die jeweilig zu messende Kompetenz relevant sind und vermeiden die Messung irrelevanter Informationen, die Bewertungen verfälschen könnten.
9.3.2
Ad 2) Bias im KI-Modell minimieren
Selbst wenn die oben genannten Schritte angewendet werden, können Trainingsdaten noch Bias enthalten. Es ist daher notwendig, das Scoring-Modell selbst auf Bias hin zu kontrollieren. Dies ist möglich, indem das Modell sowohl auf Fairness als auch auf Genauigkeit optimiert wird. Herkömmliche maschinelle Lernmodelle und auf maschinellem Lernen basierende Bewertungsmodelle in der Psychometrie wurden optimiert, um nur das relevante Ergebnis bzw. die relevante Kompetenz oder Persönlichkeit vorherzusagen. Alternativ dazu hat HireVue eine Methodik entwickelt, die Bias berücksichtigt und sowohl im Hinblick auf maximale Vorhersagegenauigkeit bei gleichzeitig minimalem Bias optimiert. Bias wird hierbei durch eine konsistent schlechtere Bewertung von Mitgliedern bestimmter messbarer Gruppen (Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit) definiert. Dadurch wird eventueller Bias in den Trainingsdaten aus den Bewertungsmodellen entfernt oder zumindest erheblich reduziert. Dies stellt sicher, dass der KI-Algorithmus arbeitsrelevante Kompetenzen, nicht aber für die Arbeitsleistung irrelevante persönliche Merkmale von Job- Bewerbern widerspiegelt (d. h., der Algorithmus minimiert Bias). Wie genau dies möglich wird, soll im nächsten Abschnitt beschrieben werden.
158
F. Leutner und N. Mondragon
9.4
Der Nächste Schritt: KI für verbesserte Fairness und Validität
Fairness kann statistisch und kulturell unterschiedlich definiert werden. In den USA muss gemäß den Uniform Guidelines on Employee Selection Procedures (1978) jedes Auswahlverfahren nachweisen, dass es keine sogenannten „Negativen Auswirkungen“ aufweist. Negative Auswirkungen treten auf, wenn Bewerber aus einer oder mehreren geschützten Gruppen (z. B. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit) in einem Verfahren mit erheblich unterschiedlichen Raten ausgewählt werden. Richtlinien definieren diese erheblichen Unterschiede statistisch (AERA, 1999; SIOP, 2003). In der Praxis werden KIBewertungsmodelle oft basierend auf ihrer Vorhersagekraft bewertet. Es kann aber sein, dass ein sehr genaues Modell gleichzeitig große Unterschiede in den Bestehensquoten für verschiedene Gruppen aufweist. Beispielsweise kann die Bestehensquote von Frauen erheblich niedriger sein als die von Männern. HireVue testet sowohl die Vorhersagekraft als auch die Fairness von KI-Bewertungsmodellen für die Personalauswahl. Modelle, in denen Gruppenunterschiede messbar sind, werden mit dem HireVue-Prozess zur Minderung negativer Auswirkungen verbessert, um diese zu reduzieren und vergleichbare Auswahlraten für alle Gruppen zu erreichen. Nach dem Prozess behält der Algorithmus weitgehend seine ursprüngliche Vorhersagekraft bei, hat aber auch vergleichbare Bestehensquoten für alle Gruppen und damit mehr Modellgerechtigkeit hergestellt. Herkömmliche Methoden zur Verbesserung von Fairness in KI-Modellen basieren auf der Entfernung von Daten und Variablen, die Bias erhöhen, aber nicht wesentlich zur Genauigkeit des Modells beitragen. Diese Strategie wird zunehmend von Anbietern von Technologie für die Personalauswahl eingesetzt, um Bias in Auswahlverfahren zu reduzieren (Raghavan et al., 2020). Wenn zum Beispiel eine unverhältnismäßig große Anzahl von Männern besser abschneidet als Frauen, können die entsprechenden Variablen, die diesen Bias verursachen, erkannt und aus dem Algorithmus entfernt werden. Der Bewertungsunterschied wird somit behoben. Bei herkömmlichen Auswahlverfahren wie Interviews oder Persönlichkeitstests ist dies in der Regel nicht möglich oder bringt eine erhebliche Verminderung der Vorhersagekraft mit sich. Im Gegensatz dazu beruhen KI-unterstützte Interviewbewertungen auf einer großen Menge von Daten und Variablen, die unterschiedlich gewichtet werden können. Somit ist für die Modelle genug Spielraum vorhanden, um eine Bewertung anzupassen. Wenn beispielsweise das Wort „aggressiv“ die Kompetenz „Ergebnisorientiert“ vorhersagt, aber mehr Männer als Frauen das Wort verwenden, könnte dies zu einem Bias gegenüber Frauen in der Kompetenzbewertung führen. Durch die Verringerung der Gewichtung des Wortes „aggressiv“ wird die Voreingenommenheit gegenüber Frauen verringert, während genügend andere Wörter vorhanden sind, um die Kompetenz weiterhin zuverlässig zu messen. Ein solches Verfahren ist bei der Verwendung von Sprache für Modelle in der Personalauswahl wichtig, da der Sprachgebrauch von Individuen durch ihre Gruppenzugehörigkeit beeinflusst ist (Meier et al., 2020).
