Person und Selbsttranszendenz. Ekstase und Epoché des Ego als Individuationsprozesse bei Schelling und Scheler 9783826049453

Der Begriff der Person steht, reduktionistischen Einwänden zum Trotz, noch immer im Mittelpunkt der philosophischen, soz

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German Pages [192] Year 2012

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Person und Selbsttranszendenz. Ekstase und Epoché des Ego als Individuationsprozesse bei Schelling und Scheler
 9783826049453

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Cusinato — Person und Selbsttranszendenz

Orbis Phaenomenologicus Herausgegeben von Kah Kyung Cho (Buffalo), Yoshihiro Nitta (Tokyo) und Hans Rainer Sepp (Prag)

Studien 29 Editionsgremium Eberhard Avé-Lallemant (München), Rudolf Bernet (Leuven), Ivan Blecha (Olomouc), Chris Bremmers (Nijmegen), Ion Copoeru (Cluj-Napoca), Renato Cristin (Trieste), Natalie Depraz (Paris), Wolfhart Henckmann (München), Dean Komel (Ljubljana), Nam-In Lee (Seoul), Junichi Murata (Tokyo), Thomas Nenon (Memphis), Liangkang Ni (Guangzhou), Harry P. Reeder (Arlington), Rosemary Rizo-Patrón de Lerner (Lima), Krishna Roy (Calcutta), Javier San Martín (Madrid), Toru Tani (Kyoto), Helmuth Vetter (Wien), Meinolf Wewel (Freiburg i. Br.), Ichiro Yamaguchi (Tokyo) Beirat Jean-François Courtine (Paris), Lester Embree (Boca Raton), Dagfinn Føllesdal (Oslo/Stanford), Klaus Held (Wuppertal), Elmar Holenstein (Yokohama), Seongha Hong (Jeollabukdo, Korea), Jean-Luc Marion (Paris), James Mensch (Antigonish), J. N. Mohanty (Philadelphia), Ernst Wolfgang Orth (Trier), Bernhard Waldenfels (Bochum), Roberto Walton (Buenos Aires), Donn Welton (Stony Brook) Sekretariat Hans Rainer Sepp SIF – Středoevropský institut pro filosofii / Mitteleuropäisches Institut für Philosophie Fakultät für Humanwissenschaften Karls-Universität Prag

Guido Cusinato

Person und Selbsttranszendenz Ekstase und Epoché des Ego als Individuationsprozesse bei Schelling und Scheler

Königshausen & Neumann

Der vorliegende Band wurde realisiert dank eines Druckzuschusses des Dipartimento di Filosofia, Pedagogia e Psicologia, Università degli Studi di Verona

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2012 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Umschlag: skh-softics / coverart Bindung: Zinn – Die Buchbinder GmbH, Kleinlüder Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

ISBN 978-3-8260-4945-3

www.koenigshausen-neumann.de www.buchhandel.de www.buchkatalog.de

Manfred Frings zum Gedächtnis

Inhaltsverzeichnis Einleitung......................................................................................................11 Abkürzungsverzeichnis................................................................................16 1

DER HUNGER NACH SEIN.......................................................17

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Schelling und Scheler ........................................................................17 Die Exzentrizität als Aufgabe ..........................................................19 Die Sehnsucht und der Hunger nach Sein.......................................23 Hunger nach Sein und Essstörung...................................................26 Über den Begriff der Selbsttranszendenz........................................27

2

SCHELLING: GEBURT DER PHILOSOPHIE DER PERSON UND EKSTASE DES ICH ..................................33

2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5

Die Freiheitsschrift und die Anfänge einer neuen Philosophie der Person .........................................................................................33 Die Kritik am formalen Begriff der Freiheit......................................33 Idealismus und Realismus..................................................................37 Die Geburt der Philosophie der Person .............................................40 Die egologische Selbstheit und das Böse .............................................43 Das Vorbild des werdenden Gottes und die menschliche Freiheit.....45

2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4

Die Ekstase des Ich ..........................................................................51 Die Depotenzierung des Ideenbegriffs beim späten Schelling ............51 Die Ekstase und die Anamnese des Ego .............................................54 Die Ohnmacht der Ideen und die Überwindung des Idealismus......59 Vis inertiae und neuer Empirismus ...................................................62

2.3 Die Persönlichkeit und der Wille als Signal zur Umkehrung ....66 2.3.1 Der Begriff der Ekstase: von Erlangen nach Berlin ...........................66 2.3.2 Abschied von der Philosophie des Seins und philosophischer Empirismus ........................................................................................69 2.3.3 Die Überwindung der Ontologie des Möglichen: die Wirklichkeit und ihr Schatten .................................................................................71 2.3.4 Herr des Seins und Ich als Usurpator ................................................73

7

2.3.5 2.3.6

Prometheus und die Eitelkeit des Daseins ........................................75 Die Persönlichkeit als Umkehrung des Unwillens ...........................78

3

SCHELER: SELBSTTRANSZENDENZ UND WELTOFFENHEIT ......................................................................81

3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7

Werdender Gott und Wiedergeburt der Person..........................81 Der Panentheismus und die Kritik am Theismus des nous poietikos..................................................................................81 Die creatio ex nihilo und der Mensch als imago Dei.......................83 Die Aporien des werdenden Gottes ..................................................85 Vorbild und Solidarität ....................................................................89 Der leidende Gott und der werdende Gott.......................................91 Die Theorie der ideae cum rebus .....................................................93 Werdender Gott und Funktionalisierung des Personwerdens ..........97

3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6

Die Augen des Eros ........................................................................99 Über das Verhältnis zwischen dem Eros und der Agape...................99 Aufwertung der Natur – von Marcion zu Franziskus von Assisi ...102 Die Grenze des Eros .......................................................................105 Die Theorie der Sublimierung und Freud ......................................107 Die Tätigkeit der Agape im Eros ....................................................110 Die Geburtsstunde des prometheischen Wissens .............................112

3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6 3.3.7 3.3.8 3.3.9 3.3.10 3.3.11 3.3.12 3.3.13 3.3.14 3.3.15 3.3.16

Reduktion als cura sui ..................................................................115 Das Problem der Reduktion bei Husserl und Scheler ....................115 Gnôthi seautón und epimèleia heautoû ........................................116 Die Phänomenologie als radikaler Empirismus .............................117 Reine Tatsachen und Selbstgegebenheit ..........................................119 Selbstgegebenheit und Sichoffenbaren .............................................120 Scheler und der Anthropologismusvorwurf.....................................121 Cura sui als Entspannung und Anspannung ..................................122 Reduktion: Methode oder Tèchne? .................................................124 Platon und die tèchne tês periagogês ............................................125 Das Unzeitgemäße an dem Begriff der Demut...............................126 Demut als Modus der Liebe ............................................................128 Die Ehrfurcht und die Landschaft unserer Erfahrung ....................130 Von der Evidenz zur Erleuchtung ..................................................131 Evidenz und Relativismus ..............................................................133 Die Verwunderung im Anblick der höchsten Evidenz ...................134 Reduktion und Alltäglichkeit ..........................................................135

8

3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.4.6 3.4.7

Wert als Urphänomen ...................................................................137 Gefühlsethik und Werte....................................................................137 Wert und Erfahrung .........................................................................138 Wert als erster Bote...........................................................................140 Funktionalisierung und Apriori.......................................................142 Absolute und relative Werte .............................................................146 Wertrangordnung und Selbstoffenbarung.........................................148 Die unvertretbare Solidarität und die Mitverantwortlichkeit .........150

3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.5.5

Die Frage nach der Wertobjektivität bei Max Scheler ..............152 Kritik am Begriff der Wertanschauung ............................................152 Das Problem der Objektivität der Werte .........................................154 Person: Lieben und Selbsttranszendenz ...........................................155 Die Überwindung des absoluten Wertobjektivismus .......................157 Die Akrasia und die Unterschätzung des reflexiven Momentes in Schelers Denken..........................................................159

3.6 3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.6.4 3.6.5

Wert und Urteil..............................................................................161 Brentano und die Orthonomie des Fühlens.....................................161 Brentano und Hume ........................................................................162 Nussbaum: Emotions as Judgments of Value ................................163 Differenz zwischen Wert und Werturteil .........................................166 Wert und Demokratie ......................................................................167

3.7 3.7.1 3.7.2 3.7.3 3.7.4 3.7.5 3.7.6 3.7.7 3.7.8 3.7.9

Vorbild und Umbildung ...............................................................169 Nochmals über die Richtigkeit des Fühlens......................................169 Das Vorbild als neuer Auftakt..........................................................172 Vorbild und materiale Ethik ............................................................174 Das Vorbild als Morgenröte des individuellen Gesetzes..................176 Ordo amoris, Vorbild und Bildung ................................................177 Vorbild und Kongenialität ...............................................................182 Das Vorbild und der Verfall der Aura .............................................183 Globalisierung und Vorbild .............................................................184 Anthropologie der solidarischen Teilhabe ........................................187

Personenregister.........................................................................................189

9

Einleitung Im Zentrum dieser Arbeit steht die Frage nach der personalen Identität und der Orientierung in unserer flüchtigen postmodernen Zeit. Nach dem expressivist turn, hat es, wie Charles Taylor darlegt, keinen Sinn mehr, in der Idee eines transzendenten Guten oder eines Wertes an sich einen Bezugspunkt zu suchen. Wo aber müssen wir dann die Quelle der Orientierung unserer Existenz suchen? Nach dem Sturz der von Nietzsche kritisierten repressiven Moral sind die ethische Orientierung und die Freiheit häufig als das Ergebnis einer autonomen Entscheidung des Subjekts verstanden worden. Es ist interessant zu beobachten, wie sich der Neoliberalismus und das postmoderne Denken des anything goes – die zwei Standpunkte, die sich seit dem Anfang der achtziger Jahre in der Wirtschaft und der Philosophie durchgesetzt haben – trotz des Kontrasts zwischen ihnen auf einen sehr ähnlichen Freiheitsbegriff beziehen, der für sich das Recht zur unbegrenzten Erweiterung der eigenen Potentialität beansprucht und jede Grenze – solange sie kein bloß formaler Respekt vor der Freiheit des Anderen ist – als eine nutzlose Störung betrachtet, so dass sie aus einer „deregulation“ im wirtschaftlichen wie im ethischen Feld das eigene Credo machen. Dieses Modell der Freiheit und der Entwicklung – dem das entspricht, was Gilles Lipovetsky société d'hyperconsommation nannte – erweist sich immer deutlicher als unfähig, der Menschheit vor den neuen Herausforderungen im ökonomischen, sozialen, ethischen und politischen Bereich eine Orientierung zu bieten. Michel Serres hat die Hypothese aufgestellt, dass die aktuelle ökologische Krise auch die Folge einer „mentalen Verschmutzung“ sei. Um ein Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur wiederzugewinnen, schlägt Serres einen contrat naturel vor, der davon ausgeht, dass der Mensch lernen sollte, die Tugend der Zurückhaltung auszuüben, die Ausweitung der eigenen Macht innerhalb gerechter Grenzen zu halten und das Ziel der eigenen Existenz vom Besitz auf die kreative Handlung zu verschieben. Meiner Meinung nach liegt dieser mentalen oder „noologischen“ Verschmutzung gerade jener Freiheitsbegriff zugrunde, der nach der uneingeschränkten Ausdehnung der eigenen Grenzen, nach einer Ausbreitung des eigenen Selbst sowie der eigenen Fähigkeit des Konsums strebt. Das Tragischste daran ist, dass ein in diesem Sinne freies Individuum sich als autonom glaubt, während es in Wirklichkeit heteronom ist, da die Konturen des eigenen Selbst, welche es mit Mühe und Not zu erweitern sucht, von dem, was Foucault „Technologien der Macht“ nannte, bestimmt worden sind.

11

Um ein alternatives Entwicklungsmodell zu denken, ist es wichtig, sich eine zweite Ebene der menschlichen Freiheit vorzustellen, die sich mit der Grenze, dem Respekt vor der Natur und der Achtung gegenüber dem Anderen, d.h. mit der Realität, auseinanderzusetzen weiß. Schelling erweist sich in dieser Perspektive als ein wichtiger Vorläufer, der sich mit diesem Modell der Freiheit auseinandersetzt (vgl. Kapitel 2.1). Die drängende Problematik der Freiheit besteht heutzutage darin, eine Form der Individuation herauszufinden, die sich alternativ zu derjenigen stellen kann, die gleichsam von den „Machttechnologien“, von dem Foucault spricht – die immer mehr an einer medialen „Massenzüchtung“ ähneln – aufgezwungen wird. Anstatt die ganzen Energien für die Ausweitung der Grenze des eigenen Selbst einzusetzen, nimmt diese zweite Ebene des Individuationsprozesses in einem gewissen Moment kritischen Abstand von demselben und transzendiert es, um über die Selbstwiederholung hinaus eine neue Existenz zustande zu bringen. Ohne diese Übung der Selbsttranszendierung, ohne eine konstruktive Dialektik zwischen sozialer Rolle und personaler Identität, findet man keinen Zugang zu dieser zweiten Ebene der Freiheit. Welche Orientierung kann dem Menschen aber heutzutage bei diesem Unternehmen noch helfen? Ist noch ein Raum übrig geblieben, in dem das Individuum – in Abweichung vom herrschenden sozialen Modell – die eigene personale Identität aufbauen kann? Ich möchte im Folgenden vorschlagen, diesen Raum in Richtung einer nicht autoritären Orientierung zu suchen, die aus der Tiefe, aus der affektiven Sphäre, herkommt und ihren höchsten Ausdruck in der Kraft des Anderen als Vorbild und Gegenbild findet. Um die vorletzte Jahrhundertwende hat die Phänomenologie von Brentano, Husserl und Scheler gezeigt, dass der Wille und die Entscheidung des Subjekts nicht leer um sich selbst kreisen, sondern einen Kontext und eine komplexe Wertartikulation auf der affektiven Ebene voraussetzen. Das Neue an dieser Auffassung im Vergleich zu Hume liegt darin, die Frage nach der Qualität der affektiven Orientierung ausdrücklich gestellt zu haben (siehe § 3.6.1; § 3.6.2 und § 3.7.1). Bei diesem Ansatz stehen nicht die Normen, die Imperative oder eine neue Theorie des Guten in der Mitte der Ethik, sondern das Problem des Reifens der affektiven Sphäre und das der Tiefe und Qualität des Fühlens. Das ethische Problem wird mithin zu einem Problem der Bildung, der affektiven Alphabetisierung. Gewiss, ohne Hilfe des Willens und der vernünftigen Reflexion ist keine Ethik möglich, aber das, was den Willen und die Reflexion lenkt, ist die affektive Sphäre. Den Auftakt in der affektiven Sphäre gibt darüber hinaus nicht das selbstreferentielle, in der Monade verschlossene Subjekt, sondern das positive Vorbild des Anderen.

12

Nach der Lektüre von Pierre Hadots Buch Exercices spiritueles et philosophie antique bemerkte ich, dass es zwischen den soeben genannten Themen und der cura sui eine gewisse Konvergenz gibt. Sicherlich ahnt Heidegger – indem er sich mit dem Begriff der „Fürsorge“ auseinandersetzt – das Problem der cura sui. Er denkt nämlich „die Möglichkeit einer Fürsorge, die für den Anderen nicht so sehr einspringt, als daß sie ihm in seinem existenziellen Seinkönnen vorausspringt, nicht um ihm die ‚Sorge‘ abzunehmen, sondern erst eigentlich als solche zurückzugeben. Diese Fürsorge, die wesentlich die eigentliche Sorge – daß heißt die Existenz des Anderen betrifft und nicht ein Was, das er besorgt, verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden“.1 Was ist aber die ethische Bestimmung dieser cura sui? Sie bezieht sich auf die „Seinsverfassung des Daseins [...] nach ihren verschiedenen Möglichkeiten“.2 Das Problem liegt nun darin, dass Heidegger das Sein selbst – und später das Ereignis – als unpersönlich und ethisch unbestimmt auffasst. In Sein und Zeit wird das Dasein dank der cura sui nicht umgebildet, es vollzieht keinen Akt der Demut und Zurückhaltung, um sich selbst zu transzendieren. Vielmehr scheint es, dass die cura sui ein Mittel zum Entwurf der Erweiterung der Daseinsmöglichkeiten bleibt. Hier fehlt die umfassende Idee einer Philosophie als Übung der Umbildung der personalen Singularität, d.h. einer Philosophie der Wiedergeburt. Was Heidegger vornimmt, ist vielmehr eine ontologische als eine ethische Bestimmung der cura sui. Es ist doch Heideggers Anliegen, uns zu sagen, was die Wahrheit über das Sein ist, und nicht uns mit Mitteln auszustatten, um ein gutes Leben zu führen. Die Hypothese, der ich hier nachgehen möchte, lautet hingegen, dass die Person das Sein ist, das zum zweiten Mal geboren wird, und dass die cura sui durch die Orientierung der Wiedergeburt der personalen Singularität eine ethische Bestimmung finden kann. Das aktuelle, immer stärker werdende Interesse an der von Pierre Hadot und Michel Foucault gestellten Frage nach der cura sui kann übrigens nicht ausschließlich auf Heidegger zurückgeführt werden. Schon vorher tauchte das Thema auch bei Schelling und Scheler wieder auf. Es fehlt zwar die explizite Bezugnahme auf den Terminus Sorge oder den griechischen Begriff der epimèleia heautoû. Bei beiden Denkern kann man jedoch die Vorstellung einer an der Bildung der menschlichen Singularität orientierten cura sui deutlich rekonstruieren. Die ganze philosophische Anthropologie von Scheler kann als im Sinne der anthropologischen Übung verstandene cura sui neu gedacht werden. Darüber hinaus darf man nicht außer Acht lassen, dass sich Schelling und Scheler auf sehr intensive Weise mit Platon auseinandersetzen und dass es ihnen gelingt, 1 2

M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993, § 26, S. 122. Ibid.

13

einige cura sui betreffende Fragen originell wiederzubeleben. Nach der Verfassung des Dialogs Phaidon wird sich Platon nämlich dessen bewusst, dass die Frage nach dem guten Leben eine Frage nach der kátharsis ist, die sich als Ausschaltung des eigenen Egozentrismus durch eine tèchne tês periagogês versteht (vgl. 3.3.9 Platon und die tèchne tês periagogês). Diese tèchne der Umkehrung, die sich als Übung der Selbsttranszendierung darstellt, steht im Mittelpunkt der Philosophie Schellings – im Begriff der Ekstase – und in derjenigen Schelers – im Begriff der Reduktion.3 Aus dieser Perspektive kann man eine cura sui im generativen Sinne entfalten, die ontogenetisch als Mäeutik, als Geburt der personalen Identität, gedacht wird. Bisher hat man versucht, die personale Identität vorwiegend von der Kontinuität, von dem linearen und selbstreferentiellen Prozess der Wiederherstellung des eigenen Selbst her zu bestimmen. In Wahrheit ist dies die Art und Weise, durch die sich die Identität eines Organismus konstituiert. Die personale Singularität baut die eigene Identität auf, indem sie kohärent einen Prozess der kritischen Abstandnahme von sich selbst, von den eigenen Gewohnheiten und von dem eigenen ursprünglichen Milieu vollzieht. Sie bildet sich, indem sie sich auf neue Weise zu betrachten lernt. Diese Abstandnahme von der Banalität und Langweiligkeit des eigenen Selbst ist mit einem schöpferischen Prozess des sich selbst Erweckens vergleichbar. Wach sein heißt hier sich selbst und den Anderen als Überraschung erleben. Nur so kann der Mensch wiedergeboren werden, und nur durch diese Aufgabe wird es möglich, der cura sui eine ethische Bestimmung zu verleihen. Letztes Jahr hat Hans Rainer Sepp mir vorgeschlagen, etwas über diese Themen zu veröffentlichen. Ich danke ihm herzlich für die Aufnahme dieser Arbeit in die von ihm geleitete Reihe Orbis Phaenomenologicus Studien. Die ursprüngliche Absicht war es, meine bisherigen Arbeiten über die Philosophie der Person, so wie sie durch die Auseinandersetzung mit dem Denken Schellings und Schelers in einer Reihe von Artikeln zwischen 1995 und 2011 entstanden sind, in einem Band zu sammeln. Bei der vorliegenden deutschen Ausgabe sind diese Artikel allerdings weitgehend überarbeitet und verändert worden, so dass dieser Band keine Aufsatzsammlung ist, sondern einen eigenständigen Charakter gewonnen hat. An dieser Stelle kann ich mich unmöglich bei allen Personen bedanken, mit denen ich Gelegenheiten hatte, über die in dieser Arbeit behandelten Thesen zu diskutieren: bei vielen Freunden – insbesondere der Max-Scheler-Gesellschaft sowie der Internationalen Schelling-Gesellschaft – und bei den Studenten, die an meinen Seminaren teilgenommen haben. Ich beschränke mich darauf, an viele Gespräche mit Damir Barba3

14

Vgl. G. Cusinato, Katharsis, Napoli 1999.

rić, Ferdinand Fellmann, Joachim Fischer, Manfred Frank, Michael Gabel, Elke Hahn, Wolfhart Henckmann, Wilhelm G. Jacobs, Jörg Jantzen, Eugene Kelly, Ernst Wolfgang Orth, Angelika Sander, Hans Reiner Sepp, Mamoru Takayama und Kazuko Yamaguchi zu erinnern. Ein besonderer Dank gilt meiner Frau Rie Shibuya, die die ursprünglich auf Italienisch geschriebenen Teile ins Deutsche übersetzt und die von mir auf Deutsch verfassten Teile revidiert hat. Ohne ihre wertvolle Hilfe wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen.

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Abkürzungsverzeichnis

SW = Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke, hg. von K.F.A. Schelling, XIV Bde., Stuttgart und Augsburg 1856–1861. GW = M. Scheler, Gesammelte Werke, Bern und München 1954 – Bonn 1997.

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1 DER HUNGER NACH SEIN 1.1 Schelling und Scheler Die Wurzel der philosophischen Anthropologie des zwanzigsten Jahrhunderts wird des Öfteren bei Herder vermutet. Üblicherweise wird dabei die These von A. Gehlen angeführt, der zufolge Herder in seiner 1772 erschienenen Abhandlung über den Ursprung der Sprache das Grundschema der philosophischen Anthropologie entdeckt habe: „Es ist bewundernswert, wie Herder hier die biologische Hilflosigkeit des Menschen, seine Weltoffenheit und die ‚Zerstreutheit seiner Begierden‘ sieht, wie er dann auf die Frage der ‚Schadloshaltung‘ kommt und an dieser Stelle dann die Sprache (Vernunft, Besonnenheit) aus diesem neugefundenen ‚Charakter der Menschheit‘ ableitet, als ein ‚aus der Mitte dieser Mängel‘ entstehender Ersatz“.4 Noch signifikanter ist wohl der Zusammenhang, den Charles Taylor bezüglich des Begriffs der Expressivität zwischen seiner eigenen philosophischen Anthropologie und Herder aufstellt.5 Anders als Herder scheint Schelling der Forschungsliteratur zufolge keinen relevanten Einfluss auf die philosophische Anthropologie des zwanzigsten Jahrhunderts gehabt zu haben. Sein Name wird nur selten genannt, gelegentlich in Bezug auf Scheler. Vorherrschend ist heute noch die Meinung, dass die wenigen Erwähnungen, die Scheler zu Schelling macht, nur die Frucht der Kenntnisse zweiter Hand seien, welche vor allem durch das anregende Buch von Eduard von Hartmann Die Philosophie des Unbewussten (1869), durch seine Verbindung des Denkens des Berliner Schelling mit dem Schopenhauers, geprägt seien. Dieser Vermutung widerspricht das Zeugnis Peter Wusts in einer Schrift von 1928: Scheler sei im Jahr 1923 durch die Lektüre zweier Bücher zutiefst beeindruckt worden: Harnacks Marcion-Buch6 und Schel-

4 5

6

A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, in: Ders., Gesamtausgabe, Frankfurt a.M. 1993, Bd. III, S. 92. Es war Isaiah Berlin, der Lehrer von Charles Taylor, der den Begriff des Expressivismus von Herder übernommen hat (siehe I. Berlin, Vico and Herder: two studies in the history of ideas, London, 1976). Dieser Begriff wird daraufhin von Taylor in der These des „expressivist turn“ weiter entfaltet. Die philosophische Anthropologie Taylors weist daher eine tiefe Verbindung mit Herder auf. A. Harnack, Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott, Leipzig 1921, 2. Auf. 1924.

17

lings Freiheitsschrift.7 Über diese Äußerung Wusts hinaus kann man selbst in Schelers Texten weitere Belege finden. Sicherlich sind Schelers Schellingkenntnisse bis 1922 nur rudimentär gewesen. In den Vorlesungen 1920 über die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts bekundet Scheler wesentlich geringeres Interesse an Schelling als an Hegel und vor allem Schopenhauer. Doch nach 1922 ändert sich die Lage radikal. Das Jahr 1923 zeichnet sich dadurch ab, dass einerseits die Reflexionen über die Erfahrung des Ersten Weltkriegs ausgereift sind und andererseits Scheler eine dramatische Spaltung zwischen dem Katholizismus und dem Nationalismus erlebt – mit der Folge, dass er den ersteren wählt und den letzteren ablehnt. Solche Ereignisse bringen Scheler dazu, eine tragischere Sicht des geschichtlichen Prozesses sowie der religiösen Erfahrung zu entwickeln, so dass er die dunkle, ungelöste Spannung, die in der mittleren Phase auf den „Wettersturm“ des Lebens begrenzt gewesen ist, auf den werdenden Gott erweitert. Vor diesem Hintergrund wird der plötzliche Enthusiasmus verständlich, den die 1923 vollzogene Lektüre der Freiheitsschrift in Scheler erweckt. Denn hier setzt sich Schelling einmal mit der Ontologie der Person8 auseinander – einem Thema, dem Scheler in seiner mittleren Phase einen Großteil seiner Energien gewidmet hat – und ahnt zum anderen in Gott selbst ein dunkles Prinzip, d.h. also eine Spannung, womit er die Voraussetzungen für die Frage nach einem lebendigen und werdenden Gott schafft, die eines der wichtigsten Probleme in der Philosophie des späten Scheler darstellt. Scheler begnügt sich jedoch nicht nur mit der Lektüre der Freiheitsschrift. Es schien mir immer signifikant, dass einige für Schelling typische Begriffe – Stufenfolge, Selbstheit, Exzentrizität, Durchdringung, Umkehrung – eine zentrale Rolle in Schelers Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos spielen. Daher nahm ich an, dass seine Schellingkenntnisse viel breiter als bloß in der Freiheitsschrift verankert seien. Dies scheint eine schwer beweisbare Hypothese. Durch eine genauere Untersuchung der Texte Schelers kann man jedoch einen unmissverständlichen Beweis erbringen: In der Schrift Idealismus-Realismus erwähnt Scheler nicht nur, wie es auch in anderen Werken der Fall ist, den Namen Schellings, sondern führt auch wortgetreue Schellingzitate an, ohne allerdings irgendwelche Zitatangabe hinzuzufügen. Man hat bisher übersehen, dass es sich um drei längere Schellingzitate aus der Berliner Zeit handelt. Das erste Zitat, auf der Seite 209 im Band IX der Gesammelten Werke, stammt aus der Philosophie der Offenbarung (SW XIII, 206); das zweite, auf den Seiten 209 und 210 des GW IX, aus der Abhandlung über die Quelle der ewigen Wahrheiten (SW XI, 584); und das dritte, auf der Seite 210 des GW IX, 7 8

18

Vgl. P. Wust, Schelers Lehre vom Menschen, in: Das Neue Reich, XI, 1928–1929, S. 138. Vgl. Kapitel 2.1.

aus der Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie (SW XIII, 156). Wenn P. Wusts Äußerung klare Hinweise auf Schelers Kenntnis der Freiheitsschrift gibt, so beweisen diese drei Zitate seine unmittelbaren Kenntnisse der Texte des späten Schelling. Und man versteht auch Schelers Interesse für die Stellen, in denen Schelling, gar den Rahmen des deutschen Idealismus selbst sprengend, eine auf den Begriff des Widerstandes gestützte Theorie der Wirklichkeit aufstellt und zugleich die Möglichkeit bestreitet, Gottes Existenz idealistisch aus seinem Begriff zu deduzieren. 1.2 Die Exzentrizität als Aufgabe Die philosophische Anthropologie stellt sich nicht nur als Ausgangspunkt für eine Philosophie der Person dar.9 Sie erweist auch die Notwendigkeit, den Begriff der Natur auf nicht reduktive Weise durch Kategorien wie Individualität, Selbstorganisation und Interaktion mit der Umwelt neu zu denken. Es geht nicht darum, wie man üblicherweise anzunehmen pflegt, dem siegreichen Vormarsch der exakten Wissenschaften des neunzehnten Jahrhunderts entgegenzutreten, die ja am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Bezug auf ihre eigenen positivistischen Grundlagen bereits in eine Krise geraten waren. Es gilt vielmehr, mit den Ergebnissen der Biologie Schritt zu halten. Die philosophische Anthropologie des zwanzigsten Jahrhunderts ist als Versuch entstanden, sich mit einem nicht mehr reduktionistischen Begriff des Lebens und des Organismus auseinanderzusetzen. Scheler ist einer der ersten Denker, die der philosophischen Relevanz der Umweltlehre des Biologen Jacob von Uexküll gewahr wurden.10 Insbesondere benutzt er im Formalismus eingehend von Uexkülls Forschungsergebnisse, um eine auf die Korrelation zwischen Leib und Umwelt gegründete Phänomenologie der Wahrnehmung zu entwickeln. Scheler lehnt die Kantische These ab, der zufolge der Wahrnehmung die synthetische Funktion der Verstandeskategorien zugrunde liege, und ersetzt sie durch eine andere, nach der die Wahrnehmung das Ergebnis der selektiven Tätigkeit der Triebstruktur des Leibes sei, so dass der Leib zum „materialen Apriori“ der Wahrnehmung wird. Die sinnliche Wahrnehmung stützt sich deswegen auf keinen Prozess der Synthese wie bei Kant, sondern auf eine durch die Interessen des Leibes gelenkte Selektion. 9

10

Eine hervorragende Rekonstruktion der Geschichte der philosophischen Anthropologie im zwanzigsten Jahrhundert liefert: J. Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg/München 2008. Scheler rezensiert bereits 1914 das Werk Jacob von Uexkülls, Innenwelt und Umwelt der Tiere, Berlin 1909. Siehe GW XIV, 394–396.

19

Dabei legt Scheler die Lehre von Uexkülls im antikantianischen Sinne aus, der zufolge jeder Tierart eine jeweils andere Umwelt entspreche: Jede organische Individualität selektioniert aufgrund der eigenen Triebstruktur eine bestimmte Umwelt. Allerdings missversteht Scheler an dieser Stelle von Uexküll, der als überzeugter kantianischer Idealist die Unterschiede zwischen mehreren Umwelten nicht als Resultat eines selektiven Prozesses, sondern auf der Grundlage einer monadischen – mit Kants Vorstellung der Synthesis zu vereinbarenden – Konzeption des Individuums darzustellen versuchte. Es handelt sich jedoch um ein glückliches Missverständnis, da von Uexkülls Umweltlehre sich in gewisser Hinsicht durch das selektive Paradigma viel besser entfalten konnte als durch das kantianische synthetische Modell. Denn es ist in der Tat Schelers Interpretation gewesen, die sich in der Phänomenologie der Wahrnehmung des zwanzigsten Jahrhunderts durchgesetzt hat.11 Das selektive Paradigma ist ferner grundlegend für das Verständnis der Unterscheidung zwischen Zentrizität und Exzentrizität: Die Exzentrizität fördert eine Ausschaltung des durch die Triebstruktur bedingten selektiven Prozesses, welche möglich wird, sobald der Mensch gegenüber dem Gravitationsfeld der personalen Werte empfindlich wird.12 In Schelers philosophischer Anthropologie existieren neben den zentrischen Lebewesen (Pflanzen und Tieren) die exzentrischen Wesen (Personen). Die ersteren sind auf die Interaktion mit der Umwelt zentralisiert, während sich die letzteren im Akt der Selbsttranszendenz konstituieren, durch den die Umkehrung der zentrischen Logik geschieht: Sie gewinnen so die Fähigkeit, sich exzentrisch – dank der Kraft des Vorbildes des Anderen – der Welt zu öffnen. Der Begriff der Exzentrizität ist einer der Begriffe, um den die Polemik zwischen Scheler und Plessner kreist. Bei Scheler erlangt er nie die Relevanz, die er bei Plessner hat. Plessner entfaltet ihn viel weiter, als es bei Scheler der Fall ist. Wenn ich mich nicht täusche, benutzt Scheler den Terminus nur an zwei Stellen: Zunächst in der Vorlesung WS 1925 – nachdem er also bereits seine Schellingkenntnisse vertieft hat – und sodann in dem Vortrag von 1927 Die Stellung des Menschen im Kosmos. Ansonsten bedient er sich nur der adjektivischen Form „weltexzentrisch“. Sinngemäß ist dieser Begriff allerdings im Kernbegriff der philosophischen Anthropologie Schelers bereits impliziert. Weltexzentrisch sein bedeutet der Umweltgeschlossenheit gegenüber exzentrisch sein, also die Weltoffenheit bewohnen, welche sich als das Sich-der-Welt-Öffnen versteht, dem ein Antworten der Welt entspricht. Es geht also nicht um eine Exzentrizität von der Welt, sondern umgekehrt um eine Positionalität in 11 12

20

Vgl. insbesondere M. Merleau-Ponty, La Phénoménologie de la perception, Paris, 1945. Siehe § 3.4.5.

der irdischen Welt, die anders ist als die Positionalität des in der Umweltgeschlossenheit versunkenen Tiers.13 Der Erste allerdings, der den Begriff der Exzentrizität im anthropologischen Sinne verwendete, war weder Scheler noch Plessner, sondern Schelling.14 Ursprünglich nimmt Schelling denselben Terminus von Kepler auf: Das erste Keplersche Gesetz besagt nämlich, dass die Umlaufbahn der Planeten eine Ellipse bildet, in der einer der Brennpunkte mit der Sonne zusammenfällt. Die Exzentrizität ist das Maß, wie sehr die Ellipse „zerdrückt“ ist, und wird durch das Verhältnis zwischen dem Abstand von zwei Brennpunkten und der Hauptachse wiedergegeben: Wenn beide Brennpunkte zusammenfallen und folglich die Exzentrizität gleich Null ist, stellt sich der Kreis her. Dies ist die ursprüngliche Bedeutung auch bei Schelling. Nur allmählich wird das Bild der exzentrischen Planetenbewegung zur emblematischen Metapher der menschlichen Natur, bis es von dem Manuskript Anthropologisches Schema an eine anthropologische Bedeutung erhält.15 Das menschliche Handeln – und deswegen das menschliche Freisein – bezieht sich nicht ausschließlich auf die Zentrizität. Es stellt keine perfekte Kreisbewegung dar, sondern wird durch die Anwesenheit eines zweiten Brennpunktes ständig aus dem Gleichgewicht gebracht. Die Exzentrizität ist Metapher der menschlichen Freiheit, die sich als die Möglichkeit einer von der zirkulären Wiederholung der Zentrizität „abweichenden“ und deswegen kreativen Handlung versteht. In der Philosophie der Offenbarung legt Schelling selbst den neuen Sinn des Begriffs aus: Das „Excentrische“ steht für „das vom Centro freie, unabhängige, treibende und bewegende Princip“ (Philosophie der Offenbarung, SW XIV, 309), wobei mit dem Zentrum die körperlich-triebhafte und egologische Struktur und mit der Exzentrizität die Person gemeint ist. Die Exzentrizität bezieht sich auf etwas, was im Menschen verloren gegangen ist und wiedererlangt werden muss. Dieser Aspekt wird sehr gut an einer Stelle in der Freiheitsschrift dargelegt: „Die Angst des Lebens selbst treibt den Menschen aus dem Zentrum, in das er erschaffen worden; denn dieses als das lauterste Wesen alles Willens ist für jeden besondern Willen verzehrendes Feuer; um in ihm leben zu können, muß der Mensch aller Eigenheit absterben“ (Freiheitsschrift, SW VII, 381). Man darf aber dieses Aus-dem-Zentrum-getrieben-Werden nicht als einen Teil 13 14

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Aus diesen Gründen sollte man das Wort weltexzentrisch als umwelt-ex-zentrisch oder im Sinne der Exzentrizität der Weltoffenheit auslegen. Zur Rekonstruktion dieser Thematik siehe G. Cusinato, La Totalità incompiuta. Antropologia filosofica e ontologia della persona, Milano 2008, S. 220–223. Der Terminus kommt auch bei Hölderlin, Novalis, Friedrich Schlegel, später auch bei Klages und Häberlin vor. Es kann sein, dass sich Plessner auch auf die genannten Denker stützt. Vgl. SW X, 291.

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der Bewegung missverstehen, die Schelling später durch den Begriff der Ekstase erläutert. In Wahrheit handelt es sich um den umgekehrten Prozess. Die Angst des Lebens führt eine Verkehrung des wahren Verhältnisses, eine Katastrophe, herbei, so dass der Mensch, anstatt im Zentrum, in das er erschaffen worden ist – in dem göttlichen Feuer also – zu bleiben, in die Peripherie herauszutreten sucht, um sein egologisches Selbst zu verabsolutieren. Die Ekstase transzendiert im Gegenteil gerade diesen in die Peripherie getriebenen Egoismus, um wieder ins Zentrum, d.h. in das göttliche Feuer, zurückzukehren. Erst in Berlin präzisiert Schelling diesen Vorgang: „alles Seyn ist ein Hinaus-gesetzt-sein, ein Exponirt-seyn, ein gleichsam Hinausstehen, wie im lateinischen Exstare ausgedrückt ist“ (Monotheismus, SW XII, 56), denn das Wort „ex-stirend“ ist gleichbedeutend mit „hinaus-gesetzt“ (ibid.). Hier wird die Ekstase im Sinne der Selbsttranszendenz des Ego, also als Exzentrizität neu gedacht. Die wahrhafte Existenz ist die der Person, die als exzentrisches Sein die Zentrizität der Peripherie transzendiert. Hingegen gilt: „was nicht von sich weggehen, nicht excentrisch seyn kann, ist bloß an sich, an sich gleichsam gebunden [...]. Von dem, was bloß an sich ist, nicht von sich weggeht, kann man eigentlich nicht sagen, daß es bei sich ist“ (Monotheismus, SW XII, 57). Wer den Akt der Selbsttranszendierung nicht vollzieht, bleibt in sich selbst eingeschlummert ohne authentisches Bewusstsein. An dieser Stelle setzt Schelling die Exzentrizität mit dem Geist gleich: „Bei-sich-Seyn heißt im außer-sich-Seyn an sich [...] bleiben [...], sein Wesen, sein Selbst nicht verlieren im außer-sich-Seyn. Für dieses sich selbst Besitzende, beisich-Bleibende, [...] hat nun aber die Sprache kein anderes Wort als Geist“ (ibid.). Der Begriff der Ekstasis kommt auch bei Scheler vor, und zwar im Sinne einer Ausschaltung der Ichbezogenheit.16 Die Ekstasis kann vollzogen werden entweder als dionysische Reduktion in Richtung auf eine Rückkehr einer Einsfühlung mit der natura naturans17 oder als „philosophische“ Reduktion, in der die „Verdemütigung des natürlichen Ich und Selbst“ zur Voraussetzung der Bildung der Person wird.18 Die philosophische Reduktion ist für Scheler keine Ausschaltung der Welt, um sich den idealen Gegenständen oder dem transzendentalen Ich zuzuwenden, sondern eine Epoché des Ego, welche die Wiedergeburt der Person ermöglicht. Dank der Epoché des Ego erfahre ich die Welt nicht mehr als Objekt meiner Intentionalität, also als bloße Gegebenheit, sondern als Selbstgegebenheit, d.h. als eine Gegebenheit, die sich frei durch ihre eigene Intentionalität bietet. Die Selbsttranszendenz kann sich nicht auf die Intentionalität des Subjekts stützen, sondern braucht eine von der 16 17 18

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Vgl. Idealismus-Realismus, GW IX, 222. Vgl. Probleme einer Soziologie des Wissens, GW VIII, 111. Vgl. Vom Wesen der Philosophie, GW V, 89f.

Welt ausgehende Gegenintentionalität, ein Sichoffenbaren der empirischen Welt. Die Existenz einer als Offenbarung verstandenen Gegenintentionalität wird von Scheler selbst in der Schrift Liebe und Erkenntnis erfasst, als er im Rückgriff auf Augustinus bemerkt: „die Füllesteigerung in der Gegebenheit des Gegenstandes bei zunehmender Liebe und Interesse, ist nicht bloß eine Tätigkeit des erkennenden Subjekts, das in den fertigen Gegenstand eindringt, sondern gleichzeitig eine Antwortreaktion des Gegenstandes selbst: ein Sichgeben, ein Sicherschließen und Aufschließen des Gegenstandes, d.h. ein wahrhaftiges Sichoffenbaren des Gegenstandes. Das ist ein Fragen gleichsam der Liebe, auf das die Welt antwortet, indem sie sich erschließt und darin selbst erst zu ihrem vollen Dasein und Wert kommt“ (Liebe und Erkenntnis, GW VI, 97). In diesem Sichoffenbaren ist bereits der Gedanke implizit enthalten, den der späte Scheler durch den Begriff der Weltoffenheit zum Ausdruck bringt. Durch das Erlebnis der Weltoffenheit bildet die Person die eigene Exzentrizität über die Umweltgeschlossenheit hinaus. Die Exzentrizität manifestiert sich dadurch, dass sie nicht im Menschen als bereits verwirklicht, sondern nur als Mangel, als unendliche Sehnsucht nach der Verwirklichung gegeben ist. Von diesem Standpunkt aus gesehen, hat der Mensch keine vorherbestimmte Form oder Wesen. Es gibt weder Anthropomorphismus noch Anthropozentrismus. Durch die Anerkennung des Menschen als offenes, nicht vorherbestimmtes System wird vielmehr die philosophische Anthropologie zum ersten Versuch, den Anthropozentrismus und den Anthropomorphismus in Richtung auf eine Anthropologie der Bildung der menschlichen Exzentrizität hin zu überwinden. 1.3 Die Sehnsucht und der Hunger nach Sein Ein anderer Konvergenzpunkt zwischen Schelling und Scheler ergibt sich in Bezug auf die Bestimmung einer Sphäre des Wunsches, der gegenüber der Trieb und Genuss exzentrisch bleibt. In der Mitte dieser Sphäre steht die Sehnsucht, welche sich als Zeuger des Aktes der Selbsttranszendierung versteht. Wie oben erwähnt, wird der Mensch mit einer nicht verwirklichten Exzentrizität, d.h. mit einem unendlichen Mangel an Sein, geboren.19 Die Sehnsucht ist der Wunsch, diese Exzentrizität zu verkörpern, ohne über ein fertiges Modell zu verfügen. Diesen ursprünglichen Mangel beschreibt Schelling in den Weltaltern als „innere Leere“ (Weltalter, SW VIII, 233). Scheler legt ihn hingegen als eine „Leere des Herzens“ aus. Sie 19

Vgl. dazu auch M. Frank, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik, 2. Auflage, München 1992.

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„ist merkwürdigerweise das Urdatum für alle Begriffe von Leere (leere Zeit, leerer Raum). Das, woraus alle Leere quillt, das ist ganz ernstlich die Leere unseres Herzens“ (Idealismus-Realismus, GW IX, 219). Der Mensch erlebt eine ständige Unbefriedigtheit der Sehnsucht angesichts der zentrischen Realität, und dank des Aktes der Selbsttranszendierung sucht er seine Sehnsucht über die eigenen Grenzen hinaus zu stillen. So wird er dazu veranlasst, der eigenen Existenz eine neue Form zu geben. Die „Leere des Herzens“ wird bei Scheler zum Ursprung einer schöpferischen exzentrischen Tätigkeit, der durch den Phantasieüberschuss eine Richtung verliehen wird.20 Auf eine solche Leere des Herzens, auf die Tatsache, dass die Sehnsucht im Menschen strukturell unerfüllt bleibt, gründet Scheler die philosophische Anthropologie: Der Mensch kann im Gegensatz zum Tier die eigene Existenz nicht nur zur Triebbefriedigung führen,21 sondern muss die Herausbildung der Exzentrizität als Aufgabe auf sich nehmen. Dieser Leere des Herzens entspricht die Angst nur dann, wenn diese Leere steril bleibt und nichts zeugt. In seinen Bemerkungen über Heideggers Werk Sein und Zeit22 stellt Scheler der Angst als Grundbefindlichkeit eine Philosophie des Eros entgegen.23 Die Angst kann nicht „der Motor für den Progreß der Teilhabe [...] sein. Im Gegenteil: Sie wirkt diesem Prozeß entgegen und ist die Nahrung aller Illusionen“ (Nachlass, GW IX, 272). Der Mensch wird nur durch den Anstoß des Eros dazu geboren, aus 20 21 22

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Siehe § 3.2.4. Vgl. Die Stellung, GW IX, 37. Scheler ist unter den Ersten, die die außerordentliche Gewichtigkeit von Sein und Zeit erkannt haben. Schon 1927 prophezeit er eine große Zukunft für Heidegger. Er behauptet jedoch, dass Heidegger in Sein und Zeit allzu sehr auf die Frage konzentriert sei: Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich? Beängstigt durch diese Frage „vergißt [er]: ‚Wenn ich nur für mich bin, wofür bin ich dann?‘ Vergebens versucht er das vollkommene Mitsein, die Verantwortlichkeit, Liebe für andere als Folge der ‚Entschlossenheit‘ hinzustellen. Zu dem Begriffe der ‚Entschlossenheit zur Entschlossenheit‘ wird er dabei getrieben – das sichere Zeichen eines Fehlers. Das ist Folge der einseitigen Angstbestimmung [als] der ‚Grundbefindlichkeit‘, und der Unselbständigkeit von Eros und Güte“ (Nachlass, GW IX, 297). Viel näher an der Aufgabenstellung Schelers liegen Heideggers darauf folgende Überlegungen zum Begriff der Verhaltenheit und der Gelassenheit. Zu Schelers im Nachlass gefundenen Bemerkungen über Heidegger verweise ich auf die wichtige Arbeit von H.R. Sepp, Widerstand und Sorge. Schelers Antwort auf Heidegger und die Möglichkeit einer neuen Phänomenologie des Daseins, in: G. Cusinato (Hg.), Max Scheler. Esistenza della persona e radicalizzione della fenomenologia, Milano 2007, S. 311–327. Vgl. Nachlass, GW IX, 271. Über den Begriff des Eros siehe GW XII, 232–237. Aus diesen Überlegungen heraus scheint es mir möglich, einen Begriff des „Erotismus“ zu formulieren, der endgültig die Entgegensetzung zur Agape überwindet. Der Eros und die Agape würden demnach nicht real voneinander geteilt, sondern bildeten zwei Aspekte des Liebens. Über den Erotismus als konstitutives Moment für das menschliche Sein siehe J.-L. Marion, Le phémomenè érotique, Paris 2003.

der eigenen Zentrizität auf ekstatische Weise herauszutreten. Scheler spricht sogar von einer Ursprünglichkeit des „homo eroticus ecstaticus“ neben dem „homo sapiens“.24 Ein schöpferischer Eros kann, wenn er zur agapeischen Teilhabe hin geführt wird, die Angst vor dem Tod neutralisieren. Während der Eros versucht, etwas über sich selbst hinaus zu zeugen, löst die Angst die von der cura sui gewobene Lebensgeschichte der Existenz auf. Es handelt sich um einen Vernichtungsprozess, der, wenn er von keiner schöpferischen Tätigkeit des Liebens eingedämmt wird, unweigerlich auf die Desintegration des Selbst hin zusteuert. Die Angst als Grundbefindlichkeit oder Grundstimmung der cura sui verstehen, heißt die cura sui annullieren. Das, was an der Angst schädlich ist, ist nicht die Angst vor etwas Unbekanntem oder Äußerlichem, sondern die Wunde, die ihr negativer Metabolismus uns zufügt. Das Problem liegt nicht so sehr in der Angst vor dem Tod als in der Angst, die selbst zum Tod wird; zum Tod, der uns innerlich verzehrt und uns nur überleben, statt leben lässt. Nur das Lieben stillt den Hunger nach Sein. Wer dagegen durch die Angst sich zu sättigen und jene Leere auszufüllen sucht, vergiftet seine eigene Existenz und stellt eine umgekehrte cura sui her. Schelling ahnte, dass allem der Hunger des Geistes zugrunde liegt, dass der Geist selbst ausgehend von der durch die innere Leere zum Ausdruck gebrachten Sehnsucht, von dem Hunger dieser Sehnsucht, verstanden werden muss. „Das tiefste Wesen des Geistes ist daher Sucht, Begierde, Lust.“ Der Geist ist keine befriedigte souveräne Macht mehr. Er darf auch nicht vom Bewusstsein aus konzipiert werden, wie es oft im Idealismus der Fall war, sondern wird „ein Hunger nach dem Seyn, und jede Befriedigung gibt ihm nur neue Kraft, d.h. noch heftiger Hunger“ (Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 466). Der geistige Hunger folgt einer anderen Logik als der organische Hunger, da er sich als unersättlich erweist. Er assimiliert keinen Gegenstand, er versucht nicht mit der gleichen Logik, die innere Leere zu füllen, wie sich der Magen füllt, oder die Sehnsucht zu befriedigen, wie sich ein Trieb befriedigt. Wenn dem biologischen Hunger ein Metabolismus entspricht, der Zellen, Blut, Knochen und Fleisch synthetisiert, so entspricht auch dem Hunger nach Sein ein Metabolismus, der das kreative Handeln und die Bildung der Person zustande bringt. Durch diesen Metabolismus strebt das Selbst nicht danach, die eigene Grenze auszuweiten, sondern danach, sich selbst zu transzendieren, um über die eigene ursprüngliche Grenze hinaus eine neue Positionalität einzunehmen. Dem Hunger des Geistes entspricht kein Metabolismus der Einverleibung, sondern der Metabolismus der Selbsttranszendenz. In dem von Platon beschriebenen Sprießen der Flügel ist vielleicht schon implizit der Begriff des Aufkeimens enthalten – des eine24

Vgl. Nachlass, GW XII, 229–231.

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neue-Gestalt-Annehmens beim Akt des Hinausgehens über die ursprüngliche Grenze. Das Sprießen der Flügel des Eros symbolisiert die Selbsttranszendenz. Und worin besteht das Nahrungsmittel des Hungers nach Sein, wenn nicht in dem Schönen, in der Kultur, in den Beziehungen, die man mit den Anderen aufzubauen weiß? Die cura sui wird dann diese exzentrische Sehnsucht kultivieren, da sie die Blüte der Person fördert. Die Katastrophe tritt für Schelling dann ein, wenn dem Hunger nach Sein – krumm gebogen zu sich selbst hin – die Perspektive der Selbsttranszendierung verschlossen bleibt, wenn dem Hunger nach Sein die Logik des organischen Hungers übertragen wird. „So ist denn der Anfang der Sünde, daß der Mensch aus dem eigentlichen Seyn in das Nichtseyn, aus der Wahrheit in die Lüge, aus dem Licht in die Finsterniß übertritt, um sich selbst schaffender Grund zu werden, und mit der Macht des Centri, das er in sich hat, über alle Dinge zu herrschen“ (Freiheitsschrift, SW VII, 390). Dieser Hunger nach Sein ist konstitutiv über sich selbst hinaus gewandt, aber verliert seine Kreativität, wenn er sich das Sein einzuverleiben sucht, wie man es mit Nahrungsmitteln tut, d.h. durch die Logik der Assimilierung. Durch die einfache Ausweitung des Selbst und ohne solidarische Verbindung mit dem Anderen gelingt es dem Hunger des Geistes nicht, sich zu beruhigen. Er wird vielmehr immer akuter, bis er sich selbst zerstört. „Hieraus entsteht der Hunger der Selbstsucht, die in dem Maß, als sie vom Ganzen und von der Einheit sich lossagt, immer dürftiger, giftiger wird“ (Freiheitsschrift, SW VII, 390). 1.4 Hunger nach Sein und Essstörung Dem Hunger nach Sein entspricht ein ganz besonderes Nahrungsmittel. Was geschieht, wenn die Mutter dem Kind dieses Nahrungsmittel nicht bietet? Meiner Ansicht nach berührt man hier einen besonders sensiblen Punkt, der zum Teil mit dem zusammenfällt, was man heute „Essstörung“ nennt. Wer seinem Kind dieses Nahrungsmittel verweigert, verweigert Pflege, Aufmerksamkeit und Liebe. Neben der Sorge um Bedürfnisse (cure) gibt es aber auch eine Sorge für die Sehnsucht (care). Das Problem ist nun, dass in der heutigen „Gesellschaft des Hyperkonsums“ die Sorge für die Sehnsucht zur Sorge um das Bedürfnis abgeflacht worden ist. Die Mutter und der Vater, die diese Unterscheidung nicht kennen, sind vielleicht der Meinung, sie könnten die Unzufriedenheit des Kindes durch die Vermehrung der angebotenen Nahrungsmittel und Güter, d.h. durch eine Zuwendung zu den elementaren Bedürfnissen des Kindes stillen. Das Kind aber, das den Hunger nach Sein spürt, wird den Blick der Eltern erforschen und versuchen, die Antwort auf seinen Hunger nach Sein in der Logik zu suchen, die ihm jener Blick anzeigt. Es wird versuchen, sich

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an Sein zu sättigen, indem es sich Nahrungsmittel einverleibt, und, da es auf diese Weise die Leere des Herzens nicht „füllen“ kann, wird es weiterhin essen. Der Magersüchtige hingegen sieht wahrscheinlich den Blick der Eltern und fühlt, dass die in ihm durchscheinende Logik für die Sättigung des Hungers nach Sein nicht adäquat ist. Er ahnt wohl, dass ihm die übermäßige Sorge um seine Bedürfnisse als Ersatz für die fehlende Sorge für die Sehnsucht angeboten wird, und aus Protest lehnt er die Nahrungsmittel ab. Gewissen Formen der Magersucht scheint die traumatische Erfahrung zugrunde zu liegen, dass die Sorge um die Bedürfnisse nicht hinreicht, um die Geburt der eigenen personalen Identität zu gewährleisten; dass die Füllung des Magens mit Nahrungsmitteln nicht hinreichend ist, um sich als Individuum zu bilden; dass die Leere des Herzens eines anderen Nahrungsmittels bedarf. Durch die Umkehrung der Logik der Eltern hofft der Magersüchtige vielleicht auf eine unmögliche Wiederauferstehung. Er hofft darauf, dass sich durch die Unterbrechung der Sorge um das Bedürfnis automatisch ein Raum für die Sorge für die Sehnsucht herausbildet. Die Selbsttranszendenz ist auch die Transzendenz von der Sorge um das Bedürfnis zu der Sorge für die Sehnsucht. Sie ist ein Vermögen, die eigene Existenz zu strukturieren, und zwar nicht aufgrund der Logik der Sorge um sich selbst in der Umwelt, sondern aufgrund der Logik der cura sui in der Weltoffenheit. Die exzentrische Sehnsucht ist nämlich das ontologisch Strukturierende. Sie ist der Kern der Bildung des personalen Zentrums. 1.5 Über den Begriff der Selbsttranszendenz Zum Schluss des ersten Kapitels möchte ich in schematischer Form verdeutlichen, wie ich den Begriff der Selbsttranszendenz verstehe, um einige mögliche Missverständnisse aus dem Weg zu räumen: 1. Leben heißt nicht nur eine Einschränkung, eine Grenze, eine Form bloß passiv auf sich übernehmen, wie es bei einem Kristall der Fall ist, sondern, von solcher Grenze ausgehend, sich die Frage nach ihrer Überwindung, nach der Schöpfung von etwas über die Grenze Hinausgehendem stellen. Unter dem Begriff der Selbsttranszendenz verstehe ich keine schlichte Erweiterung der eigenen Grenze, sondern ein kreatives Handeln von besonderer Art: das „Gebären“, das die Person zur „zweiten Geburt“ hinführt. Die cura sui führt nur dann zur „zweiten Geburt“ hin, wenn sie Übung der Selbsttranszendenz wird. 2. Der Begriff der „zweiten Geburt“ kommt auch in der Lehre vor, die die Psychoanalytikerin Margaret Mahler entwickelt hat und gemäß der das Kind nicht nur biologisch, sondern auch psychologisch geboren

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wird.25 Ich benutze diesen Begriff jedoch in einer breiteren Bedeutung, da diese „zweite Geburt“ sich nicht nur auf die Kindheit beschränkt, sondern auch die erwachsene Person mit einschließt. Dieser Prozess der „zweiten Geburt“ im Sinne einer Erleuchtung und Umkehrung ist von Platon als tèchne tês periagogês (vgl. § 3.3.9), im Christentum als epistrophê 26 und im Zenbuddhismus als Satori beschrieben worden. Was Platon angeht, könnte die Bezugnahme auf den Terminus periagogè abwegig scheinen. So behauptet Foucault, als er von dem Problem der der cura sui zugrunde liegenden Umkehrung spricht, dass man bei Platon diese Thematik „sous la notion d’epistrophê“ findet.27 In Wahrheit verwendet Platon nur selten den Terminus epistrophê und dabei in einem anderen Sinne, als Foucault ihn verwendet. Durch die eingehendere Untersuchung ergibt sich, dass der Begriff, den Platon zur Darstellung der Umkehrung benutzt, nicht der der epistrophê, sondern der der periagogè ist. Ein weiterer Begriff, der in Frage kommt, wäre der der Ironie. Die Selbsttranszendierung erinnert an die Sokratische Ironie, mit der ich von mir selbst Abstand zu nehmen vermag. In der Sokratischen Mäeutik verbindet sich die Ironie mit der Katharsis und läuft auf das Gebären hinaus. In größerer zeitlicher Nähe zu uns wären – neben den in diesem Buch behandelten Denkern: Schelling mit seinem Begriff der Ekstase sowie Scheler mit seinem Begriff der Reduktion – Marìa Zambranos Überlegungen zum Begriff der Geburt heranzuziehen. Eine besondere Sensibilität für diese Problematik ist ferner auch im „feministischen Denken“ vorhanden, wenn es zu Recht versucht, eine um den Tod kreisende Philosophie zu überwinden und amor mortis durch das zu ersetzen, was man eine „Philosophie des Gebärens“ nennen könnte. 3. Die Person ist das Sein, das kein fixiertes Schicksal, sondern eine in einem unendlichen Prozess der Funktionalisierung zu konstruierende „individuelle Bestimmung“ hat – eine Bestimmung im Sinne einer durch die anthropologische Übung zu entdeckenden Berufung. Diese ontogenetische Aufgabe bringt die Person zur „zweiten Geburt“, dazu also, die eigene Biographie, das Milieu, den Raum, die Zeit, die Geschichte, in der sie lebt, zu transzendieren. Es handelt sich um einen Prozess, der nicht zufällig, sondern durch eine langsame Umbildung des eigenen ordo amoris geschieht – durch eine Funktionalisierung, die insofern erfolgreich ist, als sie immer präziser die Richtung der eigenen cura sui, d.h. der eigenen Bildung, in den Brennpunkt rückt. Der letzte Orientierungspunkt des Indi25 26 27

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M. Mahler, F. Pine, A. Bergman, The Psychological Birth of the Human Infant: Symbiosis and Individuation, New York 1975. Siehe die Begegnung Jesu mit Nikodemus, als Jesus epistrophê als „aus dem Geist geboren“ erläutert (Johannes 3, 1–8). M. Foucault, L’herméneutique du subjet. Cours au Collége de France 1981–1982, Paris 2001, S. 201.

viduationsprozesses der Person, der sich nie vollständig erfassen lässt, ist keine allgemeine Orientierung am Guten, sondern eine Orientierung am „An-sich-Guten-für-mich“ – ein Schlüsselbegriff des Formalismus von Max Scheler, der die „individuelle Bestimmung” der Person anzeigt. Es ist Gutes „an sich“, da es nicht von meinem Willen gesetzt ist. Es ist „für mich“, da der Verzicht auf die Suche nach ihm den Verrat an meiner Glückseligkeit und die Verdammnis meiner Existenz bedeuten würde.28 4. Wiedergeboren werden heißt nicht sich entwerfen. Die Versuche, die Selbsttranszendenz auf einen Akt der Entscheidung oder auf einen Entwurf des Subjekts zu fundieren, kommen fast dem Baron von Münchhausen gleich, der sich an seinem eigenen Haarzopf aus dem Morast herauszuziehen versuchte. Die Bildung der Person setzt nämlich einen archimedischen Punkt außerhalb von sich selber voraus, sie impliziert den Eingriff einer Kraft, die imstande ist, das Individuum fortzutragen und es von der eigenen Nichttranszendenz loszureißen. Sie bedeutet nicht, dass ich mich selbständig mit meinen eigenen Kräften transzendiere,29 sondern dass ein äußerer Anstoß mich erschüttert und mich über meine Grenzen hinausgehen lässt. Die Transzendierung des Selbst wird aber nur von jener Andersheit erregt, die als Vorbild wirksam ist. Christopher Lasch hat darauf aufmerksam gemacht, dass das aktuelle Problem unserer Gesellschaft in einem „minimalen Selbst“ besteht. Man gewinnt also den Eindruck, dass eine Stärkung und keine Schwächung des Selbst nötig sei. Wenn dem so sein sollte, erweist sich dann nicht die als Ekstase (Schelling) oder als Epoché des Ego (Scheler) verstandene Selbsttranszendierung als ein überwundener Begriff, der an die Modernität des homo oeconomicus von Adam Smith oder an den gänzlich der protestantischen Ethik der Arbeit geweihten kapitalistischen Unternehmer von Max 28

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Über die Möglichkeit, das Glück als letzten Orientierungspunkt zu betrachten, siehe insbesondere H. Steinfath, Orientierung am Guten, Frankfurt a.M. 2001; D. Thomä, Vom Glück in der Moderne, Frankfurt a.M. 2003. Zum Problem des Glücks in der antiken Ethik besonders in Bezug auf die cura sui und die Lebenskunst siehe C. Horn, Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, München 1998. Hier kann man vielleicht eine Divergenz zwischen Scheler und Foucault feststellen. Scheler meint: „Bildung ist nicht Sich-zum-Kunstwerk-machen wollen, [...]. [...] Sie ist das gerade Gegenteil solchen gewollten Selbstgenusses, dessen Kulmination der ‚Dandysmus‘ ist“ (Die Formen des Wissen, GW IX, 104). Es ist interessant zu bemerken, dass Hadot – wenn auch mit unterschiedlichen Zwecken – denselben Terminus „Dandysmus“ verwendet, um Kritik an Foucault zu üben: Er denke nicht, dass das dem modernen Menschen adäquate ethische Modell eine Ästhetik der Existenz sein könne. Er fürchte, dass es sich letztlich um eine neue Form des Dandysmus handle (siehe P. Hadot, La Philosophie comme manière de vivre, Paris 2002, S. 183). Eine ähnliche Kritik am „Ästhetizismus“ äußert er auch in Bezug auf die Interpretation der berühmten Stelle Plotins über den Bildhauer. Siehe hierzu P. Hadot, Exercices spirituels et philosophie antique, Paris 2002, S. 48.

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Weber geknüpft ist? Die Antwort lautet meines Erachtens: Auch das minimale Selbst braucht eine cura sui als Selbsttranszendierung. Nur in der Selbsttranszendierung kann das minimale Selbst das Vorbild des Anderen treffen und dadurch wachsen. Wenn diese Nahrung des Vorbildes fehlt, zerfällt die personale Identität und fließt in die Kultur des Narzissmus zurück. 5. Luhmann zufolge konstituieren alle autopoietischen Systeme aufgrund der operativen Geschlossenheit der Systeme die eigene Identität und, wenn die Selbstorganisation des Systems angesteckt wird, fängt ein Prozess der Aufhebung der Grenzen zwischen System und Umwelt, d.h. ein Prozess der Dissipation, an. Das personale System aber konstituiert die eigene Identität, indem es sich vom Vorbild oder Gegenbild des Anderen anstecken lässt. Daher kommt es, dass sich das personale System von allen anderen Systemen unterscheidet und sich nicht als ein im Luhmannschen Sinne autopoietisches, sondern als ein heteropoietisches System darstellt.30 6. Die Selbsttranszendenz fällt nicht mit der Annullierung des eigenen principium individuationis zusammen, wie es bei Schopenhauer der Fall ist. Was man in Klammern setzen muss, ist nur der sterile Teil, die egozentrische Sättigung, die insofern wie Gift wirkt, als sie die Transzendierung des Selbst hemmt und den Prozess der personalen Bildung zum Halten bringt. In diesem Sinne ist die Selbsttranszendierung ein Prozess der Reinigung, der Katharsis im Platonischen Sinne.31 7. Die Selbsttranszendierung kann als Ekstase oder als Epochè des Ego interpretiert werden. Um Missverständnisse zu vermeiden, unterscheide ich „Ich“ oder „Selbst“ von „Ego“. Die Selbsttranszendierung geschieht nicht in Bezug auf das Ich oder Selbst, sondern nur auf das eigene Ego, welches als egozentrisches Subjekt verstanden wird, das die eigene Geschlossenheit nicht zu transzendieren vermag. Die Transzendenz des Egoismus bedeutet gleichwohl keinen Verzicht auf das, was Kant „vernünftige Selbstliebe“ nennt und vom „Wohlwollen an sich selbst (arrogantia)“ (KpV, A 129) unterscheidet. Der Egozentriker ist nämlich derjenige, der, geblendet durch den eigenen Wert, sich keine Frage nach der cura sui stellt und deswegen die eigene Existenz verdammt. Nur wer diese egozentrische „Verdammnis“, diese übermäßige Liebe zu sich selbst – welche schon Platon als das Schlimmste unter allen Übeln bezeichnet hat – transzendiert, liebt sich selbst.32 8. Die Selbsttranszendierung über den Egozentrismus hinaus ist kein Verzicht auf die Glückseligkeit. Im Gegenteil orientiert die Glückseligkeit 30 31 32

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G. Cusinato, La Totalità incompiuta, a.a.O. S. 294–296. Vgl. G. Cusinato, Katharsis, a.a.O. Vgl. G. Cusinato, Trascendenza dal sé ed espressività. Costituzione dell’identità personale ed esemplarità, in: Acta Philosophica 21 (2012), 31–56.

die Selbsttranszendierung. Die tiefste Glückseligkeit nämlich macht vor nichts halt, sie verbreitet sich unaufhaltsam. Sie wird nicht in einer solipsistischen Einsamkeit verzehrt, sondern lässt sich mit den Anderen teilen. Oft wird sie erreicht, indem wir die Vermehrung der Glückseligkeit des Anderen fördern. In der Übung der Selbsttranszendierung wird die Glückseligkeit deshalb zu der wichtigsten Quelle des guten Handelns, d.h. zum neuralgischen Punkt der Ethik. 9. Diese Priorität der Andersheit, die hier durch die Theorie des Vorbildes zentral wird, hat a priori keine positive ethische Bestimmung an sich. Es ist Levinas’ großes Verdienst, auf den Unterschied zwischen besoin und Désir, zwischen selbstreferentiellem Bedürfnis und offener Sehnsucht nach dem Anderen hingewiesen zu haben.33 Gleichwohl kann der Andere auch die Zerstörung, die Negativität, darstellen. Um die Offenheit für die Andersheit ethisch zu bestimmen, kann die Unterscheidung der Andersheit als Vorbild einerseits und als Gegenbild andererseits von Nutzen sein. Eine analoge Überlegung gilt für die Empathie oder Einfühlung: Die empathische Offenheit für den Anderen ist für sich genommen völlig unzureichend, um eine Ethik zu begründen. Ein Sadist ist ein Genie der Empathie, nicht jedoch der Ethik. Man darf nicht die dunkle Seite der Ansteckung vergessen, die überall in der Natur vorhanden ist und vor der der Mensch noch im tiefsten Inneren atavistische Angst hat. 10. Die Selbsttranszendenz wendet sich nicht der Ideenwelt oder einem Jenseits zu. Es geht dabei zwar um eine Transzendierung der Umweltgeschlossenheit im Sinne von Jacob von Uexküll, jedoch um zur empirischen, irdischen Ebene der Weltoffenheit zu gelangen. Die Selbsttranszendenz ist eine Transzendenz nicht gegenüber dem Empirischen, sondern nur gegenüber der Erfahrung, die innerhalb der Grenzen der Triebstruktur und der Vergegenständlichung bleibt. 11. Die Selbsttranszendierung ist eine Abstandnahme vom nicht authentischen Teil des eigenen Selbst, um sich tiefer im eigenen neuen Anfang, in der Mitte der eigenen Kreativität einzuwurzeln. Sie ist die Transzendierung der eigenen Oberflächlichkeit, um besser in das eigene Innere einzudringen. Das eigene Innere ist aber keine solipsistische Monade. Es steht bereits in Berührung mit der Andersheit. Es gibt also keinen Gegensatz zwischen Selbsttranszendierung und Augustinischer Interiorität. Wenn ich die Oberflächen meines Ego transzendiere, transzendiere ich die Logik, die die Ausweitung des Ego auf Eroberung, Herrschaft und 33

„Notons encore la différence entre besoin et Désir. Dans le besoin, je puis mordre sur le réel et me satisfaire assimiler l'autre. Dans le Désir, pas de morsure sur l'être, pas de satiété, mais avenir sans jalons devant moi“ (E. Levinas, Totalité et infini. Essai sur l’estériorité, Paris 1961, S. 121).

