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German Pages [324] Year 2002
Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben
Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 146
Vandenhoeck & Ruprecht
Christian Utzinger
Periphrades Aner Untersuchungen zum ersten Stasimon der Sophokleischen »Antigone« und zu den antiken Kulturentstehungstheorien
Vandenhoeck & Ruprecht
Verantwortlicher Herausgeber: Christoph Riedweg
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-25245-5 Hypomnemata ISSN 0085-1671
© 2003, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Internet: www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Hubert & Co., Göttingen. Umschlagkonzeption: Markus Eidt, Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt Vorwort .. Einleitung A. Forschungsüberblick /Fragestellung B. Aufbau der Arbeit und Vorgehen ...... .. C. Vorbemerkung: Das Leben des Sophokles
...... 7 ..... 9
14 . . .... 15
1.
Das erste Stasimon der "Antigone" von Sophokles (Ant.332-375) A. Das Chorlied .. 17 1. Text/Textkritik. . ......... 20 2. Metrik. . ..... 23 3. Übersetzung . . . . .. . ............... . ... 24 4. Aufbau / Gestaltung ................... . . ............. 30 5. Einzelheiten / Begriffe . B. Stellung im Stück 1. Rolle des Chores a) Allgemeines .............. .. ......... 39 . ......... 41 b) Äusserungen über den Chor .............. . c) Äusserungen des Chores in den Sprechpartien . . .. 42 d) Die Chorlieder 49 e) Fazit ..... . ........ 60 .. 61 2. Bezug des ersten Stasimons zum Stück ... C. Zusammenfassung ..73 D. Exkurs: Das zweite Stasimon des "Oedipus Tyrannos" (OT 863-910) ................... 75
H.
Der geistesgeschichtliche Hintergrund: Interpretation von Texten zur Kulturentstehungstheorie A. "Wissenschaftliche" Texte: Philosophie, Medizin und Historiographie 1. Allgemeines; Homer, Hesiod, n pClTOl EUpETO(. ..97 2. Xenophanes . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . ........... . . ....... 105 3. Anaxagoras . .109 4. Archelaos .. " .112 5. Sophisten a) Protagoras: Platons "Protagoras" . . .. 118 b) Anonymus Iamblichi ............. 137
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Inhalt
B. C.
D. E. III.
c) Weitere Sophisten ........................................... 6. Demokrit ............................................................ 7. [Hippokrates], TIep\ apxalTjS iTjTplKiis ....................... 8. Diodor ............................................................... Zusammenfassung I erste Ergebnisse ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Texte aus Dichtung und Rhetorik (mit einem Anhang zu einigen historiographischen und philosophischen Texten) 1. Hymnus Homericus 20 (ad Vu1canum) ......................... 2. Euripides, "Hiketiden" (mit weiteren Zeugnissen aus Euripides) ........................ 3. Weitere Stellen aus Tragödien a) Aischylos [?], "Palamedes" F 181a (= adesp. F 470 N2) .. b) Sophokles ........................................................ c) Moschion ......................................................... 4. Komödie ............................................................ 5. Satyrspiel "Sisyphus" ............................................. 6. Gorgias, "Palamedes" ............................................. 7. Weitere Texte (Herodot, Thukydides, Platon, Isokrates, Aristoteles, Dikaiarchos, Theophrast) ......................................... Zusammenfassung: Gemeinsamkeiten dieser Texte ................... Aischylos [?], "Gefesselter Prometheus" ...............................
140 145 149 155 168
171 172 183 185 186 188 192 195
197 210 212
Schlusswort ....................................................................... 231 Anhang A. B. C.
Ausblick auf spätere Texte und Autoren ................................ 235 Kurzzusammenfassungen der wichtigsten Texte ...................... 260 Alphabetischer Motivindex ............................................... 263
Bibliographie
A. B. C. D.
Lexika ....................................................................... Textausgaben antiker Autoren ........................................... Textcorpora ................................................................ Kommentare und Sekundärliteratur .....................................
271 271 276 277
Register A. B.
