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German Pages [440] Year 2015
© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550533 — ISBN E-Book: 9783647550534
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Gotthard Jasper
Paul Althaus (1888 – 1966) Professor, Prediger und Patriot in seiner Zeit 2. Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht
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Mit 11 Abbildungen Umschlagabbildung: Paul Althaus Ó Gotthard Jasper Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar. ISBN 978-3-525-55053-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Ó 2015, 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: CPIbuchbücher.de, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt Persönliche Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.
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Herkunft und Berufsfindung. Der „natürliche“ Weg eines begabten Pastorensohnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der fromme Sohn und kluge Gymnasiast aus einer Pastorendynastie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die ersten drei Semester in Tübingen – Der akademische Lehrer Adolf Schlatter und die christliche Studentenverbindung Nicaria . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Göttingen und Erichsburg – Studienabschluss und Vikariat, Promotion und Habilitation . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Erste Weltkrieg. Das gute Gewissen eines frommen deutschen Pastors und die Fügungen Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der Kriegsdienst und unser Gottesglaube – Freiwilliger Hilfssanitäter und Lazarettpfarrer vom August 1914 bis August 1915 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Seelsorge und Deutschtumsarbeit – Gouvernementspfarrer in Lodz 1915 – 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Ehen werden im Himmel geschlossen – Verlobung 1917 und Hochzeit 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ersten Jahre nach dem verlorenen Krieg. Politische und theologische Konsequenzen aus Kriegsverlust und Versailler Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Schock von 1918/19 – die Verarbeitung der aktuellen Politik im ersten Halbjahr 1919 . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der Professor als Lehrer der Kirche – Start ins Leben und Arbeiten an der Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Im Spannungsfeld von Theologie und Politik – die wissenschaftlichen Publikationen der frühen 20-er Jahre .
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. . 107 . . 121
Die zweite Hälfte der 20-er Jahre. Karriere und Profil des jungen Professors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 4.1 Erlangen 1925 – Konfliktreicher Start in ein erfüllendes Arbeitsfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 4.2 Erlangen: keine „bleibende Stadt“ – oder doch? . . . . . . . . 140 5
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5.
Der Professor und der Patriot Paul Althaus. Theologische Wissenschaft und politisch-soziale Überzeugungen in ihren wechselseitigen Begrenzungen in der Spätphase der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5.1 Paul Althaus’ Position in der Theologie der 20-er und frühen 30-er Jahre – dargestellt vor allem an seinem Briefwechsel mit Rudolf Bultmann, Emil Brunner und Karl Barth . . . . . 153 5.2 Kirche und Nation und Nationalkrieg – Dimensionen des Politischen in der Theologie von Paul Althaus in der zweiten Hälfte der Weimarer Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
6.
Die frühen 30-er Jahre. Die Hoffnungen von Paul Althaus auf ein in der Krise erneuertes christliches Deutschland im Dritten Reich . 6.1 Paul Althaus im patriotisch-politischen Protest – angesteckt vom „nationalsozialistischen Bazillus“? . . . . . . . . . . . . 6.2 Paul Althaus als Theologe und Seelsorger in der Krisenzeit 1932/33 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Hoffnungen von Paul Althaus auf eine „Deutsche Stunde der Kirche“ im Jahr 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Kirche im Kampf – Von der Kritik an der Barmer Erklärung über den Ansbacher Ratschlag zur Teilnahme an der Dahlemer Bekenntnis-Synode . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7.
Paul Althaus als „pater familias“ – Das Leben der Familie Althaus in den 30-er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
8.
Paul Althaus im etablierten NS-Staat und im Zweiten Weltkrieg (1935 – 1945). Schwierige Lernprozesse des christlichen Patrioten im Kampf um Kirche und Volk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Paul Althaus und sein „Bekenntnis zur Zeit“ – Der Streit um die Positionierung der lutherischen Kirche im Kirchenkampf 1935 – 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Zwischen Kritik und Zustimmung – Die Wahrnehmung der Politik in Hitlers Deutschland durch Paul Althaus in 1935 – 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Das Hören auf den verborgenen Gott – der Prediger, Seelsorger und Professor im Zweiten Weltkrieg . . . . . . . .
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Paul Althaus in der frühen Nachkriegszeit 1945 – 1948 . . . . . . . 319 9.1 Paul Althaus als Subjekt und Objekt der „Vergangenheitsbewältigung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 9.2 Paul Althaus als Prediger und Theologe in den ersten Nachkriegsjahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
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10. Paul Althaus in der Bundesrepublik – Prägungen und Lernprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 10.1 Paul Althaus 1948 – 1966 – Der hochgeschätzte, ebenso lernbereite wie konservativ orientierte Professor, Prediger und Publizist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 10.2 Paul Althaus im Urteil der Nachwelt – zwischen Verehrung, kritischem Respekt und reduktionistischer Vereinseitigung . 377 Schlussbetrachtung – Bilanz eines reichen Lebens – geprägt und gefordert in seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Zitierte Schriften von Paul Althaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Archivmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427
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Persönliche Vorbemerkung Wenn sich ein emeritierter Politikwissenschaftler mit 70 Jahren auf das Abenteuer einlässt, die Biographie des bedeutenden Erlanger Theologieprofessors Paul Althaus zu schreiben, dann muss ein sehr vielschichtiges Bündel von Motiven und Gründen zu diesem Unterfangen geführt haben. Zum besseren Verständnis der Intentionen und Fragehorizonte seien darum die wesentlichen Dimensionen dieses Motivgeflechtes einleitend andeutungsweise offen gelegt. Als Paul Althaus 1966 ¢ zehn Jahre nach seiner Emeritierung ¢ im 78. Lebensjahr in Erlangen verstarb, da waren die Zeitungen und Zeitschriften voll ehrender Nachrufe auf den akademischen Lehrer, ungewöhnlich produktiven Wissenschaftler und wortmächtigen Prediger. Seit 1925 hatte Althaus in der Erlanger Theologischen Fakultät gelehrt, ihrem Ansehen ¢ zusammen mit seinem Kollegen Elert ¢ lutherisches Profil und Glanz verliehen sowie im Amt des Universitätspredigers jahrzehntelang weit über die Grenzen der Fakultät hinaus in Universität und Stadt hinein gewirkt. Sein im späteren Rückblick viel kritisiertes Verhalten zu Beginn der NS-Machtergreifung und sein ¢ damit verbunden – problematisiertes Verhältnis zur Weimarer Republik wurden 1966 nicht thematisiert.1 Erst viele Jahre später machten Professoren der Erlanger Theologischen Fakultät 1979 auf dem Nürnberger Kirchentag das auch aus heutiger Sicht sehr problematische Gutachten, das Althaus und Elert 1933 zum Arierparagraph formuliert hatten, zum Gegenstand ihrer Kritik. 1966 hatte über diese Texte niemand geredet. Jetzt wurden sie ausdrücklich thematisiert und als „Schuld“ distanzierend festgestellt.2 Im nachträglichen Wissen um den verbrecherischen Charakter der NS-Herrschaft wurden sie nun zum Gegenstand der Kritik. Althaus wurde durch diese Texte gleichsam „stigmatisiert“ und in der allgemeinen Wahrnehmung vielfach auf diesen Vorgang reduziert. Die Schwierigkeiten im Begreifen der komplexen Vorbedingungen und Umstände der Etablierung der NS-Herrschaft und auch die Probleme ihrer historischen „Bewältigung“ werden in diesen kontroversen Deutungen – vor und nach 1968 – greifbar. Sie im echten Sinne „aufzuheben“, ist ein zentrales Anliegen der hier vorzulegenden Biographie. 1 Vgl. als Beispiel das Althaus-Portrait in: H.J. Schulz (Hg.), 1966. Auch in den dort publizierten biographischen Skizzen über Emanuel Hirsch und Hanns Rückert wird deren Haltung zum NSRegime nicht thematisiert. 2 Vgl. dazu unten S. 382 ff. In der Kontroverse zwischen den Erlanger Kirchenhistorikern Beyschlag und Hamm lebte diese Diskussion 1990/91 erneut auf. Vgl. Berndt Hamm, 1990 und Karlmann Beyschlag, 1990/91.
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Mir ist die Bedeutung von Paul Althaus im Zusammenhang mit der 250Jahrfeier der Erlanger Universität im Jahr 1993 voll bewusst geworden. Das Jubiläum erforderte eine intensive Beschäftigung mit der Universitätsgeschichte, insbesondere in den problematischen Jahren der Universität während der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Dieser Pflicht mich nicht zu entziehen, gehörte nach meinem Verständnis zur Verantwortung meines damaligen Amtes als Rektor der Universität. In meiner zum Jubiläumsjahr entstandenen zeitgeschichtlichen Studie3 spielte die Theologische Fakultät, die in der alten Universität Erlangen stets ein besonderes Gewicht besaß, eine wichtige Rolle. Althaus war einer ihrer führenden Köpfe mit großer Ausstrahlung in die gesamte Universität. Das Leben und Wirken einer universitätsgeschichtlich so zentralen und repräsentativen Figur intensiver nachzuzeichnen, ergab sich darum als konsequente Fortführung und Vertiefung meiner damaligen universitätsgeschichtlichen Arbeit. Auch jenseits dieses konkreten Bezuges auf die Erlanger Universität führten für mich gute Gründe zu dem Vorhaben einer Althaus-Biographie. Für die in den 50-er und 60-er Jahren an den Universitäten in der Bundesrepublik neu etablierte Politikwissenschaft war die Beschäftigung mit der parteienstaatlichparlamentarischen, „westlichen“ Demokratie, die sich zugleich als grundrechtsgebundener Rechtsstaat verstand, das zentrale Anliegen. Politikwissenschaft wurde als normative Demokratiewissenschaft verstanden. Wer – wie ich – vom Studium der Zeitgeschichte her in die Politikwissenschaft hinüberwuchs, für den bedeutete dieser Grundansatz, den antidemokratischen oder demokratiefernen Traditionen der deutschen Politik und Geschichte nachzugehen. Es galt ihre Rolle in der Justiz, in den Universitäten, aber eben auch in den Kirchen beim Scheitern der Weimarer Republik und bei der Etablierung der nationalsozialistischen Herrschaft zu erschließen und dann ihre Wandlungen im schwierigen Neuanfang nach 1945 aufzuzeigen. Dabei war das stets aktuelle Interesse an der Verwirklichung einer rechtsstaatlich gebundenen, parteienstaatlichen Demokratie in Deutschland die entscheidende Antriebsfeder. Ein großer Teil meiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen war Themen aus diesen Feldern gewidmet. Nach dem Ausscheiden aus dem Dienst bot sich die Chance, mit den Möglichkeiten eines emeritierten Schreibtischwissenschaftlers die Biographie eines Theologen zu schreiben, dessen Wirkungszeit in die Jahrzehnte fiel, denen meine früheren wissenschaftlichen Publikationen immer schon gegolten hatten. Damit konnten alte Fragestellungen aufgenommen, zusammengefasst und generell erkannte Tendenzen und Probleme am biographischen Einzelfall konkretisiert werden, es galt ihnen ein individuelles Gesicht zu geben, sie dadurch zu präzisieren und eben auch zu überprüfen. 3 Gotthard Jasper, 1993.
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Hinzu kam eine zusätzliche, eher persönliche Dimension: Dass ich die Biographie eines kirchlich orientierten Theologen und engagierten Predigers zu schreiben mir vornahm, hing möglicherweise auch damit zusammen, dass ich in den von der Erweckungsbewegung des Minden-Ravensberger Landes geprägten, ebenso pietistischen wie weltoffenen von Bodelschwingh’schen Anstalten als siebtes Kind eines lutherischen Pfarrers aufgewachsen bin. Als Zehnjähriger erlebte ich den Zusammenbruch 1945 und glaubte gespürt und gefühlt zu haben, dass dieser Zusammenbruch auch erhebliche Elemente einer Niederlage der Kirche enthielt, insofern diese nicht konsequent und früh genug dem Nationalsozialismus widerstanden hatte. Daraus resultierte schon als Schüler mein starkes Interesse an der deutschen Opposition gegen Hitler. Bonhoeffers „Widerstand und Ergebung“ las ich als Gymnasiast. Die Tyrannenmordproblematik fesselte mich gerade auch in der vom Luthertum geprägten Perspektive. Der Entschluss, Geschichte, vornehmlich Zeitgeschichte zu studieren, war die Konsequenz. Ich hatte das große Glück, bei Hans Rothfels im Sommer 1955 mein erstes historisches Oberseminar zur Problematik des deutschen Widerstandes absolvieren zu können. Als Student, Hilfskraft und Doktorand erlebte ich den führenden Zeithistoriker Rothfels in Tübingen als eindrucksvollen akademischen Lehrer und Menschen. Vor diesem Hintergrund mag es verständlich sein, dass ich – obwohl kein Theologe und auch ohne Theologiestudium – mich doch daran wagte, die Biographie eines Theologen zu versuchen. Einen zusätzlichen Impuls gaben allmählich entdeckte und bewusst gewordene quasi- persönliche Zusammenhänge. Althaus, der aus der niedersächsischen „Hermannsburger“ Erweckungsbewegung stammte, besuchte schon als Student Bethel, wäre 1919 fast im dortigen Diakonissenhaus Pfarrer und Dozent geworden und hielt sein Leben lang engste Beziehungen zu den Werken der von Bodelschwinghs. Gegenüber der theologischen Ahnenreihe, auf die Althaus verweisen konnte, entstammte mein Vater – drei Jahre jünger als Althaus – einer Handwerkerfamilie. Der erst im Umfeld seines Abiturs gefasste Beschluss, Theologie zu studieren, geschah nicht ohne „erwecklichen“ Hintergrund. Er heiratete in erster und zweiter Ehe Töchter aus traditionsreichen Pfarrersfamilien. Der Vater meiner Mutter war sein Leben lang Bethel sehr verbunden und ging im Auftrag von „Vater Bodelschwingh“ noch im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts als Missionar nach Ostafrika, wo der etwa gleich alte Onkel von Paul Althaus ebenfalls im Missionsdienst stand. Die fromme Wirklichkeit evangelischer Pfarrhäuser, aus der Althaus stammte, die ihn prägte und die er lebte, ist mir in meiner Kindheit und Jugend eindrucksvoll begegnet. Verstärkend wirkte, dass Althaus entscheidende Impulse in seinem Studium in Tübingen durch den bedeutenden Theologen Adolf Schlatter erfahren hat. Er hielt lange – bis zu dessen Tod – intensive Kontakte mit ihm. Mein Vater studierte 1913/1914 ebenfalls in Tübingen und bezeichnete sich stets als Schlatter-Schüler. Auch seine Beziehungen zu diesem akademischen Lehrer rissen später nicht ab. Dass Schlatter überdies engste Kontakte nach Bethel zu 11
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Vater und Sohn von Bodelschwingh hatte, vertiefte dieses Beziehungsgeflecht zusätzlich. Diese Zusammenhänge habe ich hier erwähnt, um eine letzte Dimension der Impulse für meinen Versuch einer Althaus-Biographie anzudeuten. Es gehört zu den nachdenkenswerten, aber erst spät bewusst gewordenen Fakten meines Lebens, dass ich trotz meines lebhaften Interesses an Zeitgeschichte mit ihrer alles beherrschenden Frage, wie es zu der Katastrophe des Nationalsozialismus hatte kommen können, nie die Gelegenheit gesucht habe, meinen Vater als zeitgeschichtliche Quelle intensiv zu befragen. Ich bin sicher, er hätte mir offen Auskunft gegeben. Die Atmosphäre in meinem Elternhaus kannte da keine Tabus. Aber ich fragte nicht. Dieses Gespräch unterblieb offensichtlich nicht deshalb, weil ich hätte befürchten müssen, meinen Vater durch mein Fragen zu verletzen, sondern es kam wohl nicht zustande, weil ich keine Fragen hatte. Zwar promovierte ich über ein wichtiges innenpolitisches Thema der Weimarer Republik, aber Ende der fünfziger Jahre galt es erst einmal, die Fakten zu sichern und die tatsächlichen Hergänge zu rekonstruieren. Die heute wichtigen sozial- und vor allem mentalitäts- und alltagsgeschichtlichen Fragen nach den politischen Milieus und ihren Stimmungen, die als Umfeld für die nationalsozialistische Machtergreifung und Machtsicherung so bedeutsam waren, lagen noch außerhalb des Horizontes der damals aktuellen zeitgeschichtlichen Forschung. Deshalb – so stellt es sich mir heute dar – nutzte ich meinen Vater nicht als sicherlich interessante zeitgeschichtliche Quelle. Das Unterbleiben des Gesprächs mit Vätern und akademischen Lehrern über deren Probleme im Dritten Reich hatte wahrscheinlich noch einen weiteren Grund. Es war nicht so sehr die Furcht vor Konflikten, als vielmehr der Eindruck der in den fünfziger Jahren studierenden Generation der Luftwaffenhelfer, Hitlerjungen und Pimpfe, dass sie glaubten, es nicht nötig zu haben, ihre Väter zu befragen. Auch wenn ich 1945 erst zehn Jahre alt war, ich hatte von der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft so viel mitbekommen und erlebt, dass es mir selbstverständlich war, dass das einfache Schwarz-Weiß, Nazi oder Widerständler, in aller Regel nicht stimmte. Kritik und Widerstand auf dem einen Feld der nationalsozialistischen Politik schloss Zustimmung und Unterstützung in anderen Bereichen nicht aus. Da glaubte unsere Altersgruppe nicht erst groß fragen zu müssen, zumal es in den 50-er und frühen 60-er Jahren zunächst darum ging, die große Politik und die Haupt- und Staatsaktionen historisch aufzuarbeiten und darzustellen, um daraus zum Beispiel die verfassungspolitischen Konsequenzen des Grundgesetzes zu begründen. Die ersten wissenschaftlichen Darstellungen dieser Jahre, die damals erschienen, stammten in der Regel von jüngeren Historikern und Politikwissenschaftlern gerade dieser Generation.4 4 Die Bezeichnung der fünfziger Jahre als Jahre der Verdrängung greift insofern zu kurz, weil sie diese Zusammenhänge übersieht. Zur Bedeutung der Alterskohorten und Jahrgangsgruppen für
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Gleichwohl bleibt mein heute registriertes Bedauern, dass ich die Gelegenheit, Anfang der 60-er Jahre, als es noch möglich war, meinen Vater zu befragen, nicht genutzt habe. Zu jener Zeit galten bei mir offensichtlich andere Prioritäten. Wie gern würde ich ihn heute fragen, freilich aus dem Horizont fortgeschrittener Wissenschaft und heutiger Fragestellungen. Insofern schwingt in meiner Biografie des Theologen Paul Althaus ein wenig der Versuch mit, gleichsam ein imaginäres Gespräch mit meinem Vater nachzuholen. Man könnte darum mein Vorhaben formal in eine gewisse Nähe zum „Boom der Familienromane“ rücken, in denen sich die nachfolgende Generation mit dem Verhalten ihrer Eltern und Großeltern zum Nationalsozialismus – keineswegs nur apologetisch – beschäftigt.5 Doch die „Verfremdung“ und „Sublimierung“ des Gespräches mit dem Vater in eine wissenschaftliche Biographie einer anderen Person bezeichnet eine erhebliche Differenz und bietet den Vorteil, alle Elemente übergroßer Vaterliebe oder eines provozierenden Generationenkonfliktes zu vermeiden. Die „Gesprächsführung“ und das „Gesprächsergebnis“ sollen nach den heutigen Standards und gemäß den aktuellen Kategorien und Methoden der biographischen Forschung angelegt werden.6 Da Althaus vom Alter her mein Vater hätte sein können – sein jüngster Sohn ist ein halbes Jahr jünger als ich –, bleibt gleichwohl eine gewisse Nähe des Biographen zu seinem Objekt. Sie sei daher an dieser Stelle ausdrücklich angesprochen, damit der Leser sie bei der Lektüre im Bewusstsein hält. Nähe zum Objekt schließt freilich Objektivität – zumindest das Bemühen um sie – keineswegs aus. Elemente der oral history und politisch existentielle Bezüge müssen ja keineswegs – wie Harry Oelke meint – der „Versachlichung der Historie“ im Wege stehen.7 Nähe heißt für mich vielmehr eine nach bestem Wissen und Gewissen kontrollierte Zeitgenossenschaft, die Dimensionen zu erschließen vermag, welche späteren Betrachtern oft verborgen bleiben. Die Geschichte des Dritten Reiches und selbst der frühen Bundesrepublik steht vor dem „Abschied von der Zeitgenossenschaft“, was Norbert Frey sehr perspektivenreich und eindrucksvoll erläutert hat.8 Wenn Frey wie Oelke der Auffassung ist, dass die Wendung zur Sozial-, Alltags- und Mentalitätsgeschichte sich ohne Zeitgenossenschaft leichter tue, individuellem und kollektivem Verhalten sich zuzuwenden, dann versuche ich gleichwohl, diese modernen Fragestellungen der kontrollierten Erinnerung des Zeitgenossen
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die politische Prägung vgl. den wichtigen Beitrag von Ulrich Herbert, 2003 – nähere Details insbesondere für die Zusammenhänge in meiner Althaus-Biographie unten S. 391 ff. Als wichtige Beispiele vgl. stellvertretend für viele: Wiebke Bruns, Meines Vaters Land. Geschichte einer deutschen Familie. München 2004; Thomas Medicus, In den Augen meines Großvaters. München 2004; Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders. Köln 2003. Zu den wissenschaftlichen Dimensionen moderner politischer Biographien vgl. Jürgen Reulecke, 2003 mit weiteren Hinweisen. Harry Oelke, 2006. Vgl. dazu und zum folgenden Norbert Frey, 2005.
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auszusetzen, um ihnen dadurch vielleicht doch ein spezielles Gewicht verschaffen zu können. Es geht nicht primär darum, den Erlanger Theologen Paul Althaus spezifischen verallgemeinerten Denk- und Wissenschaftstraditionen und bestimmten Weltanschauungsabstraktionen und theologischen Denkschulen zuzuweisen, da sich diese allzu oft als vereinfachende Konstruktionen der Nachgeborenen erweisen. Es gilt vielmehr, die Warnung von Fritz Stern vor falschen Eindeutigkeiten9 ernst zu nehmen und Althaus in seinen konkreten politischen Vorstellungen und Einstellungen, seiner individuellen Weltsicht möglichst unverstellt begreifbar zu machen, ihn dabei nicht einfach in Schablonen einzuordnen, sondern ihn in seinen Zeitbezügen und familiären sowie traditionsgebundenen Prägungen, ihren Widersprüchlichkeiten und Entwicklungspotentialen zu porträtieren und dabei seine theologiegeschichtliche Position ebenso wie seine politische und kirchliche Wirkung nicht aus den Augen zu verlieren. Zugleich hat man ihn auch als Repräsentanten einer national-protestantischen und ständisch orientierten Professorenschaft in einer lutherisch geprägten Kleinstadtuniversität zu erfassen. Mein biographischer Ansatz geht insoweit bewusst über eine reine Theologiegeschichte hinaus. So sehr ich mich auch bemühe, das theologiewissenschaftliche Werk von Althaus in seinen zentralen Dimensionen und Entwicklungen darzustellen, so eindeutig ist doch meine Absicht, mich nicht auf diese theologiegeschichtliche Perspektive zu beschränken, zumal das theologische Opus von Althaus aus heutiger wissenschaftlicher Perspektive wohl nur noch wenig Relevanz besitzt. Das gilt umso mehr, wenn man es mit den damaligen theologischen Neuansätzen von Karl Barth oder Rudolf Bultmann vergleicht.10 Althaus definierte sich selbst immer wieder als Mann der Kirche. Seine Herkunft aus der niedersächsischen Erweckungsbewegung prädestinierte ihn zu dieser Rolle. Als Prediger und Seelsorger versuchte er bewusst, in die konkrete Zeit hinein zu wirken, was ihn für die Nöte und Stimmungen der Zeit öffnete, aber in gewisser Weise auch an diese band. Darum erscheinen gerade in einer Biographie über Paul Althaus sozialbiographische und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen besonders fruchtbar und für die allgemeine politische Geschichte relevant und erkenntnisfördernd.11 Die Tatsache, dass Althaus sich oft im Mainstream kirchlicher Kreise bewegte, die 1933 noch große Hoffnungen auf die politische „Wende“ setzten 9 So Fritz Stern anlässlich der Eröffnung des Jena Center für Geschichte des 20. Jahrhunderts. Vgl. DIE ZEIT, Nr. 5, 26. 1. 2006, S. 46. 10 Mit großem Recht hat darum Konrad Hammann in seiner Bultmann-Biographie dessen theologisches Werk – von der Dissertation angefangen – ganz eindeutig in den Mittelpunkt gestellt und seine Darlegungen darauf konzentriert. 11 Zum Hintergrund dieser allgemeinen Entwicklung gerade auch im Bereich der mentalitätsbezogenen Protestantismusforschung vgl. Manfred Gailus/Hartmut Lehmann (Hg.) 2005 – darin insbesondere die instruktive Einleitung von H. Lehmann; vgl. ferner auch Manfred Gailus/ Armin Nolzen (Hg.), 2011.
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und die Signale des verbrecherischen Regimes Hitlers nicht hellsichtig zu erkennen vermochten und damit zur Ermöglichung der Machtergreifung zumindest indirekt beitrugen, macht seine Biographie nicht weniger wichtig. So sehr auch das Leben von Dietrich Bonhoeffer oder anderer Widerstandskämpfer für uns Heutige Leuchtturmcharakter entfaltet und darum den Biographen fasziniert, für das Erfassen der vollen Wirklichkeit unserer Zeitgeschichte ist gerade das Schwanken zwischen Zustimmung und Ablehnung gegenüber Hitler und dem Nationalsozialismus das Aufregende und Erklärungsbedürftige, das für den Biographen eine besondere Herausforderung darstellt, aber auch die Chance bietet, zu vertieftem Verständnis von Vergangenheit und Gegenwart beizutragen. Mir schien es ein Gebot der Aufrichtigkeit, dem Leser die Dimensionen und Implikationen meines Vorhabens einer Althaus-Biographie wenigstens andeutungsweise zur Kenntnis zu bringen, obwohl es ein ganz einfaches und sehr überzeugendes Motiv für diese Biographie gibt, das unabhängig von all den oben genannten Gründen gilt: Infolge glücklicher Umstände erhielt ich durch Gerhard Althaus, den jüngsten Sohn von Paul Althaus, Zugang zum persönlichen Nachlass seines Vaters, der das voluminöse wissenschaftliche und publizistische Werk des Theologieprofessors und seine zahlreichen gedruckten Predigten – mir liegen über 400 Predigten aus fast 50 Jahren vor12 – in optimaler Weise ergänzt und ihm Farbe verleiht. Dieser Nachlass enthält eine umfangreiche – wenn auch keineswegs vollständige – wissenschaftliche Korrespondenz. Erfreulicherweise gelang es, durch eine wechselseitige Kooperation mit anderen Nachlassverwaltern dem Althaus-Nachlass auch Kopien seiner zahlreichen, meist handgeschriebenen Briefe an Karl Barth, Günther Bornkamm, Emil Brunner, Rudolf Bultmann, Martin Doerne, Adolf Schlatter und Wolfgang Trillhaas hinzuzufügen, die sich im Original in den Nachlässen der Adressaten befinden. Den Nachlass ziert darüber hinaus ein kostbarer Schatz an Familienbriefen, Briefen an Eltern13 und Geschwister, Ehefrau und Kinder sowie zahlreiche Ferientagebücher aus der Zeit des Gymnasiasten und des Familienvaters sowie einzelne Vorlesungs-Mitschriften aus der Studienzeit und viele Notizkalen-
12 Gerade diese Predigten sind über die Zeit hin nicht nur ein eindrucksvolles Glaubenszeugnis sondern auch – wenn man sehr genau in sie hineinhört – politische Dokumente, sie bestätigen, dass Predigten „als Primärtexte der Theologie … seismographischen Charakter haben und eine Epoche der Profan- und Kirchengeschichte kennzeichnen“ können. So generell Karl-Friedrich Wiggermann, 2006, S. 405. 13 Ein bedeutender Teilbestand dieser Briefe, die Studentenbriefe aus Tübingen aus den Jahren 1906/07, liegen gedruckt vor (vgl. Gotthard Jasper (Hg.), 2006), sehr interessant und aufschlussreich sind ferner die Briefe an und von seinem Vater, in denen das Erbe der Hermannsburger Erweckungsbewegung greifbar wird (vgl. Gotthard Jasper (Hg.), 2009), jüngst erschienen ist ferner der Briefwechsel mit Rudolf Bultmann (vgl. Matthias Dreher/Gotthard Jasper (Hg.), 2012).
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der.14 Bereichert wurden diese persönlichen Dokumente durch mündliche Berichte der Tochter – Dorothea Petersen –, des Sohnes – Gerhard Althaus – und dessen Frau – Eva Maria Althaus – sowie zahlreicher Zeitzeugen aus dem Erlanger Umfeld von Paul Althaus. Weitere Ergänzungen boten Akten aus den Archiven der Universität, der Landeskirchen und Ministerien sowie einschlägige Nachlässe. Insgesamt ergab sich eine solche Fülle an Material, dass sich die Gefahr auftat, in dieser Flut die Übersicht zu verlieren. Andererseits eröffnete diese einmalige Quellenlage auch die Chance, relativ ausführlich aus diesen Briefen und Tagebüchern, Predigten oder sonstigen Texten zu zitieren, um Althaus selbst – in den Begriffen und Bildern seiner Zeit – zu Wort kommen zu lassen. So konnte das Lebensbild eines bedeutenden Professors und vollmächtigen Predigers, eines verantwortungsbewussten Familienvaters und überzeugten Patrioten in Deutschlands schwierigster und verhängnisvollster, weil gängigen Patriotismus missbrauchender Zeit aus vielfältigen Perspektiven quellennah und plastisch dargestellt werden. Einige technische Hinweise seien zur Erleichterung der Lektüre noch angefügt. Im Interesse der Überschaubarkeit des Textes wird der Anmerkungsapparat bewusst schlank gehalten. Wo ich mich auf Informationen zu Personen oder zum allgemeinen historischen Hintergrund auf Standardliteratur, Handbücher und Lexika stütze, wird auf Nachweise verzichtet, soweit nicht wörtlich zitiert wird. In den Anmerkungen wird lediglich der Autor mit Jahreszahl – nötigenfalls mit Zusatzziffer – angegeben. Die genauen Angaben finden sich im alphabetischen Literaturverzeichnis, das auf die im engeren Sinne zum Thema gehörenden Arbeiten und die im Text zitierten Werke konzentriert ist. Die von mir behandelten Werke von Althaus sind in einem Sonderabschnitt des Literaturverzeichnisses aufgelistet. Bei Zitaten aus Briefen oder Tagebüchern von und an Althaus, die sich im Nachlass befinden, wird zur Vereinfachung im Text selbst in Klammern das Datum und die Nummer der – in sich chronologisch oder alphabetisch geordneten – Archivschachtel des Nachlasses angegeben, in der sich das betreffende Dokument befindet, also z. B.: NLA (= Nachlass Paul Althaus) K 7a (= Archivschachtel) plus Datum, falls dieses nicht schon im allgemeinen Text erwähnt wurde. Bei Zitaten aus den Familienbriefen wird im Text nur das Datum angegeben, die Originale befinden sich chronologisch geordnet in den Archivschachteln K 2–K 5. Wird aus den inzwischen gedruckt vorliegenden Studentenbriefen der Jahre 1906/07 zitiert, wird im Text in Klammern das Datum und die präzise Seitenzahl der gedruckten Ausgabe angegeben. Eine Nachprüfung vor Ort ist dadurch leicht möglich. Die Schreibweise der Originale ist grundsätzlich beibehalten, Unterstreichungen in den meist handgeschriebenen Briefen sind auch hier, im gedruckten Text, beibehalten wor14 Der Nachlass befindet sich jetzt im Archiv der Universität Erlangen-Nürnberg unter der Signatur G 1/30, er ist erschlossen durch ein dort beigefügtes differenziertes Nachlassverzeichnis.
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den. Ich hoffe, durch diese Praxis insgesamt der Lesbarkeit des Textes gedient zu haben Abschließend ist es mir wichtig, ein Wort des Dankes anzufügen für die vielfältige Unterstützung, die ich bei der Abfassung dieses Textes erfuhr. Ein ehrendes und dankbares Andenken gebührt dem längst verstorbenen großen Förderer der Universität Erlangen-Nürnberg, Herrn Dr. jur. German Schweiger, der mir nach meinem Ausscheiden aus dem Rektorenamt in persönlicher Verbundenheit eine sehr üppige Spende für meine wissenschaftliche Arbeit zukommen ließ und dadurch die Finanzierung einer zeitweiligen Hilfskraft, von Schreibarbeiten und auch noch einen Druckkostenzuschuss ermöglichte. Zu danken habe ich dem damaligen stud. theol. Andr¦ Fischer für die Hilfe bei der Ordnung und Erfassung des Nachlass-Materials und viele anregende Gespräche, Frau Gabriele Stürmer und ihren Damen vom Schreibbüro Scriptura für die ebenso prompte wie perfekte Umsetzung meiner Diktate in lesbare Manuskripte sowie vielen Gesprächspartnern, die mir weiterhalfen und mich motivierten. Ein ganz besonderer und sehr persönlicher Dank gebührt Dekan a. D. Gerhard Althaus, Dekan a. D. Dr. Hans Birkel und Professor Dr. Walter Sparn sowie meinem Rektor-Kollegen Professor Dr. Helmut Altner, Regensburg, die jeder auf seine Weise die entstehende Rohfassung meiner Arbeit lasen, korrigierten und in konstruktiven Diskussionen wichtige Impulse gaben. Zu danken ist ferner Herrn Christoph Spill vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, der mit Engagement und Hilfsbereitschaft mein Projekt im Verlag betreute. Für namhafte Druckkostenzuschüsse bin ich der Dr. German Schweiger Stiftung an der Universität Erlangen-Nürnberg und der Bayerischen Evangelisch-Lutherischen Landeskirche zu großem Dank verpflichtet. Ein besonderer Herzens-Dank gilt meiner Frau, die in stiller Geduld meine Obsession tolerierte.
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1. Herkunft und Berufsfindung. Der „natürliche“ Weg eines begabten Pastorensohnes Will man den Erlanger Theologieprofessor Paul Althaus richtig verstehen, dann gilt es sich seiner Herkunft und Jugend aus der niedersächsischen Erweckungsbewegung zu vergewissern. Die Tradition einer zunächst reformierten, dann lutherischen Pastorendynastie im norddeutschen Raum, das Aufwachsen mit zahlreichen Geschwistern erst im Dorfpfarrhaus, dann in einem Göttinger Professorenhaus ließen Althaus ohne jeden Bruch, gleichsam „natürlich“ ins Theologiestudium hineinwachsen. Die Prägung durch die pietistische Frömmigkeit der niedersächsischen lutherischen Erweckungsbewegung, der sich Vater und Großvater aktiv verpflichtet fühlten, bestimmte auch den Sohn, begründete nicht nur ein besonders enges Verhältnis zum Vater, sondern blieb lebenslang spürbar. Sein kirchliches Amtsverständnis, aber auch sein konservatives Gesellschaftsbild empfingen aus dieser Tradition ihr Gesicht und ihr Gewicht. Darum müssen Herkunft und Jugend als entscheidende Fundamente in der Biographie von Althaus zunächst betrachtet werden.
1.1 Der fromme Sohn und kluge Gymnasiast aus einer Pastorendynastie Paul Althaus entstammt einer traditionsreichen Pastorendynastie. Auf dem gemeinsamen Familientag der Familien Althaus und Wendebourg im Jahr 1963 berichtete er als 75-jähriger voller Stolz über die Herkunft der Familie Althaus, die ihre Geschichte bis in das 16. Jahrhundert zurück verfolgen kann.1 Die Quellen führen in die Grafschaft Wittgenstein-Berleburg, am Rothaargebirge, im Süden von Westfalen, nahe der hessischen Grenze, vor allem in die Orte Berleburg und Girkhausen. Aus Girkhausen stammte auch der große Rechtsphilosoph und Jurist Johannes Althusius (1557 – 1638), der – calvinistisch-republikanisch geprägt – in seinen bedeutsamen politischen Schriften das Widerstandsrecht des Volkes gegen vertragsbrüchige Fürsten vertrat. Althaus schreibt – nicht ohne Stolz –, sicher sei seine Familie mit Johannes Althusius verwandt, dagegen bleibe unklar, ob sie unmittelbar von 1 P.A., Die Familie Althaus. In: Althaus-Wendebourg. Aus der Geschichte zweier niedersächsischer Pastorenfamilien. Privatdruck, Fallersleben 1964, S. 9 – 17 (NLA K1).
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ihm abstamme. Der erste exakt dokumentierte Vorfahre war Sebastian Althaus, um 1600 ebenfalls in Girkhausen geboren und dort 1660 verstorben. Er besaß einen Bauernhof und pachtete zugleich Herren- und Kirchengüter. Seine Nachkommen verwalteten teils diesen Besitz, teils findet man sie als Beamte der Grafen von Berleburg, als Oberförster oder Schlosshauptmann. In der Reihe der Vorfahren war Philipp Heinrich Althaus – 1739 in Berleburg geboren, gestorben 1818 in Falkenhagen – der erste Pastor in der Familie. Er hielt sich – der regionalen Tradition entsprechend – zum reformierten Bekenntnis. Beruflich wirkte er zunächst in Westfalen und ging dann in das Fürstentum Lippe-Detmold. Mit ihm begann die ununterbrochene Generationenkette der Theologen-Familie Althaus, in der Paul Althaus später das fünfte Glied bildet. Drei der Söhne von Philipp Heinrich Althaus wurden ebenfalls Pastoren. Der jüngste amtierte später als Generalsuperintendent in Detmold, der älteste, Karl Althaus (1775 – 1869) wurde Pastor an der reformierten Hofkirche zu Hannover. Von dessen drei Söhnen wurde einer Professor in Berlin, die anderen beiden wurden Theologen. Der mittlere, August Althaus (1807 – 1881) – der Großvater von Paul Althaus –, trat zum Luthertum über und amtierte zuletzt als Superintendent in Fallersleben in der Hannoverschen Landeskirche. Er war ein bedeutender Prediger, tief verwurzelt in der lutherisch geprägten Erweckungsbewegung um den Hermannsburger Pastor Louis Harms. Groß war sein Interesse an der äußeren Mission. Beim ersten Hermannsburger Missionsfest 1851 wirkte er als Festprediger mit. Dieses Missionsinteresse übertrug er auch auf seine Söhne. August Althaus war zweimal verheiratet. Aus der Ehe mit seiner ersten Frau entstammten zwei Söhne und zwei Töchter, der zweite Sohn starb 16-jährig. Nach dem frühen Tod der ersten Frau heiratete der Witwer mit 50 Jahren die damals 23-jährige Auguste Sievers (1834 – 1904). Auch sie entstammte einer alten Pastorenfamilie. Zwei ihrer Brüder waren Pastoren. Paul Althaus hatte lebendige Erinnerungen an diese Großmutter. Es sei ihm „unvergesslich, wie sie mit uns am Sonntag nach der Kirche die gehörte Predigt durchsprach und sich und uns vergegenwärtigte“.2 Dieser zweiten Ehe von August Althaus entstammten acht Kinder, von denen jedoch nur vier erwachsen wurden. Von den insgesamt vier Söhnen wanderte einer nach Amerika aus. Die anderen drei wurden Pastoren. Der jüngste, Gerhard Althaus, ging 1893 als Missionar nach Tansania, damals Deutsch-Ostafrika. Da auch die drei Töchter Pastoren heirateten – eine heiratete in die weit verzweigte niedersächsische Pastorensippe der Wendebourgs – kam der junge Paul Althaus, wenn er eine Tante oder einen Onkel besuchte, fast immer in Pfarrhäuser. Es erstaunt nicht, dass im Kreis seiner Vettern die Theologen ebenfalls zahlreich vertreten waren, zum Teil studierten sie miteinander. Paul Althaus’ Vater, Paul Althaus der Ältere (1861 – 1925), wurde als zweites Kind in der zweiten Ehe von August Althaus geboren. Dieser war damals 2 Ebd., S. 13.
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bereits 54 Jahre alt. Der Sohn erlebte ihn vor allem als weisen, priesterlichen Patriarchen im Hintergrund der Familie. Im lutherischen Erlangen und in Göttingen studierte Paul Althaus d.Ä. Theologie und übernahm mit knapp 25 Jahren 1886 seine erste Pfarrstelle in Obershagen bei Celle, einem kleinen Dorf mit 400 „Seelen“. Er heiratete Dorothea Grethen, die einer niedersächsischen Bauernfamilie entstammte. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor – vier Söhne und zwei Töchter. Paul Althaus war der Älteste. Bei seiner Geburt am 4. Februar 1888 war sein Vater gerade 26 Jahre alt oder – besser gesagt – jung. Aus dieser Alterskonstellation entsprang später ein besonders enges, fast partnerschaftliches Verhältnis zwischen dem Vater und seinem ältesten Sohn. Die intensive Form, wie sich der Vater um seine Kinder insgesamt kümmerte, stellte gewiss eine bewusste Verarbeitung der eigenen Kindheit mit seinem so fernen alten Vater dar. In seiner kleinen Obershagener Kirchengemeinde wusste der ebenso engagierte wie fromme Pastor eine erhebliche Wirkung zu entfalten, zumal das kirchliche Leben unter seinem Vorgänger in Verfall geraten war. Der Sohn resümierte später : „So musste und durfte er ein Neues beginnen, und er tat es mit ganzem Einsatze, mit heiligem Eifer. … Es waren keine leichten Jahre, aber nach seinem eigenen Urteil eine unvergleichlich reiche und schöne Zeit. Was er in Obershagen als Pastor erlebte und wirken durfte, das klang in seinen praktisch-theologischen, auch in den systematischen Vorlesungen immer wieder durch. Er verlor das Heimweh nach jener Zeit der ,ersten Liebe‘ nie und blieb im Grunde immer Pastor.“3
Trotz aller Erfüllung, die Paul Althaus d.Ä. in dieser Landpfarrstelle fand, folgte er 1894, als sein ältester Sohn gerade sechs Jahre alt geworden war, einem Ruf auf eine Patronatspfarre in Brüggen bei Hannover. Sein dortiger Förderer, der Graf Steinberg-Brüggen, ermöglichte seinem jungen, positivkirchlich orientierten Pfarrer 1896 extern in Greifswald mit einer Arbeit über die Taufliturgie zu promovieren. Sein Doktorvater war der aus der Erweckungsbewegung des Minden-Ravensberger Landes stammende konservative Systematiker Hermann Cremer, der gegen die modernen kritischen Theologen an der kirchlichen Funktion der Theologie und an dem Glauben an Bibel und eine übernatürliche Offenbarung festhielt. Als der große Theologe Adolf Schlatter von 1888 bis 1893 Cremers Fakultätskollege in Greifswald geworden war, entstand zwischen ihnen auf Grund ähnlicher theologischer Ausrichtung eine enge Freundschaft. Darum klopfte Schlatter, der seit 1893 in Berlin in einer überwiegend liberal orientierten Theologischen Fakultät die kirchliche Linie vertrat, persönlich in Brüggen bei dem frisch promovierten CremerSchüler Paul Althaus d.Ä. an, um ihn auf eine kirchlich besoldete Stelle an die Berliner Universität zu holen. Dieser lehnte das Angebot jedoch ab, um dann – ein gutes Jahr später – einem Ruf auf den Lehrstuhl für Systematische und 3 Paul Althaus, 1928, S. 17; zum Folgenden vgl. auch Werner Neuer, 1996, S. 394.
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Praktische Theologie an der Universität Göttingen zu folgen. Die Kirchenleitung hatte diese Berufung durchgesetzt, um mit Paul Althaus d.Ä. einen kirchlich gesonnenen Theologen als Gegengewicht in der Göttinger Fakultät zu installieren, die ansonsten von der den traditionellen kirchlichen Positionen kritisch gegenüberstehenden Religionsgeschichtlichen Schule beherrscht wurde. Was Schlatter in Berlin intendiert hatte, realisierte nun die Kirchenleitung in Hannover für Göttingen. 1897 wechselte also die junge Pastorenfamilie mit inzwischen schon fünf Kindern von Brüggen nach Göttingen, wo der Vater in seinem 36. Lebensjahr in den neuen Beruf des Professors startete. Dem pfarramtlichen Auftrag der Kirche blieb Paul Althaus d.Ä. nicht nur innerlich treu, er übernahm ganz bewusst auch das Amt des Universitätspredigers. Wenn Paul Althaus 1927 in seinem Lebenslauf im Goldenen Buch der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen schreibt: „Geist und Leben des lutherischen Pfarrhauses sind mir bis heute immer Heimat“4, dann steht dahinter die kindliche Erfahrung des Dorfpfarrhauses mit seinen umfassenden Lehr- und Leitungsfunktionen am Ende des 19. Jahrhunderts, aber auch die für den Gymnasiasten dann beginnende Zeit als Professorensohn in Göttingen, zumal für seinen Vater wissenschaftliche Professur und kirchliches Predigtamt untrennbar verbunden blieben. Die Tradition der Pastorenfamilie setzte sich ungebrochen fort. Welche Formen diese Prägung annahm, erfahren wir in den frühen Tagebüchern, die der junge Althaus, mit elf Jahren 1899 beginnend, regelmäßig in den Ferienzeiten führte. Über all die Jahre hinweg berichtet der Gymnasiast immer wieder über den sonntäglichen Kirchgang. Aufmerksam registriert er, welche Choräle gesungen wurden: „Schon die Gesänge waren sehr ergreifend.“ (NLA K7a, Osterferien 1901). Er hält den Predigttext fest, oft mit Angabe der tragenden Gliederungsgesichtspunkte des Predigers, er kommentiert – durchaus distanziert beobachtend – die Redeweise: „Onkel Gustav … redete ganz frei und blieb auch nicht stecken“ (ebd.), und registriert die Wirkung: „Papa predigte … Die Kirche war sehr voll“ (ebd., Sommerferien 1900) oder „Papa hält in der voll gefüllten Universitätskirche eine gewaltige, machtvolle Predigt über das Osterevangelium.“ (NLA K7a, Osterferien 1905) Wie geläufig dem 13-jährigen Gymnasiasten bereits die gottesdienstliche Liturgie war, lässt sich deutlich erspüren, wenn man liest, wie er auf der letzten Seite des ersten Tagebuches nach den Osterferien 1901 seinen Text abschließt. Nachdem er erwähnt hatte, dass er aufgrund des Osterzeugnisses als „Erster“ in die Obertertia versetzt wurde, unterschreibt er das Tagebuch – in kalligrafischer Schrift und in dem Selbstverständnis eines Pastorensohns, der die quasi natürlich kommenden beruflichen Pflichten eines Theologen schon vorwegnimmt – mit der exakt zum Dreieinigkeitsfest passenden „triadischen“ Formel aus 2. Korinther 13, 13: 4 UA-FAU, Goldenes Buch, Nr. 139, jetzt abgedruckt bei Liebenberg, 2008, S. 583 ff.
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„Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Göttingen, am Trinitatissonntag 1901. August Hermann Wilhelm Paul Althaus, zurzeit königlich-preußischer Obertertianer in Göttingen.“ (NLA K 7a, Osterferien 1901)
Aber nicht nur die Gottesdienste werden in den Tagebüchern festgehalten. Auch Besuche von Missionsfesten galt es zu notieren, außerdem lesen wir – z. B. während der Sommerferien 1904 – von abendlichen Gesprächen des Vaters mit seinem Sohn und dessen gleichaltrigem Vetter über die Poesie des Kirchenliedes, über die Lage der Kirche und „die tiefen Schäden unserer heutigen Landeskirche und das Ideal, dem man nachstreben muss“. (NLA K7a, Sommerferien 1904) Gebete, Choräle, liturgische Texte – so kann man hier festhalten – gehörten zum selbstverständlichen Alltag in der Familie Althaus, waren normal, wurden beherrscht, auch wenn sie in ihrer vollen Tiefe dem kindlichen Gemüt noch nicht bewusst geworden waren. Sie stehen darum in den Tagebüchern völlig unvermittelt neben den Seiten füllenden Schilderungen aus dem Familienleben und aus der Schule, von Wanderungen und Ferienaufenthalten bei Verwandten. Bei den Wander- und Wetterschilderungen fallen immer wieder die Beobachtungsgabe und der offene Blick des jungen Gymnasiasten auf. Während der Pfingstferien 1904 wanderte der 16-jährige Gymnasiast mit drei Klassenkameraden an der Oberweser von Hannoversch Münden durch den Reinhardswald nach Karlshafen. Nach einer Schilderung des Wesertals lesen wir hier : „Doch nun warteten unser noch ganz andere Naturschönheiten, die Erhabenheit des Waldfriedens, wenn man zwei Stunden keinen Menschen trifft, der unendliche wolkenfreie Himmel über einem Plateau mit dem weiten Ausblick in Gottes Welt, ohne ein Zeichen menschlicher Ansiedlung, endlich aber der Wald selbst, der nicht so sehr als Ganzes, sondern mehr noch durch die einzelnen Bäume, besonders Eichen, wirkte. Solchen Wald hatte ich lange nicht gesehen. Als wir schon drei Viertel des Staufenberges gegangen waren, tat sich das große Plateau vor uns auf, mit jungen Tannen bewachsen …“ (NLA, K7a, Pfingstferien 1904)
Ähnliche Beispiele gelungener Schilderungen von Landschaften, Wetterstimmungen oder Himmelsfärbungen könnten in beliebiger Zahl von den häufigen Wanderungen des jungen Paul Althaus angefügt werden und finden sich – nicht minder intensiv – in den ausführlichen Briefen des Studenten und in den späteren Ferientagebüchern aus Familienurlauben oder von Reiseberichten.5 Sie lassen den einfühlsamen Blick des Gymnasiasten für die Schönheit, Größe und Gewalt der Natur ebenso erkennen, wie sie seine sprachliche 5 Statt ungezählter anderer Zeugnisse für den Augenmenschen Paul Althaus nur ein kurzes Zitat aus dem Familienurlaub im Walsertal im Sommer 1926: „Ein herrlicher Vormittag. Man konnte sich nicht satt sehen und genug freuen an Berg und Wiesen und Licht und Farben.“ (NLA K7a, 10. 8. 1926).
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Begabung deutlich machen. Die Jugendtagebücher präludieren damit in beachtlicher Weise der ebenso knappen wie plastischen Formulierungskunst des späteren Briefschreibers und der eindrucksvollen Klarheit und Sprachgewalt des Predigers und wissenschaftlichen Autors. Allerdings bleiben die Tagebücher oft bruchstückhaft. Auch dafür steht die Erzählung von der Oberweserwanderung beispielhaft: sie bricht am zweiten Tag jäh ab. Offensichtlich gab es Dringenderes zu tun, als das Tagebuch nachzuarbeiten. Dieses Fragmentarische begegnet in den Tagebüchern des jungen Gymnasiasten immer wieder, doch es wirkt eher menschlich und sympathisch. Das Leben selbst war viel wichtiger als die Dokumentation. Gleichwohl erweisen sich diese Tagebücher auch in ihrer Unvollständigkeit als eine ungewöhnlich beredte Quelle zum familiären Leben in Haus und Garten sowie zum Schulalltag und zu den Ferienreisen des jungen Althaus. Aus der Schulzeit erfahren wir in den Ferientagebüchern nicht allzu viel. Wir können ihnen entnehmen, dass Paul Althaus unangefochten und kontinuierlich der Klassenprimus ist. Der elfjährige Quartaner trägt 1899 – wie er zu berichten nicht versäumt – bereits Verantwortung in seiner Klasse: Er muss bei einer Klassentour das Geld für die gemeinsame Bahnfahrt einsammeln. Anlässlich der schulischen Goethefeier hat er ein Goethegedicht zu deklamieren. Drei Jahre später trägt er „beim Festactus in der Aula des Gymnasiums zu Kaisers Geburtstag“ wiederum ein Gedicht vor. Da überrascht es nicht, wenn er auch die Festrede bei seiner Abiturfeier hält. Nur einmal berichtet der Primaner über einzelne Lehrer, was durchgenommen wurde, was sie gelesen haben und was ihn interessierte. Traurig registriert er das Desinteresse der Mehrzahl seiner Klassenkameraden am Religionsunterricht. Den ansonsten eher langweiligen Religionslehrer provoziert er durch eine theologische Frage zu interessanten, die ganze Stunde ausfüllenden Ausführungen (NLA K7a, Pfingstzeit 1905). Offensichtlich durchläuft Althaus die Gymnasialjahre mühelos. Darum wird in den Tagebüchern kaum etwas vom eigenen Ergehen in der Schule festgehalten, aber es wundert nicht, dass der erfolgreiche Älteste die Platzierungen der jüngeren Brüder aufmerksam beobachtet. 1903 berichtet er der Großmutter in einem Brief vom 15. April: „Am Tage vor Palmarum bekamen wir Zeugnisse; ich bin nach Obersekunda versetzt und habe also die ,wissenschaftliche Befähigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst‘; Wilhelm fühlt sich als Tertianer, der nun schon Griechisch bekommt; er hat ein ganz gutes Zeugnis und ist einen Platz heraufgerutscht; Gerhard dagegen ist vom zweiten auf den fünften Platz gesetzt, jedenfalls wegen seiner Schwatzhaftigkeit und Tändelei in der Stunde. Er hat aber ein sehr gutes Zeugnis, sogar ein ,sehr gut‘, nämlich in Erdkunde. Wilhelm und Gerhard unterrichten sich noch abends im Bett in diesem Fach. Von meinem Zeugnis darf ich wohl erwähnen, dass ich in sechs Fächern ,sehr gut‘ bekommen habe, worunter mich besonders das in Religion freut. Auch Gertrud hat ein gutes Zeugnis.“ (NLA K2)
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Zwei Jahre später notiert er im Ferientagebuch – wiederum ohne seine eigene Platzierung zu erwähnen: „Zu den Zeugnissen ist zu bemerken, dass Wilhelm nicht auf dem zweiten Platz sitzen blieb, sondern von Moosbach verdrängt wurde, was ihm sehr schmerzlich war. Gerhard kam, was wir voraus sehen konnten, vom sechsten auf den zwölften Platz, machte sich aber nicht viel daraus.“ (NLA K7a, Sommerferien 1905)
Wer – wie der Autor – lebhafte Erinnerungen an die Erziehungsversuche seines eigenen ältesten Bruders hat, mit denen die angeblich zu große elterliche Milde im Umgang mit den jüngeren Geschwistern korrigiert werden sollte, dem sind die Untertöne solcher Formulierungen bei Althaus unüberhörbar und höchst vertraut. Schon früh tragen die Ältesten Verantwortung und das prägt sie. Häufig lesen wir, dass Paul seinen jüngeren Brüdern in unterschiedlichen Schulfächern Nachhilfeunterricht gibt, in den Ferien wird immer wieder mit ihnen gelernt, mitunter auch mit den Vettern, wenn er beim Onkel in den Ferien zu Besuch ist oder einer der Vettern in Göttingen weilt. Schulisch ist Paul so unausgelastet, dass er nebenbei bereits 1903 Stenographie zu lernen unternimmt und dabei offensichtlich recht erfolgreich ist, denn kurze Zeit später unterrichtet er dann selbst Stenographie. Vor allem aber verdient er durch Nachhilfeunterricht an fremde Schüler sein erstes eigenes Geld. Zum Teil geschieht dieses in Absprache mit seinen Gymnasiallehrern. In einem ebenfalls überlieferten Notizbuch aus jenen Jahren wird säuberlich notiert, was er eingenommen hat. Trotz dieser Aktivitäten bleibt genug Zeit für umfangreiche Lektüre, auf die wir immer wieder knappe Hinweise finden. Der Gymnasiast liest nicht nur Klassiker, sondern auch Erbauungsliteratur und Autoren, die damals ,in‘ waren. Im April 1903 berichtet der Fünfzehnjährige seiner Großmutter : „Ich habe sehr viel gelesen, besonders Gerhard Uhlhorns ,Kampf des Christentums mit dem Heidentum in der germanischen Welt‘, was mir sehr gefällt; davon darf man aber täglich nicht mehr als höchstens 25 Seiten lesen, sonst ist es zu schwer. Als leichtere Lektüre verschlinge ich die ,Jugenderinnerungen eines alten Mannes‘ von Kügelgen, ein reizendes Buch, das ich gestern bis zu seinem furchtbaren Ende gelesen habe. Nun habe ich Scheffels ,Ekkehard‘ angefangen. Nebenbei genieße ich Matthias Claudius nach seinem Leben und Werken, was mir auch sehr viel Vergnügen bereitet.“ (NLA K2, 15. 4. 1903)
Die 1870 erstmals erschienenen Jugenderinnerungen von Wilhelm von Kügelgen (1802 – 1867) waren im Bildungsbürgertum des Kaiserreichs besonders beliebt, haben als literarisches Werk von Rang bleibende Bedeutung bis heute. Viktor von Scheffels (1826 – 1876) „Roman aus dem zehnten Jahrhundert“ gestaltete einen historischen Stoff, verband Bildungsbeflissenheit mit deutschnationaler Begeisterung und erfreute sich bei den besseren Ständen großer Resonanz, gerade auch in seiner Betonung des Deutschen gegenüber den allgemeinen Strömungen der europäischen Geistesgeschichte. Seine 24
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Werke gelten heute als sehr zeitgebunden. Konsequent erscheint in diesem Zusammenhang auch die Beschäftigung mit Matthias Claudius (1740 – 1815). Der Pfarrerssohn aus Holstein, der mit seiner Schriftstellerei, aber vor allem mit seinen gemütvoll-schlichten Liedern ein Herzenschristentum vertrat, stellte sich gegen eine erstarrte lutherische Orthodoxie seiner Zeit und gegen den aufgeklärten Rationalismus. Er vertrat eine christlich-konservative Gesinnung, die ihn auch am Anfang des 20. Jahrhunderts attraktiv erscheinen ließ. Eine Sonderrolle kommt im Lektüreprogramm des Fünfzehnjährigen gewiss dem Buch von Uhlhorn zu. Gerhard Uhlhorn (1826 – 1901) war ein führender Theologe und Kirchenmann seiner Zeit, habilitierter Kirchenhistoriker, Oberkonsistorialrat in Hannover – entscheidend beteiligt an der Organisation der Hannoverschen Landeskirche nach ihrer Eingliederung in Preußen nach 1866. Als Abt von Loccum war Uhlhorn verantwortlich für das dortige Predigerseminar. Er wirkte als bedeutender Vertreter eines kirchlichen Sozialengagements und trug zur lutherischen Prägung der Hannoverschen Landeskirche Entscheidendes bei. Er wandte sich gegen eine Verklärung des deutschen Nationalcharakters und forderte aufrichtige christliche Selbstkritik.6 Seine Aufsätze über den Kampf des Christentums mit dem Heidentum – erstmals 1874 erschienen – waren immer wieder aufgelegt worden, 1889 bereits in sechster verbesserter Auflage. Es waren keineswegs rein historische Arbeiten, sondern sie verstanden sich als zeitkritische Beiträge. Der Untertitel lautete bezeichnenderweise „Bilder aus der Vergangenheit als Spiegelbilder der Gegenwart“. Man wird annehmen dürfen, dass Althaus dieses Buch möglicherweise in der Bibliothek seines Vaters gefunden hatte oder dass sein Vater selbst ihm die Lektüre empfahl, zumal Uhlhorn in der Frühphase seiner Karriere in Göttingen als Universitätsprediger gewirkt hatte, ein Amt, das zu Paul Althaus’ Gymnasialzeit durch seinen Vater wahrgenommen wurde. Die spätere Zuwendung zum Beruf des Theologen wird in dieser Lektüre bei dem Gymnasiasten erstmals greifbar. Was der Fünfzehnjährige alles liest, ist bemerkenswert. Hier wird zunächst einmal ein ungewöhnliches Niveau des jungen Lesers deutlich, aber zugleich lässt sich das gebildete konservativ-christliche und nationale Klima einer Göttinger Professorenfamilie erkennen. Auch in den Ferientagebüchern finden wir wiederholt Hinweise auf die Lektüre. Weltliteratur tritt neben eher zeitgebundene, damals aktuelle literarische oder theologisch orientierte Werke. In den Osterferien 1905 liest der Siebzehnjährige Charles Dickens, David Copperfield, Cicero, Oratio in Catilinam, das Buch Josua im Alten Testament – gleichzeitig lernt er Hebräisch. Am Ostersamstag heißt es:
6 Vgl. dazu Wittram, 1954, S. 135 f. und ders., 1962, S. 422.
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„Ich las etwas in Frenssens Dorfpredigten, einem neuen Werke von P. Rosegger, ,Frohe Botschaft eines armen Sünders‘, dieses Buch gefiel mir stellenweise sehr gut.“ (NLA K7a, Osterferien 1905)
Neben die Lektüre des österreichisch-katholischen Bauernsohnes Peter Rosegger (1843 – 1918) treten die Predigten des Dithmarscher Pfarrers Gustav Frenssen (1863 – 1945), die 1899 bis 1903 in drei Bänden erschienen, kurz bevor Frenssen mit seinem Bauernroman „Jörn Uhl“ seinen Durchbruch zu einem der meist gelesenen Schriftsteller seiner Zeit schaffte, dessen Akzentuierung des Volkstums ihn 1933 in die Nähe zum Nationalsozialismus brachte. Im Sommer 1905 liest Althaus Voltaire, Geschichte Karls XII, Goethe, Faust I sowie Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. In einem kleinen Rückblick erwähnt er noch seine intensive Lektüre mehrerer Werke von Wilhelm Heinrich von Riehl (1823 – 1897) – ,Geschichten aus alter Zeit‘, ,Kulturgeschichtliche Novellen‘, ,Neues Novellenbuch‘ und ,Kulturgeschichtliche Charakterköpfe‘ – sowie Friedrich Hebbel (1813 – 1863) – ,Mutter und Kind‘ –, die er während der Weihnachtsferien 1903 und 1904 gelesen hatte. (NLA K7a, Sommer 1905, März 1906) Wieder können wir registrieren, dass Werke von klassischem Rang – Voltaire, Goethe, Hebbel – neben eher zeitgebundener Literatur erscheinen. Aber gerade diese Zusammenstellung ist von nicht zu übersehender Aussagekraft. Das gilt insbesondere auch für Heinrich von Riehl, ursprünglich evangelischer Theologe, dann freier Schriftsteller und später Direktor des Bayerischen Nationalmuseums. Er ist einer der konservativen Vordenker der Volkskunde sowie der Kultur- und Sozialgeschichte. In seinen Novellen vertritt er ein ständisch-patriarchalisches Gesellschaftsbild. Als Kulturhistoriker konstruiert er ein idealisiertes Gegenbild zur frühindustrialisierten Gesellschaft mit ihrer Verstädterung und bringt einen deutlich christlich-konservativen und nationalen Grundton zum Klingen. Man wird dieses Bildungsgut des so bildungshungrigen Gymnasiasten im Kopf behalten müssen, wenn man den späteren Theologieprofessor Paul Althaus richtig verstehen will. Die Vielseitigkeit des Gymnasiasten wird einem erst richtig bewusst, wenn man registriert, mit welcher Freude und Intensität er sich neben seiner umfangreichen Lektüre dem Klavierspiel widmet. Schon der Elfjährige berichtet in den Tagebüchern des Jahres 1899 wiederholt, dass er Klavierstunde gehabt hatte. Als er die Sommerferien 1900 in Brüggen verbringt, lesen wir : „Mit Willi spielte ich immerzu Mühle. Dann spielte ich Klavier.“ In den Osterferien 1901 heißt es dann bereits: „Abends spielte ich mit Willi vierhändig.“ Offensichtlich waren seine Fähigkeiten inzwischen schon beachtlich, denn als er im Schloss beim Grafen Brüggen, der seinerzeit seinem Vater die Promotion in Greifswald ermöglicht hatte, Besuch macht, heißt es: „Dann musste ich Klavier vorspielen.“ Zugleich lesen wir, dass er mit seinem Vetter in den Nachbarort wandert, 26
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die Kirche anschaut und auf der dortigen Orgel spielt. Schon der Dreizehnjährige versucht sich also auf der Königin der Instrumente. Auch in den folgenden Tagebüchern wird immer wieder von den Klavierstunden oder von Klaviervorführungen anlässlich von Besuchen berichtet. Im Sommer 1903 nutzt der nun 15-jährige Gymnasiast wiederum einen Besuch in Brüggen, um auf der Orgel der Dorfkirche zu üben. Er betont jedoch, er sei auch „einfach zum Spiel“ in die Kirche gegangen und habe dann sogar während des Gottesdienstes georgelt. Den Besuch bei Bekannten in einem kleinen Nachbarort nutzt er, um in der dortigen Dorfkirche Orgel zu spielen. (Ferientagebuch Sommer 1904) Das Klavierspiel kommt daneben keineswegs zu kurz. Im Sommer 1904 berichtet er vom Vierhändigspielen mit seinem Bruder. An Ostern 1905 taucht erstmalig in den Ferientagebüchern die knappe Bemerkung auf: „Mit Papa spielte ich vierhändig Beethoven, Symphonie II, und die großartige V.“ Ähnliche Bemerkungen finden wir in den folgenden Tagebüchern immer wieder. Die Liebe zur Musik und zum Musikmachen verband den Vater mit seinem Ältesten. Paul Althaus der Ältere hatte schon als Gymnasiast im pietistisch geprägten Gütersloher Internat ganz intensiv das Musikleben seiner Schulkameraden geprägt. Schul- und Internatsleitung hatten ihm dazu großzügig freie Hand gelassen und all seine Pläne und Aktivitäten mit Chorund Orchesteraufbau so unterstützt, dass sich schließlich die Eltern gezwungen sahen, ihren Sohn für die Oberprima aus dem Internat herauszunehmen und auf ein anderes Gymnasium zu schicken, um sein Abitur nicht zu gefährden. Ganz offensichtlich übertrug sich diese Musikliebe des Vaters auf den Sohn und bewährte sich in dem anspruchsvollen, immer wiederholten gemeinsamen vierhändigen Klavierspiel. Sie wirkte so nachhaltig, dass Althaus – wie sich aus seinen Tübinger Briefen an die Eltern ergibt – auch im Studium keine Gelegenheit ausließ, um aktiv Musik zu treiben. Er nutzt das Klavier seiner Wirtsleute zum Spielen und Üben. Bei einem der ersten Verbindungsabende spielt er als Teil des Programms Schuberts Impromptu. Er ergreift die Möglichkeiten der Universität, um weiterhin Orgel zu üben und trainiert insbesondere sein Pedalspiel. Wenn er württembergische Pfarrerssöhne, die er beim Studium kennen lernte, in das heimische Pfarrhaus begleitet, spielt er in der Dorfkirche Orgel und begleitet einen Gottesdienst. Als er während seiner Zeit im Predigerseminar einmal durch Hannover kommt, gelingt es ihm, in der dortigen Markuskirche die große Orgel auszuprobieren. Darüber berichtet er seinen Eltern: „Ich habe herrlich Orgel gespielt und die Versuchung gespürt, Organist zu werden, weil man sich einem solchen gewaltigen Tonkörper gegenüber mit Stolz als Herr fühlt“. (18. 6. 1911) Auch später finden wir Paul Althaus als aktiven Musikliebhaber und Musiker. 1943 amtiert er als so genannter Kurprediger in Bad Wiessee; während der Sommerferien hält er dort Feriengottesdienste. Da der Organist ausgefallen ist, setzt er sich kurzerhand selbst an die Orgel und begleitet dort die zu 27
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singenden Choräle und gestaltet das Vor- und Nachspiel. (NLA K7a, Sommerferien 1943) Das Vorbild des Vaters wirkt vermutlich auch in dem Bestreben von Althaus, seinen Kindern möglichst guten Klavierunterricht erteilen zu lassen. So überrascht es nicht, dass die Tochter Dorothea heute noch berichtet, wie gern sie mit dem Vater vierhändig Klavier gespielt oder aber auf seine Bitten hin zu seinem Choralspiel gesungen habe. Was der Gymnasiast gelernt hatte und lebte, das prägte sein ganzes Leben. Freilich wäre es falsch, aus der umfangreichen Literaturliste des jungen Gymnasiasten, seinem Engagement als Klavier- und Orgelspieler sowie seinen Aktivitäten im Geben von Nachhilfestunden und beim Lernen von Stenographie zu schließen, er sei ein „Stubenhocker“ gewesen. Die Ferientagebücher sind voll von Wanderungen mit dem Vater, mit dem Vater und den Brüdern oder auch er allein mit seinen Geschwistern oder mit Vettern und Klassenkameraden. Auch hier „bewährt“ sich Althaus wieder als Ältester. Als ihn die Eltern mit seinen Geschwistern zu einer kleinen Wanderung fortschickten, um selbst zuhause Ruhe zu haben, gaben sie ihm ein paar Groschen mit, um unterwegs für seine Geschwister ein Eis oder eine Limonade kaufen zu können. Der ebenso sparsame wie erziehungsbewusste Älteste brachte das Geld jedoch wieder mit nach Hause, es sei nicht nötig gewesen. Die jüngeren Geschwister vernahmen das mit Empörung und berichteten davon noch Jahrzehnte später – immer noch erzürnt – den Kindern von Paul Althaus. (Bericht Dorothea Petersen) Immer wieder ist der elterliche Garten Tummel- und Arbeitsplatz an der frischen Luft. Die Kinder spielen im Garten Manöver (NLA K7a, Sommer 1899), „Wir turnten tüchtig“ (ebd., Sommer 1900), aber sie müssen auch im Garten arbeiten. Paul harkt die Wege, ist fürs Gießen zuständig und hilft mit den Geschwistern dem Vater, als dieser die Hecke vor dem Haus schneidet. Darüber hinaus geht – ganz sportlich –Althaus gerne und viel zum Baden. Er ist ein leidenschaftlicher Schwimmer. Auch später bei den Familienurlauben in den Alpen schwimmt Althaus unerschrocken und regelmäßig in kalten Voralpenseen. Noch im Dezember 1964, kurz vor seinem 77. Geburtstag, erhält der Emeritus eine Prämie des Erlanger Hallenbades als zweitältester regelmäßiger Besucher. (NLA K6, Schreiben vom 17. 12. 1964) Intensiv sind auch die echt jungenhaften Gemeinsamkeiten mit seinem gleichaltrigen Vetter Wilhelm. Im Juli 1900 heißt es: „Ich gab Wilhelm lateinische Stunde. Wir turnten tüchtig.“ Sie fuhren dann nach Brüggen in das Elternhaus von Wilhelm, wo sie Wanderungen unternahmen oder im Schlossgarten mit Erlaubnis des Schlossherrn „schrecklich viele Stachelbeeren“ aßen. Anschließend lesen wir : „Wir spielten Mühle, mittags arbeiteten Willi und ich tüchtig. Ich half ihm beim Rechnen.“ In den Osterferien 1901 ist Althaus wiederum in Brüggen, er ging mit seinem Vetter „in den Nachbarort, dort kauften wir uns beim Kaufmann für zehn Pfennig zwei Zigarren. Hierauf begaben wir uns in den Park, in dessen Mitte wir beide anfingen,
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die Zigarren zu verpuffen. Außerhalb des Parkes machten wir die Zigarren aus und steckten dieselben in meinen Mantel. Am Waldrand steckten wir unsere Zigarren wieder an. Machten sie aber gänzlich aus und warfen sie weg, als wir ein seekrankheitsartiges Gefühl bekamen. Unser schlechtes Befinden schwand in der frischen Luft und bei dem reißenden Wind schnell, aber wir kamen nur langsam vorwärts. Abends spielte ich mit Willi vierhändig Klavier.“ (NLA K7a, Osterferien 1901)
Die negativen Rauchererfahrungen waren jedoch nicht nachhaltig. Zwei Jahre später kaufen die beiden erneut Zigarren, die sie sofort rauchen, ohne weitere Nachbemerkungen dem Tagebuch anzufügen. (NLA K7a, Sommerferien 1903) Im Kontakt mit dem anderen Geschlecht hält sich der Gymnasiast zurück, auch wenn er sich dadurch einem Teil seiner Klassenkameraden entfremdet. Im Ferientagebuch lesen wir : „Weniger erfreulich stand es mit meinem Verkehr mit den Klassengenossen. Diese sechs Wochen haben offenbar viel Abkühlung und Trennung gebracht. Das ist wohl durch die Tanzstunde, die die Gemüter sehr in Anspruch nahm, gekommen. Meist wurde in den Pausen nur davon geredet. Immerhin haben acht aus der Klasse keine Tanzstunde. Wie den anderen die Tanzstunde, so nehmen mir die Privatstunden viel Zeit fort. Schon von Beginn der Osterferien an gab ich … Stenographieunterricht usw. … Trotz der vielen Stunden kam ich doch noch oft zum Baden. Ausflüge hingegen wurden weniger unternommen.“ (NLA K7a, Aus der Schulzeit bis Pfingsten 1905)
Wegen der Gründe, die ihn und einen Teil der Klassenkameraden bewegten, nicht an der Tanzstunde teilzunehmen, bleiben wir auf Spekulationen angewiesen. Sie müssen bei Althaus sehr grundsätzlicher Natur gewesen sein, denn auch der Verbindungsstudent entschied sich – im zweiten Semester vor die Wahl gestellt: Reiten, Fechten oder Tanzen zu lernen – gegen das Tanzen für das Reiten. Mir erscheint die Tanzresistenz des Gymnasiasten und jungen Studenten als der bewusste oder nur instinktiv gesteuerte Versuch, das andere Geschlecht auf körperliche Distanz zu halten. Gewiss, Paul Althaus war durch seine beiden Schwestern des Umgangs mit Mädchen durchaus gewöhnt. Er war ein stattlicher junger Mann; die Mädchenherzen flogen ihm zu; aber körperlicher Kontakt, gar Liebe und Sexualität gehörten seiner Auffassung nach in die Ehe und waren nur dort legitim. Darum galt es, sich zu zügeln, die Mädchen nicht zu nahe an sich heranzulassen, bis man beruflich in der Lage war, eine Familie zu gründen. Das Herumflirten mit Mädchen im Rahmen von Verbindungsfeiern war ihm nicht wichtig. „Was sonst das „Kennenlernen“ an solchen Tagen [Familientagen der Verbindung] anlangt, besonders bei jungen Mädchen, so halte ich nicht viel davon.“ (11. 7. 1907, S. 329) Der geziemende Abstand blieb angezeigt. Nur an einer Stelle in den Ferientagebüchern berichtet der Primaner Alt29
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haus von einer Begegnung mit einem Mädchen. In der frommen Stimmung zwischen Karfreitag und Ostersonntag war es für ihn: „eine sehr glückliche Fügung, dass ich es vorgezogen hatte, heute den Sonnabendspaziergang aufzugeben. Ich wollte, wo ich eben zum Heiligen Abendmahl gegangen war und voll tiefer Freude auf Ostern wartete, nicht in so ganz andere Gefühle und Gespräche kommen. Und nun war es mir außerdem vergönnt, Elisabeth Riecke mit Kränzen zum Kirchhof zu begleiten, ein Weg, der mir lange in Erinnerung bleiben wird. Wir sprachen über Ostern, über Gertrud [seine Schwester] und ihre Schwärmerei für Dieter Hornkohl, über Predigten usw., jedenfalls war es für mich sehr schön.“ (NLA K7a, Ostern 1905)
Deutlich spürt man der Tagebuchformulierung von diesem Spaziergang am Karsamstag einige mitschwingende „Obertöne“ ab7. Gleichwohl hält Althaus den Kontakt auf der Gesprächsebene, auf geistigem Niveau, was wir später auch in seinen Studentenbriefen finden, wenn er über seine intellektuellen Begegnungen mit Professorentöchtern auf offenen Abenden bei seinen akademischen Lehrern berichtet: „Ich lernte die beiden sehr netten Töchter von Professor Müller kennen. Besonders mit der älteren, die Medizin studiert und einen sehr klugen Eindruck macht, habe ich mich lange und – wie nicht anders zu erwarten ist – gut unterhalten.“ (27. 7. 1906, S. 285)
Die Ferientagebücher legen von der besonderen Nähe, die zwischen Althaus und seinem Vater bestand, beredt Zeugnis ab. Aus den späteren Briefen des Studenten und jungen Pfarrers spricht sie ebenso wie aus den erhaltenen Briefen des Vaters. Ein Dokument dieser Nähe ist auch die Biographie, die Althaus wenige Jahre nach dem frühen Tod des Vaters über diesen schrieb. Die Jugendtagebücher lassen in besonderer Weise erkennen, wie sich die VaterSohn-Beziehungen entfalten und wie der Sohn gleichsam in die kirchlichtheologische Position des Vaters hineinwächst. Der Vater kümmerte sich viel um seinen Ältesten, er stand ihm offensichtlich sehr nahe, und diese Beziehungen hatten viele Dimensionen. Schon der Elfjährige berichtet aus den Sommerferien 1899: „Papa kaufte mir als Erfüllung meines Wunsches einen Tuschkasten mit – Pinsel und Näpfchen für die Schule … – Abends spielte ich mit Papa Halma … – Ich ging mit Papa in die Kirche … – Um vier ging Papa mit mir spazieren. Wir kamen mit einem schönen Bouquet, – 7 Elisabeth Nestle, geb. Riecke, Tochter des Göttinger Physikprofessors Eduard Riecke, später in Stuttgart verheiratet, blieb mit der Familie Althaus in Kontakt, den Kindern von Paul Althaus war sie als „Tante Nestle“ vertraut mit dem Zusatzkommentar einer Jugendbekanntschaft aus der Göttinger Schülerzeit des Vaters. (Bericht Dorothea Petersen) Paul Althaus selbst sprach einfach von „Lisbeth Nestle“ – so die Erinnerung von Gerhard Althaus.
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besonders Enzian, um 1/2 7 über Geismar zurück … – Ich ging mit Papa in die Kirche.“ (NLA K7a, Sommerferien 1899)
Als der Zwölfjährige von einem Ferienaufenthalt bei den Verwandten in Brüggen bei Hannover zurückkam, holte ihn der Vater vom Bahnhof ab. „Papa war an der Bahn.“ Wie selbstverständlich empfing wenig später der Sohn den zurückkehrenden Vater am Bahnhof. (Osterferien 1901) Im Januar 1903 schickte der Vater seinen Sohn zu Botengängen in die Stadt, später kaufte der Sohn für ihn Zigarren. Vater und Sohn spielten miteinander Schach. Der Sohn vermerkte: „Ich verlor.“ Der Großmutter berichtete er von den Gottesdiensten an Gründonnerstag und Karfreitag mit Teilnahme am Heiligen Abendmahl und fügte hinzu: „Es war mir eine besondere Freude, dass ich zum ersten Male mit Papa zusammen hinging“ (NLA K2, Brief vom 15. 4. 1903) Als er mit einem Vetter Schach spielte, „kam Papa herunter und griff in unsere Partien ein, dann wurde es erst recht interessant.“ Erst 1904 lesen wir erstmals: „Abends spielten Papa und ich auf der Veranda Schach, wobei ich ihn besiegte.“ (NLA K7a, Sommerferien 1904) Immer mehr wuchs Paul auch in die Berufswelt des Vaters hinein. Am 14. Juli 1902 notierte der Vierzehnjährige – ohne weiteren Kommentar – „Vater bekam Ruf nach Erlangen“, dem der Vater allerdings nicht folgte. Drei Jahre später erfahren wir dann im Tagebuch des Sohnes ausführlich von einem Ruf an den Vater nach Greifswald auf den Lehrstuhl für Praktische Theologie. Der Vater – so können wir hier den Ausführungen des Sohnes entnehmen – lehnte diesen Ruf ab, weil er in Göttingen einen Lehrstuhl für Systematische Theologie in Verbindung mit Praktischer Theologie inne hatte und diese Kombination gerade als positiver Theologe für wichtiger hielt als einen Lehrstuhl nur für Praktische Theologie. (NLA K7a, Schulzeit bis Pfingsten 1905). Der Oberprimaner war an den Erwägungen des Vaters durchaus beteiligt, denn er schrieb für die Großmutter das Rufangebot aus Greifswald inklusive der Gehaltsbedingungen ab und schloss diesen Brief: „Papa bittet Dich nach Rücksprache mit Onkel Wilhelm um Deine Meinung. Er ist in großer Aufregung.“ (Brief vom 27. 10. 1905) Mit im Hause verkehrenden Theologiestudenten führte der Oberprimaner Fachgespräche, wie den Tagebüchern mehrfach zu entnehmen ist. Themen waren u. a. der Verfasser des ersten Petrusbriefes, verschiedene Quellen im Alten Testament, die „Ostertatsache“ und „meine Aussichten und Pläne als stud. theol.“ (NLA K7a, Osterferien 1905 und Sommerferien 1905). Wie sehr der Abiturient sich auch die theologische Position des Vaters zu Eigen gemacht hatte, spürt man an seinem Bericht über einen Besuch bei seinem Onkel Hermann, der in Bruchmühlen Pfarrer war. Im dortigen Pfarrhaus wirkte ein Kandidat der Theologie als Hauslehrer. Mit diesem erörterte der Primaner theologische bzw. religiöse Themen und notierte, sein Gesprächspartner habe „zumindest eine große Toleranz und Weitherzigkeit gegenüber der religionsgeschichtlichen Schule“ – die die Mehrheit in der Göttinger Fakultät gegen 31
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Paul Althaus d.Ä. vertrat – erkennen lassen. Der Primaner kommentierte: „Das mag wohl daher kommen, weil er zu den Germanen gehört.“ (NLA K7a, Reisebericht Bruchmühlen) Versucht man eine Zusammenschau aus den frühen Tagebüchern und Briefen, dann erblicken wir vor uns einen jungen Mann, aufgewachsen im vaterländischen Stolz nach der Bismarck’schen Reichseinigung, geprägt durch den christlichen Geist eines lutherischen Pfarrhauses aus dem Umfeld der niedersächsischen Erweckungsbewegung, dessen tiefe Frömmigkeit sich mit einer großen Weite des Horizontes und der Interessen für Kunst und Kultur – Althaus hätte damals wohl gesagt: für deutsche Kunst und Kultur – verbindet, dessen jungenhafte Spiel- und Wanderlust gepaart ist mit einem offenen Blick für die Schönheiten und die Größe der Natur und dessen hohe intellektuellen Ansprüche und Fähigkeiten begleitet sind von einer beachtlichen Formulierungskunst. Das Ferientagebuch vom Sommer 1904 sei noch einmal zitiert, weil es all diese Facetten beispielhaft anklingen lässt: Wir lesen hier vom Klavier- und Orgelspiel des 16-jährigen Gymnasiasten ebenso wie von fröhlichen Spielen und Wanderungen; berichtet wird auch von ernsten Gesprächen mit dem Vater sowie mit Freunden, mit denen er sich „über Goethe und Schiller und so weiter“ unterhielt. Dann heißt es – die Dimension der Frömmigkeit integrierend –: „Vor dem Essen saß Hildegard und Wilhelm [Kusine und Vetter] bei mir auf meiner Stube. Ich zeigte ihnen meine Ansichtskarten, Religions- und Konfirmandenstundenhefte, Predigtdispositionen und anderen ,Heiligtümer‘“. (NLA K7a, Sommerferien 1904) Dass dieser Gymnasiast zwei Jahre später nach glanzvoll bestandenem Abitur zum Studium der Theologie aufbrach, ergab sich gleichsam ganz selbstverständlich und natürlich.
1.2 Die ersten drei Semester in Tübingen – Der akademische Lehrer Adolf Schlatter und die christliche Studentenverbindung Nicaria Mit 18 Jahren begann Althaus im Sommer 1906 sein Theologiestudium in Tübingen. Acht Jahre später – 1914 – hielt der junge Privatdozent in Göttingen seine ersten akademischen Lehrveranstaltungen. Dazwischen lag ein für heutige Betrachter sehr kurzes Theologiestudium – drei Semester Tübingen plus fünf Semester Göttingen -, das im 8. Semester mit dem Ersten Theologischen Examen abgeschlossen wurde. Parallel zu seinen letzten Theologiesemestern hatte er dazu noch ein Studium der Geschichte aufgenommen, um bei dem Historiker Lehmann in der Philosophischen Fakultät den Doktortitel zu erwerben. Vorwiegend aus Gesundheitsgründen ließ sich dieser Plan nicht realisieren. Althaus konzentrierte sich darum ab 1911 durch den Besuch des Predigerseminars auf das 2. Theologische Examen, das er im Frühjahr 1913 32
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ablegte. Den damit möglichen Eintritt in den Kirchendienst realisierte er jedoch nicht, sondern nutzte eine vom Vater noch einmal finanzierte Studienzeit in Göttingen, um im Jahr 1913 seine schon im Predigerseminar begonnene Lizentiatenarbeit fertig zu stellen. Eine solche Arbeit war notwendig, wollte sich Althaus eine Laufbahn an der Universität offenhalten. Im Dez. 1913 erwarb er den Titel des Lic. theol. mit der Note summa cum laude, wodurch er nach den damals in Göttingen geltenden Regeln im Januar 1914 – nach Ableistung eines Colloquiums – die venia legendi für Systematische Theologie, also der Status eines Privatdozenten erlangte. Hinter diesen Daten verbergen sich eine Fülle von Erlebnissen und persönlichen Begegnungen, von Lern- und Bildungsvorgängen, die in den folgenden Abschnitten nachgezeichnet werden, damit verständlich wird, mit welchen Prägungen und mit welchem wissenschaftlichen Profil Paul Althaus seine berufliche Ausbildung abschloss und in den Beruf startete. Althaus begann sein Studium in Tübingen. Drei Semester – vom Sommer 1906 bis zum Sommer 1907 – blieb er dort und berichtete seinen Eltern nach Göttingen in kleiner, aber lesbar schöner deutscher Schreibschrift ebenso ausführlich wie anschaulich von seinem Studienalltag. Diese Briefe, die inzwischen gedruckt vorliegen8, sind eine historische Quelle von besonderem Rang. Sie haben erheblichen biographischen Wert und vermitteln dank der Formulierungskunst und distanzierten Beobachtungsgabe des jungen Studenten einen außerordentlich lebendigen Eindruck von den Bedingungen und Möglichkeiten des allgemeinen Studentenlebens und des Theologiestudiums in Tübingen vor nunmehr gut hundert Jahren. Offensichtlich war vorgesehen, dass der junge Theologiestudent sein erstes Studiensemester auswärts verbringen durfte, um dann anschließend zuhause – insbesondere auch beim Vater – in Göttingen weiter zu studieren. Weshalb die Wahl auf Tübingen fiel, wird in den Briefen nicht thematisiert, aber entsprach einer in Norddeutschland weit verbreiteten Tradition. Tübingen lebte damals wie auch noch viele Jahrzehnte später vom Zuzug norddeutscher Studenten, die mindestens zu Studienbeginn einmal in Süddeutschland studieren durften und wollten. Das galt insbesondere für lutherische Theologen, denen die Tübinger Theologische Fakultät in ihrer Verbindung zur lutherischen Württembergischen Landeskirche mit ihren zwinglianischen Traditionen noch weit akzeptabler erscheinen mochte als die Heidelberger Fakultät im unierten Baden. Allenfalls das gut lutherische Erlangen konnte da in Konkurrenz treten. Paul Althaus der Ältere hatte 25 Jahre zuvor sein Studium dort begonnen. Für Tübingen sprach zu Beginn des 20. Jahrhunderts die spezifische Anziehungskraft, die der Theologe Adolf Schlatter dort entfaltete. Der gebürtige Schweizer galt in seiner Zeit als guter Wissenschaftler und als „positiver“, kirchlich orientierter Theologe, im Gegensatz zu den liberalen Theologie8 Vgl. Jasper (Hrsg.) 2006.
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professoren, den Ritschlianern und Anhängern der Religionsgeschichtlichen Schule, deren Kirchen- und Bekenntnisbindung immer unschärfer wurde. Durch seine wirkungsvollen akademischen Stationen in Greifswald und Berlin hatte er sich auch in Norddeutschland einen guten Ruf erworben, bevor er 1898 den Lehrstuhl in Tübingen übernahm. Im Falle Althaus kam hinzu, dass – wie oben erwähnt – Paul Althaus der Ältere und Schlatter sich gut kannten. Da lag es nahe, dass Paul Althaus der Ältere seinen Sohn zu dem so geschätzten Kollegen nach Tübingen sandte. Dass Althaus schließlich drei Semester in Tübingen blieb, war durchaus nicht vorgesehen. Nur durch intensives Bitten und Argumentieren mit dem im Vergleich zu Göttingen interessanteren Vorlesungsangebot in Tübingen gelang es ihm, seinen Vater am Ende des Sommersemesters 1906 davon zu überzeugen, dass es sinnvoll und finanzierbar sei, wenn er noch ein weiteres Semester in Tübingen studieren dürfe. Bereits um die Weihnachtszeit 1906 erreichte der Sohn dann die Zustimmung des Vaters, auch das dritte Semester, den Sommer 1907, noch bleiben zu können. Wie ungewöhnlich eine solche relativ lange Studiendauer im fernen Süden für Norddeutsche war, wird aus einem Bericht von Althaus über das Wintersemester 1906/07 deutlich: da die Fraktion der Theologiestudenten aus Norddeutschland im Winter dezimiert sei, säßen in Schlatters Römerbrief-Vorlesung nur 30 Leute. „Das macht der Winter und die Borniertheit der dummen, dummen Schwaben, die 70 Mann stark in den viel schwächeren Pastoralbriefen von Häring sitzen.“ (9. 11. 1906, S. 294). So sehr Althaus sein Studium in Tübingen genoss und die süddeutsche Landschaft in sich aufnahm, so erkennbar wird in seinen Briefen doch auch, wie stark seine Bindung und Verwurzelung in der Göttinger Professorenfamilie ist. Intensiv nahm er am Göttinger Leben teil. Er erkundigte sich nach den Schulerfolgen seiner Geschwister und forderte sie wiederholt auf, ihm auch einmal zu schreiben – der Rolle des verantwortungsbewussten Ältesten blieb er auch aus der Ferne treu. In Briefen zu den Geburtstagen des Vaters und der Mutter werden die engen Beziehungen von Paul Althaus zu seinen Eltern deutlich. Immer wieder bedankt er sich für die Pakete von zu Hause mit ihren vielerlei Schätzen. Auch von den Eltern erhoffte er sich ausführliche Berichte. So dankte er „vielmals für die Karte, die doch hoffentlich nur Vorbotin eines recht schönen, langen Briefes von zu Hause ist, den ich gerne bald hätte.“ (31. 1. 1907, S. 302) An anderer Stelle entschuldigte er seinen eigenen kurzen Brief wegen des Zeitdrucks, unter dem er stehe, fügte jedoch hinzu: „Aber ihr wisst ja, wie ich an allem – von Papas Predigten hinab bis zum gedeihlichen Rasenwuchse – teilnehme. Seid alle herzlich gegrüßt, und bitte, schreibt oft.“ (3. 5. 1907, S. 311) Schon Ende Juni 1906 freute er sich nach Semesterende „bei aller Fuxenseligkeit hier doch, in Göttingen noch einige halbverwelkte Blumen begießen, einige halbverwaiste Geschwister genießen und vor dem Beginn der Ferienarbeiten einige fröhliche Tage haben zu können.“ Zuvor 34
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aber wolle er die sechs Wochen des Semesters noch voll auskosten. (25. 6. 1906, S. 281) Die engen Beziehungen zum Vater werden immer wieder deutlich. Der Sohn erkundigte sich nach der Vortragsplanung des Vaters, gab ihm einen einschlägigen Literaturhinweis (6. 5. 1906, S. 265), empfahl ihm, in Fakultätsstreitigkeiten nicht locker zu lassen und die Position des Universitätspredigers zu verteidigen. (20. 5. 1906, S. 269) Intensiv erkundigte er sich nach der Rektoratsrede, die sein Vater im Sommer 1906 hielt (25. 6. 1906, S. 278), berichtete erfreut, dass er die Rede des Vaters in einer Stuttgarter Buchhandlung entdeckt habe (3. 11. 1906, S. 291) und exzerpierte für die väterlichen Arbeiten zur Gebetsliturgie des 16. Jahrhunderts einschlägige Texte. (29. 7. 1906 und 25. 7. 1907, S. 287 und 332) Aufgrund seiner Erfahrungen bei den offenen Abenden der Tübinger Professoren, zu denen er mehrfach eingeladen war, gab er seinem Vater differenzierte Empfehlungen, dass und in welcher Form er doch auch solche offenen Abende für seine Studierenden anbieten solle. (4. 7. 1906, S. 282) Natürlich erbat er auch Rat zu einigen Professoren und auch zur Frage, ob und gegebenenfalls welcher Verbindung er sich anschließen solle. Sehr offen war der Briefwechsel über die Frage des Geldes. Althaus versäumte nicht, darauf hinzuweisen, dass er sehr sparsam lebe und dass der Vater, falls das väterliche Geld nicht reiche, auch seine eigenen Ersparnisse mit in Anschlag bringen könne. Das Interesse am heimischen Garten in Göttingen ist ein deutlicher Hinweis auf die große Naturliebe von Althaus und seinen Blick für die Schönheiten und das Wachsen in Feld, Wald und Garten. Man kann diese Fähigkeiten des „Augenmenschen“ Paul Althaus spüren, wenn er seinen Eltern den Sonntagmorgenblick aus dem Fenster seiner Tübinger Studentenbude an der Neckarhalde schilderte: „Der Himmel wolkenlos, die Platanenallee endlich grün und voll, der Neckar so klar, die Gärten duften von Rosen, Jasmin, Geißblatt. Jeder, der mich hier oben in meinem ,Luginsland‘ besucht, eilt zunächst ans Fenster und sieht hinein in alle die Sommerherrlichkeit.“ (9. 6. 1907, S. 319) Da überrascht es nicht, dass der 19-jährige Student – für junge Männer seines Alters eher ungewöhnlich – sich seine Studentenbude mit Blumen schmückte: Er sei zwar – weil erkältet – beim Waldbummel seiner Verbindung etwas teilnahmslos gewesen, „doch brachte ich aus dem Wald einen schönen Strauß Schlüsselblumen mit, der dann in der Geburtstagsvase stand und erst gestern einem neuen wich. Das ist auch eine Freude, Blumen auf dem Zimmer zu haben.“ (3. 5. 1907, S. 310) Die hier artikulierte Liebe zu den Blumen und ihrer Blütenpracht prägte das ganze Leben von Althaus. Der Erlanger Professor war besonders auf seine Rosen im heimischen Garten an der Atzelsberger Steige stolz. Sie wurden sorgsam gepflegt. In den Notizkalendern der 50-er Jahre finden sich an bestimmten Tagen im Sommer kleine, mit Rotstift eingezeichnete rote Kreise, mal drei, mal fünf oder sechs, die nach Auskunft seines Sohnes die Zahl der im Garten neu aufgeblühten Rosen dokumentieren. 35
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Die Fähigkeit und Empfindsamkeit für die Wahrnehmung der Schönheit, aber auch der Größe der Natur kann man – wie schon oben erwähnt – auch in den Studentenbriefen immer wieder finden. Besonders die ausführlichen Wanderschilderungen – sei es im Rahmen der Verbindung, sei es außerhalb der Verbindung mit einzelnen Freunden – sind dafür eine Fundgrube ersten Ranges. Sie machen zugleich deutlich, dass wir uns in der Zeit des Wandervogels und der Jugendbewegung mit ihrem Motto: ,Zurück in die Natur‘ befinden. Die Wanderleistungen sind dabei durchaus beachtlich. Am Sonntagnachmittag bewältigt Althaus mit zwei Freunden „etwa 32 Kilometer herrlichster Waldwanderung“ (27. 7. 1906, S. 285), der Fuxenbummel im November 1906 endet nach einem Marsch von 56 Kilometern (25. 11. 1906, S. 297) Wie naturverbunden in umfassendem Sinn solche Wanderungen sein konnten, belegt die Schilderung einer Wanderung nach Bebenhausen: „Erst vesperten wir tüchtig in Bebenhausen; dann ging es zurück in den Wald. Das Wetter war ausnahmsweise prächtig, strahlender Himmel, kühler Wald und Abendsonnenschein! Im Kirnbach badeten wir an zwei Stellen; er ist zwar nicht tief, aber ein solches Bad im grünen Wald! Hinterher jagten wir wie am Schöpfungstage auf einer verschwiegenen Waldwiese in tollen Sprüngen einher, um zu trocknen; es wurde Bocksprung und Freiübungen gemacht. So etwas tut nach all dem Bücherstaube gut. Der Rückweg im letzten Sonnenstrahl setzte allem die Krone auf; am Waldesrand lagen wir lange schweigend oberhalb des schon erdunkelnden Tales.“ (11. 7. 1907, S. 330)
Zur Jugendbewegung und zum Wandervogel gehörte der „Zupfgeigenhansel“ konstitutiv dazu. So verwundert es nicht, dass Althaus immer wieder vom Gesang berichtet. Frühmorgens zogen sie singend über die noch in der Dämmerung liegende Neckarbrücke oder abends kehrten sie laut singend nach Tübingen zurück. In der Verbindung wurden viele Volkslieder gesungen. Auf Verbindungsfesten sang Althaus im Doppelquartett den zweiten Tenor. Für den Studienalltag von Paul Althaus in seinen Tübinger Semestern war das Leben in der Verbindung sehr wichtig. Auf Rat und Empfehlung seines Vaters war er zusammen mit seinem Vetter Wilhelm Wendebourg bei der studentischen Verbindung Nicaria aktiv geworden. Die Nicaren waren eine Verbindung, die dem Schwarzburgbund angehörte, einem Zusammenschluss christlicher – das bedeutete damals vorwiegend evangelischer – nicht schlagender Verbindungen. Vater Althaus war in Göttingen Ehrenphilister der dortigen Schwarzburgbund-Verbindung, der Germania. Die Tübinger Nicaria war erst 1893 gegründet worden und hatte starke Wurzeln im Tübinger Stift, vereinigte aber nicht nur württembergische Theologen, sondern zielte darauf ab, Studierende aus Nord- und Süddeutschland zu integrieren. Ein hoher Prozentsatz der Verbindungsmitglieder waren Theologiestudenten.9 Althaus fühlte sich in der Verbindung sehr wohl. Wie er in den Briefen nach 9 Vgl. statt vieler : Werner Kratsch, 1977.
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Hause immer wieder betonte, genoss er den persönlichen Kontakt mit gleich gesinnten, ernsten Studenten. Die Riten des Verbindungslebens waren ihm eher unwichtig. Allerdings erforderte das Programm, dessen Absolvierung die Nicaren von ihren aktiven Studenten verlangten, einen erheblichen Zeiteinsatz. Jeden Sonnabend war offizielle Kneipe, ebenso alle 14 Tage am Mittwoch, abwechselnd mit einem wissenschaftlichen Abend. Dienstag und Freitag wurde von sieben bis acht Uhr abends geturnt, was Althaus große Freude machte. Außerdem mussten alle Füxe entweder Reiten, Tanzen oder Fechten lernen. Althaus entschied sich fürs Reiten. Am Donnerstagnachmittag war allgemeiner Bummel. „Bei gutem Wetter in die Alb. … Bei den Kneipen singen wir alle mit Begeisterung die großartigen Lieder, von denen ich bisher die wenigsten kannte, zum Beispiel Burschen heraus, Am Neckar, Der Sang ist verschollen, Das Lieben bringt große Freud.“ Vor allem die wissenschaftlichen Abende fanden das Interesse des jungen Studenten. Das Programm war durchaus anspruchsvoll. Die Gruppe las gemeinsam und hörte Referate über Conrad Ferdinand Meyer und den Schweizer Schriftsteller Carl Spitteler. Ausführlich diskutierten sie über innere und äußere Mission. Ein älteres Verbindungsmitglied, Medizinstudent, berichtete über die Innere Mission und die Arbeit Friedrich von Bodelschwinghs, die er in den Berliner Arbeiterkolonien aber auch in Bethel in Augenschein genommen hatte. Paul Althaus selbst referierte – seiner familiären Tradition bewusst – über die äußere Mission, die verschiedenen Missionsgesellschaften und die grundlegenden Fragen über das Verhältnis von Mission und Kolonialpolitik. Er las dazu die einschlägigen missionswissenschaftlichen Arbeiten seiner Zeit. (28. 6. 1907, S. 327) Auch abseits des offiziellen Programms traf sich Althaus mit seinen Verbindungsfreunden. Mit dem einen spielte er vierhändig Klavier, mit anderen hielt man „Budenkaffee“, um sich persönlich kennen zu lernen. Schon nach sechs Wochen resümierte er : „Mir geht es außerordentlich gut. Ich bin als Nicare sehr glücklich. Es sind alles treffliche Menschen.“ (10. 6. 1906, S. 277) Schnell wurde jedoch deutlich, wo Althaus die Schwerpunkte im Verbindungsleben setzte. Es sind vor allem die persönlichen Freundschaften, die für ihn den Sinn des Verbindungslebens ausmachen: „Ich bin … viel mit meinem Freunde Hötzel zusammen. Er ist Sohn des Pastors H. in Köln, eines, wie ich erfahren habe, prächtigen Mannes und tüchtigen Gegners von Jatho10 – Mit ihm kann ich über alles, wirklich alles reden. Es ist dann so nett, wenn man im persönlichen Leben vor den Augen des anderen nichts von einer besonderen großen Neigung durchblicken lässt, sich viel neckt usw., und doch immer vom anderen weiß, dass er einen ganz versteht. Nur wo solche Einzelfreundschaften im höchsten Sinne existieren, halte ich den eigentlichen Verbindungsbetrieb für berechtigt, denn es ist für mich Torheit, dass die blaue Mütze allein mir jeden zum 10 Carl Jatho (1851 – 1913), evangelischer Pastor in Köln mit umfassender Predigttätigkeit, der voller Skepsis gegen Dogma und Tradition wegen seiner undogmatisch-mystischen Theologie 1911 amtsenthoben wurde.
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Freunde macht. Begnügt man sich damit, nicht weiter zu dringen als bis zu einer seichten Kneipfreundschaft, dann ist man vergeblich in einer Schwarzburgbundverbindung.“ (9. 11. 1906, S. 293)
Immer wieder berichtete er von seinen persönlichen Freundschaften und Gesprächen. Er lud eine kleine Gruppe von Verbindungsbrüdern auf seine Bude: „Mit anderen zusammen lese ich öfter abends etwas von Johannes Müller (Blätter zur Pflege persönlichen Lebens). Das ist jedes Mal sehr nett, besonders, wenn wir dann über die Kritik an Joh. Müller hinaus zu schöner Aussprache kommen. So sehr man auf Joh. Müller (– und Lotzky) schilt, so oft gerade ich an diesen Abenden Kritik an ihm zu üben habe – worin mir die anderen gewöhnlich beistimmen – zu tiefem Nachdenken über das, was eigentlich christliches Leben heißt, leitet er an. Er bringt nämlich nie Theorie und versteigt sich nie zu Evangelienkritik und anderem, sondern er will persönliches Leben, persönlichen Verkehr mit Jesus wecken. Was mir bedenklich an ihm erscheint, kann ich heute noch nicht in ein paar Worte bringen. Ich muss ihn erst noch näher kennenlernen.“ (8. 12. 1906, S. 299)11
Die Verbindung – so wird man resümierend sagen können – bot Paul Althaus viele Möglichkeiten. Sie erlaubte ihm, in Gemeinschaft mit anderen seiner Sanges- und seiner Wanderlust ausführlich zu frönen. Sie zwang ihn zu turnerischen Aktivitäten, die seiner Gesundheit, die nicht immer stabil war, durchaus zugutekam. Vor allem aber bot sie die Chance zu vielseitigen persönlichen Kontakten und ermöglichte die Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten wissenschaftlichen und literarischen Themen. Zwar war die Nicaria stark von Theologen dominiert, aber die Nicht-Theologen in der Mitgliedschaft erweiterten den Horizont. Die Gespräche mit älteren Studierenden oder mit den – in der Nicaria aufgrund ihrer relativ kurzen Geschichte – noch jungen „alten Herren“, den „Philistern“ boten anregende Befruchtung. Auch der Kontakt mit den Professoren konnte vertieft werden, da Theologieprofessoren an Verbindungsfesten häufig teilnahmen und als Redner auftraten.12 11 Die kritische, aber intensive Beschäftigung mit Johannes Müller führte Paul Althaus auch Jahre später z. T. in persönlichem Kontakt noch fort. Vgl. unten S. 79. 1932 machte er auf Einladung Müllers einige Tage Urlaub in Elmau. 12 Ich verzichte bewusst darauf, die nationalen und völkischen Traditionen im allgemeinen Verbindungsleben besonders hervorzuheben und als für Althaus prägend – und damit seine vermeintliche „Anfälligkeit für den Nationalsozialismus“ – so die Terminologie von B. Hamm und R. Liebenberg, 2008, – erklärend – zu beschreiben. Althaus’ eigene Schilderung des Verbindungslebens und dessen, was ihm daran wichtig war, setzt ganz andere Schwerpunkte. Auch verkennt eine die Prägekraft der verallgemeinerten „Ideologie“ der Verbindungen hervorhebende biographische Interpretation, wie unterschiedliche Menschen aus ein und derselben Verbindung hervorgingen, der liberale und die Weimarer Republik stützende Theologe Ernst Troeltsch z. B. war bei der Erlanger Schwarzburgbund-Verbindung Uttenruthia aktiv, deren Ehrenphilister Paul Althaus später wurde.
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Bei der Intensität dieses Verbindungslebens fragt man sich unwillkürlich, ob denn das Studium darunter nicht erheblich gelitten habe. Bei der Abschätzung ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Masse der Studierenden um die Jahrhundertwende von auswärts in die Universitätsstädte kam und in der Regel während des Semesters nicht zu den Eltern heimfahren konnte. Da boten die Verbindungen die Chance der Freizeitgestaltung insbesondere für die von auswärts gekommenen Studierenden. Gleichwohl bleibt die erhebliche Zeitbeanspruchung durch das Verbindungsleben, von dem Althaus so ausführlich in seinen Briefen erzählt. Umso eindrucksvoller ist sein Bericht vom eigentlichen Studium, von den Begegnungen mit den Professoren und von seiner Auseinandersetzung mit der theologischen Wissenschaft, denn trotz aller Aktivitäten in der Verbindung – er studierte konzentriert und intensiv. Rund 20 Wochenstunden umfasste sein jeweiliges Programm in diesen ersten drei Tübinger Semestern. Zu Studienbeginn im Sommer 1906 hörte er Kirchengeschichte bei Müller (fünfstündig), Systematische Theologie bei Häring (vierstündig), außerdem nahm er aktiv an einem Seminar zur frühen Kirchengeschichte bei Holl (zweistündig) teil. Den Schwerpunkt bildeten jedoch zwei Vorlesungen (je vierstündig) im Neuen Testament bei Adolf Schlatter. Bei ihm hörte er auch im zweiten Semester zwei Vorlesungen und nahm außerdem an seinem Seminar über Philo und Josephus teil. Zehn von insgesamt 21 belegten Semesterwochenstunden waren also Schlatter gewidmet. Daneben hörte er wieder Häring, Pastoralbriefe (zweistündig) und Müller, Kirchengeschichte II (fünfstündig) sowie – neu – Grill, Einleitung ins Alte Testament (vierstündig). Im dritten Semester setzte er andere Akzente. Außerhalb der Theologie trieb er Philosophie. Bei Adickes hörte er Erkenntnistheorie (vierstündig) und nahm am Seminar teil. Darüber hinaus belegte er bei Ritter, einem ausgewiesenen Kenner der klassischen Philosophie, eine zweistündige Vorlesung über Plato. Im engeren theologischen Bereich hörte er wiederum vierstündig Schlatter, ferner besuchte er bei Häring sowohl die Hauptvorlesung über Dogmatik I als auch eine einstündige Vorlesung über Mission. Außerdem nahm er an einer alttestamentlichen Übung bei dem Repetenten Merz teil. Althaus begnügte sich nicht mit bloßer Rezeption und dem Mitschreiben der Vorlesungen. Er bildete sich ein eigenes Urteil über das Dargebotene und bereitete sich intensiv vor oder arbeitete – unmittelbar nach der Vorlesung – den dargebotenen Stoff durch, um ihn vollends zu verstehen. Obwohl die Studienordnung für niedersächsische Theologiestudenten in den Anfangssemestern Altes Testament zu hören vorschrieb, gab er nach ein paar Wochen die Vorlesung von Grill auf: „Schrecklich ist Julius Grill. Ich habe mir vorgenommen, bis zum 1. Dezember noch hinzugehen und dann abzubrechen. Er diktiert die ganze Stunde in schnellem Tempo. Was er bringt, ist gründlich, gut zusammengetragen, aber die Art ist über die Maßen entsetzlich. Existierte kein Hannoversches Landeskonsistorium, das zu einem
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gänzlichen Mangel an alttestamentlichen Vorlesungen in den ersten Semestern etwas scheel sehen würde, so würde ich mir die zwölf Mark gespart haben.“ (9. 11. 1906, S. 293)
Dass Althaus dann im folgenden Semester die Übung bei Repetent Merz belegte, von der er „besonders viel“ hat (3. 5. 1907, S. 311), ist gewiss auch der Überlegung geschuldet, auf diese Weise der heimischen Kirchenregierung nachweisen zu können, dass er in den ersten Semestern doch intensiv Altes Testament studiert hat. Außerdem ist beachtlich, dass er eifrig Hebräisch treibt. Jeden Morgen von 7 – 8 liest er zusammen mit einem Mitstudenten alttestamentliche Texte im Original. Von dem Kirchenhistoriker Müller war er im ersten Semester weniger angetan: „Ich fürchte, Müller, der wissenschaftlich sehr solide und tüchtig ist, wird auf die Dauer etwas trocken, da er gar nicht vortragen kann.“ Zwar belegte er auch im zweiten Semester bei Müller Kirchengeschichte II, aber er fand die Vorlesung „unendlich langweilig“. Zusammen mit Wilhelm Wendebourg stellte er fest, dass Müller aus seinem eigenen Lehrbuch vortrug, in dem alles, was er sagte, zum Teil sogar ausführlicher und besser enthalten war, darum nahm er sich vor, „abwechselnd etwa 14 Tage hören, 14 Tage schwänzen.“ (8. 12. 1906, S. 298) Doch im Januar 1907 hörte er „auch Müller wieder. Der interessante Stoff (die großen Reformkonzilien, Wyclif, Huß, die „Brüder vom gemeinsamen Leben“) scheint Müllers Trockenheit vorerst begraben zu haben. Einige Stunden, besonders die Wyclifie in Böhmen, waren sogar sehr schön.“ (19. 1. 1907, S. 301) Konsequenterweise versuchte Althaus, sich in den Gesamtzusammenhang einzuarbeiten. Er las darum zur Vertiefung Loofs, Grundlinien der Kirchengeschichte. Außerdem widmet er sich der Biographie Franz von Assisis von Sabatier, ein Buch, das ihn „wie selten eine geschichtliche Darstellung“ fesselte und „Begeisterung für die große Zeit Innozenz’ III.“ weckte. (ebd.) Bei dem Historiker und Lutherforscher Holl hatte Althaus mit viel Engagement und Gewinn sein erstes Seminar gemacht und damals, angeregt durch Holls Art zu arbeiten und zu dozieren, einige Stunden aus den Vorlesungen bei Holl „geschunden“. Darum bedauerte er sehr, nicht bei ihm Theologie des 19. Jahrhunderts belegt zu haben, sondern bei Müller gleichsam systematisch mit Kirchengeschichte I begonnen zu haben. Da Holl Tübingen zum Wintersemester 1906/07 verlassen hatte, um nach Berlin zu gehen, blieb Althaus nichts anderes übrig, als sich mit Müller abzufinden. Aber fair und offen berichtete er im Sommersemester 1907 von dem Seminar bei Müller, wo sie viele Luthertexte und Lutherbriefe lesen und intensiv arbeiten müssen, aber eben auch viel lernen. Sowohl kritisch wie auch zustimmend äußerte sich Althaus zu den Vorlesungen von Häring. Das Kolleg über die Pastoralbriefe befriedigte ihn nicht, wobei er erläuternd hinzufügte, „das mag hauptsächlich am Kontrast zum Römerbrief liegen“, den Schlatter biete. (9. 11. 1906, S. 293) Andererseits hielt er die Apologetik von Häring für ein 40
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„wertvolles Kolleg … In den Diktaten mustergültig klar, manchmal bis zum Formalistischen, in den Expauken [frei extemporierten Kommentaren] geistreich, warm und lehrreich. … Besonders interessant war der Überblick über die Geschichte der Begründung des christlichen Glaubens. … Bedauerlich ist es bei Häring, dass er bei vielen Gelegenheiten zeigt, wie es ihm daran liegt, die Grenze nach rechts scharf zu ziehen, während ihn ein persönliches Wohlwollen für Troeltsch vielleicht doch manchmal hindert, nach links ganz klar zu sehen. In der Dogmatik trat das weniger hervor als in dem Kolleg über die evangel. Mission, wo er – das getraue ich mir am Material nachzuweisen; ich habe alle betreffenden Artikel gelesen! – die eigentlichen Pointen und das Neue des Troeltsch’schen Standpunktes nicht recht zum Ausdruck gebracht hat, sodass der Unerfahrene sich sagen musste: ,Nun, Troeltsch sagt ja dasselbe wie Warneck in modernem Gewande‘, während er tatsächlich etwas ganz anderes sagt. … Nichts imponiert einem Studenten weniger als Harmonisierungskünste.“ (28. 6. 1907, S. 326)
Dieses Zitat macht eindrucksvoll deutlich, dass Althaus – für einen Studenten im dritten Semester durchaus ungewöhnlich – zu einem außerordentlich differenzierten Urteil über seinen akademischen Lehrer kam. Häring war in Göttingen Nachfolger Ritschls gewesen und wird zu Recht dessen Schule – wenn auch eher dem rechten Flügel – zugerechnet. Diese Schule, das spürte der Student Althaus, führte zur Kritik an der positiv-kirchlichen Theologie – die „Grenze nach rechts“ – und zum Wohlwollen gegenüber Troeltsch, der als Wortführer der linken Ritschlianer und führender Kopf der religionsgeschichtlichen Schule zu gelten hat. Althaus kritisierte hier die Harmonisierungskünste Härings. Vom Elternhaus war er ganz offensichtlich für den klaren Konflikt seines Vaters mit der „linken“ religionsgeschichtlichen Mehrheit der Göttinger Fakultät sensibilisiert worden. Aber wissenschaftlich konnte ihn Häring durchaus überzeugen. Dazu trug dessen ganze Persönlichkeit bei. Althaus berichtete lebhaft über die offenen Abende bei Häring, seine Wärme und Zugewandtheit zu den Studenten, seine Person sei ihm „überaus sympathisch. … Das Schönste an ihm sind seine Augen. Aus denen spricht auch im Alltag eine innere Anteilnahme an der Theologie und an uns und eine Liebe, die einzigartig ist.“ (27. 5. 1906, S. 271) Tief beeindruckt zeigte er sich mehrfach auch von den Predigten von Häring, die er in der Stiftskirche gehört hatte. Seine „tiefe und herzliche Art“ sowie die Tatsache, dass er „ganz schlicht und einfach ohne jede Rhetorik“ gesprochen hatte, berührten den jungen Althaus sehr. Offensichtlich überzeugte Häring seine Studenten nachhaltig durch die Verbindung des vom Vaterhaus ererbten schwäbischen Pietismus mit dem wissenschaftlichen Professorenamt, die er ihnen vorlebte. Von Adolf Schlatter zeigte sich der Student Althaus noch mehr beeindruckt und zugleich gefordert. Härings „,Johannesbriefe‘ sind wie ein milder Regen hinter Schlatters ,Leben Jesu‘, dem Wolkenbruch. Bei Schlatter regt jede Stunde sehr auf, man muss mit allen Fasern des Geistes seinen genialen, manchmal reichlich wenig ausgeführten Gedanken folgen.
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Häring redet ruhig, klar, und doch wieder so, dass er nach keiner Seite anstößt. … Schlatter kommt mir hundertmal genialer und großartiger vor als Häring. Seine Gedanken sind immer überraschend, tief und originell.“ (ebd., S. 272)
Die Beurteilung und Beobachtung, die hier der Studienanfänger Althaus nur vier Wochen nach Semesterbeginn so facettenreich formuliert, ist erstaunlich. Sie lässt eine ungewöhnlich scharfe analytische Fähigkeit und aufmerksame Beobachtungsgabe erkennen, die Distanziertheit bei gleichzeitig offenkundigem Engagement in sich schließt. Die Stellung Schlatters, der einer pietistischen Sankt Galler Apothekerfamilie entstammte, war in der Theologie seiner Zeit nicht einfach zu verorten, sein methodisch eigenständiger, biblisch orientierter Forschungsansatz, der das Neue Testament unter Einbeziehung der zeitgenössischen jüdisch-rabbinistischen Parallelen und unter Beachtung auch der geschichtlichen Bezüge erforschte, war eigenwillig und produktiv. Schlatter stand gleichsam zwischen den Fronten und gewinnt daher auch heute noch Aufmerksamkeit. Die Person dieses akademischen Lehrers faszinierte Paul Althaus schon in der ersten Vorlesungsstunde: „Schlatter kam dann auch richtig, ganz, wie er mir beschrieben war, in das Zimmer : Mit gewaltigen Schritten, stark pendelnden Armen und gespreizten Fingern eilte er zum Katheder, um schon zu beginnen, ehe er oben war. Der Mann an sich ist schon interessant anzusehen. Seine Vorlesung aber war ein Genuss, wie ich ihn selten gehabt habe. Erstens trägt er vollkommen frei ohne jedes Konzept vor und spricht gar nicht so unverständlich, höchstens etwas komisch (Jesus heißt meist ,der Chrischtus‘). Ferner spricht er sehr warm und interessant; man kann sich denken, dass er gut predigt. Endlich aber behandelte er als Einleitung die Kernfragen (Glaube und Kritik; Geschichte und Offenbarung usw.) in so geistvoller Weise, dass es mich geradezu begeisterte. Er wurde am Schluss mit kolossalem Getrampel entlassen. Morgen will er gleich mit Johannes dem Täufer einsetzen. Ich gedenke, mich auf die betreffenden Abschnitte der Synoptiker zu präparieren. – … Helle und Wilhelm Wendebourg haben von der Sache nicht viel verstanden, wie sie klagen.“ (23. 4. 1906, S. 262)
Das Präparieren nahm Althaus ernst. Er bestellte sich aus der Bibliothek des Vaters das Schlatter-Buch „Der Glaube im Neuen Testament“, um sich besser vorbereiten zu können, denn Schlatter ist, wie er schreibt, schwierig, man muss gut aufpassen und sich präparieren. Wie ernst er solche studentischen Bemühungen nahm, erkennt man an seinem Dank an die Eltern für übersandte Schokolade: „Die Schokolade ist sehr ,angenehm‘, aber ins Seminar nehme ich sie nicht mit. Wie kann man den überaus schwierigen 2. Kor. mit einem Stückchen Schokolade unter der Zunge ernsthaft treiben?“ (25. 11. 1906, S. 295). In der ironischen Leichtigkeit dieses Satzes blitzt die Diszipliniertheit und Konzentrationsfähigkeit bei dem jungen Studenten Althaus auf, die nicht nur sein Studium sondern sein ganzes Leben prägte und die uns noch oft begegnen wird. Im Sommersemester 1907 hörte Althaus vormittags von elf bis zwölf bei 42
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Schlatter dessen Römerbriefvorlesung. Die Zeit von acht bis elf hatte er sich absichtlich freigelassen, um sich auf diese Vorlesung intensiv vorzubereiten. Immer wieder berichtete er den Eltern von seinen Eindrücken und Erkenntnissen aus den Schlatterschen Vorlesungen und merkt an: „Freilich ist manches recht schwierig und gibt Anlass zu energischer Mitarbeit und langem Nachdenken, zum Beispiel die Frage nach dem Verhältnis von neutestamentlicher Theologie zur Dogmatik und ob es erlaubt oder möglich ist, historische objektive neutestamentliche Theologie zu treiben.“ (26. 10. 1906, S. 290) Es fehlt auch nicht an kritischen Bemerkungen und Fragen. Althaus nutzte die offenen Abende, zu denen der Professor immer wieder seine Studierenden einlud, um Fragen zu stellen, zumal Schlatter selbst diese Abende zur klärenden und vertiefenden Diskussion der Vorlesungen vorgesehen hatte. Hier begann ein intensives theologisches Gespräch zwischen Schlatter und seinem aufgeweckten, interessierten Studenten Paul Althaus, das auch nach dessen Weggang aus Tübingen nicht abriss, sondern fortgesetzt wurde und schließlich dazu führte, dass der Professor Althaus die von Schlatter initiierte Schriftenreihe als Herausgeber mit übernahm, kurz bevor Schlatter 1938 verstarb. Ein einfühlsamer Nachruf auf Schlatter war dann die erste Aktivität des neuen Herausgebers. Die Begegnungen des Studenten Althaus mit seinem Professor beschränkten sich nicht nur auf die Lehrveranstaltungen und die offenen Abende. Althaus befreundete sich auch mit Schlatters Sohn Theodor, der – in etwas höherem Semester – ebenfalls in Tübingen Theologie studierte. Er erhielt auch private Einladungen in die Familie seines Professors, wobei die Bekanntschaft zwischen Vater Althaus und Schlatter eine unterstützende Rolle gespielt haben mag, aber ganz offensichtlich hatte Schlatter den eifrigen und begabten Studenten schätzen gelernt. Weitere Begegnungen fanden bei Verbindungsfesten statt. Schlatter wurde immer wieder eingeladen, erschien mehrfach und hielt auch Ansprachen. Eine besondere Begegnungsstätte zwischen Althaus und seinen Professoren ist die Tübinger Stiftskirche. In den Briefen wird stets von den Sonntagsgottesdiensten und den Predigten berichtet. Der niedersächsische Lutheraner registrierte bewusst und etwas überrascht, dass die Gottesdienste in Württemberg faktisch ohne Liturgie abliefen, ganz auf die Predigt konzentriert waren, diese eigentlich nur mit einigen Liedern begleiteten. Für das Gelingen des Gottesdienstes komme darum, so resümierte er, alles auf die Predigt an. Die Deutlichkeit, mit der Paul Althaus als Angehöriger der lutherischen Kirche von Hannover das Fehlen der Liturgie in der Tübinger Stiftskirche feststellt, macht uns Heutigen die damalige Abgeschlossenheit der konfessionellen Räume auch innerhalb des Protestantismus bewusst. Sie wird noch deutlicher durch die Bemerkung, die er einem Bericht über einen Sonntagsgottesdienst anfügt: „Nach der Kirche sahen Wilhelm und ich der Abendmahlsfeier zu, um auch einmal eine württembergische gesehen zu haben.“ (25. 7. 1907, Seite 334). Abendmahlsgemeinschaft war damals selbst innerhalb des Luthertums offensichtlich noch sehr weit entfernt. Wie fremd und fern 43
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man erst recht dem Katholizismus gegenüber stand, spürt man bei den Wanderschilderungen des lutherischen Studenten, wenn er die Kruzifixe im Umfeld katholischer Dörfer des Schwarzwaldes oder den Altarschmuck katholischer Kirchen beschreibt. So intensiv er seinen Eltern über die gehörten Predigten seiner Tübinger Professoren berichtete, und so sehr auch zu erkennen ist, dass er sich selbst als zukünftigen Prediger sah, was so weit ging, dass er seinen Vater um die Zusendung eines Hannoverschen Gesangbuches bat, „da ich jetzt Zeit und Lust habe, Gesänge zu lernen, um auf der Kanzel einst mit Gesangbuchversen um mich werfen zu können“ (27. 4. 1906, S. 263), so sehr legte er doch Wert darauf, dass der Gottesdienst mehr sei als eine Predigt. Das Kirchenlied und eine umfangreiche Liturgie gehörten für ihn unabdingbar dazu. Diese hohe Bewertung von Liturgie und Kirchenmusik wird auch fassbar, in einem Bericht, den der junge Theologe 1912 aus dem Rottweiler Urlaub seinen Eltern sendet: „Dann ging ich in die Heiligkreuzkirche, um die Auferstehungsfeier der Katholiken mitzumachen. Mächtig voll. Es war mir sehr interessant und zum Teil auch erhebend. Das große Halleluja aus Händels Messias wurde mit Orchesterbegleitung gesungen. Hinterher sang die ganze Gemeinde unter Glockengeläute Großer Gott, wir loben dich. Am Ostermorgen hörte ich eine inhaltlich dürftige, als Rede fürchterliche Osterpredigt in der evangelischen Kirche, ging dann in die katholische Kaplankirche, hörte dort noch einen Teil der Predigt und dann die Messe. Am zweiten Feiertage verzichtete ich ganz auf den evangelischen Gottesdienst und hörte gleich katholische Predigt (sehr gut, wenn auch katholisch, über ,Herr, bleibe bei uns …‘) und noch einmal die Messe. Bei allem, was mir sehr abstoßend war (zum Beispiel lateinisches Lesen des Evangeliums; Unaufmerksamkeit der Masse, die in ihren Gebetbüchern las), erschien mir doch die Messe großartig, vor allem durch die wundervolle Musik (Orchester und Chor), besonders das Kyrie, Sanctus und Agnus Dei. Nur muss man eben evangelischer Theologe sein, um das genießen zu können.“ (Postkarte Rottweil, 9. 4. 1912).
Auch aus späteren Familienurlauben gibt es immer wieder Zeugnisse darüber, dass Althaus an katholischen Gottesdiensten teilnahm, insbesondere, wenn ihm der Prediger in den evangelischen Kirchen nicht genügte. Die Tübinger Gottesdienstberichte des Studenten lassen darum schon viel von der grundsätzlichen Auffassung vom Wesen des Gottesdienstes bei dem Prediger und Theologen Paul Althaus erahnen.13 In den Predigten in der Tübinger Stiftskirche fand der junge Student nie Anlass zu fundamentaler Kritik, wenn man von seiner bedauernden Feststellung des Fehlens der Liturgie absieht. Besonders aufmerksam registrierte er die Predigten seiner Professoren und berichtete darüber zum Teil ausführlich an seine Eltern. Immer wieder war er von der Predigtweise gerade 13 Siehe dazu zusammenfassend unten S. 406 f.
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Schlatters besonders beeindruckt, aber er schätzte ebenso Häring oder andere Prediger. Auch fehlte es nicht an Kritik, selbst an Schlatter, dessen Predigten sonst eigentlich immer gelobt werden. Gleichwohl stellte Althaus fest, bei weitem den größten Eindruck als Prediger habe ihm der praktische Theologe Wurster gemacht: „Von dem ersten Augenblick an, wo er auf der Kanzel stand. Er ist eine wahrhaft pastorale Erscheinung; ihm fehlt die Zappeligkeit Schlatters und die manchmal geistreichelnde Feinsinnigkeit Härings. Manche Norddeutsche, die ich nachher sprach, fanden seine Art zu trocken; aber gerade diese Ruhe und Nüchternheit, die nicht einmal verloren geht, gab jedem seiner Worte doppelten Nachdruck, zumal jeder, der Ohren hatte zu hören, die tiefe Wärme merken musste, mit der er sprach. Also Wurster ist wirklich ein Prediger.“ (Seite 320)
Das, was Althaus hier als „Zappeligkeit“ bei Schlatter mit leicht negativem Unterton registrierte, hatte er sonst nie erwähnt. Er nahm offensichtlich diese Form des Predigens bei Schlatter hin, weil sie zu dessen Wesen gehörte und ihm gemäß war. Für sich selbst sah Althaus darin aber wohl keine nachahmenswerte Praxis, weil sie ihm persönlich nicht entsprach. Dass er bei Wurster „eine wahrhaft pastorale Erscheinung“ feststellte, entsprach wohl dem Bild, das er sich von einem wahren Prediger machte und das er in seinem späteren Leben durchaus lebte, wie seine Hörer immer wieder bestätigten. Trotz Verbindungsleben, regelmäßigem Kirchgang und sehr intensivem Fachstudium bewältigte der junge Student nebenbei noch ein erhebliches Lektüreprogramm, das zum Teil in engem Zusammenhang mit den Vorlesungen stand – zur Kirchengeschichte des Mittelalters las er – wie erwähnt – einschlägige Literatur, zur Erkenntnisphilosophie von Adickes studierte er mit Gewinn, wie er schrieb, Kants Kritik der reinen Vernunft. Eher zur theologischen Grundlagenlektüre wird zu zählen sein, wenn er sich in Schleiermachers „Kurze Darstellung des theologischen Studiums“ vertiefte. „Das kleine Schriftchen ist nicht ganz einfach zu lesen, aber bei nachdrücklicher Beschäftigung mit ihm habe ich viel Freude gehabt. Nächstens hoffe ich die ,Reden über die Religion‘, Monologe und andere kleine Sachen Schleiermachers zu lesen.“ (8. 12. 1906, S. 298) Zur Philosophievorlesung von Ritter über Plato arbeitete er nach Windelband die Geschichte der griechischen Philosophie gründlich durch. Nicht weniger gewichtig war die Lektüre von Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, eine Vorlesungsreihe, die 1900 erstmals erschienen und von erheblicher Brisanz für die Gültigkeit des apostolischen Glaubensbekenntnisses war. Der Auseinandersetzung mit der Religionsgeschichtlichen Schule wich der junge Student also nicht aus. Daneben trat ein kleines Buch von Häring über „Unsere persönliche Stellung zum geistlichen Berufe“, und ein Werk von Schmid: „Über das naturwissenschaftliche Glaubensbekenntnis eines Theologen“, von dem er seinem Vater mitteilte, dass dieser es haben müsse, er werde es ihm gelegentlich schenken. (27. 5. 1906, S. 272) Zusätzlich genoss er noch etliche schöngeistige Literatur, 45
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die hier nicht im Detail aufgezählt werden muss. Es bleibt beachtenswert, mit welcher Intensität, Konzentration und auch Geschwindigkeit der Student Althaus ein interessantes Lektüreprogramm neben seinen Vorlesungen und Seminaren zu bewältigen in der Lage war. Es ist zugleich ein Dokument für die umfassende Offenheit und Interessiertheit des Theologen Althaus.
1.3 Göttingen und Erichsburg – Studienabschluss und Vikariat, Promotion und Habilitation Ab seinem vierten Semester, dem Wintersemester 1907/08, studierte Paul Althaus in Göttingen. Das Bild über sein dortiges Studium bleibt ohne ausführliche Quellen, denn er wohnte bei seinen Eltern, so entfielen die wöchentlichen Briefe oder Postkarten. Nur ab und an, wenn seine Eltern oder er in Ferien sind, meldete er sich mit meist kurzen Postkarten. Als Dokument für sein Studium ist allerdings das Göttinger Studienbuch erhalten, aus dem wir die von ihm besuchten Lehrveranstaltungen mit den An- und Abtestaten der Professoren ersehen können. Bis zu seinem siebten Semester im Sommer 1909 besuchte Althaus zahlreiche Vorlesungen und Seminare bei seinem Vater, und zwar sowohl zu systematischen wie praktisch-theologischen Themen. Daneben hörte er mehrfach den bedeutenden Alttestamentler Rudolf Smend, aber er belegte auch Vorlesungen und Seminare bei Titius, der eher der liberaltheologischen Richtung zuzurechnen war und seit 1906 in Göttingen neben seinem Vater die Systematische Theologie vertrat. Er saß auf dem Lehrstuhl, den einst Ritschl eingenommen hatte. Im Fach Neues Testament nahm Althaus an einem Seminar bei Emil Schürer, dem Gründer und – zusammen mit Harnack – Herausgeber der „linken“ Theologischen Literaturzeitung teil. Seine quellenkritischen und historisch-religionswissenschaftlichen Studien zum frühen Christentum und Judentum wiesen ihn als modernen Theologen aus. Der religionsgeschichtlichen Schule stellte sich Althaus auch noch in seinem letzten Semester, dem Wintersemester 1910/11, als er schon sein kirchliches Examen abgelegt hatte. Jetzt hörte er eine Vorlesung über die Apostelgeschichte bei Julius Wellhausen. Dieses Faktum ist deshalb interessant, weil Wellhausen – ursprünglich Alttestamentler – in Göttingen in der Philosophischen Fakultät einen Lehrstuhl für Orientalistik innehatte, aber aus dieser Perspektive sich intensiv mit dem sprachlichen und geistesgeschichtlichen Umfeld des Neuen Testamentes beschäftigte und einschlägige Vorlesungen anbot. Die Modernität seiner Methoden wandte sich in gleicher Weise gegen die liberale Theologie wie den traditionellen Dogmatismus. Wellhausen stand der verfassten Kirche sehr kritisch gegenüber. Später sollte Bultmann auf ihn aufbauen. In seinem Lebenslauf aus dem Jahr 1927 hielt Althaus fest: 46
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„Von Herbst 1907 bis Ostern 1911 studierte ich in Göttingen, im Elternhause. Meinem Vater danke ich auch als theologischem Lehrer sehr viel: Er wies mich auf Luther und die Bekenntnisschriften und gab mir in seinen systematischen Kollegs das Erbe der Erlanger Theologie weiter. An religionsgeschichtlichen Theologen ging ich vorbei, lernte sie aber literarisch genau kennen.“14
Man wird diese Passage nicht zu eng interpretieren dürfen. Er las nicht nur die Vertreter der modernen Theologie, sondern beschäftigte sich im Studium intensiv mit ihnen, hörte ihre Vorlesungen und ging auch in ihre Seminare. So sehr Paul Althaus in seinem ganzen Leben an einer kirchlichen Funktion der Universitätstheologie festhielt, so offen und interessiert nahm er alle aktuellen Strömungen der Theologie wahr, setzte sich mit ihnen auseinander und versuchte, von ihnen zu lernen, selbst wenn er sich von ihnen inhaltlich abwandte oder nicht alle ihre Konsequenzen teilte. Seine differenzierte Haltung lässt sich auch in einem Brief aus dem Jahre 1912 erkennen, als er seinen Eltern aus Anlass einer Kritik der konservativen Kirchenpresse an dem Berliner Generalsuperintendenten Lahusen schrieb, diese Kritiker seien: „zu eng. Was sie im tiefsten Grunde wollen, teile ich auch. Aber dass sie den Eindruck erwecken, als hinge das an der Terminologie des Apostolikums, ist – scheint mir – ein Verhängnis. Heute Morgen las ich Lahusens Predigt, die ein Wort Schlatters als Motto trägt. Ich finde er hat gepredigt, was alle positiven Universitätstheologen seit Jahren gepredigt haben. Ein Jammer ist nur, dass die Gemeinden nicht wissen, dass die positiven Theologen auch kritisch arbeiten. Die Berliner Orthodoxie will das verdecken … tut, als wenn die Jungfrauengeburt als historischer Hergang notwendiges Glaubensobjekt wäre. Da kann ich nicht mit.“ (Brief vom 28. 7. 1912)
Der Streit um das Apostolikum, der um die Jahrhundertwende – mit ausgelöst durch Harnack – die Gemüter erregte, wird hier spürbar. Althaus positioniert sich eindeutig „links“, auch wenn er sich als „positiven Theologen“ begreift. Dieses Briefzitat umschreibt die Position von Paul Althaus nach dem Ende seines Theologiestudiums. Bereits im Frühjahr 1910 hatte er nach seinem achten Semester sein erstes kirchliches Examen in Hannover abgelegt. Er trat jedoch nicht sofort in den kirchlichen Dienst ein, sondern studierte das Sommersemester 1910 und das Wintersemester 1910/11 weiter in Göttingen. Allerdings war er jetzt laut Ausweis seines Studienbuches nicht mehr als Student der Theologie, sondern als Student der Geschichte eingeschrieben. Schon seit dem Wintersemester 1907/08, seinem ersten Göttinger Semester, hatte er bei dem Neuhistoriker und lutherischen Protestanten Max Lehmann, der auch mit seinem Vater gut bekannt war, regelmäßig und mit steigender Intensität gehört15. Waren es in den ersten zwei Göttinger Se14 FAU-Archiv, Goldenes Buch, Nr. 139. jetzt abgedruckt bei Liebenberg, 2008, S. 583 ff. 15 Max Lehmann (1845 – 1929), seit 1893 Ordinarius in Göttingen, profilierte sich mit zahlreichen Arbeiten zu Luther, vor allem aber durch seine Biographien über Stein, dessen deutsche und nicht nur peußischen Motive er betonte, und Scharnhorst, stand im Konflikt mit den politi-
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mestern nur einstündige Vorlesungen Lehmanns zur deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert gewesen, so kam im Wintersemester 1908/09 eine vierstündige Hauptvorlesung dazu, aber den fünf historischen Vorlesungsstunden standen noch insgesamt 23 theologische Lehrveranstaltungsstunden gegenüber. Im Sommersemester 1909, seinem siebten Semester, verschoben sich die Relationen erheblich. Obwohl das kirchliche Abschlussexamen noch bevorstand, belegte Althaus doppelt so viele Lehrveranstaltungen in Geschichte als in Theologie, darunter jetzt auch eine Übung bei Lehmann. Seinem Bruder Wilhelm berichtete er, Lehmann habe seine Seminararbeit „sehr gelobt, so dass ich bei ihm nun Hahn im Korbe bin“ (Brief vom 4. 7. 1909). In seinem achten Semester – unmittelbar vor dem kirchlichen Examen – besuchte er keine theologische Lehrveranstaltung, aber ein Hauptseminar bei Lehmann. Althaus plante jetzt, bei Lehmann über die älteste Schulgeschichte in Niedersachsen zu promovieren, doch die Promotion scheiterte – wie wir seinem Lebenslauf von 1927 entnehmen können – „an einer gesundheitlichen Depression“. Zahlreiche Hinweise auf seinen problematischen Gesundheitszustand in den Jahren 1909 bis 1914 finden wir in vielen Postkarten und Briefen, die er an seine Eltern und Brüder aus Göttingen oder Urlaubsorten sandte. Erstmals taucht in einem Brief an seinen Bruder Wilhelm vom 14. Mai 1909 die Bemerkung auf, er habe sich bei einer Wandertour „etwas überanstrengt und seit Freitag mit einer gelinden Herzerweiterung zu tun. Morgen hoffe ich wieder in die Vorlesungen gehen zu können.“ Seinen Eltern berichtet er im August, er habe eine Reise wegen Herzbeschwerden abgebrochen. Im April 1910 und im März 1911 machte Althaus – wohl auf Drängen der Eltern – Erholungsurlaub im Schwarzwald. Mehrfach berichtete er von seinen Herzproblemen, die langsam abklingen, aber er betont auch, dass er sich schont, aufs Schwimmen verzichtet und keine allzu großen Aktivitäten unternimmt. Im Frühjahr 1910 verzichtete er zunächst – auch auf Anraten seiner Tante, bei der er in Rottweil wohnt, auf einen beabsichtigten Besuch in Tübingen bei seiner Verbindung, seinem dort studierenden Bruder und seinen Professoren. Weil es ihm besser ging, realisiert er dann die Reise am Ende seines Aufenthaltes in Rottweil doch. Im Sommer 1910 musste er während der Vorlesungszeit in die Klinik wegen Magenbeschwerden, so dass er schließlich das ganze Semester als Erholungssemester bezeichnet. (Postkarte an Bruder Wilhelm 9. 6. 1910). Auch in den späteren Briefen vom Predigerseminar auf der Erichsburg aus den Jahren 1911 bis 1913 und aus seiner Privatdozentenzeit in Göttingen 1914 finden sich immer wieder Bemerkungen über Beschwerden am Herzen und Magen. sierten borussisch orientierten Historikern Treitschke und Sybel, gehörte zur Ranke-Renaissance und vertrat eine Bismarck gegenüber sehr kritische Sicht des deutschen Einigungsprozesses, fühlte sich einem vormärzlichen idealen Liberalismus verpflichtet – mit protestantischkulturkämpferischen Tönen, übte Kritik an der Wilhelminischen Weltpolitik.
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Offensichtlich war sein Gesundheitszustand so prekär, dass Paul Althaus nach dem Wintersemester 1910/11 – seinem insgesamt zehnten Semester – sein Geschichtsstudium abbrach. Im Frühjahr 1911 trat er in das Predigerseminar auf der Erichsburg ein. Mit dieser Entscheidung gab er seinen Plan, in Geschichte zu promovieren, auf. Die Motive, die ihn zu dieser ursprünglichen Absicht geführt hatten, bleiben im Dunkel. Neben einem sehr lebendigen historischen Interesse und dem guten Kontakt zu Max Lehmann stand hinter diesem Promotionsversuch gewiss auch der Wunsch, einen Doktortitel zu erwerben, den Theologen damals in ihrer Fakultät nicht erreichen konnten, da hier nur der Lizentiatentitel vergeben wurde. Ein Doktortitel war für die akademische Karriere – auch im Bereich der Theologie – gewiss förderlich, aber nicht notwendig. Darum verzichtete Althaus in seiner besonderen Situation 1911 auf die Fortführung des Promotionsprojektes, konzentrierte sich auf das Notwendige und trat in den Kirchendienst ein, um dann noch im Predigerseminar mit einer theologischen Lizentiatenarbeit zu beginnen, um die Voraussetzung für eine spätere Habilitation zu schaffen. Für die Lebensplanung von Paul Althaus kann man hier erkennen, dass sein intensives Geschichtsstudium keineswegs als Abwendung von der Theologie interpretiert werden darf. Bei aller Unentschiedenheit, ob er eine akademische Karriere anstreben oder in den Kirchendienst gehen solle, wird aber zugleich deutlich, dass er sich beide Optionen offen halten wollte und deshalb die notwendige Lizentiatenarbeit anstrebte, die zusätzliche wünschenswerte aber nicht unbedingt erforderliche Promotion jedoch aufgab. Somit begann im April/Mai 1911 die erste berufliche Phase im Leben von Althaus, die zunächst freilich noch als kirchliche Ausbildung im Predigerseminar gestaltet war. Anschaulich berichtete er in Briefen und Postkarten seinen Eltern vom Alltag und vom Sonntag im Predigerseminar, von seinen Seminarkollegen, den Dozenten und vor allem auch vom Seminarstudiendirektor Marahrens, dem späteren Hannoverschen Landesbischof. Da er nun im kirchlichen Dienst war, bekam er für den April 1911 erstmalig auch Gehalt – 25 Mark –, wie er stolz mitteilte. Die Seminarteilnehmer wurden in alle Aspekte ihres Amtes eingeführt und lernten, dieses Amt in seiner Bedeutung auch nach außen zu dokumentieren. Darum ließ sich Althaus „hier, wie es Usus ist, einen Chorrock anfertigen“ und bestellte angesichts des bevorstehenden Besuches eines „Oberkonsistorialrates“ dringend „weiße Handschuhe“. (Brief vom 14. 5. 1911, Postkarte vom 23. 5. 1911) 1912 nutzte er einen Besuch zu Hause, um sich seinen „Cylinder“ zu holen. (Postkarte von 9.4.1012) Standesgemäße Kleidung war damals noch ein unhinterfragtes „Muss“. Das Kollegprogramm, das die Teilnehmer jeden Morgen zu absolvieren haben, findet seine Kritik. Es füllt ihn nicht aus. Seine Vorstudien für die Dissertation bei Max Lehmann nutzt er, um eine Pflichtarbeit im Predigerseminar zu erstellen, die sich mit Schul- und Unterrichtsproblemen beschäftigte – ein damals wichtiges Thema für Pfarrer wegen der noch gesetzlich vorgeschriebenen geistlichen Schulaufsicht. Die daraus entstandene Quel49
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lenedition ist die erste wissenschaftliche Publikation von Paul Althaus16. Intensiv und „mit Gewinn“ arbeitete er Schlatters Dogmatik durch, um darüber im Kurs zu referieren. Im Frühjahr 1913 legte Althaus dann die Zweite Dienstprüfung ab. Nun musste er entscheiden, ob er sich sofort in den kirchlichen Dienst übernehmen lassen wollte, oder ob er, um seine Lizentiatenarbeit zielstrebig zu Ende zu bringen, noch einmal in Göttingen studieren sollte. Aus der Göttinger Fakultät war ihm bereits im Frühsommer 1912 nahegelegt worden, sich um die Stelle eines Repetenten am Göttinger Stift zu bewerben. Da mit dieser Stelle jedoch das Verbot der Habilitation verbunden war und er sich außerdem im Sommer 1912 noch unsicher war, ob er nicht doch noch zum Militär müsse, schlug er dieses Stellenangebot damals aus. (Brief vom 12. 5. 1912) Offensichtlich war er aus gesundheitlichen Gründen immer wieder vom Wehrdienst zurückgestellt worden. 1913 wurde dann definitiv klar, dass er nicht eingezogen wurde, weil Theologen nach der zweiten Dienstprüfung nicht mehr dienen mussten. Bei der Ablehnung der Stiftsstelle in Göttingen war seine – wie er dem Vater schrieb – „stillschweigende Voraussetzung …, dass ich im nächsten Sommer noch einmal auf Vaters Kosten studieren darf.“ Auch Marahrens habe ihn in dieser Richtung beraten und unterstütze seinen Wunsch. Er wolle „sofort mit der Lizentiatenarbeit“ beginnen. (Brief vom 12. 5. 1912) Der Vater stimmte zu. Das eröffnete ihm die Möglichkeit, nach der Ablegung der zweiten Prüfung im Frühjahr 1913 nicht sofort in den Kirchendienst zu gehen, sondern konzentriert den Sommer über an der Lizentiatenarbeit zu arbeiten und sich dadurch die Alternative einer Universitätslaufbahn offen zu halten. Im Herbst 1913 reichte Althaus seine Arbeit bei dem Nachfolger seines Vaters in Göttingen, Carl Stange, ein. Dieser bewertete die Arbeit und die im Dezember 1913 anschließende mündliche Prüfung mit der Note „summa cum laude“.17 Diese Note eröffnete Althaus gemäß der damals geltenden Göttinger Habilitationsordnung die sofort genutzte Chance, nach Ableistung eines zusätzlichen Kolloquiums, das bereits im Januar 1914 stattfand, die Venia legendi und den Status eines Privatdozenten zu erwerben. Nach der Habilitation begann Althaus erfolgreich mit Lehrveranstaltungen. Am 15. Mai berichtete er seinem Vater, dass er geldlich keine Unterstützung mehr brauche, zumal er ein Stipendium beziehe und darauf noch eine Zulage bekomme. Er resümierte, dass er in seinem Berufe „tiefste Befriedigung“ finde: „Ich denke jetzt nicht mehr an ein Übergehen ins Pfarramt. Denn das, was ich im Winter noch vermisste, etwas der Predigtarbeit des Pastors Ähnliches, habe ich jetzt in meinem sehr geliebten homiletischen Proseminar. Stange und ich gestanden uns gestern, dass es uns die liebste Arbeit in der Woche wäre. Nirgends hat man so sehr 16 Paul Althaus, 1911/12. 17 Zur Veröffentlichung vgl. P.A., 1913 (2) und 1914 (1).
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das Gefühl, den Leuten etwas ganz Positives und Reales geben zu können. … Ich denke (und habe es auch schon gehört), dass auch die Studenten Freude an den Stunden haben.“ (Brief vom 15. 5. 1914).
Der junge Dozent nahm seine Lehrverpflichtungen sehr ernst. Für dieses homiletische Proseminar (Einführung in die Predigtlehre) nahm er sich viel Zeit, „da ich den Herren wirklich eine eingehende Kritik an den Rand schreibe. Da es allsonnabendlich drei Entwürfe mit meist ganzer Predigt dazu sind und ich für den Entwurf fünf Viertelstunden rechne, dazu die eigenen Gedanken herbeischaffen muss, kostet das Proseminar mindestens vier bis fünf Stunden Vorbereitung. Die ist es aber auch wert. Die Besprechungen mit Stange sind sehr förderlich.“ (Brief vom 13. 6. 1914).
Auch in den folgenden Briefen an seine Eltern, spürt man deutlich, wie er mit ganzem Herzen sein Leben als theologischer Privatdozent an der Universität gestaltete. Er führte lebhafte Gespräche, sowohl mit Studenten als auch mit Kollegen, nahm an Veranstaltungen der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (DCSV) teil und diskutierte mit Kollegen und Professoren. Engste Verbindung hatte er zu Stange. Offensichtlich war der Kontakt unter den Professoren und Dozenten gut. Althaus wurde häufig eingeladen. Auch traf man sich bei Veranstaltungen studentischer Gruppierungen, wo gemeinsam diskutiert wurde oder wo Althaus auch schon einmal einen Vortrag hielt. Das Ganze diente auch der Positionsfindung. Zu seinem Vortrag, den er in der DCSV hielt, schrieb der junge Privatdozent, er habe ihm zwar viel Arbeit gemacht, aber „mich theologisch sehr gefördert und meine Achtung vor Ihmels’ Wahrheitsgewissheit etwas erschüttert, so sehr ich seinen schließlichen Standpunkt teile.“18 Althaus, so darf man diese kurze Bemerkung zu dem Leipziger Kollegen seines Vaters und positiven Theologen Ihmels kommentieren, ließ sich nicht auf Schulen einseitig festlegen, blieb offen, suchte nach wie vor zu lernen, um seinen eigenen Standpunkt zu formulieren. Wie wenig verhärtet die theologischen Fronten in der Fakultät waren, belegt der Umstand, dass Althaus hervorhob, „auch von Bousset“, dem Haupt der religionswissenschaftlichen Schule, „viel zu haben“. Bousset besuche ihn von Zeit zu Zeit und rede „dann stundenlang sehr interessant von seinen neuesten Arbeiten über Apollonius von Tyana.“ (Brief vom 15. 5. 1914) Die immer wieder erwähnten Kontakte zur Deutschen Christlichen Studentenbewegung (DCSV) belegen darüber hinaus das kirchliche Engagement von Paul Althaus und sein lebendiges Interesse an der Weltmission. 1913 hatte er an der Halleschen Studentischen Missionskonferenz teilgenommen und in der Zeitschrift des Schwarzburgbundes ausführlich und differenziert über die Christliche 18 Ludwig Ihmels (1858 – 1933) Systematischer Theologe 1898 in Erlangen, seit 1902 in Leipzig, Vertreter einer eher konservativen Offenbarungstheologie, enger Kollege von Paul Althaus d.Ä. in dessen Leipziger Zeit, seit 1922 sächsischer Landesbischof.
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Studentenmissionsbewegung gerade auch in ihrer internationalen Dimension berichtet.19 Vom Privatleben des jungen Privatdozenten erfahren wir nicht viel. Mit Emanuel Hirsch, dem später ebenso bedeutenden wie umstrittenen Theologen, der mit ihm im gleichen Semester promoviert hatte, begann er eine lebenslange Freundschaft, die auch viele sachliche Konflikte überdauerte. In einem mehrseitigen Text, den Hirsch 1966 nach Althaus Tod schrieb, schildert er den Anfang ihrer Beziehungen. Sie seien mehrere Tage während der Pfingstwoche zu zweit im Thüringer Wald gewandert und hätten dabei intensive fachliche und persönliche Gespräche geführt, aber es sei typisch für den sehr distanzierten, etwas unnahbaren Paul Althaus, den um einige Monate Älteren von ihnen beiden, gewesen, dass er ihm erst am Ende der mehrtägigen Wanderung schließlich doch das Du angeboten habe.20 Mit dem Beginn der beruflichen Laufbahn stellte sich auch die Frage der Distanz zum anderen Geschlecht neu. Jetzt berichtete der frischhabilitierte Privatdozent seinen Eltern von Einladungen zu Tee und Tanz und kommentiert: „es ist doch schade, dass ich nicht tanze“. Dabei vergisst er jedoch nicht zu erwähnen, dass auch sein Kollege und Mitdoktorand Emanuel Hirsch nicht tanze. Der unüberhörbar bedauernde Unterton und Hintergrund dieser Feststellungen wird in einem späteren Brief deutlich: „Im Allgemeinen gestanden Hirsch und ich uns vorgestern Abend, dass der Junggesellenbetrieb uns nicht mehr schmeckt. Es ist nicht das Richtige, nach einem heißen Stundenplan des Tages dann abends auch allein zu essen. Ihr seht, die negativen Vorbedingungen für entscheidende Neuerungen in meinem Leben sind bereits da, mehr aber auch nicht.“ (NLA, K2, Briefe vom 14.1., 8.2., und 13. 6. 1914)
Nach Promotion, Habilitation und zweiter Dienstprüfung bei der Landeskirche war Paul Althaus jetzt im klassischen Sinne heiratsfähig und – wie der Text erahnen lässt – grundsätzlich heiratswillig. Fast vermeint man zu spüren, dass im Elternhaus auch entsprechende Erwartungen gehegt wurden. Als Beleg mag eine Postkarte an seinen Bruder Gerhard vom 11. 5. 1914 gelten, wo wir lesen: „Ernst verlobt sich, glaube ich, recht bald. Ich nicht.“ Allerdings erwies sich nun seine bisherige Zurückhaltung gegenüber dem Tanzen – auch in der Selbstwahrnehmung – als eher hinderlich, so geboten sie früher auch gewesen sein mochte. Jedoch war es – seiner Meinung nach – jetzt zu spät, um das Versäumte nachzuholen. Althaus hielt sich sein Leben lang – zum Kummer seiner temperamentvollen Frau – vom Tanzen fern. Natürlich durften seine Kinder Tanzen lernen. Aber erst die Braut seines jüngsten Sohnes erlaubte dem Siebzigjährigen bei ihrer Hochzeitsfeier keine Ausrede, als sie ihn zum 19 Vgl. P.A., 1912/13. 20 Die Kenntnis des bislang unveröffentlichten Textes im Umfang von 12 eng beschriebenen Schreibmaschinenseiten verdanke ich Herrn Prof. Dr. Hans Friedrich Geißer, Zürich. Eine Kopie befindet sich jetzt in NLA K 11 a.
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Ehrentanz aufforderte. Sie erntete das Eingeständnis: das sei sein erster Tanz, aber doch sehr schön gewesen. (Bericht Eva Maria Althaus) Von der Politik im engeren Sinne hielt sich der junge Althaus eher fern. Nur die Reichstagswahlen 1907 und 1912 werden in den Briefen dieser Jahre kurz angesprochen: aus Tübingen berichtet er seinen Eltern Ende Januar 1907 ausführlich über den festlichen „Kaiserkommers“ bei den Nicaren und fügt hinzu: „Alles stand natürlich unter dem Eindruck der Wahlresultate, die bis abends so ziemlich bekannt waren, und kräftige Worte gegen die „Schwarzen“ und „Roten“ durchzogen Reden und Kneipzeitungen … Der Ausgang der Wahlen hat mich überrascht und erfreut. Unbegreiflich ist mir der Rückgang der Welfen“ (31. 1. 1907, S. 303 f.)
Man spürt hier den Niedersachsen Althaus, dem die Annexion Hannovers durch Bismarck 1866 noch sehr bewusst ist und der deshalb bei aller Reichstreue Preußen gegenüber Reserven spüren lässt. Noch 1914 nimmt er – wie er seinem Bruder schreibt – in Göttingen an einer Feier zu Ehren des angestammten, von Bismarck entmachteten hannoverschen Fürstenhauses der Welfen teil. (11. 5. 1914) Die Freude über das Wahlergebnis 1907 resultierte bei Althaus aus dem deutlichen Stimmenrückgang bei der Sozialdemokratie, der diese Wahlen kennzeichnete, und der Isolierung des Zentrums, das seiner Funktion als Mehrheitsbeschaffer für die Konservativen verlustig ging. Dieser Positionsverlust war die Folge der Weigerung des Zentrums, zusätzliche Gelder für den erbarmungslosen Vernichtungskrieg gegen die aufständischen Hereros in Deutsch-Südwest-Afrika zu bewilligen, was es der Regierung erlaubte, den Reichstag vorzeitig aufzulösen und an die patriotischen Gefühle der Wählerschaft zu appellieren. Darum wurden diese Wahlen polemisch als „Hottentotten-Wahlen“ bezeichnet. Die Brisanz dieser Ereignisse ist in den kurzen Notizen von Althaus nicht spürbar, war in der Öffentlichkeit wohl auch kaum bewusst. Die nationale Stimmung obsiegte. In der Folgezeit bekam der sog. Bülow-Block, eine Kooperation konservativer und liberaler Parteien entscheidenden Einfluss auf die Regierungspolitik. In den „Erdrutsch“-Wahlen 1912 gewann dann jedoch die SPD sensationell und steigerte ihre Mandate von 43 auf 110. Im Predigerseminar auf der Erichsburg waren die Wahlergebnisse Gegenstand intensiver Gespräche: „Geistig beherrscht uns am meisten die Reichstagswahl: unsere Tischgespräche, unsere gegenseitigen Budenbesuche, die kleinen Gereiztheiten, die herüber und hinüber spielen, werden dadurch bestimmt … Sonst ist ja die arme Wirtschaftl. Vereinigung übel zerfetzt: der famose Lattmann verdrängt! Schade, schmerzlich! Aber Naumanns Durchfall ist mir Gegenopfer. Jedenfalls haben sich im Ganzen die Liberalen gründlich verrechnet: sie selber kommen sehr geschunden in den Reichstag.“ (14. 1. 1912)
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Bei aller Vorsicht, die bei der Interpretation solch knapper und vereinzelter Bemerkungen angezeigt ist, wird man doch erkennen können, dass Althaus konservativ und christlich-sozial orientiert war. Die Wirtschaftliche Vereinigung war die Fraktionsgemeinschaft der Christlich-Sozialen (Stoecker) mit den Antisemiten und Deutsch-Sozialen; der ehemalige Pfarrer und Sprecher der National-Sozialen Friedrich Naumann dagegen stand für die linksliberale Fortschrittspartei und ihr Drängen auf Parlamentarisierung, sozialen Ausgleich und politische Einbindung der Sozialdemokratie. Das eigentliche politische Profil von Paul Althaus lässt sich hier noch nicht klar bestimmen, es ist wahrscheinlich auch noch keinesfalls festgelegt, entsprach in seiner Anlage allenfalls dem Milieu des kirchlich gebundenen lutherischen Protestantismus. Der äußerst geringe Stellenwert, den politische Vorgänge in den Familienbriefen des jungen Althaus einnehmen, ist für Familienbriefe gewiss nicht untypisch, entspricht aber auch der gelebten Wirklichkeit dem Pietismus nahestehender lutherischer Pfarr- und Professorenfamilien, ihrer relativen Politikferne sowie ihrer national- und sozialkonservativen Grundhaltung. Soweit für das grundlegende Begreifen von Politik das Verständnis von Nation und Volk in diesen Jahren besonders bestimmend war, so kann man aus den Quellen des jungen Althaus die nationale Stimmung nach der Reichseinigung spüren. In den Verbindungsliedern und den Kaisergeburtstagsfeiern wird das ebenso deutlich wie aus seinem Welfenbewußtsein. Gerade der Verlust der landesherrlichen Souveränität in Hannover ließ ihn umso entschiedener auf den deutschen Nationalstaat setzen. Jede Nation – so hatte schon der dezidiert protestantische Historiker Leopold von Ranke erklärt – habe ihre Natur von Gott und der Verlauf der Geschichte bestehe darin, diese ganz besondere Natur jeder einzelnen Nation „auf die von Gott geforderte Weise selbständig auszubilden.“ Und wenn Ranke darüber hinaus formulierte, die Staaten seien „originale Schöpfungen des Menschengeistes … man darf sagen: Gedanken Gottes“21, dann erschien die Erringung der nationalen Einheit 1870/71 gleichsam als das ebenso natürliche wie gottgewollte Ziel der deutschen Geschichte. Bei seinem Göttinger Lehrer Max Lehmann war Althaus diesem Rankeanischen Geschichtsbild begegnet. Im Nachlass finden wir dazu zwar nur eine Vorlesungsmitschrift über „Deutsche Geschichte im Zeitalter Bismarcks bis zur Begründung des Reiches“ aus dem Wintersemester 1908/09 (NLA, K6). Dieses sorgfältig geführte Heft lässt erkennen, dass Lehmann eine stark Bismarck-kritische Sicht des deutschen Einigungsprozesses vermittelte. Die Kriege gegen Dänemark, gegen Österreich und vor allem gegen Frankreich werden als kühl kalkulierte Instrumente dargestellt, um den preußisch beherrschten kleindeutschen Nationalstaat entstehen zu lassen. So notiert Althaus als eine Lehmannsche These: „Die Ereignisse von 1866 und 1871 sind so sehr Werk Bismarcks, dass man sich hüten muß, sie für die einzig mögliche Lösung der deutschen Frage zu halten“ (Kollegheft S. 4), Lehmann dachte 21 Vgl. statt vieler Einzelhinweise Hagen Schulze, 2004.
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nicht so sehr von Preußen her, bejahte aber den Prozess der Nationsbildung insgesamt, bezog sich in seinem Geschichtsverständnis auf Ranke und prägte zweifellos das Geschichtsbild des Geschichtsstudenten Althaus. Man wird diese Zusammenhänge im Auge zu behalten haben, wenn man das spätere politische Denken von Paul Althaus begreifen will. Der Beginn des Ersten Weltkriegs Anfang August 1914 brachte jedoch für den jungen Privatdozenten Althaus am Ende seines ersten Semesters als aktiver Hochschullehrer den Einbruch der Politik in sein Leben und den Abschied von konkreten Karriere-Planungen, die sich aus Andeutungen seiner Briefe erschließen lassen. Das Vaterland rief, da mussten diese Pläne zurückstehen. Da er nicht gedient hatte und als Pfarrer mit Zweiter Dienstprüfung rechtlich nicht eingezogen werden konnte, meldete er sich freiwillig zur Landwehr und wurde zum Sanitätsdienst eingeteilt.
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2. Der Erste Weltkrieg. Das gute Gewissen eines frommen deutschen Pastors und die Fügungen Gottes „Die Urkatastrophe Deutschlands“, so überschrieb im Jahre 2002 Wolfgang J. Mommsen, einer der führenden Kenner des 19. und frühen 20. Jahrhunderts seine die aktuelle Forschung zusammenfassende Darstellung des Ersten Weltkriegs in der neubearbeiteten 10. Auflage des Gebhardtschen Handbuches der deutschen Geschichte. Er variierte damit eine Formulierung G.F. Kennans und verwies darauf, dass unter den Historikern „weithin Einigkeit in dieser Einschätzung“ bestehe: der Erste Weltkrieg gilt als Auslöser des Niederganges des Bürgertums, als Anfang gewaltiger wirtschaftlicher, sozialer und mentaler Umwälzungen und als Beginn der gesellschaftlichen Destabilisierung sowie als Inkubationsphase des extremen völkischen Nationalismus und des rassischen Antisemitismus1. „Bis heute als Höhe meines Lebens“, so bezeichnete Althaus die Zeit von 1914 – 1918 in einer Rückschau aus dem November 1927 – also nach rund zehn Jahren.2 Auch wenn das individuelle Erleben sich durchaus vom kollektiven Schicksal abheben kann, angesichts der heutigen Einsichten und Perspektiven, mit denen wir – aus dem Abstand von gut achtzig Jahren – die Katastrophe des Ersten Weltkrieges interpretieren, erscheint die zeitnähere Wertung von Althaus provozierend, für das historische und biographische Verständnis ist sie jedoch ebenso produktiv wie spannungsvoll. Den Herausforderungen und Erfahrungen dieser Jahre, den Stimmungen, in denen Althaus sie erlebte, und den Deutungen, die er ihnen gab, gilt es in diesem Kapitel nachzugehen. Es ist die Frage zu stellen, wieweit diese Jahre sein Verständnis der Politik und sein späteres Wirken als Professor und Prediger bestimmt haben und wie das persönliche Leben und die kollektive Katastrophe ineinander greifen. Zu allererst ist jedoch davon zu erzählen, wie und wo Althaus in diesen Jahren gelebt hat. Ist doch bei aller sozialen oder mentalen Formung durch Herkunft und allgemeine Zeitumstände dem konkreten Umfeld, in das man in prägenden Lebensphasen gestellt ist, entscheidende Bedeutung zuzumessen. Althaus arbeitete den ganzen Weltkrieg als uniformierter Angehöriger des Heeres im heutigen Polen, allerdings nie bei der kämpfenden Truppe, sondern 1 Wolfgang J. Mommsen, 2004, S. 14. 2 So in seinem handgeschriebenen Lebenslauf von 1927 im „Goldenen Buch“ der Universität Erlangen. (UA Erlangen, jetzt abgedruckt bei Liebenberg, 2008, S. 583 ff.).
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in der „Etappe“. Zunächst wirkte er als Hilfssanitäter in einer Rote-KreuzKompanie in verschiedenen Lazaretten. Dann meldete er sich zum Dienst als Lazarettpfarrer und wurde ab Ende Januar 1915 in der Nähe von Lodz eingesetzt. Mitte August 1915 beorderte ihn die Heeresleitung gegen seinen Wunsch als „Gouvernementspfarrer“ nach Lodz, wo er bis zum Kriegsende im November 1918 eine umfassende Tätigkeit entfaltete. Hier verlobte er sich 1917 mit einer aus einer deutschen Lodzer Familie stammenden jungen Frau. In Warschau, wo deren Eltern lebten und sie berufstätig war, wurde im Februar 1918 die Hochzeit gefeiert. – Geplant waren diese Lebensstationen, von denen im Folgenden detailliert zu berichten ist, nicht, sie waren eher Ergebnisse von Zufällen oder Entscheidungen anderer oder – in der Sprache pietistischer Frömmigkeit – „Fügungen“3.
2.1 Der Kriegsdienst und unser Gottesglaube – Freiwilliger Hilfssanitäter und Lazarettpfarrer vom August 1914 bis August 1915 Am Beginn des Krieges fällte Paul Althaus jedoch eine klare Entscheidung. Hatte er am 26. 7. 1914 noch seinem Vater sorgenvoll mitgeteilt: „Am Sonnabend ist Disputation mit Traugott Schmidt – wenn nicht inzwischen der Krieg da ist. Ich fände es schrecklich, da für uns jetzt der Krieg gar keinen Sinn hat und nur Schaden bringen kann. Dies verfluchte Russland!“
so heißt es vier Tage später, am 30. 7. 1914: „Da ich jetzt mit dem Kriegsausbruch als sicher rechne, … werde ich sofort mich entweder als freiwilliger Krankenpfleger oder als Schreiber etc. den Behörden zur Verfügung stellen.“
Althaus war in den Jahren zuvor aus gesundheitlichen Gründen immer wieder vom Wehrdienst zurückgestellt worden und seit 1913 als Pfarrer mit zweiter Dienstprüfung auch nicht mehr zur Truppe einziehbar. Darum meldete er sich jetzt freiwillig und zwar zum Landsturm. Sein Göttinger akademischer Lehrer Carl Stange wolle – wie Althaus seinem Vater am 4. 8. 1914 berichtete – Feldprediger werden und rate ihm auch dazu. „Doch sehe ich vorerst davon ab, da ich mich nicht um die Waffe drücken will.“4 Tatsächlich wurde er dann einer 3 Schon der Primaner Paul Althaus hatte diesen Begriff verinnerlicht und benutzte ihn in seinem Tagebuch in einem typischen Zusammenhang. Vgl. das Zitat oben S. 30. 4 Über seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg hat Althaus in zahllosen Briefen und Postkarten an seine Eltern berichtet – von August 1914 bis Jan. 1915 allein 55 – (NLA K2 und K3). Bei Zitaten aus diesen Quellen sind im Text in Klammern nur die Daten der entsprechenden Briefe oder Postkarten angegeben. Die folgende Darstellung stützt sich im Wesentlichen auf diese persönlichen
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Sanitätskompanie des X. Armeekorps zugeteilt und bekam in Göttinger Kliniken eine erste Grundausbildung, dann ging es nach Berlin, wo Exerzierübungen (Marschieren, Grüßen usw.), Einkleidung und weitere SanitätsÜbungen folgten. Schon am 20. August wurde die Kompanie in das damals westpreußische Dirschau an der Weichsel, 35 km südlich von Danzig, verlegt. Nach einigen Tagen des Wartens und weiterer Übungen, gab es am 28.8. den ersten Arbeitseinsatz. Die nicht weit vom Lazarett eben geschlagene Schlacht bei Tannenberg hatte zuvor Flüchtlinge und jetzt zahlreiche Verwundete nach Dirschau gebracht. Auch „das Niederste“ bekam Althaus zu tun, „aber man hilft ja“ (29. 8. 1914). War er anfangs froh, nicht im Operationssaal eingesetzt zu sein, so lernte er schnell das Verbinden auch schrecklicher offener Wunden und war nach kurzer Zeit ein offenbar qualifizierter Mitarbeiter im Operationssaal. Wenn Jahrzehnte später seine Kinder sich einmal das Knie blutig aufgeschlagen oder den Arm verwundet hatten, dann verband der Vater die blutenden Wunden mit großer Sachkenntnis und Geschicklichkeit und erzählte mit deutlichem Stolz von seinen fachlichen Erfahrungen in den Lazaretten aus dem Ersten Weltkrieg.5 Unverkennbar waren die Hilfskrankenpfleger nicht voll ausgelastet; insbesondere wenn die kämpfenden Fronttruppen weiter vorrückten und die Zahl der frisch Verwundeten abnahm. Zudem ließ die fehlende Ausbildung nicht jeden Arbeitseinsatz zu. Vieles verblieb bei den hauptberuflich tätigen Krankenschwestern. Althaus nutzte die entstehende freie Zeit für Gespräche mit Schwerverwundeten, deren letzte Tage er tief beeindruckt begleitete, oder durch Vorlesen in Krankensälen, gemeinsames Singen oder indem er die Verwundeten zum wechselseitigen Erzählen aus ihrer jeweiligen Heimat ermutigte. Schon sehr bald hielt er Andachten in Krankensälen und auch Gottesdienste, zum Teil veranlasst durch die zuständigen Offiziere. Der Theologe Althaus stellte rasch fest, wie dürftig die Seelsorge in den Lazaretten ausgestattet war (28. 9. 1914). Er mahnte darum den Einsatz eines hauptamtlichen Lazarettpfarrers für Dirschau an. Als dieser kam und bei den Verwundeten offensichtlich nicht das erhoffte Echo fand, fühlte sich Althaus bald in seinen nebenamtlichen pfarrerlichen Aktivitäten eingeschränkt und unsicher. Er bedauerte, den Mangel der fehlenden Ordination nicht kurzfristig beseitigt zu haben, um die als sehr fruchtbar empfundene Kombination des Sanitätsdienstes mit dem Predigtdienst vollgültig – einschließlich der Möglichkeit, das Abendmahl zu erteilen – fortsetzen zu können. Seine Versetzung nach Wloclawek im ehemaligen Russisch-Polen, 100 km nördlich von Lodz, wo er an einem so genannten „Leichtkrankenhaus“ für erkrankte Soldaten Dienst zu tun hatte, veranlasste ihn dann, seine Rückversetzung nach Dirschau zu erbitten, zumal er durch den starken Wechsel bei den Patienten in Berichte an die Eltern, ferner auf die Veröffentlichungen von Althaus aus diesen Jahren (vgl. dazu die Einzelhinweise und das gesonderte Verzeichnis im Anhang). 5 Mündlicher Bericht von Dorothea Petersen und Gerhard Althaus.
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Wloclawek persönliche, seelsorgerliche Kontakte kaum aufbauen konnte. Als eine Rückkehr nach Dirschau abgelehnt wurde, stellte er im Dezember 1914 nach längerem Überlegen offiziell den Antrag, als Lazarettpfarrer übernommen zu werden, obwohl er in Dirschau die Kombination beider „Ämter“, Sanitätsdienst und gleichzeitig Seelsorgedienst, besonders schätzen gelernt hatte. Aufgrund des hohen Bedarfes wurde dem Antrag rasch stattgegeben. In der zweiten Januarhälfte fuhr Althaus in die Heimat, um am 25. Januar in der Hannoverschen Landeskirche ordiniert zu werden.6 Am 28. Januar 1915 meldete er sich – gerade zurückgekehrt – bei seinen Eltern aus Brzeziny, 20 km östlich von Lodz, als seinem neuen Dienstort. Am 10. Februar hielt er dort seinen ersten Abendmahlsgottesdienst. Als Lazarettpfarrer, jetzt ohne Sanitäterpflichten und mit einem eigenen „Burschen“ ausgestattet, entfaltete er eine umfassende Tätigkeit, nicht nur im Lazarett; er predigte auch auswärts bei Landsturmtruppen, die zur Sicherung des Bahnverkehrs eingesetzt waren, oder – seltener – bei durchziehenden aktiven Truppen. Eine Predigt dort sei doch was ganz Anderes, schreibt er seinen Eltern. „Sie muss fesselnd, markig und knapp sein.“ Nach der Predigt habe er Herzbeschwerden gehabt – „wie früher nach dem Kolleg – mein altes Leiden.“ (22. 3. 1915) Ansonsten registrierte er, dass zu seinen festen Gottesdienstterminen auch die einheimische deutschstämmige Landbevölkerung kam. Er entdeckte das Deutschtum in Polen, das man im Reich im Unterschied zu den Siebenbürgern oder den Deutsch-Balten nie wahrgenommen habe. Für in Not geratene Arme aus dieser Bevölkerung organisierte er mit anderen ein „Armenkomitee“ (10. 2. 1915). Nicht nur über die äußeren Aktivitäten und Dienstgeschäfte erfahren wir aus seinen zahlreichen Briefen und Postkarten. Seine überaus engen Familienbindungen kommen hier immer wieder zum Ausdruck. In der Hochstimmung der ersten Augustwochen 1914 spürte er feinfühlig die Sorgen der Eltern, die drei Söhne in den Krieg ziehen lassen mussten. „Bitte seid mutig, noch sind wir nicht im ernsten Kriege“ (4. 8. 1914). Nach ersten Verlustmeldungen: „Die Stimmung ist ernst, aber tief begeistert, bitte bleibt mutig und stark“ (9. 8. 1914). Und am 18.8. bittet er die Eltern: „Ihr dürft euch nicht so niederdrücken lassen, das erschwert uns Fernen die Sache.“ Die Feinfühligkeit von Althaus, seine Sensibilität und Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, ihre Stimmungen und Gefühle zu erfassen, wird in diesen Zitaten – aber auch in den Briefen generell – immer wieder deutlich. Ihn selbst treibt die Sorge um seine Brüder um, die zunächst an der Westfront eingesetzt waren. Man fühlt die engen brüderlichen Bindungen auch in seinen sorgen-
6 „Heute vor 3 Jahren bin ich ordiniert. Am 26. Januar fuhr ich von Euch ab nach Polen.“ Diese Passage aus einem Brief an die Mutter vom 25. 1. 1918 ist die einzige genaue Datierungsquelle, da die einschlägigen Akten im Hannoverschen Landeskirchenamt im Zweiten Weltkrieg verbrannten.