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Aufbauend auf dieser Technologie hat HireVue eine neue Methodik entwickelt, die sogenannte Multipenalty-Optimierung (Rottmann et al., 2023). Sie ist speziell darauf ausgelegt, Diversität (Fairness) und Validität (Vorhersagekraft) gleichzeitig zu optimieren. Die Methode ist optimal für große Datensätze, aber auch für die Analyse von Videointerviews einsetzbar, die es erlauben, ein Modell basierend auf vielen verschiedenen Variablen zu verwenden. Bei der Multi-Penalty-Optimierung berücksichtigt das Bewertungsmodell sowohl die Vorhersagekraft als auch die Fairness eines Algorithmus, sodass die vorhergesagten Bewertungen den Ausgangsbewertungen im Trainingsdatensatz ähneln (Validität) und gleichzeitig Mitglieder verschiedener Gruppen ähnlich bewerten müssen (Fairness). Eine Strafe, oder Penalty, wird für solche Variablen definiert, die zu Gruppenunterschieden führen. Maschinelle Lernmodelle, die üblicherweise für psychometrische Tests oder automatisierte Interviewbewertungen verwendet werden, haben ausschließlich das Ziel, die Modellgenauigkeit zu maximieren. Somit ist die Multipenalty-Optimierung eine neue Methodik für Algorithmen in der Personalauswahl. Mathematisch wird die Vorhersagekraft eines Modells durch eine Kostenfunktion bestimmt (Cdata), die misst, wie gut das Modell zu den Daten passt. In einem gewöhnlichen Regressionsmodell ist Cdata beispielsweise die Summe der quadrierten Fehler zwischen vorhergesagten Bewertungen und Ausgangsbewertungen. Regressionsmodelle konzentrieren sich nur auf die Vorhersagekraft, was zu einer Überanpassung der Modelle führen kann. Um dies zu vermeiden, hat man ML-Methoden entwickelt, die die Verallgemeinerbarkeit des Modells verbessern, indem eine Regularisierungskostenfunktion (Creg) hinzugefügt wird, die große Koeffizienten bestraft. Die Stärke dieser Penalty kann mithilfe des Hyperparameters zur Regularisierungsgewichtung (α) angepasst werden, der die relative Wichtigkeit von Cdata und Creg bestimmt. Um die Fairness des Modells zu verbessern, wird bei der Multi-Penalty-Optimierung eine Gruppenunterschieds-Penalty (Cdiff) zu der Kostenfunktion hinzugefügt, um Unterschiede zwischen Gruppen (z. B. männlich und weiblich) zu bestrafen. Die Gesamtkostenfunktion (Ctotal) wird wie folgt geschrieben: Ctotal = Cdata + αCr eg + βCdi f f Die Multipenalty-Optimierung ist dabei besonders vorteilhaft, da sie sowohl die Diversität als auch die Gültigkeit von Modellen maximiert. Somit erlaubt sie es, Modelle fairer zu machen, ohne an Vorhersagekraft einzubüßen. In der Praxis erzielt die MultipenaltyOptimierung im Vergleich mit der herkömmlichen Löschung von Variablen bessere Algorithmen im Sinne von Fairness und Validität: Bei vergleichbarer Verbesserung von Fairness verlieren herkömmliche Modelle 43 % ihrer Vorhersagekraft, während die Multipenalty-Optimierung nur 25 % der Vorhersagekraft einbüßen (Rottman et al., 2023). Des Weiteren stellt die Multipenalty-Optimierung einen Vorteil gegenüber menschlichen Bewertungen dar, da sie eine zusätzliche, transparente Methodik bietet, um Bias zu reduzieren und die Fairness von Einstellungsentscheidungen zu verbessern. Für weitere Details zum Optimierungsverfahren siehe Rottmann et al. (2023).
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Dr. Franziska Leutner
Dr. Nathan Mondragon ist HireVue’s Chief IO Psychologist und verantwortlich für die wissenschaftliche Arbeit hinter HierVue’s KIgesteuerten Produkten für die Personalauswahl. Nathan hat über 25 Jahren umfassende Erfahrung im HCM-Bereich. Bereits 1996 war Nathan an der Entwicklung des allerersten Online-Auswahltests beteiligt, 2004 entwickelte er die erste integrierte Bewertungslösung innerhalb eines unternehmensweiten ATS (Taleo) auf. 2015 brachte er mit HireVue das erste KI-gesteuerte Pre-Hire-Assessment auf den Markt. Er hat über 50 Manuskripte, Präsentationen und Workshops zu IO-Psychology und HR Tech verfasst und wird regelmäßig in der Presse zitiert, darunter bei NPR, BBC und Bloomberg. Nathan hat als Arbeits- und Organisationspsychologie an der Colorado State University promoviert.