Stellen ....................................................................... 307 Namen und Sachen ........................................................ 313
C. D.
Griechische Wörter ........................................................ 320 Lateinische Wörter ........................................................ 324
Parentibus
Vorwort
Die hier veröffentlichte Arbeit geht aus einer Dissertation hervor, die im Wintersemester 1998/99 auf Antrag von Prof. Dr. Walter Burkert von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich angenommen wurde. Die Publikation der Arbeit hat sich aus vielfältigen Gründen immer wieder verzögert. Die Dissertation erfuhr in dieser Zeit etliche Umarbeitungen und wurde um einen Anhang erweitert. Zum Gelingen dieser Arbeit haben viele beigetragen. Prof. Walter Burkert hat sie von Anfang an wohlwollend begleitet und mich auf ganz verschiedenen Wegen durch sein immenses Wissen und seinen breiten Horizont immer wieder auf neue Ideen gebracht. Mit Frau PD Dr. Laura Gemelli Marciano konnte ich manche Probleme aus meiner Arbeit besprechen. Prof. Dr. Christoph Riedweg, der meine Arbeit zur Publikation in der Reihe Hypomnemata vorgeschlagen hat, gab mir einige wichtige Anregungen. Dank gebührt auch meinen beiden Lehrern Prof. Dr. Hermann Tränkle, der mir wertvolles philologisches Rüstzeug mitgegeben hat, und Prof. Dr. George E. Dunkel. Er hat meine Freude an der historischen Sprachwissenschaft geweckt. Nicht zuletzt wegen ihres Engagements habe ich ausserordentlich gerne und gewinnbringend studiert. Die Liebe zur Antike habe ich allerdings meinem Griechischlehrer an der Kantonsschule, Herrn Dr. Stefan Walter, zu verdanken. Er hat uns Schülerinnen und Schülern mit seltener Begeisterung und Akribie die Augen für die Wunder der antiken Literatur und Philosophie geöffnet. Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, in erster Linie Frau Dr. U. Blech, danke ich für die gute Zusammenarbeit im Zuge der Publikation. Der grösste Dank gilt meiner Frau Franziska Egli und meinen Eltern. Mit meiner Frau habe ich unzählige Gespräche über die Kulturentstehungstheorien geführt. Sie hat mir oft kritische Anregungen gegeben, die ich zwar ungern hörte, die mich aber meist weiterbrachten. Meine Eltern haben mich während meines Studiums immer unterstützt, auch wenn sie vielleicht nicht immer verstanden, was ich eigentlich machte. Ihnen ist in dankbarer Anerkennung diese Arbeit gewidmet. Ein besonderer Dank geht an die Stiftung "Fonds für Altertumswissenschaft, Zürich". Sie hat mit einem finanziellen Beitrag diese Publikation grosszügig unterstützt.
Bachenbülach/Zürich, im September 2002
Einleitung
A. Forschungsüberblick/Fragestellung Das erste Stasimon der "Antigone" gehört zu den bekanntesten und meistzitierten Stücken griechischer Dichtung. Die Grossartigkeit und Modernität des Inhalts und der Gestaltung haben wohl niemanden unbeeindruckt gelassen. So berühmt es ist, so umstritten ist seine Deutung: Während Jebb 1 im Chorlied eine Reaktion auf die unerhörte und wundersame Bestattung des Polyneikes sah und seine Funktion auf das Drama selbst beschränkte, neigten andere Gelehrte zu anderen Urteilen: Zum Beispiel Helg: 2 "Schon längst ist festgestellt worden, dass am Ende des ersten Epeisodions die Handlung an einem toten Punkt angelangt ist. Polyneikes ist beerdigt, der Täter scheinbar entkommen, wie soll es weitergehen? An dieser Stelle hat Sophokles das Lied von der ÖEIIIOTTT> GllepWTTOU eingesetzt, allgemeine Gedanken ohne Zusammenhang mit der Situation auf der Bühne und ohne jede ausdrückliche Verbindung. Jedenfalls beweisen die unzähligen, sich immer und immer widersprechenden Interpretationsversuche am besten die Schwierigkeit, die hier vorliegt. Ich kann zur Erklärung nichts Neues beibringen. Nur scheinen mir solche Lieder geeignet, die Stimmung der Szene auf dem notwendigen Niveau zu halten und weiterzuleiten." Nach Helg hat das erste Stasimon also nur eine dramaturgischinterludische Funktion im Sinne einer anspruchsvollen Zwischenaktrnusik. Zum Teil vergleichbar, aber dann doch wieder ganz verschieden ist der Ansatz von Wilamowitz: 3 "Weder auf die Handlung des Dramas noch auf irgend einen bestimmten Fall oder bestimmten Menschen ausserhalb [sc. des ChorliedesJ hat dies Lied eine Beziehung: es ist eine Lehre, die der Dichter gibt; weil sie allgemein gilt, sollen wir sie hier und im Leben nicht vergessen." Wenige Jahre früher hat er von Sophokles als dem "Prediger vor dem Volke" gesprochen, der die sophistische Bildung verwirft: "Der Dichter redet warnend als Lehrer zu seinem Volke ... Sophokles mahnt, warnt. "4
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Jebb (1900) 69. Helg (1950) 49. U.v.Wilamowitz (1923) 115f. Das Chorlied wird so zu einer Art Parabase. U.v.Wilamowitz (1921) 516ff. Ähnlich war schon der Standpunkt von Schmid (1903) und Nestle (1910) v.a. 143. Rose (1976) 50 und Craik (1980) 252 Anm. 18 haben dies ins rechte Licht gerückt. Bereits Errandonea (1922) 369ff. bezweifelte, dass der Chor auf Dinge zu sprechen komme, die nichts mit dem Stück zu tun hätten.