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vollen Fragen an die Eltern, seinen Bitten um Nachrichten und seinen Versuchen, über Feldpost selbst mit den Brüdern im Kontakt zu bleiben. Er ist auf diesen lebendigen Kontakt mit seinen Eltern und Geschwistern angewiesen. So, wie er sie an seinem Erleben teilnehmen lässt, möchte er auch an dem Ergehen zu Hause beteiligt werden. Dankbar ist er für alle Briefe, für die Pakete und nützlichen Dinge, für den „Pumpernickel“ und „die Wäsche samt Chokolade“, die ihm seine Mutter schickte. Nebenbei erfahren wir bei dieser Gelegenheit von seinem Gesundheitszustand, wenn er als Reaktion auf die gleichzeitig übersandte Schachtel Zigarren mitteilt: „Ich rauche sie nicht gerne, sie sind zu groß, und überhaupt kann ich ja in den Frühlingswochen wegen des Herzens nicht rauchen“ (28. 3. 1915). Immer wieder blitzen seine gesundheitlichen Probleme – Herz, Magen, Nerven – auf, aber stets mit dem Unterton des ja Bekannten und der Beherrschbarkeit. Ebenso oft aber lesen wir „Es geht mir ausgezeichnet“, obwohl er eine Choleraimpfung zu verkraften hatte (14. 12. 1914), „Mir geht’s sehr gut“ (13. 1. 1915). Der Stress und das stundenlange Arbeiten im Stehen im Operationssaal bzw. im Verbandsraum machen ihm nichts aus, er hat sich sogar daran gewöhnt. Natürlich erzählte er seinen Eltern ausführlich über persönliche Begegnungen und Gespräche, auch mit Schwerverwundeten, die er bis zu ihrem Tode begleitete. Wir finden viele Zeugnisse seiner Gesprächsfähigkeit und Einfühlsamkeit. Plastisch beschrieb er seine äußeren Lebensumstände, Unterbringung und Essensversorgung, vor allem aber auch die Städte und Landschaften, in denen er lebte: „Die herrliche Kathedrale“ in Wloclawek (10. 12. 1914) wird auf einer Ansichtskarte dokumentiert (19. 12. 1914). In gewohnter Könnerschaft skizziert Althaus das Eistreiben auf der Weichsel bei Dirschau (10. 12. 1914). Nicht frei von Vorurteilen sind seine Eindrücke, die er von Polen und Juden wiedergab, aber seine Briefe bezeugen zugleich seine Offenheit, wenn er über interessante Gespräche mit einem jüdischen Rabbi berichtete oder seine negativen Urteile über Polen ausdrücklich revidierte. (17. 12. 1914). Trotz aller Beanspruchung durch Sanitätsdienst und Seelsorgearbeit fand Althaus Zeit und Kraft zu intensiver Lektüre und publizistischer Tätigkeit. „Ich habe mich nun hinter D.F. Strauss, Leben Jesu gemacht.“ (14. 3. 1915) In Lodz kaufte er Schriften von Nietzsche und Friedrich Naumann: „Das lese ich jetzt“ (16. 3. 1915), aber auch bedeutende theologische Fachliteratur fehlte nicht: „Arbeite mit hohem Genuss W. Herrmanns Ethik durch“ (22. 3. 1915). Die damals sehr aktuelle Positionierung des Marburger Theologen Herrmann hatte auch noch nach dem Ersten Weltkrieg entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Theologie, sowohl bei Karl Barth als auch bei Rudolf Bultmann. Das Lektüreprogramm erscheint als durchaus überlegt. Intensiv arbeitete Althaus an seinem Aufsatz zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Wilhelm Bousset, dem Haupt der aus der liberalen Theologie hervorgegangenen Göttinger Religionsgeschichtlichen Schule. Noch im Sommersemester hatte er in Göttingen mit Bousset intensiven per60
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sönlichen Kontakt gehabt7 und einen Aufsatz gegen Boussets Thesen konzipiert, dessen Fertigstellung ihn bis zum März 1915 immer wieder beschäftigte, was wir wiederholten Bemerkungen aus den Briefen an seinen Vater entnehmen können. Offensichtlich hatte dieser die Entwürfe gelesen. Am 6. 3. 1915 schickt Althaus dann dem Vater das Manuskript „gestern abend um 12 1 wurde es fertig“ und drängt auf raschen Druck: „An einem liegt mir : 1) wegen Boussets zweiter Auflage. 2) weil ich mich auf neutestamentlichem Gebiet jetzt vorstellen will. Ich habe heute deswegen schon neue Schritte getan. Eventuell gehe ich an die ,Studien und Kritiken‘. Denn Liegenlassen – bis nach dem Kriege? Auf die Studenten rechne ich gar nicht, aber auf die Fachgenossen – und die lesen auch jetzt. Schade, dass er so lang ist – das gebe ich zu. Bousset selber warnte mich vor der ganzen Menschensohnstelle in Teil II, die er für sehr schwach hält. Nachdem ich sie hier wieder las, brachte ich es nicht fertig, sie zu streichen. Auch Teil IV ist reichlich lang. Was meinst Du? Zum Beispiel soll ich den ganzen Angriff gegen Boussets Bestreitung des Gichtbrüchigen, Marc. 2 streichen? Ich nehme deine Hilfe nun nicht mehr in Anspruch …“ (22. 3. 1915)
Diese Briefpassage erscheint in mehrfacher Weise als bedeutungsvoll. Trotz allen Erlebens und Engagements als Sanitäter und Lazarettseelsorger findet Paul Althaus entschlossen Zeit für eine wissenschaftliche Publikation, mit der er als frisch habilitierter Systematischer Theologe sich ganz bewusst als Neutestamentler vorstellen will. Darin steckt die für ihn programmatische Aussage, dass Systematische Theologie stets der neutestamentlichen Grundlagen bedarf. In Erlangen legte Althaus später großen Wert darauf, dass seine offizielle Lehrstuhlbezeichnung „Lehrstuhl für Systematische Theologie und Neutestamentliche Exegese“ lautete. Immer wieder hielt er Vorlesungen über neutestamentliche Texte, vor allem über Paulinische Briefe. Schon in der ersten wissenschaftlichen Publikation des jungen Privatdozenten klingt also diese grundlegende Auffassung von den Dimensionen und Fundamenten seines Faches Systematische Theologie an. Neben diesem konzeptionellem Aspekt offenbart das Zitat ferner viel über den Stil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung jener Zeit, aber auch, wie ihn Paul Althaus sein Leben lang praktizierte. Der junge Privatdozent suchte – durchaus selbstbewusst – in Göttingen das persönliche Gespräch mit dem hoch angesehenen etablierten Ordinarius. Weil er sich selbst einer anderen Schule verpflichtet fühlte, konzipierte er einen kritischen Artikel gegen Bousset und sandte ihm diesen noch vor der Veröffentlichung zu. Bousset reagierte – offensichtlich erwünscht – mit kritischen Randbemerkungen und Hinweisen, die der Autor dann korrigierend überdachte. Wir finden hier ein bemerkenswertes Beispiel kultivierter Streitkultur vor, das zugleich bezeichnend ist für die lebenslang gezeigte Bereitschaft von Althaus zu offener Dis7 Vgl. oben S. 51.
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kussion, zum Prüfen aller Argumente und zur Berücksichtigung von Einwänden. Der Aufsatz erschien dann im Sommer 1915 in der Neuen Kirchlichen Zeitschrift8, einem Organ der kirchlich orientierten lutherischen Theologie, in dessen weiterem Herausgeberkreis sein Vater Mitglied war. Inhaltlich passte das insoweit, als eine Kritik an der Religionsgeschichtlichen Schule natürlich in diesem Organ gern gesehen war. Althaus kritisierte Boussets These, dass die Bezeichnung Jesu als Kyrios, als Herr, erst syrisch-hellenistisch und zudem synkretistisch sei, sie müsse also als spätere Zutat von der echten Botschaft des historischen Jesus getrennt werden. Dem gegenüber versuchte der junge Privatdozent mit differenzierten Argumenten aufzuzeigen, dass schon in den frühen palästinensischen Gemeinden der Glaube an Christus, den Herrn, lebendig gewesen sei. Der geschichtliche Jesus werde nur im Osterglauben der frühen Gemeinden an den auferstandenen Christus greifbar9. Althaus positionierte sich damit gegen die liberale Theologie, die – vom Auferstehungsglauben absehend – in dem historischen Jesus einen begnadeten Lehrer und Prediger sah, dem es voller Idealismus und Fortschrittsoptimismus frei von kirchlich gebundener Orthodoxie bei der innerweltlichen Verwirklichung des Reich Gottes auf Erden nachzueifern gelte. Interessant und wichtig bei dieser Positionierung ist jedoch, dass Althaus bei seiner Argumentation die Instrumente der religionsgeschichtlichen Schule aufgriff und sich der historisch-kritischen Methode bei der Interpretation biblischer Texte bediente. Die alten Fronten zwischen „positiver“ und „liberaler“ Theologie, in denen noch sein Vater lebte, verschoben sich, weil zumindest methodisch die religionsgeschichtliche Schule nicht hintergehbar war. Das in diesem Aufsatz angesprochene Thema der Christologie ließ Althaus sein Leben lang nicht los. Seine in den Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren erschienenen „Theologischen Aufsätze“ enthalten jeweils wichtige dieser Thematik gewidmete Beiträge. 1957 – ein Jahr nach seiner Emeritierung – schrieb er in der 3. Auflage des theologisch wichtigen Lexikons „Religion in Geschichte und Gegenwart“ (RGG) den einschlägigen Artikel „Christologie, dogmatisch“, woraus ersichtlich wird, dass er in der Fachwelt als Experte in diesem Themenfeld anerkannt war. 1958 folgte eine einschlägige Studie, die die Gesamtthematik wieder aufrollte und sich jetzt insbesondere mit Bultmann auseinandersetzte. Der Emeritus hielt dann 1960 noch einmal einen Vortrag vor beiden Klassen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zum Thema: „Der gegenwärtige Stand der Frage nach dem historischen Jesus.“10 In knapper, aber ebenso differenzierter wie auch für den Laien
8 P.A., 1915 (1). 9 Zu den Details der Argumentation von Althaus und zur späteren Erwiderung von W. Bousset vgl. Martin Meiser, 1993, S. 41 ff. 10 P.A., 1929; 1936; 1957; 1958 (2) und 1960.
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nachvollziehbarer Weise wird hier die theologiegeschichtliche und systematisch wichtige Frage abgehandelt und in ihr Position bezogen. An der Bedeutung der neutestamentlichen Fundierung der Systematischen Theologie, um die es ihm in seiner Auseinandersetzung mit Bousset ging, bei gleichzeitiger Benutzung moderner textkritischer Methoden hielt Paul Althaus sein Leben lang fest. Das belegt das folgende Zitat aus seinem RGGBeitrag von 1957: Hier fordert er, die Christologie „muss vielmehr hinter das kirchliche Dogma zurückgehen auf den Schriftgrund, der es trägt. Sie kann aber auch nicht einfach die apostolische Lehre von Christus aufnehmen und sich aneignen. Diese hat nicht durch sich selbst Autorität, sondern nur kraft ihrer Gründung in der Wirklichkeit Christi, auf die sie zurückweist. Nur indem wir, auf die Christologie des NT hörend, durch sie hindurch hören in ihren Grund, der Christus selbst ist, haben wir ein Kriterium, in ihr Sache und Bild, Wesen und zeitbedingte Gestalt zu unterscheiden. So muss die Christologie den Weg ,von unten nach oben‘ gehen.“ (Sp. 1778 f.)
Es war, so darf man zusammenfassen, nicht irgendein Thema, mit dem sich Althaus während seines Sanitäts- und Predigtdienstes im ersten Kriegsjahr intensiv auseinandersetzte, sondern eine zentrale Frage neutestamentlicher Theologie, die für den späteren Systematikprofessor ein wichtiges Fundament darstellte. Das gilt es zu beachten, auch wenn Paul Althaus heute oft auf seine umstrittene Lehre von den Schöpfungsordnungen, die der Christologie gleichsam vorausliegen, reduziert wird. Das Gewicht dieser frühen Studie aus dem Jahre 1915 überrascht, wenn man die gleichzeitigen schriftstellerischen Aktivitäten des Sanitäters und Seelsorgers in den Lazaretten an der Ostfront bedenkt. Schon im Dezember 1914 veröffentlichte Althaus in der weitverbreiteten Allgemeinen EvangelischLutherischen Kirchenzeitung (AELKZ) einen Bericht: „Aus einem Lazarett im deutschen Osten“. 1915 folgen in der Monatsschrift für Pastoraltheologie (MPTh): „Eindrücke und Gedanken eines Feldgeistlichen aus RussischPolen“11. Beide Beiträge schildern die Wirklichkeit in den Lazaretten, die Stimmungslage bei den Verwundeten und die speziellen Notwendigkeiten seelsorgerlicher Arbeit in diesen Einrichtungen. Die Ausführungen belegen die Beobachtungsgabe von Althaus und seine persönliche Zuwendung zu den Verwundeten und Sterbenden, seine Interpretation der Zeit und seine Überzeugung von der Notwendigkeit eines Einsatzes der Kirche, um eine wirkliche christliche Erneuerung und Erweckung des deutschen Volkes herbeizuführen. Schon bald nach Kriegsbeginn warnte er davor, die vollen Kirchen und die religiöse Stimmung aus den Anfangswochen des Krieges zu überschätzen. Die eigentliche Arbeit erwarte die Kirche erst noch. Darum hielt er es für dringend notwendig, im Krieg den persönlichen Glauben der Soldaten zu wecken. Er widersprach der „naiven Verwertung des Alten Testamentes“, als ob das 11 P.A., 1914 (2) und 1915 (2).
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deutsche Volk das „auserwählte Volk“ sei. „Wir hüten uns ängstlich vor der Rede vom deutschen Gott, von dem Volk Gottes, den Namen des Vaters Jesu Christi zu entheiligen“. Gleichwohl betonte er das gute Gewissen, mit dem die Deutschen in den Krieg ziehen könnten: „Und doch danken wir Gott für die große Gnade, dass er uns zu einem Kriege und in eine Not gezwungen hat, in die wir reinen Schildes gehen. Es ist doch wahrhaftig wahr …, dass wir in Russland, Frankreich, England die Lüge und Hinterlist, die Feigheit, Gemeinheit, Neid und Verrat, alles, was es geben mag an Ungerechtigkeit, bekämpfen. Das sagen wir ohne jede Selbstgefälligkeit; wer unter den Schauern dieses großen Menschensterbens gestanden hat, weiß, dass Gott auch uns heute straft. Aber wir sagen es mit tiefem Dank und klarem Bewusstsein: es ist ein Kampf um alles das, was wir als Geschenk Gottes preisen – darum ein Kampf mit Gott. Es ist eine herrliche Gnade Gottes, dass wir in die erste Bitte des Vaterunsers in diesen Tagen auch das Gebet um den Sieg unserer Waffen einschließen dürfen. Wir treten freilich jedem entgegen, der uns versichert, ich könnte an das Walten eines gerechten Gottes nicht mehr glauben, wenn England jetzt siegte, wir stellen Gott nicht auf die Probe, ehe wir ihm glauben, sondern beugen uns auch dann, wenn Gott die Ungerechtigkeit eine Zeitlang triumphieren lässt – das allein ist ,Glauben‘.“ (AELKZ, S. 1154)
Man muss diesen gesamten Text bei aller Irritation, die er heute auslöst, zunächst einmal als ein Dokument der Stimmung und Gegenwartsinterpretation gerade in frommen Kreisen zur Kenntnis nehmen. Er setzt sich deutlich vom reinen „Nationalismus“ ab und versucht die nationale Begeisterung und den nationalen Einsatzwillen christlich zu veredeln und in Schranken zu halten. Zugleich reflektiert er das gute Gewissen und die – wie wir wissen – weitverbreitete – politisch gewollte und unterstützte – Überzeugung, dass Deutschland „reinen Schildes“ in den Krieg gezwungen wurde, sowie die Hoffnung, dass dieser Krieg die Chance zu christlicher Erneuerung des deutschen Volkes bringe und dann – nur dann? – zum Sieg der gerechten Sache führen werde. Zugleich vermittelt Althaus hier schon eine Ahnung vom „deus absconditus“, weil er den Glauben an Gott nicht vom Sieg der guten Sache abhängig machen will. Erfreut registrierte der Lazarettpfarrer wenige Monate später viele Zeugnisse lebendigen Glaubens unter den Soldaten, aber er verschwieg auch nicht „niederdrückende Erfahrungen, angesichts derer das Wort von deutscher Wiedergeburt im Munde erstickt.“ Er spielte damit auf „geschlechtliche Zügellosigkeiten“ an, deren Auswüchse er als Lazarettpfarrer erlebte. Kürzlich sei ein ganzer Zug mit 200 geschlechtskranken Soldaten abgefertigt worden, und bei Lodz gebe es ein Lazarett mit einem Vielfachen an Geschlechtskranken. Mit Sorge sieht er Tendenzen, durch Verteilung von Verhütungsmitteln Schlimmeres zu verhüten. Er kann das zwar verstehen aus volkshygienischen Gründen, 64
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„aber da hiermit die Zuchtlosigkeit gleichsam anerkannt und durch Beseitigung ihres Risikos noch lockender gemacht wäre, wird unser Gegensatz gegen das Laster nur bitter und schonungslos, unser Protest lauter und vernehmlicher. So dürfen wir nicht müde werden, allein, dafür aber auch mit dem ganzen Gewicht göttlicher Forderung zur Mannhaftigkeit, Zucht und Reinheit zu rufen.“ (MPTh, S. 391 ff.)
Bei seinen Lazarett-Andachten hatte Althaus das schon zu praktizieren versucht: „Hier ging ich auch in großem Ernste auf die geschlechtlichen Sünden der Leute ein – ob es nützt?“ (10. 2. 1915). Sein leidenschaftlicher Appell, der jetzt die letzten beiden Seiten seines Berichtes als Lazarettpfarrer abschließt, verrät viel über das gelebte Keuschheitsideal des 26-jährigen unverheirateten Theologen. Sexualität war nur in der Ehe erlaubt. Dass er hier mit seinem Rigorismus sich isolierte, war ihm durchaus bewusst geworden: „Bei und nach dem Abendessen langes Gespräch mit Oberstabsarzt Stroh und dem Unterarzte über die geschlechtliche Moral. Ich merkte, dass ich allein stand, erst allmählich. So haben die beiden einige scharfe Bemerkungen des Ahnungslosen schlucken müssen.“ (20. 2. 1915)
Sein Entsetzen über die Formen der „sexuellen Zügellosigkeit“ blieb und wurde noch gesteigert, weil er bei der Veröffentlichung seines Aufsatzes Schwierigkeiten bekam. Als Fortsetzung seines ersten Berichtes wäre der Abdruck in der AELKZ logisch gewesen. Die AELKZ lehnte jedoch ab – „Laible bringt meinen Aufsatz nicht, da er wegen meiner rücksichtslosen Offenheit die Censur fürchtet“ (21. 3. 1915). Althaus schrieb empört und erregt an seinen Vater: „Der Artikel ist bis auf jedes Wort zweimal überlegt, ich habe manche Seite dreimal neu geschrieben. Ich vertrete jedes Wort. Bei der Zahl der Geschlechtskranken kann statt 1200 gesagt werden: ,mehrere Hundert‘. Augenblicklich liegen in Zgierz 600. Mitteilung des Lazarettpfarrers dort. Ich halte den Artikel auch für vorsichtig und zeitgemäß. Dass er so nicht erscheinen kann angesichts der Zensur, ist ein mich sehr beschäftigendes ethisches Problem. Also die ernsten Stimmen der Christen dürfen nicht gehört werden!! Ich beginne heute einen Aufsatz über : „die Censur als ethisches Problem.“ Gedruckt werden soll er erst nach dem Kriege.“ (22. 3. 1915)
Der „Ausweg“, in der nicht so weit verbreiteten Monatsschrift für Pastoraltheologie zu publizieren, ist möglicherweise auf Vermittlung seines Vaters, der ja auch die Praktische Theologie vertrat, zurückzuführen. Außerdem war der Herausgeber, der Tübinger Theologe Wurster, Paul Althaus aus seiner Tübinger Studienzeit gut bekannt. Doch auch Wurster veröffentlichte die Passagen über die sexuelle Zügellosigkeit mit einer distanzierenden, die Vorgänge relativierenden Anmerkung des Herausgebers (S. 391). Gleichwohl oder gerade deswegen ließ dieses Thema den jungen Theologen nicht los. Auch in den Briefen aus den folgenden Kriegsjahren blitzt es immer wieder auf. Die dogmatisch-ethischen Aussagen des späteren Theologieprofessors zum Verhält65
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nis von Mann und Frau und zur Ehe hatten hier ein wichtiges autobiographisches Erlebnisfundament. Der Grund für die so spürbare Erregung des jungen Theologen ist sicherlich auch darin zu suchen, dass dieses „Fehlverhalten“ der deutschen Truppen der postulierten und erhofften sittlichen Erneuerung des deutschen Volkes während des Krieges zuwiderlief. Das gute Gewissen, mit dem Althaus in den Krieg gezogen war, wurde belastet, weil seine Hoffnungen und seine Gewissheit gefährdet wurden, dass das deutsche Volk diesen ihm „aufgezwungenen“ Krieg mutig und tapfer, aber mit reinen Händen und reinem Herzen in christlicher Verantwortung vor Gott zu einem guten Sieg führen werde. Welche Aufgabe Althaus darum der Kirche und ihrer Predigt im Weltkrieg zuwies, wird hier erkennbar, lässt sich am intensivsten jedoch an seiner eigenen Predigttätigkeit abspüren, die er schon als Hilfssanitäter freiwillig übernommen hatte. Immer wieder berichtet er darüber seinen Eltern, wobei die selbstkritischen Töne unüberhörbar sind. „Heute predigte ich … aber ohne wirkliche Fühlung mit den Hörern, für die ich, wie mir Bode sagte, zu schwer sprach.“ (9. 12. 1914). (Ich) „stand unter dem Eindruck, dass ich … nicht ganz die Fühlung mit den Leuten hatte. Das drückt während der Predigt nieder und mindert die Treffsicherheit des Ausdrucks.“ (14. 2. 1915) Mit seiner Silvesterpredigt war er „nicht ganz zufrieden.“ (1. 1. 1915). Im Mai lesen wir : „Leider ganz unbefriedigt von meiner Predigt.“ (8. 5. 1915)
Offensichtlich finden seine Predigten insgesamt große Zustimmung. Sein Hauptmann druckt zwei Predigten von ihm auf Flugblättern ab, um sie an die Mannschaften zu verteilen (13. 1. 1915). Althaus selbst registriert, wenn es ihm gelungen ist, ein notwendiges Wort vor offenen Ohren gesprochen zu haben. Zwei Beispiele seien zitiert: „Um 12 4 offizieller Militärgottesdienst, zu dem die Kommandantur befiehlt. Da auch viele freiwillig kamen und zudem viele Civilisten erschienen, sprach ich vor so überfüllter Kirche wie noch nie. Gegenüber vorigem Sonntag war es eine bis zum Ende erhebende Feier. Wenig Husten, große Aufmerksamkeit, daher dauernde Fühlung. Text: 2. Kor. 6 V.4: ,In allen Dingen beweisen wir uns als die Diener Gottes‘. Thema: Unser Kriegsdienst – Gottesdienst. Erstens: ist das unser Ernst? Zweitens: Lasst uns Ernst damit machen. Diesmal war es eine ganz patriotische Predigt. Im zweiten Teil habe ich auf die Gefahren dieses Krieges, die Ruhmsucht, den wütenden Hass, die Prahlerei und nationale Überhebung scharf hingewiesen. Solche Stunden hier – das ist ja natürlich – der Höhepunkt meines hiesigen Erlebens.“ (21. 2. 1915)
Vier Wochen später berichtet er : „Um 12 4 Gottesdienst (hiesiger Landsturm und eine Train-Kolonne, etwa fünf Offiziere; viele Civilisten). Mir wurde es dieses Mal körperlich und inhaltlich schwer. Text: Mt 10,28. Also die Furcht Gottes. Die Furcht Gottes predigen ist ungeheuer schwer, wenn man nämlich nicht bloß die üblichen Gedankengänge der Traktate und
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Pfennigpredigten bringen will, die wie Wasser an Enten, so an den Leuten ablaufen. Was ist Furcht Gottes? Worauf begründet sie sich? Wo sind die Tatsachen in deinem Leben, worauf sie sich begründet? – Das sind alles Fragen, die ich mir vorher beantwortete, um wirksam zur Furcht Gottes erziehen zu können. Noch nie habe ich so praktisch gepredigt. Das kam freilich erst auf der Kanzel. Die geschriebene Predigt ist reichlich schwer. Jedenfalls hörten die Leute mäuschenstill zu, und ich hatte den Eindruck, etwas sehr Wichtiges gesagt zu haben, mag ich auch durch scharfe Worte gegen die ,Liebe-Gott-Frömmigkeit‘, die am liebsten singt: ,Harre meine Seele‘, und vollends gegen die deutsche ,nationale‘ Frömmigkeit des ,Gott strafe England‘, die an den Richter nur für unsere Feinde zu glauben scheint, hier und da Anstoß gegeben haben.“ (Sonntag Judica, 21. 3. 1915)
Diese Briefe sind hier so ausführlich wiedergegeben, weil sie Althaus’ Predigtintentionen – die innere christliche Erneuerung – deutlich machen und wir außerdem deren Umsetzung nachprüfen können. Nach den Gottesdiensten erstellte Althaus nämlich jeweils eine Reinschrift seiner Predigten und schickte diese seinen Eltern. „Ich habe bald fünf Predigten fertig … Mutter mag entscheiden, welche gedruckt werden soll.“ (28. 3. 1915, ähnlich später 18. 7. 1916) Die Kritik insbesondere auch der Mutter ist ihm wichtig, das spürt man auch in späteren Briefen immer wieder, und ist bemerkenswert gerade angesichts der sonst stets im Vordergrund stehenden Figur des Vaters. Dessen Vorbild leuchtet, wenn der Sohn über seine umfangreichen Predigtverpflichtungen klagt, wo er doch in seinem jungen Alter noch so gerne beim Vater in der Kirche hören würde, statt selber reden zu müssen. (23. 11. 1916) Noch 1915 erschien ein Band mit acht Predigten aus dem Zeitraum von Weihnachten 1914 bis Palmsonntag 1915.12 Es war der erste Band, in dem Predigten von Paul Althaus gedruckt wurden, dem später viele folgten. Auch die beiden Predigten, über die er am 21. Februar und am 21. März seinen Eltern berichtet hatte, sind hier abgedruckt. Im Rahmen dieser Biographie ist leider kein Raum, um die große Zahl der Kriegspredigten, die Althaus zwischen 1914 und 1918 gehalten hat, – auch in ihrer Unterschiedlichkeit – genauer zu betrachten.13 Gleichwohl sei stellvertretend wenigstens die Predigt vom 21. Februar 1915, deren Thema er seinen Eltern gegenüber mit „Unser Kriegsdienst – Gottesdienst“ beschrieb, etwas genauer analysiert14. Sie erscheint besonders geeignet, um das komplexe Ineinander von Theologie und politischer Vorstellungswelt in den Predigten von Althaus deutlich zu machen. Dabei vermeide ich hier bewusst den Ausdruck „Ideologie“ oder „Nationalismus“, um die spezifischen Färbungen und Ambivalenzen, sowie die Be12 P.A., 1915 (3). 13 Eine detaillierte, jedoch m. E. etwas einseitige und abstrakte Interpretation der Predigten von Althaus aus dem Ersten Weltkrieg hat jüngst Roland Liebenberg, 2008, vorgelegt. 14 In der gedruckten Ausgabe lautet die Überschrift: „Kriegsdienst und Gottesdienst“. P.A., 1915 (3), S. 46 – 57. Wenn im Folgenden aus dieser Predigt zitiert wird, werden die Seitenangaben – in Klammern – unmittelbar im Text eingefügt.
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grenzungen, die Althaus selber immer wieder formulierte, nicht untergehen zu lassen. Außerdem ist gerade diese Predigt in der kritischen Aufarbeitung der Weltkriegstheologie immer wieder als ein negatives Beispiel zitiert worden. Wolfgang J. Mommsen erwähnt sie als ein Exempel für anti-englische Tendenzen in Kriegspredigten. W. Pressel sieht in ihr die Preisgabe einer zunächst durchaus formulierten realistischen Beurteilung des Krieges zugunsten einer „ideologischen Deutung“, zumal Althaus hier zusätzlich den deutschen „Sendungsgedanken“ mit ins Spiel bringe. Auch R. Kurz zitiert aus dieser Predigt den Satz, dass „Deutschland für den Segen der Welt kämpfe“, und erkennt darin „nationalprotestantisches Denken“, das er allerdings als Korrektiv zum reinen Nationalismus sieht. Grundsätzlich moniert R. Liebenberg an dieser Predigt, dass Althaus hier mit religiösen Argumenten den deutschen Sendungsgedanken vertrete. Dessen theologische Inhaltsbestimmung – Ausbreitung des Evangeliums in der Welt – dürfe aber – wie Liebenberg kritisiert – nicht benutzt werden, um Gewalt und Krieg zu rechtfertigen, wie das Althaus angeblich tue. Liebenberg meint darüber hinaus in dieser Predigt zu erkennen, dass Althaus hier gegen den „verhassten Individualismus“ votiere und den „Blick auf das völkische Kollektiv“ lenke, obwohl diese Begriffe bei Althaus so nicht verwendet werden. Zwar setze sich Althaus von der Rede vom „deutschen Gott“ ab, aber diese Absage sei eben nicht generell und grundsätzlich. Darum lasse seine theozentrische Predigt „moralische und nationalistische Implikationen“ ausdrücklich zu. Die „Anfälligkeit für den Nationalsozialismus“ von Paul Althaus glaubt Liebenberg darum schon für 1915 belegen zu können.15 Tatsächlich wirken heute Sprache und inhaltliche Botschaft einer Predigt, die den Kriegsdienst als Gottesdienst bezeichnet, stark befremdend. Das zwingt jedoch zunächst nur zum genauen Hineinhören in den Text, dessen zentraler Gedankengang darum im Folgenden wiedergegeben und interpretiert werden soll. Nur so gewinnen wir die Chance, das komplexe Ineinander historischer Erfahrungen, politischer Vorstellungen und theologischer Verkündigung zu erkennen. Althaus beginnt seine Predigt mit dem „Erschrecken“ und „Irrewerden an allem Sinne der Geschichte“, weil in diesem Krieg „Christen gegen Christen stehen“ (S. 48). Er erkennt in dem Krieg „ein erschütterndes Denkmal menschlicher Sünde“. Trotzdem – so formuliert er weiter : „Wir stehen mit Gott in diesem Krieg, als seine Diener zum Tun seines Willens berufen und gedrungen. Darum ist es heiliger Krieg … Kriegsdienst ist für jeden, der ihn mit reinem Herzen tut, Gottesdienst.“ So gelte auch für den „tapferen französischen Soldaten“, der sein Vaterland verteidige, dass er
15 W. Mommsen, 2002, S. 122, Anm. 22; Pressel, 1966, S. 143; Kurz, 2002, S. 213 f.; Liebenberg, 2008, S. 203 ff, insbes. S. 206, Anm. 137 und S. 209, Anm. 141.
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„ein heiliger Streiter“ sei, selbst wenn seine Regierung „leichtfertig einen Völkerbrand angefacht“ habe. (S. 49)
Diese Einleitungspassage überrascht durch den schnellen Übergang von der realistischen Einsicht, dass Krieg Sünde sei, zu der These vom heiligen Krieg. Für Althaus gilt hier jedoch kein Entweder-Oder. In einem Grundsatzartikel von 1932 über „Krieg und Christentum“16 greift er diesen Gedanken wieder auf. Jetzt spricht er von dem „unlösbaren Ineinander“ auch des „wahrhaften [und gerechten] Krieges und des Bösen“. Dieses Ineinander gilt für ihn in jeder Richtung. Darum widerspricht er in seiner Predigt der Zuweisung der Sünde nur zu den Gegnern. Der Krieg lege „uns bitter ernst das Gebet auf die Lippen …: ,Vergib uns unsere Schuld‘ – uns allen, nicht bloß unseren Gegnern.“ (S. 49) Gleichwohl ist Kriegsdienst für jeden, der ihn reinen Herzens tut, Gottesdienst. Das gilt ausdrücklich auch für die gegnerischen Soldaten, die sich für ihr Vaterland tapfer als „heilige Streiter“ in die Schlacht werfen, selbst wenn der Krieg von ihrer Obrigkeit leichtfertig oder aus bösen Motiven angezettelt worden sei. Für das in Berufsstände gegliederte Volk üben auch die Soldaten einen „Beruf“ aus, zu dem sie in den Dienst für Volk und Staat von Gott berufen sind und den es mit Hingabe und Ernst sowie im Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, die allein über die Ziele zu entscheiden hat, in Reinheit und Tapferkeit zu erfüllen gelte. Die treue Erfüllung von durchaus fremdbestimmten Berufsaufgaben erscheint bei Althaus hier als Christenpflicht, als „heiliger Dienst“, eine Auffassung, die uns später noch intensiver beschäftigen wird. „Für uns Deutsche“ jedoch – so fährt Althaus in seiner Predigt fort – „gehören dieser Krieg und Gottes Wille noch enger zusammen. Wir wissen uns in aller Demut als Diener Gottes in besonderem Sinne.“ Die Deutschen seien in den Krieg „hineingezwungen, ob wir wollten oder nicht … Der Krieg kam über uns als Notwendigkeit … Heilige Notwendigkeit, denn wir streiten für das, was wir als Gaben Gottes dankbar preisen. Man hat uns umkreist, um uns Sonne und Wachstum zu nehmen. Wir kämpfen für das Letzte und Höchste: für die Lebenskraft, die Gott in uns legte; wir kämpfen um unser Leben. Wer aber für sein Leben streitet, der ist Diener Gottes und tut seinen Willen … Weil die Lüge gegen uns aufgehetzt hat, weil man der Lüge bedurfte, um den Überfall zu rechtfertigen, steht über unserem Kampfe das große ,Gott will es‘“. Deutschland kämpfe darum „für die Welt; nicht für seinen Frieden, sondern für den Weltfrieden, nicht für seinen Fortschritt, sondern für den Segen der Welt. ,Dein Reich komme!‘“ (S, 50 f.)
Auffällig ist an diesen Partien der Predigt das immer wieder zum Ausdruck kommende vermeintliche gute Gewissen: Deutschland sei nur gezwungen in den Krieg gezogen, habe gegen Unrecht und Mord zu den Waffen gegriffen; 16 In: RGG, 2. Auflage, Bd. 3 1932, S. 1306 – 1312.
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darum sei sein Krieg in besonderer Weise Gottesdienst.17 Unter Historikern besteht heute weitgehender Konsens, dass im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit damals nahezu einmütig diese Vorstellung herrschte und von der Regierung nach Kräften der Eindruck vermittelt wurde, dass Deutschland bis zum letzten Augenblick den Krieg zu vermeiden getrachtet habe und nur gezwungen in den Krieg gezogen sei.18 Die problematischen Konsequenzen dieser Vorstellungen bei der späteren Verarbeitung des verlorenen Krieges werden uns noch zu beschäftigen haben. Für diese Predigt jedoch bildet dieses gute Gewissen die Grundlage für ihre These, dass für das deutsche Volk dieser Krieg und Gottes Wille noch enger zusammengehören, „denn wir streiten für das, was wir als Gaben Gottes dankbar preisen,“ gegen Feinde, die uns „Sonne und Wachstum“ nehmen wollen. Bei der Interpretation dieser Sätze wird man nicht umhin können, das bei Althaus dahinter stehende politisch-historische Weltbild mit einzubeziehen. Zwar klingt hier unverkennbar die Forderung nach dem „Platz an der Sonne“ an, aber sie ist eingebettet in die Vorstellung von den „Gaben Gottes“ an das deutsche Volk, für die es zu streiten gelte. Um diese Passage zu verstehen, wird man gut daran tun, zu bedenken, dass Althaus mehrere Semester Geschichte – vor allem Geschichte des 19. Jahrhunderts – bei dem Neo-Rankeaner Max Lehmann in Göttingen studiert hatte.19 Rankes Vorstellung vom Konzert der Großen Mächte in Europa, von Gleichgewicht statt Hegemonie, von Vielstimmigkeit statt Einheit als dem Europäischen an Europa, lebte hier fort, war hier verbunden mit der Vorstellung, dass jedes Volk seine spezifischen Eigenschaften, seine „Gaben“ in dieses Konzert einzubringen habe; im Zweifel galt es für diese Gaben und das Leben seines Volkes im Wettstreit der Völker untereinander auch zu kämpfen. Der Krieg wurde so zu einem legitimen Mittel des aufgegebenen Ringens der Völker um ihr Leben und die Verwirklichung ihrer Gaben. Hier wird man berücksichtigen müssen, dass diese Vorstellungen für die damals lebende Generation durch die historische Erfahrung bei der Entstehung des deutschen Nationalstaates in den napoleonischen Freiheitskriegen und in den Bismarckschen Einigungskriegen gleichsam bestätigt und gestützt wurden. Bei aller Detailkritik, die Lehmann an Bismarcks Politik insbesondere 1870 übte, an der Grundvorstellung von der Unausweichlichkeit der kriegerischen Elemente im Prozess der deut17 Schon in seinem ersten Lazarett-Bericht hatte er die gleiche Position formuliert. Vgl. oben S. 63 f. 18 Statt vieler : W. Mommsen, 2002, S. 33 f. Nach den Debatten um Fritz Fischers „Griff nach der Weltmacht“ sieht man heute die damals herrschende Stimmung gewiss sehr viel differenzierter, aber das berechtigt nicht dazu – wie das Liebenberg tut –vorwurfsvoll zu formulieren: „das aggressive Weltmachtstreben des Kaiserreiches … verschwieg Althaus hier geflissentlich“. Verschweigen kann man nur, was einem bewusst ist! Mit solcher Terminologie vereinfacht man, gerät historische Analyse in die Gefahr zur moralisierenden Anklage zu werden. Liebenberg, 2008, S. 184. 19 Vgl. oben S. 47 ff.
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schen Einheitsbildung hielt auch er fest. Das Ziel, die Bildung des deutschen Nationalstaates, als eines Gliedes im Konzert der Völker, legitimierte das kriegerische Mittel, vollzog sich doch so der Sinn und das Ziel der Geschichte. Und wer die Völker und Nationen als Teile der Schöpfungsordnung begriff, für den lag die Versuchung nahe, in diesen politischen Aktionen Bismarcks den Vollzug göttlichen Willens zu erkennen. Das prägte die im Kaiserreich aufgewachsene Generation, zu der Althaus gehörte. Die politische Problematik, die in der Verabsolutierung des Volksbegriffs und in der Übertragung des Rankeschen Gleichgewichts-Modells der europäischen Großmächte auf die Weltpolitik lag, war den Zeitgenossen nicht bewusst. Diese Erkenntnis wuchs im Grunde erst nach 1945.20 Weil der gegenwärtige Krieg für das Lebensrecht des deutschen Volkes und zur Verwirklichung seiner Gaben in diesem Sinne Gottesdienst sei, geht es Althaus dann im zweiten Teil seiner Predigt darum, von den deutschen Truppen zu verlangen, den Krieg so zu führen, dass er Gottesdienst sei. Deshalb machte er – wie er seinen Eltern schrieb – auf die inneren Gefahren dieses Krieges aufmerksam. Er forderte – wie wir im Predigttext lesen – seine Hörer auf, mit dem Kriegsdienst als Gottesdienst ernst zu machen durch „bitterernste Besinnung und gründliche Reinigung“. Er wetterte gegen den Pharisäergeist des „Ich danke dir Gott, dass ich nicht so bin wie England“, gegen Unwahrheit, Geldsucht, die „auch bei uns böse gewuchert. Wir können keine Anklage gegen unsere Feinde schleudern, ohne gleichzeitig ernstlich unserer eigenen Schuld zu gedenken … Wir werden nicht Sklaven der nationalen Ehrsucht und des gottlosen Hasses.“ (S. 52 f.) „Wir hassen zwar das Unrecht und die Verlogenheit bei den Feinden bitter … Gerade weil wir der Gerechtigkeit unserer Sache so gewiss sind, kämpfen wir ohne blinde Verbissenheit mit Wahrheit, Ruhe, Hoheit, Klarheit. Heilige Zucht walte über allem unserem Tun.“ (S. 55) Es gehe darum, unsere Waffen heilig zu halten und nach dem Sieg, „wenn Deutschland durch Gottes Gnade triumphierend auf der Höhe steht“, dann, so fordert Althaus, „müssen wir aber auch hinausgehen zu den Völkern Asiens und Afrikas und ihnen als das Volk, dem Gott den höchsten Beruf gab, mit ganz neuem Ernst und ganz neuer Verantwortlichkeit das Evangelium bringen, das Beste, was wir haben … Wir beten darum: ,Herr, damit dein Reich komme, lass uns siegen‘, aber wir fügen in tiefster Demut hinzu: ,Lass uns so siegen, dass wirklich dein Reich komme.‘“ (S. 56 f.)
Trotz aller Irritation über die uns befremdende Terminologie von Kriegsdienst als Gottesdienst – das seelsorgerliche Ziel der Verkündigung dieser Predigt liegt eindeutig in diesem zweiten Teil mit dem Appell zur eigenen Reinigung. Diese Intention hatte Althaus schon seinen Eltern zu erkennen gegeben. Hier war er sehr engagiert, und im Untergrund spürt man seine Erregung über die sexuelle Zügellosigkeit in der Truppe. Auch in anderen Predigten finden wir 20 Vgl. Ludwig Dehio, 1948, vor allem S. 12 ff.
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immer wieder ähnliche Passagen. Die Forderung, „uns selber für den Streit zu heiligen“, ist für Althaus notwendig verbunden mit „Deutschlands Verantwortung für die Welt“, was seine späteren Kritiker als problematischen deutschen Sendungsgedanken bezeichnen, den sie mit nationalistischen Implikationen befrachtet sehen. Demgegenüber ist festzuhalten, dass Althaus diesen Sendungsgedanken ganz pietistisch auf die zu leistende Heidenmission bezieht. Dies finden wir in den Schlusspassagen seiner Predigt deutlich formuliert. Die deutsche Sendung wird rein christlich definiert. Ihre Begründung liegt in der besonderen Gemütstiefe und Religiosität, die Althaus dem deutschen Volkscharakter zuschreibt. Den Völkern Asiens und Afrikas das Evangelium zu bringen, sieht er darum als die zentrale Aufgabe deutscher Weltpolitik nach dem gewonnenen Krieg. Man wird aus heutiger Sicht diese Zielbestimmung deutscher Weltpolitik als naiv und unpolitisch beurteilen müssen, zumal sie alle rein macht- oder wirtschaftspolitischen Interessen – auch in der Kolonialpolitik – zu übersehen scheint. Die Fixierung der deutschen Sendung auf die christliche Mission bei Althaus ist jedoch zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen. Sie ist eindeutig biographisch verwurzelt und liegt in der Konsequenz der engen, auch familiären Verbindung von Paul Althaus zur lutherischen Erweckungsbewegung und zur „Heidenmission“ sowie seines Engagements in der pietistisch geprägten Deutschen Christlichen Studentenbewegung21. In einer Predigt am 6. Januar 1915, die er – der Kirchenordnung gemäß – ganz der Mission widmete22, hatte er ohne jeden nationalen oder patriotischen Ton darüber Klage geführt, dass die christlichen Völker Europas untereinander Krieg führen, sich jeweils mit „Heiden“ verbünden, statt gemeinsam die um die Jahrhundertwende erkennbare Aufnahmebereitschaft der nichtchristlichen Welt für die Verbreitung des Christentums zu nutzen. Die Gunst der Stunde habe damals in der internationalen Bewegung des Christlichen Studentenweltbundes unter der charismatischen Führungspersönlichkeit von John Mott hoffnungsvollste Perspektiven eröffnet: „das Feld schien weiß zur Ernte … Deutsche und Engländer und Amerikaner Hand in Hand. Und nun kam dieser furchtbare Krieg“ (S. 42 f.). Dass der Krieg Sünde ist, klingt hier im Grunde wieder an. Zugleich wird deutlich, dass der deutsche Sendungsgedanke, die Verpflichtung der Deutschen zur Mission wegen ihrer besonderen religiösen Begabung von Althaus keineswegs exklusiv gedacht wird, sondern allenfalls den Deutschen im Kreis der christlichen Völker Europas eine besondere Verantwortung zuschreibt. Althaus’ Predigten sind keineswegs so eindeutig, wie sie in manchen modernen Interpretationen dargestellt werden, das ließe sich an weiteren Beispielen leicht aufzeigen. Sie sind in sich viel spannungsvoller und auch immer wieder gegen nationale Überhebung gerichtet. Gleichwohl bleibt natürlich 21 Vgl. oben S. 51 f. 22 P.A., 1915 (3), S. 35 – 45.
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festzuhalten, dass die nationalen, patriotischen Töne einschließlich einer ausdrücklichen Kriegsbejahung nicht zu überhören sind. Darin gleichen die Predigten von Althaus vielen Predigten im Ersten Weltkrieg. Das gilt nicht nur für Prediger aus dem deutschen Luthertum, sondern im Prinzip ebenso für katholische Priester und in fast noch intensiverer Form für die Prediger in Frankreich.23 Die Gefahr, dass nationale Gefühle und historische Überzeugungen die christliche Verkündigung im Kriege überwucherten, war überall spürbar. Das Tätigkeitsfeld, das Paul Althaus ab Sommer 1915 bis zum Kriegsende übertragen wurde, bedeutete unter diesem Gesichtspunkt eine besondere Herausforderung.
2.2 Seelsorge und Deutschtumsarbeit – Gouvernementspfarrer in Lodz 1915 – 1918 Nachdem die Front nach Osten vorgerückt war, fühlte sich Althaus schon Mitte März 1915 in Brzeziny nicht ausgelastet. „Ich möchte weiter nach vorne. Kanonen donnern“, schrieb er am 10. 3. 1915 an seine Eltern. Freilich nutzte er die freie Zeit neben dem Predigtdienst gut aus. Er vollendete den BoussetArtikel und schrieb seinen umkämpften Bericht als Lazarettpfarrer. Daneben trieb er umfangreiche Lektüre. Seine Eltern bat er um Übersendung seiner Materialien für eine geplante Neuauflage seiner Artikelserie in der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung über die Sterbe- und Ewigkeitslieder der evangelischen Kirche, die dann noch 1915 als Buchausgabe herauskam.24 Als dann Anfang August fast alle Truppen aus Brzeziny verlegt worden waren, wurde er als Garnisonspfarrer nach Lodz versetzt. Seinen Eltern gegenüber kommentierte er : „hoffentlich nicht für allzu lange“ (18. 8. 1915). Am Tag nach seiner Ankunft schrieb er, „ich wäre lieber nach Osten zu vorgeschritten. Hier ist ja Frieden. Auch sind hier im Augenblick kaum Lazarette. Und schließlich liebe ich Lodz nicht sehr. Garten und Wald sind nun dahin.“ (20. 8. 1915) Doch Althaus stellte sich den neuen Herausforderungen als Garnisonspfarrer bei der deutschen Militärverwaltung für die ganze Region. Sein Vorgänger Willigmann war in gleicher Eigenschaft nach Warschau, das ja inzwischen von den deutschen Truppen besetzt war, beordert worden und hatte ihn offensichtlich für Lodz vorgeschlagen.
23 Vgl. dazu vertiefend: Gerd Krumeich und Hartmut Lehmann, 2000, sowie Annette Becker, Religionen. In: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 2004, S. 192 ff. 24 Vgl. Paul Althaus, 1913.
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„Es ist nicht leicht, sein Nachfolger zu sein, denn er wird hier ungemein verehrt von Militär und Civil. Tausende waren sonntäglich in der Kirche (zum Beispiel drucken wir 4000 Liederzettel). Möchte es mir gegeben sein, sie zu halten“ (20. 8. 1915). Da das „vaterländische Element“ in Willigmanns Predigten „sehr stark und vorwiegend war“, habe er viele auch der Kirche Entwöhnte in seine Gottesdienste gezogen. „Das werde ich so nicht tun, weil ich das Vaterländische in seiner Art nicht predigen kann und will … Denn gerade, da ich religiös predige, haben die Civilisten an ihren Pastoren wahrhaftig genug. So bin ich mit meiner hiesigen Stellung nicht ganz einig“ (23. 8. 1915).25
Zehn Monate später fühlte sich Althaus in seinem Lodzer Arbeitsfeld „durch den furchtbaren Krieg auf eine wunderbare Höhe meines Lebens geführt“ (14. 6. 1916), und am 18. 8. 1916 schrieb er : „Heute vor einem Jahr erhielt ich die Berufung nach Lodz. Was für ein Jahr. Nie hätte ich Ähnliches bei Kriegsbeginn geahnt.“ Paul Althaus fand in Lodz ein völlig neues Betätigungsfeld. Nicht mehr Lazarettseelsorge und Truppenbetreuung stand im Vordergrund. Vielmehr hatte er sich vor allem um die große deutsche Bevölkerungsgruppe zu kümmern, die in Lodz und Umgebung wohnte und zum überwiegenden Teil evangelisch war. In den Landgebieten der mittleren Weichsel gab es viele deutsche Bauerndörfer und Kolonien, die während des 18. und 19. Jahrhunderts von deutschen Auswanderern angelegt waren und die Althaus schon in seiner Tätigkeit in Wloclawek „entdeckt“ hatte. In Lodz – einem ursprünglich kleinen Dorf – waren seit 1821 gezielt deutsche Weber und Tuchmacher angesiedelt worden, die dort erst handwerklich und dann industriell eine florierende Textilindustrie aufbauten und eine stürmische Entwicklung der Stadt Lodz zur zweitgrößten Stadt Polens und zum „Manchester des Ostens“ auslösten. War anfänglich die Lodzer Bevölkerung überwiegend deutsch – 1865 bei inzwischen 40.000 Einwohnern zwei Drittel Deutsche – so verschob sich die Bevölkerungsverteilung infolge der industriellen Entwicklung mit ihrem hohen Arbeitskräftebedarf durch die Einstellung polnischer Industriearbeiter. Außerdem begünstigten Wirtschaftsboom und Judenemanzipation den Zuzug zahlreicher Juden – Arbeiter, Gewerbetreibende und Unternehmer. So wurde Lodz am Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer „multikulturellen“ Stadt, in der 1911 unter inzwischen 510.000 Einwohnern rund 120.000 (nach anderen Quellen 75.000) Deutsche – mehrheitlich evangelisch – und 170.00 Juden lebten.26 25 Althaus weigerte sich im Gottesdienst „Deutschland, Deutschland über alles“ singen zu lassen, Willigmann hatte dafür kein Verständnis. Siehe unten S. 79 f. 26 Zu den Einzelheiten vgl. neben der allgemeinen Literatur zur polnischen Geschichte Adolf Eichler, 1921 und 1942. Eichler war der entscheidende Sprecher und Organisator der deutschen Bewegung in und um Lodz und zugleich auch Sprecher des synodal orientierten Flügels der deutschstämmigen Lutheraner innerhalb der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen. Paul Althaus hatte mit Eichler engen Kontakt, sie arbeiteten intensiv zusammen. Wenn Liebenberg, 2008, nur von der „Clique“ um Eichler spricht, der er alldeutschen Annektionismus
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Die Existenz einer so großen deutschen Volksgruppe im damaligen „Russisch Polen“ oder „Kongresspolen“, in dem der Zar regierte, war in Deutschland weitgehend unbekannt. Während man die Deutschen im Baltikum oder im traditionsreichen, damals ungarischen Siebenbürgen immer im Bewusstsein hatte, entdeckte man die große deutsche Volksgruppe an der mittleren Weichsel rund um Lodz eigentlich erst während des Ersten Weltkrieges. Eine Ursache lag neben der relativ jungen Einwanderung in der starken Orientierung der Lodzer Industrie auf den russischen Markt. Gegen die antirussische nationale Oppositionsbewegung der polnischen Bevölkerung protegierte die zaristische Regierung zeitweise die deutsche Bevölkerungsgruppe. Während des polnischen Aufstandes 1905 suchten die Deutschen darum in Lodz ihr Eigenprofil zu stärken; zum Beispiel gründete man ein deutsches Gymnasium. Umso mehr gerieten die Deutschen 1914 bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges zwischen alle Fronten. Zum Teil mussten die jungen Männer in der russischen Armee dienen und gegen Deutschland kämpfen, zum Teil wurden die führenden deutschen Persönlichkeiten mit dem Vorrücken der deutschen Truppen von der russischen Regierung nach Innerrußland verbracht und dort interniert. Da Lodz im zweiten Halbjahr 1914 mehrfach von deutschen Truppen besetzt und dann wieder aufgegeben wurde und es während der Schlacht bei Lodz auch zur Zerstörung deutscher Dörfer kam, wurde die Lage der deutschen Bevölkerung sehr prekär. Sollten sie ihr Deutschtum betonen, um als Kollaborateure verdächtigt zu werden, oder sich bedeckt halten, um es mit Russen und Polen nicht zu verderben? Nachdem die deutschen Truppen 1915 über Warschau hinaus nach Osten vorgerückt waren, erschien vielen Deutschen in Lodz und Umgebung die Lage geklärt, zumal die deutsche Militärverwaltung sie nach Kräften unterstützte. Das Gustav-Adolf-Werk entsandte reichsdeutsche Pfarrer, weil die ortsansässigen Pfarrer vielfach in Russland interniert waren. Außerdem erhielten die Gouvernementspfarrer die von den Militärbehörden gestellte Aufgabe, sich besonders um die deutsche Bevölkerung zu kümmern. Das Kriegserleben weckte in der deutschen Bevölkerung ein neues Bewusstsein ihres deutschen Volkstums. Die Konflikte mit der russischen Regierung forcierten das ebenso wie die offene Skepsis der Polen, die sich vor und Germanisierungsabsichten unterstellt, dann ist das einseitig und zeugt von unpräziser historischer Begrifflichkeit gepaart mit moralisierendem Unterton. Abgewogener, materialreich zur Situation der deutschen Minderheit in Polen und insbesondere in Lodz, dabei durchaus auch kritisch gegenüber Eichler O. Heike, 1985 und ebenso materialreich und differenziert A. Kleindienst/O. Wagner, 1985, sehr überzeugend und abgewogen jetzt vor allem J. Hensel, 1999, dort sehr differenzierte Angaben zur Bevölkerungsstatistik, S. 35 ff.; die unterschiedlichen Angaben zum Anteil der „Deutschen“ zwischen Hensel und Heike erklären sich offenbar aus differierenden Zuordnungen z. B. zugewanderter Sudetendeutscher oder der Berücksichtigung von in Lodz lebenden Deutschen, die ihre reichsdeutsche Staatsbürgerschaft nicht aufgegeben oder die russische angenommen hatten.
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dem Weltkrieg in ihrem Kampf gegen die zaristische Regierung von den Deutschen nicht hinreichend unterstützt sahen und der deutschen Militärregierung sehr zurückhaltend gegenüberstanden. Eine Gruppe von Aktivisten aus dem Lodzer Deutschtum organisierte die „Deutsche Bewegung“, gründete ein Mädchengymnasium und ein Kriegswaisenhaus, unterstützte den Wiederaufbau kriegszerstörter Dörfer, schuf sich ein eigenes Presseorgan – die Deutsche Post –, baute landwirtschaftliche Unterstützungskassen auf und versuchte auch auf kulturellem Gebiet das Volksbewusstsein der Deutschen zu heben. In der Offenheit der „siegreichen Kriegssituation“ des Jahres 1915 im Osten plädierte man im Spätjahr 1915 für den Fall eines deutsch-russischen Friedensschlusses für einen Anschluss des mittleren Weichselgebietes und der Lodzer Gegend an das Deutsche Reich. Als jedoch 1916 klar wurde, dass die Mittelmächte ein selbständiges Königreich Polen als potentiellen Bündnispartner gegen Russland zu errichten unternahmen, da stellte sich die Deutsche Bewegung mit ihren Aktivisten auf diese Entwicklung ein und versuchte, die Rechte der deutschen Minderheit im neuen polnischen Staat zu sichern. Allerdings fanden sie bei der deutschen Regierung keine ausreichende Unterstützung. Für den Gouvernementspfarrer Althaus eröffnete sich in diesem Umfeld ein ganz neues, großes Betätigungsfeld, das ihn voll forderte und erfüllte. Er fand als Prediger bei den Lodzer Lutheranern eine große, aufmerksame Gemeinde. Jeden Sonntag hatte er in der Regel zweimal zu predigen, erst in Lodz, dann nachmittags in Zgierz, einer kleinen Stadt 10 km nördlich von Lodz. Besonders die Gottesdienste in der großen Lodzer Johanniskirche kosteten viel Kraft wegen des starken Zulaufs von 2000 bis 3000 Hörern. Ostern 1916 waren es sogar 3500 (30. 4. 1916), Anfang Juli 1916 lesen wir : „Im Gottesdienst 2000 Leute. Atemlos lauschende Gemeinde“ (2. 7. 1916). Zusätzlich predigte Althaus auch bei Landsturmeinheiten, die für den Schutz der Eisenbahn eingesetzt waren und für die er Sondergottesdienste auf einem auswärtigen Bahnhof abhielt. Dazu kamen immer wieder Beerdigungen oder auch Hochzeiten und Taufen, zu denen man ihn bat. Außerdem setzte sich Althaus für Gemeindeglieder ein, die sich in seiner intensiv genutzten Sprechstunde bittend an ihn wandten, was ihn mit zusätzlichen Aufgaben belastete, aber zugleich seine Predigttätigkeit befruchtete (31. 10. 1916). Einmal in der Woche hielt er mit großem Engagement Religionsunterricht im neugegründeten Lyzeum, der Deutschen Mädchenoberschule. Jeden Samstag erschien in der von der Gouvernementsverwaltung herausgegebenen Deutschen Lodzer Zeitung eine kurze Sonntagsbetrachtung. Althaus legte hier in knappen Ausführungen ein Bibelwort aus. Er fand dabei viele Bezüge zur aktuellen Gegenwart, zur Lage im Krieg, zur sozialen Situation in Lodz und zum individuellen Glaubensleben der einzelnen Christen. Man spürt immer wieder seine Siegeshoffnungen und das gute Gewissen, da Deutschland in den Krieg gezwungen sei. Im Vordergrund steht aber stets sein Appell zur christlichen Erneuerung. Althaus war tief durchdrungen von der Überzeugung, dass die deutschen 76
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Lutheraner in Polen nur überleben könnten, wenn sie sowohl ihr Deutschtum als auch ihre lutherische Frömmigkeit pflegten. Die Erhaltung des Volkstums war ihm wichtig. In der Gründung des Deutschen Mädchengymnasiums sah er deshalb einen besonders konsequenten Schritt, „die deutsche Zukunft im polnischen Lande“ zu bauen, weil die Keimzelle des deutschen Lebens „das deutsche Haus“ sei, dessen „Geist die deutsche Frau“ bestimmt. Zugleich wird hier deutlich, dass Althaus keine Annektionspläne unterstützte, sondern ihm eine „deutsche Zukunft im polnischen Lande“ am Herzen lag. Die Kirche – so forderte er auf einer Allgemeinen Pastorenkonferenz – müsse sich darum für die Erhaltung des deutschen Volkstums interessieren, dürfe gegen „völkische Charakterlosigkeit“ nicht gleichgültig sein. „Völkische Selbstbesinnung ist schon ein Hineinwachsen in eine Welt sittlicher, unsichtbarer Verpflichtungen und kann damit sicherlich der Vorhof zum Heiligtum der Religion werden“. Dabei brauche man, „um die Treue des deutschen Volkstums zu begründen, nicht im Geringsten die Überlegenheit der deutschen Art über Fremde nachzuweisen“; es gehe darum, „die eigene, gottgeschenkte Eigenart zu wahren. Jede Individualität ist heilig, auch die bescheidene. Wir halten an unserem Deutschtum nicht deshalb fest, weil wir uns etwa als die Edelrasse der Menschheit, als das auserwählte Volk fühlen, sondern weil wir Deutsche sind und unsere Eigenart in jedem Fall als Gottes besondere Gabe heilig halten sollen. Du sollst deines Gottes Gaben ehren und nicht verkümmern lassen“.27
Von dieser Position aus, deren innere Begrenzungen man nicht übersehen darf, engagierte sich Althaus im Deutschen Verein und in der Pflege des deutschen Volkstums. Er hielt öffentliche Bildungsvorträge, nicht nur über Luther zum Reformationsfest, sondern sprach auch über deutsche Volkssitte und Volksfeste oder über Königin Luise und über Bismarck. Im Organ des Deutschen Vereins, der „Deutschen Post“, publizierte er eine ganze Artikelserie über Vaterlandsliebe und Frömmigkeit, hielt Vorträge vor dem deutschen Lehrerverband in Polen und die Festrede beim deutschen Volksfest in Lodz im Juni 1918. Bei allem Einsatz lassen sich viele weitere Zitate anfügen, in denen Deutschtumspflege zwar als kirchliche Aufgabe beschrieben, aber zugleich hervorgehoben wird, dass christliche Verkündigung gerade im lutherischen Verständnis mehr ist als der Versuch, den Deutschen in Lodz ihr Deutschtum wieder bewusst zu machen. Der Volksbegriff, den wir bei Althaus hier – wie schon bei der oben interpretierten Predigt – wahrnehmen können, steht ganz in der Tradition der Herderschen Vorstellung vom Eigenwert jedes Volkes, seiner spezifischen, individuellen Volkskultur und seinem je eigenen Nationalcharakter. Am Beginn des 21. Jahrhunderts erscheinen uns diese Begriffe eher als eine An27 Andacht zur Einweihung des Luisen-Lyceums in Lodz am 28. 4. 1916, abgedruckt in P.A., 1917 (1), S. 21 – 25 und „Die Stellung der Kirche im Volksleben“, Rede auf der Pastorenkonferenz 8./ 9. 8. 1916, ebd. S. 25 – 36, Zitate auf S. 35 und 32.
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sammlung von Klischees und Stereotypen, Vorurteilen und Verallgemeinerungen über angebliche oder tatsächliche Gemeinsamkeiten und Zielvorstellungen der Deutschen.28 Statt vom Nationalcharakter reden wir heute von politischer Kultur oder eindeutiger, weil wertneutraler : political culture. Unter diesem Begriff versuchen wir die Grundwerte, Kenntnisse und gefühlsmäßige Bindungen der Bürger, sowie ihre Loyalität gegenüber ihrem politischen System empirisch zu erheben. Wir erkennen diesen Komplex als sehr wandelbare Größe voller innerer Widersprüche und fordern – nach den Erfahrungen des NS-Unrechtsregimes – eine eindeutige rechtsstaatliche Fundamentierung und Begrenzung. Beim jungen Althaus erscheint dagegen ein verbindliches Bild des Volkscharakters, dessen normative Kraft beim gebildeten deutschen Bürgertum durch den nationalen Einigungsprozess während des 19. Jahrhunderts erwiesen zu sein schien. Das Ineinander von angeblich historisch legitimierten Seinsaussagen und moralischen Sollensvorschriften war zeittypisch. Die Realität der Nationen und ihrer Ansprüche an ihre Angehörigen sowohl wie an ihr politisches Umfeld erschienen als „Sinn und Ziel“ der Geschichte. Historische Deutung und normatives Denken befanden sich in einer höchst problematischen Gemengelage. Die Problematik wird besonders deutlich, wenn Althaus aus den normativ fixierten, typisch deutschen Eigenschaften „die eigene gottgeschenkte Eigenart“ werden lässt und „jede Individualität“ für heilig erklärt, wobei nicht die personale, sondern die kollektive Individualität gemeint war. Die historische Erfahrung und Erkenntnis, die man gemacht zu haben glaubte, wurde jetzt theologisch aufgewertet. Die angeblich gottgeschenkte Eigenart des jeweiligen Volkes begründete dann höchste Ansprüche an den einzelnen Volkszugehörigen, denen gerecht zu werden, die Ehre des Einzelnen ausmache, ihn den rein egoistischen Individualismus und Materialismus überwinden lasse. Sein Leben im Krieg für das Vaterland einzusetzen und dahinzugeben, war für Althaus – trotz aller Schmerzen und allen Leides, das er erlebte – eine individuelle Ehre, die selbstverständlich auch den gegnerischen Soldaten zukam. Der Anspruch des Vaterlandes galt jedoch umso mehr, weil – wie Althaus und die meisten seiner deutschen Zeitgenossen sich sicher waren – dieser Krieg dem eigenen Volk von außen aufgezwungen war. In der speziellen Lodzer Situation fand Althaus ein zusätzliches Motiv für die Deutschtumspflege. Er setzte sich dezidiert gegen eine Polonisierung der lutherischen Kirche in Polen ein, die im Zeichen eines „Polnischen Evangelizismus“ von etlichen ortsansässigen lutherischen Pfarrern unter Führung des späteren Generalsuperintendenten und Bischofs Julius Bursche vertreten wurde.29 Er fürchtete angesichts der Dominanz und nationalen Prägung der 28 Vgl. zum Thema „typisch deutsch“ die anschauungsgesättigte und überzeugende Studie von Hermann Bausinger, 2000. 29 Vgl. dazu Oskar Wagner, Der Protestantismus in der Republik Polen. In: Lutherische Kirche in der Welt. Folge 33 (1986), S 109 – 125, hier insbes. S. 113 ff.
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katholischen Kirche in Polen, dass eine polonisierte lutherische Kirche in Polen keine Überlebenschance haben würde. Demgegenüber vergrößere das Festhalten an deutscher Sprache und deutscher Kultur für die lutherische Gemeinde die Chance, ihre spezifische lutherische Frömmigkeit zu erhalten, zumal Luther nicht nur durch seine Sprache, Bibelübersetzung und Kirchenlieder das Deutschtum profiliert habe, sondern seine Art der Frömmigkeit und Gewissensbindung in besonderer Weise dem deutschen Volkscharakter gemäß sei. Natürlich gestand Althaus zu, Luthers Tat reiche über die Grenzen des deutschen Reiches weit hinaus, zumal Luther mehr sei, als ein deutscher Mann. Gleichwohl dürfe man Luther gerade „in die gegenwärtige Not Deutschlands als Mitkämpfer“ rufen. Natürlich lasse sich Luther nicht in einen künstlichen deutschen Rahmen sperren, aber es sei keinem Deutschen zu verwehren, sich an Martin Luther als großem Lehrer aufzurichten.30 Ganz in diesem Sinne verfasste Althaus 1917 eine kleine Schrift über „Luther und das Deutschtum“, in der er die Geistesverwandtschaft von Luthertum und Deutschtum darlegte, aber zugleich die Grenzen zwischen lutherischem Christentum und „deutscher Frömmigkeit“ und dem Idealismus der „deutschen Religion“ eines Arthur Bonus oder Johannes Müller (Elmau) klar zu bestimmen versuchte.31 Die vielfach bestätigte Erfahrung, dass konfessionelle Minderheiten, die zugleich nationale Minderheiten sind, ihre konfessionelle Identität häufig nur dann langfristig bewahren können, wenn sie an ihrer sprachlichen und kulturellen Identität festhalten, macht deutlich, dass Paul Althaus mit seinen Überzeugungen und Stellungnahmen generell einen wichtigen Zusammenhang traf. Die Gewährung kultureller Autonomie an die Volksgruppen in einem „Vielvölkerstaat“ war ein Modell, das in diesen Jahrzehnten in Mähren aber auch in den baltischen Staaten erfolgreich realisiert wurde, das aber dem nationalen Selbstbewusstsein der jeweiligen Mehrheitsnation nur mühsam abzuringen war, insbesondere dann, wenn diese – wie in Polen seit den Teilungen – ihrer Souveränität beraubt gewesen war und noch dazu in den preußischen Teilungsgebieten zunehmend einer Germanisierungspolitik ausgesetzt war. Bei aller Nähe zwischen nationaler und religiöser Argumentation, das Nichtaufgehen des Religiösen im Nationalen blieb Althaus jedoch immer bewusst. Schlaglichtartig wird das durch eine Episode deutlich, von der er seinen Eltern (7. 2. 1916) berichtet: „Am Mittwoch war Willigmann [Gouvernementspfarrer in Warschau, Vorgänger von Paul Althaus in Lodz] da … Wir haben uns gern, sind aber nicht in allem einig. So hatte Ex. [-zellenz General v. Barth] gewünscht, ich sollte am 27. Januar [Kaisers Geburtstag] am Schluss singen lassen (in dem Gottesdienste!), ,Deutschland, 30 So in einer Rezension der Schrift des Lodzer Oberpastors und Superintendenten Paul Angerstein in der Deutschen Lodzer Zeitung, Nr. 234 vom 26. 8. 1916. 31 Vgl. P.A., 1917 (2).
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Deutschland über alles‘. Darauf ging ich nicht ein, und Ex. zog in sehr vornehmer Weise zurück. Willigmann versteht mich nicht in diesem Punkte.“
Die Grenze zwischen nationalem Engagement und christlicher Verkündigung, die Paul Althaus hier zieht, ist auch in seinen Predigten immer wieder wahrnehmbar. Freilich darf man sich bei der Lektüre nicht durch die uns heute „anrüchigen“ Begriffe wie „völkisch“ oder „alldeutsch“ irritieren lassen. Völkisch ist für Althaus zunächst einmal nur die Eindeutschung von „national“, und „alldeutsch“ die Zusammenfassung der Erkenntnis, dass es auch jenseits der deutschen Reichsgrenzen noch Deutsche und zu pflegendes und zu unterstützendes Deutschtum gibt, wobei Unterstützung gerade nicht Annexion bedeutete. Er war nicht Mitglied des Alldeutschen Schutz- und Trutzbundes und unterstützte dessen Vorreiterrolle für eine nationalistische Germanisierungspolitik nicht. Sein sehr viel weiterer Gebrauch des Begriffes, der von E.M. Arndt stammt, muss berücksichtigt werden32. Entscheidend war für Althaus, dass Deutschtumspflege durch christliche Unterweisung ihre eigentliche Tiefe und zugleich ihre Beschränkung erfuhr. Er dachte das deutsche Volk definitionsgemäß als christliches Volk, gemeinschaftsorientiert und frei von zerstörerischer individualistischer Bindungslosigkeit. Die Christlichkeit begrenzte seiner Meinung nach die Rolle und das Auftreten des deutschen Volkes inhaltlich und ordnete sie in die Völkerwelt ein. Dass solche Positionen durch eine deutsche Staatsführung pervertiert werden könnten, war jenseits der insoweit völlig unpolitischen politischen Vorstellungswelt des jungen Theologen, der von einer christlichen Obrigkeit in Deutschland, die sich ihrer Verantwortung vor Gott bewusst sei, als gegebener Tatsache glaubte ausgehen zu dürfen.33 Die Bindungskraft dieser Vorstellungen, noch dazu in einem Krieg, der nach weitverbreiteter damaliger Auffassung dem deutschen Reich aufgezwungen worden war und der darum das Lebensrecht der deutschen Nation zu sichern hatte, ist uns Heutigen fremd. Gestärkt durch die Ergebnisse empirischer Sozial- und Meinungsforschung und geprägt von der Vorstellung eines säkularen Staates und „der Weltlichkeit der Welt“ (Dietrich Bonhoeffer) begreifen wir heute „Völker“ als Ergebnisse historischer Prozesse voller Widersprüche in sich und in stetem Wandel begriffen, deren Loyalitätsanspruch begrenzt ist und sich nicht auf „gottgeschenkte Eigenschaften“ und „heilige Individualität“, wohl aber auf gemeinsame Geschichte und daraus erwach32 Noch 1949 schrieb Paul Althaus an eine Gruppe aus Lodz und Umgebung vertriebener Deutscher in einem Grußwort für deren Flüchtlingszeitung über seine Entdeckung des Deutschtums in Polen: „In der Schule hatten wir nie davon gehört, dass in Polen eine große deutsche Volksgruppe lebe. So wenig war das Reich an dem deutschen Volke jenseits seiner Grenzen interessiert. So wenig war man ,alldeutsch‘ gesinnt.“ Brief vom 28. 1. 1949, NLA K 10. 33 In einem sehr persönlichen Brief vom 2. 2. 1948 entgegnete Althaus auf eine scharfe Kritik des Schweizer Pfarrers Rh. Gelpke selbstkritisch: „Mein Fehler in einigen Schriften, die Sie nennen, ist vor allem der, dass ich stillschweigend voraussetze, dass der Staatsmann im Ernste ,vor Gott steht’ und dass ich das nicht immer wieder ausspreche.“ NLA K 10.
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sende Verantwortung berufen kann. Die Differenz zwischen der Volks- und Volkstumsauffassung, die Althaus während des Ersten Weltkrieges gerade in Lodz erlebte, die ihn prägte und von der aus er dachte, und dem, wie wir heute als pluralistische Gesellschaft in Deutschland beschreiben, mag noch so gravierend erscheinen, zunächst gilt es, die Prägung zur Kenntnis zu nehmen, die das Erlebnis des Ersten Weltkriegs für den jungen Theologen Paul Althaus nach Schulzeit und Studium im intakt erlebten deutschen Kaiserreich bedeutete, wobei die relative Friedlichkeit der Situation in Lodz von 1915 bis zum Zusammenbruch im November 1918 mitbedacht werden muss. Die Furchtbarkeit des Krieges war hier eher nur aus der Ferne erlebbar.34 Die Schrecken des Krieges blieben Althaus jedoch keineswegs verborgen. Die Ernährungsnot in der Heimat war ihm präsent, und er versuchte, die Eltern durch Lebensmittelpakete zu unterstützen. Vor allem aber trieb ihn die Sorge um seine an der Front kämpfenden Brüder um. Immer wieder erkundigte er sich bei den Eltern um die neuesten Nachrichten vom Ergehen der Brüder. Einige Briefe, die er voller Teilnahme an sie richtete, sind erhalten, vor allem aber die Zeugnisse tief empfundener Trauer, als 1916 der erste und 1917 der zweite Bruder gefallen waren. Außerdem kann man den Briefen an die Eltern entnehmen, mit welcher Trauer und Betroffenheit Althaus auf Nachrichten reagierte, wenn einer seiner Vettern oder ihm befreundete Verbindungsbrüder gefallen waren (3. und 4. 9. 1915). In den Schwarzburgblättern veröffentlichte er sehr persönliche Nachrufe35. Die Grauen des Krieges, die Schmerzen und Nöte blieben ihm nicht erspart. Auch dafür gibt es in seinen Briefen an die Eltern viele Zeugnisse: „Ich gehe so gern meiner Arbeit nach. Aber dass es Kriegsarbeit ist und dass die Welt weiter zur Hölle wird, das ist der Druck, der allmählich uns alle lähmt.“ (23. 9. 1916) „Auch erlebt man hier vieles, dass einem den Spruch: ,Es wird am deutschen Wesen noch einmal alles genesen‘, sehr verleidet und sehr kleinlaut macht. Manchmal sehne ich mich aus dieser ganzen Welt der Nationalitätenverhetzung und des völkischen Kampfes fort in eine Sphäre edlen Menschentums. Diese furchtbare Verhetzung der Völker gegeneinander ist ja der reine Wahnsinn.“ (20. 7. 1915)
Diesen Nöten und diesem Grauen des Krieges wich er in seiner seelsorgerlichen Tätigkeit nicht aus, er stellte sich ihnen bei der Sterbebegleitung von 34 Vgl. dazu die völlig anderen Erlebnisse in den Trommelfeuern bei Verdun des Feldpredigers Paul Tillich, der von dem überfüllten Verbandsplatz in einem Schlosskeller in Reichweite der feindlichen Artillerie berichtet: „Um uns tobt die Hölle … Körperlich und seelisch können wir nicht mehr das werden, was wir vorher waren.“ Als Vikar in den Arbeitervierteln von Berlin hatte Tillich freilich schon vor 1914 andere soziale Erfahrungen gemacht, die ihn das Nationale als Grundkategorie von Politik und Gesellschaft hinterfragen ließen, obwohl er bei Kriegsbeginn in den Chor der patriotischen Prediger zunächst eingestimmt hatte. Vgl. Paul Tillich, 1995, S. 5 f. und 11. 35 Vgl. als ein Musterbeispiel den Nachruf auf seinen besten Freund aus der Tübinger Nicaria, den Mediziner Wilhelm Hölzel. In: Der Schwarzburgbund 25. Jg. 1915/1916, S. 3 f.
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Verwundeten und konnte, wie Zeitzeugen immer wieder bestätigten, im persönlichen Einsatz, im Zuhören und Trösten in echter Weise helfen.
2.3 Ehen werden im Himmel geschlossen – Verlobung 1917 und Hochzeit 1918 Wenn Althaus im Rückblick von 1927 die Lodzer Jahre gleichwohl als die Höhe seines Lebens beschrieb, dann darf man neben dem ihn erfüllenden Arbeitseinsatz und dem zustimmenden Echo, das er fand, gewiss auch die Eheschließung mit Dorothea Zielke im Februar 1918 in diese hochgestimmte Wertung mit einschließen. Zwei bemerkenswerte Quellen geben uns einen tiefen Einblick in die „Zusammenführung“ des Ehepaares Althaus. In einem familieninternen Lebensbericht über ihre Jugend und ersten Ehejahre berichtet Dorothea Zielke anschaulich von ihrer ersten Begegnung mit Paul Althaus im Juni 1917 mit der rasch folgenden Verlobung und der Hochzeit im Februar 191836. Die 21-jährige Dorothea Zielke war in Warschau aufgewachsen, wo ihr Vater – aus einer reichsdeutschen Lodzer Kaufmannsfamilie stammend – als promovierter Chemiker das dortige Gaswerk leitete. Sie hatte in Berlin in einem Internat eine deutsche Töchterschule besucht und eine Ausbildung als Kindergärtnerin absolviert. Seit 1916 leitete sie – bei ihren Eltern lebend – einen deutschen Kindergarten in Warschau. Ihre Tante lud sie im Sommer 1917 zu einer Hochzeit nach Lodz ein, nicht ohne den Hintergedanken, sie dort mit einem jungen Mann aus der weiteren Bekanntschaft zusammenzubringen. Die Trauung am 22. 6. 1917 vollzog ein junger Gouvernementspfarrer – Althaus -, der später ganz oben an der Festtafel saß, während sie mit ihrem Begleiter weit am Ende platziert war. Aber der Pfarrer kam an ihren Platz und wechselte einige Worte mit ihr, die sie offensichtlich beeindruckten. Am folgenden Sonntag ging sie in den Gottesdienst, wo Althaus predigte. Sie nahm auf der Empore Platz, wo alle „Kanzelschwalben“, die jungen unverheirateten Mädchen aus Lodz, saßen, um den stattlichen Pfarrer von dort aus anzuhimmeln. Am Montag machte der junge Pfarrer bei ihrer Tante abends einen Besuch, man verabredete die Besichtigung eines Kriegswaisenhauses, das Althaus ein paar Tage später den Damen – ihrer Tante, deren Tochter und ihr – zeigte. Er tauchte im Lauf der Woche noch mehrfach im Haus der Tante auf und suchte 36 Der Sohn von Paul Althaus, Dekan Gerhard Althaus, ermöglichte mir Einblick in einen insgesamt 435 Schreibmaschinenseiten umfassenden Bericht, in dem Dorothea Althaus geb. Zielke über ihre Herkunft und Jugend bis zur Verlobung und Hochzeit und dann über die ersten Ehejahre bis 1933 berichtet, die Verlobung wird S. 135 ff geschildert. Ein Exemplar befindet sich jetzt in NLA K 7c.
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die Unterhaltung mit ihr. Für Mittwoch, den 3. Juli – zwölf Tage nach ihrer ersten Begegnung – verabredeten sie sich zu einem Spaziergang, auf dem sie sich verlobten. Die Erzählung von Dorothea Zielke wird bestätigt und vertieft durch einen ausführlichen Brief, in dem Paul Althaus am 4. Juli 1917 seinen Eltern voller Hochstimmung von den Ereignissen der letzten zwölf Tage berichtet: „Heute setze ich die Feder in ganz feierlicher Stimmung an, um Euch … zu sagen, was mir geschehen ist. Um es vorweg zu sagen: Ich bin seit gestern verlobt! … die große, wundervolle Entscheidung ist seit gestern unabänderlich gefallen.“ Sehr plastisch schildert Althaus auf den folgenden neun eng beschriebenen kleinen Briefseiten, wie er schon „nach den ersten fünf Minuten im Feierhause“ ein junges Mädchen entdeckt habe, das von allen Lodzerinnen merkwürdig abstach: durch ihre „große Einfachheit, Reinheit und Innerlichkeit“. Er „spürte sofort eine nie gekannte Sympathie für jedes Wort, das sie sagte, und die Art, wie sie es sagte“. Auf ihrer Tischkarte sieht er, dass sie wie seine Mutter „Dorothea“ mit Vornamen heißt. „Das war mir ein freundliches Zeichen“, das später noch bekräftigt wird, als er feststellt, dass sie – wie sein Vater – am 26. November Geburtstag hat. Früh verlässt Althaus die Hochzeitsfeier. „Meine Ruhe war hin“, aber ihn plagen auch „dunkle Zweifel“, ob das junge Mädchen „Ähnliches“ empfunden habe. Da ihn die Gedanken in den folgenden Tagen nicht loslassen, sucht er immer wieder Kontakt im Hause Böhme, trifft Verabredungen und kann dann mitteilen: „Gestern, am 3., vormittags, haben wir uns auf einem Spaziergang verlobt.“ Althaus reflektiert berichtend weiter : „Ich kannte mich selbst in diesen Tagen nicht wieder. So viel Energie und Entschluss habe ich doch sonst nicht. Es ist gewisslich auf meiner Seite durch starkes Erwägen und durch manchen Zweifel hindurchgegangen. Wir haben uns gestanden, dass wir beide in diesen zehn Tagen nicht viel geschlafen haben. Aber ich erkannte schließlich ganz klar, dass wir von Gott zusammengeführt sind und dass ich wirklich mit Liebe an diesem Mädchen hänge. Oft, wenn die Gedanken zweifelten, rief mein unmittelbares Empfinden sein ,Ja‘.“ Er schildert dann den Eltern seine Verlobte, sie sei „vielleicht so groß wie Mutter, also klein. Ob sie hübsch ist, weiß ich nicht. In unsere langköpfige Familie kommt nun ein Rundköpfchen … In allem Tiefsten stimmen wir wundervoll zusammen … Das Allerhöchste ist, dass ich zu diesem Mädchen wirklich aufschauen kann und in der Reinheit, Klarheit und Freudelust ihres Wesens so etwas wie Erlösung erlebe. Jetzt hat alles Tasten ein Ende und ich bin ein König … Noch sind wir wie im Traume. Es kam schnell, im Sturm beinahe. Aber wir haben beide nur der besten Stimme in uns gehorcht und nichts ,gemacht‘, sondern nur etwas Unausweichliches erlebt.“
Aus der historischen Distanz des Biographen lässt sich natürlich anmerken, dass das „Unausweichliche“, das Althaus hier erlebte, gleichsam das Erwartbare war. Schon im Sommer 1914 hatte der junge Privatdozent zusammen mit Emanuel Hirsch festgestellt, dass sie heiratsfähig und heiratswillig seien, nur hatte Althaus angefügt, dass sich positiv nichts zeige, also eine Kandidatin 83
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nicht in Sicht war37. Immerhin waren seitdem drei Jahre ergebnislos vergangen. In den vielen Briefen an die Eltern aus diesen Jahren erfahren wir nur von einer Frau, freilich der verheirateten Frau des mit Althaus befreundeten Militärstabsarztes Dr. Karl Siebold. Am 30. 4. 1916 hatte Althaus seinen Eltern berichtet: „seit 4 Wochen gehört Stabsarzt Siebold zu den Leuten, die keinen Gottesdienst versäumen“. Siebold – neu nach Lodz versetzt – regte bei Althaus Andachten im Lazarett an. Daraus entwickelte sich eine persönliche Freundschaft, die in den Briefen an die Eltern immer wieder dokumentiert ist. Die Freunde machten unter anderem gemeinsam Musik und spielten „Choräle nach Kuhlos Posaunenbuch“ (4. 6. 1916). Die gemeinsame Herkunft aus der Erweckungsbewegung, die hier spürbar wird, hatte beide geprägt und lieferte das Fundament für ihre Freundschaft.38 Siebolds Ehefrau Charlotte, geb. von Oven, die zu Besuch nach Lodz gekommen war, beeindruckte Althaus tief. „Meine Frau muss ähnlich sein“, schrieb er an seine Eltern (6. 7. 1916), und als sie wieder abreiste, resümierte er : „Sie gehört zu den Frauen, denen ich gerne öfter begegnen möchte. Sie hat auch Verdienste um mich. Als Größtes: dass sie, ohne es zu wissen, mein Ideal des Weibes sehr hoch gestellt hat, und das ist doch für einen jungen Mann, der in dem Alter wäre, sich zu verloben, ein großer Dienst“ (7. 8. 1916).
Nach über einem Dreivierteljahr besuchte Paul Althaus während eines Heimaturlaubes die Familie Siebold in Dünaburg. Er taufte dort den im März geborenen Sohn Hartwig, dessen Pate er wurde, berichtete den Eltern über gute Gespräche mit Frau Siebold und kommentierte knapp: „Mein Urteil über sie ist das alte. Schade, dass sie keine Schwester hat!“ (29. 4. 1917) Die prinzipielle Heiratswilligkeit bei gleichzeitig hochgesetzten Idealen erleichterten den Kontakt mit jungen Frauen offensichtlich nicht, zumal sich Althaus bei seiner Feinfühligkeit und Sensibilität häufig mit dem „Schutz37 Vgl. oben S. 52 f. 38 Dr. Karl Siebold (geb. 1877, gest. 1946) entstammte – wie Paul Althaus – einer Pastorenfamilie aus dem Zentrum der Erweckungsbewegung – zwar nicht – wie Althaus – aus Niedersachsen sondern aus dem benachbarten Minden-Ravensberger Land. Wirkte Althaus Großvater im Umfeld des Hermannsburger Erweckungspredigers Louis Harms, so galt Siebolds Großvater Carl, Pastor in Schildesche bei Bielefeld, als begnadeter Prediger im Umfeld von Johann Heinrich Volkening und war einer der Promotoren bei der Gründung der von Bodelschwinghschen Anstalten. Siebolds Vater, Pastor Matthias Siebold, war seit 1886 als enger Mitarbeiter von Friedrich von Bodelschwingh in Bethel tätig, sein Onkel Paul Siebold, ebenfalls Pastor und später Superintendent, gehörte ins engste Betheler Umfeld, sein Onkel Karl Siebold war der bekannte Betheler Kirchen-Architekt, seine Tante Anna Siebold und – nach deren frühen Tod – seine Tante Else Siebold waren verheiratet mit dem Pastor Johannes Kuhlo, dem „Posaunengeneral“, dem Gestalter der evangelischen Posaunenchorbewegung, und Vorsteher des Betheler Brüderhauses Nazareth. Mit Bodelschwingh und seinem Werk hatte sich Althaus schon vor dem Kriege intensiv beschäftigt. So gab es viele Berührungspunkte zwischen ihm und Karl Siebold, der nach 1918 bezeichnenderweise Leitender Arzt der evangelischen KrankenAnstalt Hephata in Treysa, wurde, wo Althaus ihn und seine Frau Charlotte 1923 besuchte und „einen wundervollen Abend“ verbrachte (Postkarte von 29. 8. 1923).
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panzer“ einer gewissen Unnahbarkeit umgab, den auch spätere Kollegen und Studenten immer wieder bestätigten. Diese Abwehrhaltung ließ ihn wohl die sehnsuchtsvollen Blicke der Lodzer Kanzelschwalben abschütteln, aber sie zerbrach in der Begegnung mit Dorothea Zielke, deren „Einfachheit, Reinheit und Innerlichkeit“ ihn beeindruckten, die zudem aber – nach dem Urteil vieler Zeitzeugen – über ein großes Maß unmittelbar wirkender Fraulichkeit verfügte, sodass Althaus „so etwas wie Erlösung erlebte“. 90 Jahre nach der Abfassung liest sich dieses bemerkenswerte Lebenszeugnis wie ein Dokument längst vergangener Welten, wo doch heute auch in gut bürgerlichen Kreisen selbstverantwortete Ehe auf Probe und vertraglich vereinbarte Partnerschaft auf Zeit den Alltag des Zusammenlebens der Geschlechter bestimmen, häufig gepaart mit der Beliebigkeit sexueller Beziehungen. Althaus dagegen nahm sich nicht wahr als jemanden, der sich bewusst für eine Frau seiner Wahl entschied, sondern er erlebte, dass sie füreinander bestimmt seien. Bis in die sprachlichen Formulierungen hinein wird das deutlich. Wir lesen nicht: „Ich habe mich verlobt“, sondern er berichtet seinen Eltern, „was mir geschehen ist … Ich bin seit gestern verlobt. … Die große, wundervolle Entscheidung ist seit gestern unabänderlich gefallen“, denn er hatte erkannt, „dass wir von Gott zusammengeführt sind und dass ich wirklich mit Liebe an diesem Mädchen hänge.“ Beide haben sie „der besten Stimme in uns gehorcht und nichts ,gemacht‘, sondern nur etwas Unausweichliches erlebt.“39
Die klassische Formel frommer Ehepaare, dass Ehen im Himmel geschlossen werden, wurde hier als Realität wahrgenommen, „erlebt“, wie Althaus formulierte, und bildete ein festes Fundament für die fast 50 Jahre währende glückliche Ehe, der fünf Kinder „geschenkt“ wurden, eine Ehe voller gegenseitiger Achtung bei verinnerlichter Rollenübernahme, nicht frei von Spannungen, aber bewährt auch in Zeiten großer Not bei der schweren Erkrankung der Tochter Maria oder beim frühen Kriegstod des ältesten Sohnes August Wilhelm 1940. Doch das ist weit vorgegriffen, zumal auch die Verlobungszeit noch ihre Herausforderungen enthielt. Im November 1917 fuhr Paul Althaus für eine knappe Woche mit seiner Verlobten nach Leipzig, um sie dort seinen Eltern vorzustellen. Die junge Frau erlebte dort eine gewisse Reserve, sowohl bei ihrer zukünftigen Schwägerin, wie vor allem bei ihrer zukünftigen Schwiegermutter. Obwohl sie sich auf die Reise in das fromme Elternhaus von Althaus gut vorbereitet und ihre Röcke entgegen der Warschauer Mode verlängert 39 In gleichem Tenor schrieb Althaus drei Wochen später seinen Eltern: „Ich will nicht viel Worte machen. Aber Ihr sollt wissen, was für eine wundervolle ,Gottesgabe‘ [Dorothea] Eurem Sohn geworden ist. Ich habe sie ja, als wir uns vor drei Wochen verlobten, noch gar nicht gekannt. Es war ein Wagen auf Treu und Glauben, ein fast blindes Gehorchen gegen eine innere Stimme, die übermächtig sprach.“ (23. 7. 1917).
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hatte, die Distanz blieb spürbar. Möglicherweise dachten die Eltern immer noch an die Göttinger Kollegentochter, auf die sie als Frau ihres Sohnes gehofft hatten. Die Mutter gab ihre Vorbehalte gegen die Berufstätigkeit der Schwiegertochter deutlich zu erkennen, weil Berufstätigkeit die Frau in der Ehe zu selbständig mache, und Kindergärtnerin sei doch nichts, „Kindererziehung brauche man nicht zu lernen; das könne eine rechte Frau von selbst“40. Das damals in bürgerlich-christlichen Kreisen typische Ideal der Frau, die nur in der Rolle als Ehefrau und Mutter ihre Erfüllung finden könne, wird hier deutlich spürbar. Auch Althaus hatte die Reserve insbesondere seiner Mutter gespürt: „Wie ist der Reif in meinen Frühlingstag gekommen! … Mutter und Braut verstehen sich nicht“ schreibt er voller Kummer am 13. 1. 1918. Da die Eltern aus Gesundheitsgründen und angesichts der unsicheren Reisebedingungen nicht zu der in Warschau geplanten Hochzeit kommen können, wirbt er zwei Wochen zuvor noch einmal in einem ausführlichen Brief bei seiner Mutter um ihr Vertrauen zu seiner jungen Braut: „Warum fürchtest Du, mich zu verlieren. Warum bist Du um mein altes treues Verhältnis zu Euch besorgt? Dorothea und ich wollen ja nichts sehnlicher, als dass wir beide als Kinder uns im Elternhause fühlen.“ Dorothea sei voll kindlicher Zuneigung zu ihnen, „trotzdem sie und ich große Zurückhaltung spürten und spüren.“ Sie hätten nicht erwartet, „dass Du gleich mit ganzer schrankenloser Liebe die neue Tochter begrüßtest. Das tut wohl keine Mutter, und Deine Art ist es überhaupt nicht.“ Althaus verspricht deshalb, „wir wollen gerne warten“, aber er bittet um „Warten im Vertrauen und nicht um Warten im Mißtrauen“, denn dass seine Mutter einmal erkennen werde, was er an Dorothea habe, und dass sie Dorothea einst ihre „geliebte Tochter“ nennen werde, daran zweifele er nicht. (25. 1. 1918)
Zum Verständnis der Zurückhaltung und Sorge der Mutter wird man wohl berücksichtigen müssen, dass die ganze Familie im November 1917 noch immer unter dem Schock des Verlustes zweier Söhne stand – der eine fiel im September 1916, der zweite im August 1917. Dass in solch schmerzerfüllter Situation, die sich in den einschlägigen Briefen von Althaus lebhaft spiegelt, die fast normale Furcht einer Mutter, ihren Sohn an die Braut zu verlieren, besonderes Gewicht erlangen kann, erscheint durchaus wahrscheinlich und macht verständlich, dass sich das Verhältnis zur Schwiegertochter erst im Laufe der Zeit herzlich gestaltete. Angesichts der Aufregungen und Anspannungen ist es nicht überraschend, dass wir den Briefen aus dem Spätjahr 1917 und Januar 1918 entnehmen können, dass Althaus wieder über Herzbeschwerden und Gesundheitsprobleme klagte und sein Arzt und Freund Siebold ihm dringend dazu riet, den bewilligten Erholungsurlaub jetzt zu nehmen und die Hochzeit nicht zu verschieben, zumal die Verkehrsverhältnisse im Frühjahr kaum einzuschätzen 40 Bericht Dorothea Althaus geb. Zielke, S. 139 (NLA K 7c).
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seien. So vertrat allein seine Schwester Elisabeth die Familie Althaus bei der Trauung am 10. Februar in Warschau. Anschließend fuhr das junge Paar zum Urlaub ins Riesengebirge. Der Hochzeitsreise folgten arbeits- und erlebnisreiche Monate in Lodz. Die Briefe und Postkarten erzählen vom jungen Eheglück und der Anteilnahme und Unterstützung, die Dorothea ihrem Mann in der Arbeit zukommen ließ. Zugleich legen sie Zeugnis ab, mit welcher inneren Verbundenheit das junge Paar an Eltern und Geschwister in Leipzig dachte. Die Sorge um die Gesundheit des Vaters und des jüngsten Bruders ist immer wieder ebenso spürbar wie die Teilnahme an der gemeinsamen Trauer um die beiden gefallenen Brüder. Mit Eifer versuchte Paul Althaus weiterhin, die Hungersituation in Leipzig mit immer neuen Lebensmittelpaketen zu mildern. Bekümmert registrierte er, dass nicht alle Eier die Reise heil überstanden hatten (1. 8. 1918). Er bat um Rücksendung der Eierkiste, da eine neue zu teuer sei, (14. 8. 1918) und fragte, ob denn die Butter angekommen sei (23. 8. 1918), oder teilte mit, „morgen gehen drei Pfund Butter an Euch ab“ (8. 11. 1918). Die politisch-militärische Entwicklung des Krieges wurde in den Briefen nur kurz gestreift. Der Siegeszuversicht der ersten Kriegsjahre waren 1917 etwas verhaltenere aber durchaus noch optimistische Töne gefolgt: „Wir alle, jeder einzelne Soldat, sind wie erlöst durch das Loslassen der U-Boote. Amerika wird uns nicht viel machen. Und nun wird, es komme wie es wolle, der Krieg verkürzt. Ich hoffe nun wieder, dass er in diesem Herbst zu Ende geht: Freilich – was mag bis dahin alles noch geschehen! Aber unsere U-Waffe wird Mächtiges leisten!“ (7. 2. 1917)
Verständnislos reagierte Althaus auf die Streiks der Munitionsarbeiter : „Die neuen Streiks sind so verbrecherisch, dass man die Gauner einfach niederschießen sollte“ (29. 4. 1917). Am 25. 3. 1918 war er sehr bewegt durch die „gewaltigen Nachrichten aus dem Westen“. Hoffentlich gehen die „Siegesrufe bald in Friedensrufe über“, kommentierte er die letzte militärische Großoffensive der deutschen Armeen unter Ludendorff, die freilich wenig später steckenblieb und die endgültige Niederlage einleitete. Im Juli lesen wir dann, „die wechselvollen Kämpfe in Frankreich bewegen uns“. Im August heißt es – im Gedenken an die gefallenen Brüder – lapidar, es sei eine Wohltat, dass ihnen die entsetzliche Furchtbarkeit der gegenwärtigen Schlachten erspart bleibe. Siegeshoffnungen, die bis in den März 1918 immer wieder bei Paul Althaus zu spüren waren, gab es jetzt nicht mehr. „Die nächsten zehn Jahre werden schwer“ (18. 10. 1918). Besorgt fragte er sich, „was soll werden?“ Wie schon 1917 äußerte er sich entsetzt über das „Verhalten der Massen“, nachdem auch in Polen die deutsche Militärregierung durch die Revolte der Soldatenräte und deren Kooperation mit polnischen Aufständischen sang- und klanglos zusammengebrochen war (1. 12. 1918). Dass die Zeit in Polen zu Ende gehen würde, war Althaus allerdings schon vorher klar. Am 8. 11. 1918 erwog er, die im achten Monat schwangere Doro87
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thea nach Berlin zu bringen, und führte selbst Verhandlungen mit der Kirche in Bremen zur Übernahme einer Ersten Pfarrstelle. Als die Militärregierung zusammenbrach und er seine Stelle in Lodz verlor, zog das junge Paar noch im November 1918 nach Warschau zu den Eltern von Dorothea. Dort wurde am 9. 12. 1918 die Tochter Ingeborg geboren. Noch vor Weihnachten musste Althaus als deutscher Militärangehöriger das nun unabhängige Polen verlassen. Frau und Tochter blieben zunächst bei ihren Eltern, zumal die berufliche Zukunft von Althaus noch offen war. Für einen Start in die Nachkriegszeit, in die 20-er Jahre brachte Paul Althaus aus seinem Erleben des Ersten Weltkrieges entscheidende Prägungen und Impulse mit. Durch seinen Bousset-Artikel hatte er sich in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion positioniert und erste Grundlagen für eine Universitätskarriere gesetzt. Gleichzeitig hatte er sich als Prediger einen Namen gemacht. Das nachhaltige Echo, das der junge Pfarrer in Lodz aufgrund seiner großen Redegabe gepaart mit seiner spürbaren persönlichen Frömmigkeit gefunden hatte, ließ ihn 1918/19 durchaus daran denken, seine berufliche Zukunft im Kirchendienst zu suchen. Seine patriotische Grundhaltung hatte in den Bemühungen um die Volkstumspflege in Lodz ein reiches Betätigungsfeld gefunden. Seine profunde Allgemeinbildung und große Offenheit, sein soziales Engagement und seine Fähigkeiten in der Zuwendung zu den Einzelnen in all ihren Fragen und Nöten ließen ihm ein großes Ansehen in der Lodzer deutschen Gemeinde zuwachsen, das auch Jahrzehnte später nach dem Zweiten Weltkrieg noch lebendig war. Aufgrund dieser Erlebnisse ist es verständlich, wenn er 1927 die Lodzer Jahre als bisherigen Höhepunkt seines Lebens bezeichnete. Die beachtliche Zustimmung, die er in seinem beruflichen Wirken fand, und die große Liebe, die ihm im persönlichen Bereich „geschenkt“ wurde, sind der Hintergrund für diese Aussage. Ob freilich seine politischen Grundvorstellungen über Nation, Staat und gesellschaftliche Ordnung, die sich in Lodz verfestigten und bildeten, sowie seine Einschätzungen der Kriegsursachen die Basis sein konnten, um die Urkatastrophe des Ersten Weltkrieges in den Jahren der Weimarer Republik angemessen zu verarbeiten, das werden die folgenden Kapitel aufzuzeigen haben.
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3. Die ersten Jahre nach dem verlorenen Krieg. Politische und theologische Konsequenzen aus Kriegsverlust und Versailler Vertrag Das abrupte Ende seiner Tätigkeit als hochangesehener Gouvernementspfarrer in Lodz verursachte zwar einen tiefen Schock über den militärischen Zusammenbruch bei Althaus, bedeutete für seine berufliche Laufbahn jedoch keinen tiefen Einschnitt. Nach einer kurzen Phase der Unsicherheit und Klärung startete er noch im Oktober 1919 in seine akademische Karriere als Professor für Systematische Theologie an der Universität Rostock. Zum Wintersemester 1925/26 folgte er dann einem Ruf nach Erlangen. Die sechs Rostocker Jahre waren zugleich eine Zeit aufblühenden Familienlebens mit Kinderglück und Kindersorgen. Zu verkraften war 1922 der schmerzvolle Tod des jüngsten Bruders und 1925 der Tod des geliebten Vaters, der das Leben von Paul Althaus entscheidend geprägt und begleitet hatte. Die Intensität des Familienlebens, die in dem Briefwechsel mit den Eltern greifbar wird, überrascht, wenn man die Aktivitäten realisiert, die der neuberufene Professor an der Universität, als Universitätsprediger, aber auch auf Konferenzen und Tagungen im kirchlichen Raum entfaltete. Seine rege Publikationstätigkeit lässt zudem eine enge Verzahnung wissenschaftlicher Veröffentlichungen mit eher seelsorgerlich-kirchlichen Schriften und Predigten erkennen. Professor und Pastor können und dürfen bei Paul Althaus nie getrennt werden. In allen Aktivitäten blieben die politischen Umwälzungen seit dem November 1918 – Revolution und Versailler „Diktat“, der Streit um Verfassung und Republik, Kapp-Putsch und Bürgerkrieg, Ruhrbesetzung und Inflation – stets spürbar. Sie formten das politische und theologische Denken von Althaus, forderten ihn heraus. In seinem Lebenslauf für das „Goldene Buch“ der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen brachte er 1927 diesen Zusammenhang auf die prägnante Formel: „Die Gegenstände meiner wissenschaftlichen Arbeit seit dem Krieg wurden mir durch die geistige Lage gegeben.“1 Dieses Ineinander von Politik und Theologie, von Wissenschaft und Kirche, von beruflicher Karriere und Familienglück in der Zeit der politischen Krise und der „vaterländischen Not“ gilt es im Folgenden nachzuzeichnen.
1 UA Erlangen, Goldenes Buch – jetzt abgedruckt bei Liebenberg, 2008, S. 583 ff., Zitat S. 585.
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3.1 Der Schock von 1918/19 – die Verarbeitung der aktuellen Politik im ersten Halbjahr 1919 Die Erlebnisse des November 1918 lösten bei Althaus einen tiefen Schock aus. Seine Interpretation der Ereignisse erfahren wir zeitnah aus einem ebenso ausführlichen wie impulsiven Brief aus Warschau an seine Eltern vom 1. 12. 1918: „Die Nachrichten aus Deutschland klingen ja bitter: Kohlennot, Lebensmittelnot. Dazu der ganze namenlose Jammer unserer Lage, die Bitternis mit Elsaß-Lothringen, mit der deutschen Ostmark, mit der Zertrümmerung des Bismarck-Werkes, mit der Geringachtung aller der vaterländischen Werte und Männer, die wir bisher hochhielten im Herzen. Es ist eine furchtbare Stunde. Auf uns hier lastet sie Tag und Nacht … Vorgestern waren hier … Flugblätter … geklebt, die zum Krieg mit Deutschland hetzten: ,Auf zu den Waffen gegen Deutschland‘, weil Deutschland Posen, Schlesien und Westpreußen nicht gutwillig herausgeben wolle.“ Den Hass der Polen führt Althaus durchaus selbstkritisch im Folgenden auch auf die „beispiellose Ungeschicktheit und Zweideutigkeit und Unstetheit unserer Politik“ zurück, um dann fortzufahren: Man könnte ja „viele Bögen schreiben, um sich das Herz auszuschütten über den entsetzlichen Jammer deutschen Landes, dem wir zusehen. Man ist gegen das Einzelne fast schon abgestumpft. Aber ich sehe den Aufschwung kommen. Wenn unsere Feinde jetzt zu Henkern unseres Volkes werden, wenn sie das Grauen des Hungers durch unser Land hetzen, wenn der frevelhafte Übermut Wohlgefallen daran hat, unsere Ehre in den Staub zu ziehen – so etwas hat sich noch immer in der Weltgeschichte zehnfach gerächt. Das wird auch wissen, wer gar nicht an Gott glaubt. Die griechische Tragödie redete von Hybris. Ich sehe gerade in der Maßlosigkeit von Foch [französischer Oberkommandierender der Entente-Truppen, der am 11. 11. 1918 die bedingungslose Annahme der Waffenstillstandsbedingungen erzwang] unseres Volkes Recht erhärtet. Und solchen Zynismus wie die Franzosen jetzt hätte unsere deutsche Art nie aufgebracht. Daher ist Bußstimmung nicht das Wichtigste, was wir jetzt zu predigen haben, sondern innere Würde, gutes Gewissen, tiefster Trotz. Sicherlich auch Buße, wie immer. Aber wir dürfen darin nicht aufgehen. Natürlich denke ich nicht an die Vielen, Allzuvielen, die schreiende, leichtsinnige, begehrliche Masse – der will ich überhaupt nicht predigen. Wohl aber an uns, die wir leiden unter dieser Stunde Deutschlands und Deutschlands Geschick auf dem Herzen getragen haben … Was sich heute anmaßt, ,Volk‘ zu sein, will von uns Pastoren wohl nicht viel wissen und wird von mir nicht verstanden, sondern nur als krank und sündhaft beurteilt. Aber in den Kirchen, zu unseren tief verwundeten deutschen Christengemeinden, möchte ich jetzt reden“.
Dieses emotionale Dokument lässt eine zwar recht begrenzte Einsicht über Fehler der deutschen Politik in Polen erkennen, beherrschend jedoch ist das 90
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Entsetzen über die deutsche Niederlage. Erschreckend ist die Naivität seines allzu großes Zutrauens in das politische Maßhaltevermögen der „deutschen Art“, die sich vom Zynismus der Franzosen unterscheide, sein moralisierendes Geschichtsbild, das davon ausgeht, dass die politische Maßlosigkeit der Franzosen „unseres Volkes Recht erhärtet“ – Recht zur Revanche?? –, erschreckend ist ferner sein völliges Unverständnis für die „revolutionären Massen“. Gleichzeitig erkennen wir seine seelsorgerlichen Impulse, zu den „tief verwundeten deutschen Christengemeinden“ – wohl in der Hoffnung auf eine religiöse Erneuerung des deutschen Volkes – predigen zu wollen. Hier klingen in aller Emotionalität zugleich Leitmotive für die Tätigkeiten von Paul Althaus in den Folgejahren an, weshalb es gerechtfertigt erschien, diesen Brief so ausführlich zu zitieren. Das Weihnachtsfest 1918 verlebte Althaus bei seinen Eltern in Leipzig, da er Warschau als deutscher Militärangehöriger verlassen musste. In Leipzig blieb er auch die folgenden Wochen. Er teilte seine Zeit „zwischen strammer Arbeit und Briefe Schreiben an meine Frau“. Eine „Untersuchung über die Theologie der Antinomien“ beschäftigte ihn. Außerdem bereitete er „einen Schlag gegen den christlichen Pazifismus“ vor, der noch 1919 in der Neuen Kirchlichen Zeitschrift erschien.2 Doch er war „nicht völlig im seelischen Gleichgewicht“, solange seine „Zukunft unsicher war“.3 Nicht nur die Unsicherheit über seine berufliche Zukunft belastete um die Jahreswende 1918/19 den jungen Theologen, der so plötzlich sein erfolgreiches Arbeitsfeld in Lodz hatte verlassen müssen. Revolution, Kriegsende und die Friedensbedingungen der Kriegsgegner waren weiter zu verarbeiten. Althaus versuchte, in mehreren kleinen Schriften aus dem Januar/Februar 1919 sich das Erlebte, von dem sein Brief vom 1. 12. 1918 so deutlich Zeugnis gegeben hatte, von der Seele zu schreiben. „Die deutsche Schmach in Polen“, mit dieser seine Gefühlsstimmung offenbarenden Formulierung überschrieb Althaus einen emotionalen Zeitungsbericht über den Zusammenbruch des deutschen Heeres in Polen am 10. und 11. November 19184. Die Ursache dieser Schmach sah er in der „Revolte“ und in dem „bolschewistischen Putsch“ in den deutschen Truppen und der dann folgenden Einigung der Putschisten mit der polnischen Führung über die Entwaffnung der deutschen Truppen und ihren Abzug aus Polen. „Wie ein Dieb mussten wir durch die Stadt, die wir mit einer einzigen treuen und zuverlässigen Maschinengewehrkompanie im Zaum hätten halten können, schleichen.“ Die entscheidende militärische Niederlage an der Westfront wurde offensichtlich ebenso wenig realisiert wie die antipolnische Germanisierungspolitik in den preußischen Ostprovinzen während der letzten Jahr2 Vgl. P.A., 1919 (1), vgl. zum Inhalt unten S. 95 ff. 3 Alle Zitate aus einem Brief von Paul Althaus an Philipp Meyer, der zeitweilig gemeinsam mit Althaus in Lodz Pfarrer gewesen war, vom 2. 2. 1919 (NLA K 11a). 4 Erschienen am 20. 2. 1919 in der Unterhaltungsbeilage der „Täglichen Rundschau“, Zeitungsausschnitt in NLA K 13.4.
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zehnte vor dem Ersten Weltkrieg, die dem Konflikt zwischen Polen und Deutschen seine Tiefendimension gab. Vor allem schmerzte Althaus die Wirkung dieses „würdelosen, überstürzten“ Abzugs auf das eingesessene Deutschtum in Polen, denen man zuvor in den neu ausgebauten deutschen Schulen die Liebe zur deutschen Geschichte und Kultur nahegebracht hatte und die man gelehrt hatte, „stolz und aufrecht als Deutsche auch im fremden Staat umherzugehen, sich ihrer deutschen Sprache und Art nie zu schämen … Diese deutsche Jugend musste … sehen, wie die rote Freiheit der revolutionären Soldatenräte zur elendesten, unwilligsten Demütigung vor den Polen wurde.“ Mit großem Kummer sah Althaus politische Uneinigkeiten in der deutschen Volksgruppe in Polen, die Auflösung des deutschen evangelischen Schulverbandes und das unsichere Schicksal des 1916 gegründeten deutschen Lyzeums, bei dessen Gründung er den Festgottesdienst gehalten hatte. Eine innere Krise der deutschen Bevölkerung, insbesondere der auslandsdeutschen Jugend im neuen polnischen Staat erschien ihm unausweichlich. „Dürfen wir von den Auslandsdeutschen heute noch Stolz auf ihr Vaterland erwarten? Solchen Stolz haben wir ihnen für Jahrzehnte unmöglich gemacht.“ Den Grund sieht er weniger in der deutschen Niederlage, wohl aber in der „deutschen Schmach“. Den Gegeneinwand der Vertreter der Revolte, nur durch ihre Aktion sei der Abzug der deutschen Truppen ohne Blutvergießen möglich geworden, lässt Althaus nicht gelten. „Und wenn nun wirklich noch einmal Blut geflossen und der deutsche Soldat in Ehren aus Polen gezogen wäre? Ist die deutsche Ehre, ist der blanke Schild eines großen, in herrlicher Geschichte bewährten Volkes kein Blut mehr wert? … [Wir] hätten dadurch unseren Volksgenossen in Polen den widerwärtigen Anblick deutscher Würdelosigkeit und Selbstentmannung erspart.“
Dieser zeitbedingte Aufsatz ist ein Indikator für die politische Stimmung gerade auch in frommen deutschen Kreisen. Die moralische Empörung über das „Wegwerfen der deutschen Ehre“, die politische Ursachen und Folgen gar nicht mit bedenkt, ist unverkennbar. Gewiss darf man diesen Text nicht überinterpretieren, zumal sich Paul Althaus wenig später sehr viel differenzierter äußerte. Gleichwohl deckt er auf, welch emotionale Prägung er durch diese Erlebnisse erfuhr. Das Gewicht, das der Begriff „Ehre der Nation“ für ihn – auch und gerade als Christ – besaß, wird hier in seiner emotionalen Verankerung direkt spürbar. Welche Ausformung dieser Begriff in seiner Theologie später erfuhr, wird weiter unten darzustellen sein. Seine Wurzeln aber liegen in diesen Erlebnissen von 1918/19. Allerdings ist hier auch darauf hinzuweisen, dass Althaus wenige Wochen später in einem Aufsatz „Abschied von Polen“5 die gesamten Vorgänge sehr viel nüchterner und durchaus selbstkritisch verarbeitete. Er wehrte sich in diesem Artikel zunächst gegen 5 P.A., 1919 (3), S. 163 – 179.
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die von den inzwischen in Führung gelangten polnisch denkenden lutherischen Pastoren gegen ihn und seine reichsdeutschen Amtsbrüder erhobenen Vorwürfe, sie hätten eine annexionistische Germanisierungspolitik betrieben. Diese Beschuldigungen weist er strikt zurück, mit Recht, denn schon 1915 hatte er programmatisch formuliert, es gehe um „das deutsche Haus in Polen“, um die Zukunft des „polnischen Deutschtums“.6 Man müsse Volks- und Staatsangehörigkeit unterscheiden, schreibt er jetzt. „Wir sahen in den gegen 500.000 deutschen Lutheranern Polens nicht nur eine lutherische Diaspora, sondern auch eine deutsche Diaspora.“ Sie hätten die Deutschen Polens immer aufgefordert, „loyale und treue Bürger des neuen polnischen Staates zu sein“, zugleich hätten sie mithelfen wollen, „auf dem Boden des neuen Staates ihre deutsche Eigenart, Schule, Kirchensprache und wirtschaftliche Stellung wahren zu können“. (S. 172) Es ging – modern gesprochen – um ein gewisses Maß an zugelassener „Multikulturalität“. Gleichwohl gibt Althaus – wie schon in seinem Brief vom 1. 12. 1918 – zu, dass Fehler der deutschen Besatzungsmacht in Polen gemacht worden seien, die die nun eingetretene Siegesstimmung in Warschau und den Zorn auf die Deutschen erkläre. Auch in der lutherischen Kirche sei von der deutschen Bewegung um Eichler – unterstützt von der deutschen Besatzungsmacht – insbesondere auf der Synode 1917 eine falsche Politik betrieben worden, die das Zusammenleben der deutschsprachigen Mehrheit der Lutheraner mit ihrer polnischen Minderheit erschwert hätte. Althaus’ Erwartungen, dass nach dem Umsturz in Polen ein Ausgleich gefunden werde, wurden jedoch enttäuscht angesichts der heftigen antideutschen Polemik der jetzt in der lutherischen Kirche bestimmenden polnisch gesinnten Lutheraner. Althaus hoffte dennoch auf einen „edlen Frieden“ in der lutherischen Kirche Polens, „bei dem man die nun einmal vorhandenen und nicht einfach durch Liebe zu bemäntelnden völkischen Gegensätze und Strebungen offen anerkennt, um sie dann mit ehrlichem Willen, so gut es gehen mag, männlich und christlich immer wieder zu überwinden. Solchen Frieden wünschen wir der lutherischen Kirche Polens. Das sei unser Abschied von Polen!“ (S. 179). Der Aufsatz zeigt, wie Paul Althaus seine Erfahrungen in Lodz zu verarbeiten versuchte und den Sinn und die Grenzen kirchlicher Volkstumsarbeit im Ausland reflektierte. Dabei ist unverkennbar, dass dem Sohn des niedersächsischen Dorfpfarrers die geschlossenen deutsch besiedelten Kolonistendörfer als Leitbild intakter deutscher lutherischer Kirchengemeinden vor Augen standen. Lutherbibel, deutsche Gesang- und Andachtsbücher waren in diesem Umfeld die zentralen Fundamente kirchlicher Konfession, deutscher Sprache und Kultur. Die Realität der industriellen Welt von Lodz war Althaus eher fremd. Hier solidarisierten sich deutsche mit polnischen Arbeitern im Kampf gegen den Kapitalismus und orientierten sich die Familien der Fabrikbesitzer und Handelskontore nach Russland – zu ihren Märkten – oder an 6 P.A. in der Deutschen Post, Lodz, vom 24. 10. 1915.
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dem gebildeten polnischen oder jüdischen Bürgertum; beiden stand der konservative Pietist Paul Althaus eher verständnislos und skeptisch gegenüber.7 Interessant an diesem durchaus reflektierten Aufsatz ist jedoch – und darin offenbart sich der Zusammenhang mit dem impulsiven Zeitungsartikel zuvor –, dass auch hier – wenn auch nur in einer Nebenbemerkung – das Nicht-zurKenntnis-Nehmen der deutschen militärischen Niederlage im Ersten Weltkrieg aufleuchtet. Althaus registriert, dass die Polen „uns mit Hohn und Hass, nachdem wir uns selbst am 10. und 11. November militärisch entmannt hatten, die Türe wiesen.“ (S. 165). Das „Empfinden der allgemeinen deutschen Not und Schmach“ (S. 178) bestimmte seine Interpretation, die er im Januar 1919 der politischen Lage gab. Dieses Empfinden wird besonders deutlich in einem kleinen Aufsatz, der Ende Januar/Anfang Februar in der renommierten, von Stöcker gegründeten Deutschen Evangelischen Kirchenzeitung unter dem Titel: „Unser gutes Gewissen und unsere Buße“ erschien8 und der Gedanken aus seinem oben zitierten9 Brief vom 1. 12. 1918 wieder aufnahm. Er erlaubt uns einen tiefen Blick in die politische Stimmung und das Geschichtsbild des jungen Theologen: Voller Empörung weist Althaus hier „die Richtergebärde, das moralische Pathos“ der Siegermächte zurück, mit der diese „unser Volk auf die Anklagebank“ setzen. „… Ausgerechnet die größten und rücksichtslosesten Machtvölker der Erde klagen uns des Machthungers und Weltfriedensbruches an, gerade sie wollen uns im Namen des ,Rechtes‘ dafür züchtigen.“ Gewiss hätte „auch unser Volk und unsere Regierung Schuld in diesem Krieg auf sich geladen“, aber darum gehe es nicht, da auch die Feinde nicht rein bleiben würden, wenn man anfange, „die im Krieg zugezogene Schuld nachzurechnen“. … Unsere Mitschuld wolle niemand leugnen … aber „was bedeuten denn schließlich die verzwickten und vielleicht verschiedener Beurteilungen fähigen Verhandlungen der letzten Julitage 1914 gegenüber der furchtbar klaren Tatsache eines feindlichen Kriegswillens, der seit einem Jahrzehnt bestand?“ (S. 28). Darum gelte es, dass sich die Deutschen ihr gutes Gewissen nicht auch noch zertreten lassen dürften. Ein „edler, wahrer Friede“ könne nicht „auf Lüge“ gebaut werden.
Dieser Aufsatz verrät uns ungewöhnlich viel jenseits aller Theologie über das politische Gegenwartsverständnis von Paul Althaus und seine Interpretation des Kriegsendes sowie über sein Geschichtsbild und dessen Modifikationen. Zunächst ist beachtenswert, mit welcher Erregung und Argumentation er sich gegen die „Richtergebärde“ der Siegermächte und ihre These von der Kriegsschuld der Deutschen wendet. Die Emotion kocht bei Althaus schon 7 Dazu auch wiederholte kritische Äußerungen in den persönlichen Briefen von Paul Althaus aus dieser Zeit. 8 P.A., 1919 (2). 9 Vgl. oben S. 90.
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hoch aufgrund der allgemeinen alliierten Diskussion im Januar 1919. Noch ist der umstrittene Kriegsschuldartikel mit der Fixierung der deutschen Alleinschuld am Kriege nicht formuliert, geschweige denn seine Unterschrift erzwungen. Aber schon hier lässt sich erahnen, welche geradezu konstitutive Bedeutung die Empörung über diesen Artikel in Deutschland, gerade auch in frommen Kreisen, für die Althaus hier stehen muss, entfaltete und später politische Haltungen und Handlungen prägte. Symptomatisch schrieb Vater Althaus am 28. Juni 1919, dem Tag der Unterzeichnung in Versailles seinem Sohn: „Heute Nachmittag wurde das unglückselige Extrablatt ausgerufen, das die Unterzeichnung des Schmachfriedens meldet. Unser Volk ist zu entnervt, um die Schmach zu fühlen, und zu entmannt, um die sittliche Empfindung eines innersten Nein und die Kraft, die Folgen desselben zu tragen, aufbringen zu können. Ach, was werden wir an diesem ,Frieden‘ uns noch verbluten müssen!“.10
Mit welch unpolitischer, aber darum umso moralischeren Interpretation die Unterschrift gerade in frommen Kreisen kritisiert wurde, belegt diese Briefpassage von Vater Althaus deutlich. Der Sohn dachte in die gleiche Richtung. Was das „sittliche Empfinden eines innersten Nein“ eigentlich forderte, lässt eine Erklärung erkennen, die die Betheler Ostafrikamissionare Ernst Johanssen und Gustav von Bodelschwingh Ende Juni 1919 veröffentlichten. Sie kritisieren die Unterschrift der deutschen Regierung und sind erschüttert darüber, „dass dieser Zumutung gegenüber, zu unterschreiben, was das deutsche Volk als eine bewusste Lüge empfand, kein erschütternder Schrei: ,Nein, diese Lüge unterschreiben wir nicht‘ mit elementarer Wucht aus dem Herzen des deutschen Volkes, ja nicht einmal aus dem Herzen der deutschen christlichen Gemeinde sich los rang“. Durch die Unterschrift unter die Kriegsschuldlüge werde es den Missionaren unmöglich gemacht, den Eingeborenen in Afrika noch zu lehren, „was Treue und Wahrhaftigkeit, was Liebe und Glaube, was Nachfolge Christi sei“. Es sei zu kurz argumentiert, den Siegermächten ihre Sünde vorzuhalten, uns zur Unterschrift gezwungen zu haben, „ohne sich die eigene Glaubenslosigkeit und Gewissenlosigkeit, die in der von uns geleisteten Unterschrift liegt, zur schweren Schuld anzurechnen und als eigentliches Hindernis für eine von innen heraus kommende Erneuerung und Wiedergeburt zu erkennen. Die Kirche hat den Glauben verleugnet, und wir sind alle mitschuldig“, so kommentierte Johanssen den gemeinsamen Aufruf. Das Argument, die Regierung musste doch unterschreiben, sonst hätten die Feinde ganz Deutschland besetzt, lässt er nicht gelten, „das konnten wir getrost Gott anheimstellen … Durch die Unterschrift haben wir unser Gewissen und damit Gott verloren.“11 10 NLA K 7a, 4,2. 11 Ernst Johanssen, 1936, S. 9 – 12. Johanssen stammte – wie Althaus – aus der norddeutschen Erweckungsbewegung. Das Denken von den Völkern als Einheiten der Schöpfungsordnung
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Zwar sind diese Zitate nicht von Paul Althaus, aber die Autoren entstammten einem Milieu, dem auch Althaus sich zuordnete und sie vertraten eine Position, die er völlig teilte. Schon im Januar hatte er gegen die „Kriegschuldlüge“ angeschrieben: „Gott gab uns unsere Ehre – und die Ehre wegwerfen, das ist Sünde wider Gott“.12 Hier dokumentierte sich – wie bei den Betheler Missionaren – derselbe unpolitische christlich-moralische Rigorismus, der die politischen Folgen seines Handelns gar nicht bedachte, sondern Gottes Fügungen anheimstellte. Wie Althaus kamen diese Missionare aus der norddeutschen Erweckungsbewegung. Ihr Engagement berührte sich sehr unmittelbar mit dem bei Althaus immer wieder spürbaren großen Interesse an der Mission. Der Onkel von Paul Althaus war ein Kollege von Ernst Johanssen, beide – etwa gleich alt – waren in Ostafrika als Missionare tätig. Johanssen hatte wie Althaus bei Schlatter studiert. Die Verletzung und Empörung bei Paul Althaus lässt sich im Übrigen auch Jahre später noch immer wieder in seinen Predigten, wenn auch meist eher in Nebenbemerkungen, spüren. Der Kriegsschuldparagraph erscheint ihm als „Weltlüge“ (18. 1. 1921) oder er spricht vom „Frevel des 28. 6. 1919“ (18. 1. 1923). Am 11. 11. 1923 – also zwei Tage nach dem gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch in München – bricht es aus dem Prediger heraus: „Wer dürfte bei dem, was über uns hereinbrach, die deutsche Schuld übersehen! Schuld am Glauben, zuhöchst an jenem schwarzen 28. Juni 1919, als deutsche Männer, von uns beauftragt, ihren Namen unter das nichtswürdige Friedensinstrument setzten, unter das verlogene Bekenntnis der alleinigen Schuld Deutschlands“.
Jahre später lesen wir : „Heute ist wieder der unselige 28. Juni. Vor zwölf Jahren hat unser Volk sich zu erzwungenem, lügenhaften Schuldbekenntnis vor seinen Feinden gedemütigt – dunkle Stunde der Schuld und Schande“ (28. 6. 1931).13
In all diesen Zitaten spricht im Grunde dasselbe unpolitisch-moralisierende Entsetzen wie aus dem Text der Betheler Missionare – unpolitisch auch deshalb, weil es sich allen Erwägungen entzog, welche politischen Konsequenzen eine Nichtunterschrift gehabt haben könnte: französische Politiker hofften durchaus auf eine deutsche Weigerung. Historiker sind heute weitgehend einig, dass die Unterschrift die Einheit Deutschlands und seine gesamtstaatliche Handlungsfähigkeit sicherte, da andernfalls mit dem Einmarsch alliierter Truppen und dem Zerfall der deutschen Einheit hätte gerechnet werden müssen. Aber solche realpolitischen Überlegungen lagen den Frommen im machte er in Afrika fruchtbar durch wichtige Studien zum Volksglauben und Volksgeist der ihm begegnenden afrikanischen Völker. [Es sei die persönliche Bemerkung nicht unterdrückt, dass Ernst Johanssen der Großvater des Verfassers war]. 12 P.A., 1919 (2), S. 28. 13 P.A., 1921 (1), S. 30; 1924 (1), S. 114 und S. 200; (1932 (1), S. 66 f.
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Lande fern, das war nicht ihre Welt. Mit ihren bloß gesinnungsethischen Urteilen belasteten sie stattdessen die verantwortungsethisch handelnden Politiker der Republik, denen sie die „Schande“ der Unterschrift, den „Verrat unserer Ehre“ anlasteten. Weimar erschien ihnen als Zwischenspiel. Man wartete auf ein deutsches Pfingsten „jenseits von Parlament und Parteien“ (16. 11. 1924). Althaus hoffte auf einen „neuen deutschen Tag, auf Volksgemeinschaft, an der die Christen zu arbeiten hätten“ und „gute Führer, die Gnade Gottes sind“ (4. 5. 1924).14 Wie tief die Wunde der „Kriegsschuldlüge“ und des „Diktates von Versailles“ bei Althaus sich eingefressen hatten, spüren wir noch deutlich an zwei Predigten, die er am 22. Mai und am 16. Juni 1940 gehalten hatte, auf die später noch genauer einzugehen ist.15 Hier war nur der Hinweis angebracht, um die Empörung und langfristig prägende Wirkung der Erlebnisse von 1918/19 und ihrer damaligen Deutung hervorzuheben. Das gilt umso mehr, wenn man dieser Deutung das Geschichtsbild von Althaus und seine Überzeugung von der Unschuld Deutschlands am Kriegsausbruch 1914, die er hier so dezidiert formuliert hatte, hinzufügt. Ohne dieses Unschuldsbewusstsein wäre die Erregung über die „Kriegsschuldlüge“ nicht verständlich. Zwar differenzierte Paul Althaus deutlich und verschwieg seine Kritik an der deutschen Politik der Nach-Bismarckzeit keineswegs, er hielt sogar Fehler im Juli 1914 für durchaus möglich und forderte deshalb eine allseitige unparteiische Analyse der Kriegsursachen. Der Kriegswille der Entente-Mächte mit ihrer „Politik der Einkreisung“ schon seit zehn Jahren vor 1914 stand für ihn gleichwohl fest.16 Diese Deutung war im öffentlichen Bewusstsein Deutschlands 1914 weit verbreitet, bestimmte die Kriegsbereitschaft und wurde durch das „Diktat“ von Versailles mit seinem Kriegsschuldartikel eher verhärtet. Erst mit Fritz Fischers grundlegender Studie über den „Griff nach der Weltmacht“ aus dem Jahr 1961 fand diese „Unschuldsüberzeugung“ ihre historische Widerlegung, auch wenn man heute Fischers These von der Alleinschuld Deutschlands insofern modifiziert, dass eine generelle Kriegsbereitschaft aller Großmächte mit berücksichtigt werden muss. Die Geschichtsmächtigkeit der entgegengesetzten These von der Unschuld Deutschlands wurde im politischen Bewusstsein der Deutschen durch die vertragliche Fixierung der Kriegsschuld Deutschlands in verhängnisvoller Weise stabilisiert. Die abstrakt gesinnungsethischen Reaktionen gerade in frommen Kreisen, denen Althaus hier zuzurechnen ist, machen das deutlich. Hitler konnte diese Stimmung zu einer weithin erfolgreichen Kaschierung seiner eigentlichen politischen Ziele nutzen, wie die Predigten von Althaus im Mai/Juni 1940 erkennen lassen, in denen er in der Einleitungsphase im deutschen Sieg über Frankreich „Gott am Werke“ zu sehen meint. Freilich fügt er diese Aussage gleichsam zurückneh14 P.A., 1926 (1), S. 3 ff. und S. 92 ff. 15 Vgl. unten S. 306. 16 So in seinem Aufsatz: Unser gutes Gewissen und unsere Buße. In: P.A., 1919 (2), S. 28.
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mend hinzu: „wir kennen seinen Willen nicht“. Der „deus absconditus“ ist das Ergebnis des Lernprozesses von 1918/19 und wird in dieser Zurücknahme spürbar. Darin offenbart sich eine deutliche Differenz zu dem Geschichtsbild, das Althaus bis in die ersten Jahre des Ersten Weltkrieges unangefochten verinnerlicht hatte. In dem Aufsatz über Buße und gutes Gewissen formulierte er im Frühjahr 1919 dieses inzwischen ihm fraglich gewordene Geschichtsbild ausdrücklich noch einmal: „Wir haben so sicher gemeint, den Sieg und die Größe unseres Volkes nicht nur als Geschenk der freien Gnade Gottes, sondern auch als die Konsequenz alles dessen, was er bisher treu an unserem Volke getan, erhoffen und ergreifen zu dürfen. Wir waren seinen vergangenen Wegen in der deutschen Geschichte nachgegangen; wir dachten, seinen Plan zu verstehen, und witterten schon den Tag unseres Volkes, den Gott heraufbringen würde. Wir schämen uns dieser Gedanken nicht – sie waren nicht chauvinistisch und nicht imperialistisch. Sie waren in Fichtes und Arndts Schule gelernt und an Gottes Taten in der deutschen Geschichte sorgsam geprüft und berichtigt. Wir wollten nicht herrschen, nicht nur verdienen, sondern dienen. Wir spürten glücklich unsere Kräfte, in die Welt hinauszuwachsen und zu arbeiten. Aber wir, wir deutsch-evangelischen Christen, wollten nicht die anderen versklaven, sondern heben als Lichtträger, als Christusträger. Deutsche Weltmissionsverantwortung nach dem deutschen Siege, deutsche Weltfriedensgarantie nach dem Erfolge – das waren die Gedanken unserer Besten! Wir schämen uns ihrer nicht. Aber Gott hat uns an das Grab dieser Gedanken und Hoffnungen gestellt. Das ist seine Majestät, dass er nicht nur unsere Sünde heimsucht, sondern auch unsere guten Gedanken zerbricht …, auch unseren Glauben auf die harte Probe der Enttäuschung stellt, … auch eine gerechte Sache scheitern lässt in der Weltgeschichte. Wir wollen ihn aufs Neue fürchten lernen in seiner Herrenmajestät.“17
Diese Passage drückt den Lernprozess aus, dass der deus absconditus „eine gerechte Sache scheitern lässt in der Weltgeschichte“, aber Althaus gibt auch zu erkennen, dass er bislang die Einigung der Nation und die Bildung des Deutschen Reiches – im 19. Jahrhundert beginnend mit der religiösen und nationalen Erneuerung in den antinapoleonischen Befreiungskriegen bis zu den Bismarckschen Einigungskriegen – als Gottes Plan erkennen zu können geglaubt hatte, und daraus ableitete, dass auch Kriege in den Plänen Gottes, des „Herrn der Geschichte“ eine wichtige Rolle spielen können. Dieses Geschichtsbild, das in der Vollendung des deutschen Nationalstaates Gottes Hand in der Geschichte spüren wollte und in der staatlichen Einheit des deutschen Volkes gleichsam ein Zu-sich-selbst-Kommen der Schöpfungsordnung sah, weil Völker als Teile dieser Schöpfungsordnungen, als Gedanken Gottes aufgefasst wurden, diese Vorstellung prägte den in den „intakten“ 17 P.A., 1919 (2), S. 35.
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Jahren des Kaiserreiches aufgewachsenen Paul Althaus, wie viele seiner Generation, wobei seine Frömmigkeit und sein immer wieder spürbares und gelebtes Interesse an der Heidenmission dem Deutschen Reich einen „Weltmissionsauftrag“ zuschrieb, der für Althaus zwar in der besonderen Frömmigkeit des deutschen Volkscharakters begründet, aber gemeinsam mit den anderen christlichen Völkern zu realisieren war. Wie denn überhaupt das Christentum als übernationale Größe die Nationen zu korrigieren und vor Selbstüberschätzung zu bewahren habe. Zwar nicht alle Kriege, aber eben doch einige wurden als von Gott gerechtfertigte und im Ergebnis gesegnete Instrumente der Politik aufgefasst. Sie dienten dem großen Ziel der deutschen Nationsbildung. Man wird dieses vom „intakten“ 19. Jahrhundert geprägte Geschichtsbild bei Althaus berücksichtigen müssen, wenn man seine uns heute so irritierende Kriegstheologie, die ja schon in seinen Predigten im Ersten Weltkrieg spürbar wurde, richtig einordnen und verstehen will. Erstmals formuliert wird diese Kriegstheologie fast zeitgleich mit dem eben behandelten Aufsatz über Buße und gutes Gewissen im Februar 1919 in einem wissenschaftlichen Artikel über den christlichen Pazifismus, auf den deshalb hier eingegangen werden muss.18 Zunächst finden wir in diesem Aufsatz eine durchaus differenzierte Auseinandersetzung mit dem religiösen Sozialismus und Pazifismus des Schweizer Theologen Hermann Kutter. Dessen Aktivismus, vor allem im sozialen Bereich, findet die Zustimmung von Althaus. Er richte sich gegen den „guten und frommen lutherischen Respekt vor der Wirklichkeit“, der allzu oft „zu einem trägen Konservativismus entartet.“ Darum könne Kutter „uns kirchlichen Christen einen Dienst tun … uns für viele Dinge den Blick kritischer, das Gewissen unruhiger und den Willen zur christlichen Tat drängender machen“ (S. 434). Aber den schwärmerischen Charakter seines christlichen Idealismus und Pazifismus lehnt Althaus ab. Er kann „dem Schweizer Propheten in seiner chiliastischen Hoffnung auf das diesseitige Reich Gottes nicht folgen“ (S. 437). Konsequent vermisst er „an den religiösen Sozialisten den Sinn dafür, dass Gottes Reich hier auf Erden in Knechtgestalt erscheint.“ Paul Althaus präludiert hier seinem wenige Jahre später erscheinenden bedeutenden theologischen Werk: „Die letzten Dinge“.19 Wichtiger ist für ihn im Februar 1919 die Auseinandersetzung mit jener Richtung des deutsch-evangelischen Pazifismus, die sich als Friedensbewegung für die „Abschaffung des kriegerischen Austrags der Weltkonflikte“ einsetzt. Er folgt den Pazifisten in ihrer Grundthese, dass „die Innerlichkeit des Reich Gottes … der Christenheit niemals das Recht [gibt] zur Gleichgültigkeit gegen die objektiven Ordnungen und die äußeren Weltverhältnisse.“ Für den Bereich christlich-sozialer Arbeit gelte dieser „revolutionäre Geist“ durchaus. Ob aber „die pazifistische Aufgabe der Christenheit auf gleicher Linie mit der christlich-sozialen, deren 18 P.A., 1919 (1), S. 429 – 478, zur Abfassungszeit vgl. S. 478. 19 S. unten S. 121.
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Pflichtmäßigkeit außer Frage steht“, zu sehen sei, darin erblickt Althaus ein Problem. Während die Pazifisten fordern, dass der Christ „gegen die kriegerische Regelung der Völkerkonflikte“ kämpft, und von ihm verlangen, „für das Entstehen einer Rechtsordnung statt der gewaltsamen Zusammenstöße ungebändigten Machtwillens auch im zwischenstaatlichen Leben zu wirken“ (S. 447), widerspricht er diesen Postulaten, weil der Krieg zwischen den Völkern in Wahrung ihrer jeweiligen Sendung ein „gerechtfertigter“ Krieg sei. Leider – so muss man heute sagen – lehnte Paul Althaus die von der Friedensbewegung bejahte Übertragbarkeit des christlich-sozialen Engagements im Inneren des Staates auf die zwischenstaatliche Ebene ab. Er begründete das mit einer Mischung pragmatisch-politischer Argumente und grundsätzlicher Deduktionen. Auf der einen Seite erschien ihm und seiner Generation in Deutschland die Instrumentalisierung des Völkerbundes für die Interessen der westlichen Großmächte offenkundig. Auf der anderen Seite war er prinzipiell von der geschichtlichen Möglichkeit und Notwendigkeit gerechtfertigter Kriege zwischen den Völkern überzeugt. Seine Argumentation war formal zwar nachvollziehbar, aber die Verwischung der Ebenen raubte ihr jegliche Überzeugungskraft. Allenfalls aus der „Logik“ seines Geschichtsbildes und aus seinem Versuch, das Erleben und Erleiden des Ersten Weltkrieges zu verarbeiten, ist sein Gedankengang zu verstehen. Althaus ging zunächst von der These aus, dass die Norm der „Gerechtigkeit“ für das Völkerleben erst aufzufinden sei. Das naturrechtliche Modell, das in Parallele zum innerstaatlichen Grundsatz der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, für das „internationale Leben … das Dogma von der Gleichberechtigung der Völker, von dem Selbstbestimmungsrecht jedes Volkes“ aufstelle, dieses Modell der Amerikanischen und Französischen Revolution zerbreche vor der Geschichte: Ein Volk müsse – so argumentierte Althaus – das Recht, einen eigenen Staat zu bilden, in der Geschichte bewähren; es könne dieses Recht jedoch auch verwirken, wenn es nicht die innere Tüchtigkeit zur Staatsbildung besitze. Außerdem sei der Begriff „Volk“ unbestimmt. Ein Volk sein, „dazu gehört Wille zur eigenen Geschichte, und dieser Wille muss bewährt sein.“ (S. 449). So kam Althaus zu der These: „Auf dem Weg des Naturrechts kommen wir nicht weiter …, er führt uns vielmehr in die lebendige Geschichte hinein.“ Die Norm der Gerechtigkeit im Völkerleben müsse darum in „geschichtsphilosophischer Besinnung“ (S. 450 f.) aus der Geschichte erhoben werden, deren Eigenart es sei, „über ,Recht‘ und ,Rechte‘ immer wieder zur Tagesordnung überzugehen … Völker kommen und gehen, wachsen und verkümmern, sind jung und altern, verweichlichen und ermannen sich.“ Das wirkliche Recht in der Weltgeschichte sei ein „lebendiges und darum ein Recht des Lebendigen.“ „Mit den Völkern wird ihr Recht geboren, wächst, mindert sich, stirbt.“ Althaus nannte dieses Recht ein organisches Recht entsprechend den organischen Prozessen der Lebensentwicklung in der Völkergeschichte, wobei die geistig-sittlichen Inhalte eines Volkes eine entscheidende Bestimmungs100
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grundlage für die Macht eines „tüchtigen“ Volkes darstellten. Er betonte diese Einschränkung, um sich vom reinen Biologismus abzusetzen, aber begab sich mit dieser Argumentation gleichwohl in eine fatale Nähe zum Darwinismus. Zur Macht, die in der Geschichte wirksam werden wolle, gehöre immer auch das Vertrauen, der Kredit bei anderen, denn zügellose Machtpolitik zerstöre das Vertrauen und zersetze die Macht selbst. Mit dieser These versuchte Althaus über das Unrecht von Versailles hinwegzukommen, denn er fügte seinen generellen Ausführungen in einer Anmerkung an: „Kraft unerbittlicher geschichtlicher Lebensgesetze wird sich die furchtbare und brutale Vergewaltigung Deutschlands durch seine Feinde an ihnen rächen.“ (S. 454 f., Anm. 2). Das galt für Althaus allerdings genauso wie der deutschlandkritische Satz: „Ein großes Volk, das nicht mit entschlossenem Willen und aller Kraft hinter seinem geschichtlichen Rechte steht, sondern sein ,Recht‘ von der Gerechtigkeit anderer würdelos erwartet, verwirkt eben damit seine geschichtlichen Rechte und hat den Gewaltfrieden, mit dem man es in Fesseln schlägt, nur verdient. Das ist die harte, aber gesunde und männliche Gerechtigkeit der Geschichte.“ (S. 456, Anm. 1)
Macht und Recht seien im Leben eines Volkes keine Alternativen, sondern aufeinander bezogen, wenn man Macht als Entfaltung von geschichtlicher Tüchtigkeit und Recht als Lebendig-Organisches verstehe, ohne das es keine wahre, dauerhafte Macht geben könne. An dieser Stelle seiner Argumentation „lernte“ Althaus „den Sinn des Krieges in der Weltgeschichte verstehen“ (S. 457 f.). Zwar seien viele Kriege „durch dynastische Herrschsucht und rohe Raubgier hervorgerufen“, aber „die schlichte Erkenntnis des Wirklichen lehrt uns, dass überall in der Welt die Willen und die Lebensansprüche und die noch ungelebten Möglichkeiten aufeinanderstoßen, einander durchkreuzen und ausschließen.“ Es sei die ,Tragik der Menschengeschichte‘, dass auf unserer engen Erde auch Recht und Recht gegeneinander stoßen“ (S. 459). Darum ergäben sich doch immer wieder geschichtliche Momente, in denen nur durch Krieg dieser Streit entschieden werden könne, „die lebendige Gerechtigkeit der Geschichte, in der wir den Herrn der Geschichte selber gegenwärtig spüren, setzt sich in ihm durch“ (S. 460).
Althaus vertrat diese These von der gerechten Entscheidung des Krieges auch angesichts der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg. „Der Weltkrieg war ein Ringen zwischen Deutschland und dem Angelsachsentum um die Entscheidung, ob neben der angelsächsischen Weltmacht die deutsche Art selbständig die Geschichte und ein Stück der Welt gestalten dürfe. Unsere Niederlage ist geschichtlich gerecht, denn der Krieg hat zutage gebracht, dass uns Deutschen die Fähigkeit zur Weltpolitik und wichtige, für ein führendes Volk unentbehrliche Eigenschaften fehlen, jedenfalls noch fehlen. Das völlige Versagen der deutschen Politik seit 1890, unsere Unfähigkeit, andere Völker zu behandeln, entscheidende ge-
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schichtliche Augenblicke zu erkennen, unsere jammervolle Enge des Blickes, die Zwiespältigkeit und Unstetigkeit unseres politischen Wollens – das alles hat der Krieg an den Tag gebracht, um dessentwillen hat er gegen uns entschieden. Unsere eigene Unreife und Unzulänglichkeit schließen uns durch die Entscheidung des Krieges vorerst aus dem Reiche der führenden Völker aus.“ (S. 461, Anm. 2).
Die Irrationalität der Völkergeschichte entziehe sich dem Pazifismus mit seiner rationalistischen Denkweise. Den schnellen Worten, das „Recht“ müsse im Völkerleben herrschen, gelte es darum den Abschied zu geben, zumal „der Krieg dem Durchsetzen des in der Geschichte lebendigen Rechtes dienen kann“ (S. 462). Althaus legte dabei ausdrücklich Wert darauf, festzustellen, dass er den Krieg nicht preise, sondern mit tiefem Ernst begreife, und zwar nicht einmal im Namen des Christentums, sondern kraft nüchterner „Besinnung auf die im geschichtlichen Leben mächtig waltende Gerechtigkeit“ (S. 462, Anm. 2). Von dieser – nach seinem Verständnis „realistischen“ oder „historisch angemessenen“ Position aus polemisierte Paul Althaus darum auf den folgenden Seiten gegen die Idee des Völkerbundes, der nicht die Herrschaft des Rechtes etabliere, sondern eine „verkappte Herrschaft der Macht der ihn instrumentalisierenden [westlichen] Großmächte sei.“ Er erkannte „in dem kräftevollen Eigenleben eines Volkes, in der Wahrung seiner Individualität und Selbständigkeit, das wertvollste Gut der Geschichte und beurteilt das pazifistische Weltfriedensreich als Verflachung und Verarmung des geschichtlichen Lebens“ (S. 472 f). Letztlich, so folgerte er, sei die Antwort auf die Frage, „ob kräftige nationale Existenz oder Aufgehen des Nationalismus im Kosmopolitismus erwünscht ist, ob die großen nationalen Volksverbände die von der Geschichte letztlich gewollten und herausgearbeiteten lebendigen Körper sind, ein Letztes, über das hinaus eine Integration zu internationalen Einheiten einen Abweg darstellt, … nicht mit christlich-sittlichen Gründen zu stützen, sondern nur aufgrund allgemeiner kulturphilosophischer Gedanken und Voraussetzungen zu geben“. (S. 473).
In dieser Situation, so endet der Aufsatz, sei es Aufgabe der Christen im Widerstreit der Völker, das Gewissen ihres Volkes zu sein, „gegen frevelhaften Ehrgeiz oder eitle kapitalistische oder dynastische Machtgier“ zu protestieren; aber wenn die Stunden unentrinnbarer Notwendigkeiten ihr Volk in den Kampf mit anderen führe, dann hätten die Christen sich in Opferbereitschaft treu zu ihrem Lande zu bekennen, auch wenn sie zugleich spürten, dass in dem Krieg die „furchtbaren Mächte des Widergöttlichen am Werke sind“. Als Christen seien sie niemals nur Glieder ihres Volkes, sondern zugleich Bürger des Gottesreiches (S. 475), „sie widersetzen sich Rachsucht und der Glut blinder Leidenschaft und bieten ein Beispiel, wie der Krieg sachlich geführt werden kann“ (S. 476 f). Die Christen verlieren nicht den Blick für die Grenzen des eigenen geschichtlichen Berufes. Durch sie werde im 102
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„Bewusstsein lebendig erhalten, dass die Völker nicht nur rein natürlich aufeinander angewiesen sind, sondern einander auch dienen sollen“ (S. 477). Deshalb betont Althaus abschließend „das Bewusstsein darum, dass alle Macht nur dann ihr Recht behält, wenn sie … irgendwie Menschheitsdienst in Richtung auf das Kommen des Reiches Gottes sein will – dieses Bewusstsein in den Völkern lebendig zu erhalten, ist nicht die geringste Aufgabe der Christen“ (S. 478).
Die Polemik von Paul Althaus gegen den Pazifismus steht ganz offensichtlich sehr stark unter dem Eindruck des verlorenen Krieges und der Versailler Friedensverhandlungen, in denen die Idee des Völkerbundes in Deutschland zunächst als Instrument der Siegermächte erscheinen musste, die zudem mit dem Vorwurf der deutschen Kriegsschuld das „gute Gewissen“ von Althaus bezüglich der Kriegsursachen zutiefst getroffen hatten. Man wird nicht fehlgehen, wenn man die ganze Argumentation zur internationalen Politik allgemein und zur geschichtlichen „Gerechtigkeit“ des Krieges zwischen den Völkern als in sich auch wieder höchst problematische Antwort auf die als moralisierend und juridifizierend empfundenen Kriegsschuldartikel des Versailler Vertrages begreift. Hier kommt weniger theologisches Denken zum Tragen als vielmehr die historisch-politische Interpretation eines ebenso national gesonnenen wie christlich überzeugten Deutschen, der zudem von den deutschen Kriegen im 19. Jahrhundert gelernt zu haben glaubte, dass sie dem „Ziel der Geschichte“, der Bildung des deutschen Nationalstaates, gedient hätten und der davon ausging, dass das deutsche Volk im Ersten Weltkrieg zwar seine Bewährungsprobe vor allem im Inneren nicht bestanden habe, aber – weil es geschichtlich gerechtfertigt in den Krieg gezogen sei – von den Alliierten zu Unrecht als einziger Kriegsverursacher verurteilt wurde. Die historische Argumentation von Althaus über das Auf und Ab der Völker und Reiche und seine Vorbehalte gegen die allzu leicht instrumentalisierbare Völkerbundidee besitzen durchaus eine gewisse Plausibilität bei der Beschreibung historisch-politischer Vorgänge. Man spürt die Ergebnisse seines historischen Studiums. Allzu ungebrochen werden jedoch diese Betrachtungen dann zu einer normativen Aussage über die Legitimität von Kriegen aus den nicht rational begreifbaren „Lebensgesetzen“ der im natürlichen Widerstreit untereinander um ihre Entfaltungsmöglichkeiten ringenden Völker verdichtet. Die versuchte Verarbeitung der Erlebnisse im Ersten Weltkrieg und der nationalen Niederlage im Horizont seiner historischen Studien lässt Althaus eine Rechtfertigung von Kriegen formulieren, die er später zu einer regelrechten „Kriegstheologie“ ausbaute, gegen die jedoch schon damals der Erlanger Systematische Theologe Grützmacher in einer knappen Rezension der Pazifismus-Schrift heftigen Einspruch erhob. Er lobte zwar die „trefflich orientierende, eindringende und mit viel persönlicher Anteilnahme geschriebene Studie“ und bestätigte, dass sie in der Kritik des religiösen Sozialismus durchaus Recht habe, aber scharf kritisierte er – trotz geteilter Skepsis gegenüber der Völkerbundidee – die „kulturphilosophische Argu103
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mentation“ von Althaus zur Gerechtigkeit des Krieges, weil es unzulässig sei, „den Krieg in irgendeine positive Beziehung zum Christengott zu setzen“.20 Sicherlich argumentierte Althaus vorsichtig bei seinem Versuch, den Krieg in eine positive Beziehung zum Christentum zu setzen, aber sein Geschichtsbild und seine Auffassung von Gott als dem Herrn der Geschichte führten doch zu einer höchst problematischen Zulassung des Krieges als eines in bestimmten Situationen legitimen und historisch gerechtfertigten Mittels der Politik der miteinander um ihre Entfaltung ringenden Völker. So konnte der Krieg zu einem Instrument in Gottes Lenkung der Geschichte werden, auch wenn Gottes Handeln als Handeln des deus absconditus nicht unmittelbar für die Menschen einsehbar war, sondern verborgen blieb. Die Lehre vom „legitimen“ Krieg, wie sie Paul Althaus hier aus dem Auf und Ab der Völker ableitete, ist als ethische Aussage zur Zulässigkeit des Krieges für uns Heutige nicht mehr akzeptierbar, auch wenn man sie durchaus als allerdings problematische historisierte Variante der Lehre vom bellum iustum auffassen wollte. Angesichts des Vernichtungspotenzials, das der moderne Krieg auch schon zu Beginn des 20. Jahrhundert entwickelt hatte, gilt das noch verstärkt. Althaus dachte offensichtlich noch viel stärker von den „begrenzten“ Kriegen des 19. Jahrhunderts her und realisierte das Neue am Ersten Weltkrieg noch nicht. Auf diese Dimension wird später noch einzugehen sein. Hier war zunächst wichtig aufzuzeigen, wie Althaus – aufgewachsen im deutschen Kaiserreich nach Bismarck – in seinen politisch akzentuierten Schriften aus den ersten Monaten des Jahres 1919 das politische Geschehen des Kriegsendes, der Revolution sowie des Versailler Vertrages politisch-historisch einordnete und interpretierte, was sein Denken und Arbeiten in der Folgezeit sehr stark prägen sollte. War der „Schlag gegen den Pazifismus“ neben den eher tagespolitischen Aufsätzen zu den Vorgängen in Polen und zur Kriegsschuldfrage trotz aller politischen Impulse eine wissenschaftliche Publikation mit theologischem Anspruch, so ist jetzt noch auf zwei praktisch-theologisch orientierte Texte einzugehen, die in den gleichen Monaten des Kriegsendes und der Neubesinnung erschienen sind. Sie können deutlich machen, welche Impulse und Konsequenzen der Pastor Paul Althaus aus dem Ersten Weltkrieg für die Arbeit an der inneren Erneuerung des Volkes in Nachkriegsdeutschland zog. Sie belegen zugleich, dass sich Althaus in den ersten Monaten des Jahres 1919 seine Zukunft eher in einem Pfarramt als an der Universität vorstellte. Die erfolgreichen Jahre in Lodz bestärkten ihn in dieser Tendenz. Folgerichtig versuchte er, seine Erfahrungen in einer Predigtlehre für die Nachkriegszeit auf den Begriff zu bringen. Er tat das in einem Aufsatz, der noch im Dezember 1918 unter der Fragestellung: „Wie sollen wir den Männern predigen?“ erschien.21 Aufgrund seines Umgangs mit der Landwehr und den 20 Grützmacher, 1920, S. 44. 21 P.A., 1918.
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Landsturmtruppen in und um Lodz versucht Althaus hier in mehreren Schritten sehr konkrete Thesen zu Form und Inhalten der Predigt in der Nachkriegszeit zu entwickeln. Dabei verfolgt er die Absicht, seine Erfahrungen im Kontakt mit den deutschen Truppen in Polen für die zukünftige Predigtpraxis zu nutzen, um insbesondere die Männer wieder mehr im Gemeindegottesdienst anzusprechen. Er plädiert darum für themengebundene Predigten bei weitgehender Freiheit von der Perikopen-Bindung. Die Predigt solle vom Leben zum Text und nicht vom Text ins Leben führen. Der Prediger müsse seine Ausführungen durch gute Kenntnisse der Systematischen Theologie fundieren, insbesondere zum Beispiel auf die Eschatologie ausrichten. Vor allem sei theozentrisch zu predigen, um die Männer der Gemeinde zu gewinnen, die zur Tat und zum Dienst aufgerufen sein wollten. Konkrete alltägliche Fragen sollten in der Predigt aufgegriffen werden, aber die damit verbundenen Gefahren seien im Auge zu behalten. Man spürt in diesen Ausführungen den engagierten Prediger, der in Lodz ein erstaunliches Echo gefunden hatte und der später diese Jahre als seine große Lehrzeit bezeichnete. Althaus praktizierte auch als Universitätsprediger in Rostock und dann in Erlangen das, was er hier programmatisch verkündete. Seine vielen Predigtbände geben davon eindrucksvoll Zeugnis. Das große Echo, das er als Prediger fand, belegt die Wirksamkeit seines Programms, zumindest in der Form, wie er es umsetzte. Freilich war sich Althaus auch der Probleme seines Predigtstiles bewusst. In einem Brief an seine Eltern schildert er kritisch die ganz andere Predigtweise seines Kollegen Hilbert, den seine Frau Dorothea am Weihnachtstage gerne gehört habe. Ihm selbst predige er „zu eintönig und methodistisch … zu wenig geeignet, Fernerstehenden den Weg zu zeigen. Er steht der Gemeinschaft zu nahe … Er ist nicht genug auf unsere Gebildeten eingestellt, überhaupt auf die Art, den Gegenwartsmenschen erst einmal die Gotteswirklichkeit zu einer Wirklichkeit zu machen … Bei mir mag die umgekehrte Gefahr da sein, dass ich, weil ich die Leute immer weit draußen im Vorhofe herbeihole, zu kurze Zeit behalte, wenn das Allerheiligste erreicht ist.“ (27. 12. 1920)
Dass es nicht einfach war, die Leute aus dem „Vorhofe“ wirklich ins „Allerheiligste“ mitzunehmen, hatte er schon in seinen ersten Lazarett-Predigten 1915 feststellen müssen. Damals berichtete er seinen Eltern, er habe „ohne wirkliche Fühlung mit den Hörern zu schwer“ gesprochen, es sei „furchtbar viel gehustet“ worden. „Da das während des ersten Teils nicht geschah, stehe ich unter dem Eindruck, dass ich in den schwierigen Ausführungen des zweiten Teils nicht ganz die Fühlung mit den Leuten hatte.“ (14. 2. 1919) Da Althaus seinen Hörern oft zu erkennen gab, dass er selbst am Vorhof und seinen Stimmungen teilhatte, wirkte sein Übergang zum Verkündigungsteil der Predigt, wenn er gelang, besonders glaubwürdig. Seine über Jahrzehnte immer wieder bezeugte Wirksamkeit als Prediger findet hier eine ihrer wichtigsten Grundlagen. Für den späteren Interpreten gilt es diese Zweiteilung 105
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in den Predigten im Bewusstsein zu halten und bei Zitaten sorgfältig zu prüfen, ob sie aus dem „Vorhof“ oder aus dem Verkündigungsteil stammen. Dass der Prediger Paul Althaus seine Wortverkündigung stets nur als einen Teil des Gottesdienstgeschehens auffasste und deshalb auf Liturgie und Gemeindegesang ebenfalls großen Wert legte, konnte man schon bei dem Studenten in Tübingen registrieren. Auch wenn der Aufsatz vom Dezember 1918 allein der Predigt galt, für Althaus blieb diese immer eingeordnet in den Gottesdienst, in das „Erlebnis der Kirche“. „In dem unvergesslichen Sommer nach dem Kriege (durch Versailles unendlich dunkel und hoffnungslos, durch den Anblick der feldgrauen Jugend, die damals unsere Hörsäle füllte, herrlich und hoffnungsvoll wie ein Frühling des Vaterlandes und der Kirche!)“ hatte sich Althaus in Vorträgen vor jugendlichen Hörern zu diesem Thema, zur Kirche als Gemeinde und Gemeinschaft geäußert und diese Vorträge in der AELKZ veröffentlicht und zusätzlich als kleine Broschüre herausgebracht.22 Den Gottesdienst definiert er hier als „das unvergleichliche Erlebnis einer Gemeinschaft des Glaubens und Anbetens und Bekennens“. „Gemeinsam danken, bitten, anbeten wir. Gerade auch bei der Predigt, wenn anders sie nur in etwas rechter Art ist, spüren wir im Miteinander – hören, in der fühlbaren Bewegung aller Versammelten die Gemeinschaft der Heiligen“ (S. 22). Zwar gelte – gerade für Lutheraner – unbezweifelbar, dass Religion Gewissenssache des Einzelnen sei, aber dieser notwendige lutherische Individualismus sei nicht das letzte Wort, denn was wir als Christen seien, seien wir „gänzlich aus den Lebensquellen der Gemeinde, durch ihren Dienst“. Man spürt in diesen Ausführungen einen deutlichen Anti-Individualismus bei Althaus, der auch seine Vorstellungen im politischen Bereich zu Volk und Nation prägte, aber unverkennbar ist hier ebenso die Gemeinschaftstradition und das Gemeinschaftserleben der lutherischen Erweckungsbewegung, aus der seine Familie stammte und die sein Denken prägte, die er erlebt und verinnerlicht hatte. Von dieser Perspektive aus entwickelte er ein gutes Gefühl für die große Bedeutung lebendiger christlicher Gemeinden. Konsequent lehnte er Religion als Privatsache – nur im eigenen Kämmerlein praktiziert – ab und formulierte im Anschluss an Luther das Wesen des Gottesdienstes als „Gegenwart Gottes im Worte für die Gemeinde und Antwort der Gemeinde in seiner Gegenwart, Wort und Antwort, Wechselgespräch, bei dem Gott doch der bleibt, der, wie das Wort, so auch die Antwort der Gemeinde [in Lied und Liturgie] schenkt.“23 Zwar ist dieses Zitat einem Grundsatzartikel von 1926 entnommen, aber der Grundgedanke ist schon in den Partien zu Gottesdienst, Liturgie und Gesang in dem Aufsatz von 1919 enthalten (dort S. 22 ff.). Die Bedeutung des Gottesdienstes, der Gemeinde als ,communio sanctorum‘, der Gemeinschaften als Kern der allgemeinen Volkskirche (S. 27 f.), die er 1919 in der Hoffnung auf eine Stunde der Kirche gerade angesichts der Not 22 P.A., 1919 (4). 23 Paul Althaus, 1926 (2), S. 17.
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des Vaterlandes formulierte, all diese Themen lassen ihn in der Folgezeit nicht los. Hier ist sein schon zitierter programmatischer Aufsatz zum Wesen des Gottesdienstes von 1926, aber ebenso seine theologische Arbeit zu „communio sanctorum“ zu nennen, die sich vor allem mit dem Kirchenbegriff des frühen Luther beschäftigte, und viele spätere programmatische Aussagen zu Gottesdienst, Liturgie und Kirchenbegriff.24 Unverkennbar bleibt, dass der Prediger Althaus diese konzeptionellen Aussagen immer wieder selbst praktiziert hat, dass sie dadurch ihre Glaubwürdigkeit erlangten. 1919 erkannte er die „Stunde“ der Kirche darin, dass „die Augen unseres Volkes wieder noch weithin zweifelnd, fragend, aber doch eben fragend, hoffend auf die Kirche“ schauen; diese Stunde galt es zu nutzen. Er hofft, „dass alle unsere Freude an der Kirche Kraft zum Dienste, jeder Dank Verantwortung, jede Kritik Tat würde!“ (S. 32). Die starke Betroffenheit über Kriegsende, Revolution und „Kriegsschuldlüge“ wurde bei Althaus begleitet von der Hoffnung auf eine neue Stunde der Kirche und dem persönlichen Engagement für eine christliche Erneuerung des deutschen Volkes.
3.2 Der Professor als Lehrer der Kirche – Start ins Leben und Arbeiten an der Universität In welcher beruflichen Rolle Paul Althaus seine „Freude an der Kirche“ zum Dienst an der Kirche ausüben sollte, das blieb im Januar 1919 zunächst völlig offen, war im Grunde jedoch gleichgültig, da er sowohl Pfarramt wie auch Professorenamt als Dienst an der Kirche begriff. Die konkrete berufliche Unsicherheit verflog Ende Januar 1919 schlagartig, als ihm die Hannoversche Landeskirche kommissarisch die Leitung des Predigerseminars auf der Erichsburg in der Nähe von Einbeck am Westrand des Leinetales übertrug. Der bisherige Leiter August Marahrens, der spätere Hannoversche Landesbischof, war noch als Militärpfarrer in der Kriegsgefangenenseelsorge in Belgien gebunden. Bereits in den letzten Januartagen 1919 fuhr Althaus auf die Erichsburg und bereitete sich auf den kommenden Kurs vor, der dann am 7. Februar begann. Auf ihn kam viel Arbeit zu. Er musste „fast täglich zwei Stunden vortragen … In manchen Disziplinen wie Kirchenrecht und Pädagogik werde ich mich tüchtig einarbeiten müssen. Schadet nichts! Im Ganzen ist die Arbeit für mich so passend und gerade das Beraten der einzelnen Kandidaten bei ihren Arbeiten liegt mir so, dass ich sehr dankbar bin.“ (6. 2. 1919) Eine Woche später bestätigte er diese Einschätzung in einem Brief an seine Mutter : „Ich bin hier sehr, sehr gerne und liebe meine Arbeit … Die 24 Zu Paul Althaus als Liturgiker im umfassenden Sinne vgl. jetzt: M. Nicol, 2011.
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Zusammenarbeit mit den Herren ist fein.“ Der Sorge der Eltern, dass er „den Abstand nicht finden oder wahren würde“ hält er entgegen: „Der Abstand ist da. Die Herren behandeln mich mit großer Ehrerbietung.“ (14. 2. 1919) Obwohl die Kursteilnehmer nicht wesentlich jünger waren, begegnet uns der erst 31-Jährige Paul Althaus auch hier schon als Respektsperson mit Ausstrahlungskraft, aber zugleich großer Kontaktfähigkeit. Ihm scheint die Tätigkeit in der Vikarsausbildung wie auf den Leib geschnitten – zumal angesichts der Überschaubarkeit der kleinen Gruppe und der guten Möglichkeiten zu persönlicher Begegnung. Sein Studienfreund Emanuel Hirsch gratulierte ihm denn auch zu dem neuen Amt und kommentierte: „Du bist wie geschaffen dazu. Den Übergang zur Professur wirst Du von da aus mit Leichtigkeit finden. Darum ist mir gar nicht bange.“25 Gerne würde Althaus auf die Dauer auf der Erichsburg arbeiten. „Manchmal wünsche ich, Rostock würde nichts“ lesen wir unvermittelt in dem Brief vom 14. 2. 1919. Hinter dieser Aussage steht die Information, dass sein Vater von seinem Göttinger Kollegen Titius erfahren hatte, dieser habe auf Wunsch des Ministers in Mecklenburg-Schwerin zu einem Vorschlag der Rostocker Theologischen Fakultät Stellung nehmen müssen und dabei nachdrücklich den Sohn Althaus für die zu besetzende Professur für Systematische Theologie empfohlen und rechne mit dessen baldiger Berufung.26 Die erhoffte Dauerstellung auf der Erichsburg kam nicht zustande. Althaus war vier Wochen später entsetzt, dass ihm die Landeskirche keine Perspektiven für die Zukunft geben wolle. Er erwog sogar, die Landeskirche „sofort“ zu verlassen, zumal der Pressverband in Berlin wünschte, dass er dort am 1. 4. 1919 antreten solle (16. 3. 1919). Als dann im April 1919 Marahrens auf die Erichsburg zu seiner kinderreichen Familie zurückkehrte, um seinen Leitungsposten wieder zu übernehmen, musste Althaus weichen. Er knüpfte Verbindungen nach Bethel27 und nach Königsberg an, denn er mochte in der Hannoverschen Landeskirche nicht mehr bleiben, „deren Kirchenregiment mich betrogen und nun nach vier Monaten Trennung von meiner Familie aufs Neue heimatlos gemacht hat“, wie er voller Erregung an seinen Bruder Walter schrieb (15. 4. 1919). Bevor sich seine berufliche Laufbahn klärte, holte Althaus am 24. April 1919 jedoch zunächst einmal Frau und Tochter an der deutsch-polnischen Grenze ab, um sie dann in überfüllten Zügen mit mehreren Zwischenaufenthalten über Leipzig auf die Erichsburg zu bringen, wo sie zunächst noch unterkamen, obwohl er selbst dort beruflich keine Verwendung mehr finden sollte. Dorothea Althaus redete ihrem Mann zu, seine Göttinger Privatdozentur wieder aufzunehmen und nicht „aus Sorge vor einem schweren Anfang“ vorschnell 25 Brief vom 14. 2. 1919, NLA K 11a. 26 Titius an Vater Althaus vom 26. 1. 1919 NLA K 11b. 27 Wilhelm von Bodelschwingh hatte mit Schreiben vom 19. 1. 1919 (NLA K 6, 6) Paul Althaus eine Dozentenstelle für die theologische Ausbildung der Diakonissen angeboten.
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eine Pfarrei zu übernehmen.28 In die gleiche Richtung zielte auch der Rat des Vaters. Althaus folgte diesen Ratschlägen. So geradlinig der Weg von Paul Althaus in die Universitätslaufbahn im Nachhinein erscheint, so gilt es doch, seine durch die Lodzer Erfahrungen gestärkte Offenheit für andere kirchlichen Ämter und Laufbahnen zur Kenntnis zu nehmen. Später lebte diese Offenheit in der Art fort, wie er die kirchlichen Funktionen seines universitären Lehramtes, insbesondere auch als Universitätsprediger wahrnahm. Am 3. Mai hielt der junge Privatdozent in Göttingen seine erste Vorlesung, über die Wochenenden fuhr er zur Erichsburg, wo Frau und Tochter noch geblieben waren, bis sie zum 1. Juli eine kleine möblierte Drei-ZimmerWohnung in Göttingen beziehen konnten. Voller Engagement widmete Althaus sich den neuen Aufgaben der akademischen Lehre und fand großes Echo bei den Studenten. Er hatte „in der Theologie des 19. Jahrhunderts 16 Hörer, im Dogmatischen Repetitorium 18 (honoriert), im Homiletischen Proseminar 22, im Kriegskolleg etwa 120 – 140 oder 150“, wie er seinen Eltern am 6. 6. 1919 meldete. Besondere Freude bereite ihm das Dogmatische Repetitorium. „Das Kriegskolleg wird von Stunde zu Stunde voller und hat ein überaus starkes Echo“. Der Besuch in dieser offensichtlich die politische Stimmung aufnehmenden Vorlesung war nicht – wie es im Hochschuljargon heißt gegen Semesterende „fortlaufend“ sondern „steigend“. In der letzten Stunde, am 1. August, registrierte Althaus 300 Hörer, er habe vor ihnen „den Abend des 1. August 1914 noch einmal heraufgerufen.“ (4. 8. 1919) Die Politik und das eigene Erleben schlägt hier auf die akademische Lehre voll durch. Das Kriegsproblem, eine „Theologie des Krieges“ zu formulieren, die er schon in seinem Pazifismus-Aufsatz versucht hatte, ließ Althaus auch in den Folgejahren nicht mehr los. Im Sommer 1919 fand der junge Privatdozent mit diesem Thema ein großes Echo. Viele Hörer waren – wie er registrierte – EK-I und EK-II-Träger. Alle standen unter dem Schock des verlorenen Krieges, des Versailler Vertrages und gedachten in Trauer der vielen Gefallenen. Die Briefe von Althaus sind immer wieder voller trauernder Erinnerung an seine gefallenen Brüder – auch das gehört in diesen Zusammenhang. Zu ihren Geburtstagen und Todestagen widmet er ihnen wiederholt sehr berührende Passagen in den Briefen an seine Eltern. Die gemeinsame Trauer in der ganzen Familie um die Gefallenen tritt lebendig vor Augen. Ein besonderes Beispiel ist der eindrucksvolle Bericht über einen akademischen Trauergottesdienst in Göttingen, dem Paul Althaus dann ausführliche Reflexionen zu seinen gefallenen Brüdern anschließt. (26. 7. 1919) Ein schon im September beginnendes Zwischensemester beweist dem jungen Privatdozent, wie gut er bei den Studenten ankommt. „Ich habe die vollsten Kollegs unter den Theologen“. Eigentlich würde er gern in Göttingen bleiben, aber am 29. 9. 1919 kam telegrafisch aus Schwerin die Anfrage, „ob ich den Lehrstuhl für Systematische Theologie in Rostock auf28 Bericht Dorothea Althaus, S. 163 ff. NLA K 7c.
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tragsweise verwalten wolle“. Da mit dieser Lehrstuhlvertretung die Aussicht auf das Ordinariat verbunden war, sagte Althaus – wenn auch schweren Herzens – zu. Er folgte dabei zugleich dem Rat seines Vaters und der Göttinger Kollegen. (30. 9. 1919) Mitte Oktober verabschiedete sich der Privatdozent in Göttingen und erfuhr von seinen Studenten ein ihn überwältigendes Echo: „Ich bin sehr bewegt von diesem Dank, weiß ja überhaupt nicht, wie ich zu dieser beispiellosen Verehrung der Studenten komme. Die Leute sind sehr traurig, das lassen sie mich Tag für Tag fühlen.“ (12. 10. 1919) Am 14. Oktober 1919 zog Althaus mit Frau und Tochter nach Rostock und begann dort seine Lehrtätigkeit. Zum 1. Januar wurde er zum ordentlichen Professor ernannt. Er war glücklich: „Jetzt können wir zur Ruhe kommen. Das große Ziel ist erreicht.“ (31. 12. 1919) Voller Freude berichtet er den Eltern von dem ersten Weihnachtsfest der jungen Familie, das sie in ihrer Wohnung feiern konnten. Zwar war diese Wohnung klein und auch unbequem –drei Zimmer im ersten Stock eines Einfamilienhauses mit Küche im Dachgeschoss – doch war sie von vorneherein als Übergangslösung geplant und bot, weil teilmöbliert, den Vorteil, dass die eigenen Möbel nach und nach herangeschafft werden konnten, um die übernommene Einrichtung zu ersetzen. Um die Jahreswende 1920/21 erfolgte dann der lang geplante Umzug in eine größere Wohnung, in die Rostocker Bismarckstraße 23. Der Raumzuwachs in der neuen Wohnung wurde dringend nötig, denn noch in den beengten Verhältnissen der ersten Wohnung war am 7. 6. 1920 der Sohn August Wilhelm geboren. Stolz und Freude des Vaters sind in den Berichten an seine Eltern unmittelbar greifbar. Dass Söhne – auch als Namensträger der Familie – etwas Besonderes waren – bei aller Zuwendung zu den Töchtern – war in einer Zeit vielfach gelebter Geschlechterdifferenzierungen unverkennbar und wird subtil greifbar in dem Brief, der den Eltern die Geburt anzeigt. „Ja, ein Sohn! Es ist fast noch schöner als in den unvergesslichen Ingeborgtagen des Dezembers 1918!“ (Juni 1920) Wie fest verankert dieses männer- und namenszentrierte Familienbild bei Paul Althaus – darin typisch für seine Generation – war, belegt ein Brief vom 15. 10. 1964, mit dem er – zwei Jahre vor seinem Tod – seinem Freund und Kollegen Emil Brunner die Geburt des ersten Sohnes seines Sohnes Gerhard anzeigt: „Wir hatten die Freude, dass uns im Dezember der erste Althaus-Enkel, der Stammhalter, geboren wurde – unser Sohn ist Pfarrer in München. Andere Enkel haben wir schon, ja sogar schon drei Urenkel.“ (NLA K10) Die Söhne und Enkel der Töchter zählten nicht so viel, weil sie keine Stammhalter – Namensträger – waren. Auch die politisch-nationale Stimmung nach dem verlorenen Krieg und dem „Diktat“ von Versailles kommt anlässlich der Geburt des Sohnes klar zum Vorschein, als Althaus einen Monat später nach Berichten über das Wachsen des kleinen August Wilhelm anfügt: „Jede jüngere Professoren-Familie hat hier jetzt einen Jungen bekommen oder erwartet einen. Ich kann allein sieben Geborene aus den letzten Wochen schnell aufzählen. Ein starker Wille zur 110
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deutschen Zukunft! Und das in den Tagen des entsetzlichen Spa29.“ (10. 7. 1920) Dem Sohn August Wilhelm folgte am 13. 10. 1921 die zweite Tochter Maria und am 7. 11. 1924 nach schwerer Schwangerschaft die dritte Tochter Dorothea. Die Briefe an die Eltern sind voller Berichte über das Kinderglück und Kinderleid. Das Heranwachsen der Kinder, ihre einzelnen Lernschritte werden plastisch beschrieben, Erziehungsprobleme nicht verschwiegen. Im August/ September 1924 können die Großeltern in Leipzig intensiv Anteil nehmen an einer dramatischen, lebensgefährlichen Erkrankung ihrer kleinen Enkeltochter Maria, die im Anschluss an eine Blinddarmoperation eine schwere Infektion mit Darmverschluss erlitt. Um im Krankenhaus bei seiner Tochter zu sein, sagte Althaus eine geplante Vortragsreise ab, zumal seine schwangere Ehefrau mit großen gesundheitlichen Problemen – chronisches Venenleiden, besonders im Sommer – zu kämpfen hatte. Später erinnerte Althaus immer wieder an den „zweiten Geburtstag“ von Maria, an dem die lebensbedrohende Krise sich zum Besseren wandte. Nach dem Tod des Vaters erbte Paul Althaus das gute väterliche Harmonium. Es diente in der Familie primär zur musikalischen Ausgestaltung von heimischen Andachten, wurde für die geistliche Musik zur Erbauung eingesetzt. Die Tradition der Pastorenfamilie Althaus lebte auch darin fort. Zwar greifen diese Aktivitäten schon über die Rostocker Jahre hinaus, aber es soll schon an dieser Stelle die Intensität und das Glück deutlich machen, das Paul Althaus im Kreis von Frau und Kindern erlebte. Aus den Briefen an seine Eltern wird aber gleichzeitig erkennbar, wie begrenzt er Frau und Kindern zur Verfügung stand. Haushaltsarbeit war nicht seine Sache, allenfalls schnitt er, nachdem die Familie 1930/31 in das Haus mit eigenem Garten gezogen war, dort kenntnisreich die Rosen. Für die Unterstützung seiner Frau im Haushalt und bei der Kindererziehung gab es Personal – die Briefe erzählen immer wieder von neuen Hausmädchen oder Kinderfrauen, die die gesundheitlich oft angeschlagene Hausfrau und Mutter unterstützten, aber oft auch Probleme machten. Dorothea Althaus wiederum sah ihre Aufgabe darin, ihrem geliebten Mann die nötige Ruhe für seine wichtige wissenschaftliche und kirchliche Arbeit zu verschaffen. Paul Althaus arbeitete viel: Vorlesungen, Vorträge, Andachten und Predigten wollten vorbereitet sein. Zudem entfaltete er eine umfangreiche Publikationstätigkeit. Dass er dabei seine familiären Pflichten hintanstellte, war ihm durchaus bewusst. Mit ironisch-selbstkritischem Unterton schrieb er seinen Eltern: „Am Wochenende freue ich mich, wirklich etwas für meine liebste Frau da zu sein, denn in der Woche hat sie gar nichts von mir, ich bin Schwerarbeiter, der nur durch den Hunger und Durst zu den Frauen des Hauses getrieben wird.“ (10. 7. 1920) 29 Alliierte Konferenz zur Frage der Höhe, der Verteilung und der Zahlungsraten der Reparationen im Juli 1920.