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Kontrolle hin lenkt. Ich transzendiere die Anspannung meines Willens zur Bestätigung. Ich entleere mich von meiner Egozentrizität und vollziehe eine Übung der Entspannung (siehe § 3.3.7). Wenn dieser Zustand der Entspannung eintritt, werde ich mir nun dessen bewusst, dass die Anspannung des Willens nicht nur gegen den Anderen, sondern auch gegen meine Interiorität eine Funktion der Kontrolle und der Unterdrückung ausgeübt hat. Ohne Abstandnahme von meinem Ego bleibt meine Interiorität ohne Tiefe, wie stumm. Durch den Akt der Selbsttranszendenz taucht auch das Unbewusste wieder auf – das Unbewusste, das, wie schon Schelling bemerkte, in die Philosophie aufgenommen und in ihr verstanden werden sollte, denn: „Dieses ewig Unbewußte, was, gleichsam als die Sonne im Reiche der Geister, durch sein eigenes ungetrübtes Licht sich verbirgt, und obgleich es nie Objekt wird, doch allen freien Handlungen seine Identität aufdrückt, ist zugleich dasselbe für alle Intelligenzen, die unsichtbare Wurzel, wovon alle Intelligenzen nur die Potenz sind, und das ewig Vermittelnde des sich selbst bestimmenden Subjekts in uns und des Objektiven oder Anschauenden, zugleich der Grund der Gesetzmäßigkeit in der Freiheit und der Freiheit in der Gesetzmäßigkeit des Objektiven“ (System des transzendentalen Idealismus, SW III, 600). 12. Ein solcher Akt der Transzendierung des Selbst artikuliert sich zwar vollständig nur auf einer intersubjektiven und sprachlichen Ebene der vernunftmäßigen Reflexion und mit der Hilfe des Willens. Man darf aber nicht vergessen, dass diese Akte in den affektiven Schichten verwurzelt sind.

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2 SCHELLING: GEBURT DER PHILOSOPHIE DER PERSON UND EKSTASE DES ICH 2.1 Die Freiheitsschrift und die Anfänge einer neuen Philosophie der Person 2.1.1 Die Kritik am formalen Begriff der Freiheit Nach dem berühmten Satz Wollen sei Ursein bemerkt Schelling in der Freiheitsschrift, dass hier der Höhepunkt sei, zu dem „die Philosophie zu unserer Zeit durch den Idealismus gehoben worden [ist]: und erst bei diesem können wir eigentlich die Untersuchung unsres Gegenstandes aufnehmen [...]. [...] Allein der Idealismus selbst, so hoch wir durch ihn in dieser Hinsicht gestellt sind, und so gewiß es ist, daß wir ihm den ersten vollkommnen Begriff der formellen Freiheit verdanken, [...] läßt uns, sobald wir in das Genauere und Bestimmtere eingehen wollen, in der Lehre der Freiheit dennoch rathlos“ (Freiheitsschrift, SW VII, 350f.). Die These, Wollen sei Ursein, ist also für Schelling kein Ausklang, wie man oft angenommen hat, sondern nur der Auftakt seiner Untersuchung über die menschliche Freiheit. Der idealistischen Konzeption, welche sich auf die Autonomie des Ich gründet und „einerseits nur den allgemeinsten, andererseits den bloß formellen Begriff der Freiheit“ darbieten kann, setzt Schelling den „realen und lebendigen Begriff“ der Freiheit entgegen, dem zufolge sie „ein Vermögen des Guten und des Bösen“ ist (Freiheitsschrift, SW VII, 352). Diese Wende führt Schelling dazu, ausdrücklich die Unzulänglichkeit dessen zuzugeben, was vorher über Freiheit des Willens, Gut und Böse sowie über Persönlichkeit gesagt wurde.34 Der neue Begriff der Freiheit kann nicht auf Fichtes Konzeption der Selbstbestimmung zurückgeführt werden, zumal er Schellings deutliche Interessenverschiebung von der Philosophie des Bewusstseins zu der Philosophie der Person bezeugt.35 Das Besondere an Schellings Ansatz in der Freiheitsschrift liegt 34 35

Vgl. Freiheitsschrift, SW VII, 334. In eine andere Richtung geht B. Sandkaulen, Dieser und kein anderer? Zur Individualität der Person in Schellings “Freiheitsschrift”, in: T. Buchheim, F. Hermanni (Hg.), „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“. Schellings Philosophie der Personalität, Berlin 2004, S. 35–54. Ihr zufolge habe Schelling in der Freiheitsschrift Jacobis Begriff der Persönlichkeit übernommen, ohne sich jedoch von Spinoza erfolgreich zu lösen (Sandkaulen, a.a.O., S. 52). Folglich bleibe der Begriff der Persönlichkeit in der Freiheitsschrift verschwommen und in seiner Bemühung, über Spinoza hinauszugehen, sei er höchstens zu Kants intelligibler Tat oder zu Fichtes Selbstbestimmung gelangt. Ich bin mit Sandkaulen nicht einverstanden, wenn sie

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darin, die Freiheit nicht mehr in Bezug auf die Autonomie des Ich, sondern in Bezug auf das „Vermögen des Guten und des Bösen“ zu denken. Trotz mancher Aporien ist schon in der Freiheitsschrift unübersehbar, dass der neue Begriff des Bösen eine folgenreiche Entwicklung in den Überlegungen zum Problem der personalen Identität mit sich bringt. Durch ihn trennt die Persönlichkeit ihr Schicksal von dem des egologischen Subjekts, welches später in der Darstellung der reinrationalen Philosophie in das „Aufgeben der Selbstheit“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 556) einmünden wird. Als Folge der Krise des kontemplativen Lebens stellt der späte Schelling an dieser Stelle eine komplexe Philosophie der Person dar, welche die Person als Schlüsselfigur für die „Umkehrung des Unwillens“ versteht. Nicht wenige Interpreten haben jedoch in der immer stärkeren Depotenzierung der Selbstheit, der Subjektivität, des egologischen Ich, der Ideen sowie der Vernunft einen nihilistischen und irrationalen Schluss gesehen.36 Man kann nun diese Depotenzierung auf eine andere Weise auslegen, und zwar nicht als eine irrationalistische Krise der Vernunft, sondern als den Versuch, das Problem der Identität über ein als abstraktes Subjekt des Bewusstseins verstandenes Ich hinaus neu anzusetzen. Bei der fortschreitenden Ablösung der Persönlichkeit vom Ego ist die Depotenzierung des Subjekts kein letztes Wort Schellings über das Problem der Identität, sondern nur ein Moment der negativen Philosophie, welchem in der positiven Philosophie eine präzisere Fokussierung der Singularität der Person sowie ihres ontologischen Status folgt. Die allmähliche Dekonstruktion der Subjektphilosophie, wenn nicht des Idealismus selbst, läuft nicht auf die Ohnmacht der Vernunft hinaus, sondern geht mit der Entwicklung der Philosophie der Persönlichkeit einher.37 Die Ekstase, wie sie Schelling zwölf Jahre

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die Überwindung der Selbstheit im Sinne einer „höchsten Selbstlosigkeit“ (Sandkaulen, a.a.O., S. 45) oder einer „unpersönlichen Aufhebung der Person“ (Sandkaulen, a.a.O., S. 52f.) auslegt. Überzeugend scheint mir indessen die Hypothese des Einflusses Jacobis auf Schellings Begriff der Persönlichkeit. Siehe dazu auch S. Peetz, Die Freiheit im Wissen. Eine Untersuchung zu Schellings Konzept der Rationalität, Frankfurt a.M. 1995. Die Auseinandersetzung mit Jacobi erlaube Schelling, einen Begriff der Persönlichkeit zu entfalten, der sich einer Theorie der auf den rein reflexiven Moment beschränkten Subjektivität entgegensetzt und gegenüber dem Idealismus Selbstkritik üben kann (vgl. Peetz, a.a.O., S. 317f.). Vgl. O. Marquard, Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, Köln 1987 (2. Aufl.). Moiso hingegen meint, dass geradezu das Unvermögen, eine „freie Persönlichkeit“ zu denken, den Rationalismus in die „Zerstörung der Vernunft“ stürze (vgl. F. Moiso, Gott als Person, in: O. Höffe, A. Pieper (Hg.), Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Berlin 1995, S. 191). Dies soll aber meines Erachtens nicht dazu verleiten zu denken, die Selbstheit werde in der Persönlichkeit eliminiert: „Alles Bewußtsein ist Concentration, ist Sammlung, ist Zusammennehmen, Zusammenfassen seiner selbst. Diese verneinende, auf es selbst zurückgehende Kraft eines Wesens ist die wahre Kraft der Per-

nach der Freiheitsschrift in den Erlanger Vorträgen darstellt und auf die im nächsten Kapitel einzugehen sein wird, verwandelt nicht die Selbstaufgegebenheit des Ich38 in das nihilistische Nichts, sondern es geht dort um das Zunichtemachen der selbstreferentiellen Egoität, welche gemäß ihrer selbstsüchtigen Tendenz das Zentrum der menschlichen Existenz eingenommen hat. Wie könnte nun die Ekstase als Selbsttranszendierung des Ego stattfinden, wenn die Persönlichkeit in sich selbst eingesperrt bliebe? Indem Schelling in der Persönlichkeit „das lebendige Band von sich selbst und einem Anderen“ (Darlegung des wahren Verhältnisses, SW VII, 54) entdeckt, setzt er die Andersheit von Anfang an in die ursprüngliche Identität der Person und verleiht dadurch der Frage nach der Freiheit ganz andere Konturen. Wenn die Persönlichkeit sich im Verhältnis zu der Andersheit – zu etwas also, welches nicht unter der Kontrolle des eigenen Willens steht – konstituiert, so kann sich das Problem der persönlichen Freiheit nicht mehr auf das Thema der Autonomie und der Wahlfreiheit des Subjekts beschränken. Der Begriff der persönlichen Freiheit als Vermögen des Guten und Bösen ermöglicht die Überwindung des formalen Konzepts der Freiheit, weil er sich auf etwas bezieht, das für die Autonomie des Selbstbewusstseins und die Selbstsetzung des Ich äußerlich ist. Ein solches Vermögen der Freiheit hat auch nichts mit der früheren Definition der Persönlichkeit als „Einheit des Bewußtseyns“ (Vom Ich, SW I, 200) zu tun. Eine Persönlichkeit als reine Einheit des Bewusstseins könnte sich höchstens in den Dienst der Autonomie sowie der unbedingten Wahl stellen, ohne über das „formale Wesen der Freiheit“ hinaus zu gelangen. Diesbezüglich beobachtet Schelling: „der gewöhnliche Begriff der Freiheit, nach welchem sie in ein völlig unbestimmtes Vermögen gesetzt wird, von zwei contradiktorisch Entgegengesetzten, ohne bestimmende Gründe, das eine oder das andre zu wollen, schlechthin bloß, weil es gewollt wird, [...] führt [...] zu den größten Ungereimtheiten. Sich ohne alle bewegende Gründe für A oder –A entscheiden zu können, wäre, die Wahrheit zu sagen, nur ein Vorrecht, ganz unvernünftig zu handeln, und würde den Menschen von dem bekannten Thier des Buridan [...] eben nicht auf die vorzüglichste Weise unterscheiden“ (Freiheitsschrift, SW VII, 382). Das ist kurzum ein ungangbarer Weg, denn „wenn Freiheit nicht anders als mit der gänzlichen Zufälligkeit der Handlungen zu retten ist, so ist sie überhaupt nicht zu retten“ (Freiheitsschrift, SW VII, 383). Was von jeglichen inneren Banden des Individuums absieht, ist nichts anderes als das Allgemeine. Wie der späte Schelling in der Darstellung der reinrationalen Philosophie bemerkt, ist das, was im Menschen nach Glück-

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sönlichkeit in ihm, die Kraft der Selbstheit“ (F.W.J. Schellings Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen etc., SW VIII, 74). Vgl. Erlanger Vorträge, SW IX, 233.

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seligkeit verlangt, nicht das Allgemeine, sondern das Individuum „vermöge innrer Nothwendigkeit und im Sehnen nach eigner Befreiung“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 569). Das Problem der Existenz innerer Bande wäre nur für einen formalen Begriff der Freiheit überflüssig, der von dem lebendigen Individuum bereits abgesehen hat. Es wird hingegen sofort zentral, wenn man nach der konkreten Freiheit eines bestimmten persönlichen Individuums fragt. Offensichtlich besteht der wesentliche Aspekt der Freiheit in dem Freisein von äußerlichen Zwängen und Fesseln. Das automatische Ausstrecken dieses Schemas bis hin zu den tiefsten Beweggründen und Strebungen meiner Existenz, bis hin zu dem also, was meine Identität selbst konstituiert, würde jedoch bedeuten, das zunichte zu machen, was meine personale Individualität konstituiert. Denn um zu einer gänzlich unbedingten Wahl zu gelangen, müsste ich mich selbst als besondere Individualität vernichten. Indem Schelling die Freiheit als Vermögen des Guten und des Bösen setzt, unterstreicht er, dass die Wahlfreiheit nur dann Sinn hat, wenn sie die Seinsweise der Person ausdrückt, und nicht, wenn sie eine bloß formale Ausübung der Autonomie ist. In dem Maße, in dem ein Individuum da ist, gibt es eine Stellungnahme, eine Sichtweise. Und in dem Maße, in dem eine Sichtweise da ist, gibt es eine Hermeneutik der Wahl: Ich bin frei, indem ich wähle, jedoch nicht in dem Sinne, dass ich die Wahl von meinem Sein, von meiner Sichtweise unabhängig machte, sondern, im Gegenteil, insofern es mir durch die Wahl gelingt, dem ursprünglichsten Kern meiner Person Gehör zu schenken. Die zweite Stufe der Freiheit gründet sich nicht auf eine freie – d.h. hier unbedingte – Wahl, sondern auf eine befreiende Wahl. Die Verneinung einer im Begriff der „sittlichen Notwendigkeit“ implizierten „perfekten“ Wahlfreiheit wird explizit auch auf Gottes Entscheidung bezogen, sich zu offenbaren und diese Welt zu schöpfen: „die Vorstellung einer Berathschlagung Gottes mit sich selbst, oder einer Wahl zwischen mehreren möglichen Welten [bleibt] eine grundlose und unhaltbare Vorstellung. [...] eine perfekte Freiheit der Wahl würde erst dann gewesen seyn, wenn Gott auch eine weniger vollkommne Welt [...] hätte erschaffen können“ (Freiheitsschrift, SW VII, 397). Die Frage nach der Freiheit zielt nicht mehr auf die abstrakte unbedingte Wahl hin, sondern setzt sich mit dem Verhältnis zwischen dem eigenen Sein und dem eigenen Tun, d.h. mit der Logik, auseinander, die die Offenbarung der Person leitet. Denn im Gegensatz zu Spinoza ist Gott nach Schelling nicht genötigt zu handeln, als ob „alles aus ihm mit logischer Nothwendigkeit folgen“ würde (Freiheitsschrift, SW VII, 394). Ein Jahr später, in den Stuttgarter Privatvorlesungen, lehnt Schelling endgültig die Möglichkeit ab, den freien und bewussten Akt auf die Wahl zu stützen, denn „wer weiß, was er will, greift zu ohne Wahl. Wer wählt, der

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weißt nicht, was er will, und will daher auch nicht“ (Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 429, kursiv von G.C.). 2.1.2 Idealismus und Realismus Der in den ersten Zeilen des Vorberichts mit Nachdruck betonte Übergang vom Gegensatz zwischen Natur und Geist zu dem zwischen Notwendigkeit und Freiheit zeigt, dass – trotz Schellings offener Kritik an Spinoza – die Spinozianische Verwurzelung der menschlichen Freiheit in Gott auch für die Freiheitsschrift als Bezugspunkt bleibt. Der Fehler Spinozas besteht, wie Schelling mehrmals wiederholt, nicht darin, zu behaupten, dass „aus der göttlichen Natur alles mit absoluter Nothwendigkeit folgt“, sondern darin, dass er diese Notwendigkeit „unlebendig und unpersönlich“ nimmt (Freiheitsschrift, SW VII, 397): „Die ganze Natur sagt uns, daß sie keineswegs vermöge einer bloß geometrischen Nothwendigkeit da ist, es ist nicht lautre reine Vernunft in ihr, sondern Persönlichkeit und Geist“ (Freiheitsschrift, SW VII, 395). Der „geometrischen Nothwendigkeit“ setzt Schelling die „sittliche Nothwendigkeit“ entgegen,39 aber allein der Gebrauch des Terminus „Notwendigkeit“ deutet seine Schwierigkeiten hinlänglich an. Die Dynamik der Argumentation Schellings rührt von dem Anspruch her, sowohl der unbedingten Wahlfreiheit eines Buridans Esels als auch Spinozas geometrischer Notwendigkeit auszuweichen. Beide Fälle führen nämlich zur Ablösung der Freiheit von der Persönlichkeit. Nicht nur wäre die unbedingte Freiheit bloß einem Subjekt eigen, das von sich selbst getrennt, d.h. unpersönlich, geworden wäre. Auch ein von einer geometrischen Notwendigkeit beherrschter Gott, in welchem die Geschehnisse wie die Deduktion eines allgemeinen Gesetzes erfolgten, stellte sich als unpersönlich heraus. Schelling führt dagegen das „allgemeine Gesetz“, aus welchem die Schöpfung folgt, unmittelbar auf die Person Gottes zurück: „Die Schöpfung ist keine Begebenheit, sondern eine That. Es gibt keine Erfolge aus allgemeinen Gesetzen, sondern Gott, d.h. die Person Gottes, ist das allgemeine Gesetz, und alles, was geschieht, geschieht vermöge der Persönlichkeit Gottes; nicht nach einer abstrakten Nothwendigkeit“ (Freiheitsschrift, SW VII, 396). Es ist der Weg, der zum Beleben der Substanz Spinozas führt. Es lag dem jungen Schelling daran, Spinozas Realismus durch Fichtes Idealismus neu zu lesen, die innere Notwendigkeit Spinozas mit der „Tathandlung“ des Fichteschen Ich aufzubauen. Wenn damals die freie Tat im Akt der Selbstbestimmung bestand und die Selbstbestimmung des Geistes mit 39

Vgl. Freiheitsschrift, SW VII, 397.

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dem Wollen identifiziert wurde, sind jetzt in der Freiheitsschrift „Selbstbestimmung“ und „Selbstsetzung“ dafür ungeeignet, Spinozas Substanz lebendig zu machen. Sie schaffen es nur auf der Ebene der Gedanken, die Substanz zu dynamisieren. Schließlich ist „der Gott des reinen Idealismus, so gut wie der des reinen Realismus nothwendig ein unpersönliches Wesen [...], wovon der Fichtesche und Spinozische Begriff die klarsten Beweise sind“ (Freiheitsschrift, SW VII, 395). Die Überwindung des formalen Freiheitsbegriffs bedeutet für den Menschen den Übergang zur Persönlichkeit als freiem Vermögen, sich für das Gute oder das Böse zu entscheiden. Es geht nicht um eine endgültige Entscheidung, welche ein für alle Mal getroffen wird, sondern um das fortwährende sich Entscheiden, welches der Entwicklung der Person selbst den Takt angibt. Denn in einem unendlichen hermeneutischen Prozess, welcher das ursprüngliche göttliche Vorbild zu entziffern strebt, das als Erstes die Möglichkeit der Überwindung des Bösen eröffnet hat, nimmt die personale Identität durch das sich Entscheiden für das Gute oder das Böse allmählich Gestalt an. Das ontologisch Neue daran ist nicht die Selbstsetzung des Ich, wie im Idealismus Fichtes, sondern das, was ihr zugrunde liegt, nämlich die Tatsache, dass der Mensch plastisch und unbestimmt ist. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier liegt darin, dass sich die Selbstheit, die im Tier als dunkles Prinzip, als blinde Begierde bleibt,40 im Menschen zur Geistigkeit zu erheben vermag und zu etwas wird, was die Logik des Lebens übersteigt – zur Persönlichkeit also, wie es Schelling definiert. Die Sehnsucht des Menschen, im Unterschied zur blinden Begierde, ist eine unerfüllte Instabilität auf der Suche nach neuen, höheren Gleichgewichten. Da die Person ein Übergang ist, ist die Identität des Menschen kein Gegebenes, sondern das Ergebnis einer unendlichen individuellen Bestimmung. Dies führt zu einem radikalen Umdenken der Ethik, die nicht mehr wie bei Spinoza auf die Ermächtigung der Identität zielt. Die geometrische Notwendigkeit, die Spinoza zufolge aus einem bereits im Voraus bestimmten Wesen hervortritt, lehnt Schelling ab: „Wäre jenes Wesen ein todtes Seyn und [...] ein ihm bloß gegebenes, so wäre, da die Handlung aus ihm nur mit Nothwendigkeit folgen kann, die Zurechnungsfähigkeit und alle Freiheit aufgehoben“ (Freiheitsschrift, SW VII, 385). Der Titel der Schrift Philosophische Untersuchungen über das Wesen der Menschlichen Freiheit hat oft die Interpreten dazu verleitet zu denken, dass es Schelling in dieser Schrift darum ginge, ein vorherbestimmtes „Wesen“ der menschlichen Freiheit präzise herauszufinden. Die Größe dieses Werks besteht indes darin, offengelegt zu haben, dass die Freiheit 40

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Vgl. Freiheitsschrift, SW VII, 372.

des Menschen im Gegenteil nicht in ein Wesen eingeschlossen werden kann. Die Freiheit ist also kein Wesen, sondern eine schöpferische Tätigkeit. Schelling kehrt die Art und Weise um, wie man traditionell an das Problem der Freiheit herangegangen ist, wenn er feststellt: „das Wesen des Menschen ist wesentlich seine eigne That“ (ibid.). Ist dieser Schritt einmal erfolgt, kann die Freiheit nicht mehr aus einem idealen Wesen des Menschen deduziert werden, da der Mensch „ein unentschiedenes Wesen [ist] [...]; nur er selbst kann sich entscheiden“ (ibid.). Das heißt nun, dass das unentschiedene Wesen der menschlichen Freiheit von Fall zu Fall vom Menschen selbst durch seine schöpferische Tätigkeit entschieden wird. Die Freiheit ist nicht mehr als Verwirklichung eines bereits gegebenen Wesens gedacht. Sie wird zur Erfahrung einer schöpferischen Tätigkeit, die sich als Selbsttranszendierung des eigenen unentschiedenen Wesens versteht. Wenn das „unentschiedene Wesen“ des Menschen durch die Tat in einem unendlichen Prozess der Bildung definiert wird, so ist auch die Persönlichkeit nicht mehr von einem ideal erfassten Wesen des Menschen her, sondern von der freien Tat her zu verstehen: „In dem Bewußtseyn, sofern es bloßes Selbsterfassen und nur idealisch ist, kann jene freie That [...] freilich nicht vorkommen, da sie ihm, wie dem Wesen, vorangeht, es erst macht“ (Freiheitsschrift, SW VII, 386). Die freie Tat gründet sich Schelling zufolge weder auf das Bewusstsein noch wird sie von einem vorherbestimmten Wesen abgeleitet, da sie sowohl diesem als auch jenem vorangeht. Es gibt kein selbstständiges Bewusstsein, welches freie Taten vollziehen würde, noch Taten, welche bereits gegebene Wesen verwirklichten. Vielmehr ist es die freie Tat, die das Bewusstsein und das Wesen bildet. Aus diesem Grunde sollte man hierbei der 1940 von Fuhrmans vorgelegten Interpretation des Freiheitsbegriffs Schellings zumindest zum Teil widersprechen.41 Fuhrmans geht meines Erachtens irrigerweise davon aus, 41

H. Fuhrmans, Schellings letzte Philosophie, Berlin 1940, S. 178. Seine Grundthese lautet: Schelling sei zwar in den Weltaltern durch die Perspektive des christlichen Theismus zu einer radikalen Rehabilitierung der empirischen Welt und des Lebens vorgedrungen, in den darauf folgenden Werken aber – nicht zuletzt wegen des Wiederauftauchens der Platonischen Motive – sei er in den Idealismus zurückgefallen (vgl. H. Fuhrmans, Schellings Philosophie der Weltalter, Düsseldorf 1954). Meines Erachtens gerät Fuhrmans dabei in eine sehr reduktive Platoninterpretation. Einen Versuch, den Einfluss Platons und des Platonismus auf Schelling aufzuwerten, unternimmt hingegen: H. Holz, Spekulation und Faktizität. Zum Freiheitsbegriff des mittleren und späten Schelling, Bonn 1970. Noch allgemeiner zum Thema siehe W. Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, Frankfurt a.M. 1972; M. Franz, Schellings Tübinger Platon-Studien, Göttingen, 1996; B. Mojsisch, O.F. Summerell (Hg.), Platonismus im Idealismus. Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philosophie, München und Leipzig 2003.

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dass Schelling bereits in der Freiheitsschrift endgültig von Spinozas Notwendigkeit befreit sei, und behauptet, dass er in dieser Schrift die freie Handlung als Zufälligkeit verstehe.42 Unter dieser Voraussetzung kommt Fuhrmans zu dem Schluss, dass die Freiheit bei Schelling ein unvorhersehbares Geschehen – an keine Verwirklichung von etwas Vorherbestimmtem gebunden – und somit ein schöpferischer Prozess sei, der einen neuen Anfang zu setzen vermöge. Gerade deswegen könne jede freie Handlung nicht vom Denken vorhergesehen, sondern nur a posteriori, d.h. durch die Erfahrung, erkannt werden, und so eröffne sich bei Schelling der Weg zur Überwindung der idealistischen Perspektive.43 Indem jedoch Fuhrmans auf diese Weise noch ein vorherbestimmtes menschliches Wesen voraussetzt, kann er die Kreativität sowie die Unvorhersehbarkeit einer freien Handlung nur durch die Annahme einer unbedingten Selbstbestimmung des Subjekts retten, das auf zufällige und willkürliche Weise handeln kann.44 Meiner Ansicht nach kann man den Begriff eines freien und schöpferischen Aktes viel besser erreichen, wenn man auf die Idee eines bereits vollendeten Wesens verzichtet. Unter Verzicht auf diese Idee würden das Schöpferische und die Unvorhersehbarkeit nicht von der Zufälligkeit der Handlung, sondern von der Unvollkommenheit des menschlichen Wesens abhängen. Das, was dem Menschen sein Freisein ermöglicht, wäre also seine Struktur selbst, nur als Tat Person zu sein. Das Phänomen der Freiheit bliebe auch bei diesem Fall nur a posteriori erkennbar, ohne jedoch auf die absolute Selbstbestimmung des Subjekts zurückzugreifen, und schlösse die Überwindung des Idealismus zugunsten dessen ein, was Schelling später als philosophischen beziehungsweise metaphysischen Empirismus bezeichnen wird.45 2.1.3 Die Geburt der Philosophie der Person Der in der Freiheitsschrift eingeführte Begriff der Persönlichkeit hat eine nicht irrelevante Vorgeschichte. In der Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre46 1806 schlägt Schelling einen neuen Begriff der Offenbarung vor. In dieser Schrift tritt 42

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„Alles Geschehen aus Freiheit gehört wesentlich zum Bereich des Zufälligen. [...] Dieses Zufällige ist vielmehr ein Rang höher als das Notwendige“ (Fuhrmans, Schellings letzte Philosophie, a.a.O., S. 183). Fuhrmans, Schellings letzte Philosophie, a.a.O., S. 176f. Fuhrmans, Schellings letzte Philosophie, a.a.O., S. 184. Vgl. z.B. Einleitung in die Philosophie der Offenbarung, SW XIII, 114. Auf die Relevanz dieses Textes für den Begriff der Person hat zu Recht hingewiesen: T. Buchheim, Grundlinien von Schellings Personbegriff, in: T. Buchheim, F. Hermanni (Hg.), „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“, a.a.O., S. 11–34.

bereits eine Identität in den Vordergrund, die sich nicht als Selbstbejahung, sondern als Ergebnis einer Spannung, als „das lebendige Band von sich selbst und einem Anderen“ offenbart: „Ein Wesen, das bloß es selbst wäre, als ein reines Eins [...], wäre nothwendig ohne Offenbarung in ihm selbst, denn es hätte nichts, darin es sich offenbaren würde, es könnte eben darum nicht als Eins seyn, denn das Seyn, das aktuelle wirkliche Seyn, ist eben die Selbstoffenbarung. Soll es als Eins seyn, so muß es sich offenbaren in ihm selbst, es offenbart sich aber nicht, wenn es bloß es selbst, wenn es nicht in ihm selbst ein Anderes, und in diesem Anderen sich selbst das Eine, also wenn es nicht überhaupt das lebendige Band von sich selbst und einem Anderen ist“ (Darlegung des wahren Verhältnisses, SW VII, 54). Was hier stattfindet, ist der Übergang von der „Offenbarung“ als unmittelbarer Äußerung eines bereits im Voraus bestimmten Wesens zur „Selbstoffenbarung“ als Ausdruck der Selbsttranszendenz einer noch unvollendeten Persönlichkeit. Solange Schelling die „Offenbarung“ Gottes im Sinne der Selbstbejahung auffasst, die nur einer „absoluten Passivität“ Freiräume lässt, kann die menschliche Freiheit nicht auf der Basis einer von Gott ausgehenden Initiative begriffen werden. Dem neuen Konzept der Persönlichkeit liegt hingegen die Einsicht in einen viel komplizierteren Prozess der Bildung der individuellen Identität zugrunde. Es geht dabei nicht um eine Selbstheit, die sich darauf beschränkt, durch die bloße Reproduktion und die lineare Expansion ihrer selbst – zu Lasten des Anderen – das eigene vollkommene Wesen zu entfalten und zu äußern. Hier wirkt vielmehr ein Sein, welches in sich selbst eine ursprüngliche Spannung zu lösen hat und deswegen nicht nach der Selbstbestätigung eines bereits vollkommenen Wesens trachtet, sondern danach strebt, etwas zu verwirklichen, was noch nicht da ist. Wer die eigene Spannung durch eine Selbstbejahung seines Willens oder im Hinblick auf eine unmittelbare Äußerung des Willens zur Macht seines vollendeten Seins zu lösen sucht, ist nur das Ego, nicht die Person. In dem drei Jahre vor der Freiheitsschrift dargelegten Gedanken der „Selbstoffenbarung“ ist hingegen die Person nicht mehr bloß causa sui, sondern das, was eine Zeugung über sich hinaus fördert. Unter diesen Prämissen wird in der Freiheitsschrift die „Selbstoffenbarung“ zum Schlüsselbegriff für das Verhältnis zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit. Denn wie „man auch die Art der Folge der Wesen aus Gott sich denken möge, nie kann sie eine mechanische seyn, kein bloßes Bewirken oder Hinstellen [...]; ebensowenig Emanation [...]. Die Folge der Dinge aus Gott ist eine Selbstoffenbarung Gottes. Gott aber kann nur sich offenbar werden in dem, was ihm ähnlich ist“ (Freiheitsschrift, SW VII, 346f.). Eine weitere Voraussetzung für das Verständnis des Persönlichkeitsbegriffs in der Freiheitsschrift findet man in Schellings Rezension von

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Niethammers Schrift Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus.47 Hier lenkt Schelling, in Übereinstimmung mit Niethammer, die Aufmerksamkeit auf den zentralen Begriff der Bildung. Er wendet ihn jedoch nicht auf den Begriff der universalen Vernunft, wie es bei Niethammer der Fall war, sondern auf das Werden der individuellen Person an. Während sich die „Bildung zur Vernunft“ bei Niethammer darauf beschränkt, die Erkenntnis der allgemeinen Idee der menschlichen Gattung zu entwickeln, steht die „Bildung zur Persönlichkeit“ bei Schelling im Dienste des Wachstums der konkreten Bildung des Individuums.48 Er stellt sich dabei ausdrücklich die Frage nicht nur nach der Persönlichkeit in epistemologischer Hinsicht, sondern vielmehr nach dem ontogenetischen „Persönlichwerden“.49 Die Bildung der Person geht einen Weg, der dem der „Angst des Lebens“ entgegengesetzt verläuft.50 Indem die Person die eigene egologische Selbstheit transzendiert und alle „Eigenheit“ abstirbt, befreit sich die Person vom Druck der Angst des Lebens, die den Menschen in die Peripherie getrieben hat, und kommt wieder ins Zentrum, wo ihre Wiedergeburt stattfindet. Dieser Weg mündet nicht ins Nichts, sondern in eine neue „excentrische“ Existenz.51 Die Erfahrung der Selbsttranszendenz – des „Sterbens“ und der Wiedergeburt der Person – bricht mithin die Linearität der Potenzierung ab, die die Spinozianische Ethik leitet.52 Aus Schellings Sicht liegt das Problem bei Spinoza darin, zur Seligkeit gelangen zu wollen, ohne vorher den Akt des Sterbenlernens im Sinne des Wiedererwachenlernens vollzogen zu haben. Auf diese Weise erreicht man jedoch nur eine feste Substanz, eine unpersönliche Notwendigkeit, d.h. nicht den lebendigen Gott, sondern nur die erste Potenz des Göttlichen. Es wundert also nicht, wenn Schelling in den Erlanger Vorträgen darauf Wert legt zu präzisieren, dass nur wenige Philosophen den Sinn der berühmten These Platons verstan-

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Siehe hierzu R. Shibuya, Individualität und Selbstheit. Schellings Weg zur Selbstbildung der Persönlichkeit (1801–1810), Paderborn 2005, S. 143–155. Wie sie darstellt, gewinnt der Begriff der Persönlichkeit bei Schelling ausgehend von dieser anfangs 1809 erschienenen, kurz vor dem Beginn der Niederschrift der Freiheitsschrift verfassten Rezension der Schrift Niethammers philosophisch positive Bedeutung. Vgl. Der Streit des Philanthropinismus, SW VII, 516. Vgl. Der Streit des Philanthropinismus, SW VII, 525. Vgl. Freiheitsschrift, SW VII, 381. Zur Angst des Lebens siehe oben § 1.2 Die Exzentrizität als Aufgabe. Wie oben im § 1.2 erörtert wurde, thematisiert Schelling das Problem der Exzentrizität in seiner Berliner Philosophie. Zu Schellings Verhältnis zu Spinoza siehe G. Cusinato, Amor mortis e potenziamento esistenziale: Il problema etico in Spinoza e in Schelling, in: Dialegesthai 4 (2002), online verfügbar (http://mondodomani.org/dialegesthai/gcu01.htm).

den hätten, der zufolge man „alles dahingeben [müsse], um alles zu gewinnen“, und dass Spinoza nicht unter ihnen zu finden sei.53 2.1.4 Die egologische Selbstheit und das Böse Durch die Setzung der menschlichen Freiheit in Gott,54 gleichzeitig aber durch die Überwindung der Spinozianischen Lösung der Frage nach dem Bösen,55 schüttelt die Freiheitsschrift endgültig das Joch der Theodizee ab, ohne sich hinter den Scheinlösungen wie der des concursus zu verstecken. Denn auch in diesem Fall „erscheint doch Gott unleugbar als Miturheber des Bösen, indem das Zulassen bei einem ganz und gar dependenten Wesen doch nicht viel besser ist als mitverursachen“ (Freiheitsschrift, SW VII, 353). Wenn aber die Freiheit des Menschen in Gott ist, woher kommt dann ihre Undurchsichtigkeit, ihre Fraglichkeit? Gerade diese Fragen machen es möglich, dass der Durchbruch zu einem neuen Bild des Göttlichen sowie des Menschlichen und damit zu einer neuen philosophischen Anthropologie erzielt wird. Das Neue der Freiheitsschrift besteht vor allem darin hervorzuheben, dass die Probleme der Theodizee nicht durch das endlose Hin und Her-Geschiebe der Verantwortung zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen gelöst werden können. Stattdessen setzt Schelling den Ursprung des Problems in Gott selbst, in die ursprüngliche Spannung zwischen Grund und Existenz hinein und erhebt diese Spannung zum konstitutiven Moment der Person. Diese Spannung wirkt als ein dunkler Grund – „alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“ (Freiheitsschrift, SW VII, 413) – wobei die Dunkelheit auf die Geburt der Person verweist, denn „[alle] Geburt ist Geburt aus Dunkel ans Licht; das Samenkorn muß in die Erde versenkt werden und in der Finsternis sterben, damit die schönere Lichtgestalt sich erhebe und am Sonnenstrahl sich entfalte“ (Freiheitsschrift, SW VII, 360). Diese ursprüngliche Spannung bringt Gott zum Schöpfungsakt und den Menschen dazu, die Würde des Anderen anzuerkennen. Das „lebendige Band von sich selbst und einem Anderen“ befreit die Selbstheit von ihrer selbstreferentiellen Neigung und erlaubt ihr, sich in der Gestalt der Persönlichkeit zu entwickeln. Auf dem Weg zur Erreichung dieses neuen Horizontes setzt sie sich jedoch der Möglichkeit des Bösen aus. Das Böse ist eine Selbstheit, die sich zur Geistigkeit erhebt und dank des Prinzips des Liebens Persönlichkeit wird. Diese Selbstheit hebt aber daraufhin die 53 54

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Vgl. Erlanger Vorträge, SW IX, 218. „So wenig widerspricht sich Immanenz in Gott und Freiheit, daß grade nur das Freie, und soweit es frei ist, in Gott ist, das Unfreie, und soweit es unfrei ist, nothwendig außer Gott“ (Freiheitsschrift, SW VII, 347). Vgl. Freiheitsschrift, SW VII, 354.

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ursprüngliche Spannung auf, indem sie die Würde des Anderen nicht anerkennt, indem sie das Prinzip der Liebe, welches sie erhoben hatte, unterwirft und mithin die eigene Selbstoffenbarung verhindert. Anstatt aus der Selbstheit eine Basis, ein Organ, also ein Mittel zu machen, erhebt der Mensch im Bösen seine Selbstheit zum herrschenden Prinzip, zum „Allwillen“ (Freiheitsschrift, SW VII, 389), und verwandelt das Geistige in ein bloßes Werkzeug zur Offenbarung seines individuellen Willens. Auf diese Weise ist das Böse geradezu die Umkehr der beiden Prinzipien durch den Willen: „Der Wille, der aus seiner Übernatürlichkeit heraustritt, um sich als allgemeinen Willen zugleich partikular und kreatürlich zu machen, strebt das Verhältnis der Prinzipien umzukehren, den Grund über die Ursache zu erheben, den Geist, den er nur für das Zentrum erhalten, außer demselben und gegen die Kreatur zu gebrauchen, woraus die Zerrüttung in ihm selbst und außer ihm erfolgt“ (Freiheitsschrift, SW VII, 365). Es handelt sich um eine Möglichkeit, die den Tieren unzugänglich bleibt. Denn es ist zwar wahr, dass jedes Naturwesen ein „doppeltes Prinzip“ (Freiheitsschrift, SW VII, 362) hat und dass das aus dem Grund stammende, dunkle Prinzip mit dem Eigenwillen der Kreatur identifiziert wird. Dieser jedoch, indem er sich nicht zur Geistigkeit erhebt, bleibt bloße Sucht, bleibt „blinder Wille“ (Freiheitsschrift, SW VII, 363), welcher in der Natur beständig als Werkzeug des allgemeinen Willens, als „Band“ der Naturkräfte wirkt und sich deswegen als unfähig zum Bösen erweist. Im Menschen hingegen wird der Eigenwille zu einer individuellen und bewussten Selbstheit und macht sich einerseits – im Unterschied zu den Tieren – von dem Grund und andererseits – im Unterschied zu Gott – von dem Lieben unabhängig. Die Selbstheit im Menschen bleibt also in einem Zwischenreich, frei von den beiden Prinzipien. Sie bleibt in einer höchst instabilen, ja sogar melancholischen Lage. Nachdem das Prinzip des Bösen erregt wurde, „hat der Mensch sich von Ewigkeit in der [...] Selbstsucht ergriffen, und alle, die geboren werden, werden mit dem anhängenden finstern Prinzip des Bösen geboren“ (Freiheitsschrift, SW VII, 388). Es handelt sich um eine Verkehrung, die Schelling bekanntlich ohne Zögern mit der Krankheit vergleicht, um die Entwicklung eines parasitären Systems also, welches durch die Umkehrung der den Menschen ernährenden Ordnung wächst.56 In dieser Verkehrung ist die Liebe Gottes nicht mehr das Band der Kräfte im Menschen: „Ist in dem Menschen das finstre Prinzip der Selbstheit und des Eigenwillens ganz vom Licht durchgedrungen und mit ihm eins, so ist 56

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„Diesen allein richtigen Begriff des Bösen, nach welchem es auf einer positiven Verkehrtheit oder Umkehrung der Prinzipien beruht, hat in neueren Zeiten besonders Franz Baader wieder hervorgehoben und durch tiefsinnige physische Analogien, namentlich die der Krankheit, erläutert“ (Freiheitsschrift, SW VII, 366).

Gott, als die / ewige Liebe, [...] das Band der Kräfte in ihm. Sind aber die beiden Prinzipien in Zwietracht, so schwingt sich ein andrer Geist an die Stelle, da Gott sein sollte; der umgekehrte Gott nämlich“ (Freiheitsschrift, SW VII, 389f.), welcher immer durch „falsche Imagination“ (Freiheitsschrift, SW VII, 390) des „Egoism (der entzündeten Ichheit)“ (Freiheitsschrift, SW VII, 367, Anm.) erfasst werden kann. 2.1.5 Das Vorbild des werdenden Gottes und die menschliche Freiheit Trotz des Bruchs mit seinem früheren Denken ist nicht zu übersehen, dass Schellings Philosophie der Person in der Freiheitsschrift noch an ihrem Anfang ist. Auch in den darauf folgenden Jahren wird weiterhin eine gewisse Instabilität bezüglich des ontologischen Status der Singularität der endlichen Persönlichkeit andauern, eine Instabilität, die sich zum Beispiel in den Schwierigkeiten widerspiegelt, das Wort „unpersönlich“ und seinen Gebrauch in den Stuttgarter Privatvorlesungen auszulegen. Solange man sich die menschliche Freiheit als in einem geheimnisvollen Grund verwurzelt vorstellt, der – obschon anders als Gott – in Gott sei, bleibt der ontologische Status der personalen Singularität unbestimmt. Zum Scheitern verurteilt sind nun all diejenigen Versuche, die Singularität der endlichen Person in Bezug auf die Universalität der Vernunft zu bestimmen. Der Status der Singularität tritt nur allmählich in den Vordergrund, als Schelling das Werden der endlichen Person nicht mehr in Verbindung mit dem Grund, der in Gott ist, sondern mit der Selbstoffenbarung Gottes selbst als Person setzt, mit einer Initiative also, die von Gott selbst ausgeht. Die menschliche Freiheit wird nicht in Bezug auf die erste Schöpfung verständlich, mit der Gott die Welt erschaffen hat, sondern in Bezug auf die zweite Schöpfung, in der Gott zum Vorbild der Wiedergeburt der menschlichen Person wird. Damit dies aber geschehe, ist es unumgänglich, das Bild des Göttlichen selbst unter dem Stichwort der „Lebendigkeit“ gründlich umzudenken, so dass sich Gott nicht durch Befehle aufdrängt, sondern sich als persönliches Vorbild inkarniert. Nur durch eine positive oder negative Stellungnahme zum ursprünglichen Vorbild kann die Singularität der endlichen Persönlichkeit die eigene Gestalt annehmen. Zugleich spitzt sich nun das Problem des Bösen noch weiter zu. Bei der Bestimmung der Freiheit als Vermögen des Guten und des Bösen unterscheidet Schelling den Menschen, in dem die Freiheit „an sich gegen Böses und Gutes indifferent“ ist (Freiheitsschrift, SW VII, 354), von Gott, der nicht absichtlich das Böse wollen kann. Daraus folgt: „[Ist] die Freiheit ein Vermögen zum Bösen, so muß sie eine von Gott unabhängige

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Wurzel haben. Hierdurch getrieben kann man versucht werden, sich dem Dualismus in die Arme zu werfen“ (Freiheitsschrift, SW VII, 354). Um sich nicht in diesen Dualismus zu stürzen, ruft Schelling den Tod des alten Gottesbildes, des statischen und unlebendigen Gottes aus, was ein breiteres Echo bei Dostojewski und Nietzsche finden und den Debatten des zwanzigsten Jahrhunderts über den werdenden Gott einen wichtigen Anstoß geben wird. Vor der Freiheitsschrift hatte Schelling die Persönlichkeit mit den Formen der subjektiven Identität und Kontinuität des Bewusstseins identifiziert, welches außerhalb seiner selbst nur einem passiven Objekt Freiräume ließ. Den Begriff Gottes als ein persönliches Wesen, welches in der Sinnenwelt als Subjekt wirksam sei, lehnte der junge Schelling entschieden ab,57 da dies die Herabsetzung des menschlichen Geistes zur „absoluten Passivität“ mit sich gebracht hätte.58 Die neue Theorie der Persönlichkeit erlaubt es nun Schelling, Argumente dafür vorzubringen, dass eine Einwirkung Gottes als Person keineswegs der menschlichen Freiheit Spielraum wegnimmt. Im Gegenteil wird die zweite Schöpfung zum einzigen Raum, in welchem sich die menschliche Freiheit entfalten kann: „Sagen, Gott halte seine Allmacht zurück, damit der Mensch handeln könne, oder er lasse die Freiheit zu, erklärt nichts: zöge Gott seine Macht einen Augenblick zurück, so hörte der Mensch auf zu seyn“ (Freiheitsschrift, SW VII, 339). Wenn die Freiheit nur durch die Abwesenheit Gottes möglich wäre, dann befänden wir uns vor einem negativen Gott – vor einem Gott, der nicht fähig wäre, seine Aufgabe zu verrichten. Gott fördert das Leben, so wie das Wasser die Erde fruchtbar macht. Das Wasser hindert die Samenkörner nicht daran, im Feld aufzukeimen, im Gegenteil ist es vielmehr der Mangel des Wassers, die Dürre, die die Selbständigkeit der Samen zunichte macht. Ein Gott, der zu einem abwesenden Gott werden müsste, um niemandem zu schaden, wäre kein unnötiger, sondern vielmehr ein giftiger, verkehrter Gott, ein Gott also, der sich als unfähig erweist, den Akt der Selbsttranszendenz zu vollziehen. Ein Gott, der sich um der menschlichen Freiheit willen zurückziehen müsste, ist kein Gott der Selbstoffenbarung, sondern der der Offenbarung. Alles hängt davon ab, wie man sich die Freiheit in Gott vorstellt. Wenn sich die Freiheit in Gott unmittelbar als vollendetes Gegebenes ausdrücken soll, dann wird die Behauptung widersprüchlich, der Mensch habe seine Freiheit in dieser Gegebenheit, da der menschlichen Freiheit nichts anderes übrig bliebe als restlose Beugung vor einem allmächtigen, apodiktischen Befehl. Wenn aber die Freiheit in Gott selbst als Resultat des Prozesses der Selbstoffenbarung zu erfassen ist, so kann aus der Behauptung, die Freiheit des Men57 58

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Vgl. Ueber Offenbarung und Volksunterricht [1798], SW I, 476. Vgl. Ueber Offenbarung und Volksunterricht, SW I, 477.

schen sei in Gott, hergeleitet werden, dass die menschliche Freiheit denselben göttlichen Prozess in freier imitatio Dei nachvollziehen kann. So würde die Freiheit des Menschen nicht zusammenbrechen, denn sie stünde nicht vor einem Befehl, sondern vor einem Vorbild. Explizit zum Ausdruck bringt Schelling den Gedanken des werdenden Gottes in der Antwort auf die Frage, warum es das Böse und keine Perfektion von Anfang an gibt: Weil „Gott ein Leben ist, nicht bloß ein Seyn. Alles Leben aber hat ein Schicksal, und ist dem Leiden und Werden unterthan“ (Freiheitsschrift, SW VII, 403). Für Schelling ist Gott keine Person von Anfang an, vielmehr wird er vollkommene Person: „Auch diesem [Leiden und Werden, G.C.] also hat sich Gott freiwillig unterworfen, schon da er zuerst, um persönlich zu werden, die Licht- und finstre Welt schied“ (Freiheitsschrift, SW VII, 403). In dem, was als „Entzweiung von Licht und Finsterniß“ bezeichnet worden war, erwachte der „Geist des Bösen“, dem der „Geist der Liebe“ „ein höheres Ideal“ entgegensetzt, welches am Ursprung der Schöpfung ist (Freiheitsschrift, SW VII, 377). Aus dieser göttlichen Entzweiung entstehen gleichzeitig das Werden der Persönlichkeit und die Möglichkeit des Bösen, auch wenn sich die letztere nur im Persönlichwerden des Menschen verwirklicht.59 An dieser Stelle muss man sich an die Unterscheidung zwischen der zweiten Schöpfung, durch die sich Gott als Person entwickelt, und der ersten Schöpfung, durch die Gott die Welt schafft, erinnern. Daraus, dass es nun in Gott einen unabhängigen Grund gibt, ergeben sich zwei Anfänge: „Der erste Anfang zur Schöpfung ist die Sehnsucht des Einen, sich selbst zu gebären, oder der Wille des Grundes. Der zweite ist der Wille der Liebe, [...] durch den Gott sich erst persönlich macht“ (Freiheitsschrift, SW VII, 395).60 Es ist von grundlegender Bedeutung, dass das Werden Gottes nicht mit dem des Menschen übereinstimmt. Indem Gott durch das Lieben Person wird, öffnet er den Weg zur zweiten Schöpfung, die dem Menschen das Urvorbild der Möglichkeit darstellt, das Böse zu überwinden. Das Persönlichwerden Gottes bietet sich als ein Vorbild an, welches das Persönlichwerden des Menschen nicht zu der höchsten Idee eines apodiktisch vorherbestimmten Guten hin einengt, sondern in Richtung der Verbesserung offen und frei lenkt. Bei der Unterstreichung dieses Bewirkens durch das Vorbild und nicht durch den Zwang kann man sich auf zwei Stellen beziehen, an denen Schelling bemerkt, dass nach Platon der nous 59 60

Dazu siehe Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 434. Dem Missverständnis Eschenmayers liegt gerade die fehlende Unterscheidung zwischen der ersten und der zweiten Schöpfung zugrunde. „Sie leihen Gott die Sehnsucht selbst zu gebären, als ob in Gott ein Wunsch sein könnte, etwas zu werden, was er noch nicht wäre“ (Eschenmayer an Schelling, SW VIII, 148). Bei Schelling ist es nicht der Wille der Liebe, sondern der Wille des Grundes, der die Sehnsucht in sich trägt, sich selbst zu gebären.

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„die Nothwendigkeit durch Ueberredung zum Besten lenke“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie XI, 394)61 und dass „Gott [...] nicht die Ursache des Guten, sondern des Besseren [ist]“ (Darstellung des philosophischen Empirismus, SW X, 255).62 Gott zwingt also nicht mit der Kraft eines nous poietikos ein an sich vollkommenes Gutes auf, sondern versucht, dank des „Willens der Liebe“ den Menschen auf das hin zu überreden, was besser ist. Da Gott von der Spannung zwischen Grund und Existenz durchdrungen ist, ist er zwar selbst in die Möglichkeit des Bösen mit einbezogen, aber nur um den endgültigen Sieg über dasselbe zu erreichen. Gott zeugt nicht das Böse, er wird vielmehr das erste Vorbild der Möglichkeit, es zu überwinden. Der Beweis für die Existenz des persönlichen Gottes muss dabei umgedreht werden: Wenn das Böse überwunden werden kann und wenn nicht allein das Böse da ist, dann existiert Gott, denn Gott ist in jedem Sieg des Guten über das Böse anwesend. Die Verwurzelung der menschlichen Freiheit in Gott bleibt beim späten Schelling nicht genau dieselbe wie die in der Freiheitsschrift dargestellte. Jetzt findet die menschliche Freiheit die eigene Grundlegung in der Teilnahme an dem Prozess, durch den Gott endgültig das Böse in sich besiegt hat. Als Nachfolger kann der Mensch ihm nur folgen und ihn als Vorbild nehmen. Das Vorbild des von Gott bereits beschrittenen Wegs wird somit zu dem jenseits der Selbstreferentialität liegenden Bezugspunkt, welcher für die menschliche Freiheit unentbehrlich ist. Ohne diesen äußeren Bezugspunkt wäre ein Mensch wie ein Wanderer in der Wüste, der sein ganzes Leben lang im Kreis läuft und, ohne es zu wissen, das eigene Persönlichwerden zunichte macht. Statt aus der selbstreferentiellen Wüste herauszukommen, kehrt er immer wieder zum Ausgangspunkt, zu seinem Ego, zurück und verzehrt sich in diesem rotatorischen Umtrieb. Das Vorbild der Überwindung des Bösen kann jedoch das Persönlichwerden nur dann fördern, wenn es nicht aufgezwungen, sondern dank einer freien Entscheidung von der menschlichen Person aufgenommen wird. Gott lässt daher beim Anbieten des eigenen Vorbildes dem Menschen den Spielraum offen, sich für das Gute oder für das Böse zu entscheiden. Ohne diese Möglichkeit bliebe dem Menschen nichts anderes übrig, als einen schon von Gott vollzogenen Prozess zu wiederholen. Er würde dabei nichts hinzutun, er ginge in Gott auf, d.h. der Mensch könnte nie als Singularität eine ontologisch reale Person werden. Ohne die Möglichkeit des Bösen, ohne dieses Persönlichwerden des Menschen, könnte jedoch selbst Gott keine vollständige Selbstoffenbarung realisie61 62

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Schelling bezieht sich auf Platon, Timaios, 48a. Hier bezieht sich Schelling auf Platon, Timaios, 29e–30a.

ren. Gott als Vorbild der unzertrennlichen Einheit der zwei Prinzipien kann sich nur einem persönlichen, von sich selbst unterschiedenen Wesen offenbaren. Er kann „nur im Geist des Menschen wirklich“ werden: „wenn sie [die Einheit, G.C.] in diesem [dem Geist des Menschen, G.C.] ebenso unauflöslich wäre, als in Gott, [so würde] der Mensch von Gott gar nicht unterschieden seyn; er ginge in Gott auf, und es wäre keine Offenbarung und Beweglichkeit der Liebe“ (Freiheitsschrift, SW VII, 373). Das Vermögen des Guten und des Bösen, durch das Schelling die Freiheit definiert, muss man also im Hinblick auf das konkrete Werden der menschlichen Person auslegen. Wie das Böse all das ist, was die zweite Schöpfung als Wiedergeburt der Person verlangsamt und aufhält, so ist das Gute all das, was sie unterstützt und fördert. Vom Gesichtspunkt des Menschen aus kann aber der Auftakt nur die „Umkehrung“ sein, denn das menschliche Vermögen des Guten und des Bösen steht von Anfang an vor der vollzogenen Tatsache einer „Erbsünde“, welche durch die egoistische Usurpation des Zentrums des Menschen begangen worden ist. Dies bedeutet, dass im Menschen das Böse nichts anderes als die träge und gewohnheitsmäßige Annahme einer bereits geschehenen Umkehrung ist, während das Gute die Umkehrung der Umkehrung ist. Das ontologische Vorbild für die Umkehrung der Umkehrung ist folglich die Figur der Person. Ausgesprochen wird dieser Gedanke nur beim Berliner Schelling. Vor der menschlichen Entscheidung für das Böse kann Gott als Vater nicht unmittelbar eingreifen und zieht sich in den Unwillen zurück. Die Enthüllung des Grundes als Abgrund zuerst in Gott und dann im Menschen sowie seine Umkehrung vom Herrn zum Untergeordneten verweisen auf die Kernfrage nach dem Verhältnis zwischen Unwille und Persönlichkeit: Gott wirkt in der gefallenen Welt nicht mehr als Wille, sondern nur als Unwille. Das heißt, um erneut wieder Herr des Seins zu werden, braucht Gott als Vater eine vermittelnde Figur, Gott als Sohn. Das sich Zurückziehen Gottes läuft nicht auf den abwesenden Gott, sondern auf den Gott hinaus, der den Sohn schickt. Um der menschlichen Entscheidung für das Böse entgegenzuwirken, sendet Gott dem Menschen seinen Sohn und versucht, durch das Vorbild des Sohns in der menschlichen Person die Umkehrung des Unwillens zu fördern. Der Sohn wird also zum Vorbild der menschlichen Person als Chiffre der Umkehrung des Unwillens. Es ist dabei keineswegs Schellings Absicht, die Philosophie durch den Glauben zu ersetzen. Die Begriffe wie Gott als Vater oder als Sohn verstehen sich als philosophische. Die Figur des Sohns stellt die Umkehrung des in der Welt seienden Unwillens, das non non fiat, dar und wird somit zur Quelle des persönlichen Seins. Dank des Vorbildes dieser Umkehrung lernt die menschliche Person, sich selbst zu transzendieren und zu entdecken: „Der Mensch, der sich nicht von seinem Seyn scheiden (sich von

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ihm unabhängig machen, befreien) kann, der ganz verwachsen ist und eins bleibt mit seinem Seyn, ist der Mensch, inwiefern er ganz in seine Selbstheit versunken ist und unfähig sich in sich selbst zu steigern – moralisch und intellektuell. Wer sich von seinem Seyn nicht scheidet, dem ist das Seyn das Wesentliche, nicht sein inneres, höheres, wahres Wesen“ (Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 436).

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2.2 Die Ekstase des Ich 2.2.1 Die Depotenzierung des Ideenbegriffs beim späten Schelling Schellings Spätphilosophie ist wesentlich mit dem Anliegen verbunden, einen dynamischen Begriff der Idee zu prägen. So werden schon in den Weltaltern die Urbilder gedacht nicht etwa „als fertig vorhandene, ohne Bewegung daseyende und gleichsam stehende Formen; denn eben darum sind sie Ideen, daß sie ein ewig Werdendes und in unaufhörlicher Bewegung und Erzeugung sind“ (Weltalter, SW VIII, 290). Der Dynamisierung entspricht ihrerseits eine zunehmende „Depotenzierung“ des Ideenbegriffs, denn „was existirt, ist außer der Idee“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 571). Das Fassungsvermögen der Ideen erweist sich also für den späten Schelling als schlechthin unzureichend, das Wirkliche in sich aufzunehmen; insofern können die Ideen nicht mehr als „das letzte Wort in der Philosophie“ betrachtet werden. Der so umschriebene Mangel wirkt sich auch auf die intellektuelle Anschauung aus, die die Idee zum Gegenstand hat63 und deswegen die Grenzen derselben nicht zu überwinden vermag. Meines Erachtens eröffnet Schelling eine grundlegend neue Perspektive, als er in den Erlanger Vorträgen den Begriff der intellektuellen Anschauung durch den der Ekstase überwindet.64 Im Vollzug der Ekstase nimmt das Ich von seinem selbstreferentiellen Selbst Abstand und verlässt die Grenzen des objektivierenden Denkens, um sich einem höheren Erfahrungsbereich zu öffnen. In Bezug auf die nachgelassene Handschrift des jungen Schelling über Platons Timaeus, noch aus seiner Tübinger Zeit, bemerkt Krings, dass nach Schelling „die Ideen bei Platon nicht als eine Verdoppelung der existierenden Weltdinge verstanden werden [dürfen]. Zwar habe jedes existierende Ding seine Form dank einer Idee, doch diese sei die Idee der Gattung, die der Grund der Form des einzelnen ist, aber von keinen einzelnen adäquat dargestellt wird [...]. Die Idee ist von ganz anderer Art als Seiendes, das existiert. [...] Der Begriff der Existenz erweist sich als

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Vgl. Über die Konstruktion in der Philosophie (1803), SW V, 131. Über intellektuelle Anschauung und Ekstase bei Schelling vgl. W. Schulz, Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Pfullingen 1955; W. Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, Frankfurt a.M. 1973; L. Pareyson, Lo stupore della ragione in Schelling [1979], in: ders., Ontologia della libertà, Torino 1995, S. 385–437; J.F. Courtine, Extase de la raison, Paris 1990; L. Hühn, Fichte und Schelling oder: über die Grenze des menschlichen Wissens, Stuttgart 1994; X. Tilliette, Recherches sur l’intuition intellectuelle de Kant à Hegel, Paris 1995. Während Beierwaltes dazu neigt, „intellektuelle Anschauung“ und „Ekstase“ als Synonym zu interpretieren (a.a.O., S. 250), hebt Pareyson einen Unterschied hervor (vgl. a.a.O., S. 394).

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schlechthin unanwendbar auf Ideen.“65 Die Ideen, die einerseits Platonisch als Urbilder der Welt zu verstehen sind, können andererseits aus Schellings Sicht nur transzendental begriffen werden, d.h. als Bedingung der Möglichkeit der Form, der Schönheit und des Gutseins der Welt.66 In Schellings darauf folgenden Werken steht dieser Umdeutung im Geiste Kants auch eine explizit nichtdualistische Auffassung des Verhältnisses von Materie und Gott, Materie und Idee, zur Seite. Im Dialog Bruno schreibt Schelling, dass „die Natur nicht außer Gott, sondern in Gott sey“ (Bruno, SW IV, 306f.). In diesem Zusammenhang tritt in der Einleitung (1797) zu den Ideen zu einer Philosophie der Natur eine wichtige Differenz gegenüber Platon in Erscheinung. Schelling zufolge stellt Platon nämlich „die Materie als ein selbständiges Wesen Gott gegenüber“ (Ideen, SW II, 20, Anm. 1).67 Man darf diese Kritik an Platon mit dem Passus der Kritik der Urteilskraft in Zusammenhang bringen, in welchem Kant Natur und Kunst vergleicht: „Man sagt von der Natur und ihrem Vermögen in organisierten Produkten bei weitem zu wenig, wenn man dieses ein Analogon der Kunst nennt; denn da denkt man sich den Künstler (ein vernünftiges Wesen) außer ihr. Sie organisiert sich vielmehr selbst“ (KdU B 293). Ein ähnlicher Vergleich zwischen organisiertem Wesen68 und Kunstwerk taucht auch bei Schelling auf: „Also liegt jeder Organisation ein Begriff zu Grunde [...]. Aber dieser Begriff wohnt in ihr selbst, kann von ihr gar nicht getrennt werden, sie organisirt sich selbst, ist nicht etwa nur ein Kunstwerk, dessen Begriff außer ihm im Verstande des Künstlers vorhanden ist“ (Ideen, SW II, 41). Der Begriff ist zwar nicht auf die Materie zurückzuführen, gleichwohl kann er nicht unabhängig von der Materie bestehen, und sein Ort befindet sich nicht außerhalb der organisierten Materie: „Der Begriff, der dieser 65

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H. Krings, Genesis und Materie – Zur Bedeutung der „Timaeus“-Handschrift für Schellings Naturphilosophie, in: F.W.J. Schelling, „Timaeus“. (1794), H. Buchner (Hg.), Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 125. Krings, a.a.O., S. 126. In der zweiten Auflage (1803) heißt es: „die Materie als ein anderes Gott gegenüber“ (Ideen, SW II, 20). Zur damals gängigen Platon-Interpretation vgl. M. Franz, Schellings Tübinger Platon-Studien, Göttingen 1996. Bei Schelling sind Materie, Organisation und Natur durch seine ganze Philosophie hindurch eng miteinander verbundene Begriffe (vgl. Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses, SW IV, 3; System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, SW VI, 319). Von daher erschließt sich auch die Differenz zu Platon und Aristoteles, da die Materie nicht unter die „Principien“ gesetzt werden kann: „sie ist selbst erst etwas Gewordenes, sie ist das erste Wirkliche“ (Darstellung des Naturprozesses, SW X, 310). Zum Begriff der Materie und der Kritik an einer materialistischen Reduktion des Schellingschen Gedankens vgl. X. Tilliette, La plus obscure des choses. La matiere selon Schelling, in: R. Löw (Hg.), Oikeiosis (Festschrift für R. Spaemann), Weinheim 1987, S. 303–319. Zum Begriff der Materie bei Platon und Aristoteles vgl. H. Happ, Hyle, Berlin 1971.

Organisation zu Grunde liegt, hat an sich keine Realität, und umgekehrt, diese bestimmte Materie ist nicht als Materie, sondern nur durch den inwohnenden Begriff, organisirte Materie“ (Ideen, SW II, 44). Schellings Kritik an der Annahme eines Demiurgen findet ihren schärfsten Ausdruck im weiteren Fortgang der Einleitung zu den Ideen: „Um jene Vereinigung von Begriff und Materie zu begreifen, nehmt ihr einen höhern, göttlichen Verstand an, der seine Schöpfungen in Idealen entwarf, und diesen Idealen gemäß die Natur hervorbrachte. Allein ein Wesen, in welchem der Begriff der That, der Entwurf der Ausführung vorangeht, kann nicht hervorbringen, kann nur Materie, die schon da ist, formen, bilden, kann der Materie nur von außen das Gepräge des Verstandes und der Zweckmäßigkeit aufdrücken; was er hervorbringt, ist nicht in sich selbst, sondern nur in Bezug auf den Verstand des Künstlers, nicht ursprünglich und nothwendig, sondern zufälliger Weise zweckmäßig“ (Ideen, SW II, 44). Aus zweifachem Grund ist also für Schelling die Annahme eines „Baumeisters der Natur“ (Ideen, SW II, 45) unhaltbar. Erstens beinhaltet sie ihrerseits die Annahme einer Ideenwelt sowie einer Materie, die vor der Schöpfung existieren sollen. Zweitens führt sie – Schellings Suche nach der Vereinigung von Idee und Materie zum Trotz – dazu, die Materie als ein der Organisation selbst Äußerliches, der Zweckmäßigkeit und der Idee Gegenübergestelltes zu begreifen. Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Materie und Idee führt Schelling dazu, den Begriff der Selbstorganisation zu entfalten.69 Der These vom Demiurgen setzt Schelling nun eine andere, nicht minder suggestive entgegen: „Ihr nehmt also eure Zuflucht zum schöpferischen Vermögen einer Gottheit, aus welchem die wirklichen Dinge zugleich mit ihren Ideen entsprangen und hervorgingen. Ihr sahet ein, daß ihr das Wirkliche zugleich mit dem Zweckmäßigen, das Zweckmäßige zugleich mit dem Wirklichen entstehen lassen müßt“ (Ideen, SW II, 45). Hier befindet sich die Idee nicht mehr über, außerhalb oder vor dem Wirklichen, denn sie entsteht „gleichzeitig“ mit dem Wirklichen. Doch, wenn das Verhältnis zwischen Idee und Wirklichem mit solchen Termini 69

Zum Begriff der Selbstorganisation siehe L. Hasler (Hg.), Schelling. Seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und der Geschichte, Stuttgart 1981; M.-L. Heuser-Keßler, Die Produktivität der Natur. Schellings Naturphilosophie und das neue Paradigma der Selbstorganisation in den Naturwissenschaften, Berlin 1986; id., Schellings Organismusbegriff und seine Kritik des Mechanismus und Vitalismus, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 14, Heft 2,17 1989; W. Schmied-Kowarzik, Schelling, in: Klassiker der Naturphilosophie, München 1989; W. Hogrebe, Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings Weltalter, 1989; M.-L. Heuser-Keßler, W. Jacobs (Hg.), Schelling und die Selbstorganisation. Neue Forschungsperspektiven, Berlin 1994; E. Zimmermann, Die Rekonstruktion von Raum, Zeit und Materie: moderne Implikationen Schellingscher Naturphilosophie, Frankfurt a.M. 1998.

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wie „mit“ oder „zugleich“ beschrieben werden soll, dann erweist sich jegliche Lehre von den ideae ante res als unhaltbar – und die Frage nach dem Status der Ideen kehrt wieder zurück. 2.2.2 Die Ekstase und die Anamnese des Ego Im System des transzendentalen Idealismus 1800 stellt Schelling die Philosophie dar als „nichts anderes als freie Nachahmung, freie Wiederholung der ursprünglichen Reihe von Handlungen, in welchen der Eine Akt des Selbstbewußtseyns sich evolvirt“ (System des transzendentalen Idealismus, SW III, 397). Hier sei noch die Aufgabe des Ich, „das Unbewußte [...] in intellektueller Anschauung zu reflektiren“ (System des transzendentalen Idealismus, SW III, 351). Der Ausgangspunkt scheint weiterhin die Erinnerung an die intellektuelle Anschauung eines kosmos noetos zu sein, und zwar auf eine Weise, als sei die Idee ein unveränderliches paradeigma. Da aber nicht genau erklärt wird, inwiefern eine Wiederholung „frei“ sein kann, wirkt Schelling hier nicht ganz überzeugend,70 und man kann mit Recht von einer „Prävalenz der Anamnese“ beim jungen Schelling sprechen.71 Schon in den Weltaltern lässt jedoch diese Prävalenz nach. Hier spricht Schelling nicht mehr von intellektueller Anschauung oder von freier Wiederholung, und die Idee selbst wird als ein „ewig Werdendes“ beschrieben. Denn in den Weltaltern ist das Problem nicht mehr die Überwindung der Trennung von Unendlichem und Endlichem durch die

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Vgl. Hühn, a.a.O., S. 172. O. Marquard bemerkt: „Für die Transzendentalphilosophie wird das Wissen der ungewußten Geschichte wichtiger als das Tun der ungetanen; zu ihrer primär praktischen ‚Tendenz‘ tritt ein primär theoretischer ‚Vollzug‘ hinzu: die Verwirklichungsphilosophie mutiert zur Erinnerungsphilosophie, die Zukunftsphilosophie wird überwältigt durch Vergangenheitsphilosophie“ (O. Marquard, Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, Köln 1987, S. 98). Meiner Meinung nach wird diese „Prävalenz der Anamnese“ gerade in den Erlanger Vorträgen durch den Begriff der Ekstase überwunden. Marquard hingegen interpretiert auch die Spätphilosophie als transzendentalphilosophische Anamneselehre und dieser Anamnesecharakter wird ihm zufolge sogar „je stärker, desto klarer“ (a.a.O., S. 96). Um seine Auslegung zu untermauern, zitiert er eine Stelle aus den Münchner Vorlesungen: „Die Philosophie ist insofern für das Ich nichts anderes als eine Anamnese, Erinnerung dessen, was es in seinem allgemeinen (seinem vorindividuellen) Seyn gethan und gelitten hat“ (Zur Geschichte der neueren Philosophie, SW X, 95). Die Fortsetzung des Satzes beweist jedoch, dass sich Schelling dort in diesen Vorlesungen gerade von der These seiner frühen Jahre distanzieren möchte: „Dies war also der Weg, den ich zuerst und noch eben von Fichte herkommend, einschlug“ (ibid.).