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Einleitung
Im Gegensatz zu solchen Interpretationsansätzen, die bis hin zu Ehrenbergs5 historisierenden Deutungen führen, steht Müller6 mit seiner ahistorischen, rein poetischen Textinterpretation. Er sieht wohl einen Bezug des Chorliedes innerhalb des Stücks, lehnt aber jeden Bezug zu zeitgenössischen Gedanken ab, weil dadurch die Grösse und Zeitlosigkeit des Liedes gefährdet würde.? Einen neuen Ansatz zwischen diesen Polen hat Rösler 8 aufgezeigt, der die Tragödie im städtischen Leben verankert und sie in einen historischen Rahmen einbettet. Denn die Tragödie war keine zeitlos-klassische Dichtung, sondern sie war auf ihre Weise höchst politisch. Ohne an einzelne, konkrete historische Begebenheiten anknüpfen zu wollen, führt von hier ein fruchtbarer Weg zur Interpretation der Tragödie. 9 Für unsere Zwecke mag die Feststellung genügen, dass sich in den Tragödien demnach sicherlich auf irgendeine Weise das Denken der Athener des fünften Jahrhunderts spiegelt.1 0 Bei der Deutung von Chorliedern stellt sich automatisch die Frage nach der Rolle des Chores im Drama und - je nach Ergebnis - die Frage, ob denn in einem so erhabenen Chorlied eine letztlich falsche Meinung vertreten oder gar eine nicht über das einzelne Stück hinaus allgemeingültige Wahrheit verkündet werden könne. ll Für Ehrenberg dagegen ist der gehobene Sprachduktus der Ode gerade das Zeichen dafür, dass die Meinung des Dichters darin zum Ausdruck kommen muss: "He (Sophocles) would not have given this choral song its intrinsic sincerity and tremendous force without thinking chiefly of that person who had truly overstepped the limits of man's power. This, in Sophocles' view, was Creon, and not Antigone. " Damit verbunden ist ein grundsätzliches methodisches Problem: Sind die Chorlieder das Sprachrohr des Dichters? Da diese Frage auf direktem Weg mit äusseren Mitteln nicht beantwortbar ist - wir können Sophokles nicht mehr fragen -, hat man sich in erster Linie an den Kontext zu halten. Sophokles hat fürs Jahr 441 oder 440 12 zusammen mit zwei anderen Tragödien und einem Satyrspiel die "Antigone"
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Ehrenberg (1954). Er sah in der Kreonfigur eine personifizierte Warnung an Perikles. G. Müller (1967a) v.a. 89 und 94. Dies wurde schon von Knox (1968) 749 und 753 in der Rezension bezweifelt. Rösler (1980). Vgl. u.a. Winkler/Zeitiin (1990) [darin v.a. die Aufsätze von Winkler und GoldhilI], Bier! (1991) 45-58, Sommerstein et al. (1993). Für die "Anti gone" speziell auch Holt (1999). An strukturalistischen Interpretationsansätzen fehlt es nicht [Barie (1971), Segal (1981), Oudemans/Lardinois (1987) (post)strukturalistisch, vgl. rez. Goldhill (1988), Buxton (1989), Van Looy (1989)], doch haben sie meist keinen grossen Beitrag zu einem wirklichen Neuverständnis geleistet, sondern letztlich nur ältere Erkenntnisse neu erhellt und klarer formuliert, vgl. Landfester (1990), Fresco (1994) 290. G. Müller (1967a) löst das Problem, indem er einen Mehrfachsinn der Chor!ieder annimmt, für Rösler (1983) 123f. ist der sprachliche Duktus der Chorlieder Teil der tragischen Konvention, die Sophokles übernommen hat. Es ist unbestritten, dass Sophokles 441/0 Stratege gewesen ist. In der Hypothesis (T 25 R.) wird ein Zusammenhang zwischen dem Sieg mit der "Antigone" und der Wahl zum Strategen konstruiert: Sophokles sei aufgrund seines Sieges zum Strategen gewählt worden. Das ist wohl nicht wörtlich zu nehmen. Aber die Gleichzeitigkeit von Strategenamt und Aufführung der "Antigone" liess wohl erst die Entstehung einer ursächlichen Verbindung der beiden unab-
Forschungsüberblick I Fragestellung