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Das Leben der jungen Familie lässt auch deutlich erkennen, wie sehr für Althaus sein Vater – auch und gerade in der Rolle des Familienvaters und in der Zuwendung zu den Kindern – ein Vorbild war. Beide verband darüber hinaus die große Liebe zur Musik. Als Althaus sich noch 1921 ein eigenes Klavier kaufte, bat er die Eltern, ihm aus Leipzig seine Noten – eine durchaus anspruchsvolle Sammlung – zu schicken. Allerdings fügte er hinzu, die Noten zum vierhändigen Spiel sollten in Leipzig bleiben (15. 12. 1921). Offensichtlich hoffte er, noch einmal Gelegenheit zu finden, wie in den Gymnasial- und Studienjahren, gemeinsam mit dem Vater zu musizieren. Dazu kam es dann nicht mehr, aber im Klavierspiel mit seinen Kindern lebten die Tradition und das Vorbild des verehrten Vaters fort. So ausführlich Althaus in den Briefen an seine Eltern von der jungen Familie und seinen erfolgversprechenden Aktivitäten in der akademischen Lehre und auf kirchlichen Vorträgen berichtete, so unverkennbar ist zugleich immer wieder seine große Anteilnahme an dem Ergehen der Eltern und Geschwister dokumentiert. Da er wusste, wie sehr die Eltern und insbesondere der Vater an dem Kriegstod zweier Söhne zu tragen hatte, klingen in seinen Briefen an die Eltern im Umfeld der Geburts- und Todestage der Brüder Erinnerungen und tröstende Gedanken auf, denen man auch die eigene Betroffenheit abspürt. Intensive sorgenvolle Nachfragen beherrschen zahlreiche Briefe und Postkarten vom Sommer 1922 bis zum Frühjahr 1923, als sein jüngster Bruder Walter im Sommerurlaub auf das Krankenbett geworfen wurde. Ein früher Gelenkrheumatismus, der im Krieg in Folge mangelhafter Ernährung zu einer schweren Herzschädigung geführt hatte, fesselte ihn ans Krankenbett, bis er nach monatelangem Siechtum am 17. 4. 1923 – wenige Wochen vor seinem 22. Geburtstag – im Elternhaus verstarb. Althaus versuchte aus der Ferne zu helfen und machte sich im März 1923 für ein paar Tage frei, um seinen Bruder bei den Eltern noch einmal zu besuchen und zu erleben. Die gemeinsamen Sorgen und die gemeinsame Trauer schufen ein enges Band zwischen dem jetzt einzig verbliebenen Sohn Paul und seinen Eltern. Aber die Dimensionen der Gemeinsamkeiten vor allem zwischen Vater und Sohn reichten tiefer. Die Briefe, die Althaus in diesen Jahren an seinen Vater schrieb, sind ein eindrucksvolles Zeugnis, wie der junge Professor seinen Vater als Vorbild verehrte, seinen Rat begehrte und ihm nachzueifern suchte. Der Vater seinerseits begleitete den beruflichen Aufstieg seines Sohnes intensiv. Als die Allgemeine Evangelisch-lutherische Kirchenzeitung (AELKZ) in einer ungewöhnlich ausführlichen Notiz die Ernennung des Göttinger Privatdozenten Paul Althaus, des „gelehrten Sohnes seines gelehrten Vaters“ zum Ordinarius in Rostock meldete und mit dem Kommentar versah: „Er gehört zu den Theologen, auf welche die Kirche mit Hoffnung blickt“, da kommentierte der Vater diese Anzeige als „wieder einmal geschmacklos … Sie dient gerade dazu, uns vor den Augen der Welt lächerlich zu machen“ (20. 2. 1920). Vater Althaus war Mitherausgeber der AELKZ und befürchtete wohl, hier solle sein Sohn in unangemessener Weise vereinnahmt werden. Sein 112
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knappes Votum charakterisiert jedoch vor allem die zurückhaltend bescheidene, aber nicht weniger dezidierte Wesensart von Vater Althaus. Wie sehr sich dieser am Aufstieg seines Sohnes freute, wird an der Gratulation deutlich, die er seinem Sohn anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Göttinger Theologische Fakultät im April 1920 übermittelte. Zum Hintergrund dieser Ehrenpromotion muss man wissen, dass man in den theologischen Fakultäten damals keinen Doktortitel mit einer Dissertation erwerben konnte – dafür gab es traditionsgemäß den Lizenziatentitel. Den theologischen Doktor (abgekürzt „D.“) gab es damals nur als Ehrendoktor. Die Fakultäten vergaben diesen Titel deshalb häufig an profilierte, auch jüngere Theologen in der Universitätslaufbahn, zumal sein Besitz vielerorts die Voraussetzung war, in den Fakultäten volles Stimmrecht auszuüben. Bei Paul Althaus erfolgte die Ehrenpromotion möglicherweise auch deshalb, weil dieser von der damals häufig praktizierten Übung junger aufstrebender Theologen, sich einen Doktortitel in der philosophischen Fakultät zu erwerben, keinen Gebrauch hatte machen können angesichts seiner gesundheitlichen Probleme in den Jahren nach dem 1. theologischen Examen.30 So verliehen die Göttinger Theologen ihrem erfolgreichen Privatdozenten im Frühjahr 1920, nachdem er in Rostock ernannt worden war, den Ehrendoktor. Der Vater gratulierte auf einer Postkarte: „Die große Würde, mit der Du nun bekleidet bist, erfordert einen besonders ehrfurchtsvollen Gruß und feierlichen Ausdruck meiner Freude. Ich bin stolz, daß Du den Doktorhut meiner alten Fakultät trägst. Möge er ähnliche Empfindungen in Dir wecken, wie sie einst Luther empfand: der „Doktor der heiligen Schrift“ gereicht ihm zur Tröstung und Ermutigung in seiner verantwortungsvollen Dozentenaufgabe, eine Art heiliger Legitimation zu dem Berufe der Wortverkündigung. Dominus benedicat tibi et custodiat te.“ (8. 4. 1920)
Das Amtsverständnis des Theologie-Professors als „Beruf zur Wortverkündigung“ wird hier eindeutig artikuliert. Es prägte Leben und Dienstauffassung des Vaters von Paul Althaus und darf auch als Erbe der niedersächsischen Erweckungsbewegung, der Paul Althaus d.Ä. entstammte, begriffen werden. Aus diesem Erbe folgten klare Ratschläge an den Sohn. Als jener im Spätjahr 1920 gefragt wurde, ob er ein Angebot, Hauptpastor an St. Michael in Hamburg zu werden, annehmen würde, bat er seinen Vater um Rat und erhielt prompt in einem ausführlichen Brief eine klare Antwort. Der Vater riet ihm, die unverbindliche Anfrage aus Hamburg nicht zu überschätzen und verband damit die eindeutige Empfehlung, in Rostock zu bleiben. Ein Ruf nach Hamburg wäre zwar „ehrenvoll und bedeutungsvoll“, außerdem biete das Hamburger Amt viel Geld, aber es bringe nur Predigtarbeit in einer großen Kirche, wenig Seelsorge, viel Offizielles, noch dazu in einer anspruchsvollen Großstadt. Die Übernahme des Hamburger Amtes bedeute außerdem „schon 30 Vgl. oben Seite 42.
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aus pekuniären Gründen“ den Ausstieg aus der akademischen Laufbahn „voraussichtlich für immer“. Rostock sei zwar eine Anfangsstelle, aber der Aufstieg an eine größere Universität stehe ihm offen, vor allem aber sei in Rostock die Verbindung von akademischer Lehre und Predigt gegeben. Vater Althaus spielte dabei auf den Umstand an, dass sein Sohn schon im Sommer 1920 in Nachfolge des Kirchenhistorikers Walther neben dem praktischen Theologen Hilbert zum Universitätsprediger in Rostock ernannt worden war. Darum sei die Antwort eigentlich klar, zumal Althaus in Rostock einen so erfreulichen Lehrerfolg habe, „dass Du nur von Dankesgefühlen erfüllt sein kannst. Jedenfalls liegt keinerlei gegründeter Anlass vor, Dich aus Rostock jetzt schon wegzusehnen und nach einer anderen Wirkungsstätte auszuschauen. … Die Frage ist die: möchtest Du wirklich den akademischen Lehrstuhl im Stich lassen? Das kann ich mir im Ernste nicht vorstellen, was heißt das, als Gelehrter werde ich nichts Großes schaffen? Lassen wir das dahingestellt. Aber wirst Du vielleicht nicht als Lehrer Großes leisten? Ist das nichts wert? Haben wir nicht anregende, eindrucksvolle Lehrer nötiger als angeschwärmte Prediger? Meinst Du, ich achtete meine Wirksamkeit gering, obwohl ich allen Grund hätte, Deine Worte mir zuzueignen.“ (28. 11. 1920)
Paul Althaus beherzigte den Rat des Vaters. Als er im August 1921 das offizielle Angebot aus Hamburg bekam, sagte er schnell ab und nahm das Bleibeangebot aus Schwerin sofort an.31 Er verinnerlichte die Aufgabe, als Universitätsprofessor akademische Lehre mit Predigtamt und seelsorgerlichen Aktivitäten zu verbinden. Im Kontakt mit niedersächsischen Pastoren, die in Göttingen bei seinem Vater studiert hatten, erlebte der Sohn, über welch großes Ansehen und breites Echo sein Vater bei den Absolventen verfügte32. Er selbst hatte als Schüler und dann in seinen Göttinger Studienjahren des Vaters eindrucksvolle Überzeugungskraft als akademischer Lehrer und als Prediger erlebt. Nach dem frühen Tod des Vaters, der 1925 – gerade 63 Jahre alt und noch voll im Dienst – nach längerer Krankheit verstarb, schrieb Althaus ein knappes, aber facettenreiches und in sich geschlossenes Lebensbild seines Vaters, das den Professor, der im Grunde immer Pastor geblieben war, sehr plastisch schildert und dabei auch auf das freilich nicht sehr umfangreiche wissenschaftliche Werk eingeht. Sein Vater hatte sich mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen schwer getan, was 31 Schreiben des Seniorats der Hamburgischen Kirche vom 1. 8. 1921, (NLA K 6, 6), Postkarte an die Eltern vom 2. 10. 1921 mit Bericht über das Bleibeangebot. 32 Ein eindrucksvolles Dokument dieses Ansehens und der Wirkung des Professors und Predigers Paul Althaus d.Ä. ist der Beileidsbrief vom 18. 4. 1925, den der Göttinger Historiker Max Lehmann an seinen früheren Schüler Paul Althaus zum Tode des Vaters schrieb: Der Vater sei zu früh gestorben – „zu früh für die Familie, für die Kirche, für das Vaterland, für die Wissenschaft, für die Freunde. Wie viel Glücksstunden verdanke ich ihm: in seinem gastlichen Hause, in meinem Hause und vor Allem im Gotteshause: durch Worte, die, für die Ewigkeit bestimmt, auch in die Ewigkeit reichen werden …“ (NLA K 11a)
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ihm durchaus bewusst gewesen war. Das selbstkritische Zitat zu seiner Bedeutung als „Gelehrter“ kann dafür als Beleg dienen. Ursache war offensichtlich eine dezidierte Priorität für wissenschaftliche Genauigkeit und Vollständigkeit beim Sammeln und Edieren historischer Quellen zur Gebetsliteratur, aber ebenso auch die bewusste Schwerpunksetzung zu Gunsten einer akademischen Lehre, die sich im Letzten immer der Wortverkündigung verpflichtet fühlte. Pastor und Professor blieben bei Paul Althaus dem Älteren ungetrennt. Gerade darin nahm der Sohn sich den Vater zum Vorbild, wie er ihm in einem eindrucksvollen Brief vom 24. 11. 1921 zum 60. Geburtstag ausdrücklich und ganz offen versicherte, obwohl er eigentlich sein „Herz wohl nur auf der Kanzel öffne“: „Am Sonntag hattest Du mich ganz. Auch für meine eigenen Gottesdienste habe ich da … das Beste gelernt, in dem Feierton vom ersten bis zum letzten Worte, die Festlichkeit, die jeder „Deiner“ Sonntage hatte. Wenn Du einmal nicht mehr lebst, dann wird mein Geistesauge Dich so sehen, wie Du zur Kanzel schrittest und wie Du predigtest … Das und noch mehr steht hinter der Widmung meines Predigtbüchleins.“33
Wie sehr das Vorbild des Vaters wirkte, lässt sich aus vielen Äußerungen von späteren Hörern des Erlanger Universitätspredigers belegen. Er öffnete in der Tat auf der Kanzel sein Herz. Die ehrliche und klare Frömmigkeit und die authentische Art zu predigen, wurde immer wieder bezeugt. Auch „vaterländische“ Predigten gewannen durch seinen für die Hörer spürbaren persönlichen Glauben ihren Tiefgang und ihre Einschränkung. Der Berliner evangelische Theologieprofessor Leonhard Fendt, der früher katholischer Priester gewesen war und Ende der vierziger Jahre in Erlangen mit großer Zustimmung Universitätsgottesdienste von Althaus erlebt hatte, charakterisierte sie mit den Worten: „Althaus zelebriert den Gottesdienst wie ein evangelisches Hochamt.“34 Mit der überbordenden Fülle seiner Publikationen trat der Sohn in einen eklatanten Gegensatz zu seinem Vater. Fast erscheint es so, als ob der Sohn die offenkundige Schwäche seines Vaters kompensieren wollte. Bemerkenswert ist jedoch, dass das gesamte wissenschaftliche und publizistische Werk von Althaus immer sehr stark von der Intention bestimmt ist, letztlich der Verkündigung der christlichen Botschaft zu dienen. Auch die Arbeit des „Gelehrten“ galt dem Dienste der Kirche. Der „Gelehrte“, der akademische Lehrer, der Prediger und Seelsorger, dienten ein und demselben Amt. Auch da folgte der Sohn seinem Vater, ihm blieb er sein Leben lang treu. Die klare, ehrliche 33 Dieser Brief ist zusammen mit den oben zitierten Schreiben seines Vaters vollständig abgedruckt in: G. Jasper (Hg.), 2009. 34 Überliefert durch Prof. Dr. Bernhard Klaus, den damaligen Assistenten von Fendt, in einem Schreiben an den Verfasser vom 16. 10. 2005.
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pietistische Frömmigkeit der niedersächsischen Erweckungsbewegung, der der Vater entstammte, lebte in dem Sohn in Predigtdienst und Professorenamt ungebrochen fort. Schon im Sommer 1914, seinem ersten Semester als Göttinger Privatdozent, hatte Paul Althaus sein homiletisches Proseminar besonders geschätzt, weil er den Studenten „etwas ganz Positives und Reales“ für ihren Predigtdienst geben könne.35 In Rostock und später auch in Erlangen war der Lehrstuhl für Systematische Theologie nicht wie in Göttingen mit einem Lehrauftrag in Praktischer Theologie verbunden, darum gewann für Althaus das Amt des Universitätspredigers, das sein Vater in Göttingen ebenfalls bekleidet hatte, besondere Bedeutung. In Rostock übernahm er dieses Amt schon im Sommer 1920 und konsequenterweise widmete er seinem Vater zum 60. Geburtstag „in dankbarer Erinnerung an die Göttinger Universitätsgottesdienste“ seine 1921 unter dem Titel „Der Heilige“ gedruckten ersten Rostocker Predigten.36 Bei seinem Wechsel nach Erlangen strebte er schon während der Berufungsverhandlung die Übernahme des Amtes des Universitätspredigers an. Freilich musste er acht Jahre warten, bis ihm 1932 nach der Emeritierung des Systematik-Kollegen und amtierenden Universitätspredigers Bachmann das Amt zusammen mit dem praktischen Theologen Ulmer übertragen wurde. Nachdem Ulmer 1937 aus dem Amt geschieden war, wirkte Althaus als Universitätsprediger alleine weiter bis Ende April 1964 – sechs Jahre über seine Emeritierung hinaus. Wie schwer ihm bis 1932 der Verzicht auf die Möglichkeit regelmäßiger Predigt fiel, bezeugen wiederholte Nebenbemerkungen in seinen Briefen; sie belegen zugleich, wie konstitutiv diese Funktion für sein Amtsverständnis war. Paul Althaus – so darf man wohl zusammenfassend formulieren – war gerade in dieser Auffassung seines universitären Amtes, das er zugleich als Amt der Kirche begriff, ein Sohn seines Vaters. Seinem Vorbild eiferte er nach, in sein Amtsverständnis wuchs er hinein. Wenn Paul Althaus in der Biographie über seinen Vater feststellte, dieser sei „wohl durch schwere theologische Glaubenskämpfe nicht hindurchgegangen, jedenfalls nie durch einen Bruch mit dem Glauben seines Elternhauses“37, so trifft diese Aussage gewiss auch auf ihn selbst zu. Seine Jugend gibt davon Zeugnis. Das Hermannsburger Erbe, die Tradition des durch die Hannoversche Erweckungsbewegung geprägten pietistischen Dorfpfarrhauses bleibt auch bei dem ebenso hochgebildeten wie angesehenen Universitätsprofessor stets spürbar und handlungsbestimmend. Sie war Vorbild und Verpflichtung. Darum schrieb er in das Goldene Buch der Universität Erlangen 1927: „Geist und Leben des lutherischen Pfarrhauses sind mir bis heute immer Heimat.“ Dieser Heimat blieb Althaus immer treu. Karl Barth, auch Sohn eines Pfarrers und Universitätsgelehrten, schrieb ihm 1928: 35 Vgl. oben S. 51. 36 P.A., 1921 (1). 37 P.A., 1928, S. 59.
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„Sehr gern habe ich auch die Biographie Ihres Herrn Vater gelesen. Ich stamme ja aus einer ganz ähnlichen, wenn auch wieder ganz anderen Welt geprägter warmer Christlichkeit und Fleisch und Blut gewordener Theologie. Ich vermöchte es zwar nicht mehr, sie so unbedenklich darzustellen wie Sie, weil ich vermutlich in verschiedener Hinsicht gründlicher aus diesem Boden entwurzelt worden bin. Aber das hindert mich nicht, mit Ihnen respektvoll vor der Art dieser Generation still zu stehen.“ Althaus erwiderte ihm: „Ihre Bemerkungen zu dem Lebensbild meines Vaters waren mir sehr lehrreich. Da wird wohl ein tiefer Unterschied zwischen uns begründet sein, dass ich nie mit Bewusstsein entwurzelt worden bin. Vielleicht wird es Sie wundern, dass mich mein Soldatenpfarramt nie entwurzelt hat, so wie Sie die Arbeit an sozialistischen Arbeitern … ich hatte, vielleicht leider, das Herz und Ohr der Leute so sehr, dass ich nicht in wirklichem Zusammenprall und hoffnungsloser Arbeit lernen konnte.“ (Briefe vom 23. und 29. 5. 1928 NLA K 10)
Die bei aller Neuakzentuierung bruchlose Kontinuität einer im Kern positiven Theologie und gelebter, nicht entwurzelter pietistischer Frömmigkeit, die aus dieser Formulierung spricht, bestimmte das ganze Leben von Paul Althaus. Sie war sein väterliches Erbe. Als Vorbild wirkte der Vater auch als akademischer Lehrer. Die vielen Beileidsbriefe nach dem Tod seines Vaters kommentierte der Sohn seiner Mutter gegenüber : „Wie viel warmer Dank für Vaters Kollegs spricht aus den Briefen. Ich will darum ringen, den Studenten, bei aller Strenge der Wissenschaft, doch auch ein solcher Führer zu werden!“ (10. 5. 1925). Althaus entfaltete in Rostock eine umfassende Lehrtätigkeit38. Die Intensität, mit der er sich dieser Aufgabe widmete und auch das Echo, das er fand, kommen in einem Brief an seine Eltern sehr plastisch zum Ausdruck: „Es geht jetzt manchmal heiß her, in den heißen Tagen in doppeltem Sinne. Da am Tag die Gedankenarbeit bei der Hitze schwer war, habe ich fast allabendlich bis 12 oder später gesessen. Nun bin ich aber auch mit der Versöhnungslehre fertig und habe, so scheint mir, wirklich eine eigene. Noch vor einem Jahr, auf der Erichsburg, war ich weit hinter dem jetzigen Stand zurück. Entscheidendes habe ich, außer durch meinen wichtigsten Lehrer, die Lodzer Kanzel, für die neuen Gedanken von Schleiermacher gelernt. Hofmann hat mir aufs Neue sehr imponiert, aber ich rücke ihm im Ganzen etwas ferner, während Ritschls oberflächliche Theorie mir ganz unangenehm geworden ist. Es ist merkwürdig, wie sich in solchen Tagen intensiver Gedankenschiebungen im Geiste die Anregungen verschiedenster Zeiten und Männer in mir ins Bewusstsein drängen: Deine mir nach wie vor sehr sympathische Versöhnungslehre, l.[ieber] V.[ater] im Göttinger Hörsaal 12, Aussprachen mit Heinzelmann in seinem Studierzimmer, sehr starke Eindrücke von Schlatters „Leben Jesu“, die jetzt erst wieder emportauchen, Erinnerungen an Titius’ Seminar im W.S. 1908/9, Versuche, in Lodzer Predigten den Männern zu sagen, was Christi Kreuz bedeutet. Alles 38 Die Angaben zur Lehrtätigkeit stützen sich auch auf die Auswertung der Rostocker und Erlanger Vorlesungsverzeichnisse.
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arbeitet zusammen, dazu die umfassende Literaturbenutzung – das alles gibt Tage schweren Ringens, bis sich in Nachtstunden alles löst in klare Diktate, wie gestern und vorgestern um Mitternacht. Meine Leute sind aber auch sehr dabei und holen Gäste herbei. (10. 7. 1920)
Jedes Semester kündigte er eine vier- bis fünfstündige Hauptvorlesung – meist abwechselnd: Dogmatik I und Dogmatik II – an. Nur zweimal in seinen sechs Rostocker Jahren, im Wintersemester 1922/23 und im Sommersemester 1924 las er stattdessen als Hauptvorlesung Ethik. Zu diesen zentralen Angeboten traten jeweils ein Seminar zur systematischen Theologie und eine oder zwei Spezialvorlesungen, meist zweistündig, sodass er in der Regel neun oder im Maximalfall sogar elf Stunden Lehre anbot. Einige der Spezialvorlesungen wurden ausdrücklich für Hörer aller Fakultäten geöffnet, jeweils Samstags von neun bis elf, z. B. Wintersemester 1920/21: „Moderne Probleme der Sozialethik (Die sexuelle, soziale und internationale Frage als ethische Probleme)“, die er zum Wintersemester 1921/22 unter dem Thema „Hauptfragen der Sozialethik (Ethik des geschlechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Lebens)“ wiederholte. Die biographische Verwurzelung seines Lehrprogramms ist gerade bei der Sozialethik unverkennbar : die Themen der Sexual- und Wirtschaftsethik hatten ihn als Lazarett- und Governementspfarrer in Polen intensiv beschäftigt und in der politischen Ethik versuchte er sich mit Revolution und Kriegsniederlage auseinanderzusetzen. Diese Aktualität verschaffte ihm die großen Hörerscharen. Man spürt an den immer wieder vollzogenen Änderungen bei den Themenformulierungen, wie Althaus laufend an seinen Lehrveranstaltungen arbeitete, sich korrigierte und präzisierte. Außerdem wird erkennbar, dass er an der damals anstehenden Erweiterung der klassischen lutherischen Individualethik auf die Sozialethik aktiv beteiligt war. Themenstruktur und Umfang seines Lehrangebotes änderten sich auch in den späteren Erlanger Jahren nicht. Dogmatik I und II sowie Ethik beherrschten das Feld der Hauptvorlesungen. Aus ihnen erwuchs auch sein Grundriss der Dogmatik, der 1929/32 erstmals zweiteilig erschien und mehrfach zusammen mit dem Grundriss der Ethik von 1931 – erste Ausgabe: Leitsätze der Ethik 1928 – bearbeitet und auch nach dem Krieg wieder aufgelegt wurde.39 Althaus sah in diesem Grundriss das Skelett seiner Vorlesungen. Er war als Zusammenfassung gedacht, benötigte aber die Erläuterung und Ausmalung in der Vorlesung, zielte ausdrücklich auf seine Hörer. In den Spezialvorlesungen profilierte sich der Lutherforscher Althaus. Im Wintersemester 1921/22 las er erstmals: „Die Theologie der Reformatoren – Luther, Melanchthon, Zwingli, Calvin“. Im Wintersemester 1924/25 hieß das Thema dann: „Luthers Theologie“. In den Erlanger Jahren taucht diese Vorlesung immer wieder auf. Sein 1962 – sechs Jahre nach seiner Emeritierung – 39 P.A., 1928 (2), 1929 (2); 1931; 1932.
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erscheinendes Spätwerk über „Luthers Theologie“, dem dann – ein Jahr vor seinem Tode – 1965 „Luthers Ethik“ folgte, fassen gleichsam diese lebenslange Arbeit an Martin Luther zusammen und weisen – neben vielen Spezialaufsätzen –Althaus als einen führenden Repräsentanten der „Lutherrenaissance“ um den Kirchenhistoriker Karl Holl aus. Bei Holl hatte er in Tübingen 1907 noch gehört; nach dessen frühem Tod wurde er 1926 sein Nachfolger als Präsident der Luthergesellschaft. Schon im Rostocker Lehrbetrieb legte der junge Professor die Fundamente für diese späten Standardwerke, in sie gehen seine Lehrerfahrungen sehr unmittelbar ein, denn die Briefe an seine Eltern belegen immer wieder, wie es Althaus gelang, den Kontakt zu seinen Hörern lebendig zu gestalten und welches Echo er bei den Studenten fand. Er freut sich, bei den Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten auch mit Nichttheologen ins Gespräch zu kommen. Ausdrücklich bedankt er sich im Vorwort seines Buches über „Die letzten Dinge“ bei den Teilnehmern an seinem der Eschatologie gewidmeten Systematikseminar im Sommersemester 1921 für ihre „ernste Mitarbeit“, die „durch Anregung und Widerspruch“ für ihn sehr wichtig gewesen sei und ihm viel bedeutet hätte40. Wiederholt lädt der junge Professor Studenten zu sich nach Hause ein, zum Teil machen sie dann gemeinsam Musik (25. 2. 1922) oder es gibt allgemeine Gesprächsabende.41 Im Sommer geht man auch schon einmal gemeinsam nach Warnemünde an den Ostseestrand. Die überschaubaren Studentenzahlen in Rostock erleichterten diese Kontakte. Im Sommersemester 1920 waren in Rostock insgesamt 1569 Studenten eingeschrieben, darunter 69 Theologen. Im Sommersemester 1924 war die Gesamtzahl auf 976 zurückgegangen, 40 Paul Althaus, 1922 (1), S. 9. 41 „Gestern hatte ich bis 12 1 zehn Studenten bei mir.“ (6. 2. 1923). Am 28. 8. 1928 berichtete der junge Pfarrer Otto Kill, der 1923/24 in Rostock studiert hatte, in einem Brief an seine Verlobte von einen solchem Abend bei Paul Althaus: „Ich vergesse wohl nie einen Abend im Anfang eines Wintersemesters, wo wir zu Althaus eingeladen waren. Das Zusammensein war meist sehr schwierig zu gestalten, weil immer Studenten der verschiedensten Richtungen und Korporationen zusammen waren. Und Verbindungsmauern sind im akademischen Leben schwer zu übersteigen. Nach leicht plätschernden Gesprächen fand Althaus ein feines Mittel, uns miteinander vertraut zu machen und den Abend sehr anregend zu gestalten. Jeder sollte aus seinem Leben erzählen. Auf den ersten Augenblick, wenn man das hört, könnte man denken, das sei reichlich viel verlangt. Aber wenn man Althaus kennt und die ganze Art akademischer Atmosphäre, dann schwindet dieses Gefühl. Vollends war es dadurch überwunden, daß er seine Frau bat, anzufangen. Diese liebliche, frauliche Art zu erzählen, machte es jedem leicht, nun auch irgendeinen Abschnitt seines Lebens zu erzählen. Ganz von selbst konzentrierten sich diese Berichte auf die Frage, wie kam ich dazu, Theologie zu studieren, und was ist es um die religiöse Frage im Leben. Ganz zuletzt erzählte Althaus. Das war ein herrlicher Abend, und wir waren uns alle so nahe gekommen, dass wir immer herrliche Gemeinschaft gehalten haben.“ Im Brief vom 8. 3. 1928 lesen wir: „Damals kam auch die tiefe Freude am theologischen Schaffen. Althaus, dessen Artikel Du vielleicht gerade in diesen Tagen liest, war geradezu ein Erlebnis.“ Die Kenntnis dieser Briefe verdanke ich dem Sohn von Otto Kill, Herrn Dipl.-Ing. Eberhard Kill, Rathsberg.
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während jetzt die Theologenzahl auf 85 gestiegen war. Der überregionale Ruf, den Althaus sich inzwischen erworben hatte, zog offensichtlich auch Lutheraner aus anderen Ländern zumindest im Sommer an die Ostsee. Im Sommersemester 1925 studierten nach Ausweis der Studentenstatistik der Universität Rostock allein 13 Theologen aus Bayern in Rostock. Nachdem Althaus zum Wintersemester 1925/26 nach Erlangen gewechselt hatte, brachen in Rostock die Zahlen der Theologiestudenten massiv ein. Nicht nur mit seinen akademischen Lehrveranstaltungen erreichte Althaus die Studenten. Sie kamen auch in seine Universitätsgottesdienste. Die offizielle Studentenvertretung bat ihn im November 1921 um einen besonderen Gedenkgottesdienst für die im Weltkrieg gefallenen Kommilitonen (11. 11. 1921)42. Dieser Wunsch lässt sein allgemeines Echo in der Studentenschaft erahnen. Seine vaterländische Grundstimmung traf sich mit der bei den Studenten vorherrschenden nationalen Haltung. Aber das große Echo, das Althaus bei seinen Studenten sein Leben lang fand, ist darauf allein nicht zurückzuführen. Seine christliche Botschaft ging im Nationalen nicht auf, er erreichte die Studenten ganz offensichtlich in tieferen persönlichen Ebenen. Zudem war er sich selbstkritisch der nationalen Töne mancher Predigten bewusst. Seinem Schweizer Freund Emil Brunner schickte er seinen Predigtband nur, „wenn Sie mir versprechen, dass Sie die eine vaterländische Predigt zunächst überschlagen wollen.“43 Intensiv kümmerte er sich auch in Rostock um die Deutsche Christliche Studentenvereinigung (DCSV), mit der er ja schon als Student und Doktorand in Kontakt getreten war. Mehrfach hielt er auf ihren Abenden Andachten. An seinem Geburtstag im Februar 1924 erschienen Mitglieder der DCSV frühmorgens und brachten ihm ein Ständchen. Sie begründeten damit eine Tradition, die später in Erlangen von der Schwarzburgbundverbindung Uttenruthia, deren Ehrenphilister Paul Althaus geworden war, und von der Kurrende der Studentengemeinde, der faktischen Nachfolgerin der DCSV, jahrelang fortgesetzt wurde. Der lebendige Kontakt zu den Rostocker Studierenden, den sich der junge Professor so rasch erwarb, wurde fundamentiert durch einen guten Zusammenhalt der Kollegen in der Theologischen Fakultät. Die Briefe an die Eltern erwähnen immer wieder, dass das Ehepaar Althaus bei Kollegen zu Besuch war oder dass diese zu ihnen in die Wohnung kamen. Die Kommunikation und auch der gesellschaftliche Kontakt waren eng. Großes Gewicht für Althaus hatte das Amt des Universitätspredigers. Er füllte diese Verpflichtung mit viel Freude und großem Ernst aus und fand ein nicht weniger großes Echo. Alle vierzehn Tage hatte er zu predigen. „Die Kirche war voll“, heißt es beispielsweise am 11. 11. 1921, und die hohen Auf42 Der Gottesdienst fand statt am 23. 11. 1921, die Predigt ist abgedruckt in: P.A., 1924, S. 10 – 18. 43 Brief an Brunner vom 24. 5. 1925 NLA K 10, gemeint war die Predigt zum Gefallenengedenkgottesdienst.
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lagen, die seine insgesamt drei Rostocker Predigtbände erzielten, sprechen für die Resonanz, die der junge, begabte Prediger erreichte. Die ersten sechs Predigten, die er 1921 seinem Vater zum 60. Geburtstag widmete, erzielten allein in vier Jahren drei Auflagen und wurden insgesamt fünftausendmal gedruckt.44 Sie bestätigen die schon in Lodz bewährte hohe Kunst des Predigers Althaus, zumal er sich bewusst vom traditionellen Schema klassischer Predigten fernhielt und seine Hörer in der aktuellen Stimmung gleichsam abzuholen versuchte. Sein Ruf als Prediger verbreitete sich schnell. Immer wieder wurde er auch nach auswärts zu Festpredigten oder geistlichen Vorträgen eingeladen. So fuhr er zum Beispiel nach Hermannsburg, wo einst bei der Gründung des Missionswerkes sein Großvater gepredigt hatte. Der Enkel wirkte jetzt dort auf einer Missionskonferenz mit und gab den Teilnehmern des Ausbildungsseminars für Missionare über mehrere Tage hinweg Lehrstunden mit Aussprachen. (5. 9. 1921) Seine große Gabe, klar formulierte und aktuelle Fragen aufgreifende theologische Vorträge zu halten, verschaffte ihm Einladungen nach Riga und Kopenhagen (15. 2. 1922) sowie nach Zürich (15. 1. 1925), um nur die weitest entfernten Vortragsorte zu nennen. Anlässlich des Züricher Vortrages entstand eine lebenslange Freundschaft mit seinem dortigen Systematik-Kollegen Emil Brunner. Natürlich sprach er öfters auf Pfarrkonferenzen und Kirchentagen seiner mecklenburgischen Landeskirche, mit deren Landesbischof er in sehr persönlichen Kontakt kam. Häufig nahm er aktiv an den Tagungen der Lutherakademie in Wernigerode teil. Der bei den Studenten so beliebte Universitätsprofessor fand überall ein großes Echo und profilierte sich so als Mann der Kirche.
3.3 Im Spannungsfeld von Theologie und Politik – die wissenschaftlichen Publikationen der frühen 20-er Jahre Das Erstaunen über diese intensive Vortrags- und Predigttätigkeit, die hier nur angedeutet werden konnte, wird noch größer, wenn man zur Kenntnis nimmt, welch umfangreiche Publikationstätigkeit Althaus zwischen 1919 und 1925 entfaltete. Das Verzeichnis seiner Schriften nennt allein für diese Jahre 27 Titel. Gewiss sind das häufig gedruckte oder für den Druck ausgearbeitete Vorträge oder Predigten, aber auch das will geleistet sein. Als bedeutsamstes wissenschaftliches Werk dieser Jahre ragt seine Arbeit über „Die letzten Dinge“45 hervor. Althaus erörtert hier in einer sehr grundlegenden systematischen Abhandlung die Problematik der Eschatologie. Auch unter dem Eindruck der 44 Der Heilige, 1921, 2. Aufl. 1922, 3. Aufl. 1925; Der Lebendige, 1924, 2. Aufl. 1926; Das Heil Gottes, 1926. 45 P.A., 1922 (1).
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Katastrophe des Ersten Weltkrieges wendet er sich gegen alle kulturoptimistischen Fortschrittshoffnungen, die noch als letzte Periode der Geschichte eine diesseitige Verwirklichung eines glückseligen Endzustandes erwarteten. Gegen chiliastische Vorstellungen – seien sie liberal-idealistisch oder marxistisch-sozialistischer Prägung – aber auch gegen endzeitlich apokalyptische Szenarien vertritt Althaus eine christliche Lehre von den letzten Dingen, die es mit dem Jenseits der Geschichte zu tun habe und nur christologisch zu fassen sei. Die ihm aus seinem Göttinger Studium bei dem Historiker Lehmann wohl vertraute Vorstellung von Leopold von Ranke, dass jede Epoche unmittelbar zu Gott stehe, bestärkte ihn in diesem Bild von der Geschichte. Im Glauben an die Auferstehung und Gegenwart Christi erfährt der Christ schon im diesseitigen Leben die Gewissheit des Letzten, aus der Ernst, Freudigkeit und Zuversicht des Handelns in der Welt trotz immer neuer Enttäuschungen fließen und die zugleich von der Begrenztheit der Erträge aller christlichen Aktivitäten in der gefallenen Welt weiß. Darüber hinaus gewinnt der Christ das Hoffnungsziel auf das Ewige Leben im vollendeten Reich Christi jenseits der Welt und der Geschichte, das Welt und Geschichte ertragen lässt. „Die letzten Dinge“ erlebten bis 1933 ständig überarbeitete und erweiterte vier Auflagen, 1949 folgte die fünfte und 1956 – im Jahr der Emeritierung von Althaus – die sechste Auflage. Allein bis 1933 wurden 8000 Exemplare gedruckt, hinzu kam eine Übersetzung ins Schwedische. Schon in der Höhe dieser Auflage wird der Erfolg dieses Buches dokumentiert, der im Übrigen auch in zahlreichen zeitgenössischen Rezensionen, in ihrer Zustimmung für den grundsätzlichen Neuansatz, in ihrem Respekt vor der Klarheit der Argumentation des Autors, aber auch in kritischen Fragen zum Ausdruck kam. Noch heute gilt diese Arbeit als wichtiges Dokument der Umbruchssituation nach dem Ersten Weltkrieg und des theologischen Neuansatzes, wie man zum Beispiel der knappen und präzisen Darstellung der Thesen dieses Werkes in Hermann Fischers theologiegeschichtlichem Standardwerk aus dem Jahr 2002 entnehmen kann.46 Althaus blieb sein Leben lang dem Thema der Eschatologie und ihrer zentralen Bedeutung für die Theologie fest verbunden, was auch dadurch belegt wird, dass er 1958 in der dritten Auflage des Lexikons Religion in Geschichte und Gegenwart den einschlägigen Artikel „Eschatologie“ schrieb, was er im Übrigen schon 1928 in der zweiten Auflage getan hatte. Da Redaktionsteams von Fachlexika Grundsatzartikel nur an Experten vergeben, wird man in dieser Autorenverpflichtung auch eine Anerkennung der Kollegen erblicken dürfen. Die Intensität, mit der sich Paul Althaus dem Thema Eschatologie widmete, lässt sich in doppelter Weise biografisch verankern. Zunächst ist bei Althaus hier ohne Frage die niedersächsische, lutherische Erweckungsbewegung zu spüren – was hier als „Hermannsburger Erbe“ bezeichnet sei. Aus dieser 46 Hermann Fischer, 2002, S. 50 f., vgl. ferner auch Jan Rohls, 1997, S. 294 f.
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Tradition ist begreifbar, dass Althaus bereits 1913, noch vor seiner Promotion und Habilitation, in der AELKZ eine Artikelserie erscheinen ließ, in der er unter dem Titel „Der Friedhof unserer Väter“ einen „Gang durch die Sterbeund Ewigkeitslieder der evangelischen Kirche“ unternahm. Die kurzen Betrachtungen wollten „nichts anderes sein als ein Führer durch besonders wertvolle Teile des Gesangbuches“, so im Vorwort der erweiterten Buchausgabe von 1915 (S. 3). Althaus schlug hier – geordnet nach theologischen Gesichtspunkten: Begräbnis, Vergänglichkeit, Seliges Ende, Ewigkeit und Jüngster Tag – die „Lieder unseres Gesangbuches ,von den letzten Dingen‘ auf“ und interpretierte sie knapp, nicht ohne immer wieder auch auf die ihm so wohlvertrauten Melodien einzugehen. Diese Schrift wurde von den Rezensenten hoch gelobt, wurde mehrfach erweitert und neu aufgelegt, zuletzt geschah das für die vierte Auflage 1948. Es mag überraschen, dass ein junger Theologe noch kurz vor dem Zweiten Theologischen Examen eine solche auf das Ende, auf Tod und Begräbnis konzentrierte seelsorgerliche Schrift erscheinen lässt. Sie ist ein Dokument tiefer pietistischer Frömmigkeit, die trotz aller christlichen Aktivitäten in der Welt doch stets in dem Bewusstsein lebt, dass die Erde ein Jammertal ist, die Christen „hier keine bleibende Stadt“ haben und auf Erlösung im Jenseits hoffen. Zugleich kann der Leser deutlich spüren, über welch lebensvolle Kenntnis des evangelischen Kirchenliedes der Autor verfügt, was seinen Interpretationen höchste Glaubwürdigkeit verschafft. Das Pfarrhaus, in dem häufig Choräle gesungen wurden, der Gymnasiast, der sonntäglich zur Kirche ging, über den Gottesdienst nachdachte und berichtete, der junge Theologiestudent, der Choräle lernen wollte, um später auf der Kanzel mit Versen „um sich werfen zu können“47, und dem die väterliche Vorlesung „Das Kirchenlied – freitags 5 bis 6“ „unvergesslich“ blieb48, diese biographischen Verankerungen wurden im „Friedhof unserer Väter“ ebenso deutlich spürbar wie die Zielrichtung auf Seelsorge und Erbauung. Die Hannoversche Erweckungsbewegung, aus der Althaus stammte, wird hier als Quelle seines Wirkens greifbar, und es erscheint nur folgerichtig, wenn der so geprägte junge Theologieprofessor sich dem Thema der „Letzten Dinge“ dann auch wissenschaftlich widmete. Der Pastor und der Professor schritten gleichsam Hand in Hand. Konsequent lesen wir im Vorwort der zweiten Auflage des „Friedhofes unserer Väter“ 1922: „Das Büchlein will – eine mir erwünschte Ergänzung zu dem dogmatischen Entwurf der Eschatologie – in Form eines Gesangbuchführers eine Einleitung der Gemeinde in die ,Letzten Dinge‘ sein“. Dabei gilt es zu beachten, dass diese „Ergänzung“ bereits 47 Vgl. oben S. 44. Wer in den zahlreichen Predigtbänden von Paul Althaus liest, staunt immer wieder über die Fülle gut eingebauter Choralzitate. Althaus verfügte souverän über einen großen erlebten und erlernten Schatz an Kirchenliedern. Dem entsprach im Übrigen auch die gezielte Auswahl der im Gottesdienst zu singenden Lieder, die in seinen Predigtbänden absichtsvoll angegeben wurden, weil sie zur Predigt als Hinführung oder Antwort der Gemeinde gehörten. 48 Brief an den Vater zum 60. Geburtstag vom 24. 11. 1921.
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neun Jahre existierte, bevor der „dogmatische Entwurf der Eschatologie“ erschien. Der fromme Pastor schritt voran, der Professor folgte. Nicht nur der Geist der niedersächsischen Erweckungsbewegung und das seelsorgerliche Engagement des lutherischen Pastors wehen durch das wissenschaftliche Werk der Eschatologie. Die „Letzten Dinge“ müssen auch gesehen werden als Versuch, die tief greifenden politischen Erlebnisse des jungen Theologen am Ende des Ersten Weltkrieges zu verarbeiten, mit Revolution und militärischer Niederlage sowie den Bedingungen des Versailler Vertrages fertig zu werden. Die Wirkung dieser Erlebnisse auf das große theologische Werk über die „Letzten Dinge“ wird deutlich, wenn man zwei sozialethisch ausgerichtete Schriften betrachtet, mit denen Althaus die Eschatologie gleichsam flankierte und untermauerte: 1921 – also ein Jahr vor der Eschatologie – erschien unter dem Titel: „Religiöser Sozialismus“ eine Studie zu „Grundfragen der Sozialethik“49 ; 1923 – also ein Jahr nach der Eschatologie – folgte das Büchlein „Staatsgedanke und Reich Gottes“, das in den „Schriften zur politischen Bildung“ der konservativen Gesellschaft „Deutscher Staat“ erschien und ein beträchtliches öffentliches Echo fand.50 Obwohl beide Schriften sozialethisch argumentieren, die Bezüge zu der streng systematisch-theologischen Lehre von den „Letzten Dingen“ sind eng. In der Schrift zum Religiösen Sozialismus ist es die Absage an alle chiliastischen Vorstellungen in der sozialistischen Bewegung, die sich für Althaus theologisch aus seiner Neubestimmung der Eschatologie als einem „Jenseits der Geschichte“ zwingend ergeben. In „Staatsgedanke und Reich Gottes“ klingt in dem Begriff „Reich Gottes“ eine eschatologische Formel an, deren innerweltliche Relevanz und Bedeutung Althaus freilich schon in den „Letzten Dingen“ entfaltet hatte: Im Glauben an Auferstehung und Gegenwart Christi arbeitet der Christ am Bau des Reiches Gottes schon in dieser Welt, auch wenn er um deren notwendige Gebrochenheit und damit um die Begrenztheit seines Handelns weiß und deshalb auf das vollendete Reich Christi jenseits der Welt und der Geschichte hofft. „Staatsgedanke und Reich Gottes“ handelt darum letztlich von den Aktivitäten des Christen in der Welt, in Staat und Politik. Die gleichsam innerweltliche Verwendung des Reichs-Gottes-Begriffes gehört – so wie sie hier bei Althaus formuliert ist – zugleich zur Tradition des Pietismus und zur Erweckungsbewegung, die trotz aller Absonderung von der Welt als Träger von Mission und Diakonie dadurch – so war ihre Terminologie – das Reich Gottes auszubreiten sich bemühten. Beide Schriften sind aber nicht nur durch ihre Verknüpfung mit der Eschatologie interessant. Durch einen sehr direkten Bezug auf den „Schlag gegen den Pazifismus“ aus dem ersten Halbjahr 191951, dessen spontane In49 P.A., 1921 (2). 50 P.A., 1923 (1).Die Schrift wurde 1923 gleich zweimal aufgelegt, 1926 erschien eine textlich fast verdoppelte 3. Auflage, 1931 – nochmals erweitert – die 4. Auflage. 51 Vgl. oben S. 99 ff.
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terpretationen sie argumentativ ausbauen, verraten sie zugleich ihre Verwurzelung im politischen Erleben von Paul Althaus. Die damalige Auseinandersetzung mit dem Schweizer Religiösen Sozialisten Kutter wird jetzt in der Schrift über den Religiösen Sozialismus erweitert und differenziert sowie theologisch durch einem Anfangsabschnitt über Jesus und Paulus und eine Schlusspassage über Luther vertieft. Althaus unterscheidet radikale und gemäßigte Vertreter des Religiösen Sozialismus, zu letzteren zählt er unter anderen Karl Barth.52 Ihr soziales Engagement und ihren Protest gegen den Kapitalismus teilt er, wie sie fordert er soziales Engagement der Christen. Der sozial aktive, aber gesellschaftlich konservative Spross der niedersächsischen Erweckungsbewegung fordert wie Friedrich von Bodelschwingh Arbeiterwohnsiedlungen mit eigenem Garten als Instrument zur Bekämpfung der unmenschlichen Lebensbedingungen der industriellen Arbeitermassen, ohne die Produktionsverhältnisse als solche zu thematisieren53. Die religiösen Sozialisten sieht er dagegen in der Gefahr zu einem „schnellen christlichen Dilletantismus“ und zu einem „Absolutismus des Glaubens an die Möglichkeit einer christlichen Wirtschaftsordnung“, deren Normen angeblich aus dem Evangelium direkt abgelesen werden könnten. (S. 58 f.) Dagegen möchte Althaus Privatinitiative z. B. nicht ausgeschaltet wissen. Grundsätzlich betont er die Notwendigkeit, „völlige Sachkunde und ein lebendiges Gewissen“ für die Verwirklichung sittlicher Forderungen im Wirtschaftsleben zusammenzubringen. Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, ob und inwieweit Althaus in der Forderung, Sachkunde und Gewissen zusammenzubringen, Kategorien andenkt, die in den sechziger Jahren der Bundesrepublik in der so produktiven Unterscheidung von Sachgemäßheit und Schriftgemäßheit durch die Denkschriften der EKD entfaltet und angewendet wurden.54 Sie wird später noch einmal aufzugreifen sein. Trotz aller Zustimmung zum Kern der sozialen Forderungen der Religiösen Sozialisten, ihrem Internationalismus und ihrer Abwertung von Nation und Staat widersprach Althaus heftig. Internationale Organisationen hätten zwar partielles Recht, stünden aber unter dem Verdacht rationalistischer Konstruktionen, die den Regeln der lebendigen Geschichte nie gerecht werden 52 In einer ausführlichen und z. T. scharfen, manchmal ironischen Rezension setzte sich Karl Barth (1922) mit der Schrift von Althaus auseinander, begleitete aber diese Kritik mit einem persönlichen Brief an Althaus vom 19. 4. 1922 „Lassen Sie sich nicht abschrecken … nicht bös gemeint … soll meinen Willen bekunden, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen …“ (NLA K 10). Althaus (1923, 2) ging auf diese Kritik in einem Aufsatz: „Theologie und Geschichte“, der sich zugleich auch mit dem Römer-Brief-Kommentar von Karl Barth beschäftigte, nicht minder ausführlich und kritisch ein. 53 Schon in einer Predigt und einer Sonntagsbetrachtung im Juni 1917 hatte Paul Althaus sich in diesem Sinne eindeutig positioniert (Brief an die Eltern vom 23. 7. 1917, Sonntagsbetrachtung in: Deutsche Lodzer Zeitung vom 15. 7. 1917). Seine Bodelschwingh-Verehrung klingt bereits in den Studentenbriefen an, vgl. G. Jasper (Hg.), 2006, S. 323. 54 Siehe dazu die sog. Denkschriften-Denkschrift von 1970 abgedruckt in: Die Denkschriften der EKD. 3 Bd. in 4 Teilen. Gütersloh 1981 mit der wichtigen Einleitung von Ludwig Raiser.
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könnten. Sie liefen darum Gefahr – wie der Völkerbund von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges – instrumentalisiert zu werden. Althaus wiederholte hier seine These aus dem Pazifismus-Aufsatz von den Völkern und Staaten als den eigentlichen Trägern und Gestaltern der Geschichte, gefordert ihren „Beruf“ in der Geschichte zu erkennen und zu erfüllen, was in bestimmten Situationen auch zu gerechtfertigten Kriegen führen könne. Rationale Argumentationen wurden hier bewusst zugunsten historischer Schau und dem wagenden Erfüllen eines erahnten Berufes abgelehnt. Jetzt illustrierte er seine These mit dem historisch-politisch bezeichnenden Hinweis: „Der Kampf um die Führerschaft und um das geschichtliche Recht wird immer wieder Völker so gegeneinander führen, dass der Ausgleich der Notwendigkeiten und Willen unmöglich wird – gerade dann, wenn sittlich ernste Staatsmänner auf beiden Seiten stehen, die nichts anderes wollen als der Verantwortung gegen ihres Volkes durchlebte Geschichte und bejahten Beruf gehorchen. Eine Ausgleichsformel zwischen Deutschland und Polen, die den Widerstreit um die Gestaltung des deutschen Ostens beilegte, ist undenkbar. Hier steht (wir haben es lebendig durchlebt) nicht einfach Recht gegen Unrecht, sondern in gewissem Sinne geschichtliches Recht gegen geschichtliches Recht. … In solchem Widerstreit kann zuletzt die Entscheidung nur so gewonnen werden, dass beide Völker ihre ganze Kraft und Tüchtigkeit im Ringen um die Führerschaft und Zukunft zu mächtigem Sich-Messen einsetzen. Das ist der Krieg.“ (S. 67)
An der schon 1920 von Grützmacher55 kritisierten „Kriegstheologie“ aus dem Pazifismus-Aufsatz hielt Althaus – wie dieses Zitat belegt – ausdrücklich fest, auch wenn einige Detailargumente jetzt verfeinert wurden. Bei der Einordnung dieses Zitates ist jedoch beachtenswert, dass Althaus seine These vom Widerstreit des jeweils geschichtlichen Rechtes am Beispiel der Polen und Deutschen zu einem Zeitpunkt formuliert, als der polnische Aufstand in Oberschlesien tobte und gerade die Schlacht am Annaberg geschlagen war. Auf dem Hintergrund seiner Erlebnisse in Polen während des Weltkrieges und der erregten Stimmung in den ersten Nachkriegsjahren ist die Aussage vom historischen Recht der Polen durchaus beachtlich. Darüber hinaus muss die hier wiederum bekräftigte Lehre vom „gerechtfertigten Krieg“, der die Völker zusammenstoßen lasse, zugleich als Reaktion auf die These von der alleinigen Schuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg gesehen werden. Althaus argumentierte mit den Lebensgesetzen der Geschichte, die alle kriegsteilnehmenden Völker 1914 im Gehorsam gegenüber ihrem Beruf kriegsbereit gemacht hätten. Diese Argumentation führte zwangsläufig zum Verzicht auf moralisierende Schuldzuweisungen. Die Erregung über die „Kriegsschuldlüge“ des Versailler Vertrages muss immer als Motivation für die so problematische Kriegstheologie von Paul Althaus mit bedacht werden. Hinzukommt die „historische Erfahrung“ des im intakten Kaiserreich aufgewachsenen 55 Vgl. oben S. 103 f.
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jungen Theologen und Geschichtsstudenten, die die historische Notwendigkeit der Bismarckschen Einigungskriege bei der Herausbildung des deutschen Nationalstaates als des Ziels der deutschen Geschichte „gelehrt“ hatte. Die Grundgedanken der Schrift über den Religiösen Sozialismus – insbesondere das Votum gegen den Internationalismus – nahm Althaus in „Staatsgedanke und Reich Gottes“ zwei Jahre später wieder auf. Jetzt positionierte er sich eindeutig im „antiwestlichen“ Lager, wobei damals unter „westlich“: demokratisch, liberal und sozialistisch, international und rationalistisch begriffen wurde. Diese Position entsprach auch dem Anliegen der Gesellschaft ,Deutscher Staat‘ e.V., in deren „Schriften zur politischen Bildung“ die Arbeit von Althaus erschien. Die Gesellschaft strebte an, „durch gemeinsame Arbeit von Fachleuten der Wissenschaft und des praktischen Lebens eine deutsche Staatslehre als Gemeingut schaffen zu helfen, um so dem deutschen Volke wieder ein lebendiges, deutsches Staatsbewußtsein zu geben“56, das sich – die deutsche Geschichte deutend – als antiwestlich und antidemokratisch definierte. Für Althaus ging es in dieser Schrift um den „geschichtsphilosophischen Ort des Reiches Gottes, d. h. um sein Verhältnis zur Geschichte …, zu Recht und Staat“(S. 10). Damit stellte sich die Frage: Wie verhält sich die Gottgebundenheit [des Menschen, des Christen] zu unserer Gebundenheit an Volk und Staat … Kann die Herrschaft Gottes … mitten im nationalen Wollen und Handeln, mitten in der Staatsgesinnung und im Staatsdienst gegenwärtig, wirksam sein? (S. 11) Stehen Recht und Zwang des Staates und das politische Wollen einer Nation zu geschichtlichem Leben im Konflikt zur Freiheit und Liebe des Reiches Gottes? Über Luther hinausgehend, der die Notwendigkeit von staatlicher Rechtsordnung und Zwangsgewalt ausschließlich auf die Macht des Bösen in der Menschheit zurückführt, sieht Althaus in Recht, in staatlichen Befehlsverhältnissen und in dem geschichtlichen Wirken einer Nation „die Würde einer Gabe Gottes“, weil man in ihnen „die Voraussetzungen für eine Geschichte, in der sein Reich freier Persönlichkeiten wirklich werden kann“ erkennen müsse. Es gehe darum, dass Staat und Recht in einer teleologischen Beziehung auf das Reich Gottes gesehen werden müssten, weil die Notwendigkeit des Staates „in den Grundbedingungen alles höheren geschichtlichen Lebens begründet“ sei. (S. 16 f.) Diese Würde komme dabei nicht der jeweils konkreten Staats- und Rechtsordnung zu, die „immer wieder zu reformieren, ja vielleicht nicht selten einmal zu revolutionieren“ sei, aber „das Prinzip der Rechtsordnung überhaupt hat die übermenschliche Würde des Unbedingten“, von dem ein geltender Rechtsinhalt „seine relative Unantastbarkeit“ (S. 18) nehme. In einer Anmerkung kritisiert Althaus hier die „große Verworrenheit“ in den Äuße56 So im Vorblatt zu dem Titelblatt von Paul Althaus, Staatsgedanke und Reich Gottes, 1923, das als Heft 4 der Reihe erschienen war. Zur Gesellschaft Deutscher Staat vgl. im übrigen Sontheimer, 1968, S. 118, Anm. 13, S. 219 und 356.
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rungen von Karl Barth zur Rechtsordnung in dessen Römerbriefkommentar : Barth unterscheide nicht zwischen dem Rechtsprinzip und dem bestehenden positiven Recht, das immer kritisiert werden könne, stattdessen verzerre er die notwendige konkrete Kritik übertreibend zu der „Erkenntnis, dass das Bestehende als solches das Böse ist“. Die teleologische Beziehung von Staat und Recht auf das Reich Gottes wird für Althaus durch eine umgekehrte Beziehung kompensiert: „Trotz aller nie zu überwindenden wesentlichen Verschiedenheiten der Gebiete können und sollen aus der Welt des Reiches Gottes starke und stetige Einwirkungen auf die Rechtsordnung ausgehen. Die Welt des Rechtes bedarf des Reiches Gottes … Die sittlichen Gedanken … bringen immer wieder zum Bewusstsein, dass das Recht …, dass die Ordnungen das höhere Leben fördern, nicht hindern sollen. Sodann bedarf die Rechtsordnung sittlicher Gesinnung bei den Gehorchenden, aber auch bei den Befehlenden. Ohne sie zerbricht ein Staat.“ (S. 18)
Für Althaus lösen sich damit die Gegensätze zwischen Staat und Politik auf der einen Seite und brüderlicher Gemeinschaft im Reich Gottes auf der anderen Seite. Das Reich Gottes nämlich sei da, „wo man Gott gehorcht in selbstloser Hingabe“. Wird aber „die Rechtsordnung, die Grundbedingung der Geschichte, in der sein Reich werden will, als sein Wille erkannt, dann gehorchen wir ihm in der Pflege der Rechtsordnung, durch das Befehlen und durch die Unterordnung. So ist im Gehorsam gegen Gott die Einheit der seelischen Haltung da“. (S. 19)
Während Dietrich Bonhoeffer die Grundfrage aller christlichen Ethik, wie weit im Alltag das Gebot der christlichen Nächsten- und Feindesliebe reiche, dadurch zu lösen versucht, dass jeder Christ bei seinem Handeln zu differenzieren habe, ob er nur „für sich“ oder „für andere“ zu entscheiden und handeln habe, versucht Althaus – in einer ständischen Berufsordnung denkend – die Antwort mit der These: „Nicht die Liebe sondern der Dienst Gottes“ sei der allumfassende Gedanke der Ethik. Im Dienst, im Berufsgedanken, im selbstlosen Erfüllen der Berufspflichten – bis hin zu den Soldatenpflichten – werde der gängige Dualismus zwischen Liebesgebot und den Anforderungen des Lebens überwunden. Der Beruf stehe über den Menschen (S. 36), in ihm lasse sich auch Reich Gottes und das politische Wollen des Staates zusammen denken. Auch die Völker hätten nämlich einen Beruf, der in Gerechtigkeit nur von den Staatsmännern im „wagenden Deuten der Geschichte … in immer neuer schöpferischer Entscheidung“ erahnt werden könne. Kein Mehrheitsbeschluss vermöge hier das lösende Wort zu sprechen. (S. 44) Bismarck ist wieder das große Vorbild für Althaus. Es folgen dann seine bekannten Gedanken zum Krieg, der sich bei der Realisierung des „Berufes“ des Volkes als unvermeidlich ergeben könne, der aber ritterlich zu führen sei, weil auch der Gegner sein Recht habe. Wieder wird das Trauma von Versailles spürbar, wenn er fortfährt (S. 45): 128
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„Nicht der Gegensatz der Willen als solcher ist für das sittliche Bewusstsein entsetzlich … aber die Vergiftung des Gegensatzes durch das Aufwerfen der Schuldfrage da, wo sie nicht aufgeworfen werden darf (sie kann nur von jedem Volke für sich selber, und zwar angesichts seines Berufes aufgeworfen und beantwortet werden!). Die Beschmutzung eines Verhältnisses, das ritterlich durchlebt werden kann, durch den Haßgeist, durch Lüge und Entehrung des anderen. An dieser Stelle führt gerade das sittliche Verständnis des politischen Wollens als Berufserfüllung, wenn wir es auch auf das andere Volk anwenden, zu einer – ich wage den missverständlichen Ausdruck – ,Entmoralisierung‘ der Völkergegensätze und damit zu einer befreienden Entgiftung.“
Natürlich gibt Althaus zu, dass auch ernste und gewissenhafte Politiker irren können, zumal „die Herrschaft Gottes auch die nahe Grenze aller politischen Erkenntnisse, Pläne und Taten“ bedeute, und ferner gelte: „nur Gott kennt den Beruf eines Volkes“. (S. 50) Die Verborgenheit Gottes, die Althaus durch das Weltkriegserleben gelernt hatte, wird hier wieder betont. Gleichwohl hindert ihn diese Erkenntnis nicht daran, weiterhin von einem Beruf der Völker zu reden, den er als gottgewollt unterstellt und der nicht immer in der Völkerwelt konfliktfrei zu realisieren sei. Auf diese problematischen, weil geradezu geschichtstheologischen Positionen wird weiter unten noch einmal genauer einzugehen sein, zumal Althaus sie Ende der 20-er Jahre noch grundsätzlicher ausformuliert. Beachtlich ist aber schon hier, dass Althaus 1923 seine Schrift mit der Ausführung abschließt, die Herrschaft Gottes bedeute auch „die Grenze der politischen Werte und Ziele selbst. Der Gedanke an das Reich Gottes erinnert uns an den nur relativen und begrenzten Wert der höchsten vaterländischen Güter … Die Gewissheit von Gottes Reich schenkt mitten im vaterländischen Dienst die innere Freiheit von allen nationalen Fragen und Zielen. Sie sind nicht das Letzte.“ In aller Treue zum Vaterland bleibe der Christ innerlich frei und selbständig in der „hohen Gewissheit, das Reich, das Reich Gottes muss uns doch bleiben.“ (S. 52) Mit diesem Schlusszitat aus Luthers Reformationschoral „Ein feste Burg“ beweist sich Althaus wieder einmal als intimer Kenner der GesangbuchSchätze, aber die Passage über die nicht letzten Güter lässt die wichtige Unterscheidung von Dietrich Bonhoeffer über die letzten und die vorletzten Dinge erahnen, auch wenn Althaus in seiner hier artikulierten Staats- und Gesellschaftsauffassung weit davon entfernt ist, wie Bonhoeffer von der Weltlichkeit der Institutionen und gesellschaftlichen Ordnung zu reden, sondern im Grund den deutschen Staat und den deutschen Politiker sich nur als christlichen Politiker und Staat vorstellen kann, zumal er das deutsche Volk als christliches Volk definiert, das einen spezifischen Beruf habe. Wieder stellen sich ganz grundsätzliche Fragen, insbesondere zu dem aufgeladenen Berufsbegriff, den Althaus zwar christlich definiert, aber dennoch auf das Volk als Teil der vermeintlichen Schöpfungsordnung anwendet. Diese Fragen sind 129
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später wieder aufzugreifen. Sie waren hier nur in ihrem biographischen Erlebensfeld zu verankern. Zunächst ist jedoch auf die weitere Karriere von Paul Althaus in der zweiten Hälfte der 20-er Jahre einzugehen.
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4. Die zweite Hälfte der 20-er Jahre. Karriere und Profil des jungen Professors Kann man die Rostocker Jahre von Paul Althaus als erfolgreiche Startzeit in sein akademisches – immer auch als kirchlich begriffenes – Amt bezeichnen, so macht die zweite Hälfte der 20-er Jahre deutlich, welch bemerkenswertes Ansehen er inzwischen erworben hatte. Es wird erkennbar, wie er in der Welt der theologischen Fakultäten verortet wurde und wie man ihn in der Kirche wahrnahm. Zugleich lassen seine beruflichen Entscheidungen erkennen, wie er selbst seine Rolle in der vielfach in Bewegung geratenen Welt der akademischen Theologie, aber auch in der Kirche bestimmte. Die akademischen Rufe, die Althaus erhielt, annahm oder ablehnte, sowie die Berufungsverfahren, in denen er im Gespräch war, erlauben uns heute abzulesen, wie angesehen Althaus war, welchen theologischen „Fraktionen“ er zugerechnet wurde und wo er seinen Platz sah und wie er seine Aufgaben definierte. Kirchliche Anfragen und Anforderungen geben darüber hinaus Auskunft über sein Renommee im kirchlichen Raum und lassen sein Selbstverständnis als Mann der Kirche in diesen Jahren deutlich werden.
4.1 Erlangen 1925 – Konfliktreicher Start in ein erfüllendes Arbeitsfeld Die Rostocker Jahre waren für Paul Althaus außerordentlich erfolgreich. Sein großes Echo bei den Studenten hatte sich herumgesprochen und etliche Studenten auch aus Süddeutschland nach Rostock gelockt. Durch seine umfangreiche Vortragstätigkeit bei Pfarrkonferenzen und allgemein-kirchlichen Veranstaltungen hatte er sich gerade in kirchlichen Kreisen Profil erworben und mit seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen in der Fachwelt einen guten Namen gemacht. Die Rostocker Fakultät war seinerzeit allerdings eine der kleinen Ausbildungsstätten für den Pfarrernachwuchs, weil die lutherische Landeskirche von Mecklenburg eine der kleinsten selbständigen Landeskirchen in Deutschland war. Vielfach galt Rostock darum als Anfangs- und Startposition für die Karriere lutherischer Theologen. Das sollte sie auch für Althaus sein.1
1 In der Erlanger Fakultät waren neben Paul Althaus auch Philipp Bachmann, Hermann Strath-
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Bereits im Oktober 1924 konnte Althaus seinen Eltern berichten, dass das beginnende Wintersemester möglicherweise sein letztes Rostocker Semester sein würde. Aus kurzen Bemerkungen in weiteren Briefen und Karten aus den folgenden Monaten können wir entnehmen, dass Althaus wusste, dass er sowohl in Gießen als auch in Erlangen im Gespräch war und dass es außerdem Überlegungen in der Württembergischen Landeskirche gab, in Tübingen eine zusätzliche kirchliche Professur einzurichten, wobei man an ihn als Kandidaten dachte. Bewerben konnte man sich damals nicht. Lehrstühle wurden nicht öffentlich ausgeschrieben. Man musste sich theologisch profiliert haben und durch prominente Fachvertreter oder interessierte Fachkollegen ins Gespräch gebracht werden, wobei die theologische Ausrichtung, manchmal auch die Frontbildung innerhalb der jeweiligen Fakultät, die einen Lehrstuhl zu besetzen hatte, eine beachtliche Rolle spielte. Althaus galt als kirchlich orientierter lutherischer Theologe, Vertreter der Luther-Renaissance und in Distanz sowohl zur liberalen Theologie als auch zu der sich allmählich etablierenden dialektischen Theologie von Karl Barth. In Erlangen, einer dezidiert lutherischen Fakultät, versuchte ihn der amtierende Dekan, der Neutestamentler Strathmann, als Nachfolger für den aus Gesundheitsgründen pensionierten Ordinarius für Dogmatik Grützmacher ins Gespräch zu bringen. Strathmann selbst war vor seiner Berufung nach Erlangen 1916/17 Ordinarius in Rostock gewesen und pflegte gute Kontakte zu seinem dortigen Nachfolger, dem mit Althaus befreundeten Neutestamentler Büchsel. Allerdings stieß die Berufung von Paul Althaus in der Fakultät auf erbitterten Widerstand. Die Mehrheit der Fakultätsmitglieder votierte für den seit einem Jahr als Extraordinarius für Kirchengeschichte in Erlangen amtierenden strengen Lutheraner Werner Elert. In einem sehr deutlichen Brief an den Dekan Strathmann vom 17. 10. 1924 hatte Elert seinen Wunsch, von der Kirchengeschichte zur Systematischen Theologie zu wechseln, intensiv begründet und drohend hinzugefügt, dass „falls Althaus berufen würde“, für ihn „ein dauerndes Bleiben in Erlangen … nicht in Frage käme,“ zumal er ein Arbeiten in der Systematischen Theologie „für wirkungsvoller und folglich für meinen eigentlichen Lebensinhalt ansehen zu müssen“ glaubte. Elert verwies darauf, dass es in Erlangen zahlreiche Beispiele für einen Fachwechsel von historischer zu systematischer Theologie gegeben habe und ihm beim Dienstantritt ein solcher als nicht ausgeschlossen dargestellt worden sei. Er wolle nichts gegen die wissenschaftliche Qualität von Althaus sagen. „Was er in seinen Veröffentlichungen bisher geleistet hat, geht nach meinem Dafürhalten freilich kaum wesentlich über das hinaus, was wir etwa von Vollrath besitzen.“2 mann und Friedrich Baumgärtel vor ihrer Berufung nach Erlangen Ordinarien in Rostock gewesen. 2 Der Brief von Elert fand sich im Nachlass Strathmann, Kopie jetzt in NLA, Sondermappe Strathmann.
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Dieser Vergleich mit Vollrath war eine schon als bösartig zu bezeichnende Abwertung von Althaus. Wilhelm Vollrath war damals habilitierter Privatdozent und verdiente sein Geld als Repetent. Er trat kaum als wissenschaftlicher Autor hervor und machte auch nie wirklich Karriere, während Althaus – ein Jahr jünger als Vollrath – schon 1922 mit seiner Eschatologie ein weithin viel beachtetes Werk vorgelegt hatte. Elert, so darf man zusammenfassen, kämpfte mit allen Mitteln. Zudem konnte er auf breite Unterstützung aus der Fakultät rechnen, zumal es eine gewisse Tradition gab, die Extraordinarien der Kirchengeschichte per Hausberufung auf frei gewordene Lehrstühle zumindest in diesem Fach zu berufen.3 Um seiner Drohung mit dem Weggang aus Erlangen Nachdruck zu verleihen, erkundigte sich Elert sogar noch im November 1924, bevor irgendeine Fakultätsentscheidung gefallen war, – wider alle akademischen Usancen – bei Althaus in Rostock, ob er „wohl Aussicht hätte“, sein Nachfolger in Rostock zu werden, falls Althaus den Ruf nach Erlangen erhalte. Althaus war über diese Anfrage sehr verwundert. Er teilte sie darum seinem Freund, dem Erlanger Philosophen Brunstäd, mit, der seinerseits mit Strathmann enge Kontakte hatte; beide sollten „doch wissen, was für Briefe zwischen Erlangen und Rostock laufen“.4 Die entscheidende Fakultätssitzung fand erst im Dezember 1924 statt. Der politisch versierte Dekan Strathmann – er war als Reichstagsabgeordneter der DNVP aktiv – erreichte immerhin einen offenen Kompromiss. Weil der frisch berufene Praktische Theologe Ulmer noch keinen Dr. theol. besaß und seine Antrittsvorlesung noch nicht gehalten hatte, durfte dieser nach alten Fakultätsstatuten, wie Strathmann aufmerksam recherchiert hatte, an der Abstimmung nicht teilnehmen. Da Elert selbst zur Diskussion stand, musste auch er der entscheidenden Sitzung fernbleiben. So reduzierte sich die Zahl der stimmberechtigten Fakultätsmitglieder auf fünf Professoren, von denen plädierten drei für die Berufung von Elert, zwei für Althaus.5 Angesichts dieser knappen Mehrheitsverhältnisse gelang es Strathmann durchzusetzen, beide Vorschläge als Alternative dem Senat und dann dem Ministerium vorzulegen mit dem Zusatzantrag, im Falle einer Berufung von Althaus für Elert ein Ordinariengehalt bereitzustellen. Strathmann hoffte, so einen Weggang von Elert verhindern zu können. Er betonte stattdessen die große Schwierigkeit, im Falle der Berufung von Elert dessen Extraordinariat in der Kirchengeschichte adäquat neu zu besetzen. 3 So war es 1913 mit Hermann Jordan und 1919 mit Friedrich Preuss geschehen. 4 Brief vom 18. 11. 1924 NLA Sondermappe Strathmann. 5 Für Elert votierten: der hochbetagte Emeritus Zahn, der Systematiker Bachmann und der Kirchenhistoriker Preuss, für Althaus: Strathmann und der Alttestamentler Lotz. Die Schilderung der Details der Berufung stützt sich auf einschlägige Briefe und Entwürfe in der Sondermappe Strathmann im NLA, auf die Personalakte Althaus im Archiv der Universität Erlangen-Nürnberg und die Protokolle der Fakultätssitzungen der Theologischen Fakultät aus den Jahren 1924 und 1925 im Archiv der Theologischen Fakultät.
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Im Senat setzte sich Strathmann durch. Eine deutliche Mehrheit plädierte für die Berufung von Althaus. Daraufhin legten Zahn, Bachmann und Preuß ein Sondervotum für Elert vor. Sie wiesen dabei darauf hin, dass auch Ulmer und der zukünftige Lehrstuhlinhaber für Altes Testament Procksch für Elert seien, wie auch der vorzeitig pensionierte Lehrstuhlinhaber Grützmacher, der kein Stimmrecht mehr hatte, sich selbstverständlich für Elert ausgesprochen habe. Faktisch stand damit die große Mehrheit der Fakultät (sechs gegen zwei) hinter dem Vorschlag Elert. Bachmann kritisierte später, dass in dem Rufschreiben an Althaus dieser nicht offiziell darüber informiert worden sei, dass er gegen den Willen der Fakultätsmehrheit den Ruf erhalte. Außerdem äußerte er den Verdacht, dass ein Gegenvotum zu dem Sondervotum dem Ministerium auf direktem Wege vorgelegt worden sei, ohne dass die Fakultät dazu hätte Stellung nehmen können. Es spricht alles dafür, dass Strathmann – er war ein politischer Mensch – nichts unversucht gelassen hatte, um im Senat und dann in München seinem Vorschlag zum Erfolg zu verhelfen. Bereits am 4. Februar informierte ihn sein früherer Student Theodor Heckel, der jetzt in München-Solln Pfarrer war und offensichtlich gute Kontakte in das Landeskirchenamt hatte, dass die Kirchenleitung ihr Votum aufgrund eines Berichtes des Referenten Hofstätter „einstimmig für Paul Althaus abgegeben“ habe. Außerdem unterstütze die Landeskirche die Bitte um finanzielle Besserstellung von Elert, da man Althaus haben und Elert halten wolle. Heckel notierte noch: „Es wurde mir bestätigt, dass man doch etwas schwankend geworden war. Der Flankenstoß tat also gut“, was wohl als Hinweis auf Strathmanns Aktivitäten gedeutet werden muss.6 Ein Indikator dafür ist ferner ein Brief des Münchener Kreisdekans und Oberkirchenrates Baum, der Ehrendoktor der Erlanger Fakultät war. Er schickte am 27. Februar 1925 die Unterlagen von Althaus und Elert mit Dank an Strathmann zurück und kommentierte: „Nun ist inzwischen die Entscheidung gefallen, wie ich denke zu Ihrer Befriedigung und zum Segen für die Arbeit der Fakultät. Wer viel mit jungen Kandidaten umzugehen hat, wie wir Kreisdekane, weiß, welchen Gewinn es für Erlangen bedeuten wird, eine Persönlichkeit, die auf die theologische Jugend so stark einwirkt wie Professor D. Althaus für den Lehrstuhl der Dogmatik zu erhalten. Ich hoffe, dass Professor Elert in geeigneter Weise zum Bleiben veranlasst werden kann.“
Offensichtlich hatte Strathmann mit seinem Eintreten für Althaus bei der Kirchenleitung Erfolg gehabt, was in der Fakultät erheblichen Ärger hervorrief. „Preuß erklärte vorgestern …, er werde Hofstätter darüber zur Rede stellen, dass der Landeskirchenrat sich durch sein Gutachten in Gegensatz zur Mehrheit der Fakultät gesetzt habe.“ (Brief Lotz an Strathmann vom 9.3.25). Paul Althaus spielte mit offenen Karten. Am 3. 2. 1925 schrieb er an Strathmann: „Seit ich weiß, wie Sie um die Liste gekämpft haben, fühle ich 6 Dieser Brief wie auch die folgenden Briefe an Strathmann in NLA Sondermappe Strathmann.
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mich, falls wirklich ein Ruf an mich ergeht, einigermaßen stark verpflichtet. – Freilich – die Lösung von Rostock, aus unserer Fakultät, von meiner Kanzel, das alles wird mir noch sehr schwer fallen.“ Zugleich informierte er Strathmann, dass er „auch mit Gießenern korrespondiere“ und dass die Württembergische Landeskirche erwäge, in Tübingen eine kirchliche Professur zu errichten und dazu das Gespräch mit ihm suche. Nicht einmal zwei Wochen später teilte er Strathmann dann mit: „Heute kam der Ruf aus München.“ (16. 2. 1925) In den folgenden Wochen verhandelte Althaus in Erlangen und München, er bekam durch Strathmanns Vermittlung ein günstiges Mietangebot in der Hindenburgstraße 412, er klärte den Umfang und die mögliche Fixierung seiner Lehrverpflichtung, wobei es ihm darauf ankam, nicht auf Dogmengeschichte und Apologetik im engeren Sinne festgelegt zu werden, sondern auch allgemein systematisch-theologische Vorlesungen halten zu können. Seinen großen Wunsch, Universitätsprediger zu werden, stellte er zurück, da sein engster Fachkollege Bachmann, der gegen ihn votiert hatte, dieses Amt seit Jahren innehatte. Erst sechs Jahre später, nach dessen Tod wurde Althaus zusammen mit Ulmer zum Universitätsprediger ernannt. Schon Ende April erhielt Althaus das verbindliche Angebot. Am 1. Mai sagte er zu. Seiner Mutter schrieb er : „Am Freitag habe ich den Erlanger Ruf endgültig angenommen. Nun ist das Herz mir schwer : die volle Kirche, die vollen Hörsäle, die See – ich weiß manchmal gar nicht, warum ich hier weggehe. Und doch bliebe ich ja nicht mehr lange hier – und dann ist Erlangen immer noch das Beste.“ (3. Mai 1925) Am 11. Mai kam das Bestellungsschreiben aus München mit der Ernennung zum 1. 8. 1925. Wunschgemäß konnte er so noch das Sommersemester in Rostock verbringen und dann im August/September mit der Familie nach Erlangen umziehen. Der Start in Erlangen wurde jedoch plötzlich kompliziert. Schon im Juni hatte Althaus gehört, dass er in Leipzig als Nachfolger seines jüngst verstorbenen Vaters im Gespräch sei. Seiner Mutter gegenüber äußerte er Skepsis. „Von Leipzig höre ich nichts, wenn doch der Ruf gar nicht käme.“ (25. 6. 1925) „Der Gedanke, dass der Leipziger Ruf noch kommen könnte, ist mir unlieb. Ich fühle, dass ich in großstädtische Verhältnisse nicht passe.“ (11. 7. 1925) Erst am 3. Oktober kam dann der Ruf, nachdem die Familie schon nach Erlangen umgezogen war. Der Erlanger Rektor wollte – wie üblich – auch im Namen der Fakultät Bleibeverhandlungen in München erbitten, doch die Fakultät zierte sich (Beschluss vom 23. 10. 1925). Da Althaus gegen den Wunsch der Mehrheit der Fakultät berufen sei, könne man nicht erwarten, „dass diese jetzt in einer Weise Stellung nimmt, die ihre ursprüngliche Auffassung preisgäbe … Andererseits möchte die Fakultät alles vermeiden, was ein freundschaftliches Zusammenarbeiten mit dem neu berufenen Kollegen erschweren könnte“. Der Rektor legte daraufhin die Angelegenheit dem Senat vor, der in seiner Sitzung vom 3. 11. 1925 mit 33 gegen 2 Stimmen bei 3 Enthaltungen beschloss, das Ministerium zu bitten, „alles zu tun, um diese hervorragende Kraft der Uni135
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versität Erlangen zu erhalten“, zusätzlich aber festlegte, dem Ministerium auch den Fakultätsbeschluss sowie das Abstimmungsergebnis des Senates mitzuteilen. Die Senatsmehrheit hatte Erfolg. München machte Althaus ein positives Bleibeangebot, so dass dieser bereits am 14. November den Ruf nach Leipzig ablehnte, zumal auch freundschaftlich-kompetente Ratschläge gegen Leipzig sprachen. Sein Freund Emanuel Hirsch schrieb ihm am 25. 10. 1925: „Holl lässt Dir sagen, wenn Du Leipzig annähmest, würdest Du als saturiert gelten und Dir Berlin wahrscheinlich verbauen“. Hirsch selbst plädierte dafür, Althaus solle in Erlangen bleiben, weil er dort „Raum und Kraft zu einem großen Wurf“ finden könne, „gehst Du nach Leipzig, so hast Du das Schicksal Ihmels und Deines Vaters, d. h. Du kommst nicht zur großen Leistung. Du dienst dann ganz der Gegenwart“. (NLA K11a) Seine Mutter bat Althaus ausdrücklich um Verständnis, zumal ihm die Entscheidung nicht leicht geworden sei – gerade in dem Gedanken an den Vater. Drei Gründe seien es schließlich gewesen, „die mich je länger desto klarer bestimmten, hier zu bleiben: 1.) die gegen Bayern eingegangene Pflicht, die doch nicht nur eine formelle, sondern eine sehr ernste sachliche ist: ich merke deutlich, wie weite Kreise hier im Lande neues Leben in der Fakultät erhoffen und nach vielen Enttäuschungen auf mich rechnen (übrigens hat sich die Theologenzahl hier sofort von 120 auf 170 gehoben. Rostock hat jetzt 35!!). 2.) das deutliche Gefühl, dass ich hier für den theologischen Dienst, den ich leisten muss, einiger Jahre relativer Stille und Sammlung bedarf. Die kann ich hier eher haben als in Leipzig, dem Centrum des Luthertums. 3.) die Rücksicht auf meine Familie. Nun ist der Würfel also gefallen. Es wird Dich sehr bewegen. Der Gedanke, Euch ganz nahe zu wohnen, wäre ja auch zu köstlich gewesen. Aber du weißt, Du musst Dich, da jenes nun nicht sein kann, recht bald entschließen, meine liebe Mutter, für einige Zeit hier her zu kommen.“ (15. 11. 1925)
Eine Woche später dankte er seiner Mutter für ihr großes Verständnis für seine Absage und kommentierte: „Wenn ich denke, mit welcher Liebe der liebste Vater sein Seminar in Leipzig pflegte, wie er mich noch die Bücheranschaffungen machen ließ, wenn ich seines Theolog. Vereins gedenke, dann geht es mir wie ein Schmerz durch, dass ich abgesagt habe. Aber ich weiß, dass ich den rechten Weg ging, und will nun nicht rechts und links und rückwärts schauen.“ (24. 11. 1925)
Der Leipziger Ruf bestätigt noch einmal, welches Ansehen der junge Theologe Althaus gerade in kirchlichen Kreisen des Luthertums genoss. Immerhin galt Leipzig als Hochburg und „Centrum“ des Luthertums und war im 19. und frühen 20 Jahrhundert – gemessen an den Studentenzahlen – die drittgrößte 136
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aller deutschen Evangelisch-Theologischen Fakultäten. Vor Leipzig rangierten nur die unierten Fakultäten in Berlin und Halle. Es folgte dann Tübingen auf dem vierten Platz, das allerdings als nicht rein lutherisch geprägt galt.7 Das streng lutherische Erlangen belegte in dieser Reihung immerhin den fünften Platz, obwohl die kleine mittelfränkische Universität bei den Gesamtzahlen aller Studenten nur den 16. Platz unter den 20 klassischen Universitäten einnahm. Die Ablehnung des sehr ehrenvollen Rufes nach Leipzig lässt erspüren, wie sehr sich Althaus gegenüber Strathmann in Pflicht genommen fühlte und auf eine Chance zur Konzentration hoffte, sie macht zugleich auch seine Zurückhaltung gegenüber den „großstädtischen Verhältnissen“ deutlich. Hier fühlt man sich erinnert an seine Vorliebe zu den deutschen bäuerlichen Siedlungen in Polen und seine kritischen Bemerkungen über die Einwohnerschaft der Großstadt Lodz.8 Die überschaubare Universitätsstadt Erlangen wurde ab 1925 zum Lebensmittelpunkt der Familie Althaus. Strathmanns Strategie, neben Elert einen zweiten zugkräftigen jungen Kollegen nach Erlangen zu holen und nicht die Hausberufung zu favorisieren, hatte nicht nur die Unterstützung der Senatsmehrheit und der Kirchenleitung gefunden, sondern erwies sich in der Rückschau als richtig: Mit dem Gespann Althaus-Elert begann die zweite Blütephase der Erlanger Theologie, deren erste in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den Namen Hofmann und Frank verbunden war. Elerts Drohung, Erlangen zu verlassen, wurde nicht realisiert, obwohl er 1927 einen Ruf nach Münster erhielt. Dessen Ablehnung brachte ihm jetzt die Besoldung eines Ordinarius und sicherte ihm eine bedeutsame Rolle im aufblühenden Fakultätsleben. Nach dem Tod von Bachmann 1931 wurde dann der Weg auf das ersehnte Ordinariat für Systematische Theologie frei. Althaus wechselte 1932 auf den Lehrstuhl Bachmann mit der Bezeichnung Systematische Theologie und Neutestamentliche Exegese, was seine theologischen Arbeitsschwerpunkte sehr gut traf, Elert wurde im Wege der Hausberufung auf das bisherige Ordinariat von Althaus für Dogmatik, Apologie und Dogmengeschichte berufen. Was er für 1925 erhofft hatte, wurde nun – sieben Jahre später – Wirklichkeit. Gleichwohl hat Elert offensichtlich die Nichtberücksichtigung 1924/25 dem Promotor von Paul Althaus und damaligen Dekan Strathmann nie verziehen. Ein sehr persönlicher Brief von Strathmann an Althaus nach dem Tod von Elert gibt davon Zeugnis. Auch Althaus musste Elerts Ablehnung immer wieder zur Kenntnis nehmen, sei es, dass seine Schüler von Elert schikaniert wurden, sei es, dass Elert den Studenten seine Distanz zu Althaus demonstrierte.9 Althaus selbst war zu korrekt und selbstkontrolliert, um seine Ge7 Vgl. zu den Studierendenzahlen generell und in den Theologischen Fakultäten Hartmut Titze (1995), S. 32. 8 Siehe oben S. 93 f. 9 Brief Strathmann an Althaus vom 25. 2. 1955 (NLA Sondermappe Strathmann). Unter Studenten
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fühle oder Aversionen gegen Elert zu offenbaren. Er anerkannte ausdrücklich dessen Stärken. Schon nach einem guten halben Jahr gemeinsamen Wirkens in der Erlanger Fakultät äußerte sich Althaus auf eine Anfrage von Erich Seeberg für dessen kirchengeschichtliche Nachfolge in Breslau sehr lobend über seinen Kollegen Elert, ohne – mit der Bitte um Vertraulichkeit – dessen Schwächen und die Spannungen zwischen ihnen zu verschweigen: Auf Ihre Anfrage zu antworten, ist für mich nicht ganz leicht, da Elert und ich uns, infolge der näheren Umstände meiner Berufung nach Erlangen, noch ein wenig befangen gegenüberstehen. Immerhin mag gerade angesichts dessen das Günstige, das ich sagen darf, besonderes Gewicht erhalten. Im Ganzen ist der Umgang mit E. durchaus erfreulich. Er ist offen, bestimmt, männlich und von feiner Art in seinem ganzen Auftreten. Ein durchzufühlendes gesundes Selbst– und Kraftbewußtsein scheint mir nicht unsachlich. Andererseits ist es bei den mehrfachen Berufungsaffairen der letzten Jahre, die ihn betrafen, nicht ganz ohne Ungeschicklichkeiten, vielleicht gelegentlich an Taktlosigkeit grenzend, abgegangen. Aber ich urteile über diese Dinge jetzt, nachdem ich ihn kenne, milder als vor einem Jahre. Er fühlt sich, wie er mir selber einmal aussprach, durch sein „Breslauertum“ im Urteil der Zeitgenossen etwas belastet, verkannt, bemißtraut10. Die Spannung zwischen seinem starken Bewusstsein, mehr als viele andere zu können, und den vielen Enttäuschungen, die er seit 1918 in Berufungsfragen und sonst erlebt hat, drückt sich in seinem Auftreten selbstverständlich aus. Aber dem ist Gewicht nicht beizulegen … In unserer Fakultät ist E. ein stets lebendiger, frischer, anregender, umgänglicher Kollege, der eine ausgezeichnete Position hat … Als Dozent hat er zweifellos großen Erfolg … Die Studenten empfinden jedenfalls, dass er auch als Theologe männlich ist, etwas Eigenes und Klares zu sagen hat, das man ablehnen kann, mit dem zu ringen aber lohnt. Die Begeisterung für „Luthertum“, die er weckt, ist kein Sektengeist (so gewiß Sie und ich die Dinge etwas anders auffassen). Die ganze Sache hat nur einen Haken: Elert fühlt sich auch heute noch ganz als Systematiker … Ich hätte es begrüßt, wenn die Leipziger nach meiner Absage ihn geholt hätten; sie wären gut dabei gefahren … Bei seiner starken Arbeitskraft, seiner eindringenden Klugheit, seiner Aufgeschlossenheit für die neuen Bewegungen in der erzählte man sich den Witz, Elert sei mit dem Buch über Gebetsliteratur von Paul Althaus, dem Vater, in den Vorlesungsraum gekommen und habe den Studenten gesagt: „Meine Herren, es gibt zwei Theologie-Professoren mit dem Namen Paul Althaus“, um dann hinzuzufügen: „Paul Althaus der Ältere war ein wahrer Lehrer der Kirche.“ – Aus den späten 40-er und frühen 50-er Jahren stammt der Studenten–Spruch: „Man kommt wegen Althaus, man bleibt wegen Elert und man geht wegen Stauffer.“ (Bericht meines Bruders Gerhard Jasper, der 1948/49 in Erlangen Theologie studierte). 10 Elert amtierte seit 1919 bis zu seinem Ruf nach Erlangen als Direktor des altlutherischen theologischen Seminars in Breslau, er war in Berufungsverfahren auch andernorts zwar im Gespräch gewesen, hatte jedoch keinen Ruf erhalten.
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Theologie und Philosophie wird E. noch eine Zukunft haben. Wo immer er lehrt, wird er eine Zugkraft bedeuten. Ich würde es, trotz des im vorigen Absatze Ausgeführten, sehr bedauern, wenn wir in Erlangen ihn verlören.“ In einem Nachwort fügte Althaus hinzu: dass dem Kollegen Elert „sein scharfer Witz gelegentlich zur Versuchung wird.“11
Dieser vertrauliche Brief ist hier so ausführlich zitiert worden, weil er nicht nur ein außerordentlich facettenreiches Bild von Elert zeichnet, das andere Quellen vielfach bestätigen12, sondern weil hier zugleich erkennbar wird, mit welcher Souveränität und Einfühlungsgabe, Beobachtungsfähigkeit und vornehmen persönlichen Zurückgenommenheit Althaus sich in der Fakultät bewegte, wie er trotz registrierter persönlicher Spannungen und fachlicher Differenzen die wissenschaftliche Potenz seines Kollegen Elert anerkannte, dessen Wunsch, in die Systematische Theologie zu wechseln, akzeptierte und das gemeinsame Miteinander und Gegeneinander für die Fakultät fruchtbar zu machen verstand. Althaus war, auch das wird hier spürbar, eher auf Ausgleich als auf Konfrontation ausgerichtet, obwohl er sich für seine Schüler auch gegen Elert energisch einsetzen konnte.13 Ungeachtet der gewiss nicht spannungsfreien persönlichen Beziehungen zwischen Elert und Althaus bleibt unbestreitbar, dass diese beiden gelehrten akademischen Lehrer das Profil der Erlanger Theologischen Fakultät von den 20-er Jahren bis Mitte der 50-er Jahre prägten, ihr Ansehen verliehen und Studierende zuströmen ließen. Die Studentenzahlen stiegen rasant. In Erlangen studierten im Sommer 1925 119 Theologen, was gegenüber 1920 eine Halbierung bedeutete und den Tiefpunkt in den 20-er Jahren darstellte. Nach seinem Dienstantritt in Erlangen registrierte Althaus bereits im WS 1925/26 einen Anstieg auf 177, der sich in den folgenden Semestern rasant fortsetzte und im Wintersemester 1933/34 mit 663 seinen Höhepunkt fand, sich also gemessen am Sommer 1925 mehr als verfünffacht hatte. Es kamen zahlreiche Studierende außerhalb des Einzugsbereiches der bayerischen Landeskirche. Zwar stieg auch andernorts in diesen Jahren die Zahl der Theologiestudenten, aber in Erlangen war dieses Wachstum überproportional.14 11 Brief vom 28. 4. 1926, Original im Nachlass Erich Seeberg im Bundesarchiv Koblenz, Kopie NLA K 11b. 12 Vgl. auch die beiden Nachrufe auf Elert von Paul Althaus (1955) sowie die einschlägigen Passagen in den Darstellungen von Walther von Loewenich (1975) und Karlmann Beyschlag (1993) und in den Erinnerungen von Wolfgang Trillhaas (1976) und Helmut Thielicke (1984), die alle durch persönliche Begegnungen mit Elert und Althaus ihre besondere Farbigkeit erhalten. 13 Einen drastischen Fall schildert Theodor Heckel anlässlich seiner Promotion in seinen Memoiren – bislang unveröffentlicht, Zugang gewährte mir sein Sohn, der inzwischen verstorbene Pfarrer i. R. Karl Heckel. 14 Leipzig und Tübingen hatten in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg durchschnittlich doppelt so viele Theologiestudenten wie Erlangen, jetzt überholte Erlangen Leipzig (1933/34 = 663 zu 564) während der Vorsprung von Tübingen vom Dreifachen (1924/25 = 366 zu 118) zum Anderthalbfachen (1933/34 = 940 zu 663) abschmolz. Überproportional wuchs
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Die Hoffnung des Münchener Kreisdekans Baum, Paul Althaus für Erlangen zu gewinnen, weil dieser so stark auf die theologische Jugend einwirke15, war – so darf man diese Entwicklung interpretieren – in Erfüllung gegangen, zumal Althaus seine überregionale Vortragstätigkeit auch von Erlangen aus unvermindert fortsetzte und dadurch immer bekannter wurde. Entscheidender wird jedoch seine persönliche Zugewandtheit gewesen sein, seine Gesprächsbereitschaft und Gesprächsfähigkeit gerade mit Studierenden, die ihm auch nach eigenem Bekunden immer ein echtes Bedürfnis war und ein großes Echo bei den Studenten finden ließ, wofür zahlreiche Studentenbriefe lebhaft Zeugnis ablegen. Das Ziel des damals amtierenden Dekans Strathmann, durch die Berufung des nicht so engen Lutheraners Althaus die Attraktivität der Fakultät zu steigern, war voll aufgegangen. Strathmann, der einem lutherischen Pfarrhaus aus der unierten westfälischen Landeskirche entstammte, sah ganz offensichtlich den dezidiert lutherischen Konfessionalismus von Elert skeptisch, dessen „lutheristische Enge“ – wie er in einem Brief an Althaus formulierte16 – sollte in der Fakultät nicht zu stark werden. Althaus war auch Lutheraner, profilierter Lutherforscher, aber zugleich von großer Offenheit und Gesprächsbereitschaft über die engeren Konfessionsgrenzen hinweg. Sein Engagement in und für die Deutsche Christliche Studentenbewegung mit ihren die innerprotestantischen Konfessionsgrenzen übersteigenden internationalen Verknüpfungen, seine Verwurzelung in der Lutheraner und Calvinisten umgreifenden Erweckungsbewegung, sein weiter wissenschaftlicher Horizont und seine bewusste Schülerschaft zu Adolf Schlatter schufen dafür eine gute Basis und ließen ihn als korrigierende Ergänzung zur lutherischen Pointiertheit von Elert interessant werden. Die Erlanger Fakultät gewann so hohe Anziehungskraft durch klares lutherisches Profil bei kirchlicher Bindung und gleichzeitiger Offenheit.
4.2 Erlangen: keine „bleibende Stadt“ – oder doch? Bei zünftigen Theologiestudenten galt in Bayern lange Zeit das geflügelte, gewollt doppeldeutige Wort: „Suchet das Himmelreich zu ERLANGEN“. In diesem Spruch drückte sich auch die enge Bindung und Einheit zwischen der bayerischen lutherischen Landeskirche und ihrer damals – bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges – einzigen theologischen Fakultät aus. Eine solche Geschlossenheit war im Raum des deutschen Protestantismus anderswo kaum auch in Erlangen der Anteil der Theologen an der Gesamtstudentenzahl von 9,2 % im Jahr 1925 (Tübingen 16,5 %) auf 29,3 % im WS 1933/34 (Tübingen 26,5 %). 15 Vgl. oben S. 134. 16 So in dem Brief vom 25. 2. 1925 (vgl. S. 137, Anm. 9).
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anzutreffen. Für Paul Althaus und seine Auffassung vom universitären Amt als einem kirchlichen Auftrag, von der Untrennbarkeit von theologischer Wissenschaft und christlicher Verkündigung mochte darum Erlangen als Ort der beruflichen Erfüllung erscheinen und so zu seinem „Himmelreich“ werden, zumal die überschaubare Kleinstadt seiner Skepsis gegen die Anonymität und Modernität der Großstadt entgegenkam. Tatsächlich fügte es sich, dass Althaus bis an sein Lebensende in Erlangen blieb. Das war 1925 allerdings keineswegs voraussehbar und wohl auch nicht geplant, zumal es in der Folgezeit vielerlei Versuche gab, Althaus aus Erlangen abzuziehen, ihm Erlangen nicht zur „bleibenden Stadt“ zu machen. Das überregionale Renommee, das Althaus genoss und von dem die Erlanger Fakultät sehr rasch profitierte, dokumentierte sich nicht nur in dem Ruf nach Leipzig. Althaus war gerade zwei Jahre in Erlangen, da kam er in dem Berufungsverfahren zur Nachfolge von Reinhold Seeberg in Berlin ins Gespräch, ohne dass sich dieses zu einem Ruf verdichtete. Am 13. 9. 1927 schrieb ihm sein Greifswalder Kollege Hermann Wolfgang Beyer: „Hoffentlich rücken Sie nun uns ,nordischen Menschen‘ auch räumlich noch näher, indem die Berliner Frage die Lösung findet, die wir alle erhoffen.“ (NLA K 10) Weitere Hinweise gibt ein Brief der Witwe von Karl Holl aus Berlin vom 20. 9. 1927 an Althaus. Frau Holl bedankt sich für einen ehrenden Nachruf auf ihren jüngst verstorbenen Mann, drückt ihre große Freude aus, dass Althaus in Nachfolge ihres Mannes zum Ersten Vorsitzenden der Luthergesellschaft gewählt wurde, und fährt fort: „Wegen dieser Funktionen müssten Sie eben hierher berufen werden. … Ich weiß ja nichts über den Stand der Verhandlungen über Seebergs Nachfolge. Eins aber ist mir sicher : Wenn mein Mann noch da wäre, hätte wohl Ihrer Berufung niemand ernsten Widerstand entgegengesetzt. Ich hoffe ja noch immer und mit mir gewiss viele, vor allem die Studenten.“ (NLA K10) Tatsächlich stand Althaus zusammen mit dem Greifswalder Systematiker Wilhelm Koepp pari passu auf Platz drei der Liste der Fakultät vom 1. 8. 1927. An erster Stelle war sein Göttinger Lehrer Carl Stange, an zweiter der Bonner Systematiker Hans Emil Weber genannt. Zur Begründung für eine Berufung von Althaus trug die Fakultät vor: „Der ordentliche Professor D. Paul Althaus ist ein vielseitig begabter, geistig angeregter Mann, der insbesondere über eine hervorragende Gabe verfügt, in populären Reden und Schriften einem weiteren Publikum die christlichen Grundideen im Zusammenhang mit den besonderen Bedürfnissen des modernen Lebens darzustellen …“ Nach „gediegenen Studien auf dem Gebiete der Geschichte der altreformierten Theologie“ habe er sich dann „wohl unter dem Drang der modernen Zeitfragen der schon gekennzeichneten apologetischen und kirchlichen Tätigkeit zugewandt … In seiner reichhaltigen literarischen Produktion (fehlt es) auch nicht an wissenschaftlichen Studien, die sich bemühen, auch in strengerer Form einen geeigneten Ausgangspunkt für neuere Aufgaben der systematischen Theologie zu gewinnen. Man
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wird zwar an diesen Arbeiten die Vielseitigkeit der wissenschaftlichen Interessen und die Lebhaftigkeit ihrer Anwendung auf das praktische Leben anerkennen, wenn auch eine gewisse Neigung, sich am Allerneuesten alsbald anzuschließen, auffällt, welcher dann die Konsequenz der Durchführung der betreffenden Gedanken nicht immer entspricht.“ Die Fakultät äußert aber die Hoffnung, „dass der noch jugendliche Mann … in bestimmterer Weise seine Gedanken festzulegen lernen wird. Althaus ist durch eine sehr erfreuliche Lehrgabe ausgezeichnet. Wir tragen daher keine Bedenken, ihn für den zu besetzenden Lehrstuhl in Vorschlag zu bringen.“17
Dieses Urteil war sowohl in seinen positiven Bewertungen als auch in seinen kritischen Vorbehalten pointiert und bezeichnend: man registrierte Althaus als einen Mann, der in die Kirche wirke und wirken wolle und als akademischer Lehrer erfreulich begabt sei, äußerte jedoch Einwände bei den wissenschaftlichen Arbeiten und kritisierte die Neigung, sich neuesten Trends anzupassen. Diese Ambivalenz passte berufungspolitisch genau für einen dritten Platz, denn da schickte es sich, auch Vorbehalte zu formulieren. Dass es solche in der Berliner Fakultät gegen Paul Althaus gab, ist durchaus anzunehmen. Althaus hatte 1925 das dogmatische Hauptwerk von Reinhold Seeberg zwar höflich in der Form aber sehr hart in der Sache rezensiert, was Seeberg zu einem im Grund verständnislosen persönlichen Brief an Althaus veranlasste18 und gewiss nicht zu einem Befürworter der Berufung von Althaus werden ließ. Ob der liberaldemokratische Systematiker Titius sich sehr für Althaus einsetzte, wissen wir nicht. Nach dem Vortrag von Althaus auf dem Kirchentag im Juni 1927, bei dem Titius vermittelt und bestimmte politische Erwartungen formuliert hatte, die von Althaus nicht erfüllt wurden, kann man sich vorstellen, dass Titius sich allenfalls mit Bedenken für Althaus einsetzte. Von dem bedeutenden Kirchenhistoriker Hans Lietzmann lässt sich dagegen belegen, dass er für die Berufung von Althaus kämpfte.19 Den Ruf erhielt erwartungsgemäß zunächst Stange, der mit Althaus und Hirsch zusammen die Zeitschrift für systematische Theologie herausgab und Gründer der Lutherakademie in Wernigerode war. Doch Stange lehnte Anfang Januar 1928 den Ruf ab20. Jetzt schien wieder alles offen. Ende Januar 1928 berichtete Althaus seinem Tübinger Lehrer Schlatter über eine Anfrage aus Berlin, ob er bereit sei, Seebergs Nachfolger zu werden. Er erbat Schlatters Rat: 17 Geheimes Staatsarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Akte Berufungen Theologische Fakultät Berlin, Blatt 96 f. 18 Brief vom 5.11. 1925, NLA K11b, die Rezension erschien in der Theologischen Literaturzeitung, Bd. 50 (1925), Sp. 433 – 439. 19 Am 10. 2. 1931 schrieb Lietzmann an Gerhard Kittel nach Tübingen, nachdem Emanuel Hirsch einen Ruf dorthin abgelehnt hatte,: „Erst hoffte ich, meine Fakultät mit Hirsch und Althaus aufzuziehen, als das misslang, habe ich mir bei beiden ehrliche Mühe gegeben, sie für Tübingen zu gewinnen – und nun ist auch das nicht gelungen“. Paul Althaus hatte 1930 den Ruf nach Tübingen erhalten und abgelehnt. Hans Lietzmann, 1979, S. 636. 20 Mitteilung der Rufablehnung bereits in der AELKZ von 24. 12. 1927, S. 1230, Absageschreiben vom 10. 1. 1928 in den Akten des Geheimen Staatsarchivs … (vgl. oben Anm. 17).
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müsse er dort hingehen? Eine gewisse Zurückhaltung ist schon in seiner Anfrage spürbar. „Ein Mann der Ausschüsse und Vorstände, der ich in Berlin wohl werden müsste, bin ich nicht. Meine Arbeit ist stark persönlich gerichtet: Ich muss den Studenten nahe bleiben.“ Seinem Kontaktmann in Berlin – wahrscheinlich Lietzmann – habe er darum „weder ein einfaches Nein, noch auch ein vorweg bindendes Ja“ gegeben, weil Klarheit nur ein offener Ruf ermöglichen könne (30. 1. 1928 und 1. 2. 1928, NLA K11b). Offensichtlich hatte das Ministerium nach der Absage von Stange sich in der Fakultät erkundigt und Garantien für die Rufannahme der Kandidaten erbeten. Da Althaus sich nicht im Voraus festgelegt hatte, erhielt daraufhin der Zweitplazierte Weber den Ruf, lehnte aber im Mai 1928 ab. Jetzt gab das Ministerium am 6. 6. 1928 die Liste zurück und erbat eine erneute Stellungnahme der Fakultät, die diese am 3. 7. 1928 mit einem erneuten Plädoyer für die Plätze 3a und 3b abgab. Offensichtlich hatte aber das Ministerium Lütgert, Halle, ins Gespräch gebracht, denn die Fakultät führte jetzt zusätzlich aus, bei der Verabschiedung der Liste im Juli 1927 habe man Bedenken gegen Lütgert „wegen der besonderen Aufgaben des Lehrstuhls“ gehabt, doch die Mehrheit der Fakultät könne diese Bedenken jetzt zurückstellen, was jedoch „kein freudiges einmütiges Urteil“ sei. Lütgert erhielt daraufhin den Ruf und das Ministerium tat alles, um ihm die Annahme zu ermöglichen, zumal durch ein erneutes Scheitern der Berufung auf diesen bedeutsamen Lehrstuhl nicht nur der Ruf der Berliner Fakultät geschädigt, sondern auch „geradezu unüberwindliche kirchenpolitische Schwierigkeiten“ ausgelöst worden wären.21 Dass Paul Althaus bei der Seeberg-Nachfolge auf der Liste stand, ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Zum einen belegt es sein überregionales Ansehen, da zu damaliger Zeit Berlin als die Spitze der Universitäten in Deutschland galt, so dass auch eine Drittplazierung von Bedeutung war. In Preußen gab es eine klare Pyramide unter den Universitäten und eine Aufstiegsleiter für die Professoren. Man diente zuerst in Marburg, Halle, Kiel oder Greifswald und wurde dann auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn nach Berlin berufen. Ein Ruf aus dem kleinen Erlangen nach Berlin wäre darum eine besondere Auszeichnung gewesen, der Listenplatz allein zeigte schon die Wahrnehmung von Althaus durch die theologische und kirchliche Öffentlichkeit. Beachtenswert ist ferner die spezifische Ausrichtung des Lehrstuhls von Seeberg. Es handelte sich um den auf Druck des evangelischen Oberkirchenrates neu errichteten Lehrstuhl für Systematische Theologie, auf den 1893 Adolf Schlatter berufen worden war, um in der Berliner Theologischen Fakultät ein Gegengewicht gegen den liberalen Theologen Adolf von Harnack zu bilden, der damals durch seine berühmten Stellungnahme zum apostolischen Glaubensbekenntnis – zwar keine Abschaffung aber Kritik an Einzelformu21 Dazu zwei aufschlussreiche Schreiben des preußischen Kultusministers an den preußischen Finanzminister in der einschlägigen Akte (vgl. oben Anm. 17), Blatt 123 f. und 131 f.
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lierungen (z. B. Jungfrauengeburt) – den „Apostolikumsstreit“ ausgelöst hatte. Nach Schlatters Weggang nach Tübingen 1898 wurde dann der aus dem Baltikum stammende Reinhold Seeberg als konservativer Gegenpol zu Adolf von Harnack von Erlangen nach Berlin berufen. Seeberg gehörte zur modernen positiven Richtung, engagierte sich auf sozialpolitischem Gebiet und galt als kirchlich orientierter Lutheraner, der sich politisch im konservativen Lager positioniert hatte. Dass Althaus als Nachfolger Seebergs angedacht wurde, zeigt darum klar an, in welchem Lager man ihn theologisch, kirchlich und wohl auch politisch verortete. Weshalb der Ruf auf den Lehrstuhl Seeberg an Paul Althaus nicht erging, ist nicht eindeutig zu ermitteln. Der Wegfall der Unterstützung durch Karl Holl war sicherlich ein wichtiger Faktor. Vielleicht war der Erlanger Theologe einigen Berliner Kollegen auch zu jung und dynamisch oder dem liberalen Kultusminister zu nationalkonservativ. Von der theologischen Ausrichtung her war die Berufung von Lütgert in sich stimmig. Wie der Vater von Althaus hatte Lütgert in Greifswald bei dem bedeutenden, aus der Erweckungsbewegung des Minden-Ravensberger Landes stammenden „positiven“ Systematikprofessor Hermann Cremer studiert, promoviert und habilitiert. In Greifswald lernte er auch Schlatter kennen, dem er lebenslang, auf der Basis einer gemeinsamen biblisch kirchlich orientierten Theologie in Freundschaft verbunden blieb. Mit ihm gab er bis 1935 die „Beiträge zur Förderung christlicher Theologie“ heraus, eine Funktion, die Althaus dann von ihm übernahm. Lütgert stand der Erweckungsbewegung weiterhin nahe; so wirkte er – wie Schlatter – in Bethel an den von Vater Bodelschwingh eingeführten „Theologischen Wochen“ mit. Am 20. 3. 1929 erhielt Paul Althaus einen Ruf auf den durch Lütgerts Weggang freigewordenen Lehrstuhl an der Universität Halle. Die Fakultät hatte ihn in ihrem Berufungsvorschlag vom 12. 2. 1929 auf Platz eins gesetzt und lobend seine „anerkannte Lehrgabe“ und „sein Verständnis, welches er für die theologischen Interessen der gegenwärtigen akademischen Jugend gezeigt hat“ hervorgehoben …, als „Dozent wie als akademischer Prediger“ habe sich Althaus bewiesen. Detailliert ging die Fakultät – im Unterschied zu Berlin – auf die wissenschaftlichen Werke von Althaus ein und konstatierte: „Er steht der theologischen Tradition, die in Halle eine geschichtliche Bedeutung gewonnen hat, nahe. Im Anschluss an die biblische Theologie wie an die neue Lutherforschung hat er die theologischen und sozialethischen Probleme in einer Form erörtert, durch welche wissenschaftliche Arbeit mit den kirchlichen Aufgaben in Verbindung gesetzt wird.“22
Diese Begründung für den Ruf nach Halle ist aufschlussreich für die Wahrnehmung von Paul Althaus sowie seine theologische und kirchliche Einord22 Geheimes Staatsarchiv Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Akte Berufungen Theologische Fakultät, Universität Halle, Blatt 140 – 142.
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nung. Sie belegt, dass er sich in die „theologischen Traditionen“ der Haller Fakultät – Pietismus, August Hermann Francke, Friedrich Schleiermacher, Friedrich Tholuk und Martin Kähler in ihrer biblischen Theologie und Ihren Predigtaktivitäten auf – wenn auch unterschiedlichen – erwecklich-pietistischen Fundamenten – gut einfügte. Dass er Lütgert in Halle folgen sollte, erscheint darum „richtungspolitisch“ ebenso konsequent wie dessen Berufung auf den Lehrstuhl von Seeberg nach Berlin. Althaus hätte einen Ruf an die zentrale Universität Berlin kaum ablehnen können, den Ruf auf die „Provinzuniversität“ Halle sagte er jedoch schnell ab, „so sehr mich auch die Konvikte und Predigten nach Halle ziehen“, wie er seiner Mutter am 7. 4. 1929 schrieb und dabei merken ließ, wie schmerzlich er das Amt des Universitätspredigers in Erlangen vermisste. Diesmal reagierte auch seine Erlanger Fakultät sofort und eindeutig. Dekan Elert erbat am 31. 3. 1929 namens der Fakultät nachdrücklich ein Bleibeangebot, was der Rektor unter wärmster Befürwortung dem Ministerium vorlegte. Althaus führte erfolgreiche Bleibeverhandlungen. Seine Gehaltssituation verbesserte sich erneut, außerdem brachte man sein Seminar in neuen Räumen unter und gewährte ihm eine Assistentenstelle – hier sprang der Universitätsbund ein. Sein Rostocker Freund Brunstäd schrieb ihm am 25. 4. 1929: „Für Halle spricht, dass es der Weg nach Berlin ist. … Berlin kann Pflicht und Notwendigkeit werden, ist es eigentlich schon. Ich würde die Entscheidung ganz nüchtern von der Gehaltsfrage und der Berlinaussicht abhängig machen. Dass Sie nicht nach Berlin drängen und dass Berlin sich freuen könnte, Sie zu bekommen und nicht umgekehrt, das ist jedem Vernünftigen klar.“ (NLA K10)
Angesichts der gefallenen Entscheidung in der Seeberg-Nachfolge in Berlin bestätigte Brunstäd damit im Grunde die Entscheidung gegen Halle. Am 31. Mai 1929 sagte Althaus dort ab. Er konnte sich nun auf eine lange Zeit in Franken einrichten, zumal sich auch in der Zukunft die Frage Berlin nicht mehr stellte.23 Wie er seiner Mutter bereits am 6. 7. 1929 berichtete, hatte seine 23 Paul Althaus wurde zwar 1932/33 nochmals in der Berliner Theologischen Fakultät aus Anlass der Nachfolge von Titius diskutiert, jedoch eher am Rande, da starke Kräfte in der Fakultät traditionsgemäß bei diesem Lehrstuhl einen Vertreter liberaler Theologie wollten. Berufen wurde dann jedoch vom 2. Listenplatz der noch auf einer Assistentenstelle geführte Berliner außerplanmäßige Professor Stolzenburg, der seit März 1932 der NSDAP angehörte. Die sich hier dokumentierende Machtergreifung nationalsozialistisch überzeugter Theologen in der Fakultät führte dann auch dazu, dass bei der 1935 anstehenden Lütgert-Nachfolge Paul Althaus – obwohl von Lütgert favorisiert und zur Tradition des Lehrstuhls passend – keine Chance hatte, sondern der Gölttinger Systematiker Ernst Wobbermin, obzwar schon im Emeritus-Alter, als prominentes DC–Mitglied mit ministerieller Sondergenehmigung berufen wurde. Vgl. Hartmut Ludwig, 2005, S. 95, 99, 107 und ders., 2008, mit wichtigen Dokumenten. Als Wobbermin dann 1937 ausschied, versuchte der Grandseigneur der Fakultät, der Kirchenhistoriker Lietzmann, der sich schon 1927/28 für Althaus eingesetzt hatte, ihn berufen zu lassen, scheiterte aber erneut zugunsten eines Parteimitgliedes. 1937 gab es auch noch – informell bleibende – Versuche,
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Frau mit großer Initiative und Geschick die Planung für ein eigenes Haus und dessen Umsetzung energisch in die Hand genommen. Die Stadt war bei der Grundstücksuche behilflich gewesen. Schon ein Jahr später, im Sommer 1930 zog dann die junge Familie in den Neubau an der Atzelsberger Steige Nr. 10 ein.24 Damit war das Signal für ein dauerhaftes Bleiben gesetzt. Dennoch gab es im gleichen Jahr 1930 noch zwei – zur Einschätzung von Althaus sehr aufschlussreiche – Versuche, dieses Signal erneut auf Ortswechsel umzuschalten. Am 9. 4. 1930 hatten sich der Präsident der Mecklenburger Synode Eberhard und der Propst Köhn bei Althaus in Erlangen zu Besuch angesagt, „um mir das Bischofsamt anzutragen“, wie er seiner Mutter am 8. 4. 1930 schrieb. Er fügte hinzu: „Zwar bin ich so gut wie entschlossen, nein zu sagen. Aber Erregung schafft das alles doch.“ Dem späteren Bericht des Wahlvorbereitungsausschusses der Mecklenburger Landeskirche lässt sich entnehmen, das eine Probeabstimmung „eine überwältigende Zahl von Stimmen“ für Althaus ergeben hatte: „In ihm schienen der Mehrheit der Synodalen zwei Voraussetzungen für die Geeignetheit seiner Persönlichkeit vereinigt zu sein. Hervorragende bischöfliche Eigenschaften und eine große Liebe und feines Verständnis für die Besonderheit der mecklenburgischen Landeskirche, besonders verbunden mit einer weitgehenden Personalkenntnis sowohl unter den Pastoren als auch unter den Kreisen kirchlich gesinnter Laien. Auch an den freien Lebensbetätigungen kirchlicher Kreise hat Prof. Althaus stets lebendigen Anteil genommen.“25
Wenn man bedenkt, dass Althaus nur vom November 1919 bis zum Juli 1925 als junger Professor in Rostock gelehrt und schon seit knapp fünf Jahren Mecklenburg verlassen hatte, dann ist die lebendige Erinnerung an sein Wirken in Mecklenburg, die aus diesen Zeilen spricht, umso beeindruckender und belegt sein großes kirchliches Engagement. Bereits am 22. März 1930 – also schon elf Tage nach dem Tod von Landesbischof Behm – hatte der Schriftleiter des Mecklenburger Kirchenblattes, Lic. Daxer, bei Althaus angefragt, ob er ihn als Nachfolger für Behm ins Gespräch bringen dürfe: „Wir wünschen uns einen Mann, der in wissenschaftlicher wie seelsorgerlicher Beziehung dem Pastorenstand und der Landeskirche ein Führer in des Wortes tiefster Bedeutung werden könnte. Dass wir Sie als solchen erkannt haben, gibt uns den Mut, die vielleicht anmaßend erscheinende Frage an Sie zu
Althaus nach Leipzig zu berufen. Der Dekan der dortigen Fakultät bot ihm einen Ruf an – mit dem Argument: „wir sind noch geschlossen“ –, bat aber um vorherige Zusage, die Paul Althaus offensichtlich nicht gab. Brief des Leipziger Dekans Hermann Wolfgang Beyer vom 13. 9. 1937 (NLA K 10). 24 Zu den Details des Hausbaus vgl. unten S. 262 ff. 25 Landeskirchliches Archiv Mecklenburg, Bestand 36.
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stellen.“26 Daxer bat um vertrauliche Auskunft, die Vorbesprechung der Synode solle am 2. April stattfinden. Mit Brief vom 5. 4. 1930 hatte der Dekan der Rostocker Theologischen Fakultät Büchsel, der mit Althaus befreundet war, diesen über die Beratungen der Synode informiert, den Besuch der offiziellen Delegation angekündigt und mit vielen Argumenten um eine positive Antwort geworben. Er wies auf die bedeutende Rolle des verstorbenen Bischofs Behm auch in den deutschlandweiten kirchlichen Gremien hin, die nur von Althaus adäquat übernommen werden könnte: „Gerade weil Sie nicht bloß Mecklenburger sind, sondern Hannover, Bayern, Sachsen kirchlich kennen und dort und in ganz Deutschland bekannt sind, können Sie Mecklenburg in den größeren Verbünden besser vertreten, und man wird auf Sie ganz anders außerhalb Mecklenburgs hören als auf G. oder W.[zwei aus dem Lande stammende Bischofskandidaten] Denke ich nun noch an die theologische Bildung unserer Geistlichen (Predigerseminar), an die Seelsorge an ihnen, an die freien Tagungen und Verbände, an die synodalen Gruppen, an die politischen Parteien, an die Innere Mission, an die Heidenmission: Wie gerne hätte ich das alles in Ihren Händen! Sie wissen, wie viel überall zu tun ist. Ich möchte zu allem nur sagen: Kommen Sie, packen Sie’s an, und Gott segne Ihre Arbeit bei uns und an uns.“
Da Büchsel wusste, wie Althaus an der Lehre hing, fügte er an, die Fakultät werde ihm eine Honorarprofessur beschaffen mit einem Assistenten, sodass er auf Lehrtätigkeit nicht verzichten müsse und die Zusammenarbeit zwischen Kirche und Universität intensiviert würde. Allerdings sah Büchsel auch die Gegenargumente: „Wenn ich denke an Ihre Lehrtätigkeit auf dem Erlanger Katheder und all die vielen, die ihr so viel verdanken und denen Sie schließlich nur in solcher Stellung geben können, was Sie zu geben haben und die Leute brauchen, so fällt es mir natürlich schwer zu sagen: Lassen Sie das hinter sich. Ich weiß, gerade wenn ich auf die Lage in Halle, in Berlin und Leipzig (und wo sonst zur Zeit unseres Studiums eine Theologie getrieben wurde, die den lebendigsten Inhalten des Evangeliums nichts nimmt, sondern sie wirklich entfaltet) blicke, was Sie in der theologischen Gesamtlage be26 NLA K10. In ihrem Vertrauen darauf, dass Paul Althaus sehr gut geeignet sei, das Amt eines Bischofs wahrzunehmen, standen die Mecklenburger damals übrigens nicht allein. Schon am 26. 3. 1929 (NLA K 11a) hatte sich der Münchener Dekan Langenfaß bei Althaus „streng vertraulich“ und mit der Bitte um „Geheimhaltung“ erkundigt, ob dieser den Ruf nach Halle anzunehmen gewillt sei oder in Erlangen bleiben werde. Nur wenn er bliebe, käme er als Nachfolger von Kirchenpräsident Veit in Frage. Dessen Amtszeit könne angesichts konkreter Probleme rascher zu Ende gehen, als man noch vor kurzer Zeit gedacht habe. Da Kirchenrat Meiser noch nicht lange genug im Landeskirchenrat tätig sei, käme nur Althaus als Nachfolger in Frage. Er möge darum bei seiner Entscheidung zwischen Halle und Erlangen sich „auch diesen Anspruch, den Ihre Kirche an Sie hat, vor Augen halten.“ Die Angelegenheit erledigte sich damals von selbst, da Veit noch bis 1933 im Amt blieb und dann Meiser gewählt wurde, der zwischenzeitlich als Mitglied der Kirchenleitung hohes Ansehen erworben hatte.
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deuten. Hier abzuwägen, vermag schließlich nur, wer im Gewissen beides voll spürt, das Gewicht der Lehrtätigkeit und das der Bischofsarbeit … Ich weiß, Sie sind Dozent aus Charisma und Forscher aus innerster Verbundenheit mit den Problemen. Aber die Eigenart Ihrer theologischen Arbeit als Lehrer und Forscher ist, dass sie aus der Teilnahme am Leben der Kirche und des in ihr lebenden Volkes ihre Antriebe schöpft. Sie leben mit der Kirche, und das nicht nur durch die Theologie, wie die meisten Kollegen, sondern unmittelbar. Könnten Sie nicht das Mitleben mit der Kirche im Bischofsamt zum Hauptinhalt Ihres Berufs machen und den Dienst an der Theologie auf das beschränken, was Ihnen die Honorarprofessur und das Predigerseminar zu entfalten gestattet?“ (NLA K10)
Mit dieser außerordentlich treffenden Charakterisierung fand Büchsel ohne Frage die zentralen Punkte in der persönlichen Berufsauffassung von Paul Althaus, der seine Antriebe in Forschung und Lehre aus seinem „unmittelbaren Leben mit der Kirche“ schöpfe. Dieses „Leben mit der Kirche“ formte auch die Wahrnehmung von Althaus in der kirchlichen Öffentlichkeit. Ähnlich wie Büchsel warben aus der Rostocker Fakultät auch der Alttestamentler Quell und der direkte fachliche Nachfolger Brunstäd eindringlich um eine Zusage von Althaus und konkretisierten Umfang und Möglichkeiten einer Lehrtätigkeit in der Rostocker Fakultät in Verbindung mit dem Bischofsamt.27 Althaus lehnte trotz seiner engen persönlichen Beziehungen zu dem verstorbenen Bischof Behm den Wechsel in das Bischofsamt noch im April 1930 ab und fand dafür sogar Verständnis. Der Synodalpräsident, der ihn in Erlangen aufgesucht hatte, schrieb ihm zu seiner Absage: „So sehr ich es bedauere, dass es uns nicht gelungen ist, Sie für unsere Landeskirche zurückzugewinnen, muss ich doch die von Ihnen in so warmen und überzeugenden Worten geltend gemachten Gründe ehren und danke Ihnen herzlich für die in Ihrem Briefe zum Ausdruck gekommene teilnehmende Sorge um das Wohlergehen unserer Kirche. Gott der Herr wolle Sie auch weiter segnen auf dem von Ihnen festgehaltenen Weg zur Förderung und Befruchtung des Luthertums, die ja schließlich auch unserer Landeskirche zu gute kommt!“ Eberhard bedankte sich abschließend „für die uns gewährte eingehende Aussprache, in der Sie vertrauensvoll uns einen tiefen Einblick in Ihre gewissenhaften Erwägungen gegenüber der verantwortungsvollen Entscheidung tun ließen.28 Im Mai 1930 wurde der „im Land so gut wie unbekannte“29 Kieler Prakti27 Brunstäd verwies darauf, dass Bischof Behm doch schon vor Jahren Paul Althaus sein Bischofsamt angeboten habe, was Paul Althaus damals abgelehnt hätte, da er nicht wollte, dass Behm seinetwegen zurückträte. (Brief vom 11. 4. 1930 NLA K10) Im Nachlass Althaus finden sich drei handgeschriebene Briefe von Bischof Heinrich Behm aus dem Frühjahr 1925 – vor dem Umzug nach Erlangen – die ein sehr persönliches Vertrauensverhältnis erkennen lassen – Behm duzt den 35 Jahre jüngeren „hochverehrten, lieben Freund“ und unterschreibt: „in Verehrung und Freundschaft treu verbunden Dein H. Behm“. (NLA K10) Der Brief von Quell vom 4.1930 (NLA K11a). 28 Brief vom 1. 6. 1930 NLA K 10. 29 Ebd.
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sche Theologe Heinrich Rendtorff im dritten Wahlgang gegen zwei Mecklenburger Kirchenräte zum Bischof gewählt. Rendtorff hatte sich am 22. 4. 1930 noch bei Althaus erkundigt, ob dieser tatsächlich abgesagt und ihn ins Gespräch gebracht habe. Er halte Althaus für den absolut besten Kandidaten und wolle selbst nur „für den Fall in Erwägung gezogen [werden], dass Sie nicht wollten.“30 Offensichtlich gab Paul Althaus seinem Professorenamt in Erlangen die Priorität, zumal der Wechsel in den hauptamtlichen kirchlichen Dienst für ihn insofern keine echte Alternative bot, da er sein Lehramt stets als kirchliches Amt begriff und dieses durch Vortrags- und Predigttätigkeit im ganzen Raum der Kirche nachdrücklich unterstrich. Der Versuch, ihn für das Mecklenburger Bischofsamt zu gewinnen, ist gleichwohl ein beredtes Zeugnis für das zutiefst kirchliche Engagement und Verantwortungsbewusstsein des Theologieprofessors Althaus. Seine große Fähigkeit im persönlichen Umgang mit Studenten und das Echo, das er bei ihnen fand, ließen ihn offensichtlich für das Amt des akademischen Lehrers votieren.31 Es war dasselbe Motiv, das ihn auch gegenüber Berlin so skeptisch gemacht hatte – „ich muss den Studenten nahe bleiben“, schrieb er damals an Schlatter –, und das ihn schon 1920/21, unterstützt vom Rat seines Vaters, in Rostock hielt und gegen das Hamburger Predigeramt entscheiden ließ. Kaum war die Erregung über die Frage: Erlangen oder Mecklenburg abgeklungen, da brachte ein Ruf an die Theologische Fakultät nach Tübingen neue Unruhe und belastete die Vorbereitungen für den Umzug in das neu erbaute eigene Haus. Dieser Ruf ist insofern hervorhebenswert, da die Tübinger Fakultät auf dem Hintergrund des schwäbischen Pietismus eine besondere kirchliche Bindung und Tradition hatte, von den Studentenzahlen her deutlich vor Erlangen rangierte und auf den Schlatter-Schüler Althaus mit den starken Erinnerungen an seine Tübinger Studienzeit besondere Anziehungskraft entfaltete. Der Ruf kam offiziell Anfang August. Althaus machte sich die Entscheidung nicht leicht, aber entschied sich schnell. Er führte sofort Berufungsverhandlungen in Tübingen und Stuttgart und dann Bleibeverhandlungen in München. Die Tübinger versuchten mit allen Mitteln, ihn zu gewinnen. Der Neutestamentler Kittel tauchte plötzlich in Erlangen auf, um nachdrücklich für eine positive Entscheidung zu werben. Aber auch die Erlanger Fakultät machte sich stark, um ihn zu halten. Mit Elert hatte er eine eingehende Aussprache in dieser Angelegenheit. Trotz eines sehr lukrativen Angebotes lehnte Althaus am 7. September 1930 den Tübinger Ruf ab. Großzügige Zusagen aus München (Extraordinariat für Neues Testament, 30 NLA K 11a. 31 Offensichtlich hatte Althaus auch seinen Freund Emanuel Hirsch um seine Meinung gefragt, der antwortete knapp: „Ich kann mich kurz und schmerzlos fassen: Jahre lang bist Du als akademischer Lehrer noch unentbehrlich. Wenn es 1945 noch einmal kommt, und vielleicht in einer größeren Landeskirche, dann sag ja. Jetzt nein.“ (Brief vom 5. 4. 1930 NLA K11a).
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Assistentenstelle für Systematische Theologie und Erhöhung der Hörgeldpauschale) hatten die Absage erleichtert. In einem Brief vom 8. 9. 1930 an seinen „lieben und verehrten“ Tübinger Lehrer Adolf Schlatter erläuterte er diesem seine Motive für die Absage: „Der Gedanke an Sie, an mein Verhältnis zu Ihnen, an die köstliche Möglichkeit, Sie öfter besuchen zu dürfen – das alles hat mir die Absage bitter schwer gemacht … Ich habe mich auch nicht gegen Tübingen, sondern nur für Erlangen entschieden. Je länger ich die Gewichte auf beiden Seiten wog, desto klarer drängte sich mir der Eindruck auf, dass ich meinen Posten hier noch nicht verlassen darf. Ich bin in Erlangen ein ,Tübinger‘, und gerade als solcher hier nötig, wenn ich recht sehe. Fürchten Sie nicht, dass ich hier zu Kompromissen gezwungen bin! Die Berufung nach Tübingen hat meine Stellung hier gestärkt. Ich werde noch freier reden können als bisher. Die junge bayerische Pfarrerschaft, die durch Tübingen beeinflusst ist, hat in Erlangen keinen Mann ihres Vertrauens, wenn ich gehe, und einen Nachfolger, der den Erlangern genehm und zugleich meine Arbeit weiterführte, wissen wir nicht. Ferner : Erlangen ist die einzige spezifisch lutherische Fakultät, die noch homogen ist – was ist aus Leipzig geworden! Ich kann es nicht verantworten, in diesem Augenblick die Stellung und Kraft meiner Fakultät, auf die viele Augen schauen, zu gefährden. … Erlangen ist der schwerere Posten. Tübingen wäre für mich ein großes Geschenk gewesen. Aber der gefährdete und schwere Posten fordert meine Treue. Ich werde in Erlangen nun erst recht Tübinger sein und nie verleugnen, was ich bei Ihnen gelernt habe.“ (NLA K 11b)
In diesem Brief wird sehr deutlich, wie Althaus seine Erlanger Fakultät sah und seine Rolle in ihr definierte. Auch für ihn war Elert, der strenge Lutheraner, eine zentrale Figur der lutherischen Fakultät, aber gerade darum bestimmte Althaus seine eigene Rolle als „Tübinger“ in Erlangen. Seine lutherische Offenheit und Ablehnung konfessionalistischer Enge wurde hier formuliert. Er sah sich, wie er es Schlatter gegenüber an anderer Stelle einmal ausgedrückt hatte, als „Vermittlungstheologen“, als „eine Kreuzung von Lutheraner und Schlatter-Schüler“. (Brief vom 1. 2. 1928, NLA K 11b). Die kirchlichen Erwartungen und Positionierungen, die man mit Althaus verband, wurden auch deutlich in einem persönlichen Brief vom 9. 9. 1930, in dem Kirchenpräsident Wurm zwar Verständnis für die Absage von Althaus zum Ausdruck brachte, zugleich aber auch seine ursprünglichen Hoffnungen anklingen ließ, wenn er hinzufügte: „auch wenn es mir schmerzlich ist besonders im Blick auf unsere theologische Jugend, die Ihre Führung so gut hätte brauchen können. Der ,Barthianismus‘, der sich neuerdings durch unverfrorenes Auftreten in kirchlichen Fragen und durch arge Gleichgültigkeit gegenüber den Gegenwartsaufgaben des Pfarramts bemerklich macht, kann nicht von der idealistischen, sondern nur von der reformatorischen Position aus wirksam bekämpft werden oder – will ich lieber sagen – zurechtgerückt werden.“ (NLA K 11b) Auch wenn Paul Althaus mit nachvollziehbaren Gründen die Rufe nach 150
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Leipzig, Halle und Tübingen ablehnte, sie demonstrierten sein beachtliches wissenschaftliches Renommee und zugleich seine Stellung innerhalb der theologischen Fachwelt. Alle diese Fakultäten rangierten gemessen an Studentenzahlen – traditionell und aktuell – vor Erlangen, so daß ein Ruf dorthin als weiterer akademischer Aufstieg gewertet werden konnte – wie seinerzeit der von Rostock nach Erlangen. Vor allem aber ist festzuhalten, dass diese Berufungen auch „richtungspolitisch“ passten: es ging den berufenden Fakultäten um Verstärkung eines bestimmten theologischen Lagers, einer theologischen Richtung, die die kirchliche Funktion und Bindung der Theologie ernst nahm, sich zur lutherischen Tradition bekannte und zusätzlich der Erweckungsbewegung nahe stand. Für den Leipziger Lehrstuhl seines stets kirchlich orientierten, frommen Vaters, dem er 1925 folgen sollte, war diese Tradition und Ausrichtung bestimmend, zumal Leipzig damals als das „Centrum“ des Luthertums angesehen wurde. Die sächsische Landeskirche war seinerzeit die bei weitem größte lutherische Landeskirche in Deutschland. Halle war durch nicht minder dezidiert lutherische Traditionen – in ihr lebte ja Luthers Universität Wittenberg fort – und zugleich durch Pietismus und Erweckungsbewegung – Franckesche Stiftungen – geprägt. Darin stand ihr die Theologische Fakultät in Tübingen nahe, in der zwar positive und liberale Theologen nebeneinander lehrten, aber eine starke biblisch-kirchliche Orientierung – wie in Halle – als gemeinsames Band in der Fakultät wirkte. Althaus sollte ganz offensichtlich diese Ausrichtung in den Fakultäten verstärken und akzentuieren. Das entsprach im Übrigen auch seinem Selbstverständnis: im Vorwort seiner Theologischen Aufsätze bekannte er sich 1929 ausdrücklich als „Erben der biblizistischen und lutherischen Theologie“.32 In diese Perspektive fügte sich im Übrigen auch die nicht erfolgte Berufung nach Berlin voll ein, denn die Nachfolge von Reinhold Seeberg galt genau dieser Tradition. Man kann ferner noch verstärkend ergänzen, dass schon 1920/21 Althaus in Münster für die Nachfolge von Karl Heim, der nach Tübingen gegangen war, auf dem ersten Listenplatz genannt war, wobei es der Fakultät um „volkskirchliche Erneuerung“ ging.33 Auch bei dieser Fakultätsentscheidung wird man darauf hinweisen dürfen, dass Althaus – geprägt durch die Hermannsburger Erweckungsbewegung – auf Grund seiner lebendigen Beziehungen zur Erweckungsbewegung des Minden-Ravensberger Landes und den aus ihr hervorgegangenen von Bodelschwinghschen Anstalten richtungspolitisch sehr gut in diese Prägung der westfälischen Provinzialkirche passte. Mit Karl Heim verband Althaus überdies ein starkes Engagement in der DCSV, die gemeinsame Herkunft aus pietistischen Pfarrhäusern und die Nähe zu Adolf Schlatter. Das preußische Ministerium berief damals vom dritten Platz den Elsässer Georg Wehrung nach Münster, der den richtungspolitischen Interessen der Fakultät ebenfalls entsprach und als Nicht32 P.A., 1929 (1), S. III. 33 Vgl. Manfred Jacobs, 1991, S. 47 f. und 57.
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ordinarius für das Ministerium „billiger“ war. Die Nähe zwischen Wehrung und Althaus zeigte sich auch darin, dass Wehrung im Herausgebergremium der von Stange, Hirsch und Althaus initiierten lutherisch akzentuierten Zeitschrift für systematische Theologie mitwirkte und 1931 den von Althaus abgelehnten Ruf auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie in Tübingen erhielt und annahm. Paul Althaus hatte – so darf man diese Berufungsgeschichten zusammenfassen – theologisch und kirchlich Profil gewonnen und sich durch zahlreiche Veröffentlichungen qualifiziert. Neben seiner intensiven Vortragstätigkeit auf Pfarrkonferenzen und kirchlichen Veranstaltungen, die sich in vielen Aufsätzen einschlägiger Zeitschriften niedergeschlagen hatte, konnte er sich weiterhin im Bereich der Wissenschaft bis in die frühen 30-er Jahre hinein nicht nur mit gewichtigen Grundsatzartikeln – vor allem auch zur Theologie Martin Luthers – in der Zeitschrift für systematische Theologie und durch die dritte und vierte – jeweils stark erweiterte – Auflage seiner Studie über Staatsgedanke und Reich Gottes profilieren. Auch seine wichtigste theologische Arbeit über „Die letzten Dinge“ erschien 1926 stark erweitert schon in dritter Auflage, der dann 1933 die vierte erneut überarbeitete und erweiterte Auflage folgte. Zusätzliches Gewicht errang er Ende der 20-er Jahre durch seine weit verbreiteten Lehrbücher zum Grundriss der Dogmatik und Ethik34. Diese Werke entstanden aus seinen regelmäßigen Vorlesungen und verdankten sich dem intensiven Kontakt mit seinen Studenten. Sie bestachen durch seine große Gabe zu klarer Gedankenführung und Formulierung sowie abgewogener Positionsbestimmung und fairer Auseinandersetzung mit Gegenpositionen, was diesen – vom Umfang her sehr knappen und konzentrierten – Lehrbüchern mehrfache Neuauflagen verschaffte und sie bis in die 60-er Jahre hinein zur beliebten Lektüre bei der Examensvorbereitung theologischer Prüfungskandidaten machte.
34 P.A., 1928 (2) und 1931 sowie 1929 (3) und 1932 (3).
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5. Der Professor und der Patriot Paul Althaus. Theologische Wissenschaft und politisch-soziale Überzeugungen in ihren wechselseitigen Begrenzungen in der Spätphase der Weimarer Republik Die Berufungsgeschichten in den späten 20-er Jahren lassen zwar die Stellung von Paul Althaus und sein Ansehen in Wissenschaft und Kirche erkennen, machen aber nicht hinreichend deutlich, welche theologisch-wissenschaftlichen Schwerpunkte und Positionierungen der Systematikprofessor Althaus im Feld der theologischen Diskussionen seiner Zeit vertrat und wie sich diese theologischen Konzepte und Erkenntnisse in jenen Jahren zu dem Politik- und Staatsverständnis, den historisch-politischen Prägungen und politisch-sozialen Vorstellungen des pietistischen Patrioten Althaus verhielten. Stellte die Theologie Kriterien bereit für die Verarbeitung der so umwälzenden Vorgänge seit 1914 oder wurde sie von den gesellschaftlichen und politischen Überzeugungen des Zeitgenossen überformt? Diesen Fragen konkret für den Zeitraum noch vor der nationalsozialistischen Machtergreifung nachzugehen, ist der Zweck dieses Kapitels, das zugleich die Voraussetzungen schaffen soll, um das Verhalten von Althaus in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, vor allem in deren Frühphase hinreichend verständlich zu machen.
5.1 Paul Althaus’ Position in der Theologie der 20-er und frühen 30-er Jahre – dargestellt vor allem an seinem Briefwechsel mit Rudolf Bultmann, Emil Brunner und Karl Barth Versucht man Paul Althaus in der theologisch-wissenschaftlichen Diskussion der 20-er Jahre inhaltlich näher zu verankern, dann gilt es, sich zunächst seiner „erwecklichen“ Herkunft bewusst zu werden. Althaus entstammte der gegen die liberale Vorkriegs-Theologie gerichteten „positiven“ Theologie mit ihren kirchlichen Bindungen und häufig auch pietistischen Wurzeln. Sein Großvater war Superintendent in Fallersleben und hatte enge Beziehungen zu Ludwig Harms, dem Prediger der niedersächsischen Erweckungsbewegung und Gründer der Hermannsburger Mission. Bei deren Eröffnung hielt der Fallerslebener Superintendent die Festpredigt. Einer seiner Söhne ging als Mis153
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sionar nach Ostafrika. Sein Sohn Paul Althaus, der Ältere, verkörperte dieses Erbe der Hermannsburger Erweckungsbewegung während seines ganzen Lebens. Er hatte bei dem Greifswalder Theologen Hermann Cremer promoviert, welcher seinerseits einem pietistisch geprägten Pfarrhaus im westfälischen Unna, aus dem Umfeld der Erweckungsbewegung des Minden-Ravensberger Landes entstammte und sein Leben lang gute Kontakte zu Friedrich von Bodelschwingh nach Bethel pflegte. Die Berufung auf eine Professur nach Göttingen verdankte Paul Althaus der Ältere dem Interesse der Hannoverschen Kirchenleitung, durch ihn ein Gegengewicht gegen die in der Göttinger Theologischen Fakultät herrschende religionsgeschichtliche Schule zu schaffen. Ganz bewusst bestellte ihn die Kirchenleitung auch zum Universitätsprediger. In diesem Amt entfaltete er eine große Wirkung auf die Hannoversche Pfarrerschaft. Dass er 1903 einen Ruf nach Greifswald zur Nachfolge von Hermann Cremer erhielt, unterstreicht seine kirchlich-theologische Ausrichtung. Sein Sohn, Paul Althaus der Jüngere, bestätigte in einem eindrucksvollen Brief zum 60. Geburtstag seines Vaters, dass dieser sein großes Vorbild als akademischer Lehrer und als Seelsorger sei1. Nicht weniger intensiv war seine Prägung durch Adolf Schlatter. Dieser aus der reformierten Tradition der Schweiz stammende, biblisch zentrierte und dem Pietismus nahestehende Theologe war ebenfalls außerordentlich stark kirchlich orientiert, vertrat eine sehr eigenständige neutestamentliche Theologie und hatte enge Beziehungen zur lutherisch geprägten norddeutschen Erweckungsbewegung. In seiner Greifswalder Zeit wirkte er in engster Kooperation mit Cremer. In Bethel gründete er mit Cremer und mit Friedrich von Bodelschwingh die „Theologischen Wochen“. Auch Althaus hatte lebenslang sehr enge Kontakte nach Bethel. Schon 1909 hatte er dort einen Besuch gemacht. Vom Tod des Anstaltsgründers „Vater Bodelschwingh“ war er „tief bewegt“.2 Die Herkunft aus der Erweckungsbewegung mit ihrer bei aller lutherischen Prägung gleichzeitigen Offenheit, da es – wie man an Schlatter erkennen kann – auch reformierte Varianten der Erweckungsbewegung gab, ist darum ein ganz wesentliches Element, um nicht zu sagen: das Fundament, von dem aus Theologie und Wirksamkeit von Althaus sich erst richtig erschließen lassen. Trotz oder gerade wegen dieser intensiven pietistisch-kirchlichen Bindungen, die das Leben von Paul Althaus bestimmten, versäumte es der junge Theologe nicht, sich intensiv mit der religionsgeschichtlichen Schule auseinanderzusetzen. Ihre Methoden adaptierte er weitgehend. In den Berichten des jungen Privatdozenten aus Göttingen an seine Eltern lesen wir mehrfach von interessanten, ausführlichen Gesprächen mit Wilhelm Bousset, einem der führenden Köpfe dieser Forschungsrichtung. Sein erster theologischer Auf1 Brief vom 24. 10. 1921, abgedruckt in: Gotthard Jasper (Hg.), 2010, S. 165 ff., vgl. auch oben S. 30 f. und 118 f. 2 So in einem Brief an seinen Bruder vom 5. 4. 1910 NLA K 2, 1 f.
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satz nach der Habilitation aus dem Jahr 1915 war eine instruktive Auseinandersetzung mit Bousset. An dem relevanten Thema der Christologie versuchte Althaus, die Thesen von Bousset mit dessen Methoden zu relativieren.3 Das Thema der Christologie beschäftigte ihn sein Leben lang, später insbesondere in der Auseinandersetzung mit Karl Barth und Rudolf Bultmann. Mit fast allen Vertretern der jüngeren Theologengeneration teilte Althaus die Ablehnung des liberalen Kulturprotestantismus, der sich im VorkriegsDeutschland insbesondere mit den Namen Adolf v. Harnack und Ernst Troeltsch und ihrem religionsgeschichtlich akzentuierten Verständnis von theologischer Wissenschaft verband. Die optimistische Grundstimmung der bürgerlich-christlichen Vorstellungswelt mit ihren innerweltlichen Fortschrittshoffnungen zerbrach in der Katastrophe des Ersten Weltkrieges und fand in der Generation der jungen Theologen nach 1918 eine tiefgehende, allseits geteilte Ablehnung. Trotz der gemeinsamen Frontstellung gliederte sich diese junge Theologengeneration – fast alle waren zwischen 1880 und 1890 geboren – allerdings in mehrere, klar unterscheidbare Lager4 : Da war zunächst die Gruppe der „dialektischen Theologen“, geführt von Karl Barth, dem Schweizer reformierten Systematiker, begleitet von Emil Brunner und Friedrich Gogarten und anfangs auch von Rudolf Bultmann. Barth hatte mit der 2. Auflage seines Römerbrief-Kommentars Anfang der 20-er Jahre eine neue christozentrisch begründete „Wort-Gottes-Theologie“ proklamiert, die in den biblischen Texten das eine Wort Gottes suchte und von historischkritischer Textanalyse sich nicht viel erwartete. Ab Mitte der 20-er Jahre setzte sich Rudolf Bultmann von den Positionen der dialektischen Theologie zunehmend ab, um später mit seinem sich Ende der 20-er Jahre bereits andeutenden Programm der Entmythologisierung als Existentialtheologe eine eigene profilierte Position aufzubauen. Er wusste sich der Tradition der religionsgeschichtlichen Schule dankbar verpflichtet, auch wenn er deutlich über sie hinausging. Neben den Wortführern Barth und Bultmann und ihren Anhängern ist als dritte Gruppe der Kreis der Religiösen Sozialisten als theologische Aufbruchsbewegung zu nennen. In den 20-er Jahren gaben hier vor allem die Theologen Paul Tillich, Georg Wünsch und Günther Dehn die Themen der Diskussion vor und erwiesen sich als Kritiker des konservativen Luthertums, dem sie innerweltlichen Passivismus vorwarfen, im Sozialismus dagegen einen Ansatz erkannten, das Reich Gottes auf Erden zu bauen. Als vierte Gruppe werden gemeinhin die Vertreter der „Luther-Renaissance“ und das „Jungluthertum“ genannt. Sie brachen mit der im Vorkriegs-Deutschland durch Troeltsch formulierten und zur Herrschaft gebrachten These, dass Luther mit seiner theologischen Problemstellung ins Mittelalter gehöre. 3 Vgl. oben S. 60 f. 4 Vgl. zum folgenden statt vieler die gelungene zusammenfassende Darstellung von H. Fischer, 2002.
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Durch intensive Studien vor allem zum jungen Luther, zu seinen in diesen Jahren erstmals edierten frühen Vorlesungen und durch eine Profilierung der lutherischen Theologie in ihrer Aktualität für das 20. Jahrhundert wurden in der Luther-Forschung und Luther-Rezeption wichtige neue Akzente gesetzt. Führend und Schule bildend war hier der schon ältere Kirchenhistoriker Karl Holl – geboren 1866 -, der schon 1926 verstarb. Althaus und sein gleichaltriger Göttinger Freund, der Kirchenhistoriker Emanuel Hirsch, waren nach Holl die zentralen Figuren in diesem theologischen Lager der Luther-Renaissance, in der vielfach sowohl obrigkeitsstaatliche wie mancherlei nationale Töne mit anklangen, da Luther häufig – insbesondere während des Ersten Weltkrieges – vor allem als Deutscher interpretiert wurde. Diese nationalen Töne verbanden sich oft mit einem dezidierten Bekenntnis zu dem gottgesetzten Amt der politischen Führung, das unabhängig von den Stimmungen der Untertanen seinen göttlichen Auftrag zu erfüllen hätte. In den nach dem Krieg aktuellen Kontroversen um Republik und Monarchie führte diese Position häufig zur Ablehnung der Demokratie, zumal diese als westlich-rationalistisch gedacht und durch die Unbegrenztheit des Souveräns bestimmt wurde, während der „deutsche Staatsgedanke“ vom durch obrigkeitliche Führung geeinten Volk ausgehe, das Amt der Obrigkeit jedoch durch den göttlichen Auftrag, für Frieden und Recht zu sorgen, definiert wurde und dadurch seine inhaltliche Begrenzung erfuhr. Schon während des Ersten Weltkrieges, im Reformationsjubiläumsjahr 1917, hatte Althaus in Lodz die nationalen Töne als spezifisch lutherisches Erbe für die Deutschen deutlich anklingen lassen. Allerdings war er sich schon damals durchaus bewusst und betonte es auch, dass Luther nicht auf sein Deutschtum reduziert werden dürfe.5 Mit vielen Veröffentlichungen profilierte er sich während der 20-er Jahre als Luther-Forscher, politisch bedeutsam insbesondere durch seinen Aufsatz über „Luther und der Bauernkrieg“, der nach 1945 noch mehrfach ediert wurde.6 Die sehr differenzierte und nicht unkritische Darstellung von Luthers theologischer und politischer Haltung im Jahr 1525 macht in Zustimmung und Kritik zugleich die politische Ethik von Althaus in den 20-er Jahren greifbar : seine Zustimmung zu Luthers Ablehnung jedes „religiös-eschatologischen Fanatismus“ lässt seine Ablehnung des religiösen Sozialismus begründen, seine Einsicht in die Notwendigkeit standesorientierter Interessenvertretung – Gewerkschafter als „Amtsträger“ – führt zur Kritik an Luthers Forderung nach bedingungslosem Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, aber auch sein Festhalten an der Notwendigkeit einer echten Obrigkeit, eines selbstverantwortlichen Staates über den Parteien stützt sich hier auf Luthers Haltung von 1525. All seine Luther-Aufsätze fasste Althaus nach seiner Emeritierung in den 5 Vgl. oben S. 79 f. 6 P.A., 1925, nach 1945 als Separatdruck wiederaufgelegt in der Wiss. Buchgesellschaft 1952 und 1958.
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Büchern über „Die Theologie Martin Luthers“ (1962, 61983) und „Die Ethik Martin Luthers“ (1965) mit souveräner Konzentration knapp zusammen. Sein Profil als Luther-Forscher wurde auch durch den Umstand unterstrichen, dass er 1926 in Nachfolge Holls zum Präsidenten der Luther-Gesellschaft gewählt wurde und dieses Amt bis 1964 ausübte. Rudolf Bultmann schätzte Paul Althaus als Luther-Forscher sehr hoch ein. Mit handgeschriebenem Brief vom 21. Februar 1966 – drei Monate vor Althaus’ Tod – bedankte er sich für die „Ethik Martin Luthers“. Mit dieser Gabe habe ihm Althaus „eine große Freude“ gemacht, zumal ihn schon die LutherAufsätze, die er ihm früher gesandt hatte, inhaltlich überzeugt hätten. „Und wenn wir auch, was das Thema Christologie betrifft, nicht gerade einig sind (was übrigens nicht das Gewicht Ihrer an mich gerichteten Fragen betrifft), so möchte ich doch meinen, daß wir einig sein können, was das Thema der Ethik Luthers betrifft. Diese Einigkeit braucht für Sie freilich nicht viel zu bedeuten, da ich ja kein Fachmann bin, aber ich darf Sie doch versichern, daß ich mich auf die Lektüre besonders freue.“7 Dieser aufschlussreiche Dankbrief ist das letzte Dokument einer sehr kollegial freundschaftlichen, jahrzehntelangen Korrespondenz, die 1929 begann. Angesichts der theologischen Fronten und ihrer allgemeinen Wahrnehmung überrascht sie allein schon durch ihre Existenz außerordentlich. Sie enthält eine intensive kontroverse Diskussion vor allem aus der Frühphase der Entmythologisierungs-Theologie von Rudolf Bultmann und überzeugt durch ihre menschliche Wärme und Offenheit. Zugleich dokumentiert dieser Briefwechsel den zweiten Schwerpunkt der theologischen Arbeit von Althaus, nämlich seine Forschungen zur Christologie. Vor allem aber lässt sich in diesen Briefen zusammen mit den Briefwechseln zwischen Althaus und Emil Brunner sowie Althaus und Karl Barth, die alle bisher unbekannt sind8, in besonders eindrucksvoller Weise zeigen, wie sich Althaus in der Theologie der 20-er und frühen 30-er Jahre positionierte und wie er wahrgenommen wurde. Die Dimensionen des 1929 einsetzenden Briefwechsels mit Bultmann überraschen besonders, wenn man zur Kenntnis nimmt, welche negative Einschätzung Althaus durch Bultmann in den Jahren zuvor erfuhr. In den Briefen Bultmanns an Barth und Gogarten ist dieses eindrucksvoll dokumentiert. Als man 1928 bei dem Projekt der Neuherausgabe der Theologischen Rundschau in Marburg den möglichen Mitarbeiterkreis diskutierte, war es Bultmann, der durchsetzte, dass „die positive Rechte, die sich etwa in Reinhold Seeberg und Althaus charakteristisch verkörpert“ ausgeschlossen würde, „weil sie in ihrer theologischen Arbeit Sauberkeit und Reinheit vermissen läßt.“9 7 NLA K 10. Der Brief ist abgedruckt in: M. Dreher / G. Jasper (Hg.), 2012, S. 54. 8 Eine Edition ist geplant. 9 Aus dem Protokoll der Gründungsbesprechung vom 28. 1. 1928 zitiert bei H.G. Göckeritz (Hg.), 2002, S. 121, Anm. 3.
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Die Gruppenbildung, die Bultmann hier vornimmt, ist außerordentlich bezeichnend. Reinhold Seeberg (1859 – 1935) war seit 1898 Professor für Systematische Theologie in Berlin. Er vertrat den Lehrstuhl, der auf Druck des Evangelischen Oberkirchenrates aus Anlass des von dem liberalen Theologen Adolf von Harnack ausgelösten „Apostolikum-Streites“ errichtet worden war, um in der Berliner Fakultät ein positiv kirchlich orientiertes Gegengewicht gegen die liberale Theologie zu schaffen. Als erster Lehrstuhlinhaber wurde 1893 Adolf Schlatter berufen. Nachdem Schlatter 1898 nach Tübingen gewechselt war, folgte ihm Reinhold Seeberg aus Erlangen. Als konservativer Gegenpol gegen Harnack vertrat er die modern-positive Richtung in der Theologie, engagierte sich auf sozialpolitischem Gebiet und galt als kirchlich-orientierter Lutheraner, der sich politisch im konservativen Lager positioniert hatte. Dass Bultmann hier Paul Althaus mit Reinhold Seeberg, einem prominenten Vertreter der älteren positiven Theologengeneration, in einem Atemzug nannte, ist bemerkenswert, weil sich darin eine recht undifferenzierte und einseitige, aber zugleich nicht zufällige Außenwahrnehmung ausdrückte. Zweifellos stammte Althaus, geprägt durch seinen Vater, aus der positiven Theologie und übernahm von daher eine Gegenposition gegen die liberale Theologie und die aus ihr hervorgegangene religionsgeschichtliche Schule, der Bultmann entstammte. Zugleich aber hatte er deren Methoden adaptiert, was Bultmann nicht hinderte, ihn undifferenziert der alten positiven Schule zuzurechnen, wobei er noch darauf verweisen konnte, dass Althaus bei der Nachfolge von Seeberg ernsthaft im Gespräch war.10 Bultmann und Althaus waren sich offensichtlich nur einmal begegnet, als Althaus am 10. Januar 1925 in Marburg auf Einladung der Fakultät einen Vortrag über „Das Problem der Kirche im Protestantismus“ gehalten hatte. Über diesen Vortrag berichtete Althaus seinen Eltern am 15. Januar 1925 auf einer Postkarte: „Der Vortragsabend (am 10.) war stürmisch. Tillich, Bultmann und von Soden redeten in der Debatte. Es ging ziemlich unerquicklich her. Nachher saß ich bei Heiler [Theologie-Professor in Marburg] noch mit einem großen Teil der Fakultät zusammen und Hermelink [Theologie-Professor in Marburg] stellte die kirchengeschichtliche Stunde fest, daß ein Rostocker Theologe in Marburg sitze und (wie ich hinzufügte) lebendig nach Hause komme.“ (NLA K 4)
Bultmann äußerte sich in einem Brief an Gogarten eindeutig abwertend: „Von Althaus ist übrigens m. E. nichts zu erwarten. Sein Vortrag hier zeigte ihn als liberal gewordenen Orthodoxen, der nun alle unter einen Hut bringen will; seine Naivität war komisch.“11 Was Bultmann an dieser Stelle als Naivität bezeichnete, wird man wohl in einem Kontext zu seiner oben zitierten Aussage über die mangelnde wissenschaftliche Sauberkeit und Reinheit in Althaus’ theologischer Arbeit zu interpretieren haben. Wenn er ihn als „liberal gewordenen Orthodoxen“ cha10 Vgl. dazu oben S. 141 f. 11 H. G. Göckeritz (Hg.), 2002, S. 73 f.
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rakterisiert, dann steckt dahinter möglicherweise auch der Vorwurf der populistischen Anpassung an das jeweils Neueste. Althaus’ Gastgeber, Friedrich Heiler, resümierte in einem Brief vom 20. Januar 1925 seinen Eindruck von dem Vortrag: „Jedenfalls ist das Marburger Axiom: ,Extra theologiam dialecticam nulla salus‘ kräftig erschüttert worden. Bultmanns unfeine Attacke gegen Sie ist übrigens nicht nur von den Professoren, sondern auch von den Studenten und zwar eigentlichen Anhängern Bultmanns durchaus mißbilligt worden.“12 Tiefe Konfliktlinien innerhalb der Theologie jener Jahre werden hier spürbar. Dass in Marburg auch andere theologische Richtungen „auseinandergenommen“ wurden, war offensichtlich kein Einzelfall. Kurz nach Althaus hatte Emil Brunner, der Züricher Theologe, einen Vortrag in Marburg gehalten und war ähnlich behandelt worden. Er berichtete an Karl Barth über die „pöbelhaften Anrempelungen Heideggers und die scharfe Polemik Tillichs“, fügte jedoch hinzu, Althaus hätte man „in Marburg scheint’s noch rüpelhafter behandelt als mich“.13 Die eindeutig negative und abwertende Gruppenzuweisung, die Bultmann gegenüber Althaus in diesen Jahren äußerte, wurden durch einen gemeinsamen Auftritt auf einer Konferenz in Dänemark im Herbst 1930 entscheidend erschüttert und modifiziert. Die persönliche Begegnung der beiden so konträren Theologen läutete eine Wende ein. Jetzt begann ein zwar lockerer aber doch sehr offener und zugleich freundschaftlich getönter Briefwechsel, der wechselseitige Wertschätzung trotz wissenschaftlicher Kontroversen dokumentierte. Offensichtlich gewann Althaus seinen Marburger Kollegen, weil sich im fachlichen Gespräch seine persönliche Überzeugung und die Offenheit seines Fragens stets abspüren ließen. Zudem konnte erlebt werden, wie der glaubende Christ und der wissenschaftliche Theologe bei Althaus stets untrennbar voneinander argumentierten. Da auch für Bultmann „wissenschaftlicher Ernst und seelsorgerliches Bemühen“ nie getrennt waren – er engagierte sich stark in seiner lokalen Gemeinde – und er sich der notvollen Situation der Theologie ehrlicher stellte als Karl Barth, „der die Probleme weithin einfach niederwalzt“14, fand Althaus in seiner Art bei Bultmann offensichtlich ein positives Echo, zumal der Marburger Gelehrte selbst trotz oder gerade auch wegen eines sehr viel stringenteren Wissenschaftsverständnisses und einer nicht zu verkennenden Hochschätzung objektiver Wissenschaftlichkeit immer ein Fragender blieb und als solcher sich gemeinsamen Fragen auch öffnete. So beschrieb sein Schüler und Freund, der jüdische Philosoph Hans Jonas, Bultmanns Seminare als „unvergessliche Schule fragenden Den12 NLA K 10. 13 Brief vom 28. 1. 1925 abgedruckt in Karl Barth Gesamtausgabe V (Briefe), Bd. 5 (2000), S. 105 ff. Bultmann äußerte sich über Brunners Vortrag gegenüber Barth mit Brief vom 24. 1. 1925: „Sehr schwach, geradezu blamabel. Heidegger hat ihn fürchterlich mitgenommen.“ Vgl. ebd., Bd. 1 (2. Aufl. 1994), S. 40. 14 So die Beobachtung W. v. Loewenichs aus seiner Studienzeit bei den beiden Professoren, W. v. Loewenich, 1979, S. 223.
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kens“, in denen es „gründlich, aber niemals apodiktisch“ zuging und die „Ebenbürtigkeit“ der studentischen Partner vorausgesetzt war, „wie es nur große innere Sicherheit vermag und nur im Verein mit Demut auch tut.“15 Unverkennbar waren bei Bultmann die Diskussionsgrenzen im Sinne einer Schulbildung zwar enger gesteckt, wie sich aus einer drastischen Schilderung von Helmut Thielicke aus seiner Marburger Studienzeit ergibt; doch berichtet auch Tielicke über ein erlebtes Beispiel sehr offener und produktiv kontroverser Diskussion in Bultmanns Seminar.16 Dass Bultmann Grenzen zu setzen wusste, wird im Übrigen auch aus einer kurzen Bemerkung über Emanuel Hirsch deutlich. Zu dessen Büchern über die Synoptiker äußerte er sich in einem Brief an Althaus vom 26. 5. 1944: „Ich habe sie nicht gelesen und habe auch nicht vor, sie zu lesen … ich muß meine Zeit für Lektüre … zusammenhalten … Hirsch’s Tragik ist es, so scheint mir, daß er sich auf Dinge stürzt …, die andere ebenso gut oder besser machen können, und gerade das nicht treibt, was zu treiben sein eigentliches Charisma wäre.“17 Dieser Brief ist auch deshalb hier zitiert, weil er deutlich macht, wie Bultmann – das selbe lässt sich auch für Emil Brunner und Karl Barth nachweisen – als zeitgenössischer Kollege zwischen Hirsch und Althaus hinsichtlich ihrer theologischen Positionen und ihrer Gesprächsfähigkeit zu unterscheiden wusste, was angesichts der allzu oft undifferenzierten Gruppenbildung in der modernen Kirchengeschichtsschreibung beachtet werden sollte.18 So sehr Althaus sich als Luther-Forscher profiliert hatte und daher zu Recht der Luther-Renaissance zuzuordnen ist, so sehr ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass er sich von allen konfessionalistischen Tendenzen in seiner Erlanger Fakultät absetzte, sich als „Tübinger“ in Erlangen definierte und damit als Schlatter-Schüler bekannte. Schlatter jedoch galt und gilt bei der theologiegeschichtlichen Verortung und Gruppenzuweisung als den üblichen zeitgenössischen Schulen – Luther-Renaissance, Barth-Schule, BultmannSchule und Religiöse Sozialisten – nicht zuzuordnen, sondern als eigenständiger, methodologisch innovativer („Sehakt“) biblischer Theologe mit stark kirchlicher Ausrichtung.19 Für unseren Zusammenhang ist dabei außerordentlich bezeichnend, dass weder Bultmann noch Barth, die beide fast zur gleichen Zeit wie Althaus auch in Tübingen studierten, im Gegensatz zu Althaus mit dem akademischen Lehrer Schlatter etwas anzufangen wussten, ihn ablehnten und andere akademische Lehrer bevorzugten.20
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Hans Jonas, 1987, S. 48 f. H. Thielicke, 1984, S. 171 ff. NLA K 10, jetzt abgedruckt in M. Dreher / G. Jasper Hg.), 2012, S. XXX. Das gilt besonders für die auch im Begrifflichen ungute Gruppenbildung der „politischen Theologie“, die K. Scholder, 1977, S.124 ff. vornimmt und darin Althaus, Hirsch und Stapel mit anderen sehr undifferenziert zusammenfasst. 19 Vgl. dazu H. Fischer (2002), S. 56 f. 20 Barth berichtet über sein Studium in Tübingen (WS 1907/08): „hörte mit heftigster Renitenz
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Das Bekenntnis zu Schlatter ist für Althaus immer auch ein Bekenntnis zur kirchlichen Aufgabe der Theologie und ein Hinweis auf die Offenheit seines Luthertums. Diese Offenheit und Lernbereitschaft, die im Briefwechsel mit dem „liberalen“ Lutheraner Bultmann deutlich zu registrieren ist, lässt sich im Übrigen auch an dem 1925 beginnenden, bis ins hohe Alter nie abgebrochenen, sehr freundschaftlichen Briefwechsel zwischen Paul Althaus und dem reformierten Zürcher Theologen Emil Brunner konstatieren. Zugleich wirft dieser Briefwechsel ein bezeichnendes Licht auf die komplizierte Begegnung zwischen Karl Barth und Paul Althaus.21 Der Beginn des Briefwechsels zwischen Brunner und Althaus ist außerordentlich symptomatisch und belegt einmal mehr das Gewicht der persönlichen Begegnung auch im wissenschaftlichen Kontakt und bei der Führung wissenschaftlicher Kontroversen. Althaus hatte am 7. Januar 1925 in Zürich einen Vortrag gehalten und bei dieser Gelegenheit den neben Karl Barth prominenten Mitbegründer der Dialektischen Theologie, Emil Brunner, kennen gelernt, der – wie Barth – von den Religiösen Sozialisten geprägt war und an der Zürcher Theologischen Fakultät systematische und praktische Theologie vertrat. Trotz einer sehr unterschiedlichen theologischen Herkunft hatten der Reformierte Brunner und der Lutheraner Althaus im Umfeld des Vortrages sehr intensive und offensichtlich produktive Gespräche geführt und Gemeinsamkeiten entdeckt oder gespürt. Schon am 10. 1. 1925 schrieb Brunner an Althaus einen vier Seiten langen Brief, der ebenso ungewöhnlich wie aufschlussreich begann: „Mein lieber Freund! Es käme mir unrecht vor, wenn ich Sie nicht so anredete. Ich freue mich herzlich des Bandes, das sich zwischen uns geknüpft hat, um seiner persönlichen aber auch um seiner überpersönlichen Bedeutung willen. Ja, Sie haben Recht: Wie anders wäre die Kirchengeschichte herausgekommen, wenn die führenden Leute sich mehr gekannt hätten, wenn sie einander die Photos ihrer lieben Frauen und Kinder mitgebracht hätten.“
Brunner erläuterte anschließend – die Gesprächsthemen wieder aufnehmend – seine theologischen Positionen noch einmal, artikulierte konkrete Fragen und betonte vor allem die grundsätzliche Übereinstimmung, an der er sich freue. Die Dimensionen dieses gemeinsamen werden spürbar, wenn er Althaus auffordert, „Front gegen die jüngere Generation der Positiven …, diese Seeberg, Grützmacher, Schaeder“ Schlatter, mit Erstaunen Haering, mit Freude nur den Kirchenrechtler Fleiner“. Barth-Bultmann-Briefwechsel, 2. Aufl., S. 294, ähnliche Äußerungen von Bultmann, ebd., S. 302 ff. 21 Die Briefe Brunners und Barths an Althaus befinden sich im Original in NLA K 10, dort auch Kopien der Briefe von Althaus an Brunner und an Barth, die dankenswerter Weise aus dem Brunner-Nachlass bzw. aus dem Barth Archiv im Tausch gegen Kopien der Brunner- bzw. BarthBriefe an Althaus zur Verfügung gestellt wurden. Eine separate Edition dieser Briefwechsel wird vorbereitet. Soweit im Folgenden aus diesen Briefen zitiert wird, wird deshalb neben der Angabe des Datums im Text auf weitere Nachweise verzichtet.