Anschauung.72 Die Krisis, die Scheidung, wird immer tiefer. In den Weltaltern führt Schelling die Krisis bis in den Begriff des Urbildes zurück. Das unmittelbare Bild der Anschauung ist verdunkelt worden, ist Ur-Bild geworden: „dieses Ur-Bild der Dinge schläft in der Seele als ein verdunkeltes und vergessenes, wenn gleich nicht völlig ausgelöschtes Bild“ (Weltalter, SW VIII, 200). Wenn Schelling früher noch schrieb: „Der intellektuellen Anschauung Gottes ist [...] jede vernünftige Seele fähig“ (System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, SW VI, 561), so fragt er sich jetzt: „Warum kann das Gewußte auch der höchsten Wissenschaft nicht mit der Geradheit und Einfalt wie jedes andere Gewußte erzählt werden?“ (Weltalter, SW VIII, 200). Nach dem Verlust der Geradheit sei, „was wir Wissenschaft nennen, [...] nur erst Streben nach dem Wiederbewußtwerden“ (Weltalter, SW VIII, 201). Denn „dem Menschen muß ein Prinzip zugestanden werden, das außer und über der Welt ist. [...] Aus der Quelle der Dinge geschöpft und ihr gleich, hat die menschliche Seele eine Mitwissenschaft der Schöpfung“ (Weltalter, SW VIII, 200). Aber die Mitwissenschaft als Wiederbewußtwerden thematisiert nur eine Seite der Krisis: Die Bilder der Anschauung sind Urbilder der Anamnese geworden, aber die Gültigkeit dessen, was das Ich sieht und sehen kann, ist noch nicht in Frage gestellt worden. Erst in den Erlanger Vorträgen wird diese Frage erneut vertieft. Durch die Ekstase versucht das Ich, nicht mehr diese Urbilder zu „erinnern“, sondern sich selbst zu transzendieren und eine neue Perspektive zu gewinnen. Schelling zielt mit dem Konzept der Ekstase nicht auf die Depotenzierung des Ich, wie es oft ausgelegt wurde, sondern auf die Depotenzierung des Ego ab, um die Selbstheit zur Person zu erhöhen.73 Die Ekstase des Ich ist als Reinigung vom Ego, d.h. als Akt der Transzendierung des Ego zu verstehen. Denn die Erlanger Vorträge setzen sich zwar, darin die Problematik der Weltalter wiederholend, mit der Frage auseinander: Wie kann uns „jene ewige Freiheit innewerden, wie [können wir] jene Bewegung wissen?“ (Erlanger Vorträge, SW IX, 221). Dieselbe Frage wird aber in ein neues Licht gerückt. Wie bereits in den Weltaltern angedeutet, handelt es sich auch hier darum, eine ursprüngliche, in der Tiefe der Menschenseele verblasste Erinnerung wieder zu erwecken. In den Erlanger 72

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Noch 1804 schreibt Schelling: „Die Philosophie aber ist unsere Wiedergeburt in das All, wodurch wir der Anschauung desselben und der ewigen Urbilder der Dinge wieder theilhaftig werden“ (System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, SW VI, 552). Die Entgegensetzung des Endlichen und des Unendlichen in Schellings frühem Denken wird erst in der Freiheitsschrift endgültig überwunden. Marquard bemerkt, dass die Deutung der Transzendentalphilosophie als genetischgeschichtliche Theorie des Ich zu einer Depotenzierung des transzendentalen Ich und zu einer indirekten Ermächtigung des Nicht-Ich führt (Marquard, a.a.O., S. 3; S. 156).

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Vorträgen stellt dies aber nur noch den Ausgangspunkt und nicht mehr das Resultat in Schellings Argumentation dar. Die Tatsache, dass der Mensch auf die ewige Freiheit hin ausgerichtet ist, bedeutet nach wie vor für Schelling einen Hinweis darauf, dass im Menschen selbst unzweifelhaft ein Wissen der ewigen Freiheit angelegt sein muss. Jetzt aber wird die Frage zentral: Warum gibt es doch nur eine bloß ideale Nachahmung und kein Hervorbringen?74 Es scheint, als wirke im Menschen ein hemmendes Prinzip, wonach sich das Wissen „auf die bloß ideelle Wiederholung des Processes“ (Erlanger Vorträge, SW IX, 225) beschränke. Und doch ist, wie Schelling bemerkt, das Problem des Wissens durch keine Theorie der originären Kontemplation der Idee vollständig auflösbar. Denn wie kann etwa die einfache Wiederholung, die Nachahmung, mit der Freiheit zusammen bestehen? Aber auch andernorts stellen sich Fragen ein, welche die innere Konsistenz der Theorie berühren, so etwa die, wie überhaupt die ewige Freiheit, die als absolutes Subjekt nicht objektivierbar ist, Objekt des menschlichen Wissens werden kann. Die Erlanger Vorträge bringen die Grenzen des objektivierenden Denkens und der intellektuellen Anschauung ans Licht.75 Was für ein Wissen kann sich auf die ewige Freiheit beziehen? Schelling unterscheidet jenes Wissen, das nur eine ideale Wiederholung des ursprünglichen Wissens ist,76 von dem Wissen, das zugleich ein Hervorbringen und Erzeugen ist, und nennt das letztere „Weisheit“: „Weisheit ist noch mehr als Wissen, es ist das wirkende Wissen“ (Erlanger Vorträge, SW IX, 223). Die Möglichkeit, etwas zu wissen, das per definitionem kein Objekt ist, ist nur dann gegeben, wenn man sich über das Subjekt-Objekt-Schema erhebt.77 Der Mensch kann sich nur dann zu der ewigen Freiheit, welche sich wesensmäßig dem objektivierenden Denken entzieht, ins Verhältnis setzen, wenn das Bewusstsein des Menschen selbst Teil des Prozesses der Selbsterkenntnis der Freiheit wird, wenn also im Bewusstsein des Menschen die Freiheit aus ihrem Objektstatus entlassen und als Subjekt wiederhergestellt wird.78 Nur in dieser Umkehrung liegt die Möglichkeit einer Selbsterkenntnis der ewigen Freiheit. Dennoch kann man, solange man in der Perspektive des objektivierenden Denkens verbleibt, nicht weiter dringen als bis zu dem Resultat, dass der Mensch das Wissen der 74 75 76

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Vgl. Erlanger Vorträge, SW IX, 224. Vgl. Erlanger Vorträge, SW IX, 229. Es handelt sich um jenes Wissen, welches in den Weltaltern in Bezug auf die „Mitwissenschaft“ steht, einen Terminus, der auch in den Erlanger Vorträgen – allerdings im Sinne von „conscientia“ – auftaucht. Das betrifft auch die Beziehung zwischen Ego und Urbewusstsein, denn auch das Urbewusstsein liegt jenseits der Unterscheidung von Subjekt und Objekt (vgl. Erlanger Vorträge, SW IX, 236f.). Vgl. Erlanger Vorträge, SW IX, 226.

ewigen Freiheit ist, ohne es zu wissen.79 Der erste, über diesen Zustand hinausführende Schritt besteht also gerade im Wissen des Nichtwissens, welches die Ohnmacht des objektivierenden Denkens gegenüber der ewigen Freiheit offenbar macht. Hiermit ist die Krise der Vernunft beschrieben, die akmé und höchster Punkt, von dem jedoch nur als von einem Anfang des gesamten Prozesses gesprochen werden kann. Die Krise ist demnach als ein Bruch der falschen Einheit zwischen Ego und Absolutem zu verstehen, weshalb Schelling sie als eine Trennung charakterisiert. Im Verlauf dieses Prozesses der Anerkennung des eigenen Nichtwissens wird dann erstmals eine Offenbarung der ewigen Freiheit möglich. An dieser neuralgischen Stelle der Argumentation führt Schelling das Konzept der Ekstase ein. Bei der Bewusstwerdung meines Nichtwissens vollziehe ich die Ekstase von der objektivierenden Perspektive des Ego und somit erreiche ich die richtige Stellung in Bezug auf die absolute Freiheit.80 Die intellektuelle Anschauung bleibt dagegen in den Grenzen des objektivierenden Denkens und so entflieht ihr gerade das Wichtigste. Das Ego kann jedes es selbst umgebende Andere nur als Objekt begreifen: „Seine Stelle ist die, Subjekt zu seyn. Nun kann es aber gegen das absolute Subjekt nicht Subjekt seyn, denn dieses kann sich nicht als Objekt verhalten. Also es muß den Ort verlassen, es muß außer sich gesetzt werden“ (Erlanger Vorträge, SW IX, 229). Die Ekstase setzt das Ich außerhalb seiner selbst „als ein gar nicht mehr Daseyendes. Nur in dieser Selbstaufgegebenheit kann ihm das absolute Subjekt aufgehen“ (Erlanger Vorträge, SW IX, 229). Diese „Selbstaufgegebenheit“ des Ego erinnert an den Akt, in dem alles aufgegeben werden muss, damit alles gewonnen werden kann, und den Schelling als den Anfangspunkt der wahren Philosophie begreift, einen großen Schritt, den „Platon mit dem Tode verglichen“ habe (Erlanger Vorträge, SW IX, 218). Die Ekstase kann dabei ebenso als Suspension der Herrschaft des subjektiven Wollens verstanden werden,81 wobei die „Selbstaufgegebenheit“ näher dadurch bestimmt wird, dass das Ich das Ego als Zentrum des objektivierenden Denkens verlässt, um an einen neuen „Ort“ zu gelangen. An diesem Punkt erweist sich die „Prävalenz der Anamnese“ bereits als überwunden.82 Es 79 80

81 82

Zu diesem Punkt siehe Erlanger Vorträge, SW IX, 231ff. Siehe Erlanger Vorträge, SW IX, 233. Die Ekstase bedeutet nicht eine Entgegensetzung zur Vernunft. In Schellings späteren Werken wird die Grenze zum Mystizismus gezogen (vgl. Begründung der positiven Philosophie, SW XIII, 163) und es wird präzisiert, dass die Ekstase – wie die Vernunft auf die Essenz – auf die Existenz gerichtet ist und dass auch die positive Philosophie beide benötigt. Vgl. dazu L. Hühn, a.a.O., S. 206. Die Überwindung der „Prävalenz der Anamnese“ bedeutet jedoch für Schelling keine unmittelbare Distanzierung von Platon. Schelling lässt sich zeit seines Lebens vom Text Platons anregen, um mit Platon über die kanonisierte Anamneselehre hinauszugehen. In der letzten Phase seines Philosophierens gibt es zwar Stellen, in

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handelt sich hier nicht mehr darum, in der Erinnerung einen ursprünglichen, vom Ego ausgehenden Akt zu wiederholen, vielmehr wird die Notwendigkeit erkannt, das Band zwischen Anamnese und Objektivierung zu zerreißen. Durch die Einführung des Begriffs der Ekstase wird die These einer originären Kontemplation der Ideenwelt verworfen. Es scheint, als ob in den Weltaltern die Schwierigkeit gerade in dem argumentativen Ausgangspunkt angelegt wäre, die in der Menschenseele eingewurzelte „Mitwissenschaft“ auf die Logik der Kontemplation zurückführen zu wollen. Vermutlich bringt der Ort dieser Mitwissenschaft, solange er vom Ego usurpiert und besetzt bleibt, nur eine dunkle Erinnerung an das „Centrum“ hervor. Dabei handelt es sich nicht darum, die Erinnerung an eine originäre Kontemplation der Urbilder zu erwecken, sondern – wie es Schelling von den Erlanger Vorträgen an immer deutlicher wird – das Ego selbst zu entkräften, damit dieser Ort wieder zum Raum für die Offenbarung der ewigen Freiheit werden könne. Dank der Ekstase wird das Wissen in den Erlanger Vorträgen zu „wirkendem Wissen“, während jene „Mitwissenschaft“ – welche in den Weltaltern noch mit der These eines Wiederbewusstwerdens verknüpft war83 – zur „conscientia“, zu einer Art von Teilnahme an der ewigen Freiheit, wird.84 Die falsche Einheit wird dadurch erreicht, dass man sich von außen, also vom Ego her, an die ewige Freiheit erinnert, ohne sich der radikalen Frage auszusetzen, welche Bedingungen für ihre Offenbarung notwendig seien. Aus der Perspektive des Ego erreicht man nur statische Ideen, intellektuelle Visionen. Das Ego in seinem „beschaulichen Leben“ hat in der Tat keinen Zugang zu irgendeiner Teilhabe an der ewigen Freiheit und muss sich darauf beschränken, etwas zu wiederholen, das es nie erlebt hat. Es läuft gleichsam um den nicht objektivierbaren Bereich herum, ohne in ihn eindringen zu können.85 Die „contemplative Wissenschaft“ geht von einem ursprünglichen Mangel aus, vom Fehlen einer Offenheit, die nur durch die Transzendierung des Ego möglich wird. Das Formale der „negativen Philosophie“ scheint deswegen die obsessive Wiederholung von etwas zu sein, das man hatte und nun nicht mehr hat, wenn nicht sogar von

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denen Aristoteles Platon vorgezogen wird (vgl. etwa Begründung der positiven Philosophie, SW XIII, 100), aber zuletzt – in der Darstellung der reinrationalen Philosophie – ist es Platon, der als „höchster Blüthenstand“ reiner hellenischer Wissenschaft und „Mittagspunkt“ der Philosophie bezeichnet wird (vgl. Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 380f.). Vgl. Weltalter, SW VIII, 200f. „Hier handelt es sich insbesondere nicht um eine historische Kenntniß jener Bewegung [wodurch die ewige Freiheit sich ihrer selbst innezuwerden vermag, G.C.], sondern um eine Mitwissenschaft, conscientia“ (Erlanger Vorträge, SW IX, 221). In Bezug auf den Verstand unterstreicht schon der junge Schelling, dass dieser sich darauf beschränke, „Umrisse der Wirklichkeit zu beschreiben“ (Ideen, SW II, 44).

einem Urbild, das zu erreichen man schlechterdings unvermögend war und ist. Dennoch ist diese Selbsttranszendenz keine leichte Aufgabe, denn die Macht des Ego versucht ohne Unterlass, jenen zentralen „Ort“, das „Centrum“, von dem die Ur-Ekstase es vertrieben hatte, immer wieder zu besetzen. Schelling versucht, die Gestalt der Anamneselehre dergestalt zu verändern, dass er die Erinnerung als Er-Innerung interpretiert, im Sinne von „wieder innerlich oder erinnerlich zu machen“ (Erlanger Vorträge, SW IX, 239). Der entscheidende Schritt dabei ist, dass er dieses „Innere“ mit dem „Nichtwissen“ und der „ewigen Freiheit“ in Verbindung bringt.86 In den Erlanger Vorträgen wird dieses „Innewerden“ aber darüber hinaus als ein solches „Nichtwissen“ interpretiert, das zugleich die „Selbstaufgegebenheit“ des Ego voraussetzt.87 Erst durch dieses Außer-sich-gesetzt-Werden hat „sich [das Ich] die ewige Freiheit wieder erinnert“ (Erlanger Vorträge, SW IX, 232), im Sinne eines Wieder-innerlich-Machens.88 Mit der Befreiung des Orts des menschlichen Bewusstseins vom usurpatorischen Ego bietet Schelling auch eine vorläufige Lösung für das zentrale Problem an, wie Gott zu sich kommt.89 In der Ekstase ist das Wissen nicht bloße Erinnerung, sondern Ausdruck einer „Er-Innerung“, welche fortlaufend an der ewigen Freiheit teilnimmt. In dieser Teilhabe ist das menschliche Wissen nicht bloß subjektiv, denn „nicht mein Wissen gestaltet sich um, sondern es wird gestaltet; seine jedesmalige Gestalt ist nur der Reflex [...] von der [Gestalt] in der ewigen Freiheit“ (Erlanger Vorträge, SW IX, 234). In anderen Worten: „Wir sind nicht bloß die müßigen Zuschauer, sondern selbst in einer beständigen Umwandlung bis zur Gestalt der vollkommenen Erkenntniß“ (Erlanger Vorträge, SW IX, 234). 2.2.3 Die Ohnmacht der Ideen und die Überwindung des Idealismus In den Weltaltern betont Schelling, dass sich die Lehre von den Ideen ihrem Ursprung nach in die „tiefste Nacht des Althertums“ verliere und dass Platon gerade diese Lehre weiterführe. „Nachdem also der ursprüngliche Sinn früh verloren gegangen, sind sie theils zu übernatürlich, theils 86 87 88 89

Vgl. Erlanger Vorträge, SW IX, 221. Vgl. Erlanger Vorträge, SW IX, 229. Vgl. Erlanger Vorträge, SW IX, 239. „Dieser Rapport zwischen meinem Wissen und dem absoluten Subjekt [...] ist allerdings nur dadurch möglich, daß beide ursprünglich eins, daß die ewige Freiheit ursprünglich in unserm Bewußtseyn oder unser Bewußtseyn ist, ja daß jene ewige Freiheit gar keine Stätte hat, wo sie zu sich kommen kann, als in unserm Bewußtsein“ (Erlanger Vorträge, SW IX, 233f.).

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viel zu gemein verstanden worden. Lebendiger wären sie längst aufgefaßt, wenn, anstatt sie auf allgemeine Verstandesgründe zu stützen, der natürliche Hergang (physische Proceß) ihrer Erzeugung wäre gesucht worden“ (Weltalter, SW VIII, 289–90). Die herkömmlichen Interpretationen der Ideenlehre, in denen die Ideen, wie Schelling schon im Jahre 1804 deutlich sah, „bald als bloß logische Abstrakta, bald als wirkliche, physischexistierende Wesen gedacht wurden“ (System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, SW VI, 185), hält Schelling für ein Missverständnis. Die Platonischen Ideen sind „nicht als physische Substanzen, so doch gewiß nicht ohne alles Physische und nicht als leere Gattungsbegriffe zu denken“ (Weltalter, SW VIII, 290). In der Darstellung der reinrationalen Philosophie nimmt Schelling diesen Gedanken wieder auf, indem er sich auf die These des Philologen Christian August Brandis stützt. Dieser hat in seiner Dissertation 1823 die noch vorhandenen Zeugnisse über Aristoteles’ verloren gegangene Werke gesammelt und kommentiert, in denen Aristoteles sich über Platons mündliches Unterrichten über die Ideenlehre und den Begriff des Guten geäußert hatte.90 Es war Brandis, bemerkt Schelling, der die üblichen Schemata der Interpretation erschüttert und die geläufige Entgegensetzung von Materie und Idee überwunden hat, indem er zeigte, dass Platon auch der Ideenwelt eine materiale Basis zugrunde gelegt hatte. Dieses ausgedehnte Verständnis der Materie als „Unterlage nicht erst der sinnlich wahrnehmbaren Dinge, sondern selbst der Urbilder oder Ideen“ habe angesichts des damaligen Zustandes des philosophischen Denkens in Deutschland großen Anstoß geben müssen. „Nach den Vorstellungen, die man sich früher von platonischer Lehre gemacht hatte, mußte es nicht wenig überraschen, in Brandis berühmter Diatribe durch Zeugnisse von höchster Glaubwürdigkeit und unverwerflicher Autorität belehrt zu werden, daß das Wesen, das Platon selbst nicht Materie nennt, aber ganz dem entspricht, was seit Aristoteles Materie genannt wird, daß also die Materie nach Platon nicht allein den sinnlich wahrnehmbaren Dingen, sondern schon den Ideen zu Grunde liege. Belehrt wurde man dadurch zugleich, daß nicht schon die Zusammengesetztheit im Allgemeinen das Materielle vom Immateriellen unterscheide. Es gab composita auch in der intelligiblen Welt, und wer die platonischen Ideen noch für einfache Wahrheiten oder gar einfache Qualitäten ausgeben konnte, zeigte nur, daß er nichts von ihnen wußte“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 423).91 Nachdem aber die traditionelle Interpretation der Platonischen Ideenwelt in eine Krise geraten ist, wendet Schelling die metaphysische 90 91

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C.A. Brandis, Diatribe academica de perditis Aristotelis libris De ideis et De bono sive philosophia, Bonn 1823. Siehe auch Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 392.

Struktur um, auf der sie aufgebaut war. Für Schelling nämlich gibt es keine bereits vorhandene Ideenwelt, durch die sich Gott beim Schöpfungsakt anregen ließe, denn Gott ist über ihr.92 Selbst die Ideenwelt ist plastisches Material für die Pläne Gottes, selbst die Ideen sind in Bezug auf Gott Materie.93 Die Ideen sind nicht mehr ein ewiges und unveränderliches Paradigma der Welt, sondern sie werden von Gott selbst geformt, sind Pläne, die von Moment zu Moment jeweils geschaffen werden. Die statische Auffassung der Idee wird demnach durch eine dynamische ersetzt. Das hat jedoch auch für die Theorie des Wissens Folgen. Denn die Auffassung des Wissens als bloße Wiederholung der Ideen kann nicht mehr standhalten: Auch wenn es eine ursprüngliche Schau der Ideen gegeben hätte, hätten sich diese Ideen inzwischen durch die creatio continua geändert. Das Ego hingegen würde fortfahren, in seiner Erkenntnis als Widerspiegelung etwas nachzubilden, das nicht mehr da ist. Wie Schelling schon in der Einleitung zu den Ideen sagte, geschehen die Akte der Schöpfung und der Ideation gleichzeitig, wenn es sich um wahre Schöpfung handeln soll: „Oder wollt ihr auch im Schöpfer der Dinge Begriffe von Zweck u.s.w. voraussetzen? Allein, sobald ihr dies thut, hört er auf Schöpfer zu seyn, er wird bloßer Künstler, er ist höchstens Baumeister der Natur“ (Ideen, SW II, 45). Scheint Schelling sich in solchem Zusammenhang vom Idealismus zu distanzieren, so gibt er denselben auf, wenn er später in Berlin sagt: „was existirt, ist außer der Idee“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 571). Dies stimmt zumindest, wenn man „Idealismus“ im Sinne Hegels so versteht, dass alles Wirkliche, sofern es ein Wahres sei, die Idee sei. Die Überwindung des Hegelschen Idealismus bedeutet aber für Schelling kein Durchstreichen der Gültigkeit der negativen Philosophie, deren größter Repräsentant Kant bleibt. Weit davon entfernt, die wahre Realität zu sein, erweist sich die Idee nur als der farblose Schatten der Realität, die Abstraktion einer ohnmächtigen Vernunft, welche die Verbindung mit dem Realen längst verloren hat und sich in einer unfruchtbaren, nur in Kontemplation erfassbaren Welt einschließt, in der Gott zwar als ein statisches und perfektes Objekt erscheint, aber eben als Objekt und nicht als lebendiger Gott. Dieser statischen Ideenwelt fehlt aber geradezu die höchste Realität, die der nicht objektivierbaren Ebene eignet, die nur vom personalen Zentrum aus erreichbar ist. Mittels der „contemplativen Wissenschaft“ könnte das Ego im besten Falle nur die Idee wiederfinden.94 92 93 94

Vgl. Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 414; 584. Vgl. Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 419. Das Ego kann wohl versuchen, in seiner falschen Einheit die ewige Freiheit anzuschauen, aber die „contemplative Wissenschaft“ führt es nicht zum wirklichen Gott, sondern nur zu einem statischen und idealen Gott, der reiner Begriff ist (vgl. Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 559).

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Der Übergang zur neuen Wissenschaft, zur „positiven Philosophie“, setzt darum die Aufgegebenheit des Ego als objektivierendes Subjekt voraus. Wenn das Ich im Vollzug der Ekstase eine höhere Stufe der „Selbstheit“ erreicht, dann kann man die Ekstase als Übergang vom Ego zur Person verstehen.95 Die Ekstase des Ich ließe sich als Depotenzierung des Ego auslegen, welcher eine indirekte Potenzierung der Person entspräche.96 2.2.4 Vis inertiae und neuer Empirismus In der Schrift Darstellung des philosophischen Empirismus weist Schelling auf „die Existenz zweier entgegengesetzter Principien“ hin, „aus deren Zusammenwirkung erst ebensowohl das Erkennbare als das Erkennende hervorgeht“ (Darstellung des philosophischen Empirismus, SW X, 246). In der Folge wäre zugleich von der Existenz eines besonderen Bereiches auszugehen, „wo die Gesetze des Denkens Gesetze des Seyns sind, und nicht, wie nach Kant so allgemein geglaubt worden, die bloße Form, sondern den Inhalt der Erkenntniß bestimmen“ (Darstellung des Naturprozesses, SW XI, 303). Dieser Gedanke sollte nicht wie bei Hegel als Übereinstimmung von Denken und Sein verstanden werden, sondern vielmehr als Subsumption des Erkenntnisaktes unter die genetisch-konstitutiven Seinsgesetze. So wird die Einbildungskraft, die bei Kant das zeitliche Schema a priori der Erkenntnis war, beim frühen Schelling zum Schema der Teilhabe an dem Schöpfungsakt. Ziel hierbei ist, die Ideenwelt des Demiurgen sowie die Kantische Einbildungskraft ineinander zu denken und als aktimmanent darzustellen.97 Indem Schelling die Platonische Anamneselehre im Licht der Transzendentalphilosophie und umgekehrt 95

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In der Freiheitsschrift – wie im vorigen Kapitel erörtert – bestimmt Schelling den Begriff der Persönlichkeit als die „zur Geistigkeit erhobene Selbstheit“ (Freiheitsschrift, SW VII, 370). Über die Bedeutung des Begriffs der Persönlichkeit in der Freiheitsschrift vgl.: S. Peetz, Die Freiheit im Wissen. Eine Untersuchung zu Schellings Konzept der Rationalität, Frankfurt a.M. 1995; T. Buchheim, F. Hermanni (Hg.), „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“. Schellings Philosophie der Personalität, Berlin 2004. Zur Unterscheidung zwischen „Ich“ und „Ego“ vgl. den Punkt 7 in: § 1.5. In den Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre ist die Konvergenz zwischen Kantischer und Platonischer Position schon deutlich: „das Objekt sey nicht etwas, was uns von außen, als ein solches, gegeben ist, sondern nur ein Produkt der ursprünglichen geistigen Selbstthätigkeit, die aus entgegengesetzten Thätigkeiten ein drittes Gemeinschaftliches (koinón bei Platon) schafft und hervorbringt. Jene geistige Selbstthätigkeit nun, die in der Anschauung handelt, schreibt Kant der Einbildungskraft zu“ (Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, SW I, 357). Zum Begriff der Einbildungskraft in der Identitätsphilosophie siehe auch B. Barth, Schellings Philosophie der Kunst, Freiburg und München 1991.

die Kantische Theorie der Einbildungskraft durch die Prinzipientheorie des Philebos liest, entwirft er die These einer Einbildungskraft, die die erkenntnistheoretische Bewusstseinsdimension transzendiert. Nimmt man eine mit einer genetisch-ontologischen Funktion ausgestattete UrEinbildungskraft an, so ist die menschliche Einbildungskraft, die an ihr teilhat, dazu fähig, über die Kantische Welt der Phänomene hinauszugehen.98 Meines Erachtens führt jedoch diese Lösung durch die Einbildungskraft, trotz ihres großen Reizes, letztlich in eine Sackgasse. Allein schon die Tatsache, dass sich Schelling selbst bis zu den identitätsphilosophischen Vorlesungen über die Kunstphilosophie mit dem Begriff der Einbildungskraft auseinandersetzt und ihn später im Grunde aufgibt, ist vielsagend. Indessen ist es hier mein Anliegen zu unterstreichen, dass sich hinter dieser Hypothese eine Fragestellung des späten Schelling verbirgt, die die nicht formale Auslegung des Kantischen Apriori angeht. Dabei steht Schelling schon außerhalb der negativen Philosophie, die für ihn transzendental und formal bleibt. Im Kontext seiner Hegelkritik beobachtet der späte Schelling, dass das Apriorische nicht „ein leeres Logisches, ein Denken [ist], das nur wieder das Denken zum Inhalt hat, womit aber das wirkliche Denken aufhört, wie mit Poesie über Poesie die Poesie aufhört. Das wahre Logische, das Logische im wirklichen Denken, hat in sich eine notwendige Beziehung auf das Seyn, es wird zum Inhalt des Seyns und geht notwendig ins Empirische über“ (Begründung der positiven Philosophie, SW XIII, 101f.). Zunächst verknüpft Schelling in den Weltaltern den Begriff der Erfahrung mit dem der Innerlichkeit.99 Es ist noch nicht die Abwendung von Er-Innerung zu innerer Tätigkeit, wodurch die „contemplative Wissenschaft“ des Ego in eine Krise gerät. Dieses geschieht erst, wenn Schelling das „Innere“ mit einer neuen Interpretation des Empirischen verbindet. In den Erlanger Vorträgen heißt es, die Geburtsstunde der Philosophie komme herauf, wenn der Gedanke durch die Ekstase aus dem Begriff heraustrete und die Erfahrung des Wissenswiderstandes mache. In dieser Diskrepanz zwischen der Bewegung des Begriffs und dem Prozess des Wissens eröffnet sich laut Schelling die Möglichkeit für einen neuen Begriff der Erfahrung. Das Reale zeigt einen Widerstand gegen neue 98

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Dazu vgl. Krings Bemerkungen über den jungen Schelling: „Die reinen Begriffe der menschlichen Vernunft sind also nicht das wahre Apriori; diese sind vielmehr die Idee im göttlichen Verstand“. Daher ist die Teilnahme am „göttlichen Verstand [...] der Ursprung der reinen Verstandesbegriffe“ (Krings, a.a.O., S. 123). Hier kann ich Ohashi nicht zustimmen, der die Innerlichkeit dem Empirischen entgegensetzt (R. Ohashi, Ekstase und Gelassenheit, München 1975, S. 67). Die Innerlichkeit ist sicher dem klassischen Empirismus entgegengesetzt, wohl aber nicht dem „metaphysischen Empirismus“.

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Bestimmungen, d.h. eine vis inertiae.100 Der Begriff des Widerstandes wird dabei sogar zum fundamentalen Charakteristikum der organisierten Materie: Das Reale ist all das, was in einem weiten Sinne fähig ist zu widerstehen. Es handelt sich also um eine beträchtliche Erweiterung der Grenzen des Realen, die jedoch, anstatt in eine der vielen materialistischen Interpretationen zurückzufallen, diese vielmehr durch den überraschenden Begriff eines „metaphysischen Empirismus“ geradezu in Frage stellt. Neben der sinnlichen Welt stellt Schelling in der Begründung der positiven Philosophie die Hypothese einer übersinnlichen und gleichwohl empirischen Welt auf. In der Negation der Kantischen These von der Übereinstimmung zwischen Sinnlichem und Empirischem liegt nun die Einweihung in eine neue philosophische Perspektive. Schellings Absicht ist es, den von Kant hinterlassenen Erfahrungsbegriff zu überwinden: „Hier ist also angenommen, daß alles Erfahrungsmäßige nur in der äußeren oder inneren Sinneswelt sich finden könne. [...] Es ist unrichtig, den Empirismus überhaupt auf das bloß Sinnenfällige zu beschränken, als hätte er nur dieses zum Gegenstand. [...] Der Empirismus als solcher schließt daher keineswegs alle Erkenntniß des Uebersinnlichen aus, wie man gewöhnlich annimmt und auch Hegel voraussetzt“ (Begründung der positiven Philosophie, SW XIII, 112f.). Hier eröffnet sich der Weg zu einem nicht-sinnlichen Empirismus: „Es gibt also auch einen metaphysischen Empirismus, [...] es werden daher unter den allgemeinen Begriff des philosophischen Empirismus noch andere Systeme zu subsumiren seyn, als jene sensualistischen, welche alle Erkenntniß auf die Sinneswahrnehmung beschränken oder gar die Existenz alles Uebersinnlichen leugnen“ (Begründung der positiven Philosophie, SW XIII, 114). Die Grundlage des metaphysischen Empirismus ist nicht mehr die Sinnlichkeit. Die höhere Stufe des philosophischen Empirismus „behauptet, daß das Uebersinnliche wirklicher Gegenstand einer Erfahrung werden könne, wobei sich dann von selbst versteht, daß diese Erfahrung nicht bloß sinnlicher Art seyn kann“ (Begründung der positiven Philosophie, SW XIII, 115),101 und 100

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Schelling preist Keplers „tiefen Natursinn“, welcher sich in diesem Begriff bekunde (vgl. Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 426). Der Widerstand gehört zu der organisierten Materie und nur das Sein als Organisation hat eine vis inertiae, die als Widerstand wirkt. Hier beschreibt Schelling den universalen Prozess der Erhöhung in Selbstheit, den man als Prozess der Zentralisierung charakterisieren könnte: Es handelt sich um einen Prozess, der von Selbst-Losigkeit (reiner Potenz ohne Zentrierung und ohne Widerstand, d.h. ohne Organisation) zur Selbstheit führt (vgl. Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 389f.). Die Selbstorganisation der Materie auf ihren unterschiedlichen Ebenen wird durch die Prinzipientheorie und den Widerstandsbegriff erklärt. Somit kritisiert Schelling nicht nur Kant, sondern auch Hegel, denn „Hegel kann sich außer Begriffen nur noch sinnliche Realität denken“ (Zur Geschichte der neueren Philosophie, SW X, 142), – d.h. der „höhere Empirismus“ bleibt Hegel fern.

die positive Philosophie ist denkbar nur in Verbindung mit diesem „höheren Empirismus“: „die negative Philosophie ist apriorischer Empirismus, sie ist der Apriorismus des Empirischen, aber eben darum nicht selbst Empirismus; dagegen umgekehrt ist die positive Philosophie empirischer Apriorismus, oder sie ist der Empirismus des Apriorischen“ (Begründung der positiven Philosophie, SW XIII, 130). Die Ekstase hat demnach ein Ich zur Folge, das sich außerhalb des Horizonts des Ego, d.h. in einem „höheren Empirismus“ ansiedelt. Durch die Ekstase wird die in der „negativen Philosophie“ herrschende Verbindung zwischen Vernunft, Verstand und Sinnlichkeit aufgelöst. Die sinnliche Erfahrung stimmt nicht mehr mit der „gesamten Erfahrung“ überein, und mithin enthüllt sich die Existenz eines neuen Bereichs, der zugleich empirisch und nicht-sinnlich ist.

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2.3 Die Persönlichkeit und der Wille als Signal zur Umkehrung 2.3.1 Der Begriff der Ekstase: von Erlangen nach Berlin In der XXIV. Vorlesung der Darstellung der reinrationalen Philosophie thematisiert Schelling die Krisis, zu der das kontemplative Leben gelangt, als „Suchen im Aufgeben der Selbstheit“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 556). Diese Auffassung der Krisis erinnert an den Begriff der „Selbstaufgegebenheit des Ich“ in den Erlanger Vorträgen. Die Krisis rührt von der Tatsache her, dass das Ich am Ende des Prozesses der Reinigung noch nicht „befreit [ist] von der Eitelkeit des Daseyns“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 566). Es scheint, als ob diese Reinigung, statt den subjektiven Willen zu annullieren, all das zunichte machte, was das Subjekt umgibt, und schließlich selbst Gott, nachdem man ihn in die Idee verbannt hat. Es sieht fast so aus, als ob die Krisis auf keine Reinigung des Ich, sondern im Gegenteil auf eine Verabsolutierung desselben hinauslaufen würde. Der Verdacht verstärkt sich, da Schelling gerade am neuralgischen Punkt des Übergangs von der negativen zur positiven Philosophie ankündigt, dass es ein Wille sein muss, „der das Signal zur Umkehrung und damit zur positiven Philosophie gibt“ (ibid.). Warum redet Schelling an diesem Höhepunkt der letzten Krisis vom Willen? Und wer ist vor allem das „Subjekt“ dieses Willens? Für die Beantwortung dieser Fragen ist es von Belang, die Entfaltung des Begriffs der Ekstase von den Erlanger Vorträgen zu der Berliner Philosophie zu verfolgen. Viele Unsicherheiten und Schwierigkeiten der Ekstase von Erlangen finden eine Lösung in der Perspektive der positiven Philosophie. Die Ekstase in der Berliner Philosophie erreicht ein Positives, welches nicht vom Subjekt gesetzt werden und Erstaunen erzeugen kann. Hier wird der Begriff der Ekstase durch den Begriff des Erstaunens im Anblick des Unvordenklichen beleuchtet, während sich Ekstase und Erstaunen in der Erlanger Zeit insofern noch in einem verwirrenden Kontext befinden, als sie in der Theorie des Nichtwissens, der Erinnerung, der noch als Magie und Können verstandenen ewigen Freiheit erstickt werden. Es sind all die Thesen, die in den alten Kontext der Philosophie der Anamnese gehören – in den Kontext, der in den Erlanger Vorträgen geradezu in eine Krise gerät,102 wenn man auch für die Überwindung derselben 102

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Ich folge hierbei nicht ganz der Unterscheidung, die Pareyson zwischen dem Erstaunen in Erlangen und dem in Berlin aufzeichnet. Wenn das Erstaunen von Erlangen noch mit einer Philosophie der Anamnese verbunden ist, so scheint mir nicht, dass es als ein Erstaunen betrachtet werden kann, dem der beunruhigende Schlag („scossa inquietante“) fehle, der erst mit dem Erstaunen aus der Berliner

bis zu den Münchner Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie warten muss. Dennoch, indem er anstelle des Begriffs der intellektuellen Anschauung den der Ekstase einführt, vollzieht Schelling bereits in Erlangen eine entscheidende Wende. Gerade weil Schelling selbst das Konzept der intellektuellen Anschauung nach 1821 aufgibt, ist es problematisch zu meinen, nach diesem Jahr kreise der Kontrast der Philosophie Schellings zu der Hegels um den Begriff der intellektuellen Anschauung. Bekannt ist die Position von Theunissen, der gerade im Begriff der intellektuellen Anschauung den Weg zur Aufhebung des Idealismus sieht.103 Meines Erachtens erreicht jedoch Schelling in Berlin durch die Perspektive der Ekstase nicht eine im Hegelschen Sinne begriffene „Aufhebung“ des Idealismus. Vielmehr findet ein Sich-außerhalb-des-Idealismus-Setzen, eine – in Schellings Worten – „Selbstaufgegebenheit“ des Idealismus statt, die sich auf das Konzept der „Freudigkeit der Existenz“ stützt. Wenn wir auf den von Schelling begangenen Weg zurückblicken, können wir feststellen, dass das Ich zunächst den Versuch unternimmt, einen unmittelbaren Zugang zur absoluten Freiheit in der Gegenwart zu finden, und zwar durch die intellektuelle Anschauung. Hier theoretisiert Schellings Philosophie naiverweise noch eine „unmittelbare Erkenntniß des Absoluten“ (Fernere Darstellungen, SW IV, 368), die durch die intellektuelle Anschauung in der Gegenwart stattfinden soll. Durch Hegels Kritik in der Einleitung der Phänomenologie des Geistes veranlasst, versucht Schelling dann die Unmittelbarkeit der intellektuellen Anschauung in der Gegenwart in eine Art von Erinnerung in der Vergangenheit umzuwandeln: Das Ich strebt nach einem Zugang zur absoluten Freiheit in der Vergangenheit, in einer ursprünglichen Erinnerung. In diesem Kontext bewegen sich auch die Weltalter, aber schon dieses unvollendete Werk zeigt, dass sich diese Lösung für Schelling selbst recht bald als unbefriedigend erweist. In den Erlanger Vorträgen wird Schelling nun dessen gewahr, dass das Problem nicht mehr dadurch gelöst werden kann, einen Zugang zur ewi-

103

Zeit (lat. stupor) zum Vorschein kommen solle (vgl. L. Pareyson, Ontologia della libertà. Il male e la sofferenza, Torino, 1995, S. 400f.). Pareyson zufolge – und zwar in Anlehnung an J.-F. Marquet (Liberté et existence. Etude sur le formation de la philosophie de Schelling, Paris 1973, S. 400) – sei dieser Übergang auf den Einfluss von Hamann zurückzuführen (vgl. Pareyson, a.a.O., S. 399). Dabei führt Pareyson eine Stelle von Schelling an, die allerdings aus dem Jahr 1812, also aus der Zeit vor den Erlanger Vorträgen, stammt: „Affekt des Philosophen kann das Erstaunen doch nur insofern heißen, als er leidenschaftlich sucht, das letzte absolut-Erstauenswerthe zu finden, bei welchem die Wissenschaft aufhört und das [...] Nichtwissen anfängt“ (F.W.J. Schellings Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen etc., SW VIII, 124f.). Vgl. M. Theunissen, Die Aufhebung des Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, in: Philosophisches Jahrbuch 68 (1976), S. 1–29.

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gen Freiheit – statt in der Gegenwart – in der Vergangenheit mit Hilfe der Anschauung zu suchen. Denn die ewige Freiheit existiert außerhalb des Bereichs der Ideen, auf die sich noch die intellektuelle Anschauung richtet. Man muss sich, in anderen Worten, eine ganz andere Frage stellen, also nicht mehr: wie man durch die Vermittlung der Vergangenheit – anstatt in der Unmittelbarkeit der Anschauung – eine Beziehung zur ewigen Freiheit finden kann, sondern vielmehr: wer das Subjekt dieser Beziehung ist. Mit dieser Frage, die mit der Einführung des Begriffs der Ekstase im Einklang steht, gehen die Erlanger Vorträge über die Philosophie der Anamnese hinaus. Schelling wird sich dessen bewusst, dass die Selbstaufgegebenheit des Egozentrismus die Voraussetzung für das Aufgehen der ewigen Freiheit ist. Daher wird der Begriff der intellektuellen Anschauung durch den der Ekstase ersetzt. Die Ekstase bedeutet, dass das Ego, welches das Zentrum usurpiert hat, außer sich selbst gesetzt werden muss. Nur indem es auf die Anmaßung verzichtet, Herr des Seins – um einen Ausdruck des späten Schelling zu benutzen – zu sein, bleibt das Zentrum offen für den wahren Herrn des Seins. Keine abstrakte Tat der intellektuellen Anschauung, sondern eine Änderung der Haltung des Subjekts und seiner Lebensweise kann die Umkehrung ermöglichen, die es dem Menschen erlaubt, den Zugang zur ewigen Freiheit wiederzufinden. „Nur in dieser Selbstaufgegebenheit kann ihm [dem Ich, G.C.] das absolute Subjekt aufgehen in der Selbstaufgegebenheit, wie wir sie auch in dem Erstaunen erblicken“ (Erlanger Vorträge, SW IX, 229). Leider ist der Text der Erlanger Vorträge leicht missverständlich. Ein einziges Zitat zeigt das hinlänglich: „Ich setze das absolute Subjekt durch mein Nichtwissen (in jener Ekstasis)“ (Erlanger Vorträge, SW IX, 233). Wenn mein Wissen – obschon als Nichtwissen – das absolute Subjekt setzt, so findet hier gleichsam ein Kurzschluss statt, denn das menschliche Wissen scheint ein sich selbst setzendes absolutes Wissen. Obwohl Schelling nun behauptet, dass das Nichtwissen das absolute Subjekt setzt, unterstreicht er bei genauerem Hinschauen, dass dies nicht sogleich bedeute, das absolute Subjekt sei vom „Ich“ gezeugt. Man könne zwar sagen, „es ist durch mein freies Denken gesetzt“ (Erlanger Vorträge, SW IX, 236). Dieses Gesetztsein sei aber nicht so zu missverstehen, „als ob das Denken voranginge und das absolute Subjekt setzte, sondern in einem und demselben Akt – in derselben Entscheidung – treten beide hervor“ (Erlanger Vorträge, SW IX, 237). In Wahrheit jedoch lässt diese Erklärung eine gewisse Unsicherheit Schellings durchblicken, statt die Lösung für das Problem zu liefern. Dieses durch das Nichtwissen erreichte Absolute erweist sich als ein irreführender Schritt der Erlanger Vorträge, mit dem sich Schelling in den darauf folgenden Schriften auseinandersetzt. In der Tat beschäftigt sich Schelling mit demselben Thema wieder in Berlin, welches allerdings zur Leitfrage

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der negativen Philosophie wird. So tritt z.B. das in den Erlanger Vorträgen erörterte Problem der Selbstaufgegebenheit in der Berliner Philosophie in der Beschreibung der letzten Krisis wieder auf, welche die kontemplative Wissenschaft kennzeichnet und den Höhepunkt der negativen Philosophie darstellt. Der Fehler in Erlangen besteht darin zu denken, dass dieser Weg des absoluten Subjekts durch das Nichtwissen das Problem ausreichend behandle und es erlaube, Gott als Freiheit zu erreichen, während der vom Nichtwissen ausgehend erreichte Gott in Erlangen noch einmal nur die Spinozianische Vorgeschichte der Gottheit, also der Gott als Notwendigkeit, ist und nicht mehr als der Gott im Begriff sein kann. Der Prozess, der von der Erlanger Ekstase zur Berliner Ekstase führt, entfaltet sich durch eine Reihe von wichtigen Zwischenstufen, die die allmähliche Selbstaufgegebenheit des Idealismus darstellen. Ich beschränke mich im Folgenden darauf, die meines Erachtens wichtigsten zusammenfassend zu erwähnen. 2.3.2 Abschied von der Philosophie des Seins und philosophischer Empirismus Der späte Schelling besteht zwar weiterhin darauf, dass es zwischen Sein und Denken eine Einheit gibt. In „dieser Einheit aber ist die Priorität nicht auf Seiten des Denkens; das Seyn ist das Erste, das Denken erst das Zweite oder Folgende“ (Abhandlung über die Quelle der ewigen Wahrheiten, SW XI, 587). Eine solche Anerkennung der Priorität des Seins über das Denken bleibt jedoch ungenügend, um die Aporie der Erlanger Vorträge zu überwinden. Man kann sie höchstens dazu nutzen, um den Abstand zu Hegel zu betonen. Zuvor muss ein viel konkreterer Schritt gemacht werden. Denn die Suche nach einer Einheit mit dem Denken wird erst dann sinnvoll, wenn die positive Philosophie sich rückwärts wendet und sich die Frage stellt, wie man den Gott, der Freiheit ist, in den Begriff, in das Wissen, zurückholen kann. Vorher muss jedoch noch der Gott erfahren werden, der Freiheit ist. Schelling wird aber allmählich dessen gewahr, dass dieser Gott gewiss nicht durch den Weg erreicht werden kann, der durch die Priorität des Seins über das Denken eröffnet wird. Denn der Gott, der Freiheit ist, ist nicht nur außerhalb des Begriffs, sondern ist vor allem dem Sein selbst vorangehend. Er ist Herr des Seins, indem er das Sein selbst durch Überredung zum Besten lenkt. Die Philosophie des Seins führt ins Nichts: „Die Philosophie vom Seyn anfangen, heißt sie geradezu auf den Kopf stellen, heißt sich verdammen, nun und nimmermehr zur Freiheit durchzudringen“ (Der Monotheismus, SW XII, 34). Denn, wie die Darstellung der reinrationalen

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Philosophie zum Ausdruck bringt, vertilgt das unpersönliche Sein die Freiheit und die Individualität, d.h. es vergisst und verwischt das, was für den Menschen das Wichtigste ist: die „Freudigkeit der Existenz“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 556). Die Philosophie des Seins gerät deswegen notwendigerweise in das, was man eine Philosophie der Freiheitsvergessenheit nennen könnte. Man muss also eine radikale Umkehrung vollziehen: „Am Seyn liegt nichts, das Seyn ist auf jeden Fall nur ein Accessorium, ein Hinzukommendes dessen, was Ist. Dieß wollen wir erkennen, und die Erkenntniß dessen, was Ist, eigentlich diejenige, welche in der Philosophie gesucht wird“ (Der Monotheismus, SW XII, 34). Anstelle des unpersönlichen Seins muss man das, was Ist, das Seiende,104 d.h. die Existenz, setzen, und dies ist es, was die Philosophie charakterisiert: „Wenn alle andern Wissenschaften [...] nur mit dem Seyn [...] sich beschäftigen, so unterscheidet sich die Philosophie eben dadurch von allen andern Wissenschaften, daß sie nach dem fragt: was Ist (nicht nach dem Seyn)“ (Der Monotheismus, SW XII, 34). Das Sein ist nicht das Letzte: „denn dieses [das Seyn, G.C.] ist vielmehr das Vordere der Sache, das, was unmittelbar in die Augen fällt, und was hierbei schon vorausgesetzt wird; denn wenn ich hinter eine Sache, z.B. ein Ereigniß, kommen will, so muß mir die Sache, hier also das Ereigniß, schon gegeben seyn. Hinter der Sache ist also nicht das Seyn“ (Begründung der positiven Philosophie, SW XIII, 75). Die positive Philosophie richtet sich nicht auf das Sein, sondern auf das, „was über dem Seyn (in diesem Sinn allerdings auch vor dem Seyn)“ (Begründung der positiven Philosophie, SW XIII, 151) ist. Das, was dem Sein vorhergeht, ist die Existenz. Deswegen geht die positive Philosophie „von der Existenz aus“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 563). Die Vernunft verstummt nicht im Anblick des Seins, sondern der „Existenz“. Sich die Frage nach der Existenz auf so radikale Weise stellen, heißt das Problem der Erfahrung neu denken, Metaphysik und Erfahrung wieder in Verbindung setzen, wobei die Metaphysik den empirischen Bereich zum Gegenstand hat, der nicht sinnlich ist wie die ästhetische Dimension, der Ausdruck eines Antlitzes und all die Phänomene, die man auf den Wahrnehmungshorizont der Person zurückführen kann – einen Horizont also, den man weder auf die biologische Relevanz der Empfindung reduzieren noch auf eine ideale und überirdische Welt projizieren kann. Indem Schelling, statt des allgemeinen Seins, die Existenz als Ausgangspunkt der Philosophie setzt, erkennt er den philosophischen Empirismus als Gegenstand der Philosophie an und überwindet damit den Horizont der trans104

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„Das Seyende muß allerdings zuerst Subjekt des Seyns – das was seyn kann –, insofern die Potenz des Seyns seyn, aber nicht die Potenz von etwas, das es noch nicht ist [...], sondern die Potenz dessen, was es schon Ist, was es unmittelbar und ohne Uebergang ist“ (Begründung der positiven Philosophie, SW XIII, 77).

zendentalen Ästhetik von Kant. Der philosophische Empirismus richtet sich auf den Erfahrungsbereich der Person. 2.3.3 Die Überwindung der Ontologie des Möglichen: die Wirklichkeit und ihr Schatten Der zweite Aspekt, der es Schelling erlaubt, über den Idealismus hinauszugehen, ist seine Auseinandersetzung mit der Ontologie des Möglichen. Schelling wendet sich intensiv der Frage nach der Freiheit zu, indem er das Verhältnis der Potenz zum Aktus umkehrt und somit die Ontologie des Möglichen überwindet.105 Nur durch die Umkehrung der überlieferten Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit ist es ihm möglich, einen radikalen Begriff der Existenz zu gewinnen. In diesem Zusammenhang sind die Überlegungen von Bergson – einem Denker, der sich bekanntlich von Schelling beeinflussen ließ – über die schöpferische Wirklichkeit aufschlussreich. Bergson behauptet, dass das Mögliche bloß eine Projektion des Schattens der Wirklichkeit ist, so dass ohne die Wirklichkeit auch ihr Schatten, d.h. das Mögliche, nicht existieren kann.106 Das Mögliche bleibt immer eine postume Konstruktion, welches immer eine Wirklichkeit voraussetzt, die ihm vorangeht. Die Projektion des Schattens erweckt den Eindruck, dass sich die Wirklichkeit nur innerhalb der Grenzen des Schattens bewegen könnte, dass die Entfaltung der Wirklichkeit innerhalb der Grenzen des Schattens bereits vorherbestimmt wäre. Es handelt sich aber nur um eine Täuschung. Die Verwirklichung von etwas, was im Voraus schon möglich gewesen wäre, ist eine Wiederholung. Eine Wirklichkeit, die sich innerhalb der Überlegenheit des Möglichen entwickelt, ist keine schöpferische Wirklichkeit, ist nicht einmal Erfahrung, da die Erfahrung, um authentisch zu sein, uns etwas Neues mitteilen muss. Die schöpferische Wirklichkeit ist das, was das Mögliche überrascht, während eine Wirklichkeit als reine Wiederholung bloß eine Wirklichkeit ohne Freiheit wäre. Das wichtigste Beispiel einer Wirklichkeit, die jede Erwartung übertrifft, ist gerade das Werden der Person.

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Zur Überwindung der Ontologie des Möglichen vgl. G. Cusinato, La Totalità incompiuta, a.a.O., S. 278–281. „Au fur et à mesure que la réalité se crée, imprévisible et neuve, son image se réfléchit derrière elle dans le passé indéfini; elle se trouve ainsi avoir été, de tout temps, possible; mais c’est à ce moment précis qu’elle commence à l'avoir toujours été, et voilà pourquoi je disais que sa possibilité, qui ne précède pas sa réalité, l'aura précédée une fois la réalité apparue. Le possible est donc le mirage du présent dans le passé“ (H. Bergson, Le possible et le réel, in: Oeuvres, Edition du Centenaire, Paris 1959, 1340).

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Schelling gründet die Ontologie der Person, indem er feststellt, dass im Sein der Person der Akt den Primat über das Mögliche hat.107 Diese These wird in ihrer radikalsten Bedeutung in der VIII. Vorlesung der Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie explizit gemacht, wo Schelling behauptet, dass eine „Wirklichkeit“ existiert, „die aller Möglichkeit vorausgeht“.108 Hier nimmt Schelling Bergson gewissermaßen vorweg, insofern dieser die Behauptung bestreitet, dass „la possibilité des choses précède leur existence. Elles seraient ainsi représentables par avance; elles pourrainent être pensées avant d’être réalisées. Mais c’est l’inverse qui est la vérité“.109 Nach Schelling gelingt es der Existenz nur dann, den Begriff zu übertreffen, wenn das Mögliche der Wirklichkeit nicht zuvorkommt, also nur wenn es möglich ist, einen Aktus zu denken, der der Potenz zuvorkommt. Hier in der Begründung der positiven Philosophie bekräftigt Schelling, dass die Vernunft nur mit dem quid – mit dem Wirklichen – und nicht mit der Existenz oder dem quod – mit der Wirklichkeit – zu tun hat, und ferner, dass das quod nicht deduzierbar, nicht im quid impliziert ist, d.h. kein Aktus-Werden dessen wäre, was bereits im quid als Potenz gewesen wäre. Das quod ist eine Potenz, die zugleich Aktus ist und deswegen nicht auf quid begründet ist. Die rationale Philosophie beschäftigt sich zwar nicht mit dem wirklich Existierenden, sondern nur mit dem Existierenkönnenden, nur mit dem Horizont der Möglichkeit. Gleichwohl ist das letzte Ergebnis der negativen Philosophie – welches als Übergang zur positiven Philosophie dient – eben die Überwindung (Transzendenz) dieses Horizontes durch die Reinigung der Potenz, d.h. durch die Umkehrung der Potenz in einen reinen Aktus. „Das letzte nun aber, was existieren kann, ist die Potenz, die nicht mehr Potenz, sondern [...] reiner Actus ist“ (Begründung der positiven Philosophie, SW XIII, 155). Und für eine solche Potenz, die reiner Aktus ist, muss ein umgekehrter Übergang 107

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Dieser Vorrang des schöpferischen Aktes vor der Potenz wird zur Grundlage der Ontologie der Person von Max Scheler (vgl. § 3.5.3) und seiner Theorie der ideae cum rebus (vgl. § 3.1.6). „Was einmal im bloßen Denken angefangen hat, kann auch nur im bloßen Denken fortgehen und nie weiter kommen als bis zur Idee. Was zur Wirklichkeit gelangen soll, muß auch gleich von der Wirklichkeit ausgehen, und zwar von der reinen Wirklichkeit, also von der Wirklichkeit, die aller Möglichkeit vorausgeht. Man könnte einwenden: eine aller Möglichkeit vorausgehende Wirklichkeit sey nicht zu denken. Dieß kann man im gewissen Sinn zugeben und sagen: eben darum sey sie der Anfang alles reellen Denkens – denn der Anfang des Denkens ist noch nicht selbst Denken. Eine Wirklichkeit, die der Möglichkeit zuvorkommt, ist allerdings auch eine Wirklichkeit, die dem Denken zuvorkommt“ (Begründung der positiven Philosophie, SW XIII, 162). H. Bergson, Le possible et le réel, in: Oeuvres (Edition du Centenaire), Paris 1959, 1339.

gelten: „die Potenz, welche nicht Potenz, sondern selbst Actus ist, [ist] nicht durch Uebergang a potentia ad actum [...]; wenn sie existiert, so kann sie nur a priori seyn, das Seyn zum prius haben; wir könnten sie deßhalb auch das umgekehrte Seynkönnende nennen, nämlich dasjenige Seynkönnende, in welchem die Potenz das posterius, der Actus das prius ist“ (Begründung der positiven Philosophie, SW XIII, 155f.). Der ontologische Status der Person besteht darin, ihren prius im Aktus und nicht in der Potenz zu haben. Gerade dieser Aktus, der sich nicht auf eine Potenz gründet, dieses dem Möglichen und somit dem Denken vorangehende Existierende, dieses Unvordenkliche ist das, womit die positive Philosophie zu tun hat, deren Aufgabe – denn sonst wäre sie Mystik und keine Philosophie – im umgekehrten Durchgang besteht, nämlich in einem unerschöpflichen Versuch, das Unvordenkliche ins Denkbare, ins Wissen zurückzuführen. 2.3.4 Herr des Seins und Ich als Usurpator Die Person als Aktus ist frei in dem Sinne, dass sie keine Verwirklichung einer Potenz ist. Das Vorbild dieser Freiheit des Aktus ist Gott selbst: „Der Satz: In Deo nil potentiale, sagt, daß Gott a priori nicht wie alles Andere Potenz, daß er a priori Actus ist“ (Begründung der positiven Philosophie, SW XIII, 160). Es gibt keine Potenz, die einen freien Aktus im Voraus bestimmen könnte. Gott als freier Aktus ist keine Folge einer Möglichkeit, welche von einem notwendigen Wesen im Voraus festgesetzt wäre. Er ist keine logische Konsequenz eines Grundes. Denn solange er als logische Konsequenz gedacht wird, bleibt er der Gott in der Idee. Gerade deswegen enthüllt sich ein solcher „Grund“ am Ende der letzten Krisis der Vernunft als das, was er in Wahrheit ist: kein Grund, sondern im Gegenteil ein Abgrund. Der Begriff des Abgrundes muss dabei auf radikale Weise gedacht werden. Gott erhebt sich aus dem Abgrund, er unterscheidet sich von demselben und legt die Grundlosigkeit desselben offen. Gott verhält sich zum Grund nicht wie die Verwirklichung zu der Möglichkeit, sondern er entlarvt ihn als Abgrund. In solcher Umkehrung ist es der Abgrund, der in Gott seinen Grund in dem Maße finden wird, als er zum Ort für die Verwirklichung Gottes als Herr des Seins in seiner zweiten Schöpfung wird. Im Gott, der im Begriff ist, ist der Herr des Seins nicht Gott, sondern nur die Möglichkeit, die zur Notwendigkeit des Grundes wird. Nunmehr aber unterwirft Gott den unwahren Grund, der sich das Zentrum anmaßte. Um selbst Herr zu werden, überführt Gott ihn aus dem Zustand des Herrn in den des Untergeordneten.

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Dieser kosmische Übergang findet auch im Menschen statt, und zwar durch die Ekstase der Vernunft. Es ist diese Umkehrung des Verhältnisses zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, die im Vergleich zu Schellings vorausgehendem Denken in Erlangen den neuen Kontext der Berliner Ekstase bestimmt. „Die Vernunftwissenschaft führt also wirklich über sich hinaus und treibt zur Umkehr; diese selbst aber kann doch nicht vom Denken ausgehen. Dazu bedarf es vielmehr eines praktischen Antriebs“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 565). In Berlin kehrt sich der Prozess der Reinigung – die Unterwerfung, das „Aufgeben der Selbstheit“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 556) – in keine dialektische doppelte Negation, kein Nichtwissen um, welches wie vorher in den Erlanger Vorträgen die ewige Freiheit setzen sollte, sondern entfaltet sich bis zur letzten Krisis, d.h. zu der Krisis, welche die Vernunft vor die Grenzen des Möglichen und der Idee stellt: Die „große, letzte und eigentliche Krisis besteht nun darin, daß Gott, das zuletzt Gefundene, aus der Idee ausgestoßen, die Vernunftwissenschaft selbst damit verlassen (verworfen) wird. Die negative Philosophie geht somit auf die Zerstörung der Idee (wie Kants Kritik eigentlich auf die Demüthigung der Vernunft) oder auf das Resultat, daß das wahrhaft Seyende erst das ist, was außer der Idee, nicht die Idee ist, sondern mehr ist als die Idee“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 566). In der Ekstase von Berlin wird die Vernunft angesichts des Positiven sprachlos, sie wird geschlagen, von Schwindel befallen, weil sie sich dessen bewusst wird, dass das Positive über der Idee und dem Möglichen steht: „Das bloß – das nur Existirende ist gerade das, wodurch alles, was vom Denken herkommen möchte, niedergeschlagen wird, das, vor dem das Denken verstummt, vor dem die Vernunft selbst sich beugt; denn das Denken hat eben nur mit der Möglichkeit, der Potenz zu thun; wo also diese ausgeschlossen ist, hat das Denken keine Gewalt“ (Begründung der positiven Philosophie, SW XIII, 161). Das Problem der Ekstase wird zu dem der Umkehrung des verkehrten Prinzips. Das „außer-sich-Seyn“ ist nicht zu verstehen als die Veräußerlichung oder die Ausdehnung des verkehrten Prinzips, welches den Menschen zur Herrschaft über die Welt führt, sondern als das Sichaußerhalb-dieses-Prinzips-Setzen. In der Tat ist dieses Prinzip in seiner Absolutheit „eigentlich das Creaturwidrige. Denn zur Creatur läßt sich alles nur an, inwiefern jenes Princip überwunden, ab actu ad potentiam, von dem außer-sich-Seyn in das an-sich-Seyn zurückgebracht wird“ (Philosophie der Offenbarung, SW XIII, 351). Dieses negative Prinzip, welches den Menschen dazu führt, sich selbst zum Absoluten zu machen, ist „das eigentliche Princip des Todes“ (Philosophie der Offenbarung, SW XIII, 351) und hat die Vernichtung von allem zur Folge: „der Mensch ist das Setzende der Welt, er ist es, der die Welt außer Gott, nicht bloß praeter,

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sondern extra Deum gesetzt hat; er kann diese Welt seine Welt nennen. Indem er, sich an die Stelle von Gott setzend, jenes Princip wieder erweckte, hat er die Welt außer Gott gesetzt, also zwar die Welt eigentlich an sich gerissen, aber diese Welt, die er an sich gerissen, ist die ihrer Herrlichkeit entkleidete, mit sich selbst zerfallene, die, von ihrer wahren Zukunft abgeschnitten, vergeblich ihr Ende sucht, und jene falsche, bloß scheinbare Zeit erzeugend, in trauriger Einförmigkeit nur immer sich selbst wiederholt“ (Philosophie der Offenbarung, SW XIII, 352). 2.3.5 Prometheus und die Eitelkeit des Daseins Gerade im entscheidenden Moment, in dem er den Übergang von der negativen zur positiven Philosophie darstellt,110 setzt sich Schelling erneut mit dem Problem des Willens auseinander. Was ist es denn nun, das „das Signal zur Umkehrung und damit zur positiven Philosophie“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 566) gibt? „Ein Wille muß es seyn, von dem die Ausstoßung A°’s aus der Vernunft, diese letzte Krisis der Vernunftwissenschaft, ausgeht, ein Wille, der mit innerer Nothwendigkeit verlangt, daß Gott nicht bloße Idee sey“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 565). Wie soll man diesen Willen auslegen, dem das Schicksal der letzten Krisis überlassen wird? Die dem Mythos des Prometheus gewidmeten Seiten in der XX. Vorlesung der Darstellung der reinrationalen Philosophie scheinen mir hinlänglich zu zeigen, dass nicht der Wille der Subjektmetaphysik die Wende zur positiven Philosophie vorantreiben kann.111 Der erste Versuch des neugeborenen Adam zielt zweifellos auf die Rückkehr in das irdische Paradies, und zwar durch eine Selbsterlösung, die sich auf die Entfaltung der Wissenschaft und Technik stützt. Diese Absicht ist jedoch Schelling zufolge zum Scheitern verurteilt. Die Welt ist die Folge eines Urwillens, welcher sich zum Menschen wie zu etwas Äußerem verhält und ihn an seinem Wollen hindert. Die Welt ist also etwas, das der Mensch durchdringen muss, um zu seinem freien Wollen zu gelangen. Wie kann aber der Mensch die Welt durchdringen und ihrer Herr werden? Wie kann der Mensch zum Herrn der Welt werden? Er 110

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„Die erste Wissenschaft [die negative Philosophie, G.C.] war in ihrem Ende auf etwas gekommen, das sich mit ihrer Methode nicht mehr erkennbar machen ließ; sie hatte sich damit erschöpft, und überliefert, was ihr als Unerkanntes und für sie Unerkennbares zuletzt stehen bleibt, als Aufgabe der zweiten Wissenschaft [der positiven Philosophie, G.C.]“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 564). Über den Mythos des Prometheus in der Darstellung der reinrationalen Philosophie siehe A. Franz, Philosophische Religion. Eine Auseinandersetzung mit den Grundlegungsproblemen der Spätphilosophie F.W.J. Schellings, Amsterdam 1992, S. 247f.