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mit den Mitteln, die zu einer Tragödie gehören, geschrieben, um in einer einmaligen Aufführung den Sieg im Agon zu erringen. In den Text ist dabei wohl sicher zeitgenössisches Gedankengut eingeflossen, weil der Text ja das Konstrukt eines bestimmten Autors ist, dessen Denk- und Bewusstseinsstruktur notwendig im intellektuellen Diskurs seiner Zeit verankert ist, auch wenn er nicht plakativ zeitgenössische Themen verarbeitet. Dabei muss man aber berücksichtigen, dass es nicht Sophokles selbst ist, der spricht, sondern dass er Personen des Dramas sprechen lässt. 13 Die Analyse hat sich demnach primär einmal mit dem Text des Chorliedes, dann mit dem textlichen Umfeld zu befassen, wobei in erster Linie der Ablauf des Stücks zu berücksichtigen ist (so wie es der antike Theaterbesucher 14 erlebt hat), schliesslich damit, wie sich die Motive im Stück weiterentwickeln. Die Tatsache, dass es sich bei der "Antigone" um einen Klassikertext 15 handelt, der immer wieder neu fasziniert hat,16 steht m. E. der Annahme eines Einflusses zeitgenössischer Gedanken jedoch nicht im Wege. Sophokles war als Dichter und Politiker ja Teil der führenden athenischen Schicht. Nicht als Predigerl7 oder Philosoph 18 behandelt er aber Themen,19 die ihn und seine Zeitgenossen beschäftigten, sondern als Tragödiendichter mit den Mitteln, die ihm innerhalb dieser Tradition zur Verfügung standen. Die Zahl seiner Siege mag beweisen, dass er damit ganz gut gefahren ist.
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hängigen Ereignisse zu. Die "Antigone" wird demnach im Jahre 440 [West (1990b) 66 Anm. 21] aufgeführt worden sein. Es wären auch die Jahre 441 oder 442 [TrGF I, Did C 10] noch denkbar. Überkritisch Lefkowitz (1981) 78, 82f. Anders Lewis (1988): 438/7 v. Chr. [dagegen Szlezak (1994) 76]. Jüngst wendet sich Rosenmeyer (1993) v.a. 563 gegen die "neue Orthodoxie", den Autor ganz beiseite zu lassen: "I, also, cannot rid myself of the conviction that Sophocles speaks to me audibly and significantly as I listen to the text. " Dies ist insofern richtig, als Sophokles diese Texte verfasst hat: Er spricht also durch sie zu uns. Nur können wir nicht direkt von den Meinungen und Äusserungen der Figuren eines Dramas auf die persönlichen Ansichten von Sophokles selbst schliessen. Das Publikum der ersten Auffühung mit seinen Erwartungen, Erfahrungen und Ansichten stellen Tyrrelll Bennett (1998) ins Zentrum ihrer Interpretation. Schwinge (1992) spielt die Grundkriterien eines Klassikertextes an der "Antigone" durch: AIIgemeinheitscharakter, gewisser Grad an Bedeutsamkeit, Unalltäglichkeit und ein ansehnlicher Grad von ästhetischer Qualität. Beim ersten Stasimon fällt besonders die extrem geringe Redundanz auf, die vieles offen lässt und eine eindeutige Interpretation verhindert. Der allgemeine Charakter und die Offenheit entspricht wohl dichterischer Absicht, vgl. auch Kirkwood (1958) 207. Deshalb hat dieses Chorlied auch in jeder Zeit, v.a. jedoch in Zeiten grosser technischer Veränderungen, immer wieder fasziniert. Zum Klassischen vgl. auch E.G. Schmidt (1969) und Szlezak (1994) 86 (ohne den Zeitbezug zu leugnen). Vgl. Steiner (1984) und Flashar (1991) v.a. 401ff. M. Blundell (1989) 272: "Sophoclean Drama does not preach. It articulates a whole spectrum of responses to moral problems wh ich, though clothed in the grandeur of the heroic age, were living issues for the fifth-century Creeks who had inherited the values of that age. " Dagegen Hester (1971) in einem Aufsatz mit dem Titel "Sophocles the Unphilosophical". Long (1968) 167: "The interest which he shows in sophistic attitudes and arguments, all exemplify a mind which was completely involved in the intellectual life of fifth-century Athens". Vgl. Rose (1976) 55 und auch Coray (1993) XIIIf.