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zu machen, denn diese „haben das schöne Erbe Kählers und Cremers verderbt und hier, lieber Freund, müssen wir gemeinsam … uns zur Wehr setzen … Wir sehen deutlich, was wir müssen. Ich spüre noch Ihren festen Handschlag. Er soll gelten. Fest lassen Sie uns zusammenhalten. Ich danke Gott dafür, daß er uns so zusammenführte. Es war mir eine rechte Glaubensstärkung. Von Herzen Ihr Emil Brunner.“
Offensichtlich hatte Althaus Brunner überzeugt durch die große Offenheit seines Suchens und Fragens und die gleichzeitig spürbare Einheit von theologischer Gedankenführung und persönlichem Glauben. Mit den Namen Martin Kähler und Hermann Cremer sprach der reformierte Schweizer Theologe im Übrigen zwei lutherische, miteinander befreundete Theologen der älteren Generation an, die beide in der Erweckungsbewegung wurzelnd in Halle bzw. Greifswald eine „biblische Theologie“ mit kirchlicher Orientierung vertraten und Schule bildeten. Wie wichtig und lebenslang gültig der Bezug auf diese pietistische Tradition der Erweckungsbewegung für Brunner war, spürt man noch, als er in einem Brief vom 4. 1. 1962 Althaus bat, seinen III. Band der Dogmatik zu rezensieren und dabei das Gemeinsame zwischen ihnen hervorzuheben: „Wir stehen beide zwischen = über dem Barthischen Gnostizismus und dem Bultmannschen Rationalismus und setzen die Linie Cremer-Kähler fort.“ In ihrer Christologie griffen Brunner wie Althaus auf Kählers berühmte Studie mit ihrer Kritik an der LebenJesu-Forschung zurück. Bei Hermann Cremer hatte der Vater von Althaus promoviert. Adolf Schlatter, bei dem der Sohn Althaus studierte, war Cremers engster Kollege in Greifswald gewesen – auch hier in Frömmigkeit und theologischem Ansatz die Grenzen zwischen Reformiertentum und Luthertum überspringend. Der gemeinsame Hintergrund der Erweckungsbewegung, der Brunner und Althaus verband, wird übrigens auch in einer „Fußnote“ der Postkarte von Althaus vom 24. 5. 1925 deutlich: Althaus fragt dort: „Was macht Bodelschwingh? Grüßen Sie ihn von mir.“ Friedrich von Bodelschwingh, von 1946 bis 1968 leitend in Bethel tätig, war der Enkel des Anstaltsgründers und Sohn von Wilhelm von Bodelschwingh. Dieser hatte – wie seine Brüder Gustav und Friedrich – bei Cremer in Greifswald studiert. Als Leiter des Diakonissenhauses Sarepta in Bethel bot er 1919 Althaus eine Dozentenstelle für die theologische Ausbildung der Diakonissen an, weil diese zunehmend als Gemeindeschwestern in der Jugendarbeit und im Religionsunterricht eingesetzt würden. Es überrascht darum nicht, dass sein Sohn Friedrich nach dem Abitur 1922 zunächst in Tübingen – bei Schlatter –, dann in Rostock – bei Althaus – studiert hatte und danach nach Zürich ging, um bei Emil Brunner zu hören. Darum konnte Althaus Brunner bitten, dem jungen Bodelschwingh einen Gruß auszurichten. Im Brief vom 5. 6. 1925 ergänzte er dann: „Das Urteil Bodelschwinghs über die Rostocker und Züricher theologische Luft hat mir recht wohl getan.“ Noch Jahrzehnte später, am 24. 3. 1965 berichtete Althaus an Brunner: „Vor acht Tagen war ich bei Friedrich von Bodelschwingh, der bei Ihnen und mir studiert hat. Wir haben Ihrer dankbar gedacht.“ Die Studienlaufbahn des Bodelschwingh-Enkels dokumentiert in ein162
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drucksvoller Weise, wie die Erweckungsbewegung die Grenzen zwischen Lutheranern und Reformierten nivellierte und unterstreicht darin eine wichtige Dimension der Gemeinsamkeiten zwischen Emil Brunner und Paul Althaus. Ein weiteres gemeinsames Band zwischen Brunner und Althaus wird deutlich, wenn man zur Kenntnis nimmt, wie stark beide in der christlichen Studentenbewegung mit ihrer ökumenischen Ausrichtung verankert waren. Als Student hatte Brunner 1909 an der Konferenz des Christlichen Studentenweltbundes in Oxford teilgenommen und dort deren bedeutenden Gründer John Mott kennen gelernt, den er auch im Verlauf seines Lebens noch mehrfach traf. In der Schweiz engagierte sich Brunner bei der Organisation und Durchführung der jährlich stattfindenden Aarauer Konferenzen, einer gesamtschweizerischen Veranstaltung der evangelischen Studentenschaft, von der viele Impulse ausgingen. Auf der Konferenz 1926 hielt Brunner einen Vortrag, der noch im gleichen Jahr vom Furche-Verlag als Heft 47 der „Stimmen aus der deutschen christlichen Studentenbewegung“ gedruckt wurde.22 1930 war Althaus einer der Hauptredner in Aarau. Von dieser schweizerischen Basis aus pflegte Brunner intensive Kontakte nach England und in die USA, die in der christlichen Studentenbewegung ihre Basis fanden. Auch in dem Konzept der missionierenden Theologie, das Brunner entwickelte, dokumentierte sich diese Ausrichtung, zumal die christliche Studentenbewegung eine ganz wesentliche Basis für die ökumenische Entwicklung darstellte.23 Althaus war, wie schon in den früheren Kapiteln berichtet, stark an der christlichen Studentenbewegung interessiert; er hatte schon im Jahre 1912 einen großen Aufsatz über die Geschichte und Bedeutung dieser internationalen Bewegung geschrieben und pflegte sowohl in Rostock als auch später in Erlangen intensive Kontakte zu den lokal organisierten Gruppen der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (DCSV). Sein Interesse an Mission und Ökumene gehört im Übrigen in genau diesen Zusammenhang; es ist darum nicht zufällig, dass Althaus 1927 an der deutschbritischen Theologen-Konferenz in Canterbury teilnahm. Brunner war ein intensiver und engagierter Prediger, der in den Gemeinden ein großes Echo fand. Dieses Predigtamt wurde auch dadurch fundiert, dass Brunners Lehrauftrag an der Universität neben der systematischen auch die praktische Theologie umfasste. Angesichts der Bedeutung, die auch Althaus seiner Predigttätigkeit zuwies und der Resonanz, die er dabei fand, wird in dieser Gemeinsamkeit eine weitere Dimension deutlich, die den spontanen Zusammenklang zwischen Brunner und Althaus trotz aller Unterschiede in Herkunft und Lebenslagen verständlich macht, zumal sich in dieser Orientierung zugleich die kirchliche Ausrichtung beider Theologieprofessoren dokumentierte. Althaus reagierte auf den ersten Brief von Brunner mit einer Postkarte vom 22 Vgl. Theologischen Literaturbericht Bd. 50 (1927), S. 43. 23 Vgl. dazu und zum Folgenden die Brunner-Biographie von Frank Jehle (2006), passim mit vielen Belegen.
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19. 1. 1925: „Mein lieber Freund! Von ganzem Herzen erwidere ich Ihre Anrede. Sie drückt wirklich das aus, was für mich der schönste Ertrag der Zürcher Tage ist. Ich wollte nur, wir könnten uns recht oft sehen und sprechen!“ Tastsächlich kam es nur noch zwei Mal zu persönlichen Begegnungen. Im Frühjahr 1930, als Althaus auf der Aarauer Konferenz sprach, traf er dort Brunner und kam anschließend noch zu ihm nach Zürich. 1953 besuchte er ihn in Zürich, was beide sehr genossen und woran sie sich später gerne erinnerten. Doch obwohl diese persönlichen Treffen nur sehr selten zustande kamen, blieben die brieflichen Beziehungen immer lebendig. Das offene Gespräch mit wechselseitiger Kritik bei gleichzeitig erfreuter Kenntnisnahme der grundsätzlichen Gemeinsamkeiten wurde schriftlich geführt. In Rezensionen oder Veröffentlichungen kritisierten sich die beiden Freunde auch öffentlich. Zugleich betonten sie ihre grundsätzliche Nähe und Übereinstimmung. In einer ungewöhnlich ausführlichen Rezension von Brunners christologischen Hauptwerk „Der Mittler“ von 1927 hob Althaus mit Nachdruck hervor, was für ihn „das Beglückendste bei dem Durcharbeiten des ,Mittlers‘ war : das Erlebnis der Nähe und Gemeinsamkeit auf Schritt und Tritt in den positiven und kritischen Gedanken oft bis in den Ausdruck hinein. Diese weitgehende Einheit ist weder aus Abhängigkeit herüber und hinüber noch aus gemeinsamer Schülerschaft bei einem Theologen des letzten Menschenalters zu erklären. Das erneute Studium der reformatorischen Theologie, die Wirkung der kritischen Erforschung des Neuen Testamentes, der Einfluss einiger Gedanken Kirkegaards (die längst vor den Dialektikern z. B. durch K. Heim in der deutschen Theologie lebendig wurden) – das Miteinander dieser drei Kräfte hat uns, unabhängig voneinander, theologisch bestimmt und eine Gemeinsamkeit dogmatischen Denkens geschaffen, die durchaus anti-liberal und doch keine Erneuerung der Orthodoxie ist.“24
Diese hier eindrucksvoll formulierte Zustimmung im Grundsätzlichen hinderte Althaus gleichwohl nicht, zahlreiche Rückfragen zu äußern und Einwände zu erheben.25 Brunner (Brief vom 26. 9. 1929) nahm die Rezension mit Dank und großer Freude zur Kenntnis, er sei sich „beim Lesen Ihrer Kritik wieder unserer theologischen – und ich darf wohl auch sagen – unserer Glaubensgemeinschaft bewußt geworden.“ Mit der Betonung der „Glaubensgemeinschaft“ ließ Brunner eine Dimension der Verbundenheit mit Althaus anklingen, deren Gewicht nicht überschätzt werden kann. Die Einheit von theologischer Wissenschaft und persönlichem Glauben hatten wir bei Althaus schon in anderem Zusammenhang konstatiert. Sie lässt sich auch bei Brunner als einen zentralen Zug seines Wirkens festmachen. Und wenn er sich auf Cremer und Kähler 24 ThLZ Bd. 54 (1929), Spalte 470 – 479, Zitat Sp. 474. 25 Es charakterisiert Karl Barths Neigung zu apodiktischen Urteilen, wenn er zu diesem Buch an Althaus schreibt: „Noch ein solches Buch und er ist erledigt“ (Brief vom 28. 1. 1928).
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bezog, dann galt auch diese Berufung demselben Zusammenhang von Wissenschaft und Glaube. Sein Engagement als Prediger und seine grundsätzliche Aufgabenbestimmung der Theologie als „missionarische Theologie“ zielte in die gleiche Richtung. Als Prediger suchten Althaus wie Brunner nach dem Anknüpfungspunkt, um ihre Hörer in ihrem Umfeld abzuholen, ihr ihnen gemeinsames Engagement für Ökumene und Mission erzeugte bei beiden ein Interesse an den nicht-christlichen Religionen. Alle diese Dimensionen der Gemeinsamkeit zwischen Brunner und Althaus sind ihrem Briefwechsel abzuspüren, wird man bei seiner Lektüre stets im Auge haben müssen und geben dieser Lektüre zugleich ihren besonderen Reiz. Etliche konkrete Einwände von Althaus gegen bestimmte Thesen an Brunners „Mittler“ akzeptierte dieser, äußerte aber zugleich massive Kritik gegen einige grundlegende Partien der „Leitsätze zur Ethik“ von Althaus, allerdings nicht ohne die Versicherung, „daß ich im Übrigen auch hier viel von Ihnen zu lernen habe“. Dieser reagierte darauf dankbar mit dem Hinweis, die kritisierten Passagen in seiner Ethik würden in der Vorlesung im kommenden Semester so nicht wiederholt werden. Er bekräftigte darüber hinaus, „ich brauche hier die kritische Communio“ (Postkarte vom 28. 9. 1929). Tatsächlich korrigierte Althaus die entsprechenden Abschnitte in dem 1931 erschienenen „Grundriß der Ethik“, der neuen Bearbeitung und Erweiterung der von Brunner kritisierten „Leitsätze“. Der in vieler Hinsicht äußerst aufschlussreiche, jahrzehntelange Briefwechsel zwischen Brunner und Althaus kann hier nicht umfassend dargestellt und gewürdigt werden. In den späteren Kapiteln wird in konkreten Zusammenhängen noch aus ihm zitiert und berichtet werden. Für die zweite Hälfte der Zwanzigerjahre ist jedoch schon das Faktum und die Färbung dieser Korrespondenz ein besonders signifikantes Beispiel, an dem sich das theologische und persönliche Glaubensprofil von Paul Althaus gerade in seiner Einheit und stets offenen Entwicklung deutlich ablesen lässt und damit schematische Zuweisungen zu bestimmten, fixierten Denkrichtungen modifiziert. Der Briefwechsel Brunner – Althaus wirft zudem ein besonderes Licht auf das Verhältnis von Paul Althaus zu Karl Barth. Brunner hatte kurz nach der Begegnung mit Althaus in Zürich an Barth gemeldet, dass er mit Althaus Freundschaft geschlossen habe. Althaus sei „sicher auf gutem Wege“. Am 10. März 1925 ergänzte er dann als Ergebnis seiner mehrstündigen Gespräche: „Paul Althaus kannst du nicht mehr zu deinen Gegnern zählen.“26 Die Offenheit und Lernbereitschaft von Althaus, die Brunner konstatierte, lässt sich nicht minder eindrucksvoll am Briefwechsel zwischen Karl Barth und Paul Althaus während der zweiten Hälfte der 20-er Jahre dokumentieren, zumal auch hier allein der Umstand von dessen Existenz ein hervorhebenswertes Faktum ist. Der Briefwechsel begann schon 1922, als Barth mit per26 Karl Barth Gesamtausgabe V (Briefe), Bd. 5 (2000), S. 106 f. und S. 112.
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sönlichem Brief seine sehr polemische Rezension der Schrift von Althaus über den Religiösen Sozialismus zu erläutern und zu mildern unternahm. Sein Göttinger Kollege Emanuel Hirsch, der Studienfreund von Althaus, hatte Barth offensichtlich zu diesem Schritt veranlasst. Althaus bedankte sich am 7. 5. 1922 für den gespürten Willen zu einer fruchtbaren Aussprache, benannte aber in seiner Antwort auch ihn störende polemische Formulierungen und hob dann die tiefer liegenden theologischen Differenzpunkte zwischen Barth und ihm hervor, insbesondere bei der „Paulus-Deutung“, da sehe er „bisher nur einen weiten Abstand zwischen uns“. Ausdrücklich begrüßte Althaus die von Barth artikulierte „Absicht zur Zwiesprache“ und bedauerte, dass er nicht in Göttingen sei, um dort unmittelbare persönliche Aussprache pflegen zu können. Es folgte anschließend jedoch eine zweijährige Pause. Erst im Mai 1924 schickte Althaus Barth den Sonderdruck seiner ausführlichen Auseinandersetzung mit der zweiten Auflage von Barths Römerbriefkommentar aus der Zeitschrift für systematische Theologie – über 40 Druckseiten. Er begleitete diese Sendung mit einer Postkarte, in der er sein langes Schweigen mit Arbeitsüberlastung begründete und seinen nach wie vor existierenden Wunsch nach persönlichen Gesprächen artikulierte. Beim Abfassen des Aufsatzes habe ihn „die Frage oft bedrängt, ob ich Sie, in dem was Sie eigentlich sagen wollen, schon verstanden habe“. Mögliche Missverständnisse könnten ja „für die weitere Aussprache förderlich“ sein. „Ein von mir aus ,letztes‘ Wort glaube ich in keiner Beziehung gesagt zu haben. Vielleicht lesen Sie zwischen den Zeilen, daß auch ich in theologischer Bewegung bin.“27 Diese Zeilen enthalten eine bezeichnende Selbstcharakterisierung des Theologen Paul Althaus, der auch in einer sehr dezidierten Kontroverse immer zur Selbstkritik fähig blieb, sich von allen apodiktischen Verurteilungen fernhielt und Gesprächsinteresse bekundete und Gesprächsfähigkeit bewies. Barth reagierte auf die Römerbrief-Rezension 1924 „mit Betrübnis“. Er anerkannte zwar, dass Althaus „gründliche und kompendiöse Arbeit“ geleistet habe, stellte aber dann fest, „daß ich, weil Sie auf mein eigentliches Anliegen nicht eingegangen sind, sondern nur meinen Apparat kritisiert haben, Mühe habe, zu Ihrem Vorhaben etwas anderes zu sagen als das paulinische lµ c´moito, zu deutsch: ,Sie haben an der falschen Glocke geläutet! Der Herr wohnt nebenan‘. Welch unerfreuliche Situation.“ Barth schlug dann noch vor, sie sollten vielleicht versuchen, ihre Kontroversen historisch auszutragen und schloss: „Einstweilen freundlicher Gruß. Bei irgendeinem Philippi werden wir uns wieder sehen. Ihr Karl Barth“ (Postkarte vom 30. 5. 1924).
Das angekündigte – „angedrohte!?“ – Wiedersehen in Philippi charakterisiert den drastisch polemischen Briefstil des literarisch gebildeten Karl Barth. Der 27 Ähnlich formulierte Althaus am 20. 9. 1926: „Ich sage das alles nur als Erwägungen, ebenso als Fragen für mich selber als an Sie.“
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Geist des ermordeten Cäsar drohte ja seinem Mörder Brutus das Wiedersehen in Philippi an, das sich dann in der dort verlorenen Schlacht gegen Marc Anton und Octavian realisierte und zum Selbstmord von Brutus führte. Der große kritische Aufsatz von Althaus erschien in diesem Kontext als hinterhältiger Mordanschlag, und Karl Barth hoffte auf eine Genugtuung gewährende, Althaus abstrafende „Schlacht von Philippi“. Auch wenn man hier einen erheblichen Schuss Ironie bei Barth unterstellen darf, für seinen durchaus selbstbewussten und oft auch selbstgerechten Diskussionsstil ist der Ausblick auf ein Wiedersehen bei Philippi durchaus bezeichnend. Althaus ließ sich nicht abschrecken, zumal ihm Emanuel Hirsch schon 1922 ein sehr facettenreiches Bild seines Göttinger Kollegen Barth gezeichnet hatte, das eindrucksvolle positive, aber eben auch erhebliche kritische Seiten schilderte.28 Anlässlich eines kurzen Göttinger Aufenthaltes besuchte darum Althaus Barth, um endlich seinem Bedürfnis nach persönlichem Gespräch nachzukommen. Zwar fand sich nur begrenzte Zeit für diese überraschende Begegnung, aber Barth zeigte sich hinterher beeindruckt. An Thurneysen berichtete er : „Ich habe heute Morgen Besuch von Althaus gehabt, mich gut, wenn auch sehr kurz mit ihm ausgesprochen und einen erfreulichen Eindruck von ihm gehabt. Er ist ein Gegner, den man gerne auch zum Freunde hätte und mit dem sich sehr gut reden läßt.“ Thurneysen kommentierte: „Daß Du mit Althaus in ein gutes Gespräch kamst, ist ein dankbar begrüßtes Freudenerlebnis auf dem sonst so wenig hellen Gebiete unserer Begegnung mit Gegnern.“ (17. 10. 1924)29
Für das Gesprächsbedürfnis und die Gesprächssituation der sich formierenden dialektischen Theologie sind diese Bemerkungen sehr aufschlussreich. Zugleich erleben wir hier – wie schon bei der Begegnung Althaus mit Bultmann und Althaus mit Brunner –, dass Althaus im unmittelbaren persönlichen Gespräch durch seine stets spürbare Offenheit und Fragebereitschaft und die nicht weniger erlebbare Identität von Glaube und Wissenschaft zu überzeugen wusste. Althaus vertiefte diesen Eindruck übrigens im September 1927 noch einmal, als er Barth nach terminlicher Absprache privat in Münster besuchte. Barth berichtete auch dieses Mal sehr unmittelbar an Thurneysen: „Seitdem hatten wir zwei seltsame Logierbesuche: Zuerst Althaus, ein … offener und ehrlicher Mann, mit dem ich mich gerne und gut unterhielt, ein Gegner, der zum Vermittler geworden ist, wie es solche wohl auch geben muß, wenn man auch die Sorge nicht los wird, daß man durch seine Kanäle nur allzu populär wird.“30 Althaus selbst bedankte sich bei Barth und dessen Frau am 17. 9. 1927 herzlich und gab dazu folgenden bezeichnenden Kommentar : „Ich bin von 28 Briefe vom Ende April und vom 7. 5. 1922 NLA K 11a. 29 Karl Barth Gesamtausgabe V (Briefe), Bd. 2, 2, S. 274 ff. und 279. 30 Ebd., S. 523.
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Münster geschieden in der Gewißheit, daß unser öffentliches Zusammengehen einen ernsthaften sachlichen Grund hat, so gewiß wir andererseits einander immer wieder einmal ärgern, enttäuschen, bei den jeweiligen Freunden kompromittieren werden! Mit herzlichen Grüßen Ihr P. Althaus“. Barth bestätigte am 19. 9. 1927: „Auch ich habe den Tag, den Sie mir geschenkt haben, in bester Erinnerung, obwohl die eigentlichen Gespräche wohl erst begonnen hätten, als Sie Ihren Stab weitersetzen mußten, um auf beiden Seiten des Geheimnisses der Bosheit sowohl als auch der wirklichen communio sanctorum ansichtig zu werden.“ Er berichtete dann weiter, er habe von Althaus’ Aufsätzen gleich den über das Volkstum und den über den Bauernkrieg gelesen „und darin alles gefunden, was mir bei Ihnen imponiert und zugleich unheimlich ist: die Fähigkeit nach allen Seiten offen zu sein und bewegt mitzugehen, die, von mir aus gesehen, dann doch auch die Fähigkeit ist, allzu vieles zu schlucken und gut zu heißen, als daß ich den ganz deutlichen Ton Ihrer eigenen Trompete immer hören würde … Sind Sie eigentlich über das Phänomen des Jahres 1525, neben allem, was zur Erklärung Luthers mit Fug zu sagen ist, vor Allem erschrocken. Das wären natürlich meine letzten Einstellungen … Aber vielleicht mute ich Ihnen auch damit zu viel zu. Es wird mir immer deutlicher, wie wenig wir alle aus unserer Haut heraus können, und es entspricht nur meiner … Lehre über die Heiligung, wenn ich Sie im Umkreis Ihrer Möglichkeiten ebenso gelten lasse, wie ich selber die justificatio forensis für die Meinigen und meinen Umkreis in Anspruch nehmen muß, was Bewegung und Belehrung innerhalb dieser Kreise nun gerade nicht ausschließt.“
Barth gab hier unmittelbar nach der persönlichen Begegnung eine lebendige Charakterisierung von Paul Althaus, ihm imponiert dessen Offenheit nach allen Seiten, aber er befürchtet auch, dass diese Offenheit ihn zugleich allzu vieles schlucken ließe und vor allem den ganz deutlichen Ton der eigenen Positionen nicht immer hörbar mache. Wenn in der heutigen Kritik Althaus oft als unentschiedener Vertreter eines „sowohl als auch“, ohne dezidierte eigene Standpunkte dargestellt wird, dann klingt dieses Urteil bei Barth durchaus an, aber es ist differenzierter und genauer, denn Barth verkannte nicht, dass Althaus eine eigene Trompete spiele, nur würde er diese gern deutlicher hören. Trotz aller Neigung zu pointierten Abstraktionen vermochte Barth doch auch sehr genau und differenziert zu sehen. Schon nach dem Besuch im Herbst 1924 hatte der Briefwechsel zwischen Barth und Althaus eine andere Tonlage bekommen. Aus der bislang praktizierten wechselseitigen Anrede „Sehr“ bzw. „Hochgeehrter Herr Kollege“ wurde jetzt: „Lieber Herr Kollege“. Der Briefwechsel intensivierte sich. Bis 1933 schrieb Althaus fast 50 Postkarten oder Briefe, Barth zwar deutlich weniger, dafür aber etwas öfter auch sehr lange Briefe. Die Themen wurden vielfältiger. Man berichtete sich über die Familie, tauschte Urteile über Kollegen aus, erörterte Ehrenpromotionen oder Berufungsangelegenheiten. Erfolgreich empfahl Althaus zum Beispiel 1931 Ernst Wolf, den er aus Rostock 168
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kannte, für den kirchenhistorischen Lehrstuhl in Bonn und schuf Barth damit einen markanten Unterstützer. Auch die jeweilige Situation in den eigenen Fakultäten wurde erörtert. Erstaunlich offen erwähnte Althaus wiederholt, wie sehr ihm der regelmäßige Dienst als Universitätsprediger fehle.31 Natürlich schickte man sich wechselseitig Sonderdrucke der eigenen Veröffentlichungen. Althaus sandte Barth auch seine Rostocker Predigten, wobei er hinzufügte, dass er sehr gezögert habe wegen der nationalen Tönung der Predigt zum 18. Januar 1923. Barth reagierte auf diese Sendung außerordentlich differenziert, sehr kritisch, aber auch zustimmend, wobei er die „nationalen Töne, Urteile und Ressentiments“ durchaus verspürt habe, aber gerne zurückstelle, weil sie „mit Theologie nichts zu tun haben“. (Brief vom 14. 6. 1925) Das „öffentliche Zusammengehen“ der beiden so konträren Theologen, von dem Althaus im September 1927 geschrieben hatte, wurde realisiert, als 1927 im Münchener Kaiserverlag die „Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus“ als eine neue wissenschaftliche Reihe gemeinsam von Paul Althaus, Karl Barth und Karl Heim angekündigt wurden und dann auch bald die ersten Bände erschienen. Die Initiative zu dieser Reihe war bereits 1926 von dem Verleger Albert Lempp und vor allem von Georg Merz ausgegangen. Merz, lutherischer Theologe in München, war mit Barth eng verbunden, galt als Vertreter der dialektischen Theologie und wirkte als Herausgeber von „Zwischen den Zeiten“, dem offiziellen Organ dieser theologischen Gruppierung. Als Lutheraner hatte Merz zugleich enge Kontakte zu Althaus. Eine tiefe kirchliche Bindung und das Interesse an innerer sowie äußerer Mission verband beide Theologen, zumal Merz sehr geprägt war durch seine Begegnung mit Hermann Bezzel, dem langjährigen Rektor der Diakonissenanstalt Neuendettelsau und dann von 1909 bis 1917 Präsidenten des Oberkonsistoriums in München und Leiter der bayerischen Landeskirche. Das Umfeld der Erweckungsbewegung war spürbar.32 Nicht zufällig ging Merz 1932 als Dozent an die „Theologische Schule“ nach Bethel, deren Leitung er 1936 übernahm.33 Auch Althaus war sein Leben lang Bodelschwingh und seinem Werk äußerst verbunden.
31 Z. B. im Brief vom 24. 7. 1926: „Schwer, wirklich schwer ist mir hier, dass ich nur einmal pro Semester auf die Kanzel komme … Ich selber kann auf die Dauer ohne Sonntagsdienst einfach nicht leben!! Im Wintersemester werde ich mein Gefängnis sprengen und auf die Altstädter Kanzel steigen. Bitte dieses alles nur für Sie …“ 32 Im Nachlass von Althaus finden sich aufschlussreiche Briefe von Georg Merz von 1926 – 1952. Wichtig vor allem ein Brief vom 30. 5. 1944, in dem sich Merz zu den pietistischen Traditionen in Erlangen, ihrer Bedeutung für Bezzel äußert und sein Verständnis der Theologie als Funktion der handelnden Kirche hervorhebt. (NLA K 11a). 33 Persönliche Anmerkung des Verfassers: Die Familie Merz wohnte in den ersten Jahren in Bethel in unmittelbarer Nachbarschaft zu meiner elterlichen Familie, meine Mutter und Frau Lina Merz freundeten sich sehr an, meine ältere Schwester spielte gemeinsam mit Johannes Merz, dem späteren Kreisdekan in Augsburg, im Sandkasten und Lina Merz wurde meine Patentante, als ich 1934 zur Welt gekommen war.
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Über das gemeinsame Editionsprojekt hatte Althaus schon 17. 9. 1926 seiner Mutter berichtet: In München „hatte ich eine Besprechung mit dem Verleger Christian Kaiser. Auf dessen Aufforderung werden Barth und ich gemeinsam eine Sammlung von Studien begründen, die in Sonderheit den jungen Lizenziaten den Druck ihrer Arbeiten ermöglichen soll, daneben aber auch Sachen von mir und Barth bringen wird. Das Ganze wird wohl ziemliches Aufsehen machen. Wir tun uns zusammen mit der ausdrücklichen öffentlichen Erklärung, daß wir verschiedene Wege gehen und unsere Freiheit wahren, aber gemeinsam durch dieses Unternehmen der Wissenschaft und dem Nachwuchs dienen wollen.“
Barth gegenüber freute sich Althaus „der neuen Gemeinschaft der Arbeit und Verantwortung mit Ihnen“ und fügte hinzu „wir werden uns ja die Freiheit gegenseitiger, auch öffentlicher, Kritik nicht nehmen lassen, im Gegenteil. Aber wir werden diese Beachtung und Kritik noch mehr als bisher als einen Vollzug der Gemeinschaft verstehen.“ (Brief vom 20. 9. 1926) Das von Althaus prognostizierte Aufsehen war offensichtlich größer, als er vorausgesehen hatte, vor allem, weil laute Zweifel geäußert wurden, ob er in dieser Verlags- und Herausgeberposition seine eigenständige Stellung werde behaupten können und nicht gleichsam „als rechter Flügelmann“ von den „Barthianern“ eingefangen würde. Besonders Stange äußerte massivste Kritik, die Barth sogar veranlassten, seinen Rücktritt von dem Projekt zu erklären. Althaus konnte ihn davon jedoch abhalten, zumal er die Aburteilung Barths durch Stange, der auch Hirsch nahestand, ausdrücklich nicht teile. Daraufhin blieb Barth, wie er am 5. 1. 1927 schrieb: „bei der Stange (trotz Stange)“. Althaus schlug allerdings vor, den Tübinger Theologen Karl Heim als dritten Mitherausgeber zu gewinnen. Heim vertrete zwischen Barth und ihm selbst eine eigenständige theologische Position und könne darum der Reihe ein insgesamt ausgewogeneres Gesicht verleihen.34 Dieser Vorschlag wurde dann von allen Beteiligten akzeptiert und erfolgreich umgesetzt. Tatsächlich erschienen dann in der Reihe Promotions- und Habilitationsschriften aus dem Schüler- und Bekanntenkreis der einzelnen Herausgeber. Sie war insofern sehr farbig, weil ausdrücklich festgelegt worden war, dass die Zustimmung eines Herausgebers für die Aufnahme in die Reihe genüge. Da außerdem vereinbart war, dass die Herausgeber selber auch in der Reihe publizieren sollten, um deren Gewicht zu steigern, ließ Althaus hier 1929 seine Schrift über communio sanctorum erscheinen. Barths Beitrag war seine Studie zu Anselm von Canterbury unter dem Titel fides quaerens intellectum. 1934 zog sich Barth von dem gemeinsamen Projekt zurück, nachdem er 34 Vgl. zu dem Verlagsprojekt den einschlägigen Briefwechsel zwischen Althaus und Barth, vor allem aus der Zeit vom Sept. 1926 bis Januar 1927 (NLA K10) und die Mappe Verlagskorrespondenz mit dem Kaiserverlag, die zahlreiche einschlägige Briefe des Verlegers Albert Lempp und von Georg Merz enthält. (NLA K 13 A,2).
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seinen Lehrstuhl in Bonn verloren hatte. Auch Heim und Althaus beendeten dann sogleich und gern ihre Aktivitäten, so dass die Reihe 1935 eingestellt wurde. Wenn sie auch nur relativ kurze Lebenszeit erreichte, so ist doch dieses gemeinsame Verlagsprojekt ein Dokument der offenen, noch nicht endgültig fixierten wissenschaftlichen Gesprächssituation der späten Zwanzigerjahre, an der Althaus zentral und engagiert Anteil nahm und an der Barth, wenn auch – wie die Quellen selbst in diesem Bereich belegen – sehr viel zurückhaltender, sich gleichwohl aktiv beteiligte. Natürlich wurde neben dem gemeinsamen Verlagsprojekt die interne wissenschaftliche Diskussion zwischen Althaus und Barth auch unmittelbar fortgesetzt. Althaus rezensierte schon 1925 instruktiv und kritisch einen Aufsatzband von Barth und 1926 dessen Arbeit über 1. Korinther 1, 1535. Hier warf Althaus seinem Münsteraner Kollegen einen „Fehlgriff“ vor und forderte: Wir müssen „mit höchster Sorgfalt wachen, daß wir nicht unsere Dogmatik, sondern den Apostel hören, daß wir nicht bei aller Freude an der ,Gleichzeitigkeit‘ den Abstand der Zeiten verwischen.“ Öffentlich äußerte sich Barth 1925 eher beiläufig zu Althaus in der Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“, dem Organ der dialektischen Theologie. Einmal lesen wir hier, wie Barth gegen einen üblen Kritiker seiner Theologie Paul Althaus als einen der Männer hervorhebt, die „bei aller Entschiedenheit auch ihrer polemischen Aussprache ihn an eine humane, nicht nur höfliche sondern Verständnis und Verständigung suchende Gegnerschaft gewöhnt hätten.“36 Diesem Ton sachbezogener Auseinandersetzung entsprach eine sehr ausführliche Anmerkung in einem Artikel von Barth über „Das Schriftprinzip der reformierten Kirche“, der im Sommer 1925 in „Zwischen den Zeiten“ erschien37. Barth setzte sich in dieser Fußnote mit einer These von Althaus auseinander, die sich kritisch gegen Barths „Theologie des Wortes“ richtete. Die Antikritik, die Barth dagegen jetzt in der Anmerkung vortrug, war außerordentlich offen formuliert und wies auf mögliche Verständigungsbrücken hin. Diese Reaktion entsprach auch dem Duktus der Kritik von Althaus, zumal dieser schon im Januar ein Vorexemplar seiner Rezension an Barth geschickt hatte mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass er den Text dieser Rezension schon im September 1924 – also vor ihrem persönlichen Gespräch in Göttingen – habe abliefern müssen. Auch Barth schickte an Althaus vorweg die Revisionsbögen des neuesten Heftes von „Zwischen den Zeiten“, in dem diese kritische Fußnote enthalten war „als kleine Entschädigung oder Abschlagszahlung“. Er werde dort „die ,kleine Abrechung‘ mit einem Ihrer Einwürfe (dieser war mir von Anfang an besonders interessant) ja gleich finden.“ Thurneysen gegenüber hatte Barth
35 Theologischer Literaturbericht Bd. 48 (1925), S. 3 – 5 und Bd. 49 (1926), S. 6. 36 Zwischen den Zeiten Bd. 3 (1925), S. 114. 37 Ebd., S. 327 f.
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schon am 30. 3. 1925 im Zusammenhang mit dem Aufsatz mitgeteilt, dass „auch Althaus ein vorläufiges Teil kriegen“ werde.38 Die hier als „Abschlagszahlung“ bezeichnete intensive Fußnote ließ die Erwartung wachsen, dass Barth noch ausführlicher auf die Grundsatzkritik von Althaus zum Römerbrief antworten würde, was er von sich aus auch einmal angedeutet hatte. Zu einer solchen direkten Antwort kam es jedoch zum Bedauern von Althaus nie. Er sähe selbst zwar zwischenzeitlich manches anders und würde gern die ihm – trotz aller Differenzen – neu bewusst gewordenen Gemeinsamkeiten mit Barth artikulieren, aber das setze voraus, dass Barth zunächst auf die Römerbriefkritik ausführlich in einem öffentlichen Beitrag eingegangen sei. Da dies nicht geschah, verzichtete Althaus darauf, im Jahre 1929 in seiner Aufsatzsammlung diesen Beitrag von 1924 erneut abzudrucken39. In der Tat fällt auf, dass sich Barth eher selten auf eine detaillierte wissenschaftliche Argumentation zur Verteidigung seiner eigenen Position – insbesondere nicht in wissenschaftlichen Publikationen – einließ, er artikulierte in den Briefen eher allgemein, dass er sich missverstanden fühle oder dass ihn die Argumente nicht überzeugt hätten. Die zitierte Passage aus der Karte von 30. 5. 192440 ist insofern typisch. Barth begründete Althaus gegenüber das Ausbleiben einer differenzierten Antwort auf dessen RömerbriefKritik mit dem Wunsch nicht „zur Zerstörung des gewissen fruchtbaren Nebels von Zustimmung und Ablehnung in der Mitte unserer Beziehungen“ verpflichtet zu werden (Brief vom 9. 6. 1925), was dieser positiv aufnahm (Postkarte vom 20. 6. 1925). Barths Anwürfe registrierte Althaus später zwar als „Purgatorium“ (Brief vom 4. 5. 1930), aber er grüßte Barth „durch den Nebel hindurch“ (Brief vom 18. 10. 1931), weil er erkannte, dass dieser Nebel, der für eine gewisse Unentschiedenheit stand, für Barth die Voraussetzung des gemeinsamen Gespräches war. Dennoch registrierte auch er tiefe Gegensätze, wenn er z. B. im Brief vom 31. 1. 1928 feststellte: „Bei Ihrer Christologie ist mir der Atem ziemlich ausgegangen.“ Er fand „bei Barth und vollends bei Bultmann einiges …, [was ihm] nicht geheuer“ war. „Barths oft etwas pöbelhaften Anmerkungen“ liebte er nicht (Briefe an Brunner von 15. 5. 1927 und Anfang Dez. 1930). Gleichwohl blieb der Kontakt bis zum Jahr 1933 aufrechterhalten und trotz aller Differenzen fruchtbar und lebendig. Besondere Farbe gewann der Briefwechsel durch Barths große Fähigkeit zu Bonmots und drastischen Vergleichen. Offensichtlich konnte er dabei unterstellen, dass Althaus so souverän und tolerant sei, dass durch solche Formulierungen nicht die Korrespondenz und das kollegiale Verhältnis insgesamt gefährdet würden. Dass Barth – bei aller respektvollen Kollegialität und 38 Karl Barth Gesamtausgabe V (Briefe), Bd. 2.2, S. 322 f. 39 Dazu wiederholte Bemerkungen in Briefen von Althaus an Barth aber auch an Brunner, ferner im Vorwort zu seinen Theologischen Aufsätzen I (1929), S. III f. 40 Vgl. oben S. 166.
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menschlichen Offenheit – zugleich immer ein etwas gespaltenes, distanziertes Verhältnis zu Althaus hatte, belegt schon der Umstand, dass er kurz nach der Begegnung mit Althaus 1924 seinem Freund Thurneysen von seinem „Spezialfreund Althaus“ berichtete und 1927 den Besuch von Althaus in Münster als einen „seltsamen Logierbesuch“ bezeichnete. Gerne benutzte Barth solche distanzierenden Charakterisierungen und versuchte, mit pointierenden Vergleichen bestimmte Seiten von Paul Althaus zu treffen, durch die er zugleich die Differenz zu sich selbst erkennbar machte. Schon in seiner Rezension des Althaus-Buches über den „Christlichen Sozialismus“ hatte Barth 1922 diesen aufgefordert, er solle „von der letzten Kanzeltreppenstufe, von der aus er uns jetzt noch zuredet, heruntersteigen und sich in ,getroster Verzweiflung‘ neben uns auf das Bänklein der armen Sünder setzen.“41 Scherzhaft und mit Sprachwitz nutzte Althaus 1926 die Mitteilung von Karl Barth, dass dieser zu reiten begonnen habe: „Was für schöne Zukunftsperspektiven ergeben sich durch diese unsere gemeinsame Bahn!“ Der damalige Vorwurf einer „Theologie des hohen Rosses“ werde wohl nicht mehr aufrechterhalten, werde ihn wohl „vor allen bösen Folgen der gehobenen Perspektive des Reiters bewahren.“ (Brief vom 20. 9. 1926) Barth liebte es, durch pointierte Vergleiche kirchlich-theologische aber auch politische Dimensionen prägnant auf eine Formel zu bringen, was noch an zwei Beispielen demonstriert sei. Althaus hatte ihm 1928 ein Exemplar der Biographie seines Vaters geschickt, die Barth – wie er betonte – mit Gewinn und Respekt gelesen hatte. Obwohl er aus einer ganz ähnlichen Welt „geprägter warmer Christlichkeit und Fleisch und Blut gewordener Theologie“ stamme, könne er diese „nicht mehr so unbedenklich“ darstellen, wie Althaus es tue, weil er selbst „gründlicher aus diesem Boden entwurzelt worden“ sei. Aufgrund der Lektüre der Biographie des Vaters durch den Sohn glaubte Barth „auch Sie … etwas besser zu verstehen“. In Zukunft wolle er sich darum die „gewisse, zwischen uns bestehende und sich erhebende Differenz daran klarmachen, daß Sie … in Ihrer Jugend so viel Harmonium haben spielen hören. Das mußte Ihren Geist in ganz bestimmter Weise beeinflussen.“ (Brief vom 25. 5. 1928) Paul Althaus nahm diesen Vergleich mit Humor : „Spaß gemacht haben mir Ihre Bemerkungen zum Harmonium“. Wenn es denn schon ein Vergleich sein solle, der „freilich immer die Gefahr der Verkürzung“ in sich berge, dann sei „an die Stelle des Harmoniums das lutherische Kirchenlied zu setzen – denn das Harmonium war demgegenüber wirklich zufällig – ich selber lebe viel mehr am Klavier als am Harmonium.“ (Brief vom 29. 5. 1928) Die Nutzung des Harmoniums in der Familie Althaus für die geistliche Musik insbesondere bei Hausandachten bestätigt jedoch in gewisser Weise die abkürzende Formulierung von Barth. Dieser erwiderte denn auch schon am nächsten Tage: „Nein, nein, ich meine schon das Harmonium. Auch das lutherische Kir41 Das Neue Werk, Bd. 4. (1922), S. 466.
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chenlied auf dem Harmonium! Das ist nun, wie Schlatter sagen würde, eine ,Beobachtung‘, die ich mir nicht kann entreißen lassen. Aber im Übrigen ist es selbstverständlich, daß ich Sie aus dem Ganzen des Büchleins zu verstehen suche, allzu unpneumatisch wäre sonst meine Exegese.“ (Brief vom 30. 5. 1928) Unverkennbar wollte Barth mit dem Harmonium-Vergleich die Tradition ungebrochener pietistisch geprägter Frömmigkeit bei Althaus ansprechen, die man in diesem Falle auch als bewahrtes und gelebtes Hermannsburger Erbe bezeichnen kann. Barths besondere Fähigkeit, mit einprägsamen Formeln treffend und oft nicht ohne einen Schuss Ironie seine Partner und theologischen Gegner zu charakterisieren, lässt sich an diesem „Harmonium-Spiel“ deutlich ablesen. Sie charakterisiert zugleich den Facettenreichtum und die Souveränität auf beiden Seiten dieses sehr persönlichen Briefwechsels. Im Übrigen kann man hier darauf hinweisen, dass Barths Vergleich mit dem Harmonium im Grunde in dieselbe Richtung zielte, in die auch Bultmann, bevor er Althaus persönlich kennen und schätzen gelernt hatte, argumentierte, als er bei Althaus „Sauberkeit und Reinheit“ in der theologischen Arbeit vermisste und ihm „Naivität“ vorwarf.42 Diese Charakterzüge von Althaus gaben Brunner dagegen von seinen Positionen aus Anlass zur freudigen Feststellung ihrer „Glaubensgemeinschaft.“ Nicht nur die kirchliche Position von Althaus fasste Barth in einer einprägsamen Formel zusammen. Auch die nationale Ausrichtung seines „Spezialfreundes“ wurde von ihm in deutlicher Distanz zu seiner eigenen Position pointenreich markiert. Er nutzte dazu die Differenz ihrer Privatadressen in den Jahren 1925 – 1930. Althaus wohnte damals in Erlangen in der Hindenburgstraße, Barth seinerseits in Münster in der Himmelreichsallee. Mit dem Kontrast dieser Straßennamen demonstrierte der scharfzüngige und auch selbstgewisse Barth die nationale Orientierung bei Althaus im Gegensatz zur seiner Wort-Gottes-Theologie. Schon am 25. 10. 1925 – nach seiner Berufung von Göttingen nach Münster – hatte Barth seinem Freund und Kollegen Thurneysen mitgeteilt, er werde demnächst in Münster in die Himmelreichsallee umziehen und bedeutungsvoll hinzugefügt: „… daß mein ebenfalls (nach Erlangen) übergesiedelter Spezialfreund Althaus dort selbst an die Hindenburgstraße zu wohnen kommt, ist gewiß nicht ohne symptomatische Bedeutung“.43 Offensichtlich benutzte Barth in der Folgezeit genussvoll diesen pointierenden Vergleich. Als Beleg dafür sei eine Briefpassage aus dem Jahr 1953 angeführt. Barth schrieb am 1. 11. 1953: „Sie haben in Ihrem Brief [dem ersten nach jahrelanger Pause] keine genauere Adresse angegeben? Wohnen Sie – dies soll aber keine Bosheit sein – noch immer an der Hindenburgstraße – wie damals ich meinerseits an der Himmelreichsallee hauste?“ Althaus antwortete darauf am 22. 11. 1953 mit im Kontext des sehr herzlichen Gesamtbriefes humorvollem Unterton: „Sie sehen aus dem Briefkopf, daß ich – übrigens 42 Vgl. oben S. 158. 43 Karl Barth Gesamtausgabe V (Briefe), Bd. 2, 2, S. 377.
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schon seit 1930! – nicht mehr in der Hindenburgstraße wohne. Aber – ,Pilgerstraße‘ hier, ,Atzelsberger Steige‘ dort – ich muß fürchten, dass Sie den Namen meiner Straße im Verhältnis zu Ihrer doch auch jetzt symbolisch für meine säkularistische Häresie finden werden!?“44 War in dem Briefwechsel der so konträren Theologen Barths Fähigkeit und Neigung zur Polemik nur in eher humorvollen Apercus zu spüren, so gilt das offensichtlich nicht für Barths Lehrveranstaltungen, in denen ein rüderer Ton herrschte. Althaus erfuhr davon durch frühere Erlanger Studenten. Auch Helmut Thielicke berichtet in seinen Memoiren aus eigenem Erleben über die „sublime Ironie“ des Meisters, die jedoch seine Schüler zu ordinären Frechheiten veranlasste, um sich so zum Meister Barth zu bekennen. Dieser konkretisierte seine Kritik an der Althausschen Eschatologie vor seinen Studenten mit der Sottise vom Harmonium in dessen Arbeitszimmer.45 Die Hindenburgstraße als Symbol für die nationale „Verortung“ und Prägung von Paul Althaus zu verwenden, zeugt von Barths großer Fähigkeit, – Verkürzungen in Kauf nehmend – Dinge auf einen Punkt zu bringen. In der Tat wird man prüfen müssen, welchen symbolischen Stellenwert der Standort in der Hindenburgstraße, die Verankerung im nationalen Denken seiner Zeit für die Formulierung der Theologie von Paul Althaus hatte, wie Professor und Patriot sich wechselseitig bestimmten. Dabei wird auch – um im Bilde zu bleiben – zu klären sein, welche „Tönung“ dieses Denken und Fühlen durch das Harmonium in der Hindenburgstraße empfing. Doch das sind Fragen, die im nächsten Kapitel an konkreten Vorgängen in den späten 20-er und frühen 30-er Jahren untersucht werden sollen, wobei noch einmal auch auf die theologische Diskussion im Feld der politischen Ethik mit Emil Brunner eingegangen werden muss. Hier ist zunächst jedoch resümierend festzuhalten, ein wie facettenreiches Selbst- und Fremdbild von dem Theologieprofessor Paul Althaus sich aus den Briefwechseln mit Bultmann, Brunner und Barth ergab. Die so unterschied44 Dieser drastische Straßennamenvergleich wurde später in bezeichnender Weise umgeformt: Anlässlich der Verleihung des Karl-Barth-Preises an den ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau im Jahre 2005 berichtete der amtierende EKD-Ratspräsident Wolfgang Huber in seiner Laudatio auf den Preisträger, Barth habe die Differenz zwischen sich und Paul Althaus mit dem Bonmot ausgedrückt: „Althaus wohnt in der Bismarckstraße [richtig: Hindenburgstraße], ich im Pilgrimsweg“. Barth habe auf diese Weise die nationale Orientierung bei Althaus im Unterschied zu seiner allein auf das Wort ausgerichteten Theologie auf den Begriff bringen wollen. Erst in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre zog jedoch Barth in Basel in die Pilgerstraße – nicht in den Pilgrimsweg, der doch so viel bescheidener klingt. So sehr der mit Stolz notierte Wohnsitz in der Himmelreichsallee den Anspruch von Karl Barth auf theologische Wahrheitsverkündigung unterstrich, die „Wandlung“ zum Pilgrimsweg darf wohl auch als ein Prozess wachsender Altersweisheit und Altersbescheidenheit interpretiert werden, wobei offen bleiben muss, ob die von Huber überlieferte Fassung von Karl Barth selber stammt oder eine Verformung durch seine Schüler wiedergibt. 45 Briefe der Studenten Gerhard Ehmann vom 13. 11. 1929 und Heinz Stoever vom 11. 6. 1932 (NLA K 10 und 11 b) sowie entsprechende Passagen in den Erinnerungen von H. Thielicke und W. v. Loewenich; H. Thielicke, 1983, S 81 f. und W.v. Loewenich, 1975, S. 643.
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lichen Gesprächspartner waren alle drei zunächst einmal überrascht und dann überzeugt von der authentischen Wirkung, die Althaus im persönlichen und fachlichen Gespräch entfaltete. Er hatte offensichtlich die Fähigkeit zuzuhören, richtige und wichtige Fragen zur gemeinsamen Sache zu stellen, eigene Positionen zu modifizieren, aber auch an ihnen festzuhalten, fremde Positionen zu hinterfragen, aber auch zu akzeptieren, wenn sie ihn überzeugten und insbesondere wenn er dahinter eine tiefe Gemeinsamkeit des Suchens spürte. In dieser Haltung verlief das Gespräch mit Bultmann als offene Kontroverse in wechselseitigem Respekt und in der Bereitschaft, dem Denkprozess des anderen zumindest einen berechtigten Kern zuzubilligen und die von dorther formulierten Fragen ernst zu nehmen. Die deutliche Ablehnung, die Hirsch mit seinen Polemiken durch Bultmann erfuhr, stand in beachtenswertem Kontrast zur Einstellung Bultmanns zu Althaus. Bei Brunner war das Fundament der Gemeinsamkeit – trotz aller festgehaltenen Kontroversen und unterschiedlichen Erfahrungshorizonte – noch tiefer und ließ eine echte Freundschaft entstehen, die in der freudig registrierten „Glaubensgemeinschaft“ ihr tragendes Fundament fand und fruchtbare Lernprozesse beiderseits auslöste. Ausdrücklich anerkennt Brunner, dass Althaus – im Unterschied zu Hirsch – auch in den kontroversen Fragen im Bereich der Sozialethik immer „ein offenes Ohr gegen uns hin“ habe. (Brief vom 24. 1. 1928) Das Verhältnis zu Barth blieb kühler und reservierter, aber war – das ergibt der Briefwechsel eindeutig – von wechselseitigem Respekt, Lernbereitschaft und kollegialer Verbundenheit getragen. Die Fähigkeit von Barth zu polemischen Pointierungen fand offenkundig in der dazu so deutlich kontrastierenden vornehmen Zurückhaltung von Althaus und dessen stets wachem Bewusstsein für angemessenen Stil ein ausgleichend abfederndes, alle Eskalation erstickendes Widerlager. Außerdem besaß Althaus genügend Selbstkritik, um die berechtigten Kerne in Barths Überspitzungen zu erkennen. Freilich blieben die theologischen Differenzen zwischen Barth und Althaus wie erratische Blöcke im Wege stehen, was Barth 1933 zum Abbruch der Beziehungen veranlasste. Erst 20 Jahre später wurde das korrigiert, und folgte ein von Altersweisheit getragener freundlich geführter respektvoller Briefkontakt, der die nach wie vor bestehenden theologischen Differenzen nicht mehr berührte. Die offene Diskussionsbereitschaft und das Geltenlassen abweichender Meinungen kennzeichnete auch Althaus Umgang mit seinen Schülern. Hier gibt es zahlreiche Zeugnisse für seine Toleranz und Großzügigkeit bei der Förderung von Promotionen und Habilitationen, die wissenschaftlich alles andere als eine „Althaus-Schule“ repräsentierten, sondern eigenständige, oft von der Theologie ihres akademischen Lehrers abweichende Thesen entwickelten oder kirchenpolitisch gegen die Linie von Althaus agierten. In den Memoiren und Darstellungen46 von Helmut Thielicke, Walter von Loewenich, 46 Vgl. Helmut Thielicke (1984), Wolfgang Trillhaas (1976), Walther von Loewenich (1975) sowie die Arbeit von Jürgen Belz (2011) über Kurt Froer.
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Wolfgang Trillhaas und Kurt Froer gibt es dafür viele lebendige Zeugnisse. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch das Studenten-Urteil des Barth-Schülers Helmut Gollwitzer, der 1932 sein Examenssemester in Erlangen verbrachte und sich später erinnerte, „wie unglaublich großzügig“ Althaus „sie, die randalierenden Barthianer“ im Seminar habe zu Wort und zur Diskussion kommen lassen; er fasste sein Urteil dahingehend zusammen: Althaus sei „einer der gerechtesten Menschen“, den er kenne.47 Das Bild des diskussionsfähigen, fragebereiten, aber auch an zentralen Positionen festhaltenden Wissenschaftlers, der gleichzeitig bereit war, im Wissen um die Begrenztheit aller Wissenschaft andere Positionen gelten zu lassen, prägte nicht nur den Forscher, sondern fast noch eindrücklicher auch den akademischen Lehrer und Förderer junger Nachwuchswissenschaftler, der sich zugleich für eine gut fundierte, nicht einseitig ausgerichtete Ausbildung des Pfarrernachwuchses der Kirche verantwortlich wusste. Wie sich diese theologischen Grundeinstellungen von Paul Althaus zu seinen politischen und historischen Anschauungen und Überzeugungen verhielten, wie sie sich wechselseitig formten und begrenzten, das wird in dem folgenden Kapitel darzustellen und zu erörtern sein. Nur so kann eine Grundlage gelegt werden, um das Verhalten von Althaus unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, besonders in der Frühphase der Machtergreifung, angemessen einordnen zu können.
5.2 Kirche und Nation und Nationalkrieg – Dimensionen des Politischen in der Theologie von Paul Althaus in der zweiten Hälfte der Weimarer Jahre Die Erfolge als akademischer Lehrer in Erlangen und das hohe Ansehen in der theologischen Fachwelt sowie das Vertrauen der kirchlichen Führungskreise und das große Echo des Predigers Paul Althaus bekommen ihre spezifische Färbung, wenn man die historisch-politischen Kategorien in seinem Denken mit beachtet und deren Abhängigkeit und Einwirkung auf seine theologischen Positionen mit bedenkt. Wer Leben und Wirkung von Althaus begreifen will, muss diese Dimension immer mit berücksichtigen. Wir versuchen diesen Fragenkreis am Beispiel seines Vortrages auf dem 2. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Königsberg 1927 über das Thema: „Kirche und Volkstum“ und 47 So ein brieflicher Bericht von Ingeborg Lades, der Tochter von Althaus, an ihren Vater vom 5. 10. 1952 im Anschluss an ihren Besuch bei Helmut Gollwitzer in Bonn. (NLA K 5). Am 7. 8. 2006 berichtete Carsten Nicolaisen dem Verfasser von einem Seminar bei Paul Althaus, das dieser Ende der fünfziger Jahre als Emeritus in Hamburg angeboten hatte; er lobte die pädagogischdidaktisch hervorragende Seminardurchführung, es habe keine lange Referatsvorlesungen gegeben, sondern viel offene Diskussion – gut geführt – mit dem Versuch, alle zu beteiligen.
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einiger grundsätzlicher Publikationen zum Thema Krieg deutlich zu machen. An dem Königsberger Vortrag und seinem Umfeld lässt sich auch bestimmen, wie Althaus das Erleben des Ersten Weltkrieges und der Niederlage, die 1919 bei ihm so emotionale Äußerungen provoziert hatten,48 langfristig verarbeitete, wie er die politische Gegenwart der Weimarer Republik deutete und mit welchen politischen Positionen und Leitvorstellungen49 er dann – voller Hoffnungen, aber auch bald eintretender Irritationen und Enttäuschungen – in die Jahre der Herrschaft Hitlers und des Nationalsozialismus ging. Das nationale, „vaterländische“ Thema, das der Kirchentag ihm stellte, ist für diesen Zweck besonders geeignet. Schon die Einladung zu diesem wichtigen Vortrag ist ein aufschlussreiches Dokument für die Wahrnehmung von Althaus in der kirchlichen Öffentlichkeit, das aufhorchen lässt. Der Deutsche Evangelische Kirchentag war die „Vollversammlung“ des 1922 in Eisenach gegründeten Deutschen Evangelischen Kirchenbundes, des lockeren Zusammenschlusses aller evangelischen Landeskirchen in Deutschland. Er bestand aus 210 Mitgliedern, davon 150 von den Synoden der einzelnen Landeskirchen gewählt und 60 vom Leitungsgremium des Kirchenbundes auf Vorschlag der theologischen Fakultäten und bestimmter kirchlicher Verbände und Werke berufen. Er tagte nur alle drei Jahre und hatte satzungsgemäß das Recht „zur Abgabe öffentlicher Kundgebungen, die das Gesamtinteresse des deutschen Protestantismus berühren“. Auf seiner Tagung in Bethel 1924 hatte er ein Wort zur sozialen Frage abgegeben, 1927 in Königsberg verabschiedete er eine vaterländische Kundgebung.50 Unter dem Begriff des „Vaterländischen“ verbarg sich ein doppeltes Anliegen: die Kirche wollte ein klärendes Wort zu der anwachsenden völkischen Bewegung sagen, sich zum deutschen Volk bekennen und darüber hinaus ihre Bereitschaft zur Kooperation mit dem bestehenden republikanischen Staat öffentlich kundtun. Zunächst freilich bekannte sich der Kirchentag in seiner offiziellen Kundgebung ausdrücklich zu einem „weltweiten Reich-Gottes-Sinn“ über Völkergrenzen und Rassenunterschiede hinweg, zugleich aber betonte er – aus dem 48 Vgl. oben S. 90 ff. 49 Ich vermeide erneut und bewusst, von politischer Ideologie zu sprechen, weil dann zunächst sehr präzise die unterschiedlichen Dimensionen des Ideologiebegriffes erläutert werden müssten. Außerdem gingen die unterschiedlichen Farben und Dimensionen in der politischen Vorstellungswelt von Paul Althaus verloren, zumal diese in sich durchaus nicht immer stimmig waren und sich nicht einfach auf einen Begriff bringen lassen. Grundsätzliche Einordnungen seien den abschließenden Erörterungen dieser Biographie vorbehalten. 50 Neben dem Kirchentag gab es noch den Kirchenbundesrat – besetzt mit Vertretern der Kirchenregierungen aller Landeskirchen – und als eigentliches Leitungsgremium – den Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss, dessen 36 Mitglieder je zur Hälfte vom Kirchenbundesrat und vom Kirchentag entsandt bzw. gewählt wurden. Zu den Details vgl. Jonathan R. C. Wright, 1977, S. 40 ff. und vor allem die wichtige Studie über die Kirchentage in der Weimarer Republik von Daniel Bormuth, 2007. Der Text der Kundgebung und auch der Vorträge auf dem Königsberger Kirchentag ist abgedruckt in: Vaterländische Kundgebung …, 1927, S. 5 ff. Der Text der Kundgebung auch bei Martin Greschat / Hans Walter Krumwiede (Hg.), 1999, S. 55 ff.
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Vortrag von Althaus zitierend –: „auch die Verschiedenheit der Völker ist von Gott geordnet … unser Volkstum ist uns von Gott gegeben.“ Darum rief er auf: „zum Kampf und zum Einsatz aller Kraft für die immer völligere Durchdringung des Volkslebens mit dem Geiste des Evangeliums.“ Das Programm der volkskirchlichen Erneuerung, die von Otto Dibelius geforderte „Durchchristlichung des Volkes“, das sich im Krieg erneut als „Schicksalsgemeinschaft erfahren und erlebt“ habe, lassen sich hier deutlich spüren.51 Der Kirchentag sah „heute Volk und Vaterland von außen unterdrückt, im Innern zerrissen und zerklüftet“. Als „über den Parteien“ stehend und „allen ihren Gliedern“ dienend, „gleichviel welchen Parteien sie angehören,“ stellte der Kirchentag an die evangelischen Christen drei Forderungen: Jeder solle „nach bestem Wissen und Gewissen dem Staatsganzen dienen und für das Wohl der Gesamtheit Opfer bringen“, jeder solle „um des Wortes Gottes willen der staatlichen Ordnung Untertan sein“ und sich „seiner Mitverantwortung bewusst … für alles einsetzen, was Volk und Staat stärkt, bessert und fördert.“ Solcher „Vaterlandsdienst“ sei „auch Gottesdienst“. Aus der Forderung, der staatlichen Ordnung untertan zu sein und Mitverantwortung zu übernehmen, war – wenn auch eher indirekt – ein Bekenntnis zur Weimarer Republik ableitbar. Die Allgemeinheit der Formulierung lässt jedoch auch Rückschlüsse auf die politischen Konfliktlinien im Kirchentag zu. Die Grundlage für diese „Kundgebung“ war durch die beiden Hauptvorträge gelegt. Den ersten über „Kirche und Volkstum“ hatte Althaus, den zweiten über „Kirche und Vaterland“ Wilhelm Kahl gehalten. Die Wahl dieser Redner muss als ein politisches Programm – und zugleich als ein politischer Kompromiss gesehen werden. Der 78jährige Professor Wilhelm Kahl war ein außerordentlich prominenter Jurist, der im Staats- und evangelischen Kirchenrecht ebenso gut ausgewiesen war wie im Strafrecht. Als einer der führenden Köpfe der Strafrechtsreform hatte er sich – darin sehr modern – als Gegner der Todesstrafe profiliert. Zugleich war er jahrzehntelang erst in der Nationalliberalen Partei und dann seit 1919 in der Deutschen Volkspartei, der Partei Stresemanns, politisch in Führungsfunktionen und im Reichstag aktiv. Als Mitglied der Weimarer Nationalversammlung hatte er 1919 dafür gesorgt, dass die besondere Stellung der Kirchen im Staat weitgehend gewahrt wurde. Kahl bekleidete ferner zahlreiche kirchliche Ämter, war Mitglied der preußischen Generalsynode und im Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss, dem Leitungsgremium des Kirchenbundes. Innerkirchlich gehörte Kahl zur sogenannten Mittelpartei, die in Preußen an der Union zwischen Lutheranern und Reformierten festhielt und gegen jede konfessionelle Engführung eingestellt war. Er hatte an der Konstituierung des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes aktiv teilgenommen. Dieser kirchenpolitischen Position entsprach seine gemäßigt liberale Politik im Weimarer Parteienspektrum, so dass er mit guten Gründen als Vernunftrepubli51 Otto Dibelius, 1926, S. 128 ff.
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kaner zu kennzeichnen ist. In den Schlusspassagen seines Königsberger Vortrages betonte Kahl zwar, dass die Kirche „um des Dienstes am ganzen deutschen Volk willen“ außerhalb des politischen Parteilebens stehen und „in keiner Weise einen Einfluss auf den politischen Aufbau des Staates in Verfassungs- und Wirtschaftsform“ versuchen solle, aber er betonte mit Nachdruck, dass von solcher Enthaltung für das einzelne Kirchenmitglied keine Rede sein dürfe. Er „bekennt als einfaches Kirchenglied allein für meine Person“, das Christenrecht und die Christenpflicht zur Anteilnahme am politischen Leben des Staates der Weimarer Republik, da auch für sie – obwohl revolutionsgeboren – gelte, dass sie „Obrigkeit“, und daher „von Gott verordnet“ sei, was für ihn persönlich „die Treue zum angestammten Herrscherhause“, die „ein wesentliches Stück des christlichen Patriotismus“ darstelle, zwar schmerzvoll aber deutlich begrenze, zumal „das Herrscherhaus kein göttlich verbürgter Besitz“ sei.52 Wenn man sich die politische Position und das Gewicht von Wilhelm Kahl vor Augen hält, dann gewinnt die Einladung von Althaus besondere Farbe, zumal die Hauptredner bei den Kirchentagen bislang immer aus dem Leitungsgremium, dem Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss, gekommen waren. Das galt für Kahl und auch für den ursprünglich offensichtlich vorgesehenen Redner des ersten Vortrages, den Präses der Rheinischen Provinzialsynode Dr. Walther Wolff, Superintendent in Aachen und gleichzeitig Vizepräsident der Altpreußischen Generalsynode sowie Inhaber weiterer Führungsfunktionen im Deutschen Evangelischen Kirchenbund. Da er – wie Kahl – demnach ein prominenter Amtsträger der preußischen unierten Kirche war, gab er offensichtlich diesen Vortrag ab und übernahm stattdessen in Königsberg eine kurze „Festrede“ über „Ostmark und Protestantismus“ als besondere Grußbotschaft an die Königsberger evangelischen Gemeinden.53 Der liberale Berliner Systematische Theologe Arthur Titius, der wie Kahl und Wolff Mitglied im Kirchenausschuss des Kirchenbundes war und Althaus seit seiner Göttinger Zeit kannte, schlug darum den jungen Erlanger Professor im Dezember 1926 als Referenten für den ersten Vortrag mit dem Argument vor, es erscheine wünschenswert, auch eine andere kirchenpolitische Richtung zu Wort kommen zu lassen, zumal es notwendig sei, alle Richtungen zur Mitarbeit am Kirchenbund zu bewegen.54 Titius konnte mit seinem Vorschlag überzeugen, zumal Althaus offensichtlich, obwohl kein Mitglied in Gremien des Kirchenbundes, bei den kirchlichen Führungspersonen hinreichend bekannt und angesehen war. Im Kontrast zu Kahl lud man ihn als Repräsentanten des nationalkonservativen, die Republik eher ablehnenden protestantischen Lagers ein, das gerade im Luthertum weit verbreitet war. Durch seine Schriften, vor allem durch die 52 Vaterländische Kundgebung …, 1927, S. 43 und 46. 53 Abgedruckt ebd., S. 53 – 58. 54 Aus dem Protokoll des DEKA vom 8./9. 12. 1926 zitiert bei Bormuth, 2007, S. 231, Anm. 897.
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inzwischen vorgelegte dritte Auflage von „Staatsgedanke und Reich Gottes“55 hatte sich Althaus in diesem Lager – wenn auch durchaus mit eigenen Akzenten – positioniert. Er galt zugleich als Vertreter der „volkskirchlichen Erneuerung“, die sich von der christlich erneuerten Volksgemeinschaft die Überwindung des Sozialismus und des individualistischen Liberalismus und Parlamentarismus erhoffte sowie der „westlich“ geprägten rationalistischnaturrechtlichen Idee der Gleichheit und der bedingungslosen Souveränität des Volkes entgegentrat. Althaus sah im Parlament vor allem das Aktionsfeld interessengebundener und egoistischer Parteien ohne jede Gemeinwohlorientierung. Ihm kam es darauf an, „dass die Verfassungsform ein vom Mehrheitswillen freies, allein Gott verantwortliches, der Autorität fähiges Führertum nicht ausschließe oder lähme.“56 Eine starke politische Führung, von der Gemeinschaft des Volkes getragen, erschien notwendig, um den bindungslosen Individualismus und die Herrschaft der rein egoistisch und interessengebunden agierenden Parteien zu überwinden. Vor allem aber – und das machte ihn als Referenten für das Kirchentagsthema „Kirche und Volkstum“ interessant – hatte sich Althaus seit seiner Lodzer Zeit in seinen Veröffentlichungen immer wieder mit dem Verhältnis Kirche und Volkstum auseinandergesetzt und dabei als Mann der Kirche profiliert. Stets hatte er gegen eine Überhöhung des Völkischen zu einer völkischen Religion Front gemacht. Aufschlussreich für seine Thesen in diesem Felde war sein großer Vortrag über „Protestantismus und Nationalerziehung“, den er im März 1926 in Halle auf einer Tagung der Fichte-Gesellschaft gehalten hatte.57 Hier hatte er die spezifische Nähe des lutherischen Protestantismus zur „deutschen Volksart“ dargelegt, aber mit Nachdruck zugleich darauf hingewiesen, dass die unbezweifelbare Übernationalität des Luthertums und seine Teilhabe am „gemeinchristlichen Universalismus“ jeden „Absolutheitsanspruch einer Nation oder Rasse“ ablehne. Von diesem kirchlichen Standpunkt aus kritisierte er darum alle Positionen, die das Völkische als etwas Unbedingtes ansahen, und die latente Überhitzung des Nationalen. Zugleich forderte er christlich soziale Aktivitäten im Arbeiter–Wohnungsbau. Dieser müsse der „Zerstörung des Masseseins unseres Volkes“ dienen, um die „Großstädte und die mechanischen Bindungen des Kapitalismus und Marxismus“ zu zerschlagen und wahre Volksgemeinschaft wieder möglich zu machen.58 55 1926 war die stark erweiterte Fassung als 3. Auflage, 1931 nochmals erweitert die 4. Auflage erschienen, jeweils in den „Schriften zur politischen Bildung“ der Gesellschaft „Deutscher Staat“, die eindeutig im antirepublikanischen Lager zu verorten ist. Vgl. Kurt Sontheimer, 1958, S. 198, Anm. 13 und S. 356 mit weiteren Nachweisen. 56 So P.A., 1928 (2) (Leitsätze zur Ethik), S. 62 und wortgleich 1931 (1) (Grundriß der Ethik), S. 104. 57 Zur nationalkonservativen, völkischem Denken nahestehenden Fichte-Gesellschaft vgl. Andr¦ Fischer (2012), der auch den Althausschen Vortrag ausführlich und detailliert analysiert. 58 Vgl. P.A., 1926 (3), S. 49 f., 40 f., 77 und 88 f. Schon 1917 (vgl. oben S. 125 Anm. 54) hatte er sich
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Offensichtlich war Althaus als national orientierter und sozial engagierter Lutheraner, der sich auch in der Begegnung und Auseinandersetzung mit der völkischen Bewegung immer kirchlich positioniert und Profil gewonnen hatte, als Redner zum Thema Kirche und Volkstum in Königsberg ins Gespräch gekommen. Dass ihm ein dezidierter Vernunftrepublikaner von dem Gewicht eines Wilhelm Kahl entgegengestellt wurde, macht deutlich, wie man auch im Kirchenausschuss die Lager einschätzte, aber wohl auch, dass man von Althaus erwartete, er werde das nationalkonservative Luthertum so moderat vertreten, dass es auf dem Kirchentag beim Thema Kirche und Staat nicht zum offenen Konflikt käme. Eine solche Erwartungshaltung wird nahegelegt durch die ebenfalls eher moderate und vaterländisch grundierte politische Haltung des Nationalliberalen Kahl, so dass auch von dessen Seite her eine gemeinsame Kundgebung möglich werden müsste. An einer solchen war den Kirchenführern sehr gelegen, weil sie sich mit dem bestehenden Staat, der Weimarer Republik, im Interesse der notwendigen Kooperation auf dem Gebiet der Schulen, der Theologischen Fakultäten, der sozialen Arbeit sowie der kirchlichen Finanzen arrangieren mussten. Ein Indiz für diese Erwartungen ist ein persönlicher Brief von Arthur Titius an Paul Althaus vom 23. März 1927 (NLA K11b). Titius informierte Althaus vorweg über die Formulierung seines Themas. Aus der Diskussion im Kirchenausschuss hob Titius „Schlagworte“ hervor; diese sollten „zeigen, was etwa erwartet wird (aber ohne Verbindlichkeit für Sie): Geringe Einschätzung der Kirche; mehr kirchliches Denken und Handeln; ad vocem Volk: ein freudiges Wort zum heutigen Staat (was aber sofort Widerspruch auslöst …); bei Volkstum darf nicht nur vom Deutschtum die Rede sein; gerade in Ostpreußen ist auf die gut kirchlichen Litauer und Masuren, denen man die Schonung ihrer Art versprochen hat, Rücksicht zu nehmen. Ihren Ausführungen, soweit Sie andeuten, stimme ich gern zu, glaube aber doch, dass die volkskirchliche Seite des Themas auch anklingen sollte, aber das ist natürlich ganz Ihre Sache.“
Die Anregung von Titius, auf die Differenz von Kirche und Volkstum zu achten, beherzigte Althaus schon in der Einleitungspassage seines Vortrages, als er sich an die litauischen und masurischen Protestanten Ostpreußens wandte. Er betonte in diesem Zusammenhang seine grundsätzliche Auffasin Lodz mit intensiven Argumenten für Arbeiterwohnungsbau in den Vorstädten mit eigenen Gärten als Ort eigenen Familienlebens und eigener Versorgung plädiert, ein Programm, das im sozial aktiven konservativen Umfeld der Erweckungsbewegung – Bodelschwingh – viele Befürworter hatte. 1930 appellierte er in einem Erlanger Vortrag an die soziale Verpflichtung der Studenten und erklärte, die Studentenschaft habe sich in den letzten Jahren „immer stärker auf ihre völkische Verpflichtung besonnen. Die völkische Verpflichtung aber ist heute zuerst und zuletzt eine soziale Verpflichtung“ Diese soziale Verpflichtung „wartet auf uns im Umgange mit den Arbeitern … bedeutet, dem anderen Achtung und Ehre bezeugen im täglichen Umgange, ihn fühlen lassen in unserer ganzen Haltung, dass wir uns ihm verbunden, ihn uns gleichgestellt wissen in der Menschenwürde“. P.A., 1931 (2), S. 42 f.
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sung, dass Kirche nie national begrenzt definiert werden dürfe. Aber zugleich gelte es als Pflicht der Kirche, sich dem Volkstum zuzuwenden. „Christliches Denken bejaht die völkische Besonderung der Menschheit und die Eigenart eines Volkstums als im göttlichen Schöpferwillen und Schöpferreichtum begründet.“ Daraus ergebe sich als Aufgabe jeden Volkes, die ihm „anvertraute Eigenart und besondere Sendung zu erfassen und durch Abwehr aller Überfremdung treu zu behaupten; es muss alles daran setzen, den in seiner Anlage und Geschichte liegenden Schöpferwillen zu erfüllen.“59 Gerade bei diesem Bemühen sei das Volkstum in besonderer Weise auf kirchliche Zuwendung angewiesen, nur so könne es vor Übersteigerung bewahrt werden. Darum finden wir in dem Vortrag von Althaus eine intensive und kritische Auseinandersetzung mit völkischem Religionsverständnis – Paul de Lagarde –, verbunden mit der These, dass das deutsche Volkstum nur christlich angeleitet und erfüllt zu sich selbst und seiner Rolle unter den Völkern finden könne. Insofern müsse die Kirche sich auf das Volk zu bewegen, echte Volkskirche sein. In diesem Sinne galt auch für Althaus das Motto der Kirchentagspredigt des sächsischen Landesbischofs Ihmels: „Kirche und Volk, Volk und Kirche sollen untrüglich zusammen gehören.“60 Althaus trieb die Sorge um, dass „Volkstumsbewegung und Kirche sich ebenso verfehlten, wie Arbeiterbewegung und Kirche sich weithin verfehlt haben.“ Er sah die Gefahr drohen, „dass wir eine Volkstumsbewegung bekommen, die der Kirche verloren ist, und eine Kirche, die ihr Volk als Volk in seinem heißesten Wollen nicht mehr findet.“61 In diesem Zitat aus den Schlusspassagen seines Königsberger Vortrages lassen sich die Sorgen und Motive von Althaus ganz plastisch begreifen. Das Trauma des kirchlichen Verlustes der Arbeiterbewegung soll sich nicht wiederholen. Althaus sieht zwar Übertreibungen in der Volkstumsbewegung, aber er hat das gegenseitige Angewiesensein von überkommener Kirchlichkeit und nationaler Volkskultur in den lutherischen Bauerndörfern in der Gegend von Lodz so lebendig erfahren62, dass er alles daran setzen will, keinen Bruch zwischen Volkstumsbewegung und Kirche eintreten zu lassen, zumal in seinem Verständnis das deutsche Volk nur als christliches eine echte Lebenschance habe. Die Vorstellung einer säkularen Gesellschaft galt Althaus als Abgrund und Ende des deutschen Volkes. Gerade weil die Kirche als Kirche übernational sei, könne sie als notwendiges Korrektiv der Volkstumsbewegung agieren und diese christlich prägen. Wer mit der politischen Stimmung in der Weimarer Republik vertraut ist, den wird es nicht überraschen, dass in dem auf das Volkstum konzentrierten 59 So in den Leitsätzen zur Ethik, die 1928 erschienen und die Thesen des Königsberger Vortrages zusammenfassten. P.A., 1928 (2), S. 53. 60 Die Predigt ist abgedruckt in: AELKZ, 1927, S. 603. 61 Vaterländische Kundgebung, 1927, S. 30. 62 Vgl. oben S. 74 ff.
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Vortrag auch das Problem der Fremden und Andersblütigen sowie des Antisemitismus angesprochen wird. Obwohl Althaus „die Bedrohung unseres Volkes durch jüdischen Geist, jüdische Macht“ nicht unterschätzt, erhofft er sich auch in diesem Bereich eine korrigierende und mäßigende Wirkung der Kirche. Im „Antisemitismus“ der völkischen Bewegung sieht er viel „Pharisäismus … in der bequemen Anklage Fremdblütiger“, obwohl „die Frontlinie mitten durch unser deutschblütiges Volk hindurch geht … Mitten unter uns wirken die zerstörenden Mächte, vollzieht sich die innere Volksentfremdung“. Ein „völkischer Imperativ“ helfe nicht gegen die innere Entartung, sondern „allein das Wachsen der unsichtbaren Gemeinde derer, die vor dem allmächtigen Gott wandeln.“ Im Klartext bedeuten diese Argumente: volksfremdes Verhalten, innere Entartung grassiere auch unter den Deutschen selbst, dem gelte es den Kampf anzusagen, es sei pharisäisch, die negativen Entwicklungen im eigenen Volk zu übersehen und alles nur auf die „Fremdvölkischen“ zu schieben. Unbeschadet des abgelehnten „antisemitischen Pharisäismus“ der völkischen Bewegung müsse aber auch die Kirche „ein Auge und ein Wort haben für die jüdische Bedrohung unseres Volkstums“, weil „der Durchdringung unsers Volkes mit den Kräften des Evangeliums heute überall eine durch jüdischen Einfluss in Wirtschaft, Presse, Kunst und Literatur geschaffene Gesinnung entgegensteht.“ Gegen solche „entsittlichenden Einflüsse“ hat nach Meinung von Althaus die Kirche zu kämpfen. Dabei gehe es nicht um „Judenhass – man kann in diesem Punkte gerade mit ernsten Juden übereinkommen –, es geht nicht um das Blut, auch nicht um den religiösen Glauben des Judentums, sondern um die Bedrohung durch eine ganz bestimmte zersetzte und zersetzende großstädtische Geistigkeit, deren Träger nun einmal in erster Linie jüdisches Volkstum ist. Erst wenn die Kirche hier die Dinge beim rechten Namen nennt, hat sie die innere Vollmacht zur wirksamen Seelsorge am Antisemitismus.“63 „Jüdischer Geist“ wird hier zum Symbol für alle negativen Entwicklungen der „Moderne“, für Großstadt, Kapitalismus und Sozialismus, für laszive Literatur und Kunst. Die – empirisch allerdings nie überprüfte – Aussage, dass moderne emanzipierte Juden in diesen Bereichen die führende Rolle spielten, begründete für Althaus diese unzulässig verallgemeinernde Zuordnung. Die heute allgegenwärtige empirische Sozialforschung über soziale Herkunft und politische Meinungen der Eliten oder bestimmter Berufsgruppen steckte damals erst in den allerersten Anfängen und relativierte damit nicht die groben Verallgemeinerungen und Vorurteile, die aus der Beteiligung von Juden in Führungsgremien der linken Parteien, des Bankwesens oder der zeitgenössischen Kunstszene auf die „Herrschaft des jüdischen Geistes“ schlossen. Gewiss argumentierte Althaus nicht rassistisch. So wie das „deutsche Volkstum“ von ihm nicht rassisch sondern als Produkt der Geschichte und zugleich 63 Vaterländische Kundgebung, 1927, S. 12 f. und S. 33 f.
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als normative Zielvorstellung begriffen wurde, so erscheint ihm auch der jüdische Geist nicht einfach rassisch ableitbar sondern ebenfalls als ein Ergebnis einer besonderen Geschichte. Auch Juden konnten, insbesondere wenn sie zum Christentum übergetreten waren und sich zum Deutschtum bekannten, zu guten Deutschen werden, denen Althaus in seinem persönlichen Umfeld – auch während des Dritten Reiches – seine Treue und Kontakte nie entzog. Aber seine Abstraktion „modernes Judentum“ stand für alle negativen Tendenzen der „Moderne“, der es mit volkskirchlicher Erneuerung entgegenzutreten gelte. Das war der Grund, weshalb er in seinem Königsberger Vortrag das Verhältnis zum Judentum in der geschilderten Form kurz, aber aufschlussreich und für uns Heutige beunruhigend – angesprochen hatte. Es wird darauf noch weiter unten zurückzukommen sein. Volkskirchliche Erneuerung hieß für Paul Althaus – das geht aus seiner Rede auf dem Kirchentag von 1927 zwingend hervor – neben und mit Zurückdrängung des „jüdischen Einflusses“, vor allem Zurückdrängung der Moderne in all ihren Facetten. Dass Althaus dabei die Kraft der Volkskirche maßlos überschätzte und den Trend zur säkularen Gesellschaft übersah und wenig später in Gefahr geriet, die Judenpolitik der Nazis nicht nur misszuverstehen, sondern von ihr auch missbraucht zu werden, lässt sich aus dem Rückblick erkennen. Die „mündige Welt“ war eine Kategorie des lutherischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, die dieser – eine Generation jünger als Althaus – fast gleichzeitig schon formulierte, die sich aber erst Jahrzehnte später im Zuge der Verarbeitung des NS-Unrechtsregimes allgemeine Zustimmung erwarb. Mitte der sechziger Jahre wurde Bonhoeffers These in der Formulierung des Verfassungsrechtlers Konrad Hesse von der freien Kirche im demokratischen Gemeinwesen als der „Kirche unter dem Grundgesetz“ zum Leitbild für das neu bestimmte Rollenverständnis der Kirche im demokratischen Rechtsstaat. An die Stelle der vaterländischen Kundgebung traten Denkschriften, die unter den Stichworten ,sachgemäß‘ und ,schriftgemäß‘ den Beitrag der Kirche zur öffentlichen Diskussion in der demokratischen Gesellschaft formulierten64. Es liegen Welten zwischen diesem modernen Leitbild und dem Programm einer am Ideal des deutschen Volkstums und seiner christlichen Sendung orientierten „volkskirchlichen Erneuerung“, wie sie Althaus 1927 vertrat. Ein schwieriger und schmerzhafter Lernprozess musste erst bestanden und ein massiver sozialer Wandel musste erst bewusst werden. Immerhin gehörten 1927 noch über 95 Prozent der Bevölkerung, zumindest rechtlich-formal, einer der großen Kirchen an, während die heutigen Zahlen einen massiven Erosionsprozess dokumentieren. Titius’ Wunsch, zwischen Kirche und Volk zu unterscheiden, hatte Althaus zwar erfüllt. Allerdings begünstigte seine problematische theologische Aufwertung des Volkes zu einem Teil der „göttlichen Schöpfungsordnung“ und zu einem Produkt von göttlich ge64 Dazu ausführlicher Gotthard Jasper, 1983.
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lenkter Geschichte eine gewisse Einhegung des allen Menschen geltenden christlichen Verkündigungsauftrages der Kirche in den „Rahmen der Volksordnungen“. Neben der Unterscheidung von Kirche und Volk hatte Titius ein „freudiges Wort zum heutigen Staat“ erbeten. Ein solches sucht man im Vortrag von Althaus allerdings vergebens. Er konzentrierte sich auf das Verhältnis von Kirche und Volkstum, das erzwang keine Äußerung zu ,Republik‘ und ,Demokratie‘. In den oben zitierten65 drei als „Vaterlandsdienst“ bezeichneten – von Kahl und Althaus mitverantworteten – Forderungen der Vaterländischen Kundgebung des Plenums, die das Ergebnis der beiden Vorträge zusammenfasste, war ein positives Wort zum heutigen Staat, wie es Titius gefordert hatte, nur verschlüsselt enthalten. Zu vieldeutig waren die Formulierungen. Darum konnte auch Althaus zustimmen. Der Schlüsselsatz in der Abschlusserklärung ist ohne Frage die Forderung, jedermann solle „um des Wortes Gottes willen der staatlichen Ordnung untertan“ sein. Kahl konnte sich hier mit seinem Bekenntnis, dass die revolutionsgeborene Republik Obrigkeit von Gott sei und Gehorsam fordern dürfe, wiederfinden. Gestützt auf diesen Zusammenhang hat man im Nachhinein das Wort des Kirchentages als Bekenntnis der Kirche zur Republik, zumindest zum Vernunftrepublikanertum interpretiert.66 Sicher ist damit die Intention von Kahl und wohl auch einer größeren Zahl von Kirchenführern, die auf die Kooperation mit dem Staat angewiesen waren, getroffen. Aber eindeutig ist der Text nicht. „Um des Wortes Gottes Willen der staatlichen Ordnung untertan“ sein, ließ sich im Kontext der Zeit auch lesen als Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem deutschen Staat und der deutschen Staatsordnung an sich. Man konnte es zur Not auch interpretieren als Gehorsam der Regierung gegenüber, die jenseits von Parteien und Parlament ihre Legitimität vom Reichspräsidenten ableitete, der vom Volk gewählt die Staatseinheit repräsentierte. Solche Deutungen werden zumindest nahe gelegt und unterstützt durch die latent antipluralistische und antiparteienstaatliche Forderung, dem Staatsganzen zu dienen und sich für alles einzusetzen, „was Volk und Staat stärkt, bessert und fördert“. Die Kundgebung verlangte eben nicht, sich der „jetzige(n) deutsche (n) Staatsform“, welche „auf Grund der Verfassung zu Recht besteht, … unterund einzuordnen“, wie es noch in einem Entwurf geheißen hatte, den man aber offensichtlich im Interesse breiterer Mehrheitsbildung fallen gelassen hatte.67 Die liberale Presse berichtete denn auch eher skeptisch und enttäuscht. Zwar wurde Kahls Bekenntnis zur Republik positiv kommentiert, aber die 65 Vgl. oben S. 179. 66 So Clemens Vollnhals, 1992, S. 162. 67 Daniel Bormuth, 2007, S. 240, dort auch die von Synodalpräsident Pechmann mitunterzeichnete Erklärung der 13 Mitglieder des Kirchentages, die der Kundgebung ihre Zustimmung wegen der Passage zum Obrigkeitsgehorsam, weil sie als Zustimmung zur Republik gedeutet wurde, verweigert hatten.
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Vossische Zeitung fügte gleich an, es hätte deutlich gesagt werden sollen, „die evangelische Kirche will nicht Parteikirche der Deutschnationalen sein sondern Volkskirche. Dieses klare, einfache, eindeutige Bekenntnis vermissen die aufrichtigen Kirchenfreunde, soweit sie Republikaner sind. Wann wird es kommen?“ Die Vaterländische Kundgebung schien ihr wenige Tage später „Keine klare Antwort“ zu geben, der Kirchentag habe sich „unklar und unzureichend“ zur „aktuellen Frage nach dem heutigen Staat“ geäußert, seine Antwort sei „weniger als das, was Kahl bereits … ausgesprochen hatte.“68 Wie kontrovers und umstritten der Vernunftrepublikanismus besonders im Luthertum war, kann man auch daraus ersehen, dass die weit verbreitete Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung zwar den Vortrag von Althaus in ihren Juli- und August-Heften komplett abdruckte, nicht aber Kahls Ausführungen, denn – so kommentierte die Zeitung –: Kahl „entging nicht ganz der Missdeutung, als wolle er mit seinem Vortrag für die Republik Propaganda machen.“ Der Kirchentag hätte sich aber nicht „zu irgendeiner Staatsform bekennen“ wollen.69 Im Kontext der damals üblichen Unterscheidung von Staat an sich und Staatsform ist die Mehrdeutigkeit dieser Kundgebung als politisch gewollt zu bezeichnen, weil nur so eine breite Zustimmung erreicht werden konnte. Die Kirchenführer sicherten sich eine Basis für ihre pragmatische Kooperation mit dem republikanischen Staat, stießen aber auch die nationalkonservativen Republikgegner in den Reihen der Kirche nicht vor den Kopf. Dabei muss man allerdings auch berücksichtigen, dass die Unterscheidung zwischen Staat und Staatsform während der Weimarer Jahre noch eine besondere Relevanz hatte, die man beachten muss, wenn man das aus heutiger Sicht bedauerliche „Demokratiedefizit“, das wir auch bei Paul Althaus in seinem Königsberger Vortrag feststellen müssen, angemessen interpretieren und einordnen will. Demokratie war im zeitgenössischen Selbstverständnis reduziert auf eine unbeschränkt gedachte Volkssouveränität. Die damals geltende Reduktion von Demokratie auf eine grenzenlos gedachte Volkssouveränität, die man sich heute bei der Einordnung und Bewertung damaliger Texte ins Bewusstsein heben muss, wird nirgends so deutlich greifbar wie in den Erläuterungen zur Änderung der Weimarer Verfassung in dem klassischen Kommentar des überzeugten Republikaners Gerhard Anschütz. Dort heißt es: „Alles ohne Unterschied des Inhaltes und der politischen Tragweite“ könne geändert werden. Ausdrücklich wird hervorgehoben, dass sich dieses auch auf „Republik, Demokratie, Wahlrecht, Parlamentarismus … und andere prinzipielle Fragen (Grundrechte)“ beziehe70. Im Klartext hieß das: mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit im 68 Vossische Zeitung vom 19.6. und 22. 6. 1927, vgl. ferner auch Frankfurter Zeitung vom 22. 6. 1927 zum Vortrag Kahl. 69 AEKZ, 1927, S. 636 f. 70 Gerhard Anschütz, 1933/1965, S. 403.
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Parlament konnten die zentralen Grundrechte oder das allgemeine Wahlrecht abgeschafft, eine kommunistische oder faschistische Diktatur errichtet, aber auch eine Monarchie wieder eingeführt werden. Es gab nichts „Unantastbares“, wie es das Grundgesetz etwa mit der Unabänderlichkeit des Wesensgehaltes der Grundrechte fixiert hat. Weil nichts absolut galt, sprach man daher vom Relativismus der Weimarer Verfassung. Diese verfassungspolitische Offenheit war historisch der lebendige Ausdruck für den Zwang zum Kompromiss während der Verfassungsberatungen im Frühjahr 1919. Angesichts der katastrophalen militärischen Niederlage und der Gefahr einer kommunistischen Revolution bestand ein Einigungszwang zwischen Bürgertum und Sozialdemokratie, der nur erreicht werden konnte, wenn man allen Beteiligten für Weiterentwicklung (sozialistische Republik) oder Restauration (Wiederherstellung eines monarchischen oder autoritären Obrigkeitsstaates) verfassungsrechtlich freie Hand ließ, sobald man die notwendigen Mehrheiten zusammenbrachte. Insofern war es verfassungsrechtlich legal und durchaus legitim, über andere Staatsmodelle nachzudenken, diese zu propagieren und sich von der „Inhaltslosigkeit“ der relativistischen Demokratie abzusetzen. Der lutherische Theologe Althaus kritisierte darum diese unbegrenzte Beliebigkeit der Verfügungsgewalt des Volkssouveräns, weil durch sie die gottgewollte Autorität der Obrigkeit und vor allem ihr durch den göttlichen Auftrag legitimiertes und zugleich begrenztes Amt zerstört würde. Man muss sich diese Zusammenhänge auch deshalb bewusst machen, weil die heute übliche und in der Bundesrepublik verfassungsrechtlich verankerte Identität von Rechtsstaat und Demokratie mit ihrer Begrenzung der Souveränität des Gesetzgebers damals nicht existierte. Die Unterscheidung von Staatsform und Staat ist heute faktisch obsolet geworden, während sie in den Weimarer Jahren zwar unreflektiert, aber gleichsam selbstverständlich galt. Der „deutsche“ Staat war für Althaus seinem Wesen nach ein christlicher „Führerstaat“, in dem die Staatsführung, vom Vertrauen der Volksgemeinschaft getragen, ihres Amtes selbstständig, allein in Verantwortung vor Gott waltete. Diese Verantwortung vor dem Höchsten begrenzte die Macht des politischen Führers, gab ihr Inhalte und Aufgaben zum Wohle der Bürger, so dass zumindest normativ die grundlegenden Rechtsprinzipien auch ohne förmliche Kontrolle durch andere politische Instanzen eingehalten und geachtet wurden. Für Althaus und viele seiner Generation war hier der sich zum Christentum bekennende Reichskanzler Bismarck das große Vorbild. Erst die Etablierung des verbrecherischen NS-Unrechtsstaates hat die unabwendbare politische Notwendigkeit der Kontrolle aller Staatsgewalt und die institutionelle Rechtsbegrenzung auch im „staatsfrommen“ Luthertum schmerzlich bewusst gemacht. 1927 fehlten diese Erlebnisse und Erfahrungen noch, das muss man berücksichtigen, wenn man die demokratie-kritischen und tendenziell obrigkeitlichen, die freie, nur gottgebundene Verantwortlichkeit des politischen Führers in seinem Amt betonenden politischen Vorstellungen von Paul Althaus angemessen einordnen will. Dass diese Vorstel188
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lungswelt mit ihren Kategorien von Amt und Beruf tendenziell anti-egalitär und zugleich gefährlich führeranfällig und unzureichend abgesichert war, ist aber auch jetzt schon festzuhalten. Das gilt insbesondere, wenn man berücksichtigt, dass dieser Staatsgedanke bewusst nicht „rational“ abgeleitet, sondern als Ergebnis der deutschen Geschichte, als „deutscher Staatsgedanke“ im Kontrast zu westlich demokratischem, individuell liberalistischem und rationalistischem Staatsdenken begriffen wurde. In diesen Begriffen wird zugleich deutlich, wie sehr die theologische Argumentation von Althaus verknüpft war mit seiner politisch-historischen Vorstellungswelt, die vor aller Theologie existierte. Nirgends wird das so greifbar wie an seinem Begriff von Volk, Volkstum und Nation. Bohrt man hier tiefer, dann wird erkennbar, wie stark das Denken von Paul Althaus geprägt war durch die nationale Stimmung nach der Bismarckschen Reichseinigung, in die er hineinwuchs und die auf Begriffe gebracht wurde durch sein Geschichtsstudium bei dem Neorankeaner Max Lehmann. Rankes und Herders Aufwertung der Völker zu Individualitäten mit je eigenem Charakter, eigener Kultur sowie eigener Sendung und eigenem Beruf glaubte Althaus als Wirklichkeit erlebt zu haben, sie war ihm Realität und Auftrag zugleich. Der Prozess der deutschen und italienischen Nationsbildung erschien ihm als Ziel der von Gott gelenkten Geschichte. Dabei lag ihm jeder Germanozentrismus fern. Erst die Summe aller Völkerindividualitäten mache den Reichtum der Geschichte aus, darin folgte Althaus dem Rankeschen Geschichtsbild. Aus diesem Erlebnis und seiner historisch-politischen Deutung erwächst dann bei Althaus die Aufwertung der Völker zu Teilen der Schöpfungsordnung, die freilich in der Rankeschen Formulierung von den Völkern als Gedanken Gottes in der Geschichte schon angelegt war. Die Völker gewannen dadurch theologisch einen Rang, der bei Luther allenfalls der Ehe, der Arbeit und dem Staat zukam. Althaus war sich dieser „Überschreitung“ der lutherischen Theologie durchaus bewusst. Die Theologisierung des so verankerten und erlebten Volksbegriffes wurde bei ihm zusätzlich „vitalisiert“ durch sein pietistisches Erbe, in dem der Gedanke der Gemeinschaft immer eine zentrale Rolle spielte. Gemeinschaftsbindung und Gemeinschaftsverpflichtung des Individuums, das eigentlich nur aus diesem Zusammenhang seinen Rang bekam, hatten hier ihre von Althaus erlebte und gelebte Quelle, die seinen Volksbegriff wesentlich mitbestimmte. Mit der so aufgewerteten Volks- und Nationsbildung ist für Paul Althaus der Begriff eines „historisch notwendigen“ Krieges eng verbunden. Er prägte sein politisches Denken in jenen Jahren, auf das hier deshalb wenigstens kurz noch einzugehen ist. Das Begreifen der Völker als Einheiten der Schöpfungsordnung Gottes, zu „Gedanken Gottes in der Geschichte“, machte auch den Krieg zu einem möglichen Instrument in Gottes Plan der Nationswerdung. Diese in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem christlichen Pazifismus, in der Deutung der „Notwendigkeit“ der Bismarckschen Reichseinigungskriege und dem Erlebnis des Ersten Weltkriegs formulierte Erkenntnis baute Althaus in der zweiten Hälfte der 20-er Jahre systematisch aus. In seiner wichtigen 189
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Studie über Luthers Haltung im Bauernkrieg aus dem Jahre 1925 kritisierte er die Schranken in Luthers „Theorie des gerechten Krieges“. Luther fehle – „wie seinem ganzen Geschlecht, der Sinn für die lebendige Bewegung in der Geschichte. Sein einfacher Gedanke, dass im Kriegsfalle immer Recht wider Unrecht stehe … reicht für die Wirklichkeit der Geschichte, wie sie sich uns seither im Geschehen aufgeschlossen hat, nicht aus: die Geschichte lässt Recht auf Recht stoßen und die Gerechtigkeit muss immer neu gesucht werden.“
Mit diesen historisch nachvollziehbaren Argumenten wandte sich Althaus gegen Luthers klassische Lehre vom „bellum iustum“. An ihre Stelle trat für ihn die Lehre vom „gerechtfertigten Krieg“, zu dem es kommt, wenn zwei Völker bei der Wahrung ihrer Interessen, in „Wahrnehmung ihres spezifischen Berufes“ so grundsätzlich aufeinanderstoßen, dass ein diplomatischer Ausgleich als unmöglich erscheint. Recht stößt dann auf Recht und „die ,Gerechtigkeit‘ muss immer neu gesucht werden.“71 Da diese Kriegstheologie schon 1920 nicht unwidersprochen geblieben war und auch in der Folgezeit neben Zustimmung auch heftige Kritik fand, baute Althaus sie immer weiter aus. 1926 erschien die dritte Auflage von „Staatsgedanke und Reich Gottes“. Der ursprüngliche Text verdoppelte sich durch einen 54-seitigen Anhang: „Zum Problem des Krieges (Leitsätze und Erläuterungen)“. Althaus differenzierte hier seine Ausführungen aus den früheren Jahren. Er ging auch auf die Problematik des modernen Krieges mit seinen Vernichtungspotenzialen ein, die eigentlich die Losung „Nie wieder Krieg“ hervorbringen müsste, aber trotzdem hielt er an seiner generellen These von der historischen Möglichkeit und Notwendigkeit des gerechtfertigten Krieges fest. „Die Bejahung der nationalen Staatsbildung in der lebendigen Geschichte schließt notwendig das Ja zum Kriege ein“. Als Voraussetzung dieser Aussage gilt ihm 1. „dass nach Gottes Schöpferordnung Nationen die eigentlichen Träger des geschichtlichen Lebens sind“ und 2. dass die „Lebendigkeit der Geschichte“ den „Konflikt mehrerer Staatswillen immer wieder erzeugt“ Dabei setzt sich sein „ethisch begründeter nationaler Gedanke vor allem dadurch vom ,Nationalismus‘ ab, dass dort die eigene Nation und der eigene Staat absolut gesetzt werden, dass vergessen ist, wie alle Macht Verantwortung gegenüber dem Gesamtleben der Menschheit bedeutet.“ Nicht nur die „Antithetik“ sondern auch die „Synthetik der lebendigen Geschichte“ müsse gesehen werden, Völkerbeziehungen „auch als Gemeinschaft erfasst werden“72. Wenn man genau liest, spürt man, dass es Althaus im Grunde um die ethische Rechtfertigung der Bismarck’schen Reichseinigungskriege im 19. Jahrhundert und die „Entmoralisierung“ des Ersten Weltkrieges ging. Interpretiere man den Ersten Weltkrieg als auf allen Seiten gerechtfertigten Krieg, dann erweise sich die moralische Schuldzuweisung durch den Versailler 71 P.A., 1925, hier zitiert nach der Ausgabe von 1958, S. 27. 72 P.A., Staatsgedanke und Reich Gottes, 3. Aufl., S. 73 f.
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Vertrag als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, als „Vergiftung der Völkerwelt“. Althaus schließt natürlich nicht aus, dass im Zuge von Völkerbundbildung und weltweiter Wirtschaftsentfaltung sowie der Entwicklung der Kriegstechnik der Krieg als Mittel der Politik obsolet werden könnte, aber er sieht aktuell nach wie vor die Nationen als die eigentlichen Akteure der Geschichte und hält darum an seiner allgemeinen Theorie von der Möglichkeit eines geschichtsnotwendigen Krieges bei der Nationsbildung und der Realisierung des Berufes der Nationen fest. Diese Ambivalenz zwischen einer allgemein ethischen Theorie des Krieges unter den Nationen und einer eher historischen Rechtfertigung bestimmter Kriege vor allem im 19. Jahrhundert macht die Kriegstheologie von Paul Althaus so irritierend. Dieselbe Ambivalenz weht auch durch seinen sehr präzisen und knappen Beitrag in der zweiten Auflage des Lexikons „Religion in Geschichte und Gegenwart“ über „Krieg und Christentum“ aus dem Jahr 1929, in dem er seine Thesen noch einmal zusammenfasste. Wie politisch die theologisch formulierten Theorien zum gerechtfertigten Krieg waren, macht eine Auseinandersetzung deutlich, die sich 1932 zwischen Althaus und seinem Freund Emil Brunner über diese Problematik entspann. Brunner hatte in seinem großen Werk: „Das Gebot und die Ordnungen“ aus dem Jahr 1932 seinen Freund Althaus scharf kritisiert. Er votierte gegen die „Geschichtsromantik“ von Althaus, die er nicht nur in dessen „unnüchternen Einschätzung des genialen Führers“, sondern letztlich auch in seiner Kriegstheologie erkannte. Althaus komme auch in seinem gemäßigten Beitrag für die RGG von der alten, romantischen, den Krieg rechtfertigenden Theologie nicht los, obwohl es angesichts der Entwicklung der Kriegstechnik heute die einzige Aufgabe der christlichen Ethik sei, den „Krieg zu schänden“. Althaus’ Schlussformel in seinem RGG-Artikel: „Die Kirche hat die Völker nicht zum Kriege zu erziehen, aber auch nicht zum Frieden, sondern zum politischen Ernst und Verantwortungsbewusstsein“ kommentiert Brunner pointiert: „Weil der letzte Teil des Satzes wahr ist, darum ist heute der mittlere Teil des Satzes falsch.“73 Althaus, dem Brunner sein Buch geschickt hatte, reagierte auf die Kritik in einem persönlichen Brief vom 18. Mai 1932, der für die Freundschaft dieser beiden Theologen trotz aller offen ausgetragenen Differenzen ein gutes Zeugnis ablegt und zugleich die politischen Dimensionen der Althaus’schen Kriegstheologie noch einmal offenlegt: „Vor allem also für die Ethik herzlichen Dank und ehrlichen Glückwunsch, dass Sie dieses große Werk so schnell vollenden konnten … Was den Krieg anlangt, so habe ich zweierlei Bemerkungen: 1. ich glaube, meine Lehre vom Staate ist nicht so romantisch wie Sie meinen; 2. im Kolleg sage ich genau wie Sie: Heute ist der Kampf gegen jeden Krieg mit ganz neuem Ernste Pflicht. Wenn das in meinen Büchern so 73 E. Brunner, 1932, S. 456 ff., 661 ff., Zitat S. 664.
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nicht steht, so hängt das mit der Frontstellung, zu der der deutsche Pazifismus im letzten Jahrzehnt zwang, zusammen. ,Aktuell‘ war mein Wort für den Krieg nie gemeint. Was übrigens in der Einleitung zum zweiten Teile von „Staatsgedanke und Reich Gottes“ ausdrücklich drinsteht. Aber es galt, der moralischen Ächtung ,des‘ Krieges überhaupt, auch der vergangenen Kriege, durch einen christlichen Pazifismus einen Riegel vorzuschieben. Heute wäre gewiss auch nach der anderen Seite hin zu reden.“ (NLA K 10)
Dieser Kommentar ist außerordentlich bezeichnend. Der Hinweis auf die Einleitungspassage des neuen Teils zur Kriegstheologie in der dritten Auflage von „Staatsgedanke und Reich Gottes“ geschah mit vollem Recht, aber konnte die Kritik von Brunner nicht aushebeln, weil die These vom gerechtfertigten Krieg von Althaus quasi abstrakt und allgemeingültig, eben nicht nur zeitbegrenzt formuliert war, was wiederum mit dem ebenfalls abstrakt trotz aller geschichtlichen Modifikationen und Implikationen formulierten Nationsbegriff als Teil der Schöpfungsordnung zusammenhing. Zugleich offenbart sich hier eine methodisch problematische Argumentationsweise. Gegen die moralische Ächtung jeden Krieges durch den Religiösen Sozialismus glaubt Althaus mit einer generellen „Kriegstheologie“ antworten zu müssen, ohne die dadurch von ihm grundsätzlich geöffneten Fragen im Griff zu behalten. Gräbt man an dieser Stelle weiter, dann stößt man bei Paul Althaus zwangsläufig auf sein Geschichtsverständnis, das in der Geschichte Gott unmittelbar am Werke sieht, in Gott den Herrn der Geschichte erkennt. In der Bismarck’schen Reichseinigung glaubte Althaus Gottes direktes Wirken wahrnehmen zu können und darum den Reichseinigungskriegen eine besondere Rechtfertigung zuerkennen zu sollen; im Ausgang des Ersten Weltkrieges blieb Gottes Wille zwar verborgen, aber dieser Ausgang konnte und musste auch ein intensives Bemühen auslösen, die richtigen politischen und kirchlichen Konsequenzen zu ziehen, um die Prüfung des deutschen Volkes durch den Ersten Weltkrieg zu bestehen. Die volkskirchliche Erneuerung, die konstruktive Auseinandersetzung mit der „völkischen Bewegung“, dem Religiösen Sozialismus und dem Pazifismus waren Versuche einer solchen Antwort, die die jeweilige Kritik mit der Frage nach dem berechtigten Kern der gegnerischen Positionen verband. Die Machtergreifung Hitlers und des Nationalsozialismus sollte sich als größte Herausforderung für diese Antwortversuche erweisen.
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Abb. 1: Das Göttinger Elternhaus
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Abb. 2: Das Brautpaar, Lodz 1918
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Abb. 3: Großvater, Vater und Sohn 1924/25
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Abb. 4: Der Professor in Rostock
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Abb. 5: Portrait 1939
Abb. 6: In der Vorlesung 1948
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Abb. 7: Rudolf Bultmann © Universitätsbibliothek Tübingen, Mn 2-3088A/57
Abb. 8: Karl Barth 1955 © Karl Barth-Archiv, Basel
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Abb. 9: Bibliothek
Abb. 10: Ehrung durch seine Studenten am Vorabend des 70. Geburtstages von Paul Althaus
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Abb. 11: Paul Althaus als aktiver Pfarrer und Seelsorger
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6. Die frühen 30-er Jahre. Die Hoffnungen von Paul Althaus auf ein in der Krise erneuertes christliches Deutschland im Dritten Reich Die 30-er Jahre begannen mit der Auflösung der Weimarer Republik. Der Zerfall der letzten Regierung der Großen Koalition Ende März 1930 symbolisierte diesen Prozess. Es folgten die Präsidialregierungen, die von der Umgebung des Reichspräsidenten als Weg ohne Umkehr, als grundsätzlicher Abschied von der Herrschaft des Parlamentes und der politischen Parteien gedacht waren. Mit Notverordnungen und deflationären Sparmaßnahmen versuchte die Regierung des Kanzlers Brüning der Depression der Wirtschaft Herr zu werden, zugleich aber auch die ökonomische Krise zu nutzen, um durch den Nachweis der Zahlungsunfähigkeit die Ablösung der Reparationslasten des Versailler Vertrages zu erzwingen. Die Verschärfung der sozialen und wirtschaftlichen Nöte in Deutschland nahm man dabei bewusst in Kauf. Das schwere Schicksal der Millionen von Arbeitslosen führte zur Radikalisierung der Flügelparteien vor allem auf der rechten Seite des Parteienspektrums und zur Auszehrung des Blocks der gemäßigten Mittelparteien. Der Versuch, Hitler und die NSDAP zu zähmen und in einem mehrheitlich konservativ zusammengesetzten Kabinett einzuzäunen, brachte dann am 30. Januar 1933 die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Die Etablierung der Diktatur Hitlers, begleitet von ebensoviel terroristischer Gewalt wie – zumindest in den ersten Jahren – hoffnungsfroher Zustimmung zum angeblichen Wiederaufstieg des deutschen Vaterlandes, erzwang im Raum der Kirche komplizierte Lernprozesse. Klarstellende Bekenntnisse zogen im „ideologischen“ Kernbereich zur NS-Weltanschauung oft eindeutige Grenzen. In der politischen Wertung des Dritten Reiches jedoch mit seiner Errichtung einer autoritären Herrschaft und der Wendung gegen Parlament und Parteienstaat signalisierten die Kirchen anfangs – manchmal nur partielles – Einverständnis, zumal die außenpolitischen Erfolge in diesen Jahren einhellig begrüßt wurden. Welche Positionen Paul Althaus in dieser Zeit in Konsequenz seiner Stellungnahmen zu Politik, Staat und Nation aus den 20-er Jahren bezog, wie er lernte und modifizierte, welches Echo er fand und wo er Akzente setzte, das wird uns in den folgenden Abschnitten zu beschäftigen haben. Zwangsläufig stehen darum eher politische Stellungnahmen von Althaus, seine Beiträge zur politischen Ethik und zur konkreten Politik im Vordergrund der Darstellung. 193
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Gleichwohl darf der theologisch-wissenschaftliche Aspekt des Professors und auch seine ganz persönliche Verhaltensweise als frommes Mitglied der Kirche nicht aus den Augen verloren werden.
6.1 Paul Althaus im patriotisch-politischen Protest – angesteckt vom „nationalsozialistischen Bazillus“? Die Jahre 1930 – 32 sind die Zeit der Weltwirtschaftskrise und der Etablierung eines autoritären Präsidialregimes. Zugleich stehen sie im Zeichen zunehmender Polarisierung und Emotionalisierung der Politik in Deutschland. Ein erstes Indiz dafür war die Radikalisierung der rechtsbürgerlichen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) unter ihrem neuen Vorsitzenden, dem Pressemagnaten Alfred Hugenberg. Dieser hatte im Spätherbst 1929 zusammen mit dem Stahlhelm, der Organisation ehemaliger Frontsoldaten, und der NSDAP ein Volksbegehren gegen den gerade ausgehandelten Young-Plan zur Regelung der Reparationsfrage organisiert. Den deutschen Ministern, die diesen Plan unterzeichnen würden, sollte für diesen Fall wegen Vaterlandsverrates ein Prozess mit Zuchthausstrafe angedroht werden. Zwar scheiterte das rein populistisch angelegte Unterfangen im Dezember 1929, aber die jetzt verstärkt ausgelöste Emotionalisierung der politischen Diskussion kam vor allem der NSDAP zugute. Hugenberg hatte Hitler und die NSDAP gleichsam hoffähig gemacht, befreite sie aus ihrem Ghettodasein als Splitterpartei. Bei den Reichstagswahlen 1928 hatte die NSDAP 2,6 % der Stimmen und gerade einmal 12 Mandate erreicht. Im September 1930 – neun Monate nach dem Young-Plan-Volksentscheid – feierte sie mit dem sensationellen Gewinn von 107 Mandaten (18,3 % der Stimmen) einen Riesenerfolg. Sie wurde zur zweitstärksten Fraktion im Reichstag nach der SPD. Während diese sich noch einigermaßen gehalten hatte, erlitten die bürgerlich-nationalen Parteien herbe Stimmenverluste. Da auch die KPD erhebliche Gewinne – 77 statt 54 Mandate – vermelden konnte, dokumentieren die Wahlen von 1930 eine eindeutige Radikalisierung und Polarisierung in der Bevölkerung. Der Young-Plan brachte gegenüber dem bis dahin geltenden Dawes-Plan eine vorübergehende Absenkung der jährlich zu leistenden Reparationszahlungen. Außerdem sicherte er die vorzeitige Räumung des Rheinlandes von französischen Truppen zu. Zugleich legte er aber erstmals die Gesamtsumme der Reparationszahlungen fest. Deutschland hatte demnach 59 Jahre lang jährlich rund zwei Milliarden Mark zu zahlen. Diese deprimierenden und kaum vorstellbaren Daten riefen in Deutschland einen allseits geteilten Protest hervor und boten – zumal angesichts der Wirtschaftskrise – gute Voraussetzungen zum Appell an nationale Gefühle und für populistische Stimmungsmache und Polarisierung. Die Er194
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regung über den Versailler Vertrag mit seinem die Reparationszahlungen juristisch legitimierenden Kriegsschuldartikel und den Vorschriften zur deutschen Rüstungsbeschränkung wurde in den Debatten um den Young-Plan wieder vitalisiert. Man muss diese damals aktuellen Entwicklungen beachten, wenn man die politischen Aktivitäten von Paul Althaus in jenen Jahren verstehen will. Er war Anfang der 20-er Jahre in Rostock der DNVP beigetreten, ohne allerdings parteipolitisch aktiv geworden zu sein. Das Angebot, für die DNVP zu kandidieren, hatte er abgelehnt. Bei aller Nähe zu dieser Partei verbot ihm sein Amtsverständnis als Professor der Theologie und vor allem als Prediger und Seelsorger parteipolitische Aktivitäten. Die Radikalisierung der DNVP Ende der 20-er Jahre stieß bei ihm zusätzlich auf Ablehnung, so dass er aus der Partei austrat.1 Sein Erlanger Freund und Kollege Strathmann, der jahrelang für die DNVP im Reichstag gesessen hatte, verließ ebenfalls die DNVP und schloss sich dem evangelischen geprägten Christlich Sozialen Volksdienst, CSVD, an, der einen gemäßigten Kurs steuerte und Brüning unterstützte. Dass Althaus bei der Reichstagswahl im September 1930 weder die Hugenberg’sche DNVP noch gar die NSDAP – aber auch nicht den CSVD – wählte, erfahren wir aus einer lakonischen Bemerkung in einem Brief an seine Mutter, den er ihr am 15. 9. 1930 aus Niedersachsen, wo er zu Vorträgen weilte, geschickt hatte: „Ich habe gestern zum ersten Mal in meinem Leben in Helmstedt welfisch gewählt, da ich konservativ wählen wollte. Die Wahlen sind schlimm.“ Diese Beurteilung galt offensichtlich dem sensationellen Stimmengewinn der NSDAP und der daraus resultierenden Angewiesenheit der Regierung Brüning auf die Tolerierung durch die SPD. Die Wahl der Deutsch-Hannoverschen Partei, die 0,4 % der Stimmen erhielt, zeugt zugleich von der unverkennbaren politischen Ausweglosigkeit für einen konservativ-nationalen lutherischen Wähler, dem seine ganze politische Vorstellungswelt es unmöglich machte, radikale populistische Parteien zu wählen, aber der auch keinen Weg zum politischen Liberalismus oder gar zur Sozialdemokratie zu finden vermochte und für den die katholische Zentrumspartei – trotz aller Zustimmung zu Brüning –aus konfessionellen Gründen nicht wählbar war.2 Gleichzeitig ist in Reden und Veröffentlichungen von Althaus in diesen Jahren deutlich eine Stimmung abzulesen, die eindeutig in der damaligen nationalen Erregung verankert war, an ihr teilhatte und sie stützte, aber sie auch christlich einhegen wollte. An zwei „politischen Aktionen“ von Althaus sei das im Folgenden dargelegt. Dabei gewinnen wir zugleich einen Eindruck, wie Paul Althaus diese Krisenjahre durchlebte. Am 1. Juli 1930, einen Tag, nachdem die französischen Truppen gemäß den Festlegungen des Young-Plans das Rheinland geräumt hatten, enthüllte man 1 Vgl. dazu die Entnazifizierungsakte in NLA K 12, 4,4 und 4,6. 2 Dass P.A. nicht den CSVD wählte, ist überraschend, zeigt aber offensichtlich seine innere Distanz zu dieser „Christlichen“ Partei.
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im Erlanger Schlossgarten ein Denkmal für die im Weltkrieg gefallenen Studenten und Mitglieder der Universität. Dieses Denkmal stellte einen angeketteten Krieger mit trotzig erhobenem Haupt dar und unterstrich dessen Widerstandswillen mit dem aufgeprägten Goethewort: „Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten“. Wenn die Studenten in das dem Denkmal gegenüber liegende Kollegiengebäude zur Vorlesung gingen, sollten sie durch diese Gestaltung dazu angehalten werden, den Kampf um Deutschlands Ehre und Freiheit nicht aufzugeben. Politisch konkret folgte daraus die Forderung, die „Kriegsschuldlüge“ zu bekämpfen und die auferlegten Rüstungsbeschränkungen zu beseitigen. So wurde das Denkmal weniger ein Dokument der Trauer um die 384 Gefallenen als vielmehr ein Monument der Mahnung an die gegenwärtige Studentengeneration, die Ketten von Versailles abzuschütteln, oder wie es ein damaliger Studentenspruch formulierte: „Brüder merkt’s euch gut: unser Blut tränkt die Erde, dass ein Neues werde.“3 Die Festrede bei der Denkmalweihe hielt Althaus. Dass die Hochschulleitung ihm und nicht etwa dem amtierenden Universitätsprediger diese Aufgabe übertrug, macht deutlich, dass man eine politische Rede und keine Predigt erwartete. Es lässt zugleich darauf schließen, dass man den lebendigen Kontakt von Althaus zur Generation der Studenten schätzte und ihn zugleich als vaterländisch gesonnenen Mann kennen gelernt hatte. Seine in der Erlanger Presse vollständig abgedruckte und vielfach gewürdigte Rede – selbst die sozialdemokratische Erlanger Volkszeitung fand zustimmende Worte – war weniger eine Rede zum Totengedenken und der Trauer, sondern war ein Appell an die gegenwärtig studierende Jugend.4 In dem Denkmal sah Althaus „ein Zeichen dieses dankbaren, ehrfürchtigen Stolzes“ für die „selbstlose Hingabe der gefallenen Brüder.“ Es ermahne die heutige Studentengeneration, auch mitten im Frieden sterben zu können, „das heißt, sterben sich selber, den Eitelkeiten und Selbstsüchten und Interessen, und hingegeben dienen am deutschem Leben!“ Außerdem zeige das Denkmal „unser Vaterland“ und fordere „unsere Liebe zum Vaterland“. „Wo aber Liebe ist, da muss auch Zorn und Hass sein. Das Blut unserer Brüder ruft uns zum Hass wider die Treulosigkeit und Trägheit, die das Erbe verschleudert, wider das Gift, das aus den Großstädten zersetzend durch den Volkskörper schleicht, wider das Spiel mit der Heiligkeit der Ehe, das ein Spiel mit dem Leben, ein Tanz mit dem Tode unseres Volkes ist.“ Dem konservativ-moralischen Appell dieser Worte nach innen folgt dann der Aufruf zum Kampf für „Vaterland, Freiheit“ nach außen, zumal „diese hohen Wirklichkeiten uns verschüttet zu werden [drohen] in unseren bösen Tagen! Wie viel Schuld hat sich darüber gelegt: die brutale Last der wirtschaftlichen Fragen [der Bankenkrach war 14 Tage alt], das Elend des Parteiwesens, der tägliche Kampf ums Dasein, die elende Macht der Ge3 Zur Entstehung und Geschichte dieses Denkmals, das 1945 von den Amerikanern „entnazifiziert“ wurde, vgl. die substanzreiche Studie von Manfred Hanisch, 1994, dort auch weitere Nachweise. 4 Handschriftliches Manuskript und Berichte in Erlanger Zeitungen in NLA K 13,4, 2 f.
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wöhnung, der Schwall großer weltbürgerlicher Worte. Fühlen wir nicht oft mit Erschrecken, wie stumpf wir geworden sind?“ Natürlich begrüßte Althaus aus Anlass der Rheinland-„Befreiung“ in Bewunderung und Dankbarkeit das tapfere Volk am Rhein, das dafür gesorgt habe, dass deutsches Land deutsch geblieben sei. Aber, so fügte er sofort hinzu, „Rheinland- und Pfalzbefreiung, bedeutet sie schon deutsche Freiheit? Man verbietet uns die Wacht am Rhein auch fürderhin. Das Recht des freien Volkes, wehrhaft zu sein, bleibt uns unwürdig beschränkt. Man schlägt unsere Volkskraft in Fesseln … Das ist nicht die deutsche Freiheit! … Und Friede? Ist es Friede, wenn in dem Friedensdokumente unser guter Name entehrt wird? Heißt ein Völkerbund Friede, in dem wir nicht gleichen Rechtes des Freien sind?“ Althaus ruft darum seine Hörer dazu auf, „dass wir in unserer Lage zwischen Kampf und Frieden, zwischen Knechtschaft und Freiheit, nie vergessen, was Freiheit, was Friede in Wahrheit sind.“ Dazu solle dieses Denkmal helfen, der trutzige Krieger, obwohl in Fesseln, sei nicht niedergebrochen, sondern lasse spüren: „Es kommt der Tag … und die Fesseln brechen. Dieser Frontgeist solle uns durchfahren, „dass wir deutsche Freiheit unablässig denken und unerschütterlich glauben und unermüdlich, unenttäuscht um sie ringen.“ Wann und wie diese Freiheit komme, das wisse Gott allein. Das Ringen der Heutigen um die deutsche Freiheit sei allerdings „gar anders“ als das der im Krieg gebliebenen Brüder. An ihren Gräbern sterbe alle Phrase, schweige alles hohe, tönende Wort. „Das heißt …, darum zu ringen …, dass wir endlich aus zwei Völkern wieder ein Volk werden, … dass wir Deutschen uns untereinander in dem, was ein Volk zur Nation macht, endlich wieder verstehen. Wer heute ohne Verrat am deutschen Wesen wirklich sammeln kann, der ist der Mann unserer kommenden Freiheit.“ „Wir wollen alle“, so schließt Althaus seine Rede, „darum eifern und ringen, ein jeder an seinem Posten. Und unser Ringen sei dann ein Beten und Anklopfen und Rufen zu dem, der die Völker kommen und gehen heißt … Ihn wollen wir fürchten in Demut und Ernst. Er aber lässt sich nicht trotzen, nicht fordern, nicht berechnen, nicht zwingen, nur eins: wir dürfen ihn handelnd anrufen … Herr, mach uns frei.“
Dieser Schlussappell war von Althaus offensichtlich bewusst gewählt. Auf diese Weise identifizierte er sich mit der trutzigen Botschaft des Denkmals. Seine Rede reflektierte die Stimmung der Zeit. Sie unterschied sich insoweit auch markant von der Predigt, die er im November 1921 in einem Gottesdienst der Rostocker Studentenschaft „zum Gedächtnis der für das Vaterland gefallenen Kommilitonen“ gehalten hatte.5 Damals war die Predigt beherrscht von der Betroffenheit über den Tod der Brüder und Freunde und deren Nöten, vom Respekt vor ihrer Haltung und von der Suche nach Trost. Erst in den Schlusspassagen beschwor Althaus die Botschaft des „Frontgeistes“ – aller5 Diese Predigt ist abgedruckt in P.A., 1924 (1), S. 10 – 18.
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dings noch ohne konkrete politische Zielbestimmung: die erschütternde Sachlichkeit der Front solle die lebende Generation rein machen. 1930 stand in seiner Rede die Antiversaillesbotschaft im Vordergrund. Mit der Schlussformel „Herr, mach uns frei“ knüpfte Althaus an eine demonstrative Kundgebung des Lehrkörpers und der Studentenschaft der Erlanger Universität vom 28. Juni 1929, also genau ein Jahr zuvor, an. Damals hatte die Universität aus Anlass des zehnten Jahrestags der Unterzeichnung des Versailler Vertrags eine repräsentative Veranstaltung durchgeführt, zu der die Professorenschaft feierlich im Talar eingezogen war. Die historisch-politische Festrede hielt der Neuhistoriker Otto Brandt. Er polemisierte gegen den Versailler Vertrag, gegen die ,Kriegschuldlüge‘, gegen die Entwaffnung und Besetzung des Rheinlandes. Deutschland bleibe nur der Kampf mit geistigen Waffen. In diesem Kampf bedürfe es jedoch „nicht nur einer einigen, sondern ebenso sehr einer durch sittliche Selbsterneuerung vertieften und gefestigten Nation. Dann wird … der Schrei aus tiefer Not Erhörung finden, der heute von den Lippen aller Deutschen zum Himmel dringen soll …: Herr, mach uns frei.“6
Die identische Schlussformel in den Reden von Otto Brandt und Paul Althaus mit dem Appell an die sittliche Erneuerung ist für die Stimmung im nationalkonservativen protestantischen Lager überaus bezeichnend.7 Brandt, der 1928 nach Erlangen auf den Lehrstuhl für Neuere Geschichte berufen war, und Althaus kannten sich gut, was aus der sehr persönlichen Traueransprache von Althaus nach dem plötzlichen Tod des 54jährigen Geschichtsprofessors im Jahr 1935 hervorgeht.8 Althaus zitierte dabei ausdrücklich die Schlusspassage von Brandts Rede zum Versailler Vertrag aus dem Jahr 1929. Bei aller Relevanz des Versailles-Komplexes, die der Zusammenklang der Reden von Brandt 1929 und Althaus 1930 dokumentiert, die Rede von Althaus ist hier deshalb so ausführlich zitiert worden, weil sie neben aller Empörung über die Politik der Siegermächte zugleich deutlich macht, welche Hoffnungen 6 Die Rede ist abgedruckt in: Erlanger Universitätsreden, Nr. 6, Erlangen 1929. Paul Althaus schickte seiner Mutter ein Foto von dem Einzug der Professoren im Ornat und berichtete ihr von der „eindrucksvollen Feier und Rede des Kollegen Brandt“. (Brief vom 6. 7. 1929). 7 Die Formel: „Herr mach uns frei“ ist der Schlussappell des altniederländischen Dankgebetes: „Wir treten zum Beten“ aus Anlass eines Sieges der Niederländer über die spanischen Truppen um 1600. In Deutschland wurde es unter Wilhelm II in der Übersetzung von Joseph Weyl sehr populär. In der Weimarer Zeit entsprach es den anspruchsvollen Antiversaillesstimmungen, die – wie Althaus und Brandt – eine innere Erneuerung als Voraussetzung für die politische Abschüttelung der Ketten von Versailles forderten. Hitler missbrauchte das Lied seit 1938, im Zweiten Weltkrieg entartete es zur Durchhalteparole. Noch heute lebt es im „Großen Zapfenstreich“ der Bundeswehr. 8 Bericht über die Trauerfeier und Rede von Althaus in: „Erlanger Beobachter“ Ende Jan. 1935, Zeitungsausschnitt in NLA K 13. 4. 2 f. Zu Otto Brandt, der seit 1933 zu den „Märzgefallenen“ gehörte und nationalsozialistische Geschichtspolitik betrieb, vgl. F. Lenger in H. Neuhaus, 1999, S. 278 f.
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Althaus auf eine christliche Erneuerung der deutschen Nation setzte und was er inhaltlich damit verband. Hier begegnet uns sein Antimodernismus, der ihn vom „Gift, das aus den Großstädten zersetzend durch den Volkskörper schleicht“, reden lässt, und seine hochgesteckte Sexualmoral, die gegen das „Spiel mit der Heiligkeit der Ehe“ protestiert. Sein größtes innenpolitisches Anliegen ist, „dass wir endlich aus zwei Völkern wieder ein Volk werden.“ Der lebhafte Kummer darüber, dass die Kirche die Arbeiterschaft verloren habe, wird hier erneut spürbar. In seiner Rede auf dem Königsberger Kirchentag hatte er diesen schon zum Ausdruck gebracht, er entsprach auch seinen Lodzer Erfahrungen. Ganz in diesem Sinne appellierte er 1930 an die Studenten, sich im Sinne eines wahren nationalen Sozialismus für die Belange der Arbeiter einzusetzen, für sie Verantwortung zu übernehmen. Noch Jahre später konnte er in einer Predigt an die Christen als „wahre Nationalsozialisten“ appellieren, sich für die sozialen Belange der Arbeiterschaft einzusetzen.9 Den Internationalismus der Arbeiterschaft lastete Althaus vor allem dem kritisch gesehenen ebenfalls international orientierten Kapitalismus an und hoffte – die Tradition der christlich-sozialen Bewegung aufnehmend -, in der christlich erneuerten nationalen „Gemeinschaft“ die Gräben schließen zu können, die zwischen den Klassen aufgebrochen seien und zur Vaterlandslosigkeit der sozialistischen und kommunistischen Arbeiter geführt hätten. Dabei wird zugleich erkennbar, dass Althaus nicht von der demokratischen Selbstorganisation einer pluralistischen Gruppengesellschaft diese Überwindung der konfligierenden Klassengesellschaft und die Behebung der sozialen Not erwartete. Das „Elend des Parteiwesens“ schreckte ihn vielmehr ab. Er hoffte stattdessen – wie er in der Schlusspassage seiner Rede formulierte – auf den Mann, der „heute ohne Verrat am deutschen Wesen wirklich sammeln kann, der ist ein Mann unserer kommenden Freiheit“. Dabei war für Althaus selbstverständlich, dass dieser Mann sein politisches Amt nur gebunden in der Verantwortung vor Gott auszuführen habe. Nur von den „großen Männern“ glaubte er die Erneuerung und Einigung des deutschen Volkes erwarten zu können. Das ist – pointiert gesagt – Hoffnung aus Rückschau auf Leben und Werk Otto Bismarcks. Dass Althaus schon 1930 bei dieser Formulierung an Hitler gedacht haben könnte, muss ausgeschlossen werden, zumal wir in Tagebüchern und Briefen aus diesen Jahren manche sehr kritische Bemerkung über Hitler finden. In dem Ruf nach den Großen Männern drückte sich eine Sehnsucht aus, die aus den Wirren gegensätzlicher Parteiungen und Interessen keinen anderen Ausweg zu erkennen vermochte als die durch eine große Führerpersönlichkeit integrierte echte Volksgemeinschaft, die sich ihrer christlichen Grundlagen und Normen wieder bewusst werden sollte. Mit dem Gespann Brüning-Hindenburg verband Althaus offensichtlich einige Hoffnungen in diese Richtung. 9 Vgl. dazu ausführlicher unten S. 225.
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Wenn auch beherrscht vom Antiversailles-Komplex und getragen von eindeutig konservativen und antirepublikanischen Vorstellungen – die Rede von Althaus fand über die Parteigrenzen hinweg allgemeine Zustimmung. Dazu war sie in sich differenziert und moderat genug. Gleichwohl war es nicht zufällig, dass die Feier mit einem politischen Eklat endete. Der Sprecher der Studentenschaft, der aus dem NS-Studentenbund kam, verkündete in seiner Rede als Botschaft der Toten des Weltkrieges die „völkische Idee“, die „die Schaffung des deutschen Staates, des Dritten Reiches“ fordere; die Weimarer Republik entspreche dieser Idee nicht und „darum sagen wir, dass die Beseitigung des derzeitigen Staates oberstes Gebot für jeden bewussten Deutschen ist.“ In der demokratisch-republikanischen Öffentlichkeit verstand man diese Formulierung als Aufruf zum Staatsstreich und zur moralischen Abqualifizierung aller Republikanhänger. Das traf auf empörten Widerspruch, weil den Anhängern der Republik ihr bewusstes Deutsch-Sein abgesprochen werde. Da jedoch die Justiz bis hinauf zum Oberreichsanwalt kein Strafverfolgungsverfahren einleitete, sah der Rektor von der Eröffnung eines Disziplinarverfahrens ab, zumal nicht expressis verbis zum „gewaltsamen Sturz“ aufgerufen worden sei. Er beließ es bei einer ausdrücklichen Missbilligung der Rede. In den Akten findet sich dazu der bezeichnende Hinweis, dass die Hochschulleitung mit Professor Althaus einig sei, dass man der Rede zuviel Ehre antäte, wenn man sie ernst nähme.10 Zwar ist keine ausformulierte Stellungnahme von Althaus überliefert, aber der kurze Aktenvermerk erscheint sehr charakteristisch. Sicherlich hätte Althaus den Aufruf zum Hochverrat nicht gebilligt, aber die Intention, auf die Ablösung der Weimarer Republik hinzuarbeiten, teilte er gewiss. Vielleicht neigte er auch dazu, die Formulierung als ungezügelten jugendlichen Tatendrang einzuordnen und damit in gewisser Weise zu verharmlosen. Dass erstmals in Erlangen 1929 der NS-Studentenbund bei den AStAWahlen an einer deutschen Universität die absolute Mehrheit errungen hatte und dass das protestantische Mittel- und Oberfranken sehr früh Wählerhochburgen der NSDAP aufweisen konnte, wie die Wahlen im September 1930 bewiesen, lässt befürchten, dass nur das „Ja“ von Paul Althaus zur nationalsozialistischen „Bewegung“, nicht aber sein „Nein“ zur Rasseideologie der NSDAP gehört wurde. Man muss unterstellen, dass man seinen Appell zu christlicher Erneuerung und seine immer wieder artikulierten Einwände und Absagen an den völkisch-rassistischen Absolutheitsglauben wenig wahrnahm oder aber ausdrücklich akzeptierte und gutgläubig hoffte, die NSDAP noch ändern zu können. Für diese Hoffnungen spricht, dass die Masse der fränkischen Deutschen Christen und NSDAP-Wähler im November 1933 mit der radikalen Führung der DC auf Reichsebene brachen, sich von Landesbischof 10 UA Erlangen, Akte 40772, in den Erlanger Zeitungen wurde der Wortlaut der Rede des Studentenvertreters nicht abgedruckt. Weitere Details bei Manfred Hanisch, 1994, S. 41 ff.
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Meiser kirchlich einbinden ließen und im Oktober 1934 erfolgreich gegen dessen Absetzung durch Reichsbischof Müller demonstrierten. Begegnet uns in der Rede zur Denkmaleinweihung der „Staatsbürger“ Paul Althaus in seinem politisch-nationalen Denken, frei von aller Theologie, wenn auch eindeutig christlich grundiert, so ist die zweite hier zu betrachtende „politische Aktion“ – seine zusammen mit Emanuel Hirsch veröffentlichte Erklärung über „Evangelische Kirche und Völkerverständigung“ – vom Selbstanspruch her ein „klärendes Wort“, zu dem sich Althaus und Hirsch im „kirchlichen Dienste des Lehrers der Theologie“ veranlasst sahen. Völkerverständigung, die Althaus und Hirsch als klare Christenpflicht bejahten, setze strenge Wahrheit und Klarheit über die wirkliche Lage voraus. Diese sei jedoch dadurch gekennzeichnet, dass „Deutschlands Feinde aus dem Weltkriege, … unter dem Deckmantel des Friedens den Krieg wider das deutsche Volk weiter [führen] und durch die darin liegende Unwahrheit die politische Weltlage so [vergiften], dass Aufrichtigkeit und Vertrauen unmöglich werden.“ Daraus leiteten die Autoren dann ab, dass zwar persönliche Kontakte und Zusammenarbeit mit „einzelnen Gliedern der unser Leben bedrohenden Nationen an besonderen begrenzten und dringlichen Aufgaben“ möglich sei, aber für die offizielle Zusammenarbeit deutscher Theologie und deutschen Kirchentums gelte, „dass eine christliche und kirchliche Verständigung und Zusammenarbeit in den Fragen der Annäherung der Völker unmöglich ist, solange die anderen eine für unser Volk mörderische Politik gegen uns treiben. Wer da glaubt, der Verständigung heute anders dienen zu können als so, der verleugnet das deutsche Schicksal und verwirrt die Gewissen im Inlande und Auslande, weil er hier der Wahrheit nicht die Ehre gibt.“11 Diese knappe und pointierte Erklärung, die den Abbruch der offiziellen Beziehungen zwischen den deutschen Kirchen und denen der „Feindmächte“ verlangte, erschien genau geplant am 2. Juni 1931 in ausgewählten Tageszeitungen und kirchlichen Zeitschriften. Sie wirkte wie ein Paukenschlag, zumal vom 1.–3. Juni 1931 in Hamburg die deutsche Vereinigung des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen, also die deutsche Sektion der ökumenischen Bewegung, ihre Jahrestagung abhielt. Das Echo dort war heftig. Vielfach wurde scharfe Kritik geübt. Am schärfsten äußerten Friedrich Niebergall und Martin Rade, die in der liberal- und kulturprotestantisch ausgerichteten, von Rade herausgegebenen „Christlichen Welt“ Althaus und Hirsch vorwarfen, in ihrer Erklärung sei nichts von dem zu finden, „was wir christlich nennen“. „Vor Gott sei kein Volk besser … als das andere … alle haben Schuld, auch wir Deutsche, … denn auch wir haben gesündigt in verblendetem Nationalismus und blödem Hass.“ Darum forderten sie, „aus der gemeinsamen Menschen-
11 Hier zitiert aus Theologische Blätter Band 10 (1931), Sp. 177 f., auch abgedruckt in: AELKZ 64 (1931), Sp. 544 f.
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schuld müssen wir einander vergeben … So wird aus dem Glauben heraus das Böse überwunden und Versöhnung angebahnt.“12 Es fehlte allerdings auch nicht an öffentlicher Zustimmung, vor allem aus dem konservativ-nationalen lutherischen Lager.13 Sehr differenziert äußerte sich Hermann Sasse, der Herausgeber des Kirchlichen Jahrbuches 1931, der 1933 als Kirchenhistoriker nach Erlangen berufen wurde.14 Er kritisierte die unscharfe Unterscheidung zwischen persönlicher und offizieller Begegnung, vor allem aber die Verquickung von theologischer und politischer Polemik, auch wies er darauf hin, dass die deutschen Vertreter in der ökumenischen Bewegung immer wieder auf die Problematik des Versailler Vertrages hingewiesen hätten. Diese Frage weiterhin zu thematisieren, sei das gute Recht der Erklärung. Auch wenn man eine allgemeine Schuld aller Völker am Krieg anerkenne, hindere das nicht, das spezielle Versagen der Mächte von Versailles zu kritisieren. Unter dieser Perspektive unterstützte Sasse aus betont lutherischer Sicht die Hirsch-Althaus-Erklärung gegen die aus christlichem Pazifismus geprägte Kritik von Niebergall und Rade. Hirsch hatte auf die Kritik rasch reagiert. In einem Aufsatz, der am 24. Juli 1931 in der AELKZ erschien, erläuterte er das Ziel der gemeinsamen Erklärung detailliert und rechnete zugleich scharf polemisierend mit den Kritikern ab.15 Insbesondere wandte er sich gegen Niebergall und Rade. Zwar gab es für Hirsch „der ganzen Gesinnung der beiden Herren gegenüber … nur eins …: Kampf“, aber im Text argumentierte er in der Sache fast ausschließlich gegen deren Vorwurf, „die christliche Erkenntnis von der gemeinsamen Schuldverfassung aller Menschen“ verletzt zu haben. Hirsch hielt dem entgegen, sein Zorn richte sich wider die bestimmten Sünden der Siegermächte von Versailles und ihren „Betrug“. Es sei doch nicht unchristlich, ganz konkrete Fehlhandlungen zu kritisieren. Den Vorwurf völkischer Selbstgerechtigkeit wies Hirsch energisch zurück. Althaus reagierte erst wesentlich später auf die Kritik und noch dazu zunächst an abgelegener Stelle in der Schweiz. Erst im Januar 1932, also ein halbes Jahr nach dem Eklat, wurde sein Text in der AELKZ erneut abgedruckt. Althaus wehrte sich hier gegen den in der Schweiz erhobenen Vorwurf, er und Hirsch seien Vertreter eines „nationalsozialistischen Radikalismus“. Weder Hirsch noch er selbst seien Mitglieder der NSDAP, ihn hinderten daran „realpolitische Bedenken … und hauptsächlich die naturalistische Rasseideologie in der ,Weltanschauung‘ dieser Partei.“ Er habe diese Position im letzten 12 Die Erklärung ist im Wortlaut erneut abgedruckt bei Ohst, 2002, S. 96. 13 Interessant auch die Reaktion von Lietzmann, der sachlich zustimmt, aber den Termin für politisch unklug hält. Vgl. dazu seinen Briefwechsel mit Emanuel Hirsch in: H. Lietzmann, 1979, S. 669 f, 672 f., 675 und 678 – 682. 14 Hermann Sasse, 1931, S. 477 ff. 15 Emanuel Hirsch 1931, Sp. 708 – 717. Die Position von Hirsch in dieser Angelegenheit ist ausführlich analysiert und in den Zusammenhang seiner Theologie eingeordnet von M. Ohst, 2002, hier insbesondere S. 88 – 100.
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Sommer auf Vorträgen vor Pfarrern und Studenten16 mehrfach vertreten, aber er anerkenne durchaus, dass der Nationalsozialismus als allgemeinpolitische Bewegung jenseits der Partei und ihrer Rassemythologie „seinem innersten Kerne nach in dem entschlossenen Freiheitswillen der nationalen Jugend“ bestehe und von „einem unterdrückten Lebenswillen“ zeuge. „Man ist aufgewacht zur brennenden Scham über die Fesseln, die unser Volk im Zeichen des ,Friedens‘ und des ,Völkerbundes‘ trägt.“ Was er in seiner Rede am Erlanger Kriegerdenkmal als Appell an die deutsche Jugend formuliert hatte, interpretierte er jetzt als Anliegen der nationalen Jugend, die sich in der nationalsozialistischen Bewegung zusammenfinde.17 Christliche Verständigung zwischen den Völkern sei nicht möglich, solange „unsere ausländischen Glaubensbrüder es sich so billig machen, nur auf unsere links eingestellten Volksgenossen, auf die Demokraten und Sozialisten zu hören.“ Hirsch und er hätten unter dem Eindruck gestanden, dass die deutschen Teilnehmer an der ökumenischen Bewegung in Gefahr stünden, ein Mittel in der Hand der Nutznießer des Friedens von Versailles zu werden. Es gelte „um des Ernstes der wirklichen Gemeinschaft willen … nicht eine billige pazifistische Ideologie zu machen“. Gegen einen weltanschaulichen Pazifismus Front zu machen, war ein Anliegen von Althaus seit 1919. Die Tatsache, dass diese Stellungnahme von Althaus so spät und frei von Polemik erscheint, lässt sich als Indiz dafür werten, dass Althaus bei der ganzen Aktion eher der Mitgezogene und nicht der Initiator war. Drastisch schrieb Karl Barth schon am 4. 6. 1931 an Georg Merz: „Ist Dir die Erklärung Hirsch/Althaus auch schon vor Augen gekommen? Was ist doch der Althaus ein Sprüche 1, 10 [„Mein Kind, wenn dich die bösen Buben locken, so folge nicht“] nicht bedenkendes Schaf. Hirsch war über Pfingsten bei ihm auf Besuch und hat ihm offenbar … diesen Unsinn in die Feder diktiert“18. Dass Barth – zwar übertreibend – einen richtigen Kern traf, belegen die zahlreichen Briefe, in denen Hirsch im Vorfeld der Erklärung auf Althaus einwirkte und ihn zu dem gemeinsamen Text drängte.19 Der Initiator der Aktion war ohne Frage Hirsch, von ihm stammten die Entwürfe und der Zeitplan, aber Althaus
16 Althaus spielt hier insbesondere auf seinen Riederauer Vortrag vor bayerischen Pfarrern im April 1931 an. Vgl. den Bericht in AELKZ Band 64 (1931), Sp. 403. 17 AELKZ Band 65 (1932), Sp. 62 – 65, K. Scholder, 1977, S. 214 f. betont diese Unterscheidung als konsequent, weil so vom nationalen Boden aus Kriterien für eine Kritik des NS-Ideologie zu gewinnen waren. 18 Zitiert nach Kl. Scholder, 1977, S. 783, einen Beleg für den Besuch von Hirsch bei Althaus gibt es nicht. 19 Allein aus den 14 Tagen vor der Veröffentlichung gibt es in NLA K11a mehrere Schreiben von Emanuel Hirsch an Paul Althaus zur Formulierung und zum Verteiler, mit drängendem Unterton bis hin zur Drohung, letztendlich die Erklärung alleine zu veröffentlichen. Leider sind die Antworten von Paul Althaus und die verschiedenen Textfassungen von Hirsch nicht erhalten. In nicht weniger zahlreichen Briefen äußerte sich Hirsch dann im Juni/Juli 1931 zur öffentlichen Reaktion – z. T. mit heftiger Polemik.
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stimmte schließlich aus freien Stücken zu, weil auch sein nationales Empfinden zutiefst verletzt war. Ein Grund für die Zustimmung lag gewiss in der lang bewährten persönlichen Freundschaft mit Emanuel Hirsch. Hinzu kam im Frühjahr 1931 vor allem das gemeinsame Entsetzen über die „deutsche Not“ in der Weltwirtschaftskrise. Die durch den Young-Plan auf Jahrzehnte festgeschriebenen Reparationszahlungen wurden in der Wirtschaftskrise als ruinierend empfunden und der Politik der Siegermächte von Versailles zugeschrieben. Das alte Versailles-Trauma verstärkte und aktualisierte sich und rief zum Handeln auf. Ob die Aufkündigung der offiziellen kirchlichen internationalen Zusammenarbeit dazu das richtige Instrument sein konnte, muss freilich bezweifelt werden. Offensichtlich sollte die provozierende Erklärung einer Tabuisierung der Versailles-Thematik in den kirchlichen Gremien Grenzen setzen. Die Unterschrift von Althaus bleibt gleichwohl überraschend, wenn man seine zuvor vielfach getätigten Engagements in der ökumenischen Bewegung bedenkt. Schon mit seiner Teilnahme an der Stockholmer Weltkirchenkonferenz 1925, wo er auf Einladung von Bischof Söderblom gepredigt und für kirchliche Verständigungsarbeit geworben hatte, waren erste Akzente gesetzt. Auf dieses in den Folgejahren fortgesetzte ökumenische Engagement von Althaus zielte auch der Herausgeber der Theologischen Blätter, der Bonner Neutestamentler Karl Ludwig Schmidt, bei seiner fundamentalen knapp, aber präzis begründeten Kritik an der Aktion von Hirsch und Althaus. Er hatte die Erklärung in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift abgedruckt und in einem vernichtenden Kurzkommentar als „theologisch, kirchlich, politisch und menschlich für unmöglich“ erklärt.20 Was er mit dem „menschlich unmöglich“ über die abstrakt gegebene Begründung hinaus meinte, erfahren wir aus einem begleitenden, sehr persönlichen Brief vom 10. 6. 1931 an Althaus. Dieser Brief begann mit „Lieber Herr Althaus“ und zeigte damit eine gewisse kollegiale Verbundenheit, die schon seit Juni 1929 in einer Korrespondenz zwischen beiden zum Ausdruck kam und auch später in gleichem Tone fortgesetzt wurde. Schmidt verwies jetzt auf die Teilnahme und engagierte Mitwirkung von Althaus an mehreren britisch-deutschen Theologenkonferenzen, in denen er sehr freundschaftlich auf die englischen Teilnehmer zugegangen sei, was Schmidt 1927 in Canterbury selbst miterlebt habe. Umso mehr habe ihn die zwar „gut gemeinte und nicht in allem unsympathische … aber in jeder Beziehung verhängnisvolle Erklärung“ erschüttert. Er sei drauf und dran gewesen in seinem Zusatz darauf hinzuweisen, dass im Widerspruch zu der Erklärung einer der Unterzeichner englischen theologischen Kollegen „ohne feststellbaren Vorbehalt begegnet ist.“ Er habe davon abgesehen, „weil ich mir selbst nicht wie ein Thersites Ihnen gegenüber vorkommen wollte.“ 20 So in Theologische Blätter Band 10 (1931), Sp. 178.
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Aber er „möchte hoffen, dass Sie meinen Zusatz zu Ihrer Erklärung verstehen“.21 Ähnlich kritisch äußerte sich übrigens auch Georg Merz, der mit Barth engste Fühlung hatte, aber als bayerischer Lutheraner auch zu Althaus sehr lebendige Kontakte pflegte. Er mahnte Althaus in einem persönlichen Brief vom 17. 7. 1931: „In der Gegenüberstellung, in die Sie nun gebracht sind, liegt etwas, was nicht stimmt. Es müsste denn sein, dass Sie beide ganz entschlossen wären, auch den rechtsstehenden Kreisen den Punkt zu zeigen, wo eine ähnliche Verwechslung stattfindet wie bei den Pazifisten.“22 Diese sehr offenen und persönlich gehaltenen kritischen Schreiben enthüllen einen Charakterzug von Althaus, den man als Einfühlungsvermögen und Verständigungsbereitschaft sowie Ablehnung überzogener Rechthaberei bezeichnen kann. Offensichtlich hatte Schmidt in Canterbury jene große Offenheit von Althaus in der persönlichen Begegnung und seine immer von Herzen kommende Zuwendung zu seinen Gesprächspartnern auch in der Begegnung mit den englischen Kollegen bewusst miterlebt und erfahren. Diese Offenheit und Ehrlichkeit bestimmten das große Echo des Predigers und Professors Althaus ganz wesentlich, ihr waren taktische Erwägungen immer fremd, und darum verkannte Althaus wohl häufig auch die politische Wirkung und Instrumentalisierbarkeit seiner ganz ehrlich gemeinten und ohne böse Absichten getätigten Äußerungen, wie er umgekehrt auch seinen Gesprächspartnern zunächst immer nur gute Absichten und Ehrlichkeit unterstellte. Der politisch wirkende Kontrast zwischen seinem Verhalten in Canterbury und der Unterschrift unter die Hirsch-Althaus-Erklärung und deren von Merz kritisierte politische Einseitigkeit wurden ihm – wenn überhaupt – wohl erst hinterher bewusst. Mit der ausdrücklichen Zulassung persönlicher und themenbegrenzter Kontakte hatte Hirsch offensichtlich Althaus „eingefangen“, den Kontrast zu Canterbury unwirksam gemacht und Althaus für seine Zwecke instrumentalisiert, zumal der Affekt gegen Versailles bei Althaus äußerst lebendig war und ihn mit Hirsch verband. Gleichwohl bleibt der Grundtenor der Hirsch-Althaus-Erklärung so barsch und apodiktisch, das man sich immer noch fragt, warum Althaus unterzeichnet hat. Einen Teil der Antwort wird man wohl wieder in seiner Verständigungsbereitschaft sehen müssen, seinem Bemühen um Ausgleich und seiner offenkundigen Schwierigkeit, Weggefährten und Freunden gegenüber nein zu sagen. Davon profitierte Hirsch bei seinem Drängen auf Unterschrift.23 Hinzu kamen freilich die ganz konkreten Zeitumstände, die beachtet werden müssen, will man Paul Althaus’ Unterschrift auch nur annäherungsweise richtig verstehen. 21 Brief vom 10. 6. 1931 in NLA K 11b. 22 NLA K 11a. 23 Bei der später viel kritisierten Unterschrift unter den Ansbacher Ratschlag nutzte offensichtlich sein Kollege Werner Elert diese Haltung von Paul Althaus ebenfalls aus. Vgl. unten S. 246 f.
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Der Sommer 1931 war erfüllt von der in Deutschland sich massiv beschleunigenden Wirtschaftskrise, die durch Brünings prozyklisch-restriktive Konjunkturpolitik, die jede staatliche, die Konjunktur ankurbelnde Schuldenaufnahme ablehnte, zusätzlich verschärft wurde. Der Reichskanzler wollte auf diese Weise den Entente-Mächten die Unmöglichkeit der weiteren Reparationszahlungen beweisen. Die soziale Krise mit ihrer politischen Radikalisierung erschien darum als von den Reparationszahlungen verursacht, da wegen dieser Zahlungsverpflichtung – so die offizielle Begründung – Gehälter und Sozialleistungen gekürzt sowie Investitionen gestrichen werden müssten. Die Erklärung Hirsch/Althaus lässt sich deshalb als ein Produkt der Brüningschen Deflations- und Reparationspolitik begreifen. In diese Perspektive spricht sie von dem „neuen, furchtbaren Krieg mitten im Frieden“, von den „uns aussaugenden und bedrückenden Nationen“, die eine „für unser Volk mörderische Politik betreiben“. Nur in dieser aufgeheizten politischen Atmosphäre, so darf man wohl folgern, hatte Hirsch die Chance, den immer auf Ausgleich bedachten Althaus zur Unterschrift unter ein solches politisches Pamphlet zu veranlassen. Zwar konnte Brüning mit seiner riskanten Politik erste Erfolge verzeichnen, als noch im Juni 1931, nur zwei Wochen nach der Erklärung von Hirsch/ Althaus, das Hoover-Moratorium, ein einjähriges Aussetzen der Reparationsund Schuldenzahlungen, verkündet wurde. 1932 folgte dann der faktische Stopp aller Reparationen, deren Ende aber erst 1933 offiziell wurde und damit eher der Regierung Hitler und nicht mehr Brüning gutgeschrieben wurde. Begreiflicherweise kam jedoch die Erregung der politischen Debatten 1931/32 trotz des Hoover Moratoriums nicht zur Ruhe. Zu drohend blieb die Fortsetzung der jahrzehntelang zu zahlenden Reparationen, zu wenig Erfolg versprachen die Abrüstungsbemühungen, die 1932 in Lausanne endgültig scheiterten und damit die einseitige Beschränkung Deutschlands auf ein auch waffentechnisch gezähmtes 100.000-Mann-Heer zu verewigen schienen, was als grobe Ungerechtigkeit und Verletzung der nationalen Freiheit aufgefasst wurde. So setzte sich die Emotionalisierung der Politik ungehindert weiter fort, zumal die umkämpfte Wiederwahl des Reichspräsidenten Hindenburg, die im März und April 1932 mühsam gegen den von den Rechtsparteien aufgestellten Kandidaten Hitler durchgesetzt wurde, und die beiden Reichstagswahlen im Juli und November 1932 die Aufgeregtheit in der Politik noch steigerten. Die Rede am Gefallenendenkmal und ebenso die Hirsch-AlthausErklärung sind Dokumente dieser erregten Zeit, sie verraten aber zugleich, wie stark der deutsche Staatsbürger Paul Althaus durch Versailles und seine Folgen traumatisiert war. Dieses Trauma ist ein – jenseits von aller Theologie – stets zu beachtendes Faktum in seiner Biographie, weil es seine politischen Vorstellungen und Diagnosen mitbestimmte und im Untergrund seiner Theologie wirkte.
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6.2 Paul Althaus als Theologe und Seelsorger in der Krisenzeit 1932/33 Sowohl die Rede zur Denkmalseinweihung als auch die Hirsch-Althaus-Erklärung waren eindeutig politische Aktionen, auch wenn Althaus sie wohl im ersten Fall eher als eine sittliche Ermahnung an die Erlanger Studenten und im zweiten Fall als einen Beitrag zur innerkirchlichen Diskussion verstanden wissen wollte. Die politische Brisanz der Hirsch-Althaus-Erklärung hatte er nicht erkannt, dazu war er ganz offensichtlich – im Unterschied zu Hirsch – zu unpolitisch. Sein seelsorgerlicher Impetus sah auch in dieser Erklärung eher die Aufforderung zur Diskussion und die Signalisierung von Gesprächsbereitschaft als das politische Fanal, das Hirsch beabsichtigt hatte. Es zeugt von einer gewissen politischen Naivität bei Paul Althaus, dass er diese politischen Wirkungen nicht beachtete oder nicht realisierte. Die Erklärung konnte von allen möglichen politischen Kräften, insbesondere von der Rechten missbraucht werden und verhärtete und emotionalisierte die politischen Auseinandersetzungen, statt Fronten zu versachlichen und abzubauen. Für Althaus war eine solche Aktion eher untypisch. So sehr er durch Versailles geradezu traumatisiert war und diese Verletzung ihn gegen die Weimarer Republik wegen ihrer Unterschrift unter den Versailler Vertrag einnahm, so unverkennbar war doch gerade in der Krise der frühen 30-er Jahre, dass er sich parteipolitisch immer zurückzuhalten versuchte, den Radikalismus rechts und links kritisierte, gegen Egoismus polemisierte und für einen christlich gereinigten Einsatz für das ganze deutsche Volk eintrat. Politische Aufrufe oder gar Beteiligungen an konkreten Aktionen sind bei ihm nach der gemeinsamen Erklärung mit Hirsch nicht mehr zu finden. Er konzentrierte sich vielmehr auf seine wissenschaftlichen und seelsorgerlichen Amtspflichten. Das ihm 1932 endlich übertragene Amt des Universitätspredigers nahm er ebenso ernst wie seine Professoren-Pflichten, in beiden fühlte er sich als Lehrer der Kirche. Das Jahr 1932 wurde in dieser Hinsicht ein sehr produktives Jahr. Nachdem 1929 der erste Teil seines „Grundriss der Dogmatik“ und 1931 die Neubearbeitung und Erweiterung der Leitsätze der Ethik zum „Grundriss der Ethik“ erschienen waren, kam 1932 der „Grundriss der Dogmatik II“ heraus – im Umfang fast doppelt so stark wie der erste Teil. Von der Intention her waren all diese Bücher Lehrbücher, sehr knapp im Inhalt und richteten sich eigentlich direkt nur an seine Studenten. Althaus brachte in diesen Büchern gleichsam den Extrakt seiner Vorlesungen. Sie legten Fundamente, ordneten ein, sicherten die Grundessenz und wahrten den Überblick. Die Vorlesungen selbst waren ausführlicher, gaben Beispiele, diskutierten Kontroversen und brachten Positionierungen. Inhaltlich entwickelte Althaus hier seine umstrittene Lehre von der „Uroffenbarung“. Zugleich dokumentierte er sich in diesen Büchern als Lehrer der Kirche, der den Pfarrern für ihren Kirchendienst allgemeine 207
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Fundamente mitgeben wollte, nicht aber seine persönlichen Positionen in den Vordergrund stellte, auch wenn natürlich Aufbau und Detailargumentationen seine Handschrift trugen und seine Lehre von der „Uroffenbarung“ Kontroversen auslöste. Jahrelang wurden diese Werke immer wieder neu aufgelegt und von Althaus überarbeitet. Theologiestudenten nutzten sie als Grundlage für die Examensvorbereitung bis in die 60-er Jahre hinein. Die Bücher lebten von der Formulierungskunst und Klarheit der Gedankenführung, mit der der wissenschaftliche Autor Althaus immer wieder überzeugte. Noch 1952 lobte ein Rezensent die „umfassende sachliche Bestandsaufnahme“ und die „Exaktheit und Durchsichtigkeit der eigenen Positionsbestimmung“, die dazu geführt habe, dass sein Grundriss „heute für die theologische Jugend das Elementar- und Normalbuch des dogmatischen Studiums ist“.24 1932 erschien auch die erste Auflage des Römerbrief-Kommentars von Paul Althaus.25 Dieser war zugleich der Eröffnungsband des von ihm zusammen mit dem Neutestamentler Johannes Behm edierten Werkes „Das Neue Testament Deutsch“. Die Übernahme der Herausgeberschaft gab Althaus die Chance, neben der Systematischen Theologie sein Gewicht als Neutestamentler zu profilieren.26 Daran lag ihm viel, da er die biblische Rückbindung der Systematischen Theologie als zentral wichtig ansah. Dass er den für alle neutestamentliche Theologie zentralen Römerbrief kommentierte, unterstrich sein inneres Engagement bei diesem Projekt. Dieses Engagement galt zugleich auch dem besonderen Anliegen der Reihe, sich an theologische Laien zu wenden. Im Titel deutete der Hinweis „Deutsch“ genau in diese Richtung: auf jedes griechische Wort und auf Griechischkenntnisse der Leser wurde ausdrücklich verzichtet. Die Zuwendung zur Gemeinde, zum interessierten Nicht-Theologen, entsprach zugleich dem theologischen Selbstverständnis des Professors und Predigers Paul Althaus, der sich als Lehrer der Kirche definierte und darum es als seine Aufgabe ansah, nicht nur Theologiestudenten anzusprechen. Der inneren Gliederung des Briefes folgend wird in einzelnen Abschnitten der Zusammenhang des Textes Vers für Vers erläutert und kommentierend die Botschaft des Briefes erschlossen. Nur an ausgewählten Stellen werden – klar abgesondert – überschaubar knappe, textunabhängige Exkurse zu zentralen Begriffen und Problemen an der für sie passenden Stelle in den Kommentar eingeschoben. Einer dieser Exkurse galt dem „Judenproblem“, das Althaus hier in der Tradition des christlich begründeten „Antijudaismus“ eindeutig definierte: „Israels Schicksal, das äußere und das innere, ist entscheidend durch die Ausstoßung Jesu bestimmt … Der ,ewige Jude‘, der sich und den Völkern, 24 Martin Doerne in: THLZ 77 (1952), Spalte 363 25 P.A., Der Brief an die Römer. Das Neue Testament Deutsch, Bd. 6, Göttingen 1932, hier zitiert nach der 4. Aufl. 1938. 26 Zur Bedeutung von Paul Althaus als Neutestamentler und seines Römerbriefkommentars vgl. die grundlegende Arbeit von Martin Meiser, 1993.
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unter denen er lebt, keine Ruhe läßt, entstand, als Israel sich gegen Christus entschied. An Christus ist Israel gescheitert. Das zerstreute, heimatlose Volk, das überall bei den Wirtsvölkern die völkische Geschlossenheit sprengt und vielfach eine offene Wunde bedeutet, verkörpert die offene Frage der Geschichte überhaupt.“27 Althaus artikulierte hier eine damals weitverbreitete „klassische“ geschichtstheologische Interpretation der Zerstreuung des Volkes Israel als Strafe für die Kreuzigung Jesu. Zugleich gab diese Interpretation seinem Denken in Völkern als Einheiten der Schöpfungsordnung und handelnden Subjekten der Geschichte Ausdruck. Es bedurfte noch schwieriger Lernprozesse nach dem Ende der NS-Terrorherrschaft bis diese Passagen in der 10. neubearbeiteten Auflage seines Römerbriefkommentars 1966 entscheidend korrigiert wurden.28 Diese ebenso erschreckende wie zeittypische Passage schmälerte den Erfolg des Buches jedoch keineswegs. Schon im Juni 1933 berichtete Althaus seiner Mutter, dass das 6. – 10. Tausend gedruckt sei, 1938 war es dann mit der 4. Auflage bereits das 14. bis 16. Tausend. Die 10. Auflage, „neu bearbeitet und erweitert“, erschien 1966 im Jahr des Todes von Paul Althaus, 1978 erreichte die bisher letzte, die 13. Auflage das 63.–65. Tausend. Zustimmend wird 1978 auf der Einbandrückseite ein Kommentar der Theologischen Literaturzeitung abgedruckt: „Althaus findet für den Ertrag der Exegese Formulierungen, mit welchen man in der Gegenwart zu Werke gehen kann – und mit welchen man dennoch hart an Paulus und dem Römerbrief bleibt. Die systematischen Formulierungen sind geradezu vollendet; die praktischen Hinweise entfernen sich nicht vom Römerbrief – muss es aber sein, so steht dieses ausdrücklich verzeichnet.“ Hier wird deutlich, dass und warum viele Generationen von Theologiestudenten auch dieses Buch – ähnlich wie für ihren Bereich die Grundrisse zur Ethik und Dogmatik – als gutes Fundament für ihre Aneignung des theologisch so zentralen Römerbriefes benutzten. Die selbst auferlegte, präzise Textgebundenheit erforderte eine gewisse dienende Bescheidenheit des Autors, zu der sich Althaus auch ausdrücklich bekannte. In dieser exakten Bindung an den Text setzte er sich deutlich von Karl Barth ab, ohne dessen besonderen Verdienste abzustreiten. Barths berühmter Römerbrief-Kommentar sei „keine Auslegung im engeren Sinne, sondern der Versuch einer Nachschöpfung des Briefes aus der besonders verstandenen modernen Geisteslage und für sie; doch kann man aus diesem Buche auch für das Gesamtverständnis des Paulus Wesentliches lernen“.29 Es entspricht dem Charakter des Kommentarwerkes, dass außer den knappen Literaturhinweisen in der Einleitung, aus der auch die Bemerkung zu Barths Römerbrief entstammt, keinerlei Fußnoten produziert und innertheologische Diskussionen geführt wurden. Vielmehr sollte möglichst un27 P.A., Römerbrief, 4. Aufl.1938, S. 103, ebenso 9. Aufl. 1962, S. 111. 28 Vgl. dazu unten S. 375. 29 P.A., Römerbrief, 4. Aufl. 1938, S. 5.
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verzerrt der Autor des Briefes selbst, der Apostel Paulus, zu Wort kommen. Dabei mahnte Althaus vor Überinterpretation und Vereinseitigung von Textstellen, was an der berühmten Stelle, in der Paulus den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit fordert, dargelegt sei. Althaus dokumentierte hier zugleich, dass sein Staatsverständnis über das von Paulus – und Luther – hinausging. Dem Bösen zu wehren und das Gute zu fördern, ist die Sendung des Staates nach dem Römerbrief. Darin ist die staatliche Rechtsordnung „unentbehrliche Voraussetzung und wesentliches Mittel für das ,Gute‘, den Gehorsam gegen Gottes Willen, die sittliche Welt. Um ihretwillen will Gott den Staat“. Diese Aufgabe bestimmt die Würde des Staates, begrenzt sie aber zugleich, weil der Staat mit „zu der vergehenden ,Gestalt dieser Welt‘ (1. Korinther 7,31)“ gehört. Deshalb seien die Christen „nicht nur zur Anerkennung, sondern auch zum Abstandhalten“ aufgefordert. So weit interpretierte Althaus – Paulus zustimmend – die Passagen von Römer 13, um dann allerdings hinzuzufügen, eine christliche Lehre vom Staate dürfe in Römer 13 nicht aufgehen. „Paulus redet nur vom Rechtsstaat und seiner sittlichen Bedeutung, für uns kommt der Staat darüber hinaus als Form einer Nation für ihr Leben in der Geschichte in Betracht.“ Damit seien für uns Fragen gestellt, „die Paulus noch nicht kannte oder die er … gar nicht anrührt“. Weiterhin meinte Althaus, die schweren Fragen um „das sittliche Problem der Revolution“ hätte Paulus nicht erörtert, sie seien „uns zu eigener Begegnung und Entscheidung gestellt“. Immerhin gehöre auch für Paulus zur Obrigkeit hinzu, „dass die Verwaltung der Macht im Dienste sittlich bestimmter Rechtsordnung stehe“. Aus dieser eindeutigen Zielbestimmung und Zielbindung der Obrigkeit stelle sich notwendig die Frage, ob bei eindeutigem Versagen nicht Widerstand gegen die Obrigkeit geboten sei. Zwar behandele Paulus dieses Problem nicht, aber man könne „diese schweren Fragen … nicht durch Berufung auf Römer 13 einfach niederschlagen“.30 Mit diesen Sätzen begrenzte Althaus eindeutig alle neu-lutherische Staatsfrömmigkeit mit ihrer Tendenz zum Kadavergehorsam. Ob er dabei 1932 nur an eine Gehorsamsverweigerung gegenüber einer kommunistischen „Machtergreifung“ dachte, mag dahingestellt bleiben. Erkennbar ist jedoch, dass hier bereits auch das Potenzial für einen Widerstand gegen den NS-Terror eingeschlossen war. In der fünften verbesserten und erweiterten Auflage des Römerbrief-Kommentars, die 1946 erschien, wird das deutlich. Dem oben zitierten Satz aus den Vorkriegsauflagen, dass „die Verwaltung der Macht im Dienste sittlich bestimmter Rechtsordnung stehe“, fügte Althaus nun verdeutlichend hinzu: „dass man um Gottes Willen unter Umständen ein Nein zu den Ansprüchen der politischen Macht sprechen muss, wusste Paulus nicht erst als Christ, sondern schon als frommer Jude … Man darf sich also nicht auf Römer 13 berufen, um jene frag- und kritiklose Untertanengesinnung, jene 30 Ebd., S. 110 f.
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unbedingte Loyalität gegen den Staat zu rechtfertigen, die vergessen hat, dass die Autorität Gottes und seiner Gebote die Autorität des Staates und die Gehorsamspflicht seiner Bürger nicht nur begründet, sondern ihr auch Grenzen zieht.“31 Das Staats- und Politikverständnis von Paul Althaus wird in diesen Passagen des Römerbrief-Kommentars – auch schon in der ersten Auflage – im Grundsätzlichen deutlich greifbar und ist darum hier hervorgehoben worden. Die konkrete Umsetzung im Leben des Professors, Predigers und Patrioten muss ein Merkpunkt sein für seine Biographie. Für den zeitlichen Zusammenhang dieser wissenschaftlichen Veröffentlichungen mit dem Krisenjahr 1932 ist jedoch hier vor allem festzuhalten, dass in dem Römerbrief-Kommentar, in seiner Konzeption und Intention, der „Bibelwissenschaftler“ Althaus, bei dem Predigt- und Professoren-Amt quasi zu einer Einheit verschmelzen, immer wieder zu spüren ist. Diese Rückbesinnung auf die zentrale kirchliche Funktion des professoralen Lehramtes fand 1931/32 ihre zusätzliche Bestätigung und Erfüllung darin, dass ihm 1931 das Amt des Universitätspredigers in Erlangen – zumindest zur Hälfte – übertragen wurde. Nachdem der amtierende Universitätsprediger Bachmann am 18. Februar 1931 verstorben war, hatte Althaus, beginnend mit Karfreitag (3. 4. 1931) wiederholt im Universitätsgottesdienst in der Neustädter (Universitäts-) Kirche gepredigt. Die Fakultät entschied sich jedoch für eine Teilung des Amtes des Universitätspredigers. Man übertrug Althaus das Recht und die Pflicht des reinen Predigt-Amtes zur Hälfte, während der Praktische Theologe Ulmer noch zusätzlich die anfallenden Kasualien zu übernehmen hatte. Alle Mitglieder der Universität hatten nämlich das Recht, Taufen, Eheschließungen und Begräbnisse – statt vom zuständigen Ortspfarrer – vom Universitätsprediger zu erbitten. Wegen dieser Zusatzpflichten wurde Ulmer auch die im Universitätshaushalt vorgesehene schmale Zusatzvergütung für den Universitätsprediger zugesprochen. Die durchaus ungewöhnliche Arbeitsteilung lässt erahnen, dass bei aller Zustimmung zu Althaus bei Studenten und in der gesamtuniversitären Öffentlichkeit seine Stellung in der Fakultät nicht unumstritten war. Erst nach der Zwangspensionierung von Ulmer im Jahr 1937 übernahm Althaus das Amt des Universitätspredigers ganz und übte es bis 1964 – also sechs Jahre über seine Emeritierung hinaus – mit großem Echo in Universität und Stadt aus. Welche Bedeutung die Übernahme dieses Amtes für Althaus gerade in der Zeit der Krise hatte, erfahren wir aus einer kurzen Bemerkung in einem Brief vom 18. 10. 1931 an Karl Barth. Er berichtet seinem Bonner Kollegen hier, dass „die Last und die Freude der Universitätspredigten mindestens zur Hälfte“ auf ihn kommen werde, was er „als eine Erfüllung hinnehme“. Nun dürfe er „wie in Lodz und in Rostock im Zusammenhang predigen“, was ihm „schon den Verzicht auf einige sonst zu schreibende Bücher wert“ sei. Dann fügte er – sein 31 Ebd., 5. Auflage 1946, S. 112 f.
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aktuelles Krisengefühl dokumentierend – sehr bezeichnend hinzu: „Am liebsten durchlebte ich den kommenden Winter im Pfarramte, wie die schwere Zeit 1918“. (NLA K 10) Das Echo, das seine Predigten fanden, lässt sich auch daran erkennen, dass der Bertelsmann-Verlag noch 1932 einen Band mit 15 Predigten von Althaus mit einer Startauflage von 3000 Exemplaren veröffentlichte.32 Hier finden wir allein sieben Predigten, die in Wahrnehmung des neu übernommenen Amtes von Karfreitag 1931 bis Ostern 1932 in der Neustädter (Universitäts-) Kirche gehalten wurden. Prüft man diese Predigten auf ihren „politischen Inhalt“ hin, so bleibt festzuhalten, dass alle Predigten in ihrer zentralen Verkündigungsbotschaft streng biblisch konzentriert sind, was im konkreten Umfeld natürlich durchaus politisch wirken konnte und gegebenenfalls auch wirken sollte. Althaus nutzte die Kanzel jedoch nicht, um einseitigen politischen Wertungen geistliches Gewicht zu verleihen. Gleichwohl spürt man in den Predigttexten immer wieder die aktuelle politische und soziale Lage. Das geschah vor allem im ersten Teil seiner Predigten, wo er – seinem Predigt-Konzept entsprechend – die Hörer in ihrer Welt und Stimmung „abholte“. Hier werden natürlich auch seine eigenen politischen Interpretationen erkennbar. Sein Versailles-Trauma lässt sich beispielsweise aus seiner Predigt am 28. Juni 1931 – exakt 12 Jahre nach der Vertragsunterzeichnung in Versailles – mit Händen greifen.33 Unter dem Motto „Die schwere Zeit im Licht der Ewigkeit“ beginnt diese Predigt mit dem Hinweis auf Versailles als einer schweren Zeit, die Predigt-Botschaft zielt dann jedoch in eine andere Richtung: „unser Text weist uns von Menschenund Schicksalsgesetzen hinweg auf die ,gewaltige Hand Gottes‘“(S. 64), womit er auf den Predigttext 1. Petrusbrief 5, 6 – 11 Bezug nimmt. Der Gott als Herr der Geschichte wird hier angesprochen. Es habe Zeiten gegeben, „da trug diese Hand unser Volk wie auf Adlers Flügeln. Aber jetzt? Jetzt sind wir unter Gottes Hand und die gewaltige Hand liegt schwer auf uns.“ Zwar hörten die Deutschen nicht auf mit ihrem Schicksal zu ringen, „aber wo wir in diesem Ringen auf die gewaltige Hand stoßen, die uns niederhält, da beugen wir uns“. Gott sei der Herr, der Völker sterben lassen könne, darum sei Demut geboten. Allerdings gelte, so fährt Althaus fort, „vor unseren Feinden haben wir Deutsche uns nicht zu demütigen“. Er nennt es „dunkle Stunde der Schuld und Schande“, als sich vor 12 Jahren mit der Unterschrift unter den Versailler Vertrag das Deutsche Volk „zu erzwungenem lügenhaften Schuldbekenntnis vor seinen Feinden gedemütigt habe.“ (S. 66 f.) Vor Gott allein müsse sich das Deutsche Volk demütigen, „da erkennen wir unsere Volksschuld … Die Gottlosen-Bewegung, der Kampf gegen Ehe, Familie und Kindersegen, der Kampf gegen die Unantastbarkeit ungeborenen Lebens“, das seien die Themen, die sich die Christen in Deutschland stellen müssten. Jeder Einzelne sei gefordert, denn der Zeitgeist versuche uns alle“. 32 P.A., Der Gegenwärtige. Gütersloh 1932. 33 Ebd., S. 62 – 71.
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Aber in all diesen Nöten und Versuchungen der Zeit gelte es zu erkennen, dass diese böse Zeit „nur eine kleine Zeit“ sei, „denn der Gott aller Gnaden ist bei uns. Alle eure Sorgen werfet auf ihn.“ Diese zentrale, tröstliche Schlussbotschaft ist der eigentliche Kern, das Ziel der Predigt. In ihren politischen Passagen über den Kampf gegen Versailles wird zugleich die Stimmung erkennbar, aus der Althaus gut drei Wochen zuvor mit Emanuel Hirsch zusammen seine Völkerbund-Erklärung abgegeben hatte. Diese Predigt lässt eindeutig die politischen Empfindungen und Urteile des Predigers erkennen. Zugleich macht sie deutlich, wie das Geschichtsverständnis von Althaus durch seine Vorstellungen von Gott als dem konkret handelnden und führenden Herrn der Geschichte geprägt war. In ihrer dezidiert politischen Färbung sticht diese Predigt besonders hervor, offensichtlich wirkte sich der zwölfte Jahrestag des Versailler Vertrages aus und ließ das Trauma voll durchschlagen. In den übrigen Predigten dieser Sammlung finden wir darum in der Regel viel größere Zurückhaltung bei politischen Aussagen und Wertungen. Relativ ausführlich geschieht das noch in der Predigt am 14. 9. 1930, dem Tag der Wahlen nach der vorzeitigen Auflösung des Reichstages durch Reichskanzler Brüning.34 In den Einleitungspassagen dieser Predigt, die von Althaus unter dem Motto „Vom Bau des Hauses Gottes“ vor Pastoren auf einer Tagung des Apologetischen Seminars in der Klosterkirche St. Marienberg bei Helmstedt gehalten wurde, spricht er mit einigen kurzen Passagen die Erregung des Wahlkampfes und den Streit über die „Bauprogramme der Parteien“ an: es sei gewiss eine „drängende Frage der Stunde, was aus der Arbeitslosigkeit wird, ob unser großes Volk zu essen hat, ob wir wieder freier atmen können“. Entscheidend jedoch sei, ob „Gottes Haus gebaut“ wird oder nicht. Und hier seien die Theologen und Pastoren als Diener am Wort gefordert, und zwar gerade auch in der Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist, „über die tönenden Programme und Versprechungen und Zukunftsbilder der Parteien hinweg“. Politik und Parteiprogramme bilden für den Prediger gleichsam die Folie und das Umfeld, von dem her die Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit der Pfarrer und Theologen in ihrer Bindung an das ganze Wort Gottes und die Botschaft Jesu Christi eingefordert werden. Es würde zu weit führen, in allen Predigten dieser Jahre die politischen Forderungen, Ableitungen und Andeutungen von Paul Althaus nachzuzeichnen, zumal auch etliche Predigten jeden noch so verdeckten politischen Bezug oder Hintergrund vermieden haben. Althaus – auch das lässt sich erkennen – war sich bewusst, dass in seiner Predigtgemeinde die unterschiedlichsten politischen Positionen vertreten wurden. Er beließ es darum meist bei allgemeinen Zustandsbeschreibungen, wenn er z. B. die Not der Arbeitslosen oder die Zukunftslosigkeit der Studenten angesichts des Mangels an offenen Akademiker-Stellen beklagte. Es wird immer wieder deutlich, wie er unter den 34 Ebd., S. 35 – 50.