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kann es nur durch die Wissenschaft. Ursprünglich jedoch ist dem Menschen nicht die Wissenschaft eigen, sondern nur ein in sich blinder Wille. Es ist Prometheus, der dem Menschen dieses Mittel zur Herrschaft schenkt: „Von Prometheus kommt den Sterblichen jede Wissenschaft“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 485). Gerade deswegen ist aber ihr Wesen kein neutrales, sondern zielt darauf ab, die Welt zu beherrschen. Die Vernunftwissenschaft ist die Konsequenz eines dem Menschen angeborenen Willens zur Macht, mit dem es dank Prometheus dem Menschen gelungen ist, sich als Herr der Welt durchzusetzen und sie durch die Technik umzuwandeln. Indem er jedoch zum Herrn der Welt wird, ist er niemals fähig, Gott als Herr des Seins anzuerkennen. In der XXII. sowie XXIII. Vorlesung der Darstellung der reinrationalen Philosophie stellt er den Prozess dar, in dem der Mensch von den Ergebnissen seiner Werke enttäuscht wird. Er täuscht sich zunächst darin, das irdische Paradies zu schaffen, indem er durch die Wissenschaft und Technik eine künstliche Umwelt konstruiert. Er entdeckt aber, dass diese künstliche Umwelt – die Institutionen und der Staat – nicht ausreicht, um ihn glücklich zu machen und seinem Leben einen Sinn zu geben, weil sie die Verkörperung des Allgemeinen und des Unpersönlichen ist: „Auf dieser Unpersönlichkeit des Gesetzes beruht die Unvollkommenheit, die im Gesetz selbst ist“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 554, Anm. 3). Unverkennbar ist es ein entschieden antihegelianischer Schluss. „Hier nun aber kommt es völlig zu Tag, worein das Ich gerathen ist, indem es sich Gott entzogen hat. Von Gott getrennt, ist es unter dem Gesetz gefangen, als einer von Gott unterschiedenen Macht“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 554). Die Wissenschaft, welche Prometheus dem Menschen geschenkt hat – das Projekt der Modernität – kann den Menschen bei der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse entlasten, sie kann ihn zum Sieg im Kampf ums Überleben führen. Sie kann aber den Menschen nicht glücklich machen. Sie kann ihm höchstens die betäubende Täuschung geben, sich selbst erlösen zu können. Dem Projekt der Modernität bleibt verborgen, was für den Menschen das Wichtigste ist. Es kann wohl vorkommen, dass der Mensch, von der praktischen Vernunft geleitet, sogar „Gefallen am Gesetz“ findet. Aber gerade dann erkennt er, dass „das Gesetz ihm zum Tode gereicht, indem er es nicht erfüllen kann, weil es ihm an der Gesinnung fehlt, die das Gesetz nicht zu geben vermag. Das Gesetz ist unvermögend ihm ein Herz zu geben, das ihm (dem Gesetze) ‚gleich‘ ist, im Gegentheil es steigert der Sünde Kraft, und anstatt die Ungleichheit zwischen ihm und dem Menschen aufzuheben, bewirkt es, daß diese immer stärker und auf alle Weise hervortritt, so sehr, daß zuletzt alles sittliche Handeln als verwerflich, das ganze Leben als brüchig erscheint. Die freiwilligen Tugenden verschönern und veredeln zwar das Leben, aber im Grunde bleibt immer der Ernst des

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Gesetzes, welcher es zu keiner Freudigkeit der Existenz kommen läßt“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 555f.). Im Kampf gegen das Gesetz völlig niedergebeugt, fängt das Ich an, „das Nichts, den Unwerth seines ganzen Daseyns einzusehen“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 556). Doch eben hier, wo der Zweck des Gesetzes, die Negation des Ich, schon so gut wie erreicht ist, tritt ein Wendepunkt ein: „Für das Ich nämlich ist die Möglichkeit da, nicht zwar sich aufzuheben in seinem außergöttlichen und unheilvollen Zustande, aber doch sich als Wirkendes aufzugeben“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 556). Das Ergebnis des subjektiven Willens liegt in der Entdeckung, dass das prometheische Handeln ihn nicht frei macht. An diese Stelle tritt als einzige Lösung die Selbstaufgegebenheit des Ich, welche durch die drei berühmten Stufen vollzogen wird, nämlich durch Mystik, Kunst und kontemplative Wissenschaft, bis man zu dem kommt, was als die letzte Krisis und der Wendepunkt zur positiven Philosophie gilt. Schelling lehnt die Vorstellung ab, dass der subjektive Wille das Mittel zur Befreiung des Menschen sei, und sieht vielmehr in ihm das eigentliche Hindernis zur Freudigkeit der Existenz, die – im Gegensatz zu dem, was Kant meint – als Polarstern der Ethik glänzt. Das bedeutet keine philosophische Abwertung des Begriffs des Willens, sondern eine deutliche Umstellung seiner Relevanz. Schelling schreibt dem Willen eine zentrale Rolle nicht für die Ethik, sondern für die Theorie der Realität als Widerstand zu: „Was Etwas ist, muß widerstehen“ (Philosophie der Offenbarung, SW XIII, 206). Das, was widersteht, kann jedoch nur vom Willen und nicht vom Verstand erreicht werden. Hier nimmt Schelling Dilthey vorweg und setzt sich außerhalb des Idealismus, indem er eine neue Theorie der Realität vorschlägt. Diese Theorie der Realität bringt auch in Bezug auf das Konzept Gottes einige Folgen mit sich. Wenn der persönliche Gott wirklich ist, wenn Gott außerhalb der Idee ist, dann stellt sich die Frage nach Gott nicht ausgehend von einem kontemplativen Akt des Verstandes, sondern von einer Tat des Willens. Der Wille wird zum Schlüssel für den Zugang zur Individualität, und insofern ermöglicht er auch die Realität der Person. Wenn der Wille allein mit der Realität in Kontakt kommen kann, dann schließt die Frage nach einem wirklichen und individuellen Gott auch die Frage nach einem Willen ein, der sich offenbart, sowie nach einem Willen, der ihn sucht. Damit dürfte deutlich geworden sein, dass es sich dabei nicht um den Willen des Prometheus handeln kann, da dieser nicht zur Freudigkeit der Existenz, sondern nur zur Eitelkeit des Daseins führen kann.

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2.3.6 Die Persönlichkeit als Umkehrung des Unwillens Was ist nun der Weg, der zu diesem „neuen Willen“ führt, oder besser zu dieser Umkehr des Willens? Was ist ferner das „Subjekt“ dieses neuen Willens? Folgen wir einer zentralen Stelle in der XXIV. Vorlesung der Darstellung der reinrationalen Philosophie. Auf wenigen Seiten werden die Schritte dargestellt, die dazu führen, den Egozentrismus umzukehren und zu annullieren, um dem persönlichen Zentrum Raum zu verschaffen: a) „Es ist das Ich, welches wir verlassen haben in dem Moment, wo es dem beschaulichen Leben Abschied geben muß und die letzte Verzweiflung sich seiner bemächtigt“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 566). Die Verzweiflung des Ich rührt von seiner Einsicht her, dass das Ego kein Grund des menschlichen Seins, sondern bloß Abgrund darstellt. Die letzte Krisis verlegt das Ego als Usurpator außerhalb des Zentrums; b) erst jetzt erkennt der Mensch die Kluft, welche zwischen ihm und Gott sich auftut, erst jetzt erkennt er „wie allem sittlichen Handeln [...] das außer-Gott-Seyn zu Grunde liegt und es zweifelhaft macht, so daß keine Ruhe und kein Friede, ehe dieser Bruch versöhnt ist, und ihm mit keiner Seligkeit geholfen, als mit der, welche ihn zugleich erlöst“ (ibid.); c) der Mensch, in dieser Krisis verfangen, „verlangt [...] nun nach Gott selbst“ (ibid.). Er kann jedoch „sich nicht selbst den Beruf zuschreiben ihn zu gewinnen, Gott muss mit seiner Hülfe entgegenkommen“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 567). Das Ich verlangt nach Gott, aber es kann ihn nicht gewinnen, nicht einmal durch die Selbstaufgegebenheit des eigenen Willens, wie es noch in Erlangen gedacht wurde. Es ist Gott, der ihm entgegenkommen muss; d) der Gott, der auf diese Weise handelt, ist nicht Gott als causa finalis, sondern Gott als Herr des Seins;112 e) Schließlich der letzte Schritt: „Schon der Sinn des contemplativen Lebens war kein andrer, als über das Allgemeine zur Persönlichkeit durchzudringen. Denn Person sucht Person“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 566). Gott als Person kann nur gesucht werden von einer Person, während das Ich nur bis zu dem Gott gelangen kann, der in der Idee ist, d.h. dem Gott als causa finalis. Wenn wir diese Schritte im Ganzen betrachten, so ergibt sich daraus, dass die Überwindung des Ich zwar ein negatives Moment ist, welchem aber der Auftritt der Person folgt. Und dies geschieht parallel zum Übergang von der negativen zur positiven Philosophie. Man sollte dabei keineswegs Schellings Text aus der Perspektive Schopenhauers lesen. Die Ekstase nämlich mündet nicht ins Nichts, sondern sie ist das Sich-aus112

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„Ihn, Ihn will es haben, den Gott, der handelt, [...] kurz der der Herr des Seyns ist“ (Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI, 566).

dem-Ich-Setzen, um die Umkehrung nachzuahmen, die Gott selbst schon vollzogen hat. Sie ist das Sich-außerhalb-des-Egozentrismus-Setzen, um zur Freiheit des personalen Zentrums zu gelangen. Zustimmung findet man nicht bei Schopenhauer, sondern vielmehr bei Scheler: Die Ekstase, wie die Epoché des Ego, führt nicht zu einer Annullierung der Identität, sondern sie ist vielmehr Teil des Individuationsprozesses der personalen Identität. Der Sinn der Selbstaufgegebenheit des Ich besteht darin, sich selbst als Ego zu annullieren, nicht jedoch um in die Ohnmacht der Subjektivität zu fallen, sondern um sich als Person zu bilden. Während das Ego nach Gott verlangt, um ihn auf sich selbst zurückzuführen, ihn zu vergegenständlichen und somit zu vertilgen, reinigt die Person den eigenen Egozentrismus, so dass sie nicht nach Gott als Objekt verlangt, sondern vielmehr Gott als Person sucht. Bereits die Freiheitsschrift und die im Jahr 1815 gehaltene AkademieRede über Die Gottheiten von Samothrake legen nahe, dass Schelling dem Begriff des Willens mehrere Bedeutungen verleiht. Als solche sind zu nennen vor allem Begierde, Bedürfnis, Sehnsucht – all die Begriffe, die sich Schelling in seiner Überwindung des subjektiven Willens zu eigen macht. Unter ihnen aber steht insbesondere die Sehnsucht im Gegensatz zu dem, was man normalerweise unter Willen versteht. Sie bedeutet nicht mehr die Verstärkung der Intentionalität des Subjekts, die Suche nach der Selbstbehauptung, sondern im Gegenteil den Mangel oder den Wunsch, der sich nur verwirklichen kann, indem sie die Identität des Subjekts in eine Krise stürzt. Der Wille verwandelt sich in Sehnsucht und diese ihrerseits in Liebe. Der Wille, der das Signal gibt, ist also die Liebe.

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3 SCHELER: SELBSTTRANSZENDENZ UND WELTOFFENHEIT 3.1 Werdender Gott und Wiedergeburt der Person 3.1.1 Der Panentheismus und die Kritik am Theismus des nous poietikos Schelers Theorie des werdenden Gottes liegen mindestens drei Denkanregungen zugrunde: erstens die von Schelling – vor allem dem späten Schelling – in Angriff genommene Philosophie der Person, die Scheler vor 1921 nur oberflächlich kannte; zweitens das Marcion-Buch von Adolf von Harnack aus dem Jahr 1921; und drittens der postulatorische Atheismus der Verantwortung, wie ihn Nicolai Hartmann in seiner 1926 erschienenen Ethik dargelegt hat.113 Darüber hinaus verdienen die Seiten über Franziskus von Assisi, welche im Jahr 1922 der zweiten Auflage von Wesen und Formen der Sympathie hinzugefügt wurden, ein besonderes Interesse, da sich in ihnen das zeigt, was man als Durchbruch in die Wirklichkeit114 bezeichnen kann: In ihnen spiegelt sich die Wiederaufwertung der Natur sowie der Realität in Schelers Denken wider. Auf den genannten Seiten stellt Scheler Franziskus als lebendiges Beispiel der Durchdringung von dem Eros und der Agape dar, welches vom Standpunkt des Christentums aus ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Natur auszudrücken vermag. Franziskus verkörpert keinen homo faber, der über die Natur herrscht, sondern das neue Vorbild eines Menschen, der sich in ein solidarisches Verhältnis zur Sakralität der Natur setzt. Besonders bedeutsam scheint mir diese Feststellung, wenn man bedenkt, dass Scheler gerade ab 1923 eine große Begeisterung sowohl für das Marcion-Buch von Harnacks als auch für Schellings Freiheitsschrift äußert.115 Der späte Scheler sieht in der These der ursprünglichen Duplizität – oder der Natur in Gott, die Schelling emphatisch in seiner Freiheitsschrift aufstellte – eine Möglichkeit, den von Marcion vorgebrachten Gegensatz zwischen dem Gott des Alten und dem Gott des Neuen Testaments zu überwinden.116 113 114 115 116

Vgl. G. Cusinato, Scheler. Il Dio in divenire, Padova 2002, S. 117–137. Der Ausdruck stammt aus dem berühmten Buch von E. Rothacker, Schelers Durchbruch in die Wirklichkeit, Bonn 1949. Vgl. § 1.1 Schelling und Scheler. Nachweise dafür finden sich bei P. Wust, Schelers Lehre vom Menschen, in: Das Neue Reich, XI, 1928–1929, S. 138. Über diese Thematik vor allem bezüglich der Relevanz von Franziskus für Scheler siehe G. Cusinato, Scheler, a.a.O., S. 137–157.

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Die pars destruens der These des werdenden Gottes, insbesondere die Kritik am christlichen Theismus, scheint mir allerdings argumentativ schwächer. In Anlehnung an die von Eduard von Hartmann aufgestellten, durchaus problematischen Thesen hat Scheler nämlich einen sehr eng gefassten Begriff des christlichen Theismus, da er ihn mit der Denkrichtung identifiziert, die creatio ex nihilo anerkennt und creatio continua ablehnt. Dabei ist es für Scheler selbstverständlich, creatio ex nihilo und creatio continua als Gegensatz aufzufassen,117 was sich aber durchaus bestreiten lässt. Denn, wie Beierwaltes in seinem Werk Identität und Differenz zeigt, entstand die Lehre der creatio ex nihilo in einem bestimmten historischen Kontext, nämlich als es darauf ankam, dem Christentum eine eigene Begrifflichkeit zu verschaffen und es dadurch vom Platonismus abzugrenzen.118 Somit stellt creatio ex nihilo keinen Gegensatz zu creatio continua dar, sondern richtet sich als Begriff gegen den platonischen Demiurgen und die prote hyle, d.h. die materia prima. Aus diesem Grunde hatte nämlich bereits Augustinus behauptet, dass die fortwährende conservatio der Welt in der Zeit, zumindest aus menschlicher Perspektive, nach einer fortlaufenden Schöpfung verlange. Auch bei Thomas von Aquin werden creatio ex nihilo und creatio continua als miteinander verbunden gedacht, und nicht als Begriffe, die sich gegenseitig ausschließen. Was beabsichtigt dann Scheler mit seiner Kritik an der creatio ex nihilo wirklich? Was Scheler am Theismus bemängelt, ist die Lehre einer creatio, die sich nur auf die Idee eines männlichen, allmächtigen Geistes, also des nous poietikos, gründet.119 Dem nous poietikos setzt Scheler einen Geist entgegen, der nur durch die Zulassung, d.h. nur im passiven Sinne des non non fiat, tätig ist.120 Diese Zulassung birgt sicherlich eine weiblichere Dimension der Schöpfung Gottes in sich, eine Dimension, die Scheler zufolge in den abendländischen Gottesgedanken wieder aufgenommen werden soll: „Seit dem Untergang des Kultus der alten MutterErdgöttinnen ist der abendländische Gottesgedanke immer einseitiger männlich und logisch gefärbt worden. [...] Unsere bisherige Gottesidee ist [...] durchaus einseitig viril gefärbt“ (Ausgleich, GW IX, 48). Auf diese 117 118

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Siehe z.B. Die Formen des Wissens, GW IX, 115. W. Beierwaltes, Identität und Differenz, Frankfurt a.M. 1980, S. 95. Vgl. auch G. May, Schöpfung aus dem Nichts. Die Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo, Berlin 1978. Man kann jedoch feststellen, dass in Wahrheit das, was die christliche Tradition mit dem Begriff der creatio ex nihilo herauszustellen sucht, gerade das Fehlen der Voraussetzungen und Einschränkungen, mithin die absolute Freiheit des schöpferischen Akts Gottes ist. Anhand der These des „non non fiat“ schlägt Scheler einen Begriff der Schöpfung vor, der nicht darauf abzielt, gewissermaßen von außen etwas in Sein zu setzen, sondern vielmehr darauf, etwas von innen aufblühen zu lassen. Das heißt aber, dass das non non fiat gerade die zweite Schöpfung, und nicht die erste, charakterisiert.

Weise geht Scheler auf Distanz nicht so sehr zu unserem heutigen Konzept des Theismus, sondern zu einer gewissen Konzeption desselben, die in den katholischen Kreisen Deutschlands der zwanziger Jahre verbreitet war. Derselben nämlich setzt er einen „Panentheismus“ der Immanenz und Transzendenz Gottes entgegen, der das Verhältnis Gottes zur Natur von Grund auf neu denkt und eine ähnliche Richtung einschlägt wie die, die uns heute z.B. Moltmann durch seine ökologische Theologie weist. 3.1.2 Die creatio ex nihilo und der Mensch als imago Dei Die Unzufriedenheit Schelers mit dem Gedanken der creatio ex nihilo hat allerdings mehrere Gründe, über die es sich lohnt, Erwägungen anzustellen. Auch hier folgt Scheler dem späten Schelling, der feststellt, dass die Lehre von der creatio ex nihilo aus einem Missverständnis entstanden sei, denn „[alle] endlichen Wesen sind aus dem Nichtseyenden geschaffen, aber nicht aus dem Nichts“ (Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 436). Aus theologisch-philologischer Sicht betrachtet, bildet die Lehre von der creatio ex nihilo keine so positive Grundlage für das Christentum wie die von Gott als der Agape. Sie diente vielmehr in den Anfängen der monotheistischen Religionen dazu, diese vom manichäischen Dualismus sowie vom pantheistischen Monismus zu distanzieren und mithin sowohl die Dimension der Freiheit als auch die der vertikalen Transzendenz des Göttlichen zu bewahren. Sie spielte also eine wichtige Rolle beim Kampf gegen die götzendienerische Mentalität des „Goldenen Kalbs“, denn sie erinnerte den Menschen daran, dass man Gott nicht mit den eigenen Wünschen verwechseln darf. Im Verlauf der Geschichte endete jedoch diese Trennung Gottes von der Welt und der Natur damit, Gott mit der Allmacht des nous poietikos gleichzusetzen, woher die langwierige Problematik der Theodizee rührt. Wenn Gott allmächtig sein und aus dem Nichts schöpfen sollte, unde malum? Man kann überdies feststellen, dass es historisch eine partielle Übereinstimmung zwischen der akosmistischen Transzendenz, welche in der Lehre von der creatio ex nihilo impliziert ist, und dem Platonischen Gedanken des kosmos noetos gegeben hat. Wenn man nun die Ideen oberhalb des schöpferischen Aktes setzt, so geschieht die Schöpfung nicht mehr aus dem Nichts, sondern setzt eben die ideae ante res voraus und wird zu einer creatio ex idea.121 Im Mittelpunkt des Christentums steht nun aber keine creatio ex idea, sondern eine creatio ex amare.122 Nach der christlichen Lehre schöpft Gott die Welt ex nihilo, d.h. ohne sich auf etwas außerhalb seiner selbst zu beziehen, sondern aus121 122

G. Cusinato, Katharsis, a.a.O., S. 369. Scheler benutzt den Ausdruck creatio ex amore in Bezug auf Augustinus (vgl. Liebe und Erkenntnis GW VI, 95).

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schließlich aufgrund eines Überschusses des Liebens. Der agapeische Gott transzendiert sich selbst, tritt aus sich heraus, um etwas zu schöpfen, das anders als er ist. Dieser Akt der Selbsttranszendierung setzt aber einen Akt der Demut, einen Akt der Selbsteinschränkung, der Kenosis, voraus. Ein weiteres Problem, das die Lehre von der creatio ex nihilo am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts kennzeichnete, bestand darin, dass die christliche Theologie angesichts der Entfaltung der Evolutionstheorie die Vorstellung einer creatio originalis ex nihilo in den Vordergrund rückte, welche – als eine vollendete und vollkommene Schöpfung – ohne creatio continua auskommen sollte. Scheler setzt diesem Konzept der abgeschlossenen Schöpfung eine creatio continua des werdenden Gottes entgegen, also eine creatio mutabilis, um einen später von Moltmann verwendeten Ausdruck zu benutzen, d.i. eine Schöpfung, die noch nicht vollendet und noch nicht ans Ende gelangt ist. An dieser Stelle denkt Scheler nun über die Beziehung des Menschen zu Gott nach. Wenn der Mensch imago Dei ist, so muss doch die Umbildung des Menschen, d.h. der imago Dei in der Welt, für Gott selbst von irgendwelchem Belang sein. Der agapeische Gott ist, gerade weil er liebt, ein Gott, der nicht in der eigenen Vollkommenheit verschlossen bleibt. In manchen nicht für den Druck bestimmten Aufzeichnungen im Nachlass, die erlittene und unerlöste innerlichste Qualen erkennen lassen, bringt Scheler seine Unzufriedenheit mit einem der Welt fernstehenden Gott zum Ausdruck: „Nein, die Welt und der Mensch und seine Geschichte muß mehr sein als das ‚Schauspiel‘ und die Gerichtsdomäne für einen ewigen, absoluten, vollkommenen Gott. Sie [müssen] für das Schicksal der ewigen Substanz irgend etwas bedeuten“ (Nachlass, GW XII, 218). Aus der gleichen Blickrichtung gesteht Scheler heimlich ein „skandalöses“ Bild des Göttlichen: „Der in mir aktuelle und treibende Gott, Er flüstert mir ein ganz anderes zu: Nicht du – Adam – bist der Sünder, der die Welt in Verwirrung stürzte, auch nicht ein Luzifer, ein gefallener Engel. Sondern: Ich, der Grund der Dinge selbst und auch der dir innewohnende; Ich, ich könnte nicht anders als dich und die Welt so hervorzubringen, wie ihr seid. Ich selbst leide noch; ich werde noch; ich bin nicht vollkommen. Hilf darum du ‚Adam‘ mir, auf daß ich mich in dir und du durch mich in der Richtung ewiger Deitas, der ‚wesenden‘, deine Bestimmung einschließenden Gottheit verwirkliche“ (Nachlass, GW XII, 210). Auf Nietzsches Ausruf, Gott ist tot, erwidert Scheler mit dem Versuch, einen Gott zu konzipieren, der keine Vormundschaft über den Menschen übernimmt und sich nicht damit abgibt, dem Menschen Gewissheiten zu geben. Anstelle des allmächtigen Gottes tritt ein Gott hervor, der den Menschen dazu einlädt, solidarisch in der Weltoffenheit gemäß der Logik der höheren Werte fortzuschreiten.

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3.1.3 Die Aporien des werdenden Gottes In Schelers Reflexion vor allem über die Frage, was für ein Bild Gottes nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs noch möglich sei, kann man einen quälenden Versuch erkennen, Gott vor der unmittelbaren Verantwortung für das Böse in der Welt zu bewahren, wie der mehrmalige Gebrauch des Ausdrucks „nicht verantwortlich“ im folgenden Zitat bekundet: „Eine Substantia – die überpersönlich ist – ist nicht verantwortlich [...]. [...] Gott als Geist ist nicht verantwortlich für die Welt [...], da er nicht schafft, sondern nur die Welt ‚zuläßt‘. Die ‚Zulassung‘ als Enthaltung des non fiat ist nicht positive Verantwortlichkeit für das Sosein des Zugelassenen, nur für sein Dasein. [...] Hätte er aber nicht auch ihr Dasein vermeiden müssen, was er als Geist wohl konnte? Besonders, – wenn er ihr Sosein voraussah, z.B. den Weltkrieg 1914? [...] – hätte er nicht zögern müssen, sein ‚non non fiat‘ zu sprechen, wenn er Übel und Böses [...] an ihnen voraussah? Darauf ist zu sagen: 1. Gott sah nicht das Sosein der Weltgeschichte voraus. [...] 2. Gott ‚wusste‘ [...], daß sein Drang geistig wert-indifferent ist. [...] So wußte er auch die Möglichkeit seiner ‚Leiden‘“ (Nachlass, GW XI, 206). Deswegen weinte Gott „tief auf in seinem Herz, als er non non fiat sprach“ (Nachlass, GW XI, 206–207). Dieses tragische, komplexe Bild des Göttlichen findet seinen Ausdruck in der umstrittenen Lehre des werdenden Gottes. Auch wenn man zugibt, dass die Überlegungen zu diesem Thema nicht immer überzeugend sind, wäre es doch nicht richtig anzunehmen, der späte Scheler verneine Gott die Attribute der Transzendenz, der Persönlichkeit und der Macht. Bezüglich der Transzendenz behauptet Scheler ausdrücklich, dass das Werden Gottes unabhängig von der Zeit der Welt sei, so dass „Gott auch unabhängig von der Welt ein Werden enthält“ (Nachlass, GW XI, 205). Es ist „ein Werden zeitfreier Art“ (Nachlass, GW XI, 156), wobei „zeitfrei“ nicht außerhalb der Zeit überhaupt, sondern vielmehr außerhalb der „physikalischen“ oder messbaren Zeit bedeutet. Das Werden Gottes ist in der „absoluten Zeit“ (Idealismus-Realismus, GW IX, 289), welche nicht mit der Zeit der Welt übereinstimmt: Gott ist in der Welt nicht auf die Weise, wie die Welt selbst ist. Neben dem Deus revelatus existiert also auch ein Deus absconditus, ein transzendentes Ens a se, bei dem „die göttliche Substantia [...] der Welt nicht [bedarf], [um] zu sein“ (Nachlass, GW XI, 205). Der späte Scheler leugnet ferner keineswegs Gott als Person: Nur der Geist an sich ist unpersönlich. Genau besehen vertritt er die These, dass Gott nicht von Anfang an eine vollendete Person ist, eine These übrigens, die, wie im vorigen Teil erörtert, bereits in Schellings Freiheitsschrift zu finden ist. Wenn Gott das Leiden nicht verhindern kann – nicht einmal das Leiden und das Opfer eines einzigen Kindes, wie Iwan in den Brüdern

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Karamasow sagt123 –, so kann er keine allgütige und allmächtige Person von Anfang an sein. Aus Schelers Perspektive steht vor uns „der allweise, allgütige und allmächtige Gott des Theismus [...] am Ende des göttlichen Werdeprozesses, nicht am Anfang des Weltprozesses“ (Die Formen des Wissens, GW IX, 102). Es ist hierbei wichtig, eine Veränderung des Verhältnisses zwischen dem Begriff des Geistes und dem der Person bei Scheler zu berücksichtigen. Bis 1922 gelten beide Begriffe bei Scheler als miteinander austauschbar, zumal der Geist bis zu diesem Zeitpunkt von ihm als eine Entität gedacht wird, die die Fähigkeit einer selbständigen Tätigkeit besitzt. Nach 1924 kommt es jedoch zu einer Differenzierung: Der Geist wird als ohnmächtig betrachtet, während die Person zu einem Realzentrum wird, das mit Kraft versehen ist.124 Der neuralgische Punkt ist, dass nach 1924 die schöpferische Tätigkeit der Agape nicht in Bezug auf einen ohnmächtigen Geist erklärt werden kann, sondern nur in Bezug auf die Person. „Geist“ wird nämlich ein irreales Attribut, ohnmächtig und unpersönlich, welches nicht mehr mit der Person gleichgesetzt werden kann. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Übereinstimmung des Geistes mit der Person in Schelers mittlerer Phase zur Abflachung der Liebe zum Geist führt. Die Person ist nicht Geist und nicht einmal einfache Durchdringung von Geist und Drang, sondern die besondere durch das Lieben zustande gebrachte Durchdringung von Geist und Drang. Ohne Lieben würden Geist und Drang in einem abstrakten Dualismus verfangen bleiben. Die Person ihrerseits wird beim späten Scheler zum realen Kraftzentrum des Liebens. Durch die Unterscheidung zwischen Person und Geist vermeidet der späte Scheler auch die nihilistische Idee eines ohnmächtigen Gottes. Die Ohnmacht betrifft nur den Geist und nicht die Person, die sich nunmehr als ein reales, mit Macht versehenes Zentrum erweist. Die Auslegung, nach der Ohnmacht des Geistes zugleich Ohnmacht Gottes bedeuten 123

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Von Schelers Begeisterung für Die Brüder Karamasow zeugt D. von Hildebrand. Siehe J. Seifer, Max Schelers Denken über Frieden und Solidarität, in: C. Bermes, W. Henckmann, H. Leonardy (Hg.), Solidarität. Person und Soziale Welt, Würzburg 2006, S. 93. Zu dieser Entwicklung des Verhältnisses zwischen Geist und Person und zur Kritik an der dualistischen Interpretation vgl. G. Cusinato, La tesi dell’impotenza dello spirito e il problema del dualismo nell’ultimo Scheler, in: Verifiche 24 (1995), S. 65– 100. Gegen diese Interpretation ist oft ein Satz aus dem Werk Die Stellung des Menschen im Kosmos zitiert worden: „Nur ein solches Wesen [der Mensch] ist ‚Träger‘ des Geistes“ (Die Stellung, GW IX, 32). Bei der Herausgabe der italienischen Übersetzung habe ich aber bereits darauf hingewiesen, dass dieser Satz aus einer Änderung von Maria Scheler 1947 entstand. Im Originaltext – Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Otto Reichl, Darmstadt 1928, S. 48 – fehlt das Wort „nur“. Hierzu vgl. Max Scheler, La posizione dell’uomo nel cosmo, hg. v. G. Cusinato, Milano 2000, S. 62–67.

soll, erweist sich als nicht richtig, denn Gott als Person ist keineswegs ohnmächtig. Der späte Scheler nimmt keine Ohnmacht Gottes an, sondern stellt vielmehr eine bestimmte Vorstellung der Allmacht Gottes in Frage. Beim späten Scheler wird der Gott als reiner Geist – also der Gottesbegriff, der im Formalismus noch zu finden ist – zur Deitas ohne „positive schöpferische Macht“ (Die Stellung, GW IX, 55). Wenn der Gott des Formalismus noch als nous poietikos zu verstehen war, so kann jetzt Gott nur in der Welt wirken, indem er sich als Person verwirklicht: „‚Person‘ wird aber Gott als Geist nur im Laufe der Weltvollendung“ (Nachlass, GW XI, 210). Dies heißt für Scheler, dass sich Gott in der Welt nicht als allmächtig, sondern als Struktur der Weltoffenheit offenbart, die das Personwerden des Menschen fördert. Die Lehre der Allmacht Gottes zu kritisieren, bedeutete im Deutschland der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, sich außerhalb des traditionellen Theismus zu stellen. Im Laufe der Zeit hat sich jedoch einiges geändert. Es reicht wohl, an Dietrich Bonhoeffer oder Jürgen Moltmann zu erinnern, die ebenfalls darlegten, dass Gott in der Welt nicht unmittelbar durch die Allmacht wirkt. Die Theologie selbst hat anerkannt, wie problematisch der Begriff der Allmacht ist. Mit Sicherheit stimmt der Terminus „allmächtig“ weder mit dem im Alten Testament verwendeten El Shaddaj, der möglicherweise vom akkadischen Shaddu „Berg“ – im Sinne von Gott dem Höchsten – abstammt, noch mit dem griechischen pantocrator – Schöpfer oder Herr des All – überein, sondern mit dem Terminus omnipotens, durch den Hieronymus in der Vulgata die biblische Vorstellung Gottes wiederzugeben suchte. Omnipotens entspricht jedoch keineswegs pantocrator oder Gott dem Höchsten.125 Die Idee Gottes, der pantocrator und kein omnipotens ist, ermöglicht es, auf einen anderen der meist umstrittenen Aspekte in Schelers Denken ein neues Licht zu werfen, nämlich auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Den Satz, nach dem der Mensch „der uns allein bekannte ‚Ort‘ der Gottwerdung“ sei (Nachlass, GW XI, 217), kann man nämlich so auslegen, dass es auch andere Orte der Gottwerdung gibt, die uns unbekannt bleiben. Der Verdacht der Gleichsetzung von Gott und Mensch wird aber sogleich durch den Gebrauch von Begriffen wie „Selbstdeificatio“ erneut geweckt. Worauf es bei Scheler in Wirklichkeit ankommt, ist keine Gleichsetzung oder Selbsterlösung, sondern eigentlich eine Theorie des Erlösungswissens, der zufolge „unser Personkern an dem obersten Sein und Grund der Dinge selbst Teilhabe zu gewinnen sucht, respektive ihm solche Teilhabe durch den obersten Grund selbst zuteil wird“ (Die For125

Über den Begriff El Shaddaj vgl. auch C. Link, Theodizee – eine biblische Perspektive, in: P. Koslowski, F. Hermanni (Hg.), Der leidende Gott. Eine philosophische und theologische Kritik, München, 2001, S. 193–212.

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men des Wissens, GW IX, 114). Hier geht es nicht um die Selbsterlösung, da nur das Heilige, das die Weltoffenheit strukturiert, der Person eine solche Teilhabe erlaubt. Dies hat Scheler übrigens in der Abhandlung Mensch und Geschichte sehr gut unterstrichen, als er Nicolai Hartmanns „postulatorischen Atheismus“ kritisierte. Das Personwerden des Menschen ist nicht von einem prometheischen Willen des Subjekts bewegt, der sich selbst erlösen will. Vielmehr muss dieser Wille im Voraus in einem Akt der Demut entleert werden. Das Personwerden wird möglich erst durch das rezeptive Vermögen, sich zu öffnen, sich dem Durst nach der Vereinigung, nach der Teilhabe, zu ergeben – dem Durst, welcher dem wahren Akt des Liebens zugrunde liegt. „Bildung ist nicht ‚Sich-zum-Kunstwerkmachen-wollen‘, ist nicht selbstverliebtes Sichselbstintendieren [...]. Sie ist das gerade Gegenteil solchen gewollten Selbstgenusses, dessen Kulmination der ‚Dandysmus‘ ist“ (Die Formen des Wissens, GW IX, 104). Das Personwerden folgt aus einer Aktdeificatio, die sich als amare in Deo, cognoscere in lumine Dei ausdrückt, wie sie von Augustinus genannt wird. Dieser Zugang zur „Metaphysik des einen und absoluten Seins“ durch den Bildungsprozess des Menschen ist in der Tat der Kern der Frage. Im Vorwort zur dritten Auflage des Formalismus behauptet Scheler die grundsätzliche Unverträglichkeit zwischen seiner neuen Metaphysik und dem Theismus im herkömmlichen Wortsinne.126 Eine solche Metaphysik muss dennoch notwendigerweise durch die philosophische Anthropologie hindurchgehen. In der Philosophischen Weltanschauung – wo er die „transzendentale Schlußweise“ solcher Metaphysik darlegt – sagt Scheler deutlich: „Erst vom Wesensbilde des Menschen aus, das die ‚philosophische Anthropologie‘ erforscht, ist [...] ein Schluß zu ziehen auf die wahren Attribute des obersten Grundes aller Dinge“ (Philosophische Weltanschauung, GW IX, 82). Die „transzendentale Schlußweise“ fordert, dass die Metaphysik notwendigerweise durch die philosophische Anthropologie hindurchgehen muss. Im Zentrum dieser letzteren steht aber die These, dass sich die Personwerdung des Menschen nur dank des Vorbildes der zweiten Schöpfung vollziehen kann. Somit kehrt der späte Scheler durch seine philosophische Anthropologie der Bildung zu jenem Christentum zurück, von dem er sich gleichzeitig durch seine Metaphysik des ohnmächtigen Geistes immer mehr zu distanzieren sucht. Während die Grenze des von Scheler kritisierten Theismus darin bestand, die zweite Schöpfung durch die erste zu denken, entsteht das Problem bei Scheler daraus, dass er die der zweiten Schöpfung eigene Logik des non non fiat auf die erste Schöpfung erweitert.127 Von daher 126 127

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Siehe Formalismus, GW II, 17. Es ist nicht sehr deutlich, was Scheler meint, wenn er sagt: „Das Werden der Welt führen wir nicht auf ‚Schöpfung aus Nichts‘ zurück, wie der Theismus, sondern auf

rührt nun beim späten Scheler die Aporie zwischen einer Metaphysik, die darauf abzielt, über den „Theismus im herkömmlichen Wortsinne“ hinauszugehen, und einer philosophischen Anthropologie, welche nicht zuletzt durch ihre intensive Auseinandersetzung mit Augustinus erneut aus der Quelle des Christentums zu schöpfen sucht. Denn der einzige Zugang zu Gott in der Metaphysik des einen und absoluten Seins ist Scheler zufolge nicht „theoretische, d.h. vergegenständlichende Betrachtung“, wie in der alten von Kant kritisierten Metaphysik, sondern ist und bleibt die Bildung der menschlichen Person „in lumine Dei“, wie Augustinus darstellt.128 3.1.4 Vorbild und Solidarität Beim späten Scheler ist der Zugang zu Gott „persönlicher aktiver Einsatz des Menschen für Gott und für das Werden seiner Selbstverwirklichung“ (Philosophische Weltanschauung, GW IX, 83), aber diese Teilhabe am Göttlichen gibt es nur in der „echten Aktdeificatio“ (Die Formen des Wissens, GW IX, 104). Nur in dem amare in Deo, daher unabhängig von der Intentionalität des subjektiven Willens zur Selbsterlösung erfüllt sich das Personwerden: „nur wer sich verlieren will an eine edle Sache oder irgendeine Art echter Gemeinschaft – angstlos, was ihm dabei geschehe –, der wird sich, und das heißt sein echtes Selbst gewinnen, es gewinnen aus der Gottheit selbst heraus und der Kraft und der Reine ihres Atems“ (Die Formen des Wissens, GW IX, 104). An dieser Stelle unserer Untersuchung über das Verhältnis zwischen Gott und Mensch scheint mir wichtig, die Aufmerksamkeit auf den Begriff der Solidarität zu richten. Dabei geht es um einen Begriff, der beim späten Scheler erneut auftaucht und uns erlaubt, eine wichtige Verbindung zu der mittleren Phase seines Denkens herzustellen. In einer wichtigen Schrift der mittleren Phase, Absolutsphäre und Realsetzung der Gottesidee (1915–1916), spricht Scheler von einem „Prinzip der Solidarität überhaupt gerade in Hinsicht auf das Heil“ (Absolutsphäre, GW X, 235). Alle Selbstmitteilungen Gottes betreffen Scheler zufolge keine möglichen erkenntnistheoretischen Seinswahrheiten über Gott, sondern nur Heilswahrheiten. Deswegen ist das einzige Merkmal, das man dem sich in der Welt offenbarenden Göttlichen zuschreiben kann, seine Fähigkeit zu heilen. In anderen Worten, die Offenbarung des Göttlichen ist identisch mit dem Heilenden. Diese Heilswahrheit zeigt sich als ein Erleuchtungsakt,

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das ‚Non non fiat‘“ (Die Formen des Wissens, GW IX, 101). „Das Werden der Welt“ hat nichts mit der ersten Schöpfung zu tun – in diesem Fall hätte Scheler von dem „Ursprung der Welt“ sprechen müssen –, sondern mit der zweiten Schöpfung. Siehe Philosophische Weltanschauung, GW IX, 83.

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durch den jede Einzelperson ihre individuelle Berufung erfassen und die Kraft für ihre individuelle Erfüllung bekommen kann. Die Heilswahrheiten sind also nicht auf die Erkenntnis, sondern auf die konkrete Wiedergeburt und auf das Personwerden gerichtet. Alles Andere, was sich außerhalb der Heilswahrheiten stellt und sich somit als nicht funktional zum Wachsen und Werden der menschlichen Person erweist, ist nicht phänomenologisch nachweisbar und gehört, wie Pascal sagen würde, zur rationalen Theologie, die vom Gedanken des Deus absconditus endgültig widerlegt wird. Das Problem liegt darin, dass man gerade in Bezug auf die Kraft dieser Heilswahrheiten die „Allmacht“ Gottes völlig neu und anders denken muss: Die Heilswahrheiten setzen sich nicht mit der Befehlskraft, sondern vielmehr mit der Kraft des „Vorbildes“ und der Erleuchtung durch. In der Schrift Absolutsphäre beschreibt Scheler die „Selbstmitteilung“ Gottes als einen Strahl seiner All-Liebe, der jede Person als Aktzentrum treffe.129 Die Agape erleuchtet dem Menschen die Heilswahrheiten und fördert die zweite Schöpfung als Wiedergeburt der eigenen Person.130 Die Aufgabe Gottes besteht nicht darin, in die Weltvorgänge unmittelbar physisch und kausal einzugreifen, um sozusagen in Zeiten der Dürre Regen herbeizurufen, sondern darin, in der Seele des Menschen eine Umbildung zu fördern, also die Bekehrung des Bösen und die Wiedergeburt zu neuem Leben zu ermöglichen. Scheler behauptet sogar, der beste phänomenologische Nachweis der Existenz Gottes sei geradezu die Tatsache, dass Gewissensbisse und Reue existierten. Der späte Scheler entwickelt den Begriff der Solidarität durch den des Ausgleichs noch weiter.131 Nicht zufällig beobachtet er im Vortrag über den Ausgleich mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Franziskus: „Der Mensch muß wieder neu lernen, die große unsichtbare Solidarität aller Lebewesen untereinander im Alleben, aller Geister aber im ewigen Geiste, zugleich die Solidarität des Weltprozesses mit dem Werdeschicksal ihres obersten Grundes und dessen Solidarität mit dem Weltprozeß zu erfassen“ (Ausgleich, GW IX, 162). Die Solidarität, die sich in „Mitverantwortung“ verwandelt, rettet den Menschen vor der Todesangst: Der Mensch „selbst sei das Opfer für den Werdegang der Gottheit und sein Tod die Ernte und die Genesung der Gottheit an ihm. Wer liebt, stirbt leicht; wer genügend Welt in sich eingetrunken [hat] und sich [...] seiner Mitverant129 130

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Vgl. Absolutsphäre, GW X, 233. In Anlehnung an das Denken der deutschen Mystik spricht Scheler von einer „solidarischen Verflechtung des zeitfreien Werdeseins der Gottheit mit der [...] Welt als Geschichte“ (Die Formen des Wissens, GW IX, 102, Anm. 1). Die Umbildung des Menschen erfüllt sich in lumine Dei. Vgl. § 3.7.7. Siehe auch Nachlass, GW XI, 201, wo Scheler vom „Prinzip der Solidarität von Gott-Welt“ spricht.

wortung [bewußt ist], stirbt leicht!“ (Nachlass, GW XII, 340). Das Heil des Menschen besteht also in diesem Genügend-Welt-in-sich-eingetrunken-Haben, welches seinerseits davon abhängt, wieweit man das verdinglichte Ich, welches in seiner Faktizität sich selbst für selbstverständlich hält, transzendieren kann. Die Solidarität bildet sich in dem Akt der Selbsttranszendierung, durch den der Mensch frei – „offen zu aller Natur, offen zu aller Kultur, offen zu seiner eigenen Natur“ (Nachlass, GW XII, 340) – werden kann. In diesem Sinne werden das Heilige und der werdende Gott zur Struktur der Weltoffenheit, die sich in dem Sichoffenbaren jedes Selbsttranszendierens ausdrückt. „Die communistische (d.h. kosmo-theogonisch-solidaristische) Ordnung wird diese Angst vor dem Tod zerstören, das verdinglichte Ich erlösen, uns fühlen lassen, daß wir weiterleben in allem – in jeder Blume, jedem Käfer, jedem Wind und jeder Wolke –, weiterdenken in jedem Geist, der an unsere Gedanken anknüpfend weiterdenkt“ (Nachlass, GW XII, 340). 3.1.5 Der leidende Gott und der werdende Gott So wie Schelling entwickelt Scheler den Gedanken des werdenden Gottes als eine Antwort auf die Frage: unde malum?132 Einer der wichtigsten Schellingforscher, Horst Fuhrmans, hat dargelegt, dass Gott bei Schelling der agapeische Gott, der Gott der Liebe, und nicht der Gott der reinen theoria sein kann. Dieser würde Schelling wie ein toter Gott scheinen. Nach Schelling ist der agapeische Gott ein lebendiger Gott, und jedes Leben impliziert in sich selbst ein Werden: „Sein als ewig vollendetes Sein bedeutet für Schelling Starre; Werden allein Lebendigkeit“.133 Diese Kritik 132

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Die Relevanz des Zusammenhangs zwischen werdendem Gott und Theodizee bei Scheler wurde mit Recht unterstrichen von W. Schüßler, Solidarisch mit der Gottheit. Mensch, werdender Gott und das Problem des Übels beim späten Scheler, in: Phänomenologische Forschungen 3 (1998), S. 159–179. Seine Interpretation der Konzepte „zeitfrei“ (S. 168) sowie „Solidarität“ (S. 169) teile ich jedoch nicht. H. Fuhrmans, Schellings Philosophie der Weltalter, Düsseldorf 1954, S. 463. Der Gedanke des werdenden Gottes, bereits vorweggenommen in der Freiheitsschrift (Fuhrmans, a.a.O., S. 220–223), wird Fuhrmans zufolge in den Weltaltern deutlich zum Ausdruck gebracht, und zwar in einer mit dem christlichen Theismus verträglichen Perspektive. Fuhrmans fasst Schellings Gedanken des werdenden Gottes wie folgt zusammen: „indem Welt sich ändert, dieses ‚Gegenüber‘ Gottes, dieser Raum seiner explicatio, ändert sich gleichsam auch Gott, ja, er wird darin immer reicher und immer vollendeter. Und erst am Ende, wenn alles zu ihm zurückkehrt, dann ist Gott der ‚ganze‘ Gott, der vollkommene Gott. Gott und Welt sind so in wesenhaftem Bezug. Gott ist nicht weltlos und Welt ist nicht gottlos, sondern beide sind von Grund auf aufeinander bezogen. Gottes anfängliche ‚Unvollkommenheit‘ begründet Sein und Geschichte der Welt. Geschichte der Welt aber die Lebendigkeit Gottes [...]. Der Gott des Aristoteles, der Gott der reinen theoria schien ihm

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Schellings am toten Gott der Philosophen wird später nicht nur von Scheler, sondern auch von Jürgen Moltmann aufgegriffen. Moltmann jedoch rückt nicht den werdenden Gott in die Mitte seiner Überlegung, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf das Problem der Eschatologie und stößt auf eine wichtige Problematik: Der leidende Gott eröffnet die Möglichkeit einer Eschatologie, die nicht am Ende der Zeiten, am Ende der Geschichte, d.h. über der Welt, sondern in der Welt selbst situiert wird. Der Gott des Neuen Testaments, der Gott der Liebe, handelt nicht nur am Ende der Geschichte, sondern zeichnet eine Grenze zur alltäglichen Gegenwart und ermöglicht jenseits dieser Grenze die zweite Schöpfung, die sich für den Menschen jeden Augenblick als Heilsmöglichkeit öffnen kann. Auf diese Weise zeigt Moltmann, dass die Eschatologie nicht den letzten Tag der Geschichte, sondern den ersten Tag des neuen Menschen betrifft, der in jeder Wiedergeburt der Person aufgeht. Wie nun Moltmann darstellt, geschieht im Christentum die zweite Schöpfung durch die Ikone des leidenden Gottes. Der Gott des Christentums ist vor allem das Vorbild davon, wie man dem Leiden entgegentreten kann. Es ist das Leiden, welches das Werden zustande bringt. Ein werdender Gott, der nicht zugleich ein leidender wäre, droht, ein abstrakter Gott zu bleiben, der nicht zur zweiten Schöpfung gelangen kann. Gleichwohl kann der leidende Gott, der Gott der Inkarnation, nicht selbstreferentiell auf das Leiden selbst hinweisen. Das Bild des leidenden Gottes hat nur dann Sinn, wenn es eine Wiedergeburt der Person fördert, die ihrerseits über das Leiden selbst hinausgeht. Im Begriff der Wiedergeburt kehrt nun das Problem des Personwerdens zurück. Das, was im gekreuzigten Gott „nachgeahmt“ werden soll, ist nicht der Schmerz, sondern das Vermögen, im Anblick des Schmerzes wiedergeboren zu werden. Die Kardinalfrage scheint mir also nicht die Frage nach dem Leiden an sich zu sein, sondern die nach dem leidenden Gott, der sich in der Auferstehung als Vorbild der Wiedergeburt der Person darbietet und somit durch sein Werden den Weg zur zweiten Schöpfung bahnt. Mit dem Problem des Leidens als zentrales Moment des Christentums setzt sich Scheler 1923 in der Schrift Vom Sinn des Leidens auseinander. Hier untersucht er die verschiedenen Weisen, wie man mit dem Leiden umgehen kann. Während in der westlichen Kultur der Held das Leiden durch die äußerliche technische Aktivität aufhebt, versinkt der Held in der östlichen Kultur in eine innere Aktivität. Dies letztere ist so ein von Grund auf ‚toter‘ Gott, ein Gott zudem, den Welt nicht interessieret. Griechisches Denken hatte hier dem Sein den Primat gegeben – ein Primat, den Schelling mit dem ganzen Idealismus abgelehnt hat“ (H. Fuhrmans, a.a.O., S. 463). Es ist bemerkenswert, wie diese Ansicht Schellings überraschende Analogien zu der von Scheler zwischen 1923 und 1928 elaborierten These des werdenden Gottes enthält.

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besonders deutlich der Fall beim Buddhismus. Gleichwohl handelt es sich dabei in Schelers Augen um einen Unterschied, der nur die Mittel, nicht aber den Zweck betrifft, der für beide in der Aufhebung des Leidens besteht: „Alles und jedes Leiden ist gleich schlecht und soll aufgehoben werden. Nur der Weg zu diesem Willensziel ist bei Buddha der genau entgegengesetzte wie im führenden Ethos des Abendlandes“ (Vom Sinn des Leidens, GW VI, 57). Scheler zufolge stellt uns das Christentum eine andere Art des Umgangs mit dem Leiden in Aussicht. Der Christ entwickelt weder eine äußerliche noch eine innerliche Kunst, um den Schmerz zu betäuben oder zu beseitigen, er verzichtet darauf, „kraft eigener Vernunft und ichzentrierten Wollens dem Leide hedonisch zu entfliehen“ (Vom Sinn des Leidens, GW VI, 71). Vielmehr nimmt er die Wirklichkeit des Leidens schlichtweg hin. Indem sich „seine Seele durch Christus hindurch der Kraft Gottes auftut [...], kehrt die zentrale Seligkeit gnadenartig in ihn ein, die ihn selig jedes Leid als Kreuzessinnbild tragen läßt“ (Vom Sinn des Leidens, GW VI, 71f.). Durch das Kreuzessinnbild erhält das Leiden im Christentum einen neuen Sinn, fordert es doch zu den Übungen der Reinigung durch die Transzendierung des Selbst auf. Für Scheler bedeutet der leidende Gott von Anfang an den erlösenden Gott, der dank seiner Vorbildfunktion für diese Übungen die Person zur Wiedergeburt führt. Die Erlösung betrifft nicht direkt die Befreiung vom Leiden – auch wenn diese immer eine zentrale Frage nicht zuletzt für die Medizin darstellt –, sondern vielmehr die Übung der Verwandlung des Leidens in die Wiedergeburt der Person. 3.1.6 Die Theorie der ideae cum rebus134 In der Schrift Ordo amoris war für Scheler „die Liebe dynamisch ein Werden, Wachsen, Aufquellen der Dinge in die Richtung des Urbildes, das in Gott von ihnen gesetzt ist“ (Ordo amoris, GW X, 355). In diesen Zeilen liegt noch latent die Spannung zwischen dem neuen Begriff des schöpferischen und dynamischen Liebens und der von Augustinus stammenden These, der zufolge die Liebe ein Urbild in Gott voraussetzt, noch latent. Als diese Spannung allmählich ans Licht tritt, wird Scheler gezwungen, sich mit Augustinus auseinanderzusetzen: „Die ältere, seit Augustinus herrschende Ideenphilosophie hatte ‚ideae ante res‘ angenommen, eine ‚Vorsehung‘ und einen Plan der Weltschöpfung schon vor dem Wirklichsein der Welt. Aber die Ideen sind nicht ‚vor‘, nicht ‚in‘ und nicht ‚nach‘ den Dingen, sondern ‚mit‘ ihnen“ (Die Stellung, GW IX, 40). Nach Scheler beruht die „Ideenlehre der platonisch-aristotelisch-christlich theisti134

Über die Theorie der ideae cum rebus vgl. G. Cusinato, Katharsis, a.a.O., S. 325– 336.

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schen Philosophie“ auf allen Irrtümern des antiken Idealismus, wie z.B. dem Bestehen eines geschichtslosen Kosmos, dem nous poietikos, den ideae ante res und der Vorsehung. Die Ideen und Werte sind obendrein noch ante res nicht nur für den Menschen, sondern auch für die Gottheit selbst: „Alle Ideen in Deo sind zeitlich [...]. Vor dem Weltprozeß gab es keine Ideen und nach ihm gibt es keine“ (Nachlass, GW XI, 208). In der mittleren Phase seines Denkens besteht Scheler noch auf der Unterscheidung zwischen einer dynamischen Ebene der Geschichte einerseits und einer statischen Ebene der idealen Wesen andererseits. Die vom Historismus aufgeworfenen Fragen werden dabei durch den Perspektivismus gelöst: Die verschiedenen Formen der Gotteserkenntnis entsprechen jeweils den Perspektiven der verschiedenen Kulturen und historischen Epochen zu Gott hin, aber Gott selbst bleibt in sich unverändert. Dieses Schema bricht beim späten Scheler zusammen: „Auch der Geist des Ens a se ist nicht ‚Subjekt‘ einer statischen oder gar ewigen Ideenwelt, die im Weltprozesse immer ‚dieselbe‘ bliebe und die der menschliche Geist nur nachzubilden hätte“ (Nachlass, GW XI, 260). Auf diese Weise dehnt Scheler den Funktionalisierungsprozess ontologisch auf Gott selbst aus – auch der göttliche Geist wächst135 – und bahnt der Lehre des werdenden Gottes den Weg. Es ist ein entscheidender Schritt gegen die Metaphysik der ideae ante res: „Sie leugnet eine ontische Ideen-bewegung und sie meint alle Ideenbewegung verlegen zu können nur in die Geschichte des menschlichen Bewußtseins, das an einer ‚ewigen Ideenordnung‘ vorbeifließt. Es gibt aber keine ideae ante res, keinen Weltplan, unabhängig und vor dem Weltwerden – unabhängig von der Geschichte, die die Welt ist“ (Nachlass, GW XI, 260). Der Gedanke der Ohnmacht des Geistes verändert endgültig den Begriff der Schöpfung. Während in der mittleren Phase Gott als reiner Geist, als nous poietikos, dargestellt wird, geht der Schöpfungsakt beim späten Scheler notwendigerweise durch die Liebe hindurch. Indem die Vorstellung eines nous poietikos abgelehnt wird, wird auch die Existenz einer der Weltschöpfung vorangehenden „statischen oder gar ewigen Ideenwelt“ verneint (Nachlass, GW XI, 260). Die „schöpferische Gewalt, aus der alle Bilder und Dinge dieser Welt stammen“, ist nicht der Geist, sondern der Drang (Nachlass, GW XII, 37). Der ohnmächtige Geist ist nur „das passive Vermögen, Ideen, Urphänomene, Werte, Zwecke hervorzubringen; sowie der Drang das aktive Vermögen ist, Reales und Bild zu setzen“ (Nachlass, GW XI, 189). Die vom Geist hervorgebrachte Idee hat nunmehr eine bloß negative Funktion. Sie ist der Ausdruck des non non fiat, der den von der Drangphantasie aktiv gesetzten Bildern eine Grenze zu ziehen vermag. Die Idee existiert nicht vor dem Werden der Welt, son135

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Vgl. Nachlass, GW XI, 261.

dern nur cum res. Sie ist nur ein Entwurf, der auf das Werden der Welt in dem Maße einwirkt, in dem sie das von der Drangphantasie gesetzte Bild durchdringt. Die Ideen werden hervorgebracht „nur für Leitung und Lenkung des Weltprozesses – nicht, um in sich selbst da zu sein und [zu] glänzen“ (Nachlass, GW XI, 260). Der Perspektivismus der mittleren Phase läuft auch Gefahr, in die Abbildungstheorie zurückzufallen: Kein einziges Ethos oder kein einziges Individuum war dazu fähig, eine vollkommene Widerspiegelung des kosmos noetos zu erreichen, und mithin bedürfen die Geschichte und die menschliche Erkenntnis eines ständigen Zuwachsprozesses. Der späte Scheler geht direkt auf das Problem ein und behauptet, dass die Erkenntnis keine Abbildung und die Geschichte keine Teleologie sei, weil es keine ideae ante res gebe, die es widerzuspiegeln oder denen es zu folgen gälte.136 Wenn es ideae ante res gäbe, wäre die Schöpfung keine poiesis, sondern nur eine Wiederholung. Darum, bemerkt Scheler, „erübrigt es sich aber auch, Ideen schon ‚vor‘ und unabhängig vom Werden der realen Welt für bestehend, seiend oder ‚gültig‘ zu halten. Sie werden ‚mit‘ dem Werden der Dinge – ontisch – und nicht vor ihnen. Wie das endliche Sein überhaupt in jedem Augenblick – der absoluten Zeit – hervorgeht aus dem Ens a se, so er-stehen auch in jedem Augenblick aus dem ideenschaffenden Geiste diejenigen Ideenstrukturen – und infolge dessen auch diejenigen einzelnen Ideen –, die zur Leitung der Welt in diesem Augenblick notwendig sind“ (Nachlass, GW XI, 228). Die phänomenologische Erkenntnis ist darum nicht als eine Widerspiegelung der Realität, sondern als ein Akt der Teilhabe (méthexis) zu verstehen. Das aber, woran man teilnimmt, verschiebt sich ständig in der creatio continua nach vorne hin. Es handelt sich nicht darum, ein Objekt vorzufinden, das unabhängig von unserem Akt wäre, sondern darum, an dem Sichgeben des Phänomens teilzuhaben. Darum „ist auch unser Mitvollzug dieser Akte nicht ein bloßes Auffinden [...], sondern ein wahres Mithervorbringen, ein Miterzeugen“ (Die Stellung, GW IX, 40). Auch wenn das menschliche Erkenntnisvermögen imstande wäre, eine vollkommene Korrespondenz zu erreichen, würde inzwischen die ontologische Ebene schon einen Schritt weiter sein. Es handelt sich nicht nur um einen hermeneutischen, sondern auch um einen ontologischen Prozess. Scheler hält es für unrichtig zu denken, dass man allein wegen der Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens keine Antwort auf die große Frage nach dem Sinn der Existenz geben könne: „Ihr irrt, wenn Ihr glaubt, das große Fragezeichen = ?????? [sic!], das für ‚Euch‘ [...] das Universum, sein Sinn, Euer Sinn ist – sei nur Eure subjektive ‚Frage‘ und es gäbe darauf Antwort – unabhängig von Eurer Entscheidung! Nein: die 136

Dieser Prozess ist nicht als teleologisch, sondern als „teleoklin“ zu verstehen.

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Frag-würdigkeit ist ein Grundcharakter des Da-seins selbst“ (Nachlass, GW XIII, 158). Das bedeutet, dass „die Unfähigkeit der menschlichen Erkenntnis [...] keineswegs nur auf subjektiven Gründen [beruht]; sie beruht vielmehr auf der Unfertigkeit, dem Werdecharakter des Seienden selbst“ (Nachlass, GW XI, 261). Zu meinen, die Zukunft sei unvorhersehbar allein wegen der Grenzen der menschlichen Erkenntnis und ihrer Rechenfähigkeit, wäre damit gleichbedeutend, sich die Existenz des Menschen als Vollzug eines Algorithmus vorzustellen, der eine besonders komplexe Gleichung zu lösen sucht. Die Entwicklung der schöpferischen Realität bliebe indessen auch für eine unbegrenzte Rechenfähigkeit unvorhersehbar. Die Geschichte offenbart sich mithin als ein offener Prozess, der durch keine Vorsehung vollständig erfasst werden kann. Warum ist Scheler zur Kritik der Metaphysik des nous poietikos vorgedrungen? Mit der These der ideae cum rebus bekennt er ausdrücklich, sich auf den Paradigmenwechsel zu berufen, der am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts durch die Quantenphysik vollzogen wurde und der Vorhersagbarkeit präzise Grenzen gezogen hat. Ein wahrer Schöpfungsakt kann sich nicht auf den Horizont der Möglichkeiten beschränken, von dem er ausginge, wie es beim mathematischen Modell eines Algorithmus der Fall ist, sondern schließt die Fähigkeit ein, die am Anfang vorhandenen Voraussetzungen selbst in Frage zu stellen und schöpferisch neu zu programmieren.137 In derselben Richtung hat Morin eine Unterscheidung zwischen „Programm“ und „Strategie“ vorgeschlagen: Das Programm ist ein vorherbestimmter Vorgang und hat mit einer aprioristischen Logik zu tun, während die Strategie ein offener Prozess ist, der durch das Erlernen von eigenen Fehlern retroaktiv das eigene Programm zu erneuern und die Ziele zu ändern vermag.138 Diesen Gedanken findet man zumindest ansatzweise in Schelers Theorie der ideae cum rebus. Der schöpferische Prozess reproduziert weder die ideae ante res oder das kosmos noetos noch ein vorherbestimmtes Modell oder Programm, sondern braucht Ideen und Vorschläge als Versuche und Entwürfe, die unverzüglich aufzubauen sind und deren Bedeutung im Prozess selbst, cum rebus, bestimmt wird, je nach ihrem Vermögen, den Prozess zu funktionalisieren. „Von Teleologie und Plan ist gar keine Rede“ (Nachlass, GW XI, 211). Die Schöpfung wird auf diese Weise zu einem selbst für Gott unvorhersehbaren Prozess.

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Auf diese Weise macht sich Scheler die Perspektive einer Überwindung der Ontologie des Möglichen zu eigen, wie schon vor ihm Schelling und Bergson. Siehe § 2.3.3. Vgl. M. Morin, La méthode. III. La connaissance de la connaissance, Paris 1986.

3.1.7 Werdender Gott und Funktionalisierung des Personwerdens Der Begriff der Funktionalisierung139 kommt zuerst in der Schrift Ordo amoris und dann in der Abhandlung Vom Ewigen vor, als Scheler das „Wachstum der Gotteserkenntnis“ thematisiert. Bereits in diesen Schriften hebt Scheler ontologische Aspekte der Funktionalisierung hervor: „indem Wesenseinsichten sich [...] ‚funktionalisieren‘, findet eine Art wahren Wachstums des menschlichen Geistes statt“ (Vom Ewigen, GW V, 198). Durch die Funktionalisierung vollzieht sich nicht nur ein erkenntnistheoretischer Akt, sondern auch ein wirklicher Prozess, da „der menschliche Geist [...] nicht nur in seinen Kenntnissen, sondern auch in seinen Funktionen und Kräften“ (Vom Ewigen, GW V, 200) wächst. Es ist, in anderen Worten, der Ordo amoris selbst, d.h. das principium individuationis des Menschen, der sich durch die Funktionalisierung umbildet und wächst. Dies bringt für den Begriff des Menschen selbst entscheidende Folgen mit sich. Wenn der Mensch nicht nur erkenntnismäßig, sondern auch ontologisch wächst, dann ist er „an keinem Punkte der Geschichte [...] vollständig, vielmehr immer nur unvollständig“ (Vom Ewigen, GW V, 200). Der Mensch, der vom biologischen Standpunkt aus die „fixierteste Tierart“ ist, zeigt sich im Personsein unvollständig. Es gibt aber noch ein weiteres Konzept, welches bei der Untersuchung der Funktionalisierung nicht außer Acht gelassen werden darf, nämlich den Begriff des Wissens.140 In der Schrift Die Wissensformen und die Gesellschaft von 1924 wird die Funktionalisierung zu einer der Hauptkategorien der Wissenssoziologie. Gerade diese Funktionalisierung des Wissens ist das, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Die menschliche Gesellschaft ist eine „Wissensgesellschaft“. In ihr waltet eine strukturelle Verbindung zwischen den Formen der Wissensüberlieferung und

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Über den Begriff der Funktionalisierung vgl. W. Henckmann, Schelers Lehre vom Apriori, in: W. Baumgartner (Hg.), Gewissen und Gewissheiten, 1987 Würzburg, S. 117–140. Henckmann neigt dazu, den Begriff der Funktionalisierung auf ein selbständiges Wachstum des Geistes im Bereich der idealen Wesenseinsichten einzugrenzen. Meiner Meinung nach kann dieser Begriff beim späten Scheler nicht auf die Dynamik eines ohnmächtigen Geistes eingeschränkt werden, sondern erstreckt sich sogar über das Werden des Menschen hinaus, um das Werden des All-Lebens selbst einzuschließen: „Auch das Alleben ist werdende und wachsende Selbstfunktionalisierung“ (Erkenntnis und Arbeit, GW VIII, 361). Vgl. hierzu G. Cusinato, L’oggetto della Filosofia in Max Scheler fra Funktionalisierung e Ausgleich, in: R. Racinaro (Hg.), L’oggetto della storia della Filosofia, Napoli 1998, S. 331. Über den Zusammenhang von Funktionalisierung und Wissen siehe vor allem E.W. Orth, Schelers Konzeption der Wissensformen und ihre Bedeutung für das Selbstverständnis des Menschen, in: G. Cusinato (Hg.), Max Scheler, Milano 2007, S. 101–122.

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denen der sozialen Organisation, so dass sich die menschliche Gesellschaft nur durch die Funktionalisierung des Wissens entwickelt.141 Darüber hinaus findet man in der Lehre des Wissens ein wichtiges Indiz für die Kontinuität der späten Phase mit der mittleren Phase der Philosophie Schelers. Wenn Scheler in Erkenntnis und Arbeit schreiben kann: „alles Wissen ist in letzter Linie von der Gottheit und für die Gottheit“ (Erkenntnis und Arbeit, GW VIII, 211), oder wenn er daraufhin in der Philosophischen Anschauung vom Heilswissen spricht, führt dies zum Begriff der Heilswahrheiten zurück, der in der mittleren Phase verwendet wurde. Die Gotteserkenntnis offenbart sich gemäß der mittleren Phase Schelers durch Heilswahrheiten, die sich dem Menschen in der Gestalt des Vorbildes zeigen und einen Bildungsprozess der Person ermöglichen. Da jedoch die Gotteserkenntnis unbegrenzt ist, stellt sich auch der Bildungsprozess als unendlich heraus, und der Mensch entdeckt sich als unvollkommenes Wesen. Nach der ontologischen Auslegung, die der späte Scheler liefert, ist das Wissen ein Seinsverhältnis, das sein Ziel in einem Anderswerden hat (Philosophische Weltanschauung, GW IX, 113). Daher rührt es, dass der erlösende Gott der Gott ist, der die Person zu heilen vermag, indem er dem Bildungswissen die Heilswahrheiten als Vorbild des Anderswerdens zeigt. Das Werden Gottes stellt sich als das Vorbild für das Werden der freien Person dar und verleiht damit dem Bildungsprozess der menschlichen Person einen Charakter der Unerschöpflichkeit. Ohne dieses Vorbild würden das menschliche Wissen und die Kultur unvermeidlich in eine reduktionistische Perspektive zurückfallen und der Mensch selbst anthropologisch auf den selbstreferentiellen homo faber nivelliert. Der Mensch würde zu einem Wesen, das zwar imstande ist, eine künstliche Umwelt aufzubauen, aber nicht seine Person durch eine Wiedergeburt zu bilden. Der Akt der Wiedergeburt durch Selbsttranszendierung, der den Menschen ontologisch auszeichnet, ist gerade durch den unbegrenzten Charakter des Erlösungswissens möglich, welchem seinerseits das freie Vorbild des werdenden Gottes, und nicht der statische kosmos noetos, zugrunde liegt.

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Vgl. G. Cusinato, La Totalità incompiuta, a.a.O., S. 155–158.

3.2 Die Augen des Eros 3.2.1 Über das Verhältnis zwischen dem Eros und der Agape Der Metaphysik von Scheler gelingt es nicht, den Vorrang der Liebe vor der Interaktion zwischen Geist und Drang anzuerkennen. Gewiss spricht Scheler von der Agape als „Quelle des Geistes“, aber auf derselben Seite definiert er sie auch als „Grundakt des Geistes“ (Nachlass, GW XII, 235). Wenn nun die Agape der Grundakt des Geistes sein sollte, so setzte sie den Geist voraus und könnte nicht seine Quelle sein. Über diesen Punkt äußert sich Schelling präziser, indem er sagt: „Denn auch der Geist ist noch nicht das Höchste [...]. Die Liebe aber ist das Höchste“ (Freiheitsschrift, VII, 405f.). In der Metaphysik von Scheler bewegen sich Geist und Drang letztendlich selbstreferentiell auf einer allzu abstrakten Ebene. Nicht diese Perspektive möchte ich jedoch hier weiterentwickeln. Mein Interesse gilt viel eher der Kernfrage, um die sich Schelers These vom werdenden Gott dreht, und das ist die Frage nach dem Akt des Liebens. Der Akt des Liebens bleibt allerdings auch in der philosophischen Anthropologie von zentraler Bedeutung, wo der Mensch, noch bevor er zum ens cogitans wird, als ens amans bestimmt wird. Das Lieben liegt einer Reduktion zugrunde, die die Tatsache zeigt, dass ich nur insofern existiere, als ich die Grenzen meines Egozentrismus transzendiere. Das Lieben stellt gerade die Sprengung dieser Grenzen dar. Die Andersheit, das Antlitz des Anderen – wovon auch Levinas spricht – begründet eine Ethik nicht durch den Verweis auf das Sollen, sondern nur dadurch, dass sie den Menschen zum schöpferischen Akt des Liebens inspiriert. Die Grundstimmung des Liebens – nicht die der Angst – ermöglicht die Ethik. Denn nur das Lieben kann den Menschen der Eitelkeit des eigenen Egoismus entreißen und der Person Freiräume für ihren neuen Anfang gewähren. Schelers Phänomenologie des Liebens verweist auf mehrere Begriffe, unter denen der der Agape und der des Eros von besonderer Bedeutung sind. Es handelt sich um zwei Bewegungen in ein und demselben Prozess. Die Liebe ist nicht nur das Bedürfnis nach größerer Perfektion (der Eros), sie ist aber auch nicht allein die Hingabe des Vollkommeneren an das weniger Vollkommene (die Agape). Viel radikaler ist die Liebe die Quelle beider.142 Hier im Folgenden berücksichtige ich vor allem das Verhältnis 142

Im Panorama der aktuellen Philosophie ist es Marion, der diese Perspektive auf originelle Weise entwickelt hat. Siehe J.-L. Marion, Le phénomène erotique, Paris 2003. Gelungen scheint mir auch Marions Idee, den Erotismus wieder vollständig aufzuwerten, indem er ihn in der Tat mit dem Begriff einer vollen Liebe gleichsetzt. Für eine Konfrontation zwischen Scheler und Marion siehe M. Gabel, Hingegebener Blick und Selbstgegebenheit, in: M. Gabel, H. Joas (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe, München 2007, 192–209.