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Einleitung
Neben der Interpretation des Stücks wird es darum gehen, den geistesgeschichtlichen Hintergrund zu erhellen, um eben diese zeitgenössischen Themen herauszuarbeiten, die in die "Antigone" mit eingeflossen sind. Dabei handelt es sich um das Gebiet der Kulturentstehungstheorien, auf deren Hintergrund das erste Stasimon, wie zu zeigen sein wird, entstanden ist. Die Griechen haben sich schon früh mit den TExval beschäftigt, wie bereits Homer und Hesiod zu erkennen geben. Bald hat sie ihre Herkunft und ihre Stellung interessiert, und im fünften Jahrhundert haben sie begonnen, sich auch "wissenschaftlich" in theoretischen Texten damit zu beschäftigen, wobei auch Fragen nach der Entstehung der menschlichen Gesellschaft mit einbezogen wurden. Völlig neu aber waren auch damals diese Fragen nicht. Bereits im Mythos lies sen sich Ansätze zu ihrer Beantwortung finden, die jetzt auf einer anderen Ebene ausgewertet wurden. G. Billeter hat im Jahre 1901 zum ersten Mal eine grössere Zusammenstellung von Texten gemacht, die sich mit den Ursprüngen der Kultur befassen, sie besprochen und als Beilage zum Programm der Kantonsschule in Zürich - solches war damals noch möglich! - abgedruckt. W. Uxkull-Gyllenband2o ist in der Interpretation der Texte einen Schritt weiter gegangen und hat zwischen ihnen Abhängigkeiten zu rekonstruieren versucht. Ende der sechziger Jahre sind dann nochmals zwei umfassendere Werke erschienen: Von Cole 21 ein Buch über Demokrits vermutete Stellung in der Entwicklung der Kulturentstehungstheorie, eine Replik auf Spoerri, der 1959 die Gegenposition eingenommen hatte, und von Edelstein22 eine gross angelegte, aber unvollendet gebliebene Behandlung des Fortschrittsgedankens. Dodds 23 liess 1973 zum selben Thema einen Aufsatz folgen. Die Positionen waren mittlerweile bezogen, viele Hypothesen, die Uxkull-Gyllenband kühn hingeworfen hatte, in Frage gestellt. Den letzten grösseren Versuch, diese Fragen im Gesamtüberblick zu behandeln, hat S. Blunde1l1986 unternommen, ohne zu grundsätzlich neuen Erkenntnissen zu gelangen. Die Frage nach der Herkunft und Relevanz der Kultur hat die Menschen nie mehr losgelassen. Ab dem fünften Jahrhundert sind bis in römische und christliche Zeit immer wieder Neuaufnahmen und Adaptionen dieser Theorien zu finden. Und gerade auch in unserer jüngsten Vergangenheit hat man sich damit wieder beschäftigt, besonders mit der Ambivalenz unserer kulturellen Errungenschaften, die unsere Existenz zu bedrohen beginnen, worauf man seit rund zwanzig Jahren in stärkerem Masse aufmerksam geworden ist. Der Tages-Anzeiger untertitelt einen mehrseitigen Artikel mit den Worten: "Macht und Technologie können gleichennassen zum
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Uxkull (1924). Cole (1967). Er gibt 3 Anm. 9 einen Überblick über die ältere Literatur. Edelstein (1967). Dodds hielt im Jahre 1969 darüber einen Vortrag, der 1973 in seinen gesammelten Schriften veröffentlicht wurde, die den Titel dieses Aufsatzes tragen. In dieser Arbeit wird aus der deutschen Fassung von 1977 zitiert.