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Nöten und Zwängen der Krisenzeit litt, und wie er jenseits aller Politik die Aufgabe der Kirchen und Christen zu bestimmen versuchte. Seine Beurteilung der politischen Situation und sein Leiden an der Politik werden im Übrigen auch in einigen Passagen vor allem in den Briefen an seine Mutter und aus seinen Ferientagebüchern deutlich. Dabei ist auffällig, dass erst unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 Bemerkungen zur politischen Lage in den Briefen an seine Mutter auftauchen, zuvor enthielten sie fast ausschließlich Berichte aus dem konkreten Familienleben und von besonderen beruflichen Aktivitäten und Erlebnissen. Schon am 2. Februar 1933, wenige Tage nach der Machtergreifung, hatte seine Mutter in ihrem Geburtstagsbrief an ihren Sohn besorgt und beunruhigt geschrieben: „Die Zeitungen bringen ja immer neue Überraschungen und beängstigende Anzeichen großer Unruhen und Tumulte, wie soll das noch enden?“ Am 8. März kommentierte Althaus den Ausgang der Reichstagswahlen, der „für uns keine ganz ungemischte Freude [ist]. Ich sehe die Hakenkreuzfahnen nicht gerne und höre Hitler, ganz wie Du, noch weniger gerne. Aber wenn die Regierung nun wirklich nach dem hohen Worte mit Einsicht und mit Rücksicht auf die Andersdenkenden (ausgenommen Kommunisten!) handelt, dann will ich meine Sorgen gerne fahren lassen.“ Unverkennbar ist hier die Kommunisten-Furcht des konservativ-nationalen Theologen spürbar, der eigentlich einer „Regierung der nationalen Konzentration“ zuarbeiten müsste. Aber ebenso unüberhörbar sind die Vorbehalte gegen Hitler, die auch in späteren Briefen bezeugt werden. Am 29. 4. 1933 berichtete Althaus seiner Mutter über einen Vortrag in Wittenberg: „Dort war es durch die erregte Stimmung, und die Sorge um die Zukunft der Kirche, die wir in Gesprächen bis über Mitternacht austauschten, anstrengend.“ Der Ausblick auf das neue Semester erfüllte den Professor mit Bedenken: „Nun kommt das Semester. Am Montag erst der große Klimbim. Wir marschieren vermutlich mit, so wenig ich diese Sache liebe, dieses Getue ist ganz undeutsch und künstlich. Hitler in allen Ehren – aber wir leben nicht mehr in Deutschland, sondern in einem faschistischen Staate, der alles an sich rafft.“ In der Formulierung „Hitler in allen Ehren“ deutet sich eine Denk- und Argumentationsfigur an, die zwischen dem Reichskanzler, dem Träger eines hoheitlichen Amtes, das aus sich heraus Autorität beansprucht, und der Partei zu unterscheiden versucht. Gleichwohl überrascht die Skepsis von Althaus gegenüber der aktuellen Entwicklung und dem Stil einer „undeutschen“, einer „faschistischen“ Politik, die wir in diesen Äußerungen finden. Sie passte durchaus zu seiner Haltung und Argumentation im Streit um die HirschAlthaus-Erklärung 1931. Schon damals unterschied er dezidiert die NSDAP als Partei, die er aus realpolitischen Bedenken und hauptsächlich wegen „ihrer naturalistischen Rasseideologie“ ablehne, von dem Nationalsozialismus als allgemein politischer Bewegung vor allem der deutschen Jugend, die sich national und sozial engagiere, und die er an anderer Stelle auch einfach als neue „Freiheitsbewegung“ bezeichnete. Seine Kritik an der NSDAP und ihrer 214
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Ideologie konnte man schon in seinen Ferientagebüchern aus dem Jahr 1932 spüren, die zugleich – im Unterschied zu früheren Jahren – widerspiegeln, wie sich das Politische in den Vordergrund spielte. So erwähnt er in dem Tagebuch aus den Frühjahrsferien 1932, er habe Stapel, „Der christliche Staatsmann“, und Niekisch „Widerstand“ und „Hitler – ein deutsches Verhängnis“ gelesen. Zu Niekisch bemerkte er : „In der Kritik und Negation sehr gut, Formulierungen glänzend, aber die Position, der Anschluss an Russland, sehr bedenklich.“ (NLA K 7a) Die Bedenken gegen die NSDAP und Hitler, damals nur „Parteiführer“, vertieften sich im Sommerurlaub in Bärnstatt bei Kufstein. Voller Entsetzen registrierte Althaus am 14. 8. 1932, wie in einem Nachbargasthaus jüdische Gäste von einer NS-Schlägergruppe grundlos verprügelt wurden. (NLA K 7a) Das gleiche Entsetzen verspüren wir in einer Notiz vom 25. 8. 1932: „Wir waren sehr beschäftigt mit den politischen Nachrichten aus Deutschland: Hitlers maßloses Hetzen gegen die Beuthener Todesurteile.“35 Aus diesen Tagebuchnotizen ergibt sich: schon in den Jahren vor 1933 war bei Althaus eine Skepsis gegenüber Hitler und der NSDAP gewachsen. Nach dem 30. Januar kamen zusätzliche Sorgen um das Schicksal der Kirche hinzu. Am 29. 4. 1933 lesen wir in dem Brief an die Mutter weiter : „Was nun aus der Kirche wird, ist auch noch dunkel. Besonders schwierig ist das Problem der Union. In Mecklenburg36 sah man die Tatze dieses Staates. Auch in Bayern hatten wir ernste Sorgen. Aber immerhin haben wir nun unseren kirchengeschichtlichen Lehrstuhl mit Pastor Lic. Sasse aus Berlin (mein Vorschlag) besetzt. Das ist fast ein Wunder.“37 35 Die Beuthener Todesurteile wurden aufgrund einer aktuellen, durch Notverordnung der Präsidialregierung von Papen kurz zuvor eingeführten Strafverschärfung gegen die NS-Mörder von Potempa verhängt, die dort morgens früh einen Kommunisten in seiner Wohnung aus dem Schlaf rissen und vor den Augen seiner Frau zu Tode prügelten. Hitler solidarisierte sich öffentlich mit den Tätern. Die Regierung von Papen wandelte – offensichtlich aus Rücksichten auf Hitler und die NSDAP – kurz darauf die verhängte Strafe in lebenslanges Zuchthaus um, die Regierung Hitler ließ mit Hilfe einer politischen Amnestie die Täter frei. Zur politischen Brisanz dieser Tat und ihrer nicht entschlossenen Ahndung vgl. G. Jasper, 1986, S. 111 f.; K. Scholder I, 1977, S. 227 f. berichtet von der kontroversen Diskussion über den Mord von Potempa in der württembergischen Kirche, wo sich durchaus theologische Verteidiger dieses Mordes fanden, die – wie Weiling (1998), S. 189 f nachweist – dem süddeutschen Flügel der Christlich-deutschen Bewegung angehörten. 36 Der Mecklenburger NSDAP-Ministerpräsident hatte in einer radikalen Aktion am 22. 4. 1933 versucht, die Landeskirchenregierung abzusetzen und einen Kirchenkommissar einzusetzen, war aber nach Protesten von Landesbischof Rendtorff in Berlin von Hitler zurückgepfiffen worden. Vgl. K. Scholder I, 1977, S. 380 ff. 37 Hermann Sasse hatte sich als Herausgeber des kirchlichen Jahrbuches im Jahr 1932 sehr kritisch mit der nationalsozialistischen Weltanschauung auseinandergesetzt. Trotz einer Denunziation aus der Theologischen Fakultät berief ihn der aus Franken stammende NS-Kultusminister Schemm, der dem fränkischen Protestantismus recht nahe stand, auf die Erlanger Professur mit dem Argument, dass Äußerungen vor dem Januar 1933 irrelevant seien. Vgl. zu diesem Vorgang W. v. Loewenich, 1979, S. 132 f., zu Sasse generell mit weiteren Nachweisen Gerhard Müller, 2006, S. 179 und 185 f.
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Im Gegensatz zu manchen seiner Schüler in der bayerischen Pfarrerschaft und etlichen seiner Theologiestudenten trat Althaus den Deutschen Christen nicht bei. Offensichtlich realisierte er, dass diese zunehmend den politischen Kampf – zum Teil gesteuert von der NSDAP – gegen die Kirche suchten. Die heftigen Auseinandersetzungen in Mecklenburg im April 1933 und der Aufstand der Deutschen Christen gegen die Wahl Bodelschwinghs zum Reichsbischof im Juni 1933 sowie ihr Versuch, die Landeskirchen gleichzuschalten, gab den entscheidenden Anstoß zur Parteinahme gegen die Deutschen Christen. Kirchenpolitisch plädierte Althaus zunächst für einen Zusammenschluss der lutherischen Kirchen, den Zusammenschluss aller deutschen evangelischen Kirchen – lutherische, reformierte und unierte – sah er aus Gründen des Bekenntnisses mit Sorge. Er hätte deshalb die Wahl eines Reichsbischofs nicht für zwingend nötig gehalten und auch taktisch sah er in der Wahl Bodelschwinghs Probleme: „Man hätte sich auf alle Fälle, nachdem die drei Männer wochenlang mit Wehrpfarrer Müller verhandelt, mit den DC einigen müssen.“ (Brief vom 3. 6. 1933) Anfang Juni hoffte Althaus offensichtlich noch auf eine kirchliche Einbindung der Deutschen Christen – wie sie übrigens in Bayern mit gewissen Erfolgen von Landesbischof Meiser praktiziert wurde. Schon eine Woche später jedoch schrieb er seiner Mutter : „Ich hoffe doch, dass Bodelschwingh sich durchsetzt. Nun die Kirchen ihn nominiert haben, kann man nicht mehr gegen ihn agieren. Ich bin Hirsch, der für Müller agitiert, sehr böse“ (10. 6. 1933). Der Aufstand der Deutschen Christen gegen Bodelschwingh gab dabei offensichtlich den Ausschlag. Zu sehr fühlte sich Althaus Bodelschwingh verbunden und verpflichtet. Seine jahrelangen Kontakte nach Bethel, aber vor allem das gemeinsame Erbe aus der norddeutschen Erweckungsbewegung wirkten sich hier zweifelsfrei aus, zumal auch der lutherische niedersächsische Landesbischof Marahrens mit Nachdruck für Bodelschwingh votierte und Althaus bat, sich öffentlich für Bodelschwingh einzusetzen und dabei darauf hinzuweisen, „dass es um die Freiheit der Kirche geht“. (Schreiben vom 19. 6. 1933, NLA K 12,1) Althaus reagierte noch am gleichen Tag mit einem Schreiben an Bischof Meiser, in dem er diesen – leider vergeblich – dringend bat, eindeutig für Bodelschwingh zu stimmen und sich gegen die Deutschen Christen zu entscheiden. Im Nachlass befindet sich außerdem ein handgeschriebenes Blatt: „Zur kirchenpolitischen Lage“, mit dem Althaus – die Bitte von Marahrens nach öffentlicher Stellungnahme aufnehmend – entschlossen für die Wahl Bodelschwinghs warb. In knappen Punkten votiert dieser Entwurf eindeutig: es gäbe nur „ein Entweder – Oder : Bodelschwingh oder Müller“, jede Kompromisslösung sei „unmöglich, da eine Schwäche der Kirchenregierungen die Deutschen Christen in ihrer Haltung bestärken muss“, Bodelschwingh preiszugeben, bedeute „Verrat des norddeutschen Protestantismus an die Deutschen Christen“, „Erschütterung des Vertrauens gerade der besten Gemeindemitglieder“, habe „katastrophale Wirkung auf das evangelische Aus216
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land“, mache die kirchliche Verkündigung unglaubwürdig wegen „Kapitulation vor dem Staat“, zumal „hinter Müller“ Kräfte stünden, „denen die Partei über das Evangelium geht, die die Kirche für die Partei erobern wollen.“ (NLA K 12,1) Leider blieb dieses Engagement vergeblich, da die Mehrzahl der lutherischen Bischöfe sich schon am Vorabend der Eisenacher Konferenz am 22. 6. 1933 gegen Bodelschwingh entschieden, was diesen dann am 24. 6. 1933 zum Rückzug zwang38 und damit wohl auch die Veröffentlichung der Erklärung von Althaus obsolet machte. Bodelschwingh selbst bedankte sich zwei Wochen später bei Althaus mit einem persönlichen Brief am 12. 7. 1933 „in herzlicher Verbundenheit“ „für alle treue Teilnahme auch an den Kämpfen der letzten Zeit“. (NLA K 12, 1) Eine Konsequenz des entschlossenen Eintretens von Althaus für Bodelschwingh in Konfrontation zu den Deutschen Christen war ein tief greifender scharfer Konflikt mit seinem Freund Emanuel Hirsch. Jetzt trennten sich ihre Wege. Hirsch war den Deutschen Christen beigetreten, stützte die Ambitionen und die Wahl von Reichsbischof Müller und brachte in der Folgezeit als Dauerdekan die Göttinger Theologische Fakultät auf Parteikurs. Althaus dagegen trat bewusst den Deutschen Christen nicht bei, engagierte sich für Bodelschwingh als Reichsbischof und steuerte anschließend – zwar wohl unbeabsichtigt und unvorhergesehen aber nicht ohne Grund – in einen offenen Konflikt mit der Partei und der neuen Regierung. Konfliktgrund war seine öffentliche Stellungnahme gegen Eugenik. Althaus hatte am 3. 4. 1933 in Bremen und an den Folgetagen in Hamburg und Hannover an einem von der Gesellschaft für Rassehygiene veranstalteten Vortragszyklus unter dem Generalthema: „Von der Verhütung unwerten Lebens“ teilgenommen. Neben ihm kamen Rassebiologen, Mediziner und Juristen zu Wort. Er stellte seinen Vortrag unter das Thema: „,Unwertes Leben‘ im Lichte christlichen Glaubens“.39 Er formulierte hier eine eindeutige Absage an nationalsozialistisches Rassedenken und wissenschaftsgläubige Rassebiologie. Heftig kritisierte er die ausufernden Schätzungen des führenden Rassebiologen Fritz Lenz, der im Interesse des Vaterlandes große Teile der Bevölkerung – bis zu einem Drittel – von der Möglichkeit, Nachkommen zu haben, ausschließen wolle.40 Ganz grundsätzlich kritisierte der Christ und Theologe die Rede von „unwertem Leben“, weil die unantastbare Würde des Lebens in jedem Einzelfall zu achten sei. Sterilisationen kämen darum nur in streng begrenzten Ausnahmefällen in Frage. Seine Argumentation war dabei auf das individuelle Gewissen des einzelnen Christen gerichtet, volksbiolo38 Zu den Details dieser Vorgänge und dem Brief Althaus an Meiser vgl. K. Scholder I, 1977, S. 422 – 452, insbes. S. 440 f. 39 Vgl. P.A., 1933, 2, S. 79 – 97. 40 Lenz protestierte wenig später massiv gegen Althaus und den ihn zitierenden Göttinger Anatomen Saller ; mit ihrer „Greuelhetze“ würden sie nur Material für auswärtige Kritiker „gegen das nationalsozialistische Deutschland“ liefern. Fritz Lenz, Zur Sterilisierungsfrage. In: Klinische Wochenschrift, Jahrgang 13 (1934), S. 294 f.
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gische Argumente lehnte er in diesem Bereich strikt ab; er ließ sie allenfalls im Bereich der „positiven“ Eugenik – Gesundheitsförderung, Familienpolitik, etc. – gelten.41 Versucht man, die Position von Althaus in der Debatte um Rassehygiene und Eugenik, die ja damals keineswegs nur eine rein deutsche Debatte war, zu charakterisieren, dann gilt es festzuhalten, dass er eine eindeutig christlich begründete, äußerst restriktive Haltung einnahm und – vom Gewissen des einzelnen Christen her argumentierend – rasse- oder volksbiologisch motivierte Zwangsmaßnahmen und Eingriffe ablehnte. Er widersprach damit einer breiten Strömung nationalsozialistischen und volksbiologischen Denkens, dem auch bedeutende Gruppen in Kirche und Innerer Mission zuneigten und Konzessionen machten.42 Es bestätigt diese Grundsatzposition, dass Althaus wenige Jahre später auf eine entsprechende Anfrage von Bischof Meiser hin sich dezidiert dafür einsetzte, dass Unfruchtbarkeit eines Ehepartners keineswegs als Scheidungsgrund für eine Ehe angesehen werden dürfe, und dass der Eheschließung eines Sterilisierten mit einem erbgesunden Partner kein kirchliches Hindernis im Wege stehe.43 Wie zukunftsweisend die Grundsatzposition von Althaus war, lässt sich auch rein sprachlich festmachen. In der Bremer Vortragsreihe, die generell vom „unwerten Leben“ sprach, setzte Althaus in der Überschrift seines Beitrages das Wort „unwert“ demonstrativ in Anführungszeichen. In dem bei Bertelsmann dann verbotenen Druck vermied er das Wort „unwert“ im Titel, der jetzt „Eugenik im Lichte christlichen Glaubens“ lautete. Im Text sprach er ein Bekenntnis zur „Würde“ des Lebens aus und erteilte dem Reden vom „Wert“ des Lebens eine Absage mit dem bedenkenswerten Argument: Wert könne man „abstufen: hochwertiges, minderwertiges, unwertes Leben“. Dagegen vertrüge der Begriff der „Würde“ des Lebens „keine Abstufung … Das Leben hat immer und überall die gleiche große, unantastbare Würde, weil Gott es schuf.“44 Schon 1930 hatte er in seinem Vortrag vor Studenten diese zum sozialen Engagement für die Arbeiter aufgefordert mit dem Argument, die
41 Dass Althaus in diesem Zusammenhang die abnehmende Kinderzahl der gehobenen und gebildeten Schichten als Versagen bedauerte, gehört in den damaligen Diskussionen zu einem immer wieder vorgetragenen Argument. Mit fünf eigenen Kindern versuchte er diesem Trend entgegen zu wirken. 42 Vgl. dazu mit weiteren Belegen M. Schwarz, 2005, S. 28 – 53 – es fällt allerdings auf, dass Schwarz den Beitrag von Althaus zu dieser Diskussion nicht behandelt. Vgl. ferner H. W. Schmuhl, 1987, S. 305 ff., der bei seiner detaillierten Darstellung der problematischen Positionen von leitenden Männern aus der Inneren Mission und der Kirche in Fußnote 14 auf die Kritik von Althaus in seinem Bremer Vortrag von 1933 und auf Dietrich Bonhoeffers Ethik-Manuskripte von 1940 – 1943 hinweist. Vgl. ferner den sehr abgewogenen zusammenfassenden Beitrag von J.-C. Kaiser, 1992. 43 Anfrage von Landesbischof Meiser vom 24. 12. 36 mit Antwortentwurf von Paul Althaus, NLA K 13, 4 und K 12, 2. 44 P.A., 1933 (2), S.81 f.
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Christen müßten die Arbeiter „uns gleichgestellt wissen in der Menschenwürde.“45 Diese Begrifflichkeit von 1933 greift gleichsam dem Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ vor, lässt damit Quellen erkennen, aus denen sich die neue Ordnung nach den Schrecken des NSRegimes speiste, auch wenn Althaus damals einen verbindlichen Zusammenhang zwischen Menschenwürde einerseits und staatsbürgerlicher Gleichheit sowie Grundrechten auf der anderen Seite noch ausdrücklich ablehnte.46 Bei ihm verband sich zu Anfang der 30-er Jahre diese in ihrer politischen Dimension gleichwohl zukunftsweisende Formulierung mit einer rückwärtsgewandten ständischen Gesellschaftsvorstellung und der illusorischen Hoffnung auf eine ungebrochene oder wiederherzustellende Gültigkeit christlicher Vorstellungen im deutschen Volk. In der Vorbemerkung zu seinem Vortrag lässt sich das deutlich abspüren. Hier führt er aus, eigentlich müsste doch seine Rolle als Theologe in dieser Diskussion überflüssig sein, wenn „alle wirklich in der Kirche ständen“ und „wieder wüssten, was evangelische Kirche ist“, wenn der Theologe nicht nach dem Arzt rede, sondern vielmehr hier „der Arzt redete, der Christ ist: dass er auch seine biologischen Erkenntnisse und Forderungen gar nicht anders vorbringen könnte als geprüft, gesichtet, kritisch begrenzt von dem Wissen darum, was menschliches Leben ist, also von der Gewissheit Gottes her, von dem Wissen um Jesus Christus“.47 In diesen Formulierungen wird das eher „vorsäkulare“ Gesellschafts- und Wissenschaftsverständnis von Althaus greifbar, in dem alle Wissenschaft ihr Fundament und ihre Grenzen durch den Glauben empfängt. Man spürt, dass für ihn und sein Denken die Idealvorstellung einer christlichen Gesellschaft, besser : eines christlichen Volkes leitend ist. Der Kirche kommt dann eine sehr zentrale Rolle zu. Sie darf als übernationale Instanz nicht in dem Volk aufgehen, sich den Volksinteressen nicht unterordnen, sondern hat dem Volk als Teil der Schöpfungsordnung seine spezifischen Aufgaben, seine Sendung zu erläutern und zu begrenzen. An diesen Formulierungen wird aber auch fassbar, dass Paul Althaus 1933 an seinem Idealbild vom deutschen Volk als einem christlichen Volk festhielt. Die säkulare Welt, ihre „Weltlichkeit“ (Bonhoeffer) ist ihm eher fremd. Von dieser Grundposition aus zog er durchaus richtige, in seinem christlichen Menschenbild begründete Schlüsse zum Problem der Eugenik/Euthanasie, aber sie ließ ihn zugleich auf Hitlers Bekenntnis zum positiven Christentum hoffen, das dieser im Frühjahr 1933 mehrfach wiederholt hatte. Die Vaterfigur 45 P.A., 1931 (2), S. 41 – 44. 46 Schon in seiner Schrift über den Religiösen Sozialismus, 1921, S. 48 hatte Althaus zwischen der „Menschenwürde, die Gottes Erwählung jedem gibt“, und dem Menschenrecht und der Autonomie streng unterschieden. 47 Ebd., S. 79.
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des allseits verehrten lutherischen Christen und Reichspräsidenten Hindenburg schien überdies dieses Bekenntnis des Kanzlers abzusegnen und zu garantieren. Die Kritik an der nationalsozialistischen Partei-Ideologie und an Hitler als Parteiführer stand neben dem Vertrauen in die vaterländische Obrigkeit, zum Kanzler der Präsidialregierung Hitler und dessen Aufgeschlossenheit den christlichen Kirchen gegenüber. Die Würde des von Gott gegebenen Amtes sollte offensichtlich – nach Einschätzung von Althaus – dafür sorgen, dass der Amtsinhaber sich in ihm bewähre. Der bevorstehende Missbrauch des Kanzleramtes im Dienst der Partei war Althaus – und vielen seiner Generation – noch unvorstellbar, die „Belehrung“ durch das nationalsozialistische totalitäre Unrechtsregime stand noch aus. Ein erster Akt der Belehrung folgte jedoch schon im Sommer 1933. Die ganze Vortragsreihe wurde als Sonderband in den Bremer Beiträgen zur Naturwissenschaft gedruckt. Herausgeber war der führende Rasse-Hygieniker und Vertreter der Vererbungsforschung Erwin Baur. Er begründete in seinem Vorwort den Abdruck des Vortrags von Althaus – trotz der gegenteiligen Auffassungen der Veranstalter – mit dem distanzierenden Argument, dass die Thesen von Althaus „uns zeigen, nach welcher Seite hin noch unsere Aufklärungsarbeit einzusetzen hat“ (S. 4). Voller Zustimmung wurde in dem Band der Text des inzwischen erlassenen Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 aufgenommen. Außerdem stellten die Herausgeber dem Ganzen als Vorwort einen Auszug aus einer einschlägigen Rede des NSDAP-Reichsinnenministers Frick voraus. Vermutlich im August oder September erschien diese Schrift im Buchhandel. Die Thesen von Althaus mochten in dieser Verpackung im Rahmen einer naturwissenschaftlichen Veröffentlichungsreihe unproblematisch erscheinen. Das galt offensichtlich jedoch nicht für einen Separatdruck in einem kirchlich orientierten Verlag. Althaus hatte den Bremer Vortrag in nur unwesentlich überarbeiteter Form am 12. Juli noch einmal in Erlangen gehalten und wollte ihn unter dem Titel „Eugenik im Lichte christlichen Glaubens“ im Bertelsmann-Verlag recht schnell als Separatdruck erscheinen lassen. Auch in Erlangen hatte übrigens die veranstaltende Studentenschaft dafür gesorgt, dass die Position von Althaus nicht unwidersprochen blieb. Unmittelbar vor Althaus sprach der Erlanger – 1934 auf ein Göttinger Ordinariat berufene – außerordentliche Professor für Psychiatrie Gottfried Ewald über „Eugenik vom ärztlichen Standpunkte aus“. Er plädierte eindeutig für Zwangssterilisierungen bei bestimmten, differenziert dargelegten, aber durchaus weit verbreiteten Krankheitssymptomen, lehnte aber Euthanasie mit subtilen Argumenten ab. Die Erlanger Tageszeitung berichtete über die Veranstaltung unter dem einseitigen, aber dem Trend der Zeit entsprechenden Titel: „Züchtung der Rasse“.48 48 Fränkischer Kurier Nr. 193, 14. 7. 1933, S. 10.
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Während der Vortrag von Ewald wenig später gedruckt wurde49, scheiterten die entsprechenden Intentionen von Althaus. Schon unmittelbar im Anschluss an seinen Vortrag liefen zwar die Satz- und Druckarbeiten bei Bertelsmann an. Sein Vorwort unterschrieb Althaus am 31. 7. 1933 und in seinem Ferientagebuch lesen wir unter dem Datum vom 5. 8. 1933 „Korrektur Eugenik“. Einen Tag zuvor, am 4. 8. 1933, hatte jedoch, gestützt auf den Erlanger Zeitungsbericht, der Staatskommissar für das Gesundheitswesen im Bayerischen Innenministerium, Ministerialdirektor Dr. Schultze, eine Verbotsverfügung erlassen, die Althaus am 8. 8. 1933 in seinem Urlaub in Hindelang bei Oberstdorf erreichte. Schultze verhängte ein Verbot der Drucklegung des Vortrags mit der Begründung, die Ausführungen entsprächen „nicht der Auffassung der für jegliche rassehygienische und bevölkerungspolitische Politik allein maßgebenden und verantwortlichen Stellen“ und seien sogar dazu angetan, „staatsmedizinische und damit auch staatpolitische Maßnahmen in der Öffentlichkeit zu diskreditieren“. Daher wird Althaus ersucht, „in der Folgezeit jegliche Erörterungen rassehygienischer, erbbiologischer, bevölkerungspolitischer usw. Fragen, die niemals Angelegenheit der theologischen Wissenschaft sein kann, in Wort und Schrift zu unterlassen“ (Original: NLA K 7a 2). Wie wir dem Ferientagebuch entnehmen können, war Althaus tief betroffen, die „Stimmung gedrückt“. Er informierte sofort den Verlag, der den Druck abbrach, aber Althaus eine größere Zahl schon gedruckter Exemplare zur freien Verfügung auslieferte.50 Offensichtlich schickte Althaus von diesen Autorenexemplaren je eines an E. Hirsch, an R. Bultmann und an Landesbischof Marahrens51, was sich an entsprechenden Reaktionen erkennen lässt. Ein Exemplar befindet sich in der Bibliothek des landeskirchlichen Archivs in Nürnberg – wahrscheinlich das Exemplar, mit dem Althaus Landesbischof Meiser um Intervention gebeten hatte.52 Die während der Ferien üblichen Wanderungen von Paul Althaus mit seinen Kindern standen unter einem schlechten Stern: „Unter der Oberfläche alles Erlebens drückte mich das Schicksal meines Eugenik-Vortrages oder die Frage, ob ich zur kirchenpolitischen Lage schreiben solle“ (Ferientagebuch 8. 8. 1933). Subjektiv sah er eine sehr lebendige Verbindung zu den oben geschilderten Ereignissen um die gescheiterte Bischofswahl von Bodelschwinghs und die an ihn ergangene Forderung, zur kirchlichen Lage öffentlich Stellung zu nehmen. Am 11. 8. 1933 lesen wir im Tagebuch „Ständig 49 G. Ewald, Eugenik vom ärztlichen Standpunkt aus. In: Die Medizinische Welt 1933, S. 1687 – 1689 und 1722 – 1725. 50 Im Gesamtverzeichnis der Verlagsveröffentlichung ist darum diese Schrift von Paul Althaus nicht enthalten. Vgl. zum Hintergrundgeschehen im Verlag: Saul Friedländer u. a. (Hg.), 2002, Bd. 1, S. 222 ff. 51 Brief vom 1. 9. 1933 (NLA K 11 a): Er habe die Ausführungen „mit Dank gelesen“. Marahrens verband damit einen Bericht über seine Schwierigkeiten mit den DC und die Bitte an Althaus, ihm gelegentlich zu schreiben, was er von den DC halte. 52 Eine Kopie dieses Exemplars jetzt im Althaus-Nachlass (NLA K 13,4).
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bewegte mich die Frage, ob ich etwas schreiben soll zur Lage“. Die Unruhe über die politische Lage der Kirche beherrschte auch etliche Gespräche und Korrespondenzen, die er bis Ende August am Ferienort führte. Der von Althaus sofort beim Innenministerium eingelegte Protest gegen das Verbot blieb erfolglos. Zugleich zerschlugen sich damit Pläne, die Thesen in Stapels Zeitschrift „Deutsches Volkstum“ zu drucken, was Stapel – der sich Althaus gegenüber als einen Gegner der Eugenik bezeichnete – mit Schreiben vom 17. 7. 1933 angeregt hatte (NLA K 11 b). Althaus bat Landesbischof Meiser, zu intervenieren, obwohl er nach neuerlichen Mitteilungen von Schultze „kaum Hoffnung habe, dass Sie die Freigabe erreichen können“. Ende Oktober berichtete dann der Landesbischof über ein ergebnisloses Gespräch mit dem Staatskommissar.53 Die bemerkenswerte Erregung von Althaus wird verständlich, wenn man realisiert, dass sein Eugenik-Vortrag ein beachtliches Zeugnis für Nichtanpassung und eine deutliche Positionierung gegen den herrschenden Zeitgeist darstellte. Gerade deshalb kritisierte ihn sein Freund Emanuel Hirsch mit Brief vom 30. 8. 1933 (NLA K 11a). Er könne das Verbot verstehen. Grundsätzlich habe Althaus hinsichtlich des „unwerten Lebens“ zwar Recht, aber hinsichtlich der praktischen Frage könne der Staat etwas anderes erwarten: „Du … könntest den Segen für das Volksganze auch herzlicher anerkennen.“ Bultmann dagegen erblickte in den Thesen von Althaus ein Zeichen „geistiger Gemeinschaft“. Offensichtlich sah er in Althaus einen Bundesgenossen im Kampf um die Glaubwürdigkeit der Kirche in der anbrechenden Herrschaft des Nationalsozialismus, die Bultmann realistischer und illusionsloser sah als Althaus, was schon in seiner Einführungsvorlesung vom Mai 1933 deutlich wurde. Im Zeichen dieser Bundesgenossenschaft verband Bultmann seinen Dankbrief mit der Hoffnung und Bitte auf Gemeinsamkeit im Kampf gegen den Arier-Paragraphen in der Kirche. Diese Hoffnung wurde noch im September 1933 zwar enttäuscht,54 aber das änderte offensichtlich nichts an Bultmanns prinzipieller Einschätzung von Althaus als Gegner der Naziherrschaft, wie sie sich aus dem ununterbrochenen Briefwechsel der Folgejahre rekonstruieren lässt. Auch Karl Barth sah übrigens Anfang August Zeichen der Bundesgenossenschaft mit Paul Althaus. Dieser hatte ihm am 30. 7. 1933 von seinem Bremer eugenischen Vortrag berichtet, „der mir ein volles Lob Ihres Freundes Stoevesandt eintrug“, und dem ein schönes Zusammensein mit Barths dortigem Freundeskreis gefolgt sei. Er hatte angefügt, dass er nicht zu den Deutschen Christen sondern zu den Jungreformatoren gegangen sei. Barth reagierte darauf mit einem persönlichen Brief vom 3. 8. 1933 voller Freude: schon während des Semesters habe er „auf dem üblichen Wege studentischen 53 Briefwechsel Meiser – Althaus in dieser Angelegenheit im September/ Oktober 1933 im Nachlass Meiser, Nr. 63,1 im LKA Nürnberg, Personen (Meiser) Nr. 36. 54 Vgl. unten S. 235 ff.
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Nachrichtendienstes“ erfahren, dass Althaus sich nicht den DC angeschlossen hätte, obwohl Barth eigentlich vom Gegenteil ausgegangen sei, ihm den Beitritt zur DC „nicht einmal bes. übel genommen, sondern nur mit einem grimmigen ,Natürlich‘ vermerkt haben würde.“ Aber die allgemeine Katastrophe habe „viel Verborgenes ans Licht gebracht, unvermutete Trennungen und unvermutete Zusammengehörigkeiten. Wie sollte ich mich nicht freuen, dass es zwischen Ihnen und mir diesmal das Letztere war? Und wie sollte ich mir … nicht sagen lassen, dass der Mitmensch, und der theologische Mitmensch ganz besonders, immer noch ein wenig komplizierter ist, als man angenommen hat.“ (NLA K 10) Dieser Brief von Karl Barth lässt sich als ein Dokument für die Offenheit der ersten Monate nach der Machtergreifung lesen, aber er macht zugleich deutlich, wie Barths ursprüngliche politischtheologische Zuordnung von Paul Althaus dessen wirklicher Haltung mit all ihren Differenzierungen nicht gerecht wurde. Dass sich Barth in der Folgezeit eher in seiner alten Auffassung bestätigt fühlte, dürfen wir annehmen. Ob zu Recht und in wie weit, das wird noch zu untersuchen sein. Im Unterschied zu Barth und zu Bultmann setzte Althaus im Sommer 1933 seine Hoffnungen immer noch auf eine „deutsche Stunde der Kirche“, was ihn aber nicht – wie oben geschildert – von negativen Bewertungen der aktuellen Politik abhielt. Seinem vorsäkularen Wissenschafts- und Gesellschaftsverständnis, das ihn durchaus zu scharfer Kritik an der NSDAP und ihrem Führer befähigte, entsprach ein ebenso vorsäkulares deutsch-obrigkeitliches Staatsverständnis, das die Staatsregierung eigentlich nur vor Gott verantwortlich wusste, ihr aber ansonsten eine ungebundene Entscheidungsgewalt zugestand. Sie hatte nicht nur für Ruhe und Ordnung zu sorgen, sondern die „Sendung“ des deutschen Volkes zu realisieren. Dafür hoffte Althaus auf eine organische Einheit von Führung und Volk. Der Parteiführer Hitler war vom Kanzler Hitler scharf zu unterscheiden. Der Amtsträger stand unter anderen Bindungen und Verpflichtungen, hatte eben einen amtlichen Führungsauftrag – letztlich von Gott. Der 30. Januar erschien in dieser Perspektive als Wende zum Guten. Trotz aller gegenteiligen Erfahrungen vertraute Althaus – offensichtlich allzu gutgläubig – den Bekenntnissen des Reichskanzlers Hitlers zum positiven Christentum, zumal die lutherische Patriarchengestalt des Reichspräsidenten Hindenburg und die konservative Mehrheit im Reichskabinett diese Versprechungen abzusichern schienen. Allerdings verlangte diese Wende nach dem Verständnis von Althaus die echte Freiheit der Kirche. Nur dann könne sie die Politik von 1933 in die richtige Richtung lenken. Welche Hoffnungen und welches Bild vom Wesen der Kirche und ihren spezifischen Aufgaben in Deutschland sich damit verband, das erfahren wir in der kleinen Schrift: „Die deutsche Stunde der Kirche“, die die Antwort von Althaus auf die an ihn gerichteten Fragen und Bitten um Stellungnahme zu den Nöten der Zeit darstellt und zugleich als Versuch einer Antwort auf Karl Barths – Anfang Juli 1933 – erschienene „Theologische Existenz heute“ gelesen werden muss. Der „deutschen Stunde“ ist eine nahezu 223
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gleichzeitige „politische“ Aktion von Althaus zuzuordnen: das Gutachten über den Arier-Paragraphen in der Kirche vom September 1933. Beide Dokumente verraten viel darüber, wie Althaus – seine Erfahrungen verarbeitend – die Situation im Sommer 1933 interpretierte und wie er versuchte, kirchlich und politisch Einfluss zu nehmen.
6.3 Die Hoffnungen von Paul Althaus auf eine „Deutsche Stunde der Kirche“ im Jahr 1933 Nach dem Verbot seines Eugenik-Aufsatzes notierte Althaus am 8. und 11. 8. 1933 in seinem Ferientagebuch (NLA K 7a), er stehe vor der Frage, ob er zur kirchenpolitischen Lage etwas schreiben solle. Die Unruhe, die in den Tagebuchnotizen sich ausdrückt, spürt man auch in seinem Brief vom 12. 8. 1933 an den ihm freundschaftlich verbundenen Kirchenhistoriker Hermann Beyer in Greifswald. Dieser war ein prominentes Mitglied der Deutschen Christen und wurde Ende 1933 kurzfristig Kirchenminister unter Reichsbischof Müller. Althaus betonte hier seine eigene Enttäuschung und Skepsis: „Was gäbe ich darum, wenn ich Ihren Optimismus in Bezug auf das Verhältnis von Kirche und Staat teilen könnte!“ Er sah dagegen „die Freiheit der Kirche und der Theologie schlimm bedroht“, der Sieg der DC „bei der so genannten Kirchenwahl“ am 23. 7. 1933 hatte seiner Meinung nach mit einem „freien Entscheide des Kirchenvolkes gar nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun“. Darum glaube er nicht, „dass die Kirchenreform der letzten Monate die Widerstandskraft der Kirche gestärkt“ hat, im Gegenteil. Althaus übte weiterhin heftige Kritik an der Rolle von Hossenfelder in der Bewegung der DC: Wie sei dieser „neben Hirsch und Beyer, ja – objektiv – unter der Deckung von Hirsch und Beyer möglich?“ Er fragte darum seinen Greifswalder Kollegen, wie er es aushalte, „das alles schweigend zu tragen und objektiv zu decken“, um dann anzufügen: „Ich verschließe mich dem Großen nicht – darüber bedarf es keines Wortes zwischen uns. Meine Seele brennt vor Verlangen nach einer offenen Tür zu den Entfremdeten. Aber welche Pseudomorphose erleidet das Große durch die Hossenfelderei!“ (NLA K 10)
In dieser Frontstellung gegen die „Hossenfelderei“ wurde Althaus bestärkt durch einen ausführlichen Brief seines Vetters Adolf Ulhaus vom 14. 8. 1933 (NLA K 11b) über den Kirchenkampf in der Braunschweigischen Landeskirche. Bei der erzwungenen Neuwahl der Synode hatte sich der junge Pfarrer Ulhaus für die Liste „Evangelium und Kirche“ – eine Vorform des „Bekennenden Kirche“ – eingesetzt und schilderte nun die massiven und durchaus gewalttätigen Verfolgungen während des Wahlkampfes durch die DC. Nach dem auf unrechtmäßige Weise zustande gekommenen Sieg der DC mit ihrem theologisch abstrusen Programm sei dringend ein offenes Wort von kompe224
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tenter Seite erforderlich. Er hoffe hier auf seinen Vetter Paul Althaus und forderte ihn auf, seine Stimme deutlich zu erheben. Althaus war durchaus geneigt, sich in einer kritischen Streitschrift gegen die radikale DC zu äußern, entschloss sich aber dann doch – wohl auf Bitten Meisers – zu einer etwas versöhnlicheren Gangart, um die gemäßigten DC in der Kirche zu halten. In seinem Brief an Beyer wird ein Grundmotiv des kirchlichen und politischen Handelns von Paul Althaus auch und besonders im Jahr 1933 deutlich. Ihn beherrscht die Sorge, dass die lutherische Kirche in Gefahr stehe, die „völkische Bewegung“ genauso wie einst die „Arbeiterbewegung“ zu verlieren. Es wurde ihm deshalb zum brennenden Anliegen, diese völkische Bewegung in der Kirche zu halten, an die Kirche zu binden, zumal sie mit ihrer nationalen und sozialen Ausrichtung eine Chance auch zur Widergewinnung der Arbeiterschaft enthalte. Sein immer wieder begegnendes christlich-soziales Engagement wird hier deutlich spürbar55. Noch 1936 formulierte Althaus ganz in dieser Tradition in einer Predigt unter dem Leitwort „Liebe untereinander (Johannes 13, 34/35)“: „Wir haben durch den Nationalsozialismus eine neue Volksordnung bekommen. Mauern sind durchbrochen, Türen sind aufgetan zwischen Stand und Stand in unserem Volke. Aber diese neue Ordnung wartet nun auf lebendige Menschen. Der große Gedanke des nationalen Sozialismus wartet auf Menschen unerhörter Kraft des Dienstes und Opfers … Dass es von uns Christen in Deutschland doch hieße: sie sind die besten Nationalsozialisten! Bei ihnen ist die Liebe zum Volksbruder Tat und Wahrheit, Liebe, die nicht müde wird und sich nicht erbittern lässt! Das braucht unser Volk. Das will unser Herr Jesus Christus … Er will verkündigt werden als Wirklichkeit der ewigen Liebe Gottes durch unsere Liebe zu den Brüdern.“56
Es wäre ein großes Missverständnis, diese Predigt als ein Bekenntnis zur NSDAP zu betrachten. Sie plädiert vielmehr dafür, im Zeichen nationaler Solidarität für die sozialen Belange der Arbeiterschaft zu kämpfen. Ganz in diesem Sinne hatte Althaus schon am 4. Mai 1930 die Erlanger Studenten in einer Rede aufgefordert, im vaterländischen Einsatz für die berechtigten sozialen Belange der Arbeiterschaft einzutreten, weil die „völkische Verpflich55 Vgl. oben S. 183 die Ausführungen über seine Position beim Kirchentag 1927 und auch S. 124 ff. seine Auseinandersetzung mit dem christlichen Sozialismus. 56 P.A., Der Herr der Kirche 1937, S. 300 f. (Predigt vom 29. 3. 1936). Wenn Paul Althaus 1936 von der Kanzel „von uns Christen“ – sich also einschließend – wünscht, die besten Nationalsozialisten zu sein, so muss unterstellt werden, dass seine Hörer genau wussten, dass er selbst nie Mitglied der Partei war, aber die nationalen und sozialen Fragen ihm stets am Herzen lagen. Er konnte darum davon ausgehen, dass die latente Kritik an der NSDAP und ihrer Arbeiterpolitik durchaus verstanden wurde. Wenn Andr¦ Fischer zu dieser Predigt-Formulierung meint, Paul Althaus „versteift sich gar dazu, die politische Zuverlässigkeit besonders der Christen zu betonen“, und darin Hilflosigkeit und Verzweiflung am Werke sieht, so halte ich das für eine glatte Fehlinterpretation, die durch den Text nicht gedeckt wird, zumal sie auch die Doppelbödigkeit der Kommunikation der Bürger untereinander und auch der Prediger gerade in totalitären Systemen nicht realisiert. (Andr¦ Fischer, 2012, S. 675 f.).
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tung … heute zuerst und zuletzt eine soziale Verpflichtung“ sei.57 Im Sommer 1933 hoffte er aufgrund seiner Interpretation der politischen Lage, wenn auch mit ausgesprochener Skepsis, „eine offene Tür zu den Entfremdeten“ zu finden und bei den Deutschen Christen vielleicht eine schweigende Mehrheit mit kirchlichen Bindungen oder mit der Bereitschaft, auf die Kirche zu hören, aktivieren zu können. Diese durchaus skeptische Hoffnung muss man realisieren, wenn man seine Texte richtig interpretieren will. Bei Emanuel Hirsch, dem er eine Kopie seines Briefes an Beyer geschickt hatte, stieß er auf energische Ablehnung. Hirsch sah sich in seinen „schweren Sorgen“ bestätigt, die er „innerlich“ um seinen Freund habe. Er drängte darum in seinem Antwortbrief vom 16. 8. 1933 (NLA K 11 a) mit Nachdruck und drastisch: „Es gibt nur eine Wahl: entweder mit ans Neue sich geben, das heißt aber brutal: sich hereinzubuttern, oder aber tot zu sein und von der Geschichte unseres Volkes abgeschnürt.“ Althaus solle „mitmarschieren im jungen Deutschland oder aber der Rest seines Lebens ist für Theologie und Kirche gleichgültig“.
Eine Antwort ist leider nicht erhalten. Im Nachlass fand sich allerdings eine undatierte und nicht unterzeichnete zweiseitige maschinenschriftliche Stellungnahme, die nach Schriftbild und Diktion Paul Althaus zugeordnet werden muss und – weil auf einem Briefbogen des Hindelanger Urlaubshotels geschrieben – auf den August 1933 zu datieren ist. Gerade dieses Hindelanger Konzeptpapier erlaubt einen besonders tiefen Blick auf die Situations- und Positionsbestimmung von Paul Althaus und lässt uns seine späteren öffentlichen Aktionen, insbesondere seine umstrittene Schrift über die deutsche Stunde der Kirche besser einordnen. In dem kurzen Text verortet sich Althaus gleichsam zwischen Karl Barth und Emanuel Hirsch. Das von Hirsch geforderte, bedenkenlose Mitmarschieren lehnt er ab, aber er kann auch nicht – wie Karl Barth –: „einfach und total gegen die D. Chr. [kämpfen], sondern nur so gegen sie kämpfen, dass ich um sie ringe, mit Leuten die drinnen stehen wie Fezer.“58 Da Staat und Partei 57 P.A., Die soziale Verpflichtung der Studenten. In: Zeitwende, 1930, II, S. 289 ff. 58 Karl Fezer, Professor für Praktische Theologie in Tübingen, Jahrgang 1891, gehörte – wie Paul Althaus – zur jüngeren Generation der Theologieprofessoren. Er war vom Theologischen Fakultätentag Ende April 1933 zum „Vertrauensmann in den zu lösenden Kirchenfragen“ gewählt worden und im Mai 1933 der NSDAP sowie der DC beigetreten. In dieser Eigenschaft hatte er sofort Kontakt mit dem Beauftragten des Führers für Kirchenfragen, dem späteren Reichsbischof Müller aufgenommen, der ihn zu seinem engsten Gewährsmann und Mitarbeiter machte, um sich damit von der von Hossenfelder beherrschten Reichsleitung der Deutschen Christen unabhängiger zu machen. Aus dieser Konstellation wird verständlich, weshalb Paul Althaus bei seinem Versuch, den „echten Kern“ der Deutschen Christen für die Kirche zu erhalten und zurück zu gewinnen, auf Fezer zählte. Der gemeinsame pietistische Hintergrund beider Theologen, ihr enger Kontakt zu Adolf Schlatter und zur DCSV sowie ihr Engagement an und in der Kirche darf dabei nicht übersehen werden. Zu Fezer vgl. K. Scholder I, 1977, insbesondere
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in den innerkirchlichen Auseinandersetzungen und im Kirchenwahlkampf sich für die DC eingesetzt hätten, sei eine „babylonische Gefangenschaft der Kirche“ zu konstatieren. Jetzt müsse „im heimlichen Bunde mit Fezer und den Seinen ein Ringen um das Werden von Kirche im sachlichen Ernste“ einsetzen. „Es wird furchtbar schwer sein. Und die Geister bei den D. Chr. sind weltenweit verschieden voneinander. Aber es muss denn doch die Arbeit gewagt werden. Ob sie gelingt, Gott weiß es. Ich habe trotz allem das Vertrauen, dass die Sache die Kirche selbst zu sachlicher Arbeit zwingen wird. Und wo das nicht geschähe – ich vertraue, dass dann der Geisterkampf innerhalb der D. Chr. selber entbrennen wird … Die Stunde des Bruches, des totalen Nein, des Martyriums kann kommen. Aber vorher muss es gewagt werden, trotz aller politischen Dynamik und theologischen Wirrnis der ,Glaubensbewegung‘, in ihr ganz tief die Stunde der Kirche, den Willen zur Kirche – wider Hoffnung auf Hoffnung – zu hören, zu ergreifen.“ Zwar sieht Althaus „wie sehr eine solche noch vertrauende Haltung“ angesichts der Personen und Personalpolitik der Deutschen Christen und deren Methoden „in Zweifel gezogen werden kann … Menschlich läge auch mir der Ekel und das trotzige Nein am nächsten“, doch sei das nicht richtig, solange „zum Beispiel Fezer dort aushält.“ Darum zieht er das Resümee: „Der Kampf gegen die D. Chr. muss so, auf einer solchen Basis der Solidarität (auch des Schuldbewusstseins der Kirche, des Bewusstseins ihrer prophetielosen Armut) geführt werden, dass er ein Kampf um sie bleibt … Ich bete täglich, dass Gott den bösen Rat und Willen auch bei den D. Chr. hindere. Das verborgene Volk ist unübersehbar groß. Die Kirche wird in Deutschland nicht untergehen, wenn das verborgene und schweigende Volk Geduld und Liebe behält.“ (NLA K 12)
Wenn Althaus statt des ihm eigentlich naheliegenden und von seinem Vetter aus Braunschweig geforderten „trotzigen Nein“ den Kampf gegen die DC als einen Kampf um sie zu führen beabsichtigte, dann geschah das offensichtlich mit Rücksicht und auf Veranlassung von Landesbischof Meiser. Dieser hatte ihm in einem persönlichen Brief vom 30. 7. 1933 (NLA K 11a) seine Politik der kirchlichen Einhegung der bayerischen DC erläutert. Es gelte, die bayerischen DC unter der Führung der unter seiner bischöflichen Leitung stehenden bayerischen, „nationalsozialistisch gesinnten Geistlichen“ zu halten und diese darauf festzulegen, dass „die Bewegung ihre Hauptaufgabe auf dem innerkirchlichen Gebiet in der Gewinnung der unserer Kirche fernstehenden Kreise der deutschen Freiheitsbewegung sieht … So scheint mir die Bewegung bei uns tragbar zu sein.“ Meiser forderte dazu das „Zusammenwirken aller bekenntnistreuen Glieder unserer Kirche“, um das Bekenntniswidrige der DC „in der richtigen Weise auszumerzen.“ S. 402 f, 528 und 717, sowie die persönlichen Erinnerungen des bayerischen Landesbischofs Dietzfelbinger, der ihn noch vor 1933 in seiner Studienzeit in Tübingen als einen eindrucksvollen Prediger mit volksmissionarischen Intentionen erlebte, der – wie Althaus – die Studierenden „auf die Verantwortung und Freude“ des geistlichen Amtes vorbereitet habe. Hermann Dietzfelbinger, 1984, S. 53 und 57. Fezer trat Ende November 1933 aus dem Bund der Deutschen Christen aus, nachdem sein Versuch, die DC christlich einzuhegen, gescheitert war.
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Man kann das Hindelanger Konzeptpapier als Umsetzung dieser Strategie von Landesbischof Meiser ansehen. Diese Interpretation wird bestätigt durch einen Brief von Althaus an den Münchener Dekan Friedrich Langenfaß vom 28. Juni 1934. (NLA K 11a) Im Zusammenhang einer intensiven, Althaus kritisierenden Diskussion um das Barmer Bekenntnis und den Ansbacher Ratschlag verteidigte sich Althaus gegen den Vorwurf, er hätte 1933 nicht ernsthaft gegen die DC gestritten, mit dem Hinweis auf eine Aufforderung von Meiser, er solle „nur positiv, aber nicht gegen die DC direkt“ schreiben. Er habe sich „soweit in der Solidarität mit dem Bischof und der bayerischen Kirche“ gefühlt, „dass ich die sehr leichte Aufgabe eines Nachweises der DCKetzereien liegen ließ und lieber das Büchlein über „Die deutsche Stunde der Kirche“ schrieb, das im Sinne der Friedenspolitik des Herrn Landesbischofs vom September vorigen Jahres gegenüber den bayerischen DC gemeint war und ja auch in jenen Wochen erschien.“ Damit ist der enge Zusammenhang zwischen der „deutschen Stunde der Kirche“ und der Politik von Landesbischof Meiser gegenüber den DC eindeutig erkennbar. Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass die Entscheidung gegen das trotzige Nein für den Versuch der Einhegung wohl auch den innersten Intentionen und Mentalitäten von Althaus entsprach, zumal die Hoffnung auf die Geduld und Liebe des verborgenen, schweigenden Volkes sich bei Althaus auf den lebendigen Kontakt mit fränkischen Pfarrern und Bauern sowie Studenten und Bürgern in Erlangen stützen konnte. Diese hatten zwar früh und in großer Zahl die NSDAP gewählt, waren Mitglieder in der NSDAP oder bei den Deutschen Christen geworden, blieben aber in ihrer großen Mehrzahl trotzdem treue Kirchenmitglieder. Noch im November 1933 schieden die bayerischen DC aus dem von Hossenfelder dominierten Reichsverband der DC aus. Ein Jahr später demonstrierten die fränkischen Bauern erfolgreich für ihren Landesbischof und verhinderten damit seine Absetzung. Schon vorher war in Bayern die „Zähmung“ der DC-Fraktion in der neu gewählten Synode gelungen. Diese fränkischen Erfahrungen mochten Althaus auf die schweigende Mehrheit unter den Deutschen Christen hoffen lassen. Doch deutschlandweit setzte sich der radikale Flügel unter Hossenfelder durch, erwiesen sich seine Hoffnungen als irreal. Insgesamt ist dieses knappe, aufschlussreiche Papier vor allem deshalb wichtig, weil es die Stimmungen und Intentionen deutlich macht, aus denen heraus Althaus seine viel kritisierte Schrift über „Die deutsche Stunde der Kirche“ verfasste.59 Diese erschien im Oktober 1933, der Text – soweit nicht ältere Texte unter Quellenangabe wieder abgedruckt wurden – ist offensichtlich im August/September entstanden, so dass wir das obige Papier gleichsam als Konzept lesen müssen. Das ist deshalb so bedeutsam, weil „Die deutsche Stunde der Kirche“ gemeinhin als Dokument für die Zustimmung von Althaus 59 P.A., 1933 (1).
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zur Herrschaft des Nationalsozialismus oder doch zumindest für seine „Anfälligkeit für den Nationalsozialismus“ gelesen wird.60 Tatsächlich ist in dem Einleitungskapitel unter der Überschrift „Das Ja der Kirche zur deutschen Wende“ klar formuliert, dass Althaus diese „deutsche Wende“ begrüßt. Worin er deren wesentliche Punkte sah, wird deutlich, wenn er gleich zu Beginn zustimmend die Kundgebung des bayerischen Landeskirchenrates vom Ostersonntag 1933 zitiert: „Ein Staat, der wieder anfängt, nach Gottes Gebot zu regieren, darf in diesem Tun nicht nur des Beifalls, sondern auch der freudigen und tätigen Mitarbeit der Kirche sicher sein. Mit Dank und Freude nimmt die Kirche wahr, wie der neue Staat der Gotteslästerung wehrt, der Unsittlichkeit zu Leibe geht, Zucht und Ordnung mit starker Hand aufrichtet, wie er zur Gottesfurcht ruft, die Ehe heiliggehalten und die Jugend christlich erzogen wissen will, wie er der Väter Tat wieder zu Ehren bringt und heiße Liebe zu Volk und Vaterland nicht mehr verfemt, sondern in tausend Herzen entzündet.“( S. 5)
Dieses dankbare Ja zur deutschen Wende, in dem sich die Hoffnungen der bayerischen Landeskirche in den ersten Wochen nach der „Machtergreifung“ dokumentierten und das sich Althaus hier zu eigen machte, implizierte für ihn zugleich eine scharfe Absage an die Weimarer Republik. Darum begrüßte er ausdrücklich, dass „dem Staate neue Würde zurückgegeben wird. Die Auflösung des Strafrechtes in Sozialtherapie und Pädagogik, die schon weit gediehen war, hat ein Ende; Strafe soll wieder im Ernste Vergeltung sein. Der neue Staat wagt es wieder, das Richtschwert zu tragen. Er hat die schauerliche Verantwortungslosigkeit der Parlamente zerschlagen und lässt wieder sehen, was Verantwortung heißt. Er kehrt den Schmutz der Korruption aus. Er wehrt den Mächten der Zersetzung in Literatur und Theater. Er ruft und erzieht unser Volk zu starkem neuen Gemeinschaftswillen, zu einem ,Sozialismus der Tat‘, der die Starken der Schwachen Lasten mittragen heißt.“ (S. 7)
Sein „dankbare Ja“ zur Wende sprach Althaus nachdrücklich aus, obwohl „das Menschliche, allzu Menschliche, Ungute, ohne das nichts in unserer Geschichte geschieht, wahrlich nicht zu verbergen ist.“ (S. 6). Es fällt auf, dass in diesem ganzen Abschnitt weder das Wort „Nationalsozialismus“ oder gar „NSDAP“ noch der Name oder Begriff des Führers Adolf Hitler fällt. Ganz offensichtlich sah Althaus Hitler vor allem als Kanzler in der „Regierung der nationalen Konzentration“. Als Garantien für die positiven Aspekte der Wende galten ihm vor allem Reichspräsident Hindenburg und die konservative 60 Zum Begriff der Anfälligkeit vgl. neuestens A. Fischer, 2012, S. 681 ff. Der Begriff selbst wurde durch Berndt Hamm geprägt. Vor allem mit Zitaten aus dieser Schrift begründete die amerikanische Besatzungsbehörde 1947 die Entlassung von Althaus aus dem Staatsdienst im Rahmen ihrer zweiten Entnazifizierungsaktion. (vgl. unten S. 329 f.).
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Mehrheit der Reichsminister im Kabinett Hitler. Der Tag von Potsdam hatte für ihn deshalb hohen Symbolwert. Seine implizite Zurückhaltung von der NSDAP wird daran deutlich, dass die folgenden Abschnitte im Grunde als eine vor allem theologische Auseinandersetzung mit den Deutschen Christen gelesen werden müssen, nicht polemisch, sondern argumentativ von seiner Theologie der Schöpfungsordnung ausgehend, in der das Volk zwar eine bedeutende Rolle spielt, aber stets begrenzt bleibt durch die christliche Botschaft. In den folgenden Abschnitten wird dieses Anliegen konkretisiert. Man spürt das Werben von Althaus um die kirchlich gesonnenen Deutschen Christen, um die schweigende Mehrheit, weil er glaubt und hofft, in der Bewegung der Deutschen Christen „ganz tief die Stunde der Kirche, den Willen zur Kirche – wider Hoffnung auf Hoffnung – zu hören, zu ergreifen“ – so in seinem oben zitierten Hindelanger Konzeptpapier. Diese Argumentationen trafen ganz offensichtlich auch die Intentionen von Landesbischof Meiser. Die „Deutsche Stunde der Kirche“ ist jedoch nicht nur eine Werbung um den kirchlichen Kern der Deutschen Christen, sondern zugleich auch ein Antwortversuch auf die Anfang Juni 1933 erschienene programmatische Schrift „Theologische Existenz heute“ von Karl Barth. Schon in seinen sehr grundsätzlichen Ausführungen über „Gott und Volk“ von 1932, die als fünfter Abschnitt in der Deutschen Stunde der Kirche (S. 34 – 49) wieder abgedruckt wurden, hatte Althaus einleitend bemerkt, wer „als lutherischer Theologe zu den Wirklichkeiten Volk und Volkstum das Wort“ nehme, müsse mit „völkischem“ und „theologischem“ Misstrauen rechnen. Gegen das theologische Misstrauen, das ihm „religiös verbrämten Nationalismus“ vorwerfe, stellte er damals die Gegenfrage, ob nicht „jenem theologischen Misstrauen ein verkürzter Begriff der Theologie, ja der Offenbarung zugrunde liegt.“ (S. 34) War hier der Name Karl Barth nicht explizit angesprochen, so fällt in den ersten vier 1933 neu formulierten Abschnitten auf, dass immer wieder argumentativ und explizit auf Karl Barth Bezug genommen und gegen ihn Stellung bezogen wird. Schon in der Einleitungspassage wendet sich Althaus gegen die „rein christologische Offenbarungslehre“, die in ihrer „biblisch-exklusiven Lehre vom Wort Gottes die vocatio generalis vergessen“ habe. Verkündigung und Theologie habe „die Bezeugung der Wirklichkeit Gottes in der Wirklichkeit unseres geschichtlichen Lebens zu sehr außer Acht gelassen … Sie verharrten im Heiligen und Allerheiligsten und waren im Vorhofe nicht zu sehen“ (S. 9). Althaus entfaltet dagegen seine Lehre von der „Uroffenbarung“, von der „Bezeugung des lebendigen Gottes in der Wirklichkeit der Welt und des Menschen“. Die „Ordnungen, die unser Leben tragen“ seien Selbstbezeugungen Gottes. „Gott redet durch sie zu uns“, das gelte auch von der „geschichtlichen Ordnung des Volkstums oder des Staates“ (S. 11). Viele Deutsche seien heute von dem Ruf der nationalen Bewegung erfasst. Es komme deshalb darauf an, diese Menschen 230
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„aufzusuchen in der Wirklichkeit, die sie hinnimmt“, und „das Wort von Gott … positiv auf diese Wirklichkeit ihres Lebens zu beziehen … Die Substanz des geschichtlichen Lebens muss in das Licht des biblischen Gotteszeugnisses gerückt werden. Sonst verfällt sie heidnischer Deutung. Volkstum, Staat, Führertum werden absolutiert und damit dämonisiert. Davor zu behüten ist die erste große Aufgabe der Verkündigung. Dann aber soll sie von der ,Uroffenbarung‘, der Bezeugung des lebendigen Gottes in der Wirklichkeit des geschichtlichen Lebens weiterführen zu seiner Heilsoffenbarung in Jesus Christus.“ (S. 12 f.)
Das sei die Stunde der Kirche, in der es gerade nicht darum gehe, die konkret erfahrene Geschichte der deutschen Wende als „Heilsgeschichte“ zu überhöhen, diese Gefahr müsse man sehen, aber ihr sei nicht einfach „durch die freilich unerlässliche Absage im Namen der Einzigkeit biblischer Heilsgeschichte“ zu begegnen. Denn eine solche Theologie sei auch an den „häretischen Abweichungen mitschuldig durch ihre Ohnmacht, unsere Geschichte als Geschichte Gottes mit uns sehen zu lassen. Wir gaben viel Theologie der Heilsgeschichte, aber allzu wenig ,Theologie‘ unserer Geschichte“ (S. 15). Die „Verkündigung handelnder Gegenwart Gottes in der Geschichte eines Volkes“ werde von einer Theologie negiert, die die Geschichtsgegenwärtigkeit Gottes „allein negativ in der Fragwürdigkeit, Nichtigkeit, Sinnlosigkeit alles Geschichtlichem …“ verstanden wissen will. Weil in dieser Theologie „Geschichte in ihrem konkreten Geschehen theologisch ganz gleichgültig werden“ müsse, könne in ihr „weder von bestimmter geschichtlicher Berufung und Gnade noch von konkretem Gericht die Rede sein“ (S. 16). Expressis verbis wendet sich Althaus in diesem Zusammenhang wiederum gegen Karl Barth und dessen These, es sei „nicht die Aufgabe der Kirche, dem deutschen Volk zur Erkenntnis und Erfüllung eines von der Berufung von und zu Christus verschiedenen ,Berufs‘ zu verhelfen.“ Dem stellt Althaus entgegen: „Jeder Mensch und jedes Volk hat, auch abgesehen von und vor der Berufung zu Jesus Christus, die Berufung durch den Schöpfer zu leben, es selbst zu sein, sich nicht wegzuwerfen, seine Gabe anzuwenden“, die auch die Kirche bezeugen solle; da an „der konkreten Berufung … konkrete Schuld in der Geschichte“ entstehe, bedeute, das für die Kirche, dass sie auch ihres Volkes bestimmte Schuld und bestimmtes Gericht zu bezeugen habe. Wie konkret diese Formulierung gemeint ist, wird deutlich, wenn Althaus in der „Krisis“ des Parlamentarismus „Gericht, echtes Gericht“ erkannte, wovon … zu reden „die Kirche auch berufen“ sei. Darum „nehmen wir die Wende dieses Jahres als Gnade aus Gottes Händen. Er hat uns – so hoffen wir – einen neuen Lebenstag geschenkt. Er hat damit ein neues Ja zu unserem Volk gesprochen, das … neue Berufung und hohe Verantwortung bedeutet.“ (S. 18 f.) Die christliche Verkündigung solle „dem Volke das Handeln Gottes mit ihm bezeugen.“ Gott war es, „der in dir Martin Luther erweckte …, der dich aus der Selbstentfremdung zurückrief durch Propheten und Helden; auf den deine 231
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Väter es wagten in dem Freiheitskriege; … der dir das Haus des Reiches errichtete, der dich oft tief gedemütigt und dann wieder wunderbar erhöht hat …“ (S. 20) Althaus ist sich bewusst, dass solche Predigt an das Volk es wagen müsse, „die ganz konkrete geschichtliche Lage des Volkes zu durchdringen mit der Frage, was Gottes Sinn und Wille darin sei.“ Solche politische Predigt müsse sein, auch wenn deren Gefahr nahe liege, weil die Lage vieldeutig sei. „Oft ist die Deutung der Stunde ein Wagnis, das hernach des Irrtums überführt werden kann. Aber die Verkündigung muss dieses Wagnis in Wendezeiten auf sich nehmen.“ Auch müsse und könne die Kirche unterschiedliche „Versuche, die Stunde zu verstehen“ tragen, „sofern nur solche Zeitpredigt in Demut geschieht mit dem Bewußtsein: Gott ist größer als unser Herz.“ Schlimmer als das „konkrete Irren“ sei „die Abstraktion … Nicht durch Abstraktion sondern allein durch die Konkretheit, nicht durch Zurückhaltung, sondern allein durch den – vielleicht fehlsamen – Einsatz lernen wir unsere Geschichte vor Gott durchleben (S. 17).
Begrenzend fügte Althaus diesem Bekenntnis zur politischen Predigt jedoch hinzu: „So unsere Volksgeschichte als Gottesgeschichte sehen, heißt wahrlich nicht, sie zur Heilsgeschichte machen … Allein diese gibt unserem Leben Sinn und Heil.“ (S. 22 f.) Bei aller Differenz zwischen Volksgeschichte und Heilsgeschichte könne jedoch auch „in geschichtlicher Erfüllung ein Gleichnis, Bruchstück, Vorschmack der endlichen Erlösung erfahren“ werden. Darum müssten wir „den theologischen Mut haben zu einem Danke an Gott für bestimmte politische Befreiung.“ (S. 25) Denn Geschichte weise auf das Reich Gottes „nicht nur durch ihre ungelösten Rätsel, sondern auch durch ihre Erfüllungen; nicht nur durch ihren Unsinn, sondern auch durch die Erfahrung von Sinn, nicht nur durch ihre Schmerzen, sondern auch durch ihre Freuden …“ Wieder setzt sich Althaus ausdrücklich von der dialektischen Theologie ab, „die allzu einseitig nur das jeweils Erstgesagte, nicht auch das Zweite betont.“ Demgegenüber fordert er die Predigt vom „Reich Gottes, das nicht nur die Aufhebung, sondern auch die Erfüllung der Geschichte“ sei. (S. 26) In das „Licht des kommenden Reiches“ trete alles geschichtliche Wirken. Zwar sei keine geschichtliche Entwicklung „Stufe auf dem Weg zum Reiche, sondern nur Zeichen und Gleichnis – zwischen ihm und dem Reiche steht Tod und Gericht –“. Gleichwohl gelte aber : „Unser Ringen um würdige Ordnung, um Freiheit und Kraft des Lebens schafft die neue Welt, die Stadt Gottes nicht, aber im Gelingen und Versagen liegt es im Licht der neuen Stadt Gottes und der ewigen Freiheit. Die christliche Hoffnung erweist ihre Kraft nicht nur in der inneren Freiheit von allem irdischen Gelingen und Versagen …, sondern die christliche Hoffnung erzeigt sich auch in der Hingabe an das geschichtliche Werk zu voller Treue – das geschichtliche Werk ist nicht nur gleichgültiges und vergehendes Material für ernste Treue, sondern es ,meint‘, in seiner Tiefe verstanden, neue Welt“ (S. 32).
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Auch in diesen Formulierungen spürt man, dass Paul Althaus gegen den Christomonismus von Karl Barth argumentiert, ohne dessen theologischen Ansatz jede Berechtigung abzusprechen. Verdikte waren Althaus fremd, und außerdem verband ihn mit Karl Barth die gemeinsame Überzeugung, dass Kirche im Letzten immer Kirche bleiben müsse, nicht in Volk und Nation aufgehen dürfe. Emanuel Hirsch kritisierte ihn darum scharf und berichtete von seinen deutsch-christlichen Gesprächspartnern, bei denen er immer höre, „Althaus schweigt ja, sein Buch über die deutsche Stunde der Kirche rechnen wir nicht“ … „Der Verdacht, du ständest jetzt eigentlich mit Barth zusammen, geht bis nach Dänemark. Das musst du auflösen … Möglichst unvorsichtig …“ Darum forderte Hirsch ihn auf „bis Anfang Mai eine Streitschrift gegen die sieben oder acht Hefte von Barths theologischer Existenz“ zu schreiben. (Brief vom 24. 3. 1934, NLK 11a) Die zeitgenössische Wahrnehmung der „Deutschen Stunde der Kirche“ von Paul Althaus und ihre Positionierung in die Nähe von Karl Barth durch Emanuel Hirsch ist hier deshalb zitiert worden, weil sie geeignet ist, die eigentliche Stoßrichtung dieser Schrift von Althaus gegen den radikalen Flügel der Deutschen Christen und seine eigene Distanz zu den Deutschen Christen zu unterstreichen. Zugleich wird deutlich, wie das Erleben und Interpretieren der konkreten Politik aus pietistischem Geschichtsverständnis, das Gott als unmittelbar handelnden Herrn der Geschichte begreift, Paul Althaus die deutsche Wende als gnädiges Handeln Gottes auffassen lässt, was ihn natürlich von Karl Barth trennt. In dieser Wende der Kirche angemessenen freien Raum zu schaffen, ist sein eigentliches Anliegen. Nur so könne es gelingen, der Bewegung eine christliche Richtung zu geben und dadurch ihre christliche Sicherung zu erreichen. Den Deutschen Christen insbesondere unter Hossenfelders Führung traute er dieses nicht zu, weshalb „Die Deutsche Stunde der Kirche“ im Grunde eine Schrift zur Abwerbung kirchlich noch gebundener Deutscher Christen von dem von Hossenfelder geführten Reichsverband der DC. Wenn man all diese Zwischentöne hört und die Schrift in die konkrete Stimmung von Paul Althaus im August/September 1933, wie sie sich aus seinen Ferientagebüchern und persönlichen Briefen ergibt, verankert, dann wird schwer verständlich, wie Jan Rohls in seiner Darstellung der protestantischen Theologie behaupten kann, die „nationalsozialistische Revolution“ habe bei Althaus „Begeisterung“ ausgelöst. Der Begriff „nationalsozialistische Revolution“ löst falsche Assoziationen aus und verdeckt die Ablehnung der NSDAP als Partei und Träger einer bestimmten Ideologie durch Althaus.61 Die Bejahung der „Wende“ implizierte gewiss das „Ja“ zu einem ademokratisch-autoritären Führerstaat, der unter der „Garantie“ des Reichspräsidenten Hin61 Jan Rohls, 1997, S. 421; ähnlich begrifflich unscharf und dadurch verkürzend formuliert Heinrich Assel in seinem kurzen Artikel „Paul Althaus“ in der 4. Auflage der RGG: „Der beginnenden Diktatur der NSDAP stimmte Paul Althaus politisch zu.“
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denburg und der konservativen Mehrheit des Reichskabinetts mit einzelnen bewusst protestantischen Mitgliedern zu stehen schien. Sie bedeutete ferner, das „Ja“ zu einer nationalen und sozialen Bewegung unter dem Eindruck einer vermeintlich auch vom Reichskanzler Hitler gewollten Rückwendung zu den christlichen Grundlagen des deutschen Staates. In dieser konservativ-nationalen und christlichen Wunschvorstellung von Paul Althaus wurzelten sein Interesse und seine Hoffnung, die „schweigende Mehrheit“ der Deutschen Christen für die Kirche zurück zu gewinnen. Dass es in Bayern gelang, die DC landeskirchlich einzubinden, belegt, dass durchaus partielle Erfolgschancen für solche Hoffnungen gegeben waren. Die mögliche Vergeblichkeit dieses Versuches auf Reichsebene war Althaus durchaus bewusst. Aber es war ihm wichtig, diesen Versuch eines kirchlich-theologischen Votums im Bereich von Geschichte und Politik zumindest zu wagen – auch und gerade gegen die dialektische Theologie von Karl Barth. Sein Konzept der Uroffenbarung ist darum dieser politischen und dieser theologischen Situation zu gleichen Teilen zuzuschreiben. Und so rückwärtsgewandt seine Vorstellung von der Rechristianisierung des deutschen Staates war, so produktive Elemente enthielt seine Lehre von der Uroffenbarung doch auch, insbesondere soweit sie ein konkretes Engagement, eine Verantwortung der Kirche und des Christen für die politische Ordnung implizierte. Seine vortheologische Auffassung vom Wesen des deutschen Volkes war ganz zentral von Ranke geprägt, der den Völkern jeweils eigene Individualität und Würde im Kreise der Völker zuschrieb.62 Intensiv hatte Althaus sich diese Erkenntnis in seinem Geschichtsstudium bei dem Göttinger „Neorankeaner“ Max Lehmann erarbeitet. Als Theologe wertete er dann die Völker theologisch zu Teilen der Schöpfungsordnung auf. Damit gab er ihnen zugleich einen Rang und eine Würde, die neben dem Individuum und seinem Menschenrecht positioniert wurde, wenn nicht sogar in bestimmten Situationen über ihm rangierte. Für beide Positionen gibt es bei Althaus Belege. Der „Aufwertung“ des Volkes folgte die Erweiterung der Staatszielbestimmung. Nicht nur für Ruhe und Ordnung, wie es der lutherischen Lehre entsprach, hatte der Staat zu sorgen, sondern seine Aufgabe war es, dem Volk bei der Wahrnehmung seiner Sendung zu dienen, was – wie oben bereits dargelegt – den Konflikt zwischen den Völkern gleichsam notwendig machen konnte. Auf diese problematischen, eigentlich vortheologischen Anschauungen von Althaus sei hier ausdrücklich hingewiesen, ihre abschließende Wertung bleibt dem Fortgang der Lebensbeschreibung vorbehalten. Noch während Althaus die deutsche Stunde der Kirche konzipierte und schrieb, wurde er zu einer Konkretisierung seiner Position gezwungen. Am 11. 9. 1933 hatte die kurhessische Landeskirche die Marburger und die Erlanger Theologische Fakultät um eine „feierliche und verantwortliche Belehrung“ gebeten, ob die Anwendung des Arierparagraphen in der Kirche bei der 62 Vgl. oben S. 54 f.
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Anstellung von Geistlichen der Lehre der Heiligen Schrift gemäß sei oder ihr widerspräche. Der Hintergrund dieser Anfrage war, dass die Generalsynode der Kirchen der Altpreußischen Union mit ihrer DC-Mehrheit den staatlichen Arierparagraphen übernommen hatte, was zum Protest in der Pfarrerschaft in Preußen und zur Bildung des Pfarrernotbundes unter Martin Niemöllers Führung führte. Die Marburger Fakultät legte rasch ein eindeutig ablehnendes Gutachten vor, dem eine Stellungnahme von 21 Neutestamentlern in gleicher Klarheit der Ablehnung folgte.63 Bultmann war an beiden Papieren führend beteiligt. Ermutigt durch das „Zeichen geistiger Gemeinschaft“, das er in dem Eugenikaufsatz von Althaus erkannt hatte, bat er Althaus um eine Unterschrift unter das Papier der Neutestamentler ; außerdem drückte er die Hoffnung aus, dass sich bei der Stellungnahme zum Arierparagraphen ein Konsens zwischen Erlangen und Marburg ergäbe. (Brief vom 18. 9. 1933, NLA K 10). Doch er hoffte vergebens. Zwar hätte er seine Hoffnung darauf stützen können, dass Althaus sich schon im Mai 1933 bei einem von der Erlanger Studentenschaft veranstalteten Vortrag des prominenten DC-Theologen Kessel aus Berlin energisch gegen alle Ausschließungstendenzen der judenchristlichen Gemeindemitglieder gewandt hatte. Er warnte damals laut Zeitungsbericht davor, dass „die Kirche in Judendingen nur nachspreche, was die nationale Bewegung sagt, dann werde die nationale Regierung allen Respekt vor der Kirche verlieren … Es gehe unter gar keinen Umständen, dass man Glieder ausstoße, mit denen man 40 und 50 Jahre am Abendmahlstisch gesessen habe.“64 So energisch sich Althaus hier gegen die Diskriminierung judenchristlicher Gemeindemitglieder in der Kirche wandte, so offen blieben – zumindest in dem kurzen Zeitungsbericht – die möglichen Fragen über den Einsatz „judenstämmiger“ christlicher Pfarrer. Gerade in diesem Punkte hoffte Bultmann im September 1933 vergebens auf eine konkrete Unterstützung der Marburger Position aus Erlangen. Im Unterschied zum Marburger Votum fiel das Erlanger Gutachten sehr viel undeutlicher und darum problematischer aus.65 Zwar konstatierte das Erlanger Gutachten zunächst, dass von der „universalen Geltung des Evangeliums … kein Mensch, geschweige denn ein ganzes Volk auszuschließen“ sei und „in der Verbundenheit mit Christus es vor Gott keinen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden“ gäbe, aber „die biologische Bindung an ein bestimmtes Volk … ist von Christen mit Gesinnung und Tat auch anzuerkennen“. Damit verschob das Gutachten zumindest teilweise die Grundsatzfrage auf die Ebene praktischer Einstellungsmerkmale, der persönlichen Voraussetzungen der Stellenbewerber – Alter, Geschlecht, körperliche Eignung und dergleichen – und drängte damit die grundsätzlichen theologischen 63 Texte jetzt wiederabgedruckt in Greschat/Krumwiede, 1999, S. 97 ff und 103 ff. 64 Bericht im Erlanger Tagblatt vom 16. 5. 1933, Ausschnitt in NLA K 12. 65 Text der Erlanger Erklärung jetzt wiederabgedruckt in: Greschat/Krumwiede, 1999, S. 100 ff.
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Argumente in den Hintergrund. So kam man im Hinblick auf den Umstand, dass das deutsche Volk „heute den Juden in seiner Mitte mehr denn je als fremdes Volkstum“ erblicke, und angesichts der Tatsache, dass die Kirche gerufen sei „in der gegenwärtigen Lage zu neuer Besinnung auf ihre Aufgabe, Volkskirche der Deutschen zu sein“, zu der Forderung, dass die „Zurückhaltung ihrer Juden-Christen von den Ämtern“ zu verlangen sei. Zugleich wurde betont, dass die „volle Gliedschaft in der deutschen evangelischen Kirche dadurch nicht bestritten“ würde. Außerdem müssten Ausnahmen möglich bleiben, was insbesondere für bereits amtierende judenchristliche Pastoren gelte. Deren Entlassung bedürfe von Fall zu Fall besonderer Begründung, was im Übrigen auch für Einzelfälle künftiger Zulassung von Judenchristen gelte. Die Entscheidungskompetenz solle bei den jeweils zuständigen Bischöfen liegen. Damit lehnte das Gutachten zwar eine schematische Übernahme des staatlichen Arierparagraphen auf die Kirche ab, empfahl aber doch, dass die Kirche „Zurückhaltung ihrer Juden-Christen von den Ämtern“ fordern solle. Diese Forderung geschah in Rücksichtnahme auf das nationale Empfinden auch der christlichen Gemeinden in Deutschland sowie auf die Aufgabe der Kirche, „Volkskirche der Deutschen zu sein“. Die Unterschrift von Althaus unter diese Formulierung ist offensichtlich von demselben Bemühen diktiert, das schon in der „Deutschen Stunde“ seine Argumentation geleitet hatte. Es ging für ihn darum, die kirchlich gesonnenen Deutschen Christen in der Kirche zu halten. Die aufbrandende nationale Welle sollte gesteuert, eingefangen und gezähmt werden. Es galt in dieser geschichtlichen Stunde situationsgerecht von der Kirche aus zu reagieren. Da schien es kirchenpolitisch geboten, von den Judenchristen Zurückhaltung beim Anspruch auf Pfarrämter zu erwarten. Insofern ist die Unterschrift von Althaus unter das Gutachten zum Arierparagraphen auch als „Anwendung“ des Grundanliegens der „Deutschen Stunde“ in einem Einzelproblem anzusehen. Dass seine Argumentation in einer Welle auflodernder antisemitischer Kampagnen – obwohl als gegensteuernd gedacht – eher mitschwamm, ist sicherlich auch dem Umstand zuzuschreiben, dass in seinem historisch-politischen Denken von den Völkern und ihren Charakteren den Juden generell ein problematischer Charakter zugeschrieben wurde, der ihnen gleichwohl als Gastvolk bei den Völkern, in deren Bereich sie lebten, eine spezifische Funktion und damit Existenzberechtigung zuwies.66 In „Der deutschen Stunde“ (S. 48) hatte er dieser Grundauffassung deutlich Ausdruck gegeben: „Und schließlich darf man an die Judenfrage erinnern. Wie immer wir Deutschen sie lösen – an einem wird nichts zu ändern sein: dass die Juden in unserem Lande wie unter den anderen Völkern der Welt sitzen bleiben. Mir scheint, dass dieses Schicksal 66 Vgl. schon die Ausführungen von Althaus zum „Juden-Problem“ in der Kirchentagsrede 1927 oben S. 184 f.
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jenseits aller schweren Aufgaben und Nöte, die es mit sich bringt, einen klaren Sinn von Gott her hat: dass die Juden überall, wohl besonders empfindlich bei uns, die völkische Geschlossenheit sprengen, soll hinweisen auf die Grenze und Relativität völkischer Sonderung und Geschlossenheit und das Auge vorwärts richten auf das kommende Reich Gottes.“
Zwar anerkannte Althaus immer, dass der Volkscharakter ein Produkt der Geschichte sei und nicht allein durch Rasse und Blut bestimmt werde. Darum könnten aus Juden auch gute Deutsche werden. Das musste prinzipiell besonders für zum Christentum konvertierte Juden gelten. Persönlich konsequent hielt Althaus darum auch während der Herrschaft des Nationalsozialismus seine gut kollegialen und familiären Kontakte zur Familie des Philosophen Hensel. 1942 setzte er sich gutachterlich für Lehrerinnen ein, denen disziplinarrechtlich Probleme gemacht wurden, weil sie sich jüdischer Gemeindemitglieder, die nach dem Osten abtransportiert werden sollten, dadurch angenommen hatten, dass sie sie mit warmer Kleidung ausstatteten. Ihr Handeln sei ihnen – so das Urteil von Althaus – „durch ihr christliches Gewissen“ geboten.67 In der gleichen Zeit beschäftigte er einen judenchristlichen Theologiestudenten als Seminarsenior, was diesen in seinem Studium absicherte. Wenn der Berichterstatter über diesen bemerkenswerten Einsatz später folgerte, „dass Althaus in diesen Jahren auch innerlich nicht mehr die Meinung des ,Erlanger Gutachtens‘ vertreten hat“, so überinterpretierte er damit meines Erachtens das Erlanger Gutachten. Solidarität mit judenchristlichen Theologiestudenten war nicht unvereinbar mit der „volksmissionarisch“ motivierten Aufforderung zur Zurückhaltung von Judenchristen vom Pfarramt, zumal Ausnahmen auch im Gutachten immer vorgesehen waren.68 Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass die feinen Zwischentöne des Gutachtens, seine volksmissionarischen Intentionen und Konzessionen sowie die persönliche Auffassung von Althaus durch den Gesamttenor eher verhüllt wurden, so dass das intendierte Gegensteuern bei den Empfängern als latente Unterstützung gedeutet werden konnte. Zu welch abstrusen und erschütternden Argumenten der Streit um den Arierparagraphen führen konnte, belegt ein Brief von Wilhelm Stapel an Paul Althaus vom 14. 10. 1933, in dem er sich dezidiert zu dem Erlanger Gutachten äußerte. Für Stapel waren – so betonte er – „rein soziologische Erwägungen entscheidend“. Wenn der Staat die Juden aus vielen Berufsfeldern verdränge, hätte das die Konsequenz, „dass die jüdische Intelligenz nach anderen Berufen sucht“. Würde die Kirche Juden Zutritt zu Kirchenämtern lassen, würde „sich alsbald eine Menge Menschen der jüdisch-assimilatorischen Intelligenz auf das Theologiestudium und auf 67 NLA K 12, 2. Zum Kirchenkampf mit vielen Details zu diesem Vorgang, ferner K 12, 4,4 Unterlage zur Entnazifizierung. 68 Leserbrief von Pfarrer und Studiendirektor i. R. Rolf Neumann im Deutschen Pfarrerblatt 92 (1992), S. 107.
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das Pfarramt stürzen. Innerhalb von drei Generationen würde –“das evangelische Pfarramt stärker verjudet sein als die großstädtische Rechtsanwaltschaft“. Damit würden die „Kirchenbürger“ jener „jüdischen Beeinflussung, die sie vom Staat her los sind, von der Kirche her ausgesetzt werden“, mit der Folge, dass „der Staat gezwungen wäre, die judenkirchliche philosemitische Propaganda auszuräuchern“.69 Diese Äußerungen von Stapel machen das antisemitische Umfeld, in dem das Gutachten von Althaus und Elert gelesen werden muss, deutlich, vor allem aber wird erkennbar, wie vorurteilsbehaftet und vor allem wie fern von jeder empirisch-statistischen Kenntnis z. B. über den Anteil der Juden in Rechtsanwaltsberufen argumentiert wurde. Dass Althaus diese überzogenen Befürchtungen von Stapel teilte, ist eher nicht anzunehmen. Aber in der empiriefernen, abstrakten Argumentation auch seiner Vorstellungen vom typisch jüdischen Charakter wird ein allgemeines Klima deutlich, das für das Verständnis der Situation wesentlich ist. Dass das Erlanger Gutachten trotz aller Distanzierung von genereller Anwendung des Arierparagraphen in der Kirche eher die antisemitische Stimmung stütze, das war auch schon die Zielrichtung der zeitgenössischen Kritik. In einem Brief an Strathmann vom 22. 10. 1933 kritisierte Karl Ludwig Schmidt, der Herausgeber der Theologischen Blätter : „Über gewisse Konzessionen an die Gemeinde, die ja von Althaus und Elert sehr stark betont sind, könnte man reden. Ich gewinne aber immer mehr die Überzeugung, dass die praktischen Fälle sehr konstruiert sind, als dass sie wirklich in der Praxis akut würden.“70 Diese These wird durch die sehr differenzierte und materialreiche Untersuchung von Axel Töllner über die jüdischen und „jüdisch versippten“ Pfarrer in der Bayerischen Landeskirche während der Nazizeit eindrucksvoll belegt.71 Schon vor dem Arierparagraphen-Gutachten hatte Schmidt in einem persönlichen Brief an Althaus dessen „besonderen Begriff von Geschichte“ kritisiert, „den sie sich m. E. nicht ohne weiteres von der Bibel geben lassen“. Es sei ihm zwar „eine wirkliche Freude“, dass Althaus nicht zu den Deutschen Christen gehöre, aber er habe Angst, dass Althaus mit ihnen paktiere (Brief vom 11. 9. 1933 NLA K 11b). Schmidt traf mit seiner Angst zumindest indirekt das Richtige. Althaus’ Werben um die schweigende Mehrheit der kirchlich gesonnenen Deutschen Christen war kein Paktieren, musste aber nach außen eher – wie von Schmidt befürchtet – als solches wirken und konnte auch von den Deutschen Christen so genutzt werden. Die geradezu seelsorgerlich motivierten Ausführungen von Althaus ließen sich, so muss man feststellen, politisch instrumentalisieren, was dem Autor offensichtlich nicht bewusst 69 Ein Auszug aus diesem Brief in NLA K 11 b, das Original befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach, Nachlass Wilhelm Stapel. 70 Brief von K. L. Schmidt an Strathmann im Nachlass Strathmann K 5. 71 A. Töllner, 2007.
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war. Die Stellungnahme zum Arierparagraphen verstärkte diese Tendenz noch. Öffentliche Kritik an dieser Position übte im Dezember 1933 in ausführlicher Weise Rudolf Bultmann72. Er polemisierte zunächst gegen eine Stellungnahme des Göttinger Theologen Wobbermin, der sich zur DC bekannte und aus rassischen Gründen für die Übernahme des staatlichen Arierparagraphen in den Raum der Kirche agierte. Bultmann hob an dieser Stelle seine Einigkeit mit dem Erlanger Gutachten hervor, das keinen Zweifel daran lasse, dass die Frage des Arierparagraphen nicht durch einfache Übernahme eines staatlichen Gesetzes, sondern nur durch ein eigenes kirchliches Gesetz, das dem Wesen der Kirche zu entsprechen habe, geregelt werden könne. Bultmann kritisierte dann massiv, dass die Erlanger zwar die Kirchenmitgliedschaft nichtarischer Christen nicht angetastet wissen wollten, aber daraus den für ihn einzig logischen Schluss nicht zögen, dass es unmöglich sei, „einer Kirche anzugehören, in der ich zwar hören darf, aber schweigen muss“, zumal nach „reformatorischer Anschauung der Prediger nicht als Priester der Gemeinde übergeordnet ist, sondern er wird von ihr und aus ihr berufen“ (Sp. 362). Bultmann anerkannte die vom Erlanger Gutachten hervorgehobene Relevanz der Schöpfungsordnung und dass die schicksalhafte völkische Gliederung „ethisch“ zu bejahen sei, aber so eindeutig seien gerade diese Ordnungen nicht. Es ist sehr bezeichnend, dass Bultmann hier ganz unbekümmert den Begriff der „Schöpfungsordnung“ gebraucht. Die von Bonhoeffer eingeführte Unterscheidung von Schöpfungs- und Erhaltungsordnungen hatte sich noch nicht durchgesetzt, zumal der Begriff der Schöpfungsordnung noch relativ allgemein benutzt wurde, die Unterscheidung prä- oder postlapsarisch – also ob als Ordnung vor oder nach dem Sündenfall zu denken – noch nicht immer eingeschlossen war. So konnte er kritisch weiter fragen: „Wissen denn die Erlanger nichts davon, dass Gottes Anspruch unter Umständen gerade das Ignorieren, den Bruch und die Preisgabe solcher Ordnungen fordert.“ (Sp. 364). Bultmann konzedierte, dass unter „praktischen Gesichtspunkten“ in besonderen Fällen die nichtarische Abstammung eines Amtsbewerbers eine fruchtbare Wirksamkeit in einer Gemeinde hemmt, worauf das Erlanger Gutachten mit Recht hinweise. Es erscheine ihm aber „als schlechterdings unerlaubt, die heute brennende Frage des Arierparagraphen unter diesem Gesichtspunkt zu behandeln“, weil der „Ursprung und Sinn“ des Arierparagraphen „ja nicht in praktischen, sondern in grundsätzlichen Erwägungen ruht“ (Sp. 368). Das Volksbewusstsein dürfe nicht Herr werden über das Kirchenbewusstsein. Aus Bultmanns Sicht war es der entscheidende Fehler des Erlanger Gutachtens, dass es der Gefahr, dass das Volksbewusstsein Herr über das Kirchenbewusstsein werden könne, nicht entschlossen genug entgegen getreten sei, sondern ihr – trotz gegenteiliger Absichten – eher Vorschub leiste. Die 72 In: ThBl. 12 (1933), Sp. 359 – 370.
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Rezeption des Gutachtens gibt diesen zentralen Einwänden Bultmanns völlig Recht. Bei aller Kritik brach Bultmann jedoch in der Folgezeit seine Kontakte mit Althaus nicht ab. Besonders Anfang der vierziger Jahre pflegten sie intensive theologische Diskussionen. Offensichtlich zweifelte Bultmann nie an der alle politischen Positionen relativierenden, zutiefst kirchlichen Bindung von Paul Althaus, die ihn bei ihrem ersten persönlichen Zusammentreffen 1930 schon überzeugt hatte. Der Kontrast zwischen Althaus und Bultmann bei der Stellungnahme zum Arierparagraphen ist auch sozialbiografisch von besonderem Interesse, weshalb darauf noch kurz einzugehen ist. Bultmann sowohl wie Althaus entstammten norddeutschen lutherischen Pfarrhäusern. Bultmanns Vater war ein ausgesprochen liberal orientierter Lutheraner. Darum ging sein Sohn – geprägt von dem Vater – in seinen theologischen Grundpositionen stets vom individuellen Glauben des einzelnen Christen aus. Insoweit bekannte er sich auch zu der Schule der liberalen Theologie, bei deren prominenten Vertreter, dem aus der Ritschl-Schule stammenden Johann Wilhelm Herrmann er studiert hatte. So wurde er sensibel für die Gefahren des aufziehenden nationalsozialistischen Kollektivismus. Hinzu kam, dass er in Marburg über zahlreiche intensive persönliche Kontakte zu jüdischen Professorenkollegen verfügte. Deren Amtsenthebung im Frühjahr 1933 sensibilisierte ihn und schärfte seinen oppositionellen Kurs gegen die heraufziehende Herrschaft des Nationalsozialismus. Vater und Großvater Althaus wirkten dagegen als lutherische Pastoren in der niedersächsischen Erweckungsbewegung. Deren starkes Gemeinschaftsbewusstsein hatte Paul Althaus sehr geprägt.73 Er dachte – auch theologisch – die Kirche stets primär als communio sanctorum – also gemeinschaftsorientiert. Mit dem Pietismus des 19. Jahrhunderts übertrug er diese Vorstellung von Kirchengemeinschaft auf die Gemeinschaft des Volkes als christlicher Nation. Darum seine – allzu gutgläubigen – Hoffnungen auf einen Neuanfang 1933, auf eine deutsche Stunde der Kirche. Althaus entstammte nicht nur einer anderen norddeutschen lutherischen Pastorentradition, sondern er lebte in Erlangen auch in einem anderen sozialen Umfeld als Bultmann in Marburg. Die kleine, sehr von Theologen geprägte „lutherische Universität“ Erlangen hatte seit 1930, nach dem Tod des 1928 emeritierten Philosophen Paul Hensel, dem Enkel von Fanny Hensel und Ur-Urenkel von Moses Mendelssohn, keinen jüdisch-stämmigen Ordinarius mehr in ihren Reihen. Auch unter den Studenten zählte man im Vergleich zu anderen Universitäten besonders wenige Juden.74 Zwar hielt Althaus und seine Familie intensive persönliche Kontakte zu Paul Hensel und seiner Familie – auch während der Nazizeit. Auch setzte er sich für seine wenigen jüdischen Studenten persönlich ein. Aber die Dienstentlassung geschätzter jüdischer 73 Vgl. dazu oben S. 32. 74 Zahlen bei A. Wendehorst, 1993, S. 166
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Universitätskollegen konnte Paul Althaus in Erlangen nicht erleben. Sein Umfeld erlaubte es ihm gleichsam, ein abstraktes, vorurteilsgeprägtes Bild von „typischen Juden“, „vom typisch jüdischen Charakter“ als Gegenbild zum Ideal der „Deutschheit“ aufrecht zu erhalten. Es mag abwegig erscheinen zu erwägen, welche Konsequenzen in dieser Frage eine 1929 denkbare Berufung nach Berlin für Paul Althaus gehabt hätte. Dort wäre er gewiss in intensiven Kontakt mit zahlreichen profilierten jüdischen Kollegen aus anderen Fakultäten gekommen, die wahrscheinlich sein abstraktes negatives Bild von dem Juden zerstört hätten und deren Entlassung im Frühjahr 1933 ihm einen tiefen Einblick in die Abgründe der „deutschen Wende“ aufgezwungen und seine Hoffnungen desillusioniert hätten.75 Gewiss sind das hypothetische Erwägungen. Aber der Biograph hat stets auch das spezifisch soziale und lokale Umfeld mit im Blick zu halten, da dieses den Erfahrungshorizont und die Verhaltensweisen der Akteure wohl immer mit beeinflusst. Das Erlanger Gutachten kam eben nicht zufällig aus Erlangen, so wie dieses lokale und regionale Klima auch das gemäßigte Verhalten der fränkischen Deutschen Christen prägte. Man darf diese Faktoren gewiss nicht überschätzen, gleichwohl sind sie zu beachten. Das Verhalten von Paul Althaus bis zum Herbst 1933, wie es sich in seinen Briefen und Tagebüchern, sowie in dem Eugenikaufsatz, der „Deutschen Stunde“ und im Arierparagraph-Gutachten dokumentiert, bleibt in sich geschlossen. Die Ablehnung der NSDAP als politischer Partei und ihres weltanschaulich geprägten Rasseprogramms bei gleichzeitiger Zustimmung zum autoritären Führerstaat verbindet sich mit der Konzentration auf die innerkirchlichen Auseinandersetzungen mit dem Ziel, eine „Machtergreifung“ der radikalen Deutschen Christen zu verhindern. Diese Position ist auch biographisch verständlich, wenn man die Herkunft von Althaus aus der norddeutschen Erweckungsbewegung mit ihren patriotischen Traditionen in Anschlag bringt und zusätzlich das fränkische Umfeld des Erlanger Professors berücksichtigt. Auf diesem Hintergrund erscheint auf den ersten Blick seine Opposition gegen das Barmer Bekenntnis vom Mai 1934 und der daraus resultierende, heftig kritisierte „Ansbacher Ratschlag“ vom Juni 1934 überraschend. Die Rolle von Paul Althaus im 1934 aufbrechenden „Kirchenkampf“ und der sich bildenden „Bekennenden Kirche“ ist darum erst noch darzu75 Wie relevant das persönliche Umfeld sein kann, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass im Leitungsgremium der Deutschen Evangelischen Kirche der Kirchentagspräsident Pechmann der entschiedenste Kritiker der Entlassungsaktion von Juden-Christen und Juden aus dem Staatsdienst war. Pechmann war als führender bayerischer Bankdirektor Kollege und Partner zahlreicher jüdischer Banker, deren individuelles Schicksal er miterlebte und als Kollege mit erlitt. So wurde er sensibilisiert für das Gesamtproblem, das er als massives staatliches Unrecht wahrnahm. Er versuchte deshalb die kirchenleitenden Gremien – leider erfolglos – schon im Frühjahr 1933 zu öffentlichen Protesten zu veranlassen. (Vergl. dazu jetzt W. Sommer, 2010) Auch Althaus hatte wiederholt – auch im Umfeld des Kirchentages von 1927 – persönliche Kontakte mit dem politisch eindeutig konservativen Pechmann.
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stellen, ehe man sein Verhalten in der Machtergreifungsphase der Hitlerschen NS-Diktatur abschließend beurteilen kann.
6.4 Kirche im Kampf – Von der Kritik an der Barmer Erklärung über den Ansbacher Ratschlag zur Teilnahme an der Dahlemer Bekenntnis-Synode Am 12. November 1933 festigten die Reichstagswahlen und die per Volksentscheid erreichte hochprozentige Zustimmung zum Austritt aus dem Völkerbund die politische Machtposition von Adolf Hitler. Tags darauf veranstaltete der Gau Großberlin der Deutschen Christen im Sportpalast seine Generalmitgliederversammlung. Als Mitglied der Reichskirchenregierung unter Reichsbischof Müller sprach der DC-Reichsleiter Hossenfelder ein Grußwort. Mit Nachdruck forderte er die Durchführung des Arierparagraphen in aller Strenge. Dann hielt der Gau-Obmann Krause eine flammende Rede, in der er „die Rückkehr zu einem heldischen Jesus“, „die Befreiung vom Alten Testament mit seiner jüdischen Lohnmoral“ und den „Verzicht auf die ganze Sündenbock- und Minderwertigkeitstheologie des Rabbiners Paulus“ proklamierte. Die Versammlung reagierte mit einer einstimmig angenommenen Entschließung, die „die Amtsenthebung widerstrebender Pfarrer“, die „schleunigste Anwendung des Arierparagraphen“ und „die Preisgabe des Alten Testamentes“ verlangte. Der radikale Flügel der Deutschen Christen hatte sich hier lauthals zu Wort gemeldet. Er löste damit jedoch massive Proteste aus. Prominente DC-Mitglieder – zum Beispiel Professor Fezer – traten aus. Ihnen folgten viele kirchlich gesonnene einfache Anhänger der Deutschen Christen. In Bayern separierte sich der Landesverband vom Reichsverband und dem dort führenden Hossenfelder-Flügel. Vor allem aber formierte sich offizieller Protest. Die Landesbischöfe Meiser, Wurm und Marahrens trafen sich mit Präses Koch aus Westfalen und Martin Niemöller und anderen Vertretern des Pfarrernotbundes zunächst in Stuttgart und dann in größerem Kreise am 27. 11. 1933 in Berlin. An diesem Treffen nahmen aus Erlangen auch die Professoren Althaus und Elert teil. Man forderte von Reichsbischof Müller, dem Schirmherrn der Deutschen Christen, eine Distanzierung und die Entlassung Hossenfelders. Am 28. 11. 1933 diskutierte Meiser mit Althaus und Elert die geforderte „Neuzusammensetzung des Berliner Kirchenkabinetts“. Ohne auf weitere Details einzugehen, ist hier festzuhalten, dass Paul Althaus von Anfang an aktiv beteiligt war an der sich allmählich verfestigenden Bekenntnisfront, der Kooperation zwischen der vor allem in den Gebieten der Altpreußischen Union in Opposition zu den DC-beherrschten dortigen Kirchenregierungen sich bildenden freien „Bekennenden Kirche“ und den so genannten „intakten“ 242
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Landeskirchen, Württemberg, Bayern und Hannover, in deren Synoden die DC keine absolute Mehrheit besaßen und kirchlich eingebunden blieben. Nachdem eine fruchtbare Kooperation mit Müller nicht zustande kam, sah man mit großer Hoffnung auf das für den 25. Januar vereinbarte Treffen zwischen Hitler und den Vertretern der kirchlichen Opposition. Man hoffte bei dieser Gelegenheit, Müller stürzen zu können, nachdem dessen Zugriff auf die evangelischen Jugendverbände und deren Eingliederung in die HJ über Neujahr 1934 die Stimmung weiter verschärft hatte. Das Treffen mit Hitler führte jedoch wider Erwarten zu einem Desaster, da Hitler – gestützt auf ein illegal abgehörtes, sehr offenes und ungeschützt geführtes Telefongespräch von Martin Niemöller – die Konferenz mit Angriffen auf die kirchliche Opposition dominierte und dann mit einem Appell zur Zusammenarbeit mit Reichsbischof Müller, den er nicht abzulösen gewillt sei, abschloss. Meiser und seine Kollegen lenkten daraufhin ein, gaben nach und führten anschließend Friedensgespräche mit Müller, der die Ergebnisse als großen Erfolg für sich verbuchen konnte. Althaus hatte noch am 18. 1. 1934 Adolf Schlatter recht optimistisch berichtet: „In diesen Tagen fällt die Entscheidung in Berlin. Die Festigkeit und Klarheit der beiden süddeutschen Bischöfe gibt mir großes Vertrauen“. Seine eigene Position charakterisierend fügte er hinzu: „Unsere Studenten halten sich ausgezeichnet. Von uns Dozenten ist kein einziger bei den ,DC‘ gewesen. Von Hirsch bin ich leider ganz getrennt.“ (NLA K 11b) Nach dem Eklat resümierte er am 3. 2. 1934 gegenüber seiner Mutter : „Gestern Morgen im Kolleg sprach ich zwanzig Minuten über die kirchliche Lage, die ja wieder sehr ernst ist. Hitler wünscht, dass die Kirchen sich unter dem Reichsbischof einigen. Unsere lutherischen Bischöfe haben eine schwere Niederlage erlitten.“ Beide Briefe bezeugen, dass sich Althaus eindeutig bei der kirchlichen Opposition verankerte. Wenn er nur von der Niederlage der lutherischen Bischöfe sprach, wird daran zugleich deutlich, wie sehr er sich die lutherische Sache zu eigen gemacht hatte und immer aus der Perspektive des Luthertums handelte. Die folgenden Monate waren von einer Eskalation der Konflikte, vor allem in den Kirchen der Altpreußischen Union bestimmt, da der von Reichsbischof Müller engagierte Ministerialdirektor Jäger, der das Kirchenreferat im preußischen Innenministerium führte, als Beauftragter des Reichsbischofs, als dessen „Rechtswart“, eine brutale Machtergreifung der Deutschen Christen in den einzelnen Provinzialkirchen durchzusetzen versuchte und damit die Bildung protestierender freier Bekenntnisgemeinden provozierte. Der Pfarrernotbund, im Protest gegen den Arierparagraphen entstanden, erhielt jetzt starken Zulauf. Im Rheinland versammelten sich erste regionale Bekenntnissynoden. Angesichts der massiven, über Preußen hinaus greifenden Gleichschaltungsversuche wurde in der sich formierenden Protestbewegung darum für Ende Mai eine Bekenntnissynode auf Reichsebene einberufen, wo sich die synodale Protestbewegung aus den zerstörten Landeskirchen mit der kirchenregi243
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mentlich geführten Opposition gegen Reichsbischof Müller aus den noch „intakten“ Landeskirchen – Württemberg, Bayern und Hannover – trafen. Die lutherischen Landesbischöfe hatten schon Ende März in einer Audienz bei Hitler ihre im Januar verkündete Kooperationsbereitschaft mit Reichsbischof Müller offiziell aufgekündigt und wehrten sich gegen die Gleichschaltung unter dem deutsch-christlichen Reichsbischof Müller, dem das bekenntnismäßige Profil der zu bildenden Reichskirche gleichgültig war, da er die Kirche vor allem als einen dienenden Baustein im sich etablierenden nationalsozialistischen Staat begriff. Die nach Barmen einberufene Bekenntnissynode protestierte gegen diese Tendenzen mit der wesentlich von Karl Barth formulierten „Barmer Erklärung“. Sie wurde einstimmig gemeinsam mit einer erläuternden Rede des lutherischen Pastors Hans Asmussen aus Altona von der bekenntnismäßig durchaus heterogen aus Lutheranern, Unierten und Reformierten zusammengesetzten Synode verabschiedet. Die Barmer Erklärung, bald „Barmer Bekenntnis“ genannt, entfaltete große Signalwirkung, da sie eine die innerprotestantischen Konfessionsgrenzen überwölbende gemeinsame Grundlage für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus formulierte. In der Folgezeit wurde sie darum in die unmittelbare Nähe der lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften aus der Reformationszeit gerückt, was freilich nicht unwidersprochen blieb, da die bekenntnismäßigen Differenzen zwischen lutherischen, reformierten und unierten Kirchen 1933 noch als sehr tiefgreifend und fundamental begriffen wurden. Es dauerte auch nach dem Ende der NS-Herrschaft noch Jahrzehnte, bis im Jahr 1973 schließlich in der „Leuenberger Konkordie“ die innerprotestantischen Konfessionsfronten sich generell relativierten. 1933 stand diese Entwicklung allenfalls in den ersten Anfängen. Damals wurde noch scharf zwischen Reformierten, Unierten und Lutheranern unterschieden, wobei die Unierten noch differenziert wurden zwischen den Landeskirchen mit Bekenntnis-Union – z. B. Baden und Pfalz – und den Formal-Unionen vor allem in den altpreußischen Provinzen, in denen lutherische neben reformierten Gemeinden unter einer gemeinsamen Kirchenregierung lebten. Man muss diese durchaus komplizierte Situation berücksichtigen, um auf der einen Seite die einstimmige Verabschiedung des Wortes der Barmer Synode angemessen würdigen zu können, aber andererseits auch Verständnis dafür aufzubringen, dass Althaus aus theologischen, aus „lutherischen“ Gründen sich vehement gegen die Barmer Erklärung wandte, soweit in ihr der Anspruch erhoben wurde, dass sie als Glauben bindendes „Bekenntnis“ zu gelten habe. Er wollte diese Kritik immer als Kritik innerhalb der Bekenntnisfront aufgefasst wissen. Landesbischof Meiser hatte ihn noch am Samstag vor Pfingsten, also gut eine Woche vor der Barmer Synode, um eine Stellungnahme zu dem Entwurf der „Theologischen Erklärung“ gebeten. Zwar empfand Althaus es als eine „undankbare Rolle …, in ein Konzept hineinzukorrigieren“, für das er „keine Verantwortung“ trage. Dennoch erfüllte er mit 244
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einem fünfseitigen Brief noch am Pfingstmontag, den 21. 5. 1934, die Bitte des Landesbischofs. (NLA K 11a) Er bat ihn einleitend „dringend, sich diesen Entwurf unter keinen Umständen anzueignen, ihn auch in der gegenwärtigen Form nicht als Grundlage für weitere Gestaltung anzuerkennen … Um der Sache des Luthertums willen“, halte er die Erklärung für untragbar. Er konkretisierte seine Bedenken gegen den Entwurf, den er nur Stunden zuvor im Wortlaut in die Hände bekommen hatte, weil dieser „der Sache nach ganz überwiegend Barthische Theologie“ sei. Das möge „ja wohl den jungen rabiaten Barthianern in München lieb sein“, er selbst sehe darin einen „,Verrat an meiner Kirche‘, so wird man der Deutschen Christen nicht Herr. So drängt man die Lutheraner aus der ,Bekenntnisfront‘ heraus.“ Auf diese Fundamentalkritik folgten dann nicht weniger kritische Detailargumente zu den einzelnen Sätzen, die Althaus später – nach der Barmer Synode – in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Lutherische Kirche“ und im „Korrespondenzblatt der bayerischen Geistlichen“ differenzierter und abgewogener vortrug, worauf unten noch einzugehen ist. Die Stellungnahme an Meiser vor der Synode ist spontaner, impulsiver und verrät auch einiges von der inneren Stimmung von Althaus. Offenkundig hätte er sich von Meiser gerne früher und intensiver eingebunden gesehen, so kann man es einigen Eingangssätzen abspüren. Außerdem ist unverkennbar, dass ihn Barmen als „Werk von Karl Barth“ provozierte. Er sah sich geradezu gezwungen, seine persönlichen theologischen Kontroversen mit Barth im Streit um die Barmer Erklärung fortzusetzen. Schon am 2. 1. 1934 – also noch erhebliche Zeit vor der Barmer Synode – hatte sich Althaus in einem programmatischen Aufsatz über „Theologische Verantwortung“ auf den ersten Seiten der unter dem neuen Titel „Luthertum“ erscheinenden Fortsetzung der „Neuen Kirchlichen Zeitschrift“ aus lutherischer Perspektive sehr kritisch mit Karl Barth auseinandergesetzt, aber ebenso scharf auch gegen die DC, gegen „braune“ Theologie und vor allem auch gegen Stapel und Gogarten Position bezogen.76 Im Grunde wiederholte er unmittelbar vor der Barmer Synode Meiser gegenüber diese Kritik an Karl Barth, die er in der Zeitschrift Luthertum schon vorgetragen hatte, jetzt aber bezog er sie auf die einzelnen Sätze der Barmer Erklärung. Vor diesem persönlichen Hintergrund oder besser Untergrund lässt sich sein spontaner Protestbrief an den Landesbischof erst richtig einordnen, zumal Barth es an polemischen Anmerkungen über Althaus nicht fehlen ließ. Zwar artikulierte Meiser die bayerischen Bedenken gegen die Vorlage der von Barth dominierten Dreierkommission, letztlich ging die Synode mit Konzessionen zum Abstimmungsmodus über diese Bedenken hinweg. Die Tatsache der Einstimmigkeit bei der Verabschiedung belegt jedoch die Einsicht, dass trotz Detaildifferenzen in Einzelformulierungen das Zusammenstehen aller Gruppen und das geschlossene Votum der Synode in der auf76 P.A., 1934 (2).
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brechenden Kirchenkampfsituation als das Gebot der Stunde begriffen wurden. Die Enttäuschung über diese Entwicklung war bei Paul Althaus offenkundig mitentscheidend für seine Bereitschaft, am umstrittenen „Ansbacher Ratschlag“ mitzuwirken, der kaum zwei Wochen nach der Barmer Synode am 11. Juni 1934 von ihm mitunterzeichnet wurde. Aufgrund der sehr raschen Veröffentlichung sorgte dieser Ratschlag für Furore. Die Initiative zu diesem Papier lag bei einer Gruppe mittelfränkischer Theologen, die Mitglieder des Nationalsozialistischen Evangelischen Pfarrerbundes (NSEP) waren. Sie hatten offensichtlich Werner Elert zur Mitarbeit gewonnen, da dieser – dezidierter noch als Althaus – gegen Barmen war. Mit Elert war nachträglich zur letzten Sitzung Anfang Juni 1934 auch Althaus hinzugezogen worden. Er milderte – an eher marginalen Stellen – den schon vorher fertig entworfenen Text, er unterzeichnete ihn dann aber und beteiligte sich somit an einem „Paukenschlag“, den sich die Deutschen Christen als Votum gegen Barmen zu Nutze machten. Der relativ kurze, kaum zwei Seiten umfassende Text betonte – gegen die Barmer Erklärung und ihre Begrenzung auf das Evangelium – die Bedeutung des Gesetzes, des „unwandelbaren Willens Gottes“, das „uns in der Gesamtwirklichkeit unseres Lebens“ begegne. Das Gesetz binde jeden „an den Stand, in den er von Gott berufen ist“, verpflichte „auf die natürlichen Ordnungen … wie Familie, Volk, Rasse“ und binde „uns auch an den bestimmten historischen Augenblick der Familie, des Volkes, der Rasse, das heißt, an einen bestimmten Moment ihrer Geschichte“. Da Gott durch die natürlichen Ordnungen „unser irdisches Leben schafft und erhält“, müssten Christen darum jeder Obrigkeit Untertan sein, auch wenn es „gütige und wunderliche Herren“, „gesunde und entstellte“ Ordnungen zu unterscheiden gelte. Darum danken die Autoren in These 5: „Gott dem Herrn, dass er unserem Volk in seiner Not den Führer als ,frommen und getreuen Oberherrn‘ geschenkt hat und in der nationalsozialistischen Staatsordnung ,gut Regiment‘, ein Regiment mit ,Zucht und Ehre‘ bereiten will“. Sie wissen sich „vor Gott verantwortlich, zu dem Werk des Führers in unserem Beruf und Stand mitzuhelfen“.
Die Bejahung der politischen „Neuordnung“ durch Hitler als „frommen und getreuen Oberherrn“ gut ein Jahr nach der Machtergreifung – allerdings noch vor dem Röhm-Putsch – offenbart ein illusorisches, abwegiges Wunschdenken und eine erschreckend selektive Wahrnehmung der politischen Vorgänge seit der Machtergreifung im Januar 1933. Dabei ist beachtenswert, dass Althaus bei der Textformulierung durchgesetzt hatte, dass es heißt: „… gut Regiment bereiten will“ und nicht – wie vorher formuliert –: „… bereitet hat“. Hinter diesem Wunschdenken lässt sich die auch sonst in dieser Zeit immer wieder ausgedrückte latente Skepsis von Althaus deutlich spüren77, der man – 77 Der Wortlaut des Ansbacher Ratschlages wurde erstmals in der Nummer 25 vom 18. 6. 1934 des KorrBl 59 (1934), S. 279 f. abgedruckt (dort auch der Begleitbrief von Sommerer und die Stel-
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freilich belehrt aus der Sicht nach 1945 – wesentlich mehr Gewicht gewünscht hätte. Theologisch wurde hier eine Front gegen die Barmer Erklärung formuliert; dem dort präsentierten „Christomonismus“ von Karl Barth78 setzten die Ansbacher die lutherische Lehre von Gesetz und Evangelium entgegen, wobei das Evangelium, d. h. der Auftrag zur Verkündigung der in Christus Jesus bezeugten Liebe Gottes auch für die Ansbacher der „unbedingt gültige Maßstab“ zu sein hatte, insoweit argumentierten sie durchaus „christozentrisch“ – nicht aber „christomonistisch“; deshalb sei das Gesetz in seinem Eigenanspruch zu berücksichtigen. Die schnell erteilte Zustimmung von Althaus ist bei aller theologischen Nähe zu seiner Lehre von der Uroffenbarung sicherlich auch auf seine Enttäuschung über Barmen und die Erfolglosigkeit seiner dem Landesbischof Meiser vorgetragenen grundsätzlichen theologischen Bedenken zurückzuführen. Wieder glaubte er – so hat man den Zusammenhang zu sehen – gegen Karl Barth Front machen zu müssen.79 Althaus verstand seine Unterschrift daher als einen Beitrag zur Diskussion innerhalb der Bekenntnisbewegung. Darin unterschied er sich deutlich von Werner Elert, dem es eher um den Aufbau einer dritten, streng lutherischen Front ging und der darum Meiser zu gemeinsamen Gesprächen mit den DC-Bischöfen lutherischen Bekenntnisses gedrängt hatte.80 lungnahme der Landesleitung des NSEP), erneut abgedruckt in Greschat / Krumwiede (Hg.), 1999. S. 112 f. 78 Zu diesem von Althaus zwar erst später eingeführten Begriff, den er in der Sache aber schon 1934 vertrat, ausführlich: P.A., Die christliche Wahrheit. Bd. 1, Gütersloh 1947, S. 68 ff. Zum berechtigten Kern dieser Kritik und zu den Grenzen des christologischen Ansatzes von Karl Barth vgl. zusammenfassend: H. Fischer, 2002, S. 66, 76 ff. und 97. In der 2. Auflage vom Grundriss der Dogmatik (1936), Bd. 1, S. 72 beanspruchte Althaus ausdrücklich für seine eigene Auslegung des Alten Testamentes eine „christozentrische“ Sichtweise, für die weitergehende Position von Barth benutzt er hier den Ausdruck „Christomonismus“ noch nicht. 79 1964 äußerte sich Paul Althaus zu diesem Text: „Ich wollte mit meiner Unterzeichnung meinen Protest gegen die drohende Kanonisierung der Barmer Thesen in Bayern ausdrücken.“ Dabei habe er wohl die einzelnen Formulierungen „nicht genau genug beim Wort genommen“ … aber man müsse auch „die damalige Lage vor dem Röhm-Putsch in Betracht ziehen … Noch hatten wir das Vertrauen, dass der Führer (Hindenburg lebte noch!) uns ein gutes Regiment geben werde. Daher These 5 … von heute her sieht sich das natürlich ganz anders an. Ich würde schon wenige Monate später den Satz nicht unterschrieben haben.“ (Brief an Ernst Henn vom 22. 6. 1964 (NLA K 11a). (Henn arbeitete damals an Darstellungen und Dokumentationen zum bayerischen Kirchenkampf. Vgl. Baier / Henn, 1969 und Henn, 1974). Schon am 6. 7. 1948 hatte Althaus sich in einem Brief an Hermann Diem ähnlich geäußert: er sei für den Entwurf nicht verantwortlich, habe noch einige Korrekturen angebracht, aber selbstverständlich bekenne er sich zu „öffentlicher Mitverantwortung … Ich habe ihn damals mitunterzeichnet, weil ich über Barmen I erzürnt war und Störfeuer geben wollte,“ Ansbach sei aber nicht „Ausdruck meiner theologischen Lebensarbeit.“ Er bat deshalb darum, ihn nur bei seinen von ihm „selber verfaßten Schriften zu behaften.“ (NLA K 10). 80 Die Differenzen zu Elert waren auch konzeptionell deutlich. Elert argumentierte rasse-biologischer als Paul Althaus, dessen vergeistigendes Volkstumsdenken die Blutsbestimmtheit des
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Die politische Wirkung des Ansbacher Ratschlags war jedoch eine völlig andere, zumal der Sprecher des Ansbacher Kreises, Pfarrer Hans Sommerer81, der Direktor der Bruckberger Anstalten und führendes Mitglied des Nationalsozialistischen Evangelischen Pfarrerbundes in Bayern (NSEP), den Text in einem Begleitbrief „in erster Linie an unsere Amtsbrüder im NSEP“, aber auch an die übrigen bayerischen Pfarrer versandte und um schriftliche Zustimmung bat. Die Landesleitung der NSEP bezeichnete den Ansbacher Kreis als „theologische Arbeitsgemeinschaft des NSEP“. Der Ratschlag sei die notwendige „theologische Grundlegung“ des NSEP. Damit war die politische Verortung des Ansbacher Ratschlages eindeutig. Es überrascht nicht, dass die Deutschen Christen auf Reichsebene noch Ende Juni den Text in ihrer Zeitschrift unter dem Titel „Führende Theologen widerlegen Barmen“ veröffentlichten.82 Wie verwirrend die Gesamtsituation für Althaus war, belegt der Umstand, dass fast zeitgleich mit dem Versuch seiner Vereinnahmung durch die NSEP die Gauzeitung der Nürnberger NSDAP, der Fränkische Kurier, am 11. 6. 1934 eine wüste antisemitische Attacke auf den Theologen Althaus veröffentlichte. Sein Vortrag am 4. 6. 1934 auf dem Nürnberger Missionsfest unter dem Thema: „Christus und die deutsche Seele“ mit dem Bekenntnis zur in Paulus fundierten lutherischen Theologie und der Ablehnung aller Versuche, das Christentum zu germanisieren, lieferte die Angriffspunkte.83 Zwar verteidigten die Theologische Fachschaft und die Vertreter der Erlanger Studentenschaft den hochgeschätzten Lehrer sofort mit Protestbriefen. Doch diese lösten am 13. 6. 1934 nur eine neue Polemik aus. Der Rektor der Universität, selbst ein überzeugter Nationalsozialist, wurde vom Ministerium aufgefordert, differenziert Bericht zu erstatten. Er verteidigte darin Althaus, so dass der Vorgang zu den Akten genommen wurde.84 Die Gleichzeitigkeit dieser Affäre mit den Auseinandersetzungen um den Ansbacher Ratschlag muss man
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Volkes zwar nicht ausschloss, aber in den Hintergrund treten ließ. Auch später in der Auffassung des II. Weltkrieges differierten beide Theologen erheblich. Vgl. dazu B. Hamm (1998), S. 220. Vgl. zum zeitgeschichtlichen Zusammenhang für Elert auch seinen Brief an Pfarrer Max Tratz vom 12. 6. 1934, abgedruckt bei B. Hamm, 1990, S. 53 f. In dem Brief wird die persönliche Verletzung von Elert wegen der Nichtbeteiligung durch Bischof Meiser an Barmen deutlich spürbar. Er verurteilt Barmen als „haarsträubend“ und „theologisch so nicht tragbar“. Sommerer wurde während der Eingriffe der Reichskirchenleitung in die bayerische Landeskirche vom Reichsbischof im Oktober 1934 – freilich vergeblich – als Bischof von Franken eingesetzt. Vergleiche dazu K. Scholder II, 1985, S. 208 ff. Dort auch ein allgemeiner Überblick über das Echo. Althaus ließ sich von der Kritik nicht beeinflussen und hielt den Vortrag im August in der Luther-Akademie Sondershausen und im Oktober 1934 in Berlin und Hamburg. Der Vortrag erschien noch im Oktober/November 1934 als Separatdruck in Gütersloh bei Bertelsmann. Vgl. P.A., 1934 (4). Der Gesamtvorgang inklusive der Zeitungsausschnitte aus dem Fränkischen Kurier ist in der universitären Personalakte von Paul Althaus dokumentiert.
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sich freilich vor Augen halten, will man einigermaßen abschätzen, was alles in den Wochen des Juni 1934 auf Paul Althaus einstürmte, welche verwirrenden Vereinnahmungen und Polemiken er erfuhr. Zu der Vereinnahmung durch die Deutschen Christen passte ein offizielles Schreiben von Reichsbischof Müller vom 23. Juni 1934, in dem er Paul Althaus aufforderte, an der für den 6. und 7. Juli geplanten Sitzung des Verfassungsausschusses, zu der die Führer der Landeskirchen eingeladen seien, teilzunehmen. Neben Althaus erhielten offensichtlich auch Elert, Fezer und Gogarten einen entsprechenden Brief. Da jedoch die Landesbischöfe Wurm, Meiser und Marahrens ihre Teilnahme absagten und auf einer Vorbesprechung in Nürnberg auch die Professoren zu einer Absage drängten, lehnte Althaus die Einladung ab. In einem zweiseitigen Briefdurchschlag, der sich – leider ohne Datum – in seinem Nachlass fand, begründete er seinem früheren Studenten, dem jetzt in der Reichskirchenleitung amtierenden Oberkirchenrat Otto Langmann gegenüber diese Ablehnung. Langmann hatte ihn offenbar telefonisch zur Zusage gedrängt. Althaus hielt dagegen, dass er nach den Aktivitäten der Reichskirchenregierung in den letzten Monaten kein Vertrauen habe, ohne das eine Zusammenarbeit aber sinnlos sei. Außerdem wolle er auf gar keinen Fall gegen seinen Landesbischof ausgespielt werden. Die sachlichen und persönlichen Schwierigkeiten zwischen der Münchener Landeskirchenregierung und dem Reichsbischof müssten erst ausgeräumt sein, ehe solche Verfassungsberatungen sinnvoll seien. (NLA K 11a) Langmann erneuerte am 5. Juli mit einem Telegramm im Auftrag des Reichsbischofs die Einladung „in Erwägung der ernsten staatlichen und kirchlichen Lage, die zur Gemeinschaft verpflichtet“. Offensichtlich spielte er hier auf den Röhm-Putsch fünf Tage zuvor an. Er hatte damit wiederum keinen Erfolg. Am 11. Juli lud der Rechtswalter Jäger, der starke Mann in der Reichskirchenregierung, erneut Althaus zur Mitwirkung in einem am 6./7. Juli gebildeten Unterausschuss ein, der am 19. Juli tagen solle. Am 17. Juli sagte Althaus auch hier ab, da Jäger mit keinem Wort „auf die Bedenken und Hemmungen“ eingegangen sei, „die mich und meine Kollegen von einer Zusage zurückhielten“. Eine Teilnahme sei ihm nicht möglich, da sie bedeuten würde, dass er sich auf den Boden jener Entwicklung der jüngsten Reichskirchenpolitik stellen müsste, die er nicht billigen könne. Jäger reagierte mit einem barschen persönlichen Schreiben und erneuerte eine Einladung zum 27. Juli, die Althaus am 24. Juli wiederum mit deutlicher Kritik ablehnte. Darauf folgte noch ein weiteres Schreiben von Jäger, in dem dieser seine Offenheit Paul Althaus gegenüber betonte und seiner Hoffnung Ausdruck gab, „daß wir bei einer persönlichen Unterredung weiterkommen.“ (NLA K 11a) Ob Althaus nur unter Druck von Meiser, wie es Scholder85 nahe legt, oder aus eigener Überzeugung – wofür vieles spricht – absagte, kann nicht eindeutig entschieden werden. Dass er im Einklang mit seinem Landesbischof 85 K. Scholder II, 1985, S. 213.
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und seiner bayerischen Kirche handeln wollte, ist immer wieder belegt und offenkundig. Die Briefe an Langmann und Jäger machen völlig deutlich, dass Althaus sich nicht zum Aufbau einer dritten Front neben und gegen die Bekenntnisfront hergeben wollte, so sehr der Ansbacher Ratschlag auch in diese Richtung gezielt hatte und vom Ansbacher Kreis – und möglicherweise auch von Elert86 – in diese Richtung gedacht war. Die Vereinnahmung durch die DC war insofern zwar nicht zufällig gewesen, entsprach aber nicht den Intentionen von Althaus. Das politische Potenzial des Ansbacher Ratschlages für Zwecke der Deutschen Christen hatte Althaus offensichtlich nicht gesehen oder angesichts seiner innertheologischen Anti-Barth-Fixiertheit nicht wahrnehmen wollen. Dabei ist auch zu beachten, dass Elert und der Ansbacher Kreis Althaus in seiner Nach-Barmen-Krise abholten, ihm wenig Bedenkzeit ließen, nach der Unterschrift sofort zur Veröffentlichung schritten und für eine rasche Verbreitung sorgten. Aus dem Umfeld der Bekenntnisbewegung kamen bereits zahlreiche mahnende Briefe an Althaus, noch bevor der Ratschlag in einer Zeitschrift veröffentlicht war. Wahrscheinlich waren die Briefschreiber durch mündliche Informationen oder durch die von der NSEP verteilten Exemplare aufgeschreckt. Die Wirkung dieses Echos auf Althaus und seine Stellungnahme zur Barmer theologischen Erklärung darf gleichwohl nicht unterschätzt werden. Zugleich lässt sich erkennen, dass er prinzipiell als Anhänger der Bekenntnisbewegung eingeschätzt wurde. Schon am 11. Juni, also am Tag der Unterschrift in Ansbach, wandte sich Landesbischof Wurm „mit einer dringenden Bitte“ an Althaus, „jetzt keine Erklärung von lutherisch-konfessionellem Standpunkt aus zu der Barmer Erklärung zu veröffentlichen“. Ein solcher Gegenschlag könne „nach Lage der Dinge lediglich dem gemeinsamen Feind, nicht aber der lutherischen Kirche dienen.“ Zwar habe er für das Anliegen der Erlanger, „es möchte eine positivere Stellung zu Staat und Volkstum eingenommen werden, um der Liebe willen“, volles Verständnis, aber man müsse bedenken, dass man dabei „Gefahr läuft, der Anbiederung bezichtigt zu werden.“ Er werde aber dafür sorgen, dass diesem Anliegen „bei nächster Gelegenheit“ Rechnung getragen werde. Wurm verteidigte sodann Karl Barth, der „das Grundsätzliche schneller und schärfer zu erkennen“, eher in der Lage sei, zumal er als Schweizer nicht „wie wir durch die vaterländische Empfindung bewegt“ würde. (NLA K 11b) Wurms Bitte um freundliche Berücksichtigung kam allerdings zu spät. Gleichwohl darf man annehmen, dass dieser Brief doch seine Wirkung entfaltete, insbesondere bei der Abfassung des Aufsatzes von Althaus über seine Stellung zur Barmer Erklärung, der Anfang Juli erschien. Im gleichen Sinn wie
86 Elert agierte noch im Juli 1934 mit der NSEP und forderte in ihrem Organ Bischof Meiser auf, wegen seiner Unterschrift unter Barmen die Pastoren aus dem Treueid auf ihren Landesbischof zu entlassen. Vgl. Baier/Henn (Hg.), 1969, S. 71.
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Wurm schrieb der Kollege und Freund von Althaus, der Erlanger Neutestamentler Strathmann am 15.6. mit großer Sorge. Zwar habe auch er manches an der Barmer Erklärung zu kritisieren, „aber ich würde es für verhängnisvoll halten, wenn von uns aus irgendetwas geschähe, wodurch wir denen in den Rücken fielen, die sich mit Einsetzung ihrer Existenz hingegeben haben, um dafür zu kämpfen, daß die evangelische Kirche in christlichem Sinne geleitet wird.“ Strathmann gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass Althaus sich nicht „vor den Wagen eines engherzigen Konfessionalismus“, der die „eigentliche Gefahr der Lage im Vordringen des Calvinismus sieht“ spannen lasse und Kritik an Barth übe, die nur den Reichsbischof erfreuen könne. (NLA K 11b).
Der Lutheraner Strathmann entstammte der unierten westfälischen Landeskirche, wobei gerade in Westfalen zahlreiche reformierte Gemeinden neben einer Mehrzahl von lutherischen Gemeinden unter der gemeinsamen Kirchenleitung existierten. Diese erlebte Gemeinsamkeit machte Strathmann wahrscheinlich offener im Umgang mit dem „Kalvinismus“. Seine langjährigen Aktivitäten als Reichstagsabgeordneter ließen ihn darüber hinaus – politisch hellsichtiger als Althaus – die Gefahren der Instrumentalisierbarkeit einer lutherischen Gegenerklärung gegen Barmen erkennen. Als einziger Erlanger hatte er schon drei Wochen zuvor am 23. Mai eine Erklärung gegen die bekenntniswidrige Politik der Reichskirchenregierung unterschrieben.87 Mitunterzeichner waren über dreißig Kollegen aus ganz Deutschland – strenge Lutheraner ebenso wie Reformierte, dem Pietismus verbundene wie eher liberale Theologen, darunter auch Leute wie Lütgert, Hermann (Greifswald), Lietzmann und andere, die Althaus theologisch und persönlich sehr nahe standen, die aber jetzt in sog. zerstörten Landeskirchen ihr Wirkungsfeld hatten und darum sensibler auf die Aktionen aus Berlin reagierten. Wie Wurm kam auch Strathmann mit seiner Warnung zu spät, denn Althaus hatte schon vier Tage zuvor den Ansbacher Ratschlag unterschrieben. Beide Briefe belegen jedoch, dass offensichtlich ein Gerücht im Umlauf war, dass eine lutherische Gegenerklärung aus Erlangen zu erwarten sei. Aus der Münchner Pfarrerschaft erreichten Althaus unter den Daten vom 12. und 13. Juni Briefe der Pfarrer Eduard Ellwein und J. Sammetreuther, sowie besonders eindrucksvoll des Dekans Langenfaß. (NLA K 10, 11a undb) Alle mahnten nachdrücklich vor einem angeblich beabsichtigten Votum der Erlanger Fakultät gegen die Barmer Erklärung, was sich somit auch gegen Landesbischof Meiser richten würde. Darüber herrsche in der Münchner Pfarrerschaft „tiefgehende Empörung und schärfster Widerspruch“, während man zur Barmer Erklärung nur „unsere freudige und volle Zustimmung“ geben könne. Dekan Langenfaß hatte nach Rückkehr aus einem Kurzurlaub am 12. 6. 1934 von der Absicht der Erlanger Fakultät, „von der theologischen Erklärung der Barmer Bekenntnissynode öffentlich abzurücken, ja vielleicht 87 Die Erklärung ist abgedruckt in KorrBl 59 (1934), S. 234 f.
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sogar gegen sie Stellung zu nehmen“, erfahren. Tief betroffen wolle er deshalb sofort mit Althaus Kontakt aufnehmen. Er bitte aber auch jetzt offiziell namens der Kapitelkonferenz von der geplanten Aktion gegen die Barmer Theologische Erklärung abzulassen und dem bayerischen Landesbischof und der Bekenntnisfront „nicht in den Rücken zu fallen“.88 Der drängende Ton in dem Münchner Schreiben legt die Vermutung nahe, dass man über Kontakte unter den Pfarrern Kenntnis von dem Ansbacher Kreis und dem Ansbacher Ratschlag bekommen hatte, obwohl der Ratschlag erst am Tag zuvor unterschrieben worden war. Dem Münchener Kapitel gehörten auch Mitglieder des NSEP an, die informiert waren. Nach der Veröffentlichung des Ratschlags in der weitverbreiteten DC-Zeitschrift kam sehr persönlich gehaltener Widerspruch aus dem ganzen Reich. Zitiert sei ein sehr eindrucksvoller Brief von Carl Gunther Schweitzer89, der Althaus gerade als Lutheraner sehr verbunden war : „Heute lese ich nun in ,Evangelium im Dritten Reich‘ den von Ihnen mitunterzeichneten ,Ansbacher Ratschlag‘: Darf ich Ihnen offen sagen, dass ich ihn der Stunde nicht gemäß finde … Die Bekenntnisfront wird Ihr Vorgehen in diesem Augenblick als Dochstoß in den Rücken empfinden; und ich weiß nicht recht, was Ihre Freunde einem solchen Vorwurf gegenüber antworten sollen.“ (NLA K 11 b, Brief vom 29. 6. 1934)
Im Korrespondenzblatt erschien zwei Wochen nach der Publikation am 2. Juli 1934 eine dezidierte Kritik von dem damaligen Erlanger Privatdozenten Wolfgang Trillhaas, der insbesondere den unpräzisen, weil einseitig überhöhten Gesetzes- und Ordnungsbegriff des Ansbacher Ratschlages kritisierte und zusätzlich feststellte, dass gerade die entscheidenden konkreten Fragen der Gegenwart offen geblieben seien, so dass gefragt werden müsse, ob der selbst gewählte Anspruch, die genuin lutherische Stimme zu Gehör zu bringen, von dem Ratschlag überhaupt eingelöst sei. Er halte deshalb den Text eher für lautere DC-Theologie.90 Althaus beklagte sich zehn Tage nach Erscheinen der Kritik bei Trillhaas, dass er ihm diesen Text nicht selbst zugesandt und erst sehr verspätet brieflich erläutert habe. So habe er sich bei einer Versammlung im Uttenreuther Verbindungshaus „auf eines der Blätter gesetzt, wie sie auf jeden Platz gelegt waren.“91 Gerade weil er 1930 der eigentlich Protektor von Trillhaas gewesen 88 Langenfaß wandte sich an Paul Althaus, weil er offensichtlich eine hohe Meinung von ihm und seinem kirchlichen Engagement hatte. Schon 1929 hatte er ihn als potentiellen Nachfolger für den bayerischen Kirchenpräsidenten Veit in Erwägung gezogen. Vgl. oben S. 147 Anm. 26. 89 Zu Schweitzer vgl. unten S. 360 f. 90 KorrBl. 59 (1934), S. 311 f. 91 In seinen Memoiren beschreibt Helmut Thielicke sehr plastisch diese Situation, bei der Althaus gleichsam auf der Anklagebank gesessen habe. Er schildert ferner den Konflikt zwischen Althaus und Elert einerseits und auf der anderen Seite die junge Generation der Trillhaas, Thielicke und Froer, wobei er bei Althaus im Unterschied zu Elert eindrucksvoll dessen nicht nachtra-
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sei, habe es ihn schwer getroffen, „ein Wort von Ihnen gegen mich so kennen“ zu lernen. Inhaltlich wehrte sich Althaus gegen den Vorwurf, „lautere DCTheologie“ getrieben zu haben und verwies dabei auf seinen Aufsatz zu Barmen im Korrespondenzblatt, der dort inzwischen – eine Woche nach der Attacke von Trillhaas – erschienen war. Vielleicht zeige dieser neue Aufsatz „doch ein wenig, wie man im Unmute über Barmen nach Ansbach gehen und dabei doch nicht DC zu werden brauchte.“ (Brief Althaus an Trillhaas vom 12. 7. 1934 NLA K 11b)92 – Althaus antwortete hier auf einen Brief von Trillhaas vom 10. 7. 1934, in dem dieser sich seinem Lehrer gegenüber zu verteidigen versuchte. Er fügte hinzu, die Kluft, die Trillhaas zwischen der Bayerischen Landeskirche und ihrer Leitung einerseits und der Erlanger Fakultät andererseits festzustellen glaube, gelte „nicht einmal mehr im Blicke auf das besonders gereizte Münchener Kapitel“. Offensichtlich war das eine Anspielung auf die kritischen Briefe aus München und dem seither erfolgten Gedankenaustausch zwischen Althaus und Dekan Langenfaß. Gut vierzehn Tage nach den Briefen aus München hatte Althaus in einem sieben Seiten langen Brief vom 28. 6. 1934 (Entwurf in NLA K 11a) dem Dekan Langenfaß geantwortet und sich dabei zugleich auf einen Vortrag bezogen, den er am 26. 6. 1934 gehalten hatte, der dann am 9. 7. 1934, also eine Woche nach der Attacke von Trillhaas in dem Korrespondenzblatt für die Bayerische Pfarrerschaft und in der Juli-Nummer der Zeitschrift „Lutherische Kirche“ gedruckt wurde.93 Schon am 2. Juli hatte in der gleichen Nummer des Korrespondenzblattes, in der die Kritik von Trillhaas erschienen war, Kurt Froer, Mitglied des Bruderrates der neugebildeten Bayerischen Pfarrbruderschaft, also des entschiedenen BK-Flügels der Bayerischen Pfarrerschaft, über diesen Vortrag sehr positiv berichtet und begrüßt, dass Althaus sich so eindeutig zur Bekennenden Kirche bekannt habe und sich nicht für den Aufbau einer dritten Front missbrauchen lasse. Althaus hatte Langenfaß einen Vorabdruck dieses Vortrages beigelegt und brieflich seine Intentionen erläutert. Er habe lange für die Antwort gebraucht, aber die letzten vierzehn Tage waren „so überladen mit kirchenpolitischen Sorgen und eigenen Angelegenheiten … Auch mußte ich meines eigenen Weges erst gewiß werden, ehe ich Ihnen zu antworten vermochte.“ Althaus verweist dann auf seinen Mahnbrief an Meiser zehn Tage vor Barmen, in dem alles drin gestanden habe, was er jetzt öffentlich sage. Seine Bedenken gegen Barmen seien ihm „theologisch, lutherische Gewissenssache“. In seinem Aufsatz werde Langenfaß aber jetzt „lesen, wie stark ich mich in die Barmer gende Art hervorhebt. Während Elert mit allen Mitteln seine Habilitation zu verhindern versucht hätte, habe sich Althaus nachdrücklich für ihn eingesetzt. H. Thielicke, 1984, S. 85 f. 92 Die emotionale Bestimmtheit von Paul Althaus, die ihn zur Unterzeichnung des Ansbacher Ratschlages bereit machte, und die er 1948 gegenüber Herrmann Diem und 1964 gegenüber Ernst Henn bekannte, findet in diesem Brief an Trillhaas eine ganz zeitnahe Bestätigung. 93 P.A., 1934 (3).
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Front als solche einstelle. Es geht nicht darum, sie zu schwächen, sondern darum, sie zu stärken dadurch, daß ich die Verknüpfung des notwendigen kirchlichen Kampfes mit einer unzulänglichen und vielfach irrigen theologischen Erklärung löse … Denn man hat der Sache der Opposition dadurch geschadet, daß man eine Erklärung annahm, die die Fragen, auf die die DC häretisch antworten, überhaupt nicht zu sehen scheint.“ Er stehe „kirchenpolitisch – trotz mancher Sorgen – zu Meisers Weg nach Barmen“. Trotzdem könne er nicht gegen „die unzulängliche Erklärung von Barmen“ schweigen, weil durch sie „die theologisch Ernsten unter den Deutschen Christen Auftrieb bekommen könnten.“ Insgesamt aber sei er sich mit Langenfaß einig, dass die Möglichkeiten einer wirklich lutherischen Kirche in Deutschland nur mit Hilfe der Bekenntnisfront verwirklicht werden könnten. Strittig sei nur, „ob eine öffentliche lutherische Kritik heute der Sache der Barmer Front förderlich – wie ich gewiß bin – oder schädlich – wie Sie meinen – ist.“
Langenfaß dankte in seiner Antwort in „einem Wort herzlicher Freude“, dass sich Althaus vorbehaltlos in die Sache der Bekenntnisfront hineingestellt habe und zwar sowohl in seinem Brief wie auch in seinem Aufsatz. Jetzt sei klar, dass „Ihr Wort von der Reichskirchenregierung für ihre Zwecke nicht mehr ausgenutzt werden“ könne. Als einem Praktiker erscheine ihm zwar die Auseinandersetzung, in die sich Althaus hineingezwungen fühle, „sekundär“, weil alles darauf ankomme, „in welchem Raum die Auseinandersetzung vor sich geht.“ Aber der sei jetzt ja richtig gewählt, was sich leider von Elerts Aufsatz in der AELKZ nicht sagen lasse. Trotz mancher inhaltlich offener Fragen gegenüber Althaus spürte Langenfaß „ein ganz innerstes, positives Anliegen heraus, das mich bewegt“. Er werde der Münchner Pfarrerkonferenz über diesen Brief berichten. Abschließend dankte er nochmals in der Freude, „jetzt schon zu sehen, daß die notwendige Auseinandersetzung nur zur Stärkung unserer Verbundenheit dient.“ (Brief vom 7. 7. 1934) Am 12. 7. 1934 fügte Langenfaß in einem kurzen Bericht noch an, dass das Münchner Pfarrkapitel dankbar begrüßt habe, dass „Sie sich mit solch unwidersprechlicher Klarheit in die Bekenntnisfront einordnen und Ihr Gespräch über die Barmer Erklärung ganz und gar innerhalb der Bekenntnisfront führen“, während gegen Elerts Aufsatz heftiger Widerspruch geäußert worden sei. (NLA K 11a) Ganz ähnlich wie Langenfaß äußerte sich im Übrigen auch C. G. Schweitzer, dem Althaus seine Bedenken als Manuskript sofort zugesandt hatte, er hielt den neuen Text für „sehr gut gelungen“. (Brief vom 5. 7. 1934, NLA K 11 b) Der Briefwechsel mit Langenfaß wurde flankiert von manch weiteren Briefen an Althaus, die sich immer wieder kritisch zum Ansbacher Ratschlag äußerten. Man wird diese Korrespondenz insgesamt als Anstöße in einem Lernprozess ansehen können, der sich zwischen dem Ansbacher Ratschlag und dem Aufsatz „Theologische Bedenken gegen die Barmer Theologische Erklärung“ vollzog. In dem Brief an Langenfaß spricht Althaus einleitend von der Notwendigkeit, sich des eigenen Weges erst gewiss werden zu müssen. Das ist ein deutlicher Hinweis. Auch fällt auf, dass in späteren Diskussionsbei254
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trägen Althaus zwar nie seine Unterschrift unter den Ansbacher Ratschlag bestreitet, aber angesichts dessen Vieldeutigkeit und Missbrauchbarkeit für seine eigene Position immer auf die nur von ihm verantworteten Schriften verweist. Das darf man gewiss als implizite Kritik und vorsichtige Distanzierung vom Ansbacher Ratschlag interpretieren. Dessen Ausnutzung durch die DC hatte Althaus offensichtlich nicht vorausgesehen. In dem neuen Aufsatz über seine Bedenken gegen die Theologische Erklärung von Barmen machte Paul Althaus einleitend mit allem Nachdruck deutlich, dass er entschlossen stehe „zu dem Kampf um die Reinheit der kirchlichen Lehre. Mit der Gewaltherrschaft in der Kirche gibt es für uns keinen Frieden.“ Das war eine klare Absage an die gewaltsame Eingliederungspolitik der Deutschen Christen, des Reichsbischofs Müller und seines „Rechtswalters“ August Jäger. Im Grunde hatte die Erlanger Fakultät diese Position schon am 18. 5. 1934 – also zehn Tage vor der Barmer Synode – eingenommen, als sie sich energisch gegen eine auch „freiwillige Eingliederung … im Sinne eines Aufgehens lutherischer Kirchen in die Deutsche Evangelische Kirche“ gewandt hatte. Sie reagierte damit u. a. auf die Mitte April erfolgten Versuche August Jägers, in die württembergische Landeskirche einzugreifen. Inzwischen hatte sich im Juni/Juli 1934 das Drängen der DC und der Reichskirchenregierung auf eine freiwillige Eingliederung der noch nicht gleichgeschalteten süddeutschen Landeskirchen massiv verstärkt. Da aber dem Reichsbischof die bekenntnismäßige Ausrichtung der einzelnen Landeskirchen – lutherisch, reformiert oder uniert – gleichgültig war, er die Reichskirche vielmehr als Dienstleister in den nationalsozialistischen Staat einordnen wollte, verschärfte sich der Protest aus den kirchentreuen Kreisen, denen es um die Reinheit und Unabhängigkeit der Bekenntnisse ging. In dieser Stoßrichtung gab es zwischen Althaus und der Barmer Bekennenden Kirche keine Differenzen. Je schärfer der Kampf wurde, umso eindeutiger wurde auch seine Position. In einem Brief an Ernst Henn hatte Althaus 1964 aus dem Rückblick geschrieben, er hätte These 5 des Ansbacher Ratschlags – den Dank an Gott, „dass er unserem Volk in seiner Not den Führer als ,frommen und getreuen Oberherren‘ geschenkt hat und in der nationalsozialistischen Staatsordnung ,gut Regiment‘, ein Regiment mit ,Zucht und Ordnung‘ bereiten will“
schon wenige Monate später nicht mehr unterschrieben. (NLA K 11a) Für diese „Distanzierung“ gibt es ein eindrucksvolles zeitnahes Zeugnis. In seiner „Theologie der Ordnungen“, die im Frühsommer 1934 erschienen war, hatte Althaus noch für „Kämpfen und Bleiben“ plädiert: „Ich muß meinem Volk und seinem Staat dienen, nicht nur im Paradiese sondern in dieser argen falschen Welt … Ich muß meines Volkes Sache vertreten, obgleich ich weiß und fühle, dass sie auch mit Bösem verwoben ist, gegen das ich kämpfe. Ich muß kämpfen, um die Ordnung, wie sie sein soll, aber auch bleiben in der Ordnung, wie sie
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ist – beides gehört zusammen.“ Wohl gäbe es Fälle, in denen „das Fliehen aus entstellter Ordnung“ angezeigt sein könne, allerdings könne das bedeuten, „dass ich den Kampf in ihr um sie, um ihre Reinigung aufgebe.“94
Im Laufe des Sommers und Frühherbstes 1934 änderte sich sein Appell für „Kämpfen und Bleiben“ grundlegend. Mitte Oktober kam die Krise auf ihren Höhepunkt. Rechtswalter Jäger versuchte die bayerische Landeskirche zu zerschlagen und zwei DC-Bischöfe zu installieren. Gleichzeitig erklärte er Bischof Meiser für abgesetzt und stellte ihn in seiner Dienstwohnung unter Arrest. Genau in diesen Tagen antwortete Althaus seinem Freund und Kollegen Martin Doerne auf dessen Frage zur Erläuterung der oben zitierten Textpassage aus der „Theologie der Ordnungen“: „Ich werde es keinem DCPfarrer … verwehren, sich mit S. 38 zu trösten. Aber ich selber kenne jetzt nur noch die Losung des Fliehens, nicht des Bleibens, in dieser besonderen Frage. Exempla bavarica trahunt.“ (NLA K 10) Fliehen bedeutete für Althaus im Herbst 1934 jedoch keineswegs Flucht aus der Verantwortung, sondern Flucht aus der Kooperation mit der DC, den unmissverständlichen Bruch mit den Deutschen Christen und seine noch eindeutigere Positionierung in der Bekennenden Kirche. Wenige Tage nach seinem Brief an Doerne nahm er vom 18. bis 20. Oktober 1934 – entsandt von Landesbischof Meiser – als Vertreter der bayerischen Landeskirche an der 2. Synode der Bekennenden Kirche in Berlin Dahlem teil. In einer persönlichen Erklärung bekannte er sich dort ausdrücklich zu diesem Schritt: „durch Schicksal und vielleicht auch eigene Schuld habe ich bis jetzt abseits gestanden. Ich habe aber stets mit großer Hochachtung der kämpfenden Brüder gedacht. Meine Unterschrift unter den Ansbacher Ratschlag habe ich zurückgezogen. Ich freue mich auf dieser Synode mit dabei sein zu dürfen.“95
Die Dahlemer Synode bezog eindeutig Stellung. Sie warf dem Reichsbischof vor, er habe durch die von ihm und seinem Rechtswalter „angemaßte Alleinherrschaft … ein in der Evangelischen Kirche unmögliches Papsttum aufgerichtet.“ Aufgrund zahlreicher Rechtsverstöße und zuletzt durch die „Vergewaltigung der süddeutschen Kirchen“ stellte die Synode darum die Zerschlagung der Verfassung der DEK fest und berief „auf Grund des kirchlichen Notrechtes stattdessen zur Leitung und Vertretung der DEK als eines Bundes bekenntnisbestimmter Kirchen den Bruderrat der DEK und aus seiner 94 P.A., 1934 (1), S. 38. 95 Abgedruckt bei W. Niemöller, 1958, S. 50. Es fällt auf, dass in der Althaus-Kritik der „Nach 68er Jahre“ dieses öffentliche Bekenntnis von Paul Althaus zur Bekennenden Kirche und seine öffentliche Distanzierung vom Ansbacher Ratschlag im Oktober 1934 nie erwähnt wird, obwohl es zeitgenössisch durchaus bekannt war. Die Zitate aus der Niemöller Dokumentation stammen aus dem kirchlichen Wochenblatt „Unter dem Wort“ Nr. 45 vom 11. 11. 1934, in dem ausführlich über die Eröffnung des Dahlemer Synode berichtet wurde.
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Mitte den Rat der DEK zur Führung der Geschäfte. Beide Organe sind den Bekenntnissen entsprechende zusammengesetzt und gegliedert.“96 Die massive Gewaltpolitik des Rechtswalters Jäger schuf in Dahlem eine große Einigkeit in der Abwehr. Die Bruderräte aus den zerstörten Landeskirchen und die Vertreter der „intakten“ Kirchenregierungen, deren Intaktheit aufs äußerste bedroht war, hatten hier ebenso zu einer einheitlichen Position gefunden wie Lutheraner, Reformierte und Unierte, zumal deren Bindungen an die unterschiedlichen Bekenntnisse in den neu beschlossenen Gremien ausdrücklich berücksichtigt wurden. Im Protest gegen die Politik von Reichsbischof Müller mit seinem Rechtswalter Jäger und gegen die Agitation der DC waren sich alle einig. Auch Althaus stimmte hier voll mit ein. Schon Anfang Juli hatte er ja in seinem Aufsatz versichert, er stehe zum Kampf um die Reinheit der kirchlichen Lehre. „Mit der Gewaltherrschaft in der Kirche gibt es für uns keinen Frieden.“ Jetzt praktizierte er diese Haltung durch seine aktive Teilnahme an der Dahlemer Synode. Seine Anwesenheit und Mitwirkung in Dahlem bedeutete für Althaus gleichwohl nicht, dass seine theologischen Differenzen mit Karl Barth und den von Barths Theologie dominierten Sätzen der Theologischen Erklärung von Barmen nun gegenstandslos geworden wären. Auf diese Differenzen ist hier darum noch ausdrücklich einzugehen, zumal Althaus sie auch später immer wieder ganz grundsätzlich artikuliert hat. Sein kurzer Aufsatz aus dem Sommer 1934 ist gerade in diesen Partien sehr zentral. Das spannungsreiche Miteinander der Kritik an der Theologie von Karl Barth und der Barmer Thesen bei gleichzeitigem dezidiertem Einrücken in die Front der Bekenntnisbewegung muss besonders beachtet werden, will man Paul Althaus und sein Erleben und Mitgestalten in der Kirchen- und Theologiepolitik jener Krisenjahre richtig einordnen und verstehen. Zur Theologischen Erklärung betonte Althaus, „daß in der Erklärung viele Sätze stehen, zu denen wir einfach und vorbehaltlos Ja sagen …, aber als theologisches Wort zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche ist sie unzulänglich.“ Die Linie lutherischer Theologie sei nicht gewahrt. Es folgt dann eine differenzierte Kritik, angeknüpft an die einzelnen Barmer Thesen. Indem Barmen sich allein auf „Jesus Christus, das eine Wort Gottes“ stütze, verwerfe es „,die falsche Lehre‘, die Kirche könne und müsse neben ,diesem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“ Althaus fragt darum, wo das Gesetz Gottes bleibe und ob die „allgemeine Offenbarung“ völlig ausgeschlossen sei. Es sei seiner Meinung nach wichtig, den offenkundigen Missbrauch des Gedankens der allgemeinen Offenbarung durch die DC nicht durch Preisgabe des Begriffs, sondern dadurch zu bekämpfen, „daß man ihn klar und scharf umgrenzt.“ 96 Wortlaut des Beschlusses der Synode abgedruckt in KorrBl. 59 (1934), S. 479 f, jetzt auch in Greschat/Krumwiede (Hg.), 1999, S. 114.
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Ohne auf die folgende detaillierte theologische Argumentation weiter einzugehen, kann aus der Rückschau zunächst festgestellt werden, dass Althaus hier ein zentrales theologisches Problem der Barmer Erklärung ansprach, das er in dem „Christomonismus“ der Barthschen Theologie begründet sah. Er fundierte seine Kritik mit dem Ausbau seiner eigenen theologischen Lehre von der Uroffenbarung, die er gerade in diesen Jahren immer wieder präzisierte. Die Anwendung dieser Uroffenbarungslehre mit der in ihr nicht notwendigen, aber bei Althaus implizierten theologischen Aufladung des Begriffes „Volk“ und des in ihr angelegten Verständnisses von Gott als dem Herrn der Geschichte legt allerdings das Urteil nahe, dass Paul Althaus seiner eigenen Forderung der scharfen und klaren Umgrenzung des Begriffs der „allgemeinen oder Uroffenbarung“ selbst nicht voll genügte, da er von einer quasi natürlichen Qualität der Völker als Einheiten der „Schöpfungsordnung“ ausging. Darum kritisierte Althaus an der fünften These der Barmer Erklärung ihr unzulängliches Reden vom Staat. Während dort dem Staat nur aufgegeben sei, „unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen“, fehle jedes Wort von „Zusammenhang von Staat und Volk … kein Wort über den Dienst des Staates an einem Volk, über den Staat als Ordnung dieses bestimmten Volkes für das Leben in der Geschichte“. Hier klingt wieder deutlich an, wie Althaus im Rückgriff auf die historisch-politischen Vorstellungen von Leopold von Ranke die Völker als Teile der Schöpfungsordnung – und nicht als Produkte historischer Prozesse – begriff und von daher dem Staat zusätzliche zentrale Aufgaben beim Vollzug der „Sendung“ des jeweiligen Volkes zuwies.97 In der Barmer Erklärung mache sich dagegen „der liberale Begriff des bloßen Rechtsstaates geltend, den wir in den Schriften Karl Barths finden.“ (S. 121) Trotz dieser intensiven Einwände, die hier nur konzentriert wiedergegeben sind, betonte Althaus abschließend jedoch mit Nachdruck, die Sache, um die es der Barmer Synode gegangen sei, „nämlich der Kampf um die Reinigung der Kirche von unchristlicher Verkündigung, von unkirchlichem Regimente“ sei auch die seine, sei gut und stark, und er denke nicht daran, sie irgendwie schwächen zu wollen. Mit diesen Formulierungen distanzierte er sich im Grunde vom Ansbacher Ratschlag. Auf jeden Fall versuchte er, dessen Rezeption in der Öffentlichkeit, vor allem seine Indienstnahme durch die DC zu korrigieren. Theologisch machte Althaus – wie schon in der Deutschen Stunde – allerdings nach wie vor Front gegen Karl Barth, wobei er gewiss zu Recht einige offene Flanken oder Vereinseitigungen in der Theologie seines Bonner Kollegen benannte.98 Allerdings fand Althaus gerade mit dieser Kritik auch Widerspruch von seinen Freunden, weil die Einwände gegen Barth zum jetzigen 97 Vgl. dazu oben S. 54 f. und S. 233 f. 98 Vgl. dazu statt vieler weiterer Belege: A. Peters, Barmen im Licht von Schrift und Bekenntnis. In: Barmen und das Luthertum, 1984, S. 116 ff.
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Zeitpunkt deplatziert seien. So schrieb ihm sein Freund und ebenfalls BarthKritiker und „Barth-Opfer“ Emil Brunner (Brief vom 21. 11. 1934, NLA K 10), den Barth in Erwiderung einer Kritik übel zerrissen hatte, er mache sich Vorwürfe, dass er Barth provoziert habe. Barths neue Gegenschrift gegen ihn sei ein Skandal, theologisch habe er, Brunner, „zwar in allen Punkten Recht, taktisch strategisch“ jedoch unrecht. Er hätte Barths Exkommunikation einfach hinnehmen sollen. Dem Ansehen von Barth werde dessen Anti-BrunnerPolemik „furchtbar schaden und das ist schade. Denn es ist ja doch für die Kirche Deutschlands viel wichtiger, daß ein Mann wie Barth da ist, als daß ich da bin, oder Sie. Wo stünde die Deutsche Kirche ohne Barth heute?“99 Im Grunde verschob Brunner damit die innertheologische Fachdiskussion wieder auf die politische Ebene, weil er erkannte, dass Karl Barth durch seine christologische Konzentration zur klaren Positionsbestimmung gegen die politische Indienstnahme der Kirche für das sich etablierende NS-Herrschaftssystem befähigt wurde. Darum gelte es diese kirchenpolitische Rolle von Karl Barth zu unterstützen und innertheologische Fronten zurückzustellen. In diesem Punkt argumentierte Brunner in die gleiche Richtung wie der Münchener Dekan Langenfaß in seinem Briefwechsel mit Althaus.100 Er fügte dann noch an, wenn Barth so verächtlich über Althaus spreche, so missbillige er das ganz und gar. Aber er begreife es „ein wenig aus Ihrer kirchenpolitischen Haltung. Jene böse Proklamation mit Hirsch zusammen, dann die schwankende Haltung gegen die DC. Wenn Sie einmal ganz den romantischen Sauerteig des bösen Hirsch ausgefegt haben werden, dann werden wir ganz gute Freunde werden können. Noch immer hoffe ich, dass es dann auch noch einmal mit Barth zusammen gut gehen wird.“ Diese Kritik hatte Brunner schon als Kommentar zur Deutschen Stunde der Kirche sehr treffend formuliert: trotz aller Zustimmung sei „das einzige, was uns trennt“, das, „was ich den romantischen Rest in Ihrem Geschichtsdenken nenne und der sich, wie mir scheint, in Ihrer politischen Haltung ausdrückt.“ In seine Lehre vom Staat bringe Althaus „eine Note hinein, die ich aus Luther nie heraushöre, dagegen in vollen Akkorden aus den Schriften der Idealisten vernommen habe und immer wieder höre. Da sind Sie mir, entschuldigen Sie, wenn ich es so sage, einfach nicht nüchtern-theologisch genug.“ (Brief vom 29. 3. 1934 NLA K 10) Zwar hatte Althaus mit Hirsch zwischenzeitlich längst gebrochen, aber die Grundlinie der Kritik des Schweizers Emil Brunner zielte ohne Frage in die richtige Richtung. In einfacheren Worten, aber im Grunde mit gleicher Tendenz hatte Landesbischof Wurm in seinem Schreiben vom 11. Juni 1934 – im Umfeld des Ansbacher Ratschlages – argumentiert, als er Barths Fähigkeit, das 99 Wenn Besier aus diesem Brief nur einen einzigen Barth-kritischen Satz von Brunner zitiert, verfälscht er damit den Grundtenor und das Votum Brunners, der Barths Rolle in der BK akzeptiert und stützt, vollkommen. G. Besier 2001, S. 42. 100 Vgl. oben S. 251 f.
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Grundsätzliche schneller und besser zu erkennen, hervorhob, zumal Barth als Schweizer nicht „wie wir durch die vaterländische Empfindung bewegt“ würde.101 Die Relevanz des historisch-politischen Umfelds auch für die jeweils vertretenen theologischen Grundsatzpositionen wird hier in den Formulierungen bei Brunner und Wurm deutlich angesprochen. Das Umfeld, in dem man aufgewachsen ist, kann einmal helfen, zu den Kernen des jeweiligen theologischen Problems rascher durchzustoßen, oder es erfordert schwierige Lern- und Loslösungsprozesse. Brunner traf mit seinen Hinweisen auf die Lehre vom Staat und von der Geschichte in der Tat das Zentralproblem der „politischen Theologie“ von Paul Althaus. Dieser sah die zentrale Aufgabe des Staates – darin bewusst über Luther hinaus gehend – nicht nur darin, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, sondern als Organ des Volkes diesem dazu zu verhelfen, seinen je eigenen Beruf, seine Sendung, zu erfüllen. Diese Vorstellung war ein Produkt der idealistischen Theologie Schleiermachers102, rankeanischer Geschichtsauffassung, der Lehre aus den anti-napoleonischen Freiheitskriegen, des Ringens um die Deutsche Einheit im 19. Jahrhundert, das im Bismarckschen Nationalstaat seine Erfüllung gefunden zu haben glaubte. Für Ranke begründete sie ausdrücklich nicht einen deutschen Imperialismus, denn er ging vom Konzert der Völker Europas, vom Gleichgewicht und nicht von Hegemonie aus. Jedes Volk solle darin seine Rolle erfüllen. Althaus theologisierte dieses Geschichtsbild dadurch, dass er die gleichsam „natürliche“ Gliederung der Menschheit in Völker dazu nutzte, die Völker zu Teilen der „Schöpfungsordnung“ aufzuwerten und ihnen eine je eigene Sendung zuzuschreiben. Wenn Brunner hier von einem „romantischen Rest“ im Geschichtsdenken von Althaus sprach, dann traf er damit in der Tat einen entscheidenden Punkt. Die von ihm kritisierten „romantischen“ Grundvorstellungen von Althaus über den christlich-religiös bestimmten Charakter des deutschen Volkes mit seiner Sendung zur Mission und über den dem deutschen Volk angeblich adäquaten obrigkeitlichen, nur vor Gott verantwortlichen Führerstaat verursachten 1933 die Hoffnungen von Althaus auf die „deutsche Wende“. Freilich muss dabei zusätzlich das „Trauma von Versailles“ beachtet werden, das das politische Verhalten, Denken und Hoffen des patriotischen Pietisten und Professors in den frühen 30-er Jahren entscheidend prägte. Althaus war sich bewusst, dass „die Deutung der Stunde ein Wagnis“ sei, 101 Vgl. oben S. 250. 102 In seinem programmatischen Aufsatz: „Staat und Kirche in lutherischer Sicht“ von 1935 hat PA diese über die Lutherische Zweireichelehre hinausgehende These erläutert (vgl. dazu unten S. 284 f.), in dem wissenschaftsgeschichtlich akzentuierten Beitrag „Obrigkeit und Führertum“ von 1936 folgte dann noch einmal eine ausführliche wissenschaftliche Begründung unter Bezug auf Schleiermacher. Mit Schleiermacher war der aus der Hermannsburger Erweckungsbewegung stammende Paul Althaus auch mentalitätsmäßig verbunden, dafür sprachen Schleiermachers Verwurzelung im Pietismus der Herrnhuter Brüdergemeine, seine persönliche Frömmigkeit und sein großes Engagement als Prediger.
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„das hernach des Irrtums überführt werden kann.“ Gleichwohl müsse solche Zeitpredigt gewagt werden, wenn sie nur „in Demut geschieht mit dem Bewusstsein, Gott ist größer als unser Herz.“103 Hinzu kam, dass sein eher rückwärtsgewandtes Denken und Hoffen in sich nicht geschlossen und einlinig war. Es enthielt auch produktive und zukunftsweisende Potentiale. Insgesamt gilt es darum die in der Begegnung mit Paul Althaus gerade 1933 gewonnene Erkenntnis von Karl Barth zu beachten, „dass der Mitmensch, und der theologische Mitmensch ganz besonders, immer noch ein wenig komplizierter ist, als man angenommen hat.“104 Die Kontroversen um den Staats- und Volksbegriff, ihre Differenzierungen und Präzisierungen sowie die Versuche, ihn gegen Missbrauch zu sichern, bestimmten auch den Lernprozess der folgenden Jahre, in denen der Theologe, Prediger und Patriot Althaus das Dritte Reich erlebte und theologisch zu verarbeiten suchte. Gleichwohl galt es bereits hier, auf die in sich problematische Struktur dieser Begriffsbildung hinzuweisen, zumal sie von seinem Freund, dem – nicht zufällig – Schweizer Theologen Emil Brunner schon zeitgenössisch angesprochen wurde. Doch bevor näher auf die späten 30-er Jahre und den Zweiten Weltkrieg eingegangen wird, ist es notwendig – gleichsam in einem Exkurs – die privaten Lebensumstände von Paul Althaus, sein Leben in der Familie in dieser Zeit gesondert zu betrachten, weil nur so ein wirklich abgerundetes Bild seiner Persönlichkeit und seiner Geschichte entstehen kann.
103 Vgl. oben S. 232. 104 Vgl. oben S. 223.
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7. Paul Althaus als „pater familias“ – Das Leben der Familie Althaus in den 30-er Jahren Das Ehepaar Althaus war im Sommer 1925 mit vier kleinen Kindern – im Alter von 6 Jahren bis 6 Monaten – in eine Mietwohnung in die Erlanger Hindenburgstraße 4a eingezogen. Die Wohnung war zwar geräumig, sie hatte vier Südzimmer, drei Nordzimmer, dazu ein Anhang mit drei Ostzimmern, welche im Familienjargon später „der kalte Schwanz“ genannt wurden.1 Da die Wohnung insgesamt schlecht geschnitten war und außerdem an einer belebten Straße lag, träumte Frau Althaus schon bald von einem eigenen Haus. Paul Althaus schien diese Hoffnungen seiner Frau zunächst zu übergehen. Erst nach der Ablehnung des Rufes nach Halle im Juni 1929 und erfolgreichen Bleibeverhandlungen bekamen die Pläne einen kräftigen Schub. Der Erlanger Bürgermeister vermittelte ein günstiges Baugrundstück an der Atzelsberger Steige, einem damals neu erschlossenen guten Wohngebiet am Erlanger Meilwald. Das Gesamtvolumen der Kosten für den Hausbau betrug 50.000 RM. Im Rahmen der Bleibeverhandlungen gewährte das Ministerium ein Zusatzdarlehen in Höhe von 10.000 RM als Gehaltsvorschuss, das bei 6 %er Verzinsung in Monatsraten von 150 RM abzuzahlen war.2 Der Kultusminister setzte sich energisch beim Finanzminister ein, da das Bleiben von Althaus in Erlangen sehr wichtig sei, sein Weggang wäre ein „schwer zu ersetzender Verlust“. Noch im Herbst 1929 wurde das Grundstück gekauft und mit dem Bau begonnen. Dorothea Althaus gestaltete die Planungen sehr selbstständig und kümmerte sich um alle Details. Sie trieb die Sache energisch voran, verhandelte mit den Handwerkern und vergab die Einzelaufträge. Schon am 31. Mai 1930 rollten die Möbelwagen. Das großzügig gestaltete Haus mit schönem Garten wurde für die folgenden Jahrzehnte zum Lebensmittelpunkt der Fa1 Die folgende Darstellung zum Familienleben stützt sich auf zwei Manuskripte von Dorothea Althaus: Licht und Schatten im Leben unserer Kinder, Band I (bis 1927) und Band II (bis Sommer 1933) sowie eine Ergänzung durch Dorothea Petersen, geborene Althaus, über die Jahre 1934 bis 1940. Wichtig ist ferner ein Manuskript von Dorothea Petersen „Geliebter Vater“, in dem sie Erinnerungen an den Vater für ihre Mutter aus Anlass des Tages der Goldenen Hochzeit 1968, zwei Jahre nach dem Tod von Paul Althaus, aufgeschrieben hatte. Außerdem gibt es Tagebuchnotizen von Dorothea Althaus aus den Jahren 1935 bis 1946. Ich danke Dekan Gerhard Althaus, der mir Einblick in diese ansonsten nur für die Familie überlieferten Manuskripte gewährt und Notizen gestattet hat. Auf Detailnachweise wird daher im Folgenden verzichtet. 2 Die Angaben zum Gehalt von Paul Althaus stützen sich auf die offiziellen Personalakten von Paul Althaus in der Universität (Univ.-Archiv Erlangen) und des Ministerium (BayHStA München MK 71972 und MK 43361).
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milie Althaus und ist zugleich ein Dokument für Lebensstil und wirtschaftliche Lebensumstände des damaligen Ordinarius. Allerdings vollzog sich der Umzug in einer Zeit erheblicher beruflicher Unruhe, weil das dauerhafte Verbleiben der Familie in Erlangen gleich zweimal in Frage gestellt wurde. Da war zunächst die Anfrage aus Mecklenburg zur Übernahme des dortigen Bischofsamtes. Zwar hatte Althaus nach sehr persönlichen Erwägungen im April 1930 rasch abgelehnt, aber fast gleichzeitig – sechs Wochen vor dem geplanten Umzug – kam der Ruf auf den Systematiklehrstuhl nach Tübingen, der zu intensiven Verhandlungen führte.3 Frau Althaus, die sogar mit ihrem Mann nach Tübingen zu den Verhandlungen fuhr, drang in ihn, auf gar keinen Fall den Erlanger Neubau zu einem Entscheidungsgrund zu machen. Im September 1930 – also schon mehrere Monate nach dem Bezug des neuen Hauses – lehnte Althaus dann den Ruf nach Tübingen ab und entschied sich mit ernsthaften theologischen Argumenten für Erlangen. In München hatte man ihm ein lukratives Bleibeangebot gemacht, das neben wichtigen Ausstattungsfragen für Fakultät und Lehrstuhl auch zusicherte, dass der noch nicht getilgte erhebliche Restbetrag in Höhe von 8350 RM des als Zusatzdarlehen gewährten Gehaltsvorschusses zunächst gestundet und dann 1935 ganz erlassen würde. Zwar zahlte Althaus noch lange Hypothekenzinsen, aber er verdiente so gut, dass er sich das Wohnen in den eigenen vier Wänden mit Garten in guter Wohnlage leisten konnte. Schon bei den Bleibeverhandlungen anlässlich des Leipziger Rufes im Jahr 1925 – es war damals immerhin schon sein dritter Ruf – hatte er, was seine persönlichen Bezüge betraf, ab 1. 4. 1926 5000 RM Hörgeldgarantie und ab 1. 4. 1928 das Endgrundgehalt eines Ordentlichen Professors zugesichert bekommen, dem dann ab dem 1. 4. 1930 der Zusatzzuschlag von 10 % des Endgrundgehaltes hinzugefügt wurde, was damals die Gehaltshöchststufe für Ordinarien bedeutete. Das Jahresgehalt von Paul Althaus betrug dann in den 30-er Jahren – ohne Hörgeldpauschale –13.600 RM. Der Ruf nach Halle 1929 brachte für ihn persönlich das Baudarlehen, der Ruf nach Tübingen 1930 tilgte dieses Darlehen und erhöhte die Hörgeldgarantie auf 6000 Reichsmark, das heißt, die Hörgeldgarantie sicherte noch einmal rund 45 % des Jahresgehaltes als Zusatzeinnahme. Insgesamt bleibt für die späten 20-er und die 30-er Jahre festzustellen, dass Althaus zwischen seinem 40. und 50. Lebensjahr bereits das Sondergrundgehalt der ohnehin guten Besoldung für Ordinarien erhielt. Bei seiner außerordentlich beachtlichen Hörgeldgarantie muss man allerdings berücksichtigen, dass 1929, als die Hörgeldgarantie noch 5000 RM betrug, der Staat lediglich 87, 20 RM zahlen musste, da Althaus im Jahr 1929 insgesamt 4912,80 RM als Hörgelder eingenommen hatte. Das große Echo, das er bei den Studenten fand, machte sich gleichsam für den Staat bezahlt. Erst nach dem 3 Vgl. oben S. 149 ff.