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zwischen dem Eros und der Agape, während der Zusammenhang der Liebe mit dem Akt der Selbsttranszendierung in den nächsten Kapiteln eingehender zu behandeln sein wird.143 Es war Nygren, der in seinem berühmten Buch Eros und Agape auf die Bedeutung der Untersuchungen Schelers über den Begriff der Agape hingewiesen hat.144 Für Scheler erlangt aber nicht nur dieser christliche Begriff große Bedeutung, sondern auch die Erostheorie Platons. Scheler zielt – im Unterschied zu Nygren – darauf ab, die Agape und den Eros konvergieren zu lassen. Der Eros wirkt, indem er einen Raum für die Wirkung der Agape eröffnet, und die Agape wirkt aufgrund der Kraft, welche der Eros verfügbar macht. Die zentrale Bedeutung der Tätigkeit der Agape im Eros für die philosophische Anthropologie Schelers ist bisher verborgen geblieben, weil sie aus den von Scheler selbst publizierten Texten nicht so deutlich hervorgeht. So erscheint z.B. in seinem wohl berühmtesten Werk Die Stellung des Menschen im Kosmos der Erosbegriff nur ein einziges Mal. Eine Interpretation der philosophischen Anthropologie Schelers sollte sich jedoch nicht mit der Betrachtung dieses Textes begnügen. Scheler selbst schreibt ausdrücklich in der Einleitung desselben, dass er sich hier auf einen Teil seines Projektes beschränken musste, und lädt den Leser dazu ein, diese Schrift durch die Themen, die er bereits in anderen Werken dargestellt hat, zu ergänzen: Ressentiment, Hass und Liebe, Vorbild und Ausgleich.145 Die Lage ändert sich sehr, wenn wir Schelers Nachlass mit in Betracht ziehen. Dazu gehören zwei Hefte, die dem Problem der philosophischen Anthropologie gewidmet sind.146 In diesen Manuskripten erscheinen – neben den erwähnten Themen – auch andere wichtige Begriffe wie Allmensch – eng verknüpft mit dem des Ausgleichs –, Freiheit, Agape und Eros. Ein erheblicher Teil dieser Hefte setzt sich mit Freud und Nietzsche auseinander. Es ist ein besonderes Verdienst von Manfred Frings, mehrere Seiten aus diesen Heften im Band XII der Gesammelten Werke zugänglich gemacht zu haben. Insbesondere diejenigen Passagen scheinen mir von Bedeutung, die das Problem des Eros betreffen.147 Aus dem Nachlass geht deutlich hervor, dass der zentrale Gedanke in Schelers philosophischer Anthropologie nicht in der Korrelation Geist-Drang, sondern vielmehr in dem Problemkomplex: Person, 143 144 145 146 147

Vgl. § 3.3.9; § 3.3.10; § 3.5.3. A. Nygren, Eros und Agape, Gütersloh 1930. Zur Kritik an Nygren vgl. J. Pieper, Lieben, Hoffen, Glauben, Kösel 1986. Vgl. Die Stellung, GW IX, 9f. Sie sind in Schelers Nachlass in der Staatsbibliothek München unter der Signatur „ANA 315, BI, 2“ und „ANA 315, BI, 17“ zu finden. Vgl. Nachlass, GW XII, 232–238.

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Bildung, Vorbild, Eros und Agape zu suchen ist. Grundsätzlich ist das, was die Person kennzeichnet, nicht die Intelligenz oder ein reiner Akt des Geistes, sondern die erotisch-agapeische Logik: Was dem Tier fehlt, ist ein authentisches erotisches Verhalten, während „Agape [...] etwas [ist], wozu das Tier auch nicht die geringste Disposition besitzt“ (Nachlass, GW XII, 235). Die Analysen über das Verhältnis zwischen dem Eros und der Agape erlauben uns zudem noch, die dualistische Interpretation zu überwinden, die in Bezug auf Schelers Spätschriften bisher vorherrschend war.148 Nur durch das Wirken des Eros und der Agape kann man den abstrakten Dualismus von Geist und Drang überwinden. Für Schelers Philosophie nach 1924 wäre es genauso wenig richtig, den Eros mit einer selbständigen Tätigkeit des Dranges gleichzusetzen,149 wie die Agape für einen Akt eines ohnmächtigen Geistes zu halten. Der Eros und die Agape wirken zwar zusammen, sie sind aber von verschiedener Natur, denn der Eros ist die höchste Funktion,150 während die Agape der Grundakt ist. Nach Scheler erreichen Funktionen – auch die höchsten – nur das psychische Selbst und nicht die Person. Überdies ist der Eros keine beliebige Funktion unter vielen, sondern die Funktion, die die Aufgabe hat, sich mit dem agapeischen Akt zu verbinden und der Agape einen Spielraum zu geben. Den Eros hält Scheler für ein „Energie-Reservoir“ der tätigen Person: „Der kraftlose Geist entnimmt seine Energie nicht unmittelbar der Triebsphäre, wie es Freud behauptet. Zwischen Triebenergie und Geist liegt im Menschen ein mittleres Energie-Reservoir, und dieses ist der Eros“ (Nachlass, GW XII, 235). Die agapeische Tätigkeit drückt sich gerade in dieser Leitung und Lenkung der Energieströmung auf die personalen Werte hin aus. Der Eros unterscheidet sich deswegen von der Libido, dem Instinkt und dem Trieb. Er ist zunächst Rettung aus der Gefahr „der ordnungslos gewordenen Triebimpulse im instinktgehemmten Trieb“ (Nachlass, GW XII, 234). Nach Scheler steht der Eros jedoch nur am Anfang des menschlichen Bewusstseins. Über die Erkenntnisstufe des Eros hinaus gibt es eine Wesenserkenntnis, die von der Agape geprägt ist. Was bedeutet nun für Scheler die Agape? Scheler ließ sich wohl sehr von den Worten des Evangelisten Johannes beeindrucken, denen zufolge Gott die Agape ist. Die Agape gilt Scheler als das ursprünglichste Konzept: Gott schöpft die Welt infolge eines agapeischen Überschusses und diese ursprüngliche Schöp148 149

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Zur Kritik an der dualistischen Interpretation vgl. § 3.1.3. Die Tätigkeit des Eros impliziert eine Orientierung, die durch die Agape strukturiert werden kann. „Eros ist der sehend gewordene Drang“ (Nachlass, GW XII, 236). Der Eros ist eine von „den höchsten psychischen Funktionen“ (Nachlass, GW XII, 232).

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fung setzt sich in creatio continua überall fort, wo eine sittliche Persongemeinschaft anwesend ist. Wenn man sich an jene Stelle erinnert: „wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“ (Matthäus, 18, 20), so kann man verstehen, warum Scheler der Person151 und der Persongemeinschaft eine so wichtige Rolle zuschreibt: Die schöpferische Kraft der Agape offenbart sich durch die Gemeinschaften der Personen. Die agapeischen Gemeinschaften werden zu dynamischen Zentren der göttlichen Immanenz. Hier wird der panentheistische Sinn der Position Schelers deutlich: Über Deus absconditus hinaus gibt es einen immanenten Gott, der in der Welt als agapeische Bewegung wirkt und die Struktur der Weltoffenheit ermöglicht. 3.2.2 Aufwertung der Natur – von Marcion zu Franziskus von Assisi Nun sind diese Verweise auf das Neue Testament noch nicht hinreichend, um Schelers Begriff der Agape zu klären. Scheler bestimmt die Agape wie folgt: „Agape ist Welt- und Ens a se Bejahung alles Seins, auch des Wirklichseins mit Einschluß von Leiden am Widerstand des Realen“ (Nachlass, GW XII, 235). Bemerkenswert an dieser Definition der Agape ist die Bejahung der Welt in all ihren Aspekten. Hier überwindet Scheler den Begriff des Menschen, der sich am Gottesbegriff als Herrn der Welt orientiert, um selbst zum Herrn der Welt zu werden. Wenn die Agape die „Bejahung der Welt“ ist, dann kann die Suche nach dem Heil nicht allein in akosmistischer Liebe Gottes geschehen, sondern setzt Achtung vor dem Wert der Welt, Sorge für die Natur und brüderliche Liebe zu allen als Mit-Kreaturen vollkommen anerkannten Lebewesen voraus. Der unmittelbare Bezugspunkt dieses Gedankens ist aber nicht das Neue Testament. Woran denkt Scheler dabei? Im Christentum gibt es eine Richtung, die die Agape und den Eros als einander entgegengesetzte Begriffe denkt – eine Richtung, die in der Angst die Grundstimmung des Menschen gegenüber der Welt erkennt. Diese Bewegung hat historisch eine ihrer Hauptquellen bei Marcion.152 Die wesentliche Aufgabe für Mar151

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Das Verhältnis zwischen Liebe und Person ist in zwei Arbeiten – aus unterschiedlichen Perspektiven – untersucht worden: A.R. Luther, Persons in Love, The Hague 1972; H. Leonardy, Liebe und Person, Den Haag 1976. Schelers Verhältnis zu Marcion ist vielschichtig. Meines Erachtens möchte Scheler durch seinen Anschluss an Franziskus von Assisi Marcions Stellung zur Welt umkehren. An einer Stelle im noch unveröffentlichten Nachlass sagt Scheler ausdrücklich: „das negative moralische Urteil Marcions über die Welt ist falsch“ (Nachlass, ANA 315, CA IX, 37). Schelers Bild von Marcion ist bekanntlich vom berühmten Werk Harnacks (A. Harnack, Marcion – das Evangelium vom fremden

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cion besteht darin, den Prozess, der zum Ende der Welt führt, zu beschleunigen, und zwar durch die Hemmung jeder Lebenskraft. Nur so könne der Mensch die Erlösung erreichen. Marcion geht so weit zu behaupten, dass der sexuelle Akt gerade dann zu verurteilen ist, wenn dieser bewusst auf die Zeugung gerichtet ist. Bei Marcion erreicht die Abwertung der Schöpfung, der Lebenskraft, der Natur und der Zeugung ihren Höhepunkt.153 In den achtziger Jahren hat Taubes diesen Gedanken eschatologisch gedeutet: „Der Gedanke zu Ende gedacht heißt ja: die Welt auszuhungern, indem ihr der Same entzogen wird. Es ist eine das Weltende praktizierende oder exekutierende Kirche“.154 Nach Taubes bleibe dieses nihilistische Ziel im Christentum latent, zumal der gnostische Zug selbst bei Paulus bereits angelegt sei. Zwar habe Marcion die Theologie des Paulus einseitig gelesen und er habe ihn nicht verstanden. Er habe ihn aber auch nicht gänzlich missverstanden. Eigentlich sei Marcion nur formell von den Kirchenvätern widerlegt worden und in Wahrheit sei sein Einfluss innerhalb des Christentums relevant geblieben. Trotz einer gewissen Überzeugungskraft fehlt jedoch der Überlegung von Taubes eine wichtige Figur: Franziskus von Assisi. Vermutlich sind die Seiten, die Scheler 1923 Franziskus gewidmet hat, als Versuch einer Überwindung der nihilistischen Richtung des Christentums zu werten. Im Sympathiebuch führt Scheler eine latente Gefahr in der Theologie des Paulus vor Augen: „Indem sich der Mensch aus der Natur [...] energisch herausfühlt, um alle die so freiwerdenden Gesamtkräfte einig zu sammeln in den durch spontane akosmistische Liebe zu Jesus Christus seit Paulus geleiteten Aktus der Einsfühlung in Christus [...], wird nun erst ‚Natur‘ [...] prinzipiell ein in Vertotung begriffenes Herrschaftsobjekt für den geistigen Willen des Menschen – zuerst in Leibesaskese, später in immer fortschreitender materieller Naturbeherrschung durch die Technik. Die Materialisierung (Vertotung) der Natur und die Vergeistigung und Emporschnellung des Menschen [...] ist ein und desselben Prozesses gemeinsame Frucht“ (Sympathiebuch, GW VII, 94f.). Der Mensch werde zur imago Dei erhoben und die Natur sei geschaffen worden, um dem Menschen zur Verfügung zu stehen. Nicht nur Gott, sondern auch der Mensch, weil er Ebenbild Gottes ist, habe den Anspruch, schrankenlos über die Natur zu herrschen. Eine solche Annäherung des Menschen an Gott findet außerdem gerade durch die „praktische Intelligenz“ statt. Dabei wird die Natur nicht mehr auf die Weltoffenheit hin erfahren, sondern in den Dienst der Technik gestellt. Der einzige Wert, der der Natur zuerkannt wird, ist der Wert ihrer Nützlichkeit für den Menschen.

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Gott, Leipzig 1921) geprägt worden. Über Scheler und Marcion vgl. G. Cusinato, Scheler, a.a.O., Padova 2002. Vgl. Harnack, a.a.O., S. 145. J. Taubes, Die Politische Theologie des Paulus, München 1993, S. 82.

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Durch die einseitige Verabsolutierung der akosmistischen Liebe finde „eine ungeheure Entlebendigung und Entseelung der gesamten Natur statt zugunsten einer mächtigen Emporschnellung des Menschen [...] über die ‚Natur‘, die alle Einsfühlung in die Natur auf Jahrhunderte hinaus – ja bis zur franziskanischen Bewegung, in der das Bruderschaftsverhältnis des Menschen zu Pflanze, Tier, Wind, Wolke wieder kurz zu erwachen beginnt, – als ‚heidnisch‘ brandmarkt“ (Sympathiebuch, GW VII, 94). Die Gefahr, der die Theologie des Paulus ausgesetzt ist, besteht in einer gänzlichen Ent-Göttlichung der Natur, in der Verneinung jedweder Heiligkeit der Natur – in dem Gedanken, dass nicht die Natur, sondern der Mensch allein Würde und Rechte besitze, die Natur hingegen wertlos sei. Scheler bemerkt: „Nur der Mensch ist hier des Menschen ‚Bruder‘, nicht aber die ‚Naturgebilde‘“ (Sympathiebuch, GW VII, 95). Es ist Franziskus von Assisi, der Scheler zufolge das Christentum vor den potentiellen Gefahren eines einseitigen Konzeptes der akosmistischen Liebe in der paulinischen Theologie gerettet hat: „Es war aber das Werk eines der größten Seelen- und Geistesbildner der europäischen Menschengeschichte, den denkwürdigen Versuch zu machen, die akosmistische [...] Liebesmystik des Allerbarmens, die das Christentum herbeigeführt hat und mit der Jesusliebe zur Einheit verschmolz, mit dem kosmovitalen Einsgefühl mit dem Sein und Leben der Natur zur Einheit und zur Synthese in einen Lebensprozess zu bringen. Dies war die sehr seltene Tat des Heiligen von Assisi“ (Sympathiebuch, GW VII, 97). Für Scheler verkörpert Franziskus den wichtigsten Versuch der Überwindung des Dualismus zwischen Agape und Eros,155 zwischen „akosmistischer Personliebe“ und „kosmovitalem Einsgefühl“, oder zwischen „Verlebendigung des Geistes“ und „Vergeistigung des Lebens“.156 Während die Verabsolutierung der Einsfühlung zum Pantheismus oder zum Naturalismus führt, neigt eine einseitige akosmistische Personliebe dazu, die Natur als dem Menschen zur Verfügung stehendes Objekt zu betrachten. Wichtig ist für Scheler, beide Extreme zu vermeiden.157 Die einseitige Einsfühlung 155

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„Letzte Wurzel aller Einsfühlung ist und bleibt der Eros“ (Sympathiebuch, GW VII, 102). Im Eros verwirklicht sich die Einsfühlung gerade mit jener Lebenskraft, die Marcion bekämpfen wollte. Denn der Eros ist „Mitzeugungsdrang – nämlich ‚mit‘ dem Alleben, mit dessen metaphysischer Einheit wir uns im gegenseitigen Verschmelzungserlebnis einsfühlen“ (Sympathiebuch, GW VII, 133). „Es handelt sich um eine einzigartige Bewegung von ‚Eros‘ und ‚Agape‘ [...] in einer urtümlich heiligen und genialischen Seele – und schließlich um eine Art so restloser Durchdringung beider, die das größte und erhabenste Beispiel gleichzeitiger ‚Vergeistigung des Lebens‘ und ‚Verlebendigung des Geistes‘ darstellt, das mir bekannt geworden ist“ (Sympathiebuch, GW VII, 103). „Es handelt sich hier ebensowenig um ‚Sublimierung‘ [...] eines Gefühles erotischer Provenienz zu gesteigerter christlicher Bruderliebe [...]; es handelt sich aber ebensowenig um bloße Expansion einer autogenen akosmistischen christlichen [...] Per-

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mit der Natur, welche zum Pantheismus führen würde, wird bei Scheler durch das agapeische Moment ausgeglichen. Die agapeische Teilnahme an der Natur hat mit den verschiedenen Formen von vitaler Verschmelzung, Hypnose und Einsfühlung nichts zu tun, denn sie vollzieht sich nicht mehr auf dem Niveau der Triebstruktur, sondern auf dem des Personzentrums. Die Person transzendiert die Umweltgeschlossenheit und nimmt an der Natur teil, ohne ihre Exzentrizität zu verlieren. Dank dieser Durchdringung zwischen der Agape und dem Eros ist der Mensch imstande, eine verantwortliche Haltung gegenüber der Natur einzunehmen, d.h. die Natur vom ethischen Standpunkt aus zu betrachten. Aus dieser Perspektive hat Franziskus nicht nur das Christentum vor dem Nihilismus Marcions gerettet, sondern auch die Voraussetzung für die Aufwertung der Natur geschaffen, die in der Moderne einen hohen Ausdruck in Schellings Naturphilosophie gefunden hat. Diese Neubewertung ist wiederum eine der grundlegenden Voraussetzungen der philosophischen Anthropologie Schelers. 3.2.3 Die Grenze des Eros Die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Eros und der Agape bedingt auch Schelers Platonauslegung. In der mittleren Phase durchschaut er die radikale Umstellung von Liebe und Erkenntnis, von Wert und Sein, die im christlichen Erlebnis vollzogen wird, bis in die Tiefe hinein: „Ich nannte es die ‚Bewegungsumkehr‘ der Liebe, daß nun nicht mehr das griechische Axiom gilt, es sei Liebe eine Bewegung des Niedrigen zum Höheren [...], des Menschen zum selbst nicht liebenden Gott, des Schlechten zum Besseren, sondern die liebevolle Herablassung des Höheren zum Niederen, Gottes zum Menschen, des Heiligen zum Sünder usw. selbst in das Wesen des ‚Höheren‘, also auch des ‚Höchsten‘, d.i. Gottes, aufgenommen wird“ (Liebe und Erkenntnis, GW VI, 88). Hier geht es Scheler darum, das Neue am christlichen Begriff der Liebe hervorzuheben, was zu kritischen Bemerkungen über Platon, vor allem über dessen Poiesistheorie, führt: Was Platon „Zeugen“ und „Schaffen“ nennt, sei nicht Schaffen, „sondern nur Reproduktion der Gestalt; nur ewiges Streben der flüchtigen, immer ‚werdenden‘ ‚Materie‘ [...], an dem Dauerhaften der ‚Gestalt‘ und ‚Idee‘ Anteil zu gewinnen, die als solche faktisch schon vor dem Prozesse, der ‚uns‘ als Schöpfung und ‚Zeugung im Schönen‘ erscheint, sind und gewesen sind“ (Liebe und Erkenntnis, GW VI, 84f.). Beim Platonismus zielt der Eros nicht auf den ephemeren Besitz des Guten ab, sondern strebt nach dem „ewigen“ Besitz des Guten. Der Eros sonliebe ‚übernatürlicher‘ Verwurzelung auf die untermenschliche Natur – wie etwa v. Hildebrand meint“ (Sympathiebuch, GW VII, 102f.).

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ist ein fiebriges Streben nach Unsterblichkeit mittels der Poiesis durch den Leib oder durch die Seele. In seiner mittleren Phase sieht Scheler bei Platon nur den im reproduktiven Sinne auszulegenden Begriff der Poiesis. Wegen seines Durstes nach ewiger Dauer wendet der Eros alle seine Kräfte nicht für das wahre Schaffen, sondern für die Erhaltung der Existenz auf. In der Tat ist „alle Formerhaltung im Werden der Materie [...] Sieg des seins- und dauerdurstigen Dranges des Eros“ (Liebe und Erkenntnis, GW VI, 85).158 Der Eros, von dem Streben nach Ewigkeit verzehrt, versucht, die Existenz zu bewahren und den Übergang vom Unbestimmten zum Sein irreversibel zu machen. In dieser Bewegung sucht der Eros offensichtlich etwas Statisches, welches im Gegensatz zum Werdenden steht; denn das Werdende ist ja ständig vom Rückfall in den Tod bedroht. Der Eros sehnt sich danach, seine sterbliche Natur zu überwinden, und gerade wegen der Todesangst träumt er davon, eine ewige Form zu finden. Der Blick des Eros lässt so das lebendige Werden erstarren und verwandelt es in eine ewige, „parmenideische“ Idee. So hebt sich in der Metaphysik ein Kosmos versteinerter Ideen wie ein Totem empor, das die Angst vor dem Tode – zumindest vorläufig – zu bannen vermag. Noch ein anderes Merkmal bringt für Scheler die Grenze der Erostheorie ans Licht. Der Eros soll bei Platon nicht nur das Bild, sondern auch das Wesen erblicken können. Für Scheler hingegen ist das Wesen nur der Agape zugänglich.159 Denn laut Scheler – zumindest laut seinem Verständnis von Platon, das bis 1923 bestand – sieht der Blick des Eros das Sein nur als Vorhandensein. Der Eros eröffnet dem Menschen die objektive Erkenntnis. Gegenüber dem Sichoffenbaren der Person bleibt er jedoch blind. Die Agape hingegen geht noch weiter. Sie ist der Urakt, durch den eine Person sich selbst verlässt, um an einem anderen Seienden teilzunehmen. Sie ist „ein sich und seine Zustände, seine eigenen ‚Bewußtseinsinhalte‘ Verlassen, ein sie Transzendieren, um mit der Welt in 158

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Nach Schelers Überlegungen in seiner mittleren Phase verschwindet noch mehr der Gedanke einer schöpferischen Kraft des Eros, wenn wir auch die Anamnesistheorie mit einbeziehen: Platon „fehlte die Idee einer schöpferischen Liebe. Dies zeigt klar seine ganz romantizistische Lehre von der Liebessehnsucht der Seele nach der Wiederschau der präexistenten Ideenwelt“ (Liebe und Erkenntnis, GW VI, 86). Zu dieser Thematik hat Henckmann trefflich bemerkt: „Das Bekenntnis zum johanneisch-christlichen Liebesbegriff setzt dem Vorbildcharakter von Platons Philosophie Grenzen. Im platonischen Philosophieren sei das Urwesen der Gegenstand der Liebe, dem Urwesen werde also ein gegenstandsfähiges Sein und allein ein solches Sein zugeschrieben. Demgegenüber werde dem Urwesen im christlichen Sinn das nicht-gegenstandsfähige Akt-Sein der Liebe als Gehalt zuerkannt“. W. Henckmann, Schelers Begriff der Philosophie in der Zeit des Umsturzes der Werte, in: G. Pfafferot (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, S. 28.

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einen Erlebniskontakt der Möglichkeit nach zu kommen“ (Ordo amoris, GV X, 356). Die These vom Mangel an einem schöpferischen Moment in der Erostheorie Platons, wie sie Scheler in seiner mittleren Phase vertritt, kann meiner Meinung nach zum Teil schon anhand des Platonischen Textes in Frage gestellt werden.160 Scheler selbst wird 1923 im Sympathiebuch diese Auslegungen wesentlich korrigieren.161 Die Einseitigkeit des akosmistischen Liebens sucht Scheler durch die Aufwertung des Eros im Anblick der Schönheit der Welt zu überwinden. In den Spätschriften zielt er sogar darauf ab, Platons Philosophie und die philosophischen Ansätze im Christentum auf fruchtbare Weise miteinander in Verbindung zu bringen. Es ist aber hierbei zu betonen, dass Scheler die beiden Denkströmungen gewiss nicht im Rahmen einer Metaphysik des nous poietikos interpretiert. Scheler bekämpft einen Platonismus, der sich auf eine statische Metaphysik des kosmos noetos beschränkt, einen Platonismus also, in dem die Anamnesis vorwiegend als bloße Wiederholung verstanden wird und der den Bezug zu der Poiesis und der Methexis verliert. Merkwürdigerweise hat sich das Christentum, durch die Lehre der ideae ante res, historisch gerade mit diesem statischen Platonismus verbündet. Scheler dagegen möchte Platon und das Christentum in einer entgegengesetzten Richtung zusammenbringen, nämlich als eine philosophische Anthropologie des schöpferischen Aktes. 3.2.4 Die Theorie der Sublimierung und Freud Es gibt noch einen anderen Denkansatz, der auf Schelers Erosbegriff einen bedeutsamen Einfluss ausgeübt hat, nämlich Freuds Sublimierungstheorie. Noch in der zweiten Auflage vom Sympathiebuch kritisiert Scheler diese Theorie: „Das von Freud angenommene Grundverhältnis zwischen ‚libido‘ und ‚geistiger Betätigung‘ besteht also darin, daß der eine Teil notwendig an Energie verlieren muß, was der andere gewinnt. Wäre diese Annahme Freuds wahr, so wäre damit in das Wesen des Menschen ein absolut tragisches Moment verlegt“ (Sympathiebuch, GW VII, 206f.). Scheler hingegen stellt die Lehre von einem selbständigen Maß seelischer Energie auf, das nicht aus der Triebenergie der Libido entnommen ist.162 160 161

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Hierzu vgl. G. Krüger, Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens, Frankfurt a.M. 1939; J.M. Rist, Eros and Psyche, Toronto 1964. „Eben darin, daß die Liebe eine Bewegung ist in die Richtung auf ‚Höhersein des Wertes‘, liegt ihre (gleichfalls durch Platon schon erkannte) schöpferische Bedeutung“ (Sympathiebuch, GW VII, 157). „Es kommt [...] allen Schichten unserer seelischen Existenz, von der sinnlichen Empfindung angefangen bis zu den höchsten geistigen Akten, ein selbständiges

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Er bestreitet also noch im Jahre 1923 Freuds Sublimierungstheorie und behauptet, dass der Geist eine ursprüngliche Kraft besitze, die nicht von der Libido abgeleitet werden könne. Ein Jahr später entfaltet er jedoch die These von der Ohnmacht des Geistes: „Der Geist als solcher hat [...] an sich ursprünglich und von Hause aus keine Spur von ‚Kraft‘ oder ‚Wirksamkeit‘“ (Soziologie des Wissens, GW VIII, 21). Aus dem Vergleich dieser zwei Positionen geht hervor, dass der Gedanke Freuds, laut dem der Geist keine ursprüngliche Kraft habe, von Scheler zunächst kritisiert, nach 1923 aber produktiv aufgenommen wird. Man könnte sogar sagen, dass hinsichtlich gewisser Aspekte Freud als Vater der Theorie von der Ohnmacht des Geistes gelten kann. Gleichwohl unterscheidet sich Schelers These der Ohnmacht des Geistes von der Einsicht Freuds in einem wesentlichen Punkt: Der Geist, die Kultur, die Moral usw. – auch wenn sie keine ursprünglichen Kräfte besitzen – sind kein Resultat des Sublimierungsprozesses selbst, wie Freud meint. Man könnte sagen, dass Scheler Platon durch Freuds Sublimierungstheorie und Freud durch Platons Erostheorie liest. Erst nach 1923 fängt Scheler an, eine eigene Sublimierungstheorie aufzustellen. Der zentrale Gedanke dabei ist aber nicht derjenige der Unterdrückung des Dranges durch den Geist, als ob ein Weniger an Drang ein Mehr an Geist erlaubte. Laut der Schrift Die Stellung des Menschen ist die Sublimierung im Kontext der Durchdringung von Geist und Drang zu verstehen. Die Kräfte des Drangs werden nicht zerstört, sondern in den Dienst immer höherer Werte gestellt.163 Durch die Sublimierung wird das Gefüge der Kräfte immer komplexer, und jedes neue Niveau der Komplexität bringt eine revolutio mit sich. Um Schelers Position im Vergleich zu Freud verständlicher zu machen, ist es hilfreich, die Bedeutung derjenigen Überlegungen hervorzuheben, die der späte Scheler Seidel gewidmet hat. Seidel war ein junger Student, der kurz nach der Fertigstellung seines Buches Bewußtsein als Verhängnis Selbstmord begangen hat. Sein Buch erschien 1927 und erweckte sofort Schelers Interesse.164 Seidel interpretiert die Freudianische Sublimierungstheorie mit Hilfe der These, dass das Bewusstsein eben ein „Verhängnis“ sei für ein Wesen, das wegen eines Triebüberschusses in Gefahr geraten ist. Auf die Frage, warum die Sublimierung die Moral und die Zivilisation hervorbringt, antwortet Seidel – wie übrigens später Gehlen – folgendermaßen: Der Mensch sei gezwungen zu sublimieren, da er nur dann überleben könne, wenn sein Bewusstsein jenen Triebüberschuss unterdrücke. In Bezug auf diese These bemerkt Scheler: „Seidel [zog] aus

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Maß von seelischer Energie zu, das durchaus nicht aus der Triebenergie der Libido entnommen ist“ (Sympathiebuch, GW VII, 207). Vgl. Die Stellung, GW IX, 53. A. Seidel, Bewußtsein als Verhängnis, Bonn 1927.

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Freud den Schluss [...], daß unsere gesamte menschliche Kultur (Philosophie, Wissenschaft, Religion, Kunst, Sozial- und Rechtseinrichtung) nur ein ‚Surrogat‘ sei für die fehlende Triebbefriedigung. Aber warum verdrängt der Mensch? Seidel antwortet: Da der Mensch ein Übermaß an Libido habe, dessen Befriedigung zu seinem Untergang führe. Nein! Erst durch die Versagung entspringt das Übermaß“ (Nachlass, GW XII, 66). Nach Seidels Hypothese führt der Instinktmangel im Menschen zu einem Triebüberschuss, zu einer Situation, die die menschliche Existenz gefährdet. Deswegen ist der Mensch gezwungen, durch den Aufbau der Moral, der Kultur, des Rechts, der Religion und der höchsten psychischen Funktionen seine Triebe zu unterdrücken und zu züchtigen. Aber es ist problematisch zu behaupten, die Moral könne zugleich die Ursache und die Wirkung des Hemmungsprozesses sein. In der Tat betrachtet Seidel gerade das als selbstverständlich, was für Scheler problematisch bleibt: „Der Grundmangel jeder Art von negativer Theorie des Geistes ist die Tatsache, daß sie keine Spur Antwort auf die fundamentalen Fragen gibt: Was denn im Menschen negiert, was denn verneint den Willen zum Leben, was verdrängt Triebe? Und aus welchem verschiedenen Letztgrunde wird die verdrängte Triebenergie das eine Mal Neurose, das andere Mal zu kulturgestaltender Tätigkeit sublimiert? Wohin wird sublimiert?“ (Die Stellung, GW IX, 48). Seidel setzt voraus, dass der Instinktmangel, der den Triebüberschuss herbeiführe, eine Folge der Pathologie, der Krankheit, eines entglittenen Prozesses sei. Er erklärt aber nicht, was zu dieser Krankheit führen kann, er bestimmt nicht, was genau die Überwindung des Instinkts verursacht. Scheler zufolge ist es aber gerade diese Frage, die gestellt werden muss, weil die Antwort auf sie allein das Wesen des Menschen offenbaren kann. Nach Scheler ist der Triebüberschuss kein pathologisches Überfließen der Triebe über die Deiche eines schwach gewordenen Instinkts, was durch einen künstlichen Aufbau der Moral gebändigt werden sollte. Jene natürlichen Deiche haben im Gegenteil immer so vollkommen funktioniert, dass sie nie irgendeinen Triebüberschuss erlaubt haben. Die These, die Ursache für die Überwindung des instinktiven Verhaltens sei ein Zufall oder auf einen Funktionsfehler der Instinkte zurückführbar, ist für Scheler nicht überzeugend. Die Ursache muss außerhalb des Instinkts liegen, sie muss auf etwas zurückführbar sein, das nicht aus dem Instinkt stammt. Nach Scheler ist es der Einfluss des Gravitationsfeldes einer neuen Wertklasse, der das Nein-Sagen des Menschen zu den vitalen Werten ermöglicht. Man muss die Fragestellung auf radikale Weise umkehren: Die Hemmung, d.h. das Nein-Sagen, ist nicht das Heilmittel, sondern die Ursache des Überschusses.

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Der Ausgangspunkt ist nicht der Triebüberschuss, sondern der Phantasieüberschuss,165 ein Überschuss von Erwartung in Bezug auf die Umwelt. Anders gesagt: Der Mensch ist das Wesen, das einen Mangel, eine „unerträgliche Leere“ im Hinblick auf das Wahrnehmungsfeld des Instinktes fühlt. Diese Sehnsucht, diese Unzufriedenheit ist der Eros. Er verursacht jenen Phantasieüberschuss, der den Menschen über das unmittelbare Wahrnehmungsfeld des Tiers hinausführt: „Eros erst befeuert die Phantasietätigkeit und macht, daß sie bei Menschen das Übergewicht [...] über die [sinnliche] Wahrnehmung gewinnt“ (Nachlass, GW XII, 233). Der Phantasieüberschuss ist ein Überschuss in Bezug auf die Empfindung, er setzt eine Sehnsucht nach etwas voraus, das die Triebrelevanz transzendiert. Damit ist die Lösung Schelers zum Problem der Sublimierung nicht mehr im Rahmen der Freudianischen Theorie zu finden. Die Realität ist Scheler zufolge ein einheitliches System, das aus verschiedenen Stufen besteht, die den verschiedenen Stadien der Durchdringung von Drang und Geist entsprechen. Im Sublimierungsprozess stellt jede niedrigere Stufe ihre Kraft der höheren zur Verfügung, aber es gibt auch eine umgekehrte Bewegung, nach der jede höhere Stufe der niedrigeren eine geistige Orientierung verleiht. Jede Stufe der Realität gewinnt ihre Autonomie, indem sie eine neue Form von Organisation verkörpert, die auf eine höhere Wertklasse gerichtet ist. 3.2.5 Die Tätigkeit der Agape im Eros Auch die revolutio vom Tier zum Menschen ist innerhalb dieses allgemeinen Schemas zu verstehen. Die überlieferte Unterscheidung zwischen Mensch und Tier hält Scheler im Wesentlichen für überholt. Nicht nur Intelligenz, sondern auch „Geschenk, Hilfsbereitschaft, Versöhnung und ähnliches kann man bereits beim Tier finden“ (Die Stellung, GW IX, 30). Gerade deswegen sagt er: „Es ist schwer, ein Mensch zu sein“ (Nachlass, GW XII, 127), da viele Qualitäten und Fähigkeiten, die allgemein als ausschließlich dem Menschen zugehörig gedacht werden, auch im Tier zu finden sind. Vielmehr ist es der Begriff der Person, der einen Unterschied setzt, denn nur mit der Person kommt etwas ontologisch Neues zum Vorschein. Das Hinausgehen aus dem instinktiven Verhalten setzt die Fähigkeit voraus, zur unmittelbaren Sättigung „Nein“ sagen zu können. Die Kraft, die der agapeischen Bewegung Raum schenkt, ist der Eros. Er ermöglicht es der Person, sich über die Umweltgeschlossenheit hinaus zu erheben, d.h. ihre Exzentrizität in der Weltoffenheit zu äußern. „Es ist 165

Zum Begriff des Phantasieüberschusses verweise ich auf meinen Aufsatz: Le ali dell’eros. Per un ripensamento dell’antropologia filosofica di Max Scheler, in: Annuario filosofico 15 (1999), S. 383–420.

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eine kosmische, ja metakosmische revolutio, um die es sich bei der Menschwerdung handelt. Der irdische Mensch ist nur ein Zeugnis und Fall davon, ein Beispiel“ (Nachlass, GW XII, 129). Diese revolutio ist die Folge eines Erotismus, der eine agapeische Logik auszudrücken vermag – eine Logik der Agape, die „im Eros“ „getätigt“ wird (Nachlass, XII, 235). Scheler bestreitet zwar nicht, dass der Mensch als Naturwesen eine bestimmte Stellung in der Evolution der Säugetiere hat, aber hier geht es um etwas, das viel radikaler ist als eine Evolution, die als Anpassung an die Umwelt gedacht wird: Der Mensch als Person baut „ein völlig neues Reich der Wertwirklichkeit auf – wohl auf dem Boden der Natur und mit ihren Mitteln, aber über sie hinaus –, das Reich der ‚Kultur‘. Und dies ‚nach‘ Ideen, nach Werten und ihrer Rangordnung, nach Zielen und Maßen, die der Mensch nicht durch ‚Anpassung an die Natur‘ [...] erworben hat“ (Nachlass, GW XII, 130). Das Besondere am Menschen liegt darin, dass er der tierischen Intelligenz die in der Weltoffenheit erlangte Logik zur Verfügung stellt. Dank dieser revolutio erweitert sich die Intelligenz über den Horizont der Triebrelevanz hinaus und erreicht somit eine Entwicklung, die dem Tier verschlossen bleibt. Nach diesem Schritt hat der Mensch zwei Möglichkeiten: Entweder er verabsolutiert diese Intelligenz und gerät wiederum in die Umweltgeschlossenheit, oder er stellt sich die Frage nach den Grenzen der Technik. Beim letzteren Fall verankert sich der Mensch nicht mehr in der Zentrizität der Umweltgeschlossenheit, sondern er findet seinen Ort in der Exzentrizität der Weltoffenheit. Dank dieser Exzentrizität kann der Mensch an der Realität teilnehmen, ohne sich auf den Wahrnehmungshorizont der eigenen Triebstruktur zu begrenzen. Gewiss hat das Tier „in Wahrnehmung, Vorstellung, Instinkt, Anfänge der Intelligenz, Wissen vielerlei Art, aber inhaltlich [bleiben diese Fähigkeiten] immer nur begrenzt auf das, was ihm nützlich und schädlich ist, [das Tier bleibt] in den Grenzen seiner Organisation, die es ‚als‘ Grenzen nicht zu erkennen vermag [...]; ferner in den Grenzen seiner ‚Milieus‘, die es wie dicke Wände absperren gegen die Weite und Größe des Universums“ (Nachlass, GW XII, 130). In der Überwindung des instinktiven Verhaltens offenbart der Eros paradoxerweise seine asketische Natur. Ein Moralismus des Ressentiments hat dagegen den Eros systematisch entwertet und das positive Verständnis dieses asketischen Moments – und seiner intimen und notwendigen Verbindung mit der Agape – verhindert. Für Scheler ist der Erotismus etwas zutiefst Anderes als der Triebimpuls der Sexualität. „Das Freiwerden von dem Triebimpuls des Augenblicks ist sein Werk“ (Nachlass, GW XII, 233).

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3.2.6 Die Geburtsstunde des prometheischen Wissens An einer berühmten Stelle des Phaidros sagt Platon: „das Gesicht ist der schärfste aller körperlichen Sinne, [... ] nur der Schönheit aber ist dieses zuteil geworden, daß sie uns das Hervorleuchtendste ist und das Liebreizendste“ (Phaidros, 250 d). Welches irdische Auge kann nun aber die Schönheit wahrnehmen? Eine Biene wird von der Schönheit einer Blume angezogen. Sie nährt sich aber nicht von ihr, sondern vom Nektar, denn das Auge des Instinkts kann nicht aus der Schönheit schöpfen. Damit die „Flügel“ sprießen, braucht man ein völlig anderes Auge, das Auge des Eros. Die Verbindung zwischen dem Eros und dem Akt des „Sehens“ wird von Plotin weiter thematisiert. Der „Eros [entstand] als ein ersättigtes Auge, gleichsam ein Sehen, das ein Bild schon in sich trägt; von da stammt wohl auch sein Name, weil er nämlich aus dem Schauen [horas-] zu Stande gekommen ist“. Der Eros ist für Plotin „das Auge der Sehnsucht, welches dem Liebenden durch seine Kraft das Erschauen des Ersehnten verschafft“ (Enneaden III, 5). Schelers These, dass der Eros einen neuen Wahrnehmungshorizont eröffne, ist deutlich von dieser Tradition geprägt. Gewiss ist das menschliche Auge, das das Bild des Schönen sieht, ein Erzeugnis des Eros. Die Größe des Eros ist es, sich über die Notwendigkeit zu erheben, die die Umwelt der vitalen Werte beherrscht, und dem Menschen eine neue Sicht und mit ihr eine neue Dimension der Zeit zu verleihen. Der Eros zieht „unseren Blick über die Brauchbarkeiten und zuhandenen Gütereinheiten hinaus“ (Nachlass, GW XII, 232). Nur der Eros macht die Welt für den Menschen sichtbar: „Die Tatsache, daß der Mensch im Unterschiede vom Tier einer in bezug auf die organischen Triebe ‚interesselosen‘, gleichwohl aber noch ‚leidenschaftlichen‘ Anschauung der Welt fähig ist, ja daß er überhaupt die Welt als Bild haben kann, beruht ausschliesslich auf dem ‚Eros‘“ (Nachlass, GW XII, 230). Der Instinkt dagegen bleibt blind. Für ihn existieren nur Zeichen für die Semiose des Befürfnisses. Er schaut nichts, sondern befriedigt sich, er nimmt nicht etwas wahr, sondern spürt nur die Möglichkeit einer bestimmten Sättigung. Eine unmittelbare Befriedigung lässt dem Eros überhaupt keinen Raum. Der Eros ist nur möglich, wenn sich die Lust von einem Aufschub in die Zukunft ernährt, nur wenn das Genussobjekt vor ihr nicht mehr als bloße Quelle der unmittelbaren Befriedigung, sondern als Bild sichtbar wird. Im Blick des Eros wird die Energie der Libido für die ganze Wahrnehmungstätigkeit verfügbar gemacht. Die Wende des Interesses von der unmittelbaren Befriedigung zur Schau des Bildes bedeutet eine Änderung des Relevanzfeldes, denn der Eros versucht, in der Schau des Bildes selbst eine höhere Art von Befriedigung zu finden. Folgender Satz verdient, vollständig angeführt zu werden: „Eros ist die in das sinnliche Perzep-

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tionssystem verdrängte und in ihre Funktionen (Sehen, Hören, Riechen etc.) hinaufsublimierte sexuale Triebenergie. Indem diese Energiekomponente im Menschen aufhört, dem Sexualactus und der Fortpflanzung zu dienen und nur mehr die Perzeptionen befeuert und in selbstwertige Schwingung versetzt, wird ein Anblicken der Welt um ihrer Bilder selbst willen und mit Funktionslust an diesen Anblicken allererst möglich. Erst dadurch wird objektiver ‚Anblick‘ der Welt gegenüber dem Menschen (als Subjekt) [möglich] und die Transzendenz der Bilder (als Gegebenheit) [...][,] gegenüber dem Tiere, dessen sinnliche Wahrnehmungen mit einzelnen Trieben und Affekten noch zuständlich verschmolzen sind. Erst dadurch vermag sich die dynamische Drang-Energie aber auch von allen partiellen Trieben loszureissen. Dies geschieht einmal zum blossen ‚Genusse‘ der Welt als Bild“ (Nachlass, GW XII, 229). Die menschliche revolutio findet statt, indem der Eros die Befriedigung im „blossen ‚Genusse‘ der Welt als Bild“ sucht, d.h. indem er begehrt, die Bilder eines Objekts wahrzunehmen. Der Eros ersetzt die unmittelbare Befriedigung des instinktiven Verfahrens durch die distanzierte Schau des Bildes, so dass die organische Befriedigung zu einer visuellen Befriedigung wird, d.h. zu einer Befriedigung im Schönen. Während der Instinkt nur das eigene Bedürfnis sieht, sieht der Eros den Gegenstand der Sehnsucht. Während der erstere nach der unmittelbaren Befriedigung sucht, möchte der letztere das sehen, was ihn befriedigt. Auf diese Weise bestimmt der Eros einen zeitlichen Abstand zwischen Reiz und Reaktion. Er verschiebt das Moment der Befriedigung nach vorne und zeugt somit eine Zeitspanne, in die sich die erleuchtende und leitende Logik der Agape hineindrängen kann. Durch den zeitlichen Aufschub der Befriedigung wird der Eros „der Quell des ‚Vorziehens‘ – einer Funktion, die Tiere nicht besitzen. [...] Das selbständige Vorziehen erweitert die Wahlsphäre“ (Nachlass, GW XII, 233). In dieser Verschiebung der Befriedigung auf die Zukunft ist eine neue Logik der Zeit am Werk. Beim Akt des Vorziehens handelt es sich nicht darum, eine positive oder negative Antwort in der Gegenwart zu geben, sondern wir können zwischen verschiedenen Reaktionen in verschiedenen Zeiten wählen. Der Eros erweitert damit auch den Bereich unserer Vergangenheit und Zukunft.166 Der Eros ist die Geburtsstunde des prometheischen Wissens. Nur durch seinen Anstoß wird das Interesse erweckt, das das menschliche Bewusstsein motiviert. Mit ihm kommt eine neue Logik ans Licht, die fähig ist, die objektive Erkenntnis zu begründen, die Logik nämlich, die dem Menschen die Entwicklung der Wissenschaft und Technik ermöglicht hat. Zwar entstammt die Intelligenz nicht dem Eros, aber der Eros 166

„Der Eros erweitert die Erwartungs- und die Mnemematerialien und führt auch hier an die Grenze der Anamnesis und der [...] Hoffnung und Furcht als modi des Erwartens. Der Eros ist der Vater der ‚Sehnsucht‘“ (Nachlass, GW XII, 232).

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hat die Intelligenz, die schon im höheren Tier existierte, in einen ganz neuen Kontext eingeordnet. Der Eros eröffnet der Intelligenz einen Tätigkeitsbereich jenseits der Triebrelevanz und erweitert damit die Anwendungsbreite der Intelligenz über die Umweltgeschlossenheit hinaus. Nur dank des Eros konnte sich die Intelligenz zu der Höhe der Abstraktion erheben, zu der der Mensch allein fähig ist.

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3.3 Reduktion als cura sui 167 3.3.1 Das Problem der Reduktion bei Husserl und Scheler Es ist Schelers geistvolle Einsicht, dass der Mensch die objektivierende Intentionalität des Subjekts durch einen dasselbe begrenzenden und zugleich überwindenden Akt ausschalten muss, um das Sichgeben des Phänomens im höchsten Maße zu erblicken. Die Radikalisierung der Epoché durch die Erweiterung derselben auf die Strukturen der Subjektivität führt nicht zur Annullierung des Subjekts, sondern zu einer Phänomenologie der Umbildung desselben. Durch die Reduktion als Epoché des Ego wird sich der Mensch dessen bewusst, dass das Subjekt – auch das transzendentale – kein Mittelpunkt des ganzen Universums, nicht einmal das Korrelat der ganzen Erfahrung, sondern nur das der objektivierbaren Erfahrung werden kann. Die Epoché des Ego endet daher nicht im Nichts, vielmehr ist sie der Auftakt für eine anthropologische Übung, durch die der Mensch seine Stellung in der Welt ändert. Genau diese Perspektive kritisiert Husserl. Während Scheler Husserl den Idealismus vorwirft,168 wendet Husserl gegen Scheler ein, dass seine Philosophie in den Psychologismus und Anthropologismus zurücksinke. Es gilt nun, über die Polemik zwischen beiden Denkern hinauszugehen. Die Phänomenologie Husserls und diejenige Schelers haben zwar ihre gemeinsame Wurzel im Denken Franz Brentanos. Sie entwickeln sich 167

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Auf diesen Text stützt sich mein Referat auf der von Jean-François Lavigne organisierten Tagung: Une autre phénomenologie? Réalismes Phénomenologiques vs. Phénomenologie transcendentale, die an den Archives Husserl de Paris, Ecole Normale Supérieure, 10.-12. Mai 2012, stattfand. Zwischen 1906 und 1914 sieht Scheler, wie sich bei Husserl eine allmähliche, überwiegend auf das Subjekt konzentrierte Vertiefung der ursprünglichen Einsicht in das Sichgeben des Phänomens als konstitutives Moment der Phänomenologie vollzieht und die transzendentale Phänomenologie – zu Ungunsten einer am Phänomen orientierten Phänomenologie – immer mehr in den Vordergrund tritt. Diese Vernachlässigung des ‚materialen‘ Moments ruft Scheler zufolge eine fortschreitende Verschiebung der Philosophie Husserls auf eine statische idealistische Phänomenologie hin hervor, deren Krönung man in den 1913 erschienenen Ideen I findet. Schelers Einwände gegen Husserl erhielten im Münchner und Göttinger phänomenologischen Kreis großen Beifall. Man darf jedoch nicht außer Acht lassen, dass sie – ihrerseits keineswegs frei von schwerwiegenden Einseitigkeiten und Unverständnis – vor allem die Entfaltung des Denkens Husserls nach den Ideen I nicht berücksichtigen, in der sich immer deutlicher eine genetische Phänomenologie des Hyletischen herausbildet, welche sich mit dem passiven Moment der transzendentalen Konstitution beschäftigt. Mit Sicherheit geht es dabei um einen richtigen Schritt, da sich Husserl auf diese Weise einen Zugang zu den Operationen des Bewusstseins verschafft, die nicht nur Kant, sondern auch Scheler verborgen geblieben sind.

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aber in zwei unterschiedliche Richtungen, die in einen jeweils anderen Begriff der Reduktion münden. Was sich daraus ergibt, sind gleichwohl zwei einander ergänzende Arten der Phänomenologie, in denen sich gar relevante Annäherungspunkte finden lassen, insbesondere wenn man die Arbeiten des späten Husserl aus den zwanziger und dreißiger Jahren berücksichtigt. 3.3.2 Gnôthi seautón und epimèleia heautoû Die von Scheler unternommene Weiterführung des Reduktionsbegriffs als Umbildung des Subjekts bringt ihn in die Nähe der später von Pierre Hadot und Michel Foucault aufgeworfenen Fragen nach den „geistigen Übungen“ und nach der cura sui. Foucault zufolge kann man im westlichen Denken einen Vorrang des „Erkenne dich selbst!“ vor der cura sui feststellen. Diese letztere stehe in enger Verbindung mit einem Begriff der Spiritualität, welche sich deuten lasse als „la recherche, la pratique, l'expérience par lesquelles le sujet opère sur lui-même les transformations nécessaires pur avoir accès à la vérité“.169 Die zwei grundsätzlichen Modalitäten, durch die das Subjekt umgebildet werde, damit es der Wahrheit fähig sei, lägen im Eros und in der Askese vor.170 Das „Erkenne dich selbst!“ hingegen vollziehe sich in der Erkenntnishaltung, deren Höhepunkt sich in Descartes’ Meditationes befinde.171 Das Subjekt sei dabei schon von vornherein bereit, die Wahrheit zu empfangen, so dass das Problem der Umbildung des Subjekts irrelevant werde und vielmehr die Frage nach der Erkenntnismethode in den Vordergrund trete. Man setzt sich also nicht mit der ethischen Frage nach der Übung der Umbildung des Selbst, nach der Verbesserung der eigenen Lebensführung, sondern mit dem epistemologischen Problem der Bestimmung der „Regeln der Methode“ der Erkenntnis auseinander. Es geht nicht um die cura sui durch die Kultivierung und Bildung der eigenen affektiven Sphäre im Hinblick auf eine „spirituelle“ Umbildung, sondern um eine Arbeit, die sich auf der Ebene der Erkenntnismethode vollzieht. Wenn Scheler vorschlägt, die epistemologische Reduktion bei Husserl in eine ethische Reduktion umzuwandeln, bewegt er sich in eine ähnliche Richtung, da auch er die Frage nach der Erkenntnismethode durch eine Philosophie der Umbildung des Individuums zu ersetzen sucht, welche konkret auf den Übungen der Entleerung des Egozentrismus (Entspannung, Demut) und auf denen der Wiedergeburt (Ehrfurcht, Verwunderung, Liebe) beruht. 169 170 171

M. Foucault, Herméneutique du sujet. Cours au Collège de France, 1981–1982, Seuil, Gallimard 2001, S. 16. M. Foucault, a.a.O., S. 17. M. Foucault, a.a.O., S. 15f.

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Im nächsten Abschnitt werde ich zunächst kurz Schelers Kritik an Husserls Reduktionsbegriff und Husserls Einwand gegen Schelers Anthropologismus erörtern, um mich danach auf den konstruktiveren Teil in Schelers Auseinandersetzung mit dem Problem der Reduktion zu konzentrieren. 3.3.3 Die Phänomenologie als radikaler Empirismus In denselben Jahren, in denen Husserl an eine „transzendentale Wende“ denkt, arbeitet Scheler an dem, was man eine „Wende zur Selbstgegebenheit“ nennen könnte. Der Entwurf zu dieser Wende wurde allerdings in zwei Handschriften aufgezeichnet, die bis 1933 unveröffentlicht blieben: Lehre von den drei Tatsachen (1911–12) und Phänomenologie und Erkenntnistheorie (1913–14). Dort wird die Phänomenologie als „radikalster Empirismus“ (Phänomenologie und Erkenntnistheorie, GW X, 381) definiert, der sich auf eine „gewaltige Erweiterung des Apriorismus“ (Phänomenologie und Erkenntnistheorie, GW X, 383) gründet, und zwar so weit, dass er reine Tatsachen mit einschließt. In diesem Kontext tritt nun die Abweichung von Husserl in den Vordergrund. Die Phänomenologie ist für Scheler keine neue Methode, um die Tatsachen zu erkennen, sondern eine Einstellung, welche die Erkenntnis der sonst unzugänglichen Tatsachen ermöglicht: „Methode ist ein zielbestimmtes Denkverfahren über Tatsachen [...]. Hier aber handelt es sich [...] um neue Tatsachen selbst“ (Phänomenologie und Erkenntnistheorie, GW X, 380). Es ist die Existenz dieser „neuen Tatsachen“, die das Schicksal der Phänomenologie entscheidet: „Phänomenologie steht und fällt mit der Behauptung, es gebe solche Tatsachen“ (Phänomenologie und Erkenntnistheorie, GW X, 448). Die reinen Tatsachen der Phänomenologie können nicht die Inhalte der „kategorialen Anschauung“ Husserls sein, da diese sich auf die „sinnliche Anschauung“ gründet.172 Hinter diesem Einwand steht Schelers Abstandnahme von der eidetischen Reduktion, die er in seinem 1906 ex abrupto vom Druck zurückgezogenen Manuskript Logik I zum Ausdruck bringt173 und die beim späten Scheler 172 173

Vgl. Phänomenologie und Erkenntnistheorie, GW X, 448f. Die Logik I zeichnet sich durch eine neukantianische Anlage sowie durch eine direkte Kritik an Husserl aus. Die Entscheidung, das Manuskript vom Druck zurückzuziehen, weist zwar auf Schelers Distanzierung vom Neukantianismus, nicht aber auf sein Bekenntnis zur Phänomenologie Husserls hin. Von unmittelbarem Belang für das Problem der Reduktion ist der Einwand gegen die Abstraktionstheorie, welche Husserl in der Zweiten Untersuchung ausgeführt hat (vgl. Nachlass, GW XIV, 138–156) und die der Entwicklung des Begriffs der „eidetischen Reduktion“ dienen wird.

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wieder auftaucht.174 Der Grund dieser Entfernung Schelers von Husserl ist komplex und kann nur im Gesamtkontext des Denkens Schelers – vor allem im Kontext der Theorie der Realität als Widerstand sowie der Phänomenologie der Leiblichkeit – erhellt werden. In seinem Kern betrifft er Schelers Überzeugung, dass die phänomenologische Reduktion weder von Empfindungen noch von der eidetischen Variation der sinnlichen Gegebenheiten ausgehen könne, da diese eigentlich durch die Gesetze der Triebstruktur des Organismus geprägt sind. In Anlehnung an Bergson bemerkt Scheler: „Es ist völlig unbegreiflich, daß das Leben in seiner Geschichte Organe und Funktionen sollte ausgebildet haben, die – anstatt wie alle seine übrigen Organe und Funktionen [...] – dem vital ganz bedeutungslosen Ziele, Erkenntnis und Wahrheit zu gewähren, dienen sollen“ (Lehre von den drei Tatsachen, GW X, 438), und fährt fort, dass eine „organische Erkenntnisfunktion“ ein Nonsens sei, „es wäre ein von allen übrigen Faktoren der Biologie toto coelo verschiedenes, insuläres Faktum, das wie aus einer anderen Welt in diese hineinragt“ (Lehre von den drei Tatsachen, GW X, 439). Die Gegebenheit der Empfindung ist nicht neutral, sondern funktional zur Interaktion des Organismus mit der Umwelt. Man kann in diese Richtung zwar eine Phänomenologie des Organismus entfalten, die sich auf die Triebstruktur als materiales Apriori der Sinnlichkeit stützt, nicht aber eine Phänomenologie der reinen Selbstgegebenheit des Phänomens. Scheler bestimmt einen Bereich, in welchem die „reinen“ – d.h. nicht von der Gesetzlichkeit des Organismus festgelegten – Tatsachen erfahren werden können, und stellt mithin eine der Voraussetzungen der Trans174

Zwar nähert sich Scheler selbst im Ersten Teil des Formalismus, zumindest von der Terminologie her, der Husserlschen Position und spricht beispielsweise von „eidetischer Abstraktion“. Gleichwohl übt Scheler im späteren Werk erneut Kritik an Husserl, wie sie bereits in der Schrift Logik I praktiziert wurde. Scheler sieht hinter dem Begriff der ideierenden Abstraktion den „spezifischen platonischen Fehler Husserls“ (Nachlass, GW XI, 74). Den Ursprung dieses Fehlers führt Scheler auf die Zweite Untersuchung zurück: „Husserl kommt zur Annahme der ‚idealen Spezies‘ durch irrige Abstraktionstheorie (s. Logische Untersuchungen II)“ (Nachlass, GW XI, 241). Wenn man diese Voraussetzungen berücksichtigt, ist es kein Wunder, dass Scheler in seiner Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos nicht Husserl, sondern Buddha erwähnt, um den ideierenden Akt zu beschreiben: „Ein großartiges Beispiel für solch einen ideierenden Akt gibt die bekannte Bekehrungsgeschichte Buddhas: Der Prinz sieht einen Armen, einen Kranken, einen Toten, nachdem er im Palaste des Vaters jahrelang allen negativen Eindrücken ferngehalten ward; er erfaßte aber jene drei zufälligen „jetzt-hier-soseidenden Tatsachen sofort als bloße Beispiele für eine an ihnen erfaßbare essentielle Weltbeschaffenheit“ (Die Stellung, GW IX, 40). Zur Bedeutung Buddhas für Scheler vgl. E. Kelly, Opfer und Werdesein in Schelers Buddhismus-Kritik, in: R. Becker, E.W. Orth (Hg.), Religion und Metaphysik als Dimensionen der Kultur, Würzburg 2011, insbesondere S. 139–142.

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zendentalen Ästhetik Kants in Frage, dass die Empfindung mit dem ganzen Bereich der Erfahrung übereinstimme. Indem Scheler den Zusammenfall zwischen Sinnlichkeit und Rezeptivität, zwischen Erfahrung und Sinneserfahrung, bestreitet, kann er feststellen: „Das Gegebene ist unendlich reicher als der Teil des Gegebenen, der im strengen Sinn der sog. Sinneserfahrung entspricht. Und ferner: die Sinneserfahrung ist weder die einzige Erfahrung, die es gibt, noch in der Ordnung des Ursprungs, d.h. der Zeitordnung des Erfahrens, die ursprünglichste Erfahrung. [...] Kein Grundsatz ist daher heute so vollständig widerlegt, wie der alte philosophische Satz: ‚nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu‘“ (Vom Ewigen, GW V, 250; siehe auch GW V, 285). Mit der Empfindung meint Scheler nur die spezifische organische Reaktion auf einen Reiz. Die Empfindung im engeren Sinne ist nicht das, was das Auge sieht, sondern etwa die durch das zu intensive Licht verursachte Irritation, die im Auge Tränen entstehen lässt. Die Schau der Schönheit einer Landschaft sowie die ganze ästhetische Ebene hingegen gehören zu einer empirischen Dimension, die über die organische Relevanz hinausgeht, so dass es einer empirischen und gleichwohl übersinnlichen Wahrnehmung entspricht. 3.3.4 Reine Tatsachen und Selbstgegebenheit Scheler geht von zwei unterschiedlichen Stufen der Erfahrung aus: von der Gegebenheit und der Selbstgegebenheit. Die Phänomenologie hat vor allem mit der letzteren zu tun: „der phänomenologische Gegenstand ist ‚selbstgegeben‘“ (Lehre von den drei Tatsachen, GW X, 461). Aus dem Phänomen der Selbstgegebenheit blickt uns eine Gegenintentionalität entgegen, die von der Welt selbst stammt. Das Phänomen der Selbstgegebenheit erweist sich als Grundlage der ganzen Phänomenologie Schelers: „Was also Phänomenologie zu einer Einheit macht, das ist nicht ein bestimmtes Sachgebiet, wie z.B. das Psychische, die idealen Gegenstände, die Natur usw., sondern allein die Selbstgegebenheit in allen nur möglichen Sachgebieten“ (Phänomenologie und Erkenntnistheorie, GW X, 386). Anfangs hat Scheler in Husserls Logischen Untersuchungen den Ansatz für eine Phänomenologie gesehen, die sich aufseiten des Phänomens entfaltet. Das Erscheinen der Ideen I brachte ihn zu der Überzeugung, dass Husserl zur Gegebenheit der Empfindung zurückkehre. Den Grund dafür präzisiert Scheler in einer Randbemerkung seines Handexemplars der Ideen I, in der er Husserl vorwirft, dass bei ihm „reine Wahrnehmung“ und „Sinneswahrnehmung“ nicht voneinander unterschieden

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würden.175 Wenn nun – wie Scheler es sich vorstellt – die Selbstgegebenheit eine Sphäre der Erfahrung darbietet, die von der durch die organische Gegebenheit erreichbaren Erfahrung unabhängig ist, so kann ich mir ausgehend von einer sinnlichen Anschauung keinen Zugang zur Selbstgegebenheit verschaffen. Folglich könne auch Husserl keinen Zugang zur Phänomenologie der reinen Tatsachen finden und wohl aus diesen Gründen würde er sein Interesse auf die Seite des Subjekts verschieben und die transzendentale Phänomenologie aufstellen. Die phänomenologische Reduktion bei Scheler stellt sich die Aufgabe, die ersten zwei Ebenen der Erfahrung zu dekonstruieren, die einmal mit dem Organismus – d.h. mit der biologischen Sinneserfahrung – und zum anderen mit dem intentionalen Subjekt – d.h. mit der durch die Verstandeskategorien objektivierbaren Erfahrung – korreliert sind, um einen weiteren Zugang zur Erfahrung herauszufinden. Es gibt eine Form der empirischen Gesetzlichkeit, die dem Phänomen erlaubt, sich im Sinne der Selbstgegebenheit zu offenbaren. Für Scheler richtet sich die Reduktion auf keine eidetischen Wesen, auf keinen idealen Gegenstand, sondern auf empirische Tatsachen, die sich unabhängig von den Kategorien des Organismus und des Verstandes offenbaren können. In dem Ausdruck „reine Tatsachen“ bedeutet das Adjektiv rein nicht von der Erfahrung getrennt oder außerhalb von der Erfahrung, sondern es besagt die Unabhängigkeit von den Kategorien der Gegebenheit. Rein ist hier synonym zu selbstgegeben. 3.3.5 Selbstgegebenheit und Sichoffenbaren Mit dem Gedanken der Selbstgegebenheit gelingt Schelers Phänomenologie der Durchbruch zur Fülle der Welt. Diese alternative Weise, sich der Welt entgegenzustellen, entspricht dem, was Plessner „exzentrische Positionalität“ nennen wird. Die Erfahrung des Sichoffenbarens eines Phänomens fördert aber eine radikale Umbildung des Selbst. Auf diese Weise wird die Reduktion von einem epistemologischen zu einem ethischen und anthropologischen Problem. Sie erhebt sich gar zum Hauptproblem der philosophischen Anthropologie. Es geht bei der Frage nach der Reduktion nicht mehr darum, das Urteil über die Welt auszuschalten, um an das transzendentale Ich zu gelangen, sondern darum, eine gewisse Struktur der Subjektivität wirklich zu transzendieren, da diese Struktur gerade die gegenintentionale Erfahrung des Sichoffenbarens verhindert, durch die die Person den Bildungsprozess ihrer Singularität einleiten kann. 175

„In der sinnlichen Wahrnehmung Ja! In der reinen Nein! [...] Aber wir unterscheiden zwischen Wahrnehmung und Sinneswahrnehmung“ (Nachlass, GW XIV, 426).

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Die Reduktion als tèchne der Umbildung steht im Mittelpunkt nicht nur der philosophischen Anthropologie, sondern auch einer neuen Philosophie der Wahrnehmung. Durch die Reduktion wird es uns ermöglicht, die Welt aus der Perspektive der Exzentrizität zu erblicken. Ihr Ziel besteht mithin nicht darin, etwas zu erklären, sondern darin, etwas Neues auf der Welt sichtbar werden zu lassen. Die Person ist daran interessiert, einen Aspekt des Realen zu erfassen, der für den in der Umweltgeschlossenheit versunkenen Organismus und selbst für die exakten Wissenschaften nicht existiert, wie die unwiederholbare Singularität, das Antlitz der geliebten Person, die Schönheit einer Blume, die Geste einer Hand. Die ganze ästhetische Dimension ist ein lebendiger Beweis dafür, dass der Blick auf die Welt von Grund auf umgebildet werden kann. Um die Welt mit neuen Augen sehen zu lernen, muss man nun gleichzeitig die eigene Positionalität in der Welt ändern. Die jahrhundertelange Dominanz des esprit de géométrie gegenüber dem esprit de finesse hat uns jedoch zu der Neigung verleitet, all das, was nicht objektiv zu quantifizieren ist, abzuwerten und gleichsam als nicht existierend zu betrachten. Der Wert der Singularität, die Einmaligkeit gewisser Momente, die Gefühle, die man nur für eine bestimmte Person spürt – all dies sind doch keine subjektiven Illusionen. Bei genauerer Betrachtung gehören gerade sie zu denjenigen Erfahrungen, die einer Existenz Sinn verleihen. 3.3.6 Scheler und der Anthropologismusvorwurf In der Verbindung, die Scheler zwischen Reduktion und philosophischer Anthropologie aufstellt, sieht Husserl den Beweis dafür, dass die Abstandnahme von der transzendentalen Philosophie unweigerlich auf den Psychologismus und den Anthropologismus hinauslaufe. Aus seiner Sicht herrscht zwischen Transzendentalismus und Anthropologismus der Satz tertium non datur: Der Transzendentalismus vermöge die Bedingungen der Möglichkeit jeder Erfahrung und mithin der Erkenntnis im Allgemeinen nur dann zu erfassen, wenn er von den anthropologischen Besonderheiten der menschlichen Existenz absehe. Daraus folgt aber in Schelers Augen, dass Husserl die exzentrische Positionalität des Menschen in der Weltoffenheit wieder unter die Kategorien des Anthropozentrismus und des Psychologismus zurückbringt. Aus Schelers Sicht ist also Husserls Anthropologismusvorwurf seinerseits die Folge einer psychologischen Konzeption der Exzentrizität der Person. Der Mensch ist das Lebendige, das sich selbst überschreitet, um über die Umweltgeschlossenheit hinauszugehen und zur Weltoffenheit zu gelangen. Dieser Übergang von der Umweltgeschlossenheit zur Weltoffenheit hat weder bloß eine psychologische Bedeutung noch ist er eine schlichte Änderung der

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Denkweise. Er hat vielmehr einen ontologischen Sinn, da er eine andere Positionalität in der Welt mit sich bringt. Außerdem stellt sich die menschliche Singularität bei Scheler nur als das freie und unvorhersehbare Ergebnis einer unendlichen anthropologischen Übung dar. Hingegen unterstellt Husserl durch seinen Anthropologismusvorwurf in Wahrheit, dass sich der Mensch durch keine anthropologische Übung bilde, da er bereits in der Monade potentiell „abgeschlossen“ sei. Bei genauerem Hinsehen erweist sich diese Behauptung als problematisch. Es ist schwer vorstellbar, dass man aus der ursprünglichen Stufe, die Husserl durch die – in der V. Meditation als das weitere Moment nach der transzendentalen Reduktion dargestellte – „primordiale Reduktion“ herausfindet, die Singularität in ihrer konkreten Geschichtlichkeit deduzieren könne. Wenn diese Überlegung stimmte, würde das, was für Scheler nur der Zielpunkt eines langen unvorhersehbaren Bildungsprozesses ist, für Husserl als Ausgangspunkt vorausgesetzt. Die anthropologische Übung, als cura sui, hat Scheler zufolge nichts mit dem Psychologismus zu tun, sondern ist die Folge der Tatsache, dass der Mensch ontologisch „unvollständig“ ist. Das Ziel der Reduktion liegt nicht in der Erreichung eines transzendentalen Ich, sondern in der Transzendierung der Geschlossenheit des faktischen Selbst, um die personale Identität zu bilden. Entscheidend ist dabei, dass dieser Prozess der Umbildung von der Intentionalität des Sichoffenbarens und nicht des objektivierenden Subjekts geleitet ist. 3.3.7 Cura sui als Entspannung und Anspannung Scheler zufolge ist Husserls Verdienst die Einsicht, dass man die Welt, um sie zu erlangen, zuerst verlieren muss. Um die natürliche Einstellung – in Schelers Terminologie: die natürliche Weltanschauung – zu modifizieren, müsse der Mensch eine Epoché von all dem vollziehen, was ihm evident und selbstverständlich vorkommt. Husserl bleibe aber an der Schwelle des Subjekts stehen, ohne den weiteren Schritt zu gehen. Ihm komme nicht in den Sinn, dass man, um die Subjektivität zu gewinnen, sie zuerst verlieren müsse, dass man die Gewissheiten der natürlichen Einstellung nicht ausschalten könne, ohne vorher die Struktur der Subjektivität einzuklammern, die dieselben gesetzt habe. Auf die Reduktion als Ausschaltung des Urteils über die Welt müsse eine Reduktion als „Einklammerung“ des Subjekts selbst folgen, welches sich dieses Urteil bildet. Zunächst möchte ich einen Satz bei Scheler überprüfen, der in Bezug auf das Problem der phänomenologischen Reduktion wohl am umstrittensten ist. In seiner Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos fragt er sich: „Was heißt also dann dieses kräftige ‚Nein‘, von dem ich sprach?