Forschungsüberblick I Fragestellung
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Nutzen wie zum Schaden der Menschen eingesetzt werden. "24 Solchen Gedanken hat Sophokles bereits in der Mitte des fünften Jahrhunderts Worte verliehen und Grösse und Schrecken der menschlichen Möglichkeiten beschrieben - nur dass seither das Potential des Menschen noch um ein Vielfaches gestiegen ist.
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Tages-Anzeiger vom 23.3.1994, 29ff. Auch in der Neuen Zürcher Zeitung sind in demselben Jahr Artikel erschienen, die sich mit Kultur, Fortschritt und Technik befassen: NZZ Nr.21 vom 26.1.1994, 57: Technikgläubigkeit und Katastrophenkult und Nr.38 vom 15.2.1994, 26: Die Natur als "heilige Sklavin", NZZ Nr. 159 vom 12./13.7.1997,41: Fortschrittsglaube - ein ewiger Wiedergänger? Neuere Werke, die sich mit der Kultur und der Ambivalenz der menschlichen Möglichkeiten befassen, sind Brackert/Wefelmeyer (1990) [Sammelband], Thum (1990), Wuketis (1998).
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Einleitung
B. Aufbau der Arbeit und Vorgehen Die Kulturentstehungstheorien sollen in dieser Arbeit ausgehend vom ersten Stasimon der "Antigone" diskutiert werden. Dieses wird zuerst metrisch und sprachlich für sich analysiert werden, bevor es in den Kontext des Stückes eingeordnet wird, wobei auch die Rolle des Chores in der notwendigen Kürze behandelt werden soll. In einem zweiten Schritt wird dargelegt, inwiefern in diesem Chorlied zeitgenössisches Gedankengut verarbeitet worden ist. Dazu werden alle einschlägigen Texte zur Kulturentstehung von Homer an chronologisch 1 diskutiert. Das fünfte Jahrhundert, insbesondere die Zeit um 450 wird dabei im Zentrum stehen. Auf Texte nach 300 v. Chr. wird nicht mehr vollständig eingegangen werden, sie werden aber, z.T. im Anhang, ebenfalls herangezogen. Die Behandlung der Zeugnisse erfolgt getrennt in zwei Gruppen - einerseits "wissenschaftliche" Texte, andererseits Reflexe in der Literatur -, da die Kulturtheorien wohl in vorsokratisch-sophistischen Kreisen entwickelt wurden und auf viele weitere Bereiche ausgestrahlt haben. Eine Sonderstellung erhält der "Gefesselte Prometheus", da weder sein Autor und seine Abfassungszeit feststehen, noch Einigkeit darüber herrscht, ob überhaupt Reflexe der Kulturentstehungstheorie darin festzustellen sind. Dies wird diese Arbeit zu zeigen haben. Damit das aber ohne dauernde Voraus griffe geschehen kann, wurde die Behandlung dieses Stücks ans Ende gestellt, wenn alle Motive der Kulturentstehungstheorie bereits vorgestellt sind. Ganz am Schluss wird dann aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse nochmals versucht werden, die Verbindung zwischen dem ersten Stasimon der "Antigone" und der Kulturentstehungslehre zusammenfassend aufzuzeigen. Alle antiken Autoren werden nach dem Abkürzungsverzeichnis bei LSJ,2 Zeitschriften nach der Annee philologique abgekürzt. Alle anderen Abkürzungen wie DK, TrGF u.ä. sind zu geläufig, als dass sie näher erklärt werden müssten. 3
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Dies lässt sich leider wegen des fragmentarischen Überlieferungszustandes nicht überall mit letzter Sicherheit konsequent durchführen. Ausnahmen sind nur PV für A.Pr. und VM für Hp.VM. CCL steht für "Collard/Cropp/Lee (1995)", CPF für "Corpus dei Papiri Filosofici", KRS für "Kirk I Raven I Schofield (1994)", LfgrE für "Lexikon des frühgriechischen Epos".