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massiven Einbruch der Studentenzahlen durch die Einführung der Wehrpflicht und dem speziellen Rückgang bei den Theologiestudenten wurde die Hörgeldgarantie ab 1936 für Althaus relevant. Um die wirkliche Höhe des Gesamteinkommens von Althaus abzuschätzen, muss man sie in Relation zu anderen Gehältern setzen. Der Direktor der Universitätsbibliothek verdiente als Leitender Regierungsdirektor zwischen 7000 und 9700 RM (Jahres-Endgehalt), also fast 4000 RM weniger als die 13.600 RM des Gehaltes von Althaus, der jedoch mit seiner erheblichen Hörgeldgarantie auf fast 20.000 RM Jahreseinkommen kam – also doppelt so viel verdiente wie der Bibliotheksdirektor. Regierungsräte bis Regierungsdirektoren kamen auf ein Jahresgehalt von 4800 bis 8400 RM, ein Regierungsinspektor auf 2800 bis 5000 RM – also etwa ein Viertel des Einkommens von Althaus.4 Zu dem erheblichen Gehaltszahlungen kamen noch die Nebeneinnahmen aus Vortragshonoraren und Veröffentlichungen, die natürlich schwankten, aber angesichts der intensiven Publikations- und Vortragsaktivitäten von Althaus mit beachtet werden müssen. Einen kleinen Hinweis finden wir in einer Notiz von Dorothea Althaus aus dem Januar 1926: „Weihnachten müssen wir bescheiden sein, weil ein großes Honorar … erst nach Neujahr kommt. Im Januar kam das Honorar, ich durfte eine große Wäscherolle anschaffen, auch ein elektrisches Bügeleisen und einen größeren Bohnerbesen. Paul hatte die große Freude, dass die Weimarer Lutherausgabe sein Besitz wurde. Auch eine Schreibmaschine wurde angeschafft, für mich ein Biedermeierschreibtisch in Nürnberg bestellt.“
Will man die finanziellen Dimensionen dieser beachtlichen Anschaffungen abschätzen, dann genügt der Blick auf die Lutherausgabe, die „Weimarana“. Bis 1925 waren von Luthers „Werken“ 59 Bände, von den „Tischreden“ 6 Bände und von der „Deutschen Bibel“ 5 Bände, also insgesamt 70 Bände erschienen. Pro Band lag der Preis bei rund 40 RM.5 Althaus investierte also rund 2800 RM für diese Buchanschaffung – eine beachtliche Summe angesichts der rund 1500 RM seines Monatsgehaltes als Professor. Die Verlagshonorare müssen demnach ungewöhnlich hoch gewesen sein. Wenn man die übrigen Ausgaben mitberücksichtigt, betrugen sie vermutlich 4000 bis 4 Die Zahlen stammen aus dem Haushaltsentwurf für das Jahr 1948 vor der Währungsreform, die Gehälter entsprachen damals noch völlig den Zahlen der dreißiger Jahre. 5 Die Angaben zu Preis und Erscheinungsdatum können dem 1930 erschienenen Registerband der Weimarer Lutherausgabe entnommen werden. Noch heute ist dieses inzwischen auf 120 Bände angewachsene große Werk im Besitz von Gerhard Althaus, der es von seinem Vater nach dessen Tod übernahm. [Sollte ich auch in diesem Zusammenhang als Biograph meine Beziehungen zu meinem „Objekt“ offenlegen, dann könnte ich nur darauf hinweisen, dass ich zwar nie ein so vielbändiges Werk für mich erworben habe, dass aber einer der Hauptherausgeber der „Weimarana“, der Berliner Kirchenhistoriker Gustav Kawerau, mein Urgroßvater mütterlicherseits war.]
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5000 RM. Auch für die Folgejahre können wir mit Verlagseinnahmen rechnen, zumal Althaus mit seinen wissenschaftlichen Büchern, aber auch mit den Predigtbänden häufig mehrere und hohe Auflagen erzielte und damit auch erhebliche Honorare verbuchen konnte. Der wirtschaftliche Hintergrund für das Leben des Professors Althaus und seiner Familie dürfte mit diesen knappen Ausführungen hinreichend beschrieben sein. In den Begriffen der Zeit formuliert ermöglichten die Einnahmen dem Professor und seiner Familie ein „standesgemäßes“ Leben. Eine solche den Anforderungen seines Berufes entsprechende Lebensführung bedeutete für den Professor und Universitätsprediger Althaus zum Beispiel, dass er, wenn er sonntags zu predigen hatte, morgens allein und konzentriert frühstückte, anschließend im schwarzen Mantel und mit dem schwarzen Hut, der nur an Predigtsonntagen getragen wurde, allein und rechtzeitig zur Kirche ging, um dann in Gottesdienstgestaltung und Predigt sich völlig hinzugeben. Noch in den frühen 60-er Jahren – so bestätigen damalige Studenten – habe Althaus sie als Prediger durch seine Authentizität überzeugt, während sie von dem Professor in seinen Vorlesungen theologisch schon nicht mehr so gefesselt wurden.6 Zum Standesgemäßen gehörte für Paul Althaus gewiss auch, dass er das wichtige Amt, das er wahrnahm, entsprechend respektiert sehen wollte. Wenn er bei Begegnungen auf der Straße oder beim Spazierengehen – wie ein jüngerer Begleiter und Gesprächspartner Ende der fünfziger Jahre beobachtete – erwartete, als erster gegrüßt zu werden, bevor er sehr aufmerksam und freundlich zurückgrüßte, dann geschah das aus dieser dem Amt geschuldeten Verpflichtung heraus, auch wenn einige dieses Verhalten als Eitelkeit interpretieren wollten. Die Amtsverpflichtetheit war es auch, die ihn zu energischem Einsatz veranlasste, wenn ihm in seinem seelsorgerlichen Amt als Universitätsprediger konkrete Nöte von Universitätsangehörigen oder Missstände vorgetragen wurden. Nicht minder engagiert kümmerte er sich um seine Studenten. Er lud sie immer wieder zu „offenen“ Abenden zu sich nach Hause ein. Ein Zeugnis für seinen guten Kontakt zu den Studenten und die lebendige Gestaltung solcher Abende ist oben schon geschildert worden.7 Aber nicht nur gesellige Abende, sondern oft auch Seminare für Fortgeschrittene oder Doktorandenkreise fanden im geräumigen Studierzimmer des Professors oder – im Sommer – in der luftigen Veranda statt. Beim Hausbau mussten demgemäß diese beruflichen Anforderungen und gesellschaftlichen Verpflichtungen mitberücksichtigt werden. 6 Diese und die folgenden Angaben gehen auf zahlreiche Gespräche zurück, die der Verfasser mit Zeitgenossen, ehemaligen Studenten, Kollegen und anderen Universitäts- und Kirchenangehörigen geführt hat. 7 Vgl. oben S. 119, Anm. 42 (Zeugnis Kill). Ein besonders eindrucksvolles Zeugnis für seine intensiven Kontakte zu seinen „Schülern“ ist die Vielzahl von Briefen seiner Studenten und ehemaligen Studenten, die sie ihm als Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg schickten. Vgl. unten S. 313 ff.
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Zu seiner Auffassung von den Pflichten eines Professors und Lehrers der Kirche gehörte für Althaus auch die aktive Beteiligung am Leben seiner Studenten. Häufig hielt er Vorträge oder Bibelstunden in der Verbindung Uttenruthia, die ihn zum Ehrenphilister gemacht hatte, weil seine Tübinger Verbindung Nicaria ebenso wie die Uttenruthia dem Schwarzburgbund christlicher nichtschlagender Verbindungen angehörte. Die gleiche Zuwendung erfuhr die DCSV, der er schon seit Studentenzeiten aktiv verbunden war, weil ihre ökumenische und missionarische Ausrichtung seinem eigenen Anliegen entsprach. Als dankbare Antwort brachten diese studentischen Gruppen Jahrzehnte lang ihm am 4. Februar in der Atzelsberger Steige ein Geburtstagsständchen. Das standesgemäße Leben als Professor an der Universität erforderte auch den lebendigen Kontakt nicht nur zu den Kollegen aus der eigenen Fakultät sondern über die Fakultätsgrenzen hinaus. Paul Althaus lebte die Universität als Körperschaft der sie tragenden und miteinander in ihrem Dienst an der Universität verbundenen Professoren8. Die damals noch üblichen Antrittsbesuche neuer Kollegen und von Habilitationskandidaten wurden von Althaus sehr ernst genommen und zu persönlichen Gesprächen genutzt. Immer wieder lesen wir auch von persönlichen Einladungen bei Professoren anderer Fakultäten oder dass diese in die Atzelsberger Steige zu Besuch kamen. Daneben gab es einen engeren Freundes- und Bekanntenkreis, in den die ganzen Familien wechselseitig eingeschlossen waren. Das galt für die Familie seines neutestamentlichen Kollegen Hermann Strathmann ebenso wie die des Universitätsmusikdirektors Georg Kempff, während die Kontakte zu seinen Kollegen Elert und Sasse auf die fachliche Ebene beschränkt blieben. Engste freundschaftliche Kontakte bestanden jedoch zu dem Philosophen Paul Hensel und seiner Familie. Die Hensel-Töchter Fanny und Cecile – Urenkelinnen von Fanny Mendelssohn-Bartholdy – gingen auf das gleiche humanistische Gymnasium wie Ingeborg und August-Wilhelm Althaus, mussten aber auf Druck der Schulleitung die Schule vorzeitig verlassen. Die Beziehungen wurden über den frühen Tod von Paul Hensel im November 1930 – zwei Jahre nach seiner Emeritierung – fortgeführt, was in der Zeit der Naziherrschaft wegen der „jüdischen Versippung“ Mut erforderte und als ein Stück Nonkonformismus gewertet werden muss. Besonders eng waren auch die 8 Ein besonderes Zeugnis für diese Einstellung von Paul Althaus ist sein Dankbrief vom 13. 2. 1958 an den Rektor für dessen Gratulation zu seinem 70. Geburtstag: „Es ist für einen Mann etwas Großes, mit der eigenen Arbeit nicht für sich allein zu stehen, sondern sich inmitten einer ehrenvollen Korporation wie unserer Universität zu wissen und von dem Vertrauen und Verständnis der verehrten Kollegen getragen zu sein. Das aufs Neue in der festlichen Gestalt jenes Abends und dieser Tage erfahren zu haben, ist für mich das Schönste an meinem Geburtstage gewesen. Ich bin glücklich, unserer Friderico-Alexandrina anzugehören, und möchte auch in den kommenden Jahren, solange mir die Kraft erhalten bleibt, nicht nur als Forscher, sondern auch als Lehrer weiterhin im Kreise der Kollegen an unserer gemeinsamen Aufgabe mitarbeiten.“ Kopie in der Personalakte Paul Althaus im Archiv der FAU.
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Familienkontakte zur Familie des Professors für Chemie und Rektors der Universität 1931/1932 Rudolf Pummerer und zu dem Neuhistoriker Ludwig Zimmermann, der als einziger in diesem Kreis ein engagiertes NSDAP-Mitglied war, während Pummerer und Strathmann wie Althaus in Distanz zur NSDAP standen. Beim Kontakt der Kinder untereinander, der Ehefrauen und beim gemeinsamen Musikmachen spielten aber diese politischen Differenzen offensichtlich keine Rolle. Mit Frau Pummerer machte sich Dorothea Althaus vielmehr intensive Gedanken, wie man den als Haushaltshilfe zugeteilte Zwangsarbeiterinnen ein menschliches Leben in der Familie ermöglichen könnte. In allen Häusern wurde viel Musik gemacht. Ein besonderes Zentrum war am Erlanger Burgberg die Wohnung von Frau Dr. L¦onie MendelssohnBartholdy, bei der alle Althaus-Kinder ihren Klavierunterricht bekamen. Da Frau Dr. Mendelssohn-Bartholdy sich weigerte, – obwohl selbst „arischen Blutes“ – ihren „jüdischen“ Namen abzulegen, durfte sie während der NaziHerrschaft keine öffentlichen Konzerte allein oder mit ihren Schülern veranstalten. Umso intensiver war das Musikleben in ihrem Haus, an dem die Familie Althaus zusammen mit ihrem Freundeskreis regelmäßig teilnahm. Auch das muss man als einen Akt des Nonkonformismus werten. Kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner und der Eroberung von Nürnberg gab es als besonderes Ereignis bei dieser bemerkenswerten Musikpädagogin noch die von ihr mit ihren Schülern einstudierte Aufführung der Zauberflöte, bei der der knapp zehnjährige Gerhard Althaus den Papageno sang. Gegen die sich verbreitende Untergangsstimmung war diese Aufführung offensichtlich als ein bewusstes Bekenntnis zur Unvergänglichkeit der Kultur und des kulturellen Erbes gedacht. Sie dokumentiert zugleich eine gleichsam intakte Insel „bürgerlicher Kultur“ im reißenden Strom des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Ob und gegebenenfalls welche Rolle die Politik im Leben der Familie Althaus spielte, ist schwer auszumachen. Dorothea Althaus als geborene Auslandsdeutsche hatte – wie eine große Zahl ihrer Weggefährten – zumindest in den Anfangsjahren eine gewisse Begeisterung für Hitler. Voller Stolz berichtet sie von einer Partei-Veranstaltung in Nürnberg, an der sie mit ihrem damals 12-jährigen Sohn teilnahm. Mehr durch Zufall kam sie in relative Nähe zum „Führer“. Als jedoch im Sommer 1933 ihr Mann wegen seines Eugenik-Aufsatzes Schreib- und Redeverbot erhielt, kommentierte sie in ihrem internen, damals verfassten Familienbericht, so gerne sie im neuen Staat mitarbeite, es sei ihr klar, dass das „niemals auf Kosten der Wahrhaftigkeit“ gehen dürfe. Die Töchter waren pflichtgemäß im Bund Deutscher Mädel – BDM – und übernahmen dort auch die Leitung von Gruppen. Doch geschah das bezeichnenderweise eher im Sinn christlicher Jugendarbeit als ns-ideologischer Erziehung. Die Gruppe tagte oft in einem Kellerzimmer des Elternhauses. Dort bastelte man gemeinsam und sang Weihnachtslieder. Es charakterisiert die 267
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Systemdistanz, dass z. B. die Tochter Dorothea nach dem Kriegstod ihres Bruders und wohl auch in einer wachsenden Distanz alle Funktionen im BDM aufgab, um sich auf das Abitur vorzubereiten, wie sie zur offiziellen Begründung angab. Da Musik im Leben von Paul Althaus seit seiner Schülerzeit immer einen hohen Stellenwert hatte, brauchte sie auch im neuen Haus viel Platz. Auf dem schon früh, noch vor der eigentlichen Inflation, gekauften Klavier spielte der Hausherr immer wieder. Er liebte Mozart-Sonaten oder Bach-Choräle und Choralvorspiele. Gerne musizierte er mit seinen Kindern vierhändig – wie früher mit seinem Vater – oder begleitete seine Tochter Dorothea zu ihrem Gesang. Vor allem aber wurde das Klavier intensiv von den Kindern genutzt. Da alle Kinder Klavierunterricht bekamen, war das Instrument täglich viel im Einsatz. Es stand im Esszimmer, wo es außerhalb der Mahlzeiten immer bespielt werden konnte. Das nach dem Tod des Vaters 1925 übernommene väterliche Harmonium hatte seinen Platz im Studierzimmer des Professors. Auf ihm wurden Choräle begleitet und geistliche Musik gemacht. Die Familie sang dort bei Hausandachten die geistlichen Lieder im Stehen. Das Ehepaar Althaus hatte 1930 bei Hausbezug vier Kinder, zu denen als Nachzügler 1935 noch der Sohn Gerhard hinzukam – gut zehn Jahr jünger als das vierte Kind, die Tochter Dorothea. Auch die Kinder brauchten Platz, zumal die häufig kränkliche Mutter zur Unterstützung im Haushalt und bei der Kindererziehung zwei Hausangestellte beschäftigte, die auch im Haus wohnten. Das Haus an der Atzelsberger Steige musste darum sehr geräumig sein. Frau Althaus hatte allerdings schon beim Hausbau schwere Bedenken und ein schlechtes Gewissen, ob es recht sei, dass ein „Theologe …, der den Armen und erst recht den Reichen predigt“, sich ein so schönes Haus bauen dürfe. Ihr Mann beruhigte sie damals, „es wäre nicht lutherisch, so zu denken. Ich sollte die Gaben nehmen als Gottes Gabe, voll Dank, aber auch mit verstärktem Verantwortungsgefühl.“ Dorothea Althaus praktizierte diese Verantwortung durch mannigfaches soziales Engagement in konkreten Einzelfällen. Als dann während der Wirtschaftskrise 1932 die Brüningschen Gehaltskürzungen griffen und die allgemeine Not und die Arbeitslosigkeit immer mehr den Alltag beherrschte, fragte sich Frau Althaus besorgt, wie sie sparen könne, weil die Ausgaben im Verhältnis zu den Einnahmen und den Schulden zu groß seien. Dürfe sie sich noch weiterhin zwei Bedienstete leisten? Müsse sie nicht mit nur einer Hilfe auskommen? Doch ihre von der generellen Notlage bestimmten Sorgen schob ihr Mann beiseite. Wieder konnte er sie beruhigen und auch den Familienurlaub durchsetzen. Trotz der erheblichen, ihr Sorge machenden Kosten lag ihrem Mann – wie jedes Jahr – besonders viel an den gemeinsamen Ferienerlebnissen. Hier im Urlaub konnte er mit seiner ganzen Familie intensiv zusammen leben, das war ihm nie zu teuer. Die Geldangelegenheiten waren für Althaus traditionsgemäß prinzipiell Sache des Hausherrn. Die Ehefrau musste immer wieder betteln: „Gib mir 50 Mark für die Haushaltskasse.“ Eine frei verfügbare Haushaltskasse oder gar Konto268
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vollmacht hatte sie nicht, das wurde gar nicht angedacht. Die Rollendifferenz zwischen Mann und Frau galt noch ungefragt. Angesichts der guten Einkommensverhältnisse, die auch durch die Gehaltskürzungen der Brüning-Zeit nicht wirklich bedroht waren, lebte die Familie Althaus nicht über ihre Verhältnisse, sondern „standesgemäß“. Die jährlichen Familienferien waren für Paul Althaus zwar nicht frei von beruflichen Arbeiten. Er erledigte auch im Urlaub seine umfangreiche Korrespondenz, weil es seinem Stil entsprach, empfangene Post möglichst zeitnah zu beantworten. Die meiste Zeit verbrachte er jedoch auf schönen Bergtouren mit seinen Kindern, wobei die Mutter aufgrund ihres Gesundheitszustandes nicht mitwanderte. Beim Bergaufsteigen brachte der zwölfjährige älteste Sohn seinen Vater ganz schön zum Schwitzen. Aber der Genuss der eindrucksvollen Bergwelt belohnte die Anstrengungen. Seine Tochter Dorothea bestätigte später dankbar, der Vater habe bei diesen Wanderungen sie die Schönheiten Natur zu sehen und zu erleben gelehrt. Da Althaus ein begeisterter Schwimmer war, hielten ihn und seine Kinder auch die kühlen Temperaturen der Bergseen nicht vom erfrischenden Bade und kräftigendem Schwimmen ab. Natürlich wurden auch viele Gesellschaftsspiele – etwa bei schlechtem Wetter – gespielt, falls nicht, wie auch festgehalten wurde, Althaus Post erledigte, während seine Frau Strümpfe stopfte. Geburtstage und die großen Festtage des Jahres boten neben dem Urlaub Althaus immer wieder die Möglichkeit, sich der Familie zu widmen und sie zu genießen. Der Heilige Abend verlief nach festem Ritus und an Ostern versteckte der Vater die Ostereier nach jeweils variiertem aber festgehaltenem Plan, so dass er den Kindern gegen Ende des Suchens noch gute Ratschläge geben konnte, an bestimmten Stellen noch einmal genauer zu suchen. Ansonsten war insbesondere im Semester, die Begegnung des Vaters mit den Kindern eher dosiert. Bewundernd schreibt seine Frau immer wieder von dem hohen Arbeitseinsatz ihres Mannes. Die zusätzliche Polstertür vor seinem Arbeitszimmer hatte darum eine wichtige Funktion zum Schutz vor Kinderlärm, aber sie trennte die Arbeit des Vaters nicht hermetisch von dem Leben der Familie. Symbolisch wurde das erlebbar, wenn ein neues Buch von Althaus erschienen war. Er ließ dann voller Stolz seine Familie an diesem Erfolg des Professors oder Predigers teilnehmen: das Buch wurde im Esszimmer ausgestellt. Paul Althaus hatte einen exakt auf die Minute geplanten Tagesablauf. Zur Besprechung wurden die Doktoranden oder Mitarbeiter z. B. auf exakt 16:40 Uhr bestellt, wobei Pünktlichkeit als selbstverständlich galt. Sie trafen dann immer einen ihnen und ihren Problemen voll zugewandten Professor, der konzentriert das Gespräch in überschaubarer Zeit zu klaren Ergebnissen führte. Trotzdem gelang es seiner jüngsten Tochter Dorothea, wenn sie ganz konkrete Fragen etwa zu Schulaufgaben hatte, den Vater im Arbeitszimmer erfolgreich um Hilfe anzugehen. Da sie sich daran sehr präzise erinnerte, ist wohl davon auszugehen, dass das eher Sonderfälle waren. Allerdings wurde 269
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am Donnerstagabend nach dem Seminar in aller Regel gemeinsam in der Familie gespielt – oft Romm¦. Jetzt nahm sich der Vater Zeit. Dasselbe galt auch sonntags für den Nachmittag und Abend, insbesondere wenn er am Vormittag gepredigt hatte. Trotz der schützenden Polstertür nahm der Vater intensiv Anteil am Leben der Kinder. Die schwere Krankheit der damals dreijährigen Tochter Maria hatte ihn zur Absage einer Reise und von Vortragsverpflichtungen veranlasst. Der Tag, an dem die Krise sich endlich zum Besseren wandte, wurde noch Jahre später immer wieder als Marias zweiter Geburtstag voller Glück und Dankbarkeit in der Erinnerung gehalten. Höchst erfreut registrierte Althaus zwei Wochen nach der Gesundung von Maria die Geburt der Tochter Dorothea. Auch hier nahm er intensiv Anteil und genoss die lebendig fröhliche Art des Säuglings. Wieder ließ der glückliche Vater dieses Kind am liebsten nicht von seiner Seite und verwöhnte es. Wie früher die älteren Geschwister durfte auch die kleine Dorothea im Körbchen in seinem Studierzimmer stehen. Trotz aller beglückten Zuwendung berichtet die Mutter aber auch von dem Spruch des Vaters an die kleine Tochter : „Du wärst ein vollkommenes Geschöpf, wenn du ein Junge wärst.“ Umso beglückter war der Vater gut zehn Jahre später über die Geburt des Sohnes Gerhard, dessen Wachsen und Gedeihen er aufmerksam begleitete. In einem über 200 Seiten starken, ledergebundenen Notizbuch, in dem Althaus seine Ferientagebuchnotizen von 1933 bis 1936 festhielt, finden wir zeitgerecht eingeschoben drei umfangreiche Abschnitte – insgesamt 55 Seiten – über die Entwicklung und das Erleben des kleinen Sohnes. (NLA K 7a) Das ganze Glück des Vaters, seine intensive Zuwendung und das gute Echo, das er von dem Sohn empfing, werden hier sehr plastisch greifbar. Das geschah in voller Harmonie mit den übrigen Kindern. Die älteren Schwestern ließen sich in ihrer aktiven Zuwendung zu dem so viel jüngeren Bruder nicht ausschalten oder zurückdrängen. Die ganze Familie war beglückt. Wie groß das Glück des Vaters und seine Dankbarkeit an die Mutter war, kann man an einer heute eher banalen Notiz im Ferientagebuch vom 8. 8. 1935 erkennen. Er beschreibt dort, wie ihm bei einer Rückkehr von einer längeren Wanderung seine Frau mit dem Säugling entgegenkam und er dann freudig reagierte: „Ich schob den Wagen.“ (NLA K 7a 2.2) Allein dass er diese „Aktion“ im Tagebuch festhielt, macht deutlich, wie ungewöhnlich und unkonventionell es für Väter in der damaligen Zeit war, den Kinderwagen selbst zu schieben. Wahrscheinlich blieb dies auch bei Althaus ein eher einmaliger Vorgang. Aber er dokumentiert trotzdem, oder gerade deswegen, seine intensive Zuwendung zu dem jüngsten Kind der Familie und nicht weniger die große Fürsorge für die geliebte Frau nach der komplizierten Geburt mit ihren langwierigen gesundheitlichen Folgen für die Mutter. Die besondere Stellung der Söhne äußerte sich auch darin, dass diese ganz selbstverständlich das humanistische Gymnasium besuchten. Die hochbegabte älteste Tochter Ingeborg bekam die gleiche Chance, was in der dama270
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ligen Zeit noch recht ungewöhnlich war. Ihre Schullaufbahn belegt, wie die in der Familie Althaus sonst so festgelegten Rollenzuschreibungen eben nicht mehr ihre unbefragte Gültigkeit besaßen. Ingeborg Althaus machte 1938 auf dem humanistischen Gymnasium ihr Abitur, musste dann ihrer Arbeitsdienstpflicht genügen und studierte danach ein Semester in München, ein „Genussstudium“, da sie schon 1940 heiratete. Die eher praktisch, vor allem musisch und künstlerisch begabte Tochter Maria schloss ihre Schullaufbahn auf der Erlanger Mädchen-Oberschule faktisch mit der Mittleren Reife ab. Sie besuchte dann eine einjährige vielseitige Frauenschule im Schwarzwald, die von der Herrnhuter Brüder-Gemeine getragen wurde, und absolvierte anschließend eine Ausbildung als Kindergärtnerin. Die jüngste Tochter Dorothea wechselte auf eigenen Wunsch von der Mädchen-Oberschule zur Ohm-Oberrealschule, um dort – es war schon Krieg – ihr mathematisch-naturwissenschaftliches Abitur zu machen. Während in den Briefen und Tagebüchern von Paul Althaus über die Schulkarriere der Töchter kaum etwas zu lesen ist, finden wir immer wieder Hinweise, dass ihm an den schulischen Erfolgen der Söhne sehr viel gelegen war. Nachdem der Sohn Gerhard im Gymnasium Schwierigkeiten hatte, lesen wir im Ferientagebuch, dass der Vater mit dem Sohn im Urlaub Latein übte. Intensiver waren seine Sorgen um die schulische Karriere des eher etwas stillen und auch künstlerisch veranlagten älteren Sohnes August Wilhelm. Seine Frau hatte diese Sorgen wohl gespürt, denn nach dem ersten Schuljahr von August Wilhelm berichtete sie erleichtert an ihre Freundin: „August Wilhelm hat sich wider Erwarten in der Schule gut eingelebt, ist kräftiger und jungenhaft geworden. Du kannst Dir gar nicht denken, was das für eine große Freude für mich ist. – Ich habe immer im Stillen gedacht, ein Junge nur, und der noch nicht einmal recht geraten. – Nun kommt es raus, daß der kleine Kerl einer von den stillen ist, die ihre Schätze im Verborgenen haben.“
Als August Wilhelm dann aufs Gymnasium kam, schienen sich die Bedenken des Vaters in den Anfangsjahren zu bestätigen. Jetzt musste sich die Mutter intensiv für ihren Sohn einsetzen und dafür kämpfen, dass der Vater seine überhöhten Maßstäbe reduzierte. Sie hatte damit Erfolg. Auch setzte sie durch, dass der Sohn weiterhin qualifizierten Klavierunterricht – wie auch die Töchter – erhielt, was der Vater schon einzustellen erwog, um die Schullaufbahn zu sichern. Offensichtlich fing sich der Sohn, denn nach den ersten Anfangsjahren durchlief er komplikationslos die Gymnasialzeit, wenn auch nicht so glorios wie seine ältere Schwester Ingeborg. So durchlässig die Polstertür vor des Vaters Arbeitszimmer für die Kinder immer wieder war, so hermetisch war ihre symbolische Trennung zwischen dem Arbeitsbereich des Professors und Predigers und den übrigen Arbeitsfeldern im Hause. Zwar schnitt Althaus im Garten die Rosen und pflegte gerne die Azaleen, aber ansonsten hielt er sich von Hausarbeiten fern. Das hatte er nie gelernt. Dazu war er zu unpraktisch. Aber es widersprach zugleich seiner 271
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Vorstellung von den Ansprüchen seines Berufes an seine Lebensweise und generell dem Standesverständnis seiner Zeit. Hinzu kam das Bild der Geschlechterdifferenzierung, das damals zumindest in der Mittel- und Oberschicht noch faktisch unbefragt galt. Jungen hatten allenfalls im Garten zu arbeiten, was man auch schon in den Göttinger Kinder- und Jugendzeiten von Althaus registrieren konnte, Hilfe in der Küche war eher Sache der Töchter.9 Schließlich sorgte der Vater aufgrund seiner gesicherten guten Einkommensverhältnisse dafür, dass seine für die Hausarbeiten zuständige Frau sich auf zwei Haushaltshilfen stützen konnte. Gern kaufte er ihr auch moderne Hausgeräte. Gleichwohl beklagte sich Frau Althaus in ihrem Tagebuch, als es am Ende des Urlaubs ans Packen ging und alle Arbeit an ihr hängen blieb: „Wie seufze ich darunter, daß mein Paul so unpraktisch und weltvergessen ist.“ Auch notierte sie bei einer anderen Gelegenheit, dass ihr Mann im Frühjahr zur üblichen Zeit des Hausputzes gerne verreise, um allen möglichen Ansprüchen zu entgehen. Die „Enthaltsamkeit“ des Vaters von Hausarbeiten realisierte auch die Tochter Dorothea, als sie im September 1939 einige Tage in der Familie ihrer Tante Elisabeth, der Schwester von Paul Althaus, zu Besuch war. Erstaunt stellte sie fest, mit welcher Selbstverständlichkeit der Onkel nach dem Essen ein Tablett in die Küche trug und kommentierte: „Ich versuchte mir Vater vorzustellen …“ Die Ehefrau Dorothea Althaus akzeptierte die gelebte Arbeitsteilung. Sie registrierte das große Engagement ihres Mannes in seinem Beruf und seine daraus folgenden Belastungen. Als liebevolle Ehefrau zog sie daraus die Konsequenz, alle seine Wünsche zu erfüllen. In ihrem Bericht über das Leben der Familie Althaus zitiert sie aus einem Brief an ihre Freundin 1931/32: „Paul verausgabt sich in seinem geistigen Beruf derart, daß er eine Frau braucht, die einfach für ihn da ist. Will er spazieren gehen, so gehe ich spazieren. Will er mir ein Manuskript vorlesen, gut, so lege ich den Kochlöffel aus der Hand. Meistens kann ich ja nur anerkennen, und manchmal muß ich einfach mit Grazie verbergen, daß ich ihn nicht verstanden habe. Aber es kommt doch vor, daß ich einen Aufsatz oder einen Brief kritisiere und daß Paul die Sache dann noch einmal schreibt. Dann bin ich ganz stolz. Wenn Paul Gäste haben will, dann haben wir welche, und wenn er abends Romm¦ spielen will, dann spielen wir eben. Seufze ich dann wohl mal, daß ich nicht fertig werde, so sagt er leichthin: ,Ach was, du hast keine andere Pflicht, als für mich da zu sein‘. Das sagt er, und wenn im Haushalt dann doch etwas mal nicht klappt, ist
9 Anmerkung des Verfassers: Mein Vater – drei Jahre jünger als Paul Althaus – arbeitete als Pastor in der Anstalt Bethel in seiner Dienstwohnung, einem sehr geräumigen Haus, auch hinter einer Polstertür in seinem „Studierzimmer“ – wie wir sagten –, zumal das Haus ansonsten vom Leben der sieben Kinder der Familie erfüllt war. In der Küche war er meiner Erinnerung nach nie zu sehen, dort halfen meine Schwestern mit, während wir Jungens vor allem im Garten unsere Pflichten hatten oder auch für das Schuhputzen zuständig waren.
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er nicht zufrieden. Ach, es ist manchmal zum Lachen! (An den Rand des Briefes schrieb Paul Althaus mit einem Rotstift: ,Stimmt nicht ganz. P.‘ Es stimmt aber doch.“
Das „Füreinander-Da-Zu-Sein“ praktizierte aber auch Paul Althaus als liebevoller Ehemann in vielfältiger Weise. Als 1924 unerwartet Nebeneinnahmen kamen, finanzierte er seiner Frau eine vierwöchige Kur. Nach der schwierigen Geburt von Dorothea wachte er „wie ein Höllenhund, daß ich mich schone, und der Liebe pflegt mich mit guten Sachen, die er selber für mich einkauft.“ Dass die Ehefrau hier hervorhebt, dass ihr Ehemann selber die Mitbringsel – vermutlich Pralinen oder frisches Obst oder Blumen – eingekauft habe, unterstreicht dessen liebevolle Zuwendung, da Einkaufen normalerweise nicht Sache der Hausherren war. Als Dorothea Althaus nach der Geburt des Sohnes Gerhard 1935 wochenlang in der Klinik bleiben musste, besuchte ihr Mann sie – trotz aller beruflichen Belastungen – anfangs dreimal täglich, später zweimal. Da seine Frau oft krank war, sorgte Paul Althaus sich immer wieder mit liebender Intensität um sie. Aber auch im Normalleben vergaß Althaus seine Frau nicht. Zu ihrem Geburtstag sagten die Kinder Gedichte auf, die der Vater für sie gedichtet hatte. Regelmäßig schenkte er ihr Blumen. Da sie am 3. Juli 1917 sich persönlich das Ja-Wort gegeben hatten, bekam Dorothea Althaus drei Jahre später an diesem Tag „einen Strauß von drei bunt-weißen Wicken und sieben kostbar-schönen Rosen, das soll heißen, der 3.7., dazu drei Bände Wilhelm Raabe, für jedes Jahr einen.“ Blumen und Aufmerksamkeiten gab es zu einer ganzen Reihe von Festtagen. Da ist zu nennen der 22.6., als sie sich 1917 zum ersten Mal begegneten, der 3.7., der Tag des wechselseitigen Ja-Wortes 1917, der Hochzeitstag am 10. Februar 1918 und natürlich der Geburtstag der geliebten Ehefrau am 26. November, der zugleich auch der Geburtstag von Paul Althaus d.Ä., seinem Vater, gewesen war und dadurch ein ganz spezielles Gewicht gewonnen hatte. Gern suchte er kostbare Geschenke – Schmuck – für seine Frau aus. Voller Liebe freute er sich an ihrer Schönheit. Er bewunderte sie in ihrem neuen Kleid und fragte seine Töchter – um Zustimmung bittend –: „Hat sie nicht entzückende Augen?“ Der beglückte Blick auf die Schönheit seiner Frau ist zugleich ein Dokument für Paul Althaus’ Aufgeschlossenheit für die Schönheiten der Natur. Beim Wandern in den Alpen nahm er diese immer wieder auf. Dieses „ästhetische“ Wohlgefallen galt auch der Schönheit junger Frauen. Als Zuschauer erfreute er sich bei seinem Aufenthalt in Schloss Elmau an den abendlichen Tänzen: „Diese hübschen schlanken Mädchen, diese Leidenschaft und Körperfreudigkeit der Tänze. Das habe ich noch nie gesehen.“10 Da Althaus selbst ein schöner, gut aussehender, stattlicher Mann war, gab es unter den Studentinnen etliche, die ihn anhimmelten und sich deshalb als eifrige Vorlesungshörerinnen und Seminarteilnehmerinnen hervortaten, 10 Ferientagebuch Elmau März 1931 NLA K 7a.
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seine Sprechstunden mit Studienfragen besuchten oder ihn als Seelsorger beanspruchten. Frau Althaus sah diese Kontakte nicht gern, litt unter ihnen, während ihr Mann sie – als berufliche Gespräche sublimierend – wohl durchaus genoss und von den Empfindungen seiner Frau nichts ahnte. Trotz solcher „Belastungen“ lebte das Ehepaar Althaus eine glückliche Ehe. Gewiss führte sie Paul Althaus voller Ansprüche an seine Frau, aber zugleich voller Anerkennung und Dankbarkeit, voller Liebe und in ungebrochener Treue. Das Glück und gemeinsame Leben der großen Familie erfuhr 1940 faktisch eine dramatische Wende. Anfang Mai, in den ersten Tagen des Frankreichfeldzuges, fiel der Sohn August Wilhelm – einen Monat vor seinem 20. Geburtstag. Sein Todestag wurde in die Reihe der Gedenktage des Ehepaars Althaus als schmerzliches Datum aufgenommen. Die älteste Tochter Ingeborg heiratete im September 1940 den Juristen Dr. Heinrich Lades, der nach dem Dienst in mehreren Ministerien von 1959 – 1972 Oberbürgermeister der Stadt Erlangen war. Zunächst aber lebte die junge Familie in Augsburg. Die Tochter Maria wurde nach dem Kriegstod des Bruders psychisch krank. Sie war seit 1942 bis 1954 monatelang in verschiedenen psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken in Behandlung. Zwischendurch versuchten die Eltern, sie bei sich zu Hause leben zu lassen, was aber langfristig unmöglich wurde, zumal sich – wohl infolge der Behandlung mit Elektroschocks – epileptische Anfälle einstellten. Als dann Anfang der fünfziger Jahre die Ärzte Unheilbarkeit diagnostizierten, brachte Althaus – seinen alten Kontakten zu den von Bodelschwinghschen Anstalten eine ganz neue Dimension hinzufügend – seine Tochter in Bethel unter, zumal der damalige Anstaltsleiter, Friedrich von Bodelschwingh, der Enkel des Anstaltsgründers, früher einmal bei ihm in Rostock studiert hatte.11 Die Tochter Dorothea musste nach dem Abitur 1942 in den Arbeitsdienst und machte dann eine Ausbildung als Kinder-Krankenschwester, die erst nach Kriegsende abgeschlossen werden konnte. Sie war anschließend in diesem Beruf tätig und heiratete 1949 den Juristen Dr. Konrad Petersen, der später in Bonn Karriere machte und als Ministerialrat im Wissenschaftsministerium tätig war. Nach der Hochzeit wohnte das junge Paar zunächst noch im Obergeschoss des Althaus’schen Hauses. Dort kamen auch ihre ersten Kinder zur Welt, an deren Aufwachsen der beglückte Großvater intensiv und voller Freude Anteil nahm. Der Nachzügler Gerhard lebte noch lange im Elternhaus. Aber auch er verbrachte einen Teil seiner Gymnasialzeit in einem auswärtigen Internat. Er studierte ab 1956 – also nach der Emeritierung des Vaters – nach 11 Die ärztliche Diagnose „Unheilbarkeit“ hatte im Übrigen die wirtschaftliche Folge, dass Krankenkassen und Beihilfen nach damaliger Rechtslage ihre Zahlungen einstellten, was für das Ehepaar Althaus zu erheblichen finanziellen Belastungen führte. Paul Althaus verschlimmerte diese Situation noch dadurch, dass er impulsiv die Krankenversicherung für seine Tochter kündigte, was dann später zur Folge hatte, dass er z. B. teure Zahnbehandlungen der Tochter allein zahlen mußte, obwohl die Krankenkasse diese – weil ohne Zusammenhang mit der unheilbaren Erkrankung – gezahlt hätte, wenn ihr nicht gekündigt worden wäre.
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eigener Wahl – aber zur Freude des Vaters – Theologie nicht nur in Erlangen, sondern in der damals besonders renommierten Fakultät in Heidelberg und anschließend an der Kirchlichen Hochschule im geteilten, aber noch nicht durch die Mauer getrennten Berlin mit seiner besonderen Atmosphäre. Mit diesen Ausblicken ist zeitlich weit vorgegriffen. Aber wenn man das Leben von Paul Althaus angemessen schildern und verstehen will, dann ist es nötig, einen differenzierten und detaillierten Blick in das Haus an der Atzelsberger Steige, in das Leben der Familie und seine Rolle in ihr zu werfen. Dafür waren schwerpunktmäßig die 30-er Jahre die geeignetste Zeit. Wenn Dorothea Althaus ihre Familiengeschichte bis 1934 unter das Thema „Licht und Schatten im Leben unserer Kinder“ stellte, dann könnte man wohl resümieren, dass die 30-er Jahre familiär eher eine Zeit des Lichtes und der Freude waren, während die Elemente des Schattens, des Leides, ab 1940 mehr Gewicht erhielten
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8. Paul Althaus im etablierten NS-Staat und im Zweiten Weltkrieg (1935 – 1945). Schwierige Lernprozesse des christlichen Patrioten im Kampf um Kirche und Volk. Die heutige historische Interpretation der NS-Zeit ist beherrscht von der Kontroverse zwischen den „Intentionalisten“ und den „Strukturalisten“. Die Intentionalisten sehen ab der Machtergreifung am 30. 1. 1933 Hitler und seine Partei zielvoll am Werke, ihre schon vorher entwickelten Pläne zur Errichtung eines totalitären Staates in Deutschland mit dem Ziel, die Herrschaft der germanischen Rasse in Europa und der Welt mit kriegerischer Gewalt durchzusetzen und die Endlösung der Judenfrage, den Massenmord an den Juden, systematisch zu realisieren. Die Strukturalisten dagegen lenken den Blick auf die Strukturen und Funktionsbedingungen des NS-Herrschaftssystems und seine „kumulative Radikalisierung“. Ursache des Genozids ist eine Eigendynamik, ein „sich selbstläufig fortzeugender Prozess, der die beteiligten Apparate und Institutionen immer monströsere Verbrechen begehen ließ.“1 Zwangsläufig kommt in dieser Perspektive der Rolle der konservativen Eliten, ihrer Unterstützung oder versuchten Indienstnahme Hitlers, seiner intendierten aber gescheiterten Zähmung besondere Bedeutung zu. Die wissenschaftliche Kontroverse zwischen Intentionalisten und Strukturalisten ist hier nicht zu entscheiden. Sie sollte aber gerade bei der biographischen Darstellung eines Angehörigen der „konservativen Eliten“ im Bewusstsein behalten werden. Will man das Verhalten von Paul Althaus unter der Herrschaft des Nationalsozialismus richtig erfassen, dann ist es hilfreich, seine eigene Wahrnehmung des politischen Systems zwischen 1935 und 1945 unter der Perspektive der Kontroverse zwischen Intentionalisten und Strukturalisten zu analysieren. Dabei gehe ich – das Ergebnis gleichsam vorwegnehmend – schon jetzt von der These aus, dass die strukturalistische Perspektive biographisch der fruchtbarere Ansatz ist. Sie entsprach der Selbstwahrnehmung von Althaus am ehesten, wobei das jeweilige konkrete Umfeld verschleiernd oder erhellend wirken konnte. Die verbrecherische Struktur des NS-Systems wurde – konnte?! – erst allmählich erkannt werden, weil sie lange Zeit nicht eindeutig – gleichsam einen fixierten Plan vollziehend – verlief. Für die Zeitgenossen waren – besonders in den Anfangsjahren – aber zum Teil bis 1937/1938 – die Begegnungen mit dem System häufig widersprüchlich und 1 So Volker Ulrich in einer Würdigung von Hans Mommsen, der mit Martin Broszat als Hauptvertreter der Strukturalisten zu gelten hat. In: DIE ZEIT Nr. 45 vom 4. 11. 2010, S. 21
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vieldeutig. Empört kritisierte Althaus die haarsträubenden Anpöbeleien der mittelfränkischen NSDAP-Führung, zugleich aber registrierte er den eher kirchenfreundlichen Kurs des bayerischen Staatskommissars und der bayerischen Staatsregierung, die die bayerische Landeskirche gegen die Angriffe des Reichsbischofs sogar verteidigte. Entsetzt hörte er die antichristliche Lieder grölenden HJ-Mannschaften, während seine Töchter als BDM-Führerinnen mit ihrer Gruppe Weihnachtslieder im Untergeschoss des elterlichen Professorenhauses an der Atzelsberger Steige sangen. Als Theologe kämpfte er gegen die rassistische Ideologie von Rosenberg, aber er registrierte zugleich aufmerksam die christlich-kirchliche Grundhaltung hoher Beamter im Reichsinnenministerium oder das ausdrückliche Bekenntnis zum positiven Christentum des Reichskirchenministers Kerrl, der Hitlers nie widerrufenes Bekenntnis zum positiven Christentum gleichsam zu verlebendigen schien. Bis 1940 konnte Hitlers imperialistische Kriegspolitik mit ihrem Ziel der Eroberung von Lebensraum im Osten als Revision der Ungerechtigkeiten des Versailler Vertrages missverstanden werden. Die verbrecherische Struktur der Herrschaft des Nationalsozialismus im Dritten Reich und Hitlers aggressive Kriegspolitik nahm Althaus zunächst nur partiell wahr, in ihrer Gesamtheit erst relativ spät, zumal sie sich erst im Laufe der Zeit in ihrer vollen Brutalität allgemein erkennen ließ und während des Krieges vereindeutigte. Althaus erlebte diesen komplizierten Erkenntnisprozess mit all seinen Widersprüchen in seinem Engagement in der Bekennenden Kirche mit ihren innerkirchlichen Frontbildungen, in seiner zunächst sehr selektiven und widersprüchlichen, von Wunschvorstellungen geprägten Wahrnehmung der allgemeinen Politik Adolf Hitlers und schließlich in dem Erleiden des Zweiten Weltkrieges, der den patriotischen Professor, Prediger und Seelsorger in besonderer Weise herausforderte.
8.1 Paul Althaus und sein „Bekenntnis zur Zeit“ – Der Streit um die Positionierung der lutherischen Kirche im Kirchenkampf 1935 – 1939 Mit der Teilnahme an der Dahlemer Synode und dem dort beschlossenen Bruch mit der DC-beherrschten Reichskirche unter Reichsbischof Müller hatte Paul Althaus sich eindeutig in die Reihen der Bekennenden Kirche eingeordnet. Bei aller Einmütigkeit im Kampf für die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der Kirche und gegen ihre weltanschauliche Indienstnahme für den nationalsozialistischen Staat sollte sich jedoch in der Folgezeit sehr rasch erweisen, dass in der Front der BK zwei Flügel zu unterscheiden waren.2 2 Zum allgemeinen Hintergrund des Kirchenkampfes und seiner Details vgl. statt vieler : D. Besier,
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Für die Bruderräte in den „zerstörten“, von der DC und damit der NSDAP beherrschten Landeskirchen erhielt die Barmer Erklärung sehr bald den Status eines „Bekenntnisses“. Das führte zu Konfrontationen und kompromissloser Gegnerschaft gegen die DC mit einer damit verbundenen Tendenz zur Ablehnung der NS-Herrschaft generell, wenngleich auch die Bruderräte der BK zunächst immer ihren Kampf als innerkirchlich verstanden und sich nicht gegen Hitlers Staat als solchen in Front gebracht sehen wollten. So sehr sie die Diskriminierung der Judenchristen in der Kirche ablehnten, die Zurückdrängung des jüdischen Einflusses auf Staatsebene und die Entlassungen aus dem Staatsdienst 1933, solange sie „korrekt“ durchgeführt wurden, waren nur vereinzelt – Bonhoeffer, aber auch Pechmann – Gegenstand eines offiziellen kirchlichen Protestes. In diesem Punkt unterschied sich auch der Flügel der „intakten“ Landeskirchen nicht von den Bruderräten. Differenzen ergaben sich aber bei der etwas offeneren Haltung zu den DC, die man – wie in Bayern – teilweise mit Erfolg einzudämmen vermochte. Deutlich war auch die Ablehnung des Versuches, der Barmer Erklärung einen Bekenntnisstatus zuzuweisen und nur einer synodal-orientierten Kirchenverfassung allein Geltung zu verschaffen. Da alle drei „intakten“ Landeskirchen – Hannover, Bayern, Württemberg – bischöflich geführte lutherische Landeskirchen waren, versuchten sie, eine lutherische Front innerhalb der Bekennenden Kirche im Kirchenkampf aufzubauen und ihre Opposition gegen die DC geführte Reichskirchenregierung dezidiert lutherisch zu begründen. Genau an diesem Punkt kam Althaus innerhalb der lutherisch akzentuierten Bekenntnisfront eine wichtige Rolle zu, auf die deshalb hier einzugehen ist, zumal seine Aktivitäten in diesem Bereich für sein Verhalten gegenüber dem Nationalsozialismus sehr aufschlussreich sind. Schon vor der Synode in Dahlem im Oktober 1934 hatte sich im August 1934 eine lutherische Kirchenkampffront konstituiert. Am 24. 8. 1934 – in Vorwegnahme der drohenden massiven Eingriffe der Reichskirche in Württemberg und Bayern – versammelten sich in Hannover „lutherische Kirchenmänner“ und verabschiedeten ein Protestwort gegen die Reichskirchenleitung und ihre unrechtmäßigen Versuche, die lutherischen Kirchen in die Reichskirche „unter Verletzung ihres Charakters als lutherische Kirche“ einzugliedern. In gleicher Weise protestierte man gegen den für die Pfarrer vorgeschriebenen Eid mit seinen problematischen Formulierungen, die den Amtseid mit einem Huldigungseid auf den Führer zu verbinden suchten. Unterschrieben war dieses Papier von elf Personen: unter ihnen die Landesbischöfe Marahrens, Meiser, Wurm und Zänker (Schlesien), der pensionierte frühere Generalsuperintendent von Westfalen, Zoellner, je ein Pfarrer aus 2001 sowie knapper und zeitlich umfassender K. Herbert (1985), ferner die Dokumente von Landesbischof Meiser in: H. Braun/C. Nicolaisen (1985 und 1993). Eine sehr knappe aber besonders erhellende Übersicht gibt J. Wallmann (2000).
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Oldenburg und Sachsen sowie die Erlanger Professoren Althaus und Ulmer. Etliche Teilnehmer – aber nicht alle – hatten in Barmen mit unterschrieben, andere, wie Althaus, waren zum damaligen Zeitpunkt offiziell noch nicht Mitglieder der BK, bewegten sich aber im Protest gegen die Reichskirche auf die BK zu. Neben der Veröffentlichung ihres Protestes beschloss man in Hannover die Bildung eines „Lutherischen Rates“, als Sprachrohr des deutschen Luthertums im Widerstand gegen Reichskirche und Reichsbischof Müller. Dass Althaus neben seinem Erlanger Kollegen, dem praktischen Theologen Ulmer, diesen prominenten Aufruf mitunterschrieb und bei der Bildung des Lutherrates entscheidend mitwirkte, ist offensichtlich seinen persönlichen Kontakten zu Meiser und Marahrens, aber vermutlich vor allem seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Luthergesellschaft zuzuschreiben. Diese von dem Kirchenhistoriker Holl 1918 in Wittenberg gegründete Gesellschaft zur Förderung der Erforschung von Leben und Werk Martin Luthers war das Organ der so genannten Luther-Renaissance, jener neuen Forschungsansätze, die Luther gerade auch in seiner Bedeutung für die moderne Gegenwart zu erforschen trachtete. Nach dem frühen Tod von Holl war Althaus 1926 Präsident dieser Gesellschaft geworden, zumal er sich immer wieder als Lutherforscher präsentiert hatte und sein Leben lang bewies. Bis 1964 übte er dieses Amt aus. Die Tatsache, dass als zweiter Theologieprofessor der ebenfalls aus Erlangen kommende Ulmer, mitunterschrieben hatte, unterstreicht den Zusammenhang mit der Luthergesellschaft, weil Ulmer Vorsitzender des MartinLuther-Bundes und Führer der lutherischen Bekenntnisbewegung war, die am 18. 1. 1934 ihren Beitritt zur Bekenntnisfront erklärt hatte. Der Martin-LutherBund existiert auch heute noch. Er pflegt und pflegte schon damals insbesondere die Kontakte zu den häufig von Volksdeutschen geprägten lutherischen Kirchen in Ost- und Südosteuropa. Es ging also dem Lutherrat – so darf man die Mitunterzeichnung von Althaus und Ulmer interpretieren – nicht nur um den konkreten Kampf gegen die Übergriffe der Reichskirchenregierung, sondern auch um die grundsätzliche konfessionelle Profilierung in der Bekennenden Kirche und die internationale Verknüpfung der deutschen Lutheraner mit dem Lutherischen Weltbund. Ein schon am 14. 9. 1934 in der AELKZ erscheinender programmatischer Aufsatz von Althaus unter dem Titel „Um die lutherische Kirche Deutschlands – lutherische Antwort auf die Denkschrift der Reichskirchenregierung über Kirche und Bekenntnis“3 machte programmatisch klar, in welche Richtung man zielte. Althaus wehrte sich gegen die gewaltsame Eingliederung in eine bekenntnismäßig unprofilierte Reichskirche und plädierte offen für eine bekenntnismäßig lutherisch organisierte Reichskirche, der die relativ kleinen Gruppen reformierter und echt unierter Landeskirchen und Kirchenprovin3 AELKZ 67 (1934), Sp. 868 – 877.
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zen – wie Rheinland und Westfalen – als selbstständige Kirchen formal angegliedert werden könnten. Langfristig hoffe man auf eine Auflösung der altpreußischen Formalunion, da zumindest die mittel-, nord- und ostpreußischen Kirchenprovinzen der APU faktisch rein lutherisch wären. Durch die Aufnahme der 17 Millionen lutherischer Christen aus der APU könnte die Bildung einer lutherischen Reichskirche zur Vollendung gebracht werden. Mit dieser Zielrichtung argumentierte Althaus nicht nur gegen die DCgeführte Reichskirchenregierung, sondern zugleich auch gegen Gruppen innerhalb der Bekennenden Kirche, soweit diesen die Barmer Erklärung zum Bekenntnis geworden war und sie in diesem Bekenntnis die Differenzen zwischen Lutheranern und Reformierten als aufgehoben ansahen. Da die BK besonders in den zerstörten Kirchenprovinzen der APU sehr stark vertreten war, stand sie den Tendenzen zur Bildung einer lutherischen Reichskirche und Auflösung der APU negativ gegenüber. Althaus wies demgegenüber mit theologischen Argumenten darauf hin, dass „unsere lutherischen Bekenntnisse (…) an wichtigen Punkten einen klaren Gegensatz der reformierten Lehre zu der Wahrheit des Evangeliums fest[stellen].“ Es bedürfe daher erst einer „theologischen Bereinigung zwischen beiden Kirchen“, ehe man zu einer evangelischen Kirche zusammentreten könne. Darüber hinaus machte Althaus deutlich, dass die Frage des Zusammenschlusses von Lutherischen und Reformierten ja nicht nur eine deutsche Frage sei, sondern eben auch eine ökumenische Dimension habe. Darum könne eine Zusammenfassung der deutschen Lutheraner und der deutschen Reformierten eigentlich nur erfolgen, wenn auch das gesamte Luthertum, die ganze lutherische Kirche in aller Welt – damals repräsentiert durch den Lutherischen Weltkonvent – und das ganze Reformiertentum in aller Welt diesen Zusammenschluss vollziehen würden. Das „Hineinzwingen“ der lutherischen Landeskirchen in eine „bekenntnismäßig unbestimmte deutsche evangelische Kirche“ bedrohe deshalb die „ökumenische Geltung und Gemeinschaft des deutschen Luthertums“. Darum könne das Ziel nur sein: Hinaus über die Verfassung vom 11. Juli 1933 zu einer „lutherischen Kirche deutscher Nation“. Zwar war sich Althaus der aktuellen Schwierigkeiten bewusst, die der angestrebten Auflösung der APU im Wege standen, aber er schloss seinen Aufsatz mit der Feststellung: „Wir werden nicht aufhören unsere Brüder in der Union zu ihrem Luthertum zu rufen und den Willen zu lutherischer Kirche bei ihnen zu stärken. Die Zeit wird doch noch einmal reif für die evangelischlutherische Kirche Deutschlands!“. Dass Althaus mit dieser Position zentrale Anliegen des Lutherrates traf, belegt der Umstand, dass Landesbischof Marahrens am 20. 9. 1934 auf einer Kirchenversammlung in Hannover im Prinzip die gleichen Forderungen wie Althaus zur Abwehr der Angriffe der DC-Reichskirche und zur Bildung einer lutherischen Kirche deutscher Nation unter Einbeziehung der 17 Mio. Lutheraner aus den Kirchen der Union aufstellte. Im Rückblick wird man feststellen müssen, dass die Wunschvorstellung 280
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einer lutherischen Reichskirche 1934/35 politisch und kirchenpolitisch völlig irreal war und von den aktuellen Problemen des Kirchenkampfes eher ablenkte. Im Wissen um die weitere Entwicklung des Kirchenkampfes im NSStaat erscheint dieses Urteil zwangsläufig. Dennoch muss man dem lutherischen Theologen zugestehen, dass er in der noch als offen wahrgenommenen Situation des Sommers 1934 ein grundsätzlich legitimes Anliegen vertrat gerade angesichts bevorstehender Tagungen des lutherischen Weltkonventes in Sorge um das Profil des deutschen Luthertums in der ökumenischen Welt, zumal er – darin zwar allzu optimistisch – noch immer auf das nicht widerrufene Bekenntnis Hitlers zum positiven Christentum vertraute und in seinem Beharren auf der Reinhaltung und Selbstständigkeit der Kirche auch bei führenden Politikern und Beamten Unterstützung fand. Große Zustimmung erhielt Althaus für seinen Aufsatz von dem pensionierten Generalsuperintendenten Wilhelm Zoellner, der ja auch die Erklärung der lutherischen Kirchenmänner mit unterschrieben hatte. Seine Unterschrift und die Unterstützung, die er Althaus gab, sind deshalb von besonderem Interesse, weil Zoellner bis zu seiner Pensionierung 1931 Generalsuperintendent der preußischen Kirchenprovinz Westfalen war. Er war also in besonderer Weise ein Repräsentant der APU, zumal sich die westfälische Kirchenprovinz dadurch auszeichnete, dass in ihr wie in noch stärkerem Maße im Rheinland wesentliche Anteile der Kirchenmitglieder reformierten Bekenntnisses waren. Es gab neben lutherischen Gemeinden eben auch zahlreiche reformierte Gemeinden mit reformierten Pfarrern. Die Absolventen des Theologiestudiums konnten sich bei ihrer Ordination nach ihrer persönlichen Wahl entweder auf die lutherischen oder die reformierten Bekenntnisse ordinieren lassen. Das Gewicht der reformierten Kirchenmitglieder spürt man noch heute an dem Umstand, dass die westfälische und rheinländische Kirchenverfassung besonders synodal akzentuiert ist und die Kirchenleitung von einem „Präses“ und eben nicht von einem Bischof repräsentiert wird. Wenn Zoellner für die Auflösung der Union plädierte, dann wusste er zumindest genau, wovon er sprach. Seine Zustimmung ist jedoch zusätzlich auch deshalb von Relevanz, weil er im Sommer 1935 von dem neu ernannten Reichskirchenminister Kerrl zum Vorsitzenden des Reichskirchenausschusses (RKA), der geistlichen Übergangsleitung der Reichskirche ernannt worden war. In einem dreiseitigen, handgeschriebenen persönlichen Brief an Althaus vom 19. 9. 1934 – also wenige Tage nach dem Erscheinen des Vortrages von Althaus in der AELKZ – unterstützte Zoellner das Plädoyer für die Bildung einer lutherischen deutschen Kirche und die Auflösung der preußischen Formalunion. Zusätzlich betonte er – über Althaus hinausgehend – „die Bedeutung eines geschriebenen Bekenntnisses, einer festen Norm für die geistliche Leitung der Kirche. Das größte Unglück der jetzigen Zeit ist, dass wir eine Kirchenleitung haben, die ihre Normen nicht von einem festen Bekenntnis her nimmt. Das, was bisher das Unglück der preußischen Kirche war, ist jetzt das Unglück der DEK (…). Wir haben ein nicht unter Bekenntnis stehendes und 281
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nicht durch Bekenntnis gebundenes Reichskirchenregiment. Dass dieses Kirchenregiment dann seine Normen woanders hernimmt, ist selbstverständlich.“ Die Bedeutung eines fixierten Bekenntnisses sei auch für den Religionsunterricht beachtet, der leider „das übersehendste [sic] Kapitel im heutigen Kirchenkampf und doch das entscheidendste“ sei. „Die beiden Bekenntnisse, die wir nun einmal haben, zu Normen des Kirchenregimentes und der von ihm auszuübenden geistlichen Leitung zu machen“, sei der einzige Weg, „um aus dieser Not heraus zu kommen“. (NLA K11b) Der Wendung gegen die amtierende Reichskirchenregierung hatte Zoellner eine kritische Bemerkung über Asmussen, den zentralen Sprecher des norddeutschen Luthertums in der Barmer Bekenntnissynode vorangestellt. Zoellner hielt ihn „für einen Schwärmer, weil er von dem geschriebenen Wort und vom Bekenntnis, soweit es geschrieben ist, abrückt“. Er habe eine „besonders schädliche Wirkung auf die Lutheraner in der Union. Und das wieder wird das Rückgrat des Widerstandes der Lutheraner gegen die neuen Ordnungen in Berlin lähmen.“ Die eindeutige Front der dezidierten Lutheraner gegen die Reichskirchenregierung, wie sie Althaus und Zoellner formulierten, machte zugleich in ihrem Konfessionalismus, in ihrer strikten Bekenntnisbindung deutlich, wie notwendig eine Abklärung des Verhältnisses des sich konstituierenden Lutherrates zur Barmer Bekenntnisbewegung war. Meiser hatte schon im August 1934 in Hannover für eine Abstimmung mit der BK plädiert. Daraus resultierte nun die Aufforderung an Althaus, sich mit Hans Asmussen, dem lutherischen Sprecher der BK, zur Klärung zusammen zu setzen. Diese Intention entsprach offensichtlich auch den Bedürfnissen der anderen Seite. Schon am 3. September 1934 hatte sich Asmussen, der auf der Barmer Synode den Erläuterungsvortrag zur Barmer Erklärung gehalten hatte, mit einem offiziellen Schreiben (NLA K10) an Althaus gewandt und die Bitte um eine klärende Diskussion vorgetragen. Zwar verstehe man die Gründung des Lutherrates als „Verbreiterung der Bekenntnisfront“. Es seien jedoch „Gegensätze dogmatischer Art“ in den letzten Monaten aufgetreten, teils auf Missverständnissen beruhend, teils begründet. Deshalb rege er an, diese Fragen „möglichst offen, aber auch möglichst leidenschaftslos“ zu besprechen. Er schlage ein Theologengespräch vor, zu dem Althaus die Thesen formulieren solle. Es gehe darum, „in dieser Zeit der Zerrissenheit nach Möglichkeit die Zeitungsfehde zu vermeiden, um so in offener sachlicher Aussprache den Dingen auf den Grund zu kommen.“ Im Nachlass Althaus fand sich zusätzlich noch ein handgeschriebener Brief von Asmussen vom 10. 10. 1934 (NLA K10), in dem sich Asmussen für den letzten Brief von Althaus bedankte und vorschlug, „unsere Zusammenkunft auf Ende des Monats zu verschieben.“ Er wünschte aber zur Vorbereitung weiteren intensiven brieflichen Kontakt, zumal die Andeutungen zu den inhaltlichen Differenzen ihn „auf ein fruchtbares Gespräch hoffen ließen“. Ob es zu dem offiziellen Gespräch überhaupt gekommen ist, lässt sich im 282
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Althaus-Nachlass und der einschlägigen Literatur nicht feststellen. Da Althaus am 18./19. Oktober 1934 an der Bekenntnissynode in Dahlem teilnahm, hat er dort sicherlich Asmussen getroffen und auch ein persönliches Gespräch geführt. Die nach der Synode sofort einsetzenden konfliktreichen Auseinandersetzungen über die Bildung der Ersten Vorläufigen Kirchenleitung (VKL I) lassen jedoch vermuten, dass ein offizielles Friedensgespräch nicht mehr stattgefunden hat. Dennoch sind allein die Existenz dieses Briefwechsels und die beiderseitig intendierte Gesprächsabsicht hervorhebenswert, zumal schon der konkrete Wunsch, dass man ein Gespräch führen wolle, beachtlich ist. Außerdem sind die Bemerkungen von Asmussen für die Wahrnehmung von Paul Althaus sehr bezeichnend. In der Oeynhausener Zentrale der BK wurde Althaus offensichtlich als ein theologisch führender Kopf im Lutherrat betrachtet, der jedoch zugleich das Gemeinsame zwischen den Brüderräten und dem Lutherrat nicht in Frage stellte und die Diskussion als ein Gespräch innerhalb der Bekennenden Kirche auffasste. Landesbischof Meiser, der, wie sich aus seinen Papieren ergibt, die Gespräche zwischen Althaus und Asmussen für wichtig hielt, notierte am 3. 9. 1934 bezeichnenderweise: „Wurm hat sich über Althaus gefreut“.4 Auch dieses Urteil bestätigt noch einmal die Gesprächsfähigkeit und überzeugende Ehrlichkeit von Paul Althaus in solchen theologisch-kirchlichen Diskussionen. Die Bildung der nur nach zähen Verhandlungen zustande gekommenen VKL unter Leitung von Landesbischof Marahrens war deshalb so umstritten, weil sie den Anspruch des Reichsbruderrates auf alleinige Repräsentation der gesamten DEK zurückwies, da die Bischöfe der „intakten“ Landeskirchen Hannover, Bayern und Württemberg eine eigene unmittelbare Repräsentation in den Leitungsgremien verlangten. Während Asmussen diesen Anspruch als schwere Niederlage wahrnehmen musste, hatte Althaus kaum Anlass zum Protest, zumal die drei „intakten“ Landeskirchen zugleich lutherisch geprägt waren. So setzte er seine Aktivitäten für den Lutherrat fort. Das war wohl auch der Grund, weshalb er sich offensichtlich nicht für die 3. Bekenntnissynode in Augsburg als Vertreter Bayerns nominieren ließ. Sein Fehlen bei dieser Synode löste einen scharfen Protest des württembergischen BK-Pfarrers Metzger aus und veranlasste diesen, sich aus seiner Mitarbeit bei der Zeitschrift „Luthertum“ zurückzuziehen.5 Althaus profilierte sich dagegen weiterhin als dezidierter Lutheraner. Auf dem repräsentativen Luthertag, zu dem der Lutherrat für den 3. bis 5. Juli 1935 nach Hannover – also einen Monat nach der Augsburger Synode – eingeladen hatte, hielt Althaus nach Vorberatung in einer kleinen Kommission einen der zwei zentralen Vorträge. Er sprach über das Thema: „Kirche und
4 H. Braun und C. Nicolaisen, 1985, S. 347. 5 Auszug eines Briefes von Metzger an Bergdoldt kurz nach der Synode in Augsburg. (NLA K 11a). Vgl. ferner H. Braun und C. Nicolaisen, 1985, S. 409.
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Staat nach lutherischer Lehre“.6 Ausdrücklich hielt er auch hier an seiner Auffassung gegen die Barmer Thesen fest, dass der Staat nicht nur für Ruhe und Ordnung zu sorgen habe, also nicht nur „Erhaltungsordnung“ sei. Gegen diese Minimaldefinition des Staates, die „z. T. liberal-politischem Vorurteile“ entstamme, habe schon Luther dem Staat auch die „Weihe des Vateramtes“ zugewiesen, dass er „Schulen errichte“, dass er „Heger und Pfleger des Lebens der Untertanen“ sei. Diese lutherische Perspektive für heute konkretisierend fügte Althaus an, dass der moderne Staat darüber hinaus die Aufgabe habe, „dem Schöpferwillen Gottes, der durch ihn ein Volk zu dem machen will, was sein kann und soll“ zu dienen. So zu sprechen sei nicht, „wie manche Theologen heute meinen, ,romantischer Idealismus‘“, sondern sei nichts anderes als „die Wirklichkeit des Staates ernst zu nehmen, der als Volksstaat seit 120 Jahren Ziel und Schicksal der Deutschen ist.“7 Mit dieser Formulierung spielte Paul Althaus ganz direkt auf die Kritik an, die Emil Brunner in seinem oben zitierten Brief8 an ihm geübt hatte. Er wies diese Kritik ausdrücklich zurück: „Die Theologen müssen endlich aufhören, es für ein christliches und theologisches Interesse zu halten, den Staat auf sein allerdings erstes und zentrales Amt als Verwalter des Rechtes und Hüter des Friedens und der Ordnung zu beschränken. Die Aufgaben des Staates sind je nach geschichtlicher Lage und politischer Weltanschauung enger oder weiter bestimmt. Sie sind andere im Nationalitätenstaat als im Nationalstaat, andere in der Schweiz als in Deutschland usw. Das Maß für das Recht des Staates, sein geschichtliches Amt so oder so zu fassen ist allein die konkrete geschichtliche Notwendigkeit. Wir haben namens der christlichen Kirche dem Staat keine andere Grenze zu zeigen als die, welche die Wirklichkeit Gottes des Herrn und seiner die Kirche begründenden Offenbarung ihm zieht: nämlich, dass der Staat nicht selber Gott ist, nicht der Sinn der Geschichte, sondern allein Werkzeug zum Dienste an dem von Gott ihm anvertrauten sterblichen Leben des Volkes ist. Wie er das zu sein hat, was seine Aufgabe alles einschließen kann, ist nicht allgemein gültig vorauszusagen. Das ist Sache des Gehorsams gegen die konkrete geschichtliche Notwendigkeit, in der Gott Amt und Aufgabe immer neu gibt.“ (Seite 8 f.)
Wenn man dieses Zitat auf sich wirken lässt, dann neigt man zunächst mit guten Gründen dazu, Brunners Verdikt vom „romantischen Idealismus“ als bestätigt zu sehen. Zu unscharf sind die Begriffe vom „geschichtlichen Amt des Staates, Werkzeug zum Dienst an dem von Gott ihm anvertrauten sterblichen Leben des Volkes“ zu sein. Auch die Formulierung von der „ge-
6 Der Vortrag erschien noch im gleichen Jahr in der AELKZ und als Separatdruck in der Reihe „Theologia militans“, die man als lutherische Antwort auf die von Barth herausgegebene Reihe „Theologischer Existenz heute“ lesen muss. Vgl. PA, 1935, 2. 7 Ebd. S.7 f. 8 Vgl. oben S. 259.
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schichtlichen Notwendigkeit, in der Gott Amt und Aufgabe immer neu gibt“, lässt die notwendige begriffliche Klarheit deutlich vermissen. Wenn Althaus auf das seit 120 Jahren geltende „Ziel und Schicksal“ des deutschen „Volksstaates“ verweist, dann meint er ganz offensichtlich die Bildung der nationalen Einheit, den deutschen Nationalstaat und dessen spezifische Sendung im Konzert der europäischen Völker. In dieser Begrifflichkeit wird noch einmal deutlich, wie hier Geschichtsinterpretation und Staatslehre ineinander fließen und zugleich theologisiert werden. Trotz dieser Kritik ist jedoch festzuhalten, dass diesen Ausführungen eindeutig zu entnehmen ist, dass Althaus den staatlichen Auftrag, so irrational er ihn ableitet, immer begrenzt sehen will durch die Bestimmung des Staates als „Werkzeug“, das an den „Auftrag Gottes“ gebunden ist. Diese Grenzen aufzuzeigen sei Sache der Kirche. Althaus erkennt hier einen spezifisch deutschen Auftrag der Kirche, weil es gelte, dem ihr anvertrauten Volk seinen spezifischen Auftrag zu erläutern. Das könne aber nur gelingen, wenn die Kirche Freiheit und Unabhängigkeit bei der Wortverkündigung und Kirchenleitung besitze, auch um den nationalen Auftrag an der über alle Nationen hinausgehenden Christusbotschaft zu messen. Da die neue Staatsführung sich in feierlichen Erklärungen „ausdrücklich zu der christlichen Grundlage deutschen Volkstums bekannt, die Bedeutung der christlichen Kirchen für das deutsche Volk anerkannt und ihre Stellung im Volksleben gewährleistet hat“ (S. 30), protestierte Althaus gegen deutschgläubige Aufwertung des Nationalsozialismus und registrierte besorgt problematische Erscheinungen in der Erziehung und Schulung der Jugend. Er bat darum eindringlich, den christlichen Willen, der sich in den offiziellen Regierungserklärungen bezeuge, nicht verdunkeln zu lassen. Skeptisch fügte er an: „Die Enttäuschungen, Sorgen, Schmerzen der Stunde dürfen nicht Staat und Kirche voneinander reißen und wider einander stellen … Wir müssen zueinander finden um unseres Volkes willen, für das Kirche und Staat vor Gott gemeinsam Verantwortung tragen.“ (S. 31). Man spürt in diesen Schlusspassagen, dass Althaus versuchte, trotz erkannter gegenläufiger Entwicklungen die nationalsozialistische Reichsregierung auf das Bekenntnis zum positiven Christentum festzulegen. Er hoffte offensichtlich, dass der Staat die Partei im Zaum halte. Beachtenswert ist jedoch wiederum, mit welcher Selbstverständlichkeit Althaus vom Staat, von der deutschen Obrigkeit als einer christlich gebundenen Obrigkeit ausgeht und das deutsche Volk als christliches Volk denkt. Ob eine solche Offenheit der Entwicklung im Sommer 1935 – kurz vor den Nürnberger Rassegesetzen – noch unterstellt werden durfte, ist mindestens zweifelhaft, erscheint als allzu optimistisch, wenn nicht sogar naiv. Wer jedoch die kritischen Untertöne bei Althaus in diesen Schlusspassagen zur Kenntnis nimmt, kann die Hervorhebung der Bekenntnisse der Regierung zum positiven Christentum auch als letzten Appell lesen, bei dem die Skepsis jedoch nicht zu überhören ist. Eine gewisse Bestätigung seiner Hoffnungen auf das Bekenntnis des Hit285
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lerstaates zum positiven Christentum mochte Althaus in der am 16. Juli 1935 – also knapp 2 Wochen nach seinem Vortrag auf dem Luthertag – erfolgten Ernennung von Hanns Kerrl zum Reichsminister für kirchliche Angelegenheiten sehen. Kerrl gehörte innerhalb der NSDAP-Führungskreise zum näheren Umfeld von Adolf Hitler, bekannte sich aber dezidiert zum positiven Christentum. Ende August/Anfang September 1935 machte er in offenen Gesprächen mit den führenden Vertretern der verschiedenen Lager der Kirchenfronten seine kirchliche Haltung deutlich. Am 4.9. empfing er Althaus zu einem persönlichen Gespräch, über dessen Zustandekommen und Inhalte keine klaren Aussagen möglich erscheinen. Erst am 31. August hatte Konsistorialrat Dr. Ruppel als Referent von Kerrl Althaus für den 4. September ohne nähere Angaben über die Gesprächspunkte für vormittags 11.30 Uhr zu dem Gespräch mit Kerrl eingeladen und hinzugefügt, Ministerialrat Stahn, „den Sie wohl ebenso wie mich von der Luthergesellschaft her kennen“, stünden ihm vor der Besprechung beim Minister gern zur Verfügung. (NLA K11b) Dass Althaus als Präsident der Luthergesellschaft amtierte, mag bei der Einladung von Kerrl eine Rolle gespielt haben. Ebenso seine allgemein bekannte Gesprächsbereitschaft gegenüber den DC bei gleichzeitig eindeutiger Positionierung in der BK. Möglicherweise war aber auch ein entscheidender Grund, dass der in der Lüneburger Heide aufgewachsene Kerrl und Paul Althaus einem ähnlichen kirchlichen Milieu entstammten. So berichtete Althaus am 11. 9. 1935 seiner Mutter : „Am 3.9. musste ich nach Berlin, vom Reichsminister Kerrl gerufen. Am 4. zwei Stunden bei ihm. Er ist Sohn des Rektors Kerrl in Fallersleben, sprach von Großvater. Eindruck gut.“ (NLA K4) Zwei Monate später nutzte Althaus diese Kontakte, um für seinen Vetter ein gutes Wort einzulegen, der als BK-Pfarrer in der Braunschweigischen Kirche verhaftet worden war, weil er sich in seiner Gemeinde für „Zigeuner“ und „Juden“ eingesetzt hatte. Seiner Mutter schrieb er am 23. 11. 1935: „Georg – schade! Ich habe an Ministerium Kerrl geschrieben, hoffe guten Ausgang.“ Das Vertrauen auf die kirchliche Bindung wichtiger „Entscheidungsträger“ im Staatsapparat fand für Paul Althaus in dieser Begegnung erneut eine innerlich wohl auch ersehnte Bestätigung. Die Berufung des pensionierten Generalsuperintendenten Zoellner zum Präsidenten des neu eingerichteten Reichskirchenausschusses (RKA) und preußischen LKA durch Kerrl konnte angesichts der kirchenpolitischen Kooperation zwischen Zoellner und Althaus im Lutherrat dieses Vertrauen nur noch stärken. Die Erfahrung musste noch gemacht werden, dass die polykratische Struktur des Herrschaftssystems im Dritten Reich, das gleichzeitige Nebeneinander mit konträren Zielen agierender Staats- und Parteiinstanzen die persönliche Herrschaft Hitlers und ihre Radikalisierung erst ermöglichte. Bei aller Gesprächsbereitschaft, die Althaus in Richtung gemäßigter DCKreise oder kirchlich Neutraler spüren ließ, muss zugleich festgestellt werden, dass er 1935 auch ein Dokument eindeutiger Grenzziehung zu den deutschen Christen lieferte. In einer kleinen Schrift unter dem Titel „Politisches Chris286
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tentum – ein Wort über die ,Thüringer Deutschen Christen‘“, die als Nummer 5 der Reihe Theologia militans den Ausführungen über Staat und Kirche unmittelbar folgte, setzte er sich differenziert und detailreich, aber sehr entschieden mit den Thüringer Deutschen Christen auseinander.9 Die leitenden Gedanken der Thüringer DC sollten „theologisch geprüft“ werden. Althaus gestand ihnen zu, dass sie „das Verhältnis der nationalen Volksbewegung und des christlichen Glaubens in ihrer Weise ernst durchlebt“ hätten, was auch sein Thema sei, seit er „von 1915 an die deutsche Volksbewegung in Polen erlebte und an ihr mithandelte.“ Insofern sei ihre Frage uns allen gestellt. „Lutherisches Christentum weiß sich verantwortlich für Volk und Staat im Ganzen, für die Erhaltung von Gottes Geschöpf und Ordnung. In diesem Sinne folgt aus unserem Glauben politischer Einsatz, ist unser Christentum politisch“. Demgegenüber seien die Thüringer DC jedoch zu einem „politischen Christentum“ gekommen, „das sowohl das Evangelium wie das Politische verkennt (…) durch eine falsche politische Inanspruchnahme des Evangeliums und falsche politische Verchristlichung des Geschehens.“ Es folgt dann eine eindeutige Verurteilung des „Deutschglaubens“: „Wir erleben die Gründung einer antichristlichen Volkskirche, die zu schärfstem Kampfe (…) gegen das Christentum schlechthin angetreten ist“.
Die Intention dieser im September 1935 abgeschlossenen Schrift ist sicherlich auch im Sinne einer Frontbegradigung und Werbung um einsichtige deutsche Christen zu lesen. Zugleich ist sie implizit mit ihrer Lehre von der spezifisch christlichen Verantwortung für Volk und Land eine Auseinandersetzung mit dem Purismus von Karl Barth. Aber dieser „Hintergrund“ darf nicht verdrängen, dass die Schrift zugleich und in erster Linie ein Votum und Bekenntnis zur „Bekennenden Kirche“ ist. Die unter dem Druck der Thüringer DC-Kirchenregierung stehenden Pfarrer der Bekennenden Kirche in Thüringen buchten schon die Ankündigung der Schrift von Althaus als „eine sehr erfreuliche Nachricht“, offensichtlich zählten sie auf die Verbundenheit von Althaus mit ihren Positionen.10 Wohl aufgrund dieser Publikation lud im Herbst 1935 der durch den Reichskirchenminister gegründete sächsische Landeskirchenausschuss Mitte Januar 1936 Althaus zu einem für den 24./25. Februar 1936 geplanten Streitgespräch mit den Thüringer DC ein.11 Anlass waren Tendenzen der sächsischen DC, die in Dresden auch den inzwischen durch Kerrl entmachteten Landesbischof stellten, sich den Thüringern anzuschließen. Die Einladung bekam dadurch besonderes Gewicht, dass der Landeskirchenausschuss deutlich machte, ihm sei es besonders wichtig, dass Althaus an dem Gespräch 9 P.A., 1935, 3. Die folgenden Zitate auf S. 2 f. und S. 32). 10 So der Weimarer Pfarrer Dr. Wolfgang Schanze mit Brief vom 5. 10. 1935 an Paul Althaus. (NLA K12,2). 11 Mehrere Briefe zu dem Gesamtvorgang in NLA K12,2.
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teilnehme, darum frage man ihn als Ersten, bevor man an andere Teilnehmer herantrete. Da sich Althaus in seinem Aufsatz eindeutig gegen die Thüringer DC ausgesprochen hatte, verfolgte der LKA offensichtlich mit seiner Einladung die Strategie, sich von den sächsischen DC – soweit sie nach Thüringen drängten – abzusetzen. Althaus unterstrich in seiner Antwort vom 28. 1. 1936 seine prinzipielle Bereitschaft zur Mitwirkung, knüpfte sie aber an die Anregung, dass ein „führender Mann der Thüringer Lutherischen Bekenntnisgemeinschaft“ als Kenner des Thüringer Alltags mit eingeladen würde. Der von ihm ins Gespräch gebrachte Sprecher der Thüringer BK-Pfarrer sagte seine Mitwirkung auch zu, wenngleich er Althaus gegenüber nicht verhehlte, dass er sich von dem Gespräch nichts erwarte (Brief vom 4. 2. 1936). Mit einem ausführlichen Brief vom 12. 2. 1936 unterstrich ein weiterer Thüringer BKTheologe, der Kirchenrat i. W. D. Richard Otto diese grundsätzlichen Bedenken. Er dankte Althaus für seine Schrift gegen die Thüringer DC, fügte jedoch hinzu, die bisherigen Reaktionen würden zeigen, dass weitere Gespräche zwecklos seien. Schon die Tatsache des Gespräches würden die Thüringer DC schamlos für sich ausnutzen. Gleichwohl kam das Gespräch zustande. Althaus hatte sich mit einem vierseitigen Thesenpapier vorbereitet, das – wie schon seine ausführlichen Ausführungen in der Theologia militans – die Differenz zwischen der Lehre der Thüringer DC und dem „biblisch christlichem Verständnis des Glaubens“ eindeutig markierte.12 Über den Detailverlauf des Gespräches sind im Nachlass von Althaus keine weiteren Unterlagen vorhanden. Wenn er in seinem Tagebuch über den Erholungsurlaub vom 5. bis 24. März 1936 notierte, er sei zuvor abgearbeitet gewesen und der Arzt habe Überanstrengung diagnostiziert, dann wird einer der Ursachenfaktoren auch die Diskussionsveranstaltung mit den Thüringer DC gewesen sein. Allerdings lesen wir dazu im Ferientagebuch: „Religionsgespräch mit den Thüringern erst gefürchtet, dann ging es ordentlich“. (NLA K6) Eindeutiger ist jedoch ein Bericht eines jungen Pfarrers über das Echo bei den Thüringer DC, den dieser dem Superintendenten Gerber vorgelegt hatte, der seinerzeit Althaus als LKA-Mitglied zu dem Gespräch eingeladen hatte und ihm nun eine Abschrift des Berichtes „mit der Bitte um vertrauliche Kenntnisnahme“ übersandte.13 Der Berichterstatter notierte, die Reaktion der Thüringer DC-Führung habe sich in „geradezu verleumderischer“ Art über Althaus geäußert, der „typische Weltfremdheit“ offenbare, zu den „EwigGestrigen“ gehöre, den „Senilen“ … In seinem Begleitbrief kommentierte Gerber : „Es geht eben doch auch nach dem Dresdener Gespräch in der alten
12 Das Thesenpapier findet sich in NLA K12,2. 13 Brief von Gerber und Abschrift des Berichtes in NLA K12,2,2.
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Tonart weiter, und die Möglichkeiten wirklicher Ansprache scheinen mir nun doch erschöpft zu sein.“ Offensichtlich sah Althaus das Ergebnis genauso. Als der RKA im Mai 1936 ein kontrovers-theologisches Gespräch mit der Thüringer DC zu veranstalten versuchte und dazu Paul Althaus und Martin Doerne einlud, teilte Althaus daraufhin mit Brief vom 20. Mai 1936 Doerne mit, dass er nicht teilnehmen werde, aber durchaus hoffe, dass Doerne gehen werde, obwohl er annehme, dass auch Doerne die Sache nicht positiv sehe. (NLA K10). Er handelte bei seiner Absage durchaus im Einklang mit Oberkirchenrat Breit, dem Mitglied der bayerischen Landeskirchenleitung und zugleich Vorsitzenden des Rates der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands. Auch ihn hatte der RKA eingeladen, aber mit Schreiben vom 26. 5. 1936 lehnte Breit ab. Die Hoffnung auf Klärung durch ein neues Gespräch wäre nur dann gerechtfertigt, „wenn der Kampf der bekennenden Kirche gegen das Schrifttum der Thüringer Deutschen Christen aus ,fertigen Vorurteilen‘ erwachsen wäre … Die Irrlehre der Thüringer DC steht eindeutig fest und bedarf keiner neuen Untersuchung“. Da sich ein Durchschlag dieses Schreibens im Nachlass von Althaus befindet, ist anzunehmen, dass eine Absprache vorlag, zumal das Schreiben von Althaus an Doerne schon vom 20. 5. 1936 datiert ist. Der RKA lenkte ein, denn bereits zum 29. Juni 1936 lud er eine prominente Theologenarbeitsgruppe, darunter Althaus, Bultmann und Gogarten ein, „um ein theologisches Gutachten zu schaffen, das über die Lehre und Haltung der Thüringer DC ein verbindliches Urteil ermögliche.“ Beratungsgrundlage waren die „Richtsätze von Paul Althaus“ vom Februar 1936, die durch die folgende Beratung dann noch verschärft wurden und eine heftige Polemik bei den Thüringer DC auslösten.14 Die auffällige Bemerkung von Breit, eine Anhörung der Thüringer DC wäre nur gerechtfertigt, wenn der Kampf der BK gegen die Thüringer DC aus „fertigen Vorurteilen“ gewachsen wäre, lässt verspüren, dass Breit beim RKA die Strategie vermutete, den Kampf gegen den radikalen Flügel der DC mit der Zurückdrängung der Bruderräte der BK auf der anderen „Außenseite“ der DEK zu verbinden. In die Richtung dieser Strategie zielten im Herbst 1936 die Bemühungen des RKA durch Gutachten, die „Irrlehren“ der ersten schlesischen Bekenntnissynode in Naumburg am Queis festzustellen. Bei dieser Synode handelte es sich um eine Abspaltung des entschieden BK-orientierten Flügels von der gemäßigt bekenntniskirchlich-lutherisch orientierten Richtung unter Bischof Zänker und deren Christopheri-Synode. In ihrer theologischen Erklärung „Von der Kirchengewalt“ bekannte sich die Naumburger Synode eindeutig zur Barmer Erklärung. In einem zehnseitigen Brief äußerte sich Althaus auf Bitten des in Naumburg gebildeten Rates der BK Schlesiens zu dieser Erklärung. Er dankte für das „Vertrauen Ihrer Bitte um Beurteilung“ und trug „mit der Bitte um brüderliche Aufnahme“ differenzierende Argu14 Vgl. dazu auch Besier, 2001, S. 519 ff.
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mente vor. Er verband die Zustimmung zu einzelnen Sätzen oder auch „Grundthesen“ ganzer Teile mit der Bitte um Ergänzung oder Klarstellung anderer Partien sowie der Äußerung schwerer inhaltlicher Bedenken zu bestimmten Thesen, die er als „lutherisch unhaltbar“ bezeichnete. „Als einer, der innerlich und äußerlich mit Ihnen zur Bekennenden Kirche gehört“ betonte Althaus: „auch außerhalb der organisierten BKwird geglaubt“ und appellierte an die Autoren: „Seien Sie nicht allzu sicher, dass die Grenzen der lebendigen Kirche mit den Grenzen der Bekennenden Kirche zusammen fallen“. Zugespitzt fasste er diese Kritik zusammen: „Die Seite 43 des Berichtes ist blankes und schlimmes Schwärmertum und hat mit der lutherischen Kirche nichts mehr zu tun.“ Versöhnlich fügt er jedoch unmittelbar an: „Liebe Herren und Brüder! Ich weiß ja, daß man zu solchen Sätzen, wie Sie in der konkreten Not und Bedrohung formulieren, kommen kann – und wenn ich an diese existenzielle Entstehung Ihrer Sätze denke, dann weiß ich, daß es mit dem theologischen Nachweis allein nicht getan ist. (…) Brechen Sie doch das Gespräch mit den anderen schlesischen Brüdern und mit uns allen nicht ab. Wir brauchen einander – denn daß wir Ihren Ernst in der Beurteilung der Lage und vieles andere an Ihnen brauchen, das bekenne ich Ihnen als meine Überzeugung. Mit brüderlichem Gruße Ihr (gezeichnet) Paul Althaus.“ (NLA K12,2,3)
Stil und Argumentation dieses Briefes dokumentieren eindeutig die große Differenz, die Althaus zwischen den entschiedenen BK-Leuten in Schlesien und den Thüringer DC sieht. Das eine sind für ihn innerkirchliche Gesprächspartner, das andere die echte Kirche verratende „Nationalkirchler“. Dieses Gutachten ist hier so ausführlich zitiert worden, weil es zugleich als ein eindrucksvolles Dokument für die Gesprächsbereitschaft und Gesprächsfähigkeit von Paul Althaus sowie seine ebenso feste wie tolerante kirchliche Bindung gelesen werden kann. In diesem Stil unterschied er sich eklatant von einem sehr rigorosen und geradezu intolerant dogmatisch fixierten Gutachten über die schlesische BK, das sein Erlanger Kollegen Sasse bereits am 9. 8. 1936 dem RKA vorgelegt hatte. Dieses Gutachten und das ebenfalls kritische Gutachten des Marburger Kirchenhistorikers von Soden sowie weitere ablehnende Äußerungen aber auch vereinzelt dezidiert positive Zustimmungen zur schlesischen BK finden sich in den einschlägigen Akten von Althaus (NLA K12,2,2). Leider ist aus ihnen jedoch nicht eindeutig zu entnehmen, welche Rolle der RKA unter Zoellner bei der Erstellung der Gutachten gespielt hat. Hat er von der schlesischen BK die Gutachten erbeten oder sie selbst angefordert oder zum Teil nur einige direkt bestellt und den Betroffenen freigestellt, weitere vorzulegen? Dafür spricht die wesentlich spätere Datierung des Gutachtens von Althaus, das ja dem schlesischen Bruderrat vorgelegt wurde, während das Gutachten Sasse sehr viel früher datiert ist. Zu einer offiziellen Beschlussfassung über die BK Schlesiens durch die 290
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theologische Kommission des RKA ist es jedoch offensichtlich nie gekommen. Eine für den 9./10. September 1936 von Zoellner angesetzte Beratung seiner Theologenkommission (u. a. Althaus, Bultmann, Elert, Gogarten, Schumann), die im Juli 1936 das Votum gegen die Thüringer DC verabschiedet hatte, kam nicht zustande. Ob Zoellner vorhatte, hier ein Votum gegen die schlesische Bekenntnisbewegung verabschieden zu lassen, ist unklar. Immerhin lag das dezidiert negative Votum von Sasse – verfasst am 9. 8. 1936 – Zoellner bereits vor, während das Gutachten von Althaus erst am 1.10.36 fertig gestellt wurde. Tatsächlich wurde vom RKA keine der Thüringer Verurteilung entsprechende Erklärung zur schlesischen BK verabschiedet. Dazu war möglicherweise die Gutachterlage nicht eindeutig genug. Vor allem aber verschärften sich Ende 1936 / Anfang 1937 die Konflikte zwischen RKA und Minister Kerrl außerordentlich, zumal Kerrl selbst in seinem Haus, aber auch bei Hitler, zunehmend an Einfluss verlor. Zoellner erhielt sogar ein ministerielles Rede- und Aufenthaltsverbot für Lübeck, wo er gegen eine radikale DC-Kirchenregierung zugunsten kirchentreuer BK-Pfarrer auftreten wollte. Daraufhin erklärte er Anfang Februar 1937 seinen Rücktritt. Das Schicksal des RKA und des Versuches, einen modus vivendi zwischen gemäßigten Vertretern der BK, Neutralen und nicht radikalen DC-Kirchenleuten einerseits und NS-Staat andererseits zu finden, war damit auf Reichsebene und zumindest in Preußen und in den norddeutschen Landeskirchen gescheitert. Mit der Verhaftung von Martin Niemöller am 1. Juli 1937 eskalierten die Konflikte zwischen Staat und Bekennender Kirche zusehends. Die Konsequenz war, dass auch die Bruderräte und der Lutherrat gegen den antikirchlichen Kurs des Staates und der immer mehr sich durchsetzenden Parteiinstanzen wieder näher zusammenrückten und ihre Differenzen zurückstellten. Am 6. 7. 1937 nahmen der Lutherrat, die Kirchenführerkonferenz der „intakten“ Landeskirchen und die VKL als Organ der Brüderräte in der Kasseler Erklärung gemeinsam gegen die NS-Politik Stellung. In dieser Kampfsituation zwischen Kirche und Staat erschienen zwei Aufsätze von Paul Althaus, die relevante Themen behandelten und gerade deshalb als Dokumente seiner Interpretation der Lage und der Aufgaben der Kirche gelesen werden müssen. Zugleich lassen sie Lernprozesse im politisch-theologischen Denken von Althaus erkennen. Der erste Titel galt der „theologischen Lehre vom Volk“ und brachte einen Vortrag, den Althaus am 28. Mai 1937 auf Einladung der theologischen Fachschaft an der Universität Leipzig gehalten hatte. Er erschien dann noch im Sommer des gleichen Jahres in der Theologia militans, der dezidiert lutherischen, von Doerne herausgegebenen Schriftreihe.15 Gleich einleitend betonte Althaus eine doppelte Stoßrichtung seiner „theologischen Lehre vom Volk“. Sie richte sich einmal „gegen eine Theologie, die als solche vom Volk nicht handeln will“. Zwar gesteht er ausdrücklich zu, 15 P.A. 1937, 2.
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„daß Volk und Volkstum nicht zu den Artikeln des christlichen Glaubens gehören, wie Gott, Jesus Christus, der Heilige Geist, die Kirche“, aber die Theologie, so fügt er an, habe auch „von der Geschichte, von den Ordnungen des geschichtlichen Lebens zu handeln, in denen unser Menschsein verfaßt ist“ und dazu gehöre auch, das „Verfaßtsein im Volk“. Man spürt in diesen Darlegungen die Auseinandersetzung mit dem „Christomonismus“ von Karl Barth, aber es ist beachtlich, wie intensiv Althaus in diesen Einleitungspassagen schon unterscheidet zwischen den zentralen Lehren der Christologie und den „politischen Wirklichkeiten der Zeit“, die in das Licht Gottes zu rücken sei. Diese Wirklichkeit könne historisch aber auch in anderen Völkern anders gewichtet werden, „aber wir müssen heute von Volk und Volkstum reden, wenn anders wir an der Wirklichkeit, in die Gott uns verantwortlich gestellt hat, nicht vorübergehen wollen.“ Zum anderen richtete Althaus seine Argumentation „gegen ein völkisches Denken, das den Theologen nicht für zuständig, geschweige denn für nötig hält, recht vom Volke zu reden“. Zwar gibt Althaus zu, dass das „Volk eine weltliche Wirklichkeit“ sei, „die mit natürlichem Auge erkannt werden will und kann“. Er verweist dazu auf Herder, die Romantiker und idealistischen Philosophen sowie die moderne Volkskunde mit ihrer Lehre vom Volk und Volkstum. Aber erst im Lichte des Wortes Gottes könne das Volk „als eine Bestimmtheit unseres Menschseins“ voll verstanden werden. Da müsse auch die Theologie vom Volk reden, sie könne aber nicht „völkische Theologie sein, als wäre der letzte Maßstab für ihre Aussagen das völkische Erleben selbst – beileibe nicht, aber sie hat ernsthaft vom Volk zu handeln. Das ist heute ein besonders wichtiger Teil ihres Dienstes. Denn hier brennt es, hier lebt Pathos und Frage unseres Geschlechtes. Hier will der Wille Gottes bezeugt sein. Läßt man die Wirklichkeit des Volkes theologisch aus dem Gesicht, dann wuchert dort die Pseudo-Religion“. (Seite 3 – 5).
Hört man in diese Einleitungspassagen hinein, dann wird nicht nur deutlich, dass in der Auseinandersetzung mit der Barth’schen Theologie Paul Althaus zu einer präziseren Ortsbestimmung und Relativierung seiner Theologie des Volkes gekommen ist, sondern es wird auch spürbar, dass er in der Auseinandersetzung mit den Thüringer DC gegen jede Verabsolutierung einer Volkstheologie sensibilisiert wurde und z. B. sehr viel zurückhaltender von der spezifischen Sendung eines Volkes zu reden gelernt hat, da die „Gefahr der Übersteigerung“ nahe läge (S. 11). Das rechte theologische Reden vom Volk, das in den folgenden Passagen ausführlich dargelegt wird, ist verglichen mit den Ausführungen auf dem Königsberger Kirchentag und den Reden 1933/ 1934 sehr viel differenzierter. So fällt z. B. auf, dass er Völker zwar als Geschöpf, als Gesetz unseres Lebens bezeichnet, aber die Welt der Völker zugleich als Schöpfung und Sünde definiert. Auch wendet er sich dezidiert „gegen jeden Absolutismus in der Lehre vom Volke und von der völkischen Bindung“. Man dürfe „nicht alles, was wir zu tun haben, aus dem völkischen 292
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Imperativ ableiten oder ihm unterordnen“. Auch müsse man fragen, „ob alles, was heute Volk sein möchte und sich als solches gegen andere abgrenzt, wirklich ein Volk ist und sein kann … Jedes „Volk“ Gottes Geschöpf ? Ist nicht dieses oder jenes ein sehr künstliches und fragliches Menschengemächte? Das alles verbietet uns jeden Absolutismus in der Lehre vom Volk und von der völkischen Bindung.“ (S. 8). Die hier angesprochenen Grenzen dürfen nach Althaus jedoch nicht dazu benutzt werden, den „Ernst unserer Bindung als von Gott geschehen aufzulösen. Nur Gottes Freiheit, sein lebendiges Schaffen in der Geschichte, begrenzt unsere völkische Bindung (…) die Verantwortung für unser Volk.“ Wer diesen Text aufmerksam liest und die Zwischentöne wahrnimmt, der spürt neben allem Festhalten an der „Volkstheologie“ die unüberhörbar artikulierte Opposition gegen rein völkisches Denken und gegen die Aufwertung des Volkes zum allerletzten Wert. Theologisch endet für Althaus das Wort vom Volke „nur als Wort über Volk und Kirche“ (S. 17). An der Kirche liege es, ob im Volk neue Furcht Gottes wächst oder nicht. Sie solle vom Dienst an ihrem Volk und seiner Glaubensnot nicht ablassen von der ganzen Wahrheit, womit implizit die theologischen Grenzen der Volksverpflichtung ausgedrückt sind. Althaus hofft, dass die Kirche ein Auge bekäme „für die Glaubensnot der Jugend, der deutschen Mannschaft (…) an der die Kirche ihr Teil Schuld habe.“ Er appelliert an seine Hörer, die Leipziger Theologiestudenten: „daß wir Brüder würden unserer Brüder, auch im Durchleben der Not des Zweifels, im lebendigen Ringen mit den Geistern der Zeit um neue Gewißheit des Glaubens (…) vielleicht schenkt es Gott dann noch einmal, daß das ganze Volk aufs Neue die Stimme des Zeugnisses hört.“ (S. 18). So abstrakt die Formel vom Ringen mit den Geistern der Zeit klingt, für den Kontext im Frühjahr 1937 war klar, dass hier der Kampf gegen die radikale DC und die Ideologie Rosenbergs gemeint war, auch wenn im ganzen Vortrag das Wort Nationalsozialismus oder Deutsche Christen nicht fällt. Eine aktuelle politische Botschaft mit ihrer erkennbaren Skepsis gegenüber dem NS-Staat wird auch deutlich in dem Vortrag16, den Althaus auf der Jahrestagung des Evangelischen Bundes am 4. 9. 1937 unter dem Thema „Verantwortung und Schuld der Kirche“ ebenfalls in Leipzig hielt. Veranstalter war – kirchenpolitisch durchaus beachtenswert – der Evangelische Bund. Dieser war 1886 nach Abschluss des Kirchenkampfes als Vereinigung zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen gegenüber dem römischen Katholizismus gegründet. Er hatte sich Anfang der 30-er Jahre unter seinem aktuellen Vorsitzenden, dem jungen Kirchenhistoriker Heinrich Bornkamm, in Anknüpfung seiner antirömischen Tradition zum völkischen Aufbruch und zum NS-Staat bekannt. Bornkamm war 1933/34 kurzzeitig Mitglied bei den DC und in der SA gewesen, seit dem gleichen Zeitpunkt war er langfristig als Mitglied im NS-Lehrerbund/NS-Dozentenbund registriert. Jedoch galt er in 16 P.A., 1937 (3).
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der Wahrnehmung des NS-Dozentenbundes als „politisch sehr undurchsichtig“ und auch als „Sympathisant der BK“.17 Althaus und Bornkamm kannten und schätzten sich. Das ist auch dem Briefwechsel zu entnehmen, den sie vor dem Vortrag führten. Sie diskutierten über die Formulierung des Themas, zu dem Bornkamm gute Vorschläge machte, und stellten in der Sache ihre Übereinstimmung fest. Bornkamm betonte seine Bemühungen, den Evangelischen Bund zu einem brauchbaren Organ in der deutschen Öffentlichkeit zu machen, er solle ein Repräsentant evangelischen Wollens werden und ein „Mittleramt zwischen Kirche und Volk“ wahrnehmen. Aus dieser Perspektive war Bornkamm die Mitwirkung von Althaus sehr wichtig. Sie trafen sich ganz offensichtlich in dem Bemühen, in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus die Verantwortung der Kirche für die Nation – durchaus auch selbstkritisch – zu bezeugen. In seinem Vortrag sprach Althaus über die ökumenische, die missionarische und die politische Verantwortung der Kirche. Der Tradition des Evangelischen Bundes entsprechend ging er zunächst auf das Verhältnis der protestantischen Kirche zum Katholizismus ein. In der notwendigen Auseinandersetzung müsse sich im Ruf zur Einheit der Kirche, zur einen Kirche Christi jeder an der Wahrheit ausrichten, wie sie sich ihm in der Lehre seiner Kirche stelle. Er müsse lebendig fragen und sich fragen lassen. Die Kirchen sollten durch und durch ökumenisch sein. Gegen die „deutschkirchlichen Tendenzen“ der DC setzte Althaus die These, nicht die Trennung in Konfessionen zerreiße das Volk, sondern die Trennung von Christen und Nicht-Christen. Bei der missionarischen Verantwortung gehe es darum, dass es bei der Verkündigung der evangelischen Kirche wirklich zu einer Begegnung mit unserem Volke komme. Die Fragen nach dem Heil stellen sich in jeder Zeit neu, würden von Gott gestellt und erfordern eine „hörende Kirche“. In diesem Postulat spürt man eine immanente Kritik an Karl Barth, aber Althaus fügte an, dass sich im Hören auf die Zeit, die Gefahr ergäbe, das Wort an die Zeit zu verraten. Von dieser Position aus polemisierte er gegen die deutsch-christliche Theologie, insbesondere gegen ihre negative Einschätzung des Alten Testamentes. Demgegenüber betonte er die Notwendigkeit einer ringenden Predigt, die von den Fragen der Zeit ausgehend, diese aufnehmend, Antwort aus der Botschaft der Bibel suche, wobei klar sei, dass diese Botschaft allen Völkern gelte. In seinem Ferientagebuch vom Sommer 1937 hatte Althaus – wohl in Gedanken bei der Vorbereitung dieses Vortrages – nach den Tagebucheinträgen auf einer Extraseite notiert: „Jesus aller Welt Heiland, nicht nur eines Volkes, einer Rasse – denn er wird von allen verworfen.“18 17 Besier (2001), S. 181, 958 und 1073. 18 Althaus verabschiedete sich mit dieser Formulierung in nuce von der Vorstellung der besonderen Schuld des Volkes Israel am Tode Jesu, die er in seinem Römerbriefkommentar gleichzeitig noch vertrat und erst in der 10. Auflage 1966 entscheidend korrigierte. Vgl. oben S. 208 f. und unten S. 375.
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Bei der politischen Verantwortung der Kirche wandte er sich zunächst gegen aktive und passive Politisierung der Kirche, die „ihrem Wesen nach weder Träger noch Ort politischer Maßnahmen sein kann“ (S. 11). Voraussetzung seiner Rede „von der politischen Verantwortung der Kirche“ sei, „daß die Kirche wirklich Kirche bleibt, also nicht eine nationale politische Religion zu vertreten oder die religiöse Verklärung für politisches Geschehen oder Gestalten zu bieten hat, sondern Gottes Willen an alle Völker in Gesetz und Evangelium verkündigt“. Staat und Kirche hätten gemeinsam die Verantwortung, dass das „Volk, Gottes Geschöpf, am Leben bleibe, solange Gott ihm das Leben schenkt.“ (S. 13). In dieser Verantwortung habe die Kirche in den Weimarer Jahren, „in der Zeit des politischen Kampfes mit dem Bolschewismus (…) unbeirrt gekämpft gegen den Geist der Auflösung aller Bindungen“. Darum bekenne die Kirche auch heute, dass „ihre von Gott gegebene Verantwortung“ sie in „den Kampf gegen Bolschewismus, gegen das schauerliche Gift der Zerstörung aller würdigen Ordnung, aller Menschlichkeit hineinweist (…), indem sie sich dazu bekennt, darf und muß sie dann freilich auch die Politiker erinnern, daß, wer die Kirche stärkt, die Front gegen die Zersetzung und Zerstörung der Völker stärkt; das umgekehrt, wo man den christlichen Geist im Volksleben lähmt und mattsetzt, der innerste Geist gegen den Bolschewismus zerbricht“. Darum hofft Althaus darauf, dass „die politische Welt (…) ein neues Auge gewinne für die politische Bedeutung der Kirche Jesu Christi in unserem Volk.“ (S. 13 f.)
Die plakative Betonung der politischen Verantwortung der Kirche für das Volk, in dem sie lebt, und zum „Kampf gegen den Bolschewismus“ wird zugleich als Bekenntnis der Kampfgemeinschaft mit dem Staat des NS formuliert. Darin lässt sich die „Zeitgebundenheit“ dieses Textes überdeutlich fassen. Die Lehre vom Volk entfaltet hier ihre problematischen Konsequenzen und macht ihre Verwendung zum Nachweis für die politische Anfälligkeit von Paul Althaus zum Nationalsozialismus möglich. Dennoch ist, wenn man die Zwischentöne hört, unübersehbar, wie das Bekenntnis zur Kirche und die Forderung nach der Freiheit ihrer Botschaft – auch im Zusammenhang einer in sich problematischen Lehre vom Volk – zugleich kritische Potentiale enthält, die gehört werden müssen. Das gilt umso mehr, weil indirekte Argumentationen zum Stil der Rede unter der Herrschaft des Nationalsozialismus gehörten und die Redner sich weithin darauf verlassen konnten, dass ihre Hörer diese Zwischentöne registrierten. Die Zeitgebundenheit dieses Textes gilt es darum, in beide Richtungen zu lesen und zu gewichten. Sie ist nicht nur zeitgebunden in ihrer Abhängigkeit von den herrschenden politischen Stimmungen und Begriffen, sondern auch programmatisch zeitgebunden in dem Bemühen, ein konkretes, kritisches Wort der freien Kirche Christi an die Zeit zu richten. Eine Fassette dieses kritischen Potentials wird im Übrigen auch darin fassbar, dass Landesbischof Wurm in dem Bemühen, den „positiv christli295
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chen“ Reichskirchenminister Kerrl gegen die Partei-Ideologen zu stärken, mit Schreiben vom 25. 1. 1938 Althaus empfahl, seinen Aufsatz dem Reichskirchenminister „mit einigen freundlichen Begleitworten“ zuzusenden. Der Aufsatz falle „vielleicht auf empfänglichen Boden bei dem Minister. Auch Bodelschwingh habe sich erst in den letzten Tagen geäußert, ,man solle den Draht zu Kerrl nicht abreißen lassen.‘“ (NLA K 11b). So illusorisch diese Hoffnungen auf Kerrl auch waren – Kerrl hatte kaum noch Einfluss auf Hitlers Kirchenpolitik –, für die Interpretation des Vortrages von Althaus beim Evangelischen Bund ist dieser Vorschlag Wurms beachtenswert. Er reflektiert die für die Akteure in der Kirche offene und schwer durchschaubare politische Situation der Jahreswende 1937/38. Der Vortrag von Althaus ordnet sich von daher in eine durchaus beachtenswerte Kirchenkampfperspektive ein. Will man das Denken des Theologen Paul Althaus und seine Wirkung in Wissenschaft und Kirche in den 30-er Jahren erfassen, dann gilt es noch auf seine streng theologisch wissenschaftliche Arbeit unter dem Thema „Paulus und Luther über den Menschen“ hinzuweisen. Die 107 Seiten umfassende Broschüre erschien als Heft 14 der „Studien der Lutherakademie“ bereits zum Jahresbeginn 1938.19 Althaus setzte sich in dieser Schrift ausführlich mit der durchaus kontroversen Forschung zum Menschenbild von Luther und Paulus auseinander. Er gab in der Anthropologie eher Paulus Recht, während er bei der „Frage nach dem Christenleben“ erst bei Luther „den vollen Ausdruck der Wahrheit“ fand. Besonders intensiv war seine Diskussion mit der Lutherkritik seines verehrten Lehrers Adolf Schlatter.20 Es würde zu weit führen, die Thesen dieses Buches und ihre theologische Relevanz näher zu erläutern, aber es ist nicht zufällig, dass sich in der Korrespondenz von Althaus viele interessante, in Zustimmung und Kritik ernsthafte Kommentare finden, z. B. Briefe von Emil Brunner (28.3.38, NLA K 10) wie auch von Rudolf Bultmann (Briefe vom 18.7.32 und 21.5.39)21 Dass die Schrift 1951 in erweiterter Auflage neu erschien, belegt ihr grundsätzliches Gewicht. Für die aktuelle theologie- und kirchenpolitische Situation von 1938 ist allerdings noch auf folgenden Aspekt hinzuweisen: erfasst man, dass Althaus in diesem Buch Paulus und Luther – trotz gezeigter Differenzen – als die entscheidenden „Häupter“ der lutherischen Kirche bekräftigte, dann lag darin zugleich eine eindeutige Abwehr jeglicher „deutschen Theologie“, die Jesus germanisierte und Luther nur als „Deutschen“ gelten ließ, während sie in 19 P.A., 1938. Aus der Bibliothek meines Vaters besitze ich ein Exemplar mit seinem Namenszeichen und dem Zusatz: „Februar 38“. 20 Mit Schreiben vom 1. 2. 1938 bedankte sich Schlatter für das Buch und verband diesen Dank mit seinen besten Geburtstagsgrüßen für Paul Althaus. Vorausgegangen war in den dreißiger Jahren im Schriftwechsel zwischen Schlatter und Althaus mehrmals ein Ansprechen ihrer Differenzen in der Lutherinterpretation, die Althaus zunächst zögern ließen, sie in Respekt vor seinem Lehrer öffentlich auszusprechen. 21 Die Bultmann-Briefe sind jetzt auch abgedruckt in: M. Dreher und G. Jasper (Hg.), 2012.
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Paulus das Haupt der jüdischen Vereinnahmung des Jesus von Nazareth erkannte. Althaus hatte sich mit diesen Thesen immer wieder kritisch auseinander gesetzt. So hatte er schon am 16. 12. 1934 einleitend in einer Predigt gegen Rosenberg protestiert und für Paulus votiert, der die „reine Lehre Jesu“ eben nicht „verdorben, verjudet“ habe. Ähnlich wandte er sich in der Predigt vom 10. 3. 1935 gegen die Vorwürfe der DC, Paulus sei „Verfälscher des Evangeliums“. In die gleiche Richtung zielte seine Predigt vom 25. 4. 1937.22 Wenn man diese Zusammenhänge sieht, ist sein theologisches Buch über Paulus und Luther im aktuellen Erscheinungsjahr 1938 durchaus eine politische Botschaft über die in den Paulus-Briefen unverkürzt verkündete christliche Wahrheit. Das wissenschaftliche Werk ist in dieser Perspektive ein politisches Dokument für den Theologieprofessor Paul Althaus als Streiter für die ganze christliche Wahrheit und als Mitkämpfer in der BK.
8.2 Zwischen Kritik und Zustimmung – Die Wahrnehmung der Politik in Hitlers Deutschland durch Paul Althaus in 1935 – 1939 Die Stellungnahmen von Paul Althaus zum Dritten Reich, zur Politik Hitlers und der NSDAP erscheinen fast ausschließlich als innerkirchliche und innertheologische Aussagen, als Kampf um die Reinheit und Freiheit der kirchlichen Verkündigung gegen die unkirchliche NS-Rassetheorie la Rosenberg und gegen die DC, gegen ihre Versuche der innerkirchlichen Machtergreifung und der Indienstnahme der Kirche für den NS-Staat. Zu konkreten politischen Aktionen der Regierung Hitlers, zu ihrer Rechts- und Sozialpolitik, zur Gleichschaltung der Länder, zu den antisemitischen Aktionen von Staat und Partei hören wir in den Vorträgen und Aufsätzen von Althaus, lesen wir in seiner wissenschaftlichen Korrespondenz mit Kollegen – soweit sie überliefert ist – fast gar nichts. Gleichwohl ist es wichtig, auch die persönliche Wahrnehmung der Politik zu ergründen und darzustellen, soweit es die Quellenlage zulässt. Tatsächlich finden sich zu diesen Fragen eher nur Randbemerkungen, vor allem in den Familienbriefen und Tagebüchern sowie in der Personalakte. Gleichwohl erlauben sie doch inhaltliche Aussagen über die Wahrnehmung der allgemeinen Politik im Dritten Reich durch Paul Althaus. Im Sommer 1935 musste sich Althaus dem Rektor der Universität gegenüber verteidigen, weil diesem ein Bericht zugegangen war, Althaus hätte erklärt, er werde nie die Parteiveranstaltung auf dem Hesselberg besuchen und auch das Abzeichen nicht kaufen.23 Die Hesselberg-Kundgebungen waren eine 22 Vgl. die Abdrucke dieser Predigten in P.A.. 1937 (1), S. 133 und S. 24 sowie P.A., 1940, S. 30. 23 Universitätsarchiv FAU, Personalakte Althaus, 1. Band.
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besonders bedeutende regionale Veranstaltung, die der Bezirk Nürnberg und Mittelfranken der NSDAP durchführte. Ähnliche kritische Töne gegen die Partei finden sich immer wieder in den persönlichen Briefen und Tagebüchern sowie in einzelnen Briefwechseln mit Kollegen, aber auch, wenn man aufmerksam liest, in seinen kirchenpolitischen Aufsätzen. Das Pendant zu dieser Kritik ist jedoch oft das Vertrauen auf das nie offiziell widerrufene mehrfache Bekenntnis Hitlers zum positiven Christentum aus dem Jahr 1933. Dabei steckt speziell in diesen Bekundungen von Althaus nicht nur allzu naives Vertrauen in den Führer und den Staat im Gegensatz zur Partei, sondern sie sind zugleich immer auch als ein Versuch zu lesen, die Regierung auf dieses Bekenntnis festzulegen und die eigene Kirchenpolitik zu legitimieren. Eine solche den Vorwurf der Führergläubigkeit relativierende Sicht wird bestätigt durch manche kurze Bemerkung in den Briefen an seine Mutter. Er schickte ihr mit Brief vom 16. 8. 1935 seinen gerade in der AELKZ erschienenen programmatischen Aufsatz über Kirche und Staat und fragte, ob sie diese Ausführungen für zu optimistisch halte: „Wenn man an das tatsächliche Verhalten der unteren Organe denkt, kann man meinen Vortrag als unmöglichen Optimismus auffassen. Er soll aber ein Versuch eines letzten Wortes an den Staat sein, das ihm das rechte Verhältnis zeigt. … Die deutsche Glaubensbewegung … erreicht alles durch die Jugend- usw. -Organisationen. Das wird für unsere Kirche noch schwere Kämpfe geben. Und doch dürfen wir nicht resignieren, sondern müssen um ein positives Verhältnis von Kirche und Staat ringen, das viele entscheidende Männer des Staates im Ernste wollen.“ (NLA K 4)
Die politischen Dimensionen dieser Ausführung von Althaus werden noch deutlicher, wenn man einige Bemerkungen mit bedenkt, die er am 23. 11. 1935 seiner Mutter berichtete: „Ingeborg hat mit ihrem einen Lehrer und in ihrer Klasse schwere Kämpfe um das Christentum. An sich ist das alles nicht schlimmer als zu meiner Knabenzeit. Damals waren die jungen Leute gänzlich gleichgültig, heute sind sie feindselig. Wer weiß, was besser ist?“
Die Parallele, die Althaus hier zwischen seinen Schülererfahrungen um die Jahrhundertwende und denen seiner Tochter zog, waren in der Sicht der Zeitgenossen zunächst einmal plausibel und passten zu der skeptischen Bemerkung in der Postkarte vom 16. 8. 1933 über das „Verhalten der unteren Organe“. Es fehlte die Erfahrung der Dynamik der Etablierung der NS-Herrschaft, die gerade auf dem Durcheinander der Kompetenzen des weitgehend unkoordinierten und unkontrollierten Mit- und Gegeneinanders von Staatsbehörden und Parteiinstanzen beruhte und den Staat eben nicht mehr als über der Partei stehend agieren ließ. Hinzukam die Monopolisierung der öffentlichen Meinungsbildung durch weitgehende Beherrschung der Presse und vor allem des neuen Mediums des Rundfunks. Die Skepsis gegen die Tendenzen 298
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im Staat ist bei Paul Althaus zwar unüberhörbar, aber seine vertrauensvolle Hoffnung auf die Sachlichkeit und Christlichkeit des obrigkeitlichen deutschen Führerstaates stand erst noch vor komplizierten Lernprozessen. Noch sah er sich in dieser Hoffnung bestärkt durch die richtigen Intentionen, die „viele entscheidende Männer des Staates“ hätten. Die Polykratie des NS-Systems – so kann man abgekürzt formulieren – erschwerte die Bestimmung des Punktes des hic et nunc. Aus dem Briefwechsel mit seiner Mutter ließen sich noch viele weitere Beispiele anfügen, aus denen sich die Sorgen von Paul Althaus und seine Kritik an der Politik ablesen lassen. Theologisch interpretierte er diese kritischen Vorgänge als Elemente der menschlich – allzu menschlichen Seite auch des Staates, der „Sündenseite“, der ansonsten als „Schöpfungsordnung“ anzuerkennenden Obrigkeit, die man zwar kritisieren, aber gleichwohl hinzunehmen habe, da auch diese negativen Erscheinungen zum selbst verantworteten Bereich der Obrigkeit gehörten. Andererseits fehlte auch nicht die ausdrückliche Kritik am Staat, z. B. an dem gesetzlich verordneten Antisemitismus. Am 22. 9. 1935 schreibt Althaus seiner Mutter : „Nürnberg brachte doch viel Schreckliches. Unsere stolze Fahne!! Damit gewinnt man nicht.“ „Nürnberg“ – so muss man diese Passage lesen – steht hier für die wenige Tage zuvor, beim Nürnberger Parteitag am 15. 9. 1935, verabschiedeten antisemitischen „Nürnberger Gesetze“ mit ihrer systematischen Entrechtung der deutschen Juden aus rassischen Gründen. Sein Entsetzen über diese Gesetze ist hier deutlich zu spüren. Aber noch ist für ihn wohl unbestritten, dass der Staat auch die Kompetenz zu solchen Gesetzen habe. Die Erkenntnis, dass es „gesetzliches Unrecht“ geben könne – um eine berühmte Formulierung Gustav Radbruchs von 1948 (!) aufzugreifen –, war erst noch zu lernen. Den kurzen Satz „Nürnberg brachte doch viel Schmerzliches“ als Kritik an den Nürnberger Gesetzen zu lesen, wird im Übrigen gestützt durch die kritisch notierten Erlebnisse im Sommerurlaub des Jahres 193224, die Paul Althaus offensichtlich gegen den gewalttätigen Antisemitismus der Nationalsozialisten sensibilisiert hatten. In die gleiche Richtung zielte eine Notiz von Frau Althaus aus dem Jahre 1933: „So sehr wir eine Rettung unseres Volkes aus der großen Not ersehnten, standen wir Hitler immer noch kritisch gegenüber. Besonders die Behandlung der Judenfrage machte uns den Weg zu der großen Bewegung schwer.“25 Gerade weil seine Frau – offenkundig voller Hoffnung – sich auf den „Weg zu der großen Bewegung“ machte, ist ihre kritische Bemerkung zur Judenfrage, die die gemeinsamen Erlebnisse des Ehepaars Althaus anlässlich des gewalttätigen Judenboykottes im Frühjahr 1933 und der Entlassungen von Juden aus dem Staatsdienst reflektierten, besonders bedeutsam. 24 Vgl. oben S. 215. 25 Aus dem Leben unserer Kinder II.
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Einer eher beiläufigen Bemerkung in seinem Tagebuch über die Frühjahrsferien 1934 lässt sich weiterhin entnehmen, dass die Judenverfolgung von Paul Althaus kritisch registriert wurde. Wir lesen hier unter dem 16. 4. 1934: „Schlafwagen nach München. Viele jüdische Auswanderer im Zug, der Bahnsteig voll von Angehörigen.“ Die Tatsache, dass dieses Erleben im Tagebuch festgehalten wurde, ist im Kontext der Grundhaltung von Paul Althaus meines Erachtens eindeutig dahin zu interpretieren, dass er innerlich schmerzlich von diesem Erlebnis berührt war. Der kritische Unterton ist unüberhörbar, zumal er der Existenz des „Gastvolkes“ der Juden im deutschen Volk eine wichtige kirchliche und nationale Funktion zuschrieb. All diese Notizen aus den Jahren 1932 bis 1934 darf man zur Fundierung der Interpretation der kurzen Bemerkung von Paul Althaus zu Nürnberg 1935 heranziehen. Trotz seiner negativen Einschätzung des „jüdischen Einflusses“, seines sozio-kulturellen Antisemitismus26 missbilligte Paul Althaus den gewalttätigen Judenhass der NSDAP und die Tendenz zur Ausgliederung, Vertreibung und „Endlösung“, weil er die Anwesenheit des Juden in Deutschland immer bejahte, ihr eine heilsame Funktion zuwies und zudem die Möglichkeit, dass aus Juden gute Christen und Deutsche werden könnten, von seinem nicht rassistisch determinierten Volksbegriff her ausdrücklich zuließ und in seinem persönlichen Umfeld erlebte. Äußerte sich Paul Althaus zur Innenpolitik im Dritten Reich immer wieder voller Kritik und Skepsis, so waren die Töne zur Außenpolitik eher euphorisch und voller Zustimmung. Sehr deutlich spürt man hier sein Versailles-Trauma, das ihn veranlasste und verführte, Hitlers Außenpolitik allein als Revisionspolitik und Wiedergutmachung des Unrechtes von Versailles misszuverstehen. Als Hitler 1936 unter klarem Bruch des Versailler Vertrages und des Locarno-Vertrages die entmilitarisierten Zonen westlich des Rheins durch die Wehrmacht besetzen ließ und diesen Schritt mit einer großen außenpolitischen Rede begleitete, kommentierte Althaus seiner Mutter gegenüber : „Was sagst Du zu Hitlers Schritt? Das ist doch etwas wirklich Großes, das vieles andere vergessen lässt. Ich habe die Rede hier im Radio gehört.“ (Brief vom 12. 3. 1936). Hitler nutzte diese Stimmung und ließ noch im März 1936 Reichstagswahlen gekoppelt mit einem Plebiszit durchführen. Die Ergebnisse – so kommentierte Althaus in einem Brief an seine Mutter am 28.3.36 – seien „selbstverständlich, aber so mancher innerpolitische Schmerz wird dabei übertäubt.“ Hier deutet sich zwar eine gewisse Ambivalenz an – er schreibt eben nicht „ausgeräumt“ –, aber die Zustimmung zur „Anti-Versailles-Politik“ – so missverstand Althaus – wie viele seiner Zeitgenossen – die expansionistische Kriegspolitik Hitlers – war faktisch uneingeschränkt. Durch die Nachgiebigkeit der britischen Appeasement-Politik gegenüber Hitler fühlte man sich in dieser Auffassung bestärkt und bestätigt, zumal man sie auch als Schuldeingeständnis einer Siegermacht von Versailles interpre26 Vgl. oben S. 184 ff. und 236 ff.
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tieren konnte. Wenn mein verehrter akademischer Lehrer Hans Rothfels, der Promotor der Zeitgeschichte in der Bundesrepublik, in seiner Vorlesung über „Internationale Politik in der Zwischenkriegszeit“ im Wintersemester 1955/56 die britische Appeasement-Politik als Folge des „Mea-Culpismus“, also der Einsicht in die Ungerechtigkeiten des Deutschland aufgezwungenen Versailler Vertrages, interpretierte, dann darf man diese Begrifflichkeit aus den fünfziger Jahren, die heute wohl kein Historiker mehr verwendet, als ein eindrucksvolles Indiz für die „Realität“ und „Legitimität“ des Versailles-Traumas der damaligen Zeitgenossen deuten. Hans Rothfels entstammte im Übrigen dem gleichen Jahrgang wie Paul Althaus, war als Offizier im Ersten Weltkrieg schwer verwundet und vertrat in den 20-er und frühen 30-er Jahren bis zu seiner aus „rassischen Gründen“ erzwungenen Emigration eine preußischorientierte konservative Geschichtsauffassung. Er legte viel beachtete Studien über die Nationalitätenprobleme in den ostmitteleuropäischen multinationalen Staatsgebieten vor, einem Problemfeld, dem auch Paul Althaus in seiner Lodzer-Zeit intensiv begegnet war und das sein Volksverständnis tiefgreifend geprägt hatte. Der Hinweis auf den „zeitgeschichtlichen Begriff“ des „Mea-Culpismus“ mag in der Biografie eines Theologen abwegig erscheinen. Er ist hier aber bewusst eingefügt, um die weite Verbreitung und Verankerung der politischen Vorstellungen vom „Unrecht von Versailles“ zu belegen. Zugleich muss man bewusst halten, welche Missbrauchsmöglichkeiten sich Hitler eröffneten. Er spielte auf der Klaviatur einer Anti-Versailles-Politik, um seine über alle Revisionen hinausgehende rassistische Eroberungspolitik zur Raumgewinnung im Osten und zur Errichtung der Herrschaft der germanischen Rasse zu verschleiern. Die Relevanz des Versailles-Traumas für die Zustimmung zu Hitlers Außenpolitik wird in der Korrespondenz zwischen Paul Althaus und seiner Mutter auch noch an weiteren typischen Daten deutlich fassbar. 1938 bejubelt er die „Rückkehr Österreichs ins Reich“. In seiner Predigt am Palmsonntag, an dem auch die Volksabstimmung zum Anschluss stattfand, wertete er das „Ja“, „das wir heute [bei der Volksabstimmung] aussprechen (…) [als] Ja tiefen Dankes für das, was Gott der Herr an unserem Volke durch den Führer wunderbar getan hat: Heimkehr der abgetrennten Brüder in das gemeinsame Vaterhaus!“27 Auch hier ist das Versailles-Trauma der Wortführer des Predigers, denn 1919 untersagten die Siegermächte den von „Restösterreich“ damals schon beschlossenen Anschluss. Einschränkend betonte Paul Althaus in seiner Predigt, dass der großdeutsche Sonntag und Palmsonntag deshalb zusammen passten, weil Deutschland und das Kreuz zusammen gehören. Es gelte darum, dem deutschen Volk seine christlichen Grundlagen bewusst zu halten. 27 Die Predigt ist abgedruckt in: P.A., 1940, S. 174.
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Diese Predigt ist hier zitiert, weil sie abgesehen von ihrer eigentlichen Verkündigungsbotschaft ein weiteres eindeutiges Dokument der Zustimmung zur Außenpolitik Hitlers ist, soweit diese als Revision der Ungerechtigkeiten von Versailles erlebt wurde. Ganz in diesem Sinne finden wir Ende September 1938 große Zustimmung und Erleichterung nach der Münchener Konferenz, die die Zerteilung der Tschechoslowakei durch die Abtretung der Sudetengebiete an das Reich brachte. Seiner auf Kur weilenden Frau schrieb Paul Althaus am 30. September : „Nun ist heute morgen die große befreiende Nachricht gekommen von der Einigung in München. Es hat mich tief bewegt, zumal mir gestern und zum Teil diese Nacht die Spannung schwer in den Gliedern lag. Wir müssen Gott auf den Knien danken.“ In dem folgenden Brief vom 3. Oktober lesen wir „von der befreienden Nachricht, vom Wunder des Friedens des 30.9. … Strathmann ist von der Größe der geschichtlichen Stunde und auch der Größe des Führers sehr hingenommen … Menschlich gesprochen dürfen Du und ich jetzt ohne Krieg (ich meine Völkerkrieg) unseren Lebensrest hinbringen.“ In dieser Aussage drückt sich sehr plastisch die Überzeugung aus, dass nach der gelungenen Abschüttelung der Deutschland auferlegten Rüstungsbeschränkungen 1935, der „Heimkehr Österreichs“ und der nunmehr erfolgten Eingliederung der Sudetengebiete die wesentlichen Punkte des „Unrechts von Versailles“ revidiert seien, so dass nunmehr – so meinte und hoffte Paul Althaus – für ein friedliches Nebeneinander der Völker in Europa das Fundament gelegt wäre. Dass die Revisionspolitik des Versailler Vertrages für Paul Althaus immer friedlich gedacht war, belegt im Übrigen ein Zeitungsaufsatz von ihm in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 6. 2. 1938 über „Friedenswille und Gottesfurcht.“ Anlass war der 50. Jahrestag der berühmten Bismarck-Rede zum Wehretat von 1888 unter dem Motto: „Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt.“ Die Besonderheit dieser Rede sah Althaus in der einzigartigen Verbindung von „nationalem Selbst- und Machtbewusstsein mit klarem Friedenswillen“. „Das Bewusstsein unserer Stärke stimmt uns friedfertig.“ Nur für die Verteidigung fordere Bismarck die ganze Volkskraft, einen Präventiv- oder Angriffskrieg habe er abgelehnt, zumal für ihn das Wort gegolten habe: „Die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben lässt.“ Man wird diesen Zeitungsartikel als Dokument der politischen Wunschvorstellungen von Paul Althaus über die friedliche Revisionspolitik lesen dürfen, die sich auf die bisherigen Erfolge der Hitlerschen Außenpolitik glaubte stützen zu können. Diese realitätsblinde, allzu optimistisch gutgläubige und Hitlers Expansionspolitik verkennende Interpretation der politischen Vorgänge des Herbstes 1938 ist im Frühjahr 1939 nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Prag und der Errichtung des „Protektorates Böhmen und Mähren“ nicht mehr zu spüren. Mit „Revision von Versailles“ ließen sich diese Aktionen nicht rechtfertigen. Paul Althaus kommentierte sie darum eher beunruhigt: „Die Führerrede macht durch gereizten Ton nervös“, schrieb er am 4. 2. 1939 seiner 302
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Mutter. Diese Rede bezog sich noch auf das Vorfeld des Einmarsches in Prag. Als dieser vollzogen war, kommentiert Althaus unsicher : „Die großen politischen Ereignisse beschäftigen uns sehr, obgleich ich sie noch nicht voll durchschaue.“ (Brief vom 15. 3. 1939). Eher selbst beruhigend – wider besseres Fühlen? – schreibt er dann am 15. 7. 1939: „Ich glaube nicht an einen nahen Krieg“. Sogar noch am 21. 8. 1939, also neun Tage vor Kriegsbeginn, bestätigt er diese Zuversicht: „An unmittelbare Kriegsgefahr glaube ich nicht, bin gewiss, dass der Führer keinen Weltkrieg will.“ Die Unterstellung, dass Hitler nur die Revision der Versailler Ungerechtigkeiten wolle, war die Grundlage für diese zuversichtliche Hoffnung, die wohl zur Beruhigung der Mutter gedacht und formuliert wurde – ob auch zur Beruhigung der eigenen Befürchtungen, bleibe hier dahingestellt. Sie offenbaren ein Wunschdenken, dessen Instrumentalisierbarkeit – von Hitler ausgenutzt – fatale Folgen hatte. Die Vergeblichkeit der Hoffnungen von Paul Althaus und ihre Irrealität erwiesen sich mit dem Kriegsbeginn am 1. September 1939. Jetzt stellten sich ganz neue Herausforderungen für das nationale und politische Denken und Fühlen, aber auch für das theologische und seelsorgerliche Handeln des patriotischen Erlanger Professors und Predigers, was in dem folgenden Abschnitt darzustellen ist.
8.3 Das Hören auf den verborgenen Gott – der Prediger, Seelsorger und Professor im Zweiten Weltkrieg Wenn der Untertitel der hier vorgelegten Biographie ankündigt, Paul Althaus als Professor, Prediger und Patrioten „in seiner Zeit“ betrachten zu wollen, dann gilt es, sich immer wieder der Doppeldeutigkeit dieser Formulierung bewusst zu werden. Zeitgebundenheit heißt natürlich die Abhängigkeit von den konkreten Lebensumständen, der familiären Herkunft und der beruflichen Erfahrungswelt sowie der epochen- oder jahrgangsspezifischen Prägungen. Aber Zeitgebundenheit war zumindest für den Theologieprofessor und vor allem für den Prediger Paul Althaus zugleich ein normatives Gebot. Es galt, das Wort der christlichen Botschaft an die konkrete Zeit zu richten, auf ihre Probleme einzugehen, die Hörer der Predigt gleichsam bei ihren aktuellen Fragen abzuholen, ihnen Antworten anzubieten und im Glauben weiterzuhelfen. Dass sich ein Theologe, der Gott als Herrn der Geschichte begriff und erfahren zu haben glaubte, gerade in den Jahren der Krise und Not besonders zu solchem „Dienst an der Zeit“ gefordert fühlte, ist naheliegend. Es macht außerdem verständlich, dass in solchen Phasen der allgemeinen Bedrängnis das Predigtamt für Paul Althaus gegenüber dem Professorenamt höhere Priorität gewann. Das konnte man schon 1931/32 besonders deutlich in sei303
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nem Brief an Karl Barth ablesen28. Noch eindeutiger ist diese Schwerpunktverschiebung während der Jahre des Zweiten Weltkrieges zu registrieren. Die krisengeprägte Orientierung auf Seelsorge und Predigtdienst, die die wissenschaftliche Arbeit zwar keineswegs aufgibt, aber nicht in den Vordergrund treten lässt, wäre in den ersten Tagen des 2. Weltkrieges sogar beinahe endgültig geworden. Anfang September 1939 erreichte Paul Althaus aus Sachsen die Anfrage, ob er bereit sei, in der sächsischen Landeskirche das Amt des Landesbischofs zu übernehmen. Schon nach dem Tod von Landesbischof Ihmels hatte man 1933 Althaus diese Frage gestellt. Durch die „Machtergreifung“ der DC in der sächsischen Landeskirche nach Neuwahl der Synode und der folgenden Installierung des DC-Bischofs Coch hatte sich die Angelegenheit jedoch rasch erledigt. Im August/September 1939 gab es offensichtlich eine neue Situation. Man hoffte, dass der kirchlich zwar kaltgestellte, aber formal im Amt belassene DC-Landesbischof Coch aus dem Amt entfernt würde. Darum wollten gerade die kirchlich orientierten Kreise unter Einschluss der BK einen Nachfolger präsentieren. Man fragte deshalb Paul Althaus, ob er zur Übernahme des Bischofsamtes in Sachsen bereit wäre.29 In einem Brief vom 9. 9. 1939 hatte Martin Doerne – inzwischen Ordinarius an der Leipziger Theologischen Fakultät – seinem Freund und Kollegen Paul Althaus den Besuch von zwei Abgesandten der sächsischen Kirche angekündigt. Man werde ihm das Bischofsamt in Sachsen antragen. Doerne appellierte: „Hören Sie den Ruf als Notruf einer schwerkranken, der Hilfe aufs Höchste bedürftigen Kirche […]. Sie werden nirgends so nötig gebraucht wie in Sachsen.“ Nach dem Besuch der beiden Abgesandten berichtete Althaus am 14. 9. 1939 an Doerne: „Daß jetzt überhaupt ein solcher Ruf kommt, ist mir, der ich in voriger Woche unter der Schreibtisch-Existenz litt, eine klare und neuerliche Fügung. Ich nehme den Ruf und Ihren Brief sehr ernst und habe grundsätzliche Bereitschaft ausgesprochen.“ Dass Althaus hier –inhaltlich ähnlich wie bei seiner Verlobung 191730 – den in der pietistischen Erweckungsbewegung viel gebrauchten Begriff „Fügung“ verwendet, verdient besondere Beachtung.31 In dieser Wortwahl wird deutlich, dass Althaus sich in zentralen Lebensentscheidungen als von Gott persönlich „geführt“ begriff.
28 Vgl. oben Seite 211 f. 29 Vgl. zum Folgenden den Briefwechsel Doerne – Althaus vom September/Oktober 1939 (NLA K10). 30 Vgl. oben S. 83 f. 31 Die Konkretheit der Vorstellungen über die Fügungen Gottes, die in der Erweckungsbewegung gängig waren, wird in einer Anekdote zur Bundespräsidentenwahl von Gustav Heinemann, der der rheinischen Erweckungsbewegung sich verbunden wusste, deutlich. Als er endlich im dritten Wahlgang gewählt worden war, kommentierte eine Diakonisse aus dem Kaiserswerther Mutterhaus, das aus der rheinischen Erweckungsbewegung hervorgegangen war, nachdem sie die Wahl am Rundfunk verfolgt hatte,: „Heute Nachmittag war der liebe Gott die ganze Zeit am Fügen dran“.
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Nicht die eigene „Karriereplanung“ spielte eine Rolle, sondern die „Fügungen“ Gottes waren es, die als Ruf gehört werden wollten. Am 19. 9. 1939 signalisierte Doerne seine große Dankbarkeit für die Zusage und diskutierte mögliche Mitarbeiter. Doch schon am 23. 9. 1939 berichtete Althaus dann aufgrund seiner neueren Kontakte mit den offiziellen Gesprächspartnern aus der sächsischen Kirche, dass die Dinge inzwischen „schwieriger und für den Augenblick aussichtsloser geworden“ seien und er einen „vorläufigen Strich unter das Kapitel“ ziehen müsse. Als Erfahrung bleibe jedoch, das „beglückende (gewiss auch belastende) Vertrauen in diesen zwei Wochen aus Sachsen zu spüren“. Offensichtlich scheiterte der Versuch, eine Neuwahl des sächsischen Landesbischofs durchzusetzen. Coch blieb bis zum Kriegsende im Amt. Paul Althaus kehrte auch mental in sein Erlanger Arbeitsfeld mit all seinen überörtlichen Aktivitäten zurück und nahm wohl auch diese Entwicklung als „Fügung“ an. Am 31. Oktober 1939 kommentierte er in einem Brief an Doerne: „Daß der Ruf nach Sachsen schon wie ein fernes Ereignis hinter mir liegt, ist mir oft seltsam. Er hat mich damals stark bewegt, und ich hatte mich hier schon innerlich gelöst.“ Sowohl die Frage an Althaus als auch seine grundsätzliche Zustimmung sind von besonderem Interesse. Sie verraten einmal mehr, dass in den kirchlich verantwortlichen Kreisen der Theologieprofessor Althaus als ein Mann der Kirche, und zwar der „echten und bekennenden“ Kirche, wahrgenommen wurde. Die Bereitschaft, dem Ruf ins kirchliche Amt zu folgen, belegt zudem – gerade in der Notzeit des beginnenden Krieges –, dass für Althaus jetzt das Amt des Predigers und Seelsorgers mehr Gewicht erhielt als das des Professors. Auch deswegen war es geboten, die bislang unbekannten Bemühungen im Zusammenhang der intendierten Bischofswahl in Sachsen hier zu berichten. Die konkreten Wahlanfragen aus Mecklenburg 1930, die Erwägungen in Bayern 1929 und die mehrfachen Diskussionen in Sachsen belegen einmal mehr das kirchliche Ansehen von Paul Althaus. Zudem unterstreicht seine Bereitschaft zum Wechsel in den kirchlichen Dienst, dass er den Kriegsbeginn 1939 als Krisenzeit begriff, in der die Kirche besonders gefordert war. Allerdings gab es bei Althaus auch Töne – insbesondere in den ersten Kriegsmonaten –, die den Krieg zu rechtfertigen schienen. In dem Brief an Doerne mit der Zusage zur Bischofskandidatur lesen wir : „Einige Schmerzen und Unklarheiten über die politische Entwicklung der letzten Augusttage bin ich noch nicht losgeworden. Aber die Erkenntnis, daß (gleichviel was in den letzten August-Tagen geschehen oder nicht geschehen ist) die Züchtigung und Begrenzung Polens auf alle Fälle kommen mußte, läßt mich auch politisch = menschlich den Krieg bejahen. Wir sind natürlich in steter Spannung dadurch, dass unser Sohn an der Front steht.“ Die Sorgen und Unsicherheiten sind bei aller Zustimmung zum Krieg nicht zu überhören. Kriegsbegeisterung wie im August 1914 ist nicht zu spüren. Seine noch am 21. 8. 1939 artikulierte Überzeugung, „daß der Führer keinen Weltkrieg will“, resultierte wohl aus der 305
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Hoffnung, dass Hitler mit diplomatischem Druck einen Ausgleich mit Polen – Danzig, allgemeine Grenzfragen – nach dem Muster der Münchner Konferenz erzwingen wollte. In diese Interpretation würde sich die Formulierung von der „notwendigen Züchtigung und Begrenzung Polens“ durchaus einordnen lassen. Züchtigung und Begrenzung ist nicht Vernichtung, zumal Althaus ja schon 1923 die legitimen Interessen Polens grundsätzlich anerkannt hatte. Es ging also um Revision des Versailler Vertrages, Korrektur der Grenzen zwischen Deutschland und Polen. So interpretierte er dann auch den Beginn des Krieges. Seine Predigten während und kurz nach dem Ende des Frankreichfeldzuges bestätigen diese revisionspolitische Interpretation noch einmal ausdrücklich. Am 22. 5. 1940 gab der Prediger Althaus auf der Leipziger Missionskonferenz seiner politischen Stimmung Ausdruck, indem er fragte: „Wer mag ermessen und heute schon sagen, worauf Gott hinaus will? Wir Deutschen meinen, bei aller Scheu seines Geheimnisses, so viel zu sehen: das Ringen geht zunächst um die Sühne und den völligen Abbau des frevelhaften Werkes von Versailles, das heißt aber : um besseren Frieden, um Entgiftung, um gesündere Ordnung der Welt. So möchten wir diese gewaltige Stunde verstehen. Wir möchten Gottes Willen gehorchen. Wir wissen ihn am Werke, durch die Menschen hindurch, trotz und über den Dämonen. Er hat das Spiel in Händen. Daher halten wir den Atem an und erleben diese Tage in Ehrfurcht.“32
Wie die Unterschrift unter die Kriegsschuldlüge in den Augen von Paul Althaus der Weimarer Republik ihre Legitimation geraubt hatte, so fand Adolf Hitler Zustimmung, weil er glauben ließ, es gehe nicht um rassistisch-totalitäre Weltherrschaft, sondern allein um die Revision des Unrechtes von Versailles, worin der Prediger Althaus am 22. 5. 1940 – Hitler völlig falsch einschätzend – immer noch einen Kampf „um besseren Frieden, um Entgiftung, um gesündere Ordnung der Welt“ erhoffen wollte. Noch vertraute er – so scheint es – auf „unsere deutsche Art“, die „den Zynismus“ brutaler Friedensdiktate nicht aufgebracht hätte, wie er das schon in seinem Brief am 1. 12. 1918 formuliert hatte.33 Zwar relativierte Althaus sofort diese euphorische Aussage: Gottes Wollen und Wirken gehe nicht in der Völkergeschichte auf, denn diese Geschichte sei zwar „gewaltig und groß“, aber zugleich „schrecklich und furchtbar“ und werfe die „uralte, ungelöste und doch brennende Frage“ auf, „was will Gott mit dieser Geschichte?“ Die theologisch dann in der Predigt explizierte Antwort hieß, dass Gott „noch eine ganz andere Geschichte“ walte und sein eigentliches Wirken darauf ziele, dass „sein Reich komme […] in die Herzen, in die Völker […]“. Damit traf der Prediger seine spezielle Gemeinde: die Leipziger Mission, in deren Dienst einst sein Onkel nach Ostafrika gegangen war. 32 P.A., 1940, 1, S. 358 f. 33 Vgl. oben S. 90.
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Am 16. 6. 1940 – nach dem faktischen Ende des siegreichen FrankreichFeldzuges – lesen wir in einer Predigt im Erlanger Universitätsgottesdienst: „Deutsche Truppen in CompiÀgne, wo der Hochmut der Sieger unsere Unterhändler demütigte, deutsche Truppen nun in Versailles, wo der frevelhafte Übermut des Friedensdiktates seine Orgien feierte – was heißt denn das alles? Hält Gott nicht Gericht? Nimmt er nicht Rache, auch wenn wir und unser Führer das gar nicht gewollt haben? Laßt uns Gott fürchten und vor ihm anbeten! Sein majestätischer Wille ist am Werke.“34
Trotz aller Siegesfreude stellte Paul Althaus auch hier fest: „Der Plan, nach dem er [Gott] sie [die Völker] ruft, […] wir kennen seinen Willen nicht.“ Beide Zitate entstammen den Einleitungspassagen der Predigten. In ihnen holte Althaus die Gemeinde gleichsam in ihren – von ihm oft geteilten – aktuellen Stimmungen – im Vorhof – ab, um dann im Hauptteil der Predigt das eigentliche Verkündigungsthema aufzugreifen. In seiner Predigtlehre hieß das: vom Leben zum Text.35 Dieses Prinzip barg gewiss die Gefahr, dass die Gemeinde diese Einleitungspassagen als Inhalt und nicht als Hinführung zur eigentlichen Botschaft der Predigt missverstand. Dem aufmerksamen Hörer blieb allerdings besonders bei der Predigt vom 22. 6. 1940 der Kern dieser Botschaft nicht verborgen. Althaus widmete diese Predigt dem Thema: „Dein Wille geschehe“. Die Gemeinde hörte mit besonderer Aufmerksamkeit und Konzentration zu, weil allen bewusst war, dass sechs Wochen zuvor der älteste Sohn von Paul Althaus am 12. 5. 1940 in den ersten Tagen des Frankreich-Feldzuges gefallen war, was Althaus erst am 23. Mai erfahren hatte.36 Die oben zitierte Leipziger Predigt war da schon gehalten. Die Passagen über den „völligen Abbau des frevelhaften Werkes von Versailles“ und das „Ringen um besseren Frieden, um Entgiftung, um gesündere Ordnung der Welt“ lassen sich in der Perspektive des Kriegstodes seines Sohnes auch als Versuch interpretieren, diesem Tod einen positiven Sinn zu geben. Tatsächlich finden wir in einer späteren Bemerkung von Paul Althaus eine Bestätigung für diesen Interpretationszusammenhang. Anlässlich der vielen Grausamkeiten des Russland-Feldzuges lesen wir in einem Brief an seine Mutter : „Wie hätte August Wilhelm mit seinem feinen Herzen sich in dieser Zeit gegrämt und auch um uns gesorgt, wie schwer wäre all das Unrecht, das geschieht, gerade für ihn gewesen.“ (Brief vom 28. 6. 1943). Schon am 1. 1. 1942 hatte Althaus in einem Brief an Martin Doerne denselben Zusammenhang angesprochen: „Der Ostfeldzug blieb ihm erspart“. Aus diesen Formulierungen spricht die grundsätzliche Wandlung in der 34 P.A., 1940, 1, S. 368 ff. 35 Vgl. dazu oben S. 105 ff. 36 Dorothea Petersen berichtet in ihrer Familiengeschichte eindrucksvoll von diesem überfüllten Gottesdienst.
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Einschätzung des aktuellen Krieges bei Paul Althaus. Polen- und Frankreichfeldzug glaubte er als Aktionen zur Revision von Versailles interpretieren zu können. In seiner Kriegstheologie mochten sie darum als „gerechtfertigt“ erscheinen. Der Tod von August Wilhelm war damit ein Opfer im Zusammenhang eines „gerechtfertigten“ Krieges, einer vaterländischen Aktion, die in den Augen von Althaus einen gerechten Frieden heraufführen sollte. Die von Althaus mit Entsetzen registrierte Fortführung des Krieges durch Hitler verwandelte auch nach seinem theologischen Verständnis den Charakter dieses Krieges, der seine innere Rechtfertigung verlor. Schon im November 1940 schrieb er an Doerne: „Das Schwerste heute ist der Druck der Zeit.“ Damit spielte er offensichtlich nicht nur auf die Kriegssituation an, sondern meinte auch die Euthanasieaktivitäten, was aus einer Erwähnung der Opposition Bodelschwinghs zu erschließen ist. Im März 1941 – noch vor Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion – kritisierte er in einem Brief an seine Mutter (8. 3. 1941) die zerstörerische Politik in Frankreich: „Und wir wollen Europa neu ordnen?!! Wir säen überall Hass. […] Diese törichte Politik, die wir dort machen, zerstört alle anfängliche Begeisterung.“ Ein „Ende des Krieges“ sei nicht abzusehen (2. 5. 1941). Er registrierte auch, dass die Stimmung im Volk „überhaupt nicht gut“ ist. Zu den ersten großen Erfolgen im Russlandfeldzug des Sommers 1941 kommentierte er sehr ernst: „Was nützen die grandiosen militärischen Siege, wenn wir sonst auf dem falschen Wege sind“, zumal die Opfer entsetzlich seien. Im November berichtete er seiner Mutter über Kontakte mit dem Bertelsmann-Verlag, die ihm Einblick verschafften in die amtlichen Versuche, „das christliche Schrifttum auf die Dauer zu töten […] das wird nicht gut gehen. Wie der ganze Krieg nicht […] Es ruht auf diesem Krieg kein Segen.“ (24. 11. 1941).37 In die gleiche skeptisch-kritische Richtung zielten viele weitere Bemerkungen in den folgenden Briefen. Im Kontext der Bombenangriffe auf deutsche Städte kommentierte er im Februar 1943: „Aber Gott, der uns jetzt so schwer heimsucht und den Übermut unserer führenden Schicht so deutlich rächt, wird uns auch im Dunkel seine Hilfe erfahren lassen.“ Mit diesem ebenso nüchtern kritischen Blick in die dunkle Wirklichkeit wie trostvollem Vertrauen auf Gott grüßte er seine Mutter zu ihrem 87. Geburtstag (Brief vom 8. 2. 1943). Im Sommer 1943 erfuhr diese kritische Sicht auf den Krieg, den HitlerDeutschland führte, eine weitere Vertiefung. In seinen Ferien am Tegernsee übte er nebenamtlich die Funktion des Ferienseelsorgers in Bad Wiessee aus. Sonntags predigte er, gleichzeitig stand er für Kasualien zur Verfügung und 37 Ein halbes Jahr nach Kriegsende formulierte Althaus diese schon im Krieg erworbene Einsicht in einer Predigt vom 14. 10. 1945: „Die Millionen toter deutscher Soldaten – wo ist der Sinn dieses grausigen Blutopfers? Sie haben sterben wollen für das Vaterland, und in der ersten Zeit haben wir auch geglaubt, dass sie für das Vaterland gefallen sind, und haben es in den Todesanzeigen gesagt. Aber je länger desto mehr mussten wir uns fragen: sind sie wirklich für Deutschland gefallen und nicht viel mehr im Dienst eines verbrecherischen Wahnsinns.“ P.A., 1946 (1), S. 272.
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führte seelsorgerliche Gespräche. In seinem Ferientagebuch lesen wir unter dem Datum vom 28. 8. 1943 über ein solches Gespräch: „Nachher ich mit Feldwebel Ackermann am Strand. Er erzählte Schauerliches von unserer Behandlung der Juden usw. im Osten … Abends brachte er uns Butter, Eier, Milch.“ (NLA K 7). Offensichtlich war der Feldwebel dankbar, dass er die große Last seiner Kriegserlebnisse hatte vertrauensvoll teilen können, ohne negative Folgen befürchten zu müssen. Solche hatte man damals eigentlich immer zu bedenken, weil man nie sicher sein konnte, ob das Berichtete nicht an die Gestapo weitergemeldet würde. Das zwang dann zu einsamem Tragen der großen Last. Umso größer war offensichtlich die Dankbarkeit des Feldwebels, dass er in Paul Althaus einen so trostreichen Seelsorger gefunden hatte, dem er vertrauensvoll sein Herz ausschütten konnte und der die negative Bewertung der ihn drückenden Erlebnisse teilte. Althaus selbst war über die Details des Berichtes auf Äußerste bestürzt. Dem damals achtjährige Sohn Gerhard, der an diesem Wochenende bei den Eltern im Urlaubsquartier weilte, ist es bis heute unvergessen, wie sein Vater in höchster Erregung von dem Gespräch heimgekommen sei und seiner Frau berichtete: „Ich habe soeben Entsetzliches erfahren. Wir haben im Osten ’Lager’ errichtet und töten massenweise Menschen, vor allem Juden. Wir müssen diesen Krieg verlieren; denn wir haben eine so entsetzliche BlutSchuld an den Juden.“38 Das Gespräch mit Feldwebel Ackermann ist von doppeltem Interesse. Es offenbart am Beispiel Althaus, wie die Kenntnisse der NS-Verbrechen schon während des Krieges weiter verbreitet waren als spätere Schutzbehauptungen – die Althaus nie vertrat – nahe legen wollten. Für Althaus selber wurde die hier sich kumulierende Erkenntnis vom Wesen des Zweiten Weltkrieges nach 1945 zum Anlass, seine in den 20-er Jahren entwickelte und bis in die späten 30-er Jahre festgehaltene „Kriegstheologie“, seine problematische Lehre vom „gerechtfertigten“ Krieg aufzugeben und zu einer eindeutig theologischen Position zum Krieg zu finden, gleichsam zu Luther zurückzukehren.39 Im Krieg – aber auch schon in den Jahren zuvor – spürte man in seinen Predigten seine Skepsis und seine verdeckte Kritik, so dass seine Hörer – geschult, auf Zwischentöne zu achten – den Atem anhielten, weil sie fürchteten, der Prediger Paul Althaus rede sich „um Kopf und Kragen“.40 Seinen 38 Mündlicher Bericht von Gerhard Althaus dem Verfasser gegenüber. 39 Vgl. unten S. 358 f. 40 So im mündlichen Bericht dem Verfasser gegenüber der aus einer konfessionsverschiedenen Ehe stammende, sehr ökumenisch ausgerichtete Bamberger Domkapitular Prälat Dr. Gerhard Boss, der als junger Mann in den 30ger und 40ger Jahren wiederholt dem Prediger Paul Althaus in der Neustädter (Universitäts)-Kirche zugehört hatte. Schon am 17. 2. 1994 hatte Boss in einem Leserbrief in den Erlanger Nachrichten geschrieben: er könne sich an Predigten vor dem Krieg erinnern, in denen Althaus „mit seiner Kritik an den damaligen ,Göttern‘ und ihrer Ideologie bis an die äußerste Grenze dessen ging, was man damals öffentlich sagen konnte, ohne gleich
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Studenten gegenüber war er noch deutlicher. Eine Studentin, die im SS 1944 und WS 1944/45 bei ihm hörte, berichtete 1947: „Die Schuld, die an den Juden begangen wurde, stellte er klar heraus und verurteilte diese Maßnahmen scharf als völlig unmenschlich, unchristlich.“41 Die Kirchenfeindlichkeit der NS-Weltanschauungsdiktatur wurde für den Prediger Althaus greifbar, als durch offiziellen Beschluss des Staates das Amt des Universitätspredigers in Erlangen 1940 abgeschafft wurde. Althaus ließ sich dadurch nicht beeinflussen, denn faktisch bedeutete die staatliche Maßnahme nur, dass die nebenamtliche Vergütung für den Universitätsprediger aus dem Universitätshaushalt gestrichen wurde und der universitätsrechtlich ableitbare Anspruch der Universitätsangehörigen auf den Dienst des Universitätspredigers bei Taufe, Hochzeit oder Beerdigung nicht mehr bestand. Seinen Predigtdienst in der Neustädter (Universitäts-)Kirche setzte Paul Althaus im Einvernehmen mit der Neustädter Kirchengemeinde unvermindert fort. Nach wie vor fand er großes und sich steigerndes Echo. Immer wieder lesen wir in den Briefen an seine Mutter – gleichsam in Nebenbemerkungen – auch die Besucherzahlen: „Am 1. Advent war 1100 in der Kirche“ (20. 12. 1940); „Predigt vor 1000 Menschen […] Es kommt für die Kirche eine innerlich große Zeit“ (8. 2. 1943); „Gestern Kirche überfüllt, 1350 Leute“ (15. 3. 1943). Ähnliche Zahlen hatte er nur während der Krise 1932/33 und in den Zeiten des Kirchenkampfes 1936 berichtet. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung mit den Deutschen Christen bemerkte er am 25. 11. 1933 seiner Mutter gegenüber : „Predigt vor 1900 bis 2000 Menschen, viel Zustimmung von allen Kollegen.“ Das war die höchste Zahl, die er von Erlanger Gottesdiensten erwähnte, und stand für eine Ausnahmesituation. Der hohe Besuch in den Kriegsjahren – tendenziell zunehmend mit der Dauer des Krieges – ist gewiss auch ein Hinweis auf das große Echo, das der Prediger Althaus in dieser Zeit fand. Seine Predigten vermittelten keinen Kriegsoptimismus. Am 1. Weihnachtstag 1943 sagte er : „In dieser Weltgeschichte entlädt sich auch der dunkle Hass der Rassen und Völker gegeneinander, die leidenschaftliche Gier nach Macht und Reichtum. Das alles kennt keine Rücksicht und kein Gebot. Die Mitmenschlichkeit wird begraben […] Die Marschmusiken können nicht übertönen die Todesschreie der Zertretenen und Gemordeten.“42
Am Karfreitag 1944 lesen wir : verhaftet und ins KZ eingeliefert zu werden … Wir von der damals in Erlangen illegal arbeitenden katholischen Jugend waren jedenfalls sehr dankbar für diese tapfere Haltung. Die Predigten haben auch uns ermutigt.“ 41 Stellungnahmen zur Rehabilitierung der Professoren Althaus und Strathmann im Zusammenhang mit der Entnazifizierung 1947, S. 29. Broschüre im Nachlass Strathmann K 9. 42 P.A., 1946, S. 140 f.
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„Wir erleben ja heute eine Menschheitskatastrophe ohne gleichen. Die Völker, so können wir sagen, kreuzigen einander […] Haben wir wirklich recht, wenn wir zweifelnd oder aufbrausend fragen: Schweigt denn Gott? Spüren wir denn nicht, dass er furchtbar gewaltig redet? Das geht durch die Herzen der Menschen immer deutlicher, und wenn wir heute davon schweigen würden, würden die Steine schreien, die Steine der zerstörten Städte.“43
Gewiss sprechen diese Predigten nicht von der spezifisch deutschen Schuld, die in den persönlichen Briefen an seine Mutter so unverhohlen dokumentiert wurde. Aber in der überwachten öffentlichen Predigt musste man sich abstrakterer Formen bedienen. Schon die allgemeine Rede vom „Hass der Rassen und Völker“, die sich einander „kreuzigen“, wurde von seinen Hörern richtig verstanden. Sie begriffen sehr schnell, dass hier auch oder sogar vor allem der Hass des eigenen Volkes kritisiert wurde. Die eigentliche Botschaft der Predigten galt immer dem einzelnen Christen und seinem Glauben. Das war schon an der eindrucksvollen Predigt über „Dein Wille geschehe“ nach dem Kriegstod seines Sohnes deutlich geworden. Zwar sprach er hier nicht von seinem persönlichen Verlust, aber seine Hörer konnten spüren, wie die zentrale Botschaft dieser Predigt durch das persönliche Erleben des Predigers ihre besondere Tiefe und Wirkkraft erhielt. Gottes Wille – so lautete die eigentliche Botschaft – „meint dich und mich“, aber seine Liebe zwingt mich nicht, sie erwartet allenfalls das Opfer völligen Vertrauens, so dass voller Inbrunst und Hoffnung gebetet werden könne: „Dein Wille geschehe“. Die Wirkung dieser Predigt war bei der Gemeinde sehr groß. Sie erschien auch noch 1940 im Druck, als Heft 24 und in der Sammlung „Der Herr der Kirche“ Band 2, der die Hefte 13 – 24 mit Predigten von Paul Althaus seit 1937 enthielt. Außerdem veröffentlichte Bertelsmann diese Predigt noch als Separatdruck für 10 Pfennig. Insgesamt erlebte sie eine Auflage von 20.000 Stück. Der Verlag teilte Anfang Januar 1941 mit, dass 17.000 Exemplare bereits verkauft seien. Faktisch brach dann aber der Druck der Predigten von Paul Althaus zusammen. Der Verlag erhielt dafür kein Papier bewilligt. Nur noch das Heft 25 der Predigtreihe erschien, allerdings verzögert erst 1941, obwohl es einen Vortrag enthielt, den Paul Althaus schon am 21./22. Juni 1940 unter dem Thema „Unser Christenglauben und das Sterben“ in Hof gehalten hatte. Zeitlich und auch thematisch gehörte dieser Vortrag in das unmittelbare Umfeld seiner Predigt über „Dein Wille geschehe“. Der Kriegstod seines Sohnes August Wilhelm bildete den gemeinsamen Hintergrund. Seiner Mutter schrieb er in diesen Tagen: „Die Arbeit ist Hilfe in diesen schweren Wochen“. Damit deutete er an, dass sowohl die Predigt vom 16. Juni als auch der Vortrag vom 21./22. Juni sein Versuch war, das schwere Schicksal des Verlustes seines Sohnes zu verarbeiten. Wie die Predigt vom 16. Juni, so löste auch der Vortrag 43 Ebd., S. 149 ff.
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ein großes Echo aus. Offensichtlich spürten die Hörer die persönliche Betroffenheit des Redners, was dem Vortrag eine eindrucksvolle Authentizität verschaffte.44 Da der Druck sich verzögerte und nur in beschränkter Auflage – 3000 Stück – möglich wurde, hielt Paul Althaus diesen Vortrag in ganz Deutschland und fand jeweils ein großes Publikum: „Meine große Sorge um den neuen Ausverkauf der deutschen christlichen Substanz kann ja niemand überhören, auch wenn ich kein Wort ausdrücklich davon sage“, so berichtet er seiner Mutter am 20. 12. 1940 nach seinem Vortrag in Berlin, den er jetzt schon in sieben Städten gehalten habe, u. a. Ende Oktober in Bielefeld und im November in München. Bis ins Frühjahr 1942 lesen wir in den Briefen an die Mutter immer wieder, wo er den Vortrag gehalten habe. Am 8. 2. 1941 schickt er ihr die Druckfassung mit der Bemerkung, zum Hören sei der Vortrag besser als zum Lesen. Das Echo auf das Gehörte sei „allenthalben sehr stark“. Im Oktober 1941 hält er den Vortrag in Hannover, im November in Wuppertal, Dresden und Stuttgart, dort „vor 1200 Menschen“. Im März 1942 spricht er auch in Erlangen (Briefe an die Mutter vom 20.6. und 2. 11. 1940, 8.2., 18.10., 1.11., 24. 11. 1941, 11. 3. 1942). Der Vortrag handelt vom Sterben-Müssen und wie die Christen damit umgehen sollen. Ausführlich setzt sich Althaus mit naturalistischen und idealistischen Vorstellungen zum Sterben auseinander, denen er letztlich eine Verdrängung der ganzen Wirklichkeit des Todes vorhält. Das Christentum dagegen lehre, sich der vollen Wirklichkeit des Todes, dem „Ausgang ins Nichts“ zu stellen, wir werden „uns selber ganz genommen“. Gegen alle Vorstellungen von der Unsterblichkeit der Seele betont Althaus die unteilbare „leiblich-seelisch-geistige Ganzheit des Menschen und das Ende des ganzen Menschen im Tod“, in dem wir „Gottes Nein zu uns, wie wir sind“ hören. Aber Gott rufe uns heraus „aus wirklichem Tode, das heißt aus der Entmächtigung und Entselbstung des ganzen Menschen“ (S. 18). Der Osterglaube des Christen weiß, dass „Gott uns auch dann hält und nicht in das Nichts fallen lässt. Aber eben Er hält uns, nicht mehr wir selbst.“ (S. 17). Es kann hier nicht der Ort sein, die theologischen Implikationen dieser Schrift weiter darzulegen. Im Nachlass findet sich dazu ein durchaus interessanter Briefwechsel mit einem Pfarrer, in dem es vor allem um den Zeitpunkt der Wiederauferstehung geht, wobei Althaus unter Verweis auf die letzte Auflage seiner Eschatologie die Auferstehung der Toten nicht endzeitlich dachte: „Unsere Lieben sind in Gottes Hand zum Leben aus wirklichem Tode. Das Wann und Wie lange sind sekundäre Fragen.“ (Brief von P.A. an Pfarrer Zoller vom 25. 10. 1941, NLA K 11b). So allgemein der theologische Gedankengang ist, man spürt immer das persönliche Betroffensein des Autors durch 44 Walter Grießhammer, ein Theologiestudent, berichtete seinen Eltern über diesen Vortrag, den er am 27. 11. 1940 gehört hatte: „Althaus merkte man seine Leidenserfahrung an“. Die Kenntnis dieses Briefes und einer Korrespondenz zwischen Walter Grießhammer und Paul Althaus verdanke ich seinem Neffen, Herrn Albrecht Grießhammer, Feucht.
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den Kriegstod des eigenen Sohnes, den er als geborgen in Gottes gnädiger Hand dachte. Da viele seiner Hörer ähnliche Verluste zu verarbeiten hatten, wird das Echo auf diesen Vortrag verständlich. Er traf die Hörer in ihrem Leben. Neben die Predigttätigkeit trat ein ungewöhnlich intensiver brieflicher Kontakt des Theologieprofessors Paul Althaus mit seinen ehemaligen und aktuellen Studenten, die im Kriegsdienst an der Front standen. Dieser Briefwechsel, der offensichtlich entscheidende seelsorgerliche Dimensionen hatte, erreichte eine ungewöhnliche Dichte und stellt ein außerordentlich aussagekräftiges Dokument für die lebendigen Beziehungen und Kontakte zwischen Althaus und seinen Studenten dar. Im Althaus-Nachlass fanden sich ungeordnet mehrere Bündel mit Briefen aus den Fronten des Krieges. Nach ihrer Ordnung stellte sich heraus, dass 792 Briefe von insgesamt 254 Briefschreibern existieren. Bei 50 von ihnen kommt noch eine Todesanzeige, ein Nachruf oder sehr häufig ein Dankbrief der Eltern oder der Ehefrau für das Beileidsschreiben von Althaus hinzu. Die Anzahl der Briefe von einzelnen Schreibern differiert. 24 Briefe vom Juni 1940 bis Juli 1944 existieren von Hans Grass, der 1939 bei Althaus promoviert hatte, später nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft als Assistent bei Althaus habilitierte und nach Dozentenjahren in Erlangen dann Ordinarius in Marburg wurde. 16 Briefe schrieb Johannes Viebig, der später als langjähriger Leiter der Evangelischen Akademie Tutzing und dann als Kreisdekan – heute würde man sagen Regionalbischof – in Nürnberg amtierte. Der Schlesier Viebig war erst zum Sommer 1939 im höheren Semester nach einer Studienzeit in Zürich bei Emil Brunner nach Erlangen gekommen und hatte offensichtlich sofort persönlichen Kontakt zu Althaus gefunden. Anders ist die Intensität seiner Briefe nicht zu erklären. In ihnen dokumentiert sich deutlich die innere und äußere Not des Russland-Krieges, des Winters vor Moskau 1941/42, aber auch das ungestillte theologische Interesse. Da Viebig wie auch Grass sich immer wieder für die Briefe und Karten von Althaus bedanken, wird zugleich deutlich, dass hier ein intensives Zwiegespräch stattfand. Wenn man sich den Umfang des gesamten Brieffundus vor Augen führt, dann wird einem bewusst, über welche außergewöhnlichen Kontakte Althaus zu seinen aktuellen und früheren Studenten verfügte und mit welcher Intensität er diese pflegte. Leider sind faktisch keine Briefe von Althaus an die Front erhalten. Aber wir erfahren aus anderen Quellen, wie ernst er diese lebendigen Beziehungen an die Fronten des Krieges nahm. An seine Mutter schrieb er schon am 25. 11. 1939: „Viel Post erhalte ich aus dem Felde. Ich antworte sofort. Das macht mir besondere Freude.“ Am 3. 1. 1942 lesen wir dann: „Viele Briefe ins Feld waren zu schreiben. Man weiß ja nie, ob sie den Empfänger noch lebendig treffen. Darum eilt man mit der Antwort.“ Danach fügt er noch hinzu: „Je ernster der Krieg wird, desto weniger leicht kann man sich Briefe und Karten nach draußen machen und desto mehr Leute schreiben auch an mich.“ Die Intensität seiner Kontakte wird auch daran deutlich, dass er seiner 313
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Mutter am 4. 2. 1942 schrieb: „Sehr bin ich in Sorge um manche meiner Studenten, von denen ich so lange aus dem Felde keine Nachricht habe.“ Der Umfang dieses Briefwechsels ist ein eindrucksvolles Zeugnis für die Kontaktfähigkeit und das persönliche Verhältnis, das der akademische Lehrer Paul Althaus zu seinen Studenten aufbaute und aktiv pflegte. Dabei ist zugleich die seelsorgerliche Note dieser Briefe deutlich erkennbar. Sie sticht auch aus den Reaktionen bzw. den Fragen seiner Briefpartner hervor. Immer wieder gewinnt man den Eindruck, dass Althaus die Pflege dieses Briefwechsels gleichsam als seinen Lehrauftrag auffasste, nachdem während des Krieges seine aktuellen Studentenzahlen massiv zurückgegangen waren. Aber unverkennbar ist auch seine ungewöhnlich große Fähigkeit zur persönlichen Kontaktaufnahme und Kontaktpflege. Die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, die bei den Theologen stets auch eine seelsorgerliche Komponente hatte, lebte bei ihm in großer Echtheit. Seine stets glaubwürdige Anteilnahme, die für die Empfänger spürbar auch vom Verlust des eigenen Sohnes geprägt war45, seine persönliche Offenheit und Zuwendungsfähigkeit wird in dem Briefwechsel in besonders eindrucksvoller Weise greifbar. Dieses sei an zwei Dokumenten belegt, die durch besondere Zufälle im Nachlass erhalten sind. Das eine ist ein Brief an die Mutter eines früheren Studenten, der am letzten Tag des Krieges ums Leben gekommen war. Er sei hier im Auszug zitiert: „Nicht minder haben Sie mich mit der Zusendung einer der letzten Predigten von Fritz Onnasch herzlich erfreut. Auch ich erhoffte noch viel von ihm. Ich denke mit Wehmut und Dankbarkeit an diesen früh vollendeten Zeugen. In den Jahren des Kirchenkampfes war er noch einmal bei mir in Erlangen – eine unvergessliche Stunde! Es war mir als wenn ein Frontkämpfer mich besuchte. So tief ernst war sein Gesicht geworden. Aber obgleich ich ja unter viel ruhigeren Verhältnissen in der „intakten“ bayerischen Kirche lebte, war die alte Gemeinschaft zwischen uns ohne Vorbehalt von seiner Seite da, – es hat mich sehr bewegt. Er war einer meiner liebsten Schüler und sein früher Tod hat mich schmerzlich getroffen. Wie ein Vermächtnis liest man die Predigt! Haben Sie Dank, dass Sie mich daran teilnehmen lassen!“46
Dieser Brief reflektiert die sehr intensiven Beziehungen zwischen Althaus und seinen Studenten über die Jahre hinweg und ist zugleich ein Dokument des aufrechterhaltenen Kontaktes zwischen einem entschiedenen Aktivisten der Bekennenden Kirche in der zerstörten Landeskirche Pommerns und Althaus, der in den „ruhigeren Verhältnissen in der ,intakten‘ bayerischen Kirche“ lebte. Dass Althaus hier das Wort „intakt“ in Anführungszeichen setzte, verrät 45 Exemplarisch ablesbar in einem Dankbrief der Eltern eines Gefallenen für die teilnehmenden Worte von Paul Althaus – Brief von Gerry und Frieda Schiller vom 4. 2. 1942 und in einer Karte seines Kollegen Erich Seeberg vom 17. 1. 1945: Althaus habe ihm „einen so ungewöhnlich feinfühligen und mitfühlenden Brief“ zum Tod seines Sohnes geschrieben (NLA K 11b). 46 Die Kenntnis dieses Briefauszuges verdanke ich Herrn Pfarrer Friedrich Bartels, Greifswald, der über den BK-Pfarrer Fritz Onnasch, der von 1930 – 1933 in Erlangen Theologie studiert hatte, biographisch arbeitete.