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Was heißt es, die Welt ‚entwirklichen‘ oder die Welt ‚ideieren‘? Es heißt nicht, wie Husserl meint, das Existenzurteil zurückhalten; es heißt vielmehr, das Realitätsmoment selbst versuchsweise aufheben, [...], jenen ganzen, ungeteilten, machtvollen Realitätseindruck mit seinem affektiven Korrelat – heißt, jene ‚Angst des Irdischen‘ beseitigen“.176 Bis jetzt hat man diesen Satz auf eindeutig dualistische Weise ausgelegt: Man solle nicht nur, wie es bei Husserl der Fall ist, das Urteil über die Welt, sondern die Welt selbst ausschalten, um sich einer Welt der idealen Objekte zuzuwenden. Meines Erachtens ist die Bedeutung dieses Satzes eine andere. An dieser Stelle radikalisiert Scheler vielmehr die Husserlsche Reduktion durch ihre Erweiterung auf das Subjekt, um die „Angst des Irdischen“ zu überwinden, die durch ihre Last den Menschen existentiell in die Umweltgeschlossenheit drückt. Die Aufhebung des Existenzurteils ist demnach nicht hinreichend. Auch die affektive Struktur des Subjekts, welches ein solches Urteil materiell abgibt, soll ausgeschaltet werden. Es handelt sich deswegen um keine Epoché der Welt und der Realität, sondern um eine Epoché der Struktur der objektivierenden Subjektivität, damit die Weltoffenheit erreicht werden kann. Was ist nun genau die affektive Struktur des Subjekts, die durch die Epoché ausgeschaltet werden soll? Dem Text Schelers kann man mehrere Antworten ablesen, die jeweils einer konträren Einstellung der Subjektivität des Menschen entgegenzuwirken suchen, die nach der Erweiterung der eigenen Herrschaft über die Welt strebt und sich durch eine „Anspannung“ des Willens auszeichnet. Bereits in der mittleren Phase beschreibt Scheler die Reduktion in Richtung von einer cura sui,177 die durch Demut diese Anspannung in eine Entspannung umkehrt. „Der eine Weg ist der Weg der Anspannung des Geistes und des Willens, der Konzentration, der selbstbewußten Entfremdung von den Dingen und von sich selbst. Aller ‚Rationalismus‘ und alle Moral der ‚Selbstbefreiung‘, des ‚Sichrichtens‘, der ‚Selbstvervollkommnung‘ beruht auf dieser Richtung. Der andere Weg ist der Weg der Entspannung des Geistes und Willens, der Expansion und des steigenden Entzweischneidens der Fäden, die auch noch in schlaffer, untätiger Einstellung die Welt, Gott, die Menschen und übrigen Lebewesen an den eigenen Organismus und das eigene Ich auf automatische Weise ketten – der Weg der Vermählung mit den Dingen und Gott“ (Zur Rehabilitierung der Tugend, GW III, 22). Die Reduktion zielt also auf eine Aufhebung der Anspannung der Intentionalität im Subjekt und auf eine Ausschaltung der ihr zugrunde liegenden Struktur. Sie arbeitet darauf hin, 176

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M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt 1928, S. 64. Vgl. auch die entsprechende Stelle in den Gesammelten Werken, die allerdings von Maria Scheler modifiziert wurde: Die Stellung, GW IX, 43f. Der Terminus, den Scheler in diesem Sinne benutzt, lautet „Kunst der Seele“ oder „Kultur der Seele“ (Zur Rehabilitierung der Tugend, GW III, 22).

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„diese Anspannung, gleichsam den naturhaften ‚Stolz‘, die naturhafte Zentrierung der Welt und der Werte auf sein Ich, [auf] seine Organisation [...] zu beseitigen, um dadurch vorzudringen zur Welt selbst und zu ihren Wurzeln“ (Zur Rehabilitierung der Tugend, GW III, 23). Dieselbe Thematik der Entspannung taucht in den Schriften des späten Scheler in Bezug auf die hinduistische Tradition wieder auf. In der Abhandlung über den Ausgleich aus dem Jahr 1927 sagt Scheler diesbezüglich, dass die Person, um sich der Fülle der Welt zu öffnen, wie der junge Gott Krishna handeln muss, „der nachdem er lange vergeblich in einem Flusse mit der ihm umstrickenden Weltschlange, dem Sinnbild für den Kausalnexus der Welt, gekämpft hat, auf den Zuruf seines göttlichen Vaters, seiner himmlischen Natur eingedenk zu sein, sich dadurch den feindlichen Umwindungen der Schlange entziehet – so leicht, fügt der indische Mythos hinzu, wie eine Frau ihre Hand aus einem Handschuh zieht –, daß er mit jeder Stelle seines Körpers sich den Umwindungen der Schlange anpaßt, ihnen vollkommen nachgibt!“ (Ausgleich, GW IX, 161). Durch die Reduktion lässt die Anspannung nach, die das Subjekt in den Windungen der Schlange hemmt, um der Entspannung Raum zu geben, welche die Person dazu befähigt, sich der Kausalität und der ewigen Wiederkehr der faktischen Realität zu entziehen. 3.3.8 Reduktion: Methode oder Tèchne? Im Jahr 1922 bemerkt Scheler, dass die Husserlsche Reduktion ein „logisches Verfahren“ sei, das durch eine konkrete geistige „Tèchne der Reduktion“ ersetzt werden müsse, eine „Tèchne“, die in der Lage sei, unsere Stellung in der Welt zu ändern.178 Diese Seiten werden einige Jahre später fast wörtlich in den Idealismus-Realismus aufgenommen: Bei Husserl sehe man „nämlich gar nicht mehr, was denn an dem ‚blühenden Apfelbaume‘ (ein Beispiel E. Husserls) nun anders werden soll durch die bloße Zurückhaltung des Daseinsurteils; man sieht gar nicht, wie sich nur dadurch eine neue Gegenstandswelt eröffnen soll, die in der natürlichen Weltanschauung noch nicht mitenthalten war. Die Einklammerung der 178

Es handelt sich um einige unveröffentlichte Seiten, die den Titel „Realität und phänomenologische Reduktion“ tragen und von Maria Scheler auf das Jahr 1922 datiert worden sind. Vgl. Bayerische Staatsbibliothek Ana 315, CB II, 2, S. 27f. Daraus ergibt sich, dass bereits in der mittleren Phase – wenn man die Datierung auf das Jahr 1922 für richtig hält – ein wesentlicher Unterschied zu Husserl erkennbar ist, da nach Scheler das „Residuum bei Irrealisierung der Welt wohl die objektive, ‚ideale‘ Wesenswelt [ist,] nicht aber das ‚Bewußtseinsimmanente‘“ (vgl. Bayerische Staatsbibliotek Ana 315 CB II, 2). Vgl. hierzu auch Nachlass, GW XI, 72–81. Auch diese Seiten stammen aus dem Jahr 1922, wie man dem Hinweis auf der Seite 79 entnehmen kann.

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Daseinsetzung hat nichts zur Folge als ein schärferes Heraustreten des zufälligen Soseins des Gegenstandes, der dabei seine Raum- und Zeitstelle durchaus behält. Vom Wesen bleiben wir dabei völlig fern – und verwundert muß man sich fragen: wozu denn das Ganze? Ganz anders aber steht es, wenn wir unter Voraussetzung einer Lehre vom Realitätsmoment und den es gebenden Akten unter Reduktion die wirkliche Inhibierung dieses Moments und die wahrhafte Außerkraftsetzung (nicht nur ein logisches Absehen) der es gebenden Akte verstehen. Dann haben wir es nicht mehr mit einer bloßen Methode, das heißt einem Denkverfahren zu tun, sondern mit einer Tèchne, das heißt mit einem Verfahren inneren Handelns, durch das gewisse Funktionen, deren Vollzug in der natürlichen Weltanschauung stets erfolgt, faktisch außer Kraft gesetzt werden; mit einem Handeln ferner, durch das ein Verschwinden des Realitätsmoments selber gesetzt wird, nicht nur des Urteils über es“ (Idealismus-Realismus, GW IX, 207). Während Husserl in den Ideen I die Reduktion als eine neue „Methode“ des Denkens, d.h. als eine „epistemologische“ Reduktion versteht, schlägt Scheler eine Reduktion als eine „Tèchne“ der Umbildung vor, durch die der Mensch seiner exzentrischen Stellung in der Welt Gestalt zu geben sucht. Mich interessiert an diesem Zitat vor allem der Gebrauch des griechischen Terminus „Tèchne“. Was Scheler damit bezeichnet, hat offensichtlich nichts mit dem zu tun, was wir heute unter dem Begriff der Technik verstehen. Er spricht eben von einer Kunst „des inneren Handelns“. Meines Erachtens verweist Scheler durch diesen griechischen Begriff auf Platons Gedanken. Für diese These kann man sich bereits auf eine Stelle aus der mittleren Phase im Denken Schelers stützen, in der er nämlich die phänomenologische Reduktion als den moralischen Akt darstellt, dem der „platonische Aufschwung“ (Vom Wesen der Philosophie, GW V, 67) zugrunde liegt. Es ist nun geradezu dieser „platonische Aufschwung“, der im Nachlass ausdrücklich als eine „Tèchne“ (Nachlass, GW XI, 118) beschrieben wird. Was heißt nun in diesem Kontext tèchne bei Platon? 3.3.9 Platon und die tèchne tês periagogês Schelers Gebrauch des griechischen Terminus tèchne für die Bezeichnung der phänomenologischen Reduktion erinnert sehr an die tèchne tês periagogês im Höhlengleichnis Platons, durch die die Gefangenen aus der Höhle hinausgehen können. Diese tèchne versteht Platon als einen Bildungsprozess des Menschen; er lernt dadurch, seinen Blick auf das Gute hin zu lenken, damit seine Seinsweise in der Welt zurechtgerückt werden könne. Es geht also um eine conversio oder Umkehrung der eigenen Posi-

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tionalität in der Welt, die den Übergang vom Leben zum guten Leben zustande bringen kann. Diese tèchne ist grundlegend für das Verständnis der paideía bei Platon, die sich nicht mit einer bloßen Übertragung von Informationen begnügt, sondern vielmehr nach einer periagogé (Umkehrung) der ganzen Seele strebt. Es muss also – wie Sokrates sagt – eine besondere „Kunst der Umkehrung [tèchne tês periagogês]“ geben, die lehrt, auf welche Weise am leichtesten und wirksamsten die Seele umgewendet werden kann, und zwar unter Berücksichtigung dessen, dass sie bereits sehen kann, aber es alleine nicht schafft, das Gesicht zu wenden, „wohin es solle“ (Politeia, VII, 518 d). Die tèchne tês periagogês wird somit zur Voraussetzung für die epimèleia heautoû. Die Tèchne, die Scheler in die Mitte der phänomenologischen Reduktion rückt, scheint also auf die tèchne am Ursprung der cura sui hinzuweisen. Wenn Scheler die Reduktion als eine Tèchne der Umkehrung der zentrischen in die exzentrische Positionalität versteht, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der platonischen tèchne tês periagogês aufweist, so muss man die bisherigen Interpretationen der philosophischen Anthropologie Schelers gründlich revidieren. Ihr Epizentrum wird sich dabei von der Frage nach dem Geist zu derjenigen nach der Bildung der Person verschieben. Die philosophische Anthropologie der Bildung kann ihrerseits – durch den Rückgriff auf den antiken Begriff der epimèleia heautoû – als „Kultur“ der Person entfaltet werden. Die von Scheler eröffnete Perspektive mündet ferner in die Auseinandersetzung mit der von Pierre Hadot und dem späten Foucault aufgeworfenen Frage nach der cura sui. Gleichwohl muss man sofort hinzufügen, wo sich Schelers Weg von dem des „Platonismus“ scheidet. Indem Scheler das Hauptanliegen der als Tèchne verstandenen Reduktion nicht mehr in der Idee des Guten, sondern in der Bildung der Person sieht, trennt Scheler Platons Denken von der dualistischen Ideenlehre, damit die Welt aufgewertet werden könne. 3.3.10 Das Unzeitgemäße an dem Begriff der Demut Der Begriff der Demut179 rührt nicht selten an kritische Fragen und hat bisweilen schwerwiegende Missverständnisse aufkommen lassen. Bei der Erörterung dieser Thematik wird des Öfteren der Akzent ausschließlich auf die miserable, sündhafte Natur des Menschen gelegt, so dass humilitas mit Kasteiung assoziiert wird. Wohl emblematisch in diesem Zusammenhang ist zum Beispiel der Vorbehalt, den neuerdings Peter Sloterdijk – einer der zurzeit meist gelesenen deutschen Philosophen – anmeldet. Ihm zufolge unterliegt das Individuum dem absoluten Imperativ: Du mußt 179

Vgl. hierzu G. Cusinato, Scheler, a.a.O., S. 73–91.

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dein Leben ändern!, durch „zwei Arten von asymptotischen Bewegungen – einerseits auf der via perfectionis durch die ständige Steigerung der Kräfte, die uns dem summum bonum [...] ähnlich machen, andererseits auf der via humilitatis, bei welcher der Adept sich seiner selbst entledigt, in der Annahme, an der Stelle des alten Ich werde früher oder später das absolute Selbst oder Nichts Platz nehmen“.180 Die via humilitatis, auf der die „Agenten der Anti-Egoismus-Inquisition“181 am Werk seien und deren signifikantester Ausdruck in der Regula Benedikts mit ihren zwölf Stufen auf der „Leiter der Demut“ zu finden sei, fügt sich in Sloterdijks Sicht in einen Prozess der „Entselbstung“,182 in dem die individuelle Singularität zunichte gemacht werden soll. Sicherlich gab es im Verlauf der Geschichte des Christentums unzählbare Bewegungen, die die via humilitatis genau auf diese Weise interpretierten. Gleichwohl ist es sehr problematisch anzunehmen, dass das Christentum in seiner Gesamtheit nach der Aufhebung der Singularisation per excellence, d.h. der Person, gestrebt hätte. Einen anderen Zugang zur via humilitatis bietet meines Erachtens die Metapher, die Dostojewski am Anfang der Brüder Karamasov vorträgt: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht“ (Joh. 12, 24). Das Individuum entfaltet und bildet seine Identität nur durch eine kritische Abstandnahme von sich selbst. Nur indem es die Samenschale zerbricht und aus sich selbst heraustritt, kann es aufkeimen und Früchte tragen.183 Die humilitas entspricht der Epoché des Ego, welche das Individuum die eigene Schale zerbrechen lässt – nicht um zu sterben, sondern um sich weiterzuentwickeln und zu blühen.184 Es geht dabei um einen Prozess, der sich von den verschiedenen Formen der Ermächtigung unterscheidet, die von Spinoza oder Nietzsche thematisiert wurden. Auch bezüglich dieser Denker gilt das, was Schelling gegenüber Spinoza zum Ausdruck bringt: Die Potenzierung des Menschen geschieht nicht linear, sondern durch eine Krisis, eine Trennung, durch welche der Mensch sterben lernt, „um alles zu gewinnen“ (Erlanger Vorträge, SW IX, 218). Dank der Demut wird die cura sui kein Prozess der Erweiterung des eigenen Ego, sondern eine Übung der auf die Wiedergeburt hin orientierten Selbsttranszendierung. 180 181 182 183

184

P. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a.M. 2009, S. 396. P. Sloterdijk, a.a.O., S. 376. P. Sloterdijk, a.a.O., S. 396. Mit diesem Beispiel des aufkeimenden Samens möchte ich keine Form des biologischen Finalismus vorschlagen: Die Blüte der Person bleibt ein unvorhersehbarer schöpferischer Prozess. In einer ähnlichen Richtung sagt Schelling: „Alle Geburt ist Geburt aus Dunkel ans Licht; das Samenkorn muß in die Erde versenkt werden und in der Finsternis sterben, damit die schönere Lichtgestalt sich erhebe und am Sonnenstrahl sich entfalte“ (Freiheitsschrift, SW VII, 360).

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Das Aufkeimen und Heraustreten aus der eigenen Schale impliziert keineswegs die Ausschaltung der eigenen Identität, es bringt vielmehr einen Bildungsprozess der personalen Identität zu Wege. Aus dieser Sicht ist der Prozess der „Entselbstung“ vielmehr die Folge einer fehlgeschlagenen Übung der Selbsttranszendierung. 3.3.11 Demut als Modus der Liebe Was Schelers Philosophie kennzeichnet, ist seine Suche nach den der Reduktion zugrunde liegenden Kräften in der affektiven Sphäre. Die erste Phase der Reduktion, die dekonstruierend auf die Eitelkeit des Ego einwirkt, wird durch die Demut gelenkt,185 während die zweite Phase, in der die cura sui stattfindet, durch das Lieben geleitet wird. Die Begriffe der Demut und der Liebe entfaltet Scheler in seiner mittleren Phase in Bezug auf die christliche Tradition. Beim späten Scheler erweitert sich der Horizont, bis Platon und die östliche Denktradition mit einbezogen werden. Ich schlage vor, die Demut als die Kraft zu verstehen, die die „Verdammung“ des Egozentrismus überwindet. Scheler selbst beschreibt diese Verdammung sehr schön: „Der Stolze, dessen Auge auf seinem Wert – wie gebannt – hängt, lebt notwendig in Nacht und Finsternis. Seine Wertewelt verdunkelt sich von Minute zu Minute; denn jeder erblickte Wert ist ihm wie Diebstahl und Raub an seinem Selbstwert. [...] Im Gefängnis seines Stolzes eingeschlossen, wachsen und wachsen die Wände, die ihm das Tageslicht der Welt absperren. Seht ihr das ichgierige, eifersüchtige Auge, wenn er die Brauen runzelt? Demut hingegen öffnet das Geistesauge für alle Werte der Welt. Sie erst, die davon ausgeht, daß nichts verdient sei und alles Geschenk und Wunder, macht alles gewinnen!“ (Zur Rehabilitierung der Tugend, GW III, 21). Das Entscheidende an diesem Gedanken Schelers liegt meiner Ansicht nach darin, dass er die Demut nicht als eine Art moralischer Selbstgeißelung, sondern als einen besonderen Modus der Liebe versteht. Insofern die Demut als Kraft der Liebe und nicht der Erniedrigung wirkt, kann sie eine befreiende Sprengkraft werden: „Die Demut ist ein Modus 185

Dieses sollte nicht im Sinne einer Ausschaltung der Selbstliebe, sondern als das, was Kant Eigendünkel nennt, ausgelegt werden. „Da dieses Gesetz aber doch etwas an sich Positives ist, nämlich die Form einer intellectuellen Causalität, d.h. der Freiheit, so ist es, indem es im Gegensatze mit dem subjektiven Widerspiele, nämlich den Neigungen in uns, den Eigendünkel schwächt, zugleich ein Gegenstand der Achtung und, indem es ihn sogar niederschlägt, d.i. demüthig, ein Gegenstand der größten Achtung“ (KpV A 130). Hier findet man eine Konvergenz zwischen Schelers Reduktion und der Handlung des moralischen Gesetzes bei Kant. Allerdings zielt Scheler nicht auf die Reinigung von der affektiven Sphäre, sondern auf die Reinigung der affektiven Sphäre ab.

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der Liebe, die sonnenmächtig allein das starre Eis zerbricht, das der schmerzensreiche Stolz um das immer leerere Ich gürtet“ (ibid.). Die Liebe ist also in Schelers Denken die heimliche Triebfeder der ganzen Reduktion als tèchne der Wiedergeburt. Die richtige Übung der Demut mündet in die Ehrfurcht vor dem Anderen und in die Weltoffenheit. Durch eine ständige Übung der Demut kann ich mich von dem Bedürfnis nach Bestätigung befreien, welches mich in den Kreis des désir mimétique stürzt, es lernen, mich von der „Angst des Irdischen“ zu distanzieren und die Last der mir durch die sozialen Rollen auferlegten Besorgnisse – die Schwere, die meine Existenz allmählich zu unterdrücken droht – abzulegen. Der Mensch braucht also die Reduktion, um seiner Exzentrizität eine Gestalt zu geben, indem sie die Gewissheiten des Ego dekonstruiert. Denn gerade das Bedürfnis nach Gewissheit, welches auch in den großen Systemen der Metaphysik und der Wissenschaft seinen Ausdruck gefunden hat, stellt sich letztlich als eine Bemühung heraus, die in Wahrheit nichts über die – vom späten Schelling gepriesene – „Freudigkeit der Existenz“ besagt. Die Demut hat eine wichtige Funktion auch in der Übung des Fühlens. Es wäre viel zu einfältig zu denken, dass die anthropologische Übung ohne Mühe stattfinden könnte, indem ich meinem unmittelbaren Gefühl folge. Denn nicht der ordo amoris, sondern der désordre du cœur stellt sich als der Ausgangspunkt des Menschen dar. Dem eigenen Gefühl Gehör schenken, heißt also nicht einem unmittelbaren Gefühl automatisch folgen, sondern vielmehr – durch eine Übung des Fühlens – eine kritische Distanz zu der Unbestimmtheit meiner Gefühle gewinnen. Ohne diese Distanz führte mich die Unordnung meines Gefühls dazu, mich durch die Erfolgsmodelle des herrschenden Denkens fremdbestimmen zu lassen. Und das wiederum stürzte mich in einen immer tragischeren Teufelskreis. Wenn der Akt der Selbsttranszendierung in sich auch eine kritische Abstandnahme von eigenen Gefühlen einschließt, dann wird die Reduktion als anthropologische Übung in ihrem Anfang nicht von dem eigenen ordo amoris gelenkt, da ein strukturierter ordo amoris vielmehr eine anthropologische Übung voraussetzt. Um aus der Unbestimmtheit der eigenen Gefühle herauszutreten, ist es nötig, sich selbst zu transzendieren. Um es zu schaffen, muss man einen Stützpunkt außerhalb von sich selbst finden, nämlich das Vorbild des Anderen. Die Angst des Menschen davor, nicht wahrhaft zu leben, die ihn begleitet, wenn er seine Existenz aufgrund der Unordnung des Herzens entwirft, ist nun vollkommen gerechtfertigt. Unser ganzes affektives System ist auf der Suche nach einer verlebendigenden Kraft, die im Vorbild des Anderen aufblitzt. Das Vorbild des Anderen belebt den Menschen in dem Maße, in dem es unsere anthropologische Übung auf einen Höhe-

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punkt des Fühlens hin lenkt.186 Um wirksam zu sein, setzt der Akt des Vorbildes aber die Umkehrung der Anspannung des Willens in die Entspannung der Demut voraus. 3.3.12 Die Ehrfurcht und die Landschaft unserer Erfahrung Demut als tèchne der Ausschaltung des Egozentrismus und Ehrfurcht im Sinne der Achtung vor der Sakralität des Anderen stellen für Scheler zwei zentrale Tugenden dar, da wir durch sie lernen, nicht dem, was besitzt und erobert werden kann, sondern dem, was uns umbilden kann, Wert zu schenken.187 Die Übung der Demut erlaubt dem Menschen, von der Logik der Anspannung, d.i. der Erweiterung des Ego, zu der Logik der Entspannung überzugehen.188 Damit jedoch dieser Übergang geschehe, muss die Demut von der Ehrfurcht begleitet werden.189 In der Ehrfurcht führe ich das, was mich umgibt, weder auf mich zurück noch strebe ich danach, es zu besitzen. Vielmehr wird in ihr sicht-

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187 188 189

Dieser Übergang von der Unordnung des Herzens zum ordo amoris ist als ein gradueller zu verstehen. Auch in der anfänglichen Unordnung liegt eine Richtigkeit des Fühlens, die allerdings noch nicht auftaucht, während auch im vollkommensten ordo amoris ein Missklang, ein unrichtiges Fühlen, da ist. Vgl. M. Scheler, Zur Rehabilitierung der Tugend, GW III, 13–31. Vgl. § 3.3.7. Der Terminus Ehrfurcht steht auch im Mittelpunkt der Reflexion Albert Schweitzers (1875–1965). In der folgenden Stelle beschreibt er, wie bei ihm diese Ehrfurcht vor dem Leben entstanden ist: „Ich saß auf einem der Schleppkähne. Ich hatte mir vorgenommen, mich auf dieser Fahrt ganz in das Problem des Aufkommens einer Kultur, die größere ethische Tiefe und Energie besäße als die unsere, versunken zu bleiben. Blatt um Blatt beschrieb ich mit unzusammenhängenden Sätzen, nur um auf das Problem konzentriert zu bleiben. Müdigkeit und Ratlosigkeit lähmten mein Denken. Am Abend des dritten Tages, als wir uns beim Sonnenuntergang in der Nähe des Dorfes Igendja befanden, mußten wir einer Insel in dem über einen Kilometer breiten Fluß entlang fahren. Auf einer Sandbank, zur linken, wanderten vier Nilpferde mit ihren Jungen in derselben Richtung wie wir. Da kam ich, in meiner großen Müdigkeit und Verzagtheit plötzlich auf das Wort ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘, das ich, so viel ich weiß, nie gehört und nie gelesen hatte. Alsbald begriff ich, daß es die Lösung des Problems, mit dem ich mich abquälte, in sich trug. Es ging mir auf, daß die Ethik, die nur mit unserem Verhältnis zu den andern Menschen zu tun hat, unvollständig ist und darum nicht die völlige Energie besitzen kann. Solches vermag nur die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Durch sie kommen wir dazu, nicht nur mit Menschen, sondern mit aller in unserm Bereich befindlichen Kreatur in Beziehung zu stehen und mit ihrem Schicksal beschäftigt zu sein, um zu vermeiden, sie zu schädigen, und entschlossen zu sein, ihnen in ihrer Not beizustehen, soweit wir es vermögen“ (A. Schweitzer, Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten, München 1966, S. 20).

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bar, was Schelling bekanntlich als „unheimlich“ bezeichnet,190 d.h. was in seiner irreduziblen Andersheit anerkannt wird und gerade deswegen Unruhe herbeiführt. Wo immer wir „zur ehrfürchtigen Haltung gegenüber den Dingen übergehen, da sehen wir, wie ihnen etwas hinzuwächst, was sie vorher nicht besaßen; wie etwas an ihnen sichtbar und fühlbar wird, was vorher fehlte: Eben dies ‚Etwas‘ ist ihr Geheimnis, ist ihre Werttiefe. Es sind die zarten Fäden, in denen sich jedes Ding in das Reich des Unsichtbaren hineinerstreckt. [...] Die Ehrfurcht ist die einzige und notwendige Haltung des Gemütes, in der diese ‚Fäden ins Unsichtbare hinein‘ zur geistigen Sichtbarkeit gelangen“ (Zur Rehabilitierung der Tugend, GW III, 26). Die Emotionen und die Gefühle färben die Landschaft unserer Erfahrung. Sie sind es, die ihre Umrisse, Gestalten und Irregularitäten auftauchen lassen und sichtbar machen. Ohne sie – insbesondere ohne Ehrfurcht – nähme die Landschaft unserer Erfahrung einen Charakter der Fläche und der Eintönigkeit an. „Das Phänomen des ‚Horizonts‘ und der ‚Perspektive‘ ist nicht nur in den Bezirk des rein Optischen beschlossen. [...] Die ‚Ehrfurcht‘ aber ist es, die in der Region der Werte diese Horizontnatur und diesen Perspektivismus unserer geistigen Natur und Welt aufrechterhält. Die Welt wird sofort ein flaches Rechenexempel, wenn wir das geistige Organ der Ehrfurcht ausschalten. Sie allein gibt uns das Bewußtsein der Tiefe und Fülle der Welt und unseres Ich und bringt uns zur Klarheit, daß die Welt und unsere Wesen einen nie austrinkbaren Wertreichtum in sich tragen“ (Zur Rehabilitierung der Tugend, GW III, 27). Die Ehrfurcht bringt den Menschen aus dieser vergegenständlichenden Perspektive hinaus und führt in unsere Erfahrung eine weitere Dimension ein, indem sie uns die Phänomene als nicht nur im optischen Sinne vielseitige Gegenstände sehen lässt. Durch die Ehrfurcht lernen wir, Phänomene in einem anderen Licht zu erblicken und uns über sie zu wundern. 3.3.13 Von der Evidenz zur Erleuchtung Durch die Phänomenologie der Ehrfurcht positioniert Scheler sich außerhalb jener Philosophie der Evidenz, die einen gewissen Reiz – wenn auch in unterschiedlichem Maße – auf Brentano und Husserl ausgeübt hat. Was flach ist, ist nicht vielseitig, hat keine Seiten zu verbergen. Was flach ist, kann auf apodiktische und evidente Weise erfasst werden. Die „philosophi190

„Unheimlich nennt man alles, was im Geheimniß, im Verborgnen, in der Latenz bleiben sollte und hervorgetreten ist“ (Philosophie der Mythologie, SW XII, 649). Diese Stelle zog die Aufmerksamkeit sowohl Freuds als auch Heideggers auf sich.

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sche“ Reduktion bei Scheler begnügt sich nicht nur damit, die Eitelkeit des Ego aufzuheben, sondern sie schaltet auch die objektivierende Intentionalität aus, denn sie hat ein vollkommen anderes Ziel als die wissenschaftliche Reduktion. Auch hier besteht eine gewisse Nähe Schelers zum späten Schelling. In der Darstellung der reinrationalen Philosophie bemerkt Schelling nämlich, dass das Projekt der Modernität zwar den Menschen vom materiellen Bedürfnis befreie, aber nicht wirklich die Frage danach angehe, was den Menschen glücklich macht. Die Wissenschaft stattet den Menschen mit vielen Gewissheiten über die ihn umgebende Realität aus, nicht ohne weiteres aber mit Gewissheiten über den Wert seiner Existenz.191 Ein ähnlicher Gedanke kommt auch bei Scheler vor, demzufolge es falsch sei zu meinen, dass das Ziel der philosophischen Reduktion in der Erreichung der Evidenz liege. Scheler behauptet sogar, dass genau das Gegenteil der Fall sei. Denn es sei geradezu das Gefühl der Evidenz, das die Reduktion – als anthropologische Übung der Umbildung – hemme. Wenn ich mir das Ziel setze, ein sicheres und evidentes Wissen zu gewinnen, hält mein Blick starr an der Gegebenheit fest und das ganze Gebiet der Selbstgegebenheit verschwindet aus meinem Horizont. Denn die Selbstgegebenheit stellt präzise Bedingungen, um sich zu offenbaren. Vor dem Blick, dem es an Demut und Ehrfurcht mangelt, verbirgt sie sich. Wie Scheler merkt, darf man nicht Evidenz und Selbstgegebenheit miteinander vermengen.192 Wenn ein Phänomen evident und apodiktisch ist, so hat es keinen Raum mehr für ein freies Sichoffenbaren und wird unfähig, irgendeine Verwunderung zu erwecken. Hier tritt ein weiterer Unterschied gegenüber Husserl zutage, denn Scheler verwendet den Terminus der Selbstgegebenheit nicht in Bezug auf die Evidenz, sondern auf das Sichoffenbaren. In der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Schrift Vom Ewigen im Menschen stellt Scheler fest: „Das (richtig verstandene) Prinzip der Evidenz besteht für mich darin, daß ein objektiver Sach- oder Wertverhalt seinem Sosein nach [...] in den Geist selbst herein leuchtet“ (Vom Ewigen im Menschen, GW V, 17). Das, was dank des eigenen Vermögens „leuchtet“, kann eigentlich nicht als Evidenz im üblichen Sinne, sondern vielmehr als Erleuchtung verstanden werden. Meines Erachtens hat Scheler einen Begriff der Evidenz im Sinne, der anders geartet ist als der bei Descartes, Brentano oder Husserl. Auf diese Weise nimmt Scheler in der gesamten Bewegung der Phänomenologie eine besondere Stellung ein, da er mit äußerster Entschiedenheit die von Descartes stammende Lehre von

191 192

Vgl. § 2.3.5. Vgl. Nachlass, GW XI, 114.

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einem Evidenzvorzug der inneren Wahrnehmung vor der äußeren ablehnt.193 3.3.14 Evidenz und Relativismus Man könnte einwenden, dass man ohne den Begriff der Evidenz keine adäquaten Mittel für die Bekämpfung des Relativismus habe. Die Behauptung jedoch, dass ein Individuum nicht immer mit Gewissheit wissen kann, worin seine Glückseligkeit zu finden sei, oder dass es daran zweifelt, wie es seine Existenz zu führen habe, schließt keineswegs den Relativismus ein, sondern entspricht vollkommen einer Ethik als unendlicher Bildung. Was würde es darüber hinaus bedeuten, die Ethik auf die Evidenz zu gründen? Würde sie die Gewissheit des Fühlens oder des Urteilens betreffen? Mir scheint, dass hinter der Philosophie der Evidenz des Öfteren die Suche nach einem unbezweifelbaren und unfehlbaren Wissen steckt, welches an Descartes’ methodischen Zweifel am Anfang der Ersten Meditation erinnert, der in die Ausschließung der Sinne mündet: „prudentiae est nunquam illis plane confidere qui nos vel semel deceperunt“.194 All das, was mich auch nur ein einziges Mal getäuscht hat, muss ausgeschlossen werden. So verlockend sie auch sein mag, niemand kann sich im konkreten Leben ausschließlich an diese Klugheitsregel halten. Auffällig ist auch die Tatsache, dass selbst die Experimentalwissenschaft Descartes nicht gefolgt ist: Um das Risiko in den Griff zu bekommen, hat sie die Wahrscheinlichkeitstheorie entwickelt. Was sich also durchgesetzt hat, ist nicht die Evidenz, sondern die Wahrscheinlichkeitsrechnung, welche keineswegs Relativismus ist. Das wissenschaftliche Experiment beruht selbst bei der Messung einer bestimmten Größe nicht auf der Evidenz eines einzigen Datums, sondern errechnet aus mehreren erhaltenen Messwerten einen Durchschnitt. Die Evidenz hat außerdem nicht notwendigerweise eine ethische Relevanz. Die Kraft des Fühlens oder eines Werturteils liegt nicht in der Evidenz, sondern in der Möglichkeit, die schöpferische Umbildung der Person zu fördern. Meines Erachtens erweist sich die Kritik am ethischen Relativismus als viel wirksamer, wenn man den Begriff der Evidenz durch den der Erleuchtung ersetzt. Es ist nicht die apodiktische Evidenz, sondern die Erleuchtung des Vorbildes, was die Überwindung des ethischen Relativismus zustande bringen kann. Die vergegenständlichende Evidenz stellt sich als das Zeichen der bedingungslosen Kapitulation der Gegeben193 194

Vgl. vor allem die zwischen 1911 und 1915 verfasste Abhandlung: Die Idole der Selbsterkenntnis, GW III, 213–293. „Es ist eine Klugheitsregel, niemals denen volles Vertrauen zu schenken, die uns auch nur ein einziges Mal getäuscht haben.“

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heit vor dem Subjekt dar. Man kann nämlich von Evidenz nur dann sprechen, wenn sich das Gegebene auf ein Zusammen von klaren und deutlichen Vorstellungen reduziert, die nichts mehr zu verbergen haben. Das evident Gegebene ist eine Gegebenheit, welche von jeglicher Initiative abgehalten wird. Um evident zu sein, muss die „Form“ des Gegebenen in vorhersehbaren Umrissen festgehalten werden. Diese Voraussehbarkeit, mit Sicherheit von großem Nutzen für die exakten Wissenschaften, kann aber in der affektiven Sphäre ein tragisches Hindernis werden. Das evident Gegebene ist eine flache Gegebenheit, ihm fehlen die unerschöpfliche Tiefe und Fülle, die nur dank der Ehrfurcht erblickt werden können. Wenn mir eine Person oder sogar meine eigene Existenz als evident und selbstverständlich gegeben ist, gelange ich schließlich dazu, sie als schon gestorben zu empfinden. In der Selbstgegebenheit erscheint hingegen etwas, was man als Gegenintentionalität bezeichnen könnte, d.h. eine Initiative, die als eine Erleuchtung vom Phänomen herstammt und Verwunderung zu erwecken vermag. 3.3.15 Die Verwunderung im Anblick der höchsten Evidenz Wenn man erst einmal zur emotionalen Einstellung der Demut und der Ehrfurcht gefunden hat, schafft man die Bedingungen, das in neuem Licht zu erblicken, was unter der zuvor herrschenden Perspektive evident und selbstverständlich vorkam. Hier verbinden sich die für Schelers Philosophie grundlegendsten Begriffe: Wissen, Bildung, Selbstgegebenheit, Reduktion, Demut, Ehrfurcht und Verwunderung, und hier scheint Schelers Grundeinsicht durch: Während Descartes durch den methodischen Zweifel zur Evidenz zu gelangen sucht, gelangt Scheler zur Verwunderung, indem er die Evidenz in Zweifel zieht. Die philosophische Verwunderung ist die zentrale Kategorie der anthropologischen Übung als cura sui. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihr etwas zum Leuchten kommt, und wenn der Mensch von dieser Erleuchtung getroffen wird, treibt ihn die Verwunderung zu einer Umbildung des Selbst. Dies ist letztlich das Ergebnis, auf das es bei der Erweiterung der Reduktion auf das Subjekt ankommt. Man könnte sagen, der Philosoph sei derjenige, der sich über etwas wundern kann, das sonst von allen anderen als selbstverständlich betrachtet wird. Die Philosophie gründet in diesem Fall nicht auf der Gewissheit, sondern auf der Fähigkeit, sich über etwas zu wundern, was normalerweise für höchst evident gehalten wird. Was ist nun die höchste Evidenz? Scheler antwortet: Sie ist nicht das cogito, sondern, „daß überhaupt Etwas ist – und nicht lieber Nichts ist“ (Zur Rehabilitierung der Tugend, GW III, 18). Wenn dies die höchste Evidenz ist, so besteht die Philosophie darin,

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diese Evidenz von etwas Selbstverständlichem in die Quelle des Erstaunens zu verwandeln. Nur für die Eitelkeit des Ego zeigt sich indessen die Evidenz – dass ich lebe – als selbstverständlich und keiner Aufmerksamkeit wert. Aus der Perspektive der Demut und der Ehrfurcht erweist sie sich im Gegenteil als höchst erschütternd. Sie ist sogar fähig, eine Umkehr im Leben der Person zu fördern. „Auf das echte ‚Loslassen‘ unseres Selbst und seines Wertes, auf das Wagnis, sich ernstlich in die fürchterliche Leere hinauszuschwingen, die jenseits aller Ichbezüglichkeit, [...] gähnt – eben darauf kommt es an! Wagt es, euch dankbar darüber zu verwundern, daß ihr nicht nicht seid, daß überhaupt Etwas ist, und nicht lieber Nichts ist!“ (Zur Rehabilitierung der Tugend, GW III, 18). Bei diesem Übergang von der Evidenz zur philosophischen Verwunderung lernt der Mensch, sich zu transzendieren und von der banalen Weise der Selbstbetrachtung Abstand zu nehmen, d.h. sich auch über die eigene Existenz zu wundern und sich als eine unerschöpfliche Quelle des Neuen zu erleben. Diese Übung der Verwunderung wird mithin zum zentralen Moment der cura sui. 3.3.16 Reduktion und Alltäglichkeit Normalerweise sucht man im Alltäglichen – in der Arbeit, in den sozialen Beziehungen, in der Familie – die eigene Verwirklichung. Man gewinnt den Eindruck, dass Scheler, obwohl er das Hauptproblem, die Epoché des Ego und die Bildung als cura sui, richtig erkannt hat, dasselbe außerhalb der Alltäglichkeit zu lösen suchte. Man spürt eine gewisse Ratlosigkeit, wenn man sieht, wie Scheler die Gegebenheit der Umwelt als illusorisch bestimmt. Man kann wohl behaupten, dass der Egozentrismus danach strebt, sich in die eigenen Illusionen zu hüllen. Schwerlich kann man aber die natürliche Einstellung selbst oder das Verhältnis des Organismus zur Umwelt für illusorisch halten. Die Gegebenheit der eigenen Umwelt für „illusorisch“ ausgeben, hieße die ontologische Würde derselben verneinen.195 Umweltgeschlossenheit und Illusion sind jedoch keineswegs einander gleichbedeutend. 195

„Unter ‚Egozentrismus‘ verstehe ich die Illusion, die eigene ‚Umwelt‘ für die ‚Welt‘ selbst zu halten, d.h. die illusionäre Gegebenheit der eigenen Umwelt als ‚die‘ Welt“ (Sympathiebuch, VII, 69). Hier verwechselt Scheler zwei Sachen, die voneinander zutiefst verschieden sind: Sicherlich ist es eine Illusion, die eigene „Umwelt“ für die „Welt“ selbst zu halten. Eindeutig falsch hingegen ist die Annahme, dass die Gegebenheit der eigenen Umwelt selbst „illusionär“ wäre. In eine andere Richtung bewegt sich die Auslegung von H.R. Sepp, Ego und Welt. Schelers Bestimmung des Illusionscharakters natürlicher Weltanschauung, in: C. Bermes, W. Henckmann, H. Leonardy (Hg.), Vernunft und Gefühl. Schelers Phänomenologie des emotionalen Lebens, Würzburg, 2003, S. 81–92.

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Es besteht dabei die Gefahr, dass die Reduktion als Ausschaltung der „illusorischen“, mit der Alltäglichkeit übereinstimmenden Realität verstanden würde, um die einzige und „wahre“ Realität des Philosophen zu erreichen. Im Stillen stellt sich so das dualistische Modell wieder her, das in der Alltäglichkeit eine Täuschung sieht, die mit der der Gefangenen in der Platonischen Höhle vergleichbar ist. Auf dieses Problem weist auch Charles Taylor hin, als er bemerkt, dass heutzutage das „gute Leben“ ausgehend vom „gewöhnlichen Leben“ gedacht werden muss: „das Höhere sei nicht außerhalb des gewöhnlichen Lebens zu finden, sondern in einer Art und Weise, dieses Leben zu führen“.196 Taylor stützt sich bei dieser Bemerkung auf die historische Entwicklung, nach der sich das gute Leben – seit der wissenschaftlichen Revolution des siebzehnten Jahrhunderts – nicht mehr allein auf das kontemplative Leben beschränken dürfe, was zu der Vorstellung geführt habe: „Philosophen sollten sich nicht mit der bloßen Handhabung von Dingen [...] abgeben“.197 Zunächst ist Schelers Haltung zu dieser Frage zweideutig. Erst ab 1923 – dank des Durchbruchs der Realitätsfrage in sein System – beginnt er damit, sich ausdrücklich mit der Frage nach der Ontologie der Alltäglichkeit auseinanderzusetzen. Von der erhöhten Aufmerksamkeit auf das Alltägliche zeugt zum Beispiel die neue Theorie des Wissens, die Scheler in der Schrift Erkenntnis und Arbeit darlegt und in der alle drei Arten von Wissen ontologische Würde erhalten, was in der früheren Abhandlung Lehre von den drei Tatsachen noch nicht der Fall war. Aufgrund dieser Wende kann Scheler in Erkenntnis und Arbeit auch den Begriff der Arbeit aufwerten. Wenn man allen Sphären des Realen198 eine ontologische Würde zuerkennt, besteht die philosophische Reduktion nicht mehr im Übergang vom Nichtsein zum Sein, von der Täuschung zur Wahrheit, vom Bösen zum Guten, sondern sie wird zum Übergang von der ärmeren Realitätsebene der Umweltgeschlossenheit zur reicheren der Weltoffenheit. Nur auf diese Weise kann die Reduktion als anthropologische Übung in den Mittelpunkt jeder alltäglichen Existenz rücken. Es gilt nicht, die Alltäglichkeit aufzuheben, sondern das auszuschalten, was für selbstverständlich gehalten wird, so dass sich der Mensch über sich selbst und die Anderen zu wundern lernt. Dazu ist es nötig, sich die in der langjährigen Geschichte angesammelte „tèchne“ der epimèleia heautoû anzueignen, durch welche die Menschheit tagtäglich versucht hat, eine Umkehrung der eigenen Lebensweise zu vollziehen.

196 197 198

C. Taylor, Quellen des Selbst, a.a.O., S. 51. C. Taylor, Quellen des Selbst, a.a.O., S. 375. Vgl. A. Schütz, On Multiple Realities, in: Philosophy and Phenomenological Research 5 (1945), S. 533–576.

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3.4 Wert als Urphänomen 3.4.1 Gefühlsethik und Werte In der Geschichte der Philosophie gab es mehrere Versuche, die Ethik auf das Gefühl zu gründen. Sie bringen sich jedoch in die Gefahr, in die Kantische Kritik an Humes Gefühlsethik zu geraten, wenn sie keine sorgfältige Analyse der Schichtung des emotionalen Lebens durchführen. Um Kants Einwände aus dem Weg zu räumen, sollte man eine Ethik entwickeln, welche sich nicht auf das sinnliche Gefühl, sondern nur auf ein intentionales Fühlen stützt, das jedoch nicht mit einer Empfindung des Angenehmen und des Unangenehmen verwechselt werden darf. Die von Scheler insbesondere im Formalismus dargelegten phänomenologischen Untersuchungen, in denen er verschiedene Gefühls- und Wertklassen unterscheidet, können – unter bestimmten Voraussetzungen – eine Hilfe bei dieser Aufgabe sein.199 Aus Schelers Perspektive richtet sich die Ethik auf eine besondere Wertklasse, die der personalen Werte. Diese Ethik ist keine utilitaristische oder sensualistische, da sie nach der solidarischen Bildung der Person trachtet. Sie ist ferner keine relativistische, da in dieser „Gefühlsethik“ das Subjekt nicht den Wert setzt, sondern sich darauf beschränkt, ihn in der Erfahrung empirisch zu fühlen, denn: „Der Wert muß erblickt sein“ (Formalismus, GW II, 176). Schließlich nimmt Scheler durch diese realistische Ethik von verschiedenen Formen des ethischen Subjektivismus Abstand. Zu denken, dass der Wert nicht im Fühlen gegeben, sondern vielmehr eine subjektive Gefühlsantwort auf die Eigenschaften von Gegenständen sei200 oder dass er auf die

199

200

In dieser Richtung stellt Hans Joas fest, „daß Scheler den vielleicht reflektiertesten und komplexesten Versuch unternommen hat, unter postmetaphysischen Bedingungen und basiert auf einer Phänomenologie der Gefühle eine Wertethik zu begründen und zu entfalten. Er ist bei diesem Versuch aber so radikal vorgegangen, daß er [...] über das Ziel hinausschoß und sich damit Probleme auflud, die ein heutiger Versuch, den Bann der imperativistischen Ethik zu brechen, vermeiden muß“ (H. Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M. 1999, S. 157f.). Vgl. A. Meinong, Psychologisch-ethische Untersuchung zur Werttheorie, (1894), in: Meinong’s Gesammelte Abhandlungen, Bd. III, 1–244. Meinong selbst wird in den folgenden Schriften diese These als „psychologisch“ bezeichnen und sie in Richtung eines Wertrealismus überwinden, in welchem die Emotionen intentional auf die Werte orientiert sind. Die Werte sind insofern durch Gefühle repräsentiert. Vgl. ders., Emotionale Präsentation, (1917), in: Meinong’s Gesammelte Abhandlungen, Bd. III, 283–476. Für eine Untersuchung dieser Positionen vgl. K. Schumann, Der Wertbegriff beim frühen Meinong, in: R. Halle (Hg.), Meinong und die Gegenstandtheorie, Graz 1996, S. 521–535; W. Baumgartner, Wertpräsentation, in: Halle (Hg.), a.a.O., S. 537–548.

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„Begehrbarkeit“ zurückgeführt werden könne,201 wäre hingegen mit der Psychologisierung desselben gleichbedeutend. Damit nun diese Gefühlsethik nicht wieder in einen neuen Dogmatismus verfällt, sollte die Vorstellung abgelehnt werden, nach der dieses Fühlen intuitiv auf apodiktische Weise den Wert erfassen könne. Was „gefühlt“ wird, muss einem unendlichen hermeneutischen Prozess unterzogen werden. Somit existieren nicht einmal „Werte an sich“, die als „ideales Sein“202 verstanden werden sollten, denn der Wert hängt mit dem intentionalen Akt zusammen, der ihn erblickt, wie Scheler schon im Formalismus darstellt: „Werte müssen ihrem Wesen nach in einem fühlenden Bewußtsein erscheinbar sein“ (Formalismus, GW II, 270). 3.4.2 Wert und Erfahrung Um sich mit einem dermaßen umstrittenen Thema wie dem des Wertes auseinanderzusetzen, muss man gleich die Kernfrage angehen: Was ist Wert? Des Öfteren hat man bei der Beantwortung dieser Frage den Wert als etwas einer Qualität oder einem Attribut Ähnliches konzipiert. Meines Erachtens muss die Antwort hingegen in der Verbindung des Wertes mit der Erfahrung gesucht werden. Der Wert ist nichts, was dem Phänomen von außen zugeschrieben würde, sondern etwas, was dem Phänomen die Möglichkeit gibt, sich zu offenbaren und sich zu konstituieren. In dieser Richtung behauptet Scheler, dass der Wert keine „Eigenschaft“ eines Dinges neben seinen anderen Eigenschaften sei: „Alle diese Begriffe ‚Ding‘, ‚Eigenschaft‘, ‚Tätigkeit‘ können für die Erklärung des Wertes nichts leisten, ziehen vielmehr mit jener Macht, die historischer Begriffsbildung eignet, den Wert immer schon von vornerein in die Kategorie des Seins hinein“ (Beiträge, GW I, 98). Der Wert als grundlegende Seinsweise ist deswegen keine Kategorie des Seins, wie die Qualität.203 Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Werten und Erfahrungen stellt einen der am schwierigsten zu interpretierenden Aspekte in Schelers Denken dar. Weit verbreitet ist die Vorstellung, dass Scheler eine „erfahrungsunabhängige Präexistenz der Werte“ annehme,204 oder dass ethische Werte ihm zufolge nicht in der Erfahrung gegeben sein könnten. Bei letz201

202 203 204

„Der Wert eines Dinges ist seine Begehrbarkeit“ (C. von Ehrenfels, System der Werttheorie, I. Band, Allgemeine Werttheorie, Psychologie des Begehrens, Leipzig 1897, S. 53). In der Polemik mit Bolzano behauptet Scheler: „Wir leugnen aufs Bestimmteste, daß es ‚ideales Sein‘ gäbe als selbständige Seinsregion“ (Nachlass, GW XI, 241). „Wertsein ist als letzte Grundart des Seins ebenso elementar wie Dasein und Sosein“ (Nachlass, GW XI, 60). Vgl. H. Joas, Die Entstehung der Werte, a.a.O., S. 158.

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terer Behauptung stützt man sich oft auf eine Stelle in dem Ersten Teil des Formalismus: Ethische Werte „sind erstens Werte, deren Träger (ursprünglich) niemals als ‚Gegenstände‘ gegeben sein können, da sie wesenhaft auf der Person- (und Akt-)seite liegen“ (Formalismus, GW II, 103). Scheler meint damit wohl, dass der Träger des ethischen Wertes, d.h. die Person, in der Erfahrung niemals in Gestalt einer res oder eines Gegenstandes „gegeben“ sein kann, da sie nicht vergegenständlicht werden kann. In anderen Worten, die Person ist in der Erfahrung wohl präsent – allerdings nicht in dem Modus der Gegebenheit, wie ein Stein oder ein Stuhl, sondern in dem der Selbstgegebenheit. Das größte Problem der Werttheorie Schelers besteht darin, dass eine statische und eine dynamische Version der Werttheorie existieren, die sich nur schwerlich miteinander vereinbaren lassen. Scheler selbst spricht in der mittleren Phase von „ewiger Rangordnung“, „ethischem Absolutismus“ oder „Gegenstandscharakter der Werte“. Diese Ausdrücke setzt er dem entgegen, was er 1914 den „herrschenden ethischen Relativismus“ genannt hat (Die transzendentale und die psychologische Methode, GW I, 386). Sie brachten ihm viel Kritik ein, vor allem vonseiten Heideggers, Carl Schmitts und Ernst Topitschs. Plessner bezeichnete Schelers Versuch gar als eine Symphonie von Blicken, die auf das Absolute gerichtet seien. Mehrmals stößt man auf den Unterschied zwischen einem Scheler, der ein Reich der Werte „so blendend klar wie jene der mathematischen Astronomie“ (Ordo amoris, GW X, 363) beschreibt, und einem Scheler, der vor allem in der späten Phase – fasziniert von einem werdenden Gott, der sich in der Bewegung des gewaltigen Wettersturmes der Welt und der Geschichte verwirklicht – bereitwillig zugibt, dass nicht nur die Sterne, sondern auch die Werte und die Ideen entstehen und vergehen, denn es gebe „im Weltprozess keine ‚absoluten‘ Ideenkostanten, keine absoluten Prinzipien und keine absoluten Gesetze“ (Nachlass, GW XI, 261). Die bis jetzt vorgebrachten Einwände haben nur ungenügend die Tatsache berücksichtigt, dass viele Ambiguitäten, die man noch im Ersten Teil des Formalismus (1913) finden kann, durch den Zweiten Teil desselben (1916) überwunden werden und dies vor allem die Frage nach der Wertanschauung und die nach dem Verhältnis zwischen Erfahrung und Apriori betrifft. Von den allerersten Zeilen des Zweiten Teils des Formalismus an ertönt ein neuer Klang, der Schelers Absicht, die Ethik mit der Erfahrung zu versöhnen, zum Ausdruck bringt: „Jede Art von Erkenntnis wurzelt in Erfahrung. Und auch die Ethik muß sich auf ‚Erfahrung‘ gründen. Es ist aber eben die Frage, was das Wesen derjenigen Erfahrung ausmacht, die uns die sittliche Erkenntnis gibt, und was für wesentliche Elemente eine solche Erfahrung enthält“ (Formalismus, GW II, 173). Nach der Feststellung, dass das Problem des ethischen Urteils nicht allein durch die „Ana-

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lyse des sprachlich formulierten beurteilenden Satzes“ gelöst werden kann, führt Scheler den Begriff der „sittlichen Tatsache“ ein: „Nichts erscheint dem oberflächlichen Blick paradoxer als die Behauptung, daß es so etwas gäbe wie sittliche ‚Tatsachen‘“ (Formalismus, GW II, 173). Scheler zufolge werden die sittliche Tatsachen und die Werte weder in der Sphäre der inneren Erfahrung bzw. in der der idealen Gegenstände vernommen205 noch haben sie etwas mit den platonischen Ideen,206 der essentia der Scholastiker oder Bolzanos idealen Gegenständen zu tun. Noch weniger kann man sie auf das ideale und normative Sollen bei Windelband und Rickert zurückführen. Als Ergebnis dieser langen kritischen Untersuchung, die den Zweiten Teil des Formalismus einleitet, vertritt Scheler die These: „Werte sind Tatsachen, gehörig zu einer bestimmten Erfahrungsart, und es gehört darum zum Wesen der Wahrheit eines solchen gültigen Satzes, daß er mit diesen Tatsachen übereinstimmt“ (Formalismus, GW II, 195–196). Von diesem Moment an wird deutlich, dass ein Wert für Scheler nicht unabhängig von der Erfahrung und dem mit ihr zusammenhängenden intentionalen Akt existieren kann. Das, was unabhängig von der Erfahrung existieren kann, ist nur die Wertqualität, nicht der Wert. Denn während „ideale Objekte“ nur die Wertqualitäten sind,207 sind die Werte Tatsachen, die zu einer bestimmten Erfahrungsart gehören. 3.4.3 Wert als erster Bote Was bedeutet nun hier „eine bestimmte Erfahrungsart“? Im Zweiten Teil des Formalismus stellt Scheler dar, dass die Werttatsachen Urphänomene sind208 und dass „die Werte als Urphänomene zur Gegebenheit kommen“ (Formalismus, GW II, 259). Der Wert gehört demnach einem Teilbereich der Erfahrung an, jedoch nicht als einfaches Phänomen, sondern vielmehr als Urphänomen. Daraus folgt, dass der Wert nicht – wie eine Wertqualität oder ein Attribut – auf die Gegebenheit eines Phänomens zurückgeführt werden kann, da er der Erscheinung des Phänomens selbst vorangeht. Als Urphänomen ist der Wert Element der Vorgegebenheit, nicht der faktischen Gegebenheit. 205 206 207

208

Vgl. Formalismus, GW II, 174f. Denn auch „ein Kind spürt der Mutter Güte und Sorge, ohne irgendwie die Idee des Guten erfaßt zu haben“ (Formalismus, GW II, 176). Viele Interpreten führen Schelers Wertbegriff auf ein ideales Objekt zurück. In Wahrheit definiert aber Scheler als „ideale Objekte“ nicht die Werte, sondern nur die Wertqualitäten: „Wertqualitäten sind hiergegen ‚ideale Objekte‘“ (Formalismus, GW II, 43). Vgl. Formalismus, GW II, 258.

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Mit „Vorgegebenheit“ ist hier keine von der Erfahrung unabhängige Ebene gemeint, sondern eine „Urgegebenheit“, die der Gegebenheit des Phänomens vorhergeht und voranschreitet. Eben dieses „Voranschreiten“ ist der Schlüsselbegriff, mit dem man die tiefste Bedeutung des Wertbegriffs erfassen kann. Die wichtigste Definition, die Scheler dem Begriff des Wertes gibt, ist bis jetzt zwischen den Seiten des Formalismus gleichsam verborgen geblieben: Der Wert schreitet seinem Gegenstand voran, „er ist der erste ‚Bote‘ seiner besonderen Natur. Wo er [der Gegenstand, G.C.] selbst noch undeutlich und unklar ist, kann jener [sein Wert, G.C.] bereits deutlich und klar sein. Bei jeder Milieuerfassung erfassen wir z.B. zugleich zunächst das unanalysierte Ganze und an diesem Ganzen seinen Wert“ (Formalismus, GW II, 40).209 Der Wert ist also das, was das Phänomen verkündet und der weiteren Entwicklung seines Ausdrucks Richtung gibt. Die Wertnuancen eines Gegenstandes sind das Primäre, was von ihm auf uns zukommt, und gleichsam das Medium, in dem das Bild und die Bedeutung des Objekts aufgehen und sich kundtun. Die Etymologie des Substantivs „Wert“ ist umstritten. Fast immer wird sie auf einen wirtschaftlichen Ursprung zurückgeführt. Man hat die Hypothese oft außer Acht gelassen, dass das Wort von dem lateinischen Verb vertere210 stammen könnte – von einem Verb, das mehrere Bedeutungen hat, wie z.B. „sich richten“, „sich wenden“ und „werden“.211 Der Wert des Phänomens ist das, was den Blick veranlasst, sich etwas zuzuwenden. Im Akt des Sich-Wendens des Gesichts, also indem man etwas Aufmerksamkeit schenkt, wird dieses „Etwas“ zum Phänomen. Der Sinn des Wertes, zumindest des personalen, besteht darin, dem „Etwas“ eine Würde zu schenken, so dass es aus dem unbestimmten Hintergrund des „Etwas“ als Singularität hervortritt. Als Urphänomen bestimmt der Wert das vertere, das sich Wenden, wodurch das Phänomen ans Licht kommt. Ein solches vertere ist der Horizont, in dem das Phänomen aufgeht, und zugleich das Mittel, durch das es sich der Welt offenbart.

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210

211

In einem Beitrag an der Internationalen Tagung der Max Scheler Gesellschaft in Köln 1995 habe ich bereits auf die Relevanz dieser Definition hingewiesen. Siehe Absolute Rangordnung und Relativität der Werte im Denken Max Schelers, in: G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, S. 67. Das Substantiv „Wert“ wird auf das Adjektiv „wert“ zurückgeführt (vgl. J. und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 14, I. 2., Leipzig 1960, S. 460–469) und dieses „an die unter -wärts genannten Formen sowie an lat. Versus“ (W. Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Berlin 1993, Bd. II, S. 1559). „Versus“ ist aber das Partizip vom lateinischen Verb „vertere“. Vgl. G. Devoto, Avviamento alla etimologia italiana, Firenze, Le Monnier, 1970.

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3.4.4 Funktionalisierung und Apriori Wenn Scheler den Werten als Urphänomenen eine „apriorische“ Funktion zuschreibt, wie können dann die Werte, wie im vorigen Abschnitt erwähnt, „Tatsachen, gehörig zu einer bestimmten Erfahrungsart“ (Formalismus, GW II, 195), sein? Im Ersten Teil des Formalismus legt Scheler das materiale Apriori als eine von einer „unmittelbaren Anschauung“ erblickte „ideale Bedeutungseinheit“ aus (Formalismus, GW II, 67). In den darauf folgenden Schriften nimmt Scheler aber von dieser Begriffsbestimmung Abstand. Überdies erklärt er in Erkenntnis und Arbeit, dass er unter „Apriori“ etwas anderes als Kant versteht: „Jede Denkart, jedes der strukturierten antizipatorischen Schemata, in denen überhaupt Weltanschauungsformen und Wissenschaftsformen das Sosein der Welt darstellen, ist durch Funktionalisierung geworden“ (Erkenntnis und Arbeit, GW VIII, 198). Die Funktionalisierung ist der Prozess, in welchem eine bestimmte Erfahrung, unter Abstraktion aller zufälligen Merkmale, zur Form der Auffassung – zur Selektionspriorität – aller weiteren Erfahrungen derselben Art wird: „Was vorher Sache war, wird Denkform über Sachen; was Liebesobjekt war, wird Liebesform, in der nun eine unbegrenzte Zahl von Objekten geliebt werden können; was Willensgegenstand war, wird Wollenform usw.“ (Vom Ewigen, GW V, 198). Somit wird das Apriori zu einer dynamischen Struktur, die neue Erfahrungen funktionalisiert, wobei diese, wenn sie vorbildwirksam sind, retroaktiv auf das Apriori selbst einwirken können – anders als bei Kant, wo die Wirkung einseitig vom Apriori auf die Erfahrung gerichtet ist. Die Funktionalisierung des Apriori geschieht z.B. im ordo amoris der Person, wenn diese eine besonders bedeutsame Erfahrung macht. Eine solche Erfahrung kann unter gewissen Bedingungen den ordo amoris des Individuums tiefgreifend restrukturieren. Mit der Theorie der Funktionalisierung des ordo amoris betritt Scheler einen Raum außerhalb des Kantischen Wortschatzes und konzipiert ein „empirisches Apriori“, welches sich dem formalen Apriori Kants entgegensetzt.212 Es handelt sich um einen Begriff, der unter mehreren Aspekten als paradox gilt. Im Anschluss an Dilthey und Simmel zielt Scheler auf die Historisierung und Empirisierung eines Teils des Kantischen Apriori ab. Das Apriori bei Scheler bildet keinen Gegensatz zur Erfahrung überhaupt, sondern nur zur „zufälligen“, d.h. nicht funktionalisierenden Erfahrung. Schon früher bewegte sich Schelling in diese Rich212

Schelers berühmte Feststellung, dass „[die] Identifizierung des ‚Apriorischen‘ mit dem ‚Formalen‘ [...] ein Grundirrtum der kantischen Lehre [ist]“ (Formalismus, GW II, 73), ist insofern nicht korrekt, als Kant selbst die Existenz eines nicht reinen, mit dem Empirischen gemischten Apriori zugibt (KrV, B 3). Das, was Kant nicht zugibt, ist vielmehr die Bestimmung durch die Gegebenheit.

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tung, als er beobachtete, dass der Gedanke des „Empirismus des Apriorischen“ nur denjenigen absurd vorkommt, die in der Perspektive der negativen Philosophie verhaftet sind, keineswegs jedoch denjenigen, die an die positive Philosophie gelangt sind, welche ausdrücklich als „empirischer Apriorismus“ definiert wird (Begründung der positiven Philosophie, SW XIII, 130). Der Begriff, der dem Verständnis dessen zugrunde liegt, was die bestimmte Erfahrungsart sei, die als das Apriori neue Erfahrungen funktionalisiert, ist der des Vorbildes: „Das Wertbild bestimmt den Umfang möglicher Erfahrung, indem es sich ablöst von der zufälligen ersten Erfahrung und ‚ideiert‘ wird. Es wirkt wie eine subjektive Kategorie. Seine Wirkung ist ferner um so größer, je weniger es ausdrücklich bewußt als Vorbild ist [...]. Die früheren Vorbilder bestimmen die Schemata zukünftiger, möglicher Erfahrung“ (Vorbild und Führer, GW X, 272, Anm.). So geht Scheler auf das Problem des materialen Apriori in Bezug auf die Vorbildwirksamkeit der Erfahrung ein. Die individuelle Bestimmung oder das dynamische Schicksal eines Menschen ist größtenteils von der Funktionalisierung der ersten vorbildlichen Inhalte gelenkt, auf die sein ordo amoris in der frühen Kindheit gerichtet war. In diesem Sinne machen für das Kind die ganzen Erfahrungen des Vorbildlichen und des Gegenbildlichen bei dem Vater und der Mutter den Kern des individuellen Apriori aus, das seine künftigen Erfahrungen funktionalisieren wird.213 Bei Schelers Gedanken des materialen Apriori werden einerseits das ideale Wesen durch das empirische Vorbild und andererseits die Kantischen formalen Kategorien durch die funktionalisierenden Kategorien ersetzt, die in der Schrift Ordo amoris mit den auf die Erfahrung hin geöffneten „Fenstern“ verglichen werden und die unsere Art und Weise, die Dinge zu sehen und zu erfahren, im Voraus bestimmen: Der Mensch schreitet „einher wie in einem Gehäuse, das er überallhin mit sich führt; dem er nicht zu entrinnen vermag, wie schnell er auch liefe. Er gewahrt durch die Fenster dieses Gehäuses die Welt und sich selbst – nicht mehr von der Welt und sich selbst und nichts anderes als das, was ihm diese Fenster nach ihrer Länge, Größe, Farbe zeigen“ (Ordo amoris, GW X, 348). Eine Erfahrung wird für den ordo amoris nur „wesentlich“, insofern sie „vorbildwirksam“ ist. Je wirksamer das Vorbild ist, desto relevanter wird es für die personale Erfahrung.214 Folglich dringt nur das Vorbildoder Gegenbildwirksame in das materiale Apriori des Individuums ein und funktionalisiert die neuen Erfahrungen. Der Begriff des Apriori hat sich bei Scheler, verglichen mit dem bei Kant, in Bezug auf eine wesentliche Frage verändert: Die Kategorien des 213 214

Vgl. Formalismus, GW II, 562. Vgl. Vorbild und Führer, GW X, 272.

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Apriori erfüllen eine selektive und keine synthetische Funktion. Das bedeutet für Scheler, dass sich das Erkenntnisproblem nicht auf einer allgemeinen Ebene, sondern immer aus einer individuellen, geschichtlich oder biologisch bedingten Perspektive stellt. Jedes Individuum, bewusst oder unbewusst, erkennt die Welt immer durch seine eigenen „Scheuklappen“.215 Es geht also nicht darum, die individuelle selektive Struktur auszuschalten, sondern darum, sie weniger einseitig und weniger eingeschränkt zu machen. Diese Position erinnert an Gadamers These, der zufolge es nicht darum geht, die Vorurteile zu tilgen, sondern die „produktiven Vorurteile“ von den nicht produktiven zu scheiden.216 Wenn die menschliche Erkenntnis durch die dem Individuum eigenen Scheuklappen-Vorurteile erfolgt, stellt das, was Kant als das Apriori des Bewusstseins konzipiert, keinen Ausgangspunkt dar, sondern nur das Ergebnis der Sedimentation der Tradition, der Glaubensformen und all dessen, was innerhalb einer bestimmten Kultur offensichtlich und selbstverständlich ist. Deswegen behauptet Scheler, dass das Apriori im transzendentalen Sinne Kants „nichts Ursprüngliches, sondern ein Gewordenes“ ist (Vom Ewigen, GW V, 208). Die Kantischen Verstandeskategorien des Apriori sind also das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses.217 Scheler zufolge besteht die Herausforderung, vor der sich die europäische Philosophie am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts befand, darin, den Fehler der Verabsolutierung des eigenen Gesichtspunktes überwinden zu lernen. Die europäischen Kultur- und Wissenskategorien können nicht mehr als absoluter und notwendiger Bezugspunkt für die anderen Kulturen gelten. Diesbezüglich spricht Scheler von einem spezifischen philosophischen Fehler – vom Europäismus.218 Jede Individualität tritt also vor dem Hintergrund eines vorausgesetzten und für selbstverständlich gehaltenen Wissens, nämlich der Tradition, und nicht vor dem eines allgemeinen Apriori hervor. Diese historisierte Wissensstruktur, in

215 216 217

218

Formalismus, GW II, 308; Versuche einer Philosophie des Lebens, GW III, 320. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, S. 301. Schon im Jahre 1900 notiert Scheler, dass „Kant einen geschichtlichen Stand der Erfahrung zu der Erfahrung verabsolutierte“ (Die transzendentale und die psychologische Methode, GW I, 219). 1914 behauptet Scheler, ein Jahr früher als Spengler, dass die Kategorientafel Kants nur die Kategorientafel des europäischen Denkens sei (vgl. Der Genius des Krieges, GW IV, 171 und Die Soziologie des Wissens, GW VIII, 62). Scheler zufolge entspricht die „europäische ‚Wissenschaft‘, die Kant als Datum voraussetzt [...], wahrscheinlich nur derjenigen europäischen Struktur des Geistes“, die dazu tendiere, die Natur zu beherrschen (Der Genius des Krieges, GW IV, 171). Vgl. Vom Ewigen, GW V, 201; Vom Ewigen, GW V, 353. Siehe auch Der Genius des Krieges, GW IV, 175.