10
KI-Unterstützung bei der digitalen Personalauswahl – Eine Fallstudie im Unternehmer-Kontext Hannah Kiesow-Berger, Michael Fell, Fred Philippy und Elias Steiner
10.1
Einführung
Die Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen bieten eine robuste und präzise Momentaufnahme der Art und Weise, wie eine Person ihr tägliches Leben führt, z. B., wie sie sich in alltäglichen sozialen Interaktionen, täglichen Gewohnheiten oder auch am Arbeitsplatz verhält. Jeder Mensch kann schematisch entlang von Dimensionen einzelner Persönlichkeitsmerkmaler eingeteilt werden. Die Kenntnis der daraus resultierenden Verhaltenstendenzen ist wiederum nützlich, wenn es darum geht, Menschen auf individueller Ebene zu verstehen. So ergab eine Meta-Analyse im Business-Kontext, dass Unternehmer (hier und im weiteren Verlauf stets als generisches Maskulinum verstanden, das alle Geschlechter umfasst) im Vergleich zu Managern höhere Werte bei den Big-FivePersönlichkeitsdimensionen Offenheit und Gewissenhaftigkeit aufweisen (Zhao & Seibert, 2006). Dementsprechend können bestimmte wichtige Persönlichkeitsmerkmale mit erfolgreichem Unternehmertum verknüpft sein. Personen, die die Chance ergreifen, ihr eigenes H. Kiesow-Berger (B) · M. Fell · F. Philippy Zortify Labs, Luxemburg, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Fell E-Mail: [email protected] F. Philippy E-Mail: [email protected] E. Steiner Uncap, München, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. P. Stulle und R. T. Justenhoven (Hrsg.), Personalauswahl 4.0, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42142-7_10
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H. Kiesow-Berger et al.
Unternehmen zu gründen, benötigen dazu ein ausgewähltes Repertoire an Eigenschaften, die ihnen helfen, Risiken einzugehen, stressende Situationen zu bewältigen und lange Arbeitszeiten zu durchstehen (Baluku et al., 2018). So sind beispielsweise die Persönlichkeitsmerkmale Resilienz, Optimismus, Selbstwirksamkeit und Hoffnung, die zusammen als sog. „psychologisches Kapital“ bekannt sind, bei Unternehmern im Vergleich zu anderen Personen offensichtlich stärker ausgeprägt (Luthans et al., 2004; Avey et al., 2011; Baluku et al., 2018). Hohe Werte in den Einzel-Dimensionen des psychologischen Kapitals werden wiederum mit erfolgreichen unternehmerischen Verhaltensweisen in Verbindung gebracht, wie z. B. Nutzung von Chancen, Risikobereitschaft, Bewältigung von Stresssituationen und Kreativität bei der Beschaffung von Ressourcen für ihre Unternehmungen (Baluku et al., 2018). In diesem Sinne ergab eine Literaturrecherche, dass das Persönlichkeitsmerkmal „Narzissmus“ einen komplexen Einfluss auf das unternehmerische Potenzial aufweist (Liu et al., 2021). In einigen Fällen kann Narzissmus einen positiven Einfluss haben, indem er Unternehmern hilft, riskante, aber auch kalkulierte Entscheidungen zu treffen. In anderen Fällen kann er hingegen einen negativen Einfluss entfalten, indem er Unternehmer daran hindert, wertvolles Wissen aus Misserfolgen zu gewinnen (Liu et al., 2021). Unternehmer können also über eine einzigartige Konstellation von Persönlichkeitsmerkmalen verfügen, die zu ihrem Erfolg beitragen oder diesen beeinträchtigen. Seit einiger Zeit wird eine möglichst genaue Identifizierung solcher wichtigen Persönlichkeitsmerkmale durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) erleichtert. Der Einsatz von KI-Tools hat sich als wertvoll erwiesen, um mit der sich verändernden Dynamik der Globalisierung Schritt zu halten, insbesondere im Bereich der Personalbeschaffung (Ore & Sposato, 2021). Mithilfe von KI können Computer effizient und effektiv lernen und Muster in Daten erkennen, sodass besonders objektiv-unvoreingenommene Entscheidungen getroffen werden, z. B. die Auswahl des richtigen Kandidaten für eine Stelle. Für Unternehmer ist es von entscheidender Bedeutung, Finanzmittel von potenziellen Investoren zu erhalten, und der begleitende Vergabeprozess ist dabei meist hart umkämpft. Viele verschiedene Faktoren spielen eine Rolle, wenn Investoren entscheiden, in wen sie ihre Mittel investieren. Persönlichkeitsmerkmale sind dabei nur eine Möglichkeit für den Entscheidungsprozess, da sie als Indikatoren für eine erfolgreiche Geschäftsentwicklung dienen können. So kann der Einsatz von KI-Tools den Anlegern dabei helfen, die wichtigsten Daten automatisch und effizient auszusortieren, sodass schnellere Entscheidungen getroffen werden können (Ore & Sposato, 2021). In der vorliegenden Studie stellen wir ein solches Anwendungsszenario für den Einsatz von KI bei der Auswahl für eine Finanzierung von Unternehmern in der Frühphase vor. Die Ziele der aktuellen Studie sind zweifach: Erstens beschreiben wir den Einsatz von KI im Auswahlprozess von Unternehmern für eine Finanzierung auf. Zweitens präsentieren wir nach dem Auswahlprozess Ergebnisse, wiesich die Unternehmer in Spektrum von Persönlichkeitsmerkmalen unterscheiden.