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sein Problembewusstsein und seine Fähigkeit zur Selbstkritik und zur Betonung der Gemeinsamkeit des Kampfes um die echte Kirche im NS-Staat. Das zweite Dokument (NLA K 11a) ist eine sehr persönliche Glückwunschkarte vom 26. 3. 1943 zur Geburt des ersten Kindes, die hier vollständig zitiert sei: „Mein lieber Herr Pfarrer und Oberleutnant Müller! An der glücklichen Geburt von Hans Christian freue ich mich herzlich mit – Welches Glück, daß Sie doch nicht allzu fern von Mutter und Sohn sind und ab und zu hinüberschauen können! Das Wiedersehen mit Ihnen am 31. Oktober war mir eine sehr große Freude. Es macht mich froh, Sie glücklich in Ihrer Ehe zu wissen. Gott schenke uns nur den Frieden, damit Sie wirklich Ihr Haus bauen können. Ich verstehe, wie Sie sich danach sehnen. Als Batterieführer tragen Sie noch größere Verantwortung. Das ist immerhin Inhalt des Lebens und läßt vielleicht das Exil vom eigentlichen Beruf leichter tragen. Aber wir alle blicken mit heißem Verlangen auf den sagenhaften Tag des Friedens. Unsere jungen Studenten sind ja auch in wahrhaft eschatologischer Lage. Sie sind zu 50 % Urlauber, seit 4 Jahren Soldaten. Nun studieren sie bis 15. März, dann geht es wieder hinaus – wohin? Zum Tode? Wir haben 8 bis 10 erste Semester, auch junge Offiziere. Ich halte die Vorlesungen mit Freuden. Auch manchen auswärtigen Vortrag. Es ist für uns Christen jetzt eine große Zeit. Denn wir sind mit unserem Glauben zur Bewährung gefordert. Wie nehmen die Leute jetzt das Wort der Predigt auf ? Wenn uns nur das rechte Wort geschenkt wird! Mein lieber Herr Erwin Müller, es ist mir eine Freude, von Ihnen wieder zu hören. Gern sähe ich Sie als jungen Vater. Das erste Kind im Arm der geliebten Frau sehen dürfen – es ist das schönste irdische Erlebnis. In herzlicher Verbundenheit Ihr P. Althaus“
In dieser Karte offenbart sich der ganze Facettenreichtum des Briefschreibers Paul Althaus, seine persönliche Anteilnahme, aber auch seine Friedenssehnsucht und sein Berufsdenken. Zugleich spürt man in der Schlusspassage die eigenen Erfahrungen des glücklichen Familienvaters. Man fühlt sich an die Briefe an seine Eltern nach der Geburt der Kinder oder an die Tagebuchnotizen über die ersten Lebensabschnitte des jüngsten Sohnes Gerhard erinnert. Die eigenen Erfahrungen geben den Glückwünschen an den jungen Vater ihre so glaubhafte Lebensechtheit. Die Kunst des Briefeschreibens, die die ganze Person Paul Althaus in MitFreude und Mit-Leid stets spüren lässt, ist in diesen beiden Briefen deutlich greifbar und gibt zugleich dem heute kaum vorstellbaren Umfang der Studentenbriefe an Althaus während der Kriegszeit sein besonderes Gewicht, da man unterstellen darf, dass jeder Briefschreiber eine persönliche Antwort erhielt. Die Nöte des Krieges forderten den Seelsorger Paul Althaus zu diesen 315
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Aktivitäten. Die gleiche Motivation ließ den Erlanger Professor den Religionsunterricht erteilen. Seine jüngste Tochter erinnert sich: im Verlauf der ersten Kriegsjahre wurde der Religionsunterricht verboten. Einige Schülerinnen und Schüler wollten auf ihn aber nicht verzichten und baten Althaus um Hilfe. Der erteilte nacheinander zwei Gruppen privat Religionsunterricht am großen Esstisch in seiner Wohnung mit viel Engagement und offensichtlich auch positivem Echo.47 Doch nicht nur die Nöte des Krieges waren es, die den Seelsorger forderten und sein Leben erfüllten. Auch der Wissenschaftler blieb in den Kriegsjahren aktiv. Intensiv arbeitete der Theologieprofessor – seit Kriegsbeginn – an seiner großen Dogmatik. In den Briefen an seine Mutter lesen wir wiederholt, wie er mit der Arbeit beginnt (30.12.39) und wie es weitergeht. Am 7.7.43 berichtete er von erheblichen Fortschritten, aber sicherlich werde der Druck angesichts der Zeitumstände und politischen Lage noch 10 Jahre auf sich warten lassen. Am 20. 9. 1943 teilt er dann der Mutter mit, dass Teil II fertig sei, Teil I aber noch überarbeitet werden müsse. Tatsächlich erschien das große zweibändige Werk mit seinen insgesamt 867 Seiten dann schließlich um die Jahreswende 1947/1948.48 Die Hauptarbeit war ganz offensichtlich in den Jahren 1940 – 1943 geschehen. Im Mai 1941 teilte er seiner Mutter mit, in seinen beiden Vorlesungen habe er 9 bzw. 16 Hörer, im Seminar 10 Teilnehmer. Der bedauerte Rückgang der Studenten wurde offensichtlich in die Konzeption und Ausformulierung seines theologischen Hauptwerkes produktiv umgesetzt. Auf die Bedeutung dieses Werkes ist später – nach seinem endgültigen Erscheinen – einzugehen. Aber es war wichtig, hier darauf hinzuweisen, dass Althaus in den komplizierten und anforderungsreichen Jahren des Krieges die konzentrierte wissenschaftliche Arbeit keineswegs aufgab, sondern mit ihr den Rückgang der Studentenzahlen gleichsam kompensierte. Er arbeitete dabei zugleich „auf Hoffnung“, zumal der Druck dieses Hauptwerkes – wie er selber schrieb – unter den herrschenden politischen Verhältnissen höchst unsicher blieb. Theologische Bücher oder Texte entstanden bei Althaus häufig aus einem Dialog mit Kollegen. Dieses galt in besonderer Weise für seine Aufsätze zur Christologie, die sich aus einem ebenso fruchtbaren wie kontroversen Gespräch mit Rudolf Bultmann in den ersten Kriegsjahren entwickelten. In einem respektvollen, Anerkennung und differenzierende Einwände verbindenden Aufsatz hatte sich Bultmann 1940 intensiv mit der zentralen Schrift von Althaus über Paulus und Luther auseinandergesetzt. Ausdrücklich akzeptierte er Althaus als Lutherforscher. Die danach einsetzende Diskussion zwischen den beiden so konträren, aber eben doch auch im gemeinsamen Fragen und im kirchlichen Einsatz sich verbunden fühlenden Theologen 47 Seine Frau kommentierte in einem Brief an ihre Schwiegermutter vom 2. 4. 1943: [Paul] hat unendlich viel zu tun gehabt diesen Winter durch die Religionsstunden und vielen Feldpostbriefe und schriftstellerische Arbeit und häufigen Vorträge.“ 48 Vgl. P.A., 1947 (1).
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konzentrierte sich auf die zentrale Frage der Christologie. Theologiegeschichtlich ist diese Kontroverse auch deshalb von besonderer Relevanz, weil in ihrem Mittelpunkt ein Aufsatz von Bultmann stand, in dem dieser sein Programm der Entmythologisierung 1942 proklamierte.49 Ausgangspunkt der Diskussion war die fundamentale gemeinsame Kritik von Bultmann und Althaus an der Studie von Emanuel Hirsch über „Die Auferstehungsgeschichten und der christliche Glaube“, die 1940 in Tübingen erschienen war. Althaus hatte seine Kritik an Hirsch in seiner Schrift „Die Wahrheit des kirchlichen Osterglaubens – Einspruch gegen Emanuel Hirsch“ schon 1940 deutlich artikuliert, aber dabei auch in einigen Passagen Rudolf Bultmann kritisiert und in die Nähe von Hirsch gerückt. Er schickte darum Bultmann ein Exemplar. Da Bultmann die Hirsch-Schrift ebenfalls kritisch rezensierte, nahm er die Arbeit von Althaus mit besonderer Aufmerksamkeit wahr. Er fühlte sich offensichtlich missverstanden oder unverstanden und schrieb deshalb am 27. 8. 1940 an Althaus einen ungewöhnlich langen – acht Schreibmaschinenseiten – Brief und sandte ihm eine Kopie des Fahnenabzuges seiner noch nicht erschienenen Hirsch-Rezension. Althaus antwortete darauf mit einem ebenso ausführlichen Brief, zwar diskussionsbereit, aber an seinen Positionen festhaltend. In der zweiten Auflage seiner Anti-HirschSchrift fügte er am Schluss 16 Seiten neuen Textes an, die ausführlich auf Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen ihm und Bultmann eingingen. Außerdem rezensierte er 1942 die Schrift von Bultmann über Offenbarung und Heilsgeschehen, in der Bultmann sein Konzept der „Entmythologisierung“ programmatisch entwickelt hatte. Auf die Details dieser Diskussion braucht an dieser Stelle nicht näher eingegangen zu werden, weil der überaus instruktive Briefwechsel zwischen den beiden konträren Theologen in dieser Angelegenheit und die Rezension von Althaus über Bultmanns Entmythologisierungskonzept jüngst komplett ediert und kommentiert vorgelegt wurden.50 Hier war im Zusammenhang mit der Biographie von Paul Althaus nur auf diesen ebenso unbekannten wie bemerkenswerten wissenschaftlichen Diskurs hinzuweisen. Bei aller Gesprächswilligkeit auf beiden Seiten löste der Diskurs die Kontroversen nicht auf, sondern endete im Festhalten und Präzisieren der gegensätzlichen Positionen. Althaus hielt zeitlebens an der Relevanz der historischen Faktizität des Lebens Jesu und des „leeren Grabes“ als wichtiger Basis für den christlichen Glauben fest, während Bultmann ausschließlich für den Auferstehungsglauben optierte und letztlich den historischen Jesus für irre49 Vgl. R. Bultmann, 1942. 50 Die wesentlichen Texte dieser bisher vielfach unbekannten, intensiven Diskussion liegen – begleitet von einem historisch-politischen und einem theologischen Kommentar – seit 2012 gedruckt vor, sodass an dieser Stelle für die Details auf diese Dokumentation verwiesen werden kann. Vgl. M. Dreher und G. Jasper (Hg.), 2012. Zu den früheren Begegnungen zwischen Bultmann und Althaus vgl. oben S. 157 ff.
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levant erklärte. In späteren Aufsätzen51 hat Althaus an seiner grundsätzlichen Position in der Christologie immer festgehalten und sich dabei gerne auf Ergebnisse neuerer Forschung, vor allem des Bultmann-Schülers Günther Bornkamm berufen. Gleichzeitig hat er aber stets auch die Relevanz der Bultmannschen Position betont. Von jeder „Verteufelung“ und apodiktischen Verurteilung Bultmanns hielt sich Althaus immer fern – durchaus im Gegensatz zu seinem Erlanger Kollegen Walter Künneth. Auch die Verurteilung der Bultmannschen Entmythologisierungstheologie durch die Synode der VELKD im Jahre 1952 trug er nicht mit.52 Grundlage für diese konstruktive Haltung bei Althaus war die Überzeugung, dass der Ansatz von Bultmann wichtige Aspekte hervorhebe und in einem tiefen Glauben Bultmanns verankert sei. Außerdem lernte Althaus zeitlebens nicht aus. Sein Sohn berichtete dem Autor über ein Gespräch aus den 60-er Jahren, in dem sein Vater darauf hinwies, entscheidend sei nicht, was geschehen sei, sondern als was es geglaubt würde. Aus dieser Lernbereitschaft folgte für Althaus die Anerkennung der besonderen Bedeutung und Produktivität von Methode und Ansatz von Bultmanns Theologie. Die bruchlose Kontinuität dieser theologischen Diskussion über 1945 hinweg, die hier nur kurz vorgreifend erwähnt wurde, belegt zugleich, wie konzentriert und von den Kriegsereignissen unabhängig das Gespräch zwischen Bultmann und Althaus geführt wurde. Vielleicht könnte man etwas überspitzt formulieren, der in allen theologischen Fakultäten massive Rückgang der Studentenzahlen und die prekäre Stellung der Kirche unter dem NSSystem in den Kriegsjahren veranlasste gerade die NS-kritischen Professoren zu Konzentration auf und Diskussion über zentrale und zeitunabhängige Grundsatzfragen. Auch darin reflektierte sich die konkrete Zeit.
51 P.A., 1958, (2) und 1960. 52 Zu den Details dieser polemischen Auseinandersetzungen vgl. K. Hammann, 2009, S. 424 ff und ferner den Kommentar von Alf Christophersen, der Bultmann-Aufsatz von 1941, insbesondere aber sein Nachdruck 1948 hätte eine „scharfe, von persönlichen Anfeindungen begleitete Debatte“ provoziert, die, wie ein Rückblick zeige, „eher von mangelndem Verständniswillen und -vermögen seiner Gegner lebte als von konstruktiver Sachkritik“. A. Christophersen, 2005, S. 199. Für das Klima dieser „Verteufelung“ Bultmanns mag folgender Witz bezeichnend sein, der dem Autor als Betheler Pastorensohn aus seiner Schulzeit – Ende der 40er/frühe 50-er Jahre – noch geläufig ist: Ein Pfarrersehepaar sitzt mit Gästen an einem trüben Novembertag beim spätnachmittäglichen Tee. Plötzlich fällt der Strom aus, es wird dunkel. Da tönt aus der Zimmerecke mit gruseliger Stimme der dort spielende dreijährige Sohn: „Hu hu, der Bultmann kommt“.
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9. Paul Althaus in der frühen Nachkriegszeit 1945 – 1948 Die letzten Kriegsmonate verliefen in Erlangen glimpflich. Während das nahe gelegene Nürnberg durch den Bombenangriff im Januar 1945 noch massiv zerstört wurde, kam Erlangen nahezu ohne Bombenschäden davon. Dazu trug am Kriegsende ganz wesentlich das mutige Verhalten des Erlanger Ortskommandanten Lorleberg bei, der – unterstützt von Oberbürgermeister Ohly – entgegen höheren Weisungen die Übergabe der Lazarettstadt Erlangen erfolgreich gegen SS-Truppen durchsetzte. Am 16.4. rückten die amerikanischen Truppen kampflos in Erlangen ein. Die Unzerstörtheit der Stadt realisierte sich auch im persönlichen Lebensbereich von Paul Althaus. Während in seinem unmittelbaren Umfeld viele Häuser und Wohnungen für die amerikanische Besatzungsmacht beschlagnahmt wurden, blieb die Familie Althaus in ihrem Eigenheim in der Atzelsberger Steige unbehelligt. Man darf vermuten, dass die wichtige Aufgabe im „Zehnerausschuss“ der Universität, die Althaus von der Besatzungsmacht übertragen worden war, die Intaktheit der Wohnverhältnisse mit abgesichert hat. Althaus gewann zudem früh ein enges Verhältnis zu den Pfarrern der USArmee und war auch dem in den ersten Monaten des Jahres 1945 für die Universität zuständigen Offizier, dem 2nd. Lt. Ben D. Kimpel persönlich sehr verbunden. Am 22. April hielt Althaus seine erste „Nachkriegspredigt“, obwohl das Ende der Kämpfe in Deutschland erst am 8./9. Mai besiegelt wurde. Unverhohlen sprach er in dieser Predigt von der deutschen Schuld, die auch die Christen auf sich geladen hätten: „Hat es uns nicht längst bedrückt, dass wir Christen nicht lauter warnen konnten, dass wir zu viel geschwiegen haben?“1 Der Erlanger Prediger fand hier bereits eine Formulierung, die ein halbes Jahr später der Rat der EKD in seiner „Stuttgarter Schulderklärung“ vom 19. 10. 1945 zur zentralen Aussage machte. Auf diese Predigt und den theologischen Umgang mit Kriegsende, „Befreiung“ und Schuld durch Althaus ist weiter unten noch genauer einzugehen. Hier ist sie einleitend angesprochen, weil in ihr seine grundsätzliche Haltung aufleuchtete, die sein theologisches und „politisches“ Verhalten in der Nachkriegszeit prägte.2 Trotz aller gelebten Distanz zur etablierten Herrschaft des Nationalsozialismus und dessen Kriegspolitik leuchtet hier durchaus Selbstkritik auf, auch wenn sie gleichsam nur kollektiv für alle Christen aus1 P.A., 1946, S. 225. 2 Weitere Nachweise zu dieser Haltung und zu ihrer inneren Differenziertheit weiter unten S. 337 ff.
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gesprochen wird. Aber diese Haltung machte ihn bereit, am Wiederaufbau, am Neubau Deutschlands, der Kirche und der Universität aktiv mitzuwirken. Freilich blieb dieses Engagement nicht unbestritten. Auch heute noch gehört es zu den häufig vorgetragenen Einwänden gegen Paul Althaus, dass er nie seine eigene Schuld, sein persönliches Versagen gegenüber dem Nationalsozialismus präzis eingestanden habe, sondern „einem Syndrom der Verdrängung eigener Schuld“ erlegen sei.3 Dieser Frage ist darum im Folgenden mit besonderer Aufmerksamkeit nachzugehen.
9.1 Paul Althaus als Subjekt und Objekt der „Vergangenheitsbewältigung“ Die Auseinandersetzung mit seiner eigenen „politischen“ Vergangenheit prägte schon die ersten Jahre nach Kriegsende in höchst verwirrender Weise. Auf sie ist darum hier genauer einzugehen, zumal sie zugleich ein eindrucksvolles Bild von den „Untiefen“ der Entnazifizierungsprozesse generell und dem allgemeinen Problem der „Vergangenheitsbewältigung“ zu liefern vermag. Sechs Wochen nach der Besetzung Erlangens durch amerikanische Truppen verfügten diese zum 31. Mai 1945 die Schließung der Universität. Als Führungsgremium der Universität wurde ein Universitätsausschuss gebildet. Ihm gehörten zehn „unbelastete“ Professoren – aus jeder Fakultät zwei Ordinarien – an. Für die Theologie wurden Hermann Strathmann und Paul Althaus berufen. Althaus wurde zugleich der Vorsitz des Ausschusses übertragen. Der bis dahin noch seit dem Wintersemester 1943/44 amtierende Rektor, der Philosoph Herrigel, wurde seines Amtes enthoben, bekam aber eine Beraterrolle für das neu gebildete Leitungsgremium zugewiesen. Die Aufgabe des „Zehnerausschusses“ war es, der Militärregierung gegenüber dafür zu sorgen, dass der Lehrbetrieb bis auf weiteres unterblieb. Außerdem trug er die Verantwortung für die Durchführung der Anordnungen der Besatzungsmacht. Insbesondere aber hatte er die Militärregierung mit Empfehlungen bei der Entnazifizierung des Universitätspersonals zu beraten. Diese legte dazu Listen vor. Eine der ersten – wenn nicht die erste – enthielt in der ersten Gruppe 45 Namen fast ausschließlich von Professoren, die auf Weisung der Militärregierung sofort von der Universität zu entfernen seien. Für eine zweite Gruppe (23 Namen) erbat man die Stellungnahme des Ausschusses zur Entlassung, bei der dritten Gruppe (72 Namen) war die Militärregierung bereit, die Weiterbeschäftigung an der Universität zu tolerieren, falls nicht der Ausschuss sein Veto dagegen einlege.4 3 So B. Hamm, 1990, 12 ff. Vgl. dazu ausführlicher unten S. 385. 4 Zur Arbeit des Ausschusses umfangreiche Unterlagen, Personallisten, Protokolle, Erlasse der Besatzungsmacht in NLA K 12, 4.
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Althaus gewann zu dem zuständigen Offizier der Besatzungsmacht ein gutes Vertrauensverhältnis. Der Ausschuss arbeitete mit höchster Intensität5, war aber froh – wie Althaus hervorhob – nur beraten und nicht entscheiden zu müssen. Tatsächlich hat der Ausschuss sicherlich – auch aufgrund kollegialer Kenntnisse und Kontakte – eher entlastendes Material gegenüber den oft nur formalen Entlassungsargumenten – Dauer der Parteimitgliedschaft, Leitungsfunktionen etc. – vorgetragen. Hinzu kam die besondere Personalstruktur vor Ort: Erlangen war – darauf ist oben schon einmal hingewiesen6 – eine sehr lutherisch-protestantische Universität mit einem national konservativ zusammengesetzten Lehrkörper, dem 1933 kein jüdischer Ordinarius, aber auch kein bekennender Sozialdemokrat angehörte. Diese politisch durchaus einseitige Zusammensetzung des Lehrkörpers, der sich selbst eher als nationale Opposition, aber nicht parteipolitisch definierte, blieb während der Herrschaft des Nationalsozialismus faktisch unberührt und begründete eine gewisse Distanz zur NS-Parteiherrschaft. Im Unterschied zu Universitäten, wie etwa Heidelberg oder Berlin, mit relativ hohem Anteil jüdischer und liberaler Professoren, deren Entlassung Einlasstore für junge NS-Professoren schuf, hatten diese jungen Parteibuch-Karrieristen in Erlangen kaum eine Chance. Viele etablierte Professoren hielten sich bei aller vorhandenen Sympathie für die erhoffte „nationale Erneuerung“ von zu starkem Parteiengagement fern. Darum war die Zahl der NS-Aktivisten im Erlanger Lehrkörper relativ gering. Der Zehner-Ausschuss urteilte über zumeist gut bekannte Kollegen. Man rückte in der Not der ersten Nachkriegsmonate gegen die pauschalen Eingriffe der Besatzungsmacht tendenziell zusammen, zumal das gemeinsame Interesse an der baldigen Wiederaufnahme des Lehrbetriebes in der unzerstörten Universität überwog. Es überrascht darum nicht, wenn „Die Neue Zeitung“ in ihrem Bericht über die zweite von der Besatzungsmacht angeordnete Entlassungsaktion im Februar 1947 polemisch berichtete, man habe diese von Althaus geführte Kommission als „Verein zur Rettung Schiffbrüchiger“ bezeichnet.7 Tatsächlich war die Situation, in der das Gremium unter der Führung von Althaus zu arbeiten hatte, nicht geeignet, eine grundsätzliche Aufarbeitung der Ursachen der Etablierung der nationalsozialistischen Herrschaft und der Verstrickungen der einzelnen Professoren in diesen komplexen Prozess zu leisten. Dazu fehlten Zeit und vielfach auch die konkreten Unterlagen. Die Kommission verstand sich eher als damit beauftragt, für eine personalpolitisch vertretbare Wiederaufnahme des Universitätsbetriebes zu sorgen. Alle Dozenten und Mitarbeiter, die dringend notwendig waren, sollten zum Einsatz 5 P.A. berichtete an seinen Leipziger Kollegen Martin Doerne am 25. 11. 1945: „Die Reinigung kostete bisher etwa 70 3-stündige Sitzungen, die ich leite“ Es gab also im Durchschnitt fast jede Woche drei Sitzungen. 6 Vgl. oben S. 240 f. 7 Die Neue Zeitung, 3. Februar 1947, S. 3 (Zeitungsausschnitt in NLA K 12, 5.2).
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gebracht werden, sofern nur ihre Gutwilligkeit unterstellt werden konnte und kein zu starkes NS-Engagement bekannt geworden war. Tatsächlich gelang dieser Parforceritt in durchaus vertrauensvoller und effektiver Kooperation mit der Besatzungsmacht. Angefangen mit der Theologischen Fakultät zu Beginn des Wintersemesters wurden im Verlauf des Semesters alle weiteren Fakultäten wieder eröffnet. Am 1. Oktober 1945 hatte die Besatzungsmacht den Juristen Theodor Süß zum Rektor bestellt. Dieser bat jedoch den Ausschuss unter dem Vorsitz von Althaus weiter zu arbeiten, um die Entnazifizierungsaktion einigermaßen zum Abschluss zu bringen, was faktisch noch während des Wintersemesters erfolgte. Althaus wurde zum 1. 10. 1945 als Dekan der Theologischen Fakultät wieder bestellt. Offensichtlich war er sogar als möglicher Rektor bei der Besatzungsmacht im Gespräch. In einem Brief an Heinrich Bornkamm notierte er, die Besatzungsmacht habe ihn unbedingt als Dekan der Theologischen Fakultät sehen wollen, insoweit sei der „Kelch des Rektors“ an ihm vorübergegangen.8 Die Befürchtungen seines Theologenkollegen Sasse, der Althaus als Rektor und den Neutestamentler Strathmann als Dekan der Theologischen Fakultät hatte kommen sehen, erwiesen sich also als grundlos.9 Rektor Süß verfügte über intensive Auslandskontakte und hatte in den 20-er Jahren längere Zeit als Associated Professor in den USA gewirkt. Offensichtlich erschien er der Besatzungsmacht darum als besonders geeigneter Gesprächspartner, zumal er über gute Leumundszeugnisse aus den US-Universitäten verfügte und die englische Sprache sicher beherrschte. So effektiv die Wiederaufnahme des Lehrbetriebes und die „Säuberungsaktion des Personals“ erschien, schon im Sommer 1945 kam es insbesondere in der Theologischen Fakultät zu erheblichen Spannungen. Auslöser war ein „vertrauliches Memorandum“ über die Fakultät, das der Außerordentliche Professor für Kirchengeschichte Herrmann Sasse bereits am 28. 4. 1945 – also noch vor Kriegsende – der amerikanischen Militärregierung vorgelegt hatte. Er folgte dabei einer Initiative des Juristen Prof. Dr. Friedrich Lent, den die Besatzungsmacht offensichtlich zu ersten Beratungen herangezogen hatte. In seinem Papier erläuterte Sasse zunächst die Position der Fakultät insgesamt, betonte ihre lutherische und kirchliche Bindung und stellte fest, dass sie keinerlei Verbindung zur NSDAP besessen hätte. Nur der Privatdozent Vollrath sei Parteimitglied gewesen, habe in der Fakultät aber keinerlei Einfluss und keine Hörer gehabt und sei dann nach Gießen gerufen worden. Gleichwohl hielt Sasse es für richtig, zusätzlich die literarisch dokumentierte Stellungnahme der einzelnen Fakultätsmitglieder zum Nationalsozialismus dar8 NLA K 10, Brief vom 5. 10. 1945. 9 So in einem Brief an F. W. Hopf vom 7. 6. 1945. Sasse fügte hinzu: unter einem Dekanat Strathmann „bleibt uns selbst nicht anderes, als von Erlangen fortzugehen.“ Der Brief ist zitiert bei G. Müller, 2006, S. 202. Vermutlich befürchtete die Militärregierung eine Eskalation des Konfliktes Sasse – Strathmann, wenn Strathmann Dekan würde, und ernannte darum Althaus, mit dem sie gut zusammengearbeitet hatte.
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zustellen. Über den Neutestamentler Strathmann lesen wir, dass er als DNVPund dann als CSVD-Abgeordneter zwar ein „schroffer Gegner des Nationalsozialismus“ gewesen sei, aber Sasse entwertete diese Gegnerschaft durch die Zusatzbemerkung, sie sei von „unverkennbaren Zügen des Ressentiments“ gegen die Partei getragen, die als „glücklichere Nebenbuhlerin“ dem CSVD die Wähler abgejagt habe. Vor allem kritisierte Sasse Strathmanns Zustimmung zu Hitlers Außen- und Kriegspolitik aufgrund einer Äußerung aus dem Jahr 1940 in der Jubelstimmung des erfolgreichen Frankreich-Feldzuges. Althaus sei, so lesen wir bei Sasse, der „geborene Vermittler“ gewesen, der „Theologe des Sowohl-Als-Auch“. Durch seine Lehre vom Volk habe die von ihm intendierte Versöhnung von Kirche und völkischer Bewegung letztlich zur Unterwerfung der Kirche unter dem Nationalsozialismus bei den Deutschen Christen geführt, zu deren Wegbereiter er „ohne es zu wissen und zu wollen“ geworden sei. Die Bemerkungen über Elert zielten auf dessen innere Widersprüche, die zum Teil in den Unklarheiten seiner lutherischen Theologie lägen, zum Teil aber eben auch darauf zurückzuführen seien, dass er im „Kirchenkampf menschlich versagt“ habe.10 Als dieses Gutachten im Sommer 1945 in der Theologischen Fakultät bekannt wurde, gab es heftigste Proteste. Besonders Strathmann war aufs Äußerste empört. Sein Verhältnis zu Sasse konnte nie wieder normalisiert werden. Althaus, der das Papier von Sasse als „taktlos“11 empfand, bemühte sich als Dekan zwar, die Wogen zu glätten, zumal das Gutachten zunächst keine negativen Folgen hatte. Außerdem galt es in Rechnung zu stellen, dass Sasse offensichtlich bei der Besatzungsmacht ein offenes Ohr gefunden hatte und als Anti-Nazi Achtung genoss. Zusätzlich kamen ihm seine guten Englischkenntnisse zugute. In dieser Situation gab es für Althaus als Dekan eine delikate Zusatzaufgabe: die Neubesetzung des Lehrstuhls für Kirchengeschichte. Diese war fällig geworden durch die zeitbedingt verspätete Emeritierung von Prof. Preuß, der zum 1. 2. 1946, in seinem 70. Lebensjahr von seinen amtlichen Verpflichtungen entbunden wurde. Es entsprach der Fakultätstradition, auf diesen Lehrstuhl den Extraordinarius für Kirchengeschichte gleichsam im Wege der Beförderung zu berufen. Darum beschloss die Fakultät auf ihrer Sitzung Anfang September, Sasse vorzuschlagen, wobei Strathmann gegen den Vorschlag stimmte und ein Sondervotum ankündigte. In einem Friedensgespräch, das Althaus in Anwesenheit des Juristen Lent, der seinerzeit das Sasse-Gutachten erbeten hatte, mit Strathmann und Sasse am 6. 9. 1945 in seinem Hause führte, gelang es, dass Strathmann von dem Plan eines Sondervotums abrückte, nachdem Sasse einige Formulierungen in seinem Gutachten abgemildert und revoziert hatte. Die Situation war deshalb brisant, weil als Alternative zu Sasse auch der von den Nazis kalt gestellte Privatdozent Loewenich für den Ruf auf den Lehrstuhl 10 Der Text des Gutachtens ist abgedruckt bei G. Müller, 2006, S. 212 – 217. 11 So in einem Brief an Doerne vom 25. 11. 1945 (NLA K 10).
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geeignet war, zumal er einen Ruf nach Bonn bekommen hatte, aber gerne in Erlangen bleiben wollte. Es ist nicht auszuschließen, dass Strathmann Loewenich gegen Sasse ins Feld führte. Da sich Loewenich als ausgesprochen liberaler Lutheraner profiliert hatte, passte er auch besser in Strathmanns konfessionspolitische Linie. Die Fakultät einigte sich jedoch – auch im Einvernehmen mit Loewenich – darauf, Sasse auf den Lehrstuhl und Loewenich – immerhin als persönlichen Ordinarius – auf das Extraordinariat als SasseNachfolger zu berufen.12 Noch zum 1. Februar 1946 wurden diese Berufungen vollzogen. Elert hatte zuvor – sicherlich im Einverständnis mit Sasse – den Konflikt mit Loewenich dadurch zu umgehen versucht, dass er vorschlug, den damals vakanten Lehrstuhl für Reformierte Theologie auf ein Extraordinariat abzustufen und stattdessen das Extraordinariat für Kirchengeschichte zu einem zweiten Lehrstuhl für Kirchengeschichte aufzuwerten. Die Konzessionsbereitschaft von Loewenich wäre dann nicht erforderlich gewesen, zugleich aber wäre – durchaus im Sinne von Elert und Sasse – das lutherische Profil der Erlanger Theologischen Fakultät durch Abstufung des „Fremdkörpers“ der Reformierten Theologie geschärft worden. Elert fand mit dieser Idee jedoch aus grundsätzlichen Erwägungen weder in der Fakultät, noch in der Universität, noch bei der Landeskirche hinreichende Unterstützung. In dem Bestreben, das streng lutherische Profil der Fakultät zu stärken, waren sich Elert und Sasse durchaus einig. Theologisch galt Sasse eher als Ultra-Lutheraner, der aus lutherischen Gründen der Barmer Erklärung – obwohl an der Formulierung mitbeteiligt – nicht zugestimmt hatte. Althaus mit seinem durch Schlatter geprägten offenen Luthertum und erst recht der „unierte“ Strathmann erschienen darum in Sasses Augen als lutherisch nicht zuverlässig. Seine Angriffe gegen sie wegen ihrer Nähe zum NS hatten gleichsam die Funktion oder das eigentliche Ziel, das lutherische Profil der Fakultät zu stärken. Die Tatsache, dass Sasse gegen Elerts NS-Nähe keine Vorwürfe geltend machte, unterstreicht diese Dimension seiner Aktivitäten eindrucksvoll. Sie wird belegt durch den Umstand, dass in den ersten Angriffen auf Althaus, die sich auf Sasses Material stützten, weder der Ansbacher Ratschlag noch das Gutachten zum Arierparagraph Erwähnung fanden, denn dann wäre auch Elert sofort voll getroffen worden. Auf diese Dimension der innerfakultativen Frontbildungen war hier hinzuweisen, weil nur so die Vielfältigkeit der Konfliktkonstellation deutlich wird. Es ging im Konflikt mit Sasse eben nicht nur um die Nähe zum Nationalsozialismus oder Nationalismus, sondern ebenso um den klassischen Konflikt zwischen Ordinarien und Nicht-Ordinarien – Sasse litt – wie Loewenich sich erinnerte – unter „Ressentiments gegen die Ordinarien“.13 Zentral war aber vor allem die Frage des lutherischen Konfessionalismus. Alle drei Ebenen 12 Vgl. dazu auch die Memoiren Loewenichs in: W. v. Loewenich, 1979, S. 134. 13 Ebd. S. 134.
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wirkten kaum trennbar durcheinander und steigerten sich wechselseitig, zumal sie schon eine erhebliche Vorgeschichte hatten. Schon 1939 hatte Sasse für sich ein persönliches Ordinariat angestrebt, um die spätere Berufung auf den Lehrstuhl Preuß gleichsam zu präjudizieren. Als Dekan lehnte Elert damals eine entsprechende Aktion ab, da er angesichts der bekannten antinationalsozialistischen Haltung von Sasse befürchtete, dass die Berufung am Parteieinspruch beim Minister scheitern und möglicherweise weiterreichende Eingriffe auslösen würde. Dass diese Besorgnisse nicht leichthin von der Hand zu weisen waren, darf unterstellt werden. Gleichwohl schien Sasse gekränkt zu sein. Umso wichtiger war für ihn dann die Entscheidung der Fakultät, im August/September 1945 mit dem implizierten Votum gegen Loewenich. Sasse hatte sich durch sein Gutachten innerhalb der Theologischen Fakultät deutlich isoliert, er blieb den Fakultätssitzungen in der Folgezeit fern. Bei der Besatzungsmacht und in Teilen anderen Fakultäten verfügte er jedoch über ein gewisses Renommee. Seine von Anfang an entschlossene Front gegen die Deutschen Christen, sein ökumenisches Engagement und seine Fähigkeit, fließend englisch zu sprechen, veranlassten offensichtlich die Besatzungsmacht dazu, ihn neben dem neuen Rektor Süß am 1. 10. 1945 zum Prorektor zu bestellen. Es kam also ganz anders, als er befürchtet hatte. Althaus wurde nicht Rektor, vor allem aber wurde Strathmann nicht Dekan der Theologischen Fakultät. Trotzdem flammte der Konflikt mit Strathmann schon bald wieder auf, insbesondere nachdem Strathmann das Sasse-Gutachten bekannt gemacht hatte. Mit Wirkung vom 1. 11. 1945 wurde Strathmann entlassen. Unter großem Einsatz des Rektors und mit Unterstützung auch Sasses gelang es jedoch, diese Entlassung offiziell am 2. November rückgängig zu machen und als irrtümlich zu qualifizieren. Allerdings wurde Strathmann mit Nachdruck durch die Besatzungsmacht gedrängt, seine Emeritierung zum 1. 4. 1946 zu beantragen und auch auf das Recht, als Emeritus Vorlesungen zu halten, zu verzichten. Strathmann gab nach. In einem Brief an Landesbischof Meiser vom 30. 12. 1945 artikulierte er aber überdeutlich seine negativen Urteile über Sasse, dem er die Schuld für diese Entwicklung zuschrieb, wofür auch etliches sprach, zumal das Verhalten von Sasse im Spätjahr 1947 diese Vermutungen dann auch bestätigte. Die Situation eskalierte erneut, als am 1. Juni 1946 Rektor Süß aus dem Rektorenamt ausschied und im Kultusministerium die Leitung der Abteilung für Höhere Bildung übernahm. Alles hätte dafür gesprochen, dass der amtierende Prorektor Sasse nun bis zur Neuwahl eines Rektors vertretungsweise das Leitungsamt der Universität wahrgenommen hätte. Doch Süß beauftragte mit dieser Aufgabe den Dekan der Juristischen Fakultät, Prof. Hans Liermann. Offensichtlich ging er davon aus, dass sich Sasse im Kollegenkreis seiner Fakultät, aber möglicherweise auch in anderen Fakultäten mit seinem Gutachten über die Theologische Fakultät isoliert hatte. Sasse seinerseits empfand dieses Übergehen als Affront. Er trat darum am 1. Juni 1946 demonstrativ von sei325
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nem Prorektorenamt zurück und begründete diesen Schritt mit dem Kurs der gegenwärtigen Universitätsleitung und der ungenügenden Denazifizierung, die es ermöglicht hätte, dass „Professoren, die in Wort und Schrift für den Nationalsozialismus eingetreten sind, noch heute an führender Stelle“14 in der Universität wirkten. Die Rücktrittserklärung Sasses fiel in eine aufgeheizte Atmosphäre. In den USA war eine deutliche Kritik an der angeblich ungenügenden Entnazifizierung durch die amerikanische Militärregierung laut geworden. Die zuständigen Instanzen wurden zentralisiert und aufgewertet, was zu einer Überprüfung der bisherigen Aktivitäten und zur Intensivierung von Entlassungen führen sollte. Gleichzeitig wurden durch das Befreiungsgesetz vom 5. 3. 1946 die Zuständigkeiten formal den Ländern in der amerikanischen Besatzungszone übertragen. Zur quasi gerichtlichen Umsetzung wurden Spruchkammern, z. T. mit Voruntersuchungsausschüssen, zur Durchführung der individuellen Verfahren eingerichtet.15 Die Initiative verblieb zunächst bei der Besatzungsmacht, die Entlassungen „belasteter“ Personen aus ihrem Dienstverhältnis verfügen konnte, deren Überprüfung dann erst im Nachhinein durch die Spruchkammern zu erfolgen hatte. Die neue Runde in der Entnazifizierungspolitik wurde in Erlangen durch ein spezifisches Ereignis verschärft und intensiviert. Aus Anlass eines Vortrages von Martin Niemöller und der Proteste seiner studentischen Hörer entfaltete sich eine heftige Kritik insbesondere in der überlokalen Presse an den angeblich unbelehrbaren Studenten der Erlanger Universität und dem nach wie vor „ungereinigten“ Lehrkörper dieser Universität.16 Sasses Vorwürfe wegen der ungenügenden Denazifizierung der Universität Erlangen passten genau in diesen Zusammenhang und intensivierten die öffentliche Polemik. Als Antwort berief der inzwischen in das Ministerium gewechselte Ministerialdirektor Prof. Süß am 13. 7. 1946 einen Ausschuss zur Klärung der gegen die Universität erhobenen Vorwürfe. An der Sitzung teilnehmen sollte neben Prof. Brenner, dem zukünftigen Rektor, Prof. Liermann, der gegenwärtig den Rektor vertretende Dekan der Juristischen Fakultät, sowie Prof. Lent, der seinerzeit von Sasse das Gutachten über die Theologische Fakultät angefordert hatte, und auch Sasse selbst. Doch zu der am 17. 7. 1946 angesetzten Sitzung erschien dieser nicht. Er verweigerte seine Mitarbeit grundsätzlich. Er sei nur zu schriftlichen Äußerungen gegenüber dem Ministerium bereit. Der Aus14 Hier zitiert nach G. Müller, 2006, S. 204. 15 Zu den Details der Entnazifizierung in Bayern vgl. das grundlegende Werk von L. Niethammer, 2. Auflage, 1982, ferner auf das Thema Evangelische Kirche und Entnazifizierung konzentriert, C. Vollnhals, 1989. Die von Niethammer vorgelegte perspektivenreiche Analyse des Scheiterns der amerikanischen Entnazifizierungspolitik erfährt im Fall Paul Althaus eine eindrucksvolle Bestätigung, weil an diesem Einzelverfahren die strukturellen Fehler, Missbrauchsmöglichkeiten und Aporien des Befreiungsgesetzes besonders deutlich werden. 16 Zum Niemöller-Vortrag vgl. sehr umfassend und differenziert S. Haaß in J. Sandweg/G. Lehmann (Hg.), 1996, S. 628 ff.
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schuss empfand dieses Verhalten als brüskierend, zumal „es sich bei den gegen die Universität erhobenen Anschuldigungen nach Angaben des Herrn Ministerialdirektors Süß vor allem um Vorwürfe handelt, die von Herrn Prof. Sasse selbst gegen die Universität erhoben worden sind …“ Der Ausschuss sah in dem Fernbleiben Sasses, „das den Interessen der durch Gerüchte gerade erneut gefährdeten Universität zuwiderläuft, eine ungewöhnliche und schwer verständliche Handlungsweise.“17 Dem Ausschuss blieb nichts anderes übrig, als auf Aufklärung durch das Ministerium zu setzen. Einen Tag später, am 18. 7. 1946, sandte der Münchner Rundfunk eine scharfe Attacke des Journalisten Herbert Gessner auf die Universität Erlangen. Der Autor lenkte jetzt den Blick auf den Lehrkörper, nachdem im Anschluss an die Niemöller-Vorlesung vor allem die Studenten im Mittelpunkt der Kritik gestanden hätten. Die Reinigung des Lehrkörpers sei völlig unzureichend erfolgt. An elf Einzelbeispielen erläuterte Gessner diesen Vorwurf. Paul Althaus stand dabei eindeutig im Mittelpunkt der Anklage. Auf ihn allein verwandte Gessner fast genauso viel Zeit als für alle zehn anderen zusammen. Während er bei den meisten lediglich die Parteifunktionen kurz erwähnte, brachte er bei Althaus Zitate aus seiner Schrift über die Deutsche Stunde der Kirche von 1933 und ein Zitat aus der Schlusspartie der Schrift von 1936 über Obrigkeit und Führertum.18 Gessner war hier Material zugespielt worden, wobei offensichtlich Sasse im Hintergrund die Fäden gezogen hatte. Bezeichnenderweise wurde mit denselben Textstellen ein halbes Jahr später die Entlassung von Althaus durch die Besatzungsmacht begründet. Den von Althaus geleiteten Universitätsausschuss, der die Militärregierung bei der Säuberung des Lehrkörpers beraten hatte, bezeichnete Gessner hier erstmals als „Verein zur Rettung Schiffbrüchiger“. Am 4. 8. 1946 setzte die „Berliner Zeitung“ mit einem Bericht über die Universität Erlangen die öffentliche Kampagne fort. Auch hier stand Althaus im Mittelpunkt der Angriffe: er sei „ein alter Deutsch-Nationaler“ gewesen, der „sogar vorübergehend Deutscher Christ war“.19 Das Letzte war eine eindeutige Fehlmeldung. Althaus war nie den DC beigetreten, sondern hatte schon 1933 eindeutig gegen sie Front gemacht.20. Er berichtete wenig später, am 25. 8. 1946 an seinen Freund Doerne über „eine mich betreffende Krise: radikale Studenten, offenbar durch Professoren beraten, haben aus meinen Schriften … scheinbar ,nazistische‘ Stellen ausgegraben … Dieses Sündenregister war, mit anderen Skandalen der Erlanger Universität zusammen, hektographiert an Ministerium, Militärregierung, Radio, Presse, gegeben worden. Ich bin im Ministerrat ,behandelt‘ worden und war am 18. Juli Gegenstand einer nicht ungefährlichen Radio-Reportage … Tags darauf war der Unterrichtsmi17 18 19 20
Protokoll der Sitzung des Ausschusses vom 17. 7. 1946 in NLA K 12.4. Zum Inhalt und zur Einordnung dieser Schriften vgl. oben S. 229 ff. Original-Zeitungsausschnitt in NLA K 12,4. Vgl. oben S. 228 f.
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nister mit Stab und der amerikanische Universitätsoffizier und andere mehr hier, um den ganzen Komplex Erlangen (,nazistische‘ Umtriebe von Professoren und Studenten) zu untersuchen. Stimmung: Sachlichkeit, Abneigung gegen die Denunzianten (Sasse im Hintergrund spielt eine üble Rolle); Feststellung, daß die meisten konkreten Gravamina gegen Erlangen falsch seien; ich selber wurde 5 – 10 Minuten angehört, Ausgang befriedigend. Aber natürlich – semper aliquid haeret –, ich werde mich also etwas verborgen halten müssen, auch das Prodekanat will ich lieber nicht führen. Denn mag die Stimmung des Ministeriums und der Militärregierung gegen mich noch so wohlwollend sein – Radio und Presse sind weithin in der Hand von lieben Volksgenossen, die gewiß gerne bei Gelegenheit auf dieses Thema zurückkommen werden, wenn ich meinen Kopf nicht in Deckung halte. Mich hat die Sache nicht sonderlich bewegt. Die Wirkung bei den Studenten in Erlangen, im Lande war eine sehr andere, als die Maulwürfe gewollt haben. Immerhin stand die Möglichkeit einer ernsteren Krise einige Tage vor meinen Augen. Ich bin nicht mehr ,unbelastet‘, und ich darf also vorerst gerade keine Sprünge machen. Hat das alles mich auch kaum Nerven gekostet, so doch leider Zeit. Den Maulwürfen war natürlich die starke Stellung, die ich in Erlangen im letzten Jahre hatte, ein Dorn im Auge; in Sonderheit wohl auch das große Publikum über ,Glaube und Geschichte‘ (die großen Geschichtsdeutungen) mit 500 – 600 Hörern.“ (NLA K 10)
Dieser Brief ist hier so ausführlich zitiert worden, weil er in mehrfacher Hinsicht interessant ist. Er lässt erkennen, dass die zentralen Anklagepunkte gegen Althaus, die in der Rundfunksendung vorgebracht wurden, die Untersuchungsbehörden zunächst offensichtlich nicht recht überzeugt hatten, so dass Althaus im Sommer 1946 Töne einer gewissen Entwarnung zu hören vermeinte. Ein Interview von Rektor Brenner hatte wenige Tage zuvor diesen Eindruck von Althaus bestätigt. Der Rektor äußerte hier, das öffentliche Missfallen müsse sich eigentlich gegen die richten, die das „Belastungsmaterial“, das sich im Wesentlichen als falsch erwiesen habe, an die Presse gegeben hätten; er fügte hinzu, „wir kennen die Quellen“, nannte aber keine Namen, da die Untersuchungen noch liefen.21 Trotz dieser entlastenden Stimmen blieb Althaus zurückhaltend, weil er weitere Vorwürfe gegen sich nicht ausschloss. Dass er nicht ohne Grund Sasse im Hintergrund eine „üble Rolle“ spielen sah, lässt sich aus den Akten durchaus belegen.22 Bezeichnend – gerade auch im Unterschied zu Strathmann – ist jedoch die insgesamt eher ausgeglichene Stimmung bei Althaus, den „die Sache nicht sonderlich bewegt“. Dieser Umstand ist hier auch deshalb hervorzuheben, weil es für diese abgeklärte Haltung in der an sich doch sehr aufregenden Angelegenheit noch mehrfache Beweise gibt. Offensichtlich sah sich Althaus in guter Position. 21 Interview in „Der Kurier“ Nr. 159, S. 3 vom 21. 8. 1946 – Kopie in NLA K 12,4. 22 Sowohl zusammenfassend bei G. Müller, 2006 und im Detail mit vielen Beweisstücken im Nachlass Strathmann (Kiste 9), in nicht so großem Umfang in den einschlägigen Stücken des Nachlasses Althaus.
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Tatsächlich wurde Althaus in den folgenden Monaten einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt, insbesondere nachdem im Spätherbst 1946 die neu eingesetzte zentrale Sonderkommission der Militärregierung sich der Universität Erlangen zuwandte und aufgrund des ihr vorgelegten Materials einen reinen Tisch zu machen entschlossen war. Auch Althaus rechnete jetzt durchaus damit, dass ihm eine Entlassung drohen könne. Dagegen gerichtete Einwirkungen der Landeskirche blieben um die Jahreswende 1946/47 erfolglos. Ende Januar erfolgte der Paukenschlag in Erlangen. Die Militärregierung wies auf Empfehlung ihrer Sonderkommission das Bayerische Kultusministerium an, in Erlangen 76 Professoren, Assistenten und sonstige Mitarbeiter der Universität mit sofortiger Wirkung zu entlassen. Unter den 30 Professoren und Dozenten führte Althaus die Liste an, die am 2. Februar in der Neuen Zeitung veröffentlicht wurde. Die kurze Begründung, die in der Zeitung hinter den Namen der Professoren angeführt war, nahm im Fall Althaus Bezug auf die schon in der Rundfunksendung vom 18. Juli 1946 vorgetragenen Buchzitate und fügte an, als Vorsitzender des Denazifizierungsausschusses habe Althaus „die Wiederanstellung von anti-demokratischen Professoren“ befürwortet. Zwar sei sich die Militärregierung bewusst, dass er nie Mitglied der NSDAP gewesen sei, sie begründete jedoch die Entlassung mit dem Argument, dass seine Schriften und öffentlichen Handlungen klargelegt hätten „einen Mangel der positiven, politischen, liberalen und sittlichen Eigenschaften, die zur Entwicklung der Demokratie in Deutschland beitragen werden.“23 Die Entlassungsverfügung stützte sich mit dieser Anforderung auf die Erklärung der amerikanischen Militärregierung vom 14. 6. 1946, die von Kandidaten für Schlüsselpositionen verlangte, sie sollten „die politischen und moralischen Qualitäten, die sie zur Entwicklung genuin demokratischer Institutionen befähigen, mitbringen.“ Diese Forderung war entwickelt worden, um von den Spruchkammern zu „Mitläufern“ abgestufte Führungsleute aus den Gruppen der Betroffenen doch noch von Spitzenpositionen ausschließen zu können, obwohl durch die Abstufung zu Mitläufern Beschäftigungsverbote generell aufgehoben waren. Auf Nichtbetroffene – und dazu zählte Althaus, weil er nie der Partei angehört und keine der aufgezählten Führungspositionen innegehabt hatte, – war diese Passage darum formal gar nicht anwendbar.24 Für Paul Althaus bedeutete die Entlassung den Abbruch seiner Lehrveranstaltungen, die Einstellung aller Gehaltszahlungen sowie die Aberkennung aller Pensionsansprüche. Die Öffentlichkeit in Erlangen reagierte erregt und im Fall Althaus mit besonders großem Widerspruch. Die Akten sind voll von 23 Original-Zeitungsausschnitt in NLA K 12,5, die auf den 6. 2. 1947 datierte Entlassungsverfügung des Ministers kam erst sehr viel später – nach dem 9. 3. 1947 – in die Hände von Paul Althaus. (Personalakte Althaus) 24 Vgl. dazu mit differenzierten Belegen L. Niethammer, 1982, S. 342.
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Sympathie- und Solidaritätsbekundungen, die unisono auf die allen bekannte und sie beeindruckende Opposition von Althaus gegen die weltanschauliche Diktatur der NS-Herrschaft, gegen die Judenverfolgung und gegen die NSKirchenpolitik, vielfach vertieft durch persönliche Erlebnisse, gestützt waren. Die lokalen und regionalen Synoden fassten noch im Februar einschlägige Beschlüsse. Sasse fühlte sich durch diese Entwicklung – „die Erregung ist groß, weil sie künstlich geschürt wird“ – gedrängt, den zuständigen Offizier der Besatzungsmacht in Bayern aufzufordern, sich mit einem mahnenden Schreiben an Landesbischof Meiser und Staatsrat Meinzolt vom Kultusministerium zu wenden, diese zur Vorsicht zu mahnen und dafür verantwortlich zu machen, „dass die Kirche sich nicht von politischen Kräften missbrauchen lässt“.25 Auch dieser Brief ist ein Zeugnis für die eindeutigen Aktivitäten von Sasse und seine offensichtlich sehr selektive Wahrnehmung der gesamten Vorgänge, die er mit ausgelöst hatte.26 In einem Brief an seine Leipziger Freunde Heinrich Bornkamm und Martin Doerne berichtete Althaus knapp sechs Wochen nach seiner Entlassung am 13. 3. 1947 über die Welle der Solidaritätsbekundungen: „Asmussen [sein Gegenspieler innerhalb der Kirchenkampffront27 ] hatte ein sehr warmes Ferngespräch mit mir“, aber Althaus fügte – wie sich erweisen sollte, sehr realistisch – hinzu: „Es kann lange dauern“. Wirtschaftlich mache er sich zunächst keine Sorgen. Die Honorareinnahmen seines 1946 erschienenen Predigtbuches – Auflage 10.000 faktisch verkauft – gaben ihm Sicherheit. Außerdem habe die Landeskirche ihm Predigt- und Krankenhausseelsorge- sowie Forschungsaufträge erteilt. Er hoffe nur, dass seine Bücher auch erscheinen dürften, obwohl er jetzt entlassen sei. Doppeldeutig – klar gegen Sasse gezielt – fügte er an: „Sicher gibt es auch ,Lutheraner‘, die sich freuen, daß dieser schlechte Lutheraner jetzt Erlangen nicht mehr befleckt“. Die konfessionspolitische Interpretation der Aktion war für Paul Althaus selbstverständlich und bestätigte sich zusätzlich durch die gleichzeitige Entlassung des schon pensionierten Strathmann, dessen Pensionszahlungen jetzt eingestellt wurden. Auch hier klingen die tiefen Dimensionen seiner Gelassenheit eindrucksvoll an: „Den inneren Segen einer solchen Zeit spüre ich seit dem Herbste. Man darf das, was man oft anderen gepredigt hat, auch zu leben versuchen. Daß ich dabei weiter predigen darf, ist ein besonderes Geschenk.“28
Unmittelbar nach der Entlassung klang allerdings auch die Stimme von Althaus erregter. In einem langen Brief vom 9. Februar 1947 an den damaligen
25 Brief Sasse an Wallach vom 10. 2. 1947 Kopie aus den Materialien Sandweg jetzt in NLA K 12,4. 26 Zu Sasses Konflikten auch mit Rektor Brenner 1947/48 und seinen politischen Aktivitäten mancherlei aufschlussreiche Unterlagen auch in der Personalakte Sasse des Bayer. Kultusministeriums im BayHStA MK 44244. 27 Zu den persönlichen Kontakten 1934 vgl. oben S. 282 f. 28 NLA K 10.
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CSU-Landtagsabgeordneten Haußleiter29, der ihn um detaillierte Auskunft gebeten hatte, schilderte er ausführlich die Hintergründe seiner Entlassung: Wenn ihm und dem seinerzeit von der Militärregierung eingesetzten Ausschuss vorgeworfen werde, er hätte die Chance einer wirksamen Entnazifizierung nicht genutzt, dann verkenne man, dass der Ausschuss nur beratende Funktionen gegenüber den entscheidenden Instanzen der Militärregierung gehabt habe. Wenn jetzt die Militärregierung einen „Systemwechsel“ in ihrem Kurs bei der Entnazifizierung vollziehe, dann seien die Vorwürfe gegen Erlangen „völlig ungerechtfertigt“. Über den Niemöller-Vortrag sei verzerrt berichtet worden. Erlangen sei „das Opfer einer gewissenlosen Berichterstattung“ geworden. „Niemöller hat an jenem Abend nach unser aller Eindruck psychologisch und pädagogisch nicht glücklich gesprochen. Er war überanstrengt. Dass er keine glückliche Hand hatte, dafür ist der katholische Erlanger Studentenpfarrer von Löwenstein S. J. ein unverdächtiger Zeuge. Die gleichen Studenten, die bei Niemöller Kundgebungen des Missfallens machten, haben wenige Tage darauf einen sachlich ebenso ernst auf Schuldfragen eingehenden Vortrag von Dekan Prof. Dr. Künneth, dem bekannten Gegner Rosenbergs, ohne Widerspruch und dankbar angehört.“ Die neuen Maßnahmen der Militärregierung führte Althaus auch auf die „Minenlegung seitens einiger weniger Glieder der Universität Erlangen, zweier Professoren und einiger Studenten“ zurück. Einer der Professoren habe mit ihm im „Ausschuss“ zusammen gearbeitet. Damit spielte er auf den Mediziner Schübel an, der 1945 in den von den Amerikanern eingesetzten Ausschuss als damaliger Dekan der Medizinischen Fakultät berufen worden war. Der andere war Sasse, offensichtlich unterstellte Althaus, dass Haussleiter das wusste. Diese Gruppe habe Texte von ihm „denunziatorisch“ weitergegeben und so die Rundfunkvorwürfe gegen ihn am 18. 7. 1946 durch Gessner ermöglicht. Er sei Mitte Juli nur einmal kurz vernommen worden. „Das Ergebnis war, meine Schriften sollten genau überprüft werden“. Es sei ihm dann „zwar zu Ohren gekommen, daß die neue Kommission der Militärregierung auch mich (dessen Fragebogen völlig einwandfrei ist) zu entlassen gedenkt“. Aber sein Antrag, zu den Vorwürfen angehört zu werden, sei abgelehnt worden. Dass auch anderen Betroffenen dasselbe passiert sei, sei „mit den elementarsten Erfordernissen der Gerechtigkeit und Fairness“ nicht zu vereinbaren. Althaus kritisierte weiter die Form der Mitteilung der Entlassung durch die Zeitung, das offizielle Entlassungsschreiben hatte er am 9. Februar 1947 immer noch nicht in Händen. Auch die Tatsache, dass den Ruhestandsbeamten, die doch auf die Jugend nicht mehr einwirken könnten, die Pension entzogen würde, empfand er als unbegreifliche Härte. Außerdem seien keine Möglichkeiten zu Appellation oder Revision 29 Zwischen Althaus und Haußleiter gab es aus den Kriegsjahren eine alte vertrauensvolle Bekanntschaft. Im Redaktionsbüro von Haußleiter hörte eine kleine Gruppe Gleichgesinnter regelmäßig illegal „Feindsender“. In den Tagebüchern von Althaus gibt es mehrfach verschlüsselte Hinweise auf diese Treffen.
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eingeräumt worden, was „jedem Gerechtigkeitsempfinden Hohn sprechend … von ,Menschlichkeit‘ ganz zu schweigen, empfunden werden“ müsse. (NLA K 11 a)
Dieser Brief ist so ausführlich wiedergegeben worden, weil sich hier die Erregung von Paul Althaus ausdrückt. Noch hatte er nicht die Gelassenheit erworben, die sich fünf Wochen später in seinem Brief an Doerne und Bornkamm dokumentierte. Zugleich werden hier auch die Aporien, rechtsstaatlichen Probleme und Konsequenzen der amerikanischen Entnazifizierungsverfahren deutlich. Dem Brief ist zugleich abzuspüren, dass die Entlassung im Fall Althaus für die Amerikaner offensichtlich sehr stark durch sein Wirken im „Zehner-Ausschuss“ seit Juni 1945 veranlasst war, mit dem Befreiungsgesetz allerdings nicht begründet werden konnte. Für dieses Motiv der Amerikaner spricht im Übrigen der Umstand, dass von den zehn Mitgliedern dieses Ausschusses jetzt fünf entlassen wurden. Wenn seine späteren Kritiker aus der historischen Rückschau Paul Althaus immer wieder vorwerfen, er habe sich nie zu seiner persönlichen Schuld am Nationalsozialismus bekannt, so ist hier zumindest die Frage zu stellen, welchen Einfluss seine Verwundungen und Erfahrungen mit dem Entnazifizierungsverfahren und dessen Aporien auf diese Zurückhaltung hatten. Den komplizierten Zusammenhängen seiner politischen Wert- und Seinsvorstellungen und ihres möglichen, wenn auch sehr vermittelten und indirekten Zusammenhangs mit der Etablierung der NS-Herrschaft waren die Paragraphen des Entnazifizierungsgesetzes nicht gewachsen. Sie erschwerten eher eine produktive – freilich noch viel Zeit erfordernde – Verarbeitung dieser Fragen bei den Betroffenen, zumal der Schuldbegriff im Umfeld der Entnazifizierung immer einen latent strafrechtlichen Einschlag hatte. Auf diese Zusammenhänge ist hier vorgreifend hinzuweisen und später ausführlicher einzugehen.30 Zunächst gilt es jedoch, den weiteren Ablauf des Entnazifizierungsverfahrens darzustellen. Angesichts der großen Zahl der Entlassenen war es nicht verwunderlich, dass der Vorprüfungsausschuss für den Bereich der Schulen und Hochschulen in Erlangen, dem neben drei Vertretern der Schulen die Professoren Seidl und Leibbrand für die Universität angehörten, erst am 14. Mai ein erstes Votum in der Sache Althaus formulierte. Mit Unterschrift des Juraprofessors Seidl kam dieses zu dem Schluss: „Zusammenfassend ist zu sagen: Althaus hat in dem Bestreben, christlich humanitäre Gedanken auch im Dritten Reiche zur Geltung zu bringen, in den Jahren 1933 – 1934 versucht, den Nationalsozialismus mit der evangelischen Lehre zu vereinen. Dabei stand für ihn aber immer der christlich humane Gedanke im Vordergrund. Deshalb wurde er schon von Anfang an von der Partei heftig angegriffen und kehrte sich immer mehr von der Idee einer solchen Vereinbarkeit ab. Es kann nicht in diesen ersten Versuchen eine aktive Propaganda für den Nationalsozialismus erblickt werden. [gez.] Seidl“ 30 Vgl. unten S. 384 ff. und 402 f.
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Vorher war ausführlich über die Konflikte von Althaus mit der NSDAP über das Hesselberg-Abzeichen, das Verbot der Eugenik-Schrift sowie die Angriffe aus der Fränkischen Zeitung von 1934 berichtet worden.31 Zusätzlich war erwähnt, dass Althaus nicht-arische und verfolgte Studenten gefördert habe. Die Fülle der entlastenden Briefe und Stellungnahmen, die seit Februar 1947 eingegangen waren, ist hier spürbar.32 Gegen dieses zweieinhalbseitige Gutachten legte das zweite Universitätsmitglied im Ausschuss, der Neurologe Prof. Werner Leibbrand, eine bedeutend längere Sondererklärung vor. Mit Zitaten aus dem Jahre 1916 und aus der Kirchentagsrede von 1927 habe sich Althaus für die Verbindung von Kirche und Völkischer Idee eingesetzt, er sei zwar „ein deutschnationaler Bürgerlicher, der aber dann die Siege Hitlers gut hieß, gegen alle pazifistischen Tendenzen“. In diesem Sinne habe er durch den Ansbacher Ratschlag „der bekennenden Kirche den Dolch in den Rücken gestoßen“. Das Schlimmste aber sei die Unterschrift unter den Arier-Paragraphen. Leibbrand zieht die Konsequenz: „Althaus ist der typische Repräsentant der deutsch-nationalen, militär-frommen Richtung der evangelischen Landeskirche. Er ist aber auch zugleich der gefährliche Vertreter eines aus der bürgerlichen Sicherheit heraus dozierenden Literaten, dessen Wirkungen auf den theologischen Nachwuchs von gefährlichster Bedeutung werden mußten.“ Leibbrand schloss: „Althaus war weder Mit- noch Nachläufer der Partei, er war deren typischer Vorläufer.“ Der Gymnasialprofessor Hans Herding, Mitglied im Ausschuss, wehrte sich mit einem kurzen handschriftlichen Votum vom 4. 5. 1947 gegen die These, dass Althaus ein Vorläufer des Nationalsozialismus gewesen sei. Er legte mit beachtlichen Argumenten dar, dass Leibbrand die Zitate von 1916 falsch interpretiert habe. Gleichwohl setzte sich Leibbrand durch. Am 8. Mai 1947 unterschrieb Seidl einen „Nachtrag“ zu seinem Gutachten vom 14. 4. 1947. Praktisch wurde hier das Votum von Leibbrand im Wortlaut übernommen. Gestrichen wurden nur die letzten zwei Sätze über den „Vorläufer“ der NSDAP. Das erste entlastende Gutachten wurde ausdrücklich nicht widerrufen; vermutlich war man froh, nicht das letzte Wort zu haben und sich verbindlich entscheiden zu müssen. Dass Leibbrand sich in dieser Form durchsetzte – wie im Übrigen mit gleicher Tendenz auch im Fall Strathmann –, lässt auf sein besonderes Gewicht und seine Autorität im Vorprüfungsausschuss schließen. Leibbrand war Neurologe und hatte sich vor 1933 aufgrund seiner Erlebnisse des Elendes in den Arbeiterquartieren in Berlin im „Verein Sozialistischer Ärzte“ und in der von Ossietzky wesentlich mitgetragenen und mitgestalteten „Liga für Menschenrechte“ organisiert, was ihn nach 1933, zumal seine Frau Jüdin war, 31 Vgl. oben S. 217 ff. und 248 f. 32 Das Votum des Vorprüfungsausschusses und auch die späteren Stellungnahmen im UA FAU A2/ 3 Nr. 166.
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zunehmend isolierte. 1943 wurde er als Facharzt in der Nürnberger und dann auch in der Erlanger Psychiatrie zwangsverpflichtet. Im Herbst 1944 tauchte das Ehepaar Leibbrand unter, weil es das Schlimmste befürchten musste. Die amerikanische Militärregierung bestellte Leibbrand zunächst kommissarisch, dann auf Dauer zum Direktor der Erlanger Heil- und Pflegeanstalt. Außerdem erhielt er Anfang März 1946 beim Start des Lehrbetriebes in der Medizinischen Fakultät einen Lehrauftrag für Geschichte der Medizin, mit der er sich schon in den späten 20-er und 30-er Jahren intensiv beschäftigt hatte. Ende Mai 1946 wurde er zum Honorarprofessor für dieses Fach ernannt. Damit hatte er einen akademischen Status in der Universität Erlangen, was offensichtlich im Interesse der Militärregierung lag, die ihn sehr schätzte und dann als Vertreter der Universität in den Vorprüfungsausschuss berufen konnte. Dass er als einziger Deutscher 1946/47 als Gutachter an den Nürnberger Ärzteprozessen teilnahm, ist für die Hochschätzung durch die Alliierten ein weiterer Beleg. Wenn man diesen Lebenshintergrund von Leibbrand reflektiert, gewinnt sein Protest gegen die von Prof. Seidl formulierte Stellungnahme zugunsten von Althaus Farbe und Gewicht. Zum einen ist spürbar, dass auch hier Sasse mitgewirkt hatte, da die Zitate aus Althaus’ Werken und die präzisen Seitenangaben zum Arier-Paragraph-Gutachten und zum Ansbacher Ratschlag kaum von Leibbrand ermittelt wurden, obwohl sie erstmals bei ihm in den offiziellen Argumenten gegen Althaus auftauchten. Offensichtlich hatte Sasse im fortgeschrittenen Stadium des Verfahrens – und seines Konfliktes mit der ganzen Fakultät – seine bisher gewahrte Rücksichtnahme auf Elert fallen gelassen. Ein Jahr zuvor hatte er sich noch veranlasst gesehen, in den ersten Schuldvorwürfen gegen Paul Althaus auf diese beiden Texte zu verzichten, um Elert, der sie ja beide mit verantwortet hatte, nicht zu belasten. Tatsächlich gibt es in den Akten viele Belege dafür, dass Sasse in engem Kontakt mit Leibbrand, Schübel und Ganse33 stand, so dass klar sein dürfte, woher Leibbrand seine Zitate hatte. Dennoch ist unverkennbar, dass das Votum von Leibbrand dessen eigene, vom Linkssozialismus geprägte Handschrift trug und daraus ihr Gewicht gewann. Aus seiner Perspektive erschien der Nationalsozialismus als eine bloße Spielart des bürgerlichen Nationalismus. Letzteren bei Althaus nachzuweisen, reichte darum in Leibbrands Augen aus, ihn als Wegbereiter des Nationalsozialismus zu disqualifizieren. Dass der mehrdimensionale nationalsozialistische Totalitarismus durchaus auch quer und entgegengesetzt zu 33 Vgl. zu diesen persönlichen Kontakten auch J. Sandweg, 1996, S. 381. Robert Ganse war ein Gynäkologe und in der KPD aktiv ; wie Leibbrand stand auch er der VVN nahe und versuchte im Kontakt mit Sasse, Schübel und Leibbrand „Reinigungspolitik“ zu treiben. Er überzog offensichtlich seine Aktionsspielräume im Konflikt mit seinem Klinikchef und wurde von Rektor Brenner zum Verlassen Erlangens aufgefordert. Er ging dann in die Sowjetischen Besatzungszone und wurde als Gynäkologe an die Universität Dresden berufen. Vgl. J. Sandweg, 1996, S. 383 und 392.
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traditionellen national-konservativen Orientierungen stand, blieb Leibbrand verschlossen. Aber obwohl Leibbrand hier den ebenso bedenkenswerten wie problematischen Zusammenhang zwischen Vaterlandsliebe, Nationalismus und Nationalsozialismus stark vereinfachte und vereindeutigte, bleibt doch festzuhalten, dass in seinem Votum Dimensionen angesprochen wurden, die die Aporien des formalen Entnazifizierungsverfahrens ebenso deutlich machen, wie sie die Notwendigkeit einer sehr genauen Analyse und Betrachtung der tatsächlichen politischen Vorstellungswelt von Paul Althaus begründen, die im Schlusskapitel noch einmal zusammenfassend zu thematisieren sein wird. Hier war jedoch auf diese in der Vereinfachung missbrauchte Dimension ausdrücklich hinzuweisen. Leibbrands schwere Vorwürfe blieben letztlich zwar ohne Folgen, aber sie hatten doch erheblich verzögernde Wirkung. Am 22. September 1947 (NLA K 12,5) beklagte sich Althaus bei Staatsrat Meinzolt, dass nichts geschehe, obwohl ihm der offizielle Kläger bei der Spruchkammer schon im Juni versprochen habe, dass er in drei Wochen die Klage in den Händen haben werde. Offensichtlich fürchte man „die anonymen Mächte, die seinerzeit hinter Herrn Gessner und der Presse standen, die meinen Namen befleckten. Also geschieht gar nichts“, obwohl dem Kläger umfangreiches und gutes Entlastungsmaterial vorliege. Aufgrund der Überfülle der Althaus entlastenden Stellungnahmen, die seine Anfangshoffnungen und Fehleinschätzungen nicht verschwiegen,34 blieb der Kammer schließlich nichts anderes übrig, als auf „nicht betroffen“ zu entscheiden, zumal der „öffentliche Kläger bei der Spruchkammer“ selbst mit differenzierter, auf die Anklagepunkte eingehender Argumentation diesen Antrag stellte. Letztlich widerrief der Ankläger damit die durch das Befreiungsgesetz nicht begründbare Entlassung von Althaus. Allerdings geschah dieser Beschluss erst am 30. Dezember 1947.35 Die Gegner hatten zumindest eine erhebliche Verzögerung erwirkt. Die endgültige Wiedereinstellung an der Universität erforderte auch jetzt noch erhebliche Zeit – insgesamt dreieinhalb Monate, weil der Beschluss der Spruchkammer noch von der Besatzungsmacht bestätigt werden musste. Doch die Signale deuteten auf „Freie Fahrt“. Das spürt man den Berichten über den 60. Geburtstag von Paul Althaus am 4. Februar 1948 ab. Es gab – aus naheliegenden Gründen – keinen offiziellen Empfang der Universität, sondern ein reines Familienfest an der Atzelsberger Steige. Die persönlichen Gratulanten aus Universität, Kirche und Stadt standen gleichsam Schlange. Ein Gratulant überbrachte als Höhepunkt die offizielle Entschließung der Entnazifizierungskammer und festigte die fröhliche Stimmung. „Das war aller-
34 Ein besonders eindrucksvolles Dokument ist die Stellungnahme des „halb-jüdischen“ Theologie-Studenten Fritz Fraenkel, der von 1942 bis 1944 bei Paul Althaus studiert hatte. NLA K 12 5,2. 35 NLA K 12 5,2, dort auch die weiteren Dokumente des Verfahrens.
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dings die größte Freude für uns alle, besonders aber für Vater selber.“36 Mehrere Chöre brachten Geburtstagsständchen. Die Großfamilie feierte ausgesprochen glücklich und entlastet. Man spürt gleichsam, dass man mit einem guten Ende des Entnazifizierungsverfahrens fest rechnete.37 Sechs Wochen nach der Spruchkammer-Entscheidung, 12 Tage nach dem 60. Geburtstag, bestätigte am 17. Februar 1948 das zuständige lokale ,Security Office‘ der Militärregierung das Spruchkammervotum. Rektor Brenner stellte am 5. 3. 1948 unter Vorlage der Entscheidung der Spruchkammer und der Bestätigung des Security-Office den Antrag auf Wiedereinstellung und fügte seine „politische Unbedenklichkeitserklärung“ für Althaus bei. Daraufhin erteilte die Militärregierung von Bayern dem Kultusministerium mit Schreiben vom 16. 4. 1948 die Genehmigung zur Wiedereinstellung. Noch am gleichen Tage telegrafierte das Ministerium an die Theologische Fakultät „Professor Althaus kann Vorlesungen halten“.38 Da das Sommersemester gerade begann, war das eine sehr willkommene Nachricht. Am 4. Mai kam dann vom Ministerium auf Antrag der Universität die Urkunde zur Wiederernennung zum Ordentlichen Professor auf Lebenszeit mit Wirkung vom 1. 6. 1948, also zum Glück für Althaus noch knapp drei Wochen vor der Währungsreform. Die frühere Besoldungseinstufung und Hörgeldgarantie wurde erneuert. Für die Zeit ab Wiederaufnahme der Diensttätigkeit bis zum 31. 5. 1948 wurde das Gehalt aus allgemeinen Mitteln gezahlt. Damit war das ebenso verwirrende wie aufschlussreiche Kapitel der Entnazifizierung für Paul Althaus abgeschlossen. Er hatte die Zeit intensiv genutzt. Da ihm zwei Semester lang – Sommersemester 1947 und Wintersemester 1947/48 – die Abhaltung von Lehrveranstaltungen verboten war, hatte er viele Vorträge gehalten, seinen Predigtdienst intensiv wahrgenommen und die Drucklegung seiner großen Dogmatik begleitet. Der erste Band erschien Ende 1947, der zweite Anfang 1948. Außerdem bearbeitete er in dieser Zeit auch noch die 6. Auflage seines zentral wichtigen Römerbrief-Kommentars. Man wird all diese Aktivitäten, die parallel zum Entnazifizierungsverfahren liefen, gesondert, aber auf diesem Hintergrund zu betrachten haben, um voll zu erfassen, in welchen Dimensionen Paul Althaus die ersten Nachkriegsjahre erlebte. Dieses soll im Folgenden zunächst geschehen, erst dann wird man auch das Entnazifizierungsverfahren und seine Bedeutung abschließend bewerten können.
36 Bericht der Tochter Dorothea von den Geburtstagsfeierlichkeiten. NLA K 6, 7. 37 Sehr plastische Schilderungen der Geburtstagsfeierlichkeiten lassen sich einem dreiseitigen Brief entnehmen, den Paul Althaus an seine Tochter Maria, die aus Gesundheitsgründen an der Feier nicht teilnehmen konnte, am 8. 2. 1948 sandte, und dem Bericht der Tochter Dorothea. NLA K 6, 7. 38 Vgl. die einschlägigen Unterlagen in der Personalakte Paul Althaus im FAU-Archiv.
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9.2 Paul Althaus als Prediger und Theologe in den ersten Nachkriegsjahren Will man erfassen, wie Paul Althaus den Zusammenbruch 1945, Kriegsniederlage, Befreiung und Neuanfang erlebte und verarbeitete, dann muss man in seine Predigten aus den ersten Nachkriegsjahren hineinhören. Sein Prinzip des Predigtaufbaus: von der alltäglichen Wirklichkeit, vom Leben zum Text, ermöglicht Antworten auf diese Fragen. Schon in der Vorbemerkung zu diesem Kapitel ist aus der ersten „Nachkriegspredigt“ vom 22. 4. 1945 mit ihrem eindrucksvollen Schuldbekenntnis – auch der Christen – hingewiesen worden.39 In dieser Predigt unter dem bezeichnenden Thema „Die gewaltige Hand Gottes“ stellte Althaus ausdrücklich die Frage nach der Schuld: „Wir wollen im Angesicht Gottes unerbittlich nach unserer Schuld fragen. Wer sich dessen weigert, der nimmt die gewaltige Hand, die auf uns liegt, nicht wirklich ernst. Niemand wende ein: Sind die anderen Völker denn besser, daß es ihnen gelingt und uns nicht? Haben nicht auch sie ihre Schuld? – Darauf kann ich nur antworten: Das geht uns jetzt nichts an! Was Gott der Herr mit den anderen tut, das ist seine Sache.“
Der Prediger differenziert im Folgenden die Gruppen der Schuldigen, aber er spricht sehr direkt auch von der kirchlichen Schuld: „Sicher, wir sind nicht alle in gleichem Maße schuldig. Vielleicht könnte die christliche Kirche in Deutschland sagen: Wir sind am wenigsten schuldig, wir haben nicht mitgemacht. Aber wir wollen doch so nicht reden. Wir Christen können uns nicht abseits stellen und sprechen: Wir haben es immer schon gesagt … Hat es uns nicht längst gedrückt, daß wir Christen nicht lauter warnen konnten, daß wir zu viel geschwiegen haben? Das alles hat gewiss seine Gründe gehabt, auch in der Lage unseres Volkes; aber diese Ohnmacht und Gebundenheit der Christen, wir empfinden sie doch nicht nur als Schicksal, sondern – ich spreche vor allem auch für meine Brüder im Amte – als Schuld, die uns drückt. Wir bekennen es heute vor Gott und Menschen. Auch wir, die Christenheit, grade auch wir wollen uns demütigen unter die gewaltige Hand Gottes. Es werden in der Zeit, die jetzt angebrochen ist, noch manche Schuldbücher für unser Volk aufgetan und manche schlimme Rechnung uns präsentiert werden. Wir wissen vieles noch gar nicht. Wir ahnen es nur. Es wird sehr bitter und peinlich werden.“40
„Daß wir zuviel geschwiegen haben“, erklärte Althaus „mit der Lage unseres Volkes“. Man wird diese Formulierung als einen Hinweis auf das „Diktat von Versailles“ lesen können, dadurch sei das Schweigen gegen Hitler veranlasst worden. Die Zustimmung zur Hitlerschen Außenpolitik, die Althaus als Antiversailles-Politik missverstand, spricht dafür.41 Das Versailles-Trauma war 39 Vgl. oben S. 319. 40 P.A., 1946 (1), S. 225 f. 41 Für diese Interpretation spricht auch die Einleitung in die Neuauflage des Grundriß der Ethik
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hier wirksam. Aber möglich ist auch, dass Althaus hier auf sein Wissen über die Verbrechen in den besetzten Ostgebieten aus dem Sommer 1943 anspielte, das er für sich behalten hatte. Entscheidend jedoch blieb für ihn in dieser „Lage unseres Volkes“, dass diese Gebundenheit der Christen im Rückblick nicht nur „als Schicksal, sondern als Schuld“ empfunden werden musste. Drei Wochen später, nachdem die Verbrechen in den Konzentrationslagern detailliert bekannt geworden waren, formulierte Althaus „das Furchtbare, das draußen geschah – wir haben es gewiss weder gewollt noch geahnt, wir tragen insofern keine Schuld daran, wir haben mit Entsetzen und Grauen davon gehört“. Man hat in dieser Formulierung „Worte der Selbstrechtfertigung und Verdrängung“ sehen wollen.42 Diese Interpretation ist meines Erachtens überzogen. Sie übersieht das kleine Wort „insofern“ und verkennt auch die konkrete Situation im Mai 1945, als die brutalen NS-Verbrechen und die Massenvernichtung der Juden, das ganze Ausmaß und das System dieser Verbrechen erstmals öffentlicher Gesprächsgegenstand wurden. Dass seine Predigthörer das mit Entsetzen zur Kenntnis genommene Verbrechen weder gewollt noch allgemein und konkret davon gewusst hatten, durfte er durchaus als Realität unterstellen. Seine eigentliche Argumentationslinie zielte jedoch in eine andere Richtung, denn der Prediger fuhr unmittelbar fort, „aber jenes Furchtbare ist doch nur die grausigste Entfaltung dessen, was unter uns selbst täglich vorkommt an harter Selbstsucht und Gier und Trotz gegeneinander, an jenem ,einander Beißen und Fressen‘ (Gal. 5,15)“. Gegen diese Tendenz fordere der Predigttext dazu auf, einander zu dienen und zu lieben, was der Prediger konkret machte in der Aufforderung: „Seid gastfrei ohne Murren, nehmt Flüchtlinge und Evakuierte in eure Wohnungen auf …“ So allgemein auch diese Formulierungen blieben, aus ihnen Verdrängung und Selbstrechtfertigung herauslesen zu wollen ist absurd. Sie reflektierten das Entsetzen über die Bilder aus den „befreiten“ Konzentrationslagern, appellierten an die christliche Nächstenliebe in den konkreten Nöten der ersten Monate nach Kriegsende und verbanden damit die Bitte, das Gott „uns tüchtig mache, das nun auch wirklich zu tun, was Gottes Gebot der Stunde ist.“43 von 1953, wo Paul Althaus zur Erläuterung der Differenzen zwischen dem neuen Text und den früheren Auflagen darauf hinweist, damals habe das deutsche Leben im Schatten von Versailles gestanden. „Inzwischen ist viel geschehen, die Lage eine ganz andere geworden und wir haben viel Neues lernen müssen.“ P.A., 1953, S.6. 42 So – voll in der Tendenz seines Lehrers – der Theologie-Student Andr¦ Fischer in einer mir vorliegenden, sehr positiv bewerteten kirchenhistorischen Hauptseminararbeit vom Oktober 2003, S. 28 f. Ein Verdienst dieser Arbeit bleibt es jedoch, zahlreiche weitere Predigtstellen von Paul Althaus bis zum Jahr 1957 identifiziert und dokumentiert zu haben, in denen das Thema Schuld eindeutig und sehr differenziert angesprochen wurde, so dass Fischer abschließend eine abgewogene Bewertung liefert. Er kann sich dabei übrigens auch schon auf die Interpretation von Ericksen (1998) berufen. 43 P.A., 1946 (1), S 240.
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Die konkrete Not der unmittelbaren Nachkriegszeit und auch die noch fehlende zeitliche und mentale Distanz vom „Dritten Reich“ waren einer differenzierteren Analyse der Ursachen- und „Schuld“-Zusammenhänge bei der Etablierung und Ausformung des NS-Terrorregimes nicht förderlich. Umso auffälliger und beachtenswerter ist es, dass der Prediger Paul Althaus sich immer wieder bis in die späten 50-er Jahre hinein zu dem Thema „Schuld“ äußerte. Nur einige, besonders eindrucksvolle Beispiele seien hier zitiert, zumal sie auch ein bezeichnendes Licht auf seine Handlungsmotivationen in der Nachkriegszeit werfen. Im Kontext seiner Rolle bei der Entnazifizierung der Universität im Jahr 1945 liest sich seine Predigt vom 2. 12. 1945: „Daß keine Kluft aufbreche zwischen den politisch Belasteten und den Unbelasteten, zwischen den Bestätigten und den Entlassenen, denen, deren Leben in schwere Unsicherheit gestoßen ist, und uns anderen. Wohl, Schuld soll Schuld bleiben, Mitschuld Mitschuld, Torheit soll Torheit bleiben, Irrtum Irrtum. Wir können und wollen die Maßnahmen, die notwendig sind, auch nicht abwenden. Aber wir müssen inmitten alles dessen Brüder bleiben! Wir müssen die Last der Belasteten, die Bedrängnis derer, die ihres Berufes, ihrer Arbeit verlustig gegangen sind, mittragen, als unsere eigene Sache. Wenn wir nicht als Brüder beieinander bleiben, … wie sollen die Menschen glauben lernen an den Advent Christi, an die Barmherzigkeit Gottes, die über den Abgrund hinweg uns alle besucht hat? Übrigens: Wer von uns wäre ganz „unschuldig“, wer wäre ohne Mitschuld? Wer wäre nicht im Jahr 1940 von dem Rausche des Erfolges, der großen Siege eine Zeitlang hingenommen, geblendet, verführt worden?“44
Deutlich wird in diesem Text ein Stück Selbstkritik spürbar, insbesondere wenn man an die Predigten aus dem Jahre 1940 denkt, in denen Althaus seine Fehleinschätzung des Hitlerschen Krieges als begrenzter Militäraktion zur Revision des Versailler Vertrages noch zum Ausdruck gebracht hatte.45 Die deutschen Verbrechen werden von Althaus schonungslos beim Namen genannt, als er am 16. 6. 1946 über das fünfte Gebot „Du sollst nicht töten“ predigte: „Gott hat der Obrigkeit auch das Kriegsschwert in die Hand gegeben, in Not und Bedrohung ihres Volkes und Landes es zu schützen mit der Waffe. Aber wie furchtbar ist der Krieg entartet, das Kriegsschwert befleckt worden, durch den Mord an fremden Völkern ohne Maß, selbst an den Frauen und Kindern und Greisen! Eine rechte Obrigkeit nimmt das Kriegsschwert nur mit Grauen in die Hand – haben wir davon auch nur eine Spur erlebt bei denen, die uns führten? … Durch den letzten Krieg, durch seine grauenvolle Entartung zum ,totalen Krieg‘ ist die Menschlichkeit, die Scheu vor dem Bilde Gottes, das jeder Mensch trägt, himmelschreiend verraten 44 Ebd., S.288 f. 45 Vergl. dazu oben S. 307.
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worden. Wir bekennen es mit tiefer Scham, mit heißem Schmerz vor Gott und Menschen. … Wir alle, die noch nicht stumpf geworden oder die nun wieder wach geworden sind, wir fühlen: da muß doch Sühne geschehen, unser Land und Volk muß gereinigt, entsühnt werden, der Boden, der so viel Blut getrunken oder Asche von Menschen gefressen hat – der Boden der Lüneburger Heide, wie ist er entweiht und befleckt durch Belsen, der Boden unseres Landes, durch Dachau, Weimar, die Stadt Goethes und Schillers, durch Buchenwald. Es liegt ein Bann, der Fluch frevelhaft vergossenen Blutes auf dem deutschen Lande. Was soll denn nur geschehen? Die Strafe an den Verantwortlichen – wir fühlen es – ist noch keine rechte Sühne. Und unser Abrücken von alledem, unser Entsetzen doch auch nicht.“46
Als Umkehr forderte der Prediger zur Nächstenliebe auf, wobei zu beachten sei: „Du hast es nicht in der Hand, wen Gott dir zum Nächsten macht. Es kann auch der Rassenfremde, der Jude sein. Vor allem: Dein Feind, der Dir wehe getan hat, den du nicht sehen magst, – er, gerade er ist wahrscheinlich durch Gottes Willen dein Nächster.“47
Die eigene Schuld wird selbstkritisch und deutlich in der Weihnachtspredigt von 1946 thematisiert, in der zugleich klare Worte gegen die Aufrechnung deutscher Schuld mit der Schuld der Kriegsgegner formuliert werden: „Wenn er mit uns redet über das, was geschehen ist – was könnten wir ihm antworten, wir als ganzes Volk? Wollen wir uns entschuldigen – vor Ihm? Wollen wir aufbegehren: Wir sind auch nicht schlechter als die anderen!? Was geht uns an, wie die anderen sind, wenn wir vor Ihm stehen? Oder wollen wir, die einzelnen, die Christen, uns von der Schuld der Führung und des ganzen Volkes ausnehmen? Ist es nicht einfach wahr, daß wir mit allem unserem Christentum doch nicht rechtzeitig erkannt haben, welcher gottlose Geist unsere politische Führung beherrschte, was da an Unrecht und Unmenschlichkeit geschah – und dieses Nicht-Sehen, ist es nicht mehr oder weniger doch auch Schuld? Und wenn wir sahen – dass wir nicht mehr aufbegehrt, nicht entschlossener Widerstand geleistet, nicht geschrien haben: Es ist nicht recht, es ist Sünde! – haben wir uns dessen nicht zu schämen? Sind wir damit nicht alle, so klug wir uns für unser Schweigen jeweils entschuldigen konnten, an Gott schuldig geworden? Der große Abfall unseres Volkes – haben wir Christen nicht mit unserer Lauheit Anteil daran? Ich denke, wir alle miteinander dürfen uns vor Gott nicht entschuldigen, wir können nicht anders, als vor ihm schweigen und uns ihm, unserem Herrn und Richter, auf Gnade und Ungnade ergeben. Gnade und Ungnade? Erwarten können wir nur Ungnade. Wenn er uns im Zorn strafen wollte, uns die Zukunft nehmen, unser Leben arm und traurig machen – wer darf sagen: Das habe 46 P.A., 1947 (2), S. 55 f. Man spürt in diesem Zitat im Übrigen auch, wie Paul Althaus hier zur lutherischen Lehre vom Krieg nur als Notinstrument zur Verteidigung des Volkes zurückkehrt und seine früher artikulierte Lehre vom „gerechtfertigten Krieg“ implizit aufgibt. Vgl. dazu unten S. 358 ff. 47 Ebd., S. 62.
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ich nicht verdient? Laßt uns ehrlich und demütig genug sein, das anzuerkennen und zu bekennen. Dann nämlich wissen wir erst, was Weihnachten uns bringt.“48
In seiner Januarpredigt 1946 über das 1. Gebot fragte der Prediger nach den Ursachen der Schuld und interpretierte diese theologisch als Abfall von Gott, was dem späteren Betrachter zwar als ungenügende und zu wenig differenzierende Erklärung erscheinen muss, unter den gegebenen Zeitumständen im Januar 1946 und in der Situation eines Predigers aber konsequent war : „Welches war die eigentliche Schuld des letzten Jahrzehnts? Es war die Schuld gegen das erste Gebot Gottes. Ein doppelter Götzendienst geschah in Deutschland. Zuerst: ein Mensch hat sich seinem Volke an die Stelle Gottes gesetzt: unfehlbar wie Gott, keines Ratgebers bedürftig wie Gott. Und man hat ihn behandelt wie Gott. Gläubig an ihn zu sein, unbedingt – wie man nur Gott dem Herrn trauen darf –, das allein galt als die rechte deutsche Gesinnung. Das Gewissen wurde mattgesetzt, bei hohen Beamten und Ärzten und Generälen, das militärische und politische und sittliche Gewissen: was von der höchsten Stelle befohlen ist, muß ausgeführt werden – und ob es heller Wahnsinn und Verbrechen war. Wo blieb denn der Widerspruch im Namen der militärischen, politischen und sittlichen Einsicht? Daran sind wir ganz unmittelbar zerbrochen, militärisch und politisch. Wir sind an dem ersten Gebote Gottes gescheitert. – Und daneben die Abgötterei mit der Nation, der Rasse. Das Volk, Gottes edles Werk, wurde als Götze missbraucht. ,Recht ist, was dem Volke nützt‘. Schauerliche Verkehrung! Es muß heißen: ,Was gerecht ist, nützt auch dem Volke‘ ,Gerechtigkeit erhöht ein Volk …‘ Aber Gottes heilige Gebote wurden verraten an den Götzen Volk, an sein Leben, wie man es verstand. Gott der Herr aber hat sich das nicht bieten lassen. Er hat seiner nicht spotten lassen. Er hat uns ganz direkt hieran scheitern lassen – Gott sei Dank dafür!“49 (Predigt vom 20. 1. 1946)
Stammen diese Zitate aus der unmittelbaren Nachkriegszeit 1945/46, so gilt zu beachten, dass auch in späteren Predigten Paul Althaus es an Deutlichkeit nicht fehlen ließ. Am Bußtag 1955 interpretierte er die deutsche Teilung als Gottes Strafe: „Daß wir das in zwei Staaten gespaltene Volk bleiben, das ist schwere Not. Und sie ist nicht ohne Gottes Willen. Dabei können wir nun gar nicht anders als an die große Schuld jenes früheren deutschen Staates denken, an der wir so oder so wohl alle beteiligt sind, die als Bann auf unserem Volke liegt, für die wir gutstehen, die wir bezahlen müssen – die entsetzliche Blutschuld des Dritten Reiches, durch deutsche Männer bewirkt, Blutschuld an den Völkern des Ostens, an dem jüdischen Volk … Was in Kultur und Politik übermütig gebaut war, hohl und nichtig, was sich breit machte an flachem Patriotismus und billiger Phrase – es kommt immer der Tag, da Gott es bloßstellt und zunichte macht im Feuer der Geschichte.“50 48 P.A., 1954, S. 52 f. 49 P.A., 1947 (2), S. 9. 50 P.A., 1958 (1), S. 213 und 216.
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Noch 1957 appellierte der Universitätsprediger eindringlich gegen das Vergessen und ermahnte, aus der Geschichte zu lernen: „Daß wir uns klar darüber werden, was in unserer Geschichte Größe und was Versagen, Schuld und Schande war und ist … Wir sind als Volk vor allem mit der Zeit des Nationalsozialismus noch nicht ehrlich fertig geworden. Wie viele haben hier abgeblendet und wollen davon nichts mehr hören und sehen, als ginge es uns nichts an! … Hitlers Versagen und Entartung war in ihrer Tiefe doch auch deutsche Entartung, deutsches Versagen, das seinen Grund auch in spezifisch deutschen Eigenschaften hatte – der Nationalsozialismus hat sich ihrer bedient, sie schlimm entfesselt und gesteigert. Wir müssen dem ins Auge sehen und wach werden zu strengster deutscher Selbstkritik.“51
Die in diesen Predigten vorgetragene Selbstkritik der Kirche, in die sich der Prediger immer einschloss, ist außerordentlich beachtenswert angesichts der in der neueren kirchenhistorischen Literatur immer wieder vorgetragenen Vorwürfe an Althaus, er habe sich stets nur sehr allgemein in die Schuldbekenntnisse eingeschlossen, nie aber konkret seine eigenen Fehlhandlungen angesprochen.52 Im Mittelpunkt steht dabei immer wieder die Kritik, dass Althaus sich offiziell nie vom Ansbacher Ratschlag und dem Gutachten zum Arierparagraph distanziert habe. Zugleich wird diese Kritik dahingehend vertieft, dass diese beiden Stellungnahmen als Beweis für die Verfallenheit des Autors an Nationalismus und Antisemitismus gedeutet werden und man in dieser Grundhaltung die „Schuld“ des Erlanger Theologen sieht, von der sich dieser expressis verbis nie distanziert habe. Will man die mit diesem doppelbödigen Schuldbegriff arbeitende Kritik an Paul Althaus historisch überprüfen, dann ist es geboten, zunächst seine zeitgenössischen Äußerungen zum Thema „Schuld“ außerhalb seiner Predigten zu analysieren. Aufschlussreich ist hier ein Aufsatz aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, aus dem Spätjahr 1946, in dem Althaus sich expressis verbis zum Thema „Schuld“ äußerte.53 Bei der ersten Lektüre erscheint dieser knappe Aufsatz erstaunlich abstrakt. Das Wort ,nationalsozialistische Diktatur‘ ,Nürnberger Prozesse‘, ,Judenverfolgung‘ oder ,Auschwitz‘ kommt in dem Text nirgends vor. Sein zentraler Gegenstand ist die wichtige Unterscheidung zwischen der Schuld vor Gott und der Schuld vor den Menschen. Gott wolle, dass wir ihm den Gehorsam „von ganzem Herzen, gerne darbringen“ (S. 4), während dem menschlichen Gesetz, der Gesellschaft und dem Staat nur an den Akten, dem Tun und Nichttun entscheidend gelegen sei, Gedanken aber zollfrei blieben. „Wenn ich … nach den Maßstäben des Staates meinen Ver51 Ebd., S. 236 f. Die Datierung dieser Predigt im Jahr 1957 ist beachtlich, weil erst ein Jahr später im Zusammenhang mit dem Ulmer Einsatzgruppen-Prozess eine vertiefte Diskussion über die systematischen Verbrechen der NS-Herrschaft in der Öffentlichkeit begann. 52 So exemplarisch in dem zentralen Aufsatz von Berndt Hamm aus dem Jahr 1990. Vgl. B. Hamm, 1990. 53 P.A., 1946(3).
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pflichtungen nichts mehr schuldig geblieben bin, dann kann ich Gott gegenüber und nach Gottes Maßstäben meinem Mitmenschen gegenüber noch das Entscheidende schuldig geblieben und damit im Entscheidenden schuldig geworden sein.“ (S. 5) So sehr Gott grundsätzlich auch das wolle, „was rechte staatliche Gesetze fordern“, müsse bedacht werden, „politische und bürgerliche Gesetze … können – an seinem Willen gemessen – … ihm zuwider sein. In diesem Fall kann der Ungehorsam gegen Menschen Gehorsam gegen Gott sein.“ „Der Anspruch Gottes als solcher … ist Maßstab meiner Schuld im sittlichen und religiösen Sinn.“ (S. 5) Subjektiv setze – so fährt Althaus fort – Schuld die Freiheit unseres Willens und unserer „Verantwortlichkeit“, „unser Personsein“ voraus, dieses sei als „Urtatsache des persönlichen Seins“ … zu bekennen. So sehr unser Handeln als Objekt des Schicksals, als Ergebnis geschichtlicher Verhältnisse bedingt sei, „wir sind und tun es zugleich tathaft willentlich und darum verantwortlich.“54 Gleichwohl gäbe es auch ein Versagen, das nicht Sache der Person im strengen Sinne sei. Althaus nennt es hier „geschichtliche Schuld, wenn in kritischer Lage Einsicht und Kraft nicht ausgereicht haben, um das Notwendige zu tun.“ Aber diese geschichtliche Schuld ist für Althaus keine Schuld im strengen Sinne. „Wir können unser Irren und unsere Ohnmacht in einer Entscheidungsstunde, die vollmächtiges Handeln forderte, tief beklagen, aber wir können uns deswegen nicht anklagen – und hören hier auch keine Anklage Gottes … Aber das Versagen als solches befleckt uns als Person nicht. Irren und Ohnmacht können ohne Schuld sein. Sie können geschichtliche Schande über uns bringen, aber deswegen nicht auch in jedem Fall persönliche Schande vor Gott.“ (S. 6) Ob Paul Althaus hier an sein eigenes Verhalten 1933/34, an seine Hoffnungen auf die „deutsche Wende“ und an die Unterschriften unter das Arierparagraph-Gutachten und den Ansbacher Ratschlag gedacht hat, ist zwar nicht beweisbar, scheint aber doch sehr naheliegend zu sein. Die nur indirekte Form dieses „Schuldbekenntnisses“ sowie insgesamt die scharfe Unterscheidung zwischen einerseits religiös-sittlicher Schuld vor Gott und andererseits der Schuld vor den Gesetzen des Staates muss man allerdings auch aus der Situation 1946 begreifen. Als dieser Aufsatz erschien, stand Althaus unmittelbar vor der dann Ende Januar 1947 erfolgenden Entlassung durch die Besatzungsmacht aufgrund der Entnazifizierungsgesetze. In einer solchen Situation eindeutige politische Schuldbekenntnisse über eigene konkrete Handlungen im Zusammenhang mit der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur abzugeben, wäre äußerst unklug gewesen. Dieser Situation widersprach es nicht, wenn Althaus im Schlussabschnitt seines Aufsatzes über
54 Die hier skizzierten Dimensionen des persönlichen Schuldbegriffes lassen Paul Althaus in anderen Zusammenhängen für die Todesstrafe plädieren. Vgl. dazu unten S. 367 ff.
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die Schuldgemeinschaft insbesondere der Völker sprach. Zwar sei jeder für sich schuldig, das heiße aber nicht, „daß wir nicht auch miteinander schuldig wurden … Sofern wir in einer Gemeinschaft miteinander wollen, miteinander handeln, in einem Willen … sind, sind wir miteinander schuldig … Das bedeute allerdings nicht, daß ich alles Konkrete, was an Furchtbarem in der Gemeinschaft, zu der ich gehöre, geschieht, mir auch als meine persönliche Schuld aneignen und zurechnen soll …“ Gleichwohl gäbe es einen tieferen Zusammenhang auch dieser Untaten, weil „alles Böse … aus dem gemeinsamen Wurzelgrund des menschlichen Herzens stammt, das überall und zu allen Zeiten das eine und selbe ist. Ich kann mich von den furchtbaren Taten distanzieren, aber nie von der inneren Verfassung … Wie sollte ich nicht alles, aber auch alles, was von irgendeinem meiner Menschenbrüder geschah, in mein Schuldbewusstsein vor Gott mit aufnehmen müssen – vor Gott, nicht vor einer menschlichen Instanz … Mein Reden und mein Schweigen, mein Billigen und stillschweigendes Dulden, mein vielleicht sehr bescheidenes und zahmes Mich-Gehenlassen, mein Mitläufertum in dem Aufstand wider Gottes Gebote, alles das hat ungeahnte, ungewollte, aber nichtsdestoweniger höchst reale Fernwirkungen. Dieser Zusammenhang macht mich mitverantwortlich vor Gott, weit über meine persönliche Schuld hinaus … Nicht alle Schuld ist meine persönliche Schuld. Aber ich bin in aller Schuld mitschuldig.“ (S. 7 f.)
Allerdings sei diese Schuldgemeinschaft dem Erkennen und der Justiz einer menschlichen Instanz entzogen. Nicht menschliche Richter, sondern nur Gott rede hier mit mir, zu meinem Gewissen. So abstrakt formuliert diese – auch begrifflich nicht sehr klaren – Thesen über die Schuld – Schuld vor Gott, Schuld vor menschlichem Gericht, historische Schuld – erscheinen, man spürt in den einzelnen Formulierungen und Argumenten doch deutlich, dass hier ein Stück weit Aufarbeitung der Vergangenheit versucht wird. Sie bleibt zwar sehr allgemein, insbesondere in den Abschnitten über die Schuldgemeinschaft, aber man kann ihr eine deutliche Selbstreflektion abspüren, die freilich noch nicht zu einem überzeugenden Abschluss gekommen ist. Will man diese Ausführungen inhaltlich bewerten, dann gilt es freilich auch den Zeitpunkt ihrer Formulierung zu beachten. Konkrete Zusammenhänge zwischen dem „gut gemeinten“, „kirchlich eingehegten“ ArierparagraphGutachten und Auschwitz waren über allgemeine Formulierungen hinaus im Jahr 1946 kaum erkannt. Sie erforderten noch einen jahrelangen Prozess der Aufarbeitung. 1946 beherrschte das Entsetzen über das unbegreifliche Geschehen zunächst die gesamte Situation. Und wer unter dem Begriff der – juristischen – Schuld aktive Beteiligung und Unterstützung krimineller Aktivitäten verstand, der konnte sich in aller Regel zunächst als „Nicht betroffen“ einordnen. Die Überlegungen von Althaus waren gerade in ihrer Offenheit und Unabgeschlossenheit durchaus produktiv. Zugleich muss bei seiner scharfen Unterscheidung zwischen der Schuld vor Gott und der vor menschlichen Gerichten einklagbaren Schuld auch die eigene konkrete Si344
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tuation mit reflektiert werden. Würde er nicht so klar differenzieren, wäre er möglicherweise Gefahr gelaufen, dass dieser Artikel in seinem Entnazifizierungsverfahren missbraucht worden wäre, um seine Entlassung zu begründen. Für seine Selbstverteidigung war diese Unterscheidung hilfreich, sinnvoll und geboten. Aber auch jenseits dieser taktischen Erwägungen bleibt festzuhalten, dass das Problem der Schuld auch unter Einschluss persönlicher Dimensionen von Paul Althaus 1946 – wenn auch eher allgemein – deutlich angesprochen wurde. Unter dem Gesichtspunkt der Verarbeitung der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus kann man im Übrigen auch eine Rede lesen, die Althaus aus Anlass des 400. Todestages am 18. Februar 1946 unter dem Thema: „Luther und das öffentliche Leben“ hielt.55 Althaus bekannte sich hier in einer sehr differenzierten Weise zur lutherischen „Lehre von den zwei Reichen“, von der aus Luther zu Unrecht vorgeworfen werde, dieser habe „das öffentliche Leben so grundsätzlich aus den heiligen Bindungen losgemacht …, daß er an der grausigen Entsittlichung des politischen Lebens, in Sonderheit der deutschen Politik, an der Entfesselung der Dämonen zuletzt mitschuldig sei.“ (S. 130) Er widerlegte diese Sicht durch eine differenzierte Darlegung der lutherischen Lehre von Staat und Kirche, wobei besonders interessant ist, wie er hier zustimmend Luthers Lehre vom Staat, der „der größte Schatz“ sei, weil er „Ordnung hält, den Frieden wahrt“ (S. 134) darstellt. „Härte und Gewalt“ seien nur gerechtfertigt, um des Dienstes am anvertrauten Leben willen, also in tiefer Sachlichkeit und gebunden unter Gottes Wort. Aus dieser Sicht lasse Luther nur den „Notkrieg“ gelten, nur „die einzige elende Notwehre“ berechtige die Obrigkeit, zu den Waffen zu greifen. Der Akzent, den Althaus bei dieser Interpretation setzte und der seine innere Zustimmung abspüren ließ, bedeutete zugleich – wenn auch implizit – eine klare Abkehr von der „Kriegstheologie“, der Lehre vom „gerechtfertigten Krieg“ im Interesse der Lebensentfaltung des dem Staat anvertrauten Volkes, die Althaus in den 20-er Jahren formuliert hatte.56 Bei der überarbeiteten Neuauflage seines „Grundriß der Ethik“ aus dem Jahr 1953 und dann 1965 in seiner Darstellung der Ethik Martin Luthers hat Althaus diese Korrektur ebenfalls ganz deutlich und präzise umgesetzt.57 Sie ist – wie sich in diesem Lutheraufsatz von 1946 dokumentiert – offensichtlich eine unmittelbare Frucht der Verarbeitung der Erlebnisse der nationalsozialistischen Katastrophe. Lernende Verarbeitung der jüngsten Geschichte spürt man auch in einem Vortrag, den Althaus am 9. Juni 1947 in Bonn über das Thema „Vom Sinn und Ziel der Geschichte“ gehalten hat.58 Er sprach in der Bonner Lutherkirche auf Einladung des Presbyteriums – und nicht der Fakultät. An Doerne berichtete 55 56 57 58
P.A., 1946 (1). Vergl. oben, S. 189 ff. P.A., 1953, S. 151 und P.A., 1965, S. 147. P.A., 1947 (3).
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er am 29. 7. 1947 (NLA K10) über seine Kontakte im Umfeld des Vortrages. Mit dem Neutestamentler E. Stauffer, der wenig später einem Ruf nach Erlangen als Nachfolger von Strathmann folgte, habe er sich getroffen und H. E. Weber besucht, „die übrige Fakultät schnitt mich, daher auch ich sie. So habe ich mit Meister Karl Barth nur durch das Medium seiner Studenten, die meine Hörer waren, verkehrt. Es ging nicht anders. Ich durfte und konnte mich rebus sic stantibus, bei seinen BußAnforderungen an anders gesinnte Kollegen, nicht zum Fußkuß herbeilassen. Ob es politisch klug war, durfte ich nicht fragen. Manche Leute vermuten, daß er an meiner Absetzung nicht unbeteiligt ist, und ich halte es nicht für völlig ausgeschlossen, daß die Erlanger Spruchkammer sich auch von ihm einen Urias-Brief geholt hat. Das kann aber irrig sein.“
Die „Buß-Anforderungen“, die Karl Barth in der Wahrnehmung von Paul Althaus stellte, muss man mit bedenken, wenn man das offensichtlich komplizierte Verhältnis des Erlanger Theologen zu seiner eigenen speziellen „Schuld“ im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus analysieren will. Pointiert gesagt: Althaus sah z. B. den Ansbacher Ratschlag als theologisch notwendige Korrektur und Ergänzung zur von Barth geprägten Barmer theologischen Erklärung und eben nicht als Zustimmung zum Nationalsozialismus und zu den Deutschen Christen. Die offenkundig nicht mit bedachte oder vorher nicht erkannte Missbrauchbarkeit des Ratschlags durch die Nazis galt ihm in seiner oben geschilderten Begrifflichkeit nicht als persönliche Schuld sondern allenfalls tragische Verstrickung guter Absichten. Diese Einschätzung wird durch den Vortrag, den er in Bonn hielt, unterstrichen. Obwohl das Thema Schuld, Schuld der Kirche, Schuld der Christen, in der Überschrift des Vortrages expressis verbis nicht angesprochen wurde, war es in der Sache durchaus ein zentraler Gegenstand der Erörterung. In den Einleitungsteilen dieses Vortrages wird zunächst jedoch gegen Hegel und Fichte, jedes Reden von einem Gesamtplan der Geschichte, vom Fortschritt in der Geschichte abgelehnt, weil all diese Gedanken „uns längst zerbrochen“ sind. Wer diese Formulierung liest, spürt hier auch eine Distanzierung des Autors von seiner früheren Interpretation der Napoleonischen Kriege und der Bismarck’schen Reichseinigung im 19. Jahrhundert als ein „Zu-Sich-SelbstKommen der deutschen Geschichte“, als eine „Fügung“ durch Gott als den „Herrn der Geschichte“. 1948 distanziert der Erlanger Theologe sich von solcher Geschichtsinterpretation. Zwar fordere und rufe Gott jeden einzelnen und jedes Volk im konkreten Handeln für Gott da zu sein, aber diesen „Sinn der Geschichte“ durchkreuzten und zerstörten drei Mächte. Die Erfüllung der Forderung „für Gott da zu sein“ scheitere 1. an der „Macht des Bösen in uns, unserer Selbstsucht und Gier“, 2. am – trotz allen guten Willens – „Dämonischen in der Geschichte“, das uns bewusst mache, „wie wir gebunden und gefangen sind, in welchen unheimlichen Zusammenhängen nicht nur unser böses, sondern auch unser relativ ,gutes‘ Wollen und Handeln tritt“ und 3. an 346
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dem Gesetz des Todes, in dem die Geschichte der Menschen verfasst sei, das zu Konkurrenz um die „Knappheit der Nahrung, in der Raumenge“ zwinge und ein „seinshaftes Verhängnis“ sei, weil es uns zwinge, „auch gegeneinander zu stehen“. Dabei gehe es nicht nur „um einen moralischen Tatbestand, sondern auch um einen seinshaften, um ein furchtbares Gesetz unserer Existenz, das uns wider einander zwingt, Lebensanspruch gegen Lebensanspruch.“ (S. 6 ff.) Diesen drei Mächten, gegen die die Christen zwar kämpften, mit denen sie aber nie fertig würden, folge Verzweiflung, weil die Geschichte ohne heilvollen Sinn bleibe. Nur „von Jesus Christus allein geht die Sinngebung der Geschichte aus“. Durch Christi Kreuz spüre man „die große Verheißung, daß wir aus dem Gefängnis unseres bösen Wesens ganz befreit werden“; von dem kommenden Reich Gottes her bekomme „unser Leben inmitten aller Sinnwidrigkeit und Nicht-Erfüllung neuen Mut und Zuversicht zum Handeln und Kämpfen …, wenngleich wir nicht immer siegen, sondern viele Niederlagen erleiden“. Das gelte für den „Kampf mit uns selbst, mit dem alten Menschen“ ebenso wie dem „uns aufgetragenen Kampf mit der Todesmacht und mit den Dämonen“, den wir unverzagt in unserem leiblichen Leben aufnehmen, weil wir „an das in dem auferstandenen Jesus Christus angebrochene und verheißene Leben“ glauben. (S. 9 ff.) Dass Althaus diesen Vortrag mit dem gemeinsamen Gesang des Chorals: „Wachet auf ruft uns die Stimme“ abschloss, unterstrich, dass es ihm nicht um akademisch-wissenschaftliche Ausführungen, sondern um eine Orientierung der christlichen Gemeinde in der Zeit großer innerer und äußerer Not ging. Aus biografischer Perspektive darf der Vortrag deshalb besonderes Interesse beanspruchen, weil er einmal offenbart, dass Paul Althaus nach den Erfahrungen der Herrschaft des Nationalsozialismus offensichtlich seine Einsichten zum Sinn der Geschichte entscheidend modifizierte. Von der Sicherheit, mit der er in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts den Sinn in der Nationsbildung erkannte, die auch die Bismarck’schen Reichseinigungskriege gerechtfertigt hätte, ist hier nichts mehr zu spüren. Die Sinngebung wird nur christologisch begründet und kann nur im glaubensvollen Handeln der Christen in ihrer je konkreten Situation und Umwelt versucht werden. Beachtenswert ist ferner – insbesondere bei der Frage nach Schuld und Schuldeingeständnis –, dass Althaus hier differenziert in persönliche Schuld, dämonische Verstrickung – trotz guten Willens – und das Gesetz des Todes, das „furchtbare Gesetz unserer Existenz, das uns im Kampf um Nahrung, Raum und Lebensanspruch wider einander zwingt“. Auf dem Hintergrund der Hungersnot und der allgemeinen Krise im Zusammenbruch von 1945 gewinnen diese sehr abstrakten Unterscheidungen eine unverkennbare Aktualität, und man darf gewiss unterstellen, dass die damaligen Hörer – in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft geschult im Hören auf Zwischentöne – diese sehr deutlich gespürt haben. Für Althaus ist insbesondere die Unterscheidung von persönlicher Schuld und dämonischer Verstrickung aufschlussreich. Offensichtlich begriff er den Ansbacher 347
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Ratschlag, das Arierparagraph-Gutachten und auch seine Zustimmung zur „deutschen Wende“ im Frühjahr 1933 als solche Aktionen guten Willens. Ihre rechte kirchliche und theologische Intention wurde durch die „Dämonie der Zeit“ entstellt, „wider Wollen und Wissen benutzt, bewirtschaftet, ausgebeutet, vergewaltigt durch die finstere Macht der Verwirrung und Zerstörung.“ (S. 7) In der Sicht der allerersten Nachkriegsjahre, in der die Aufarbeitung der NS-Zeit noch in den Anfängen steckte, ist diese persönliche Interpretation verständlich. In dem gleichzeitig laufenden Entnazifizierungsverfahren hätte eine direkte Zuordnung z. B. des Arierparagraph-Gutachtens oder des Ansbacher Ratschlages zur persönlichen Schuld unmittelbar schädliche Konsequenzen nach sich ziehen können und zugleich die theologische Positionierung gegen Karl Barth demontiert. Den Missbrauch des Gutachtens durch die Deutschen Christen als „dämonische Verstrickung“ einzugestehen, vermied diese Gefahr, betonte die aufrichtigen guten Intentionen und implizierte zugleich eine gewisse indirekte Distanzierung, die Althaus zum Ansbacher Ratschlag im Übrigen schon im Herbst 1934 auf der Dahlemer Synode formuliert hatte.59 Gewiss muss man feststellen, dass Paul Althaus mit der „dämonischen Verstrickung unseres Tuns“ an dieser Stelle im Grunde eine Denkfigur aufgriff, die er in seinem Aufsatz über Schuld in der Dreiteilung Schuld vor Gott, Schuld vor menschlichem Gericht und historische Schuld zusammengefasst hatte. Die unterschiedliche Terminologie mit ihren Unschärfen und auch Unausgewogenheiten wird man auf den noch unabgeschlossenen Denkprozess der Verarbeitung der NS-Zeit zurückführen dürfen. Die eigene Rolle im Prozess der Etablierung der NS-Herrschaft, die Hoffnungen und Irrungen, die richtigen Erkenntnisse und Positionierungen ebenso wie die eigenen Illusionen auch in ihrer jeweiligen Instrumentalisierbarkeit richtig zu erkennen, erforderte viel Einsicht und wohl auch noch mehr zeitlichen Abstand, um den historischen Dimensionen in begrifflicher Klarheit gerecht zu werden. Gleichwohl bleiben die hier analysierten Texte Dokumente einer intensiven und durchaus produktiven, eher allgemeinen Reflexion, die in dem abschließenden Kapitel noch einmal aufgegriffen werden sollen. Das geschieht auch deshalb, weil in den späteren Schriften aus den 50-er und 60-er Jahren auch inhaltlich noch genauer der Frage nachgegangen werden kann, wo und auf welche Weise Althaus sich von eigenen früheren Thesen und Theorien distanzierte oder diese modifizierte, sich also selbst korrigierte. Die Schwierigkeiten, zu einer differenzierten Einsicht und Identifizierung eigener persönlicher Schuld und eigenen Versagens zu kommen, wird 1947/ 1948 exemplarisch deutlich in einem aufschlussreichen Briefwechsel zwischen dem Schweizer Pfarrer Rh. Gelpke und Althaus.60 In einem engagierten und 59 Vgl. oben S. 256. 60 Zwei Briefe von Rh. Gelpke und ein Brief von Paul Althaus an Gelpke in NLA K 10.
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persönlichen Brief – begleitet von einem Lebensmittelpaket – hatte sich Gelpke, der bei Emil Brunner in Zürich mit einer Doktorarbeit über : „Die Souveränität Gottes als Bestimmung und Grenze der staatlichen Hoheitsmacht“ promovieren wollte, sehr offen und vertrauensvoll an Paul Althaus gewandt, obwohl er ihm als „theologischer Antipode gegenübertreten“ werde. Aus Althaus Schriften der späten 20-er und frühen 30-er Jahre werde er „insbesondere … Ihre Stellungnahme zum Problem des Krieges (Verknüpfung des Krieges mit der Frage nach dem „Beruf“ eines Volkes, Krieg als göttliche Ordnung, Verzicht auf ethische Beurteilung und auf das Aufwerfen der Schuldfrage) und der Innenpolitik (Führergedanke, gewaltsame Ausschaltung der Opposition, Nichteinmischung der Kirche in politische Sachfragen)“ zum Gegenstand seiner Kritik machen. Althaus sei vielleicht von den damaligen Positionen inzwischen abgewichen: „So viel ich von Frl. Hessberg weiß, haben Sie vor den Erlanger Studenten ein ergreifendes Bekenntnis vieler Irrtümer abgelegt, doch weiß ich nicht genau, worauf sich dieses Bekenntnis bezieht. Aber Sie sind sich offenbar schon dessen bewusst geworden, dass Ihre Stellungnahme in irgendeiner Weise dem Nationalsozialismus und der moralischen Kriegsvorbereitung Vorschub geleistet hat.“ Darum bat Gelpke: „Schreiben Sie mir bitte …, inwiefern Sie die damaligen Positionen zum Krieg und zur Innenpolitik aufrechterhalten, korrigieren oder zurücknehmen …“ Gelpke verband diese Bitte mit dem Eingeständnis eigener Fehleinschätzungen dem Nationalsozialismus gegenüber und der Ankündigung weiterer Lebensmittelpakete, um die Solidarität der Christen untereinander zu betonen. Dieser Brief erreichte Althaus als das Votum der Spruchkammer noch ausstand. Es fiel erst am 30. 12. 1947. Althaus antwortete am 2. Februar 1948 – zwei Tage vor seinem 60. Geburtstag – mit einem fünfseitigen Schreibmaschinenbrief. Am Ende bedankte er sich „für die Güte Ihrer Pakete, die uns in oft mehr als ärmlicher Ernährungslage eine sehr große Hilfe sind!“ zugleich bat er um Geduld, „wenn ich Ihnen bekenne, daß ich noch mitten in der Selbstrevision, ja erst am Anfang stehe und noch wenig Rundes zur retractatio sagen kann. Ich verspreche nur, daß ich Ihnen mit großem Ernste zuhören werde, und daß ich es mir mit der Revision und der metanoia, wo sie nötig ist, nicht bequem machen will.“ Zuvor hatte er, um seinen Nachprüfungsprozess zu unterstreichen, berichtet, dass er bewusst verhindert habe, dass in der Ausstellung seiner Bücher im Schaufenster der Erlanger Buchhandlung aus Anlass seines 60. Geburtstages auch seine Arbeiten zur politischen Ethik präsentiert worden seien, da er „jede dieser Schriften erst sorglich überprüfen“ müsse. Allerdings brauche er dafür noch Zeit, da er in den letzten beiden Jahren vorwiegend an der Dogmatik gearbeitet habe. Außerdem sei er „misstrauisch gegen jede voreilige confessio“. In der Sache fühlte er sich vielfach missverstanden oder vereinseitigt, allerdings habe er „leider nur nicht in jeder Schrift alles Nötige gesagt“. Darüber hinaus gab er durchaus zu: „ich habe in einer Schrift von 1933 gefehlt, und auch noch in anderen Äußerungen jenes Jahres –
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von 1934 an erkannte ich das Gesicht des Nationalsozialismus, dem ich immer misstraut hatte, in Klarheit, und habe seitdem, wie mir meine Schüler bezeugen, in meinen Vorlesungen sie vor der Infektion bewahren helfen durch stete Polemik gegen die ,Weltanschauung‘ und den ,Amoralismus‘.“
Gelpke besuchte im Sommer oder Herbst 1948 Althaus in Erlangen, denn in einem Brief vom 8. 11. 1948 bedankte er sich ausdrücklich bei diesem für das eindrucksvolle persönliche Gespräch, „da wir als Gegner im Bereich der theol. Ethik und doch als Brüder einander gegenübersaßen“. Ihr Gegensatz sei „wenigstens jetzt bestimmt und begrenzt durch das, was wir in der Bindung an den gemeinsamen Herrn bekennen.“ Gelpke hält fest, „dass das falsche oder undeutliche Zeugnis vieler evangelischer Theologen für den heutigen Kampf der Kirche eine schwere Belastung ist“, der Sache sei aber am besten gedient, „wenn die betreffenden Theologen selber die nötigen Retractationen vornehmen. Sie haben das in dem Maß zugesichert, als Sie im Rahmen Ihrer bekenntnismäßigen Bindung Verirrungen feststellen und zugeben können … Ich bin davon überzeugt, dass Sie, wenn Sie die mir enthüllte Absicht verwirklichen, einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dem evang. Zeugnis gegenüber den politischen Mächten wieder zur nötigen Vollmacht zu verhelfen.“
Dieser Briefwechsel zwischen Gelpke und Althaus ist hier so ausführlich zitiert worden, weil er in eindrucksvoller Weise Einblick gewährt in den komplizierten Umgang von Paul Althaus mit seinen Fehlern und Irrtümern. Offensichtlich war er im persönlichen Gespräch sehr viel offener und bereit, Fehler einzugestehen. Das spürt man in dem Bericht von Gelpke den Hinweisen auf die von Althaus „enthüllte Absicht“ zu entsprechenden Retractationen und seinem Verweis auf die Erlanger Studentenkreise, vor denen Althaus „ein ergreifendes Bekenntnis vieler Irrtümer abgelegt“ habe.61 Die schriftlichen Äußerungen von Althaus in dem Brief an Gelpke sind demgegenüber noch unabgeschlossen. Zwar räumt er Fehler „ein in einer Schrift von 1933“ – man wird wohl unterstellen können, dass er auf „Die deutsche Stunde der Kirche“ anspielt, – aber diese Hinweise bleiben relativ blass gegenüber den ausführlichen Darlegungen, mit denen er sich gegen allzu einfache Interpretationen wehrt und seine Vorbehalte gegen den Nationalsozialismus betont. Offensichtlich hatte Althaus große Schwierigkeiten, seine eigene Rolle in den Jahren 1933/34 angemessen einzuordnen und selbstkritisch konkret zu interpretieren, so sehr ihm auch bewusst war, dass die Kirche generell und damit auch er offensichtlich Fehler gemacht hatten. Allerdings wird man berücksichtigen müssen, dass wir uns 1948 noch im Anfang dieses Reflektionsprozesses befinden, aber es bleibt aufmerksam zu fragen, ob und wie sich dieser Prozess in den späteren Jahren bei Paul Althaus weiterentwickelt hat. Für die frühe Nachkriegszeit ist zum Abschluss des Kapitels noch darauf 61 Auch Wolfgang Trillhaas (1976, S. 85) berichtet in seinen Memoiren, dass Althaus in seinen Seminaren oft klarer gewesen sei als in seinen Veröffentlichungen.
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hinzuweisen, dass Althaus die erzwungene Pause vom Februar 1947 bis zum April 1948 vor allem dazu nutzte, um sein weithin während des Zweiten Weltkrieges geschriebenes großes Hauptwerk „Die christliche Wahrheit“ nun endgültig zu formulieren und druckfertig zu machen. Der erste Band erschien im Spätjahr 1947, der zweite in den ersten Monaten 1948. Mit ihren insgesamt 883 Seiten legte Althaus hier eine voluminöse Gesamtdarstellung der lutherischen Dogmatik vor. Er bot eine umfassende Orientierung und überbot damit seinen auch nach dem Krieg wieder aufgelegten knappen „Grundriß der Dogmatik“ deutlich. Offensichtlich fehlten vergleichbare kompendienhafte Lehrbücher damals im theologischen Raum. Dieses Werk entsprach einem unter Theologen – Studenten und Pastoren – weit verbreiteten Bedürfnis, was sich aus dem raschen großen Absatz belegen lässt.62 Hinzu kam, dass die sich auch hier erweisende Fähigkeit von Paul Althaus zu klarer Sprache und offener Diskussion, die auch Gegenmeinungen fair referierte und dadurch den Bedürfnissen einer breiten Leserschaft deutlich entgegenkam. Ohne Frage waren Theologiestudenten und amtierende Pastoren die Hauptadressaten des Buches, aber Duktus und Stil der Darlegungen zielten eben auch auf die gebildeten Laien, die anzusprechen und zu erreichen für Althaus immer ein Herzensanliegen war. Trotz des erheblichen Umfangs überrascht es daher nicht, dass die erste Auflage von 1947/48 mit ihren 5000 Exemplaren rasch verkauft war. Ein vergleichbares Grundlagenlehrbuch fehlte damals. Schon 1949 erschien mit der zweiten Auflage das sechste und siebte Tausend.1952 folgte die überarbeitete und etwas gekürzte einbändige dritte Auflage. 1972 kam dann – sechs Jahre nach dem Tod von Paul Althaus – schließlich die achte Auflage, die bisher letzte. Für ein so umfangreiches Spezialwerk bedeutete das einen beachtenswerten Erfolg. Es kann hier nicht der Ort sein, die Inhalte dieses bedeutsamen Werkes detailliert darzustellen. Aus biographischer Sicht ist wichtig, wie Althaus in den Eingangspassagen sein Verständnis von der Theologie als Wissenschaft darlegte. Er bestimmte die Theologie als „die wissenschaftliche Selbstbesinnung des christlichen Glaubens“, sie sei daher „nicht voraussetzungsloses, sondern gebundenes Denken … eine Funktion des christlichen Glaubens, Erkenntnisarbeit innerhalb der Kirche.“ (S. 6 f). Von daher unterschied Althaus die Theologie von einer rein positivistischen Religionswissenschaft. Aber er betonte, auch „gebundenes Denken“ könne wissenschaftliches Den62 Ich besitze aus dem Nachlass meines ältesten Bruders, der 1948 und 1948/49 in Erlangen bei Paul Althaus studierte, ein Exemplar der zweibändigen ersten Auflage, das durch Unterstreichungen in allen Teilen fast auf jeder Seite zugleich ein Zeugnis ablegt für die intensive Lektüre dieses zentralen Werkes.– In seinem Gratulationsbrief zum 70. Geburtstag von Althaus berichtete der Präsident der Kirchenkanzlei der EKD, Heinz Brunotte, er habe 1948 die zweibändige Dogmatik erworben, obwohl er „bei Feesche in Hannover damals 8 kg. Altpapier abliefern musste“; mit alten Büchern sei es ihm gelungen, diese Forderung zu erfüllen; er benütze die Dogmatik von Althaus noch heute. (Brief Heinz Brunotte vom 3. 2. 1958 NLA K 6, 8).
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ken sein, da Bindung an grundlegende Standpunkte Kennzeichen vieler Wissenschaften sei. „Erkenntnisarbeit innerhalb der Kirche“ forderte für Althaus jedoch selbstverständlich die Aufnahme „historisch-kritischer Fragestellungen“, diese seien „geistiges Schicksal, dem wir uns nicht entziehen können.“ (S. 8). Ihren Dienst in der Kirche könne die Theologie als Wissenschaft aber nur in „äußerer Freiheit ihr gegenüber tun. Ihre Bindung kann allein die innere Bindung an die ihr mit der Kirche gemeinsame Sache sein.“ (S. 16). Martin Doerne hat in einer sehr inhaltsreichen und differenzierten, keineswegs unkritischen Rezension der „Christlichen Wahrheit“ abschließend hervorgehoben, diese Dogmatik baue „eine Brücke vom Gestern zum Morgen“, darin beruhe die „besondere Berufung von Paul Althaus“.63 Diese Bewertung trifft eine zentrale Funktion des Theologen Paul Althaus und auch sein Selbstverständnis, wie es sich in den zitierten Eingangspassagen der Christlichen Wahrheit darstellte: wissenschaftlich zwar selbstständig und offen in der Auseinandersetzung mit der historisch-kritischen Methode, aber im Dienst an der „mit der Kirche gemeinsamen Sache“. Die Wurzeln in der „positiven Theologie“ der Väter sind hier ebenso spürbar wie die individuelle Einheit des ebenso frommen Christen wie wissenschaftlich gelehrten Theologen Paul Althaus. Diese dem Buch stets abspürbare Einheit von Glauben und Denken war es wohl auch, die die Dogmatik von Althaus für angehende und amtierende Pfarrer so attraktiv und hilfreich machte. Darüber hinaus spürt man der Christlichen Wahrheit immer wieder ab, wie die Auseinandersetzung mit Karl Barth und dessen „Offenbarungsmonismus“ das Denken von Althaus zentral bestimmte. Der schon damals nicht unumstrittene, für Althaus wichtige Begriff von Gottes „Uroffenbarung“ in Natur und Geschichte, den er in dem Einleitungsteil als „Grundlegung der Dogmatik“ entfaltete und von der „Heilsoffenbarung Gottes in Jesus Christus“ unterschied, ist wissenschaftsgeschichtlich zu wesentlichen Teilen aus der Kontroverse mit Karl Barth abzuleiten. Althaus versuchte sich damit als lutherischer Theologe zu positionieren und löste gleichwohl vielfach Kritik aus.64 Für die Wirkung dieses 63 ThLZ 74 (1949), Sp. 449 – 458. 64 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dieser Kritik ist die ausführliche Rezension von Gerhard Gloege (In: Deutsche Literaturzeitung, Jahrgang 72 (1951), Sp. 149 – 156), die nach lobenden Eingangsbemerkungen sehr massive Einwände erhebt gegen die „Unklarheiten“ der von Althaus entwickelten Lehre von der Uroffenbarung, die ihm eine Verquickung von Theologie und Geschichtsphilosophie vorwirft und seine Abwertung des Alten Testamentes moniert. Gloege war während der Herrschaft des NS Leiter eines von der BK getragenen Predigerseminars, stand aus diesem Erleben der Theologie von Karl Barth nahe, fühlte sich aber gleichwohl Paul Althaus persönlich verbunden, was sich in einem erläuternden persönlichen Begleitbrief vom 25. 5. 1951 (NLA K 10) an Althaus, den er als „Hochverehrter Meister. Sehr verehrter Herr Kollege“ ansprach, dokumentierte. Hier betonte er seine prinzipielle Zustimmung zum Gesamtwerk. Als späterer Redakteur der 3. Auflage der RGG bat er – unter Bezug auf frühere Gespräche –, dass Althaus die Bearbeitung der Hauptartikel Christologie und Eschatologie übernähme (Brief vom
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Buches sehr charakteristisch ist auch ein persönlicher Brief des Nürnberger Kreisdekans Julius Schieder vom 1. 9. 1948. Schieder bedankt sich für die Glückwünsche von Althaus, offensichtlich zu seinem Geburtstag, und fährt fort „Das Zusammensein mit Ihnen war mir immer eine liebe Sache – auch wenn wir nicht immer ganz übereinstimmten. – Es geht mir auch bei Ihrer Dogmatik so, die – wenn ich auch manche Frage dabei habe – mir doch viel bedeutet hat.“ (NLA K 11b) Das gesamte Buch ist in seiner Gedankenführung abgerundet und informativ, ebenso klar wie engagiert vorgetragen, sodass trotz einzelner wichtiger Einwände das Werk ein großer Erfolg wurde. Unter heutigen Theologen besitzt es jedoch keine Aktualität mehr, allenfalls wissenschaftshistorisches Interesse wird ihm zugebilligt. Gegenüber den theologischen Neuansätzen bei Karl Barth und Rudolf Bultmann verkörpert das Werk von Paul Althaus eher eine traditionell kirchliche Position, allerdings war diese stets aktualisiert durch einen intensiven Rückgriff auf Luther im Zuge der Luther-Renaissance, durch eine Bezugnahme auf Schleiermacher und die Nutzung historisch-kritischer Methoden sowie durch die – in Ablehnung, aber auch in partieller Zustimmung – immer wieder artikulierte Auseinandersetzung mit Barth und Bultmann. Trotz der Formulierung von Gegenpositionen bleibt der Respekt von Paul Althaus vor Karl Barth stets spürbar. Am 4. 1. 1945 schrieb er während der Arbeit an seiner Dogmatik an seinen Freund Doerne: „Ich lese in diesen Tagen in Heyses „Idee und Existenz“65 und bin doch einigermaßen erschüttert (und erleichtert) durch die Flachheit und Ungewichtigkeit des Ganzen. Dagegen hat Barth I, 2 mit seinem allerdings überdimensionierten Passus über das Bekenntnis wieder einmal starken Eindruck auf mich gemacht. Er ist schon ein Riese, und die Souveränität seiner Gedankenführung wird von keinem Zeitgenossen auch nur von Ferne erreicht. Die Barthianer sind größtenteils ein höchst unerfreuliches Geschlecht. Aber bei dem Meister werden wir alle auch weiterhin in die Schule gehen müssen.“ (NLA K 10)
Die Anerkennung des „Riesen“ und „Meisters“ Karl Barth durch Althaus ist kein Einzelfall. Während der Arbeit an seiner Dogmatik schrieb er schon am 19. 3. 1941 an Doerne nach sehr kritischen Äußerungen über anpasserische Kollegen: „Wenn ich nach solchen Nachrichten dann in Karl Barths Dogmatik lese, dann ist es einfach Befreiung – trotz aller seiner auch „politisch“-bedingten Torheiten. In der Arbeit für meine Dogmatik ist mir – trotz allem – kein Buch so imponierend wie 8. 8. 1955, NLA K 10). Zu den Einwendungen zum Begriff der Uroffenbarung und seiner Entfaltung bei Paul Althaus vgl. ebenfalls die Rezension von Martin Doerne (Vgl. oben S. 352, Anm. 63). Zur Bedeutung und Begriffsgeschichte vgl. den aufschlussreichen Artikel „Uroffenbarung“ von Walter Sparn, 2001. 65 Hans Heyse, Idee und Existenz. Hamburg 1935.
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Barth, trotz z. B. schrecklicher Längen und Abstraktheiten. Aber der Mann lebt doch einfach in der Substanz! Haben Sie keine Sorge, ich verfalle ihm nicht. Aber ich rede gerne mit ihm im Geiste. Was für ein Riese gegen die Asphalt-Intellektualisten vom Schlage des Herrn Grundmann.“66
Am 1. 1. 1942 schrieb Althaus in gleichem Sinne: „In den letzten Wochen habe ich die Kirchliche Dogmatik II, 1 ziemlich zu Ende gelesen und gehe nun wieder an das eigene Schreiben. B. ist bisweilen entsetzlich breit, … Aber die Verkündigung von Gottes Gottheit ist gewaltig.“ (NLA K 10) Die „Brücke vom Gestern zum Morgen“, die Doerne der Dogmatik von Althaus bescheinigte, war wohl auch deshalb so „passierbar“ und fruchtbar, weil trotz aller Polemik und Ablehnung von Karl Barths Theologie die Fähigkeit zur Differenzierung und der große Respekt von Althaus vor dem „Riesen“ Barth stets spürbar blieb; das gilt es auch für die späteren Auseinandersetzungen zwischen den beiden Theologen zu beachten. Althaus würde im Übrigen dem Urteil der Inaktualität seiner Dogmatik in der heutigen Zeit wohl nicht widersprechen, weil er alles theologische Agieren und Argumentieren als Dienst an der konkreten Zeit und damit zeitgebunden ansah. Eine Variante dieser Zeitgebundenheit dokumentiert sich auch darin, dass man in der Dogmatik konkrete Bezüge auf die deutsche Katastrophe, z. B. in dem Kapitel über „die Selbstbezeugung Gottes im geschichtlichen Leben“ vergeblich sucht. Dieses Faktum wird jedoch leicht einsehbar, wenn man bedenkt, dass der Text während des Krieges bei zunächst noch völlig offenem Ausgang geschrieben wurde. Die „Verarbeitung“ der jüngsten Geschichte erforderte darüber hinaus viel mehr Zeit. In den Jahren vom Sommer 1945 bis zum Sommer 1947 war diese Arbeit – noch dazu unter dem Druck der aktuell anstehenden Aufgaben – nicht zu leisten. Dazu mussten auch die Fakten der jüngsten Vergangenheit und ihre Hintergründe erst allgemein bekannt und in ihren Zusammenhängen analysiert sowie interpretiert werden, was noch viele Jahre in Anspruch nahm. Im Frühjahr 1947, als Althaus seine Texte dem Verlag übersandte, steckte dieser schwierige Verarbeitungsprozess erst in den ersten Anfängen. Die in diesem Punkt bestehende Abstraktion in der dogmatischen Erörterung ist insofern zeitgeschichtlich erklärbar. Dass darin keine Verweigerung der theologischen Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit gesehen werden darf, belegen im Übrigen die oben bereits behandelten Predigten und die eher aktuellen und „politischen“ Reden und Aufsätze aus dieser Zeit. Auch die folgenden Jahre des Theologen und Universitätspredigers in der sich etablierenden Bundesrepublik – von 1948 bis zu seinem Tode 1966 – lassen immer wieder Einblicke in diesen – 1947 eben noch nicht abgeschlossenen – Lernprozess zu. Er setzte sich permanent fort. Ihm soll darum im Folgenden besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. 66 Martin Grundmann, damals Neutestamentler an der Univ. Jena, war ein dezidierter DCTheologe.
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10. Paul Althaus in der Bundesrepublik – Prägungen und Lernprozesse Nach seiner Wiedereinstellung Mitte April 1948 verblieben Paul Althaus acht Jahre als Ordinarius bis zu seiner Emeritierung 1956. Danach wirkte er noch einmal acht Jahre als äußerst aktiver Emeritus bis zu seinem relativ frühen und plötzlichen Tod im Mai 1966. Diese Jahre im Leben von Althaus sollen im Folgenden zunächst geschildert werden. Der 1947 keineswegs abgeschlossene Lernprozess aus der Katastrophe der Nazi-Zeit setzte sich in der folgenden Lebensphase fort. Auf die Fortschritte in diesem Prozess, aber auch auf seine Schwierigkeiten und Begrenzungen ist daher besonderes Augenmerk zu richten, zumal dadurch auch unser Blick frei gemacht wird, für die Prägungen, die Althaus in seinem Leben, vor allem in seiner Jugendzeit empfangen hatte. Die Stichworte Prägungen und Lernprozesse in ihrem durchaus dialektischen Zusammenspiel gelten im Übrigen nicht nur als Instrumente, um die Biographie von Paul Althaus angemessen zu verstehen, sondern sie helfen auch, die komplizierte Geschichte der Würdigungen und Kritiken, die Althaus in den Jahrzehnten nach seinem Tode erfuhr, aufzuschlüsseln, weil Befürworter und Kritiker ihren je eigenen Prägungen folgten und ihre sehr unterschiedlichen Beurteilungen sich auch als Produkte dieser Prägungen und zugleich auch als „Fortschritte“ eines komplizierten gesellschaftlichen Lernprozesses begreifen lassen. Im zweiten Abschnitt dieses Kapitels soll darum auf die Althaus-Rezeption und Kritik der letzten gut 40 Jahre nach seinem Tod eingegangen werden. Abschließend ist dann aus der Perspektive des Biographen ein – zumindest vorläufiges – Resümee zu versuchen.
10.1 Paul Althaus 1948 – 1966 – Der hochgeschätzte, ebenso lernbereite wie konservativ orientierte Professor, Prediger und Publizist Nach seiner Rückkehr auf den Lehrstuhl entfaltete Paul Althaus zunächst eine ungebrochene Attraktivität als akademischer Lehrer. Die Universität Erlangen erlebte aufgrund ihrer unzerstörten Gebäudesubstanz unmittelbar nach Wiedereröffnung einen bisher unbekannten Boom der Studenten in allen Fakultäten. Auch die Theologen konnten sehr großen Zulauf verzeichnen. 355
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Doch mit dem späteren Beginn des Lehrbetriebs in München und Würzburg gingen ab 1949/50 die Studentenzahlen insgesamt in Erlangen massiv zurück. Vom nie vorher erreichten Höhepunkt im Jahr 1947 mit 5578 Studenten fiel die Zahl im Jahr 1955 auf 2532. Die Theologische Fakultät folgte diesem Trend. Sie hatte ihren NachkriegsHöhepunkt im Jahr 1948 mit 418 Studierenden. Der Tiefpunkt war 1955 – ein Jahr vor der Emeritierung von Althaus – mit nur noch 170 Studierenden erreicht. Der Rückgang war also noch stärker als bei den Gesamtzahlen der Universität. Erschwerend kam für die Theologische Fakultät hinzu, dass die inzwischen gegründete Kirchliche Hochschule in Neuendettelsau gerade für Studienanfänger insbesondere auch wegen der in der Anfangsphase notwendigen Sprachkurse – Graecum und Hebraicum – eine besondere Attraktivität entfaltete: in der Abgeschiedenheit des Provinzortes ließ sich ungestörter pauken. Die Absolventen gingen dann in den mittleren Semestern gerne an außerbayerische Universitäten, ehe sie zum Examen nach Erlangen kamen. Erschwerend wirkte zudem, dass die lutherischen Fakultäten Rostock, Greifswald und Leipzig, mit denen Erlangen in früheren Jahren immer in lebhaftem Studentenaustausch stand, durch die Zonengrenze jetzt abgeriegelt waren. Auch die Studenten aus den lutherischen Freikirchen Ost- und Südosteuropas, die traditionell in Erlangen studierten, fielen fast vollständig aus. Wenn man diese Faktoren mitberücksichtigt, wird es kaum möglich korrekt abzuschätzen, ob auch ein Mangel an Attraktivität der in Erlangen vertretenen und von Althaus und Elert repräsentierten lutherischen Theologie gegenüber den sich ausbreitenden „Barthianern“ und „Bultmannianern“ für diesen Rückgang mitverantwortlich war, wie das der jüngere Fakultätskollege von Althaus, der zu diesen Fronten querstehende Kirchenhistoriker Walter von Loewenich vermutete.1 Wissenschaftsgeschichtlich ist in der Rückschau die geringere Aktualität der Erlanger Theologie gewiss nicht zu übersehen, auch wenn man diese nicht exakt in Studentenzahlen messen kann. Das persönliche Ansehen von Althaus war in Universität und Stadt gleichwohl ungebrochen. Allerdings wurde er nie Rektor der Universität, was vielfach als Krönung einer Universitätslaufbahn galt. Für die Amtszeit 1932/33 wäre er entgegen den klaren Anciennitätsregeln innerhalb der Theologischen Fakultät, die für den Alttestamentler Procksch sprachen, fast gewählt worden.2 Während des Dritten Reiches erfolgte die Bestellung des Rektors gemäß dem geltenden Führerprinzip durch die Regierung, die nur aktive Parteimitglieder berücksichtigte. Althaus kam darum schon allein wegen seiner Distanz zur NSDAP überhaupt nicht in Frage. 1945 wäre er möglicherweise von der Be1 W. v. Loewenich, 1979, S. 202 f. 2 Details zu dieser Wahl, in der Procksch schließlich im 4. Wahlgang gewählt wurde, nachdem Althaus zuvor erklärt hatte, man solle auf seine Wahl verzichten; Procksch nahm die Wahl jedoch nicht an, so dass in einer späteren Wahl der Jurist Locher gewählt wurde, in: FAU-Archiv A1/4 Nr. 61,1.
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satzungsmacht zum ersten Rektor ernannt worden, wenn nicht die Konfliktlage in der Theologischen Fakultät die Amerikaner veranlasst hätte, Althaus zum Dekan seiner Fakultät zu bestellen.3 Wäre er 1947 nicht im Zuge der Entnazifizierung entlassen worden, hätte der große Senat zweifellos ihn und nicht den Alttestamentler Baumgärtel für das Amtsjahr 1948/49 zum Rektor gewählt. Dafür hätten jetzt die klassischen Anciennitätsregeln in der Fakultät gesprochen, verstärkt durch das große Ansehen, das Althaus in der ganzen Erlanger Universität genoss. Als dann für das am 1. 8. 1956 beginnende Amtsjahr erneut die Theologen an der Reihe waren, den Kandidaten für das Rektoramt zu benennen, war Althaus schon emeritiert. Gewählt wurde der Kirchenhistoriker Walther von Loewenich. Sicherlich wäre Althaus gerne Rektor geworden, zumal er sich mit seiner Friderico-Alexandrina intensiv verbunden wusste und darum wohl das Rektorat nicht nur als Ehre sondern vor allem als Verpflichtung angesehen hätte.4 Da das Rektoramt ihm „erspart“ blieb, konnte sich Althaus mit voller Kraft seinen Aufgaben als Professor und Prediger widmen. Neben dem Lehrbetrieb in Erlangen und seinen ernsthaft wahrgenommenen Verpflichtungen als Universitätsprediger entfaltete er eine umfassende Vortragtätigkeit, aber vernachlässigte auch nicht die wissenschaftliche Publikation. Aus der Fülle der vorgelegten Arbeiten sei hier zunächst wenigstens kurz auf die zweite neubearbeitete Auflage des „Grundriß der Ethik“5 eingegangen. Wichtige Lernprozesse von Althaus, in ihrer Stoßrichtung aber auch in ihren Begrenzungen werden hier deutlich greifbar. Zwar bekennt Althaus in der Einleitung: „Wir mussten unter dem Eindruck der deutschen Katastrophe die früher vertretenen Gedanken über Staat und Politik von Grund auf überprüfen und uns im Widerstreit der ethisch-politischen Folgerungen aus dem Zusammenbruch den eigenen Weg erst wieder suchen. Man wird der neuen Gestalt des Grundrisses die Erfahrungen, Probleme und Nöte der letzten zwanzig Jahre anmerken. Aber in seiner Grundhaltung ist das Buch das alte geblieben … Viele Abschnitte kehren allerdings nicht wieder oder sind völlig neu gestaltet. Man wolle das nicht als ein theologisches Schuldbekenntnis im Blick auf die frühere Auflage missverstehen. Was fortgefallen ist …, dessen kann ich mich im Ganzen auch heute nicht schämen – so gewiss im Einzelnen manches unzulänglich und einseitig gewesen sein mag. Als die alte Auflage verfasst wurde, stand unser deutsches Leben im Schatten von Versailles. Inzwischen ist viel geschehen, … und wir haben viel Neues lernen müssen. Manches was damals zu sagen war, hat heute seine Aktualität verloren. Eine Ethik veraltet in unseren Zeitläuften noch schneller als eine Dogmatik.“(S. 4 f.)
3 Vgl. oben S. 322. 4 Vgl. zu seiner Identifikation mit der Erlanger Universität seinen schon einmal zitierten Brief an den Rektor Schwab nach seinem 70. Geburtstag, oben S. 266 Anm. 8. 5 P.A., 1953.
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Diese Warnung, in seinen Korrekturen kein theologisches Schuldeingeständnis zu sehen, führte dazu, dass Althaus bei den tatsächlich vorgenommenen Korrekturen in aller Regel nicht deutlich machte, von welchen früher vertretenen, jetzt „veralteten“ Positionen er sich konkret absetzte. Seine These von der „Zeitgebundenheit“ gerade der Ethik diente ihm als Quasi-Rechtfertigung für dieses Verhalten. Tatsächlich sind aber besonders in dem Teil über „Das Leben in Ordnungen“ die Abschnitte über „Volk und Rasse“ (S. 124 ff.) und „Staat und Politik“ (S. 130 ff.) weitgehend neugestaltet und implizit deutlich korrigiert. Exemplarisch sei dieses dargestellt an seiner „Theologie des Krieges“. In der ersten Auflage hatte er den Krieg noch als historische Notwendigkeit im Amt des Staates an der ihm anvertrauten Nation bei der Wahrnehmung der „Sendung“ der Nation legitimiert, zumal es zu geschichtlichen Situationen kommen könne, wo zwei Völker in der Wahrnehmung ihrer je eigenen Sendung aufeinander prallten, so dass der Krieg als letztes Mittel unausweichlich und „gerechtfertigt“ sei. Darum widersprach Althaus damals allen moralisierenden Verurteilungen des Krieges, worin sich sein Versailles-Trauma ebenso widerspiegelte wie die Vorstellung von der historischen Notwendigkeit der Bismarck’schen Reichseinigungskriege im Prozess der Bildung des deutschen Nationalstaates als dem Ziel der deutschen Geschichte. Darum seien diese Kriege als „gerechtfertigt“ anzusehen. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs formulierte Paul Althaus eine völlig neue „Kriegstheologie“. Nicht mehr die je besondere Sendung der Staaten und Nationen ist der Maßstab, sondern jetzt lesen wir : „Jedes Volk und jeder Staat lebt inmitten anderer. Die Existenz der anderen ist Grenze der eigenen und gehört zum Maße für die Politik. Die Völker sind zum gemeinsamen Leben und zur Verantwortung füreinander berufen, in dem Maße als sie in Lebensbeziehung zueinander treten und einander so „Nächste“ werden.“ Die Geschichte erzeuge zwar ständig politische Fragen zwischen den Völkern oder Völkergruppen, die entschieden werden müssten, das „Nebeneinander der Völker“ sei ständig neu zu ordnen, aber der Weg dorthin sei „zunächst der Vertrag, Schiedsgerichtsbarkeit, Ausbau des Völkerrechtes“. Nur wenn solche Versuche versagten, könne ein Staat „in seiner Verantwortung für das ihm anvertraute Leben seines Volkes oder der Völker es als seine sittliche Pflicht erkennen, die Existenz seines Volkes und die gerechte Ordnung zwischen den Völkern durch den Einsatz seiner Macht zu verteidigen, dessen äußerste Gestalt der Krieg, der Kampf mit den Waffen ist. Die christliche Ethik kann zu solcher Notwehr eines Volkes oder einer Völkergruppe nicht grundsätzlich Nein sagen … Unser Ja zur politischen Notwehr bedeutet aber keine ,Rechtfertigung‘ des Krieges als solchen.“ Die meisten Kriege seien aus politischer Macht- und Raubgier entstanden und außerdem sei heute „durch die Verflechtung des Lebens aller Völker miteinander und durch die Entwicklung der Kriege selbst eine ganz neue Lage gegeben … Der moderne materialisierte, totalisierte und
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dämonisierte Krieg vermag nicht mehr zu echter Entscheidung zu führen, weil er das Leben aller beteiligten Völker, auch der Sieger, zerstört. Er hat durch die geschichtliche Entwicklung seinen politischen Sinn verloren.“ (S. 150 ff.)
In diesen Formulierungen spürt man die Anklänge an seine Diskussion mit Emil Brunner aus den frühen 30-er Jahren,6 jetzt aber machte sich Althaus die damaligen Auffassungen von Brunner ausdrücklich zu Eigen. Die Überzeugung, dass der Krieg nur als Notwehr zu legitimieren sei, prägte auch seine ausdrückliche Zustimmung zu Luthers Ethik, dessen Lehre vom „gerechten Krieg“ er in den 20-er Jahren noch abgelehnt hatte, weil Luther der lebendige Sinn für die Bewegung der Geschichte fehle. In seinem Spätwerk über „Die Ethik Martin Luthers“7 erläuterte Althaus sehr quellennah Luthers Haltung zum Krieg, der nur als „aufgezwungener Verteidigungskrieg“, als „Notkrieg“, als „die einige elende Notwehre“ christlich vertretbar und rechtens sei. Zustimmend stellte er abschließend fest, dass Luthers Gedanken auch für die heutige Welt gültig seien, insbesondere „dass die Christen als Politiker vor allem auf den Frieden bedacht sein müssen und dass ein Krieg nur als Notwehr verantwortet werden kann.“ Gültig sei ferner Luthers „Ablehnung eines „christlichen Krieges“, „Heiligen Krieges“, aller „Kreuzzugsideologie““. Mit dieser ausdrücklichen Zustimmung zu Luthers Lehre vom eng begrenzten „gerechten Krieg“ verabschiedete sich Althaus von seiner eigenen Lehre vom „gerechtfertigten Krieg“, ohne das jedoch an dieser Stelle ausdrücklich kenntlich zu machen. In einer Rezension der Neuauflage des „Grundriß der Ethik“ referierte der Rezensent Carl Gunther Schweitzer8 die oben zitierte Eingangspassage, dass Althaus seinen neuen Text nicht als theologisches Schuldbekenntnis verstanden wissen wollte. Er fügte die kritische Bemerkung hinzu, dass diese Aussage den einen oder anderen befremden möge. Schweitzer merkte jedoch an, „diese Sätze sind verständlich angesichts der maßlosen und auch in der Form verletzenden Kritik, welche seitens Karl Barths (Kirchliche Dogmatik III, 4, S. 345 ff.) und der von ihm beeinflussten Theologen … gegen den Verfasser geübt wird.“ Es folgte dann eine sehr positive Darstellung und Würdigung der Thesen von Paul Althaus und dessen „nach allen Seiten vorsichtig abgemessenes Urteil“. Diese Rezension ist aus zweifachem Grunde beachtenswert. Zunächst ist das besondere Gewicht des Rezensenten hervorzuheben. Carl Gunther Schweitzer war seit Mitte der 20-er Jahre Gründer und Leiter der Apologetischen Centrale und in dieser Position Vorgänger von Walter Künneth. Seit 1932 war er Superintendent in der Mark Brandenburg, bis er dieses Amt verlor, da er ein „Christ jüdischen Blutes“ war. Er engagierte sich in der Folgezeit führend im „Reichsverband nichtarischer Christen“, konnte 1939 gerade noch 6 Vgl. oben S. 259 f. 7 P.A., 1965, S. 142 ff. 8 In: ThLZ, Bd. 83 (1958), Sp. 872 – 874.
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emigrieren und kehrte 1947/48 in die Bundesrepublik zurück. Hier entfaltete er eine vielfältige kirchlich-soziale Arbeit und galt als dezidierter Lutheraner. Mit Althaus hatte er wiederholt Kontakt, wie sich aus einigen Briefen aus den 20-er und frühen 30-er Jahren ergibt9. Sie trafen sich persönlich 1959 anlässlich einer Romreise, die der Emeritus Althaus mit seinem Sohn Gerhard unternommen hatte, um Rom kennenzulernen. Dem Vater sei es sehr wichtig gewesen, Herrn Schweitzer zu treffen, berichtete Gerhard Althaus. Dass Schweitzer aktives Mitglied in der BK war und als Judenchrist verfolgt wurde, berichtete der Vater seinem Sohne damals nicht, obwohl die Zeit des Kirchenkampfes und der Auseinandersetzungen mit dem Dritten Reich offensichtlich ein zentraler Gegenstand des Gespräches zwischen den beiden alten Herren war.10 Diese Dimension erfahren wir aus einem Brief vom 29. 5. 1959 (NLA K 11 b) – also wenige Wochen nach dem Treffen –, der der Rezension von Schweitzer eine zusätzliche Perspektive hinzufügt. Schweitzer nimmt hier Bezug auf das Gespräch in Rom und die dort offensichtlich erörterte Kritik von Friedrich Karrenberg11 an Paul Althaus insbesondere zum Ansbacher Ratschlag. Er fährt dann fort: Darum darf ich Sie noch einmal herzlichst bitten, sich nicht erst von anderen jene mindestens zweideutigen Äußerungen aus der Zeit des Dritten Reiches nachweisen zu lassen, sondern selbstkritisch mit Ihren heutigen Augen an alles in jener schlimmen Zeit von Ihnen Veröffentlichte heranzugehen … Darf ich in Erinnerung an unser Gespräch in Rom noch einmal fragen, ob Sie in absehbarer Zeit in irgendeiner Form zu einer Erklärung Ihrer damaligen Haltung insbesondere auch zum Ansbacher Ratschlag kommen werden … Eine solche Erklärung würde viel von dem … um tatsächliche Äußerungen kreisenden Spuk mit einem Schlag bannen. Das Ergebnis wäre eine Revision Ihrer Einleitung in den Grundriß der Ethik. …Werden Sie insbesondere zum Ansbacher Ratschlag was sagen, das wäre sehr gut.“
Auf dem Hintergrund dieses Briefes wird klar, dass sich Schweitzer bei seiner Rezension in die referierten kritischen Formulierungen zu der Einleitung der Neuauflage des Grundrisses der Ethik selbst mit eingeschlossen hatte. Paul Althaus – so berichtete sein Sohn – sei sehr nachdenklich und schweigend, ja betroffen aus dem Gespräch gekommen, habe aber keinen Ton gesagt. Man wird das wohl auch als ein Indiz dafür werten dürfen, dass er selbst mit der Aufarbeitung seiner eigenen Geschichte nach wie vor nicht fertig war. Möglicherweise kam er den aktuellen Anforderungen nach Vorträgen 9 Vgl. oben S. 252 zu seiner Kritik am Ansbacher Ratschlag und die Zustimmung zu den korrigierenden Ausführungen von Paul Althaus von Anfang Juli 1934. 10 Mündlicher Bericht von Gerhard Althaus dem Autor gegenüber. 11 Der bedeutende evangelisch-reformierte Sozialethiker Friedrich Karrenberg hatte 1959 sein sozialethisches Grundsatzbuch „Gestalt und Kritik des Westens – Beiträge zur christlichen Sozialethik heute“ (Stuttgart 1959) herausgebracht und darin auf S. 215 f. heftige Kritik an bestimmten Positionen von Paul Althaus in den 30-er Jahren geübt.
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und Publikationen gerne nach, um diese ihn bedrängende Problematik in der Hoffnung aufzuschieben, später Klarheit zu gewinnen. Dabei wurde diese Selbstreflektion offensichtlich erschwert durch den – auch von Schweitzer hervorgehobenen – Gesichtspunkt, sich gegenüber den Attacken Barths und seiner Schüler keine Blöße geben zu wollen, zumal auch in deren Kritik theologische Positionen und politische Wertungen oft ungetrennt vermischt wurden. In den abschließenden Erwägungen wird auf diese Problematik nochmals zurückzukommen sein. An dieser Stelle ist jedoch hervorzuheben, dass die Aufforderungen von Schweitzer im Grunde die Mahnungen von Gelpke – zehn Jahre zuvor – wiederaufnahmen, zumal die Einleitung in die Neuauflage des Grundrisses der Ethik den guten Vorsätzen nicht entsprach, die Althaus Gelpke gegenüber formuliert hatte und die dieser als Punkt der inhaltlichen Einigung zu erkennen geglaubt hatte.12 Trotz dieser nach wie vor offenen Fragen genoss Paul Althaus in den 50-er Jahren ein großes öffentliches Renommee. Dieses wurde unterstrichen, als er 1953 zum Ordentlichen Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaft berufen wurde. Eine solche Berufung muss als besondere wissenschaftliche Anerkennung gewertet werden. Die Bayerische Akademie der Wissenschaften war in ihrer Mitgliedschaft sehr stark München-zentriert, nur vereinzelt wurden damals Vertreter der Würzburger oder Erlanger Universität hinzu gewählt, was jeweils als eine hohe Auszeichnung angesehen wurde. Althaus war der einzige evangelische Theologe in der Akademie und hatte dankbar registriert, dass der Münchner katholische Theologe Michael Schmaus sich sehr für seine Wahl eingesetzt hatte. Seine guten Kontakte und seine Gesprächsfähigkeit über Konfessionsgrenzen hinweg, die er während seiner Ferien in den Kriegsjahren zu Joseph Lortz und dessen Tübinger Kollegen Karl Adam gepflegt hatte13, wirkten sich hier offensichtlich aus. Aber auch jenseits dieser spezifisch theologischen Kontakte spiegelte die Wahl in die Akademie das Ansehen, das Althaus als Repräsentant der Friedrich-Alexander-Universität genoss. Er nahm seine Mitgliedschaft in der Akademie sehr ernst. Mit vier bedeutsamen Vorträgen aus dem Zentrum seines theologischen Denkens, auf die weiter unten noch inhaltlich einzugehen ist, beteiligte er sich aktiv am wissenschaftlichen Diskurs in der Akademie. Das überregionale und interkonfessionelle Ansehen, das Althaus genoss, wurde auch darin deutlich, dass man ihn wiederholt zu Vorträgen in die Philosophische Fakultät der Universität München einlud. Das geschah in einer Zeit, als die Gründung der Evangelisch-Theologischen Fakultät in München noch weit vor der Tür stand. Aber schon damals war – besonders in evangelischen Kreisen Münchens – das Bedürfnis aufgekommen, dem seit 1948 in der Philosophischen Fakultät „Christliche Weltanschauung und Religionsphilo12 Vgl. dazu oben S. 348 ff. 13 Dazu einschlägige Notizen in den Ferientagebüchern vom August 1941 und August 1944. NLA K 7a.
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sophie“ lehrenden prominenten Katholiken Romano Guardini wenigstens eine gewisse protestantische Ergänzung und Abrundung hinzuzufügen. Althaus erschien ohne Frage für diese Aufgabe als ebenso bewusster wie offener Lutheraner besonders geeignet. Die Münchener Philosophische Fakultät erteilte ihm deshalb zwischen 1956 und 1960 immer wieder spezielle Lehraufträge für kleine Vortragszyklen mit Kolloquien. Finanziert wurden diese Aktivitäten von der bayerischen evangelischen Landeskirche, die dadurch ihr kirchliches Interesse an diesen Lehrveranstaltungen deutlich dokumentierte.14 Neben den Aktivitäten in München beteiligte sich Althaus intensiv auch am Aufbau der neuen Hamburger Theologischen Fakultät, den dort insbesondere Helmut Thielicke, sein Schüler aus den frühen 30-er Jahren, gestaltete. Althaus hielt über mehrere Semester hinweg – insbesondere nach seiner Emeritierung – in Hamburg immer wieder Vorträge und Vortragszyklen. Aber nicht nur in München und Hamburg beteiligte er sich an der akademischen Lehre. In alter Verbundenheit folgte er im Oktober 1956 einer Einladung an die Theologische Fakultät der Universität Rostock, wo er vor fast 40 Jahren als Professor gestartet war, um dort in einer Woche drei zweistündige Vorlesungen zu halten. Auch die Tübinger Fakultät, zu der Althaus ebenfalls besondere Beziehungen seit seinem Studienbeginn und aufgrund seiner engen Verbindung mit Adolf Schlatter hatte, lud ihn für eine Woche zu einer vier bis fünfstündigen Gastvorlesung ein, die im Januar 1957 stattfand. Die Marburger Fakultät bat ihn um einen Vortrag – trotz oder wegen der Bultmann-Traditionen. In Jena hielt er im Anschluss an die Thüringer Kirchenkonferenz 1957 eine Gastvorlesung. Getreu seiner kirchlichen Ausrichtung folgte Althaus vielen Einladungen zu kirchlichen Vorträgen. Er redete auf unterschiedlichsten Pfarrkonferenzen – sei es durchaus auch auf Kirchenkreisniveau mit eher internem Charakter oder überregional, wie z. B. auf der so genannten Bodensee-Pfarrkonferenz mit über 100 Teilnehmern aus allen Anrainer-Kirchen. Natürlich sprach er auch auf traditionell weiter gespannten Gemeindeversammlungen. Über die Jahre hinweg lud ihn fast regelmäßig der Würzburger Kirchendekan in den dortigen Arbeitskreis „Evangelium und Geistesleben“ zu unterschiedlichsten Themen ein. Althaus sprach hier über : „Das Ziel des Menschen in der Geschichte“ (1957), „Das Evangelium und der historische Jesus“ (1959), „Die Autorität der Heiligen Schrift und die moderne Bibelkritik“ (1961) und „Jesus 14 Im Nachlass von Paul Althaus fand sich eine dicke Mappe mit chronologisch geordneter Korrespondenz zu seinen Vortragsaktivitäten nach der Emeritierung (NLA K 12, 7). Hier auch zu den Münchener Vorträgen mehrere Briefe des jeweiligen Dekans der dortigen Philosophischen Fakultät und von Landesbischof Dietzfelbinger, in denen dieser seine Bitten um Fortsetzung mit Dankesbekundungen und Hinweisen auf das große Echo verband, das Paul Althaus mit seinen Vorträgen bereits erzielt habe. Ebenfalls in diesem Akt Nachweise zur Finanzierung dieser Vorträge durch die Landeskirche. Ähnliche Unterlagen zu den Hamburger Vorträgen und allen übrigen Vortragseinladungen seit 1956. Auf Einzelnachweise wird in dem hier gebotenen Überblick deshalb verzichtet.
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oder Paulus“ (1962). Natürlich merkt der Kenner schnell, dass Althaus diesen Themen in der Regel auch besondere Publikationen gewidmet oder zu ihnen in seinen theologischen Hauptwerken Ausführungen gemacht hatte. Wenn man das Echo auf die Vorträge, das in den Unterlagen immer wieder aufklingt, hört, dann kann man spüren, dass es dem Vortragenden offensichtlich gelang, das ihm vertraute Thema besonders auf den speziellen Hörerkreis und in die konkrete Situation hinein zu entfalten und durch die Art seines Vortrages und der oft angeschlossenen Aussprache sein Publikum zu fesseln. Althaus sprach aber nicht nur in größeren Gemeindeversammlungen oder auf Pfarrkonferenzen, sondern er nahm auch Einladungen zu Studentenfreizeiten an. Natürlich trat er auch immer wieder in kleinerem Kreise bei Erlanger Verbindungen auf oder hielt einen internen Vortrag in einem Nürnberger Schwesternwohnheim. Auch „politischen“ Anforderungen entzog sich Althaus nicht: Am 18. 6. 1956 hielt er bei der Kundgebung der Universität die Rede zum Tag der Deutschen Einheit – offenkundig mit großem Echo. Denn 1958 sprach er erneut auf der Veranstaltung, die alle Parteien, viele Verbände und „maßgebende Stellen“ gemeinsam im Redoutensaal verantworteten. Er betonte in diesen Reden die Einigkeit im Schmerz über die blutende Wunde der deutschen Teilung, die die Brüder und Schwestern im Osten „stellvertretend für uns alle“ leiden lasse an den Folgen der schlimmen Hybris jener Jahre seit 1933. Darum forderte er die Westdeutschen auf alles zu tun, um die Kontakte nach Osten zu pflegen, zum inneren Mittragen von deren Last. Außerdem fordere die Teilung die Selbstkritik des Westens. Es gehe darum in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und seiner Ideenwelt die Kraft des Dienens im Westen zu profilieren und nicht dem reinen Egoismus wirtschaftlichen Denkens zu verfallen, auch Kommunisten an unserer Ordnung spüren zu lassen: ,Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein‘. Unser soziales Gewissen muss sehr wach und sehr lebendig bleiben.“15 Man spürt diesen Reden deutlich das nationale Leiden an der deutschen Teilung an, aber bemerkenswert sind die konkreten Handlungsaufforderungen zur Solidarität mit den Bewohnern der DDR und die selbstkritischen Appelle an die Westdeutschen, die „Kraft des Dienens“ zu beweisen. Die schon in den 20-er Jahren geforderte soziale Verantwortung gegenüber der Arbeiterschaft fand hier ihre zeitgemäße Fortführung. Offensichtlich fand Althaus in all diesen Aktivitäten eine besondere Erfüllung. Schon am 16. 1. 1954 hatte er an Doerne geschrieben, die Bücher, die er noch zu schreiben habe, machten ihm Probleme, „aber die Vorlesungen und Predigten und Vorträge sind immer noch mein Element.“ (NLA K 10) Seine Pflichten und Rechte als Emeritus in Erlangen nahm Althaus in der 15 Text der Rede vom 18. 6. 1956 in: Die Erlanger Universität, 9. Jahrgang (1956), Beilage 5 vom 18. 7. 1956; Rede vom 17. 6. 1958 in: 100 Jahre Erlanger Tagblatt, Sondernummer Oktober 1958 (NLA K 13, 5).
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Form wahr, dass er regelmäßig eine Vorlesung (meist zweistündig) und ein Seminar/ Kolloquium hielt und zusätzlich noch bis 1964 als Universitätsprediger amtierte. In dieser Eigenschaft predigte er selber regelmäßig alle vier Wochen. Angesichts dieser Aktivitäten überrascht es nicht, wenn der Siebzigjährige am 8. 5. 1958 die Zusage, auf dem Internationalen Kongress des Weltbundes der Bibelgesellschaften in Edinburgh einen Vortrag – in Englisch – zu halten, mit dem Kommentar versah: Sein Leben als Emeritus bekomme ihm gut, „nur daß ich mehr arbeite als je zuvor, und immer wieder zu Gastvorlesungen gebeten bin seit meiner Entpflichtung … Ich fühle mich sehr wohl dabei und spüre noch keine Minderung meiner Freude und Kraft zu arbeiten.“ In dieser Stimmung sagte er zu, einen Vortrag über das Problem „Das zweite Gebot [das Bilderverbot] und die Bibelillustration“ zu halten. Den Einladenden war es darauf angekommen, die lutherische Perspektive dieses Themas vertreten zu sehen angesichts „der neuesten Attacken Karl Barths gegen bildliche Darstellungen“.16 Offensichtlich reizte Paul Althaus das für ihn neue Thema, möglicherweise auch wegen der Konfrontation mit Karl Barth. Zwar wollte er um die Jahreswende 1958/59 seine Zusage nicht mehr aufrecht erhalten, weil ihn eine Anfrage des Kirchentagspräsidenten erreicht hatte, nur 14 Tage nach dem Termin in Edinburgh Mitte September auf dem Kirchentag in München einen zentralen Vortrag zu halten. Zwei so wichtige und viel Arbeit erfordernde Vorträge erschienen ihm zu viel. Doch den Edinburghern gelang es, ihn von der Absage abzuhalten. Offensichtlich fühlte sich der der Kunst stets aufgeschlossene Althaus vom Thema reizvoll gefordert, so dass er auch bereit war, für diesen Termin seine Englisch-Kenntnisse aufzufrischen.17 Im Herbst 1959 bat Althaus dann in München um Entlastung, ließ sich aber für Januar 1960 noch einmal zu seiner schon traditionellen Aktivität in der Philosophischen Fakultät verpflichten. Er wollte jedoch für die Zukunft mehr freie Zeit haben, um sein wichtiges Buch über die Theologie Martin Luthers zu schreiben. Dieses erschien dann 1962.18 An Martin Doerne hatte er am 21. 10. 1959 geschrieben: „Ich schreibe täglich an Luthers Theologie. Jetzt will ich mich noch strenger von Vorträgen und kleineren Aufsätzen fernhalten, sonst wird das Buch nie fertig.“ (NLA K 10). Gleichwohl hielt er weiterhin Vorträge in unterschiedlichen Gemeinden, in Regionalverbänden der Luthergesellschaft, beim Arbeitsamt Nürnberg zur Orientierung für Studierwillige oder in seinen studentischen Verbindungen, aber auch im Nürnberger AmerikaHaus. Erst 1964 musste er aus gesundheitlichen Gründen weitere Anfragen 16 Antwortbrief von P.A. an H. Renner vom 8. Mai 1958 auf dessen Anfrage vom 28. 4. 1958. (NLA K 12, 7). 17 So ein Hinweis in einem Brief an Martin Doerne vom 23. 5. 1959 (NLA K 10). Die deutsche Fassung dieses Vortrages erschien unter dem Titel: Die Illustration der Bibel als theologisches Problem. In: Neue Zeitschrift für systematische Theologie, Bd. 1, 1959, S. 314 ff., wiederabgedruckt in P.A., 1962 (2), S. 117 – 130. 18 Mehr zum Lutherbuch unten S. 372 ff.
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ablehnen oder schon übernommene Verpflichtungen absagen. An der Jahreswende 1965/66 ging es ihm gesundheitlich wieder besser, darum sagte er erneut einen Vortrag zu. Mit der intensiven Vortragstätigkeit in den 50-er und ersten 60-er Jahren ist jedoch nur ein Schwerpunkt der Lebensarbeit von Paul Althaus in der frühen Bundesrepublik umschrieben. Parallel lief nicht nur der traditionelle Lehrbetrieb und eine intensive Predigttätigkeit, sondern auch die wissenschaftliche Arbeit, wobei die Abgrenzung zu den Vorträgen natürlich fließend war. Beispielhaft sei diese wissenschaftliche Arbeit an seinen Vorträgen in der Bayerischen Akademie der Wissenschaft dargestellt. Nach seiner ehrenvollen Aufnahme 1953 hielt er in der philosophisch-historischen Klasse und einmal auch vor beiden Klassen in den folgenden Jahren bis 1960 insgesamt vier Vorträge, von denen drei in den Veröffentlichungen der Akademie vollständig gedruckt wurden, über den vierten gibt es nur eine kurze Zusammenfassung in dem Jahresbericht der Akademie. Alle Vorträge entstammen den Zentren seines wissenschaftlichen Arbeitens. Er sprach über die Schöpfungsordnung bei Luther (1959), über das ethische Problem der Todesstrafe (1955), über die Frage des historischen Jesus (1960) sowie über das theologische Grundsatzproblem jeder Lutherischen Theologie, das Verhältnis von Gesetz und Evangelium (1957). Der Akademievortrag von 1960 bildete gleichsam die Zusammenfassung seiner Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann über die Frage des historischen Jesus. Auf ihn braucht hier nicht mehr näher eingegangen zu werden, weil er schon vorgreifend bei der Darstellung der intensiven Diskussion zwischen Althaus und Bultmann während des Zweiten Weltkrieges behandelt wurde.19 Der Vortrag über den Schöpfungsgedanken bei Luther gehört in den großen Kreis der Aufsätze von Althaus über die verschiedenen Facetten und Themen der Theologie Martin Luthers, die sein Lebenswerk prägten und die dann später in seinen beiden letzten Werken über Luthers Theologie und die Ethik Martin Luthers zusammengefasst wurden. Auf diese beiden Schriften wird weiter unten eingegangen, darum kann hier auf eine Darstellung dieser Akademierede verzichtet werden. Wichtig ist allenfalls schon hier der Hinweis, dass Althaus mit dem Luther-Thema sich offensichtlich in der Münchener Akademie als dezidiert lutherischer Theologe vorstellen wollte. Bezeichnend ist ferner auch, dass er – darin seinen späteren Luther-Büchern vorgreifend – im Text seines Vortrages auf eine Auseinandersetzung mit der aktuellen oder historischen LutherForschung verzichtet, dafür vorwiegend Luther selbst zu Wort kommen lässt. Die vielen Anmerkungen im Text verweisen stets nur auf Originaltexte Luthers und dokumentieren sein Anliegen, Luther selbst zu Wort kommen zu lassen, allerdings unter Fragestellungen und Gedanken der Gegenwart. In seinem Vortrag von 1957 über das zentrale lutherische Problem von Gesetz und Evangelium ist das noch anders. Hier setzte sich Althaus aus19 Vgl. oben, S. 316 ff.