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welcher das Individuum von Anfang an befangen ist, setzt Scheler mit der „natürlichen Weltanschauung“ gleich. Es ist allerdings aufschlussreich, dass Scheler 1921 den Ausdruck der natürlichen Weltanschauung durch den der „relativ natürlichen Weltanschauung“ (Weltanschauungslehre, GW VI, 15) substituiert. Was steckt hinter diesem Zusatz „relativ“? In der Wissenssoziologie bemüht sich Scheler darum offenzulegen, dass die Lebenswelt keine einzige und allgemein für alle gültige, sondern eine individuelle, sozial bedingte Wissensstruktur ist, die als selbstverständlich und „fraglos“ erlebt wird, da sie innerhalb jeder Gruppe eine Art unbezweifelbare und unanfechtbare Voraussetzung darstellt. Scheler zufolge gehört zur relativ natürlichen Weltanschauung einer sozialen Einheit „alles, was generell in dieser Gruppe als fraglos ‚gegeben‘ gilt“ (Soziologie des Wissens, GW VIII, 61). Auf diese Weise sammelt und synthetisiert Schelers Wissenssoziologie die beste Tradition des deutschen Historizismus in sich und bietet Alfred Schütz die unentbehrlichen Prämissen für die Entfaltung der Theorie der Lebenswelt.219 Man kann sogar feststellen, dass Schelers Begriff der „relativ natürlichen Weltanschauung“ mit der These vereinbar ist, die später als „ethnozentrische Wende“ bekannt wurde. Der wichtigste Aspekt in Schelers Auffassung zeigt sich darin, dass er die soziale und geschichtliche Relativität der Kultur- und der Wissenskategorien vollauf anerkennt und zugleich diese Verschiedenheit nicht im Sinne des Relativismus, sondern im Hinblick auf die ontologische Geltung der individuellen Singularität und auf ihre Irreduzibilität auf das Allgemeine auszulegen sucht. Gerade deswegen ist es immer schwierig gewesen, Schelers Position festzulegen. In den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts galt Scheler als Nietzscheanhänger und Vertreter des ethischen Relativismus,220 während er in den späteren Jahrzehnten 219

220

Schütz selbst erwähnt mehrmals Scheler bezüglich desselben Begriffs und erkennt dessen Relevanz an. Vgl. A. Schütz, Collected Papers, Vol. II. Studies in Social Theory, Den Haag 1976, S. 95f. Zu Schelers Einfluss auf Husserl und Schütz in Bezug auf den Begriff der Lebenswelt siehe M. Frings, Person und Dasein, Den Haag 1969, S. 4. Siehe hierzu auch die Untersuchung von F. Fellmann über Schelers Einfluss auf Habermas: F. Fellmann, Daseinswelt, Arbeitswelt, Lebenswelt. Von Eucken über Habermas zu Scheler, in: R. Becker, C. Bermes, H. Leonardy (Hg.), Die Bildung der Gesellschaft, Würzburg 2007, S. 156–165. Was die Einwände gegen den Relativismus und Vitalismus betrifft, erwähne ich nur zwei Fälle: 1920 kritisiert Rickert die Positionen Schelers, da er in ihnen einen gefährlichen Angriff gegen die okzidentale Metaphysik sieht (vgl. H. Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920); 1934 äußert Przywara seine Unzufriedenheit mit Schelers Wertobjektivismus, da dieser nicht ‚stark‘ genug, weil nicht verankert in der Existenz einer Welt der idealen Gegenstände, sondern vielmehr ein Ausdruck des nietzscheanischen Vitalismus sei (vgl. E. Przywara, Augustinus. Die Gestalt als Gefüge, Leipzig 1934).

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als Exponent des ethischen Absolutismus angesehen wurde. In Wahrheit hat Scheler durchgängig eine Alternative sowohl zum ethischen Relativismus als auch zum ethischen Absolutismus gesucht. 3.4.5 Absolute und relative Werte Mit dem Begriff der Rangordnung führt Scheler den großangelegten Entwurf fort, mit dem er sich der Tendenz einer Nivellierung der Wertunterschiede entgegenzustellen sucht. Der Begriff der Rangordnung und der des Wertes sind nur verständlich, wenn man sie zueinander in Beziehung setzt. Scheler sucht nach einem Gesetz zwischen den unterschiedlichen Werten und findet es in der Vorstellung einer Rangordnung.221 In der mittleren Phase spricht Scheler von einer „absoluten Rangordnung der Werte“, die als Polarstern der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit betrachtet werden kann. Dies wird häufig so ausgelegt, als wären nicht nur die Rangordnung, sondern auch die Werte selbst ewig und unveränderlich. Auf diese Art und Weise werden zwei unterschiedliche Konzepte miteinander vermengt. Der Begriff der absoluten Rangordnung stimmt nicht mit der individuellen Konzeption von Werten überein. Denn jede individuelle Wertstruktur – wie die des ordo amoris oder des Ethos – ändert sich und ist der Geschichte und dem Gesetz der Funktionalisierung unterworfen. Der Begriff einer absoluten Rangordnung drückt vielmehr ein absolutes und konstantes Prinzip aus, das a priori jeden möglichen Wertzusammenhang strukturiert. Sie bestimmt eine präzise formale Ordnung zwischen den verschiedenen Wertklassen, der zufolge ein vitaler Wert höher ist als ein Wert des Angenehmen oder des Unangenehmen und ein personaler Wert einem vitalen Wert vorzuziehen ist. Das, was Scheler unter dem abgekürzten Ausdruck „absolute Rangordnung der Werte“ versteht, ist in Wirklichkeit eine „absolute Rangordnung von Wertklassen oder Wertmodalitäten“ (Formalismus, GW II, 122). Hier fällt der Akzent auf die ewige, absolut invariable Ordnung, die zwischen den verschiedenen Wertklassen herrscht. Scheler benutzt gelegentlich das Adjektiv „absolut“ als Beiwort auch für die Werte selbst, und zwar in einer anderen Wortbedeutung. Dies ist in der Tat irreführend. Viele Schelerforscher haben sich zu dem Schluss verleiten lassen, Scheler schlage eine absolute Rangordnung der absoluten Werte vor. Genauer besehen, spricht jedoch Scheler auch von relativen Werten und darüber

221

„Eine dem gesamten Wertreiche eigentümliche Ordnung liegt darin vor, daß Werte im Verhältnis zueinander eine ‚Rangordnung‘ besitzen, vermöge deren ein Wert ‚höher‘ als der andere ist, res. ‚niedriger‘. Sie liegt [...] im Wesen der Werte selbst“ (Formalismus, GW II, 104).

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hinaus von einer einzigen absoluten Rangordnung der absoluten und relativen Werte. Um diese Schwierigkeit zu überwinden, ist es angebracht, sich auf die von Scheler vorgenommene Unterscheidung zwischen Relativität erster und zweiter Ordnung zu beziehen: Die erste hat mit den Gütern zu tun, die zweite mit den Werten.222 Während die Relativität der Güter von dem subjektiven Geschmack abhängt, drückt die Relativität zweiten Grades „die Stufe der Relativität der Werte oder auch ihr Verhältnis zu den absoluten Werten“ aus (Formalismus, GW II, 114). Für Scheler entspricht dieser Relativität zweiten Grades immer eine „objektive“ Daseinsrelativität des Individuums. Die personalen Werte können also absolut oder relativ in Bezug auf den Grad und die Fülle des Sichgebens sein, sie sind jedoch nie subjektiv: „ein relativer Wert ist darum, weil er relativ ist, durchaus kein subjektiver Wert“ (Formalismus, GW II, 114). Nur die Relativität des ersten Grades ruft den Relativismus hervor, da sie die Ordnung des Vorziehens vom Geschmack des Individuums abhängen lässt, während die des zweiten Grades von der psychophysischen Organisation des Individuums unabhängig bleibt, da sie das Verhältnis eines Werts zu dem die Wertrangordnung konstituierenden Gesetz ausdrückt. Das Adjektiv „absolut“ hat in diesem Fall nichts mit einem angenommenen universalen und idealen Charakter des Wertes zu tun, sondern bezieht sich auf den Begriff der Weltoffenheit. Ein relativer Wert funktioniert als ein selektierender Filter, der nur einzelne bestimmte Aspekte der Gegebenheit hervorscheinen lässt. Ein absoluter Wert hat hingegen keine selektionierende Funktion. Wenn ich mich durch einen absoluten Wert auf die Welt beziehe, erfasse ich nicht nur das von der Welt, was meiner Intentionalität selbstreferentiell relevant scheint, sondern ich öffne mich der Welt durch die Haltung der Ehrfurcht, durch die einzige Haltung, die mir die Erfahrung des Sichoffenbarens erlaubt. Mit „absolut“ ist hier „rein“ im Sinne von „vollständig“ und „nicht gewählt“ gemeint, so dass ein Phänomen durch diesen absoluten Wert vollständig zur Selbstgegebenheit kommen kann (Lehre von den drei Tatsachen, GW X, 433).223 Dieser Begriff der Selektion muss weiter präzisiert werden. Scheler lehnt die Vorstellung ab, nach der sich das Auge wie ein Photoapparat verhalte, der ein Bild der Welt fokussiert oder aus der Welt nur einige Aspekte selektioniert. Die Wahrnehmung sei vielmehr eine Handlung. Der Leib nehme im Sinne des Handelns wahr, so dass Scheler der Wahrnehmung das Körperschema zugrunde legt. In diesem Sinne kann man eine Konvergenz zwischen Schelers Phänomenologie der sinnlichen Wahr-

222 223

Vgl. Formalismus, GW II, 115. „Absolut“ steht für diejenigen Werte, die für ein reines Fühlen – unabhängig von der Sinnlichkeit und Nützlichkeit – gegeben sind. Vgl. Formalismus, GW II, 115.

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nehmung und Gibsons Theorie der affordances feststellen.224 Scheler überträgt aber seine Intuition auch auf die ethische Ebene und befreit sie von jeglichen naturalistischen Missverständnissen. Den Begriff der Selektion und des selektiven Filters darf man sich nicht wie eine Blende eines Photoapparates vorstellen, die das Interesse mechanisch nur auf bestimmte Aspekte lenkt und die übrigen im Schatten lässt. Die Werte sind absolut und relativ in Bezug auf das Sichoffenbaren. Die relativen Werte „selektionieren“ insofern, als sie der Wahrnehmungstätigkeit innerhalb der Relevanz des Organismus oder der Intentionalität des Subjekts eine Orientierung bieten. In diesem Sinne kann man die Wahrnehmungstätigkeit als einen „kognitiven Metabolismus“ interpretieren, der die relevanten Eigenschaften der Gegebenheit zu überarbeiten sucht. Die absoluten Werte fördern hingegen einen Metabolismus, der von der Selbstgegebenheit ausgeht. Dabei ist die Lage umgekehrt, da ich nicht mehr nach Informationen über die Eigenschaften eines für mich nützlichen Gegebenen suche, sondern versuche, meinen „Hunger nach Sein“ zu stillen, indem ich an dem metabolischen Prozess teilnehme, durch den sich ein vorbildwirksames Phänomen konstituiert hat. Durch den absoluten Wert setze ich mich der Weltoffenheit aus, um Nahrungsmittel für meine Bildung zu suchen.225 Während der relative Wert die Art und Weise der Ernährung des Organismus und des Selbst anzeigt, ist der absolute Wert der einzige, der dem Hunger nach Sein eine Antwort zu geben vermag. So sagt Scheler: „Es ist nicht das faktische Standhalten in der Erfahrung oder die Verallgemeinerungsfähigkeit des Urteils [...], was uns jene Evidenz des absoluten Wertes gibt; sondern es ist die gefühlte Absolutheit seiner, die uns jetzt schon den Gedanken eines Aufgebens oder eines Verzichtes auf ihn zugunsten anderer Werte als ‚mögliche Schuld‘ und als ‚Abfall‘ von der eben erreichten Höhe unserer Wertexistenz fühlen macht“ (Formalismus, GW II, 116). 3.4.6 Wertrangordnung und Selbstoffenbarung Damit sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Eingangsfrage zu beantworten: Aufgrund welchen Kriteriums können wir behaupten, dass eine Wertklasse höher oder niedriger ist als eine andere? Man könnte sich fragen, ob ein solches Kriterium auf den Akt des Vorziehens oder Nachsetzens zurückführbar sei. Scheler hat zunächst in seinem Aufsatz Das Ressentiment „evidente ewige Vorzugsgesetze und eine ihnen entsprechende ewige Rangordnung“ (Das Ressentiment, GW III, 69) dargelegt. 224 225

Vgl. G. Cusinato, La Totalità incompiuta, a.a.O., S. 191f. Vgl. G. Cusinato, La Totalità incompiuta, a.a.O., S. 288f.

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Im Formalismus heißt es dagegen, dass die „Rangordnung der Werte selbst etwas absolut Invariables ist, während die Vorzugsregeln in der Geschichte noch prinzipiell variabel sind“ (Formalismus, GW II, 106). Die Vorzugsregeln werden im Formalismus darüber hinaus den Störungsphänomenen unterworfen, die in der Abhandlung über Das Ressentiment untersucht worden sind. Wenn also der Akt des Vorziehens und Nachsetzens kein konstantes Kriterium darbieten kann, das die Rangordnung regelt, wie kann man dann erklären, warum ein personaler Wert einem vitalen Wert übergeordnet ist, während ein vitaler Wert dem Wert des Angenehmen und Unangenehmen übergeordnet ist? Was ändert sich ferner zwischen den verschiedenen Klassen, die in der Rangordnung vorgesehen sind? Was steigert sich und was vermindert sich in der Ordnung? Die Ordnung, die zwischen den unterschiedlichen Wertklassen herrscht, muss ein solches Kriterium widerspiegeln. Die Wertrelativität zweiten Grades und die Daseinsrelativität beziehen sich auf den Grad der Fülle des Sichoffenbarens. Es gibt unterschiedliche emotionale Durchbrüche, höhere und niedrigere Grade der „Offenheit“. Ein Wert ist umso höher, je breiter die Weltoffenheit ist, die er fördert, und umso niedriger, je mehr er eine solche Offenheit beschränkt, je undurchdringlicher er in der Umweltgeschlossenheit eingesperrt bleibt. Während ein sinnlicher Wert nicht das Sichgeben des Phänomens, sondern nur einen begrenzten – und zwar für die eigene Triebstruktur relevanteren – Teil der Gegebenheit des Phänomens zur Erscheinung bringt, lassen die absoluten Werte das Phänomen in seiner vollkommenen Selbstgegebenheit zutage treten. Das erste Kriterium für die Bestimmung der Höhe eines Wertes in der Rangordnung ist mithin der Grad der Selbstoffenbarung des Phänomens, den dieser Wert ermöglicht: Von den niedrigeren bis zu den höheren Wertklassen drückt sich eine immer intensivere Fülle aus, mit der das Phänomen erscheint, bis es jene Höhe erreicht, in der die Gegebenheit zur Selbstgegebenheit wird. Gemäß einem solchen Kriterium, d.h. insofern er einem bestimmten Grad der Umweltgeschlossenheit oder der Weltoffenheit entspricht, tendiert ein bestimmter Wert spontan dazu, auf einer bestimmten Höhe der Rangordnung gefühlt zu werden. Es ist dabei hervorzuheben, dass die Frage nach der Weltoffenheit keine abstrakte ist, sondern eng mit der philosophischen Anthropologie der Bildung – mit der Anthropologie der cura sui – verbunden ist. Die Weltoffenheit ist für Scheler der Ort, in dem die Person sich bilden kann. Dieser Aspekt wird noch deutlicher, wenn man das zweite Kriterium der Rangordnung der Werte, das Prinzip der Solidarität, in Erwägung zieht.

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3.4.7 Die unvertretbare Solidarität und die Mitverantwortlichkeit Die cura sui „heilt“ durch die Weltoffenheit und die Solidarität. Diese besondere Form der Heilung ist das, was man traditionell unter dem Begriff des Heiligen versteht. Dem ersten Kriterium zufolge ist der Wert des Heiligen der absolute Wert per excellence, da er uns dazu anleitet, etwas nicht nur in Bezug auf das, was sich uns als „nützlich“ erweist, sondern in seinem Sichoffenbaren vollständig zu erblicken. Das zweite Kriterium für die Bestimmung der Höhe eines Wertes in der Rangordnung ist der Grad der „Mit-teilbarkeit“. Scheler versteht meiner Ansicht nach unter dem Begriff der „Mit-teilbarkeit“ das Teilen im solidarischen Sinne, d.h. eine bestimmte Form der Teilhabe.226 Auch gemäß dem zweiten Kriterium ist der Wert des Heiligen der höchste Wert: „das ‚Heil‘ als Gesamtpersonwert, d.h. das (solidarische) Gesamtheil, ist gleichzeitig die unteilbarste und eben darum mit-teilbarste der Wertmodalitäten“ (Formalismus, GW II, 542). Im Gegensatz dazu erweisen sich die niedrigsten Werte wie die des Angenehmen und Unangenehmen oder des Nützlichen und Schädlichen als am wenigsten unteilbar und zugleich am wenigsten mit-teilbar. Das Begriffspaar der Unteilbarkeit und der Mit-teilbarkeit setzt sich dem Akt des oppositiven – und deswegen nicht solidarischen – Teilens entgegen: „die Werte [sind] um so ‚höher‘, [...] je weniger sie ‚teilbar‘ sind“ (Formalismus, GW II, 110). Der Akt der Mit-teilungt kann hingegen als die Quelle der ursprünglichen Erfahrung des Solidaritätsprinzips227 gedacht werden, welches Scheler im Formalismus im Hinblick auf die Gesamtperson228 darlegt und das mit dem innersten Kern der menschlichen Existenz verbunden ist. Das Bemerkenswerte an Schelers These ist, dass die einzelne Person die eigene individuelle Verantwortung durch das Solidaritätsprinzip vermehrt, anstatt sie zu vermindern. Das geschieht dadurch, dass das Solidaritätsprinzip – in scharfem Unterschiede zu dem, was sich in der Lebensgemeinschaft ereignet – die einzelne Person für die Persongemeinschaft mitverantwortlich macht.229 Das hat zur Folge, dass „nicht nur der an sich schlechte Haßakt, sondern auch das Fehlen des Liebesaktes Mitverantwortlichkeit für alles Böse bestimmt“ (Formalismus, GW II, 526). Dieses Prinzip gilt auch im positiven Sinne: „Nach diesem Prinzip der ‚Gegenseitigkeit‘ ist jeder an unvergleichlich viel mehr Dingen ‚schuld‘, hat aber auch an viel mehr guten Dingen verdienstlich mitgewirkt, als er selbst je

226 227 228 229

Zum Begriff der Mit-teilung siehe § 3.7.9. Zum Solidaritätsprinzip vgl. § 3.1.4. Zum Begriff der Gesamtperson vgl. Formalismus, GW II, 523–525. Zum Begriff der Mitverantwortung vgl. § 3.1.4.

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wissen kann. Unendlich ist die Kette der Wirkungen nach dem Gegenseitigkeitsprinzip“ (Politik und Moral, GW XII, 58). Bekanntlich übt Nicolai Hartmann scharfe Kritik am Begriff der Gesamtperson.230 Was Hartmann jedoch entgeht, ist der Zusammenhang, den Scheler zwischen dem die Gesamtperson gründenden Solidaritätsprinzip und dem die Einzigartigkeit der Einzelperson gewährenden Prinzip der Unersetzlichkeit herstellt. Scheler setzt sich mit dieser Thematik in seiner Überlegung über die „unvertretbare Solidarität“ auseinander: „Die Einzelperson ist für alle anderen Einzelpersonen nicht nur ‚in‘ der Gesamtperson [...], sondern sie ist es auch, ja an erster Stelle, als einzigartiges Personindividuum und Träger eines individuellen Gewissens“ (Formalismus, GW II, 523). Die unvertretbare Solidarität stützt sich ihrerseits auf die Anerkennung der Unersetzlichkeit jeder einzelnen Person: „jegliche Stelle des einmaligen konkreten Geschehensflusses der Welt vermag von Hause aus zum Sprungbrett auch für Wesenseinsichten zu werden, zu denen keine einzige andere Stelle des Weltprozesses das Sprungbrett werden kann“ (Vom Ewigen, GW V, 202–203). Wenn nun jede Person das einzige „Sprungbrett“ für eine bestimmte Erweiterung der Teilhabe an der Weltfülle darstellt, so folgt daraus, dass jede einzelne Person ontologisch unersetzlich ist, und ferner, dass diese Erweiterung der Erfahrung nur durch die Kooperation der Menschen möglich ist: „Hier ist die Unersetzlichkeit des Menschen durch Menschen ein absoluter Grundsatz – kein nur relativer –, und eben darum wird die Kooperation und Ergänzung zu einem absoluten reinen Sachgebot“ (Vom Ewigen, GW V, 202). Der Grad der Mit-teilbarkeit als das zweite Kriterium der Wertrangordnung bestimmt die Höhe eines Wertes aufgrund der Fähigkeit desselben, die Teilhabe an der solidarischen Bewegung der Persongemeinschaft zu fördern. Daraus folgt unumgänglich die Notwendigkeit, den statischen Begriff der Wertobjektivität zu revidieren. Die Wertrangordnung selbst nimmt ihre Gestalt durch die Solidarität einer Welt von sittlichen Personen an: „Das Solidaritätsprinzip in diesem Sinne ist uns ein ewiger Bestandteil und gleichsam ein Grundartikel eines Kosmos endlicher sittlicher Personen. Erst durch seine Geltung wird die gesamte moralische Welt [...] zu einem großen Ganzen, [...] an dem aber jegliche Person – Einzel- wie Gesamtperson – nach der Maßgabe ihrer besonderen einzigartigen Gliedschaft teil hat“ (Formalismus, GW II, 523).

230

Vgl. N. Hartmann, Ethik, Berlin 1926, S. 227–250. Zu Schelers Theorie der Unterscheidung zwischen Einzelperson und Gesamtperson siehe vor allem S. 241f.

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3.5 Die Frage nach der Wertobjektivität bei Max Scheler 3.5.1 Kritik am Begriff der Wertanschauung In einer etwas verwirrenden Formulierung behauptet Scheler, dass die sittlichen Tatsachen nicht durch eine intellektuelle oder sinnliche, sondern durch eine „materiale Anschauung“ erfasst werden können. Sogleich fügt er aber hinzu, dass „wir mit ‚Anschauung‘ nicht notwendig die Bildhaftigkeit des Inhalts, sondern die Unmittelbarkeit im Gegebensein des Gegenstandes meinen“ (Formalismus, GW II, 176). Das, was Scheler unter dem Begriff der Anschauung versteht, ist also nicht das Anschaulich-Bildhafte, sondern das Unmittelbare in der Gegebenheit des Phänomens, d.h. die Selbstgegebenheit. Entscheidend scheint mir vor allem, dass er von Anfang an für die Erfahrung von Werten nicht den Begriff der Anschauung, sondern den des Gefühls verwendet: „Wir erleben Werte durch das Gefühl“ (Beiträge, GW I, 99). Auch bei der Auseinandersetzung mit der Kernfrage: „wie die Werte als Urphänomen zur Gegebenheit kommen“ (Formalismus, GW II, 259), stellt Scheler fest, dass sich uns im Verlauf des Fühlens, des Vorziehens und Nachsetzens, des Liebens und Hassens die Dimension der Werte erschließt, nicht aber durch die „Anschauung“. Durch die These, Werte seien auf unmittelbare Weise gegeben, möchte Scheler hervorheben, dass der personale Wert eine eigene Weise des Sichgebens hat, die durch den Verstand nicht vermittelt werden kann. Da der Verstand für die persönlichen Werte so blind ist wie das Ohr für die Farbe,231 werden die persönlichen Werte unmittelbar, d.h. ohne Vermittlung des Verstandes, erblickt. Nur durch die Funktionalisierung des eigenen ordo amoris nimmt die Person eine Stellung gegenüber den Werten ein. Wenn es hingegen eine einzige und universelle affektive Anschauung für alle geben sollte, welche die Werte und ihre Rangordnung apodiktisch zu vernehmen imstande wäre, so würden alle Personen einander vollkommen gleich, da sie alle denselben ordo amoris hätten. Dies würde aber darauf hinauslaufen, die Unterschiede der Gesichtspunkte, und mit ihnen der personalen Identitäten, zu nivellieren. Möchte man hingegen mit „Wertanschauung“ erneut die These vertreten, dass die Werte nicht gesetzt oder geschaffen sind, sondern erfahren werden, dann ist es ratsam, die Zweideutigkeit aus dem Weg zu räumen und das Schicksal des Begriffs der Wertnehmung232 von dem des Begriffs der Wertanschauung zu trennen. Dabei ist zu betonen, dass der 231 232

Vgl. Formalismus, GW II, 261. Mit dem Begriff der Wertnehmung möchte Scheler darauf aufmerksam machen, dass die Aufnahme eines Wertes nicht auf die Wahrnehmung zurückgeführt werden kann.

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Terminus „Anschauung“, wie er von Scheler in seinen Arbeiten vor dem Ersten Weltkrieg verwendet wird, mit dem Gedanken der „asymbolischen Erkenntnis“ bei Bergson in enger Verbindung steht.233 Es wird demnach angenommen, dass es einen privilegierten Zugang gebe, in dem der Gegenstand nicht durch Zeichen, sondern unmittelbar gegeben sei, so dass das Individuum sich nicht täuschen könne. Nicht nur war dieser Gedanke bereits 1868 von C.S. Peirce in seinem Artikel Questions Concerning Certain Faculties Claimed for Man vorzüglich bestritten worden. Bergson selbst entwickelt, in der Auseinandersetzung mit dieser Frage, seine Gedanken bis zu dem Punkt, dass er von einer „intuition“ als asymbolischer Erkenntnis zu einem „instinct devenue désintéressé“ übergeht.234 Für den späten Bergson ist nicht mehr eine Entsymbolisierung der Welt, sondern eine „desinteressierte“ Stellung zur Erfahrung von wesentlicher Bedeutung. Tatsächlich lässt sich eine „symbolische Erkenntnis“ denken, die, wie es bei der Symbolik des Heiligen der Fall ist, nicht vom Wert des Nützlichen gelenkt wird. Auch bei Scheler kann man eine ähnliche Entwicklung feststellen, wenn auch in anderer Form. Für Scheler ist entscheidend, dass der Zugang zum Wert durch Täuschungen oder Missverständnisse beeinflusst werden kann. Im Zuge dieser mit der Vorstellung einer Wertanschauung unvereinbaren Entwicklung entwirft Scheler eine Phänomenologie der Selbsttäuschungen, d.h. eine eingehende Lehre von dem Ressentiment und den negativen Gefühlen, die unsere Beziehung zur Realität verfälschen. Es ist, als ob das Zeichen in einem gewissen Moment der westlichen Kultur denselben Ostrazismus über sich ergehen ließe, den früher schon der Leib erlitten hatte. Wie man früher die Wahrheit durch die Befreiung vom Leib, dem Kerker der Seele, erreichte, so erhält man in den letzten Jahrhunderten das „Wunder“ durch die Ausklammerung der Zeichen. Das Problem ist jedoch nicht das Zeichen an sich, sondern die Logik der Semiose, die ihm zugrunde liegt. Das, wonach das philosophische Wissen strebt, kann nicht die Aufhebung des Zeichens, des Symbols oder der Hermeneutik sein, sondern es muss ihm um die Überwindung der Umweltgeschlossenheit gehen, in der die Zecke von Jacob von Uexküll befangen ist, d.h. die Überwindung einer bestimmten Semiose, welche einer Wertklasse eigen ist, die keinen wie auch immer gearteten Prozess 233

234

Am Anfang des Vortrags Einführung in die Metaphysik unterscheidet Bergson zwei völlig verschiedene Erkenntnisweisen: Die erste hängt von dem Gesichtspunkt ab, den man sich setzt, und von den Symbolen, durch die man sich ausdrückt. Die zweite nimmt auf keinen Gesichtspunkt Bezug und stützt sich auf kein Symbol. Diese letztere Form der Erkenntnis – asymbolische Erkenntnis genannt – legt Bergson der Metaphysik zugrunde (vgl. H. Bergson, Introduction a la métaphysique, in: Oeuvres, Edition du Centenaire, Paris 1959, 1393). Vgl. G. Cusinato, La Totalità incompiuta, a.a.O., S. 184–187.

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der Selbsttranszendenz und der Umbildung durchzuführen vermag. Das Problem ist also nicht das Zeichen an sich, sondern die Art von Logik, nach der die Semiose abläuft. 3.5.2 Das Problem der Objektivität der Werte235 Bestärkt durch die Entdeckung, dass die ethischen Werte nicht vom Willen des Subjektes gesetzt, sondern vom ordo amoris der Person gefühlt werden, verweilt Scheler übermäßig lange bei der sogenannten „Objektivität der Werte“. In der mittleren Phase scheint Scheler sogar an einen starken Begriff der Objektivität zu denken, der eine mit Sicherheit unglückliche Vorstellung hervorgerufen hat, nämlich eine Vorstellung der Werte als ideale Gegenstände, die in einer anderen, von uns unabhängigen jenseitigen Realität existieren, zu der man nur durch einen nicht genauer präzisierten intuitiven Akt Zugang habe. Was meint nun Scheler mit der Objektivität der Personwerte? Scheler zufolge ist die Wertgliederung objektiv, da sie empirisch im Akt des Fühlens und des Vorziehens oder Nachsetzens erblickt wird. Mit dem Begriff der „Objektivität“ möchte er also unterstreichen, dass die Wertgliederung nicht von dem Willen des Subjekts beliebig modifiziert werden kann, da sie in einer bestimmten Erfahrung des Fühlens ihre Wurzel hat. Nicht der Wille wählt nach Belieben die Werte, sondern umgekehrt, der Wille kann nur aufgrund einer schon gegebenen Wertgliederung handeln. Das heißt nun, dass das ethisch orientierte Wollen weder selbstreferentiell entscheidet noch der stärkeren Begierde oder dem stärkeren Trieb folgt, sondern sich auf das stützt, was in der affektiven Sphäre als der höhere Wert anerkannt wird. Der späte Scheler betont zwar weiterhin, dass man den Wertobjektivismus zurückerlangen müsse, ohne jedoch dabei die Korrelation zwischen Akt und Objekt zu verleugnen: „Es ist ein falscher Gedanke, die ‚Objektivität‘ des Wesens sei gesichert nur dadurch, daß es vom Aktsein überhaupt geschieden wird als ideales ‚Ding an sich‘, oder nur dadurch, daß es nicht durch uns ‚gestaltet‘, sondern nur als ‚erfaßt‘ (wie bei der Wahrnehmung eines Vorhandenen) angesehen wird“ (IdealismusRealismus, GW IX, 289). Diese Auffassung der Objektivität der Werte ist einem Individuum eigen, das noch nicht die Epochè des Ego vollzogen hat. Gehe ich von einem Subjekt aus, das noch nicht die Erfahrung der „Umkehrung“ durchlebt hat, kann die Objektivität unvermeidlich nur sichergestellt werden, indem man die intentionale Korrelation zwischen diesem Subjekt und den Werten sprengt und der Wert in eine in sich bestehende ideale 235

Vgl. G. Cusinato, Katharsis, a.a.O., S. 195ff.; S. 319f.

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Welt hineinkatapultiert wird. Wenn das Individuum hingegen von dem selbstreferentiellen Subjektivismus Abstand nimmt, bleibt die intentionale Korrelation zwischen dem Akt der Person und dem Wert denkbar, ohne notwendigerweise in den Subjektivismus und den Relativismus zurückzufallen. Scheler schlägt einen neuen Begriff der Objektivität vor, der im Sinne der schöpferischen Teilhabe konzipiert wird. Die schöpferische Tätigkeit, wie die Gestaltung eines Kunstwerks, ist kein willkürlicher Akt. Scheler bemüht sich also darum, die Objektivität nicht durch Bolzanos Lehre von dem idealen Gegenstand an sich, sondern durch eine Theorie der Teilhabe zurückzugewinnen. Die Person nimmt dadurch an etwas teil, dass sie aus sich selbst herausgeht. Diese Teilhabe ist objektiv, denn sie setzt die Auseinandersetzung mit dem Anderen als Ausgangspunkt für die Transzendenz der eigenen relativistischen Subjektivität voraus . Mithin ist die „berechtigte Objektivität [...] durch unsere Lehre der Mitgestaltung der Wesenheiten [...] nicht minder wohl gesichert als in dem Gedankenkreis, der die Wesenheiten von allem Aktbezug ablöst (z.B. N. Hartmann, Bolzano etc.), oder im theistischen Gedankenkreis, der eine Vorsehung setzt und die Wesenheiten in den Dingen nur vom menschlichen Geiste ‚nachbilden‘ läßt“ (Idealismus-Realismus, GW IX, 289– 290).236 Die richtige Frage nach der Objektivität der Werte stellt sich also nur in Bezug auf die Selbsttranszendenz. 3.5.3 Person: Lieben und Selbsttranszendenz An einer für das Verständnis des Begriffs der Person grundlegenden Stelle des Formalismus stellt Scheler fest, dass die Person keine statische Substanz sei: „Vielmehr steckt in jedem voll konkreten Akt die ganze Person und ‚variiert‘ in und durch jeden Akt auch die ganze Person – ohne daß ihr Sein doch in irgendeinem ihrer Akte aufginge, oder sich wie ein Ding in der Zeit ‚veränderte‘“ (Formalismus, GW II, 384). Diese „Variation“ der Person hat mit dem „Nacheinander“ in der raum-zeitlichen Messbarkeit nichts zu tun, sondern versteht sich vielmehr im Sinne eines qualitativen „Anderswerdens“. Die Identität der Person konstituiert sich im „Anderswerden“,237 d.h. in einem Akt der Selbsttranszendierung, um an etwas teilzunehmen, das sich von ihr unterscheidet. Hier stellt sich die zentrale Frage: Was ermöglicht die Teilhabe, die als Akt der Transzendierung des Selbst verstanden wird? Die überzeugendste Antwort darauf gibt uns Scheler,, wenn er in der Schrift Ordo 236 237

Die Korrelation zwischen Akt und intentionalem Gegenstand soll im Hinblick auf die Theorie von ideae cum rebus ausgelegt werden. Die Identität der Person liegt „allein in der qualitativen Richtung dieses puren Anderswerdens selbst“ (Formalismus, GW II, 385).

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amoris die Kraft, die den Akt der Selbsttranszendenz zustande bringt, mit der Liebe gleichsetzt. Die Liebe wird dort bestimmt als „der Urakt, durch den ein Seiendes – ohne aufzuhören, dieses begrenzte Seiende zu sein – sich selbst verläßt, um an einem anderen Seienden [...] teilzuhaben und teilzunehmen“ (Ordo amoris, GW X, 356). Es ist also die Liebe, die „ein sich und seine Zustände, seine eigenen ‚Bewußtseinsinhalte‘ Verlassen, ein sie Transzendieren“ ermöglicht, „um mit der Welt in einen Erlebniskontakt der Möglichkeit nach zu kommen“ (ibid.). Der Selbsttranszendierung die Liebe zugrunde legen, heißt die Bedeutung der Transzendenz selbst gründlich ändern und von einer Transzendierung der Welt zu einer als Teilhabe an der Weltoffenheit verstandenen Transzendierung übergehen. Die durch diese Liebe erwirkte Transzendenz zielt darauf, nicht die Welt, sondern die Selbstreferentialität des Individuums zu überwinden. Sie ist ein Akt, mit dem der Mensch etwas über sich selbst Hinausgehendes hervorbringt. Damit gerät nicht nur die traditionelle metaphysische Transzendenz, die sich der Welt entgegensetzt, sondern auch die statische theologische Transzendenz in eine Krise. Wenn Gott die Liebe ist, wenn die Transzendenz als Selbsttranszendierung verstanden wird, so entfernt der Akt der höchsten Transzendenz Gottes keineswegs Gott von der Welt, denn er ist nichts anderes als der ursprüngliche Akt der Schöpfung der Welt, d.h. die Liebe Gottes zur Welt. Die Transzendenz der Liebe ist die stetige Transzendierung der faktischen Gegenwart in der Erfahrung der Verwunderung. In diesem Akt legt die Liebe offen, dass ihr Ziel nicht darin besteht, die vorhandene Wirklichkeit zu erkennen, zu interpretieren oder objektiv widerzuspiegeln, sondern darin, sich in einem schöpferischen Augenblick dafür einzusetzen, um die Gegenwart umzubilden. Dem Akt der Transzendierung muss daher eine Unzufriedenheit vorausgehen, die den Anstoß zur radikalen Zurückweisung der faktischen Realität gibt. Wenn ein Mensch liebt, heißt dies immer, dass er in seinem Personzentrum aus sich als objektivierendem Subjekt, als Ego, heraustrete und dass „er durch und in dessen [des Geliebten, G.C.] Aktion mittätig sei, diese Tendenz im fremden Gegenstande zu einer eigentümlichen Vollkommenheit zu bejahen, sie mitzutun, sie zu fördern, sie zu segnen“ (Ordo amoris, GW X, 356). In diesem Sinn ist die Liebe die Tendenz oder der Actus, „der jedes Ding in die Richtung der ihm eigentümlichen Wertvollkommenheit zu führen suche – und führe, wo nicht Hemmungen sich einstellen“ (Ordo amoris, GW X, 355). Die ethische Relevanz des Liebens besteht nicht im Erfassen der vorhandenen Qualitäten der Person, sondern in der Förderung der Blüte und Wiedergeburt der personalen Singularität. Der Akt des Liebens ist der singulärste Akt der Person, der auf unverwechselbarste Weise ihre Seinsweise ausdrückt.

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Damit wird die Frage nach der Orientierung am Guten auf eine ähnliche Weise gestellt, wie es Charles Taylor bezüglich des „expressivist turn“ expliziert hat. Auf die Frage, ob es Sinn hat, von einem Lieben zu sprechen, das nach einem transzendenten Guten an sich gerichtet ist, antwortet Scheler unmissverständlich: „Ich beantworte daher die Frage mit Nein! [...] Ja Liebe zum Guten qua Guten ist selbst schlecht, da sie notwendig Pharisäismus ist“ (Sympathiebuch, GW VII, 164). Wenn es kein als transzendenten idealen Gegenstand vollendetes „Gutes“ gibt, gibt es auch keine Liebe, die sich auf das Gute an sich richtet. Das Wesen der Liebe besteht nicht in der Widerspiegelung des Guten, sondern darin, dass die Liebe eine Bewegung ist, in der jeweils der höhere Wert einer Person „erst zum Aufblitzen kommt“ (Sympathiebuch, GW VII, 155). In der Abhandlung über Das Ressentiment beobachtet Scheler, dass die vom Christentum vollzogene Revolution dazu führe, das summum bonum nicht mehr mit einem außerhalb und oberhalb des Liebesaktes gesetzten Zweck gleichzusetzen, sondern mit der Liebe selbst: Im Christentum gibt es „keine Idee eines ‚höchsten Gutes‘ mehr, die einen Inhalt hätte jenseits und unabhängig vom Akte der Liebe selbst und ihrer Bewegung!“ (Ressentiment, GW III, 73). Die Folge dieser neuen Idee ist es nämlich, „daß der Liebesakt als solcher, als ‚quellende Liebe‘ (Luther) – unabhängig von seinem Objekt und Objektwert – selbst das summum bonum ist“ (Ressentiment, GW III, 86). Diese Immanentisierung des „platonischen“ Guten in der christlichen Liebe hat unübersehbare Konsequenzen auch für den Begriff des Wertobjektivismus, da sie in der Tat bedeutet, dass es nicht einmal eine absolute Wertrangordnung gibt, die sich oberhalb oder außerhalb des schöpferischen Aktes des Liebens setzen könnte. Nur das Eindringen in die personale Dimension verleiht den Werten einen ethischen Sinn. Nur das Eintauchen in die agapeische Bewegung gliedert die Werte in eine Rangordnung. Vor und unabhängig von diesem Schritt kann es weder Rangordnung noch Objektivität der Werte im ethischen Sinne geben. 3.5.4 Die Überwindung des absoluten Wertobjektivismus Was die bisherigen Interpretationen nicht genügend hervorgehoben haben, ist der Umstand, dass Scheler in Wirklichkeit keinen „absoluten“ Wertobjektivismus vertritt.238 Er steht vor einer nicht leichten Aufgabe, 238

Eine erwähnenswerte Ausnahme stellt Hans Joas dar. In einem Werk, das mit Erfolg die Frage nach dem Wert in die aktuelle philosophische und soziologische Debatte wieder einbringt, findet Joas eine Spannung zwischen dem VorbildCharisma und Wertobjektivismus in Schelers System heraus: „Wenn die ursprünglich Heiligen Werte erschaffen können, dann ist die Wertewelt nicht vor und unab-

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zwischen zwei einander entgegengesetzten Thesen das Gleichgewicht zu halten – zwischen der einen, die die Tätigkeit des Liebens darauf beschränkt, einen gegebenen Wert passiv aufzunehmen, und der anderen, die das Lieben des isolierten Individuums für dazu fähig hält, willkürlich einen Wert zu erschaffen. Die Werte sind nach Schelers Ansicht objektiv nur in Bezug auf den Willen des Subjekts, nicht in Bezug auf den schöpferischen Akt des Liebens, der durch die Erfahrung der Selbsttranszendierung hindurchgeht. Während der Wille, das Vorziehen und Nachsetzen, das Begehren und das Wählen sowie jeder Akt der Wertnehmung eine objektive Wertgliederung als bereits gegeben voraussetzt, richtet sich der Akt des Liebens danach, die vorhandene Wertgliederung schöpferisch weiterzuentwickeln und die Ebene der Faktizität zu durchbrechen, um eine Erweiterung der Wertfülle zu erreichen. Die Tatsache, dass sich der Akt des Liebens ganz anders als der des Vorziehens und des Nachsetzens in Bezug auf die Wertrangordnung verhält, hat weitreichende Folgen. Im Sympathiebuch bestimmt Scheler das Lieben als „die intentionale Bewegung, in der sich von einem gegebenen Wert A eines Gegenstandes her die Erscheinung seines höheren Wertes realisiert. Und dieses Erscheinen des höheren Wertes steht in Wesenszusammenhang mit der Liebe“ (Sympathiebuch, GW VII, 156). Beim Vorziehen und Nachsetzen stellt ein Individuum einen Vergleich zwischen mehreren bereits vorhandenen Werten an. Der Akt der Liebe richtet sich hingegen auf den Wert einer Person, wobei es nicht das Ziel ist, einen Vergleich mit dem Wert einer anderen Person anzustellen. Indem das Lieben in einem gegebenen Wert einen Stützpunkt für seine Kreativität herausfindet, blitzt in ihm unerwartet ein neuer höherer Wert auf. Das Lieben beabsichtigt nicht, eine bereits gegebene Möglichkeit vorzuziehen oder auszuwählen, sondern den schon vorhandenen Wertzusammenhang zu durchbrechen. Das Lieben ist also weder eine bloße Antwort auf einen schon gefühlten Wert noch eine Verhaltensweise mit zwei oder mehreren bereits vorgegebenen Werten wie das Vorziehen. Das Lieben ist vielmehr der Pionier, der Bahnbrecher, der zur Erweiterung der Wertfülle führt: „Liebe ist nicht emotional bejahendes Anstarren gleichsam eines Wertes, der da hängig von ihnen da. [...] jede breitere Verwendung des Charisma-Konzepts, wie sie sich bei Max Weber findet, würde ohnehin die Spannung zwischen ihr und dem Wertobjektivismus unverkennbar deutlich werden lassen“ (H. Joas, Die Entstehung der Werte, a.a.O., 157). Wie ich darzulegen versucht habe, löst sich meines Erachtens diese Spannung beim späten Scheler zugunsten der Theorie des Vorbildes auf, so dass der schöpferische Akt des Liebens der Rangordnung der Werte zugrunde liegt. Die Rangordnung der Werte artikuliert sich nur durch die Dimension der Person.

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vor uns steht und gegeben ist. [...] Liebe ist erst da vorhanden, wo noch hinzutritt zu dem an ihr ‚als real‘ bereits gegebenen Werte die Bewegung, die Intention auf noch mögliche ‚höhere‘ Werte, als diejenigen sind, die bereits da und ergebend sind – die aber als positive Qualitäten noch nicht gegeben sind“ (Sympathiebuch, GW VII, 156). 3.5.5 Die Akrasia und die Unterschätzung des reflexiven Momentes in Schelers Denken Bekanntlich hat Scheler der affektiven Sphäre eine zentrale Relevanz für die Ethik zugeschrieben. Dies führte – im gleichen Zug, in dem immer umfangreicher der Versuch unternommen wurde, das ethische Problem in das der sprachlichen Analyse oder der rationalen Wahl zu übersetzen – zu einer fortwährenden Ausgrenzung seiner Philosophie aus der ethischen Debatte der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. In den Jahren zwischen 1987 und 1996 setzte sich nun auf diesem Gebiet eine kulturelle Wende durch, die erneut die Aufmerksamkeit auf die Tragweite der affektiven Sphäre lenkte. Zu verdanken ist sie z.B. den Arbeiten von De Sousa (1987), Damasio (1994) und Joseph LeDoux (1996), die über den engeren Kreis der Wissenschaftler hinaus das große Publikum erreichten.239 Nach dieser Wende ist es wieder möglich geworden, nach einem Gleichgewicht zu suchen, das sowohl dem reflexiven als auch dem emotionalen Moment jeweils gebührendes Gewicht beimisst. In dieser Hinsicht weist aber Schelers Phänomenologie eine deutlich zu erkennende Grenze in Bezug auf die Unterschätzung des normativen und reflexiven Momentes der Ethik auf. Die alltägliche Erfahrung zeigt hinreichend, dass das rationale und reflexive Moment sowie der Wille unentbehrlich sind, um die Instabilität des Fühlens zu überwinden und auf konsequente und verantwortliche Weise zum Vollzug ethischer Handlungen zu gelangen. Zweifellos steht bei der Frage nach der Verantwortung die Funktion des Willens im Mittelpunkt. An bestimmten Wendepunkten meines Lebens kann mein Gefühl eine besondere Intensität erreichen. Ein solches „Gefühlshoch“ kann mir den Blick für den Weg zur Erfüllung meiner Berufung oder „individuellen Bestimmung“ öffnen. Mit Hilfe des reflexiven Momentes werde ich versuchen, diesen „Gefühlsgipfel“ in eine Reihe von Vorsätzen umzusetzen und die angemessenen wirksamsten rationalen Handlungen herauszufinden. Sobald nun aufgrund seiner konstitutiven Instabilität die Intensität dieses „Gefühlsgipfels“ 239

R. De Sousa, The Rationality of Emotions, Cambridge (MA) 1987; A.R. Damasio, Descartes’ error: emotion, reason, and the human brain, New York 1994; J. LeDoux, The emotional brain: the mysterious underpinnings of emotional life, New York 1996.

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nachlässt, kann das Individuum ihm nur weiterhin entsprechen, indem es sich willentlich den nachfolgenden Trieben entgegensetzt. Denn nur durch den Willen kann das Individuum jenem vergangenen Gefühlsgipfel treu bleiben. Andernfalls kommt das Phänomen der Willensschwäche, oder „akrasia“, zum Tragen, das schon Platon und Aristoteles beschäftigte. Die akrasia bringt den Schwachpunkt in Schelers Ethik an den Tag, da sich in der Instabilität der Gefühlsintensität die Notwendigkeit zeigt, die Ethik des Fühlens durch den Willen und die rationale Reflexion zu ergänzen.

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3.6 Wert und Urteil 3.6.1 Brentano und die Orthonomie des Fühlens Wenn meine Hand zufällig einen Gegenstand berührt, ist mein Leib imstande, die Hand sofort von ihm zu entfernen, noch bevor ich mir irgendeine Vorstellung des Gegenstandes gemacht oder Zeit gehabt habe, ein Urteil zu fällen wie z.B.: „Dieser Gegenstand ist heiß!“ Wenn ich, um die Hand davon zurückzuziehen, abwarten müsste, bis ich mir eine Vorstellung des Gegenstandes oder sogar ein Urteil über seine Gefährlichkeit gebildet habe, hätte ich mir inzwischen schon die Hand verbrannt. Meiner Ansicht nach führen uns diese Überlegungen dazu, eine kritische Haltung gegenüber einigen Aspekten der Theorie von Martha C. Nussbaum einzunehmen, die Emotionen als Judgments of Value versteht.240 Es geht dabei um einen Gedanken, der in der griechischen Philosophie seinen Ursprung hat. In Anlehnung an Aristoteles entwarf schon Franz Brentano in der Schrift Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874) ein allgemeines Schema, demzufolge Gefühle ein Urteil und dieses seinerseits eine Vorstellung voraussetzt. Beim späten Brentano jedoch findet eine Distanzierung von Aristoteles zugunsten der Philosophie Humes statt. Er wirft in seinem Vortrag Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis (1889) – der übrigens maßgeblichen Einfluss auf Scheler ausübte – Aristoteles vor, dass man nicht umhin könne, den Eindruck zu haben, dass „Aristoteles der [...] Versuchung erlegen sei, zu glauben, wir erkännten [sic!] das Gute als gut, unabhängig von der Erregung der Gemütstätigkeit“.241 Von diesem Gesichtspunkt aus erscheine der „Gefühlsmoralist Hume“ viel überzeugender, der sich zu Recht die Frage stelle: „wie soll man erkennen, daß etwas zu lieben ist, ohne die Erfahrung der Liebe?“242 Auf der Basis der Ethik gibt es dem späten Brentano zufolge eine „Richtigkeit“ der Gemütstätigkeit, so dass die Frage nicht mehr darin besteht, das zu lieben, was an sich gut, oder das zu hassen, was an sich schlecht sei, sondern vielmehr in der Richtigkeit des Aktes des Liebens

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240 M.C. Nussbaum, Emotions as Judgments of Value and Importance, in: P. Bilimoria, J.N. Mohanty (ed.), Relativism, Suffering and Beyond, Dehli 1997. Siehe aber auch Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge, Cambridge University Press, 2001, Paperback edition 2003, S. 19: „Emotions, I shall argue, involve judgments about important things, judgments in which, appraising an external object as salient for our own well-being, we acknowledge our own neediness and incompleteness before parts of the world that we do not fully control.“ F. Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, Darmstadt 1955, S. 78. Es handelt sich um einen Vortrag, den Brentano am 23. Januar 1889 in Wien gehalten hat. Hier betrachte ich ihn zusammen mit dem Diktat aus dem Jahr 1907 Vom Lieben und Hassen, das in denselben Band aufgenommen wurde. F. Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, a.a.O., S. 79.

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selbst. Ethisch ist nicht, das Gute zu lieben, sondern „richtig“ zu lieben, da das Gute selbst kein in sich idealer Gegenstand, sondern das ist, was richtig geliebt wird: „Wir nennen etwas gut, wenn die darauf bezügliche Liebe richtig ist. Das mit richtiger Liebe zu Liebende, das Liebenswerte, ist das Gute im weitesten Sinne des Wortes“.243 Brentano stellt sich mithin die Frage nach dem Guten nicht in Bezug auf einen idealen Gegenstand, sondern auf die Richtigkeit des Aktes. Wie etwas wahr ist, wenn die Tätigkeit des Urteils richtig ist, so ist auch etwas gut, wenn der Akt des Liebens richtig ist. Vor diesem Hintergrund tritt der Unterschied zu Kant hervor. In der Ethik des späten Brentano stellt sich die Frage nicht nach der Autonomie den Gefühlen gegenüber, sondern nach der „Orthonomie“ der intentionalen Gefühle. Die Richtigkeit des Liebens gründet sich auf die Logik der Gemütssphäre und kann nicht auf die Richtigkeit des Urteils zurückgeführt werden. Denn zwischen der Richtigkeit des Liebens und der Richtigkeit des Urteils besteht Brentano zufolge kein Begründungs-, sondern nur ein Analogieverhältnis. 3.6.2 Brentano und Hume Gleichwohl stimmt Brentanos Ethik nur teilweise mit derjenigen Humes überein. Es geht nicht um die Ethik des Gemüts, sondern um die Ethik der Orthonomie des Gemüts. Humes Verdienst war es, auf die Verbindung zwischen Ethik und Gefühl aufmerksam gemacht zu haben, aber dies geschah aufgrund eines zu sehr vereinfachten Begriffs der affektiven Sphäre. Es fehlte vor allem die Bestimmung einer genauen Schichtung verschiedener Klassen von Gemütsbewegungen. Diese theoretischen Mängel machten jeden Versuch einer Rückkehr zu Hume problematisch. Darin liegt wohl auch einer der Gründe, warum Kants Kritik an der Gefühlsethik des schottischen Empiristen so großen Beifall gefunden hat. Die fehlende Unterscheidung zwischen verschiedenen Gefühlsklassen hat Kant zu seiner vollkommen richtigen Beobachtung veranlasst: Wenn das „Moralgefühl“ einer Logik gehorcht, die von der Suche nach dem sinnlichen Vergnügen oder nach der Nützlichkeit abhängig ist, läuft jede Gefühlsethik Gefahr, in eine sensualistische oder utilitaristische Logik zurückzufallen. Die Vertreter der deutschen Phänomenologie waren sich dieser Grenze Humes vollkommen bewusst. Der späte Brentano stellt vor allem fest, dass innerhalb des Aristotelischen Strebens (òrexis) zwei grundverschiedene Klassen zu unterscheiden seien, einmal die, die das Gefallen und 243

F. Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, a.a.O., S. 19.

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Missfallen durch den Instinkt und den Trieb leitet,244 und zum anderen die, welche die Gemütssphäre durch Liebe und Hass lenkt. Bezüglich der letzteren Klasse wird die Frage, was bevorzugt wird, nicht im Hinblick auf das unmittelbar Nützliche gestellt, sondern auf eine höhere Ordnung, d.h. auf das „richtige Lieben“.245 Brentano trifft also eine genaue Unterscheidung zwischen Wünschen erster Ordnung, die utilitaristisch orientiert und auch bei den Tieren vorhanden sind, und Wünschen zweiter Ordnung, die durch das Prinzip des „richtigen Liebens“ charakterisiert und nur für den Menschen typisch sind. An dieser Stelle kritisiert er Hume ausdrücklich: „Viele Philosophen, und darunter sehr bedeutende Denker, haben diese Weise des Gefallens, welche nur den niedrigeren Erscheinungen der Klasse eigen ist, allein betrachtet und haben es ganz übersehen, daß es auch ein Gefallen und Mißfallen höherer Art gibt. David Hume z.B. zeigt sozusagen in jedem Worte, daß er gar keine Ahnung von der Existenz dieser höheren Klasse hat. Ja wie allgemein ein solches Übersehen stattfand, das zeigt sich darin, daß die Sprache keinen gebräuchlichen Namen für sie bietet.“246 Brentano zufolge besteht Humes Mangel darin, für die Intentionalität des Gemüts blind zu sein und die affektive Sphäre als ein unterschiedsloses Ganzes aufzufassen. Infolgedessen erkennt Hume keinen Unterschied „zwischen höherer und / niederer Tätigkeit auf dem Gebiete des Gemütes, des Gefallens und Mißfallens“.247 3.6.3 Nussbaum: Emotions as Judgments of Value Auch Nussbaum geht von der ursprünglichen Aristotelischen These aus. Sie schlägt aber eine andere Richtung ein als der späte Brentano. Nach ihrer Auffassung besteht eine Emotion im Glauben (belief) an ein Werturteil: Vor X Angst haben, heißt glauben, dass X gefährlich sei. Infolgedessen gilt: aufhören zu glauben, X sei gefährlich, bedeute aufhören, vor X Angst zu haben.248 Man kann sich jedoch fragen, ob es immer nötig sei, dermaßen komplexe Inferenzvorgänge zu durchlaufen, sodass das Gefühl der Angst entsteht. Zuweilen ist die durch ein plötzliches Geräusch veranlasste Angstreaktion so schnell, dass keine Zeit für die Entstehung eines 244 245 246 247

248

Vgl. F. Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, a.a.O., S. 26. Vgl. F. Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, a.a.O., S. 148f. In eine ähnliche Richtung geht neuerdings C. Taylor mit seinem Begriff der strong evaluations. Vgl. F. Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, a.a.O., S. 22. F. Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, a.a.O., S. 21f. Interessanterweise kann man bemerken, dass auch Husserl eine ähnliche Richtung einschlägt (vgl. E. Husserl, Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920/24, in: Husserliana Bd. XXXVII , hg. von H. Peucker, Dordrecht, 2004, § 37; § 46). M. Nussbaum, Upheavals of Thought, a.a.O., S. 28f.

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Urteils übrig bleibt.249 In anderen Fällen kommt es auch dann zu Angstreaktionen, wenn man sich vorstellt, X sei wie Y, ohne jedoch zu glauben, dass X wirklich existiere. Interessant ist der Fall der Phobien. Einige haben weiterhin Angst vor etwas (z.B. vor einer Spinne), auch wenn sie aufgehört haben zu glauben, dass es für sie gefährlich sein könne. Die Angst kann schließlich auch durch Phantasien, Halluzinationen und Täuschungen hervorgerufen werden, die sich nicht notwendig in das Schema des Glaubens, X sei gefährlich, einfügen lassen. Es existiert ferner die ganze Sphäre der psychosomatischen Phänomene, bei denen unser Leib in der Lage ist, unabhängig von bewusst gebildeten Urteilen oder Glauben emotionale Antworten auszubilden. Als Hilfe für das Verständnis der Verbindung zwischen Glauben und Emotion mag das physikalische Phänomen der Brechung dienen, auf das sich schon Platon und Augustinus beziehen.250 Ich sehe einen halb ins Wasser getauchten Stab und bilde mir das Urteil: „Der Stab ist abgeknickt“. Ein Physiker erklärt mir dann auf überzeugende Weise das Gesetz der Refraktion und ich verstehe, dass mein Urteil falsch ist. Trotzdem nehme ich den ins Wasser getauchten Stab weiterhin als abgeknickt wahr, wenn ich ihn erneut sehe. Dieses Beispiel zeigt, dass es keine Folge meines Glaubens an ein Urteil ist, den abgeknickten Stab wahrzunehmen. Man kann annehmen, dass auch für die Wertnehmung etwas Analoges geschieht. Die Tatsache, dass ich im affektiven Feld eine bestimmte Emotion weiterhin in mir fühlen kann, obwohl mir jemand die Verkehrtheit der mit ihm assoziierten Überzeugung dargestellt hat, weist ebenfalls auf die Unzulänglichkeit der These hin, der zufolge die Emotion auf dem Glauben beruht. Ferner behauptet Nussbaum, dass wir nur durch Sprache und Reflexion Angstgefühle von einer unbestimmten Erregung unterscheiden können.251 Zweifellos ist es wahr, dass sich der Mensch unterschiedlicher Gefühle nur dann bewusst wird, wenn er imstande ist, sie durch einen angemessenen sprachlichen Terminus zu bestimmen. Dies hindert jedoch die Gefühle nicht daran, organische Reaktionen noch vor der Entstehung einer sprachlichen Fähigkeit auszulösen. Ein wenige Monate alter Säugling ist in der Lage, sich von etwas zu entfernen, wovor er Angst verspürt, ohne eine sprachliche Bestimmung der Angst zu besitzen. Dieses und andere Beispiele zeigen hinlänglich, dass die Rationalität des Leibs und des

249 250 251

In diese Richtung gehen auch die Untersuchungen von J. LeDoux, The emotional brain: the mysterious underpinnings of emotional life, New York 1996. Platon, Der Staat, 602 d; Augustinus, Soliloquia, 2, 6, 10–12. M. Nussbaum, Upheavals, a.a.O., S. 29.

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„Körperschemas“ dazu fähig ist,252 mit den Emotionen zu interagieren, bevor diese durch sprachliche Ausdrücke bestimmt werden. Nussbaum hat auf diese und andere Vorwürfe mit dem Vorschlag geantwortet, die Begriffe des belief und judgment so breit zu fassen, dass sie die unbewusste und vorkategoriale Ebene einschließen. Ihre ursprüngliche These, dass Emotionen mit dem Glauben an ein Werturteil zusammenfallen, scheint durch diese Erweiterung allerdings zu vage zu werden. Einen anderen Weg schlägt Tappolet in ihrer Arbeit Emotions et valeurs 2000 ein, indem sie Emotionen nicht auf ein Werturteil sondern auf eine Wertwahrnehmung zurückführt.253 Sie vertritt, auch unter Berufung auf Scheler, einen besonderen „Realismus der Werte“, der mir problematisch scheint. Einige der wichtigsten Ergebnisse in Schelers Formalismus betreffen gerade die Priorität der Wertnehmung – als spezifischer Modalität der Wertaufnahmen – über die Wahrnehmung.254 Im Fall der Wertnehmung gibt es keine Wahrnehmung einer Vorstellung. Von einer Wahrnehmung des Wertes zu sprechen wäre folglich aus Schelers Sicht ein Nonsens, der mit dem „Gehör einer Farbe“ oder „Gesicht eines Klangs“ vergleichbar wäre. Man nimmt Gestalten, Licht, Farbe, Räume oder Phänomene wahr, nicht jedoch einen Wert. Denn Werte werden gefühlt. Ich schlage nun vor, davon auszugehen, dass die Emotion nicht nur – anders als bei Nussbaum – dem Urteil, sondern auch – anders als bei Tappolet – der Vorstellung vorangehen kann. In diesem Sinne kann man zum Beispiel annehmen, dass Gefühle in Bezug auf das, was Dilthey unter dem Begriff des Bildes versteht, entstehen können.255 Natürlich gibt es auch Emotionen, die auf Vorstellungen oder Urteilen beruhen.256 Gleichwohl findet man weder im Urteil noch in der Vorstellung den Schlüssel zur Lösung der Frage nach den Werten und Gefühlen.

252 253 254 255 256

Über den Begriff des „Körperschemas“ vgl. P. Schilder, Das Körperschema, Berlin 1923; M. Scheler, Formalismus, GW IX, 218. Vgl. C. Tappolet, Emotions et valeurs, Paris 2000. Vgl. Formalismus, GW II, 209. Für einen „imagic turn“ der Philosophie plädiert F. Fellmann, Symbolischer Pragmatismus, Hamburg 1991, S. 26. Man kann darüber hinaus beobachten, dass ein Individuum, um ethisch korrekt und verantwortungsvoll handeln zu lernen, notwendigerweise die affektive Dynamik auf einer bewussten und reflexiven Ebene überarbeiten und deswegen zu Vorstellung und Urteil greifen muss. Es ist nicht meine Absicht, die Bedeutung der Werturteile in der Ethik zu unterschätzen. Es geht vielmehr darum, den Unterschied zwischen Wert und Werturteil zu betonen.

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3.6.4 Differenz zwischen Wert und Werturteil Im vorigen Abschnitt habe ich einen Fall betrachtet, der, wie mir scheint, hinlänglich zeigt, dass eine Wertnehmung einem Werturteil vorangehen kann: Ich ziehe meine Hand von einem erhitzten Gegenstand zurück, noch bevor ich mir eine Vorstellung davon mache oder gar ein Urteil darüber bilde. Wenn dem so ist, stimmen Wertnehmung und Werturteil nicht überein. Viele philosophische Erörterungen über die Frage nach dem Wert sind meiner Meinung nach im zwanzigsten Jahrhundert geradezu durch die Vernachlässigung der Unterscheidung des Wertes vom Werturteil entstanden, so dass allzu oft nur auf der prädikativen Ebene des Werturteils diskutiert wurde. Die Gleichsetzung des Wertes mit dem Werturteil hat zumindest zwei Missverständnisse aufkommen lassen. Das erste betrifft die These, dass der Wert nicht gefühlt oder erblickt, sondern von einem Subjekt gesetzt werde. Was aber das Subjekt setzen kann, ist nicht der Wert, sondern nur das eigene Werturteil. Das bringt unübersehbare Folgen auch für die Frage nach der Objektivität der Werte mit sich. Das nicht gefühlte, sondern gesetzte Werturteil ist etwas vom Subjekt Bestimmtes, so dass sich die Frage nach seiner Objektivität auf die nach der Richtigkeit des formalen Vorgangs des Urteils reduziert. Ein Wert indessen kann nicht auf „gültige“ oder „ungültige“ Weise formuliert werden, da er kein Urteil ist und, anstatt formuliert zu werden, gefühlt wird. Es ist deswegen nicht richtig, das Problem der formalen Richtigkeit des Urteils auf den Wert anzuwenden. Nicht die Gültigkeit des Wertes, sondern die des Werturteils ist es, die mit dem Maßstab der formalen Richtigkeit gemessen werden kann. In diesem Zusammenhang kann man ferner beobachten, dass Urteil und Reflexion auf der sprachlichen Ebene nicht nur eine formale Funktion haben, sondern bisweilen dazu dienen, die Stellungnahme des Individuums gegenüber dem, was es durch einen bestimmten Wert gefühlt hat, in Worte zu fassen und ihr Kohärenz zu verleihen. Gewisse persönliche Werturteile können Teile der „narrativen Identität“ oder der „strong evaluations“ – um mit Paul Ricoeur oder Charles Taylor zu sprechen – eines Individuums ausmachen. Beim Dichten verallgemeinere ich nicht meine Erlebnisse, sondern lasse sie noch einzigartiger werden. In anderen Worten, der sprachliche Prozess der Artikulation und des Ausdrucks eines persönlichen Werturteils richtet sich nicht notwendigerweise nach dem, was Habermas einen „optimalen Diskurs“ nennt, wobei die Gefahr einer Homologation besteht, sondern bewegt sich in die Richtung, in der die qualitative Differenz der einzelnen Person immer mehr hervorgehoben wird.

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3.6.5 Wert und Demokratie Das zweite, durch die Gleichsetzung des Wertes mit dem Werturteil verursachte Missverständnis betrifft das Verhältnis des Wertes zur Demokratie. Der Glaube an die Absolutheit eines persönlichen Wertes kann nicht mit dem Glauben an die Absolutheit eines Werturteils gleichgesetzt werden. Wie bereits erörtert, ist für Scheler ein Wert absolut, wenn er die Weltoffenheit zu bereichern vermag, d.h. wenn er eine Vermehrung meiner solidarischen Erfahrung funktionalisiert. Ich werde mir aber immer dessen bewusst bleiben, dass es eben um ein persönliches Gefühl geht, das nicht verallgemeinert werden kann; um ein Gefühl ferner, welches einer unendlichen Hermeneutik bedarf, um verstanden zu werden; um ein Gefühl also, welches auf der reflexiven Ebene zum Ausdruck gebracht werden muss, damit es über seine konstitutive Instabilität hinaus zu einem verantwortlichen Verhalten führt. Mit der Rede von der Absolutheit eines Werturteils hingegen zielt man darauf ab, nicht nur diesen unendlichen hermeneutischen Prozess zu unterbrechen, sondern den Anspruch zu erheben, dass ein bestimmtes Werturteil apodiktisch und damit unbestreitbar sei, so dass es für alle zu gelten habe. Genauer besehen besteht die Unvereinbarkeit nicht zwischen Demokratie und Glaube an die Existenz der „absoluten Werte“, sondern nur zwischen Demokratie und Glaube an „absolute Werturteile“.257 Analog dazu kann man den berühmten Begriff der Wertfreiheit in Frage stellen. Mit diesem Begriff hat Max Weber nicht die „Wertfreiheit“, sondern realistischerweise nur die „Wert-urteils-freiheit“ gemeint. Im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich vor allem ein Begriff der Demokratie im Hinblick auf die Wertfreiheit durchgesetzt, die sich als Neutralität gegenüber den verschiedenen Lebensstilen versteht. Die sicherlich positive Absicht bestand darin, jedem Bürger Freiheit im Sinne der Autonomie sowie der Meinungsfreiheit zu gewähren. Die staatliche Neutralität gegenüber den verschiedenen Arten, in denen die Bürger ihre personale Bildung gestalten und der cura sui nachgehen, rechtfertigt jedoch nicht die Gleichgültigkeit der Demokratie gegenüber der Existenz der Spielräume selbst, in denen dies geschieht. Entscheidungen, die die Intimsphäre sowie die eigene Lebensführung betreffen, sollten freilich der Verantwortung des Einzelnen überlassen werden. Um aber dem Einzelnen gerade diese Autonomie zu gewährleis257

Diese Unterscheidung zwischen Wert und Werturteil wird z.B. von Hans Kelsen nicht vorgenommen, wenn er feststellt, dass die „Werturteile“ in einer Demokratie nur eine relative Gültigkeit haben müssen, um daraufhin den Schluss zu ziehen, dass Toleranz, Rechte der Minderheit, Meinungsfreiheit – so typisch für die Demokratie – nicht mit dem Glauben an „absolute Werte“ vereinbar sind. Vgl. H. Kelsen, Foundations of Democracy, in: Ethics, LXVI (1955–56).