Vorbemerkung: Das Leben des Sophokles
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C. Vorbemerkung: Das Leben des Sophokles Eine Arbeit, die sich zum Ziel gesetzt hat, den geistes geschichtlichen Hintergrund eines Chorliedes zu erhellen, kommt um den Einbezug der Biographie des Dichters nicht herum. Es geht aber nicht darum, Biographisches im Werk des Sophokles aufzuzeigen, sondern darum, zu belegen, dass Sophokles seine Stücke nicht in einem Elfenbeinturm für die Ewigkeit schrieb, sondern voll und ganz ins politische und kulturelle Leben seiner Zeit eingebunden war. Sophokles 1 hat, geboren um 497/96 im Demos Kolonos und gestorben 406/5 (T 3/4 R),2 fast das ganze fünfte Jahrhundert durchlebt und dabei die Höhen und Tiefen Athens hautnah erlebt. In seinem langen Leben hat er wohl mit vielen Intellektuellen verkehrt, wie zum Beispiel mit Herodot, Pheidias, Anaxagoras, Protagoras, aber auch mit den Dichtern Aischylos, Euripides und Aristophanes (um nur einige zu nennen), und mit Politikern wie Kimon und Perikles. Neben seiner Tätigkeit als Tragödiendichter hat er sich auch politisch betätigt: 3 443/42 war er Hellenotamias, einer der zehn Verwalter der Kasse des attisch-delischen Seebundes (T 18 R). Im Samischen Krieg (441-39) war er 441/0 zusammen mit Perikles Stratege (T 19-25 R). 428 war er nochmals Stratege während des Archidamischen Krieges (431-21) (T 1, 36/T 26 R) und nach der katastrophalen Niederlage des athenischen Expeditionsheeres in Sizilien gehörte er 413/12 zum Kollegium der zehn Probulen4 (T 27 R.).
Sophokles hatte ausserdem kultische Ämter inne. Er war Priester des Heros HalonS (T 1,39 R), war massgeblich an der Einführung des Asklepioskultes aus Epi-
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Überblick bei Buxton (1984) 3-5, vgl. auch Podlecki (1998) 121ff. und Flashar (2000) 30ff. C.W. Müller (1995) nimmt aufgrund von genauen Quellenstudien das Archontenjahr 407/6 als Todesjahr an, wobei Sophokles im März 1 April 406 gestorben sei (d.h. also deutlich vor der Aufführung der "Frösche" des Aristophanes an den Lenäen 405). Ausführlich zur politischen "Biographie" von Sophokles vgl. Ugolini (2000) 25ff. Die Funktion dieser Probulen ist nicht ganz geklärt. Sie dienten in irgendeiner Weise der Disziplinierung der Bule, allenfalls um übereilte Entscheidungen zu verhindern und der radikalen Demokratie, der man die Schuld für die Niederlage zuwies, einen oligarchischen Zug zu verleihen, vgl. Gomme-Andrewes-Dover (1981) 6-7. Offenbar wurden bewährte Männer in dieses Gremium gewählt, die mit der vorangegangenen Katastrophe nichts zu tun hatten, vgl. Ostwald (1986) 340f. Latacz (1993) 162 schliesst daraus, dass Sophokles eben "kein Radikaldemokrat", sondern "ein aufgeklärter Konservativer" gewesen sei; vgl. auch Knox (1983) 5. Ugolini (2000) 85 betont seine Herkunft aus dem Adel, was sich auch in einer entsprechend konservativen Ideologie äussere. Zu Sophokles' Stellung nach der Wiedererrichtung der Demokratie (die Einführung der Probulen war ja der erste Schritt hin zur oligarchischen Herrschaft der 400) vgl. Hose (1995) 27 (Lit. in Anm. 41) und 95ff. Die Lesung des Namens ist umstritten (alii: Alkon), Aleshire (1989) 9 Anm. 2 (nach Körte) plädiert für Arnynos.