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führlich mit der Luther-Kritik von Karl Barth auseinander und wies diese zurück. Es ist nachträglich auffallend, dass dieser Vortrag nur in einem kurzen, zusammenfassenden Akademie-Bericht referiert wird und der dort angekündigte Gesamttext in den Sitzungsberichten nie erschien. Offensichtlich – so ist zu vermuten – wollte Althaus den Text weiter präzisieren und absichern und fand dafür möglicherweise keinen ihn überzeugenden Abschluss, zumal er seine Auseinandersetzung mit Karl Barth sehr ernst nahm – gerade wegen der gleichzeitig wieder aufgenommenen persönlichen Kontakte. Der erste Vortrag in der Akademie – gehalten am 14. 1. 1955 – über das Thema: „Die Todesstrafe als Thema der christlichen Ethik“ enthält ein differenziertes Votum für die Todesstrafe und gehört in das weitere Umfeld der von dem späteren Bundestagsabgeordneten Claus Jäger in den späten 50-er und 60-er Jahren angestrengten Bemühungen, das Verbot der Todesstrafe im Grundgesetz aufzuheben. Althaus’ Vortrag erscheint darum auch politikhistorisch von besonderem Interesse. Er besitzt jedoch zugleich erhebliches biographisches und theologiegeschichtliches Gewicht. Auf ihn soll darum an dieser Stelle intensiver eingegangen werden. Die Zuwendung zu dieser Schrift lohnt sich, obwohl Paul Althaus hier Positionen vertrat, die einer endgültig untergegangenen Epoche angehören. Nachdem heute faktisch alle europäischen Staaten und ferner auch die südund mittelamerikanischen Staaten – und damit mehr als die Hälfte aller Staaten der Erde – die Todesstrafe abgeschafft haben und diese Abschaffung auch von den christlichen Kirchen prononciert unterstützt wird, erscheint eine Argumentation für die Todesstrafe heute obsolet. Gleichwohl gilt es im Bewusstsein zu halten, dass der heutige Konsens in Europa erst ein Produkt der jüngsten Entwicklung ist. Zwar war seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes in der Bundesrepublik gemäß Artikel 102 die Todesstrafe abgeschafft, aber in den 50-er Jahren gab es gleichwohl noch eine Diskussion über die Wiedereinführung, für die sich insbesondere auch aus dem Raum der christlichen Kirchen und der Theologie damals noch viele Stimmen, unter anderem eben auch Paul Althaus, einsetzten. Schon in den späten 20-er Jahren hatte Althaus in seinen Grundzügen der Ethik als Theologe die Todesstrafe als legitimes und angemessenes Mittel staatlichen Strafens verteidigt. In seinem Nachlass fanden sich dazu auch Auszüge aus Reichstagsreden seines Kollegen und Freundes Hermann Strathmann, in denen dieser für die Todesstrafe votierte – gegen gleichfalls beigefügte Reden des liberalen Reichstagsabgeordneten und an der Strafrechtsreform führend beteiligten prominenten Juristen Wilhelm Kahl, der die Todesstrafe abschaffen wollte. Auch Kahl war ein aktiver Protestant, seit 1922 wirkte er als Mitglied im Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss. 1927 war er gemeinsam mit Paul Althaus auf dem Kirchentag in Königsberg aufgetreten. Zeitgeschichtlich interessant und hervorhebenswert ist, dass Kahl wie auch Strathmann damals in ihren Argumenten die Möglichkeit von Missbrauch und Fehlurteilen als irrelevant einschätzten. 366
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Auch nach 1945 hielt Althaus an der Rechtfertigung der Todesstrafe fest, wie sich aus seinem knappen Beitrag zur Festschrift des Hamburger Bischofs Johann S. Schöffel aus dem Jahre 1950 ergibt.20 In der 1953 erschienenen Neuauflage des Grundrisses der Ethik bestätigte er seine frühere Position, jetzt erweitert durch eine kurze Zurückweisung der Verurteilung der Todesstrafe durch Karl Barth.21 Dass er dann 1955 vor der Bayerischen Akademie dieses Thema noch einmal aufgriff, ist biographisch sicherlich auch dadurch zu erklären, dass er sich durch die von Karl Barth 1951 begründete Ablehnung der Todesstrafe zu einer ausführlichen Widerlegung provoziert fühlte.22 Am 16. 1. 1954 schrieb er über das Opus von Barth an Doerne: „Zwischen Bewunderung, Lernen, Widerspruch und Überdruss … spannt sich mein Verhältnis zu dem Riesenwerke. Es sind Kapitel in seinen Bänden, um deren Willen auch langes Laufen durch Sand lohnt. Und dann wieder ist man entsetzt auch über eine geradezu journalistenhafte Oberflächlichkeit, wie z. B. bei der Todesstrafe, oder ein Unverständnis, wie beim Volke, usw.“ (NLA K 10) Der Vortrag vor der Akademie ist – gegenüber dem Beitrag in der SchöffelFestschrift – viel wissenschaftlicher ausgebaut, bringt eine knappe, aber gut orientierende Geschichte der Todesstrafe mit ihren unterschiedlichen theologischen und juristischen Begründungen, setzt sich mit den Theorien der Strafzwecke auseinander und kommt zu einer pointierten, wenn auch eng umgrenzten Rechtfertigung der Todesstrafe aus theologischen Gesichtspunkten. Diese Strafe dürfe nur von einer „christlichen Obrigkeit“ als „Sühne“ verhängt werden. Die Obrigkeit handele dabei im Auftrag Gottes als „Gottes Hand zur Linken“. Die immer wieder angeführten Strafzwecke der generellen oder speziellen Prävention, der Erziehung und der Abschreckung lässt Althaus als Rechtfertigung für die Todesstrafe nicht gelten. Allein die Sühne des göttlichen Gebotes „Du sollst nicht töten“ könne diese Strafe legitimieren. Die evangelische Ethik habe sich bei aller Anerkennung der von „der soziologischen Schule“ geforderten „Rücksicht auf die weitgehende soziale Bedingtheit der Verbrechen und die Mitverantwortung der Gesellschaft“ gegen „die Aushöhlung und Auflösung des Gedankens der Strafe gewehrt … sie hat sich allermeist zu dem Verständnis der Strafe als selbstzwecklicher Behauptung beziehungsweise Wiederherstellung der Rechtsordnung und der ihr zugrunde liegenden sittlichen Ordnung in ihrer Heiligkeit bekannt also zu den Gedanken der Sühne“ (S. 20 f). Für diesen Sühnegedanken spreche auch, dass er den Täter in seinem selbstverantworteten Handeln ernst nehme. Etliche Mörder hätten aus dieser Perspektive ihr Todesurteil bejaht. Das Ja zur Todesstrafe, das Althaus hier begründete, ist für ihn gebunden an die religiösen Fundamente von Staat und Recht. „Nur der Staat, wenn er sich 20 P.A. 1950, 2. 21 P.A. 1953, S. 135 f. 22 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik. Band III, 4. Zürich 1951, Seite 499 – 515.
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als gottgesetztes Amt am Recht versteht, hat die Vollmacht zur Todesstrafe … die Gesellschaft hat kein Recht zu ihrer Sicherung oder zur Abschreckung ein Menschenleben zu töten.“23 Von dieser Grundposition aus polemisierte er ausführlich in den Schlussabschnitten seines Vortrages gegen die Ablehnung der Todesstrafe durch Karl Barth und ihre theologische Begründung. (S. 31 f.) Zwar teilte er mit Barth die ausdrückliche Ablehnung der Todesstrafe aus Abschreckungs- oder Erziehungsgründen. Aber Barths theologisches Argument, die Todesstrafe sei obsolet, weil „vom Evangelium her … nichts, gar nichts für diese Einrichtung, alles gegen sie zu sagen“, sei, ließ Althaus nicht gelten, weil sie die notwendige Unterscheidung von Gesetz und Evangelium vernachlässige. Diese „Verquickung“ lasse Barth die Todesstrafe als Sühne, um der vergeltenden Gerechtigkeit Gottes Willen, ablehnen. Zudem habe Barth gar keinen Sinn für den Staat als von Gott gesetztes Amt am Recht, er rede immer nur von der „staatlich verfassten Gesellschaft“, auf die der Einzelne sein Recht zur Abwehr delegiert habe. Althaus folgerte aus dieser Argumentation: „Man sieht: Der Staat wird aufklärerisch vom einzelnen her verstanden, was hat das mit Theologie, was hat es mit Römer 13 zu tun.“ Er weist zudem noch darauf hin, dass Barth insgesamt inkonsequent argumentiere, da er in Extremsituationen die Todesstrafe doch wieder zulasse, was „seinen Argumenten gegen die Todesstrafe die Kraft und Glaubwürdigkeit nimmt“. Die Kontroverse zwischen Barth und Althaus über die Todesstrafe ist hier so ausführlich dargestellt, weil sie zunächst einmal als ein erneuter Beweis für eine gewisse Barth-Fixiertheit von Althaus gewertet werden darf. Darüber hinaus ist sie jedoch vor allem für die Denkmuster und den Argumentationsstil von Althaus außerordentlich interessant und charakteristisch. Typisch ist zunächst seine Unterscheidung zwischen theologisch und politisch. Barth argumentiere politisch bei seiner Staatsdefinition, während er, Althaus, theologisch vom Gott gegebenen Amt der Obrigkeit ausgehe. Zwar äußerte er in seiner Argumentation für die Todesstrafe ausdrücklich großes Verständnis für das Verbot der Todesstrafe im Grundgesetz als Reaktion auf den entsetzlichen Missbrauch während der Naziherrschaft. Doch er erhoffte nach einiger Zeit der Aufarbeitung und der Rückkehr zu den christlichen Grundlagen von Volk und Staat, dass dann das Amt der Obrigkeit als Arm Gottes zur Linken wieder so akzeptiert sei, dass auch die Todesstrafe als Sühne – trotz aller sinnvollen und nötigen Zugeständnisse an „soziologische Straftheorien“ – erneut möglich werde, dann würde auch das von Barth bejahte Bild von der staatlich gefassten Gesellschaft erst sein nötiges Fundament finden. Wieder wird hier aus heutiger Sicht greifbar, wie Paul Althaus in eindeutig rückwärts gewandter Begrifflichkeit von der christlichen Obrigkeit und vom christlichen Volk her dachte und argumentierte. Er agierte gleichsam resistent gegen alle Empirie. Denn seine Beispiele von sühnebereiten Mördern dürften 23 So in dem zusammenfassenden Bericht über seinen Vortrag in den Schriften der Bayer. Akademie der Wissenschaft, Philosoph.-histor. Klasse 1955, Heft 10, S. 1.
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empirisch-statistisch irrelevant sein. Sein Begriff der Repräsentativität befand sich noch jenseits jeder empirischen Kontrolliertheit, ein Phänomen, das uns im Übrigen schon bei seinen Abstraktionen über den typischen Juden begegnete.24 Ob die Prämissen, an die Althaus sein Plädoyer für die Todesstrafe band, realistisch und haltbar waren, wie sie in anderer Umgebung wirkten, das wurde von ihm nicht näher untersucht. Darum kritisierte ihn Adolf Arndt, der damalige „Chefjurist“ der SPD im Bund und einer der Väter des Artikels 102 Grundgesetz. Althaus hatte ihm seinen Aufsatz geschickt und damit wohl seine Gesprächsbereitschaft signalisieren wollen. Arndt antwortete in einem ausführlichen persönlichen Brief vom 21. 7. 1955. Er dankte für den Sonderdruck, aber hielt mit seiner Kritik nicht zurück. Sein – sehr ernstzunehmendes – zentrales Argument war, Althaus setze die „Rechtsordnung ohne weiteres mit dem Sittengesetz gleich“, man müsse aber die Rechtsordnung von dem Sittengesetz unterscheiden und deshalb die rechtlichen Erwägungen zur Todesstrafe angemessen berücksichtigen, was Althaus nicht eigentlich tue. Arndt argumentierte dann mit der Masse der zu Unrecht Hingerichteten in der 2000jährigen Geschichte seit Christi Geburt, die aus der Rechtsgeschichte heraus gegen die Todesstrafe votieren lassen, und verwies verstärkend auf die evangelische Glaubenslehre von der Erbsünde, die die Gleichsetzung zwischen Rechtsordnung und Sittengesetz unmöglich mache. So kam er zu der Schlussfolgerung: „Rechtlich gesehen überschreitet die Todesstrafe das jeder Rechtsordnung gesetzte Maß.“ (NLA K 10) Leider ist eine Antwort von Althaus auf diesen Brief nicht überliefert. Aber da er auch 1956 noch an seiner Grundposition zur Todesstrafe festhielt25, ist davon auszugehen, dass er sich von Adolf Arndt nicht überzeugen ließ. Sicherlich hatte er den Brief von Arndt aufmerksam gelesen, aber seine normative Position wurde offensichtlich nicht erschüttert. Er erwies sich darin – pointiert gesagt – als Kind des 19. Jahrhunderts aus der Hermannsburger Erweckungsbewegung, das von der Christlichkeit des deutschen Volkes und vom deutschen Staat als christlicher Obrigkeit unvermindert ausging. Diese sei nach dem Debakel der Herrschaft des Nationalsozialismus wiederherzustellen. Der Protest von Althaus gegen die „Säkularisierung der Staatslehre“, die er für den Verzicht auf die Todesstrafe verantwortlich machte, bestätigte diese Position und brachte ihn in einen offenkundigen Gegensatz zu den Auffassungen der ansonsten von ihm unterstützten ökumenischen Bewegung, die 1948 auf der Weltkirchenkonferenz in Amsterdam das Leitbild der „verantwortlichen Gesellschaft“ formuliert hatte und damit den Staat nicht als von Gott eingesetzte „Obrigkeit“ sondern als Selbstorganisation der verantwortlichen Gesellschaft begriff. Bei aller Nähe von Althaus zu diesem Bild in den 24 Vgl. oben S. 184 ff. und 236 f. 25 Vgl. einen ausführlichen Text von Paul Althaus in dieser Frage in epd B Nr. 14 vom 6. 4. 1956, NLA K 13,5.
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wichtigen Feldern politischen Handelns – bei dem Staatsverständnis blickte er eindeutig zurück in eine, wie wir heute mit Nachdruck feststellen müssen, untergegangene Welt. Das deutsche Volk – oder besser gesagt: die deutschen Staatsbürger – sind nicht christlich zu definieren, zumal sich immer niedrigere Prozentsätze der Bevölkerung zu den christlichen Kirchen bekennen und Millionen von Muslimen deutsche Staatsbürger sind, was zu einem auch sonst gebotenen säkularen Staatsverständnis zwingt. Zwar konnte in der unmittelbaren Nachkriegszeit und in den fünfziger Jahren, als Deutschland alles andere als ein Einwanderungsland war und zumindest die formale Kirchenmitgliedschaft nahe bei 100 Prozent aller Bürger lag, vergangenheitsorientierten Idealvorstellungen vom christlichen Deutschland noch eine gewisse Überzeugungskraft zukommen. Trotzdem oder gerade deshalb war das im Grunde rückwärtsgewandte und „Empirie resistente“ Staatsverständnis, das Paul Althaus in der Kontroverse mit Karl Barth über die Todesstrafe formulierte, hier so ausführlich darzustellen, weil sich an ihm ein Denkstil offenbart, der sich meines Erachtens schon in der Zustimmung von Althaus zum Ansbacher Ratschlag und zum Arierparagraph-Gutachten ausgedrückt hatte. Die normative Vorstellung von der christlichen Obrigkeit, die ihr Amt und ihren Auftrag im Namen Gottes ausübt, ließ ihn 1933/34 über die pseudochristlichen Proklamationen der Regierung Hitler jubeln und hoffen und an die christliche Substanz der nationalen Bewegung appellieren. Die Leuchtkraft des Ideals blendete gleichsam den Blick für die beunruhigenden politischen Vorgänge im Alltag der Tageskämpfe allzu lange aus. Die Ernüchterung kam später, und der Lernprozess nach 1945 erforderte viel, viel Zeit. Sein Festhalten an der Todesstrafe – zumindest auf der theoretischen Ebene – belegt, dass dieser Lernprozess aus den Erfahrungen der NS-Zeit noch keinen Abschluss gefunden hatte, so sehr dieser auch in dem – wenn auch zeitlich begrenzten – Akzeptieren des Verbotes der Todesstrafe spürbar ist. Trotz dieser Vorbehalte gegen die Thesen zur Todesstrafe muss jedoch zum Stellenwert dieser Veröffentlichung in der Reihe der Akademie der Wissenschaften gesagt werden, dass in der kompakten Darstellung der Todesstrafenproblematik eine ungewöhnlich reichhaltige und informative, rechts- und theologiegeschichtlich relevante Darstellung der Geschichte und Problematik der Todesstrafe vorgelegt wurde, die auch in der Auseinandersetzung mit Gegenpositionen fruchtbare Gesichtspunkte bot. Nicht zufällig wird diese fast 60-jährige Schrift auch heute noch in den einschlägigen Lexika in den dort zahlenmäßig sehr beschränkten Literaturhinweisen aufgeführt.26 Das große Ansehen, das Paul Althaus genoss, wurde zwei Jahre nach seiner Emeritierung anlässlich seines 70. Geburtstages deutlich. In der Erlanger Tageszeitung und in verschiedenen Kirchenzeitungen erschienen ausführliche Geburtstagsartikel, die theologische und juristische Fakultät luden zu einem 26 So in den Artikeln zur Todesstrafe in der 4. Auflage der RGG (2004) und in dem EKL von 1996.
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Ehrenabend ein, an dem auch der Rektor aktiv teilnahm. Die juristische Fakultät verlieh ihm bei dieser Gelegenheit den juristischen Ehrendoktor. Unter dem Titel „Dank an Paul Althaus“ erschien eine Festschrift.27 Auch die Luthergesellschaft, deren Präsident Althaus seit 1926 war, brachte ihr Jahrbuch für 1958 als „Festgabe für Paul Althaus“ heraus – mit einer warmherzigdankbaren Würdigung des 2. Vorsitzenden, des Hamburger Landesbischofs Volkmar Herntrich, und wichtigen wissenschaftlichen Aufsätzen.28 In der Fülle der Gratulationsbriefe, die sich in einer kleinen Mappe zusammen mit einschlägigen Zeitungsartikeln fanden29, wird die Verankerung von Althaus in der Region, aber vor allem auch die deutschlandweite Anerkennung, die er genoss, greifbar. In sehr persönlich formulierten Briefen gratulierten ihm allein fünf Bischöfe: neben Bischof Dietzelfelbinger aus München, Landesbischof Dibelius aus Berlin, Landesbischof Lilje aus Hannover, zugleich im Namen der VELKD, sowie Bischof Beste aus dem Althaus immer noch verbundenen Mecklenburg und Bischof Krummacher aus Pommern, der damals zugleich Sprecher der Kirchen in der DDR und Kontaktmann zur EKD war. Beide betonten dankbar die aktiven Kontakte von Althaus zu ihren Kirchen. Präsident Brunotte aus der Kirchenkanzlei der EKD sandte einen sehr persönlichen Brief. Aus der weiteren Geburtstagspost – auch von Kollegen lassen sich die intensiven Kontakte und die Dankbarkeit sowie die Hochschätzung, die dem „Senior“ Paul Althaus entgegengebracht wurden, lebhaft spüren. Die Schaffenskraft von Althaus war ungebrochen. Im Jahr 1959 referierte der Einundsiebzigjährige im Mai in der Bayerischen Akademie über „Der Schöpfungsgedanke in Luthers Theologie“. Am 1. September hielt er in englischer Sprache auf dem Weltkongress der Bibelanstalten in Edinburgh den Vortrag über das Bilderverbot und die Bibelillustration. Ende September sprach er auf dem evangelischen Kirchentag über das zentrale Thema „Die eine Kirche“.30 In diesem Vortrag brachte er seine Gesprächsfähigkeit zum zwischenkirchlichen Dialog und die Bejahung der Vielfalt der Formen zum Ausdruck. Ebenso unterstrich er seine lutherisch geprägte Bindung an das Evangelium. Man wird diese drei repräsentativen Vorträge auch als Dokumente der großen Anerkennung in akademischen Kreisen, im Raum der Kirche und in der Ökumene werten dürfen. Die öffentliche Anerkennung durch den Staat erfuhr Paul Althaus ebenfalls 1959, als ihm der Bayerische Ministerpräsident den Bayerischen Verdienstorden verlieh. Mit Dank und Stolz nahm Althaus diese Auszeichnung entge27 Walther Künneth und Wilfried Joest (Hg.), 1958. 28 Franz Lau (Hg.) 1958. 29 NLA K 6, 8 , sehr eindrucksvolle Briefe u. a. auch von Günther Bornkamm, Karl-Heinrich Rengstorf. 30 Diese Rede ist neben den Dokumentationen des Kirchentags auch abgedruckt in P.A., 1962, S. 62 – 75.
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gen.31 Ihre Exklusivität war ihm bewusst, zumal die Zahl der lebenden Ordensträger auf 2000 beschränkt ist. Nach den Aktivitäten in Edinburgh und auf dem Kirchentag konzentrierte sich Althaus ab Oktober 1959 auf seinen Plan, ein zusammenfassendes Buch über Luthers Theologie zu schreiben. Zwei Jahre später berichtete er an Doerne: „Daneben gedeiht ,Luthers Theologie‘ langsam. Ich hoffe, noch in diesem Jahr fertig zu werden.“ (NLA K 10). Tatsächlich erschien sein Buch „Die Theologie Martin Luthers“ zu Anfang des Jahres 1962. Es wurde ein großer Erfolg. 32 Jahre später – 1994 – wurde es immer noch gedruckt und erschien bereits in der 7. Auflage. Die englische Übersetzung, die in den USA erstmals 1970 herauskam, ist auch heute noch im Buchhandel erhältlich. Die Fachwelt reagierte ausgesprochen positiv, auch wenn es an Detailkritik nicht mangelte.32 Da Althaus etlichen früheren Schülern und jetzt fachlich verbundenen Kollegen ein Freiexemplar zusandte, fand sich im Nachlass eine kleine Mappe voller Dankbriefe (NLA K 13, 5), die durchaus Kritik, z. B. an Aufbau und Gliederung, vorbrachten – Wolfgang Trillhaas, 19. 3. 1962 –, aber die auch feststellten, eine solche Gesamtdarstellung habe immer schon gefehlt – Hans Graß, 18. 3. 1962. Martin Doerne sprach unverhohlen vom „Meisterwerk“ und Helmut Thielicke33 – wie Ernst Kinder – erinnerten an die unvergessliche Luthervorlesung von Paul Althaus, die sie Anfang der 30-er Jahre in Erlangen gehört hatten, und sprachen von der „vielleicht reifsten Frucht Deiner Lebensarbeit“ – Thielicke, 13. 3. 1962. Ernst Kinder formulierte in einem ausführlichen Brief vom 20. 4. 1962: „Nun ist die reife Frucht aus Ihrer jahrzehntelangen Arbeit an Luther im Zusammenhang allgemein zugänglich geworden. Ich halte es für sehr, sehr wertvoll, daß wir nun eine so ausgereifte, tief einführende, allseitig gerechte Darstellung der Theologie Luthers haben. Ich bewundere Sie mit Dankbarkeit, wie Sie hier aus der ungeheuer komplexen „Urmasse“ der theologischen Gedanken Luthers, in der man immer 31 Mündliche Auskunft von Gerhard Althaus. 32 Als Beispiel die ausführliche Rezension von Regin Prenter, Aarhus, in ThLZ 91 (1966), Spalte 6 – 12. Trotz zahlreicher Einzeleinwände ist sein Resümee: „Wir haben zur Zeit kein so umfassendes und gründliches Kompendium der theologischen Gedankenwelt Luthers wie das Buch von Althaus“. Nicht weniger wichtig auch die ausführliche Rezension von Franz Lau in Band 30 des Luther-Jahrbuchs (1963), die wichtige kritische Fragen – z. B. zu Althaus’ Darstellung von „Gesetz und Evangelium“ – formuliert, aber zugleich das Werk als Krönung des Lebenswerkes von Paul Althaus würdigt und seine Rezension auch als Ausdruck des Dankes zum 75. Geburtstag des Autors aufgefasst wissen will. 33 Helmut Thielicke hatte sich am 21. 3. 1938 bei Paul Althaus für dessen Schrift über Paulus und Luther bedankt, die ihm viel gegeben habe, „vor allem auch deshalb, weil die Behandlung historisch-systematischer Gesichtspunkte immer ganz groß bei Dir und wohl auch Deine stärkste Stärke ist. Nun wirst Du allmählich auf Dein großes Lutherwerk Kurs halten. Das schiene mir aus dem angegebenen Grunde die Krone Deiner Arbeit.“ Zwar brauchte Althaus für sein „großes Lutherwerk“ viel mehr Zeit, als Thielicke voraussah, aber dass es die „Krone seiner Arbeit“ wurde, darin behielt Thielicke Recht.
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wieder zu ertrinken droht, in meisterlicher Klarheit die wirklichen charakteristischen Linien allseitig und in rechter Differenzierung herausgestellt haben, und ich kann Sie zu dem Entschluß, den ganzen „Dschungel“ der Sekundärliteratur nicht mit heranzuziehen, nur beglückwünschen: So wird der wirkliche Luther selbst elementar sprechend, statt der so vielen einseitigen tendenziösen Interpretationen, die seine Theologie hat über sich ergehen lassen müssen. Wie durchsichtig haben Sie die gewaltige „Urmasse“ seiner Theologie geordnet und sind ihm doch ganz gerecht geblieben. Das kann nur einer, der jahrzehntelang und immerfort sich in die Quellen hineingedacht und unablässig in ihnen geforscht hat. Ich bin gewiss, daß dieses Werk wichtige Dienste überall tun wird und wünsche ihm einen guten Weg und viele gute Frucht.“
Gewiss war dieses Urteil auch von den positiven Lehrer-Schüler-Beziehungen geprägt. Aber der Erfolg des Buches bestätigte die positive Einschätzung. Der Verzicht, sich im Text ausführlich mit der Lutherforschung auseinander zu setzen und stattdessen nur Luthers Theologie in ihren Facetten und Prägungen darzustellen, dabei aber die Fragen der Gegenwart, die die systematische Gliederung des Buches vorgaben, stets spüren zu lassen, machte den besonderen Reiz des Buches aus. Zugleich wurde durch diese Anlage und durch den Stil der Argumentation deutlich, dass Althaus sich als Leser nicht nur die Fachkollegen im engeren Sinne vorstellte, sondern Studenten und Pfarrer, aber eben auch kirchlich engagierte Laien, Religionslehrer und Prediger. An Doerne schrieb er am 10. 4. 1962: „Dem Urteil der Fachwelt sehe ich mit Spannung entgegen. Ich kenne auch die Grenzen meiner Methode und Darstellung. Die richtigen Lutherforscher und -historiker werden nicht auf ihre Kosten kommen. Für sie ist das Buch ja auch nicht bestimmt.“ (NLA K 10). Den von Althaus angezielten Leserkreis, durch den zugleich die kirchliche Orientierung dieses Werkes erkennbar wurde, erkannte auch Hans Martin Müller in einer Rezension, in der er abschließend zusammenfasste: „Sein flüssiger, sprachlich wohltuender Stil setzt überdies einen Maßstab für unsere zeitgenössischen Theologen und macht die Lektüre auch für den Nichtfachmann zu einem Genuß.“34 Die abgekürzt als „kirchliche Orientierung“ zu bezeichnende innere Grundhaltung von Paul Althaus erkannte auch sein Vetter Wilhelm Wendebourg, der 1906/1907 mit ihm sein Studium in Tübingen begonnen hatte und 1963 als pensionierter niedersächsischer Superintendent in Bremerhaven lebte. In einem Brief vom 2. Februar 1963 (NLA K 11b) dankte er für das Lutherbuch, das er seit Weihnachten lese: Er bewundere vor allem „die Klarheit, mit der Du Luthers Gedankenwelt … darstellst und mit der Du Luther uns heute nahebringst. So liest sich Deine Darstellung von Luthers Theologie nicht nur als eine historische Arbeit, sondern als dem heutigen Theologen zugewandtes Glaubenszeugnis Luthers, das uns existentiell ergreift, be34 Monatsschrift für Pastoraltheologie Bd. 1963, S. 319.
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wegt und hoffentlich auch innerlich weiterbringt.“ Wendebourg verbindet mit diesem Lektürebericht seine Geburtstagsgrüße zum 75. Geburtstag von Althaus: „Von diesen 75 Jahren durftest Du etwa ein halbes Jahrhundert theologisch tätig sein. Welch eine Fülle und ein Reichtum der Gedanken ist in Forschung und Lehre Dir geschenkt worden, und nun durftest Du dies weitergeben. Und dabei bist Du im letzten Grunde immer derselbe geblieben und zwar in der Treue zu dem, was Dir im Vaterhause, in der Familie und der Verwandtschaft in der Jugend zuteil geworden war. Insofern habe ich persönlich besondere Veranlassung, Deiner zu Deinem diesjährigen Geburtstag zu gedenken und Dir für die unveränderte Freundschaft zu danken.“
Mit der Anspielung auf die „Treue zum Vaterhaus“ und dem, was Althaus aus der Verwandtschaft und in der Jugend zuteil geworden sei, spielt Wendebourg offensichtlich auf die ihnen gemeinsame Prägung durch die Herkunft aus lutherischen Pfarrhäusern aus dem Umfeld der niedersächsischen Erweckungsbewegung an, die schon wiederholt zu registrieren war.35 Dass Wendebourg dieses „Hermannsburger Erbe“ auch in dem gelehrten Lutherbuch spürte, erscheint sehr zutreffend und charakteristisch. Es erklärt zugleich die große Wirkung dieses Buches. Der immer kirchlich denkende, zutiefst glaubensstarke und fromme Professor blieb auch im wissenschaftlichen Text in all seinen argumentativen Verästelungen stets spürbar. Auch darin lag der große Erfolg des Lutherbuches verankert. Ein Jahr nach dem Erscheinen des Lutherbuches feierte Paul Althaus seinen 75. Geburtstag. Wieder gab es eine beeindruckende Zahl persönlicher Gratulationsbriefe und Würdigungen in der politischen und kirchlichen Presse.36 Seine Anerkennung im weltweiten Luthertum drückte sich darin aus, dass ein Abgesandter des Wartburg Theological Seminary, Dubuque, Iowa, ihm während des offiziellen Geburtstagsempfangs die Urkunde zur Verleihung des Ehrendoktors, des „Doctor Divinitatis honoris causa“, überbrachte und ihm den dazu gehörigen Talarüberwurf anlegte. Diese Hochschule der amerikanischen lutherischen Kirche ging auf eine Gründung Wilhelm Löhes zurück. Ihr 1963 amtierender Präsident, Dr. Alfred H. Ewald, hatte einst bei Althaus studiert. Dessen Renommee unterstrich die Stadt Erlangen, indem sie ihm am 2. 5. 1963 „in dankbarer Anerkennung für hervorragende Leistungen, die das Wohl und das Ansehen der Stadt gemehrt haben“ den Goldenen Ehrenring der Stadt verlieh.37 Ungebrochen blieb trotz des hohen Alters die wissenschaftliche Produktivität. 1965, zwei Jahre nach dem 75. Geburtstag, erschien „Die Ethik Martin Luthers“, mit der Althaus das zentrale Werk über die Theologie Martin Luthers ergänzte. Von diesem Buch meinte er selbst, dass es zeitgebundener sei, weil ethische Fragen immer in eine konkrete Zeit und in konkrete Umstände 35 Vgl. dazu oben S. 30 f. und 118 f. 36 Vgl. die einschlägigen Dokumente zu diesen Ehrungen in der Mappe NLA K 6, 6. 37 Originalurkunde und zugehöriger Schriftwechsel in NLA K 6, 6.
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hinein diskutiert werden müssten. Demnach erfordere sie unter neuen Verhältnissen auch neue Antworten. Auf dieses Buch muss darum hier nicht näher eingegangen werden, zumal einige seiner zentralen ethischen Aussagen schon oben erörtert wurden.38 Die große Kompetenz von Althaus als Lutherforscher wurde hier noch einmal eindrucksvoll unterstrichen. Ein Jahr später, 1966, erschien dann die 10. Auflage seines Römerbriefkommentars. Das ist deshalb besonders bemerkenswert, weil Althaus hier entscheidende Passagen über das Volk Israel korrigierte. Den Anstoß zu diesen Änderungen hatte sein Sohn gegeben, der in den frühen 60-er Jahren seinen Vater insbesondere bei der Abfassung des Lutherbuches als Hilfs-Assistent unterstützt hatte.39 Er kritisierte die Passagen, die die Geschichte des Volkes Israel nach Golgatha als Strafe Gottes an dem Volk, das Jesus ans Kreuz gehängt habe, interpretierten. So war es unverändert aus den ersten Auflagen noch in der 9. Auflage von 1962 zu lesen.40 Das könne man doch heute – angesichts der Neubestimmung des christlich-jüdischen Dialoges und der Erfahrungen des Holocausts – so nicht mehr schreiben. Der Vater habe diese Einwände aufmerksam angehört, ohne sich sofort näher zu äußern. Umso erfreuter konnte der Sohn vier Jahre später in dem Exemplar der neuen Auflage, das der Vater ihm sofort nach dem Erscheinen dankbar geschenkt hatte, die entscheidenden Korrekturen registrieren. Jetzt war von der besonderen Schuld des Volkes Israel am Tode Jesu, die Jahrhunderte lang eine feste Denkfigur in der Christenheit gewesen war und die Althaus auch in den früheren Auflagen des Römerbriefkommentars vertreten hatte, nichts mehr zu finden. Stattdessen lesen wir in den abschließenden, völlig neu formulierten Passagen unter der Überschrift „Israels Schicksal und die Christenheit“ von den gemeinsamen Traditionen von Juden und Christen im Alten Testament, von ihrer „Nähe und Gemeinsamkeit“. Althaus betonte aus dieser Sicht: das mache es „unendlich rätselvoll und bedrückend, dass Israel im Ganzen sich Jesus Christus verschlossen hat. Der Schmerz des Paulus um Israel ist zugleich das Leid der ganzen Christenheit. Sie wird auch mit Scham bekennen, dass sie als die Zeugin Jesu Christi Mitschuld trägt an der Verschlossenheit Israels durch ihre Haltung dem jüdischen Volk gegenüber. Mit dem Apostel (10, 1) wird sie ständig Fürbitte tun für Israel um sein Heil … Über Israel liegt ein Geheimnis, auch für das profane Urteil dessen, der seine Geschichte bedenkt. Mit seiner einzigartigen Selbstbehauptung als Volk … steht Israel wie ein Wunder unter den Völkern.“41
Paul Althaus lernte nicht aus, so darf man diese Sätze gerade im Vergleich zu den früheren Formulierungen interpretieren, er blieb bis ins hohe Lebensalter 38 Vgl. oben S. 345 und 358 f. 39 Mündlicher Bericht von Gerhard Althaus dem Autor gegenüber. 40 Die entscheidenden traditionellen Passagen aus den früheren Auflagen sind oben Seite 208 f. ausführlich zitiert. 41 P.A., 1966, S. 122.
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aufnahme- und selbstkorrekturfähig. Ob diese neuen Formulierungen auch als implizite Distanzierung vom Gutachten zum Arierparagraphen gelesen werden darf, ist schwer zu entscheiden. Konsequent weitergedacht führte sie mit ihrer Relativierung des Begriffs der Volkszugehörigkeit eindeutig in diese Richtung. Die neue Interpretation, die nicht mehr von der besonderen Schuld Israels an Golgatha sprach, sondern im Grunde alle Völker, alle Menschen als Verursacher von Golgatha begriff, war für Althaus nicht völlig neu. Schon 1937 hatte er einmal diese Grundeinsicht in seinem Tagebuch formuliert.42 Dass es bis 1966 dauerte, bis er auf den Anstoß seines Sohnes hin diese Korrektur präzis und öffentlich formulierte, lässt sich gewiss auch zeitgeschichtlich erklären. Seine Generation, geprägt in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, brauchte mehr Zeit, um die strukturellen Katastrophen der nationalsozialistischen Diktatur in all ihren Dimensionen voll zu erkennen und dann Konsequenzen zu ziehen. Es waren eben nicht nur ein verbrecherischer Diktator und seine bedenkenlos zu allem Unrecht bereite Führungsmannschaft aus der Partei, die das Unglück und die Verbrechen des Dritten Reiches heraufbeschworen hatten. Dazu beigetragen hatten auch äußerst problematische, von Irrtum und Opportunismus getragene, weit verbreitete und systemrelevante gesellschaftliche Mitmacheffekte und eine ebenso systemisch bedingte Enthemmung individueller und kollektiver Kontrollmechanismen. Hinzu kam ferner die Missbrauchbarkeit ganz anders gemeinter und intendierter politischer, weltanschaulicher und religiöser Vorstellungen, die – um nur ein Beispiel zu geben – die christlichen Kirchen nicht zu einem Protest finden ließen, als mit dem persönlichen Eid auf den Führer der klassische Eidesinhalt faktisch entwertet wurde. Diese Erkenntnisse erforderten jedoch erst zeitaufwendige Denkprozesse während der 50-er und 60-er Jahre, an denen die jüngere Generation führend beteiligt war. Insofern ist es durchaus typisch, dass Gerhard Althaus als Angehöriger dieser Generation den Anstoß für die Neuinterpretation dieser Passagen des Römerbriefes gab. Ohne weitere Gespräche und Diskussionen vollzog sein Vater diese grundlegende Korrektur dann allein in der Abgeschlossenheit seines Studierzimmers. Dabei konnte er sich auf eigene Denkansätze aus früheren Jahren stützen. Die Offenheit seines Denkens und seine zwar nicht unbegrenzte aber in wichtigen Feldern sich immer wieder dokumentierende Lernbereitschaft wurde hier deutlich. Sie fand in seinem festen Glauben ein stabiles Fundament. Nach dem Erscheinen der 10. Auflage des Römerbriefes 1966 war Althaus wieder frei für eine aktivere Vortragstätigkeit, zumal es ihm auch gesundheitlich wieder besser zu gehen schien. So sagte er am 12. Februar 1966 einen Vortrag in Arnsberg, im westfälischen Sauerland, für den November 1966 zu. Man hatte ihn von dort gebeten, über das Thema „Tod und Auferstehung im Lichte der Bibel“ zu sprechen. Doch diese theologische Reflektion wurde im wirklichen Leben vom Tod überholt. Bereits im Mai 1966 verstarb Paul Althaus 42 Vergl. oben Seite 294.
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nach einem plötzlichen Schlaganfall mit folgender kurzer schwerer Erkrankung. Er verschied in gesammelter Glaubenszuversicht, die die lebendige Basis all seiner theologischen Reflektionen spüren ließ.43
10.2 Paul Althaus im Urteil der Nachwelt – zwischen Verehrung, kritischem Respekt und reduktionistischer Vereinseitigung Nachdem Paul Althaus am 18. Mai – am Tage vor Himmelfahrt – gestorben war, erschien am 20. Mai nicht nur die Traueranzeige der Familie in der Zeitung, sondern diese wurde begleitet von einem Bericht der Zeitungsredaktion mit großem Portraitfoto des Verstorbenen, in dem die Meldung vom Ableben des geschätzten Professors mit einer eindrucksvollen Würdigung seiner Person verbunden war. Am Samstag, den 21. Mai, fand dann in der vollbesetzten Neustädter Universitätskirche die Trauerfeier statt, in der der Rektor, aber auch der Landesbischof und weitere kirchliche Vertreter Grußworte sprachen. Die eigentliche Trauerrede hielt sein Nachfolger im Amt, Professor Wilfried Joest. Sie „machte deutlich, welcher Beliebtheit und Verehrung sich dieser hochgeschätzte Theologe und begnadete Prediger in weitesten Kreisen erfreute“ – so kommentierte Walther von Loewenich wenig später diese Feier.44 Am Montag, dem 23. Mai, fanden sich in den Erlanger Tageszeitungen erneut ausführliche und reich bebilderte Berichte über diese Feier.45 Obgleich schon seit zehn Jahren emeritiert, war Paul Althaus – so darf man dieses Echo interpretieren – in Erlangen noch außerordentlich präsent, zumal er ja sein Amt als Universitätsprediger erst zwei Jahre zuvor aufgegeben hatte. Begleitet wurde der Abschied von mancherlei Nachrufen und Würdigungen in einschlägigen Presseorganen. Im kirchlichen Sonntagsblatt vom 5. Juni, also 14 Tage nach der Beerdigung, schrieb sein Nachfolger Wilfried Joest einen Nachruf. Die theologische Fakultät verliere mit ihm einen Mann, „der ihre Geschichte und ihr Gesicht tief geprägt“ habe und der darüber hinaus „für die ganze Universität und für das Leben unserer Kirche so viel bedeutete, wie das einem Universitätslehrer nur sehr selten gegeben ist.“ Joest lobte Althaus als akademischen Lehrer „meisterhaft in der Sprache, die die Tiefe der Fragen nicht verdeckte, noch weniger verflachte, wohl aber durchsichtig machte“. Zugleich habe er die theologische Arbeit in den Kreis der Wissenschaften gestellt und nicht gestattet, „die Wahrheiten des Wissens um des Glaubens willen zu verdrängen“. Darum sei Althaus „als Theologe und Prediger zugleich 43 Mündlicher Bericht von Gerhard Althaus über die letzten Tage seines Vaters dem Verfasser gegenüber. 44 So in seinem Nachruf auf Paul Althaus in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Jahrbuch 1966, S. 193 – 200 – Zitat: S. 196. 45 Die einschlägigen Zeitungsausschnitte in NLA K 6, 10.
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ganz Wissenschaftler“ gewesen. Joest hob die Weite der Interessen und Fragestellungen hervor, Althaus sei das „Gegenteil des Spezialisten, der nur sein Problem kennt“ gewesen, zugleich im „Persönlichsten … ein Mann von großer Gewissenhaftigkeit und Treue“, die er vor allem auch in seiner seelsorgerlichen Tätigkeit bewährt habe. Die Nachlebenden seien für dieses gesegnete Wirken für Fakultät, Universität und Kirchengemeinde dem Verstorbenen zu großem Dank verpflichtet. Das Korrespondenzblatt des Bayerischen Pfarrervereins eröffnete sein Juli-Heft 1966 mit einem ebenso eindrucksvollen wie ausführlichen Nachruf des Regensburger Kreisdekans Wilhelm Schwinn, der 1925 in Rostock noch bei Althaus studierte, zeitweilig bei ihm Assistent war und seitdem immer wieder mit seinem akademischen Lehrer in Kontakt geblieben war, insbesondere auch als Würzburger Dekan und Organisator vieler Vorträge von Althaus, die dieser dort hielt. Er lobte ihn als „großen Theologen mit letzter intellektueller Redlichkeit (gerade auch gegenüber allen Fragen historischer Forschung) und zugleich den begnadeten Christenmenschen.“ Schwinn artikulierte ferner seine Dankbarkeit, „dass wir bei Althaus nicht in eine Schule gezwängt wurden“, solange unbestritten sei, „dass Theologie letzten Endes Theologie des Glaubens ist und dass dabei das Herzstück in der Christologie zu finden ist“. Gewiss habe Althaus es nicht leicht gehabt „… von manchen Vorstellungen des Nationalen, wie sie seiner Generation nahe lagen, sich zu lösen, aber er arbeitete redlich an dieser Loslösung.“ Zentral und unvergänglich bei Althaus sei immer die Theologie des Kreuzes gewesen, wobei diese auch grundlegende Bedeutung für den Prediger Althaus gehabt habe. Schwinn fügte – wohl mit großem Recht – hinzu: „Ja man muss auch umgekehrt sagen: Im Wagnis der Verkündigung wurde manches Theologische klar und fest“. In dieser Formulierung wurde nachdrücklich auf die Einheit von Professor und Prediger und ihre wechselseitige Befruchtung hingewiesen, die das ganze Leben von Paul Althaus geprägt hatte, und – wie in diesem Nachruf deutlich wird – auch von der Gemeinde gespürt worden war. Diesen beiden sehr zeitnahen Nachrufen, die in ihrer Knappheit vor allem Dank und Verehrung ausdrückten, folgten zwei ausführlichere Gedenkartikel, die sich sehr differenziert insbesondere auch mit dem wissenschaftlichen Werk und Erbe von Althaus beschäftigten. Die Bayerische Akademie der Wissenschaften veröffentlichte noch im Jahrbuch 1966 einen Nachruf von Walther von Loewenich, der einmal bei Althaus promoviert hatte und seit 1946 hauptamtlicher Kollege mit durchaus eigenem theologischem Profil in der Erlanger Fakultät war.46 Loewenich schilderte die Herkunft und den akademischen Werdegang von Althaus, seine Verdienste als „begeisterter und begeisternder Lehrer“, seine Stärke und wissenschaftliche Redlichkeit sowie seine Aktivitäten in der Universität, in theologischen Verbänden und in der Kirche. Ausführlich widmete er sich dann der umfangreichen wissenschaft46 Zu Loewenich vgl. auch oben S. 323 f.
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lichen Produktion des Systematikers, des Lutherforschers und des Auslegers des Neuen Testamentes. Verständnisvoll charakterisierte er die Leistungen von Althaus in diesen theologischen Bereichen. Althaus sei stets bemüht gewesen um die rechte Synthese zwischen „schlichter Frömmigkeit“ und „intellektueller Redlichkeit“. Loewenich verschwieg auch seine kritischen Einwände nicht. So resümierte er z. B. bei der Lutherforschung: „Die Lutherforschung wird bei Althaus nicht stehen bleiben; aber sie wird in dem von ihm Erarbeiteten einen zuverlässigen Ausgangspunkt für eigene Bemühungen haben.“ (S. 198) Zu den Althaus bedrängenden Fragen nach der rechten Stellung zu Staat und Gesellschaft stellte Loewenich fest: „Er konnte seine Herkunft aus dem Bismarckreich nicht verleugnen und dachte sicher in manchen Punkten „nationaler“, machtpolitischer und konservativer als die heutige Generation. Seine wesensmäßige Bereitschaft zu positivem Verstehen-Wollen, ließ ihn wohl auch anfänglich die Dämonie des Dritten Reiches, dem er sich doch nie verschrieb, nicht so klar durchschauen, wie das manche seiner Schüler gewünscht hätten.“ (S. 199) Dass Loewenich selbst sich zu dieser Gruppe von Schülern zählte, ist eindeutig nachzuweisen. Zusammenfassend charakterisierte er ihn als „Vermittlungstheologen im guten Sinn, der wider dem Trend zum Spezialistentum die notwendige innere Zusammengehörigkeit der verschiedenen Disziplinen … in seinem Lebenswerk eindrucksvoll dargestellt“ habe, zumal sich in dem Willen zur Synthese mehr Weisheit verbergen könne als in dem Aufreißen von Gegensätzen. Althaus, der Theologe, habe auch „mit seiner gewinnenden Menschlichkeit im Dienst der Versöhnung der Gegensätze“ gestanden, „als ein Mann der Vermittlung im besten Sinne des Wortes. Als solcher wird er in unserem Gedächtnis weiterleben.“ (S. 200) Diesem eindrucksvollen Zeugnis von Loewenich, der bei Althaus, Barth und Bultmann studiert hatte, sich aber jenseits von deren Positionen als moderner liberaler Theologe profilierte, sei noch der Nachruf und die Würdigung von Hans Grass (Jahrgang 1909) angefügt, der in besonders intensiven Beziehungen zu Althaus gestanden hatte. Nach dem Studium in Göttingen, Marburg, Tübingen und Berlin sowie zweiter Dienstprüfung in Berlin-Brandenburg hatte Grass im November 1936 eine Hilfskraftstelle bei Althaus angetreten und im Sommer 1939 bei ihm promoviert. Als Soldat stand er während der Kriegsjahre in einem außerordentlich intensiven brieflichen Kontakt mit Althaus47. Nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft übernahm Grass 1948 eine Assistentenstelle bei Althaus. Schon 1949 habilitierte er. Über eine Oberassistentenstelle und dann Diätendozentur ermöglichte ihm Althaus den Einstieg in die akademische Laufbahn, die 1955 auf eine Professur für systematische Theologie nach Marburg führte. Die jahrelangen sehr persön47 Im Nachlass existieren 18 Briefe von Hans Grass an Paul Althaus, in denen theologische Probleme aber auch die alltäglichen Kriegsnöte und Sorgen über die Zukunft deutlich zum Ausdruck kommen.
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lichen Kontakte als Doktorand, als Briefpartner während des Krieges und als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Schüler und Kollege, lassen sich in den zwei Nachrufen von Hans Grass deutlich spüren. Schon eine Woche nach der Beerdigung fühlte sich Grass in Marburg verpflichtet, eine Gedächtnisvorlesung über „Paul Althaus als Theologe“ zu halten. Hier charakterisierte er seinen akademischen Lehrer als Universitätsprediger, der „die Kirche mit ihren 1200 Plätzen häufig bis auf den letzten Platz gefüllt“ habe, weil er predigen konnte „gewiss nicht prophetisch oder charismatisch, aber klar verständlich und eindringlich … Er war auch ein Seelsorger. Zwar verbreitete seine liebenswürdige Persönlichkeit ein Distanzgefühl, das falsche Vertraulichkeit ausschloss, aber in seine Sprechstunden kamen viele und schütteten ihm ihr Herz aus.“ In seiner akademischen Tätigkeit sei er „ein akademischer Lehrer mit Leidenschaft“ gewesen. Plastisch schilderte Grass die „offenen Abende daheim in seinem großen Studierzimmer. Bis zu 30 Studenten hatten hier Platz.“ Dadurch entstand über das Fachliche hinaus eine persönliche Verbindung mit seinen Studenten. Althaus, so hob Hans Grass hervor, „der Wert darauf legte, dass das Seminar sich erhob, wenn er den Seminarraum betrat, hatte zugleich einen erstaunlichen Kontakt mit seinen Studenten“, der sich auch später fortgesetzt habe. (S. 256) Der scheinbare Widerspruch, den Grass hier zwischen den distanzbetonenden Formen und dem gleichwohl guten persönlichen Kontakt hervorhebt, lässt sich mit dem Hinweis auf das Amts- und Standesverständnis von Paul Althaus auflösen. In dem konservativen Weltbild von Althaus war die Gesellschaft in Stände – durchaus hierarchisch – gegliedert. Den oberen Ständen, zu denen für ihn der Professorenstand zweifelsfrei gehörte, gebührte darum Respekt und Anerkennung, die in bestimmten Formen zum Ausdruck gebracht werden sollten. Doch seinem Amtsverständnis als Professor und Seelsorger entsprach es ebenso, dass er sich seinen Schülern mit umfassender persönlicher Intensität und Offenheit zuwandte und sich für sie einsetzte. Dem besonderen Amt entsprachen eben auch besondere Pflichten für den Amtsträger und diesen entzog sich Althaus nie. In diesem Zusammenhang betonte Grass auch in großer Dankbarkeit: Althaus „ließ seinen Schülern Freiheit, so dass sie sich in verschiedene Richtung entwickeln konnten. So hat er auch nicht eine Schule gebildet, man kann nicht von Althausianern sprechen, wie man von Barthianern oder Bultmannianern spricht“. (S. 256) Das Gewicht dieser Aussagen wird deutlich, wenn man den sehr ausführlichen, auf Althaus als wissenschaftlichen Theologen konzentrierten Aufsatz von Grass liest, der wenige Monate später in der Neuen Zeitschrift für systematische Theologie erschien.48 Sehr differenziert und instruktiv werden hier die Schwerpunkte des Theologen Paul Althaus vorgestellt: der Lutherforscher, der Neutestamentler – Römerbriefkommentar und Christologie –, der systematische Theologe und politische Ethiker. Grass lieferte insgesamt einen 48 H. Grass, 1966 (2).
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ebenso überzeugenden wie umfassenden Überblick über die theologische Arbeit von Althaus, nicht ohne ihre Grenzen oder seinen Widerspruch an einzelnen Punkten – z. B. die Bedeutung des leeren Grabes für den Auferstehungsglauben – zu verschweigen. Insbesondere zur politischen Ethik ließ es Grass nicht an detaillierter Kritik fehlen. Er sprach von den „mancherlei Peinlichkeiten“, die im Jahre 1933 und in den folgenden Jahren von Althaus formuliert worden seien, fügte aber differenzierend hinzu, „sie klingen uns heute peinlicher, als sie damals vielen geklungen haben.“ Er betonte auch den Vorbehalt, den Althaus immer gemacht habe, der den Nazis sicherlich ärgerlich gewesen sei. Aber er schränkte ein, dieser Vorbehalt sei immer „erst als zweites Wort auf das recht vorbehaltlos klingende erste Wort“ gefolgt. Grass fügte eine differenzierte Kritik an der „Theologie der Ordnungen“ und der Schrift „Obrigkeit und Führertum“ an, die ihn beide enttäuscht hätten, weil „das Ja zur deutschen Erneuerung“ nicht „schon gedämpfter erklänge.“ Aufmerksam registrierte er die Akzent- und Gewichtsverschiebungen in den einschlägigen Abschnitten der Neuauflage des Grundriß der Ethik von 1953, in denen „die Wandlung in Althaus’ politischer Ethik am deutlichsten“ hervortrete. Zwar stellte er die Frage, „ob nicht ein radikalerer Wandel in der politischen Ethik möglich wäre, als Althaus ihn vollzogen hat“ und neigte ohne Zweifel zu einer Bejahung, auch „wenn man Barths christologische Begründung ablehnt“ (S. 235), doch er tolerierte die Lösung von Althaus und betonte abschließend: „Althaus war um eine Alternative zur Barth’schen Theologie bemüht, die nicht die Alternative Bultmanns war. Seine Theologie war lutherisch, aber ohne konfessionelle Enge; kritisch, gerade auch in Fragen der Bibelkritik, aber extremen Positionen abgeneigt; weltoffen, für eine positive Würdigung des Natürlichen, des Guten, Wahren und Schönen, des Humanum und nicht nur des Christianum. Der Reichtum, die Weite, der anknüpfende und vermittelnde Charakter seiner Theologie ist ihre Stärke und in mancher Hinsicht auch ihre Schwäche.“ (S. 237) Auf diesen außerordentlich gelungenen theologisch systematischen Überblick über die wissenschaftliche Arbeit von Paul Althaus sei hier aus der Perspektive des Biographen ausdrücklich hingewiesen. Die beiden Nachrufe von Hans Grass sind deshalb so ausführlich referiert worden, weil sie als unmittelbare Zeugnisse eines Mannes, der jahrelang in sehr engem Kontakt mit Althaus gestanden hatte, besonders überzeugendes Gewicht besitzen. Dem Bild von Althaus fügen sie wichtige Facetten über seine Wahrnehmung im engsten Bekanntenkreis hinzu. Zusammen mit den bereits behandelten Nachrufen von Joest, Schwinn und Loewenich ergibt sich ein ebenso differenziertes wie plastisches Bild des Menschen Paul Althaus, das in seinem Facettenreichtum hier so ausführlich darzustellen war, weil es die vorzulegende Biographie nur bereichern kann. 1978 hatte Hans Grass in dem Artikel „Paul Althaus“ im zweiten Band der Theologischen Realenzyklopädie (TRE) seine Positionen zu Paul Althaus noch einmal in knapper aber sehr instruktiver Form wiederholt. Im Abschnitt über 381
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die politische Ethik begründete er die „Schwäche gegenüber dem Nationalsozialismus“ neben den schon 1966 behandelten Schriften jetzt auch mit dem vielfach kritisierten Ansbacher Ratschlag und dem Gutachten zum Arierparagraphen, das „ebenso unrühmlich war“. Das Bedürfnis von Althaus, in die Zeit zu sprechen und das Ohr insbesondere der Jugend zu erreichen, habe „ihn dem Zeitgeist mehr als nötig Tribut leisten lassen“.49 Dass jetzt erstmals bei Grass der Ansbacher Ratschlag und das Gutachten zum Arierparagraphen erwähnt wurden, ist offenkundig nicht zufällig. 1966 – so gewinnt man den Eindruck – waren diese beiden Aktionen von Elert und Althaus noch kein Thema, wobei kaum zu entscheiden ist, ob sie bewusst verschwiegen wurden, um Paul Althaus nicht zu verletzen, oder ob sie wegen anderer dringenderer Fragen im Horizont der Fragenden nicht vorhanden waren oder noch kein Gewicht besaßen oder – wenn bekannt – so doch in ihr Umfeld eingebettet und nicht symbolisch aufgewertet wurden. Offensichtlich spielte die Wende des Jahres 1968 eine beachtenswerte Rolle. Mit dem Beginn der Entspannungspolitik unter der Regierung Brandt seit 1969 wurde zudem die Luft frei für intensiveres Nachdenken über die nationalsozialistische Vergangenheit. Nicht zufällig war ein Jahr vor dem TREArtikel von Hans Grass 1977 der erste Band von Klaus Scholders voluminöser kritischer Arbeit über „Die Kirchen und das Dritte Reich“ erschienen, in dem erstmals in einem kurzen Abschnitt auch das Erlanger Gutachten zum Arierparagraphen im Kontext des Marburger Gutachtens und des viel radikaleren, „brauneren“ Gutachtens von Georg Wobbermin dargestellt und kritisiert worden war. Auch Scholder – geboren 1930 – war ein Vertreter der „Generation der Luftwaffenhelfer“.50 Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Entwicklung wird verständlich, dass die Erlanger Theologische Fakultät auf dem Kirchentag 1979 eine Veranstaltung über ihre heutige Einschätzung des Gutachtens zum Arierparagraph von 1933 anbot. Die Fakultät war aus dem Kirchentagspräsidium um einen Beitrag gebeten worden, und der damals amtierende Dekan Manfred Seitz hatte dieses Thema vorgeschlagen und dafür die Unterstützung der Mehrheit seiner Kollegen gewonnen.51 Unter dem Thema „Wie war das möglich? Das Erlanger Gutachten zum Arierparagraph. Erlanger Theologen stellen sich einer Entscheidung ihrer Fakultät“ wurde für den 14. 6. 1979 die Veranstaltung angekündigt. Sie fand ein sehr großes Echo. Man sprach vor über 4000 vorwiegend jugendlichen Hörern. Das Thema fügte sich gut zu weiteren Veranstaltungen des Kirchentags: 49 H. Grass in TRE, Bd. 2 (1978), S. 329 – 336, Zitat S. 335. 50 Vgl. unten S. 392. 51 Für die folgende Darstellung vgl. die offizielle Kirchentagsdokumentation und die epd-Dokumentation Nr. 5 – 6 (21. 01. 1980) speziell zu dieser Veranstaltung. Ferner fìhrte ich in diesem Zusammenhang Gesprche mit Gerhard Althaus, Manfred Seitz, Gunter Wanke, Peter Poscharsky und Georg Kìnzel, wobei meine Gesprchspartner durchaus unterschiedliche Akzente setzten und darum nicht mit meiner Bewertung aus der Perspektive der Althaus-Biographie identifiziert werden dìrfen.
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z. B. „Zur Hoffnung berufen – Gemeinsame Hoffnungen von Juden und Christen“ oder „Rassismus – von den Nürnberger Gesetzen bis zur Apartheid“, „Christsein nach Auschwitz“ und zu einem Podiumsgespräch unter dem Titel „Nach dem Holocaust“. In seinem Schlusswort verwies der Kirchentagspräsident auf den Schock, den im Jahr zuvor die Fernseh-Filmserie „Holocaust“ ausgelöst habe, der dazu ermahne, die christlichen Wurzeln des Judenhasses nicht zu verdrängen. Der christlich-jüdische Dialog erweise sich nach der „Ratlosigkeit, die nach den Bildern des Filmes geblieben ist“, als notwendig. „Wir haben Hoffnung durch das, was in diesen Tagen an Aufarbeitung der geschichtlichen Vergangenheit geschah.“52 Im Rahmen dieses Kontextes vollzog die Fakultät einen notwendigen Schritt. Es gehe darum – so formulierte Dekan Seitz in seiner Einleitung – „das über unserer Fakultät lastende Schweigen“ zu brechen. Es folgten kurze Referate aus kirchenhistorischer, neutestamentlicher und sozialethischer Sicht. Alle konzentrierten sich auf das Gutachten, das zu Recht als schwerer Fehler identifiziert wurde. Zwar hätten Althaus und Elert einen „mittleren Weg“ versucht, aber letztlich habe dieser in den Abgrund geführt. Das Gutachten stelle eine Theologie der Anpassung an den Zeitgeist dar, obwohl Bonhoeffer eine Alternative vorgelebt habe. Viele kundige Teilnehmer empfanden die Aktion der Fakultät als notwendigen und auch befreienden Schritt. Fast unvermeidlich gewann die Veranstaltung – verschärft durch studentische Fragen und Kommentare – streckenweise jedoch auch den Hauch eines Scherbengerichtes. Gerhard Althaus, der teilnahm, weil er die Intention der Veranstalter bejahte, empfand den Tonfall, insbesondere der Studenten, phasenweise als unangenehm und einseitig, was andere Teilnehmer bestätigten. Eine differenzierte zeitgeschichtliche Einordnung des Gutachtens zum Arierparagraph in das allgemeine Umfeld und in die Biographie von Althaus konnte im Kontext dieser Veranstaltung gewiss nur im Ansatz geleistet werden. Nicht zufällig hatte der eigentlich zuständige Kirchenhistoriker Gerhard Müller die Kirchentagsveranstaltung abgelehnt, weil er für diese Thematik ein differenziertes wissenschaftliches Kolloquium für notwendig erachtete. Eine isolierende und dadurch stigmatisierende Identifizierung von Althaus und Elert mit dem Gutachten und allenfalls noch mit dem Ansbacher Ratschlag war eine – wenn auch nicht beabsichtigte und ungewollte, aber fast zwangsläufige – Folge. Ein Student brachte das Resümee auf die stark verkürzte Formel: „Von Althaus führt der Weg nach Ausschwitz“.53 Aus dieser Perspektive war es verständlich, dass Walther von Loewenich und Wolfgang Trillhaas, die 1933 in Erlangen bei Althaus als Doktoranden bzw. Dozenten arbeiteten und gegen das Gutachten zum Arierparagraph opponiert hatten, jetzt die Kirchentagsveranstaltung in Leserbriefen kritisierten, weil durch die Dynamik solcher Veranstaltungen den verstorbenen Profes52 Kirchentagsdokumentation 1979, S. 808. 53 epd-Dokumentation, S. 111.
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soren nur noch ein Fußtritt versetzt werde – auch wenn man das nicht gewollt habe. Zudem stimme die These vom Verschweigen nicht. Loewenich verwies dazu auf seinen kritischen Bericht über die Erlanger Fakultät im Nationalsozialismus aus dem Jahre 1974, also bereits 5 Jahre zuvor.54 Hier hatte er sowohl das Gutachten zum Arierparagraph als auch den Ansbacher Ratschlag sehr kritisch kommentiert. Er hatte aber beide Papiere in den Klärungsprozess gegenüber dem Nationalsozialismus eingeordnet, den er insbesondere bei Althaus mit zunehmender Tendenz zum Protest gegen den Nationalsozialismus positiv registrierte. Deshalb lehnte er eine auf den Arierparagraph reduzierte Verurteilung von Paul Althaus nachdrücklich ab. Die die Kirchentagsveranstaltung tragenden Mitglieder der Theologischen Fakultät gehörten fast ausschließlich in die Generation der Flakhelfer und Hitlerjungen (Jahrgang 1928 und jünger). Sie hatten das Gutachten und sein Umfeld – im Unterschied zu Loewenich, Thielicke und Trillhaas – nicht aktiv erlebt. Jetzt brachten sie in Kenntnis der verbrecherischen Entwicklung der nationalsozialistischen Diktatur ihr Entsetzen über den Text unvermittelt zum Ausdruck. Trotz aller – wenn auch situationsgeboten nur knappen – historischen Einordnungsversuche implizierte das – sicherlich ungewollt – die Gefahr, dass Althaus und Elert allein mit diesem Gutachten identifiziert und quasi stigmatisiert wurden. Dem aus heutiger Sicht rückschauenden Betrachter stellen sich dabei drei Fragen: – hatte die im Prozess der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit notwendige und auf das Gutachten zum Arierparagraph konzentrierte Veranstaltung die zweifelsfrei nicht intendierte, aber in der allgemeinen Wahrnehmung geradezu zwangsläufige Folge, dass das theologische Wirken von Paul Althaus und Werner Elert reduktionistisch mit diesem Gutachten identifiziert wurde? – inwieweit war diese Stigmatisierung auch ein Produkt des Umstandes, dass Paul Althaus selbst – entgegen den Wünschen von Pfarrer Gelpke und von Carl Gunther Schweitzer – sich nach dem Krieg nie deutlich zu seiner Einschätzung der damaligen Aktionen geäußert hatte?55 – welche Rolle spielte in diesen Zusammenhängen die Konfrontation von Karl Barth und seiner Schule mit Paul Althaus, sowohl was die polemischen Überspitzungen der Kritiker aber auch die Schwierigkeiten von Althaus bei der Benennung und Identifizierung seiner Fehler betraf ? Man darf durchaus unterstellen, dass Althaus das Offenstehen dieser letzten Fragen gespürt hatte, aber man muss auch darüber nachdenken, ob er als „Kind seiner Zeit“ zu einer echten angemessenen Neubewertung überhaupt in der Lage gewesen wäre. Die Diskussion auf dem Kirchentag hätte bei ihm als 54 Ebd., S. 107 (Trillhaas) und S. 113 (Loewenich). 55 Vgl. oben S. 348 ff. und 359 ff.
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dann über Neunzig-Jährigem wohl eher Abwehrreaktionen ausgelöst, kaum aber differenzierende Lernprozesse fördern können. Der Zeithistoriker wird zudem registrieren müssen, dass erst in den 70-er Jahren diese Probleme „aufgearbeitet“ wurden. Das taten in der Regel Angehörige der Luftwaffenhelfergeneration und auch ihre „Lösungen“ enthielten oft noch Einseitigkeiten und stellten neue Fragen.56 Wenn auf der Kirchentagsdiskussion immer wieder mit anklagendem Unterton vom Schweigen und Verschweigen die Rede war, dann verkannten diese Bemerkungen, dass in den 50-er und frühen 60-er Jahren viele Fragen einfach noch nicht gestellt wurden, noch nicht im Bewusstsein waren, darum auch nicht „verschwiegen“ werden konnten. Damit ist die Berechtigung des Nachfragens natürlich nicht tangiert, aber die moralisierende Unterstellung des „bewussten Verschweigens“ unterstreicht eine Tendenz, die notwendige Aufarbeitung mit einem Unterton anklagender Verurteilung zu begleiten. Der Tonfall der Anklage und moralischen Verurteilung beherrschte trotz entgegengesetzter Proklamation knapp zehn Jahre nach dem Kirchentag einen Vortrag, den der seit 1984 in Erlangen amtierende Kirchenhistoriker Berndt Hamm in einer Vortragsreihe an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau hielt. Anlass der Reihe war der 50. Jahrestag der Reichspogromnacht vom November 1938; sie galt der Frage nach der besonderen Rolle der Kirche und der theologischen Fakultäten im Nationalsozialismus. Hamm stellte seinen Vortrag unter das Thema: „Schuld und Verstrickung der Kirche – Vorüberlegungen zu einer Darstellung der Erlanger Theologie in der Zeit des Nationalsozialismus“.57 Bewusst korrigierte er damit die ursprüngliche Formulierung, die von „Schuld und Verhängnis“ gesprochen hatte. Er begründete diese terminologische Verschiebung mit dem Argument, dass die Gegenüberstellung von Schuld und Verhängnis „Schuld“ im Sinne von Entscheidungsfreiheit und damit von moralischer Zurechenbarkeit der Entscheidung verstehe, der dann im „Verhängnis“ fatal verhängtes Schicksal gegenübergestellt würde, für das man keine Verantwortung trage. Schuld und Verstrickung dagegen gehe von einem „theologischen Schuldbegriff auf der Grundlage des biblischen Verständnisses“ aus. Dieses erkenne „die Schuld der Deutschen gerade auch in schier auswegloser Verstrickung, in Einflüssen und Prägungen, denen sich der Einzelne kaum entziehen konnte“. Zugleich erweise sich die deutsche Geschichte in der historischen Analyse „als eine Geschichte schuldhafter Verstrickung in schuldhaft entstandenen Verhältnissen, die von Menschen geschaffen wurden.“ (S. 18 f.) Trotz der Theologisierung des Schuldbegriffs, die die Moralisierung angeblich vermeiden sollte, implizierte die gesamte Argumentation von Schuld 56 Als Musterbeispiel sei hingewiesen auf den 1. Band der wichtigen Studie von Klaus Scholder (1977), die trotz aller großen Verdienste etwa in der Gruppenbildung der „Politischen Theologie“ massive Fragen aufwirft. 57 Berndt Hamm, 1990.
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und Verstrickung – auch im Tonfall und in der Begrifflichkeit – eine zutiefst moralische Verurteilung der „Verstrickten“ aus der Vätergeneration. Hamm erwies sich insoweit als typischer Vertreter aus der Alterskohorte der „68-er“, der er als 1945 Geborener unmittelbar zuzurechnen war. Er hatte von 1965 – 1970 studiert, 1975 promoviert. Zweifellos hatten diese „68-er“, weil ohne eigene Lebenserfahrung in der Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus, das Recht, die Möglichkeit und die Chance zum unbefangenen kritischen Befragen ihrer Väter. Zugleich verband sich damit die Bereitschaft zu klaren, aber oft auch einseitigen Urteilen und Verurteilungen. Solche Einseitigkeit muss man in Hamms Analyse der Nachkriegspredigten von Althaus konstatieren, aus denen er letztlich ableitete, Althaus sei einem „Syndrom der Verdrängung eigener Schuld“ erlegen. (S. 12 ff.) Ohne ins Detail zu gehen, ist hier festzustellen, dass Hamm die Predigttexte von Althaus tendenziös interpretierte oder sich ohne nähere Nachprüfung auf die höchst einseitige Predigtanalyse von Rudolf Bohren stützte.58 Außerdem fehlte bei seiner Interpretation jede Reflektion darüber, welcher Erkenntnisstand und welche in den ersten Jahren nach Kriegsende mögliche Verarbeitung des Erlebten denn schon geleistet werden konnte. Wie oben dargelegt hatte Paul Althaus immer wieder in seinen Predigten von der deutschen Kriegsschuld geredet und sich gegen unangemessene Aufrechnungen gewehrt.59 Ein eindrucksvolles Beispiel liefert dazu im Übrigen auch ein Brief von Althaus an Bischof Wilhelm Staedel aus dem Jahr 1957, also 12 Jahre nach Kriegsende, in einer Zeit, die generell oft als Zeit der Restauration, der Verdrängung der Untaten des NS-Regimes eingeschätzt wird. Staedel war von 1941 – 1944 NS-getragener Bischof der Siebenbürger Sachsen gewesen und hatte jetzt einen Vortrag über die von ihm ausdrücklich bejahte Frage: „Haben wir vor Gott ein Recht auf unsere Heimat?“ an Althaus gesandt. In seiner Antwort betonte dieser – auf seine Lodzer Vergangenheit anspielend –, dass ihn das Thema „als einen, der das Leben der Volksdeutschen lange geteilt hat“, sehr bewegt habe. Gleichwohl äußerte er erhebliche Einwände. Das Recht auf Heimat müsse „in eine große Klammer gesetzt werden und vor dieser Klammer steht das bittere Eingeständnis, dass das Unrecht der anderen Völker gegen die Ost- und Volksdeutschen ja menschlich gesehen nur die Antwort auf Hitlers fürchterliche Behandlung der Ostvölker ist und christlich gesehen: Gottes Gegenschlag gegen die Hybris der nationalsozialistischen Politik, also wirklich Gericht Gottes – ein Gericht, das nun nach den harten Gesetzen der Geschichte ein Teil unseres Volkes, nämlich die Ost- und Volksdeutschen, ohne eigene Schuld oder doch mit weniger Schuld als das Gesamtvolk, wie Hitler es hinter sich hatte, stellvertretend erleiden … Unser Ringen mit den anderen Völkern und Mächten muß einen anderen Klang haben als: Wir wollen 58 Vgl. Rudolf Bohren, 1971, S. 216 – 221. 59 Vgl. oben S. 337 ff.
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unser Recht! Wir können, wenn wir mit ihnen reden, nicht vergessen, wie viel Recht Hitler und die SS furchtbar zertreten hat – denken Sie an die Ausrottung eines großen Teils der polnischen und tschechischen Intelligenz, von den Juden ganz zu schweigen. Ich muß also sagen: Was Sie mit Recht über das „Recht auf Heimat“ ausführen … das steht für uns in einer Klammer, wegen des ganzen Zusammenhangs mit der Sünde des durch uns heraufbeschworenen Zweiten Weltkrieges … Wir können nicht … auf unser Recht pochen – denn deutsches Unrecht hat uns den Atem dazu genommen.“ (NLA K 11b),
Das Bewusstsein der deutschen Schuld war bei Althaus eindeutig, auch wenn man zeitgeschichtlich diesen Ausführungen abspüren kann, dass noch gut zehn Jahre vergehen mussten, ehe die Regierung Brandt mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze die Voraussetzungen für die deutsch-polnische Aussöhnung und eine friedliche Entwicklung und Entspannung zwischen Ost und West schaffen konnte. Althaus erlebte das nicht mehr, aber seine Ausführungen gegenüber Staedel von 1957 legen nahe, dass er diesen Schritt der Regierung Brandt mitgetragen hätte. Es ist aus diesem Brief von 1957 hier so ausführlich zitiert worden, um die Einseitigkeit der Interpretation von Hamm deutlich zu machen. Zwar notierte auch Hamm einige Schuldbekenntnisse von Paul Althaus, aber er betonte immer wieder, dass Althaus die Schuld „unbewusst verharmlost … relativierend verkleinert, wie er schließlich als Theologe die Schuld immer wieder hinter dem verhängten Schicksal verschwinden lässt.“ (S. 16) Konsequent und in durchaus anklägerischem Ton spricht er vom „Syndrom kollektiver Verstrickung“, die es den Verstrickten so schwer machte, „Klarheit über ihre ideologische Verblendung und die wahre Natur des nationalsozialistischen Staates und vor allem über die verbrecherische Natur Hitlers selbst zu gewinnen“. (S. 21) Hamm kritisierte im Folgenden den Ansbacher Ratschlag (S. 29) und das Gutachten zum Arierparagraph (S. 32 f.) insbesondere mit dem Hinweis, trotz aller gegenteiligen Intentionen hätten diese Texte auch unbeabsichtigt dazu beigetragen, „dass die mentale Hemmschwelle gegenüber den Verbrechen der Nationalsozialisten abgebaut und Toleranzbereitschaft, auch die Bereitschaft zum Wegsehen und die unbewusste „Fähigkeit“ des Nichtwahrnehmens erhöht wurde.“ (S. 34) Insgesamt ordnete Hamm die von ihm festgestellten Schuld- und Verstrickungszusammenhänge den von ihm kritisch notierten Vorstellungen des Nationalprotestantismus, der problematisierten Theologie der Schöpfungsordnungen, des Rassedenkens und Antisemitismus und eines spezifischen Verständnisses der Zwei-Reiche-Lehre zu. Als Gesamtergebnis seines Aufsatzes bleibt festzuhalten, dass die theologisierte Begrifflichkeit von Schuld und Verstrickung trotz gegenteiliger Beteuerungen im Kontext der Analyse eben doch moralisierend wirkt, insbesondere wenn Hamm abschließend zu dem Ergebnis kommt, die einflussreichen Erlanger Theologen seien „in die Sphäre der Mittäterschaft verstrickt“ gewesen. (S. 52) Die 387
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Wortwahl dieses strafrechtlichen Begriffs der „Mittäterschaft“ – die als Beteiligung an einer Straftat durch bewusstes und gewolltes Zusammenwirken definiert ist und darin über „Anstiftung“ oder „Beihilfe“ hinausgeht – unterstreicht mit großer Eindeutigkeit den moralisierenden und anklagenden Argumentationsstil von Hamm. Die Thesen von Hamm erregten sehr rasch den heftigen Widerspruch seines 1988 emeritierten Fachkollegen Karlmann Beyschlag. Dieser hatte Ende der 40-er Jahre in Erlangen studiert, wurde 1953 promoviert und hatte sich 1955 für historische Theologie habilitiert. Nach Assistenten- und Dozententätigkeit amtierte er ab 1971 als ordentlicher Professor für historische Theologie (ältere Kirchengeschichte) in Erlangen. Er erhob gegen Hamm Einspruch, wies ihm zahlreiche Detailfehler und Einseitigkeiten nach, kritisierte die Verurteilung von Althaus und Elert durch Hamm und dessen Behauptung, sie seien Täter und Mittäter der NS-Gräuel im Sinne aktiv mitwirkender Schuld gewesen. Er verwies darauf, dass Hamm immer wieder Texte gegen die Absichten des Verfassers interpretiere, z. B. bei seiner Kritik an der Theologie der Schöpfungsordnungen oder dass er dem Arierparagraph vorwerfe, „die mentale Hemmschwelle gegenüber den Verbrechen des Nationalsozialismus“ abzubauen. Beyschlag argumentierte dagegen, dass die Endlösung der Judenfrage doch erst nach 1945 bekannt geworden sei und im Jahr 1933 nicht geahnt werden konnte. Die Konstruktion einer aktiv mitwirkenden Schuld an der Endlösung sei darum völlig überzogen. Man spürt den Ausführungen von Beyschlag eine gewisse Erregung an. Auch von Einseitigkeiten hält er sich nicht fern. Das rührte gewiss auch daher, dass er noch bei Althaus und Elert studiert hatte, sie persönlich kannte und aus dieser Erfahrung heraus sich durch die Kritik von Hamm gerade auch in ihrer unverkennbaren Apodiktik und Rigidität provoziert fühlte. Auf einer ganz anderen Ebene kritisierte Friedrich Wilhelm Graf den Aufsatz von Hamm. Er verwies auf die rein theologieimmanente Argumentation von Hamm, die auf falsche theologische Orientierung abstelle, statt die jeweiligen Wechselwirkungen zwischen theologie-immanenten und theologieexternen sozialen und mentalen Faktoren zu untersuchen.60 Tatsächlich hat Hamm später – zumindest implizit – seine Thesen und seine Terminologie von 1990 modifiziert. Bei seiner Würdigung des bayerischen Pfarrers Karl Steinbauer, der im Protest gegen unrechtmäßige Aktionen der NS-Regierung auch in Konflikt mit Bischof Meiser geriet, stellte Hamm 2007 fest, dass Steinbauer aus exakt jenem lutherischen Milieu stammte und viele der kritisierten Einstellungen teilte, die er 1990 noch unter Schuld und Verstrickung subsumiert hatte. Offensichtlich führten diese theologischen Positionen doch nicht automatisch zur Zustimmung zum Nationalsozialismus, sondern ermöglichten je nach individuellen Erfahrungen und Sensibilitäten 60 In einer Rezension in: Christ und Welt Nr. 18 (3. Mai 1991), S. 22.
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sowie konkretem Kontext auch den Weg in kritische Distanz oder entschlossene Opposition.61 In Richtung Differenzierung zielt auch Hamms Grundsatzaufsatz über die bayerischen Lutheraner und ihre Einstellung zum Nationalsozialismus aus dem Jahr 2010. Er sprach hier zwar von der „Anfälligkeit“ der Lehre von den Schöpfungs- und Erhaltungsordnungen für das völkische Rassenparadigma, betonte aber zugleich die „Resistenz gegenüber der nationalsozialistischen Monomanie, einer Weltanschauung auf rassischer Grundlage“. Jedoch kritisierte er auch hier, dass es „weder vor noch nach 1933“ zu einer konkreten ethischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus „über die Methoden seiner politischen Kampfführung, über seine ausgrenzenden Unrechts- und Gewaltmaßnahmen und über die Realität seiner menschenverachtenden Rassepolitik und seines Antisemitismus“ gekommen sei. Der Widerspruch habe sich „nur auf den neuralgischen Punkt kirchlicher Identität und Integrität“ bezogen und sich „keineswegs aus dem grundsätzlichen Einverständnis mit der Politik des NS-Staates herausbewegt“.62 Da auch in diesem Zusammenhang wiederholt Althaus als Repräsentant dieser Positionierung zitiert wird, sollen die Verdikte von 1990 auch im Licht dieser Differenzierungen als besondere Merkpunkte für die abschließende Wertung des Lebens und der Leistung von Paul Althaus berücksichtigt werden. Das ist auch deshalb geboten, weil der Aufsatz von Hamm aus dem Jahre 1990 die schon seit dem Kirchentag von 1979 vorherrschende Tendenz, die Erinnerung an Althaus primär auf das Gutachten zum Arierparagraphen und auf den Ansbacher Ratschlag zu reduzieren, verschärfte und wissenschaftlich zu fundieren beanspruchte. Zwar gab es in diesem Zeitraum mit der Gedenkrede von Jörg Baur zum 100. Geburtstag von Paul Althaus 1988 und dem biographischen Artikel von Walter Sparn in den Profilen des Luthertums von 1998 noch zwei sehr viel abgewogenere theologische Würdigungen des Gesamtwerkes von Paul Althaus, in denen jedoch auch kritische Einwendungen deutlich formuliert wurden.63 Beide kamen zu einem sehr differenzierten Urteil über den „Antisemitismus“ von Paul Althaus. Baur sprach explizit vom „noch heute uns verwirrenden Arierparagraphgutachten“ (S. 189 – ähnlich Sparn, S. 9). Mit Recht und Nachdruck wiesen aber beide darauf hin, dass für Althaus die Judenfrage die Funktion eines notwendigen Stachels im deutschen Volk gehabt habe, um dieses vor völkischer Überhebung zu schützen. Vertreibung oder gar Vernichtung der Juden waren in der Tat für Althaus undenkbar, auch wenn er zahlreiche Vorurteile und klischeehafte Vorstellungen vom typischen Juden teilte.
61 Vgl. Berndt Hamm, 2007, insbesondere S. 458 f. 62 Vgl. Berndt Hamm, 2010, Zitate S. 76 und 83. 63 Vgl. Jörg Baur, 1988 und Walter Sparn, 1998.
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Zum Komplex des Antisemitismus bei Paul Althaus liegt seit 2009 eine sehr differenzierte und inhaltsreiche Studie von Tanja Hetzer vor, die die spezifische Ausformung und Färbung der antisemitischen Vorstellungen und Vorurteile bei Althaus besonders in ihrem Zusammenhang mit seiner Volkstumslehre – in seiner Biographie verankernd – darstellt.64 Natürlich nehmen in dieser Studie das Gutachten zum Arierparagraphen und der Ansbacher Ratschlag eine zentrale Position ein, aber ebenso gewichtig sind die Ausführungen zur Kirchentagsrede von 1927 oder zu den Erlebnissen in der Volkstumsarbeit in Lodz, die Althaus in die Nähe der völkischen Bewegung gebracht hätten. Die von Althaus vertretene „Position der Mitte“, die ihn zwar gegen völkischen Radikalismus hätte protestieren lassen, mache aber selbst deutlich – so ist die zusammenfassende These von Tanja Hetzer – dass auch diese Position „selbst am ideologischen Straßenbau mitgewirkt hat, der Hitler den Weg bereitete“ (S. 243). Sie spricht zwar nicht wie Hamm von „Mittäterschaft“, aber die „Mitwirkung am Straßenbau“ zielt in die gleiche Richtung. Ob diese Zusammenhänge immer so eindeutig waren, kann zwar bezweifelt werden, aber auch die einzelnen Argumente, die Tanja Hetzer vorträgt, sind beunruhigend und belastend genug. Zu streiten ist jedoch über die Darstellung der Nachkriegszeit und die angeblich mangelnde Lernbereitschaft von Althaus nach 1945. Hier folgt Tanja Hetzer weitgehend den Thesen von Berndt Hamm über die Negierung der deutschen Schuld durch Althaus. Sie übernimmt dabei auch dessen Argumente und betont, Althaus habe „seine Schöpfungs- und Ordnungstheologie nach 1945 keiner kritischen Selbstreflektion unterzogen“. (S. 242) Wenn man die oben geschilderten Korrekturen im Grundriß der Ethik von 195365 bedenkt, dann stimmt diese Kritik von Tanja Hetzer nicht. Wenn man sie jedoch dahin interpretiert, Paul Althaus habe sich nach 1945 nie expressis verbis distanzierend zum Gutachten über den Arierparagraph geäußert, dann kann man diesem Urteil eine gewisse Berechtigung nicht abstreiten. Umso wichtiger ist es, bei der nun vorzulegenden abschließenden Betrachtung des Lebens und Wirkens von Althaus diese Kritik in der ganzen Schwere ihrer Vorwürfe – trotz ihrer möglichen Einseitigkeiten – im Bewusstsein zu behalten und sie mit ihrem berechtigten Kern in ein historisch angemessenes Bild von Paul Althaus und seiner Rolle in Deutschlands schwierigster Zeit einzuzeichnen.
64 Vgl. Tanja Hetzer, 2009. 65 Vgl. oben S. 357 ff.
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Schlussbetrachtung – Bilanz eines reichen Lebens – geprägt und gefordert in seiner Zeit Will man Leben und Wirken von Paul Althaus zutreffend verstehen und insbesondere seine Reaktionen auf den Nationalsozialismus und ihre spätere Verarbeitung angemessen einordnen, dann muss man sich zunächst bewusst machen, in welchen Traditionen und Prägungen Althaus aufgewachsen war und wie er den Ersten Weltkrieg und die Weimarer Republik erlebt hatte, bevor er 1933 als etablierter Ordinarius auf die Herausforderungen der nationalsozialistischen Machtergreifung zu reagieren gezwungen war. Die große Bedeutung des jeweiligen Lebensalters, der Altersgruppe, in der man die Machtergreifung und die Herrschaft des Nationalsozialismus erlebte, hat Ulrich Herbert in einer sehr eindrucksvollen Studie herausgearbeitet. Er unterscheidet drei Alterskohorten, die – im Abstand von jeweils rund 20 Jahren geboren – jede auf ihre höchst unterschiedliche Weise das Dritte Reich erlebten und später verarbeiteten. Die erste Gruppe bildet die Jahrgänge, die um 1905 geboren sind. Herbert nennt sie die Gruppe der Karrieristen. Sie erlebten als Schüler in ihren prägenden Jahren den ersten Weltkrieg, wo ältere Brüder oder der Vater an der Front zu kämpfen hatten. Sie wuchsen dann in der zerstörten Welt der Weimarer Republik auf, in der fast alle überlieferten Werte und politischen Vorstellungen in Frage gestellt wurden, so dass die meisten jungen Leute aus dieser Gruppe – 1933 in ihrer Berufseinstiegsphase – ohne Bindungen an Tradition und herkömmliche Normen durch Anpassung und Opportunismus im Dritten Reich Karriere machten. Gewiss fanden unter ihnen – wenn auch in einer Minderheit – etliche den Weg zum aktiven Widerstand gegen Hitler. Die Fragwürdigkeit traditioneller Werte ließ sie nicht opportunistisch werden, sondern tiefer graben und die Gefährdung der Fundamente der Gesellschaftsordnung und des Rechts durch den Nationalsozialismus früher erkennen und daraus Konsequenzen ziehen. Als lebendiges Beispiel für diese Minderheit sei hier Dietrich Bonhoeffer genannt, der mit Althaus gerade zu Beginn der 30-er Jahre in lebendigem Kontakt stand und von diesem gefördert wurde.1 Die zweite Gruppe der um 1925 Geborenen nennt Herbert die Generation der Luftwaffenhelfer. Sie erlebten ihre Schulzeit im etablierten Dritten Reich, konnten aber vom Alter her keine berufliche Karriere mehr machen. Sie wurden in den letzten Jahren des Krieges noch Luftwaffenhelfer und junge 1 Vgl. dazu einschlägige Briefe in NLA K 10.
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Soldaten – häufig schon ohne jede Siegesstimmung. Während die Kohorte der um 1905 Geborenen nach Kriegsende vielfach der Entnazifizierung mit all ihren mentalen Konsequenzen unterworfen war, konzentrierte sich die Generation der Luftwaffenhelfer – nach vorne blickend – auf den persönlichen, aber auch politisch-gesellschaftlichen Neuaufbau. Diese Priorität rangierte zunächst deutlich vor jedem Versuch, sich anklägerisch mit dem Verhalten der Väter im Nationalsozialismus zu beschäftigen, was eine nüchterne erste Aufarbeitung der Geschichte des Dritten Reiches nicht ausschloss. Die dritte Gruppe der um 1945 Geborenen wuchs in der sich etablierenden Bundesrepublik auf. Sie wurden die „68-er“. Sie versuchten in der Zeit ihres Studiums während der „Studentenrevolte von 1968“ – ohne eigene Erlebnisse im Dritten Reich – politische Konsequenzen aus der deutschen Katastrophe zu ziehen und befragten voller Kritik ihre Eltern nach deren Rolle unter der Herrschaft Hitlers. Zugleich strebten sie – manchmal recht besserwisserisch – an, mit der „Reaktion“ in der frühen Bundesrepublik aufzuräumen. Die Zugehörigkeit zu einer Alterskohorte bestimmte ganz wesentlich die höchst unterschiedliche persönliche Reaktion auf den Nationalsozialismus und deren spätere Verarbeitung. In der Logik dieser Gruppenbildung wäre Paul Althaus, Jahrgang 1888, einer Alterskohorte der um 1885 Geborenen zuzuweisen, also wiederum 20 Jahre vor der ersten Gruppe in der Einteilung von Herbert. Das Gemeinsame dieser Gruppe wäre dahin zu bestimmen, dass sie ihre Schul- und Studienzeit sowie die ersten Berufsfindungsjahre noch im als „intakt“ aufgefassten Bismarck’schen bzw. Wilhelminischen Kaiserreich erlebt hatte und durch die Epoche der Bildung und Etablierung des deutschen Nationalstaates geprägt war. Die Relevanz dieser Unterscheidung der verschiedenen Alterskohorten wird einem bewusst, wenn man realisiert, dass Althaus – Generation 1885 – sich noch vor Beginn des Ersten Weltkrieges habilitiert hatte und im Sommersemester 1914 bereits als Privatdozent in Göttingen lehrte, während Dietrich Bonhoeffer – Generation 1905 – kurz vor der nationalsozialistischen Machtergreifung seine Habilitation abschloss, um dann in dieser erregten Zeit in das Berufsleben zu starten. Althaus dagegen erlebte die Machtergreifungsphase als fest etablierter Ordinarius, der dem Anpassungsdruck einer parteigesteuerten Personalpolitik nicht unmittelbar ausgesetzt war und im speziellen Erlanger Umfeld die Illusion der Unberührtheit der Universität von aller Parteipolitik noch längere Zeit pflegen konnte, zumal der durchweg national- konservativ gestimmte Lehrkörper faktisch unverändert blieb. Da in Erlangen keine jüdischen Ordinarien zu entlassen waren, der letzte war 1929 emeritiert, konnte man die Ungerechtigkeiten der antisemitischen Beamtenpolitik der Nazis nicht hautnah erleben, zumal für Althaus das in Lodz erlebte Proporz-Modell eine abstrakte Rechtfertigung für die NS-Politik gegen den angeblich überproportionalen Einfluss der Juden zu liefern schien. Die Idylle der faktisch judenfreien Ordinarienuniversität in Erlangen sorgte zugleich dafür, dass es auch keine frei gemachten Stellen für junge Parteikarrieristen 392
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gab, was die – gleichwohl nicht unproblematische – „Intaktheit“ des Lehrkörpers absicherte. Das Leben in dieser quasi unversehrten Welt nahm den Informationen über beunruhigende Entwicklungen andernorts offensichtlich ihr Gewicht. Das lokale Umfeld, in dem man die nationalsozialistische Machtergreifung und Machtdurchsetzung erlebte, hatte neben der Altersgruppe, der man angehörte, zentrale Bedeutung für die Herausbildung der eigenen Position gegenüber dem Nationalsozialismus. Darauf ist oben schon einmal anlässlich der Frage der möglichen Berufung von Althaus nach Berlin hingewiesen worden.2 Man könnte in ähnliche Richtung fragen, wie er sich im Kirchenkampf positioniert hätte, wenn er in einer von den Deutschen Christen beherrschten Landeskirche hätte amtieren müssen. Der Hinweis auf die berufliche Position und das konkrete politische Umfeld im Jahr 1933 soll jedoch das Gewicht der mentalen Prägung durch die Zeit der Jugend und Berufsbildung nicht schmälern, sondern ihm allenfalls Farbe verleihen. Die Zugehörigkeit zur Kohorte der um 1885 Geborenen bedeutete für Paul Althaus: Er war ein Kind des 19. Jahrhunderts in der spezifischen Prägung durch seine Herkunft aus der niedersächsischen Erweckungsbewegung. Trotz aller wissenschaftlichen Ausrichtung blieb die persönliche Frömmigkeit, der Glaube an die „Führung und Fügung durch Gott“ im persönlichen Leben wie auch in der Geschichte seine eigentliche Lebensbasis. Die Gliederung der Menschheit in Völker als quasi natürliche Einheiten mit je eigenem Profil und eigener Sendung war die Quintessenz dieser Seins-Auffassung. Sie lebte aus der Rankeanischen Geschichtsauffassung, die in den Völkern Gedanken Gottes sah. Sie ging selbstverständlich von der Vielzahl der Völker und ihrer je eigenen Sendung aus, weil erst in der Summe dieser Einheiten sich die ganze Fülle der Schöpfung darstelle.3 Dass das deutsche Volk das eigentliche Heilsvolk sei, widersprach diesem Geschichtsbild total. Politische Farbe gewann diese Vorstellung durch ihre Entstehung in der Zeit der antinapoleonischen Freiheits-/Befreiungskriege, die als national und zugleich christlich bestimmt begriffen wurden: die organische Auffassung vom ständisch gegliederten Obrigkeitsstaat, die die Obrigkeit stets in der besonderen Verantwortung vor Gott sah, galt als der deutsche und zugleich christliche Auftrag gegenüber dem rationalistischen, individualistischen, „westlerischen“ Staatsverständnis der französischen Revolution. Althaus als Kind der Erweckungsbewegung ging in seinem nationalen, vaterländischen Denken quasi selbstverständlich davon aus, dass das deutsche Volk ein christliches Volk sei und es nur als christliches Volk seine Gestalt finden und seine Sendung im Kreis der Völker erfüllen könne. Dabei setzte er voraus, dass dieses keinesfalls die „Germanisierung“ des Christentums bedeuten dürfe, sondern dass vielmehr das grundsätzlich übernationale Chris2 Vgl. oben S. 241. 3 Vgl. oben ausführlicher S. 70 f. und öfter.
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tentum durch seine allen Völkern geltende Botschaft das deutsche Volk seine wahren Aufgaben erkennen lasse und von nationalistischer Überhebung fernhalte. Diese Botschaft den Deutschen zu verkünden, sei darum die besondere Aufgabe der Kirche in Deutschland. In seinen Lodzer Jahren hatte Althaus während des Ersten Weltkrieges den besonderen Zusammenhang von Deutschtum und Kirche „erlebt“, weil im Umfeld der polnischen katholischen Bevölkerung die nationale Minderheitengruppe insbesondere der lutherischen Deutschen ihren Volkscharakter und ihre lutherische Konfession am wirkungsvollsten nur gemeinsam, sich wechselseitig stärkend, erhalten konnte. Dass dieser Eindruck vor allem in den weitgehend homogenen deutschen Bauerndörfern in der Umgebung von Lodz ihre Bestätigung erfuhr, deutet das statische Gesellschaftsbild an, das sich hier ausprägte. In der Industriestadt Lodz, in der Klassengegensätze und Nationalitätengruppen sich kontrastierend überlagerten, war auch damals schon eine von Althaus skeptisch registrierte andere Dynamik wirksam. Die – gesellschaftlich gesehen – sehr konservative Norm, dass das deutsche Volk nur als christliches seinen wahren Weg in die Welt der Völker finden könne, implizierte bei Althaus zugleich, dass er die Juden in Deutschland als „Gastvolk“ identifizierte. Auch in dieser Vorstellung sind seine Erfahrungen aus Lodz spürbar. Die „Multinationalität“ der Halbmillionenstadt Lodz in der Zeit vor und im Ersten Weltkrieg wies neben der deutlichen polnischen Mehrheit eine große jüdische Volksgruppe auf, die mit 170.000 Angehörigen rund ein Drittel aller Lodzer Bürger umfasste und durchaus ihr kulturelles Eigenleben führte. Die deutsche Volksgruppe folgte mit etwa 20 Prozent Bevölkerungsanteil an dritter Stelle. Das Prinzip des Proporzes bei der Stellenund Machtverteilung hatte hier seine Legitimität, die sich zur Lösung der „Judenfrage“, des angeblich überproportionalen Einflusses der Juden in Deutschland, allerdings nicht übertragen ließ. Man muss diesen Erlebnishintergrund von Althaus gleichwohl im Auge behalten, wenn man seine uns heute so irritierenden Ausführungen zum Judentum in den frühen 30-er Jahren einordnen und bewerten will. Nicht weniger bedeutsam für seine Reaktionen auf den Nationalsozialismus ist freilich auch sein Erlebnis des Ersten Weltkrieges, der Revolution vom November 1918 und des Versailler Vertrages, die oben intensiv geschildert worden sind.4 Hier ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die Ablehnung der Weimarer Republik durch Althaus vor allem mit seiner Vorstellung vom Charakter des deutschen Volkes und des ihm einzig angemessenen organischen Staates begründet wurde. Sie stellte sich bewusst in den Gegensatz zum individualistischen Denken des Westens als Grundlage einer letztlich „bindungslosen“ Demokratie. Im Klartext bedeutete das: eine nur Gott verantwortliche politische Führung stand „über den Parteien“ und vertrat die Belange des ganzen Volkes, in dem der einzelne Bürger aufging, sodass dadurch 4 Vgl. oben S. 90 ff. und öfter.
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Einheit geschaffen bzw. aktuell wiederhergestellt werden könnte. Dass für Althaus diese Einheit auf die Integration der an Sozialismus und Kommunismus „verlorenen“ Arbeiterschaft zielte, wofür erhebliche soziale und antikapitalistische Schritte erforderlich seien, muss in diesem Zusammenhang nochmals hervorgehoben werden. Für diesen sozialen Ausgleich sah er sich als Christ verantwortlich, in dieser Hinsicht – so konnte er noch 1936 formulieren – sollten die Christen „die wahren Nationalsozialisten“ sein.5 Man wird das ganze Geflecht der historisch-politischen Vorstellungen und Prägungen sowie die Verarbeitung der Erlebnisse des Ersten Weltkriegs, des Versailler Vertrages und der Weimarer Republik in ihrer je konkreten Ausgestaltung bei Althaus im Bewusstsein halten müssen, will man sein Verhalten im Nationalsozialismus angemessen verstehen und beurteilen. Exemplarisch sei dies im Folgenden an seiner Schrift „Die deutsche Stunde der Kirche“ sowie am so belastenden Gutachten zum Arierparagraph und am nicht weniger irritierenden Ansbacher Ratschlag noch einmal nachvollzogen, wobei jetzt die Kritik der Nachwelt ausdrücklich mit aufgegriffen werden soll.6 Lieferten herausgerissene Zitate aus „Die deutsche Stunde der Kirche“ 1947 die Begründung für die Entlassung von Althaus im Entnazifizierungsverfahren, die sich später als vom Gesetz nicht gedeckt erwies7, so ist beachtenswert, dass der Althaus-Schüler Hans Grass schon 1966 in seiner Würdigung der Theologie von Paul Althaus – wenige Monate nach dessen Tod – diese Schrift und ihr Umfeld sehr kritisch bewertete. Zwar verkannte Grass die Vorbehalte nicht, die Althaus gegen die „Vergötzung des Volkstums“ vorgetragen habe, aber diese Vorbehalte seien „immer erst als zweites Wort auf das recht vorbehaltlos klingende erste Wort“ erfolgt.8 Er kritisierte weiterhin die zentrale Aussage von Althaus, „dass Gott die Ordnung liebt und trägt, ist wichtiger, als dass er sie begrenzt“. Zwar solle der Christ auch für die Reinheit der Ordnung, „wie sie sein soll“ kämpfen, er solle „aber auch bleiben in der Ordnung, wie sie ist.“ Dieses Akzeptieren der gegebenen Ordnung, die nur im Ausnahmezustand Widerstand zulasse, ist das Hauptargument für die Kritik von Grass. Die hier artikulierten Einwände müssen unter dem Gesichtspunkt bewertet werden, dass sie erst nach 1945, nach der NS-Katastrophe, formuliert wurden. Hätte Althaus das Ausmaß des NS-Terrors schon 1933 vorausgesehen, hätte er sicherlich anders formuliert. Dass er es nicht voraussah, mag man bedauern, aber man kann es ihm moralisch kaum vorwerfen. Die Situation von 1933 muss in der Sicht der Erlebenden als offen begriffen werden. Als typisch für Althaus darf man jedoch erkennen, dass er 1933 die Gezieltheit des Machtmissbrauchs der neuen Regierung kaum denken konnte und darum nicht 5 6 7 8
Vgl. oben S. 225. Zu den Details vgl. oben Kapitel 6, 3, S. 224 ff. Details siehe oben S. 335. Vgl. oben S. 379 ff., 1978 konkretisierte Grass seine Kritik, indem er das Gutachten zum Arierparagraph und den Ansbacher Ratschlag ausdrücklich mit negativer Bewertung erwähnte.
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richtig registrierte. Als er 1932/33 erstmals sogar ein Widerstandsrecht der Christen in Deutschland gegen die Obrigkeit formulierte, da machte der Kontext klar, dass er an einen gebotenen Widerstand gegen eine nicht auszuschließende kommunistisch geführte Reichsregierung dachte. Seine Hoffnung auf eine nationale „Neubesinnung“, auf wahre Volksführung ließ ihn nach der Machtergreifung zunächst eindeutig für das Hinnehmen der neuen Ordnung plädieren und die überschäumenden Gewaltakte der SA als Symptom der unruhigen Anfangsphase missverstehen. Das Erleben der Politik, ihre persönliche Deutung und eine hoffnungsvolle Stimmung führten Althaus im Jahr 1933 bei der Beantwortung der offenen ethischen Fragen zwischen Gehorsam und Widerstand zunächst eindeutig zum Gehorsam und zur Hinnahme „einzelner“ Fehltritte, deren systemische Bedingtheit nicht erkannt wurde. Erst allmählich artikulierte er das Widerstandsrecht und die Grenzen des Gehorsams prinzipieller und auch gegen die NS-Diktatur gerichtet.9 Solange die nationalsozialistische Gewalt sich vorwiegend gegen die „vaterlandslosen Gesellen“ der „Sozis“ und der Kommunisten richtete, wurde die Rechtswidrigkeit dieser Attacken nicht angemessen registriert. Das galt nicht nur für Paul Althaus, sondern war ein allgemeines Phänomen im bürgerlichkonservativen Lager.10 Die Bereitschaft zur Hinnahme in der ersten Zeit der NS-Herrschaft wurde bei Althaus erleichtert durch seine Unterscheidung zwischen der abgelehnten NSDAP und ihrem weltanschaulichen Rasseprogramm und der staatlichen Regierung, die er als Führung der allgemeinen nationalen Bewegung missverstand. Hitlers Bekenntnisse zum positiven Christentum und die nationalkonservative Mehrheit der Mitglieder der Reichsregierung, vor allem aber die Person des Reichspräsidenten erschienen ihm 1933/34 dafür als glaubwürdige Garanten. Die Unrechtsattacken 1933 wurden in der Perspektive dieser Wunschvorstellungen als überschäumende Parteidelikte eingeordnet und nicht als systemisch bedingte Herrschaftsinstrumente erkannt. Die totale Indienstnahme des Staates durch eine Partei war für den in der obrigkeitlich „intakten“ Welt des 19. Jahrhunderts geprägten Paul Althaus unvorstellbar. Hier musste erst schmerzhaft gelernt werden. Die politische Einschätzung der Vorgänge von 1933/34 durch Althaus hatte relativ wenig mit echter lutherischer Theologie zu tun. Sie war vielmehr geprägt von politischen Ordnungsvorstellungen zum organischen deutschen 9 Vgl. oben S. 210 f. 10 Dem Autor ist unvergessen, wie sein akademischer Lehrer, – der nationalkonservative preußische Jude – Hans Rothfels im Doktorandenkreis in den fünfziger Jahren einmal persönlich zur Machtergreifungsphase selbstkritisch ausführte: „Was uns fehlte war die pupillarische Sicherheit in der Unterscheidung von Recht und Unrecht.“ Er bezog diese Selbstkritik auf seine 1933 vertretenen antirepublikanischen, eher autoritären Staatsvorstellungen, die es mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht so genau nahmen – sei es im Kampft gegen Kommunismus, sei es in der Zurückdrängung des als zu stark empfundenen „jüdischen Einflusses“, sei es beim Primat der Außenpolitik zur Revision von Versailles, zum Abstreifen der „Ketten von Versilles“.
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Volksstaat, die der obrigkeitlichen Führung viel Spielraum überließ. Sie wurden immer gedacht als politisches Gegenmodell gegen die westliche rationalistische Demokratie. Dass Althaus bis 1939/40 die auch von ihm registrierten Verstöße des NSSystems gegen rechtsstaatliche Prinzipien nicht schärfer bewertete und seinen Protest gegen den Unrechtsstaat, wenn überhaupt, dann eher verhalten formulierte, ist weniger im angeblich lutherischem Obrigkeitsgehorsam zu verankern, sondern vor allem auf seine „Traumatisierung“ durch Versailles zurückzuführen. Althaus – und mit ihm sehr viele Deutsche aus fast allen Parteilagern – glaubte in Hitlers erfolgreicher Wiederaufrüstungs-, Außen- und Kriegspolitik bis ins Frühjahr 1940 hinein eine politisch gerechtfertigte vaterländische Anti-Versailles-Revisionspolitik erkennen zu können. Die nachgiebigen Reaktionen der westlichen Alliierten bis 1938, insbesondere Großbritanniens, die man damals als Distanzierung von Versailles verstand und darum als „Mea Culpismus“ bezeichnete11, schienen diese Interpretation zu bestätigen. Hitler gelang es bis 1939/40 perfekt, seine imperialistischen Pläne zur Errichtung eines nationalsozialistischen germanischen Weltreiches hinter der „Wiedergutmachung des Unrechts von Versailles“ zu verstecken. Die Besetzung Prags im Frühjahr 1939 und der Schock über die Kriegsfortsetzung im Sommer 1940 und die Behandlung Frankreichs nach dem Sieg im Frankreichfeldzug lösten bei Paul Althaus eine neue, sehr kritische Sicht des Krieges und der deutschen Staatsführung aus.12 Auch das Gutachten zum Arierparagraphen und der Ansbacher Ratschlag lassen sich nur angemessen bewerten, wenn man das Ineinander von Theologie und politisch-historischen Wert- und Daseinsvorstellungen berücksichtigt. Wie „Die deutsche Stunde der Kirche“ ist auch das Gutachten im Sinne von Althaus als Werbeschrift um die gemäßigten DC zu lesen, die in der „intakten“ Kirche gehalten werden sollten. Es ist kein Bekenntnis zum RasseAntisemitismus, schon gar nicht zu einem „eliminatorischen Antisemitismus“, der Deutschland „judenfrei“ machen wollte, ihre Aussiedlung bis hin nach Madagaskar andachte, schließlich auf ihre Austreibung zielte und sich letztlich bis zu ihrer „Ausmerzung“ steigerte. Dass die Judenchristen in den Kirchengemeinden Mitglied bleiben sollten, war für Althaus immer selbstverständlich, während in DC-Kreisen die Ausgrenzung der Judenchristen aus den deutschen Gemeinden vielfach gefordert wurde.13 Dem widersprach Althaus expressis verbis schon 1933 und machte zumindest an dieser Stelle die christlichen Grenzen des bei ihm so zentralen Denkens in Völkern deutlich. Trotz aller Vorurteilsbesetztheit seines Bildes vom typischen Juden generell war er strikt gegen jede Vertreibung der Juden aus Deutschland. Durch ihre Anwesenheit im deutschen Volk hatten diese seiner Meinung nach eine be11 So noch Hans Rothfels in seiner Vorlesung zur internationalen Politik Mitte der fünfziger Jahre 12 Vgl. oben S. 308. 13 Vgl. oben S. 235 f.
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sondere Funktion: sie sollten deutlich machen, dass Volk immer nur ein „vorletzter“ Wert sei, man müsse sich seiner Grenzen immer bewusst sein. Hinzukam, dass gerade aufgeklärte Juden häufig eine immer wieder kritisierte „modernistische“ Lebensform pflegten, die – wenn von Deutschen übernommen – den Verrat am deutschen Charakter im eigenen Volk befördern würde, was dann als „Verjudung“ disqualifiziert wurde. Hinter diesen hochproblematischen Argumentationen stand bei dem ebenso nationalen wie konservativen Theologieprofessor Althaus eine ausgeprägte „soziokulturelle Judenfeindschaft“, die im Gegensatz zum „Rasse-Antisemitismus“ in den Juden die Exponenten der abgelehnten Moderne sah. Hier drückte sich die angebliche Erfahrung aus, dass insbesondere die nicht orthodoxen „aufgeklärten“ Juden in allen „modernistischen Fehlentwicklungen“ wie Liberalismus, Kapitalismus, Individualismus, Rationalismus und Säkularismus bis hin zum Sozialismus eine führende Rolle spielten, in ihnen überrepräsentiert seien.14 So wurden sie zu einem Symbol für abgelehnte gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen im deutschen Volk, die angeblich dessen christlichen Charakter und christliche Sendung deformierten. Als Symbol dieser negativen Tendenzen sprach Althaus den Juden darum sogar eine notwendige belehrende – abschreckende – Funktion für das deutsche Volk zu.15 Die Abstraktionen der soziokulturellen Judenfeindschaft bei Paul Althaus müssen geistesgeschichtlich eindeutig dem modernen Antisemitismus zugeordnet werden, der seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sich in Deutschland rapide ausbreitete und die Gegnerschaft gegen das Judentum nicht mehr theologisch mit der „Schuld“ der Juden am Kreuzestod Jesu begründete, sondern aus konservativ nationalen Motiven ohne Religionsbezug und mit prätendierter Wissenschaftlichkeit auf den abzulehnenden „typischen“ Charakter der Juden zurückführte und diesen – in gesteigerter Form – aus ihrer Rasse ableitete.16 Sein nationaler Konservativismus und sein Antimodernismus machten Althaus bereit, sich zu einer soziokulturellen Judenfeindschaft zu bekennen. Sie ließen ihn insoweit zu einem modernen Antisemiten werden – geprägt von hinfälligen Abstraktionen zum „typischen Juden“, fern aller empirischen Begründbarkeit. Die nicht rassistische Vorstellung vom „typischen“ Juden bedeutete für Althaus allerdings immer auch, dass es selbstverständlich konservative Juden gäbe, die zu guten Deutschen geworden seien. Rassistischen Determinismus lehnte er stets ab, auch wenn er
14 Zur differenzierenden Begriffsbildung christlicher Antijudaismus, soziokulturelle Judenfeindschaft und Rasse-Antisemitismus vgl. die substanzreiche Studie von Marikje Smid, 1990. 15 Vgl. als Beleg dazu seine diesbezüglichen Ausführungen auf dem Königsberger Kirchentag 1927: oben S. 184 ff. und seine Argumentation zum Arierparagraph-Gutachten : oben S. 236 ff. 16 Vgl. dazu zusammenfassend das Stichwort „Antisemitismus“ in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 1, Stuttgart 1972, S. 129 – 153
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die moderne Rassetheorie als zusätzliches, aber nicht konstitutives Argument gelegentlich benutzte. Beachtenswert ist ferner, dass der Theologe Althaus immer noch zumindest partiell Anklänge an den traditionellen christlichen Antijudaismus bei sich hören ließ, wenn auch oft mit unüberhörbaren einschränkenden Untertönen. Hier wurde den Juden die Schuld am Kreuzestod Jesu zugeschrieben und ihre Zerstreuung und Verfolgung geschichtstheologisch als Strafe Gottes für diese Tat interpretiert. Die Auflagen seines Römerbriefkommentars lassen dieses antijudaistische Geschichtsbild auch noch nach dem Ende der Nazizeit erkennen. Erst kurz vor seinem Tode revidierte er diese Vorstellung in der 10. Auflage des Römerbriefkommentars nachdrücklich.17 Fast ist man geneigt, die hier spürbaren Anklänge an den christlichen Antijudaismus vor allem dem Theologen und Christen Paul Althaus zuzuschreiben, während sich in seiner soziokulturellen Judenfeindschaft sein antimodernistischer nationaler Konservativismus ausprägte. Diese beiden Vorstellungen gewannen ihr Gewicht bei Paul Althaus durch sein ebenso historisches wie normatives Denken in Völkern als Teilen der Schöpfungsordnung Gottes. Im praktischen Leben wurden die Unterschiede dieser antijüdischen Denktraditionen wohl kaum bewusst. Vor allem aber enthielten sie – auch für Paul Althaus – die Gefahr, sich wechselseitig zu bestärken und zu bestätigen. Die ebenso problematischen wie abstrakten, stark normativ – fern von aller Empirie – geprägten Vorstellungen vom typischen Juden fügten sich bei Paul Althaus zudem gut ein in sein vom 19. Jahrhundert geprägtes und in Lodz vielfach erlebtes Bild von der Vielfalt der Völker als Gedanken Gottes. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob und inwieweit man der sozio-kulturellen Judenfeindschaft trotz ihres dezidierten Unterschiedes zum Rasse-Antisemitismus einen Beitrag zur Realisierung der nationalsozialistischen Judenvernichtung zuschreiben kann und muss. So konsequent Althaus bei aller Gegnerschaft gegen den typischen Juden den eliminatorischen Antisemitismus ablehnte und immer für die Gegenwart der Juden im deutschen Volk plädierte, so sehr ist doch davon auszugehen, dass in gängiger selektiver oder sehr vereinfachender öffentlicher Wahrnehmung die Differenzen zwischen christlichem Antijudaismus, soziokultureller Judenfeindschaft und eliminatorischem Rasse-Antisemitismus kaum realisiert wurden, zumal Althaus seine soziokulturelle Judenfeindschaft mehrfach auch mit den Ergebnissen der modernen wissenschaftlichen Rassebiologie zusätzlich abstützte, was für ihn aber immer ein nicht konstitutives Additum war. Das allgemeine antisemitische Klima lebte aus verschiedenen Quellen. Die Abstraktionen seiner soziokulturellen Judenfeindschaft, die dem typischen, modernen säkularisierten Juden galten, schlossen bei Althaus allerdings nie die – auch erlebte – Erfahrung aus, dass Juden – insbesondere wenn sie sich zum Christentum bekannten – auch gute Deutsche werden konnten. 17 Vgl. oben S. 208 f. und 375 f.
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Daraus resultierte seine immer wieder bewährte Solidarität und sein Einsatz für Judenchristen sowie seine Ablehnung des Rasse-Antisemitismus und des Rassedenkens generell. Gleichwohl muss man konstatieren, dass die soziokulturelle Judenfeindschaft auf Grund ihrer Vorurteilsgeprägtheit trotz aller dezidierten Distanzierung vom gewalttätigen SA-Antisemitismus und eliminatorischen Rasseantisemitismus ein Klima vorbereiten half, das der sich stufenweise radikalisierenden NS-Judenverfolgung in der kritischen Anfangsphase eher nützlich war, vor allem keine Steine in den Weg legte. Althaus aus diesem Zusammenhang heraus der „Mittäterschaft“ an Ausschwitz schuldig zu sprechen – wie es Hamm tut –18, erscheint mir gleichwohl überzogen, zumal wenn Mittäterschaft – dem Wortgebrauch gemäß – Absicht, Intention und Zielbejahung beinhaltet. Der Weg nach Ausschwitz war komplizierter und verschlungener als allzu einfache Begrifflichkeiten noch dazu mit anklägerischem Unterton Glauben machen. Dass jedoch seine antimodernistischen Abstraktionen der soziokulturellen Judenfeindschaft Althaus missbrauchbar machten und in ihrer Empirie resistenten Vorurteilsbehaftetheit sich als eine schwere Belastung erwiesen, ist im Rückblick unübersehbar und unbestreitbar. Fragt man nach seinen Intentionen, dann ist eindeutig festzustellen, dass Althaus den eliminatorischen Antisemitismus Hitlers und der NSDAP immer ablehnte. Das galt schon für die noch „harmlosen“ Nazi-Pläne, Deutschland „judenfrei“ zu machen durch Aussiedlung der Juden nach Madagaskar. Man darf darum sein Bekunden der sozio-kulturellen Judenfeindschaft durchaus auch als Versuch werten, der Radikalisierung entgegenzuwirken, sie einzufangen und zu zähmen und zugleich den Juden in Deutschland eine wichtige Funktion zuzuweisen. Ob durch einen schroffen Konfrontationskurs oder durch ein auf die Denkrichtung der zu bekämpfenden Bewegung eingehendes Argumentieren politisch mehr zu erreichen ist, ist in der konkreten Situation oft kaum zu entscheiden. Paul Althaus – auch seiner ganzen Mentalität folgend – schlug 1933 eindeutig den nicht konfrontierenden Kurs ein, um die gemäßigten DC-Leute in der Kirche zu halten. Er folgte dabei einer ausdrücklichen Bitte seines Landesbischofs Meiser und hatte bei den bayerischen DC durchaus Erfolg. Dieser Erfolg beruhte jedoch zu einem erheblichen Teil auch auf der Vorurteilsbehaftetheit des von Althaus getragenen antimodernistischen Antisemitismus, wobei freilich zu beachten ist, dass die empirische Sozialforschung, die diese Vorurteile rasch entlarvt hätte, noch in ihren ersten Anfängen steckte. Dass dieser Erfolg zudem nur sehr begrenzt war und weder die Errichtung der NS-Diktatur, noch die Judenvernichtung verhindern konnte, ist im Nachhinein leicht festzustellen. Dass der Versuch bereits 1933 als Fehler hätte von jedermann erkannt werden müssen, ist kaum zu erweisen. Für den Historiker ist es jedoch Pflicht festzustellen, dass die bei Paul Althaus geltenden 18 Vgl. oben S. 387.
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historisch-politischen Vorstellungen von den Völkern als den tragenden quasi natürlichen Einheiten der Geschichte und die in diesem Bild – jenseits aller Theologie – verankerte spezielle Sicht des jüdischen Volkes ein Produkt des 19. Jahrhunderts waren, in denen die antinapoleonische Nationalbewegung und die pietistische Erweckungsbewegung sich zusammenklingend auswirkten und verstärkten. Heute haben diese Vorstellungen keinen Bestand mehr. Zu sehr ist uns bewusst geworden, dass „Völker“ oft als sehr künstliche Produkte der Geschichte „gemacht“ sind. Ob man aber die Nicht-Infragestellung eines gängigen, in der Jugend als lebendig erlebten Leitbildes in der Anfangsphase einer Krisenzeit, die dieses Leitbild langfristig zerbricht, als „Schuld“ bezeichnen muss und darf, erscheint sehr fraglich. Angemessener ist die Benennung und Feststellung der Beschränkungen, die das Erkennen der Probleme der jeweiligen aktuellen Gegenwart behinderten. Das sollte jedoch ohne moralisierende Zurechnung persönlicher Schuld geschehen, denn zutreffende Wirklichkeitsanalyse ist gerade in Krisenzeiten ebenso oft auch Ergebnis instinktiver Intuition – um nicht zu sagen: gnädiger Erleuchtung – und nicht nur Produkt kritischer Intelligenz, vor allem aber stets das Ergebnis langwieriger Lernprozesse, gefördert oder auch erschwert durch familiäres Erbe, mentale Prägungen und zu verarbeitende politisch-soziale Erlebnisse im unmittelbaren Lebensumfeld. Das immer wieder bekundetete Festhalten am Ideal des christlichen deutschen Volkes und Staates dokumentiert zugleich die konservative Rückwärtsorientierung in der politischen Vorstellungswelt von Althaus, die 1933 seinen politisch fatalen Hoffnungen auf eine „Wende“ in der deutschen Politik ihren Inhalt gab. Dennoch muss man darauf hinweisen, dass sein theologisches Denken in den Kategorien der Zweireichelehre und seine Theologie der Uroffenbarung mit der Unterscheidung der Handlungsebenen in der Welt und in der Kirche auch das Potential enthielten, um Wege zu öffnen, die zur „verantwortlichen Gesellschaft“ – Amsterdamer Weltkirchenkonferenz 1948 – oder zur „mündigen Gesellschaft“ – Bonhoeffer – führten und ganz modern die allgemeine Verantwortung der Christen für die politische Ordnung definierten. Auch wenn das ständische Denken bei Althaus diese alternativen Wege noch nicht differenziert formulierte, seine theologischen Grundpositionen waren dafür offen, zielten durchaus in diese Richtung. Außerdem ist zu beachten, dass die konkrete Haltung zur „Judenfrage“ Paul Althaus im Einzelfall oft ganz anders konkret handeln ließ. Trotz seiner abstrakten sozio-kulturellen Judenfeindschaft mit all ihren Differenzierungen agierte er aktiv gegen die gewalttätige NS-Rassepolitik. Der brutale Terror von SA und SS und die Entrechtung der Juden rief sein Entsetzen hervor. Er förderte jüdische Studenten oder hielt ganz bewusst in seiner Nachbarschaft den Kontakt zur Familie Hensel aufrecht. Nicht zufällig setzte sich ein judenchristlicher Student, der bei ihm 1942 – 1944 studiert hatte, mit einem eindrucksvollen Zeugnis für seinen akademischen Lehrer im Entnazifizie401
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rungsprozess ein und dokumentierte die Positionierung von Althaus gegen den NS-Staat durch seine eigenen sehr persönlichen Erlebnisse.19 Wenn man die Färbungen des „Antisemitismus“ von Althaus ernsthaft zur Kenntnis nimmt, dann gewinnt man zusätzlich Einblick, warum er offensichtlich so große Schwierigkeiten hatte, seine Fehler zu erkennen und angemessen zu benennen. Im Hinblick auf das zentrale Antisemitismus-Problem hätte er zwar mit gutem Grund sagen können: er sei immer gegen den eliminatorischen Antisemitismus der NSDAP gewesen. Er mochte sich da vielleicht vorkommen wie ein Sozialdemokrat, der des Kommunismus’ verdächtigt wird. Sein Denken in Völkern als den eigentlichen Akteuren der Geschichte und seine daraus abgeleitete und in der Tendenz tolerierte Zurückdrängung des angeblich zu großen jüdischen Einflusses im deutschen Staat durch den Arierparagraphen im allgemeinen Beamtenrecht ordnete er – fälschlicher Weise – in den Begriffen der von ihm erlebten proporzgesteuerten Personalpolitik in Vielvölkerstaaten ein. Dieses Verständnis macht deutlich, wie sein Denken in den in Lodz erlebten Kategorien in anderen politischen Zusammenhängen – das deutsche Staatsrecht kannte keine „jüdische Volksgruppe“ – zu gefährlichen Deformationen und Verunsicherungen in der Urteilsbildung führen konnte und fundamentale Rechtsbrüche nicht erkannte. Im Rückblick muss man feststellen, dass in solchen Kategorien zu denken, wie es Paul Althaus 1933/34 tat, sich als Belastung erwies. Diese Denkweise erschwerte die Erkenntnis der eigentlichen Gefahren. Im Nachhinein ist es jedoch wichtig, aufzuzeigen, aus welchem Geflecht von historischen Prägungen und Erlebnisverarbeitungen die Wahrnehmung und Bewertung des konkreten aktuellen politischen Geschehens gerade auch in der noch als offen erlebten Anfangsphase der NS-Herrschaft erfolgte und welche Mängel und Defizite sich dabei herausstellten. Eine solche Analyse macht zugleich sensibel für eigenes politisches Verhalten sowie mögliche Voreingenommenheit und hält von Verurteilungen ab, die oft nur die Frucht allzu großer Selbstsicherheit sind. Die möglichst vielschichtige Analyse des Verhaltens von Paul Althaus im Schicksalsjahr 1933, die in der Rückschau eindeutige Fehleinschätzungen, Irrtümer und Unvollkommenheiten feststellen muss, wirft noch einmal die Frage auf, inwieweit Althaus nach 1945 in der Lage war, diese Fehler selbst zu erkennen und sie als solche auch zu benennen und aus ihnen zu lernen. Zwar konnte oben am Beispiel seiner „Kriegstheologie“ und an der Neuinterpretation des Verhältnisses von Christen und Juden im Römerbriefkommentar20 aufgezeigt werden, dass Althaus nach 1945 in seinen theologischen und ethischen Positionen explizit und detailliert wichtige Korrekturen vorgenommen hat. Gleichwohl unterblieb auch hier eine präzise Nennung der korrigierten früheren Positionen. Erklärbar wird dieses Verhalten dadurch, dass Althaus seine neuen Thesen als Schwerpunktverlagerungen in seinem im Prinzip unangefochtenen 19 Vgl. oben S. 335 Anm. 34. 20 Vgl. oben Seite 208 f. und 375 f.
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theologischen Begriffs- und Denksystem auffasste. Für die Neuakzentuierung in der 10. Auflage des Römerbriefes kann man zusätzlich darauf verweisen, dass Althaus schon in zahlreichen Predigten und auch einzelnen Aufsätzen der 20-er und 30-er Jahre immer wieder hervorgehoben hatte, dass die Juden zunächst zwar verantwortlich seien für den Kreuzestod Christi, aber er fragte dann sofort weiter: „Die Mächte, die ihn ans Kreuz brachten, sind sie nicht mitten unter uns, in uns selber lebendig?“21 Die „Neuansätze“ nach 1945 konnten auf viele Wurzeln in den früheren Jahren verweisen. Hinzu kam – den Lernprozess durchaus erschwerend –, dass er sich ständig in die Konfrontation mit Karl Barth und seiner Schule gezwungen sah. Die Angriffe aus dem Barth-Lager trennten ebenfalls die politische Ebene nicht von der theologischen, sondern erklärten die kritisierte politische Rolle des Lutheraners Althaus im Dritten Reich mit seiner „falschen“ Theologie der Zwei-Reiche-Lehre.22 Diese Stoßrichtung förderte gerade nicht die subtile Unterscheidung und Differenzierung zwischen politisch-historischen und theologischen Argumenten. Dadurch wurde der Klärungsprozess bei der Frage nach den „Fehlern“, nach den Ursachen des unzureichenden ZurKenntnis-Nehmens der Krisenphänomene im Prozess der nationalsozialistischen Machteroberung, und bei der Prüfung der unbeabsichtigten Folgen des eigenen Verhaltens durchaus erschwert. Das Einräumen von Fehlern enthielt – so mochte es Althaus erscheinen – die Gefahr, dass ein solches Zugeständnis zur Verurteilung seiner theologischen Grundpositionen missbraucht würde. Wie er hier dachte, wird an seinem oben behandelten Disput mit Emil Brunner über seine Kriegstheologie deutlich. Als Brunner ihm 1932 vorhielt, man könne doch für die heutige Zeit mit ihren kriegstechnischen Vernichtungspotentialen nicht mehr von „gerechtfertigten“ Kriegen reden, entgegnete Althaus, Brunner habe durchaus Recht, „heute“ sei „der Kampf gegen jeden Krieg mit ganzem Ernste Pflicht“. Wenn das in seinen Büchern so nicht stehe, so hänge das „mit der Frontstellung, zu der der deutsche Pazifismus zwang, zusammen … Es galt der moralischen Ächtung ,des‘ Krieges überhaupt, auch der vergangenen Kriege durch einen christlichen Pazifismus einen Riegel vorzuschieben.“23 Im Kampf gegen eine abgelehnte theologisch-ethische Grundposition, die den Krieg generell ausschloss und christlich verurteilte, wurden hier kriegstheologische Grundaussagen formuliert, die in ihrer Allgemeinheit selbst problematisch waren und Fehldeutungen provozierten. 21 Hier zitiert nach A. Fischer, 2012, S. 494 f mit zahlreichen weiteren Beispielen von frühen Ausführungen von Althaus, die die These von der Schuld der Juden am Tod Jesu entscheidend modifizierten und korrigierten. 22 Ein zentrales Beispiel ist dafür der frühe Aufsatz von Ernst Wolf (1946). In einem wichtigen Beitrag hat Christian Schwarke (1990) m. E. zu Recht sehr differenziert nachgewiesen, dass die These von Barth und der Barth-Schule, die Zweireichelehre bei Althaus sei schuld an seiner Zuwendung zum Nationalsozialismus, nicht zutreffend ist. 23 Vgl. oben S. 190 f.
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Diese Position von 1932 ist hier zitiert worden, weil sie ein Denkmuster offenbart, das wohl auch für die Auseinandersetzung von Paul Althaus mit Karl Barth und seiner Schule charakteristisch war. Berechtigte Einwände gegen eine theologische Position wurden mit sehr grundsätzlichen Argumenten vorgetragen, die in sich jedoch oft die theologische und politische Ebene vermischten und dadurch missverständlich oder zweideutig wurden. Dieses im Detail wohl nicht bewusst gewordene und darum nicht erkannte Ineinander von theologischen und politischen Argumenten hinderte Althaus an dem expliziten Einräumen von Fehlern und Irrtümern, weil er die durchaus berechtigten Dimensionen seiner Anti-Barth-Position und ihr lutherisches Fundament nicht gefährden wollte. Der notwendige gedankliche Differenzierungsprozess war bei ihm noch nicht weit genug fortgeschritten. Hinzukam, dass Althaus ein so unpolitischer systematischer Theologe war, dass ihm Erwägungen, in bestimmten Situationen richtige theologische Positionen aus politischen Gründen nicht lauthals zu artikulieren, fern lagen. Darin unterschied er sich – wie sich in Barmen zeigte – von Bischof Meiser. Zusätzlich muss man sich bei diesen Fragen immer wieder ins Bewusstsein rufen, dass Paul Althaus schon in der frühen Phase der Bundesrepublik – vor dem „Wendejahr“ 1968 – verstarb. Er sah – das ist oben schon nachgewiesen worden24 – die offenen Fragen hinsichtlich seines eigenen Verhaltens und Denkens durchaus vor sich, fand aber bis zu seinem Tode noch nicht zu einer klar formulierten Lösung. Dabei ist ganz generell zu beachten, dass der Prozess der historischen Aufarbeitung der deutschen Geschichte im Dritten Reich in den 50-er und frühen 60-er Jahren erst in den Anfängen steckte. Noch war man vorrangig mit der Rekonstruktion der faktischen Geschehensabläufe beschäftigt. Die mentalen, sozialpsychologischen und sozialhistorischen Voraussetzungen bei der Durchsetzung der nationalsozialistischen Machtergreifung waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Blick der Zeithistoriker und noch weniger im um Klarheit ringenden Bewusstsein der Generationen der um 1885 und 1905 Geborenen, die die Ereignisse von 1933 aktiv oder passiv erlebt, begrüßt oder erlitten hatten und sich in der Einordnung auch im Nachhinein oft schwer taten. Für sie kam es nach 1945 vor allem darauf an, jetzt für den Neuanfang die richtigen Akzente zu setzen, ohne jedes Mal expressis verbis zu sagen, wo man sich von alten Positionen verabschiedet habe, diese modifiziere oder korrigiere.25 Es bedurfte offensichtlich der Sturmwelle der 68-er Jahre, um diese Fragen ins öffentliche Bewusstsein zu bringen, auch wenn dann noch erhebliche Zeit erforderlich wurde, um eine abgewogene Interpretation durch jüngere Generationen zu ermöglichen. Natürlich muss in diesem Zusammenhang auch gefragt werden, inwieweit 24 Vgl. oben S. 357 f. 25 In seiner instruktiven Studie über Heinrich Bornkamm hat H. Lehmann dieses Verhalten eindrücklich und konkret beschrieben. Die Undeutlichkeit von Paul Althaus war kein Einzelfall sondern hatte gruppentypische Dimensionen.
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Charakter und Persönlichkeitsstruktur von Althaus ihm die Erkenntnis der eigenen Fehler erschwerten oder ihn gegebenenfalls daran hinderten, diese Erkenntnisse öffentlich zu publizieren. Althaus war ein typischer Vertreter des klassischen Professorenstandes, der sein als sehr umfassend aufgefasstes Fachgebiet mit großer Kompetenz vertrat. Seine immer wieder belegte Offenheit und Diskussionsbereitschaft in Seminaren oder Konferenzen schloss das Festhalten an klaren Grundpositionen nicht aus, sah sich darin auch durch sein Amt als Professor – insbesondere in den gedruckten Veröffentlichungen – verpflichtet. Da Wissenschaft sich immer fortentwickelt und fortschreitet, ist es durchaus normal, neue Positionen zu vertreten, ohne jedes Mal zu erklären, wo man jetzt frühere Positionen korrigiert, als fehlerhaft erkannt aufgibt oder nur zeitentsprechend fortentwickelt hat. Die von Schweitzer problematisierte Einleitung in die 2. Auflage seines Grundriß der Ethik ist dafür ein Musterbeispiel.26 Die mit aller Intensität gelebte und mit allem Ernst angenommene Standesrolle des klassischen Ordinarius begünstigte eben nicht ohne weiteres das konkrete Benennen eigener Fehler, sofern man diese überhaupt präzis erkannt hatte. Da Althaus als typischer Erlanger Ordinarius ein nationalkonservativer Lutheraner war, tat er sich bei der Aufarbeitung der jüngsten deutschen Geschichte mit ihrer nationalen Katastrophe doppelt schwer, zumal wenn er – auch darin ein typischer Angehöriger seines Standes und seiner Kirche mit pietistischer Herkunft – in weiten Bereichen ausgesprochen unpolitisch war. Die konkrete Politikgestaltung überließ er den staatlich zuständigen Instanzen, da diese als in Verantwortung vor Gott stehend gedacht wurden. Sein im privaten Leben erlebtes „Geführtsein durch Gott“ glaubte durch die Übertragung dieses „Erlebnisses“ auf das Bild von Gott als Herrn der Geschichte in der „deutschen Wende“ des Jahres 1933 und der Bildung der Regierung der nationalen Konzentration einen solchen Führungsakt Gottes erkennen zu können. Diese Führung schien die Zurückdrängung des als überproportional empfundenen tendenziell modernistischen jüdischen Einflusses zu legitimieren, statt sie als einen Aufruf an alle Christen und Bürger zum Protest zu erkennen und als Appell zu hören, gegen diese alle grundlegenden Rechtsprinzipien brechende Politik Widerstand zu leisten. Die positive Einschätzung der „Wende“ galt bei Althaus freilich nur für die erste Anfangsphase der NSHerrschaft. Seine Ablehnung der NS-Judenverfolgung wurde rasch deutlich und kumulierte 1943 in seinem Entsetzen über „unsere Blutschuld an den Juden“. Jetzt rückte er die menschliche Verantwortung in den Vordergrund. Es charakterisiert die Lernfähigkeit des Professor, dass er seine Vorstellungen vom Widerstandsrecht – von der Pflicht zum Widersprechen – in der Verarbeitung seiner Erlebnisse im Nationalsozialismus präzisierte und gegen die Herrschaft Hitlers positionierte sowie durch konkrete Handlungen zur Unterstützung von verfolgten Juden in seinem Lebensumfeld auch praktizierte. Doch da war es politisch eigentlich schon zu spät. Zudem blieb es für 26 Vgl. oben S. 357 ff.
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dieses nach wie vor zutiefst nationale Denken eine faktisch unlösbare Aufgabe, den Begriff der Schöpfungsordnung „Volk“ zu enttheologisieren, was man als Sozialwissenschaftler auch als entideologisieren bezeichnen muss. Althaus lebte mit dieser Volksvorstellung im 19. Jahrhundert mit seinen nationalen Einigungsprozessen. Daraus folgten begreiflicherweise auch seine Hoffnungen auf Rechristianisierung des als christlich gedachten deutschen Volkes nach 1945. Als Wissenschaftler agierte Althaus immer formvollendet, argumentativ und nie apodiktisch. Von überzogener Polemik hielt er sich stets fern. Darin unterschied er sich deutlich von der Impulsivität und polemischen Schärfe eines Karl Barth. Die internalisierte Bereitschaft zum Differenzieren bedeutete freilich für die selbstkritische Analyse der eigenen Werke, dass dann schnell die unterschiedlichen Nuancen, die positiven Entwicklungschancen oder die zeitangemessene Begrifflichkeit in den Blick kamen und die gefährlichen Missbrauchsmöglichkeiten oder die problematischen Zustimmungen von der eindeutig falschen Seite eher unbeachtet blieben. Der Wissenschaftler aber auch der Seelsorger Paul Althaus wurde immer wieder für seine große Fähigkeit zur persönlichen Zuwendung, das Hören und Eingehen auf seine Gesprächspartner gelobt. Intime Kenner registrierten jedoch zugleich eine ebenso große persönliche Verschlossenheit des Professors, die offensichtlich eine Basis für seine Aufgeschlossenheit den anderen gegenüber darstellte. Auch der Prediger reihte sich stets in das Kollektiv der Hörer mit ein, sprach aber nie von seinen eigenen ganz persönlichen subjektiven Problemen. Das entsprach generell dem Predigtstil seiner Generation. Aber man wird wohl darin auch einen wichtigen Teil seiner Persönlichkeitsstruktur sehen müssen und auch die Unabgeschlossenheit seiner Aufarbeitung der eigenen Geschichte im Dritten Reich erkennen können. Man kann diese Unabgeschlossenheit im Rückblick späterer Generationen durchaus als Tragik im Leben von Paul Althaus bezeichnen, wird aber wohl hinzufügen müssen, dass sich darin ein durchaus gruppen- und kohortenspezifisches Verhalten ausdrückte. Freilich gilt es für das Leben von Althaus nach 1945 und seine offensichtlich unabgeschlossene Verarbeitung der NS-Katastrophe noch auf folgende biographisch relevanten Zusammenhänge aufmerksam zu machen. In den Nachrufen, aber auch in vielen anderen Quellen wird stets auf die eindrucksvolle Wirkung des Predigers Althaus hingewiesen. Sie beruhte nach vielfachem Urteil auf seiner Formulierungskunst und seinem methodischen Ansatz: „Vom Leben zum Text“, also von den gegenwärtigen Problemen her die Antwort in der biblischen Botschaft zu suchen. Das sprach die Hörer besonders an und fand vielfaches Echo. Entscheidender war jedoch offensichtlich die immer wieder bezeugte „Authentizität“ des Predigers, der stets spüren ließ, dass er sich in tiefer Frömmigkeit und in lebendigem Glauben mit der verkündeten Botschaft voll identifizierte, aber auch bei der Schilderung der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit, von der aus er die Predigt ge406
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staltete, sich selbst als Betroffenen mit einschloss. Diese Predigtauffassung implizierte die sehr unmittelbare Ausrichtung auf die Fragen, Sorgen und Nöte der jeweiligen Gegenwart der betroffenen Gemeinde. Das schloss – wie oben dargestellt – eine ebenso intensive wie erschrockene Reaktion auf die Verbrechen der Nazizeit durchaus mit ein. Für eine tiefgreifendere Analyse, wie es dazu hatte kommen können und welche Rolle das eigene Verhalten – trotz aller Ablehnung des Nationalsozialismus als Ideologie und Partei – gespielt hatte, war es jedoch in den fünfziger und ersten sechziger Jahren vielfach noch zu früh. Althaus konnte in seinen Predigten Botschaften verkündigen, die mitunter quer standen zu seinen theologisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen oder Anstoß gaben, dort in neue Bereiche vorzustoßen. Die Relativierung der Schuld der Juden am Tod Christi und das Bekenntnis zur Mitschuld aller Christen wurde in seinen Predigten lange schon verkündet, ehe es in der 10. Auflage des Römerbriefkommentars auch theologiewissenschaftlich geäußert wurde. Angesichts seiner Verankerung in der Hermannsburger Erweckungsbewegung und seiner daraus resultierenden Bindung an die Kirche und den kirchlichen Auftrag darf man wohl feststellen, dass die interpretatio practica und die streng wissenschaftliche Bibelauslegung für ihn keinen Widerspruch bilden durften und im Zweifelsfall die interpretatio practica Vorrang bekam.27 Anders ausgedrückt bedeutete das die Einheit von Prediger und Professor, aber im Zweifelsfall ging der Prediger voran und der Professor folgte. Für die hier diskutierte Frage der bewussten Aufarbeitung des eigenen Verhaltens in den Anfangsjahren der NS-Diktatur muss man feststellen, dass diese Orientierung den Seelsorger und Prediger dazu veranlasste, das allgemeine Versagen der Kirche und der Christen – sich selbst einschließend – deutlich zu benennen, aber das konkrete eigene Fehlverhalten, soweit noch nicht klar erkannt, als offene Frage hinzustellen. Solches Offenhalten war zugleich Ausdruck der Lernbereitschaft und des spürbaren Suchens von Paul Althaus. In den allgemeinen Schuldeingeständnissen der Kirche und der Christen, die er durchaus präzis und detailliert bekannt hatte, wurden gleichsam nur erste „Suchergebnisse“ formuliert. Primäres Anliegen war es jedoch für den Prediger, die Gemeinde aufgrund der christlichen Botschaft zum Neuanfang zu ermutigen, Verantwortung bei der Bewältigung der vordringlichen sozialen und politischen Probleme zu übernehmen, aus der Ver-
27 In seinem Kommentar zum Briefwechsel zwischen Rudolf Bultmann und Paul Althaus hat Matthias Dreher interessanterweise darauf hingewiesen, dass der Prediger Rudolf Bultmann anlässlich der Trauerrede für seinen Kollegen Hans von Soden über 1. Korinther 4, 1 – 4 nicht seiner eigenen Interpretation dieser Passage im Rahmen seiner paulinischen Theologie folgte, sondern in dieser Predigt die anders gerichtete Interpretation von Paul Althaus übernahm. Dreher stellt daraufhin die Frage: „Gab es auch bei Bultmann – wie so oft in der pastoralen Kasualpraxis – neben der hohen theologischen auch eine interpretatio practica ad personam?“ M. Dreher/G. Jasper (Hg.), 2012, S. 105.
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gangenheit – immer wieder vertiefend – zu lernen und zum Christentum zurückzukehren. Wenn man unter der Frage, welche Wirkung Althaus für den Neuanfang in Deutschland gehabt hat, das vielfältige Echo auf seine Tätigkeiten prüft, dann erscheint er als begeisternder und begeisterter akademischer Lehrer, der seinen Schülern offen für deren eigene Positionierung begegnete, sie nicht auf bestimmte Lehrmeinungen festlegte, sondern diskursiv mit ihnen diskutierte. Zugleich wirkte er als überzeugend authentischer Prediger. Dass er – bei aller Glaubensfestigkeit – in den Fragen der Gegenwart und jüngsten Geschichte ein stets Suchender blieb und ihn die Einschätzung seines Verhaltens 1933 und dessen Wirkungen gegenüber dem Nationalsozialismus und in der Judenfrage beunruhigte, er aber noch zu keiner abschließenden klaren Antwort und Beurteilung gefunden hatte, erscheint im Nachhinein von der Zeit her verständlich, zumal die oft sehr indirekten und ungewollten Wirkungszusammenhänge auch in der zeitgeschichtlichen Forschung erst ab Mitte der 60-er Jahre, also nach dem Tod von Paul Althaus 1966, zum Gegenstand einer langwierigen Erörterung wurden. Gleichwohl bleibt zu konstatieren, dass Althaus konkrete öffentliche Antworten auf die persönlichen Fragen von Gelpke und Schweitzer28 nicht oder nur implizit erteilte, – noch nicht erteilen konnte oder wollte? Auf jeden Fall aber ist festzuhalten, dass ihm die Ungelöstheit dieser Fragen immer bewusst war. In persönlichen Gesprächen und in der Diskussion mit Studenten hatte er mehrfach persönliche Antworten versucht und damit seine Gesprächspartner beeindruckt. Die unabgeschlossene Offenheit und die selbstkritische Reflektion des eigenen Verhaltens, die manche Fehler durchaus eingestanden hatte, waren bei ihm – weil fern aller Selbstgerechtigkeit – beachtenswert. Sie waren sicherlich eine der Ursachen für das große Echo, das der Erlanger Professor und Prediger in der Zeit der 50er und frühen 60-er Jahre fand. Die Bereitschaft zur Selbstkorrektur, die Spürbarkeit der auch für ihn offenen Fragen und seiner Lernbereitschaft waren – auch in ihrer Unabgeschlossenheit – ein fundamentales Element seiner Authentizität, seines Predigens und seines Lebens. Versucht man den Untertitel unserer Studie: „Professor, Prediger und Patriot“ unter dem Horizont dieser Fragen und Interpretationen des Lebens von Paul Althaus zu reflektieren, so gilt zunächst ganz eindeutig, dass die Reihenfolge als wirkliche Rangfolge gelesen werden muss. Die Tätigkeit als Professor, als akademischer Lehrer und Autor wissenschaftlicher Publikationen, beherrschte den Alltag und bestimmte das persönliche Leben. Die Rolle des Predigers – sieht man von den beruflichen Anfangsjahren im Ersten Weltkrieg ab – war „nebenamtlich“. Der Anspruch des Theologie-Wissenschaftlers begrenzte auch den „Patriotismus“, zumal die vom Neutestamentler zu erläuternde Botschaft nie nur an ein Volk gerichtet werden sollte. Doch trotz dieser eindeutigen Rangfolge kann und muss man auch feststellen, dass 28 Vgl. oben S. 348 ff. und 359 ff.
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der Prediger nicht zufällig die Mitte zwischen Professor und Patriot einnimmt, also im Zentrum steht. Für Paul Althaus galt das ganz fundamental. Der Prediger, der fromme Mann der Kirche, der in seinen Predigten erlebt wurde, bestimmte, fundierte und begrenzte sein Verständnis von der Aufgabe des lutherischen Theologieprofessors, so ernst er den Anspruch der Wissenschaft auch nahm. In gleicher Weise hielt sein Christsein seinen Patriotismus von allen nationalistischen Übersteigerungen fern, ließ ihn das deutsche Volk als christliches Volk unter Völkern verstehen, machte es zwar zum ersten Adressaten seiner Predigten, da es seine Gemeinde war, aber trotzdem kannte seine christliche Botschaft keine nationale Exklusivität. Gewiss unterlag diese grundlegende Färbung und Motivation des Lebens von Paul Althaus den Bedingungen und Begrenzungen seiner Zeit. Aber auch hier galt, dass „in seiner Zeit“ zu leben für den Seelsorger und Theologen Althaus zugleich als normativer Auftrag verstanden wurde, für seine Zeit zu leben, in diese Zeit zu predigen und zu lehren. Diese letzten, im christlichen Glauben verankerten Antriebsfedern im Leben von Paul Althaus abschließend noch einmal hervorzuheben, erscheint geboten, auch wenn ihre zeitbedingten, traditionell geprägten Begrenzungen in den Details dieser Biographie deutlich benannt werden mussten.
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Abkürzungsverzeichnis AELKZ APU
Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung Kirche der altpreußischen Union – landeskirchenrechtliche aber nicht bekenntnismäßige Zusammenfassung der lutherischen und reformierten Kirchen im Preußen vor den Erweiterungen von 1866 BayHStA Bayerisches Hauptstaatsarchiv BK Bekennende Kirche DC Bund Deutscher Christen DCSV Deutsche Christliche Studentenvereinigung – Vorläufer der Evangelischen Studentengemeinden – Teil des Christlichen Studentenweltbundes DEK Deutsche Evangelische Kirche EKiD Evangelische Kirche in Deutschland, später EKD EKL Evangelisches Kirchenlexikon. Internationale theologische Enzyklopädie, Göttingen 31986 ff. Friedrich-Alexander-Universität Erlangen, seit 1961: ErlangenFAU Nürnberg FAU-Archiv Universitätsarchiv der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg FAU-UB Universitätsbibliothek der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg GStA Geheimes Staatsarchiv KorrBl Korrespondenzblatt für die evangelisch-lutherischen Geistlichen in Bayern LKA Nbg. Landeskirchliches Archiv Nürnberg MPTh Monatsschrift für Pastoraltheologie NLA Nachlass Althaus im Archiv der Universität Erlangen-Nürnberg NSEP Nationalsozialistischer Evangelischer Pfarrerbund P.A. Paul Althaus RGG Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Tübingen 2./3./4.1927 ff., 1957 ff. und 2004 ff. RKA Reichskirchenausschuss ThLZ Theologische Literaturzeitung TRE Theologische Realenzyklopädie. Berlin New York 1977 ff. VELKD Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands VKL Vorläufige (Reichs-)Kirchenleitung VVN Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes 410
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ZBKG ZThK ZnThG
Zeitschrift für Bayerische Kirchengeschichte Zeitschrift für Theologie und Kirche Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte
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Zitierte Schriften von Paul Althaus Eine vollständige Bibliographie aller Veröffentlichungen von Paul Althaus findet sich seit jüngster Zeit in: Andr¦ Fischer, (2012), S. 712 – 768. Hinweise zur Auflagenhöhe bei den Veröffentlichungen von Paul Althaus im Bertelsmann-Verlag finden sich in: Friedländer u. a. (2002), Bd. 2.
1911/12: Die Generalvisitation des Molanus in der Spezialinspektion Münden 1675. In: Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte, Bd. 16 (1911), S. 106 – 147 und 17 (1912), S. 99 – 148 1912/13: Die Christliche Studentenbewegung I – III. In: Blätter aus dem Schwarzburgbund. 3. Jg. 1911/12, S. 77 – 121; 4. Jg. 1912/13, S. 54 – 78 1913: (1) Der Friedhof unserer Väter. In: AELKZ 46 (1913), Heft 47,48,49,51. Erweiterte Buchausgabe, Gütersloh 1915, 21923, 31928, 41948 (2) Vernunft und Offenbarung in der deutschen reformierten Dogmatik um 1600. Diss. Naumburg a. d. Saale 1913, 63 S. 1914: (1) Die Prinzipien der deutschen reformierten Dogmatik im Zeitalter der aristotelischen Scholastik. Eine Untersuchung zur altprotestantischen Theologie. Leipzig 1914, VIII, 274 S. (2) Aus einem Lazarett im deutschen Osten. In: AELKZ 1914, S. 1150 – 1157 1915: (1) Eindrücke und Gedanken eines Feldgeistlichen aus Lazaretten in Russich-Polen. In: MPTh 1915, S. 381 – 393 (2) Unser Herr Jesus. Zur Auseinandersetzung mit W. Bousset. In: Neue Kirchliche Zeitschrift, 26. Jg., 1915, S. 512 – 145 (3) Kommt lasst uns anbeten! Acht Kriegspredigten aus Russisch-Polen. Berlin 1915 1916: Lodzer Kriegsbüchlein. Deutsch-evangelische Betrachtungen. Göttingen 1916 1917: (1) Um Glauben und Vaterland. Neues Lodzer Kriegsbüchlein. Göttingen 1917 (2) Luther und das Deutschtum. Reformationsschriften der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Konferenz Nr. 11, Leipzig 1917 1918: Wie sollen wir den Männern predigen? Kriegslehren für unsere Wortverkündigung. In: Neue Kirchliche Zeitschrift, Bd. 29 (1918), Heft 12 (Dez. 1918), S. 603 – 637 1919: (1) Pazifismus und Christentum. In: Neue Kirchliche Zeitschrift, 30. Jg. 1919, S. 429 – 478 (2) Unser gutes Gewissen und unsere Buße. In: Deutsche Evangelische Kirchenzeitung, 18. Jahrgang (1919), Nr. 4 (26. 1. 1919), S. 27 ff und Nr. 5 (2. 2. 1919), S. 34 ff.
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(3) Abschied von Polen. In: Deutsch-Evangelisch. Monatsblätter für den gesamten deutschen Protestantismus. Bd. 10 (1919), Juni-Heft, S. 163 – 179 (4) Das Erlebnis der Kirche. In: AELKZ 52 (1919), Sp. 839 – 844, 862 – 866, 884 – 888, 906 – 908, als Buchausgabe: Leipzig 1919, 21924 (1) Der Heilige. Rostocker Predigten. Gütersloh 1921, (2) Religiöser Sozialismus. Grundfragen christlicher Sozialethik. Gütersloh 1921 (1) Die letzten Dinge. Gütersloh 1922 (2): Die Bergpredigt bei Luther. (Rezension der gleichnamigen Schrift von Georg Wünsch, Tübingen 1920) In: Theologisches Literaturblatt, 43. Jahrgang (1921), S. 81 – 89 (1) Staatsgedanke und Reich Gottes. Schriften zur politischen Bildung hg. von der Gesellschaft „Deutscher Staat“. Langensalza 1/21923, 31926, 41931 (2) Theologie und Geschichte. Zur Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie. In: Zeitschrift für systematische Theologie. Band 1(1923/ 24), S. 741 – 786 Der Lebendige. Predigten. Gütersloh 1924 Luthers Haltung im Bauernkrieg. In: Lutherjahrbuch 1925, S. 1 – 39, wiederabgedruckt: Darmstadt 1952 und 1958 (1) Das Heil Gottes. Letzte Rostocker Predigten. Gütersloh 1926 (2) Das Wesen des evangelischen Gottesdienstes. In: Zeitschrift für systematische Theologie. Band 4 (1926/27), S. 266 – 308 (3) Protestantismus und deutsche Nationalerziehung. In: Christentum und Nationalerziehung. Vorträge und Aussprache der 2. Tagung für deutsche Nationalerziehung, von der Fichte-Gesellschaft veranstaltet. Hamburg 1926 Kirche und Volkstum. In: Vaterländische Kundgebung der evangelischen Kirche. Eröffnungspredigt, Festrede, Hauptvorträge und Kundgebungen des Zweiten Deutschen Evangelischen Kirchentages zu Königsberg im Juni 1927. Berlin 1927 – auch separat gedruckt: P.A., Kirche und Volkstum. Der völkische Wille im Lichte des Evangeliums. Gütersloh 1928 (1) Aus dem Leben von D. Althaus-Leipzig. Leipzig 1928 (2) Leitsätze zur Ethik. Erlangen 1928 (1) Theologische Aufsätze. Gütersloh 1929 (2) communio sanctorum. Die Gemeinde im lutherischen Kirchengedanken. München 1929 (3) Grundriß der Dogmatik. Teil I. Erlangen 1929 (1) Grundriß der Ethik. Neue Bearbeitung der „Leitsätze“. Erlangen 1931 (2) Die soziale Verpflichtung der Studenten. In: Die Schwarzburg 40. Jg. (1931), S. 41 – 44 (1) Der Gegenwärtige. Predigten. Gütersloh 1932 (2) „Gegen den nationalsozialistischen Bazillus“. In: AELKZ 65 (1932), Sp. 62 – 65 (3) Grundriß der Dogmatik. Teil 2. Erlangen 1932
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(4) Der Brief an die Römer. (Das Neue Testament Deutsch, Bd. 6) Göttingen 1932, 51946, 101966, 131978 (1) Die deutsche Stunde der Kirche. Göttingen 1933 (2) „Unwertes“ Leben im Lichte des christlichen Glaubens. In: Von der Verhütung unwerten Lebens. Ein Zyklus von 5 Vorträgen hg. von Erwin Baur. Bremer Beiträge zur Naturwissenschaft. Sonderband 1. Bremen 1933, S. 79 – 97 (1) Theologie der Ordnungen. Gütersloh 1934 (2) Theologische Verantwortung. In: Luthertum. Neue Folge der „Neuen Kirchlichen Zeitschrift“. 45. Jg. (1934), S. 12 – 26 (3) Bedenken zur „Theologischen Erklärung“ der Barmer Bekenntnissynode. In: KorrBl. 59 (1934), S. 318 – 320, sowie in: Lutherische Kirche. 16. Jg. (1934), S. 117 – 121 (4) Christus und die deutsche Seele. Gütersloh 1934 (5) Um die lutherische Kirche Deutschlands! Lutherische Antwort auf die Denkschrift der Reichskirchenregierung über Kirche und Bekenntnis. In: AELKZ Bd. 67 (1934), Sp. 868 – 877 (1) Theologische Aufsätze. 2. Band. Gütersloh 1935 (2) Kirche und Staat nach lutherischer Lehre. Theologia militans 4. Leipzig 1935. Ebenfalls in: AELKZ Bd. 68 (1935), Sp. 746 – 754, 770 – 778 (3) Politisches Christentum. Ein Wort über die Thüringer „Deutschen Christen“. Theologia militans 5. Leipzig 1935 Obrigkeit und Führertum. Wandlungen des evangelischen Staatsethos. Gütersloh 1936 (1) Der Herr der Kirche. Predigten. 1. Reihe (Heft 1 – 12). Gütersloh 1937 (2) Völker vor und nach Christus. Theologische Lehre vom Volke. Theologia militans 14. Leipzig 1937 (3) Verantwortung und Schuld der Kirche. Berlin 1937 Paulus und Luther über den Menschen. Gütersloh 1938; 2. erweiterte Aufl. Gütersloh 1951 (1) Der Herr der Kirche. Predigten. 2. Reihe (Heft 13 – 24). Gütersloh 1940 (2) Die Wahrheit des christlichen Osterglaubens. Einspruch gegen Emanuel Hirsch. Beiträge zur christlichen Theologie, Bd. 42/2. Gütersloh 1940; 2. Vermehrte Auflage Gütersloh 1941 Der Herr der Kirche. 25. Heft: Der Christenglaube und das Sterben – Vortrag und Predigt. Gütersloh 1940; (1) Die Entdeckung des Deutschtums im ehemaligen Mittelpolen. In: Adolf Kargel/Edmund Kneifel, Deutschtum im Aufbruch. Vom Volkstumskampf der Deutschen im östlichen Wartheland. Leipzig 1942, S. 191 – 197 (2) Neues Testament und Mythologie. Rezension von Rudolf Bultmann, Offenbarung und Heilsgeschehen. In: ThLZ Bd. 67 (1942), Sp. 337 – 343 Karl Heim zum 70. Geburtstag. In: Forschungen und Fortschritte. Band 20 (1944), S. 23 f. (1) Der Trost Gottes. Predigten in schwerer Zeit. Gütersloh 1946
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(2) Luther und das öffentliche Leben. In: Zeitwende Bd. 18 (1946/47), S. 129 – 142, wiederabgedruckt in: P.A. , 1962, S. 248 – 262 (3) Schuld. In: Prisma. München 1946, 1. Jg. Heft 2, S. 4 – 8 (1) Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik Bd. 1. Gütersloh 1947; Bd. 2. 1948; Bd. I und II. Gütersloh 21949; 3. durchgesehene und ergänzte Aufl. 1952; 41958; 51959; 61962; 71966; 81969/1972/1975 (2) Gesetz und Evangelium. Predigten über die zehn Gebote. Gütersloh 1947 (3) Vom Sinn und Ziel der Geschichte. Kleine Schriften aus der Sammlung DEUS ETANIMA. Erste Schriftenreihe, Heft 7, Bonn 1947, spätere Fassung wiederabgedruckt in: P.A. , 1962, S. 304 – 312 (1) Vom Sterben und vom Leben. 2. neubearbeitete Auflage von: Der Christenglaube und das Sterben (Der Herr der Kirche Bd. 25). Gütersloh 1950 (2) Um die Todesstrafe. In: Volkmar Herntrich/Theodor Knolle (Hg.), Schrift und Bekenntnis. Zeugnisse lutherischer Theologie – für Bischof Schöffel zum 70. Geburtstag. Hamburg – Berlin 1950, S. 7 – 15 Der Studiendirektor auf der Erichsburg. In: Walter Ködderitz (Hg.), D. August Marahrens. Pastor Pastorum zwischen den Weltkriegen. Hannover 1952, S. 53 – 57 Grundriß der Ethik. Gütersloh 21953 Die Herrlichkeit Gottes. Predigten zu den Festen und Festzeiten des Kirchenjahres. Gütersloh 1954 (1) Werner Elert zum Gedächtnis – Zwei Reden. Berlin 1955 (2) Die Todesstrafe als Problem der christlichen Ethik. In: Bayer. Akademie der Wissenschaften. Philosoph.-histor. Klasse. Sitzungsberichte Jahrgang 1955, H. 2. München 1955 Rede zum Tag der deutschen Einheit. Gehalten am 18. 6. 1956. In: Die Erlanger Universität, 9. Jahrgang 1956, 5. Beilage 1956 vom 18. 7. 1956 (1) Die Kraft Christi. Predigten. Gütersloh 1958 (2) Das sogenannte Kerygma und der historische Jesus. Gütersloh 1958 (1) Der Schöpfungsgedanke bei Luther. In: Bayer. Akademie der Wissenschaften. Philosoph.-histor. Klasse. Heft 7. München 1959 (2) Die eine Kirche. Vortrag auf dem Kirchentag. In: Deutscher Evangelischer Kirchentag 1959, Dokumente 1959, S. 323 ff., wiederabgedruckt in: P.A. 1962 (2), S. 62 – 75 (3) Die Illustration der Bibel als theologisches Problem. In: Neue Zeitschrift für systematische Theologie Bd. 1 (1959), S. 314 ff., wiederabgedruckt in: P.A. 1962 (2), S. 117 – 130 Der gegenwärtige Stand der Frage nach dem historischen Jesus. Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosoph.-histor. Klasse. Sitzungsberichte. Jg. 1960, Heft 6. München 1960 (1) Die Theologie Martin Luthers. Gütersloh 1962; 21963; 31972; 41975; 5 1980; 61983; 71994
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(2) Um die Wahrheit des Evangeliums. Aufsätze und Vorträge. Stuttgart 1962 Die Ethik Martin Luthers. Gütersloh 1965 Der Brief an die Römer. 10. neubearbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen 1966
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Archivmaterialien Archiv der Universität Erlangen-Nürnberg (FAU-Archiv): Nachlass Paul Althaus, Sign.: G 1/30 Personalakte Paul Althaus, Sign.: F 2/1 Nr. 21286 Akten des Vorprüfungsausschusses nach dem Befreiungsgesetz für den Bereich der Erlanger Schulen und Hochschulen, Sign.: A 2/3 Nr. 162 Rektorwahl 1932, Sign. A1/4 Nr. 61,1
Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Erlangen Nachlass Hermann Strathmann, Sign.: MS 2647
Archiv der Bayerischen Landeskirche, Nürnberg (LKA Nbg.): Personen Nr. 36 Landesbischof Hans Meiser
Bayer. Hauptstaatsarchiv – Akten des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus (BayHStA): Lehrstuhlakte Systematische Theologie, Sign.: MK 71 972 Personalakte Paul Althaus, Sign.: MK 43 361 Personalakte Hermann Sasse, Sign.: MK 44 244
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz 1 HA Rep. 76, Va, Sekt. 2 Titel IV Nr. 44 Bd. 9, darin: Nachfolge Reinhold Seeberg 1928/ 1929; Nr. 10194, darin: Nachfolge Wilhelm Lütgert 1929/1930
Bundesarchiv Koblenz Einzelne Akten aus dem Reichskirchenministerium Einzelne Privatnachlässe mit einzelnen Briewechseln mit Paul Althaus 425
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Landeskirchliches Archiv Mecklenburg Akten zur Bischofswahl 1930 Karl Barth Archiv, Basel Briefwechsel mit Paul Althaus, vor allem Althaus-Briefe an Karl Barth Staatsarchiv Zürich – Nachlass Emil Brunner Briefwechsel mit Paul Althaus, vor allem Althaus-Briefe an Emil Brunner
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Namensregister
Adickes, Erich 39 Althaus, August 19, 153 Althaus, Dorothea, geb. Zielke 82, 86, 108f., 111, 262, 264, 267f., 272f., 275 Althaus, Eva Maria 16, 53 Althaus, Gerhard 15ff., 19, 30, 58, 82, 262, 264, 267, 309, 360, 372, 375ff., 382f. Althaus der Ältere, Paul 19, 27, 30f., 33f., 36, 46f., 114, 117, 123, 136, 138, 151, 154 Althusius, Johannes 19 Anschütz, Gerhard 187 Asmussen, Hans 244, 282f., 330 Assel, Heinrich 233 Bachmann, Philipp 116, 131, 133ff., 137, 211 Barth, Karl 14 f. , 60, 79, 116, 125, 128, 132, 153, 155, 157, 159 ff. , 165–177, 203, 205, 209, 211, 222 f. , 226, 230 f. , 233 f. , 244. , 247, 250 f. , 257–261, 284, 287, 292, 294, 304, 346, 348, 352 f. , 364, 366 ff. , 370, 379, 384, 403, 406 Baum, Oberkirchenrat u. Kreisdekan 134, 140 Baumgärtel, Friedrich 132, 357 Baur, Erwin 220 Baur, Jörg 389 Behm, Heinrich (Landesbischof) 146ff. Behm, Johannes 208 Beste, Niklas 371 Beyer, Hermann Wolfgang 141, 146, 224ff.
Beyschlag, Karlmann 9, 139, 388 Bezzel, Hermann 169 Bismarck, Klaus von 383 Bodelschwingh, Friedrich von 11f., 37, 84, 95, 125, 144, 154, 162, 169, 182, 216f., 274, 296 Bodelschwingh, Wilhelm von 108 Bonhoeffer, Dietrich 11, 15, 80, 128f., 185, 219, 239, 278, 383, 391f., 401 Bornkamm, Günther 15, 318, 371 Bornkamm, Heinrich 293f., 322, 330, 332, 404 Bousset, Wilhelm 51, 60–63, 73, 88, 154f. Brandt, Otto 198 Breit, Thomas 289, 341 Brunotte, Heinz 351, 371 Brunner, Emil 15, 110, 120f., 153, 155, 157, 159–165, 167, 172, 174ff., 191f., 259ff., 284, 296, 313, 349, 359, 403 Brunstäd, Friedrich 133, 145, 148 Büchsel, Friedrich 132, 147f. Bultmann, Rudolf 14f., 46, 60, 62, 153, 155, 157–161, 167, 172, 174ff., 221ff., 235, 239f., 289, 291, 296, 316ff., 353, 362, 365, 379, 407 Cremer, Hermann 164
20, 144, 154, 162,
Daxer, Lic. H. 146 f. Dehn, Günther 155 Dibelius, Otto 179, 371 Doerne, Martin 15, 208, 256, 289, 281, 304f., 307f., 321, 323, 327, 330, 332, 345, 352ff., 363f., 367, 372f.
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Elert, Werner 9, 132ff., 137–140, 145, 149f., 205, 238, 242, 246–250, 252f., 266, 291, 323ff., 334, 356, 382ff., 388 Ellwein, Eduard 251 Ewald, Gottfried 220f. Fezer, Karl 226f., 242, 249 Fischer, Andr¦ 17, 181, 225, 229, 338, 403 Francke, August Hermann 145 Frank, Franz Hermann Reinhold 137 Frey, Norbert 13 Frick, Wilhelm 220 Froer, Kurt 177, 252f. Gloege, Gerhard 352 Gogarten, Friedrich 155, 157ff., 245, 249, 289, 291 Gollwitzer, Helmut 177 Graf, Friedrich Wilhelm 388 Grass, Hans 313, 379–382, 395 Grill, Julius 39 Grundmann, Martin 354 Grützmacher, Richard 103f., 132, 134, 161 Haering, Theodor 34, 39–42, 45 Hamm, Berndt 9, 38, 229, 248, 320, 342, 385–390 Harms, Ludwig 19, 84, 153 Harnack, Adolf von 45ff., 143f., 155, 158 Heckel, Theodor 134, 139 Heiler, Friedrich (Marburg) 158f. Heim, Karl 151, 164, 169f. Hensel, Paul 237, 240, 266, 401 Herbert, Ulrich 13, 391f. Herding, Hans 333 Hermann, Rudolf (Stange-Schüler) 251 Hermelink, Heinrich 158 Herntrich, Volkmar 371 Herrmann, Johann Wilhelm 60, 240 Hesse, Konrad 185
Heyse, Hans 353 Hirsch, Emanuel 9, 52, 83, 108, 136, 142, 152, 156, 160, 166f., 170, 176, 201 - 207, 213f., 216f., 221f., 224, 226, 233, 243, 259, 317 Hitler, Adolf 11, 15, 96f., 193f., 198f., 206, 214f., 220, 223, 229f., 234, 242f., 246, 267, 276, 286, 291, 299ff., 303, 306, 308, 337, 370, 386, 390, 397 Hofmann, Johann Christian Konrad 117, 137 Hofstätter, Min.-Rat 134 Holl, Karl 39f., 119, 136, 141, 144, 156, 279 Hossenfelder, Joachim 224, 226, 228, 233, 242 Hötzel, Pfarrer 37 Ihmels, Ludwig
51, 136, 183, 304
Jatho, Carl 37 Jäger, August 243, 249f., 255ff. Jäger, Claus 366 Joest, Wilfried 371, 377f., 381 Kahl, Wilhelm 179f., 182, 186f., 366 Kaehler, Martin 145, 162 Karrenberg, Friedrich 360 Kempff, Georg 266 Kerrl, Hanns 277, 281, 286f., 291, 296 Kessel, Friedrich 235 Kimpel, Ben D. 319 Kittel, Gerhard 142, 149 Köhn, Eberhard 146 Koepp, Wilhelm 141 Krause, Reinhold 242 Krummacher, Friedrich-Wilhelm 371 Künneth, Walter 318, 331, 359, 371 Kutter, Hermann 99, 125 Lagarde, Paul de 183 Langenfaß, Friedrich 147, 228, 251–254, 259 Langmann, Otto 249f.
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Leibbrand, Werner 332 - 335 Lehmann, Max 48f., 54, 70,114, 122, 189, 234 Lempp, Albert 169f. Lent, Friedrich 322f., 326 Liermann, Hans 325f. Lietzmann, Hans 142f., 145, 202, 251 Lilje, Hanns 371 Loewenich, Walther von 139, 159, 175f., 215, 323ff., 356f., 377ff., 381, 383f. Lorleberg, Werner 319 Lotz, Wilhelm 133f. Lütgert, Wilhelm 143 ff., 251 Marahrens, August 49f., 107f., 216, 221, 242, 249, 278ff., 283 Mendelssohn-Bartholdy, L¦onie 267 Merz, Georg 169f., 203, 205 Metzger, BK-Pfarrer 283 Mommsen, Wolfgang J. 56, 68 Müller, Erwin 315 Müller, Gerhard 383 Müller, Hans Martin 373 Müller, Johannes (Elmau) 38, 79 Müller, Karl 30, 39f. Müller, Ludwig 217, 242ff., 255, 257, 277, 279, Naumann, Friedrich 53f. 60 Niebergall, Friedrich 201f. Niekisch, Ernst 215 Niemöller, Martin 242f., 291, 326f., 331 Nietzsche, Friedrich 60 Oelke, Harry 13 Ohly, Herbert 319 Otto, Richard 288 Petersen geb. Althaus, Dorothea 28, 30, 58, 262, 307 Preuß, Hans 134, 323 Procksch, Otto 134, 356
16,
Pummerer, Rudolf
267
Quell, Gottfried 148 Rade, Martin 201f., Ranke, Leopold von 48, 54f., 122, 234, 258, 260 Rendtorff, Heinrich 149 Rengstorf, Karl Heinrich 371 Ritschl, Albrecht 46, 117, 240 Ritter, Konstantin 39, 45 Rothfels, Hans 11, 300f., 396f. Sammetreuther, J. 251 Sasse, Hermann 202, 215, 266, 290f., 322–328, 330f., 334 Schaeder, Erich 161 Schemm, Hans 215 Schieder, Julius 353 Schlatter, Adolf 11, 15, 20f., 32ff., 39–43, 45, 96, 140, 142ff., 149ff., 154, 158, 160ff., 173, 226, 243, 296, 324, 362 Schleiermacher, Friedrich 117, 145, 260, 353 Schmidt, Traugott 57 Schmidt, Karl Ludwig 204f., 238 Scholder, Klaus 160, 203, 215, 382, 385 Schultze, Min.-Rat 221f. Schürer, Emil 46 Schweitzer, Carl Gunther 252, 254, 359ff., 384, 405 Schwinn, Wilhelm 378, 381 Seeberg, Erich 138f., 314 Seeberg, Reinhold 141–145, 151, 157f., 161 Seidl, Erwin 332ff. Seitz, Manfred 382f. Smend, Rudolf 46 Soden, Hans von 158, 290, 407 Sparn, ,Walter 17, 353, 389 Staedel, Wilhelm 386f. Stauffer, Ethelbert 138, 346 Stange, Carl 50f., 57, 141ff., 152, 170
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Stapel, Wilhelm 160, 215, 222, 237f., 245 Steinbauer, Karl 388 Stoecker, Adolf 54 Strathmann, Hermann 132–135, 137, 140, 195, 238, 251, 266f., 302, 310, 320, 322–325, 328, 330, 333, 346, 366 Süss, Theodor 322, 325ff. Thielicke, Helmut 139, 160, 175f., 252f., 362, 372, 384 Tholuk, Friedrich 145 Tillich, Paul 81, 155, 158 Titius, Arthur 46, 108, 117, 142, 145, 180, 182, 185f. Töllner, Axel 238 Trillhaas, Wolfgang 176f., 252f., 350, 372, 383f. Troeltsch, Ernst 38, 41, 155
Veit, Friedrich 147, 252 Vollrath, Wilhelm 132f., 322 Weber, Hans Emil 141, 143, 346 Wehrung, Georg 151f. Wellhausen, Julius 46 Wendebourg, Wilhelm 28, 32, 36, 40, 42f., 373f. Wobbermin, Georg 145, 239 Wolf, Ernst 168, 403 Wolff, Walter 180 Wünsch, Georg 155 Wurm, Theophil 251 Wurster, Prakt. Theologe 45, 65 Zahn, Theodor 133f. Zänker, Otto 278 Zimmermann, Ludwig 267 Zöllner, Wilhelm 278, 281f., 286, 290f.
Ulhaus, Adolf 224 Ulmer, Friedrich 116, 133ff., 211, 279
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Unveröffentlichter Einblick in die Gedankenwelt zweier bedeutender Frauen in einer dramatischen Zeit
Günther van Norden (Hg.)
Charlotte von Kirschbaum und Elisabeth Freiling Briefwechsel von 1934 bis 1939 2014. 232 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-55073-1 eBook ISBN 978-3-647-55073-2
In ihren Briefen erörtern Charlotte von Kirschbaum, Weggefährtin Karl Barths, und Elisabeth Freiling, Sprecherin der Vikarinnen in der »Bruderschaft rheinischer Hilfsprediger und Vikare«, anschaulich alle Fragen, die zu ihrer Zeit virulent waren: die Judenverfolgung und die aggressive nationalsozialistische Machtausweitung, die Stellung der Frau, das »Amt der Vikarin«, die Eidesfrage. Die Bewertung der Homosexualität und von seelischen Erkrankungen zeigt eine Position zwischen den Zeiten. Die Korrespondenz macht deutlich, dass es – trotz aller Widrigkeiten der Zeit – möglich ist, menschlich, politisch und auch theologisch den Weg in die Zukunft zu gehen.
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Kirche, Macht und Geld im Nationalsozialismus Hauke Marahrens
Praktizierte Staatskirchenhoheit im Nationalsozialismus Die Finanzabteilungen in der nationalsozialistischen Kirchenpolitik und ihre Praxis in den Landeskirchen von Hannover, Braunschweig und Baden Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, Band 59. 2014. 633 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-55774-7 eBook ISBN 978-3-647-55774-8
Ab 1935 richtete der nationalsozialistische Staat Finanzabteilungen bei vielen evangelischen Kirchenverwaltungen ein. Bald wurden diese zu einem zentralen staatskirchenhoheitlichen Werkzeug ausgebaut und zur Machtausübung in der Kirche genutzt. Sie bedrohten mit ihren Einmischungen in die geistlichen Angelegenheiten die Souveränität der Kirche in ihrem innersten Bereich. Hauke Marahrens beleuchtet die praktische Tätigkeit dieser Finanzabteilungen anhand der Landeskirchen von Hannover, Braunschweig und Baden und erschließt so ein bisher vernachlässigtes historisches Forschungsgebiet.
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