10 KI-Unterstützung bei der digitalen Personalauswahl – Eine Fallstudie …
10.2
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Methoden und Materialien
10.2.1 Stichprobe Rund 5000 (n = 5.333) Jungunternehmer beantragten in den Jahren 2021–2022 eine Finanzierung bei Uncap. Ein kleinerer Prozentsatz der Unternehmer, die sich bei Uncap bewarben (n = 812), führte die Zortify Persönlichkeitsanalyse (https://zortify.com/) durch, von denen am Ende n = 19 Unternehmer für eine Finanzierung ausgewählt wurden. Es bewarben sich mehr Männer (65,8 %) als Frauen, und die meisten Bewerber kamen aus Nigeria (52,5 %) und Kenia (28,1 %; Tabelle 1). Lebensmittel (23,5 %), technologische Ausrüstung und Hardware (16,5 %) und Einzelhandel (12,1 %) waren die drei wichtigsten Branchen, denen die Unternehmer angehörten (Tab. 10.1).
10.2.2 Zortify Persönlichkeitsanalyse Die Zortify Persönlichkeitsanalyse ist eine Messung von Persönlichkeitsmerkmalen, die 43 quantitative geschlossene Fragen und 6 qualitative offene Fragen kombiniert. Sie verfolgt damit einen Multi-Trait-Multi-Methoden-Ansatz, um eine Reihe von Persönlichkeitsmerkmalen und -zuständen zu analysieren, die mit dem Erfolg am Arbeitsplatz verbunden sind. Die Persönlichkeitsbeschreibung misst insbesondere das unternehmerische Kapital (Resilienz, Optimismus und Selbstwirksamkeit) und das destruktive Potenzial (subklinischer Narzissmus, subklinische Psychopathologie und Machiavellismus). Alle Berichte wurden automatisch mithilfe der „Natural Language Processing“, kurz „NLP“Algorithmen von Zortify ausgewertet (siehe unten). Anhand der Antworten auf die Fragen zur Selbsteinschätzung und offenen Fragen sagen die Algorithmen eine Punktzahl für jedes der gemessenen Persönlichkeitskonstrukte voraus.
10.2.3 Zortify Persönlichkeitskonstrukte Unternehmerisches Kapital, welches schon zuvor auch als „psychologisches Kapital“ bezeichnet wird (Luthans et al., 2004), setzt sich zusammen aus „Resilienz“ (starkes Zielbewusstsein; schnelles Wiederaufstehen), „Optimismus“ (fröhlich; zukunftsorientiert) und „Selbstwirksamkeit“ (Zuversicht, etwas zu erreichen; Herausforderungen zu meistern). Gründer und unternehmerische Führungskräfte verfügen in der Regel über diese Eigenschaften, und sie korrelieren positiv mit dem Erfolg des Teams und der Organisation (insbesondere mit dem Engagement in der Organisation und der Führung) (Berg & Heidbrink, 2017). Das destruktive Potenzial, auch bekannt als die dunkle Triade der Persönlichkeit (Paulhus & Williams, 2002), setzt sich zusammen aus „subklinischem Narzissmus“
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H. Kiesow-Berger et al.
Tab. 10.1 Demografische Informationen Finanziert? Ja Nein
19 794
Selbst angegebenes Geschlecht Männlich Weiblich Keine Angabe
534 (65,8 %) 251 (30,9 %) 27 (3,3 %)
Land Nigeria Kenia Uganda Ruanda Ghana Gabun Chad Vereinigte Republik Tansania Sierra Leone Burundi
426 (52,5 %) 228 (28,1 %) 102 (12,6 %) 43 (5,3 %) 4 (