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Einleitung
dauros in Athen beteiligt (T 67/68 R.) und hat einen Paean für Asklepios gedichtet (T 73a R.).6 Nach seinem Tode schliesslich wurde er als Heros Dexion verehrt (T 69 R.). Sophokles ist also ein eindrückliches Beispiel dafür, wie Religion, Kult, Politik und Dichtung miteinander verknüpft waren7 und wie der Dichter in den verschiedensten Sparten des Polislebens engagiert war. Wohl zurecht sagt dazu die Vita (T 1,37 R.): "OÜTW SE POOUVT) und KoollIOTT)!) (Mässigung und Anstand), zum Reichtum aber ÜßPI!) gehöre (V. 564), hält ihr Chremylos, einer ihrer beiden Kontrahenten, entgegen, dass mit KOOllIOTT)!) wohl Stehlen und Einbrechen gemeint sei (V. 565). Trotz der Beteuerungen der Penia l03 lassen sich beide nicht überzeugen und jagen sie davon. Schon in den "Wolken" verwendete Aristophanes parodistisch ein Element aus der Diskussion, die mit der Kulturentstehungslehre in Verbindung steht. Er führt dort die in intellektuellen Kreisen weit verbreitete Ansicht ad absurdum, dass der Nomos nur relativ sei und lediglich auf Übereinkunft lO4 beruhe: Nachdem Strepsiades (V. 1420) darauf hingewiesen hat, dass es nirgends einen Nomos gebe, der besage, dass die Kinder die Eltern schlagen, entgegnet Pheidippides schlagfertig: Nur ein Mensch habe einmal festgesetzt, dass die Alten die Jungen schlügen,105 Nun führe er aber einen neuen Nomos ein. Als Begründung verweist er auf die Hähne und ähnliche Tiere,I06 bei denen die Söhne mit den Vätern kämpfen. Es bestehe ja kein Unterschied zwischen Tier und Mensch (V. 1428f.: Ti 8laq>epovolv / f]ll6'lv EKEivOI;), ausser dass jene keine Beschlüsse aufschrieben (V. 1429: lTAi]v y' ÖTI \jJT)q>iollaT' ou ypaq>ovolv), also nicht in einem grösseren Staatsgebilde lebten, sondern nur das ungeschriebene Naturrecht als Richtschnur kennten. Hier wird die weitverbreitete Meinung, dass nach der kulturellen Entwicklung ein grosser Unterschied zwischen den Tieren und Menschen bestehe, in ihr Gegenteil verkehrt. Der 8T)plw8T)!) ßio!) ist noch gar nicht überwunden: Die Menschen sind wie Tiere. Die Reaktion des Strepsiades übersteigert das ganze noch, indem er Pheidippides fragt, warum er denn nicht, wenn er schon die Hähne nachahme (V. 1430: TOU!) CxAEKTpVOVa!) ÖlTaVTa lllllEi), nicht auch gleich Mist fresse und auf Stangen schlafe. - So sei es eben nicht gemeint, insbesondere meine das auch Sokrates nicht, entgegnet Pheidippides. An dieser Stelle werden somit der "modeme" Nomosbegriffund die Vorstellung komisch verzerrt, dass die Natur als Beweismittel dienen kann und man diese nachahmen müsse,l07 Dazu kommt, dass zwei Vorstellungen zusammengebracht werAr.P1.160f.: TExval Be lTäaal Blel ae Kai aocp{allaTa / ev ToialV av6pcblTOla{v ea6' T]VPTlIlEva. Die Aussicht auf Gewinn treibt die Menschen an. Chremylos und Karion geben im Folgenden eine komische Liste von Texval, die Plutos bewirkt. 103 Ar.PI.558f.: ... ÖTI TOÜ DAOVTOV lTapEXUl ßeh{ovas CxvBpaS / Kai TT]V yvcbllT]v Kai TI)V iBeav. (576: ßehiovs aVTous lTOIW); 593f.: lTan' ea6' aya6' vlliv / Blel TJiv lTEviav. 102
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Siehe oben p.144 Anm. 277.
105 Ar.Nu.1421f.: OÜKOVV avnp 0 TOV VOIlOV 6elS TOÜTOV i'iv TC lTPWTOV, / walTEp aU Kaycb, Kai MyUlV elTel6e TOUS lTaAaIOUS: zur Stelle vgl. Dierauer (1977) 61ff. Vgl. auch 106
107
Av.757f. und 1344ff. Die Tierwelt als Standard findet sich auch bei Hdt.2,64, siehe auch unter Polybios ?? Diese Ansicht wurde schon im Zusammenhang mit Demokrit 68 B 154 DK und Moschion F 6,2Iff. Sn. besprochen. Das Argument stammt wohl aus der Nomos-Physis-Diskussion. Bei Aristophanes wird parodistisch die cpualS mit der Tierwelt gleichgesetzt.
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Der geistes geschichtliche Hintergrund
den, die nicht zusammenpassen: Die Natur soll als Beispiel dienen (daher darf es keine Unterschiede zwischen Hähnen und Menschen geben), andererseits wird gerade dadurch daran erinnert, dass gewöhnlich auf die Unterschiede bezüglich Verstand, Sprache usw. hingewiesen wird: Damit soll der Mensch doch den tierhaften Urzustand überwunden haben. Die Bedeutung des politischen Lebens, der Nomoi als Regulatoren des menschlichen Lebens, wie (auch) in den Kulturentstehungstheorien dargelegt, ja der Zivilisation, wird, obwohl die '-!'TI