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ten, sollte die Demokratie Energien und Ressourcen zum Schutz solcher Spielräume einsetzen, in denen die Personen die cura sui ausüben können. Ohne aktive Bemühungen werden solche Spielräume unter dem wachsenden Druck der medialen Massenzüchtung der Individuen immer mehr eingeengt. Ohne ständige Pflege dieser Spielräume kommt ein entscheidender Teil der anthropologischen Dimension der Politik zu kurz und die Demokratie gerät in Gefahr, sich in eine rein formale Wahlbeteiligung aufzulösen. Die gegenwärtige Krise der Demokratie hat hierin ihre Wurzel. Bis vor einigen Jahrzehnten genügte es vielleicht, den Bürgern die Wahlbeteiligung sowie den Parteien eine gleichberechtigte Konkurrenz zu gewährleisten. Heutzutage besteht die Hauptaufgabe der Demokratie darin, Spielräume für die freie Bildung der personalen Identität und für die cura sui zu sichern. Gegenüber solchen Spielräumen darf die Demokratie nicht neutral bleiben, da dies eine Neutralität gegenüber der Existenz der Personen bedeuten würde. Wenn eine Demokratie nicht an die Personen glaubt oder von der personalen Identität nur einen sehr vagen Begriff hat, wird sie selber „flüchtig“ im Baumanschen Sinne.258

258

Vgl. Z. Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M. 2003.

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3.7 Vorbild und Umbildung 3.7.1 Nochmals über die Richtigkeit des Fühlens Die Frage nach der Orthonomie des Fühlens, so wie sie von Brentano gestellt wurde, lässt verschiedene weitere Fragen offen. Obwohl es bei dieser Richtigkeit des Fühlens nicht um wahr oder falsch im Sinne eines logischen Urteils geht, kann man sich nur schwer dem Eindruck entziehen, der Begriff der Richtigkeit schließe doch ein Verurteiltwerden bezüglich dessen ein, was die innerste Dimension in jedem von uns betrifft. Außerdem muss noch geklärt werden, worin eine solche „Orthonomie des Fühlens“ besteht. Wenn es eine Schichtung des affektiven Lebens gibt, gibt es wohl auch verschiedene Logiken, die jeweils einer Schicht des Fühlens entsprechen. Wozu dienen zum Beispiel Glückseligkeit, Verzweiflung, Traurigkeit oder Freude? Haben sie wie beim Schmerz an einer Hand die Funktion, ein organisches Problem anzuzeigen, oder folgen sie einer exzentrischen Logik, die außerhalb der organischen Relevanz wirkt? Ich stelle die Hypothese auf, dass die affektiven Schichten der Person dazu dienen, unserer Existenz eine Orientierung zu bieten, oder – in anderen Worten – uns zu sagen, ob die cura sui, die wir im Sinn haben, wirksam ist oder nicht. Gefühle wie Glückseligkeit oder Verzweiflung zeigen das Niveau der „Blüte“ und der eudaimonía meiner Existenz an. Es ist jedoch nicht damit getan, dass die affektive Sphäre wie die Quecksilbersäule eines Barometers funktioniert. Die Frage nach der Richtigkeit soll auf mindestens zwei Ebenen gestellt werden. Wenn es „richtig“ ist, demjenigen gegenüber Neid zu empfinden, der unverdient mehr Glück als ich hatte, so ist es jedoch nicht „richtig“, diesen Neid ohne Bearbeitung – ohne Modifikation seines Wertes – auszuleben. Die Übung negativer Leidenschaften wie Ressentiment, Neid, Hass oder Angst bringt eine umgekehrte cura sui im wahrsten Sinne hervor. Geben wir einmal zu, dass ich in einem bestimmten Moment etwas „Unangemessenes“ fühle. Wer hat das Recht zu behaupten, dass dieses Fühlen „unrichtig“ sei? Ist es nicht vielleicht wahr, dass dem Fühlen immer ein Motiv zugrunde liegt, auch wenn ich mir dessen in dem Augenblick noch nicht bewusst bin? Meiner Ansicht nach ist hier ein Perspektivenwechsel angebracht: Es geht nicht darum, mein innerstes Fühlen zu beurteilen oder von einer äußeren Instanz beurteilen zu lassen, sondern die Übung des Fühlens korrekt durchzuführen, damit die cura sui besser orientiert werden kann. Ein negatives Fühlen kann „richtig“ sein. Die selbstreferentielle Übung eines negativen Fühlens ist aber immer „unrichtig“.

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So wie die in den vergangenen Jahrhunderten herrschende, intellektualistische Hypothese falsch war, die in der affektiven Sphäre den Ursprung aller Fehler gesehen hat, wäre es heutzutage ebenfalls falsch zu denken, dass das Fühlen gegen Täuschung oder Verwirrung immun sei. Fühlen, insbesondere unmittelbares Fühlen, findet immer innerhalb eines bestimmten Kontextes statt. Das heißt, dass mein unmittelbares Fühlen manchmal auch das automatische und unkritische Nacherleben eines gemeinhin herrschenden Gefühls sein kann. Von diesem Zusammenhang machen die raffinierten Techniken des Neuromarketing und der medialen Massenzüchtung der Individuen Gebrauch, wenn sie Emotionen wecken, die dem Individuum wie das eigene unmittelbare Fühlen oder die eigene selbständige und autonome Entscheidung vorkommt. Dabei zeigt sich das unmittelbare Fühlen in Wahrheit als heteronomes Fühlen. Oft hingegen ist ein originales Fühlen das Ergebnis einer mühsamen Übung, wenn nicht sogar eines Reifeprozesses des Fühlens, in welchem – um selbständig zu werden – das Individuum sich auch vom eigenen unmittelbaren Fühlen distanzieren musste. In gewissem Sinne bringt die Übung des Fühlens die Umbildung der personalen Identität zustande und ist deswegen zugleich eine Übung der Selbsttranszendenz. Auch der Egozentrismus, das Bedürfnis nach Sicherheit und die Suche nach sozialer Anerkennung können das, was uns als „unmittelbares Fühlen“ erscheint, zutiefst beeinflussen. Das Kernproblem ist nun, dass sich die negativen und destruktiven Leidenschaften am leichtesten als unmittelbares Fühlen bemerkbar machen. In einer Situation der Desorientierung setzen sich auf der Massenebene viel leichter die politischen Strategien durch, die Hass oder Angst wecken, um Konsensus herzustellen. Für die Übung der positiven Leidenschaften ist hingegen viel mehr Anstrengung verlangt. Nicht auf unmittelbares, sondern nur auf ein durch Übung gereiftes Fühlen kann ich mich verlassen. Es gibt ferner authentische affektive Störungen. Das emotionale Leben eines Individuums ändert sich ständig gemäß der jeweiligen Situation, so dass es sich vor einem positiven Ereignis glücklich fühlt und vor einem negativen unglücklich. Freilich kann es gelegentlich vorkommen, dass ein Individuum aus relevanten Gründen eine Zeit lang an einer Depression leidet. Es gibt jedoch Fälle, bei denen sich ein Individuum so verhält, als ob sein affektives System ständig von einem bestimmten depressiven oder euphorischen Ton beherrscht wäre oder aber zwischen beiden Extremen schwankte, so dass man den Eindruck bekommt, dass ihm keine affektiven Zwischentöne zur Verfügung stünden. Es kann ferner Fälle geben, in denen ein Individuum auf die Situation, die es erlebt, mit unangemessenen emotionalen Reaktionen antwortet. Die Anfangsfrage, ob es ein unrichtiges Gefühl oder Fühlen gebe, muss man also differenzierter stellen. Es gibt Fälle der pathologischen

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Gefühlsstörung, der Unreife des Fühlens und der unrichtigen Übung des Fühlens. Wenn ich einmal von den Fällen der pathologischen Störungen und der Halluzinationen absehe, stellt sich noch das Problem der Qualität und Tiefe meines unmittelbaren Fühlens. Das Fühlen ist darüber hinaus dynamisch. Ich spüre zum Beispiel einen unkontrollierbaren Zorn in mir aufsteigen. Wenn ich niemals gesehen und gelernt habe, wie man mit diesem Gefühl umgehen kann, wenn ich keine affektiven und kulturellen Instrumente habe, um es zu beherrschen, bricht es auf ungeordnete Weise aus mir heraus. In diesem Beispiel hängt die Richtigkeit mit der Expressivität des Fühlens – und nicht mit dem Fühlen selbst – zusammen. Das Gleiche gilt auch für das Gefühl. Es gibt also eine mehr oder weniger gelungene Weise, um Zorn, Wut, Dankbarkeit oder Liebe zum Ausdruck zu bringen. Das, was richtig oder unrichtig ist, ist nicht das Gefühl an sich, sondern die Art und Weise, wie man es ausübt. Genauer besehen, folgt die Übung der Expressivität eines Gefühls einer anderen Logik als die einfache Übung des Gefühls. In der Übung der Expressivität wird das Gefühl verwandelt und metabolisiert, während in der selbstreferentiellen Übung das Gefühl nicht transzendiert wird. Insofern sind die bewusst gestalteten Ausdrucksformen eines negativen Gefühls wie Neid oder Ressentiment an sich positiv, während die unvermittelte Übung eines negativen Gefühls immer negativ ist. Auch dann, wenn das unmittelbare Fühlen richtig ist, kann ich nicht dabei stehenbleiben. Indem ich es bearbeite und ausdrücke, transzendiere ich es. Nur indem ich über das unmittelbare Fühlen hinausgehe, verfüge ich über die Instrumente, mit denen ich es entweder bestätigen oder ablehnen kann. Die Übung der Exspressivität des Fühlens kann ihrerseits eine Reife des Fühlens hervorbringen und in manchen Fällen den Höhepunkt des Fühlens, d.i. ein besonders innerliches und zugleich intensives Fühlen, zutage bringen, welches sogar eine Wende in der Existenz einer Person markieren kann. So kann etwa eine plötzliche Erleuchtung das Leben eines Menschen von Grund auf ändern – wohl als Folge einer jahrelangen stillen Übung, die so wie ein steter Tropfen allmählich den Stein aushöhlt. Diese Höhepunkte des Fühlens drücken eine Orientierung aus, die für mein gesamtes Leben entscheidend ist. Man könnte sogar sagen, dass das affektive System der Person letztlich die Funktion hat, „affektive Höhepunkte“ zu suchen und zu fördern. Mit dem bisher Gesagten beabsichtige ich nicht, Brentanos These der Unabhängigkeit des Fühlens von der Richtigkeit des Urteils aufzugeben. Offensichtlich braucht die Übung der Expressivität des Fühlens und des Gefühls sehr früh die reflexive Ebene des Urteils als Prüfungsinstanz. Die entscheidende Frage ist nun, ob die affektive Sphäre schon vor diesem Eingriff der Reflexion – also auf einer vorprädikativen Ebene – einer Selbstregulation fähig ist. Wenn nicht durch die Urteilskraft, auf welche

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Weise kann dann meine affektive Sphäre die Richtigkeit meiner Expressivität „fühlen“? Was oder wer kann vor dem Urteil „objektive“ Kriterien liefern? Mein Vorschlag lautet, das Vorbild als Kriterium der Richtigkeit – der Expressivität, der Übung sowie der Reife des Fühlens und des Gefühls – zu nehmen. In der affektiven Sphäre gibt es etwas „Richtiges“ im Sinne der Angemessenheit, wenn – und nur wenn – es als Vorbild wirken kann. Die Richtigkeit beruht nicht auf einem Urteil, sondern auf einer Umbildung. Die Frage ist also nicht mehr, ob ein Fühlen oder ein Gefühl richtig oder unrichtig sei, sondern ob seine Übung der Expressivität eine „vorbildliche“ Umbildung zustande bringt oder nicht. Die Orientierung am Vorbild gilt auch für die Reife des Fühlens. Ich kann in mir selbst intensive Gefühlserlebnisse haben, die stärker als andere eine schöpferische Handlung oder einen Prozess der personalen Umbildung bewirken können. Diese intensiven Gefühlserlebnisse funktionalisieren die Entwicklung meines emotionalen Lebens und wirken selbst als Vorbilder. Aus all diesen Gründen scheint mir angebracht, den Begriff der „Richtigkeit“ durch den der „Vorbildwirksamkeit“ zu ersetzen. Eine Übung der Expressivität ist insofern richtig, als sie vorbildwirksam ist. 3.7.2 Das Vorbild als neuer Auftakt Im zwanzigsten Jahrhundert blieb die Frage nach dem Vorbild wesentlich auf die Theologie und die ästhetische Theorie begrenzt.259 Als wenige Ausnahmen in der Philosophie ragen die Bemühungen um sie bei Max Scheler, María Zambrano,260 Hannah Arendt261 und dem späten Foucault262 hervor. Meiner Ansicht nach besteht die Möglichkeit, den Begriff des Vorbildes im Hinblick auf das zu entwickeln, was der späte Foucault „Technologien des Selbst“ genannt und als eine der wenigen uns gebliebenen Möglichkeiten dargelegt hat, die den „Machttechnologien“ entgegenwirken. Im Folgenden beschränke ich mich darauf, das Problem vom Standpunkt Schelers aus zu untersuchen. 259

260 261 262

Zum Begriff des Vorbildes vgl. G. Cusinato, La Totalità incompiuta, a.a.O. Eine andere Perspektive bezüglich des Begriffs des Vorbildes entfaltet A. Ferrara, La forza dell’esempio. Il paradigma del giudizio, Milano 2008. Ferrara geht dabei von dem Begriff des Urteils aus, indem er sich hauptsächlich auf die Theorie des reflektierenden Urteils Kants sowie die des politischen Urteils Arendts bezieht. Meine Absicht ist hingegen, das Konzept eines Vorbildes herauszustellen, welches auch noch vor der Bildung eines Urteils wirksam sein kann. M. Zambrano, De la Aurora, Madrid 1986. H. Arendt, Lectures on Kant's Political Philosophy, Chicago 1982. M. Foucault, Technologies of the Self, Massachusetts 1988; ders., Herméneutique Du Sujet, a.a.O.

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Was Scheler mit dem Begriff des Vorbildes meint, ist nicht eindeutig. Er selbst nimmt die Unterscheidung in einen engeren und einen weiteren Bedeutungsumfang vor.263 Im engeren Sinne ist das Vorbild vor allem eine Kraft, die im Nachfolger264 einen schöpferischen Bildungsprozess und einen Prozess der Differenzierung der personalen Identität fördert. Für diese engere Bedeutung benutzt Scheler gelegentlich den Ausdruck „personhaftes Vorbild“ (Formalismus, GW II, 558). Im weiteren Sinne schließt der Terminus auch ein Vorbild ein, das durch einen bestimmten unverwechselbaren Stil oder durch eine Regel (man denke etwa an die Klosterregeln der Benediktiner) oder sogar durch Formen der reproduktiven Nachahmung wirkt, wie sie z.B. in Traditionen und Sitten zu finden sind. Diese letztere Bedeutung werde ich mit dem Terminus „Modell“ bezeichnen. Eines möchte ich im Voraus klarstellen, um Missverständnisse beim Begriff des Vorbildes auszuschließen: Es geht mir keineswegs um die Befürwortung einer wie auch immer gearteten Form des Autoritarismus. Wie Scheler selbst bemerkt, sind Vorbilder „nicht Gegenstand der Nachahmung und der blinden Unterwerfung – wie so oft in unserem autoritätssüchtigen deutschen Lande. [...] Jene Vorbilderpersönlichkeiten sollen uns frei machen, und sie machen uns frei – so sie selbst Freie und keine Sklaven sind“ (Die Formen des Wissens, GW IX, 106). Eine weitere Kernfrage betrifft die Tatsache, dass Vorbilder nicht nur positiv wirken können, sondern auch negativ. Neben dem Vorbild gibt es auch das Gegenbild. Im Denken Schelers spielt die Theorie vom Vorbild und Gegenbild eine zentrale Rolle, was bis jetzt in der Schelerforschung unterschätzt wurde. In der philosophischen Anthropologie hat man bislang dem Begriff des Geistes übermäßige Relevanz zugeschrieben, während die wahre Kernfrage diejenige nach der Vorbildwirksamkeit ist, danach also, wie das Vorbild auf die Umbildung der Person wirkt.265 Es ist eines der wichtigsten Ergebnisse der philosophischen Anthropologie des zwanzigsten Jahrhunderts, dass der Mensch als Person – der Allmensch – keine 263 264

265

Vgl. Formalismus, GW II, 566f. Mit „Nachfolger“ meine ich keinen Nachahmer, der nur passiv ein Vorbild imitiert, sondern das, was Scheler unter dem Terminus „Nachbild“ versteht. Zu diesem Begriff Schelers sagt J. Hessen: „Das echte Nachbild ist somit nicht eine Nachahmung, sondern eine Neuschöpfung seines Vorbildes. Die Wirksamkeit des Vorbildes können wir nunmehr folgendermassen umschreiben: das Vorbild ist wirksam in und durch Nachfolge. Seine Wirksamkeit besteht darin, dass es ein Nachbild erzeugt“ (J. Hessen, Ethik. Grundzüge einer personalistischen Wertethik, Leiden 1954, S. 140). Siehe auch den ganzen Abschnitt über die Bedeutung des Vorbildes, ibid., S. 136–145. Die Bildung ist die sittliche Folge einer „unmittelbar erlebten Vorbildwirksamkeit“ (Formalismus, GW II, 565).

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feste und vorherbestimmte morphé hat; dadurch wurde der Anthropomorphismus endgültig überwunden. Die menschliche Identität muss man vielmehr von der Fähigkeit der Selbsttranszendierung her begreifen, von einem Prozess der Umbildung her, der das Leben jedes Menschen – in jeweils unterschiedlicher Stärke – charakterisiert. Der Mensch als Person steht vor der Aufgabe, in einer neuen Form wiedergeboren zu werden, die ihm weder fertig von der Natur zur Verfügung gestellt wird noch durch den selbstreferentiellen Entwurf des Subjekts realisiert werden kann. Diese Umbildung führt einen radikalen Bruch herbei, der über die Intentionalität des betroffenen Individuums hinausgeht und nur durch eine mäeutische, von einem Vorbild herrührende Kraft ausgelöst werden kann. Die Frage nach dem Vorbild und Gegenbild greift außerdem tief in die Phänomenologie des Anderen ein; denn das monadologische Schema wird dadurch überwunden, dass sich die personale Identität des Ich durch das Vorbild des Du konstituiert. Die Person braucht für ihr Wachstum das Vorbild, welches das Subjekt aus seiner dramatischen Intranszendenz zu befreien vermag. Immer wieder stößt man in Theorien der Intersubjektivität auf die Urangst davor, jeden von außen herrührenden Einfluss so wahrzunehmen, als ob er notwendig einen ontologischen Schaden an der Autonomie des Selbst anrichten würde, statt einen Anlass zur Bereicherung des Individuums zu stiften. Die Kommunikation reduziert sich als Konsequenz daraus auf die „Inter-Subjektivität“ im Sinne eines Informationsaustausches von Subjekt zu Subjekt. Ganz anders die Phänomenologie des Vorbildes und des Gegenbildes, sie zeigt uns eine ursprüngliche Dimension, in der kein bloßer Austausch von Informationen zwischen verschiedenen Subjekten stattfindet, sondern Teilnahme an der Umbildung des Anderen. Die Kommunikation betrifft also die Umbildung selbst. 3.7.3 Vorbild und materiale Ethik Die Phänomenologie des Vorbildes und des Gegenbildes spielt bei Scheler in der Philosophie der Religion, in der Theorie der Funktionalisierung und in der Soziologie des Wissens und der Eliten jeweils eine Schlüsselrolle. Die Relevanz, die Scheler diesem Phänomen zuschreibt, kommt jedoch in der Ethik wohl am deutlichsten zum Vorschein: „Für die Ethik hat die Vorbildlehre eine ganz besondere Bedeutung: Sie ist erste Voraussetzung für alle weitere Wertung“ (Vorbild und Führer, GW X, 262). Das Vorbild steht in der Mitte der Ethik, da es die „individuelle Bestimmung“ beeinflusst, d.h. die „Berufung“ der Person, orientiert. Nur die Vorbilder machen uns „frei zu unserer Bestimmung und zur vollen Ausladung unserer Kraft“ (Die Formen des Wissens, GW IX, 106), denn

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sie wirken wie „Wegbereiter, die jedem Menschen seine Bestimmung klären und verdeutlichen, denen wir uns messen und zu uns, zu unserem geistigen Selbst, emporringen können, die uns unsere wahren Kräfte kennen und sie tätig gebrauchen lehren“ (Die Formen des Wissens, GW IX, 105). Das Vorbild stellt für Schelers materiale Ethik das dar, was das Sollen und die Norm für Kants formale Ethik ist. Ohne die Fokussierung auf das Konzept des Vorbildes bleibt deshalb der Übergang von der Kantischen formalen Ethik zu Schelers materialer Ethik unverständlich. Zum Schluss des Formalismus stellt Scheler fest, dass das ideale Sollen, „das von dem erblickten Personwert einer Person als Forderung ausgeht, nicht den Namen Norm [...], sondern einen anderen Namen: nämlich Vorbild“ (Formalismus, GW II, 558) führt. Während sich die Normen auf ein allgemeines Sollen beziehen, weist das personhafte Vorbild ein „individuelles Sollen“ auf. Deswegen „ist in der Idee des Vorbildes das individuelle Wertwesen der Person, die als Vorbild fungiert, nicht ausgelöscht wie im Wesen der Norm, die allgemein nach Inhalt und Gültigkeit ist“ (Formalismus, GW II, 559). Anders als für Kant besteht der höchste Sinn jedes sittlichen Aktes für Scheler nicht in der Realisierung eines obersten Gesetzes, sondern in der Förderung einer solidarischen Persongemeinschaft. Mithin wird das Verhältnis der Normen zur Bildung der Person umgedreht und das letzte Kriterium für die Unterscheidung zwischen der ethisch positiven oder negativen Bedeutung einer Handlung ist nicht mehr die Norm an sich, sondern die Qualität der Bildung der Person selbst. Daraus folgt, dass „Normen selbst je gut oder schlecht sind, je nachdem sie das mögliche Werden guter oder schlechter Personen in letzter Instanz fördern oder hemmen“ (Formalismus, GW II, 559). Somit entsteht eine Spannung zwischen Moral und Ethik. Die Normen liegen nicht der Ethik, sondern der Moral zugrunde. Sie dienen nicht dazu, die Bildung der Person, sondern das Funktionalisieren einer Gesellschaft zu regulieren. Gerade deswegen trachtet das Vorbild und Gegenbild nicht wie die Norm danach, jedem Individuum ein gleiches Vorgehen aufzuerlegen. Es zielt vielmehr auf die Singularität, d.h. auf die individuelle Umbildung der Person. Daraus nun, dass die ethisch positive beziehungsweise negative Bedeutung einer Handlung nur an der Steigerung der solidarischen Dimension der Persongemeinschaft ermittelt werden kann, folgt die Gewichtigkeit der Frage nach dem Vorbild und dem Gegenbild in der Ethik. Wenn wir „auf die faktische Wirksamkeit des Vorbildes im Wachstum und Niedergang des sittlichen Seins und Lebens [blicken], so sehen wir das Vorbildprinzip überall als das primäre Vehikel aller Veränderungen in der sittlichen Welt“ (Formalismus, GW II, 561). Vorbilder

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und Gegenbilder erweisen sich damit, im Guten oder im Bösen, als die ursprünglichsten Formen sittlichen Werdens und Wandels.266 Scheler sieht im Vorbild die Möglichkeit, eine intellektualistische Konzeption der Bildung zu überwinden: „Nicht abstrakte Sittenregeln allgemeingültiger Art wirken auf die Seele formend, gestaltend, sondern immer nur anschauliche Vorbilder“ (Vorbild und Führer, GW X, 263). Das Vorbild orientiert die Person bei der Übung ihres Fühlens und ihrer Leidenschaften. Durch das Vorbild lernt ein Kind den Umgang mit den eigenen Gefühlen. Das Vorbild dient der Person zur Übung, zu ihrer anthropologisch notwendigen Umbildung. Hierin ist auch eine partielle Konvergenz zwischen Schelers Vorbildlehre und Pierre Hadots Gedanken der cura sui erkennbar. 3.7.4 Das Vorbild als Morgenröte des individuellen Gesetzes Das Vorbild ist kein statisches Model, sondern vielmehr eine ontogenetische „prefiguration“, die aktiv auf den Bildungsprozess der Person einwirkt. Wenn das Vorbild zur Triebfeder des Wachstums im Prozess der personalen Identität wird, muss in ihm das „Sollen“ des Individuums verwurzelt sein – ein individuelles Sollen, das weder einer allgemeinen Regel noch einem abstrakten oder autoritären Prinzip, sondern dem vorbildwirksamen ordo amoris eines konkreten Individuums entstammt. Dies folgt aus einer der Hauptthesen des Formalismus, die sich um das „Ansich-Gute-für-mich“ dreht. Das „An-sich-Gute-für-mich“ ist kein „Gutes an sich“ sondern meine „individuelle Bestimmung“. Es gibt deswegen kein apodiktisches Wissen eines absoluten Guten, sondern nur eine unendliche Zahl expressiver Prozesse, denen jeweils ein spezifischer ordo amoris einer bestimmten personalen Identität entspricht. Jede personale Individualität bringt eine einzige und nicht wiederholbare Wertperspektive zum Ausdruck, die nicht willkürlich durch einen einfachen Willensakt modifiziert und in diesem Sinne objektiv genannt werden kann, da sich in dieser Wertperspektive die Motivationen und die komplexe Geschichte des jeweiligen Individuums allmählich sedimentiert haben. Sogleich fällt der Einklang mit den Analysen Georg Simmels in der Abhandlung Das individuelle Gesetz267 sowie mit dem Begriff der individuellen Totalität bei Ernst Troeltsch auf. Scheler zufolge jedoch stellt sich die Frage nach dem Sollen nicht im Anblick des individuellen Seins an 266 267

Vgl. Formalismus, GW II, 579. Scheler selbst kannte allerdings nur die erste – in der Zeitschrift Logos, IV (1913), S. 117–160, erschienene – Version von Simmels Abhandlung Das individuelle Gesetz, welche später gründlich revidiert wurde. Siehe auch Formalismus, GW II, 481.

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sich, sondern vielmehr des vorbildwirksamen Moments desselben, welches der individuellen Berufung besser entspricht. Das ethische Sollen enthüllt sich insofern, als im Individuum das vorbildwirksame Moment aus dem ununterbrochenen Streit mit der eigenen Trivialität und im Widerstand gegen das Gegenbild hervorgeht. Eine Person wird von einem Vorbild ergriffen, wenn sie fühlt, in einen größeren Raum hineinwachsen zu können, der durch eine besondere Lebensweise, eine Geste, einen Ausdruck oder ein Kunstwerk geschaffen wurde, und wenn sie im Vorbild einen solchen erweiterten existentiellen Spielraum findet, der in ihr schon lange erschöpft war.268 Die Kernfrage ist, dass das Vorbild den Nachfolger für sich gewinnt und somit eine Anziehungskraft erlangt, indem es der Existenz des Nachfolgers einen weiteren entscheidenden Spielraum anbietet, in welchem er das eigene „individuelle Sollen“ in Freiheit bilden kann. Das Vorbild lässt den anbrechenden Augenblick hervortreten, in welchem der Nachfolger den Auftakt für einen Neuanfang aufgreifen kann, um wiedergeboren zu werden. In diesem Moment der Wiedergeburt zeichnet sich das Vorbild als „Morgenröte“ des individuellen Gesetzes ab. Vorbilder „sind nur Wegbereiter zum Hören des Rufes unserer Person; sie sind nur anbrechende Morgenröte des Sonnentags unseres individuellen Gewissens und Gesetzes“ (Die Formen des Wissens, GW IX, 106).269 3.7.5 Ordo amoris, Vorbild und Bildung „Wer den ordo amoris eines Menschen hat, hat den Menschen. Er hat für ihn als moralisches Subjekt das, was die Kristallformel für den Kristall ist. Er durchschaut den Menschen so weit, als man einen Menschen durchschauen kann. Er sieht vor sich die hinter aller empirischen Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit stets einfach verlaufenden Grundlinien seines Gemütes, welches mehr der Kern des Menschen als Geistwesen zu heißen verdient als Erkennen und Wollen. Er besitzt in einem geistigen Schema 268

269

Scheler spricht über das Wesen des Vorbildes an zwei Stellen, die hier angeführt zu werden verdienen: Die unmittelbar erlebte Vorbildwirksamkeit ist „ein von der Haltung der Hingebung an das Vorbildexempel umspanntes Hineinwachsen des Personseins selbst und der Gesinnung in Struktur und Züge des Vorbildes“ (Formalismus, GW II, 566). Das Vorbild, ferner, „ist die stets personal geformte Wertgestalt, die Einem oder einer Gruppe vor der Seele also schwebt, daß diese Seele in diese Gestalt hineinwächst, sich in sie hineinbildet: und daß sie ihr Sein, Leben, Wirken heimlich oder bewußt daran mißt, sich selbst bejaht, lobt oder verneint, tadelt, je nachdem sie sich damit übereinstimmend oder ihm widerstreitend findet“ (Vorbild und Führer, GW X, 267). Dieser Begriff des Vorbildes als Wegbereiter und als Morgenröte kommt später auch bei M. Zambrano in ihrer Schrift De la Aurora wieder vor.

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den Urquell, der alles heimlich speist, was von diesem Menschen ausgeht, ja noch mehr, das Urbestimmende dessen, was dauernd Miene macht, sich um ihn herumzustellen“ (Ordo amoris, GW X, 348). In diesen wenigen Zeilen stellt Scheler den ordo amoris als das neue principium individuationis der Person dar. Eine Person ist weder Substanz noch Kontinuum der Bewusstseinszustände, sondern die Geschichte ihres ordo amoris. Der Mensch unterscheidet sich von anderen Lebewesen nicht so sehr durch den Verstand – die Keime der Intelligenz sind schon bei Tieren vorhanden –, als vielmehr dadurch, dass er eine eigene Ordnung des Liebens zum Ausdruck bringen kann. Ein intelligenter Affe kann zwar eine Priorität der Bedürfnisse, eine Ordnung der Präferenzen, nicht aber eine Ordnung des Liebens setzen. Die Person begnügt sich nicht damit, die Alternativen abzuwägen und sich für den stärksten oder nützlichsten Trieb zu entscheiden, da sie im ordo amoris über ein weiteres Kriterium verfügt – über eine höhere Ebene der Orientierung, welche die Prioritäten im Hinblick auf die Weltoffenheit und die Selbstoffenbarung festlegt.270 Der Mensch kann die Befriedigung eines bestimmten Triebs ablehnen, nicht wegen Inkompatibilität mit einem stärkeren Trieb oder aus einem Annehmlichkeits- oder Nützlichkeitskalkül heraus, sondern deswegen, weil das Lieben die schöpferische Überschreitung der Gegenwart noch wünschenswerter machen kann. So gestaltet die Ordnung des Liebens die Qualität und Logik der Präferenzen völlig um.271 Der ordo amoris ist ein individuelles emotionales Apriori – eine dynamische und retroaktive Struktur des Liebens und Hassens,272 sowie des Vorziehens und Nachsetzens, die absolut unverwechselbar und einmalig ist, wie die Physiognomie eines Antlitzes. Damit ist der ordo amoris kein statischer Ausgangspunkt des Individuums, sondern immer vorläufiges Ergebnis des Prozesses, durch den das Individuum die ursprüngliche Verwirrung des eigenen Fühlens transzendiert. Der ordo amoris setzt also das voraus, was Scheler „therapeutische Technik des Menschenheiles“ (Ordo amoris, GW X, 350) nennt. Ihm liegt die Übung des Liebens zugrunde. In dieser Übung, die zugleich eine Übung der Selbsttranszendenz ist, geht die Person aus sich selbst heraus und gewinnt eine neue Positionalität. Sie ruft mit diesem Schritt eine Antwort in der Andersheit hervor, eine Antwort allerdings, die nicht notwendig positiv sein muss. In diesem Fragen und Antworten zeigt sich das Lieben als etwas, das nicht 270 271

272

Vgl. § 3.3.5. Was Scheler hier nicht explizit sagt – und was später Charles Taylor deutlich zum Ausdruck bringen wird – ist, dass sich diese zweite Ordnung der Orientierung in den durch Reflexion und Sprache aufgespannten Sinnhorizonten entfaltet. Dem stimmt auch Jean-Luc Marion zu: „L’homme ne se définit ni par le logos, ni par l’être en lui, mais par ceci qu’il aime (ou hait), qu’il le veuille ou non“ (J.-L. Marion, Le Phénomène érotique, a.a.O., S. 18).

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mit der Intentionalität des Subjekts, sondern mit einem Sichgeben – einem wahrhaftigen Sichoffenbaren – der Welt zusammenhängt: „Das ist ein Fragen gleichsam der Liebe, auf das die Welt antwortet, indem sie sich erschließt und darin selbst erst zu ihrem vollen Dasein und Wert kommt“ (Liebe und Erkenntnis, GW VI, 97). Das Sichoffenbaren der Andersheit ist also auch die Folge einer Intensivierung unserer Liebe und entspricht einer höheren Stufe der Teilnahme. In diesem Zusammenhang stellt sich die oft erörterte Frage nach dem Verhältnis des Schicksals zum ordo amoris.273 In Ordo amoris unterscheidet Scheler zwischen einem dynamischen Begriff des Schicksals – „Schicksal wie Milieustruktur wachsen“ (Ordo amoris, GW X, 353) – und einem statischen Begriff der individuellen Bestimmung, die als „eine an sich zeitlose Wertwesenheit in der Form der Personalität“ ist (ibid.). Solange die individuelle Bestimmung, wie Scheler hier in Ordo amoris vorschlägt, „nicht gebildet [...], sondern nur erkannt“ (ibid.) wird, braucht es keine Theorie der Bildung. Einige Jahre später, in der Schrift Vom Ewigen im Menschen (1921), erweist sich der ordo amoris ausschließlich in Bezug auf den Willen des Subjekts als statisch, nicht jedoch in Bezug auf den schöpferischen Akt des Liebens. Das statische Schicksal ereilt nur diejenigen Personen, die nicht den Akt der Selbsttranszendierung erlebt haben. Hier wird die „individuelle Bestimmung“ als Funktionalisierung des ordo amoris verstanden.274 Sie kann durch das Werden der Person retroaktiv modifiziert werden. In der Abhandlung Reue und Wiedergeburt wird die Fähigkeit der Person, sich selbst – und somit ihr statisches Schicksal – zu transzendieren, so dass sie eine radikale Umbildung erleben, eine neue Existenz hervorbringen und gar eine Wiedergeburt einleiten kann, geradezu zum grundlegenden Charakteristikum der Person. Die ganze Phänomenologie der Reue zeigt hinlänglich, dass die Person sich selbst transzendieren und folglich ihr Schicksal „verändern“ kann Nunmehr wird deutlich, dass eine Bildung des ordo amoris oder eine „Herzensbildung“ nötig ist.275 Beim späten Scheler wird der Begriff des ordo amoris durch den der Bildung ersetzt. Scheler sagt ausdrücklich, dass die Bildung ein „ordre du coeur“ ist.276 Deshalb sollte man die Schrift Ordo amoris zusammen mit der Abhandlung Die Formen des Wissens und die 273

274 275 276

Zur Interpretation des Schicksals in Ordo amoris siehe insbesondere, E. Kelly, Der Begriff des Schicksals im Denken Max Schelers, in: C. Bermes, W. Henckmann, H. Leonardy (Hg.), Denken des Ursprungs. Ursprung des Denkens. Schelers Philosophie und ihre Anfänge in Jena, Würzburg 1998, S. 149–159. Siehe auch Vorbild und Führer, wo Scheler von einer „Schicksalsbildung“ durch Funktionalisierung spricht (Vorbild und Führer, GW X, 272). Vgl. Die Formen des Wissens, GW IX, 110. Vgl. Die Formen des Wissens, GW IX, 110.

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Bildung lesen, die ihrerseits einen der Kerngedanken in Erkenntnis und Arbeit vertieft und expliziert.277 Die Bildung der Person ist keine epistemologische Kategorie. Genau wie den ordo amoris stellt Scheler auch die Bildung als „eine persönliche Struktur, einen Inbegriff aufeinander zur Einheit eines Stiles“ (Erkenntnis und Arbeit, GW VIII, 209)278 dar, die imstande sei, eine „individuell eigentümliche Form, Gestalt, Rhythmik [auszudrücken], in deren Grenzen und nach deren Maßen alle freien geistigen Tätigkeiten eines Menschen, aber durch sie geleitet und gelenkt auch alle psychophysischen automatischen Lebensäußerungen (Ausdruck und Haltung, Reden und Schweigen), alles ‚Verhalten‘ dieses Menschen, ablaufen“ (Die Formen des Wissens, GW IX, 90). Eine solche Struktur konstituiert sich durch einen langsamen Prozess der Reinigung, des Wegnehmens, wie schon Plotin anhand des berühmten Beispiels des Bildhauers dargelegt hat.279 Scheler nimmt diese Intuition im Sinne einer Entleerung des Egozentrismus (Selbsttranszendenz, Entspannung, Demut) auf, unterstreicht aber, dass das Ergebnis keine statische, sondern eine dynamische Struktur sei: „Bildung – das ist eine gewordene Prägung, Gestaltung dieses menschlichen Gesamtseins: nur eben nicht, wie bei der Form einer Statue eines Bildes, Prägung und Gestaltung eines materialen Stoffes, sondern Prägung und Gestaltung einer lebendigen Ganzheit in der Form der Zeit, einer Ganzheit, die aus nichts besteht als aus Abläufen, Prozessen, Akten“ (ibid.). Der ordo amoris ist das Ergebnis einer anthropologischen Übung, welche jeden einzelnen Menschen beschäftigt. Diese Übung hat im Laufe der Jahrtausende ein spezifisches Bildungswissen hervorgebracht, welches diejenigen Kompetenzen und Erfahrungen in sich sammelt, die sich für den Menschen als fähig erwiesen haben, das Vermögen der Verwunderung und der Wiedergeburt lebendig zu halten. Der Begriff der Bildung wird relativ spät von Scheler eingeführt. Das erklärt sich vielleicht aus der Tatsache, dass dieser Terminus in der deutschen Sprache des neunzehnten Jahrhunderts eng mit der Vorstellung 277

278 279

Vgl. Erkenntnis und Arbeit, GW VIII, 203–211. Wenn überdies die Frage nach der Bildung im Horizont der philosophischen Anthropologie gestellt wird, so ist auch wahr, dass sich letztere innerhalb der Ontologie der Person vollzieht, die ursprünglich in Ordo amoris vorweggenommen wurde. Derselbe Satz kommt auch vor in: Die Formen des Wissens, GW IX, 118. „[Nimm], wie der Bildhauer, der an dem, was schön werden soll, bald hier bald da etwas wegnimmt und abschleift, bald hier glättet bald dort säubert, bis er an seinem Bilde ein schönes Antlitz zu Stande bringt, auch du alles das weg, was überflüssig ist, mache das Krumme wieder gerade, reinige das Dunkle und lass es hell werden, kurz höre nicht auf zu zimmern an deinem Bilde“ (Enneaden, I, 6, 9, 9–14). Auf die Wichtigkeit dieses Beispiels besteht P. Hadot, Exercices spirituels et philosophie antique, Paris 2002, S. 48.

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eines festen allgemeinen menschlichen Wesens verknüpft war, die aus Schelers Sicht den klassischen Modellen der paideia und der humanitas allzu nahe stand. In Anlehnung an Eduard Spranger nimmt Scheler Abstand von einem solchen Humanitätsideal: „Es war der große Irrtum des 18. Jahrhunderts – verhängnisvoll für das Schicksal des Humanitätsideals im 19. Jahrhundert –, daß es sich die ‚Humanität‘ nur in der abstrakten Form des in allen Menschen gleichen Vernunftwesens zum Bildungsvorbild machte“ (Die Formen des Wissens, GW IX, 105). Scheler schlägt hingegen ein anderes Konzept der Bildung vor, welches „notwendig differentiell“ ist (ibid.). Das Hauptmerkmal dieser Bildung besteht darin, sich durch den Prozess der Selbsttranszendenz in den Dienst der Differenzierung und Singularisation der Person zu stellen. Der Terminus „Vorbild“ kommt indessen in der Schrift Probleme einer Soziologie des Wissens wieder vor, in der Scheler einen der ersten Versuche unternimmt, eine Theorie der Ohnmacht des Geistes aufzustellen,280 gleichsam als wollte er unterstreichen, dass die „idealen Faktoren“ nach dem Sturz der Lehre des nous poietikos nicht mehr unter der Obhut eines unpersönlichen Geistes oder einer listigen Vernunft, sondern allein durch die Kraft des Vorbildes operieren. Die unmittelbare Verknüpfung des Begriffs des Vorbildes mit dem der Bildung geschieht ein paar Jahre später in der Schrift Die Formen des Wissens, in der Scheler deutlich zum Ausdruck bringt, dass das wirksamste und kräftigste äußere Reizmittel der Bildung „das Wertvorbild einer Person [ist], die unsere Liebe, die unsere Verehrung gewann“ (Die Formen des Wissens, GW IX, 104).281 Eine Person wird vorbildwirksam, wenn sie in ihrem Bildungsprozess so vorgeht, dass sie besonders schwere Hindernisse überwindet, für deren Bewältigung noch kein Wissen in der Form der „Tradition“ zur Verfügung steht. Durch die schlichte Tatsache, dass sie jenseits der Hindernisse steht, die alle anderen lähmen, ermutigt diese Person zum Sprung, der für die Bewältigung der Hindernisse gewagt werden muss. Scheler zufolge handelt es sich nicht um eine einfache Ansteckung. Der schöpferische Akt, der im ursprünglichen Vorbild wirkte, wird im Nachbild sozusagen neugeboren und wirkt weiterhin in demselben.282 280 281

282

Vgl. Probleme einer Soziologie des Wissens, GW VIII, 21. In der mittleren Phase verwendet Scheler den Terminus Bildung nicht in Bezug auf das Vorbild. Er optiert vielmehr für die Termini „Gestalt“ oder „Formierung“: Das Vorbild „ist die stets personal geformte Wert-gestalt“ (Vorbild und Führer, GW X, 267). Auf die Relevanz der Verbindung zwischen Vorbild und Nachbild weist schon Herder hin: „Alle Erziehung kann nur durch Nachahmung und Uebung, also durch Uebergang des Vorbildes ins Nachbild werden; und wie könnten wir dies beßer als Ueberlieferung nennen? Der Nachahmende aber muß Kräfte haben, das Mitgetheilte und Mittheilbare aufzunehmen und es, wie Speise, durch die er lebt, in seine

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3.7.6 Vorbild und Kongenialität Das Vorbild wirkt auf die Person ähnlich wie die Gesetze des künstlerischen Schaffens auf den Künstler. Mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Kant sagt Scheler, dass das Genie „‚ohne Regel‘ ein Mustergültiges schafft“ (Vorbild und Führer, GW X, 300). Das Vorbild agiert ebenfalls ohne Regel, es schafft eine neue unvorhersehbare Ausdrucksform, die das Trägheitsmoment des Gewöhnlichen zu durchbrechen sucht. Die erneute Berufung auf die in der Romantik mit Nachdruck vertretene These von „Genie und Wahnsinn“ scheint mir jedoch problematisch, insofern sie unterstellt, das Kunstwerk sei ein unmittelbarer und spontaner Ausdruck des eigenen Fühlens. Hinter jedem schöpferischen Akt – und sei er noch so unvermittelt und spontan – steckt immer eine anthropologische Übung und eine Methode. Es ist indessen auch Schelers Gedanke, dass wir uns von unserer Affektivität distanzieren müssen, um sie bilden zu können. Nur durch die Transzendierung des eigenen durchschnittlichen Niveaus des Fühlens und durch die Erreichung eines Höhepunkts des Fühlens ist es möglich, sich selbst als Neues zu erleben und den Zugang zu einem neuen Anfang zu finden. Ohne diese mühsame Übung des Fühlens würde kein Singularisationsprozess der Person stattfinden. Vom Standpunkt einer Theorie der Expressivität aus trägt das Kunstwerk die Spur der Übung in sich, durch die der Künstler sein eigenes Fühlen auf bisher unerreichte Höhe geführt hat, so dass sich ihm ein neuer Sinneshorizont geöffnete. Hier wird der schöpferische Akt des Künstlers selbst zu einer vorbildwirksamen Kraft, da er aufzeigt, wie man den Weg zu einer neuen Dimension der Erfahrung bahnen kann. Das Kunstwerk verkörpert den Prozess einer gelungenen Übung der Selbsttranszendenz und wird insofern „allgemein“, als es in all denjenigen, die ihm begegnen, eine Umbildung fördern kann. In Schelers Worten haben die einzelnen Kunstwerke neben ihrem Eigenwert „immer noch den höheren Sinn, gleichsam Sprungbretter für die Erschauung dieser Welt des Genius zu sein“ (Vorbild und Führer, GW X, 291). Im Kunstwerk hat sich also die Übung der Selbsttranszendenz materialisiert, die dem Künstler einen Sprung nach vorne ermöglicht hat. Es wird zu einem „Sprungbrett“, da es das verborgene Prinzip einer solchen Kreativität sichtbar macht. Die Aneignung dieses Geheimnisses verschafft die Möglichkeit, sich die Struktur der Inspiration anzueignen und theoretisch über das hinauszugehen, was der Künstler im Blick hatte, der als Erster jene Inspiration erlebt hat. Denn nicht nur das, was der Künstler „da in seinem Werke schaute, sondern auch die individuelle Eigenart seines geistigen Schauens und der ihr entsprechenden Struktur seiner Welt ist noch in ihm gegenNatur zu verwandeln“ (J.G. Herder, Sämmtliche Werke, Berlin 1877–1913, Bd. XIII, S. 347).

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wärtig; und dieser Eigenart können wir uns aus dem Werke heraus bemächtigen“ (Vorbild und Führer, GW X, 291). Der Reiz und die Anziehungskraft, die ein Kunstwerk auf uns ausübt, rühren genau genommen von dem Vorgefühl her, diesen Sprung nach vorne – auf personalisierte Weise und eventuell in eine andere Richtung als die ursprünglich intendierte – erneut vollziehen zu können. Hier geht es um die Herausarbeitung einer wesentlichen Verknüpfung der Vorbildfunktion eines Kunstwerks mit dem Phänomen der Kongenialität. Über die Vorstellungen romantischen Ursprungs hinausgehend, innerhalb derer auch Scheler verfangen bleibt, verstehe ich hier unter „Kongenialität“ das Vermögen, sich in das Vorbild empathisch hineinzuversetzen. Die Kongenialität stellt einen besonderen Fall der Beziehung zwischen dem Vorbild und dem Nachfolger dar. Ein Kunstwerk kann ganze Epochen lang schweigen. Nur eine „kongeniale Persönlichkeit kann es dann beredt machen“ (Vorbild und Führer, GW X, 294). Sie findet nämlich den Zugang zur Spannung, aus der das Kunstwerk entstand, und durch die Teilnahme an dieser Spannung bringt die „kongeniale Persönlichkeit“ es zur Wiederbelebung. Das ist ein Phänomen, das in der Technik unbekannt ist: „Es ist die Erscheinung der ‚Renaissance‘, d.h. des Wiederlebendigwerdens von scheintoten Werken. Das ist das Merkwürdige in dem Gebiete reiner geistiger Kulturen: Alles kann wiederauferstehen. Auf dem Gebiete aller technischen Werte, z.B. aller Nützlichkeitswerte, wäre Renaissance mit ‚Rückschritt‘ gleichbedeutend“ (Vorbild und Führer, GW X, 294). 3.7.7 Das Vorbild und der Verfall der Aura Zum Schluss dieser Auseinandersetzung mit dem Begriff des Vorbildes möchte ich eine kurze Überlegung hinzufügen. Wenn ein Kunstwerk in dem Maße wirkt, in dem es ein „Sprungbrett“ für einen neuen Sinneshorizont wird, so scheint mir, dass die Theorie von der Aura des Kunstwerks, die Walter Benjamin in seiner Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit entwickelte, zumindest in einem Punkt umgedacht werden sollte. Der Verfall der Aura in der Kunst stimmt mit dem Verschwinden einer Kunst des Wiederauferstehenlassens des schöpferischen Aktes überein, welche die üblichen und durchschnittlichen Horizonte der menschlichen Erfahrung durchbrechen kann. Wenn die Aura als Sichtbarkeit des ontogenetischen Kodex des dem Kunstwerk zugrunde liegenden schöpferischen Aktes verstanden wird, so kann sie auch in den technischen Reproduktionen eines Originals präsent sein. Nicht die technische Reproduzierbarkeit an sich lässt die Aura verkümmern, sondern die Disposition, mit der der Mensch vor ein Kunstwerk

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tritt. Mit einer unangemessenen Disposition kann selbst vor dem Original die Aura nicht erfasst werden. Die Aura verfällt, wenn das Kunstwerk als fertiges Produkt erlebt wird, das mühelos konsumiert werden kann; wenn es kein „Sprungbrett“ für unsere anthropologischen Übungen darstellt, sondern zum bequemen Konsumgegenstand wird. Die Aura kommt dagegen dann zu ihrem Recht, wenn das Kunstwerk zum Nahrungsmittel für den „Hunger nach Sein“ wird. Was der Kunst ihre Lebendigkeit raubt, ist also der Versuch, sie als einen Gegenstand zu betrachten, der mit einem bereits festgelegten Sinn ausgestattet ist. Um diese Sicht zu überwinden, muss man diesen endlichen, beschränkten Sinn transzendieren und das Kunstwerk als unerschöpfliche Quelle der Interpretation erleben. Ohne diese Fähigkeit wird jedes Kunstwerk ein scheintotes Werk, da es nicht mehr als „Sprungbrett“ für unsere Emotionen erlebt wird. Wenn die Aura nicht mehr sichtbar ist, kann die Kunst keine vorbildwirksame Funktion mehr ausüben, um die Intranszendenz zu durchbrechen. Eine Kunst ohne Aura stellt schließlich einen Verrat an der Schönheit und der Freude dar. Losgelöst von der schöpferischen anthropologischen Übung der Selbsttranszendenz und unter der Wirkung der massenmedialen Betäubung, wäre sie auf die pornographische Genießbarkeit des Bildes beschränkt. 3.7.8 Globalisierung und Vorbild Scheler entwickelt den Begriff des Ausgleichs in einem Vortrag, der am 5. November 1927 an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin gehalten wurde. Ich habe hier nicht vor, eine detaillierte Analyse dieses komplexen Begriffs vorzunehmen, der – als einer der zentralsten Begriffe im Denken des späten Scheler – etwa das bezeichnet, was man heute unter „Globalisierung“ versteht,283 sondern möchte auf einen bislang wenig untersuchten Aspekt aufmerksam machen. Scheler konzipierte nämlich keinen eindeutigen Ausgleich, sondern zwei Arten von Ausgleich, die sich sehr voneinander unterscheiden. Neben einem Ausgleich, der als Nivellierung gekennzeichnet ist, gibt es auch einen Ausgleich im Sinn einer „wachsende[n] Differenzierung“, der einer „mächtige[n] Steigerung der geistigen, individuellen und relativ individuellen, z.B. nationalen Differenzierung“ (Ausgleich, GW IX, 152) fähig ist. Warum bringt der erste Ausgleich – getrieben von dem, was man mit R. Girard die Logik des désir mimétique nennen könnte – eine breite Nivellierung zustande, während

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Den Begriff des Ausgleichs habe ich bereits erörtert in: G. Cusinato, L’oggetto della Filosofia in Max Scheler fra Funktionalisierung e Ausgleich, in: R. Racinaro (Hg.), L’oggetto della storia della Filosofia, Napoli 1998, S. 319–349.

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der zweite Entgegensetzungen vermeidet und individuelle Differenzierungen fördert? Um auf diese Frage zu antworten, empfiehlt es sich, die vom späten Scheler unternommenen Analysen über den Ausgleich mit den in der mittleren Phase angestellten Betrachtungen über das Solidaritätsprinzip und das Heilige in Verbindung zu setzen.284 Scheler war davon überzeugt, dass das Heilige mit einem Akt der „Mit-teilung“ – mehr im Sinne von Teilhabe als von Kommunikation285 – im Bildungsprozess der personalen Singularität zusammenfalle. Je mehr ich einen Wert mit-teile, desto mehr bildet sich meine Singularität, desto vorbildwirksamer werde ich und desto mehr fördere ich solidarisch die weitere Mit-teilung desselben Wertes. Mithin drückt sich das Heilige im konkreten Akt der Mit-teilung aus, welcher der Bildung der personalen Singularität zugrunde liegt. Die Tragweite der solidarischen Bedeutung der Mit-teilung begreift man, sobald man das einzelne Individuum nicht mehr als Vertreter einer subjektivistischen Perspektive, sondern vom Standpunkt des Unersetzlichkeitsprinzips aus zu betrachten beginnt.286 Im schöpferischen Akt des Liebens wird eine Person zum Pionier, der den Horizont der Werterfahrung erweitert.287 Die Individualität, die die Mit-teilung eines Wertes besser fördert, wird bezüglich der Erfahrung dieses Wertes vorbildwirksamer. Jeder gelungene Schritt im eigenen Prozess der Singularisation und Bildung kann für die Entwicklung der Singularität der anderen Personen vorbildwirksam werden. Kraft dieses Vorbildcharakters ist jede weitere, von einer einzelnen Person ermöglichte Werterfahrung eine Hilfe bei der Bildung und dem Wachstum anderer Personen. Scheler zufolge ist jede personale, vorbildwirksame Singularität für die Erweiterung der gesamten axiologischen Erfahrungsgrenze unersetzlich.288 Dieses Vorbild kann mithin zur Kraft werden, die sich der zweite Ausgleich, die „wachsende Dif284 285

286 287

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Zum Solidaritätsprinzip vgl. § 3.1.4. Indem Scheler den Terminus „mit-teilbarste“ (Formalismus, GW II, 542), anstatt „mitteilbarste“ verwendet, scheint er den Akzent von der Bedeutung der Mitteilung als Kommunikation auf die als solidarische Teilhabe am Teilen zu verschieben. Um die Bedeutung dieses Begriffs zu erweitern, wird hier und im Folgenden der Ausdruck „Mit-teilen“ bzw. „Mit-teilung“ benutzt. Scheler zufolge liegt diese Mitteilung der Persongemeinschaft zugrunde. Eine in gewisser Hinsicht komplementäre Analyse über die Mitteilung im Sinne der Kommunikation als anthropologische Grundlage des Mitseins liefert Karl Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, München 1928. Zum Unersetzlichkeitsprinzip vgl. § 3.4.7. „Im Actus der Liebe erscheinen wesensnotwendig mögliche Werte an etwas (in der Richtung des ‚Höheren‘), die ohne diesen Actus (für Vorziehen und Fühlen) nicht erscheinen“ (Absolutsphäre, GW X, 234). Für den Menschen „ist die Entwicklungsfähigkeit des Wertfühlens eine unbegrenzte [...]. Indem sich sein Fühlen entwickelt, schreitet er erst in die Wertfülle der vorhandenen Werte hinein“ (Formalismus, GW II, 272).

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ferenzierung“, zu eigen macht – eine Globalisierung also, die, anstatt die Unterschiede zu zerstören und die Singularität zu nivellieren, die Unersetzlichkeit jeder Individualität und Kultur anerkennt und aufwertet. Diese Unterscheidung zwischen teilbaren und unteilbaren Gütern ist sicherlich eine fruchtbare Einsicht, die in gewisser Hinsicht an die aktuelle ökonomische und soziologische Debatte über die „relationalen Güter“ erinnert.289 Eine materielle Ressource wie Erdöl wird umso knapper, je mehr man sie verbraucht. Es ist offensichtlich, dass der Streit um die Aufteilung und Verteilung des Gutes sehr schnell auch militärisch eskalieren kann. Niemand aber würde auf die Idee kommen, ein Bild von Botticelli in Teile zu schneiden, um es aufzuteilen. Der Grund dafür liegt nicht nur darin, dass man so das Bild selbst zerstören würde, sondern auch darin, dass der Genuss desselben nicht nur von oppositiver Natur sein kann. Es kann nämlich zusammen mit einem Freund noch besser genossen werden: Je fähiger dieser Freund beim „Verbrauch“ dieses Kunstwerks ist und je mehr er mich in seinen Kunstgenuss einbindet, desto zugänglicher kann auch mir das Kunstwerk werden. Daraus ergibt sich, dass ein Kunstwerk oft den anderen Menschen umso näher gebracht wird, je mehr es von einem seiner Verehrer „verbraucht“ wird. Wenn ich von einem Bild von Hieronymus Bosch mitgerissen werde und mit meinen Freunden darüber diskutiere, so nehme ich den anderen potentiellen Verehrern des Bildes nichts weg, sondern trage dazu bei, den Wert des Kunstwerks zu vermehren und ihn zugänglicher zu machen. Paradoxerweise könnte man also in Bezug auf diesen Ausgleich behaupten, je mehr das unteilbare Gut „verbraucht“ wird, desto stärker vermehrt sich sein Reichtum. Und zusammen mit dem unteilbaren Gut erweitert sich meine ganze Existenz und wird reicher. Wenn man die Phänomenologie dieses „Verbrauchs“ genauer untersucht, kann man feststellen, dass man bei teilbaren Gütern vor allem darum bemüht, sie selbst herzustellen oder sie sich zu verschaffen, wobei sich der Verbrauch selbst als relativ mühelos und befriedigend erweist, während bei einem unteilbaren Gut der „Verbrauch“ selbst nach einer bestimmten Anstrengung verlangt. Um etwa ein Kunstwerk zu preisen, kann eine beträchtliche Mühe nötig sein, bloß damit wir verstehen können, warum es auf uns überhaupt so mitreißend wirkt. Wer durch diese hermeneutische Mühe besser in die Welt des Kunstwerks einzudringen schafft, bekommt eine „vorbildwirksame“ Funktion für die anderen Menschen. Die Kraft des Vorbildes, die im Sinne der „Mit-teilung“ wirkt, kann in diesem Fall zum Auftakt für eine neue Art von nicht oppositiver Globalisierung werden. Sie wirkt durch „Überredung“, d.h. indem sie die 289

Zum Begriff der „relationalen Güter“ vgl. P. Donati, Relational Sociology: A New Paradigm for the Social Sciences, London 2010.

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Konflikte, die ansonsten zu Zusammenstößen führen könnten, nicht auf die selbstreferentielle Verstärkung der psychischen Identität hin, sondern auf die Förderung personaler Umbildung hin richtet. Das Vorbild ist immer dort gegenwärtig, wo diese Verschiebung geschieht. Wo es eine intentionale Abweichung im Streit um bloße psychische Anerkennung gibt, dort wirkt die Kraft eines Vorbildes. Durch das Vorbild führen die unterschiedlichen Perspektiven nicht zu einem oppositiven oder gar militärischen Konflikt, sondern münden in einen Ausgleich, der die Einseitigkeiten der jeweiligen Perspektiven in ein Gleichgewicht zu bringen sucht und in dem das Ziel aller nicht die Verstärkung des eigenen Selbst, sondern die Förderung der kreativen Handlung im solidarischen Kontext ist. 3.7.9 Anthropologie der solidarischen Teilhabe Scheler bringt nicht deutlich genug zum Ausdruck, dass das Vorbild „universell“ wird, nicht insofern es all diejenigen, die es ansteckt, dem gleichen Modell ähnlicher macht, sondern insofern es sie einzigartiger und individueller werden lässt. Eine weitere Grenze in Schelers Denken scheint mir darin zu liegen, dass er sich allzu sehr auf die Differenz zwischen teilbaren und unteilbaren Gütern konzentriert. Es ist ein Fehler zu denken, dass diese Differenz dem Unterschied zwischen der oppositiven und der solidarischen Logik ohne weiteres entspricht. Auch bei der Interpretation eines Kunstwerks kann nämlich ein heftiger Streit um die Bedeutung desselben ausbrechen oder sogar Neid erregt werden, während beim Akt des Brotbrechens im Gegenteil echte Solidarität herrschen kann. Die Unterscheidung zwischen teilbaren und unteilbaren Gütern sollte man also in einem weiteren Sinne auffassen, als sie von Scheler vorgeschlagen wurde. Der entscheidende Übergang besteht darin, den Anwendungsbereich der Logik der „Mit-teilung“ – im Sinne von „solidarischer Teilhabe“ – von den unteilbaren Gütern auf die teilbaren Güter zu erweitern. So hat der Mensch an einem gewissen Punkt seiner Geschichte, statt sich auf das Stück Brot zu stürzen, die Übung der solidarischen Mit-teilung erfunden, die über die durch den Herdentrieb aufgezwungene Aufteilung einer Beute oder eines Fangs hinaus etwas Neues darstellt. Das, was das Christentum „Nachbild“ nennt, beruht wesentlich auf der Übertragung der mit-teilbaren Logik auf die teilbaren Güter, wie sie im Wunder der Brotvermehrung geschieht. Bei der Wiederholung dieses „Wunders“ – im etymologischen Sinne eines Aktes, der thaumázein auszulösen und, die Logik des ursprünglichen Kontexts transzendierend, den Menschen auf eine Umbildung hin zu öffnen vermag – lässt das Nachbild in sich selbst das ursprüngliche Vorbild der Umkehrung wieder aufleben, die es dem Menschen ermöglicht, als Person neu geboren zu werden.

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Im Mittelpunkt steht nicht das unteilbare Gut, sondern der solidarische Akt des Liebens. Wahrscheinlich setzt die Bereitschaft für die Solidarität das Erlebnis des Geliebtwerdens voraus, wie die Fähigkeit zum affektiven Einsatz für den Anderen die ursprüngliche Erfahrung des Geliebtwerdens voraussetzt. Das neugeborene Kind hat bald das Bedürfnis, sich im Lächeln der Mutter widergespiegelt zu sehen, sich von ihrer Anerkennung und Bewunderung zu ernähren. Diese affektive Ernährung ist für das Kind genauso wichtig wie die Milch für seinen Leib. Die richtige „Scharfeinstellung“ des Du, die Unterscheidung des Ich vom Du, und daher auch das Bewusstsein von sich selbst, ist die Folge der Freude des Kindes an dem Erlebnis einer von einem Anderen gezollten Bewunderung. Nur durch diese Freude wird es dem Kind möglich, seine Gefühle für den Anderen einzusetzen, sich von diesem zu ernähren und zu wachsen. Indem es sich im Lächeln der Mutter widergespiegelt sieht, schöpft das neugeborene Kind aus der Quelle die Energie und Kraft, die jeder Existenz zugrunde liegt; der Quelle der Freude, die es für den Rest seines Lebens immer wieder suchen wird. Indem es auf das Lächeln der Mutter antwortet, wird das Kind zum zweiten Mal geboren. Durch die Wahrnehmung des zustimmenden mütterlichen Lächelns wird sich das Neugeborene dessen bewusst, für jemanden zu existieren. Wenn am Anfang diese Bestätigung fehlt, wird die Entäußerung der Libido in die äußeren Gegenstände gehemmt und sucht sich im Narzissmus entsprechenden Gefühlsersatz. Da es sich nicht in der Mutter widergespiegelt sehen kann, wird das Kind dazu neigen, sich auf narzisstische Weise im eigenen Bild reflektieren. Es bleibt aber dann in etwas verfangen, das keine Bestätigung gefunden hat außer der selbstreferentiellen durch das Selbst. Der Narzissmus ist die Folge eines von außen bestimmten affektiven Mangels (z.B. der Mutter, die nicht lächelt) oder einer affektiven Störung (z.B. einer überfürsorglichen oder possessiven Haltung der Eltern). Die ursprüngliche Erfahrung der Solidarität stimmt mit der Liebe überein, die sich als bewusste Mit-teilung des eigenen Lebens, der eigenen Hoffnungen, Zeit, Energien, Gefühle und Erlebnisse versteht. In diesem Sinne wird die solidarische Teilhabe mit den Mitmenschen zum zentralen Moment der anthropologischen Übung, durch die ein Individuum geduldig danach sucht, die Negativität einzudämmen, die in der menschlichen Existenz unausweichlich eingeschlossen ist.

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Personenregister Arendt, H. 172 Aristoteles 52, 58, 60, 91, 160, 161 Augustinus 23, 82, 83, 88, 89, 93, 145, 164 Barbarić, D. 14 Barth, B. 62 Bauman, Z. 168 Baumgartner, W. 137 Beierwaltes, W. 39, 51, 82 Bergson, H. 71, 72, 96, 118, 153 Berlin, I. 17 Bolzano, B. 138, 155 Brandis, C.A. 60 Brentano, F. 12, 115, 131, 132, 161, 162, 163, 169, 171 Buchheim, T. 33, 40, 62 Buddha 93, 118 Courtine, J.F. 51 Damasio, A.R. 159 De Sousa, R. 159 Descartes, R. 116, 132, 133, 134, 159 Dilthey, W. 77, 142, 165 Donati, P. 186 Dostojewski, F. 46, 127 Ehrenfels, C. v. 138 Eschenmayer, C.A. v. 47 Fellmann, F. 15, 145, 165 Ferrara, A. 172 Fischer, J. 15, 19 Foucault, M. 11, 13, 28, 29, 116, 126, 172 Frank, M. 15, 23 Franz, A. 75 Franz, M. 39, 52 Franziskus, von Assisi 81, 90, 102, 103, 104, 105 Freud, S. 100, 101, 107, 108, 109 Frings, M. 100, 145

Fuhrmans, H. 39, 40, 91, 92 Gabel, M. 15, 99 Gadamer, H.-G. 144 Gehlen, A. 17, 108 Gibson, J.J. 148 Häberlin, P. 21 Habermas, J. 145, 166 Hadot, P. 13, 29, 116, 126, 180 Hahn, E. 15 Happ, H. 52 Harnack, A. v. 17, 81, 102, 103 Hartmann, E. v. 17, 82 Hartmann, N. 81, 151 Hegel, G.W.F. 18, 51, 62, 64, 69 Heidegger, M. 13, 24 Henckmann, W. 15, 97, 106 Herder, J.G. v. 17, 181, 182 Hessen, J. 173 Heuser-Keßler, L.-M. 53 Hildebrand, D. v. 86, 105 Hogrebe, W. 53 Hölderlin, F. 21 Holz, H. 39 Horn, C. 29 Hühn, L. 51, 54, 57 Hume, D. 12, 161, 162, 163 Husserl, E. 12, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 131, 132, 145, 163 Jacobi, F.H. 34 Jacobs, W.G. 15, 53 Jantzen, J. 15 Joas, H. 99, 137, 138, 157, 158 Kant, I. 19, 20, 30, 51, 52, 61, 62, 64, 71, 77, 89, 115, 119, 128, 137, 142, 143, 144, 162, 172, 175, 182 Kelly, E. 15, 118, 179 Kelsen, H. 167 Kepler, J. 21, 64

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Klages, L. 21 Krings, H. 51, 52, 63 Krüger, G. 107 LeDoux, J. 159, 164 Leonardy, H. 102 Levinas, E. 31, 99 Link, C. 87 Lipovetsky, G. 11 Löwith, K. 185 Luhmann, N. 30 Luther, A.R. 102 Mahler, M. 27, 28 Marcion 17, 81, 102, 104 Marion, J.-L. 24, 99, 178 Marquard, O. 34, 54, 55 May, G. 82 Meinong, A. 137 Merleau-Ponty, M. 20 Moiso, F. 34 Moltmann, J. 83, 84, 87, 92 Morin, M. 96 Nietzsche, F. 11, 46, 100, 127 Nikodemus 28 Novalis, F. 21 Nussbaum, M. 161, 163, 164, 165 Nygren, A. 100 Ohashi, R. 63 Orth, W. 15, 97 Pareyson, L. 51, 66, 67 Peetz, S. 34, 62 Peirce, C.S. 153 Platon 13, 25, 28, 30, 39, 42, 47, 48, 51, 52, 57, 59, 60, 62, 100, 105, 106, 107, 108, 112, 125, 126, 128, 160, 164 Plessner, H. 20, 21, 120, 139 Plotin 29, 112, 180 Przywara, E. 145

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Rickert, H. 140, 145 Ricoeur, P. 166 Rist, M. 107 Rothacker, E. 81 Sander, A. 15 Sandkaulen, B. 33, 34 Schilder, P. 165 Schlegel, F. 21 Schmied-Kowarzik, W. 53 Schopenhauer, A. 18, 30, 79 Schulz, W. 51 Schumann, K. 137 Schüßler, W. 91 Schütz, A. 136, 145 Schweitzer, A. 130 Seidel, A. 108, 109 Sepp, H.R. 14, 15, 24, 135 Serres, M. 11 Shibuya, R. 15, 42 Simmel, G. 142, 176 Sloterdijk, P. 126, 127 Spinoza, B. 33, 36, 37, 38, 40, 42, 43, 127 Steinfath, H. 29 Takayama, M. 15 Tappolet, C. 165 Taubes, J. 103 Taylor, C. 11, 17, 136, 157, 163, 166, 178 Theunissen, M. 67 Thomä, D. 29 Tilliette, X. 51, 52 Troeltsch, E. 176 Uexküll, J. v. 19, 20, 31, 153 Weber, M. 30, 158, 167 Wust, P. 17, 18, 19, 81 Yamaguchi, K. 15 Zambrano, M. 28, 172, 177 Zimmermann, E. 53